Aufklärung, Band 19: Ernst Platner. Konstellationen der Aufklärung zwischen Philosophie, Medizin und Anthropologie 9783787324460, 9783787319206

Themenschwerpunkt: Ernst Platner (1744–1818): Konstellationen der Aufklärung zwischen Philosophie, Medizin und Anthropol

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Aufklärung, Band 19: Ernst Platner. Konstellationen der Aufklärung zwischen Philosophie, Medizin und Anthropologie
 9783787324460, 9783787319206

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AUFKLÄRUNG Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte

In Verbindung mit der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts herausgegeben von Lothar Kreimendahl, Monika Neugebauer-Wölk und Friedrich Vollhardt Redaktion: Marianne Willems

Band 19 · Jg. 2007

Themenschwerpunkt: ERNST PLATNER

(1744–1818)

KONSTELLATIONEN DER AUFKLÄRUNG ZWISCHEN PHILOSOPHIE , MEDIZIN UND ANTHROPOLOGIE

Herausgegeben von Guido Naschert und Gideon Stiening

FELIX MEINER VERLAG

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Inhalt

ISSN 0178-7128 Aufklärung. Jahrbuch für die Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte. – In Verbindung mit der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts herausgegeben von Lothar Kreimendahl, Monika Neugebauer-Wölk und Friedrich Vollhardt. – Redaktion: Dr. Marianne Willems, Ludwig-Maximilians-Universität München, Institut für deutsche Philologie, Schellingstraße 3, 80799 München, E-mail: [email protected]. © Felix Meiner Verlag 2007. Das Jahrbuch und alle in ihm enthaltenen Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Textformatierung: Katja Mellmann. Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer“, Bad Langensalza. Printed in Germany.

INHALT

Guido Naschert, Gideon Stiening: Zur Einführung. Ernst Platner (1744– 1818). Konstellationen der Aufklärung zwischen Philosophie, Medizin und Anthropologie ......................................................................................

7

ABHANDLUNGEN

Werner Euler: Commercium mentis et corporis? Ernst Platners medizinische Anthropologie in der Kritik von Marcus Herz und Immanuel Kant.....................................................................................

21

Hans-Peter Nowitzki: Platner und die Wolffsche Philosophietradition..........

69

Gideon Stiening: Platners Aufklärung. Das Theorem der angeborenen Ideen zwischen Anthropologie, Erkenntnistheorie und Metaphysik...........

105

Udo Thiel: Das „Gefühl Ich“. Ernst Platner zwischen Empirischer Psychologie und Transzendentalphilosophie ..............................................

139

Falk Wunderlich: Ernst Platners Auseinandersetzung mit David Hume ........

163

Temilo van Zantwijk: Platner, Kant und der Skeptizismus .............................

181

Jutta Heinz: „Eben so viel feine Beobachtungsgabe, als philosophischen Scharfsinn“. Anthropologische Charakteristik in Platners Philosophischen Aphorismen ..................................................................................

197

Michael Ansel: Ernst Platner und die Popularphilosophie..............................

221

Simone De Angelis: Unbewußte Perzeptivität und metaphysisches Bedürfnis. Ernst Platners Auseinandersetzung mit Haller in den Quaestiones physiologicae (1794) ..............................................................

243

Udo Roth: „Es giebt eine gewisse Gattung des Wahnsinns, [...] nämlich den verborgenen“. Ernst Platner als Forensiker ..........................................

275

Alessandro Lazzari: Platner und Reinhold über das Vergnügen ....................

309

4

Inhalt

Martin Bondeli: Über eine „Entdeckung“ in der Psychologie. Reinholds Auseinandersetzung mit Platners Bemerkungen zur Geschichte des Seelenbegriffs...............................................................

327

Hans-Peter Nowitzki: Curriculum Vitae. Fundstücke und Nachträge zur Biographie Ernst Platners......................................................................

343

KURZBIOGRAPHIE

Guido Naschert: Johann Georg Sulzer (1720−1779) .....................................

379

DISKUSSION

Volker Dieringer: Kants Theodizee-Aufsatz im Spiegel neuerer Arbeiten. Ein Forschungsbericht.................................................................................

383

IN EIGENER SACHE

Der vorliegende Jahrgang der Aufklärung verzeichnet personelle Veränderungen im Gremium der Herausgeber, die vorab kurz zu erläutern sind. Gemeinsam mit Norbert Hinske, der den Herausgebern seit dem Jahr 2002 noch beratend zur Seite stand, scheidet nun auch Karl Eibl mit seiner Emeritierung aus dem Gremium aus. Seine Nachfolge hat Friedrich Vollhardt (München) angetreten. Karl Eibl und Norbert Hinske haben als Gründungsmitglieder der Aufklärung das Profil der Zeitschrift von Beginn an geprägt. Für ihr großes Engagement, die zahlreichen eigenen Beiträge und die Intensivierung des fachübergreifenden Gesprächs in wichtigen Themenheften sei ihnen an dieser Stelle herzlich gedankt. Mit den personellen Veränderungen gehen kleinere Umstellungen in der Konzeption des Jahrbuchs einher. Der 2001 vollzogene Wandel von einer Halbjahresschrift zu einem Jahrbuch hat sich bewährt. Zukünftig sollen sich dabei Sammelbände, die einem Schwerpunkt gewidmet sind, mit Jahrbüchern abwechseln, die – thematisch ungebunden – ein weites Spektrum von Fragestellungen zur europäischen Aufklärung behandeln. Die Herausgeber

Z U R E I N F Ü H RU N G

Ernst Platner (1744–1818) Konstellationen der Aufklärung zwischen Philosophie, Medizin und Anthropologie

Der Leipziger Mediziner und Philosoph Ernst Platner ist eine zentrale Figur der philosophischen, medizinischen und anthropologischen Forschungen und Kontroversen der deutschen Spätaufklärung. Mit seiner Anthropologie für Aerzte und Weltweise von 17721 gelang es ihm, einer schon seit den 1750er Jahren in Medizin und Philosophie geführten Debatte Namen und Begriff zu geben und sie auch thematisch wie systematisch innovativ zu profilieren. Nicht nur Immanuel Kant, der seit den frühen 1770er Jahren ebenfalls populäre Vorlesungen über Anthropologie abhielt,2 befaßte sich mit Platners Entwurf, wollte es nur „ganz anders machen“;3 auch das Gros der zahlreich erscheinenden anthropologischen Kompendien bezog sich bis Ende des 18. Jahrhunderts kritisch oder affirmativ auf Platners Vorgabe.4 Seine ‘Bestimmung des Menschen’ als „HarErnst Platner, Anthropologie für Aerzte und Weltweise, Leipzig 1772 (Nachdruck Hildesheim 1998, hg. von Alexander Košenina). 2 Kant’s gesammelte Schriften, hg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 25, 4. Abt.: Vorlesungen, Bd. 2: Vorlesungen über Anthropologie, bearbeitet von Reinhard Brandt und Werner Stark, Berlin 1997. 3 Vgl. hierzu Reinhard Brandt, Kritischer Kommentar zu Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), Hamburg 1999, 49 ff., sowie den Beitrag von Werner Euler in diesem Band. 4 Vgl. hierzu u.a. Michael Hißmann, Geschichte der Lehre von der Assoziation der Ideen, Göttingen 1776; Christoph Meiners, Kurzer Abriß der Psychologie zum Gebrauche seiner Vorlesungen, Göttingen, Gotha 1773; Johann Nicolas Tetens, Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung, 2 Bde., Leipzig 1777; Dietrich Tiedemann, Untersuchungen über den Menschen, 3 Bde., Leipzig 1777−1778; Franz Karl von Irwing, Erfahrungen und Untersuchungen über den Menschen, 4 Bde., Berlin 1772−1785, sowie Johann Karl Wezel, Versuch über die Kenntniß des Menschen (1784/85), in: J.K.W., Gesamtausgabe in acht Bänden, hg. von Klaus Manger, Heidelberg 2000 ff., Bd. 7 (Versuch über die Kenntnis des Menschen. Rezensionen. Schriften zur Pädagogik), hg. von Jutta Heinz, Cathrin Blöss, Heidelberg 2001, 7– 281. Auch die anthropologische Psychologie der 1790er Jahre bleibt weiterhin − wenngleich unter Kantischen Vorgaben − auf Platner bezogen: z.B. Carl Christian Erhard Schmid, Empirische Psychologie, 2 Theile, Jena 1791; [Friedrich Karl Forberg,] Seelenlehre, in: Christian Karl Andrés 1

Aufklärung 19 · © Felix Meiner Verlag 2007 · ISSN 0178-7128

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monie von Körper und Seele“, die „in ihren gegenseitigen Verhältnissen, Einschränkungen und Beziehungen zusammen betrachtet“ werden sollten,5 um Anthropologie allererst betreiben zu können, fand seit 1772 unter Philosophen und Medizinern, aber auch unter Literaten und Künstlern große Verbreitung.6 „Der ganze Mensch“, als antirationalistische Kampfparole schon von Christian Thomasius formuliert,7 u.a. von Hermann Samuel Reinmarus 1766 aufgenommen8 und noch von Jacobi, Schiller und Fichte verwendet,9 wurde allererst durch Platners Anthropologie zu einer Leitidee jenseits fachwissenschaftlicher Grenzziehungen. Es war die Platnersche Konzeption von 1772, die – trotz aller sachlichen Vorläuferdiskussionen10 − das im commercium mentis et corporis (Hg.), Der Mensch, oder Compendiöse Bibliothek des Wissenswürdigsten von der Natur und Bestimmung des Menschen und von der Geschichte der Menschheit, Eisenach, Halle 1796. 5 Ernst Platner, Anthropologie 1772 (wie Anm. 1), IV und XVI f. 6 Von literaturwissenschaftlicher Seite wurde die Wiederentdeckung Platners Mitte der siebziger Jahre durch Wolfgangs Proß’ Studie zu Jean Paul angestoßen: Wolfgang Proß, Jean Pauls geschichtliche Stellung, Tübingen 1975. Doch erst Alexander Košeninas – mehr biographische als textrekonstruierende – Monographie (Ernst Platner. Anthropologie und Philosophie. Der philosophische Arzt und seine Wirkung auf Johann Karl Wezel und Jean Paul, Würzburg 1989) löste eine größere Wahrnehmung der Platnerschen Anthropologie durch die Literaturwissenschaft aus. Inzwischen gibt es eine breite Forschung zum Verhältnis von Anthropologie und Literatur, vgl. hierzu u.a. Jutta Heinz, Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung, Berlin, New York 1996; Walter Hinderer, Friedrich Schiller und die empirische Seelelehre, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 47 (2003), 187–213; oder auch die programmatische Studie von Manfred Beetz, Aporien der Aufklärung. Wezels Diskussion von Vorurteilen in seiner Anthropologie und in Belphegor, in: Wezel-Jahrbuch 8 (2005), 9–41. 7 Vgl. Christian Thomasius, Einleitung zu der Vernunfft=Lehre, Halle 1691(Nachdruck Hildesheim 1968), 95; zur Bedeutung Thomasius’ für die Anthropologie der Hoch- und Spätaufklärung vgl. Wolfram Mauser, Johann Gottlob Krüger. Der Weltweise als Arzt – zur Anthropologie der Frühaufklärung in Deutschland, in: Carsten Zelle (Hg.), „Vernünftige Ärzte“. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung, Tübingen 2001, 48–67, hier 62 ff. 8 Hermann Samuel Reimarus, Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion, Hamburg 31766, 439. 9 Friedrich Heinrich Jacobi, Werke in sechs Bänden, hg. von Friedrich Roth, Friedrich Köppen, Bd. 2, Leipzig 1815, 343 f.; Friedrich Schiller, Über Bürgers Gedichte, in: F. S., Sämtliche Werke, hg. von Gerhard Fricke, Herbert G. Göpfert, Bd. 5: Erzählungen. Theoretische Schriften, Darmstadt 91993, 971; Johann Gottlieb Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, in: J. G. F., Werke, hg. von Immanuel Hermann Fichte, Bd. 1, Berlin 1844 (Nachdruck Berlin 1971), 295; zur Erforschung dieser Formel, vor allem der durch sie repräsentierten Reflexionsbewegungen im 18. Jahrhundert vgl. Hans-Jürgen Schings (Hg.), Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, Stuttgart, Weimar 1994. 10 Zu den schon ab 1750 in Berlin und Halle geführten Debatten um zentrale Aspekte einer physischen Anthropologie vgl. Gabriele Dürbeck, Einbildungskraft und Aufklärung. Perspektiven der Philosophie, Anthropologie und Ästhetik um 1750, Tübingen 1998; Zelle (Hg.), „Vernünftige

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enthaltene Zentralproblem physischer Anthropologie11 zum Grundlegungstheorem für alle weiteren Wissens- und Wissenschaftsbereiche erklärte.12 Erst durch und nach Platner wurde die physische Anthropologie in den Rang einer Fundamentalwissenschaft erhoben; denn Platner erfüllte mit seinem weitreichenden Entwurf von 1772 ein Postulat, das Herder schon 1765 mit der These erhoben hatte, alle Philosophie müsse künftig „auf Anthropologie zurückgezogen“ werden.13 Trotz des großen wissenschaftlichen und publizistischen Erfolges der Anthropologie für Aerzte und Weltweise erfährt diese medizinisch-philosophische Grundlegungstheorie Platners im Laufe der folgenden Jahrzehnte entscheidende Veränderungen, die insbesondere in den Neubearbeitungen seiner Lehrbücher greifbar werden. In der Neuen Anthropologie aus dem Jahre 1790 distanziert sich Platner ausdrücklich und vollkommen konsequent14 von Gehalt und Systematik der ersten Auflage seiner berühmten Schrift: „In der That war jene Anthropologie, ein paar erträgliche Lehrstücke und vielleicht einige neue Ideen ausgenommen, ein sehr fehlerhaftes Buch“.15 Tatsächlich macht sein philosophischer Standpunkt zwischen 1770 und 1800 einen schwer erkämpften WanÄrzte“ (wie Anm. 7); Wolfgang Riedel, Erster Psychologismus. Umbau des Seelenbegriffs in der deutschen Spätaufklärung, in: Jörn Garber, Heinz Thoma (Hg.), Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung: Anthropologie im 18. Jahrhundert, Tübingen 2004 (Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung, 24), 1–17; Tanja van Hoorn, Affektenlehre – rhetorisch und medizinisch. Zur Entstehung der Anthropologie um 1750 in Halle, in: Rhetorik 23 (2004), 81–94; Rainer Godel, Der Mensch – ein „lächerliches Tier“? Eine psychphysische Theorie des Lachens bei Ernst Anton Nicolai und Georg Friedrich Meier und ihre Folgen, in: Aufklärung 17 (2005), 187-214, speziell 204 ff. Problematisch ist diese Neudatierung einer ‘Anthropologischen Wende der Aufklärung’, weil es zum einen wenig überzeugend wirkt, aus den unbestreitbar innovativen Reflexionen von vier Hallenser Ärzten die ganze Aufklärung berührt (in diesem Falle ‘gewendet’) zu sehen, und weil zum anderen diese medizinische Anthropologie der Hallenser den Status einzelwissenschaftlicher Ergebnisse nicht übersteigt; erst Platner und die nachfolgende Debatten erheben die Anthropologie zur Grundlagenwissenschaft. 11 Vgl. hierzu den Forschungsüberblick durch Wolfgang Riedel, Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 6. Sonderheft (1994), 93–157. 12 Heinz, Wissen vom Menschen (wie Anm. 6), 50. 13 Johann Gottfried Herder, Wie die Philosophie zum Besten des Volks allgemeiner und nützlicher werden kann, in: Herders Sämmtliche Werke, hg. von Bernhard Suphan, 33 Bde., Berlin 1877–1913, Bd. 32, 31–61, hier 37; zu dieser Anthropologisierung der Philosophie durch Herder vgl. auch Wolfgang Pross, Herder und die Anthropologie der Aufklärung, in: Johann Gottfried Herder, Werke, hg. von W. P., Bd. 2, Darmstadt 1987, 1128–1216. 14 Košenina, Ernst Platner (wie Anm. 6), 29, hat demgegenüber behauptet, die Veränderungen des Anthropologiekonzepts der zweiten Auflage seien „weniger radikal“ als von Platner angezeigt; vgl. jedoch den Beitrag von Gideon Stiening in diesem Band. 15 Ernst Platner, Neue Anthropologie für Aerzte und Weltweise. Mit besondere Rücksicht auf Physiologie, Pathologie, Moralphilosophie und Aesthetik, Leipzig 1790, Vorrede [unpag.].

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del in mehreren Stufen durch, der sich mit Blick auf zentrale erkenntnistheoretische Annahmen als eine Entwicklung von einem moderaten Lockeanismus zu einem kantisch verfeinerten Leibnizianismus bestimmen läßt. Platner vollzieht hiermit eine Korrektur, die zwar schon bei Zeitgenossen Aufsehen erregte, aber keineswegs ungewöhnlich war.16 Dieser für die epistemische Situation17 der 1770 und 1780 Jahre aufschlußreiche Prozeß wurde jedoch von der Forschung bisher kaum wahrgenommen.18 Zwar wird Platners Anthropologie von 1772 häufig zitiert (wenn auch zumeist nur aus der geläufigen Vorrede); aber bekannt sind Platners Texte, ihr philosophischer und einzelwissenschaftlicher Gehalt sowie deren Wandel kaum. Der Grund für den Mangel einer differenzierteren Wahrnehmung seiner Kompendien muß u.a. darin gesehen werden, daß die Texte des Leipziger Mediziners und Philosophen in den letzten Jahren von zwei Forschungsdisziplinen bearbeitet wurden – der literatur- und kulturwissenschaftlichen Anthropologieforschung und der philosophiehistorischen Idealismusforschung –, die sich selbst und in ihrer Interaktion durch folgende Charakteristika auszeichnen: 1. Beide Forschungsperspektiven sind nicht unmittelbar an Platner interessiert, sondern entweder an der Konstruktion eines geistesgeschichtlichen Paradigmas,19 für das Platners erste Anthropologie als ein – nicht einmal übermäßig Zum Leibnizianismus der 1780er und 1790er Jahre vgl. u.a. Manfred Gawlina, Das Medusenhaupt der Kritik, Berlin, New York 1996; Stefan Lorenz, De Mundo Optimo. Studien zu Leibniz’ Theodizee und ihrer Rezeption in Deutschland 1710–1791, Stuttgart 1997; Manfred Zahn, Der historische Kontext der Kant-Eberhard-Kontroverse, in: Immanuel Kant, Der Streit mit Johann August Eberhardt, hg. von Marion Lauschke, M. Z., Hamburg 1998, XIII-XL; Catherine J. Minter, „Die Macht der dunklen Ideen“: A Leibnizian theme in German psychology and fiction between the late Enlightement and Romanticism, in: German Life and Letters 54/2 (2001) 114– 136. 17 Zur Stellung dieses Begriffs für eine weder historistische noch teleologische und doch kontinuitätskonstituierte Wissens- und Wissenschaftsgeschichte vgl. Lutz Danneberg, Epistemische Situationen, kognitive Asymmetrien und kontrafaktische Imaginationen, in: Lutz Raphael, HeinzElmar Tenorth (Hg.), Ideen als geschichtliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte, München 2006, 193–221. 18 Eine der wenigen Ausnahmen bildet das umfangreiche Kapitel zu Platner in Hans-Peter Nowitzki, Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien im Widerstreit, Berlin, New York 2003, 155–249. 19 Zur Erforschung der sogenannten ‘anthropologischen Wende der Spätaufklärung’ als Paradigma der Aufklärungsforschung vgl. den bis 1994 reichenden Forschungsbericht von Riedel, Anthropologie und Literatur (wie Anm. 11); ein Forschungsüberblick der nahezu unübersehbaren Fülle der Arbeiten seit 1994 fehlt, vgl. Ansätze hierzu bei Gideon Stiening, Ein „Sistem“ für den „ganzen Menschen“. Zum anthropologischen Argument bei Johann Karl Wezel, in: Dieter Hüning, Karin Michel, Andreas Thomas (Hg.), Aufklärung durch Kritik. Festschrift für Manfred Baum, Berlin 2004, 113–139; angekündigt ist zudem Yvonne Wübben, Aufklärungsanthropologien im Widerstreit? Probleme und Perspektiven der Anthropologieforschung am Beispiel von 16

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willkommenes20 – Exemplifikationsinstrument dient, oder an den hochkomplexen Entwicklungen des deutschen Idealismus, für die Platners ‘Logik und Metaphysik’ zumeist als Quelle fungiert. 2. Aus diesem Grund favorisierte man jeweils bestimmte Einzeltexte: Konzentrierten sich die zumeist literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschungen zur sogenannten „anthropologischen Wende der Spätaufklärung“21 auf Betrachtungen der 1998 von Alexander Košenina neu herausgegebenen Anthropologie für Aerzte und Weltweise von 1772, so zeigte sich eine philosophiehistorische Forschung mit Fokus auf den Fichte-Kreis in Jena überwiegend an den Philosophischen Aphorismen – dem zweiten Hauptwerk des Autors, und zwar nur an der 1793er Fassung22 – interessiert. Bereits seit einigen Jahren liegt dieses Werk als Supplement zur Fichteschen Akademie-Ausgabe vor, und auf diese Fassung hat sich das philosophiehistorische Interesse an Platner nahezu ausschließlich bezogen.23 3. Beide Forschungsbereiche nahmen sich allerdings nicht hinreichend wahr, so daß jede Betrachtung der Anthropologien nicht nur die Gehalte der Philosophischen Aphorismen zumeist ignorierte, sondern auch die Forschungsergebnisse zu ihnen – et vice versa. Hinzu kommt, daß eine wissenschaftsgeschichtliche Auseinandersetzung, die im Zusammenhang der allgemeinen Anthro-

Hans-Peter Nowitzkis „Der wohltemperierte Mensch“, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 1 (2007). 20 Vgl. hierzu die Platner-kritischen Positionen bei Carsten Zelle, Sinnlichkeit und Therapie. Zur Gleichursprünglichkeit von Ästhetik und Anthropologie um 1750, in: C.Z., „Vernünftige Ärzte“ (wie Anm. 7), 5–24, hier 6 f., oder auch Nowitzki, Aufklärungsanthropologien (wie Anm. 18), 232 ff. 21 Vgl. hierzu Schings (Hg.), Der ganze Mensch (wie Anm. 9); Thoma, Garber, (Hg.), Anthropologie im 18. Jahrhundert (wie Anm. 10), sowie Wolfgang Riedel, Die anthropologische Wende: Schillers Modernität, in: Jörg Robert (Hg.), Würzburger Schiller-Vorträge 2005, Würzburg 2007, 1–24. 22 Ernst Platner, Philosophische Aphorismen nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte. Ganz neue Ausarbeitung. Leipzig 1793, in: Johann Gottlieb Fichte, Gesamtausgabe der Bayrischen Akademie der Wissenschaften, hg. von Reinhard Lauth u.a., Stuttgart-Bad Cannstatt 1977, II. Reihe: Nachgelassene Schriften, Bd. 4/Suppl. Vgl. zuletzt Faustino Fabbianelli, Anthropologie der Aufklärung und Fichtes Wissenschaftslehre, in: Carla De Pascale, Erich Fuchs, Marco Ivaldo, Günter Zöller (Hg.), Fichte und die Aufklärung, Hildesheim, Zürich, New York 2004, 111−131. 23 Schon Max Wundt hob Platners Aphorismen neben Darjes und Feder unter den Lehrbüchern der spätaufklärerischen Schulphilosophie hervor und deutete Platners „Psychologismus“ als eklektische Vermittlung zwischen Leibniz und Christian Thomasius, vgl. Max Wundt, Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung, Tübingen 1945, 311.

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pologieforschung wichtige eigenständige Ergebnisse zeitigt,24 in bezug auf die medizinischen Texte Platners nahezu inexistent ist.25 Die literatur- und kulturhistorische Erforschung, die sich um die Schlagworte des „ganzen Menschen“ bzw. einer „anthropologischen Wende der (Spät-) Aufklärung“ bewegt,26 bildet mit der philosophiehistorischen Forschung, die das Denken zwischen Wolff und Kant erst allmählich wiederentdeckt,27 nahezu Vgl. hierzu u.a. Gunter Mann, Franz Dumont (Hg.), Die Natur des Menschen. Physische Anthropologie und Rassenkunde (1750–1850), Stuttgart, New York 1990; Ingrid Oehler-Klein, Einleitung, in: Samuel Thomas Soemmerring, Werke, hg. von I. O.-K., Bd. 15: Anthropologie, Stuttgart 1998, 11–142; Georg Eckardt u.a. (Hg.), Anthropologie und empirische Psychologie um 1800. Ansätze einer Entwicklung zur Wissenschaft, Köln, Weimar, Wien 2001; Bettina Dietz, Thomas Nutz, Naturgeschichte des Menschen als Wissensformation des späten 18. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für historische Forschung 32 (2005), 45-70, sowie Hans-Peter Nowitzki, „Schön ist das Schauspiel ringender Kräfte“. ‘Lebenskräfte’ bei Christoph Wilhelm Hufeland, Johann Gottfried Herder und Georg Forster, in: Jahrbuch für Europäische Wissenschaftskultur 2 (2006), 209– 246. 25 Vgl. jetzt aber die Beiträge von Simone de Angelis und Udo Roth in diesem Band. 26 Vgl. hierzu – um nur die wichtigsten Arbeiten zu nennen: Mareta Linden, Untersuchungen zum Anthropologiebegriff des 18. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1976; Schings (Hg.), Der ganze Mensch (wie Anm. 9); Riedel, Anthropologie und Literatur (wie Anm. 11); Heinz, Wissen vom Menschen (wie Anm. 6); Dürbeck, Einbildungskraft und Aufklärung (wie Anm. 10); Zelle (Hg.), „Vernünftige Ärzte“ (wie Anm. 7); Aufklärung 14 (2002) (Themenschwerpunkt: Aufklärung und Anthropologie, hg. von Karl Eibl u.a.); John Zammito, Kant, Herder, and the Birth of Anthropology, Chicago, London 2002; Wolfgang Pross, Herder und die Anthropologie der Aufklärung (wie Anm. 13); W.P., Nachwort: ‘Natur’ und ‘Geschichte’ in Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, in: Herder, Werke, hg. von W. P., Bd. 3/1, Darmstadt 2002, 833–1041; Nowitzki, Aufklärungsanthropologien (wie Anm. 18); Tanja van Hoorn, Dem Leibe abgelesen. Georg Forster im Kontext der physischen Anthropologie des 18. Jahrhundert, Tübingen 2004; Riedel, Die anthropologische Wende (wie Anm. 21), sowie Manfred Beetz, Jörn Garber, Heinz Thoma (Hg.), Physis und Norm. Neue Perspektiven der Anthropologie im 18. Jahrhundert, Göttingen 2007. 27 Weitgehend untangiert von der literatur- und kulturwissenschaftlichen Erforschung der Aufklärungsanthropologie während des letzten Jahrzehnts hat sich eine – wenngleich kleine – Anzahl Philosophiehistoriker mit den wichtigsten Autoren zwischen Wolff und Kant beschäftigt, vgl. hierzu Marion Heinz, Sensualistischer Idealismus. Untersuchungen zur Erkenntnistheorie und Metaphysik des jungen Herder (1763–1778), Hamburg 1994; Udo Thiel, Varieties of inner Sense. Two Pre-Kantian Theories, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 79 (1997), 58–79; U.T., Between Wolff and Kant: Merian’s Theory of Apperception, in: Journal of the History of Philosophy XXXIV (1996), 213–232; Brandt, Kritischer Kommentar (wie Anm. 3); Manfred Frank, Selbstgefühl. Eine historisch-systematische Erkundung, Frankfurt am Main 2002; Stefan Heßbrüggen-Walter, Die Seele und ihre Vermögen. Kants Metaphysik des Mentalen in der Kritik der reinen Vernunft, Paderborn 2004, 55–125, sowie Falk Wunderlich, Kant und die Bewußtseinstheorien des 18. Jahrhunderts, Berlin, New York 2005. Von besonderer Bedeutung dürften in diesem Zusammenhang auch die Ergebnisse des Ersten Internationalen Christian-Wolff-Kongresses „Christian Wolff und die Europäische Aufklärung“ sein, der am 6.−10. April 2004 in Halle an der Saale stattgefunden hat. 24

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keinerlei Interaktionen aus. Zwar betonen beide Forschungsrichtungen die disziplinübergreifende Kontur ihrer Gegenstände. Dennoch resultieren die Ungleichzeitigkeit und das Nebeneinander der Forschungsergebnisse nicht nur aus einer unterschiedlichen Schwerpunktsetzung mit Blick auf die untersuchten Textcorpora (Anthropologie von 1772 einerseits, Philosophische Aphorismen von 1793 andererseits), häufig sind sie auch Folge wissenschaftstheoretischer Vorannahmen. So steht etwa nach wie vor die Behauptung zur Diskussion, die traditionelle Philosophiegeschichtsschreibung könne die Anthropologie der Aufklärung gar nicht angemessen aufarbeiten, weil sich diese in ihrem Ausgang von der empirischen Naturgeschichte ‘philosophisch emanzipiert’ habe.28 Es läßt sich daher festhalten, daß von einer textzentrierten, Autor und Werk fokussierenden ‘Platner-Forschung’ in keiner Weise gesprochen werden kann, deren Ergebnisse allererst die Grundlage für differenziertere Überlegungen zu übergreifenden Paradigmata zur Aufklärung oder zum Deutschen Idealismus zur Verfügung stellen könnte. (Das gilt im übrigen ebenso für Autoren wie Hißmann und Meiners, Tetens, Feder, Tiedemann oder von Irwing). Ernst Platner muß im Hinblick auf die Erforschungen des späten 18. Jahrhunderts mithin als eine jener ‘unbekannten Berühmtheiten’ bezeichnet werden, die nur vom Hörensagen leben. Zwar sind gerade in den letzten Jahren wichtige neuere Einzelergebnisse zu verzeichnen; es liegen einige biographisch ausgerichtete Studien vor,29 die allerdings in die wissenschaftlichen oder philosophischen

Vgl. hierzu u.a.: Rainer Godel, „Eine unendliche Menge dunkeler Vorstellungen“. Zur Widerständigkeit von Empfindungen und Vorurteilen in der deutschen Spätaufklärung, in: DVjS 52 (2002), 542–576; Jörn Garber, Die Bestimmung des Menschen in der ethnologischen Kulturtheorie, in: Aufklärung 14 (2002), 161–204, hier 190 ff., sowie Ingo Stöckmann, Traumleiber. Zur Evolution des Menschenwissens im 17. und 18. Jahrhundert, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 26/2 (2001), 1–55; van Hoorn, Dem Leibe abgelesen (wie Anm. 26), 108 ff.; zur Kritik hieran Stiening, Ein „System“ (wie Anm. 19), 113-125; Godel, Der Mensch (wie Anm. 10), 204-213, hat in einem neuern Vorschlag die vermeinlich fundamentale Philosophiekritik der Anthropologie methodologidiert, weil letztere aus einer „spezifischen diskursiven Konstellation [schöpfe], die Philosophie und Medizin mischt“ (ebd., 211). Diese These ist allerdings auch nicht richtiger als die vorherige, weil Godel erkenntnistheoretische Ableitungen am Beispiel Johann Nicolas Tetens als Methodenreflexionen mißdeutet (212) und damit die Anfangsgründe der philosophischen Epistemologie und Anthropologie des 18. Jahrhunderts verfehlt. 29 Vgl. Košenina, Ernst Platners Anthropologie (wie Anm. 6). Diese Arbeit wurde weitergeführt in A. K., Nachwort, in: Platner: Anthropologie 1772 (wie Anm. 1), 303–313, A. K., Ernst Platner (1744–1818), in: Aufklärung 14 (2002), 259 f., sowie A. K., Nachwort, in: Ernst Platner, Der Professor. Mit einem Nachwort hg. von Aleander Košenina, Hannover 2007, 79-91. Aus ganz anderer Forschungsrichtung stieß der Medizinhistoriker Rolf Kocher auf das vernachlässigte Spätwerk Platners in seiner Arbeit: R. K., Die Forensik in Leipzig um die Wende zum 19. Jahrhundert. Ernst Platner und sein Werk, Diss. Bern 1985. 28

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Problemlagen des umfangreichen Werks kaum eindringen.30 Darüber hinaus wurde die Stellung der späten Texte Platners einerseits im Hinblick auf die Erneuerung des nachkantischen Skeptizismus bei Aenesidemus Schulze und Salomon Maimon untersucht;31 andererseits ihre philosophiehistorische Bedeutung für die Formationsphase des Deutschen Idealismus neuerlich in den Blick genommen; letzteres geschieht in Studien, die Karl Leonhard Reinholds „Satz des Bewußtseins“,32 Fichtes Psychologie33 oder die Grundsatzskepsis der philosophischen Frühromantik rekonstruieren.34 Dennoch wurden erst vereinzelt Werke und Werkgruppen des Platnerschen Œuvres einer eigenständigen Analyse und Interpretation unterzogen.35 In jüngster Zeit entwickelte sich gar eine Tendenz, eine unangemessene „Fokussierung der historischen Anthropologieforschung auf Platner“ zu beklagen – und dies bevor die Texte überhaupt in ihrem Gehalt angemessen zur Kenntnis genommen worden wären.36 Nach wie vor müssen einige Texte des späten 19. Jahrhunderts als umfassendste und Ausnahmen bilden in diesem Zusammenhang Thiel, Varieties of inner Sense (wie Anm. 27), 65; Nowitzki, Aufklärungsanthropologien (wie Anm. 18), 155–249; Ernst Stöckmann, Phänomenologie der Empfindungen – Kultivierung des Gefühlsvermögens. Aspekte der anthropologischen Empfindungstheorie der deutschen Spätaufklärung am Beispiel von Platner und Irwing, in: Walter Schmitz, Carsten Zelle (Hg.), Innovation und Transfer. Naturwissenschaften, Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, Dresden 2004, 75–96, hier 83 ff., und Wunderlich, Bewußtseinstheorien (wie Anm. 27), 69–81. 31 Frederick Beiser, The Fate of Reason. German Philosophy from Kant to Fichte, Cambridge, London 1993, 214–217. 32 Vgl. Alessandro Lazzari, Zur Genese von Reinholds „Satz des Bewußtseins“, in: Martin Bondeli, Allessandro Lazzari (Hg.), Philosophie ohne Beynamen. System, Freiheit und Geschichte im Denken Karl Leonhards Reinholds, Basel 2004, 21–38. 33 Vgl. Temilo van Zantwijk, Psychologie oder Psychagogie? Die menschliche Seele in der angewandten Philosophie Platners und Fichtes, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 27 (2002), 49–65. 34 Vgl. Manfred Frank, „Unendliche Annäherung“. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik, Frankfurt am Main 1997, 141 ff.; sowie Guido Naschert, Philosophische Lehrjahre. Beiträge zur intellektuellen Biographie des jungen Friedrich Schlegel (1772−1798), Diss. Tübingen 2001, 84 ff. 35 Vgl. Thiel, Varieties of inner Sense (wie Anm. 27); Nowitzki, Aufklärungsanthropologien (wie Anm. 18), 165–249, sowie Ernst Stöckmann, Phänomenologie der Empfindungen (wie Anm. 30). 36 Im Anschluß an eine fehlleitende These von Maximilian Bergengruen, Roland Borgards, Johannes Friedrich Lehmann, Einleitung, in: M. B., R. B., J. F. L. (Hg.), Die Grenzen des Menschen. Anthropologie und Ästhetik um 1800, Würzburg 2001, 7–14, hier 8, führte dies zu einer eigentümlichen Depotenzierung Platners auf der Grundlage offenbarer Unkenntnis seiner Schriften bei Tanja van Hoorn, Das anthropologische Feld der Aufklärung. Ein heuristisches Modell und ein exemplarischer Situierungsversuch, in: Jörn Garber, T. v. H. (Hg.), Natur – Mensch – Kultur. Georg Forster im Wissenschaftsfeld seiner Zeit, Hannover-Laatzen 2006, 125–141, hier 126; T. v. H., Entwurf einer Psychophysiologie des Menschen. Johann Gottlob Krügers Grundriß eines neuen Lehrgebäudes der Artzneygelahrtheit (1745), Hannover-Laatzen 2006, 20 f. 30

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ertragreichste Analysen der Platnerschen Schriften bezeichnet werden.37 Solcherart interessensgeleitete Verweigerung einer adäquaten Wahrnehmung des Platnersches Werkes erstreckt sich bisweilen sogar auf die Basisinformationen zu Platners Bibliographie, und dies in Texten ausgewiesener Exzellenz: Der biobibliographische Index der von Knud Haakonssen herausgegebenen Cambridge History of Eighteenth-Century Philosophy datiert Platners Neue Anthropologie auf die Jahre 1772–74, und auch die Gespräche über Atheismus werden in das Jahr 1794 verlegt;38 das zeugt von jener soliden Unkenntnis, die den Status Platners als ‘unbekannte Berühmtheit’ des späten 18. Jahrhunderts anschaulich dokumentiert. Das stellte sich im späten 18. Jahrhundert noch vollkommen anders dar. Im Vorwort seines späten Werkes, den Morgenstunden von 1785, kam Moses Mendelssohn zu einer ernüchternden Betrachtung seiner philosophischen Gegenwart: Die besten Köpfe Deutschlands sprechen seit kurzem von aller Spekulation mit schnöder Wegwerfung. Man dringet durchgehend auf Thatsachen, hält sich blos an Evidenz der Sinne, sammelt Beobachtungen, häuft Erfahrungen und Versuche, vielleicht mit allzugroßer Vernachlässigung der allgemeinen Grundsätze. Am Ende gewöhnet sich der Geist so sehr ans Betasten und Begucken, daß er nichts für wirklich hält, als was sich auf diese Weise behandeln läßt. Daher der Hang zum Materialismus, der in unsern Tagen so allgemein zu werden drohet, und von der andern Seite, die Begierde zu sehen und zu betasten, was seiner Natur nach nicht unter die Sinne fallen kann, der Hang zur Schwärmerey.39

Wen Mendelssohn jedoch mit diesen besten Köpfen meinte, hatte er einige Zeilen zuvor klar benannt: „Lambert, Tetens, Platner und […] den alles zermalmenden Kant“.40 Diese zeitgenössisch herausgehobene Stellung neben Kant, Tetens und Lambert, die sein Freund Garve noch 1790 in die Formel

Max Heinze, Ernst Platner als Gegner Kants, Leipzig 1880; Paul A. Rohr, Platner und Kant, Leipzig 1890; Paul Bergmann, Ernst Platner als Moralphilosoph und sein Verhältnis zur Kant’schen Ethik, Halle 1891; Benzian Seligkowitz, Ernst Platner’s wissenschaftliche Stellung zu Kant in Erkenntnistheorie und Moralphilosophie, in: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philosophie 16 (1892), 76–103, 172–191; Artur Wreschner, Ernst Platners und Kants Erkenntnistheorie mit besonderer Berücksichtigung von Tetens und Aenesidemus, in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 100 (1892), 1–25, und Ernst Bergemann, Ernst Platner und die Kunstphilosophie des 18. Jahrhunderts nach ungedruckten Quellen dargestellt, Leipzig 1913. 38 Knud Haakonssen (Hg.), The Cambridge History of Eighteenth-Century Philosophy, Bd. 2, Cambridge 2006, 1209. 39 Moses Mendelssohn, Morgenstunden oder Vorlesungen über das Dasein Gottes, hg. von Dominique Bourel, Stuttgart 1979, 7. 40 Ebd., 5. 37

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faßte, Platner sei „auf dem Gipfel seines Ruhms und seines Glücks“,41 wurde dem Leipziger Philosophen und Mediziner in der oben erwähnten Debatte gegen Ende des 19. Jahrhunderts noch wie selbstverständlich zugeschrieben, ist aber in den Forschungsdebatten der letzten Jahre kaum mehr präsent.42 Die im vorliegenden Jahrbuch der Aufklärung dokumentierte Arbeitstagung Ernst Platner (1744–1818). Konstellationen der Aufklärung zwischen Philosophie, Medizin und Anthropologie, die vom 16. bis 18. Februar 2006 in München stattfand,43 hatte daher das Ziel, die Werke Platners sowie die für ihre Erschließung erforderlichen philosophiehistorischen, wissenschaftsgeschichtlichen sowie kultur- und literarhistorischen Kontexte ins Zentrum zu stellen. Zu diesem Zweck war es erforderlich, zunächst von geistesgeschichtlich übergreifenden Paradigmata wie einer angeblichen ‘anthropologischen Wende der Spätaufklärung’ oder dem Frühidealismus als einer ‘denkgeschichtlichen Supernova’ zu abstrahieren, um – von den normativen Implikationen dieser Perspektivierungen befreit – zu einer angemessen wissens-, wissenschafts- und philosophiegeschichtlichen Rekonstruktion der Argumentationsstrategien und Systematisierungsversuche Platners zu gelangen. Wie die nachfolgenden Abhandlungen zeigen, entfalten Platners Schriften die ganze Breite anthropologischer und epistemologischer, theologischer und metaphysischer sowie anatomischer, physiologischer, juristischer und ästhetischer Problemstellungen und lösungen. Sie sind damit für die Forschung ein unverzichtbares Textcorpus zum Verständnis des intellektuellen Wandels, der zwischen Aufklärung und Idealismus stattgefunden hat.44 Mit dem hier vorliegenden Band werden daher ebenso inhaltliche wie forschungspraktische Ziele verfolgt: Zum einen geht es darum, die verstreuten Forschungen, die sich in den letzten Jahren mit Platner beschäftigten, in ein Vgl. hierzu Alexander Košenina, „Briefe eines Arztes an seinen Freund“. Zwei ungedruckte Briefe Ernst Platners an Christian Garve, in: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-WilhelmsUniversität zu Breslau 31 (1990), 141–151, hier 144. 42 Vgl. die Angaben der Texte in Anm. 37. 43 Vgl. Maximilan Benz, Sebastian Schmidt, Tagungsbericht, in: Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge 16/3 (2006), 641–644. 44 Insofern ist gerade die philosophische Entwicklung Platners – ebenso wie die Carl Christian Erhart Schmids (vgl. hierzu u.a. Temilo van Zantwijk, Paul Ziche, Fundamentalphilosophie oder empirische Psychologie? Das Selbst und die Wissenschaften bei Fichte und C. C. E. Schmid, in: Zeitschrift für philosophische Forschung [2000], 71–94) – Anzeichen dafür, daß der kantische und nachkantische Idealismus keineswegs nur als „Retardation“ der Anthropologie der Spätaufklärung interpretiert werden kann (so aber Riedel, Erster Psychologismus [wie Anm. 10], 17; zur Kritik hieran Gideon Stiening, Rezension von Jörn Garber, Heinz Thoma (Hg.), Empirisierung und Konstruktion. Anthropologie im 18. Jahrhundert, Tübingen 2004, in: Das achtzehnte Jahrhundert 29/2 [2005], 244–254), sondern vielmehr als eine – wenngleich durchaus kritisch-alternative – Fortschreibung dieser Geistesbewegung. 41

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dauerhafteres Gespräch zu bringen und die vom Gegenstand geforderte Interdisziplinarität in wissenschaftstheoretischer wie -praktischer Hinsicht fruchtbar zu machen. Es wurden daher ebenso Literaturhistoriker und Kulturwissenschaftler wie Wissenschafts- und Philosophiegeschichtler eingeladen. Zum zweiten sollten in den einzelnen Beiträgen die unterschiedlichen Konstellationen herausgearbeitet werden, denen Platner zugehört, so daß Verschiebungen der komplexen Problemlagen zwischen Philosophie, Medizin und Anthropologie von 1770 bis 1800 sichtbar werden.45 Vor diesem Hintergrund sind die Beiträge der Tagung so ausgewählt und miteinander abgestimmt worden, daß möglichst viele Dimensionen des Platnerschen Werkes in den Blick geraten konnten. Im Zentrum der meisten Beiträge stehen dabei die ‘großen’ Kompendien Platners, die Anthropologie (1772, 1790), beide Teile der Philosophischen Aphorismen (1776/1782, 1784, 1793/1800) und die daraus erwachsene Vorlesung über Logik und Metaphysik (1795). Dabei wurde auch die bislang weitgehend ausgeklammerte Frage nach dem methodischen und systematischen Verhältnis beider Werkgruppen erstmals kontrovers erörtert (vgl. insbesondere die Abhandlungen von Hans-Peter Nowitzki und Jutta Heinz) und die Bedeutung der philosophiehistorischen Anmerkungen Platners überprüft (vgl. die Abhandlung von Martin Bondeli). In den analytischen Rekonstruktionen der anthropologischen und philosophischen Schriften steht zunächst das zentrale Problem des commercium mentis et corporis in seiner 1772 durch Platner ausgeführten Fassung und dessen Lösungsvorschlag auf dem Prüfstand (Werner Euler). Anschließend werden das rationalistischer Systematik entstammende Theorem der ideae innatae (Gideon Stiening) sowie das der empiristischen Tradition zugehörige grundlegende Vermögen des Selbstgefühls (Udo Thiel) – beides sucht Platner zu vermitteln – analysiert und in ihrer jeweiligen Kohärenz geprüft. Das in Platners Positionen und ihren Wandlungen stets wirksame Spannungsverhältnis zwischen den philosophischen Grundpositionen des 18. Jahrhunderts – Empirismus und Rationalismus46 – wurde zudem in seinen spezifischen Bezügen zu den wichtigVgl. zu diesem Ansatz einer „neuen Ideengeschichte“ die Beiträge in Martin Mulsow, Marcelo Stamm (Hg.), Konstellationsforschung, Frankfurt am Main 2005. 46 An den Platnerschen Versuchen einer Verbindung zentraler Momente beider Paradigmen, die einem Grundzug der Philosophie und Wissenschaften zwischen Wolff und Kant entspricht, zeigt sich die heuristische Leistungsfähigkeit einer philosophiehistorisch präzisen Unterscheidung zwischen Empirismus und Rationalismus, gerade weil die ideengeschichtlichen Realien durch unterschiedliche Vermischungen, Verbindungen oder Vermittlungen ausgezeichnet sind; vgl. hierzu auch Hans-Jürgen Engfer, Empirismus versus Rationalismus? Kritik eines philosophischen Schemas, Paderborn 1996; Dominik Perler, Was ist ein frühneuzeitlicher Text? Kritische Überlegungen zum Rationalismus/Empirismus-Schema, in: Helmut Puff, Christoph Wild (Hg.), Zwischen den Disziplinen? Perspektiven der Frühneuzeitforschung, Göttingen 2003, 55–80. 45

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sten Vertretern dieser Systematiken untersucht: Falk Wunderlich analysiert die komplexen Bezüge Platners zu David Hume und Hans-Peter Nowitzki jene eher verdeckten zu Christian Wolff. In allen diesen Perspektiven auf die Werke Platners ist der seit den frühen 1780er Jahren latente, ab den 1790er Jahren manifeste Bezug zur Philosophie Immanuel Kants in ideen- und philosophiegeschichtlicher Hinsicht präsent; im Hinblick auf das Skeptizismus-Motiv der 1790 Jahre wird dieser Kontext von Temilo van Zantwijk explizit ausgeführt. Gegen Kant abgrenzen läßt sich dabei nicht nur das allgemeine Anthropologieprogramm Platners in seinen beiden Varianten (1772 und 1790), sondern auch die besondere Form seiner ‘pragmatischen Anthropologie’, die Jutta Heinz durch eine umsichtige Einordnung in die Tradition der Charakteristiken seit Theophrast betrachtet. Das hier aufscheinende Spannungsverhältnis zwischen strenger, philosophischer wie einzelwissenschaftlicher Szientifität und dem Anspruch pragmatischer Virulenz wird daher auch aus einer allgemeineren Perspektive, nämlich im Hinblick auf Platners ambivalente Stellung zur Popularphilosophie, untersucht (Michael Ansel). Zwei Abhandlungen widmen sich dem Mediziner Platner, seiner allgemeinen und speziellen Physiologie (Simone de Angelis) sowie seinen spät einsetzenden, doch weit ins 19. Jahrhundert wirksamen forensischen Arbeiten (Udo Roth). Für beide einzelwissenschaftliche Studienbereiche wird gezeigt, daß sie ohne eine Analyse ihrer Grundlegung in den anthropologischen und philosophischen Positionen nicht angemessen zu verstehen sind. Platner erweist sich in diesem Zusammenhang als ein noch im frühen 19. Jahrhundert der Aufklärung verpflichteter Wissenschaftler und Praktiker. Zwei Studien situieren Platners Spätphilosophie in den Kontroversen der 1790er Jahre und bieten auf diese Weise Einblicke in die unterschätzte Bedeutung seiner Schriften für die Ausbildung bestimmter Theorieelemente bei Karl Leonhard Reinhold (Alessandro Lazzari, Martin Bondeli). Dabei zeigt sich erneut und in besonderem Maße, daß sich auch Platners späte (häufig als eklektizistisch47 bezeichnete, spezifisch skeptizistische) Positionen noch aus jenem Spannungsfeld zwischen leibniz-wolffschem Rationalismus48 und englisch-

Vgl. Hinske, Norbert (Hg.), Eklektik, Selbstdenken, Mündigkeit, Hamburg 1986 (= Aufklärung 1/1 [1986]); Michael Albrecht, Eklektik. Eine Begriffsgeschichte mit Hinweisen auf die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte, Stuttgart-Bad Cannstatt 1994. 48 Vgl. hierzu insbesondere Martin Bondelis sowohl für eine engere Platner- als auch für die allgemeine Anthropologieforschung innovative und richtungsweisende These von der Genese der Platnerschen Anthropologiekonzeption aus den Traditionen der Wolff-Schule, nach der die Bewußtseins- und Apperzeptionsthematik nicht ohne Körperbezug denkbar waren, weil die Seele nicht selbständig, sondern nur im Beziehungsgeflecht zum Körper und zu äußeren Gegenständen 47

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empiristischer Anthropologie49 verstehen lassen und daß sie sogar bis in den Atheismusstreit eine ambivalente Attraktivität bewahren konnten. Die chronologische Skizze, die Hans-Peter Nowitzki dankenswerter Weise für diesen Band aus dem Zusammenhang einer umfangreicheren Monographie zusammenstellte, ergänzt die bisherige Kenntnis der Platnerschen-Biographie um wichtige Fundstücke und Nachträge. Ernst Platners Vorlesungen bildeten über mehrere Jahrzehnte einen intellektuellen Mittelpunkt des universitären Lebens in Leipzig, der von vielen Reisenden gerne aufgesucht wurde und dem zahlreiche Autoren wichtige Impulse für ihre spätere Entwicklung verdankten.50 Ohne seine Stellung und Bedeutung im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts überbewerten zu wollen – einen ‘geistigen Wendepunkt der Zeit’ macht er ebensowenig wie eine andere einzelne Figur des Zeitraums aus51 –, zeichnet es sich als Ergebnis der Beiträge ab, daß seine in den verschiedenen Dezennien dem jeweiligen Entwicklungsstand der Diskussion angepaßten Kompendien ein ergiebiges Corpus darstellen, um die keineswegs bruchlosen, vielmehr kontroversen Übergänge von den philosophischen und wissenschaftlichen Konstellationen der Aufklärung zu den Systemen des Idealismus und ihren Kritikern zu verfolgen. Nicht verschwiegen werden kann und soll, daß in den Abhandlungen des Jahrbuchs keineswegs alle Bereiche des Platnerschen Werkes Berücksichtigung finden; insbesondere die allgemeine, eudämonistisch fundierte Moralphilosophie – mithin Platners Ethik und Politik –, die er mit seinen anthropologischen und metaphysischen Grundlegungen vermittelt, sowie sein Beitrag zur Atheismus-Problematik und natürlichen Theologie52 wurden vernachlässigt. Auch die Ästhetik und Poetik des Leipzigers wurden nur am Rande thematisiert. Hier bleibt weiterhin ein spannungsgeladenes Feld miteinander konkurrierender Problemstellungen offen, das noch manche Diskussion bereithält. Wir hoffen jedoch, daß das vorliegende Jahrbuch der Aufklärung künftig auch in bestehen und daher das Körper-Seele-Verhältnis nicht ohne Eigenperspektive realisiert werden könne; vgl. hierzu den Beitrag von Bondeli in diesem Band. 49 Vgl. u.a. Aaron Garret, Anthropolgy: the ‘original’ of Human Nature, in: Alexander Broadie (Hg.), The Cambrigde Compendion to The Scottisch Enlightement, Cambridge 2003, 79–93; A. G., Human Nature, in: Haakonssen (ed.), Eighteenth-Century Philosophy (wie Anm. 38), 160– 233. 50 Košenina, Nachwort (wie Anm. 29), 80 ff. 51 So jedoch der pompöse Untertitel des Sammelbandes von Walter Jaeschke, Birgit Sandkaulen (Hg.), Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit, Hamburg 2004. 52 Vgl. Folkart Wittekind, Religion zwischen allgemeinem Anspruch und individueller Wirklichkeit. Eine systematische Interpretation von J. G. Fichtes Aufsatz „Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung“ unter Bezug auf E. Platner und K. F. Forberg, Diss. München 1992.

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diesen Punkten zu einer umfassenderen Betrachtung des Platnerschen Werkes einlädt. Die oben erwähnte Tagung wurde von der Fritz-Thyssen-Stiftung mit einem großzügigen Etat finanziert, wofür die Organisatoren sich an dieser Stelle ausdrücklich bedanken. Dank gilt selbstverständlich auch den Teilnehmern, die mit ihren engagierten Vorträgen und Diskussionen, zu einer produktiven Atmosphäre beitrugen; ihre Bereitschaft, die Ergebnisse der oft kontroversen Debatten in ihre Beiträge aufzunehmen, trug erheblich zu einer gewissen Einheit der thematisch, methodisch und systematisch unterschiedlichen Ausführungen zu Platner bei. Zu danken ist darüber hinaus Prof. Dr. Friedrich Vollhardt (München), der den Organisatoren mit Rat und Tat zur Seite stand. Dank gilt schließlich Maximilian Benz und Sebastian Schmidt, die den Ablauf der Veranstaltung in umsichtiger Art gewährleisteten. Guido Naschert, Gideon Stiening

ABHANDLUNGEN

WERNER EULER Commercium mentis et corporis? Ernst Platners medizinische Anthropologie in der Kritik von Marcus Herz und Immanuel Kant

I. Einleitung. Problemexposition Die Begründung der Gemeinschaft von Körper und Seele galt in der philosophischen Tradition seit Descartes als eines der schwierigsten Probleme.1 Wenn man es nicht gerade für unlösbar oder scheinbar hielt, wurden zu seiner Lösung im Laufe der Zeit verschiedene, miteinander konkurrierende metaphysische Erklärungsmodelle entwickelt, z.B. die Theorie des physischen Einflusses oder die Lehre von der prästabilierten Harmonie.2 Das Problem meinte man in der Frage zu sehen, wie zwei voneinander unabhängige und ganz verschieden bestimmte „Dinge“ (Körper und Seele) doch einen notwendigen ZusammenBereits Christian Wolff gab sich skeptisch hinsichtlich einer Lösung dieses ‘Problems’, indem er bemerkte, „daß der natürliche Einfluß der Seele in den Leib und des Leibes in die Seele ohne allen Grund nur für die lange Weile angenommen werde“. Vgl. Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt. Mit einer Einleitung und einem kritischen Apparat von Charles A. Corr, in: C. W., Gesammelte Werke, I. Abteilung, Bd. 2: Vernünftige Gedanken (2) (Deutsche Metaphysik), hg. von Charles A. Corr, Hildesheim, Zürich, New York 1983, 470 ff. (§§ 760 ff.), hier 472; vgl. Christian Wolff, Psychologia empirica, Part. II, Sect. II, Cap. III: De commercio inter mentem & corpus, besonders §§ 962 f., in: C. W., Gesammelte Werke, II. Abteilung, Bd. 5, Hildesheim, Zürich, New York 1968; vgl. Michael Wolff, Das Körper-Seele-Problem. Kommentar zu Hegel, Enzyklopädie (1830), § 389, Frankfurt am Main 1992, 156 ff.; vgl. Werner Euler, Bewußtsein – Seele – Geist. Untersuchungen zur Transformation des Cartesischen „Cogito“ in der Psychologie Christian Wolffs, in: Oliver-Pierre Rudolph, Jean-François Goubet (Hg.), Die Psychologie Christian Wolffs. Systematische und historische Untersuchungen, Tübingen 2004 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung, 22), 11–50, hier 33–44. 2 Vgl. Alexander Košenina, Ernst Platners Anthropologie und Philosophie. Der ‘philosophische Arzt’ und seine Wirkung auf Johann Karl Wezel und Jean Paul, Würzburg 1989 (EPISTEMATA. Würzburger wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft, 35), 27. 1

Aufklärung 19 · © Felix Meiner Verlag 2007 · ISSN 0178-7128

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hang in einer gemeinsamen Einheit bilden könnten. Diese Einheit mußte so bestimmt sein, daß sie sowohl dem Körper als auch dem Geist angemessen war. Dazu wurde eine wechselseitige Beeinflussung angenommen als Wirkung verschiedenartiger, einander entgegengesetzter Kräfte, so daß Veränderungen, die von einer materiellen Kraft ausgingen, Auswirkungen auf den Seelenzustand hatten und geistige Kräfte sich auf Körperbewegungen erstrecken konnten. Im Anschluß an Christian Wolff war es in der Metaphysik üblich geworden, für die Bezeichnung des Verhältnisses zwischen Körper und Geist den lateinischen Begriff des commercium zu wählen.3 Erst Immanuel Kant präzisierte die begriffliche Bedeutung des commercium, ohne daß ihn eine solche Theorie überzeugte. Er bezeichnete damit die „dynamische“ Gemeinschaft von Substanzen, d.h. ihren wechselseitigen kontinuierlichen Einfluß aufeinander, im Unterschied zur communio, d.h. der bloß lokalen Gemeinschaft.4 Allerdings war der Begriff der ‘Gemeinschaft’ im 18. Jahrhundert in beiderlei Bedeutung in Gebrauch, so daß es zu Verwechslungen kam. Das Problem der Gemeinschaft scheint jedoch erst als Folge einer Reihe von anderen Annahmen aufzutreten, die die Bestimmung des Begriffs der Seele bzw. des Körpers betreffen. Ich meine damit vor allem den Substanzcharakter mit den ihm seit Descartes immanenten klassischen Merkmalen, durch die Körper und Geist als materielles bzw. immaterielles „Ding“ einander entgegengesetzt sind.5 Diese Voraussetzung bedingte aber andererseits auch das Bestreben nach einer Art von Arbeitsteilung zwischen der Medizin als der Wissenschaft, die sich für die Erhaltung des menschlichen Körpers zuständig hielt, und der Philosophie als Vgl. Christian Wolff, Psychologia empirica (wie Anm. 1), Part. II, Sect. II, Cap. III; vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten, Metaphysica, Editio VII, Halle und Magdeburg 1779 (Sectio XXII: Commercivm animae et corporis, §§ 733–739), reprografischer Nachdruck, Hildesheim 1963, 289–292. 4 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (KrV), Dritte Analogie der Erfahrung, B 260 f. (A 213 f.). Kants Werke werden nach der Akademie-Ausgabe der Gesammelten Schriften (AA), hg. von der königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900 ff., zitiert unter Angabe der Band-, Seiten- und ggf. Zeilenziffer. Zitate aus der KrV werden durch die Originalpaginierung der ersten (A) bzw. zweiten Auflage (B) nachgewiesen. 5 Die nicht unerheblichen Differenzen in den Konzeptionen von Substantialität in der Nachfolge Descartes’ (Spinoza, Leibniz, Malebranche, Wolff) spielen für die Lösung des Commercium-‘Problems’ eine eher untergeordnete Rolle. Entscheidend für das Verstehen und für die Frage der Auflösbarkeit des „Problems“ ist einzig das Fürsichsein der Substanz als eines Dinges. Daß der Begriff der Substanz als prozeßhaftes Verhältnis der Substantialität und Akzidentalität, näherhin als Kausalitätsverhältnis verstanden werden muß, hat erstmals Hegel gezeigt (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke 8: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Erster Teil. Die Wissenschaft der Logik. Mit den mündlichen Zusätzen. Auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausgabe. Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1970, 294–300 (§§ 150–154). 3

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dem Gebiet der Erforschung des menschlichen Geistes. Die Koalition beider zur Beförderung eines gemeinsamen Zweckes (der Vervollkommnung des Menschen) bedurfte nicht nur der einvernehmlichen Erweiterung der Kompetenzen, sondern auch einer klaren Abgrenzung der jeweiligen fachspezifischen Zuständigkeiten.6 Im Mittelpunkt jenes Austausches und arbeitsteiligen Miteinanders von Medizin und Philosophie stand die Frage nach dem Menschen, verkörpert in einer neuen wissenschaftlichen Disziplin, die sich weithin als Anthropologie ausgab und sich zum Teil medizinisch-physiologisch, zum Teil philosophischpsychologisch ausgestaltete. Das Selbstverständnis einer solchen Anthropologie beruhte auf dem Anspruch, das Problem der Gemeinschaft von Körper und Seele als einer genuin anthropologischen Fragestellung zu lösen und mit Hilfe der dazu verwendeten Lösungsstrategie auch andere wissenschaftliche Teildisziplinen unter sich zu vereinen.7 In dem nachfolgenden Beitrag soll anhand des Anthropologie-Konzeptes Ernst Platners und seines wirkungsmächtigsten Gegenentwurfs – der kantischen Anthropologie – gezeigt werden, daß die medizin-anthropologischen Anläufe zur Lösung des Commercium-Problems zu kurz greifen und notwendig scheitern. Selbst der Kants Philosophie zugewandte, sich „philosophisch“ verstehende praktizierende Arzt Marcus Herz (1747–1803) kann als Kritiker und Sympathisant der Theorie Ernst Platners den Konflikt nicht entschärfen, der sich um die Frage des Commercium-Problems entsponn.

Vgl. Marcus Herz, Briefe an Aerzte. Erste Sammlung, Mietau 1777, 142: „Jede Wissenschaft, jede Kunst hat ihre Gränzen, hat ihre bestimmten Gegenstände die sie bearbeitet. Die Arzeneykunst hat auch die ihrigen, und man fordere nicht Wirkungen von ihr, die mit ihrer Bestimmung ganz ungleichartig sind“. Gleichwohl erwartet Herz eine vollständige medizinische Seelenlehre als Endzweck der Medizin. Um dieses Ziel anzustreben, werden empirische Verfahrensweisen eingesetzt: „Auch hier im Reiche der geistigen Natur müssen wir daher gleichfalls, bis jene Köpfe einst erscheinen, mit Eifer suchen, ihnen vorzubereiten und durch Beobachtungen und behutsame Versuche, deren Erfolg wir wenigstens mit einiger Wahrscheinlichkeit voraussehen, ihnen Resultate darzubieten, deren sie sich mit Zuverläßigkeit als Materialien zu ihrem Gebäude bedienen können“ (M. H., Etwas Psychologisch-Medizinisches. Moritz Krankengeschichte, in: Marcus Herz, Philosophisch-medizinische Aufsätze. Mit einem Nachwort hg. von Martin L. Davies, St. Ingbert 1997, 60–84, hier 65, vgl. 61 [zuerst in: Journal der practischen Arzneykunde und Wundarzneykunst 5 (1798), 2. St., 259–339]). Vgl. E. Ebstein, Eine vergessene Pathographie von Marcus Herz über Karl Philipp Moritz aus dem Jahre 1798, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 117 (1928), 513–515. 7 Vgl. dazu die präzise Analyse dieses Zusammenhangs von Gideon Stiening, Ein „Sistem“ für den „ganzen Menschen“. Die Suche nach einer ‘anthropologischen Wende’ der Aufklärung und das anthropologische Argument bei Johann Karl Wezel, in: Dieter Hüning, Karin Michel, Andreas Thomas (Hg.), Aufklärung durch Kritik. Festschrift für Manfred Baum zum 65. Geburtstag, Berlin 2004, 113–139, besonders 118, 121 f., 127. 6

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Auch das Selbstverständnis des Heilkünstlers unterlag im 18. Jahrhundert einem Wandel. Das Bedürfnis nach Aneignung psychologischer Instrumente wurde weitgehend durch empirisch-physiologische Vorstellungen gesättigt. Die ärztliche Praxis erschien vor allem in der Therapeutik angesichts mangelnder theoretischer Prinzipien als ungenügend. Marcus Herz beklagt diesen Zustand in einem Brief an seinen ehemaligen Lehrer Kant: Das praktische medicinische Leben ist das unruhigste und beschwerlichste für Geist und Körper. Die Kunst ist noch lange nicht dahin, daß die reine Vernunft sich daran laben könnte. Was diese noch so sorgfältig glättet und ründet erscheint in der Anwendung nur zu oft voller Ecken und Rauhigkeiten. Der empirische Arzt, dessen Herz nie an der Vernunft hängt ist in sich fast der glücklichste.8

Dennoch wird sich zeigen, daß Herz – im Unterschied zu Kant – den Heilberuf aus der Sicht seiner medizinischen Praxis ganz entscheidend an die Empirie bindet. Erfahrung ist für ihn nicht nur ein Hilfsmittel, sondern eine unentbehrliche Grundlage sowohl der Diagnostik als auch insbesondere der Therapeutik. Bei Kant hingegen ist der empirische Arzt eine negative Stilisierung des Mediziners als eines unbedachten Handwerkers, der Vernunftprinzipien ignoriert und seine ganze Geschicklichkeit aus der Gewohnheit schöpft oder dem Zufall überläßt.9 Diesem Typus des Heilpraktikers wird das Ideal eines philosophischen Arztes entgegengehalten.10 Der philosophische Arzt leitet die Mittel seiner Heilkunst aus Vernunftgründen ab und überläßt nichts dem Zufall. Kant verwendet diese Titulierung gelegentlich zur Auszeichnung zeitgenössischer Mediziner wie Christoph Wilhelm Hufeland (1762–1836) oder Samuel Thomas Soemmerring (1755–1830). Auch Herz betrachtet sich selbst als einen philosophischen Arzt, aber als einen solchen, der notwendig von Vernunftgründen auch absehen muß, sobald es darum geht, Heilmittel – und zwar hier insbesondere Mittel der Psychologie – zu verordnen und anzuwenden. Mit ebendieser Einsicht scheint Herz die Grenzen der Erkenntnis, die sein Lehrer 1781 mit der Vernunftkritik aller Metaphysik des alten Zuschnitts abgesteckt hatte, zu mißachten. Diese Einstellung zur Vernunftkritik hing allerdings mit dem Unvermögen des Berliner Arztes zusammen, an der Geistesentwicklung seines philosophischen Lehrmeisters nach 1770 noch hinreichend Anteil nehmen zu können.

Herz an Kant, 25.11.1785 (AA X, 425 f., Nr. 255). Vgl. Kant, KrV (wie Anm. 4), B 852 (A 824). 10 Zur Bedeutung und Verwendung dieses Ausdrucks in der Literatur des achtzehnten Jahrhunderts vgl. Stiening, „Sistem“ (wie Anm. 7), 121; Košenina, Platner (wie Anm. 2), 25 ff.; vgl. dazu Hans-Peter Nowitzki, Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien im Widerstreit, Berlin, New York 2003 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, 25), 26, 378 f. 8 9

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Ernst Platner stilisierte den philosophierenden Arzt, dem er sich selbst zurechnete, je nach der Veränderung seiner medizin-anthropologischen Position auf verschiedene Weise. Hing er in der ersten Auflage seiner Anthropologie noch dem Vorbild der Medizintheorie Hallerscher Prägung an, so wechselte er ab der Mitte der 1770er Jahre ins Lager der Anhängerschaft Stahls, der für ihn zum Kennzeichen des philosophischen Arztes wurde.11 Vor dem Hintergrund einer feststellbaren Verschiebung in Platners Anthropologie-Konzept von einer ursprünglich empiristischen, eher lockeanisierenden Seelenlehre12 zu einer an Platon orientierten, rationalen Begründungsweise, der zufolge Allgemeinbegriffe und Grundsätze der Vernunft nicht aus sinnlicher Erkenntnis abgeleitet werden können, sondern unabhängig davon in der Seele schon vorhanden („angeboren“) sind und durch die Sinne und das Gedächtnis bloß dazu veranlaßt werden, sich zu äußern und zu entwickeln,13 ist es nachvollziehbar, daß Kant 1783 aus Platners Aphorismen von 1776 zitiert. Er stimmt mit Platner darin überein, daß uns Gegenstände der Erfahrung in vielerlei Hinsicht fragwürdig und unbegreiflich seien, während alle Aufgaben, die von den erfahrungsunabhängigen Vernunftideen gestellt werden, aufgelöst werden müßten.14 Allerdings ist Kant darauf bedacht, den transzendentalen Standpunkt der Kritik der reinen Vernunft nicht preiszugeben zugunsten eines spekulativ-rationalen. Dabei darf trotz aller Würdigung der rationalen Elemente in Platners Anthropologie aus systematischer Sicht nicht vernachlässigt werden, daß sein Seelenverständnis auch in der späteren Zeit seines Schaffens pointiert anti-rational geprägt ist, indem vor allem der Begriff des Selbstbewußtseins als „Selbstgefühl“ oder „Gefühl des Ich“, d.h. als Empfindung gefaßt wird.15

Siehe dazu Nowitzki, Aufklärungsanthropologien im Widerstreit (wie Anm. 10), 206 ff. Vgl. Ernst Platner, Anthropologie für Aerzte und Weltweise. Erster Theil, Leipzig 1772. 2. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1772. Mit einem Nachwort von Alexander Košenina, 33 f. (§§ 118–126). 13 Vgl. Ernst Platner, Philosophische Aphorismen nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte. Erster Theil. Neue durchaus umgearbeitete Ausgabe, Frankfurt und Leipzig 1784, §§ 86–95. Siehe auch den Beitrag von Gideon Stiening in diesem Band. 14 Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (1783), § 56, Fn. (AA IV, 349). Kant zitiert aus den §§ 728–729 der Platnerschen Aphorismen, Erster Teil, in der Fassung von 1776 (Ernst Platner, Philosophische Aphorismen nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte, Leipzig 1776). 15 Vgl. Ernst Platner, Neue Anthropologie für Ärzte und Weltweise. Mit besonderer Rücksicht auf Physiologie, Pathologie, Moralphilosophie und Ästhetik. Erster Band, Leipzig 1790, § 65; Ernst Platner, Philosophische Aphorismen nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte. Ganz neue Ausarbeitung. Erster Theil, Leipzig 1793, § 142, § 146; Ernst Platner, Lehrbuch der Logik und Metaphysik, Leipzig 1795, 21 (§ 72) bis 25 (§ 85). Siehe den Beitrag von 11 12

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II. Ernst Platners Anthropologie – Fundamentalphilosophie oder medizinisch-philosophische Seelenkunde? Platners Anthropologie (in ihrer Erstfassung) ist für Philosophen und für philosophische Ärzte geschrieben. Sie soll erklärtermaßen kein akademisches Lehrbuch sein.16 Der Verfasser verbindet mit seiner Schrift die Aufgabe, „Körper und Seele in ihren gegenseitigen Verhältnissen, Einschränkungen und Beziehungen zusammen [zu] betrachten“.17 Damit geht der Anspruch einher, die Medizin durch philosophische Erkenntnisse zu erweitern. Denn da ihm die Philosophie als „die Wissenschaft des Menschen“ gilt, so kann der Arzt nach seiner Vorstellung die praktische Heilkunst nur in Kenntnis dieser Wissenschaft auf den Menschen anwenden.18 Allerdings setzt diese Allianz das Wissen um die Teile und Grenzen der Wissenschaften überhaupt voraus, damit sie nicht voreilig zu einem System vereinigt werden. Das Verhältnis der Medizin zur Philosophie und besonders zur Seelenlehre soll nicht ausführlich thematisiert werden. Es sei ohnehin allgemein anerkannt, „daß ein Arzt ein Philosoph sein müsse“.19 Platner beklagt (ebenso wie sein Kritiker Marcus Herz) eine Vernachlässigung der Seelenlehre unter den Medizinern, und er führt dieses Versäumnis auf das Vorurteil zurück, die Natur der Seele sei unerfahrbar und die Gemeinschaft von Körper und Seele demzufolge ein unergründbares Geheimnis.20 Eine solche Skepsis wäre aber nur dann gerechtfertigt, „wenn man unter der Gemeinschaft der Seele mit dem Körper die Art und Weise versteht, wie aus Bewegungen der Materie in der Seele Ideen, und aus den Ideen der Seele Bewegungen in der Materie entstehen [...]“.21 Damit wird anscheinend die klassische, auf Descartes zurückgeführte Theorie des physischen Einflusses, die von der Vorstellung materieller Ideen Gebrauch macht, verworfen. Daß es nichtsdestotrotz ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis zwischen Körper und Seele gibt,22 sieht Platner durch die Empfindung bestätigt. Worauf ihre Gemeinschaft beruht Udo Thiel in diesem Band. Vgl. auch Manfred Franks umfassende Untersuchung: Selbstgefühl. Eine historisch-systematische Erkundung, Frankfurt am Main 2002, 37–40, 87 f. 16 Platner, Anthropologie 1772 (wie Anm.12), Vorrede, XXIV. 17 Ebd., XVII. 18 Ebd., VI, vgl. III. 19 Ebd., IX. 20 Ebd., IX-X. 21 Ebd., X. Eine solche Sichtweise wurde im Anschluß an Descartes von ‘philosophierenden’ Medizinern des späten achtzehnten Jahrhunderts durchaus vertreten. Siehe dazu Werner Euler, Die Suche nach dem „Seelenorgan“. Kants philosophische Analyse einer anatomischen Entdekkung Soemmerrings, in: Kant-Studien 93 (2002), 453–480, spez. 461–464. 22 Siehe Platner, Anthropologie 1772 (wie Anm. 12), 37 (§ 138).

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– ob auf der vorherbestimmten Harmonie oder auf einem wirklichen Einfluß –, das soll nicht weiter untersucht werden.23 Er will sich bescheiden, nur so weit Philosoph zu sein, wie er es als Mensch, als Arzt und als Lehrer sein müsse. Allerdings ist dieser Anspruch der Bescheidenheit an den tatsächlichen sachlichen Erfordernissen einer philosophischen Klärung derjenigen Voraussetzungen zu messen, auf denen Platners anthropologischer Lösungsansatz des Commercium-Problems basiert. Und dazu gehört die Annahme einer psychophysischen, realen Wechselwirkung zwischen geistigen und körperlichen Kräften.24 Ich werde im folgenden ausgewählte Momente aus Platners Anthropologie von 1772 referieren und problematisieren, die m.E. für seine Bearbeitung des Commercium-Problems relevant sind: 1) den Begriff des Lebens; 2) den Begriff der Seele und des Bewußtseins; 3) die Gemeinschaft als Verhältnis von Seele und Körper; 4) „Sitz“ und „Organ“ der Seele; 5) Nervensaft, Lebensgeister und Impressionen („materielle Ideen“). Leider nur am Rande beziehe ich mich auf die Neue Anthropologie von 1790 und auf die Logik und Metaphysik von 1795. Entsprechendes gilt von den verschiedenen Fassungen der Aphorismen, auf die ich mich nur dann beziehen werde, wenn die Frage der Genese der Platnerschen Philosophie im Verhältnis zu seinen Kritikern dazu auffordert. Zum Verhältnis der beiden Anthropologien von 1772 und 1790 zueinander darf als bekannt vorausgesetzt werden, daß es sich dabei um zwei verschiedene Ausarbeitungen handelt. Platner hat die Anthropologie in der Ausgabe von 1790 nicht bloß verbessert, sondern – jedenfalls seinem Selbstverständnis nach – vollständig neu bearbeitet. Sie ist nicht nur wesentlich umfangreicher als die 1772 edierte Fassung, die sich der aphoristischen Ausdrucksweise bedient,25 sondern in der Ausführung und Systematik ihr deutlich überlegen. Andererseits ist sie nach meinem Verständnis nicht das, was Platner seinen Lesern glaubhaft machen möchte: kein von der Anthropologie von 1772 „ganz unterschiedenes, ganz unabhängiges Buch“.26 Die Grundauffassungen des Autors bleiben weitgehend identisch. Insbesondere erkenne ich in der Neuen Anthropologie kein eindeutiges Abrücken von der empiristisch begründeten Seelenlehre und vom mechanistischen zugunsten eines strukturell teleologischen Modells der Erklärung des Zusammenhangs von Körper und Seele.27 In einzelnen Komponenten der anthropologischen Konzeption gibt es allerdings Akzentverschiebungen.

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Ebd., XII. Ebd., §§ 307–311. Ebd., Vorrede, XVIII-XX, XXIII-XXIV. Platner, Neue Anthropologie 1790 (wie Anm. 15), Vorrede. Siehe dagegen Nowitzki, Aufklärungsanthropologien im Widerstreit (wie Anm. 10), 223.

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1. Der Begriff des ‘Lebens’ in der Anthropologie von 1772 Im folgenden beziehe ich mich auf Platners Anthropologie von 1772, die ich als Grundtext ausgewählt habe, weil sie als Ausgangspunkt für die systematische Beurteilung der Anthropologiekritik von Herz und Kant am besten geeignet ist. Bereits die „Erste Lehre“, die die Ähnlichkeit und die Besonderheit des Menschen gegenüber Pflanzen und Tieren zum Gegenstand hat, wirft Fragen und Probleme auf, für die in der untersuchten Schrift kaum eine Lösung in Sicht ist. Ohne den Begriff des Lebens allgemein zu definieren, unterscheidet Platner am Menschen drei Formen von Leben: das mechanische, das geistige und das vernünftige.28 Das mechanische Leben soll allen Gattungen auf gleiche Weise zukommen; durch das geistige unterscheiden sich Mensch und Tier von der Pflanze; die Vernunft ist das spezifische Merkmal des Menschen (§ 3). Problematisch ist vor allem die Bestimmung des mechanischen Lebens, weil nicht deutlich wird, welches darin eigentlich das Prinzip des Lebendigen ist. Zunächst (§ 4) erklärt es sich als „eine regelmäßige Bewegung der flüssigen Materien in angemessenen Kanälen“. Flüssigkeiten („Säfte“) verändern, vermischen und verwandeln sich in feste Teile. Solche Veränderungen sind rein mechanische Körperbewegungen oder auch chemische Stoffumwandlungen. Die Bewegungen heißen geradezu deshalb „Leben“, weil sie ihren Grund im Mechanismus der Lebewesen haben (§ 6), der aber nicht das Prinzip ihres Lebens ist. Genaugenommen hängt dies mit der Kraft zusammen, welche die Bewegung auslöst und unterhält. Diese sei nämlich eine „lebendige Kraft“, insofern sie sich selbst „erregt und unterhält“ (ebd.). Es müßte allerdings gezeigt werden, wie eine Selbsterregung auf mechanische Weise möglich ist. Gegen diese Begründung spricht bereits die Behauptung im nachfolgenden Paragraphen, daß die „Reizbarkeit“ in den festen Bestandteilen des Körpers „die Ursache des Antriebs und der Dauer des mechanischen Lebens“ sei (§ 7).29 Denn Reizbarkeit ist als ein passives Vermögen, als die Fähigkeit erregt zu werden und auf äußere Reize zu reagieren, und eben nicht als „lebendige Kraft“, die eigendynamisch ihre Wirkung entfaltet, zu verstehen. Eine Verschärfung des Problems, rein mechanische Körpervorgänge als lebendig auszuweisen, erfolgt ab § 8, wo nämlich festgelegt wird, daß die Wirkung einer Seele (Empfindung, Wille) für das mechanische Leben von Mensch und Tier weder hinreichend noch überhaupt notwendig sei. Das mechanische Platner, Anthropologie 1772 (wie Anm. 12), § 2. Die nachfolgenden Angaben der Paragraphen im Text beziehen sich auf diese Schrift. 29 Vgl. Platner, Neue Anthropologie 1790 (wie Anm. 15), § 162 („allgemeine Lebendigkeit“) und § 163. 28

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Leben ist m.a.W. so seelenlos wie das der Pflanze (vgl. § 10). Denn die Wirkungen der Seele könnten die zum mechanischen Leben gehörenden Bewegungen weder erwecken noch unterhalten, noch in irgendeiner anderen Weise manipulieren. Da also „die Seele mit dem mechanischen Leben des Menschen in keiner unmittelbaren Verbindung“ stehe, sei der Körper in bestimmter Hinsicht (solange er keiner Empfindung bedürfe) in der Lage, „ohne alle Vereinigung mit der Seele“ zu leben (§ 13). Als Beispiele dienen ungeborene Kinder, Menschen im Tiefschlaf, Sterbende, Nervenkranke (§ 14).30 Aus der Seelenlosigkeit und Seelenunabhängigkeit des mechanischen Lebens des Körpers, der mit der cartesianischen Tiermaschine vergleichbar ist, folgt der Sache nach, daß er nicht lebendig ist. Eine Maschine kann sich nicht selbst produzieren und unterhalten.31 Wenn das mechanische Leben aber unlebendig ist, dann hat der Körper, dessen Prinzip es sein soll, nichts mit der Seele gemeinsam. Er gehört damit nicht zum Ganzen eines Menschen- oder Tierdaseins. Wir werden noch sehen, daß Marcus Herz seine Platner-Kritik genau an dieser verwundbaren Stelle der Anthropologie ansetzt. Nun gibt es aber tierische Körper, die einer Seele bedürfen, weil das mechanische Leben zu ihrer Erhaltung nicht ausreicht. Sie müssen sich nämlich die Mittel zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse in der Natur selbst erst suchen und 30 Die geforderte Unabhängigkeit des mechanischen Lebens von Einwirkungen der Seele erinnert an die Irritabilitätslehre Albrecht von Hallers (1708–1777), die Platner in einem Aufsatz über das Hallersche System vom Jahre 1781 verwirft, um sich zugleich als Anhänger der von ihm in einigen Punkten allerdings auch kritisch modifizierten Stahlschen Theorie zu bekennen. Nähere Angaben dazu finden sich in der Darstellung von Nowitzki, Aufklärungsanthropologien im Widerstreit (wie Anm. 10), 205–212, 428. 31 Schon Georg Ernst Stahl (1659–1734) kritisierte die mechanistische Begründung der Ordnung und Bewegung der Teile in einem lebendigen Körper. Er verwarf die Vorstellung, daß eine Maschine aus sich heraus einen Lebenseffekt erzeugen oder mit einem Lebensprinzip verbunden werden könne. Vorgänge in einem lebendigen Körper ließen sich nicht auf mechanische Bewegungsabläufe reduzieren. Denn es sei auf mechanische Weise unerklärbar, wie sich ein Körper von selbst bewegen könne (Über den Unterschied zwischen Organismus und Mechanismus [aus der Dissertatio inauguralis medica de medicina medicinae curiosae, Halle 1714], §§ XX-XXIV, eingeleitet, ins Deutsche übertragen und erläutert von Bernward Josef Gottlieb, in: Sudhoffs Klassiker der Medizin 36, Leipzig 1961, 48–53, hier §§ XXI und XXII). Zur Erklärung der Wirkungsweise einer Lebenskraft im lebendigen Körper favorisiert er vielmehr den Begriff des „Organismus“. Durch ihn werden alle mechanischen Bewegungen der Teile des lebendigen Körpers notwendig durch einen bestimmten „Endzweck“ gesteuert, nämlich durch die Erhaltung des ganzen Körpers (ebd., 49, § XXI). Man müsse „die Natur und Beschaffenheit des Organs nach philosophischen Grundsätzen als ein Instrument betrachten, das gewissermaßen ein Subjekt ist, von einem höheren Prinzip zu einem bestimmten Endzweck bewegt und angetrieben“ (ebd., 50, § XXI). Deshalb plädiert Stahl dafür, die Medizin von den Einflüssen cartesianischer Mechanik und Physik zu „reinigen“ (ebd., 52, § XXIII). Zu Stahl vgl. auch Johanna Geyer-Kordesch, Ernst Georg Stahl. Pietismus, Medizin und Aufklärung in Preußen im 18. Jahrhundert, Tübingen 2000.

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verschaffen (§ 15–17). Da die Seele aber nun so beschaffen ist, daß sie äußere Gegenstände unmittelbar nicht wahrnehmen und ihren Willen nicht ausführen kann, benötigt sie dafür gewisse Werkzeuge. Das sind z.B. die äußeren Sinne und das Gehirn zum Empfinden und Erkennen (§ 18–19). Zusammengenommen macht dies das „geistige Leben“ der Tiere aus. Das Verhältnis des mechanischen Lebens zum geistigen wird zu einem weiteren Problem in Platners Konzeption des menschlichen Lebens. Denn beide Lebensformen sollen einerseits „ganz von einander verschieden“ sein und andererseits miteinander verknüpft werden (§ 21). Die Verschiedenheit und Verknüpfung beruht darauf, daß das mechanische Leben zwar ohne das geistige bestehen kann, aber nicht umgekehrt (§ 22). Das mechanische Leben ist nämlich dazu da, die Werkzeuge zu erhalten und verfügbar zu machen, deren die Seele zum Empfinden, Erkennen und Wollen bedarf (§ 23). Diese Vorstellung ist jedoch weit entfernt von einer organischen Einheit von Körper und Seele, die mit der Auflösung des Commercium-Problems bewerkstelligt werden sollte. Wenn sich das mechanische Leben selbst erhalten können soll, dann impliziert dies notwendig, daß sich die Körperglieder, deren sich die Seele als Werkzeuge bedient, von selbst bewegen können. Statt dessen aber bemächtigt sich die Seele ihrer wie ein Techniker einer Maschine. Es besteht nur eine ganz äußere Verbindung zwischen ihnen, ihr Verhältnis ist eben ein mechanisches. Das Prinzip des Organischen und der Organisation spricht Platner nur den beseelten Lebewesen zu. Allein diese sind für ihn fähig, ihren Körper zu organisieren (§ 125). „Organisation“ bedeutet hier nach Platner, daß der Körper, mit dem die Seele durch ihre Denkkraft in einem Wirkungsverhältnis steht, in den Teilen, die der Seele am nächsten sind, „einen gewissen Grad der Vollkommenheit haben“ (ebd.). Die weitere Konsequenz ist, daß ein Drittes als Bindeglied zur Vereinigung beider notwendig wird. Das ist der Nervensaft.32 Das menschliche Leben zeichnet sich gegenüber dem Tierdasein durch die Vernunftbegabung aus. Vernunft ist nämlich das Vermögen, Ähnliches und Verschiedenes, Übereinstimmendes und Widersprechendes einsehen zu können, d.h. zwischen wahr und falsch unterscheiden zu können (§ 42, § 44). Dieser Fähigkeit bedarf es, weil der Mensch im Unterschied zum Tier eine „klare Vorstellung“ oder ein Bewußtsein von seiner „Glückseligkeit“ hat, indem er stets den Zustand seiner Befriedigung mit dem unbefriedigten vergleichen kann. (§ 35). Ebenso muß er um seiner Selbsterhaltung willen alle Dinge nach ihren Merkmalen unterscheiden können (§ 41). Vielleicht unter dem Eindruck der noch zu erörternden Kritik von Marcus Herz taucht das mechanische Leben (bzw. das Pflanzenleben) in der Neuen Anthropologie in der vorgetragenen Fassung nicht mehr auf. Statt dessen ent32

Darauf komme ich im fünften Unterabschnitt zum vorliegenden Abschnitt zurück.

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wickelt Platner die Konzeption einer vierstufigen Organisation des tierischen Körpers. Darauf kann ich hier leider nicht näher eingehen. Es würde sich aber zeigen lassen, daß auch dort ungelöste Schwierigkeiten in bezug auf das Verhältnis unorganischer (mechanischer) und organischer (lebendiger) Körperanteile auftreten (Zellgewebe ist unorganisch [bloße Materie]; es wird zu einem organischen Faden [„thierische Fibern“] gesponnen, der sich mechanisch auch wieder auflösen läßt).33

2. Der Begriff der ‘Seele’ und des ‘Bewußtseins’ In der Zweiten Lehre der Anthropologie von 1772 beansprucht Platner, die Wirklichkeit der Seele aus dem Begriff des Bewußtseins zu beweisen.34 Der Seelenbegriff beschränkt sich hier auf die menschliche Seele. Der Beweisgang ist einerseits rational aufgebaut, andererseits stützt er sich inhaltlich auf die Empfindung, nämlich auf das „Selbstgefühl“. Die einzelnen Schritte der Begründung sind nicht leicht zu durchschauen. Sie weisen Unschärfen und Fehler auf. Ausgangspunkt ist die Bestimmung des Selbstbewußtseins, des Ich, der Person aus dem Gegenstandsbewußtsein, d.h. aus dem Bewußtsein, daß es Gegenstände „außer mir“ gibt (§ 45):35 „Ich unterscheide mich von allem was außer mir ist. Dasjenige, was ich von dem das außer mir ist, unterscheide, das ist meine Person, das bin Ich“.36 Dieser Einstieg hat Ähnlichkeit mit der klassischen Bewußtseinsformel von Christian Wolff am Anfang seiner Deutschen Metaphysik.37 Aber Platner trennt auf der einen Seite das in verschiedene Bewußtseinsakte, was bei Wolff gerade die Originalität gegenüber dem Cartesischen „Ich denke“ ausmacht: die ursprüngliche, unmittelbare Einheit von Ich und Nicht-Ich in ein und demselben Akt. Platners „Ich“ als „dasjenige, was ich von dem das außer mir ist unterscheide“ (§ 46), abstrahiert von dem Bewußtsein als einer zweiseitigen Identi-

Das Zellgewebe ist „nicht selbst etwas organisches; sondern der Stoff, die Materie woraus alles Organische in dem menschlichen Körper geformt ist“ (Platner, Neue Anthropologie 1790 [wie Anm. 15], § 17, vgl. auch § 18). 34 Vgl. die entsprechenden Ausführungen in der Neuen Anthropologie 1790 (wie Anm. 15), §§ 157–173, wo allerdings die Existenz der Seele als Substanz vorausgesetzt wird (siehe § 157). 35 Nach § 192 erfolgt die Begründung umgekehrt: „Damit die Seele etwas von sich selbst unterscheide, muß sie nothwendig sich selbst erkennen, d.h. sich ihres Daseyns bewußt seyn“ (vgl. § 290). 36 Platner, Anthropologie 1772 (wie Anm. 12), 13 (§ 46). 37 Vgl. Wolff, Metaphysik (wie Anm. 1), § 1. Vgl. Euler, Bewußtsein – Seele – Geist (wie Anm. 1), 12–19. 33

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tät. Auf der anderen Seite entdeckt Platner an der Seelensubstanz eine solche zweiseitige Identität.38 Die Verselbständigung des Ich gegenüber demjenigen, was „außer mir“ ist, ist der Ausgangspunkt der Wiedereinsetzung bzw. Beibehaltung des SubstanzDualismus von Körper und Seele. Das in der Vorstellung „außer mir“ Befindliche wird zu einem Andersseienden: „Ich kann mir alle Theile meines Körpers als außer mir vorstellen. Folglich sind alle Theile meines Körpers außer mir“ (§ 48). Aus der gedachten Unterscheidung folgt (§ 49) die reale Absonderung des Ich von seinem Körper, derart daß hier ein Besitzverhältnis entsteht.39 Die Teile der Körper treten aus der Gemeinschaft mit dem Ich aus (§ 50). Sie führen ein Eigendasein: „Alle Theile meines Körpers werden mir gleichgültig“ (§ 50). Auf diese Weise meint Platner auf die Identität des Ich bei allen Veränderungen des Körpers schließen zu können. Der Schluß auf die Substantialität des denkenden Bewußtseins (§ 55) ist nicht überzeugend. Der Begriff der Substanz wird in diesem Falle nicht geklärt, und zwar mit Absicht nicht.40 Platners Stellungnahme zu dieser Frage verrät aber immerhin so viel, daß er das Selbstbewußtsein für eine Substanz im prägnanten Sinne zu halten scheint. Der Nachweis der Identität der Ich-Substanz erfolgt auf der Grundlage eines als dauerhaft und klar ausgegebenen Selbstgefühls (§ 56).41 Die fortdauernde Identität ist dieses Gefühl, und es ist jeweils nur einer bestimmten (denkenden) Substanz eigen (§ 57). Der letzte Schritt in dieser Gedankenfolge besteht in der Identifizierung der Ich-Substanz mit der Seele: „Das was sich bewußt ist, dies Ich heist meine Seele – nicht meine Seele. Ich und Seele ist einerley. Also ist die Seele eine Substanz, eine von dem ganzen Körper verschiedene Substanz, und immer die nämliche Seele“ (§ 59) Es ist sinnvoll, den Gegensatz „meine Seele – nicht meine Seele“ so auszulegen, daß die Negation die Bedeutung des leidenden gegenüber dem tätigen Bewußtsein erhält. Beide sind nach § 55 in der Substanz vereint.42 „Nicht meiVgl. demgegenüber die Interpretation von Falk Wunderlich, Kant und die Bewusstseinstheorien des 18. Jahrhunderts, Berlin, New York 2005 (Quellen und Studien zur Philosophie, 64), 82 f. 39 Vgl. auch Ernst Platner, Philosophische Aphorismen nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte. Erster Theil. Neue durchaus umgearbeitete Ausgabe, Leipzig 1784, 9 (§ 22). 40 Vgl. Platner, Anthropologie 1772 (wie Anm. 12), 24 f. (§ 88). 41 Zum Selbstgefühl vgl. ebd., 17 f. (§ 65, besonders § 65A) (Selbstgefühl ist „die eigene Erfahrung von den Wirkungen und Modificationen unserer Seele [...]“), 18 f. (§§ 67–69), 28 (§ 100), 29 (§ 102) (Selbstgefühl vermittelt die Identität des Ich); vgl. Platner, Neue Anthropologie 1790 (wie Anm. 15), §§ 157–159; vgl. Platner, Aphorismen I 1784 (wie Anm. 39), 8–9 (§§ 21 ff.). 42 Daß der von Platner verwendete Substanzbegriff nicht mit der cartesianischen res cogitans 38

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ne Seele“ ersetzt den Ausdruck „mein Körper“. Es ist die Seele, insofern sie Gegenstand des denkenden Bewußtseins ist.43 Entscheidend ist an dieser Stelle, daß die Seele wieder in den alten Rang einer Substanz (und zwar nicht nur in der cartesianischen Bedeutung eines für sich bestehenden Dinges) erhoben wird. Für sie gilt, daß sie ursprünglich vom Körper verschieden und unabhängig ist, mit dem sie zugleich in Wechselwirkung stehen soll. Dies erst läßt die Suche nach einer Gemeinschaft, d.h. nach einer gemeinsamen Bestimmung von Körper und Seele, die beide aufeinander beziehbar macht, zum Problem werden. Außerdem hängt die Frage nach einer weiteren klassischen Seelenqualität, nämlich nach ihrer Immaterialität, von ihrem Substanzcharakter ab.44 In der vorcartesianischen Psychologie der Renaissance haben besonders Bernardino Telesio (1509–1588) und Tommaso Campanella (1568–1639) in Abkehr vom aristotelischen Seelenbegriff den (materialistischen) Standpunkt vertreten, die Seele sei rein körperlich, nämlich mit einem Teil des Körpers identisch (‘Ich bin in meinem Gehirn’). Indem alle psychischen Phänomene und Funktionen auf physiologische Vorgänge reduziert wurden, verschwand zwar das Problem der Gemeinschaft, aber auf Kosten weitaus größerer epistemologischer Schwierigkeiten, wie der Organisation jeder einzelnen Körperbewegung durch die mechanische Bewegung eines einzigen zentralen Körperorgans, des „Spiritus“.45 Diese Ansicht war gekoppelt an den Aufschwung der Neuroanatomie, die die Medizin erneuern und sie zur Leitwissenschaft erheben sollte, die zugleich den Erneuerungsbedarf der Philosophie anzeigte.46 Die Körperwissenschaft sollte die Philosophie ersetzen.47 Daß Platner seiner Anthropologie ein empirisch geprägtes Verständnis von Bewußtsein, Ich und Seele zugrunde legt, ohne von einer Körperseele zu sprechen, wird nicht bloß durch den Rekurs auf das Selbstgefühl deutlich, sondern zeigt sich auch daran, daß das Selbstbewußtsein von Ort, Zeit und anderen Faktoren der Existenz einer Seelensubstanz abhängt.48

einerlei ist, ergibt sich auch aus anderen Stellen, an denen ihr dynamischer Aspekt als „Kraft“ und „Tätigkeit“ zum Tragen kommt (vgl. Platner, Aphorismen I 1784 (wie Anm. 39), 11 (§ 30), 12 (§ 33), 14 (§ 39), 283 f). Ich danke Falk Wunderlich für diesen wertvollen Hinweis. 43 Vgl. dazu Platner, Aphorismen I 1784 (wie Anm. 39), 10 (§ 26). 44 Siehe dazu Platner, Anthropologie 1772 (wie Anm. 12), 25 (§ 89), 33 (§ 121), 120 (§ 379). 45 Siehe dazu das schöne und lehrreiche Buch von Michaela Boenke, das eine vergessene Forschungslücke füllt: Körper, Spiritus, Geist. Psychologie vor Descartes, München 2005 (Humanistische Bibliothek. Texte und Abhandlungen, Reihe I, Abhandlungen, 57), 120 ff., 171 ff. 46 Vgl. Boenke, Körper, Spiritus, Geist (wie Anm. 45), 180 f. 47 Ebd. 48 Platner, Anthropologie 1772 (wie Anm. 12), 54–57 (§§ 193–201). „Wenn wir nicht wissen, wo wir sind und wann wir sind, so sind wir unser nicht bewußt“ (§ 193).

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Auch in der Logik und Metaphysik von 1795 wird das Bewußtsein sowie die Seele als substantielle Einheit und Identität durch das „Gefühl“ des eigenen Denkens bestimmt:49 „In allem Bewußtsein der Vorstellung ist das Gefühl ich denke: und in diesem das allgemeine Gefühl Ich. Ohne dieses ist also kein Bewußtseyn möglich; mithin keine völlige Vorstellung“.50 Hier verstärkt Platner sogar die Bedeutung des Selbstgefühls für die Konstitution des Bewußtseins, flankiert durch vehemente Kritik an Kant, insbesondere an dessen kritischer Zurückweisung der Vorstellung, die Seele sei Substanz. Doch hatte er sich bereits zwei Jahre zuvor in den Aphorismen kritisch mit Kants „Paralogismus“ in der KrV auseinander gesetzt.51 Den beiden Hauptwirkungen der Seele – dem Denken und dem Wollen – entsprechend, nimmt Platner zwei Grundkräfte derselben an.52 Aus diesen Komponenten bestehe das Wesen der Seele.53 Die Kraft zu denken entspricht demnach der „Einsicht der Einstimmung und des Widerspruchs“.54 Sie ist „die oberste Kraft aller Seelen“, die Vernunft. Alle Verstandeskräfte sind „Äußerungen und Formen der Vernunft“.55

3. Die Gemeinschaft von Seele und Körper Platner anerkennt die Zulässigkeit der Frage nach der Gemeinschaft von Körper und Seele. Er versteht darunter (wie viele Philosophen und Mediziner seiner Zeit) „die Art und Weise [...], wie aus Bewegungen der Materie in der Seele Ideen, und aus den Ideen in der Seele Bewegungen in der Materie entstehen [...]“.56 Für ihn kann also die Frage nach der Gemeinschaft nicht sinnlos sein. Hinsichtlich der Beantwortung der wie-Frage nimmt er allerdings eine skeptische Haltung ein. In der Vorrede zur Anthropologie von 1772 erklärt er (wie andere vor ihm) den Zusammenhang von Körper und Seele als ein unentdeckbares „Geheimnis“ (X). Er ist überzeugt, „daß alle Untersuchungen über die Natur der geistigen und materiellen Substanzen, und über die Gemeinschaft beyder Arten, niemals zu einem festen Lehrgebäude gerathen werden“ (XIV). Vgl. Platner, Logik und Metaphysik 1795 (wie Anm. 15), §§ 70–85. Ebd., § 72. 51 Ernst Platner, Philosophische Aphorismen nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte. Ganz neue Ausarbeitung. Erster Theil, Leipzig 1793, 335 ff. 52 Platner, Anthropologie 1772 (wie Anm. 12), Fünfte Lehre, 30–32 (§§ 107–117). 53 Ebd., 33 (§ 122). 54 Ebd., 31 f. (§ 112). 55 Ebd., 32 (§ 113). 56 Ebd., Vorrede, X. 49 50

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Dennoch hält er nicht alle Untersuchungen in dieser Frage für nutzlos. Worin der Zusammenhang auch immer bestehen mag und wie er zu begreifen ist – er wird von Platner als wirklich vorhanden vorausgesetzt und zum Gegenstand der „Beobachtung“ des gegenseitigen Verhältnisses von Körper und Seele erklärt (XI). Das Faktum einer wechselseitigen Beeinflussung von Körper und Seele wird nämlich durch die je eigene Empfindung bezeugt (XII). Dabei sei es gleichgültig, wie die Beeinflussung geschehe, ob durch vorherbestimmte Harmonie oder durch reellen Einfluß (XII). Platners Art des Umgangs mit dem Problem der Gemeinschaft von Körper und Seele, die darauf hinausläuft, es für unlösbar zu erklären, unterscheidet sich von einer anderen klassischen Art, nach der die Gemeinschaft der beiden Substanzen in ihrer Beziehung auf Gott (als unendliche Substanz) bestehe, innerhalb welcher sie miteinander identisch und in diesem Sinne zu begreifen seien (Descartes, Spinoza, Leibniz, Malebranche).57 Platner ist mit diesen Erklärungsweisen vertraut. Er hält sie allerdings für widerlegt und favorisiert die Theorie des reellen Einflusses des Körpers in die Seele (influxus physicus).58 Man könnte daher auch sagen, daß Platner, indem er auf der einen Seite das Gegebensein des wechselseitigen Einflusses bejaht und auf der anderen Seite die Beantwortbarkeit der Frage nach der Art der Beziehung beider Substanzen aufeinander verneint, inkonsequent ist. Um das Problem der Gemeinschaft als Problem der Abhängigkeit der Seele vom Körper zu verstehen, sind im wesentlichen zwei Gesichtspunkte zu berücksichtigen: erstens die Immaterialität und der Substanzcharakter der Seele und zweitens (im Widerspruch dazu) die Beschränkung ihres Erkenntnisvermögens. Diese besteht darin, daß die Seele nicht selbstreflexiv ist. Sie kann sich nicht selbst denken oder beobachten ohne eine Beziehung auf eine Körperempfindung (§§ 200, 287). Alle Begriffe erhält sie erst durch Eindrücke des Gehirns (§ 287). Sie produziert selbst keine Ideen (§ 428), und sie verfügt auch nicht über angeborene Begriffe (§ 191). Platner begründet die Notwendigkeit der Annahme einer Gemeinschaft (oder „Vereinigung“) von Seele und Körper in der Siebten Lehre der Anthropologie von 1772. Dort wird zunächst gezeigt, warum die Seele der Gesellschaft des Körpers bedarf. Bloß für sich genommen wäre sie nämlich nicht das, was sie ist. Sie hätte keine Vorstellungen von der Welt (als Inbegriff von Dingen außer mir) und könnte deshalb auch kein Bewußtsein ihrer selbst haben. Sie wäre also nicht Seele (§§ 127–129). Diese Konsequenz würde sich unweigerlich ergeben, weil die Seele selbst über kein Vermögen sinnlicher Wahrnehmung 57 Vgl. Michael Wolff, Das Körper-Seele-Problem (wie Anm. 1), 156 ff. Vgl. Euler, Bewußtsein – Seele – Geist (wie Anm. 1), 33–44. 58 Vgl. Platner, Anthropologie 1772 (wie Anm. 12), 91–95 (§§ 301–311).

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verfügt. Also ist sie auf die Verbindung mit dem Körper angewiesen, um zu solchen Wahrnehmungen zu gelangen (vorausgesetzt, sie erzeugt nicht selbst ihre Ideen, vgl. § 123). Das ist die „Absicht“ ihrer Verbindung – oder man kann auch sagen: der Zweck derselben. Dementsprechend wird das Verhältnis der Seele zum Körper so ausgelegt, daß der Körper der Seele insofern als „Werkzeug“ (oder Mittel) dient, als er sie mit Vorstellungsinhalten versorgt, und zwar in einer Form, in der Wahrnehmungsdaten für die Seele verfügbar werden. (vgl. § 130). Eigentlich ist jedoch nicht der ganze Körper Organ der Seele, sondern bloß das Gehirn, das Platner als „System“ der Werkzeuge verstanden wissen will, die „die Gegenstände der Welt nach der Lage des Körpers verfeinert vorstellen“ (§ 131). Insofern besteht die Gemeinschaft in der Abhängigkeit der Seele vom Körper hinsichtlich des Denkens (§ 138). Dies ist jedoch nur eine Seite der Gemeinschaft. Denn die Seele wirkt auch durch ihre zweite Grundkraft, das Wollen, auf die Außenwelt. Daraus ergibt sich laut Platner ein umgekehrtes Abhängigkeitsverhältnis: Um bestimmte Bewegungen ausüben zu können, hängt der Körper von der Seele hinsichtlich des Wollens ab. Das ist die zweite Seite der Gemeinschaft. Die Gemeinschaft von Körper und Seele wäre somit eine wechselseitige Abhängigkeit von Körper und Seele (§ 138). Dieses Resultat hat aber angesichts des Beweisganges für die Abhängigkeit des Körpers von der Seele (§§ 134–138) keine Gültigkeit. Denn in Wahrheit wird darin eine zweifache Abhängigkeit der Seele vom Körper nachgewiesen. Die Seele für sich kann nämlich unmittelbar gar nicht in die Welt wirken (§ 135). Um ihren Willen äußern und realisieren zu können, bedarf sie ‘feiner’ körperlicher „Werkzeuge“, durch die sie „nach den Gesetzen der Natur“ in die Welt wirken kann (§§ 136, 137). Noch problematischer ist jedoch die in § 139 vorgenommene Verquickung mit Raum und Zeit. Die Gemeinschaft wird nämlich nun so konkretisiert, daß die Seele mit dem Körper unmittelbar in einem Verhältnis der Gleichzeitigkeit stehe. Aus dem zusätzlichen Gedanken, daß simultane Dinge „außer einander“ (nämlich räumlich getrennt) „und beysammen“ (nämlich zugleich) seien, folgt dann der Schluß: „Also sind Leib und Seele beysammen“ (§ 139). Der gezogene Schluß kann nicht voraussetzungslos gelten. Erstens müssen Körper und Seele als Substanzen im Sinne von selbständig und für sich existierenden Dingen gedacht werden, um „außereinander“ sein zu können; zweitens muß vorausgesetzt werden, daß jede Substanz (unter Ausschließung aller anderen) nur je einen Ort einnimmt (vgl. § 140). Angenommen, diese Voraussetzungen gelten, dann ist der Schlußsatz falsch. Er müsste vielmehr lauten: „Also sind Leib und Seele beysammen und außereinander“. In diesem Falle wäre die Argumentation aber insofern zirkulär, als die Wahrheit des Schlußsatzes schon vorausgesetzt wird. Die folgenden §§ werden allerdings zeigen, daß Platner mit seiner gewagten

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Argumentation darauf abzielt, der Redeweise von einem Seelensitz im Körper Sinn zu verleihen und diesen Sitz auch anatomisch zu bestimmen. 4. Sitz und Organ der Seele Die Frage nach dem Sitz der Seele ist seit der Antike ein Thema der Philosophie und der Medizin. Sie wurde jedoch unterschiedlich interpretiert. Im 18. Jahrhundert gab es wenigstens zwei Verständnisweisen dieses Ausdrucks: Entweder wurde nach dem Ort der Seele im Körper gefragt, und dann beinhaltete die Antwort – um die eingangs erwähnte Differenzierung Kants wieder aufzugreifen – die communio von Leib und Seele; oder es wurde nach der Funktion bzw. den Funktionen der Seele (oder ihrer verschiedenen Vermögen) im Hinblick auf verschiedene Körpervorgänge gefragt, und dann bezog sich die Antwort auf das commercium von Körper und Seele. Die beiden Fragen wurden nicht immer klar genug voneinander getrennt. Diese Undifferenziertheit ist auch Platner vorzuwerfen. Denn bei ihm wird zwar deutlich, daß er zuletzt auf die lokale Gegenwart der Seele im Körper hinaus will. Das Wort „Ort“ kann jedoch auch einen logischen Ort bezeichnen. Platner geht in § 140 der Anthropologie (1772) von festen Ortsverhältnissen zwischen verschiedenen existierenden Dingen aus. Da für Substanzen aber gilt, daß sie „nur an einem Orte“ sein können (denn sie bestehen je für sich und sind unveränderlich und unbeweglich), schließt er darauf, daß die Seele sich innerhalb des Körpers – wohl weil vorher ihr Beisammensein festgestellt wurde – „irgendwo an einem Orte“ befinden müsse (ebd.). Will man diesen Ort näher bestimmen, so muß man beachten, daß der Sitz der Seele nicht nur den Aufenthaltsort (die anatomische Stelle) der Seele innerhalb des Körpers meinen kann, sondern auch die Bezeichnung für den (logischen) Ort, „in welchem die Grenzen des gegenseitigen Verhältnisses zwischen Seele und Körper sind“ (§ 142). Dieser Ort drückt offenbar ihre Gemeinschaft im Sinne des commercium, d.h. ihre Beziehbarkeit aufeinander aus, m.a.W. ihre Identität. Trotz alledem erweist es sich im letzten § der Siebten Lehre, daß Platner den Körperteil identifizieren möchte, dem der Seelensitz anhaftet. Denn er findet die Stelle, an der Körper und Seele wechselseitig „am nächsten“ voneinander abhingen. Das sei nun das Mark des Gehirns (d.i. das Großhirn), und also sei dies der Sitz der Seele (§ 143). Der Nachweis, daß das „Gehirnmark“ der Sitz der Seele sei, wird in der Neunten Lehre (§§ 159–163) geführt. Aus der Doppelstruktur der Seele (Denken und Wollen) ergeben sich zwei Anforderungen, die an den Körperteil zu stellen sind, der den Seelensitz repräsentiert: In ihm muß „die Abhängigkeit der Seele vom Körper in Ansehung der Empfindungen am unmittelbarsten“ sein, und der Wille muß in bezug auf die willkürlichen

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Körperbewegungen „zunächst“ wirken (§ 163). M.a.W. an dem Organ, welches Sitz der Seele ist, muß die größtmögliche Übereinstimmung zwischen Seele und Körper bestehen. Neuroanatomische Befunde verhelfen Platner zu der Überzeugung, „daß das Gehirnmark derjenige Theil im menschlichen Körper [ist], in welchem die Grenzen der gegenseitigen Abhängigkeit [] oder Gemeinschaft der Seele und des Körpers sind [], folglich [...] der Sitz der Seele [ist]“ (§ 163). Diese Erkenntnis beruht nach Platner auf der Erfahrung, daß „alle“ Empfindungen und willkürlichen Bewegungen der Nerven im Gehirnmark entstehen (§ 160) und daß einerseits die Bewegung des für die Empfindung benötigten „Nervensaftes“ im Gehirnmark endet, andererseits die Bewegung der für die Aktivierung der Körpermuskulatur erforderlichen „Lebensgeister“ an derselben Stelle anfängt (§§ 161–162). Diese Zusammenhänge betreffen zwar – was ihren empirischen Gehalt betrifft – die Physiologie als das Herzstück der medizinischen Anthropologie, das insoweit philosophisch uninteressant ist, als es historisch vielfache und im Grunde genommen zufällige Abwandlungen durchlaufen hat,59 aber an diesen Phänomenen offenbaren sich auch die Schwächen des Versuchs, das „Problem“ der Gemeinschaft mit unzureichenden rationalen Mitteln aufzulösen.

5. Nervensaft, Lebensgeister und Impressionen (materielle Ideen) Seit Descartes war es üblich geworden, die physiologischen Vorgänge im menschlichen Körper, die für das Zusammenwirken von Leib und Seele notwendig zu sein schienen, dadurch zu erklären, daß feinste, unsichtbare Partikel (Luft, Hauch, Staub) – von Descartes „Lebensgeister“ (esprits animaux, spiritus animalis) genannt – angenommen wurden, die über die (hohlräumigen) Nervenleitungen zwischen dem Gehirn und den übrigen Körperorganen zirkulierten und durch ihre mechanischen Bewegungsanstöße Empfindungen, Gedanken, Muskelbewegungen usw. auslösten.60 Bei allen Abänderungen in EinSo hat der Neuroanatom von Soemmerring auf der Grundlage eigener Laborversuche einerseits und der transzendentalen Naturlehre Kants auf der anderen Seite die physiologische Theorie des Seelenorgans aufgestellt, das Sitz und Funktion in den flüssigen Teilen des Gehirns hat. Sowohl die empirischen als auch die rationalen Belege, die er anführte, fanden zwar für kurze Zeit gebührende Beachtung in philosophischen und medizinischen Gelehrtenkreisen, konnten aber letzten Endes seine Hypothesen nicht beweisen. Vgl. Werner Euler, Die Suche nach dem „Seelenorgan“. Kants philosophische Analyse einer anatomischen Entdeckung Soemmerrings, in: Kant-Studien 93 (2002), 453–480, hier 461–464. 60 Die Annahme eines sich in den Nervenbahnen bewegenden „Spiritus“, der seelische Vorgänge im Körper steuert, führt jedoch auf die vorcartesianische Philosophie in der Renaissance zurück (vgl. Boenke, Körper, Spiritus, Geist [wie Anm. 45], 120 ff., 171 ff.). 59

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zelheiten, die im Laufe der Zeit erfunden wurden, behielt doch der Grundgedanke bis Ende des 18. Jahrhunderts seine Befürworter. Das gilt meiner Auffassung nach auch für Platner, auf den sich übrigens Soemmerring berief.61 Die Achte Lehre der Anthropologie (1772) handelt vom Gehirn, den Nerven und dem „Nervensaft“. Nervensaft ist im Grunde dieselbe Substanz wie die sogenannten „Lebensgeister“. In der Neuen Anthropologie (1790) spricht Platner nicht mehr von „Nervensaft“, sondern von „Nervengeist“.62 Seine Existenz und Wirksamkeit wird als wahrscheinlich angenommen, insofern der gesamte Körper als von einem Kanalsystem mit mehr oder weniger engen und mit flüssiger Materie gefüllten Röhren (d.i. den Nerven) durchzogen gedacht wird. Im Gehirn sollen diese Nervenkanäle mit den Blutgefäßen in Verbindung stehen, so daß der Nervensaft, der durch die Kanäle fließt, eigentlich aus dem Blut herausgefiltert wird (§ 149). Alle Nerven stehen in Verbindung miteinander (d.h. in „Gemeinschaft“) und können einander ihre Veränderungen „mitteilen“ (§ 157). Die Strömungsrichtung des Nervensaftes verläuft im Falle willkürlicher Bewegungen vom Gehirn weg, bei Empfindungen von den Sinnesorganen zum Gehirn hin (§ 155). Unentbehrlich für alle seelischen Funktionen ist die Bewegung des Nervensaftes in den Kanälen des Hirnmarks. Die Beweglichkeit und Intensität des Nervensaftes hängt vom Blutdruck und von äußeren Reizen ab (§ 158). Wichtiger als der Bau des Nervensystems ist die Funktion des Nervensaftes. Er ist nämlich das Medium, durch das der Körper real (physikalisch) die Seele beeinflußt, ohne sie zu berühren. Dabei „muß eine Kraft des Nervensaftes in die Seele übergehen, und ein Accidenz63 des Nervensaftes muß also ein Accidenz in der Seele hervorbringen“ (§ 304, vgl. § 307). Wie diese Einwirkung vor sich gehe, wird wiederum als unerklärbar hingestellt (§ 309). Der reelle Einfluß soll allerdings nicht bedeuten, daß der Nervensaft der Seele die innere sinnliche Impression übermittle (obwohl er doch die äußeren Impressionen „ins Gehirn fortpflanzt“ [§ 383]), sondern nur, daß die Lebensgeister im Gehirn „die Erkenntniskraft der Seele in Bewegung setzt“ (§ 310), woraufhin die Seele dann von selbst ihre „Aufmerksamkeit“ auf die innere Impression richtet (§ 311). In dieser Funktion wird der Nervensaft zu einer Ermöglichungsbedingung der Gemeinschaft (§ 309). Trotzdem hat Platner eine gewisse Vorstellung von einem entsprechenden physiologischen Ablauf: Die äußeren (sinnlichen) Impressionen, die durch Berührung der Sinnesorgane durch Körper erzeugt Vgl. Euler, Die Suche nach dem „Seelenorgan“ (wie Anm. 59), 461, 465 (Anm. 43). Siehe Platner, Neue Anthropologie 1790 (wie Anm. 15), 3 (§ 1, § 4), 40–51 (§§ 120–156), 61 (§ 186), 63 f. (§ 190) u.ö. 63 D.h. eine Vorstellung. Vgl. Platner, Anthropologie 1772 (wie Anm. 12), § 309. Das in diesem § vertretene Substanz-Akzidenz-Verhältnis ist übrigens ein erneuter Beleg dafür, daß Platner der überlieferten Substanzmetaphysik stärker verhaftet blieb, als er selbst es zugestehen konnte. 61 62

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werden, werden durch die Nerven bis ins Gehirn fortgepflanzt, wo die inneren Eindrücke entstehen und gespeichert werden (Empfindungsimpressionen). Die Bewegung der Lebensgeister im Gehirn soll dabei den ursprünglichen äußeren Bewegungen adäquat sein (§§ 237–239). Alle Bewegungen, auch die der Lebensgeister in den Nerven, geschehen mechanisch, d.h. durch „Stoß“ (§ 239).64 Zu der Vorstellung äußerer und innerer Eindrücke gehört Platners Begriff von einer Idee, über dessen Gebrauch mehr zu sagen wäre, als es hier möglich ist. Ideen entspringen aus der Erfahrung, d.i. aus sinnlicher Empfindung (§ 180) und sind demnach nicht angeboren (§ 181). Von allen Ideen existieren Eindrücke im Gehirn, die von der Bewegung der Lebensgeister herrühren, seien es sinnliche – oder seien es Gedächtnisimpressionen (§§ 388–389). Es gibt zwei einander entgegengesetzte Arten von Ideen: Empfindungsideen, die auf Selbstgefühl beruhen, und materielle Ideen (Ausdehnung, Figur, Größe, §§ 69–70). Daraus entstehen die Begriffe von Geist (Seele) und Materie. Materielle Ideen sind nichts anderes als die Impressionen, sofern sie über die Nerven ins Gehirn gelangen.65 „Materiell“ ist gleichbedeutend mit „zusammengesetzt“ (§ 61). Die Seele hingegen ist einfach und demnach immateriell. Im Unterschied zur materiellen ist die „geistige Idee“ „das Bewußtseyn und die Ueberzeugung von der Wirklichkeit eines außer ihr existierenden Objekts“ in der Seele. Sie entsteht durch die Bewegung der Lebensgeister aus der inneren Impression des Objekts (§ 284). Während Platner in der Anthropologie von 1772 unter den materiellen Ideen tatsächlich fixe Eindrücke, figürliche Gebilde, „Gehirnspuren“ (wie bei Descartes) versteht,66 verhält es sich in der Neuen Anthropologie – nach Herz maßgeblich infolge seiner Kritik – anders. Zwar wird auch hier nicht klar, was mit materiellen Ideen genau gemeint ist. Aber ausdrücklich sind es nun keine Eingravierungen oder Eindrücke im Gehirn, sondern Bewegungen des Nervengeistes in den Gehirnfasern, welche von den ursprünglichen Bewegungen der gereizten Sinnesnerven abstammen, und zwar soll es sich um „lebendige Bewegungen“ handeln, weil an ihrer Bildung auch die Seele mitwirke, von der angenommen wird, daß sie mit dem Nervengeist in Gemeinschaft stehe.67 Wie das genau vor sich geht, kann wiederum nicht erklärt werden. Denn die Seele ist ja immateriell (geistig), der Nervengeist aber materiell (körperlich). So können auch dessen Bewegungen nur mechanische Körperbewegungen sein. Ihre Lebendigkeit beruht demnach auf einer bloßen Behauptung.

64 65 66 67

Vgl. Platner, Neue Anthropologie 1790 (wie Anm. 15), § 367. Vgl. auch Platner, Neue Anthropologie 1790 (wie Anm. 15), §§ 366 ff. Platner, Anthropologie 1772 (wie Anm. 12), 65–69 (§§ 231–239). Platner, Neue Anthropologie 1790 (wie Anm. 15), 127–148 (§§ 341–378).

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Platners Bestimmung der materiellen Idee ist offenbar in sich widersprüchlich, und zwar nach beiden Auflagen der Anthropologie. Als Idee muß sie etwas Geistiges sein, d.h. zumindest von der Seele geformt werden. Aber als materielle Idee ist sie wesentlich die Beschaffenheit eines Körpers, sei es nun dessen Abdruck oder bildhafte Darstellung, oder dessen Bewegung. Man kann sagen, daß der Ausdruck der materiellen Idee bei Platner das verschleiert, was Faktum ist: nicht die Ungelöstheit (bzw. Unlösbarkeit) sondern die Scheinhaftigkeit des „Problems“ der Gemeinschaft von Körper und Seele.

III. Marcus Herz: Stromabwärts – Reise zu den Grenzorten der Philosophie 1. Der philosophische Arzt Marcus Herz (1747–1803), praktizierender Arzt und Philosoph, Chefarzt des Krankenhauses der jüdischen Gemeinde in Berlin,68 Freund und Leibarzt von Moses Mendelssohn und Karl Philipp Moritz, tritt 1773 als Rezensent von Platners Anthropologie unter dem Pseudonym „Z.“ in Erscheinung.69 1778 hielt er übrigens in Berlin Privatvorlesungen über rationale Anthropologie nach kantischen Grundlagen.70 Sein prominentester Hörer war der Staatsminister von Zedlitz.71 Ich konzentriere mich in meiner Darstellung im wesentlichen auf die zuvor genannte Rezension, die ich nach der Originalausgabe in der Allgemeinen deutschen Bibliothek zitiere.72 Auf den ersten Seiten seines Artikels, denen die eigentliche Platnerkritik dann erst folgt, skizziert Herz das Verhältnis von Medizin und Philosophie sowie deren Repräsentanten – des Arztes und des Weltweisen – als das einer Vgl. Martin L. Davies, „Der philosophische Arzt“ – Das gespannte Verhältnis zwischen Philosophie und Medizin zur Zeit der Aufklärung am Beispiel von Marcus Herz, in: Hallesche medizinhistorische Hefte 2 (1992), 4–27, hier 4–10. 69 Die Autorschaft von Herz gilt als gesichert durch einen Brief Kants an Herz (Ende 1773), AA X, 145; vgl. AA XIII, 60; vgl. Herz, Philosophisch-medizinische Aufsätze (wie Anm. 6), „Erläuterungen“ des Hg., 97, Anm. 1. 70 Vgl. Karl Vorländer, Immanuel Kants Leben. Neu herausgegeben von Rudolf Malter, Hamburg 1974, 92; vgl. den Brief von Herz an Kant (24.11.1778), AA X, 244; und Herz an Kant (Jan. 1779), AA X, 247. 71 Siehe dazu den Brief des Ministers an Kant (1.8.1778), AA X, 236, sowie den Bericht von Herz in seinem Brief an Kant vom 24.11.1778, AA X, 244; vgl. Davies, Der philosophische Arzt (wie Anm. 68), 7. 72 Wieder abgedruckt in: Herz, Philosophisch-medizinische Aufsätze (wie Anm. 6), 7–23. 68

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wechselseitigen Abhängigkeit und Kooperation bei der Lösung einer gemeinsamen Aufgabe. Dieses Verhältnis dokumentiert sich auch in seinem praktischen Bezug als behandelnder Arzt zum Patienten.73 Allerdings ist der Philosoph oder Weltweise von Anfang an privilegiert, weil seine Wissenschaft für alle Künstler (und der Arzt gilt als Künstler) und Gelehrte unentbehrlich ist, indem sie allein die „unmittelbare Grundlage von allen ausmacht“ (d.h. diese überhaupt erst zu einer Wissenschaft macht) und sie systematisch absichert.74 Alle besonderen Wissenschaften, die einzelne Erkenntnisse zum Gegenstand haben, müssen daher die allgemeinen Bestimmungen der Philosophie voraussetzen, und sie sind nach Herz auch „nichts als abgeleitete Folgen“ von diesen.75 Den systematischen Zusammenhang zwischen den Einzelwissenschaften und der Philosophie als dem allgemeinen und notwendigen Grund aller beschreibt Herz bildhaft als eine Flußfahrt, die von der Quelle der Philosophie stromabwärts führt und die Verzweigungen dieses Weges erkundet: Man könnte daher nicht unschicklich die Philosophie mit einem Strohme vergleichen, aus welchem die übrigen Wissenschaften, in verschiedenen Entfernungen von der Quelle, gleichsam Arme von beyden Seiten ausfließen, zu denen man aber nicht kommen kann, außer wenn man seine Farth, von der Hauptquelle des Stroms an der Länge nach nimmt. Je entfernter der Ort des Ausflusses von der Quelle ist, desto länger ist der Weg, und eine desto größere Strecke des Strohms muß der Reisende zurücklegen. Und gewiß, es wäre ein Werk, das keines Philosophen unwürdig ist, diese verschiedene Entfernungen anzugeben, und die Länge des Strohms zu bestimmen, die jeder Reisende mitzunehmen hat, um nach diesem oder jenem Arme zu gelangen, d.h. wie viel Philosophie dem Naturforscher, dem Künstler, dem Rechtsgelehrten u.s.w. nöthig ist, damit sie ihre Wissenschaft in ihrer ganzen Ausdehnung umfassen können, und dieselbe nicht handwerksmäßig betreiben dürfen, sondern nach deutlichen und unzweifelhaften Grundsätzen zu behandeln vermögend seyn.76

Die Medizin liegt abseits des Stromes der Philosophie in den Nebenarmen, d.h. sie ist nicht wie andere Wissenschaften eine unmittelbare Folge aus ihr. Wo genau sich ihr Ort im Flußsystem der Wissenschaften befindet und wie die Entfernung von der Quelle der Philosophie zu bemessen ist, kann vom Rezensenten nicht untersucht werden.77

Nach den eigenen Berichten über seine therapeutische Praxis; vgl. Herz, Etwas Psychologisch-Medizinisches (wie Anm. 6), 67–84. 74 Marcus Herz, [pseudonym: Z.], D. Ernst Platners, der Arzeneykunst Professors in Leipzig, Anthropologie für Aerzte und Weltweise. Erster Theil. Leipzig, in der Dyckischen Buchhandlung, 1772, in: Marcus Herz, Philosophisch-medizinische Aufsätze (wie Anm. 6), 7–23 (zuerst in: Allgemeine deutsche Bibliothek 20.1 [1773], 25–51, hier 26). 75 Ebd. 76 Herz, Platners Anthropologie (wie Anm. 74), 26 f. 77 Vgl. ebd., 29. 73

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Es gibt also für Herz kein sicheres Kriterium der Abgrenzung der Medizin von der Philosophie. Das ist auch der Sinn seiner Worte in einem späteren Brief an Kant, in dem er bekennt, er liebe „das Umherwandeln in den Gränzörtern der beyden Länder, der Philosophie und der Medizin, und habe Freude daran, [...] Vorschläge und Einrichtungen zu Gemeinregirungen entwerfen“ zu können.78 Es besteht aber eine ursprüngliche, geistige Verwandtschaft der Medizin zumindest mit einem Teilgebiet der Philosophie, nämlich mit der Seelenlehre (Psychologie). Ihr Bedürfnis nach einer solchen philosophischen Ergänzung leitet sich ab vom Endzweck dieser Wissenschaft, besteht doch dieser darin, „den menschlichen Körper in seinem natürlichen Zustande zu erhalten, und alle Veränderungen, die ihn aus dieser Verfassung bringen können, abzuwenden [...]“.79 Dieser Zweck könne ohne Kenntnis der Seele und ihrer Veränderungen nicht erreicht werden. Denn ein wechselseitiger Einfluß von Seele und Körper aufeinander sei unbestreitbar gegeben: Auf der einen Seite haben die seelischen Empfindungen (als Äußerung einer Kraft) bestimmte Auswirkungen auf physiologische Körpervorgänge („Erweiterung der Kanäle“, „Umlauf der Säfte“); auf der anderen Seite zieht jede körperliche Veränderung bestimmte Folgen im Seelenzustand nach sich. Jeder Wissenschaftler, der sich mit dem Körper oder der Seele befaßt, muß also wegen ihres wechselseitigen Einflusses mit beiden Gegenständen vertraut sein. Dabei liegt das besondere Interesse des Arztes darin, durch künstliche Beeinflussung der Seele, Körperkrankheiten abzuwehren (bzw. Gesundheit wieder herzustellen). Anknüpfend an seinen Versuch über den Schwindel analysiert Herz Moritz’ Krankheitsverlauf während einer von ihm verordneten psychischen Kur. Er fragt nach dem Einfluß der Gemütszustände auf den Gesundheitszustand des Körpers.80 Daß seelische Zustände erfolgreich als Signale körperlicher Erkrankungen gedeutet werden können, war in der Medizinpsychologie seiner Zeit bekannt. Aber die Heilung des Körpers über „künstliche Veränderungen und Richtungen der Seelenfähigkeiten“ zu versuchen,81 war ein Novum. Psychische Heilmittel fehlten im Arzneimittelkatalog. Eine psychische Behandlung erlernt Herz an Kant (27.2.1786), AA X, 431. Herz, Platners Anthropologie (wie Anm. 74), 27. 80 Herz, Etwas Psychologisch-Medizinisches (wie Anm. 6), 60. Vgl. Herz’ Bericht in: Marcus Herz, Versuch über den Schwindel. Zweyte umgeänderte und vermehrte Auflage, Berlin 1791, 17–22. Zum Verhältnis zwischen Herz und Moritz vgl. Martin L. Davies, Identity or History. Marcus Herz and the End of the Enlightenment, Detroit, Michigan 1995, 265 f. (Anm. 162–164); desweiteren Michael Hagner, Psychophysiologie und Selbsterfahrung. Metamorphosen des Schwindels und der Aufmerksamkeit im 19. Jahrhundert, in: Aleida und Jan Assmann (Hg.), Aufmerksamkeiten. Archäologie der literarischen Kommunikation VII, München 2001, 241–263, hier: 244–246. Zur Geschichte der Entdeckung der Schwindelphänomene vgl. ebd., 241 ff. 81 Herz, Etwas Psychologisch-Medizinisches (wie Anm. 6), 61. 78 79

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man nach Herz auch nicht aus Lehrbuchformeln, sondern durch eigenes Nachdenken.82 Es kommt für ihn nun darauf an, aus vereinzelten, zufallsbedingten Heilungserfolgen „endlich ein System zu bilden, das die Anleitung enthält, jene ungefähre heilsame Gemüthsveränderungen vorsetzlich zu veranstalten und mit Absicht jedes Mal diejenige zu erregen, welche der Kur des gegenwärtigen körperlichen Uebels angemessen ist“.83 Herz wollte ein Heilverfahren in die Medizin einführen, für das wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse in der Psychologie gebraucht wurden. Seine Vorstellungen von einer Psychotherapie organischer Leiden konnte er verbinden mit der im ausgehenden 18. Jahrhundert in Deutschland angesehenen Krankheitslehre des schottischen Arztes John Brown (1735–1788).84 Voraussetzung einer solchen Heilpraxis mußte eine Theorie psycho-physischer Wechselwirkung sein, die zugleich geeignet war, das Commercium-Problem aufzulösen. Den Gedanken der Manipulierbarkeit körperlicher Zustände (insbesondere von Schwächen) und damit der Abwehr von Krankheiten durch psychische, jedoch vorsätzliche Befindlichkeiten werden wir auch bei Kant vorfinden, allerdings in einer anderen Version und unter anderen Voraussetzungen: die Heilung des eigenen Körpers ist für Kant mittelbar und zumindest teilweise auch Sache des Philosophen (entsprechend ist die Heilung des Geistes mittelbar auch Sache des Arztes). Das kantische Konzept benötigt allerdings keine Lösung des „Problems“ der Gemeinschaft, weil es im Zuge der Vernunftkritik obsolet wird. Nach Herz hat die Möglichkeit der wechselseitigen Beeinflussung von Körper und Seele ihren Grund in der „genaue[n] Verknüpfung zwischen Seele und Körper, vermöge welcher kein Zustand des einen abgeändert werden kann, ohne daß in dem andern ebenfalls eine Veränderung hervorgebracht wird [...]“.85 Der Gedanke der Verbindung (des Nexus) zwischen Seele und Körper darf von keinem Arzt in seinen Überlegungen außer acht gelassen werden.86 Den Begriff der Verknüpfung bestimmt Herz folgendermaßen: Zwey Dinge, die mit einander verknüpft sind, und ein Ganzes ausmachen, müssen von der Beschaffenheit seyn, daß ein jedes von ihnen den Grund von allen denjenigen enthält, was in dem andern vorhanden ist, und daher kein Zustand des einen verändert

82 83 84 85 86

Ebd., 65. Ebd., 61. Siehe ebd., 63. Herz, Platners Anthropologie (wie Anm. 74), 28. Vgl. ebd., 30.

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werden kann, wenn der Zustand des andern derselbe bleiben soll, dieses liegt in der Idee des Nexus, worauf bey allen Erklärungen Rücksicht genommen werden muß.87

Die praktische Umsetzung dieser Idee steckt nach Herz noch in den Anfängen. Wer sie als medizinische Technik beherrscht und anwendet, der wird als philosophischer Arzt angesehen.88 Um bestimmte psychische Regungen (Affekte, Leidenschaften) als Heilmittel gegen körperliche Krankheiten einsetzen zu können, muß ein solcher Arzt über eine gründliche und genaue Kenntnis der Seele verfügen.89 Dies ist aber nach Herz bei den wenigsten Medizinern der Fall. Herz lobt deswegen in seiner Rezension die von Platner in der Vorrede zur Anthropologie (1772) geäußerte Methodenkritik hinsichtlich der Medizin als Wissenschaft. Er zitiert dabei wörtlich. Diese Kritik betrifft den Umstand, daß die Teile und die Grenzen der Medizin90 zu sehr durch empirische Vergleiche statt durch wahre Verhältnisse (oder Begriffe) festgelegt werden. Die Philosophie als „Wissenschaft des Menschen“, „den der Arzt kennen und heilen soll“,91 werde kaum beachtet. In der Tat trifft diese Einschätzung auf Platners Erklärung in der Vorrede uneingeschränkt zu.92 Aus gutem Grund fordert dieser nämlich eine prinzipielle Orientierung der Medizin an der philosophischen Seelenlehre. Nun ist diese Forderung nach einer philosophischen Begründung der Wissenschaft der Medizin nach der Einschätzung von Herz allerdings mit einem erheblichen Methodenproblem verbunden. Weil die Medizin noch nicht so weit fortgeschritten sei, „ihre Sätze a priori aus reinen Vernunftbegriffen“ herzuleiten, vielmehr „Beobachtung und Erfahrung noch immer“ als die „einzige Führerin“ derselben zugelassen werden müßten, so könnten eben „die subtilere[n] Sätze der Metaphysik“ (gemeint sind Lehrsätze der Psychologie) der Medizin nur von geringem Nutzen sein. Es wird also auf der einen Seite von Herz eine Neubegründung der Medizin durch metaphysische Begriffe gefordert; auf der anderen Seite wird bedauert, daß solche Begriffe keinen Nutzen brächten, weil die Medizin noch keine Vernunftwissenschaft sei. Der beschriebene Zwiespalt des Platner-Rezensenten scheint Ausdruck eines objektiven Sachproblems zu sein. Dieses besteht darin, daß die geforderten philosophischen Lehrsätze (aus der Psychologie) „zu allEbd., 30 f. Vgl. ebd., 28; vgl. Davies, Der philosophische Arzt (wie Anm. 68), 11–13. Zum philosophischen Arzt siehe auch Herz, Briefe I 1777 (wie Anm. 6), 201 (vgl. Davies, Identity [wie Anm. 80], 94 f.). 89 Vgl. Herz, Platners Anthropologie (wie Anm. 74), 28. 90 Siehe dazu Herz, Briefe I 1777 (wie Anm. 6), 142, 150 f. 91 Herz, Platners Anthropologie (wie Anm. 74), 29. 92 Vgl. Platner, Anthropologie 1772 (wie Anm. 12), Vorrede, VI. 87 88

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gemein“ sind, um mit den (durch Beobachtung gewonnenen) Einzelbestimmungen des Körpers übereinstimmen zu können, zumal die medizinischen Detailkenntnisse noch nicht ausreichend seien, um solche allgemeinen Begriffe auf besondere Fälle anwenden zu können: „[U]nsere Einsicht in die Natur des Körpers ist noch zu eingeschränkt, als daß wir alle einzelne Bestimmungen erkennen sollten, die mit jeder Veränderung verknüpft sind, damit wir die sehr allgemeinen Wahrheiten, auf jeden besondern Fall anzuwenden vermögend wären [...]“.93 Herz vergleicht diese Selbstkritik der Medizin mit den „ausübenden Künsten“, insbesondere mit der Dichtkunst, „wo die höheren Grundsätze sehr wohl zur Kritik, wegen ihrer Allgemeinheit aber nie zu Regeln in der Ausübung dienen können [...]“.94 Um das benannte Problem aufzulösen, schlägt der Rezensent vor, in der Medizin von denjenigen allgemeinen Seelenbestimmungen abzusehen, die unmittelbar keinen erkennbaren Einfluß auf die Veränderung des Körpers erlangen.95 Wie wir gesehen haben, entspricht dies Platners Empfehlungen (der sich freilich nicht daran gehalten hat). In diesem Sinne werden klassische Seelenqualitäten (wie Einfachheit, Immaterialität, Unsterblichkeit) als mögliche Untersuchungsgegenstände aus der Anthropologie verbannt. Der Arzt hat nur ein eingeschränktes, d.h. ein ganz spezielles Interesse an der Seelenkunde: „[...] sein Gegenstand ist nicht die Seele an und für sich, sondern nur in so fern sie mit dem Körper in Verbindung stehe“.96 Das bedeutet, daß das Commercium und die damit verbundenen Probleme sowohl ins Zentrum der medizinischen Anthropologie97 als auch der von Herz propagierten Therapie rückt, ohne den Begriff der Seele „an und für sich“ philosophisch zu betrachten. Andererseits liegt ihm, wie gezeigt, die Behauptung der Substantialität, einschließlich der klassischen Seeleneigenschaften, zugrunde. Es bedeutet weiterhin, daß die Medizin eigentlich nur von der empirischen Psychologie profitieren soll. Die letztere gehört aber laut Herz nicht in die Metaphysik, sondern in die Naturlehre.98 Diese Konsequenz paßt nicht zu dem emphatisch verkündeten Leitungsanspruch der Vernunft in der Medizin und damit nicht zu dem, was sich Herz unter einem philosophischen Arzt vorstellt. Eine Allianz beider Wissenschaften hätte eigentlich durch die Erkenntnisse rationaler Psychologie und einer fundamentalen Kritik derselben vermittelt werden müssen.

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Herz, Platners Anthropologie (wie Anm. 74), 30. Ebd. Ebd. Ebd., 31. Vgl. Stiening, „Sistem“ (wie Anm. 7), 127, 132. Herz, Schwindel 1791 (wie Anm. 80), 32.

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Kritik erschöpft sich aber nicht darin, sie bloß als untauglich für die Medizin zu erklären. Die notwendige Aufgabe, an deren Lösung der Arzt und der Philosoph zusammenarbeiten können, liegt darin, die Veränderungen im Körper und in der Seele in ihrem wechselseitigen Zusammenhang zu ergründen sowie „durch bewährte Erfahrungen und Versuche“ zu bestätigen. Aus diesen Erfahrungen heraus eine „Hypothese“ erfunden zu haben, nach der alle Erscheinungen „unter ein System gebracht werden können“, das sei das Werk des Verfassers der Anthropologie für Ärzte und Weltweise.99 Herz attestiert Platner, die erforderlichen Mittel zur Verbindung von Philosophie und Medizin zum Teil gefunden zu haben, indem er nämlich aus einer einfachen „Hypothese“ bezüglich der Bewegung des „Nervensaftes“ zahlreiche Veränderungen im Körperzustand hergeleitet habe, die die Folge verschiedener Äußerungen der Seelenkräfte seien. Des weiteren habe er als Bedingungen der Ausbreitung der Seelenkräfte die Art der Bewegung der Lebenskräfte und die Beschaffenheit des Gehirns festgestellt. Außerdem zeuge sein Werk durchgängig von einer „gründliche[n] psychologische[n] Kenntniß“. Nur habe er aufgrund seiner philosophischen Voreingenommenheit „den wahren Begriff der Verknüpfung zwischen Seele und Körper“ aus den Augen verloren (nämlich das geistige Leben) und „zu einseitigen Erklärungen seine Zuflucht“ genommen.100 Die Haupteinwände, die Herz gegen Platners Anthropologie vorbringt, betreffen zuerst die Erklärung des mechanischen Lebens, das allen Gattungen von Lebewesen gemeinsam sei, und die allgemeine Charakterisierung der Natur als ihrem Wesen nach mechanisch aufgebaut. Herz moniert, daß Platner den Einfluß des geistigen Lebens (d.i. der zweiten Lebensstufe: Empfindung, Wille)101 auf das mechanische bestreite.102 Zu Recht sieht er sich dadurch zur Frage veranlaßt, worin denn sonst die Verknüpfung von Seele und Körper bestehe.103 Das mechanische Leben des Menschen scheint Platner zufolge in der Tat nicht mit der Seele in Verbindung zu stehen; denn in § 13, auf den sich die HerzKritik bezieht, hatte er erklärt, daß der menschliche Körper, „so lange er die Empfindung zur Befriedigung seiner Nahrungsbedürfnisse nicht nöthig“ habe, „ohne alle Vereinigung mit der Seele leben“ könne.104 Das mechanische Leben dürfte somit auch gar kein Gegenstand der Anthropologie sein, die sich ja ganz allgemein auf das commercium gründen soll.

99 100 101 102 103 104

Herz, Platners Anthropologie (wie Anm. 74), 31 f. Ebd., 32. Platner, Anthropologie 1772 (wie Anm. 12), §§ 8–10, 13. Herz, Platners Anthropologie (wie Anm. 74), 35. Ebd. Platner, Anthropologie 1772 (wie Anm. 12), 6.

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Herz stellt diesen groben Konzeptionsfehler in den Kontext einer Unvorsichtigkeit beim abstrakten Denken, die in der Philosophie Irrtümer erzeuge. Sie liege darin, das durch gedankliche Analyse subjektiv geteilte Ganze auch objektiv für getrennt zu halten. So habe Platner, nachdem er zwischen drei Lebensarten unterschieden habe, das wirkliche Leben nicht mehr als ein Ganzes in den Blick nehmen können. Platner habe sich, so Herz, das Leben irrtümlich so vorgestellt, als ob es sich aus dem mechanischen, dem geistigen und dem vernünftigen Leben zusammensetze. In Wahrheit mache aber dieser Unterschied nur ein Leben aus. Das mechanische Leben sei mit dem Pflanzenleben und das geistige mit dem tierischen ganz heterogen,105 und daher dürften die Kräfte der menschlichen Seele von denen der tierischen nicht bloß graduell unterschieden werden.106 Daraus folge, „daß jede Bewegung, jede Vorstellung, jede Aeußerung einer Kraft in dem Menschen das Zeichen der Menschheit an sich trägt, und unter keine fremde Klasse gebracht werden kann“.107 Nach Herz ist also der Mensch als ein Wesen zu betrachten, das ursprünglich alle gattungsspezifischen Aspekte und Lebensfunktionen in sich vereint und sich von nicht-menschlichen Lebensformen bestimmt unterscheidet. Das Kriterium dieser Unterscheidung ist das Bewußtsein der Seele von sich selbst, welches das Tier auch bei unendlicher Vervollkommnung nicht erreichen kann.108 Absurd wäre die Annahme einer augenblicklichen Trennung von Körper und Seele (wie sie von Platner behauptet wurde),109 und ihrer nachträglichen Wiedervereinigung. Denn damit würden zwei selbständig existierende (lebende) Substanzen behauptet, die für sich betrachtet kein Ganzes ausmachen und ohne ein Wunder oder eine „neue Schöpfung“ nicht wieder verknüpft werden könnten.110 Durch den wahren Begriff des Nexus werde aber deutlich, „daß die Seele [...] keinen Augenblick außer der Verknüpfung mit dem Körper ist, weil sie keinen Augenblick ohne Vorstellung seyn kann [...]“.111 Aber „so lange die Seele Seele ist, muß sie Vorstellungen haben, und so lange sie menschliche Seele und mit einem Körper verknüpft ist, können diese Vorstellungen nicht ohne Folgen im Körper seyn“.112 Die menschliche Seele hat m.a.W. körperliche Befindlichkeiten und Veränderungen zur Grundlage, und zwar derart, daß ohne diese Bedingung die Vorstellungen, die sie erzeugt, ohne Inhalt und Bedeutung wären. Das Verhältnis von Seele und Körper wird als ein logisches, begriffli105 106 107 108 109 110 111 112

Ebd., 36. Ebd., 37; vgl. Platner, Anthropologie 1772 (wie Anm. 12), 32 (§ 117). Herz, Platners Anthropologie (wie Anm. 74), 36. Ebd., 38. Vgl. Platner, Anthropologie 1772 (wie Anm. 12), 6 (§§ 13–14). Herz, Platners Anthropologie (wie Anm. 74), 36. Ebd., 37. Ebd.

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ches gedacht, nicht als ein kausales (Herz redet nicht von Ursache und Wirkung, sondern von Einfluß, Grund und Folge). Wir haben festgestellt, daß Platner im Grunde dieselbe Auffassung in bezug auf den Begriff der Seele vertritt. Wenn er also die Möglichkeit einer vorübergehenden Trennung von Seele und Körper in Erwägung zieht, dann ist das eine weitere Inkonsequenz innerhalb seines Gesamtkonzeptes einer Anthropologie. Es ist eine der Stärken der Herz-Rezension, daß sie die mechanische Betrachtungsweise der Natur als unangemessen kritisiert und ihr gegenüber einer organischen den Vorzug einräumen möchte: Die Natur ist in ihren zusammengesetzten Werken niemal so in Capitel und Abschnitte getheilt, unter welche der Weltweise, zur Erleichterung seiner Untersuchung, auf der Studierstube sie bringt; ihre Ganzen bestehn nicht wie die künstlichen aus Theilen, die nur extensive nebeneinander gesetzt sind, sondern sind so mit einander verknüpft, so inniglich in einander verwebt, daß die Beschaffenheit eines jeden Bestandtheils sich intensive auf die Beschaffenheit aller übrigen erstreckt, so daß nichts in dem Ganzen fortfährt dasselbe zu bleiben, so bald der mindeste Bestandtheil es zu seyn aufhöre. Dies ist der Charakter der Natur.113

Obwohl auch Platner den Begriff der „Organisation“ als „Vollkommenheit“ des organischen Körpers nicht komplett ignoriert, sondern wenigstens für die Gehirnfunktionen fordert,114 so gibt es doch in der ersten Fassung seiner Anthropologie keine erkennbare Spur von einer Theorie des Organismus.

2. Kritik an Platners Begriff der (materiellen) Idee Bezugnehmend auf die Sechste und Siebte Lehre des ersten Hauptstückes (und hier insbesondere auf § 126), erhebt Herz gegen Platner den Vorwurf, einen extremen Lockeanismus zu vertreten. Es sei evident, daß dieser bei seiner Behauptung, die Seele habe keine Ideen außer denjenigen, die sie durch den Beitrag des Körpers erlange,115 das „Lockische System“ vor Augen habe. Aber er behaupte mehr als Locke, dem vorwiegend an der Zurückweisung angeborener Ideen gelegen gewesen sei. Locke sei der Auffassung gewesen, daß die Seele die Daten zur Bildung von Ideen vermittelst der Sinne erhalte,116 „keinesweges aber, daß zu der Operation des Denkens selbst, der Körper nothwen-

Herz, Platners Anthropologie (wie Anm. 74), 35. Vgl. Platner, Anthropologie 1772 (wie Anm. 12), 34 (§ 125). 115 Ebd., 34 (§ 123). 116 Vgl. John Locke, An Essay Concerning Human Understanding. Edited with a foreword by Peter H. Nidditch, Oxford 1975, 104 (Book II, chapt. I, § 2). 113 114

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dig wäre“.117 Platner gehe zu weit, wenn er behaupte, „daß außer der Verbindung mit dem Körper alles Denken und Wollen aufhören müsse“.118 So berechtigt diese Kritik sein mag, so scheint sie Herz seinerseits zu Irrtümern oder zumindest zu undeutlichen Folgerungen zu verleiten. Hatte er weiter oben in seiner Rezension gegen die augenblickliche Fortsetzbarkeit des Lebens eines menschlichen Körpers ohne Seele argumentiert, so ist er nun von der Vorstellung des anderen Extrems, d.i. der Seelenunsterblichkeit, überzeugt. Denken, Wollen, Selbstbewußtsein, Grundtrieb der Seele – dies alles sei nicht notwendig an den Körper gebunden: „Zu dem innern Bewußtseyn unserer selbst, zu der Idee, die ein jeder von seinem eignen ich hat, scheint der Körper ganz entbehrlich zu seyn, außer daß er derselben auf eine gewisse Art Schranken setzt“.119 Diese Behauptung bedarf der Erläuterung. Sie kann nur insoweit akzeptiert werden, als sie besagen soll: In die Operation des abstrakten Denkens, bei dem es die Seele (das Bewußtsein) nur mit sich selbst zu tun hat, bei dem sie also das Subjekt und das Objekt der Erkenntnis (Selbsterkenntnis) ist, geht keine Bestimmung des leiblich-materiellen Daseins ein. Aber der Körper ist insoweit nicht entbehrlich, als er Träger aller Lebensfunktionen ist, die ein Mensch benötigt, um entsprechende kognitive Akte vollziehen zu können. In diesem Sinne könnte man Platners Folgerung, die Seele habe außerhalb ihres Verhältnisses mit dem Körper „weder Gedanken noch Begierden“,120 beipflichten. Unzutreffend wäre aber die Begründung, daß sie außer durch den Körper zu keinen Ideen gelangt.121 Die physiologischen Lehren über Bau und Funktion des Gehirns und der Nerven, insbesondere des „Nervensaftes“ in der Achten Lehre der Platnerschen Anthropologie (1772), werden von Herz nur kurz gestreift und überwiegend positiv aufgenommen. Das Gleiche gilt von der Neunten Lehre über den „Sitz der Seele“. Allerdings hat Herz, wie sich gleich zeigen wird, zwanzig Jahre später seine Kritik erheblich verschärft. Bedeutender ist die weitere Betrachtung der Ideen aus dem zweiten Hauptstück der Anthropologie. Platner hatte in § 189 behauptet, in der Seele lägen nur Begriffe, die mit Bewußtsein verbunden seien, und dann gesagt: „Die Gedächtnisideen welche im Schlafe ohne Bewußtseyn ruhen, liegen nicht in der

117 118 119 120 121

Herz, Platners Anthropologie (wie Anm. 74), 38. Ebd. Ebd., 38 f. Platner, Anthropologie 1772 (wie Anm. 12), 34 (§ 126). Ebd., 34 (§ 123).

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Seele sondern im Gehirn“.122 Völlig zu Recht fragt Herz: „Was hat das körperliche Gehirn mit Ideen zu thun?“.123 Ohne mich auf Platners Theorie des Gedächtnisses und die daran sich anschließende Kritik von Herz näher einlassen zu können, hängt doch die Beantwortung der von ihm gestellten Frage von Platners Vorstellung über die Funktionsweise des Gedächtnisses, von seinem Ideenbegriff und vor allem von seiner allgemeinen Impressionstheorie ab, der zufolge durch äußere Reizung ein Bewegungsimpuls ausgelöst wird, der sich durch Sinnesorgane und Nerven bis zum Gehirn fortpflanzen kann und dort in Form einer inneren Impression aufgezeichnet und gespeichert wird (bleibende „Spuren“ hinterläßt).124 Der „Nervensaft“ ist die Trägersubstanz, die durch ihren Fluß die Bewegung weiterleitet. Der physiologische Vorgang der Entstehung von Gedächtnisideen verläuft rein mechanisch und ohne Zutun der Seele, die auch die Erinnerung an eine solche Idee nicht maßgeblich beeinflußt. Es ist dies, auch wenn Platner das später vehement bestreitet und sich von der mechanischen Impressionstheorie verabschiedet haben will, in wesentlichen Zügen die Wiederholung cartesianischer Vorstellungen in einer moderneren, physiologischen Fachsprache.125 Herz läßt den Primat des Gehirns vor der Seele nicht gelten. Abgesehen davon, daß die Gehirnspuren durch Erfahrung bisher nicht nachgewiesen seien, sieht er den Zusammenhang zwischen Gehirn, Seele und Idee so, daß jede Idee in der Seele von einer Bewegung im Gehirn begleitet werde, so daß beim Erinnern dieselbe Bewegung wieder rege werde, mit der die Idee bei ihrer Entstehung verknüpft war. Aber ohne den entsprechenden Begriff in der Seele seien diese Eindrücke „nichts als jede andere nichtsbedeutende körperliche Veränderung“.126 Es ist noch zu erwähnen, daß Platner offensichtlich unter dem Eindruck seiner Kritiker in späterer Zeit Abänderungen an seiner Anthropologie vorgenommen hat, insbesondere hinsichtlich seiner Auffassung von den sog. materiellen Ideen. Sie scheinen allerdings nicht die vom Autor erhofften

Mit dieser Ansicht fällt Platner teils auf die cartesianische Gedächtnislehre, teils auf den vorcartesianischen Begriff der Körperseele zurück. Vgl. Boenke, Körper, Spiritus, Geist (wie Anm. 45), 117 ff., 159 ff., 180 ff. 123 Herz, Platners Anthropologie (wie Anm. 74), 41; vgl. ebd., 46 f. 124 Herz, Platners Anthropologie (wie Anm. 74), 42. 125 Gabriele Dürbeck weist darauf hin, daß Albrecht von Haller (1708–1777) einer ähnlichen Theorie der Ideenbildung als Spuren im Gehirn infolge physiologischer Prozesse anhing, obwohl er sie nicht als Bilder von Gegenständen, sondern als bloße Bewegungen verstanden wissen wollte (siehe Gabriele Dürbeck, Einbildungskraft und Aufklärung. Perspektiven der Philosophie, Anthropologie und Ästhetik um 1750, Tübingen 1998 [Studien zur deutschen Literatur, 148], 147– 152). 126 Herz, Platners Anthropologie (wie Anm. 74), 41 f. 122

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grundlegenden Verbesserungen gebracht zu haben. So könnte man sich durchaus der anhaltenden Kritik von Herz anschließen, der in der zweiten Auflage seines Versuchs über den Schwindel (Berlin 1791) die immer noch „allzugrobe Darstellung der sogenannten materiellen Ideen“ rügt.127 Herz hatte bereits in der ersten Auflage seiner Schrift Über den Schwindel an Platners Begriff der materiellen Ideen und der damit verbundenen Theorie der Gedächtniseindrücke Kritik geübt.128 In der zweiten Auflage legt er seine Einwände ausführlicher und präziser dar.129 Platner hatte inzwischen in den Aphorismen (1784)130 und in der Neuen Anthropologie (1790)131 auf die Kritik von Herz reagiert132 und dabei seine ursprüngliche Auffassung partiell revidiert. Herz weist vor allem die Vorstellung, materielle Ideen seien „Spuren“ im Gehirn, die der Seele sinnliche Bilder von äußeren Gegenständen vermittelten, als ungereimt zurück. Sie seien weder Erhöhungen oder Vertiefungen noch (wie Platner zuletzt behauptet hatte) lebendige Bewegungen infolge von Empfindungseindrücken.133 Von solchen veralteten und falschen Vorstellungen hat sich Platner trotz seiner Distanzierung in der Neuen Anthropologie134 – nach der Einschätzung seines Kritikers – noch immer nicht konsequent befreit.135 Erneut greift Platner diesen Einwand 1793 in der dritten Auflage seiner Aphorismen auf, um ihn zu zerstreuen und sich gegen den versteckten Vorwurf der Uneinsichtigkeit zur Wehr zu setzen.136 Dabei faßt er die Gedächtnisimpressionen als „Bewegfertigkeiten“ auf.137 Als Entgegnung auf die ihm von Herz gemachten Vorhaltungen skizziert Platner in einer Selbstdarstellung ausführlich

Herz, Schwindel 1791 (wie Anm. 80), 229; zur Reaktion von Platner auf die neuerliche Kritik von Herz siehe Nowitzki (wie Anm. 10), 239–241. 128 Vgl. Marcus Herz, Versuch über den Schwindel, Berlin 1786, 237. Zur Kritik von Herz an Platner vgl. Nowitzki, Aufklärungsanthropologien im Widerstreit (wie Anm. 10), 223–249. 129 Vgl. Herz, Schwindel 1791 (wie Anm. 80), X (Vorrede), 232 ff. 130 Platner, Aphorismen I 1784 (wie Anm. 39), 102 f.; vgl. Nowitzki, Aufklärungsanthropologien im Widerstreit (wie Anm. 10), 240. 131 Platner, Neue Anthropologie 1790 (wie Anm. 15), Vorrede (unpaginiert), 1 f., 153 f. (§ 389); vgl. Nowitzki, Aufklärungsanthropologien im Widerstreit (wie Anm. 10), 241. 132 Vgl. dazu besonders ebd., 240. 133 Herz, Schwindel 1791 (wie Anm. 80), 232–235; vgl. auch ebd., 217 und Fn., 221–223 (Fn.). 134 Vgl. Platner, Neue Anthropologie 1790 (wie Anm. 15), §§ 374, 389. 135 Vgl. Herz, Schwindel 1791 (wie Anm. 80), 222–229 (Fn.); vgl. dazu auch Platner, Neue Anthropologie 1790 (wie Anm. 15), §§ 374, 376, 595. 136 Vgl. Platner, Aphorismen I 1793 (wie Anm. 51), 127 f.; vgl. Nowitzki, Aufklärungsanthropologien im Widerstreit (wie Anm. 10), 240; siehe auch Platner, Logik und Metaphysik (wie Anm. 15), 14 (§ 45), 15 (§ 48). 137 Platner, Aphorismen I 1793 (wie Anm. 51), 124 (§ 240); vgl. Nowitzki, Aufklärungsanthropologien im Widerstreit (wie Anm. 10), 238. 127

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die schrittweisen Veränderungen bezüglich seiner Auffassung von den materiellen Ideen.138 Wenn allerdings auch Herz von den Ausdrücken der Gehirnspuren und der materiellen Ideen weiterhin Gebrauch macht, so legt er sie doch als „erworbene Fertigkeiten“ aus.139 Diesen Ausdruck habe Platner nun zwar von ihm übernommen, indem er in der Neuen Anthropologie an mehreren Stellen im Zusammenhang von materiellen Ideen von „Bewegfertigkeiten“ rede,140 er habe es aber unterlassen, das Wesen der Fertigkeit als solcher verständlich zu erklären.141 Gleichwohl ist auch die Erklärung von Herz, daß aufgrund der unleugbaren Verbindung der Seele mit dem Gehirn (bzw. mit dem Körper allgemein) „jede Veränderung in ihr von einer andern in diesem begleitet wird“,142 nicht überzeugend. Sein eigener Hang zur empiristischen Erfahrung zeigt sich daran, daß er – wieder in kritischer Blickrichtung auf Platner, der den Nervensaft zum geistigen Seelenorgan erhoben hatte, um so die unmittelbare Wechselwirkung von Seele und Körper verständlich zu machen,143 – die Wechselwirkung für unerklärbar deklariert, und zwar aufgrund fehlender Erfahrung: [...] der eigentliche Uebergang der Wirkungen der einen Art in die Wirkungen der andern wird von uns doch nie eingesehen werden können, indem die Erfahrung uns in Ansehung dieses Punkts gänzlich ununterrichtet läßt, und die Vernunft hierüber nichts bestimmen kann, so wie sie es nie im Stande ist, wo jene ihr nicht die ersten Data dazu an die Hand giebt.144

Hier wird m.E. deutlich, daß Herz (ebenso wie Platner) seiner Theorie der Gemeinschaft von Seele und Körper keinen hinreichend geklärten Begriff von Erfahrung zugrunde legt und damit die geforderte Leitung der Vernunft, insofern sie auf Erfahrungsdaten angewiesen ist, nicht verwirklicht. In einem Aufsatz aus dem Jahre 1796 schätzt Herz den Einfluß der Vernunft auf die Heilpraxis als gering ein. Sie erstrecke sich nur auf die „Vorarbeiten in

Vgl. dazu Nowitzki, Aufklärungsanthropologien im Widerstreit (wie Anm. 10), 239. Vgl. Herz, Schwindel 1791 (wie Anm. 80), 233 f. 140 Vgl. Platner, Neue Anthropologie 1790 (wie Anm. 15), 153 (§ 389); vgl. Nowitzki, Aufklärungsanthropologien im Widerstreit (wie Anm. 10), 238, 239, 241. 141 Vgl. Herz, Schwindel 1791 (wie Anm. 80), 237–239 (Fn.). Platner, Aphorismen I 1793 (wie Anm. 51), 124 (§ 240). Platner behauptet allerdings, er verdanke diesen Begriff Johann Albert Heinrich Reimarus (1729–1814), auf den sich auch Herz berief (vgl. Nowitzki, Aufklärungsanthropologien im Widerstreit (wie Anm. 10), 239). 142 Herz, Schwindel 1791(wie Anm. 80), 232. 143 Vgl. Platner, Neue Anthropologie 1790 (wie Anm. 15), Abschnitt VIII-IX. 144 Herz, Schwindel 1791 (wie Anm. 80), 251. 138 139

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der Seele des Arzts“, um den „Fall“ zu erkennen. Ist dieser erkannt, so kommt es allein der Erfahrung zu, das richtige Mittel anzuwenden:145 Hat die Vernunft ihn [den Arzt] bis dahin geleitet, so muß sie ihr Geschäft als vollendet ansehen, sich bescheiden zurückziehen und auf das fernere Grübeln nach demjenigen, was bey der aus jener Anwendung resultierenden Veränderung zum Grunde liegt, völlig Verzicht tun. Sie hat den Künstler durch hundertfache Krümmungen in das Gebiet der Erfahrung gebracht, wo er nun mit sicheren Schritten seinem Ziele entgegengeht. Der unwissende Empiriker, jener weisen Führerin beraubt, stürzt mit einem Salto mortale in dieß Gebiet hinein, wo er im schwindlichen Taumel um sich her tappt, um die Bahn zu erhaschen, die zu dem Gegenstande seiner Behandlung führt.146

Meine Ausführungen haben gezeigt, daß Platners Anthropologie zwar anfällig ist gegen die Kritik von Herz, daß sie aber zugleich von ihr nicht überwunden werden kann, weil auch Herz mit seinen philosophischen Mitteln hinter seinem Anspruch zurück bleibt, das Problem des Commercium durch eine Allianz von Medizin und Philosophie zu lösen. Der Grund für die Schwierigkeiten der beiden Kontrahenten (bzw. Kombattanten in derselben Sache und unter gleichen Voraussetzungen) liegt darin, dass sie der Idee und den Innovationsleistungen des Systems der Kritik der reinen Vernunft Kants nicht wirklich gewachsen waren. Das möchte ich abschließend deutlich machen. Meine These ist, daß Herz der Platnerschen Anthropologie wesentlich näher steht als einer durch Vernunft bereinigten philosophischen Medizin im Anschluß an Kant und daß deshalb auch sein Bild vom philosophischen Arzt anders gezeichnet ist als das kantische.

IV. Kant: Das Scheinproblem der Gemeinschaft und der „mißverstandene physische Einfluß“ 1. Über das Verhältnis der Philosophie zur Medizin Fast im gesamten Werk Kants findet man verstreute Bemerkungen und kurze Traktate über konkrete medizinische Gegenstände oder Fragen der Heilkunst im weiteren Sinne, die sowohl für die theoretische als auch für die praktische Philosophie von Bedeutung sind. Auch der Briefwechsel enthält einen regen Gedankenaustausch mit Ärzten. Daß es dem Königsberger Philosophen ein sachliches Anliegen gewesen sein muß, sich näher mit Fragen der Medizin zu Marcus Herz, Ueber den Gebrauch des Wasserfenchelsaamens in der Lungenschwindsucht, in: Herz, Philosophisch-medizinische Aufsätze (wie Anm. 6), 33–59, hier 50 f. (zuerst in: Journal der practischen Arzneykunde und Wundarzneykunst 2/1 [1796], 3–75). 146 Ebd., 51. 145

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befassen, zeigt die Originalität seiner Antworten, z.B. auf Soemmerrings Organ der Seele, auf Hufelands Makrobiotik, auf briefliche Anfragen zur Pockenimpfung, auf die Frage nach der Verbreitung von Grippe-Epidemien usw. Dabei beschäftigte ihn auch die Fachliteratur, die in seiner Zeit für Aufsehen sorgte. Kants Interesse richtete sich allerdings nicht auf die gewöhnliche medizinische Praxis, zumal sein Vertrauen in Arzneimittel nicht groß war.147 Statt dessen setzte er auf wohlüberlegte, selbst verordnete diätetische Heilmittel. Er meinte, seine Natur würde „von jedem Arzt der kein Philosoph ist über den Haufen geworfen werden“.148 Gleich seinem Schüler Marcus Herz bekundet Kant in seinen Briefen und Schriften das Interesse des Philosophen an einem Zusammenwirken mit Ärzten. Eine solche Koalition, wie sie in Kants Spätwerk „Der Streit der Fakultäten“ (1798) entworfen wird, setzt die Selbständigkeit und Unabhängigkeit der miteinander kooperierenden Wissenschaften voraus. Die Aufgaben und Grenzen einer Wissenschaft im System der Wissenschaften, insbesondere im Verhältnis zur Philosophie zu bestimmen, bedarf zuvor der Vernunftkritik. Der Grundgedanke, der Kant bei der Kooperation von Arzt und Philosoph vorschwebt, ist der Zusammenhang zwischen körperlichen Erkrankungen und Gemütsstörungen. Um diese letzteren beheben zu können, ist der Beistand des Arztes nötig. Der Philosoph aber wirkt mit als Therapeut, indem er eine „Diät des Gemüths“ verordnet. Diese Vorstellung finden wir bei Kant bereits 1764, am Ende seiner Schrift Versuch über die Krankheiten des Kopfes, die ähnlich wie später die Anthropologie eine Klassifikation mentaler Erkrankungen enthält.149 In der Fakultätenschrift wird er selbst eine solche Diät (oder „Diätetik“) entwerfen, indem er beispielgebend Ratschläge zur Gesunderhaltung erteilt. Seine Rezepte haben nicht den Charakter von Pflichten oder Verboten. Es sind praktische Ratschläge zur Lebensführung, wie z.B. das Ignorieren beklemmender Gefühle, Gedankenablenkung, Maßhalten im Schlafen, Beibehaltung von Eß- und Trinkgewohnheiten, Zerstreuungen nach anhaltender geistiger Beschäftigung.150 Die Regeln können individuell gültig und anwendbar sein oder auch nicht. Es fehlt ihnen die notwendige Allgemeinheit.151

Vgl. Brief an Herz (Ende 1773), AA X, 143.33–34. Ebd., AA X, 144. 149 Vgl. Kant, AA II, 271. 150 Zum letzteren vgl. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, AA VII, 117–334, hier 207 f. 151 Siehe z.B. die Entgegnung von Garve, der dem kantischen Mittel der Abwendung der Aufmerksamkeit vom Schmerz, vielmehr die Konzentration auf den Schmerz als sein Hausrezept entgegensetzt. (Garve an Kant, Mitte Sept. 1798, AA XII, 256). 147 148

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Ähnlich wie mit dem Anatomen Samuel Thomas Soemmerring (1755– 1830)152 korrespondierte Kant auch mit dem Jenaer Arzt und Pathologen Christoph Wilhelm Hufeland (1762–1836). Dieser richtete am 12.12.1796 einen Brief an Kant „als einem Manne, dem die Kenntniß des Menschen, die wahre Anthropologie so viel verdankt, und der sich um die Medizin selbst dadurch so viel Verdienst erworben hat, und gewiß noch mehr in der Zukunft erwerben wird“.153 Zugleich übersandte er ihm sein Buch mit dem Titel Die Kunst das menschliche Leben zu verlängern (Jena 1797), an das er die Frage knüpfte, wie es möglich sei, „das Physische im Menschen moralisch zu behandeln, den ganzen, auch physischen, Menschen“ auf moralischer Grundlage darzustellen und die Moralität als unentbehrliches Mittel zur „physischen Vollendung der überall nur in der Anlage vorhandenen Menschennatur zu zeigen“.154 Kants Verdienst um die Medizin soll also auf dem beruhen, was Hufeland „die wahre Anthropologie“ nennt. Es scheint, als wolle er Kant mit dieser Ehrung von einer metaphysisch und psychologisch untermauerten Anthropologie fernhalten. Was das „Wahre“ an der Anthropologie sein könnte, erfahren wir nicht. Das Verdienstvolle an ihr ist die Betrachtung des Menschen in seiner praktischen Eingebundenheit in die Welt. Kant las Hufelands Buch mit Genuß155 und erzählte in einem weiteren Brief an den Autor von seinem Plan, „eine Diätetik zu entwerfen und solche an Sie zu adressiren, die blos ‘die Macht des Gemüths über seine krankhafte körperliche Empfindungen’ aus eigener Erfahrung vorstellig machen soll“; er halte dies für ein „nicht zu verachtendes Experiment“, das „ohne ein Anderes, als psychologisches Arzneymittel, doch in die Lehre der Medicin aufgenommen zu werden verdiente“.156 Er integrierte dann die zunächst in Hufelands Journal veröffentlichte Abhandlung als dritten Teil in den Streit der Fakultäten.157 Die Diätetik, die Kant in die Medizin integrieren möchte, ist zwar ein Experiment, das auf eigener Erfahrung beruht. Doch ist sie zugleich ein „psychologisches Arzneymittel“, das in die medizinische „Lehre“ gehört, aber nicht Soemmerring übersandte Kant das Manuskript seiner Schrift „Ueber das Organ der Seele“ und versah es mit einer Widmung an Kant. Kant nimmt in seinem Brief vom 10.8.1795 (AA XII, 30) und dann noch einmal am 17.9.1795 (AA XII, 41–42) in Form einer Ausarbeitung dazu Stellung. Soemmerring veröffentlichte den Text Kants mit dessen Einwilligung als Anhang zu seinem Buch, das 1796 erschien. Siehe dazu Euler, Die Suche nach dem „Seelenorgan“ (wie Anm. 58), 453–480. 153 AA XII, 137. 154 AA XII, 137. 155 Siehe Kants Brief an Hufeland (nach dem 15.3.1797), AA XII, 148. 156 Kant an Hufeland (19.4.1797), AA XII, 157 f. 157 Von der Macht des Gemüths durch den bloßen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu sein (AA VII, 97–116). Zuvor in Hufelands Journal der practischen Arzneykunde und Wundarzneykunst 5/4 (1798), 701–751. 152

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unbedingt, wie von Herz gefordert, Aufnahme in die medizinische Praxis erwarten läßt. Kant nimmt in der angefertigten Abhandlung die oben zitierte Frage Hufelands nach der moralischen Grundlage des physischen Menschen auf, weil sich in ihr nach seinem Ermessen ein philosophisches Interesse artikuliert und die Philosophie insofern auch berechtigt ist, dazu Stellung zu nehmen: „Eine solche Ansicht der Sache verräth den Philosophen, nicht den bloßen Vernunftkünstler“.158 Hufeland wird als philosophischer Arzt gewürdigt. Bei den Regeln der Diätetik, die Kant dann aufstellt, bezieht er sich hauptsächlich auf die experimentelle Selbstbeobachtung. Dies ist dadurch gerechtfertigt, daß es das empirische, individuell verschiedene Selbstbewußtsein ist, aus dem die zu reflektierende Erfahrung hervorgeht. Insgesamt besteht für ihn die Aufgabe der diätetischen Krankheitsprophylaxe darin, unter Berufung auf die „Macht des Gemüths“ die eigenen krankhaften Gefühle – d.h. nicht die Krankheiten selbst, die nicht gefühlt werden können (s.u.) – „durch den bloßen Vorsatz“ abzuwenden (ihr „Meister“ zu sein).

2. De medicina mentis et corporis In seiner Rektoratsrede von 1786 – De Medicina Corporis, quae Philosophorum est159 – führt Kant den Tod von Moses Mendelssohn auf übertriebenes Fasten zurück, das zu einer Auszehrung des Körpers geführt habe.160 Das aktuelle Beispiel, vorgegeben durch Mendelssohns unerwartetes Ableben am 4.1.1786 und die dadurch ausgelösten Querelen,161 hat hier die Funktion, eine richtige von einer falschen Diät zu unterscheiden. Kant hatte Herz als den zuständigen behandelnden Arzt in einem Brief vom 11. Mai 1781 vorsorglich darum gebeten, Mendelssohn wegen dessen angeschlagener Gesundheit eine „diätetische Beobachtung“, die er an sich selbst angestellt habe, anzuempfehlen. Seine Ratschläge bezogen sich auf die Verteilung der Arbeitsstunden und Erholungspausen im Tagesablauf des Philosophen.162 Diätetische Vorsätze sind von den Willensäußerungen des Gemüts abhängig. Ihre praktische Auswirkung auf die Gesunderhaltung des Körpers beruht auf dem AA VII, 97.22–24. AA XV, 939–951 (Reflexion 1526). Ich zitiere nach der Übersetzung von Reinhard Brandt, in: Immanuel Kant, „Über die Heilung des Körpers, soweit sie Sache der Philosophen ist“. Und: Woran starb Moses Mendelssohn?, in: Kant-Studien 90 (1999), 354–366. 160 Ebd., 359, 365. 161 Vgl. dazu den Brief von Herz an Kant (27.2.1786), AA X, 431–432; vgl. Brandt, Über die Heilung (wie Anm. 159), 355 f. 162 AA X, 270. 158 159

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Zusammenhang zwischen Seele und Körper. Die Einheit von Körper und Geist ist denn auch das Generalthema der Rede, und es ist zugleich die gemeinsame Plattform, von der aus der Philosoph und der Arzt ihre besonderen Aufgaben zu dem gemeinsamen Zweck der Gesunderhaltung des Menschen vereinen. Dabei soll es nach Kant Sache des Mediziners sein, „dem kranken Geist durch die Heilung des Körpers zu helfen“, und Sache des Philosophen, „dem bedrängten Körper durch die Beherrschung des Geistes zu helfen“.163 Bei vielen Geisteskrankheiten, meint Kant einschränkend, sei es besser, den Körper des Patienten durch Medikamente und andere Eingriffe zu beeinflussen „als die gesunde Vernunft als Ärztin heranzuziehen“, um den Geist durch Argumente heilen zu wollen.164 Schwere, organisch bedingte Krankheiten, d.h. solche, „die den Geist selber aus seinem Sitz verrükken“ (Fanatismus, Melancholie, Hypochondrie) können nämlich, weil sie ihren Ursprung im Körper haben, nur vom Mediziner kuriert werden. Geisteskranke haben kein Bewußtsein ihres Leidens; sie sind nicht Herr über sich selbst und daher vernünftigen Argumenten auch nicht zugänglich. Deshalb übernimmt der Arzt die „Herrschaft des Geistes“, indem er durch Heilmittel (Aderlaß, Abführmittel) auf den Körper des Patienten einwirkt.165 Das, was hier „Sache“ des Arztes genannt wird, ist nicht gleichbedeutend mit seiner eigentlichen Aufgabe, sondern setzt diese voraus. Wenn er hingegen die Körperverfassung nicht unmittelbar (durch Medikamente, die auf den Körper wirken), sondern durch psychologische Mittel verbessern will, schlüpft er in die Rolle des Philosophen.166 Denn dessen Aufgabe ist es, das Gemüt zu erheitern, den Geist zu leiten, um dadurch mittelbar den Körper zu stärken. Wenn der Mediziner diese Rolle übernimmt, dann ist er in Kants Augen ein „philosophischer“.167 Kant fährt fort: Damit wir besser zu unserem Ziele gelangen, ist nach meiner Meinung besonders darauf zu achten, daß Ärzte oder Philosophen nicht auf einem Wege, der der Natur der Dinge vollkommen widerspricht, vorangehen und dabei die Grenzmauer ihres eigentlichen Berufs überspringen und sie, gleichsam von Vielgeschäftigkeit hingerissen, der Philosoph den Arzt und der Arzt den Philosophen, spielen zu wollen scheint. Die Grenzen aber sind jedem der beiden zweifellos so aufgestellt, daß es dem Arzt zukommt, dem kranken Geist Hilfe zu bringen durch Mittel, die auf den Körper angewendet werden, dem Philosophen jedoch dem kranken Körper durch Beeinflussung des Geistes zu helfen.168

163 164 165 166 167 168

Brandt, Über die Heilung (wie Anm. 159), 358. Ebd., 360 (g-Zusätze), 361, 363. Ebd., 363. Vgl. ebd., 362, 364. Vgl. ebd., 362 f (AA XXV.2, 1155 f.). Ebd., 360 (g-Zusätze).

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Der Arzt kann sich demzufolge nicht direkt mit dem Geist befassen, ohne seine berufliche Grenze zur Philosophie zu überschreiten. Er hat keinen Zugang zum vernünftigen Umgang des Patienten mit sich selbst. Eine Heilung des Geistes ist medizinisch nicht durch Argumente, sondern allein durch Manipulation des Körpers zu erreichen. Der Arzt „in der Rolle des Philosophen“ behandelt unmittelbar den Geist durch die Verabreichung von psychischen Medikamenten. Das nächst liegende Ziel ist dabei die Auflockerung des Gemüts, Vertreibung von Sorgen, Affekte entweder einzudämmen oder sie anzuregen. Mittelbar wird durch die Verbesserung des Gemütsbefindens aber auch wieder dem kranken Körper Hilfe geboten, so wie der Heilungsauftrag des Philosophen es bestimmt.169 Durch sein Plädoyer, die Kraft des Geistes für die Heilung von Krankheiten einzusetzen, der sich der Philosoph zuwenden soll, schlägt sich Kant auf die Seite der Stahlianer.170 Aber die beschriebene Leitung des Geistes ist Aufgabe der Philosophen und nicht der Mediziner.171 Der Arzt kann dem kranken Geist nur helfen, indem er den Körper durch Medikamente behandelt:172 „Die Aufgabe des Arztes bezieht sich unmittelbar auf den Körper, nie auf die Seele, es sei denn mittels des Körpers und dessen Pflege. Wenn der Arzt dem Körper zu helfen sucht durch die Kraft des Gemütes, dann übernimmt er die Rolle des Philosophen“.173 Wenn das also die klar bestimmte Aufgabe des Mediziners ist, dann muß Herz in Kants Augen ein Arzt sein, der durch den systematischen Einsatz psychotherapeutischer Mittel den Philosophen ‘spielt’ und dabei die Grenze seiner Wissenschaft überschreitet. Die Grenze wird überschritten, wenn der Arzt die Aufgabe des Philosophen übernimmt und sich zueigen macht. Nur ein Arzt, der über Erkenntnisse hinsichtlich der Frage der Gemeinschaft von Körper und Geist verfügt, wäre zu einer Behandlung des Geistes imstande. Der philosophische Arzt bezeichnet keinen eigenen Berufsstand, sondern eine freie, d.h. nicht geschäftsgebundene Heilpraxis, die sowohl von Medizinern als auch von Philosophen ausgeübt werden kann, wobei der Arzt allerdings die Grenze seines Berufes überschreitet: „[...] solche Leitung des Geistes ist nicht eigentlich Aufgabe der Mediziner zu nennen, sondern der Philosophen oder, wenn man es lieber will, der Mediziner nicht als solcher, sondern als philosophischer“.174 Brandt, Über die Heilung (wie Anm.159), 362. Ebd., 360–361. Gemeint ist die von Georg Ernst Stahl (1695–1734) ausgehende medizinische Lehre. 171 Ebd., 363. 172 Ebd., 362. 173 Ebd., 364. 174 Ebd., 363. 169 170

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Im Unterschied zum Arzt ist es Sache des Philosophen, über den Körper zu herrschen, indem er dazu „jedem“ – selbst „aus dem untersten Volk“ – Gesetze diktiert. Diesen Gesetzen muß auch der Philosoph selber, „der als Gelehrter der Lenker seines Lebens ist“, notwendig gehorchen, insofern er Philosoph ist, denn als solcher richtet er sein Leben auf die Erkenntnis wissenschaftlicher Gegenstände aus. Die anläßlich der Übergabe des Rektorates an den Amtsnachfolger am Ende des Sommersemesters 1786 von Kant gehaltene Rede mag in ihrer Thematik vielfältigen Anregungen folgen. Herz hat im selben Jahr den oben zitierten Brief an Kant adressiert, in welchem er vom „Umherwandeln in den Gränzörtern“ der Philosophie und der Medizin spricht, und er hat seinen Versuch über den Schwindel herausgebracht, von dem er Kant ein Exemplar zuschickte.175 Kant bedankt sich für diese Geste und entschuldigt sich zugleich, daß er das Buch noch nicht ganz habe lesen können.176 Er wird das Werk nicht nur wegen seiner lobenden Worte für den Autor nicht mißachtet haben, sondern auch weil Herz sich auf die „glücklichen Unterredungen“ mit Kant über die „Hauptidee des ganzen Werks“ beruft, die in seiner Seele gelegen habe, „wartend auf hinreichende physiologische Kenntnisse um mit diesen in ein Ganzes verwebt zu werden, und in ihrem Einflusse auf die Praxis [...] sich zeigen zu können“.177 Bei näherem Hinsehen zeigt sich aber in den Vorstellungen von Herz und Kant 1786 eine Divergenz bezüglich des Verhältnisses von Medizin und Philosophie. Die Situation ist 1786 eine andere als 1773, als im Entstehungsprozeß der Vernunftkritik Kants die Positionen noch nahe beieinander lagen. Kant strebt zwar mit Herz eine Zusammenarbeit mit Medizinern an, aber unter der Voraussetzung, daß die in der Sache begründete Grenze beachtet wird und der philosophische Arzt nicht vollends zum Philosophen wird. Herz benennt keine In dem Brief an Kant (27.2.1786) äußert sich Herz über die „Idee“ seiner Schwindel-Schrift (AA X, 431 f.). 176 Kant an Herz (7.4.1786), AA X, 442 f. Die Darstellung von Borowski, Kant habe das Eintreffen des Werkes mit der Bemerkung quittiert, er sei „vom Schwindel frei“, kann also nicht zutreffen. Vgl. Ludwig Ernst Borowski, Darstellung des Lebens und Charakters Immanuel Kant’s, Königsberg 1804, in: Felix Gross (Hg.), Immanuel Kant. Sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen. Die Biographien von L. E. Borowski, R. B. Jachmann und F. A. Ch. Wasianski. Mit einer Einleitung von Rudolf Malter, Darmstadt 1993, 63; dagegen David Friedländer (1750– 1834), Kant und Herz. An Hrn Bibliothekar Biester, in: Neue Berlinische Monatschrift, hg. von Biester, Berlin, Februar 1805 (Bd. XIII), 149–153; vgl. auch AA XIII, 161 f. (Anm. zu Brief Nr. 260). Siehe den Brief von Herz an Michael (!) Friedländer (1769–1824) vom 31.12.1796, in dem sich Herz danach erkundigt, ob Kant seine Schrift Über den Schwindel bekannt sei; vgl. dazu Davies, Identity (wie Anm. 80), 232 f. (Anm. 36). Zur Auseinandersetzung zwischen Herz und Kant im Spannungsfeld der Schwindel-Theorie vgl. Hagner, Psychophysiologie (wie Anm. 80), 246–251. 177 Herz an Kant (27.2.1786), AA X, 431. 175

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Grenze. Der ‘Grenzort’ liegt für ihn im Unbestimmten, im Niemandsland. Das „Umherwandeln in den Gränzörtern“ ist der Festlegung der Aufgaben und Grenzen von Philosophie und Medizin in ihrem Verhältnis zueinander abträglich. Es fordert gerade den von Kant kritisierten Rollentausch, zu dem sich der Arzt (wie der Philosoph) bei Gelegenheit hinreißen läßt. Der philosophische Grund dafür, daß Herz keine Grenzbestimmung vornimmt, ist offenbar darin zu sehen, daß er mit der Entwicklung der kantischen Vernunftkritik seit seiner ärztlichen praktischen Tätigkeit in Berlin irgendwann in den späteren 1770er Jahren nicht mehr Schritt halten konnte178 und die Ziele und Auswirkungen der KrV, damit aber auch die engen erkenntnistheoretischen Grenzen der reinen Vernunft im Hinblick auf die Medizin als Wissenschaft, nicht wirklich erkannte. Als praktizierender Arzt hat Herz das philosophische Leben verlassen,179 und dessen war er sich auch bewußt. Resignierend zog er sich in einem abermaligen Brief an Kant (7.4.1789) von seinem Vorsatz zurück, das kritische System der Philosophie ganz umfassen und durchdringen zu wollen.180 Die von der Vernunftkritik gezogenen Grenzen hätten ihm Gründe liefern können, über eine systematische Einteilung der Wissenschaft als eines enzyklopädischen Systems des Wissens nachzudenken. Ebenso erging es Platner. Viele der in Kants Rektoratsrede enthaltenen Überlegungen, die den wechselseitigen Einfluß von Körper und Seele betreffen, insbesondere die GemütsSchon 1771 äußert er sich deutlich irritiert über Kants vermeintliche Abkehr von der rationalen Metaphysik; vgl. Herz an Kant (9.7.1771), AA X, 124 f.; vgl. Davies, Der philosophische Arzt (wie Anm. 68), 16. 179 Zur philosophischen Entfremdung zwischen Herz und Kant und zu ihrem gespannten Verhältnis vgl. Davies, Der philosophische Arzt (wie Anm. 68), 7, 14 f.; vgl. Herz an Kant (25.11.1785), AA X, 425 f.; vgl. besonders das Bekenntnis von Herz in seinem Brief an Kant vom 7.4.1789, AA XI, 14. Davies porträtiert Herz als einen verhinderten Philosophen, der der ‘spekulativen Weltweisheit’, d.h. der Metaphysik im vorkritischen Gewand, die Treue hielt und dem deshalb die KrV verschlossen blieb. Das „von früh auf“ (nämlich seit 1771) bestimmte ambivalente Verhältnis zwischen Herz und Kant äußerte sich daher in einer Reihe von Mißverständnissen zwischen beiden (vgl. Martin L. Davies, Gedanken zu einem ambivalenten Verhältnis: Marcus Herz und Immanuel Kant, in: Kant und die Berliner Aufklärung. Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses, hg. im Auftrag der Kant-Gesellschaft e.V. von Volker Gerhardt, Rolf-Peter Horstmann, Ralph Schumacher, Bd. 5, Berlin, New York 2001, 140–147). Dies ist sicher eine Überzeichnung der ohne Frage in den Schriften beider Autoren sowie in ihrem Briefwechsel sich abzeichnenden Differenzen. Sie lassen sich nur schwer an bestimmten Textstellen festmachen. Ebenso ist der Rekurs von Davies auf einen nicht näher bestimmten Begriff von Existenz, der belegen soll, daß Herz, indem er Kant als „Vorbild“ folgen wollte, „in einen Zustand der Verwirrung“ versetzt wurde, sehr fragwürdig (ebd., 146). Bedauerlich sei das deswegen, weil der „Fall Herz“ damit die Aufklärung – als „eine transhistorische menschliche Disposition“ – in Gefahr bringe (ebd., 147). 180 AA XI, 14; vgl. Davies, Der philosophische Arzt (wie Anm. 68), 15. 178

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störungen und deren Vorbeugungsmittel, sind auch Thema in Kants Anthropologie, auf die ich nun abschließend noch Bezug nehmen möchte, weil gerade sie die Divergenz zu Platners medizinischer Anthropologie offen legt.

3. Pragmatische Anthropologie Namentliche Bezugnahmen Kants auf Platner sind selten. Der eingangs zitierten Würdigung des Vernunftgebrauchs in Platners Aphorismen stehen Warnungen und Vorbehalte entgegen, die Briefkorrespondenten Kants über Platner äußerten. Sie scheinen ihre Wirkung nicht verfehlt zu haben, indem sie Kant zu einer distanzierteren Haltung veranlaßt haben könnten. Über das Verhältnis Kants zu Platner muß daher vorwiegend anhand der philosophischen Inhalte entschieden werden. Fast zeitgleich mit dem Erscheinen von Platners Anthropologie (1772) begann Kant, bereits in Kenntnis der Schrift, im WS 1772/73 seine Vorlesung über Anthropologie. Hält man sich an die durch die Prüfung von Vorlesungsnachschriften gewonnene Einschätzung Reinhard Brandts, dann ist Kants Anthropologie am Anfang noch von Einflüssen der empirischen Psychologie geprägt.181 Die Ausarbeitung eines Konzepts, das dann pragmatische Anthropologie heißen sollte, begann erst ab 1773. In einer Nachschrift zur ersten Vorlesung182 erhalten neurophysiologische Aspekte noch eine starke Akzentuierung.183 Platners Lehre von den Gedächtnisimpressionen wird knapp referiert und ohne kritischen Kommentar übernommen.184 Ende 1773 schreibt Kant an Herz: Ich habe die recension der platnerschen anthropologie gelesen. Ich hätte zwar nicht von selbst auf den recensenten gerathen ietzt aber vergnügt mich der darinn hervorblickende Fortgang seiner Geschicklichkeit. Ich lese in diesem Winter zum zweyten mal ein collegium privatum der Anthropologie welches ich ietzt zu einer ordentlichen academischen disciplin zu machen gedenke. Allein mein Plan ist gantz anders.185

„[G]antz anders“ – das bedeutet natürlich: Sein Plan weicht ab von Platners Konzept einer medizinischen Anthropologie. Keine Silbe verrät uns das Verhältnis zu der von Herz vorgenommenen Kritik dieser Anthropologie. Reinhard Brandt, Kritischer Kommentar zu Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Hamburg 1999 (Kant-Forschungen, 10), 49. 182 Ich beziehe mich hier auf die Nachschrift „Collins“ vom Winter 1772/73 (AA XXV.1, 1 ff.). 183 So behauptet Kant, das Vermögen der verschiedenen Fähigkeiten der Menschen (bzw. die Ursache davon) liege nicht im Gemüt, „sondern in der verschiedenen Organisation des Gehirns“ (AA XXV.1, 85.10–12). 184 AA XXV.1, 85 f. 185 AA X, 145. 181

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Kant ist, als er die Rezension seines Schülers liest, offenbar mit Platners Anthropologie, auf die er sich in der ersten Vorlesung bezieht, bereits bestens vertraut. Sie wird ihm bald dazu dienen, seinem eigenen Anthropologie-Projekt klare Konturen und inhaltliche Ziele zu geben. Sein „Plan“ enthält die Absicht, durch die Anthropologie „die Quellen aller Wissenschaften die der Sitten der Geschicklichkeit des Umganges der Methode Menschen zu bilden und zu regiren mithin alles Praktischen zu eröfnen“.186 Er suche also nicht nach den ersten Gründen der Veränderung der menschlichen Natur überhaupt. Und deshalb werde er sich auch gar nicht erst mit der Frage befassen, „wie die organe des Korper mit den Gedanken in Verbindung stehen“, welches in seinen Augen eine „ewig vergebliche Untersuchung“ ist.187 Trotzdem finden sich in seinen Reflexionen zur Anthropologie und in verschiedenen Partien späterer Vorlesungen über Anthropologie Mutmaßungen über das commercium als den Grund der Vereinigung von Seele und Körper. Z.B. ist ihm der „Lebensgeist“, der aus sich selbst heraus wirke, auf den der Wille keinen Einfluß habe, ein solches Prinzip. Sobald dieser erregt sei, bewege er unwillkürlich sowohl die Gedanken als auch den Körper.188 Kant ist mit seiner Anthropologie auf der Suche nach Phänomenen und praktischen Gesetzen menschlichen Zusammenlebens. Dazu stellt er Beobachtungen an, „selbst im gemeinen Leben“.189 Eine solche „Beobachtungslehre“ habe den Vorzug, die akademischen Zuhörer in eine „unterhaltende Beschäftigung“ zu versetzen, und sie werde eine Art „Vorübung der Geschiklichkeit der Klugheit und selbst der Weisheit“ der Studenten. In der AnthropologieNachschrift Friedländer vom Winter 1775/76 hebt er an einer Stelle die Besonderheit seiner Anthropologie gegenüber allen anderen bis dahin erschienenen Anthropologien, namentlich der Platnerschen, hervor: Den Menschen zu beobachten, und sein Verhalten, seine Phaenomena unter Regeln zu bringen, ist der Zweck der Antropologie. Alle Antropologien, die man noch zur Zeit hat, haben noch die Idee nicht gehabt, die wir hier vo[r] uns haben. Alles was kein Verhältnis zum klugen Verhalten der Menschen hat, gehört nicht zur Antropologie. Dasjenige gehört nur in die Antropologie, wovon auf der Stelle ein kluger Gebrauch im Leben genommen werden kann. Alles wo die Ideen entspringen, gehört zur speculation und nicht in die Antropologie, so wie Platner es gemacht hat.190

AA X, 145. Ebd. Bereits in seiner Inauguraldissertation (1770) geht Kant zu der Frage nach der Gemeinschaft, die einen ortsgebundenen Seelensitz suggeriert, auf Distanz (De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis, AA II, 385–420, hier 419, § 30, Anm.). Vgl. Hagner, Psychophysiologie (wie Anm. 80), 48. 188 AA XV.2, 463 (Reflexionen zur Anthropologie, Nr. 1033). 189 Vgl. AA XXV.1, 472.27–29. 190 AA XXV.1, 472.18–26. 186 187

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Weil Platner also den Ursprung der (materiellen) Ideen suchte und damit eigentlich eine psychologische Frage bearbeitete, gehört alles, was er dazu zu sagen wußte, in die spekulative Philosophie, d.h. in die herkömmliche Metaphysik. Während Kant den Nachweis erbrachte, daß die Anthropologie nur im pragmatischen Sinne konzipiert werden konnte, blieb Platners Anthropologie, indem sie traditionellen Lehrinhalten der Psychologie und deren Inkonsistenzen folgte, hinter dem philosophischen Anspruch ihres Autors zurück. Die beobachtbaren Lebensverhältnisse des Menschen im weitesten Sinne, d.h. nicht beschränkt auf den Menschen als lebendiges (physisches wie geistiges) Individuum, sondern erweitert auf soziale und politische Formen des Zusammenlebens, bilden für Kant den Gegenstand der Anthropologie. Physiologische Erklärungen, etwa zum Ursprung der materiellen Ideen, scheiden aus. Kant bezeichnet eine solche Anthropologie als „scholastische Anthropologie“, der er seine „pragmatische“ entgegenstellt: Die „Anthropologia pragmatica“ betrachtet die Menschenkenntnis danach, „wie sie in der Gesellschaft allgemein brauchbar ist“.191 Sie hat nicht den Universitätsgelehrten zum Adressaten, sondern jedermann. Dagegen ist die „Anthropologia scholastica“, der er Platner zuordnet (obwohl Platner erklärtermaßen ja auch kein akademisches Lehrbuch verfassen wollte), eine als Schulkenntnis abgefaßte Menschenkenntnis: Eine Anthropologie von der letztern Art hat Platner in neuern Zeiten herausgegeben welche die Beschaffenheit des Körpers und der Seele z.E. die Ursache der EinbildungsKraft der Träume und so weiter beschreibt aber mit dieser haben wir itzt nichts zu thun sondern wollen nur die Anthropologie pragmatisch oder als eine WeltKenntniß abhandeln und so ist sie noch nie abgehandelt worden. In der scholastischen Anthropologie forsche ich den Ursachen der menschlichen Natur nach. In der pragmatischen sehe ich bloß auf die Beschaffenheit und suche sie anzuwenden. Die Anthropologie heißt pragmatisch wenn sie nicht zur Gelehrsamkeit sondern zur Klugheit dient.192

In der veröffentlichten Fassung, der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), unterscheidet Kant seine Anthropologie als Weltkenntnis von der Anthropologie in physiologischer Hinsicht und spielt dabei wieder auf Platner an (obwohl nur Cartesius genannt wird). Auch der letzteren wird immerhin zugebilligt, daß sie eine systematisch abgefaßte Lehre von der Menschenkenntnis sei.193 Sie beschäftigt sich mit den Naturursachen des Menschen und betrachtet ihn als Werk der Natur. Gefragt wird z.B., worauf das Erinnerungsvermögen 191 Kant, Anthropologie „Mrongovius“, Winter 1784/85 (AA XXV.2, 1210); vgl. Anthropologie „Menschenkunde“, Winter 1781/82 (AA XXV.2, 856). 192 Kant, Anthropologie „Mrongovius“, Winter 1784/85 (AA XXV.2, 1210–1211). „Klugheit“ ist im Unterschied zur „Geschicklichkeit“ „eine Fertigkeit oder Kentniß seine Absichten zu erreichen“ (ebd., 1210). 193 AA VII, 119.

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beruht. Ihre Nachforschung ist ein Vernünfteln „über die im Gehirn zurückbleibenden Spuren von Eindrücken, welche die erlittenen Empfindungen hinterlassen“. Dabei müsse der Naturforscher gestehen, „daß er in diesem Spiel seiner Vorstellungen bloßer Zuschauer sei und die Natur gewähren lassen muß, indem er die Gehirnnerven und Fasern nicht kennt, noch sich auf die Handhabung derselben zu seiner Absicht versteht, mithin alles theoretische Vernünfteln hierüber reiner Verlust ist“.194 Im Gegensatz dazu ist die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht die Kenntnis des Menschen, insofern sie sich mit dem befaßt, was der Mensch „als freihandelndes Wesen aus sich selber macht, oder machen kann und soll“. Dazu gehört eine Erweiterung der Betrachtungssphäre über die Gegenstände in der Welt hinaus (Lebewesen, Mineralien, Länder, Klimazonen etc.) bis zum Menschen als „Weltbürger“.195 Diesen Gesichtspunkt, den Menschen als vergesellschaftetes Wesen, das sich aus eigener Freiheit einen „Charakter“ bis hin zu dem der Menschengattung verschafft196 und auf eine weltbürgerliche Gesellschaft hinarbeitet,197 in die Anthropologie mit einzubeziehen, macht die konzeptionelle Stärke der Anthropologie Kants gegenüber anderen (physiologisch-medizinischen) Spielarten der Anthropologie – wie derjenigen Platners – aus. In ihr ist der Aspekt der praktischen Vermögen des Menschen ebenso enthalten wie der Gedanke der Erziehung des Menschengeschlechts,198 der Aspekt der kulturellen Entwicklung sowie des historischen Fortganges des Menschen als Gattung.

4. Die Gemeinschaft von Körper und Seele als Scheinproblem Am Schluß meines Beitrages möchte ich zum Ausgangsproblem, d.h. zur Frage nach der Gemeinschaft von Körper und Seele zurückkehren, um zu sehen, wie sie von Kant beantwortet wird und welchen Ausschlag dies auf seine PlatnerKritik hat. Seine verschiedenen Betrachtungen zur wechselseitigen Beeinflussung von Seele und Körper scheinen zu bestätigen, daß er die Beantwortung der Frage, wie Seele und Körper als heterogene Wesen miteinander zusammenhängen und verkehren, für eine bedeutende Aufgabe der Philosophie hält. Aber bereits die auffallende Tatsache, daß Kant es vorzieht, in bezug auf das animalische, triebhafte Leben des Menschen nicht von der Seele, sondern vom 194 195 196 197 198

Ebd. Ebd., 120. AA VII, 329. Ebd., 331. Ebd., 328.

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Gemüt oder von der Lebenskraft zu sprechen – womit er sich übrigens in der Gesellschaft der Physiologen zu befinden meint –, läßt Zweifel an einer solchen Affirmation aufkommen: Chrysipp sagt in seiner stoischen Kraftsprache: ‘Die Natur hat dem Schwein statt Salzes eine Seele beigegeben, damit es nicht verfaule.’ Das ist nun die unterste Stufe der Natur des Menschen vor aller Cultur, nämlich der bloß thierische Instinct. – Es ist aber, als ob der Philosoph hier einen Wahrsagerblick in die physiologischen Systeme unserer Zeit geworfen habe; nur daß man jetzt statt des Worts Seele das der Lebenskraft zu brauchen beliebt hat (woran man auch Recht thut: weil von einer Wirkung gar wohl auf eine Kraft, die sie hervorbringt, aber nicht sofort auf eine besonders zu dieser Art Wirkung geeignete Substanz geschlossen werden kann), das Leben aber in der Einwirkung reizender Kräfte (dem Lebensprinzip) und dem Vermögen auf reizende Kräfte zurückzuwirken (dem Lebensvermögen) setzt und denjenigen Menschen gesund nennt, in welchem ein proportionirlicher Reiz weder eine übermäßige noch eine gar zu geringe Wirkung hervorbringt [...].199

Kants Überlegungen in diesem Zitat regen dazu an, auf seine erkenntniskritische Ablehnung der Seelensubstanz in der KrV zurückzublicken. Bekanntlich gehört der Begriff der Substanz zu den Kategorien des Verstandes. Als solche bezeichnet er eine Form und Funktion des Denkens. Sie ist eine Bedingung von objektiver Erkenntnis der Natur, aber nicht selbst ein Gegenstand von Erfahrung. Deshalb kann zwar sinnvoll gesagt werden: Ich bin eine einfache Substanz, aber nur unter der einschränkenden Bedingung, daß davon kein empirischer Gebrauch gemacht wird.200 Wird diese Bedingung nicht beachtet, dann unterliegt die Aussage, die Seele sei Substanz, einem transzendentalen Schein, der auf einem natürlichen Fehlschluß der reinen Vernunft beruht („Paralogismus“); wird sie aber beachtet, d.h. wird das existentielle Fürsichbestehen von Materie und Geist als realer Substanzen verworfen, dann erhält die Möglichkeit der „Gemeinschaft der Seele mit einem organischen Körper“201 eine ganz andere Bedeutung als in physiologischen Untersuchungen.202 M.a.W. die in der medizinischen Anthropologie Platners gestellte Frage nach der Gemeinschaft ist ein Scheinproblem, das verschwindet, sobald Körper und Seele als selbständige Substanzen widerlegt sind. Ebenso erweisen sich die entsprechenden Strategien zur Lösung des vermeintlichen Körper-Seele Problems als Mißverständnisse. Das gilt nach Kant insbesondere für die Theorie des influxus physicus, die von Platner ebenso befürwortet wird wie von seinem Kritiker Herz: 199 Kant, Verkündigung des nahen Abschlusses eines Tractats zum ewigen Frieden in der Philosophie (1796), AA VIII, 411–422, hier 413. 200 Kant, KrV, A 356. 201 Kant, KrV, A 384. 202 In den Aphorismen I 1793 (wie Anm. 51) 91 (§ 152) und 346 ff. (§ 701 ff.) setzt sich Platner kritisch mit Kants Paralogismus auseinander.

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Gleichwohl kann wider die gemeine Lehrmeinung des physischen Einflusses ein gegründeter kritischer Einwurf gemacht werden. Eine solche vorgegebene Gemeinschaft zwischen zwei Arten von Substanzen, der denkenden und der ausgedehnten, legt einen groben Dualism zum Grunde und macht die letztere, die doch nichts als bloße Vorstellungen des denkenden Subjekts sind, zu Dingen, die für sich bestehen. Also kann der mißverstandene physische Einfluß dadurch völlig vereitelt werden, daß man den Beweisgrund desselben als nichtig und erschlichen aufdeckt.203

Was Kant betrifft, so ist zu bemerken, daß in der KrV die Frage nach der Gemeinschaft und dem Einfluß der Substanzen nicht schlechthin zum Verschwinden gebracht wird. Innerhalb der Grenzen der Vernunftkritik, als bloß subjektive Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis, hat sie als Grundsatz des reinen Verstandes einen Platz,204 der seinerseits allerdings auch nicht frei von systematischen Problemen ist. Platner hat weder aus der rationalen Argumentation seines Kritikers Herz, noch aus Kants Metaphysik-Kritik in der Kritik der reinen Vernunft, noch aus der Organismuslehre in Kants Kritik der Urteilskraft (die er nur gelegentlich zitiert) nachhaltige Konsequenzen für sein Konzept einer Anthropologie gezogen, obwohl er deren Tragweite ahnte; denn sonst hätte er nicht seinen „Beweis“ von der Seele als Substanz vehement gegen Kants Kritik verfochten. Die Einwände, die vor allem in seiner Logik und Metaphysik vorgetragen werden, belegen auf der einen Seite, daß er mit dem Gebäude der kantischen Philosophie vertraut war; auf der anderen Seite machen sie deutlich, daß er sich von ihrer Systematik nicht überzeugen ließ. Die aufgezeigten Fehler und Schwächen in der philosophischen Ausarbeitung bringen Platners Anthropologie, deren systematisches Zentrum vom Scheinproblem des Commercium besetzt wird, als eine Wissenschaft vom ganzen Menschen zum Scheitern. Sie ist nichts weniger als eine Fundamentalphilosophie, vielmehr eine medizinische Psychologie mit philosophischem Anspruch.

Das Hauptziel dieses Beitrages besteht darin, philosophische Problemfelder in Platners Anthropologie in der Fassung von 1772 aufzudecken und sie aus dem Blickwinkel der Kritik von Herz und Kant zu beurteilen. Im systematischen Zentrum der Platnerschen Anthropologie steht die Frage nach der Gemeinschaft von Körper und Seele, deren Berechtigung allerdings insofern zu bezweifeln ist, als sie auf der fragwürdigen Voraussetzung des Substanzdualismus von Körper und Seele beruht. Die Analyse der von Herz in seiner Platner-Rezension von 1773 dargelegten Kritik ergibt, daß seine Argumentation einerseits das Dogma des Leib-Seele203 204

Kant, KrV, A 292; vgl. Kant, KrV, A 390–392; vgl. ebd., B 427 f. In der Dritten Analogie der Erfahrung; siehe Kant, KrV, B 256 ff.

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Dualismus erschüttert, daß sie aber andererseits die Gemeinschaft von Körper und Seele in der Erfahrungsseelenlehre voraussetzt. Kants Kritik an Platner überbietet die Kritik von Herz insofern, als sie die Kritik der Kritik seines ehemaligen Schülers mit einschließt. Dazu verfügt Kant über zwei entscheidende Innovationen: seine um 1773 in Konkurrenz zur medizinischen Anthropologie entwickelte „pragmatische“ Anthropologie und sein ab 1781 veröffentlichtes Systemprogramm der Kritik der reinen Vernunft. Es wird im Schlußabschnitt dieses Beitrages gezeigt, welche differente Bestimmung des Verhältnisses zwischen Philosophie und Medizin bzw. zwischen geistiger und körperlicher Medizin Kant vornimmt, wie er die von ihm geprägte „pragmatische Anthropologie“ definiert und gestaltet, und aus welchen Gründen er die Gemeinschaft von Körper und Seele als „Scheinproblem“ diskreditiert. Das Fazit, das am Ende aus diesen Analysen zu ziehen ist, läuft auf die Feststellung hinaus, daß die Platnersche Anthropologie-Konzeption aufgrund der ihr immanenten Widersprüche die Funktion als Fundament philosophischen Wissens nicht erfüllen konnte. The main object of this article is to reveal philosophical problem areas in Platner’s anthropology of 1772 and to judge them from the critical perspective of Herz and Kant. At the systematic centre of Platner’s anthropology stands the question of the union of body and soul, which has to be doubted insofar as it is based on the questionable presupposition of a substantial dualism of body and soul. The study of Herz’s criticism presented in his review of Platner’s work in 1773 shows that his argumentation on the one hand agitates the dogma of a dualism of body and soul, while the union of body and soul is postulated in the theory of experience on the other hand. Kant surpasses Hertz’s critique insofar as he includes the critique on the critique of his former pupil. For doing so, Kant disposes of two important innovations: his “pragmatic” anthropology that had been developed in 1773 in competition with the medical anthropology, and his systematic program of the critique of pure reason, being established since 1781. In the final chapter of this article it is shown which different determination of the relationship between philosophy and medicine, resp. between spiritual and physical medicine Kant makes, how he defines and shapes the “pragmatic anthropology” he had coined, and why he discredits the union of body and soul as a pseudo problem. The conclusion is that Platner’s conception of anthropology could not fulfil the function of a basement for philosophical knowledge due to its immanent inconsistencies. Dr. Werner Euler, Universität Trier, Fachbereich I- Philosophie, 54286 Trier, E-Mail: [email protected]

H ANS -P E T ER N O WI T Z KI Platner und die Wolffsche Philosophietradition

I. ‘Platners Auseinandersetzung mit Christian Wolff’ – das ist ein Thema der Standortbestimmung. Es verlangt Aufklärung über das Verhältnis Platners zu Wolff ebenso wie über die Stellung Platners in seiner Zeit, einer Zeit zwischen den Systemphilosophien Wolffs und Kants. Im folgenden wird es zunächst einmal um die Verortung der Platnerschen Philosophischen Aphorismen aus den Jahren 1776 und 1782 im philosophischen Milieu der siebziger und achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts gehen, insbesondere um zu erkunden, ob und, wenn ja, inwieweit sich Wolffsches Gedankengut in den Werken Platners niedergeschlagen hat. Die Frage nach dem Verhältnis von Platner zu Wolff mag angesichts der Publikationsdaten der beiden Teile der Philosophischen Aphorismen zunächst etwas befremdlich wirken. Das wird auch nicht anders, wenn man feststellt, daß das Titelblatt der Anthropologie für Ärzte und Weltweise von 1772 die Konterfeis von Hippokrates und Platon und die Titelblätter der beiden Bände der hier interessierenden Aphorismen die Porträts Gottfried Wilhelm Leibniz’ und Christian Thomasius’ zieren.1 Dem Bildnis eines Christian Wolff hat Platner diese Portalfunktion nicht zugebilligt. Doch damit nicht genug: Platner war in den Augen seiner Zeitgenossen nicht Wolffianer, sondern allenDarin gleichen sich alle drei Auflagen. Platners skeptischer Eklektizismus knüpfte vornehmlich an Leibniz an, sein subjektiver Eudämonismus dagegen an Thomasius. Das erklärt, warum auf dem Titelblatt der theoretischen Philosophie das Bildnis Leibniz’, auf dem Titelblatt der praktischen Philosophie hingegen das Thomasische prangt (dazu Max Dessoir, Geschichte der neueren deutschen Psychologie, Berlin 1902, 224 [Nachdruck 1964]; vgl. auch Platners Brief an den Verleger Engelhard Benjamin Schwickert; o.D. [Ende 1781/Anfang 1782]). Seinen beiden Büchern physiologischer Untersuchungen von 1794, einer Sammlung programmatischer Procancellariatsreden aus den Jahren 1777–1793, Quaestionum physiologicarum libri duo quorum altero generalis altero particularis physiologiae potiora capita illustratur praecedit prooemium tripartitum de constituenda physiologiae disciplina betitelt, hat Platner das den Autor als pyrrhonisierenden Physiologen ankündigende Bildnis von Sextus Empiricus, ebenfalls en medaillon, vorangesetzt. 1

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falls Leibnizianer. So etwa pries ihn Jean Paul 1781 einem vertrauten Brieffreund gegenüber: „Kaufen Sie sich seine philosophischen Aphorismen. Sie treffen in diesen die Leibnizsche Philosophie im kernichsten Auszug“.2 Ausschlaggebend für dieses Bild Platners in der Öffentlichkeit waren sicherlich sein 1781/82 in Leipzig einiges Aufsehen erregender Streit mit Johann Karl Wezel wie auch sein öffentlicher Spendenaufruf für die Stiftung eines von Oeser zu konzipierenden Leibniz-Denkmals im Jahre 1775.3 Anderen wiederum war Platner einer, der sich „an kein bekanntes System ganz und genau bindet“.4 Jean Paul an Pfarrer Vogel (Leipzig, November 1781), in: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 1: Briefe 1780–1793, hg. von Eduard Berend, Berlin 1956, 30. 3 Platners Spendenaufruf vom 20. August 1775 hat folgenden Wortlaut: „Der Wunsch, dem großen Leibnitz, einem der weisesten Menschen aller Zeitalter und Nationen ein Denckmal von der Hand des größten Künstlers errichtet zu sehen, ist die natürliche Folge des lebhaften Eindrucks, welchen die ausnehmende Größe und das in ganz Europa wirksame Verdienst dieses erhabenen Geistes auf jeden Kenner und Freund der Weisheit machen mußte. Keine der aufgeklärten Städte Deutschlands hatte eine größere Verbindlichkeit, diesen Wunsch ins Werck zu sezen, als Leipzig, die Geburthsstadt, die Schule und die Schülerin des großen Leibnitz. Doch, vielleicht ist erst jezt das Zeitalter in Deutschland, welches fähig und würdig war, Leibnitzens Denckmal zu errichten. Wenigstens ist das jezige Zeitalter mehr vorbereitet zu allen Unternehmungen dieser Art, welche Geschmack und einen gewißen Nationalgeist erfordern, um bewerckstelliget und dann ihrem Werthe gemäß geschäzt zu werden. | Da mir die ausgebreiteten Verbindungen, in welchen ich mit so vielen edelgesinnten Schülern und Freunden der Weisheit zu stehen das Glück habe, und vornehmlich die uneigennüzige Bereitwilligkeit meines schäzbaren Freundes des berühmten Oesers, die wesentlichsten Schwierigkeiten erleichtern, welche sich Unternehmungen dieser Art zu widersezen pflegen: so ermuntere ich alle diejenigen, welche wißen wer Leibnitz war, und was die Weisheit und was die Kunst ist, sich in edelmüthigen Beyträgen zur vollkommensten Ausführung dieses Wercks mit mir zu vereinigen. | Die Verhältnißmäßige Größe der zu einem Denkmale von Marmor erforderlichen Summe macht es mir unmöglich Beyträge unter einem Louisdor anzunehmen. | Denkmäler weiser Männer sind Dankopfer welche eine aufgeklärte Nation der Gottheit für Erleuchtung und Glückseligkeit darbringt. Sie sind zugleich die kräftigsten Mittel die Genies zu ermuntern und den Nationalgeist zu erwärmen und wenn sie von der Hand eines Oesers errichtet werden, so sind sie selbst die anschauendesten und rühmendesten Lehrer der Weisheit und Tugend. | Leipzig den 20sten August 1775. | Ernst Platner“. Es folgen 45 Unterzeichner, die insgesamt 96 Louisdor stifteten, darunter u.a. Baron von Schlaberndorf, D. Müller und Gottfried Winkler. Vgl. dazu auch Detlef Döring, Die Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz’ und die Leipziger Aufklärung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Leipzig 1999 (Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Philologischhistorische Klasse, 75/4), 15 f. Auch in Göttingen trug man sich in jenen Jahren mit dem Gedanken, ein Leibniz-Denkmal zu stiften (vgl. Götz von Selle, Universität Göttingen. Wesen und Geschichte, Göttingen 1953, 17). 4 [Johann August Eberhard], [Rez.], Ernst Platners philosophische Aphorismen, nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte, Leipzig 1776, in: Allgemeine deutsche Bibliothek 31 (1777), 28–39, hier 30. 2

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Und dennoch mag Norbert Hinske beispielsweise in Platner einen Wolffianer sehen, wenn auch einen „selbständigen“ im Gegensatz zu den „orthodoxen“ à la Johann Christoph Gottsched, Friedrich Christian Baumeister oder Alexander Gottlieb Baumgarten,5 und das, obwohl doch alles dagegen zu sprechen scheint: eigenes Selbstverständnis, Fremdwahrnehmung und selbst der philosophische Zeitgeist: Denn die große Zeit, in der die Wolffsche Philosophie alle Gemüter beschäftigt, eine Vielzahl von Verteidigern auf den Plan gerufen, einem neuen Methodenideal die Bahn gebrochen, der Philosophie ein neues Selbstverständnis verschafft, ja der Aufklärungsbewegung in einer bis dahin ungekannten Breite vorgearbeitet hatte, war lange vorbei. Diesen Stellenwert hatte die Wolffsche Philosophie nur in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts inne; sie selbst begann schon in der Mitte des Jahrhunderts für veraltet zu gelten. Aber nicht nur unzeitgemäß zu sein attestierte man ihr schon damals, in den sechziger Jahren; darüber hinaus stand sie gerade in jener Zeit mit dem Leipziger Christian August Crusius – einem ihrer entschiedensten und erfolgreichsten Widersacher – in erbitterten Auseinandersetzungen. Im Gegensatz zum Wolffianismus hielt Crusius an der Begrenztheit kognitiver Prozesse fest und befehdete die rationalistische Erkenntnismetaphysik Wolffscher Provenienz, die die Wahrheit in einer kohärenten Urteilskette (methodo Wolffii) genugsam begründet und sich daher berechtigt glaubte, Totalitätsansprüche geltend machen zu können. Erkenntnislimitierung, Substitution der synthetischen durch die analytische Methode, Abweis des intellektualistischen Monismus und Hinwendung zu einem Dualismus von Real- und Erkenntnisgrund, von Vernunft und Moral, Wissen und Glauben, Determinismus und Freiheit – das waren im Gegensatz zu jenem Crusius’ Programmideen. Um 1770 hatte sich die Situation erneut grundlegend gewandelt: Man störte sich jetzt weniger am Gegensatz von Wolffschem Monismus und Crusianischem Dualismus. Die Beweggründe, die vormals den Ausschlag für den einen oder anderen gaben, waren inzwischen andere. Was an dem Monismus Wolffscher Prägung störte, war nicht mehr in erster Linie – wie noch für Crusius –, daß er deterministisch, fatalistisch und intellektualistisch war, sondern daß es unmöglich war, auf diese Weise das Sinnlich-Lebendige begrifflich zu fassen. Crusius’ Dualismus stieß nicht nur deshalb auf wenig Gegenliebe, weil er antiintellektualistisch, „finster“, wie die Zeitgenossen meinten,6 war, sondern weil Norbert Hinske, Wolffs Stellung in der deutschen Aufklärung, in: Werner Schneiders (Hg.), Christian Wolff 1679–1754. Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung, Hamburg 1983 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert, 4), 311. 6 So etwa der Übersetzer von Lockes Versuch über den menschlichen Verstande (Altenburg und Jena 1757, 21787), Heinrich Engelhard Poley, in einem Brief an Gottsched vom 4. November 5

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man wieder mehr an einem einheitlichen Weltbild interessiert war, Überbrükkung und Überwindung dieser Dualität wünschte: das Lebendig-Sinnliche im Ganzen eingebunden und mit ihm verwoben sehen wollte.7 Es ist also kein Zufall, daß schon wenig später, als Jean Paul die Leipziger Universität bezog, sich kaum noch einer als Crusianer zu erkennen gab: Die Krusianer sind fast mit ihrem Stifter verloschen [Crusius starb 1775]; man ist im Jar 1781 zu aufgeklärt, um ganz Krusianer zu sein, wenigstens zu klug, um es zu sagen. Nicht ganz aber fast eben so ist’s mit den Ernestianern. […] Von beiden Parteien hört man jetzt wenig.8

Die Schulphilosophie hatte allem Anschein nach entscheidend an Attraktivität eingebüßt. Wenn dem aber so ist, wovon hier ausgegangen wird, was vermag dann eigentlich ein Thema wie ‘Platner und Wolff’ zu rechtfertigen, welche Ergebnisse kann eine Beschäftigung unter diesen Voraussetzungen überhaupt zutage fördern? Um eine Antwort darauf zu erhalten, muß die am Äußeren haftende Perspektive, die die für das Entstehen und die Ausgestaltung der Platnerschen Philosophie verantwortlichen Motive und Anregungen nicht einzuholen vermag, aufgegeben werden. Denn auf diese Weise kann nicht einsichtig werden, daß nicht nur Diskontinuität das Geschehen bestimmt, Wolff seinem und dem kommenden Jahrhundert nicht Nichts mitgegeben und Platner selbst eine Entwicklung durchlaufen hat, die ihn zeigt als abhängig von Herkommen und verhaftet auch in Vor-Urteilen seiner Zeit. Zugegeben, die Zeugnisse zu Platners Curriculum sind spärlich gesät. Weniges nur weiß man über ihn, über seine Kindheit, über sein Studium. Aber einiges läßt sich doch aus den Lebenszeugnissen extrahieren. Dafür ist es allerdings vonnöten, diese zusammen mit der philosophischen Lehre an der Universität Leipzig in jenen Studienjahren Platners in den Blick zu nehmen. Platner begann sein Studium an der Leipziger Universität 1762. Er studierte Medizin und Philosophie, wurde 1766 Magister bzw. Doktor der Philosophie und 1767 Doktor der Medizin, unternahm 1768 eine Studienreise, die ihn über Straßburg nach Paris führte, wo er das Winterhalbjahr zubrachte, bis er schließlich Ende März, Anfang April über Brüssel, Antwerpen, Den Haag, Delft, Lei-

1756: „Daß Dr. Crusius ein finsteres Gesicht dazu gemacht“; vgl. dazu Detlef Döring, Der Wolffianismus in Leipzig. Anhänger und Gegner, in: Hans-Martin Gerlach (Hg.), Christian Wolff – seine Schule und seine Gegner, Hamburg 2001 (Aufklärung. 12/2 [2001]), 73 und Johann Karl Wezel in einem Brief an Gottfried Konrad Böttger vom 29. Juni 1765 („Crusius ist finster wie seine Philosophie“). 7 Panajotis Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, München 1986, 557. 8 Jean Paul an Pfarrer Vogel (Leipzig, November 1781), in: Jean Pauls Sämtliche Werke (wie Anm. 2), 27.

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den und Harlem nach Amsterdam und wieder zurück nach Leipzig reiste,9 wo ihm eine außerordentliche Professur der Medizin konferiert wurde. Durch seinen philosophischen Magistergrad dazu berechtigt, begann er nun auch parallel zu den medizinischen Vorlesungen in der Philosophischen Fakultät Logik und Metaphysik, Anthropologie und Moralphilosophie sowie Ästhetik zu lesen. Im Jahre 1762, als sich Platner in die Universitätsmatrikel einschreiben ließ, waren noch fast ausnahmslos alle philosophischen Lehrstühle von Wolffianern besetzt und die Auseinandersetzung der Wolffianer mit den Crusianern noch im Gange. Johann Karl Wezel, der spätere Kontrahent Platners, der zwei Jahre nach diesem, im Jahre 1764, die Universität bezog, schrieb rückblickend: Ich hatte, als ich auf der Universität war, die Wahl, ein Crusianer oder Wolfianer zu werden […]. Ich armer Mensch verzweifelte, jemals Philosophie zu lernen, und gleichwohl interessirten mich doch die Gegenstände dieser Wissenschaft: es war mir unbegreiflich, wie meine Herren Commilitonen so viel von Causalgründen, Existentialgründen, Finalursachen und ähnlichen tiefsinnigen Sachen so häufig sprachen, als wenn sie alle diese Dinge mit der Muttermilch eingesogen hätten, und wie ich doch so wenig dabey denken konnte.10

Was Jena für den Kantianismus war, das war Leipzig für den Wolffianismus. Nicht Geburtsstätte des Wolffianismus war es, auch wenn Wolff in Leipzig 1702 die Magisterwürde erworben und nach einem einjährigen Zwischenaufenthalt in Jena an der kursächsischen Universität bis 1706 gelehrt hatte. Geburtsstätte des Wolffianismus war vielmehr Halle, wo man ihm auf Anregung von Leibniz 1707 eine Professur übertragen hatte. Leipzig war aber der Ort, wo die Wolffsche Philosophie wohl am entschiedensten propagiert und in der Folge auch am erbittertsten um sie gestritten wurde. Zunächst hatte sie sich des in Leipzig heimischen Thomasianismus, vertreten durch Andreas Rüdiger und seinen Schüler August Friedrich Müller, zu erwehren. Zugleich sah sich der Wolffianismus in Leipzig mit der pietistisch-orthodox orientierten Philosophie Johann Franz Buddes konfrontiert. Im Verlauf der immer stärkeren Etablierung des Wolffianismus in Leipzig gewann dieser auch zunehmend Fürsprecher unter den Thomasianern, so etwa bei Johann Heinrich Win(c)kler (1703–1770), einem Schüler Rüdigers und Müllers.11 Der im wesentlichen skeptisch verfaßte

Studienreisen waren vormals elementarer curricularer Bestandteil der Leipziger Medizinprofessoren. Im 18. Jahrhundert jedoch sind die europäischen Studienreisen unter den Leipziger Medizinprofessoren stark rückläufig. 10 Johann Karl Wezel, Anmerkungen zu der im vorigen Stücke befindlichen Recension, über Sprache, Wissenschaften und Geschmack der Teutschen, in: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 26/2 (1782), 209. 11 Ludovici, der Geschichtsschreiber des Wolffianismus, schildert ihn als einen „Uberläuffer 9

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Eklektizismus der Thomasischen Schule wurde zunächst mehr und mehr von der Philosophia systematica Wolffs in den Hintergrund gedrängt. Wolff und seine Schüler wurden nicht müde, ihre ‘eine’ ‘abgeschlossene’ und ‘vollständige’, ‘ans Ende gekommene’ ‘endgültige Philosophie’ zu propagieren. Von ihnen lehrten 1762 unter anderem noch Johann Christoph Gottsched (1700– 1766),12 Johann Friedrich May (1697–1762),13 Günther Ludovici (1707– 1778)14 und Johann Heinrich Winkler (1703–1770).15 Christian August Crusius (1715–1775), der Kopf der Gegenpartei, lehrte seit 1751 als ordentlicher Professor in der Theologischen Fakultät.16 In der Philosophischen Fakultät lehrten seit 1764 als außerordentlicher Professor Crusius’ Freund und Anhänger Johann Friedrich Burscher (1732–1805)17 und seit 1763 Christian Friedrich

zur Wolffischen Weltweisheit“, der „von seinem Lehrmeister in der Weltweisheit, dem Hrn. Andreas Rüdiger, sey aufgemuntert worden, nach Jene [i.e. Jena] sich zu wenden, und daselbst in seinen Vorlesungen die Wolffischen Lehren zu wiederlegen, er auch deswegen die Wolffischen Deutschen Schrifften durchgegangen sey: allein diese hätten ihn zu einem Wolffianer gemacht“. (Carl Günther Ludovici, Ausführlicher Entwurff einer vollständigen Historie der Wolffischen Philosophie, zum Gebrauch Seiner Zuhörer. Dritter und letzter Theil, Leipzig 1738 [Nachdruck 1977], 296 f. [§ 325]). 12 Gottsched war seit 1730 außerordentlicher Professor für Poesie, seit 1734 hatte er die ordentliche Professur für Dialektik und Metaphysik inne, die er bis zu seinem Tode im Jahre 1766 bekleidete. 13 May wurde 1742 Nachfolger Georg Friedrich Richters als Professor für Moral und Politik. Richter hatte 1726 eine deutsche Übersetzung von Leibniz’ Theodizee neu überarbeitet und vorgelegt. 14 Ludovici hatte als Nachfolger August Friedrich Müllers den Lehrstuhl für Logik (Aristotelisches Organon bzw. Vernunftlehre) in Leipzig von 1761 bis 1778 inne. 15 Seit 1742 – als Nachfolger des jüngst verstorbenen Theologen und klassischen Philologen George Philipp Olearius (1681–1741) – war er, der sich Gellerts Förderung erfreuen konnte, ordentlicher Professor der griechischen und lateinischen Sprache, von 1749 an Professor für Physik in Leipzig. Zu Win(c)kler vgl. Ernst Gottfried Baldinger (Hg.), Biographien jetzt lebender Ärzte und Naturforscher in und außer Deutschland. Band 1, Stück 2, Jena 1772, 137–166, sowie Detlef Döring, Die Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz’ (wie Anm. 3), 97 f. Unter seinen Hörern in den Vorlesungen über Philosophie und Physik befand sich im Semester 1765/66 u.a. Johann Wolfgang von Goethe, der sich dessen noch in seiner Geschichte der Farbenlehre dankbar zu erinnern weiß. 16 Von 1745 bis 1750 war Crusius Extraordinarius der Philosophischen Fakultät und las über Ethik, Metaphysik, Logik und Physik, auch noch, nachdem er in die Theologische Fakultät aufgerückt war. Zu dem Theologen Crusius vgl. Otto Kirn, Die Leipziger Theologische Fakultät in fünf Jahrhunderten, in: Rektor und Senat (Hg.), Festschrift zur Feier des 500jährigen Bestehens der Universität Leipzig, Leipzig 1909, Bd. 1, 164–169. 17 1768, als er einen Ruf nach Jena abgelehnt hatte, wurde ihm in der Theologischen Fakultät eine Professio ordinaria non salariata zugestanden, verbunden mit der Zusicherung der nächsten freiwerdenden Stelle. 1773 schließlich konnte er dann die Nachfolge Johann Christian Stemlers (1701–1773) antreten.

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Schmid (1741–1778). Bei einigen von ihnen wird Platner im Laufe seines Studiums gehört haben, obgleich er sie in seinen Viten nicht als akademische Lehrer benennt. Dafür verweist er darin neben Christian Fürchtegott Gellert und Carl Andreas Bel auf Johann August Ernesti, Christian August Clodius und Samuel Friedrich Nathanael Morus. Insbesondere Johann Heinrich Winklers Lehrstunden weiß er lobend zu erwähnen. Jener, ein ‘philosophischer Konvertit’, hatte – schon frühzeitig begierig auf die Philosophie Christian Thomasius’ und später dann, als Student in Leipzig, Hörer und Anhänger August Friedrich Müllers und Andreas Rüdigers, danach aber, nunmehr begeistert von Wolffs deutscher Metaphysik und Ethik, – als Dozent an der Leipziger Universität und Lehrer an der Thomas-Schule18 zunächst Wolff und Rüdiger in separaten Vorlesungen, dann aber in einer zusammen behandelt: „so stellete er über die GegenMeynung, welche D. Rüdiger wider Wolfens Gedancken von der Seele geschrieben hatte, Vorlesungen an, und suchte die angefochtenen Sätze zu vertheidigen“.19 Er hat aber dadurch zu erkennen geben wollen, daß er die Freyheit liebe, die Wahrheit suche, und einem Philosophen folgen und auch von ihm abgehen könne. Er glaubt dadurch weder dem Herren Baron von Wolf, noch dem Herren Rüdiger zu nahe zu treten, deren der eine ihn schrifftlich, der andere ihn mündlich unterrichtet hat.20

Er hatte einen wohl kaum zu überschätzenden Einfluß auf Platner.21 Diesem hat er, so scheint es, nicht zuletzt seine Begeisterung für Leibniz’ Monadenlehre zu

Winkler hatte seinerzeit vertrauten und freundschaftlichen Umgang mit dem damaligen Rektor der Thomas-Schule und späteren Göttinger Professor der Beredsamkeit und Dichtkunst, Johann Matthias Gesner (1691–1761), in: Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste. 57. Band, Leipzig 1748, 558–576, hier 569. Er bekleidete die vierte Lehrerstelle an der Thomana von 1731 bis 1739, also auch unter dem Rektorat Johann August Ernestis. 1732, noch unter Gesners Rektorat, hatte man ihn um die Dichtung eines passablen Textes für Johann Sebastian Bachs Kantate anläßlich der Einweihung des Schulneubaus gebeten (BWV Anh. 18: Als die von E. Hoch-Edlen und Hoch-Weisen Rathe der Stadt Leipzig neugebauete und eingerichtete Schule zu S. Thomae den 5. Jun. durch etliche Reden eingeweyhet wurde, ward folgende CANTATA dabey verfertiget und aufgeführet von Joh. Sebastian Bach und M. Johann Heinrich Winckler, Collega IV.; vgl. Sämtliche von Johann Sebastian Bach vertonte Texte, hg. von Werner Neumann, Leipzig 1974, 211 und 402–405). Gesner stand mit seinem Kantor, anders als sein Nachfolger Ernesti, bis zu seinem Abgang nach Göttingen auf gutem Fuße. 19 Grosses vollständiges Universal-Lexicon (wie Anm. 18), 563–568. 20 Ebd., 569. So etwa hat er zwar Wolffs Annahme einer prästabilierten Harmonie zwischen Körper und Seele seinerzeit „gegen die harten Beschuldigungen vertheidiget, aber nicht behauptet“ (ebd., 569). 21 Ernst Platner, Proprium vitae curriculum, in: Anton Wilhelm Plaz, Ordinis Medicorvm In Vniversitate Lipsica H. T. Procancellarivs D. Antonivs Gvilielmvs Plaz [...] Panegyrin Medicam Ad D. IV. Sept. A. R. G. MDCCLXVII. Indicit Et De Volvptatibvs Stvdiorvm Impedimentis Exponit, Lipsiae 1767, XIV. 18

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danken und damit das Inzitament zu einer intensiven und lebenslang währenden Beschäftigung mit dessen Schriften. Die Unruhe, für die die erbitterten philosophischen Auseinandersetzungen sorgten, scheinen einen nachhaltigen Eindruck auf die Studierenden jener Jahre gehabt zu haben. Vielen war das Anlaß genug, sich selbst jedweden Dogmatismus, Sektierertums und Sektengeistes zu enthalten und statt dessen im thomasischen Eklektizismus ihr Heil zu suchen. Das gilt auf alle Fälle für Platner, der die „dogmatische[] Denkungsart seines Zeitalters“22 hinter sich gelassen und sich einer skeptischen, „irenisch-eclectische[n]“23 bemeistert hatte. Gegen alle Ansprüche der Grundsatzphilosophien von Grund auf skeptisch eingestellt, wirft er 1772 die rhetorische Frage auf, ob „denn nun eben alle Untersuchungen auf das äußerste getrieben werden [müßten], um nützlich zu seyn?“24 Sein restringierter Wahrheits- und Erklärungsanspruch kulminiert in der Mutmaßung, daß „aus allen […] Grund- und Erfahrungssätzen vielleicht in Ewigkeit kein zusammenhangendes und befriedigendes System der Freyheit und Moralität auf[zu]bauen“ sein wird, ungeachtet es Philosophen gebe, „welche dieses Gebäude längst vollendet und gegen alle andere, als nur gegen muthwillige und boshafte Zweifel, festgestellt zu haben glauben“.25 Er vermag keinen „Mangel an Scharfsinnigkeit“ darin erkennen zu können, „sich bey klaren Erfahrungen und Empfindungen zu beruhigen, und sich da in dem Gebiete der gesunden Vernunft einzuschränken, wo andere die finstern, unwegsamen Gegenden der Spekulation muthwillig durchwandern“.26 „Despotismus von jeder Art reitzt zur Widersetztlichkeit“, schrieb Moses Mendelssohn 1785 rückblickend. Das Ansehen dieser [der wolffschen] Schule ist […] gar sehr gesunken, und hat das Ansehen der spekulativen Philosophie überhaupt mit in seinen Verfall gezogen. Die besten Köpfe Deutschlands sprechen seit kurzem von aller Spekulation mit schnöder

Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B XXXVII. J.G.H. Feder’s Leben, Natur und Grundsätze. Zur Belehrung und Ermunterung seiner lieben Nachkommen, auch Anderer die Nutzbares daraus aufzunehmen geneigt sind, hg. von Karl August Ludwig Feder, Leipzig, Hannover und Darmstadt 1825, 80. An anderer Stelle heißt es: „Aber man war der schwerfälligen, weitschweifigen, und doch am Ende die verheißene Einsicht und Gewißheit nicht bewirkenden, Demonstrir-Methode müde. […] Auch ich schrieb zwar in §§; galt aber doch in dieser neuen Periode für einen besseren Philosophen, als der Haufe meiner Vorgänger aus den Wolfischen und AntiWolfischen Schulen; bis – auch dieser Periode Ende da war, und schwere Rüstung wieder Mode ward“ (ebd., 87; vgl. Walther Ch. Zimmerli, „Schwere Rüstung“ des Dogmatismus und „anwendbare Eklektik“. J.G.H. Feder und die Göttinger Philosophie im ausgehenden 18. Jahrhundert, in: Studia Leibnitiana 15/1 [1983], 85–71). 24 Ernst Platner, Anthropologie für Aerzte und Weltweise, Leipzig 1772, Vorrede, XI. 25 Ebd. 26 Ebd., XII ff. 22 23

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Wegwerfung. Man dringet durchgehends auf Thatsachen, hält sich blos an Evidenz der Sinne, sammelt Beobachtungen, häuft Erfahrungen und Versuche, vielleicht mit allzugroßer Vernachläßigung der allgemeinen Grundsätze. Am Ende gewöhnet sich der Geist so sehr ans Betasten und Begucken, daß er nichts für wirklich hält, als was sich auf diese Weise behandlen läßt. Daher der Hang zum Materialismus, der in unsren Tagen so allgemein zu werden drohet, und von der andern Seite, die Begierde zu sehen und zu betasten, was seiner Natur nach nicht unter die Sinne fallen kann, der Hang zur Schwärmerey. Jedermann gestehet sich, daß das Übel zu sehr einreißt, daß es Zeit sey, dem Rade einen Schwung zu geben, um dasjenige wieder empor zu bringen, was durch den Zirkellauf der Dinge zu lange ist unter die Füße gebracht worden.27

Mendelssohns beunruhigende Zeitdiagnose, die die Philosophie im Verfall begriffen und die fundamentale Balance von Erfahrung und Spekulation gestört sieht, soll hier nicht auf ihre Adäquatheit hin überprüft werden. Wichtig ist die Feststellung einer grundlegend veränderten Interessenlage, zu der es in den Jahren zwischen 1760 und 1770 gekommen ist. Denn Feder,28 dessen Kompen-

27 Moses Mendelssohn, Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes. Erster Theil (1785), in: Moses Mendelssohn. Schriften zur Philosophie und Ästhetik, hg. von Leo Strauss, Stuttgart - Bad Cannstatt 1974 (Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe 3.2), 4 f. 28 In der Besprechung der 1769 in Göttingen bei Dietrich verlegten Logik und Metaphysik, nebst der philosophischen Geschichte im Grundriß Feders in den in Leipzig erscheinenden Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen vom 18. Dezember 1769, 805–807 heißt es: „So groß die Menge philosophischer, mehrentheils schlechter, und oft unnützer, wenigstens unverständlicher Lehrbücher zu unseren Zeiten ist, die auch noch täglich zunimmt, da man so gar anfängt Compendien aus Compendien zu machen; so wenig können wir das, welches wir izt vor uns haben, unter diese Anzahl rechnen, weil es in der That sehr brauchbar, und seines Verfaßers würdig ist. Man kennet ihn schon aus seinem ersten Lehrbuche von eben diesen Wissenschaften, das er vor einiger Zeit, als er noch in Coburg war, zum Gebrauche seiner Zuhörer herausgab, und aus dem neuen Emil, als einen Mann. der eben so gründlich denkt, als edel und schön schreibt, und der die schönen Wißenschaften mit der Philosophie vollkommen zu vereinigen weiß. Diese unsere Meynung von ihm hat er durch die gegenwärtige Schrift nicht vermindert, sondern vielmehr bestärkt. Durch dieselbe hat er von neuen bewiesen, wie gut sich die speculativische Wahrheit in einer leichten, natürlichen, deutlichen, und anständigen Schreibart vortragen laße, und daß man eben nicht nöthig habe ein Barbar zu werden, um ein guter Philosoph zu seyn. Ordnung im Vortrage, Richtigkeit im Erklären und Beweisen, Wahl der Sachen und des Ausdruks, sind die Eigenschaften die dieses Buch für anderen vorzüglich auszeichnen“ (ebd., 805 f.). „Doch der Hr. Pr. hat nicht blos wiederhohlt, was andere gesagt haben, um es nur in einer beßern, und dem Geschmacke unserer Zeiten angemeßnern Schreibart ausgedrükt; sondern er denkt und erfindet selbst. Zum Beweise deßen kann das Cap. von den Quellen der Wahrheit, und den Gründen der sinnlichen Erkenntniß, dienen, wo er einen ganz neuen Weg zur Widerlegung der Zweifler, besonders der Idealisten, mit welchen die Philosophen schon lange und immer vergeblich streiten, bestritt. Er macht nehmlich die ganze Sache zu einem Wortstreit, und sucht diese Leute mit ihren eigenen Waffen zu bekämpfen. Doch die Sache muß selbst nachgelesen werden. Die Geschichte der Philosophie, die voran gesetzt worden ist, ist zwar etwas kurz und unvollständig; allein da sie zu academischen Vorle-

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dium Platner anfangs seinen philosophischen Vorlesungen zugrunde legte, stellte für das Jahr 1768, als er, dem Ruf auf einen philosophischen Lehrstuhl folgend, in Göttingen eintraf, fest, daß [e]in neuer Lehrer der Philosophie […] zu der Zeit nichts Überflüßiges in Göttingen [war]. Weber,29 ein Wolfianer, […] war in der öffentlichen Meinung sehr gesunken. Becmann,30 ein eifriger Crusianer, hatte keinen Vortrag. Hollmann31 war vielleicht zu gelehrt für die jungen Leute, vielleicht zu alt, und, nach dem damals herrschend gewordenen ästhetischen Tone, zu trocken […]. Auf Ersuchen las Kästner Metaphysik. Aber ich selbst war für Göttingen noch nicht reif. Ohne festes System, schwankte ich zwischen Wolfischem Dogmatismus und einem Scepticismus, den Naturanlagen und Lectüre erzeugt, tiefere Einsichten noch nicht geläutert und in die rechten Gränzen gebracht hatten.32

In Leipzig scheint Platner – bei allen Unterschieden im einzelnen – sich in der gleichen Rolle wie Feder in Göttingen gesehen zu haben. Das zeigt sich nicht nur an der Göttingen durchaus vergleichbaren Lehrsituation – worüber die Leipziger Vorlesungsverzeichnisse von 1772/73 Aufschluß gewähren –, sondern auch daran, daß Platner seiner Lehre einstweilen noch die Federschen Kompendien zugrunde legte, und andererseits am regen Interesse, das Feder wiederum den Platnerschen Schriften zollte, indem er sie regelmäßig für die Göttingischen Gelehrten Anzeigen rezensierte. Es scheint kein Zufall zu sein, daß Platner seinen Logik- und Metaphysik-Vorlesungen anfangs Johann Georg Heinrich Feders (1740–1821) Logik und Metaphysik nebst der Philosophischen Geschichte im Grundrisse33 zugrunde legt, dasjenige Werk, das in Deutschland sungen bestimmt ist, so wird sie durch den mündlichen Vortrag ergänzt werden können. Überhaupt empfehlen wir dieses Buch besonders angehenden Studierenden, und erwarten die Fortsetzung mit Verlangen“ (ebd., 806 f.). 29 Andreas Weber (1718–1781) war ordentlicher Professor für Philosophie in Göttingen in den Jahren 1750–1770. 30 Otto David Heinrich Becmann (1722–1784) war außerordentlicher Professor der Philosophie in Göttingen von 1753–1758 und von 1758–1784 ordentlicher Professor für Philosophie. 31 Samuel Christian Hollmann (1696–1787) war ordentlicher Professor für Philosophie (Physik) in Göttingen von 1734–1787. 32 J.G.H. Feder’s Leben (wie Anm. 23), 71 f. Mit Feder stand Platner in brieflichem Gedankenaustausch. Persönlich lernte er ihn aber frühestens 1775, spätestens aber September 1781 kennen (ebd., 112). Vielleicht ist der Kontakt beider über Platners wie Feders Mentor Johann August Ernesti hergestellt worden. Diesem verdankte Feder die Professur in Göttingen, wozu er diesen nach der Lektüre des Grundrisses dem Kurator der Georga Augusta, Gerlach Adolph Freiherr von Münchhausen, ausdrücklich empfohlen hatte (ebd., 67). 33 Feders Kompendien erfreuten sich großer Beliebtheit unter den Hochschuldozenten und wurden „fast auf allen Universitäten und vielen Gymnasien gebraucht, daher auch so vielfältig nachgedruckt […] worden sind“ (ebd., 88)“. Im folgenden finden nur die rechtmäßig veranstalteten Ausgaben Berücksichtigung: Johann Georg Heinrich Feder, Logik und Metaphysik nebst der Philosophischen Geschichte im Grundrisse, Göttingen und Gotha 1769 (21770, 31771, 41774,

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nicht zuletzt die breite Rezeption der Idee einer mechanischen Psychologie im Sinne von Charles Bonnet inaugurierte.34 Erst ab dem Wintersemester 1776/77 konnte Platner dann nach seinem eigenen Lehrbuch, den Philosophischen Aphorismen, lesen. Feder zumindest war sich im klaren über Platners Rolle, über die als akademischer Lehrer in Leipzig ebenso wie über die, die er mit seinen Philosophischen Aphorismen in der Gelehrtenzunft zu spielen gedachte. Das verrät eine Vielzahl von Bemerkungen über das rezensierte Werk, so etwa, wenn er bereits im Eingang der Besprechung mit fast unverhohlener Ironie von einem Verfasser spricht, der „statt des Titels Logik und Metaphysik, lieber den allgemeinern wählen [wollte], weil er glaubte, daß man noch nicht genug daran gewöhnt sey, eine pragmatische Seelengeschichte vielmehr, als die Regeln von Erklärungen, Eintheilungen, Sätzen und Schlüssen, bey dem Namen der Logik zu denken“.35 Daß Platner wohl der erste war, der ein philosophisches Werk Philosophische Aphorismen betitelte, ist hinlänglich bekannt und auch, daß Feders Kompendium just Logik und Metaphysik betitelt war. Man versteht die Kritik und sieht doch auch die terminologische Schwierigkeit, vor die Platner sich gestellt sah. Und man ermißt zugleich auch das Grundsätzliche des Unternehmens einer Neuausrichtung der zeitgenössischen Philosophie, an dem mitzuwirken Platner sich mit diesem Werk anheischig machte. Es ging um nichts weniger als um eine Philosophie für die Welt36 im Gegensatz zur bisherigen Schulphilosophie Wolffschen oder Crusianischen Zuschnitts, um eine Philosophie, die mit der Erfahrung anhebt, und nicht um eine, wie Meiners, der „vertraute[] Freund[] und College“37 Feders, in seiner Revision der Philosophie schreibt, die die 51778, 61786, 71790) 31773

und J.G.H. F., Lehrbuch der praktischen Philosophie, Göttingen 1770 (21771,

[2 Bde.], Feder, Logik und Metaphysik (wie Anm. 33), 129 f. § 18: „Vom Unterschiede der Menschen in Ansehung der Erkenntnißfähigkeiten“. Darin heißt es u.a. „Unleugbar ist es, daß auf den Körper, dessen Organisation und übrige Beschaffenheit, viel dabey ankomme“ (ebd., 129). 35 [Johann Georg Heinrich Feder], [Rez.] Ernst Platners philosophische Aphorismen, nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte. Im Schwickertschen Verlage 1776, in: Göttingische Anzeigen von Gelehrten Sachen (1777), 153–158, hier 153. 36 Der letzte Endzweck der Philosophie „ist die Kultur und Glückseligkeit des Menschen“ (Platner, Der Professor [1773/74], 68). Darauf fußt Platners Unterscheidung von ‘Schulphilosophen’ und ‘Philosophen von Profession’: Jene sind „philosophische Maschinen“, diese ‘unterrichten die Welt’ (ebd., 66). „Philosophie für die Welt“ und „Philosophie für die Schule“ unterscheiden sich grundsätzlich darin, daß erstere insbesondere auf „durch Erfahrung sich bestärkende Wahrheit und Nutzbarkeit“ der Ideen setzt, letztere dies vernachlässigt (Ernst Platner, Philosophische Aphorismen nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte, Leipzig 1776, 90 f. [§ 296]). 37 Johann Georg Heinrich Feder, Untersuchungen über den menschlichen Willen dessen Naturtriebe, Veränderlichkeit, Verhältniß zur Tugend und Glückseligkeit und die Grundregeln, die 34

41776).

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elende[] Reciprokation der Ontologie und Logik [fortsetzt,] wo man jene mit logischen und diese mit ontologischen Grundsätzen anfängt [, und fortfährt mit dem] Misbrauche geometrischer, metaphysischer und moralischer Beispiele [...,] [mit der] unnützen Allgemeinheit der Erklärungsregeln [...,] dem gänzlichen Stillschweigen über die Gränzen des menschlichen Verstande [...,] dem syllogistischen Wuste.38

Feder und Platner eint die Einsicht, „daß, [um] vor den Blendwerken einseitiger Vorstellungen sich zu bewahren, und zu gründlichen Einsichten zu gelangen, die Vergleichung verschiedener Vorstellungsarten, das Studium mehrerer Systeme, erforderlich“39 ist. Die Konsequenz aus dieser Einsicht ist die schon benannte „irenisch-eclectische Forschung“ und „Lehrart“, mit der allein man sich in der Lage zu sein glaubte, eine „anwendbare Philosophie aus den natürlichsten, oder nicht füglich zu bestreitenden, Vorstellungsarten zu entwickeln [und] das Wahre und Gute, was sie enthielten, durch vernünftige Gründe jedweder Art zu befestigen“. Leibniz sei es „bekanntlich“ [!] gewesen, der nicht nur „jene irenisch-eclectische Lehrart gebilligt“, sondern „selbst [auch] befolgt [habe]“.40 menschlichen Gemüther zu erkennen und zu regieren. Erster Theil, Göttingen, Lemgo 1779, Dedikation. 38 [Christoph Meiners], Revision der Philosophie. Erster Theil, Göttingen und Gotha 1772, 159 f. 39 J.G.H. Feder’s Leben (wie Anm. 23), 60. 40 Ebd., 79 f. Er findet seine Meinung in Leibniz’ Specimen Dynamicum belegt, wo dieser schreibt: „Und diese Forschungsmethode [jahrhundertelang akzeptierte Philosophien eher zu erläutern, damit sie feststehe (wo dies möglich ist), weiter zu beleuchten und durch neue Wahrheiten zu vermehren, als sie zu vernichten] scheint mir am meisten sowohl der Umsicht des Lehrenden als auch dem Nutzen der Lernenden ziemlich, damit wir nicht eifriger zu sein scheinen, zu zerstören als aufzubauen, und damit wir nicht unter den ewigen Veränderungen der Doktrin im Winde kühner Geister jeden Tag unsicher treiben; sondern damit endlich einmal das menschliche Geschlecht, nachdem die Lust nach Sekten (eine Lust, die der eitle Ruhm des Neuerns anspornt) gezügelt und sichere Grundsätze konstituiert worden sind, mit ungestörtem Schritt nicht weniger in der Philosophie als in der Mathematik zu Weiterem fortschreiten könne. Denn in den Schriften hervorragender antiker und moderner Männer gibt es üblicherweise manches Wahre und Gute (wenn man davon absieht, was sie zu hart gegen andere sagen): es lohnt sich, daß dieses ausgegraben und in die öffentlichen Schatzkammern getragen wird. Wenn nur die Menschen es vorzögen, dies zu tun, anstatt die Zeit mit Kritiken zu vergeuden, durch die sie ihrer eigenen Eitelkeit Opfer bringen!“ (Gottfried Wilhelm Leibniz, Specimen Dynamicum. Lateinisch – Deutsch, hg. von Hans Günter Dosch, Glenn W. Most und Enno Rudolph, Hamburg 1982 (Philosophische Bibliothek, 339), 4–7). Darüber hinaus ist als Quelle dieser Denkungsart unbedingt auch auf Christian Thomasius’ Einleitung, in: Zur Hoff-Philosophie, Oder/ Kurtzer Entwurff und die ersten Linien Von der Klugheit zu Bedencken und vernünfftig zu schliessen/ Worbey die Mittel-Strasse, wie man unter den Vorurtheilen der Cartesianer/ und ungereimten Grillen der Peripatetischen Männer/ die Warheit erfinden soll/ gezeiget wird, Berlin, Leipzig 21712, 50 (§ 90) (=Introductio philosophiam aulicam [1688, 21702]), hinzuweisen, wo er die ‘eklektische Philosophie’ folgendermaßen bestimmt: „Ich nenne aber eine Eclectische Philosophie eine solche/ welche da erfor-

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Als Platner Mitte der neunziger Jahre einmal seinem ehemaligen Schüler und inzwischen schon langjährigen Freund Friedrich Christian von SchleswigHolstein-Sonderburg-Augustenburg den Vorschlag unterbreitete, für die dänischen Gelehrtenschulen und die Universitäten lateinische Philosophielehrbücher auszuarbeiten, begründete er die Notwendigkeit neuer, von ihm zu verfertigender Kompendien ganz analog mit dem Hinweis, daß es die „Einseitigkeit der Lehrbücher der Philosophie“ sei, die den Universitäten und Schulen zum Nachteil gereiche, zumal dort – er hat dabei Dänemark im Blick – wo die Lehrer „mit den Lehrsätzen der streitenden Partheyen [noch] nicht genugsam bekannt gemacht worden [sind]; und wo überdem das Interesse für die Philosophie noch neu d.h. von undeutlichen Begriffen und unbestimmten Gesichtspunkten geleitet, ist“. Alle neueren Lehrbücher wiesen diese Einseitigkeit auf: entweder seien sie kantisch oder nichtkantisch. Daß meine Aphorismen diesen Fehler nicht haben, ist unter andern daraus zu ersehen, daß Reinholds Nachfolger, Fichte in Jena, ein Erz-Kantianer, darüber lieset; mit Anführung des Grundes, daß er hier Stoff finde, über alle Arten alter und neuer Philosophie zu philosophiren; und keine Anweisung, sich für die Kantische Parthey mehr, als wider dieselbe zu erklären.41

Die von Platner für seine Philosophischen Aphorismen reklamierte irenischeklektische Verfaßtheit soll im nun folgenden aufgewiesen werden, und zwar nicht so sehr in inhaltlicher, als vielmehr in methodischer und darstellerischstruktureller Hinsicht. Zunächst wird es um den Aufbau der Philosophischen

dert/ daß man von dem Munde eines eintzigen Philosophi allein nicht dependiren/ oder denen Worten eines eintzigen Lehr-Meisters sich mit einem Eyde verpflichten soll/ sondern aus dem Munde und Schrifften allerley Lehrer/ alles und jedes was wahr und gut ist/ in die SchatzKammer seines Verstandes sammlen müsse/ und nicht so wohl auf die Autorität des Lehrers Reflexion mache/ sondern ob dieser und jener Lehr-Punct wohl gegründet sey/ selbst untersuche/ auch von dem Seinigen etwas hinzu thue/ und also vielmehr mit seinen eigenen Augen als mit andern sehe. Derowegen dann ein grosser Unterscheid zwischen den Philosophis Eclecticis ist/ und unter den Autodidacticis, Quodlibristen und Zusammenschmierern“. Es verdient erwähnt zu werden, daß auch der Systematiker Wolff sich dem Eklektizismus verschrieben hatte, nur daß dieser bei ihm nicht einherging mit einer Kritik der Irrtümer anderer, also im Gegensatz zu Thomasius’ historischem Eklektizismus rational verfaßt war (Christian Wolff, de differentia intellectus systematici et non systematici, in: C. W., Horae subsecivae Marburgenses anni MDCCXXIX, Frankfurt, Leipzig 1729, 107–154, hier 149–151; vgl. Hans Lüthje, Christian Wolffs Philosophiebegriff, in: Kant-Studien 30 [1925], 39–66, hier 60 f.). Auch Crusius verfocht einen Eklektizismus, aber einen, wie er es nennt, ‘gesunden Eklektizismus’ (Martin Krieger, Geist, Welt und Gott bei Christian August Crusius. Erkenntnistheoretisch-psychologische, kosmologische und religionsphilosophische Perspektiven im Kontrast zum Wolffschen System, Würzburg 1993 [Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften. Reihe Philosophie 126], 64). 41 Platner an den Erbprinz Friedrich Christian zu Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg (Leipzig, 18. März 1795).

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Aphorismen gehen, bevor die diesem zugrunde liegende Methode untersucht werden wird. II. In der Anthropologie (1772) definiert Platner die ‘Philosophie’ in einer von fern her an Wolffs Metaphysik42 erinnernden Weise als „Wissenschaft des Menschen und anderer Körper und Geister, welche zu seiner Natur ein Verhältnis und auf seine Glückseligkeit eine Beziehung haben“.43 In den Philosophischen Aphorismen (1776) ist ‘Metaphysik’ dann nur noch „Philosophie im engsten Verstande“.44 Sie gehört zusammen mit der Psychologie zur theoretischen Philosophie. Diese zerfällt in vier Hauptstücke: Das erste gilt Untersuchungen „Über das Wesen der Seele“, das zweite widmet sich „den verschiedenen Arten der bildlichen Ideen“, das dritte der „Geschichte der Vernunft“, und erst im Anschluß daran wird die „Geschichte der Ideen vom Möglichen und Notwendigen in Beziehung auf die wirkliche Welt“ abgehandelt. Im ersten Hauptstück versucht Platner anhand der Seelenwirkungen ihre Kräfte kennenzulernen und im darauffolgenden dann die Gegenstände, die die Seelenkräfte beschäftigen, zu analysieren und zu klassifizieren, bei der genetischen Herleitung selbst Physiologisches einbringend. Erst dann sei man imstande, das Vernunftvermögen zu analysieren. Dabei legt er besonderen Nachdruck auf die Lehre von der Wahrscheinlichkeit – im Kapitel „Praktische Anmerkungen über die allgemeinen Begriffe“ – und unterstreicht damit, daß den Menschen weit mehr an dieser als an einem demonstrativen Kapitel von der ‘strengen Wahrheit’ liege.45 Die drei ersten Hauptstücke seien physisch, das vierte erst sei genuin metaphysisch, gehörte aber selbst auch zur Psychologie bzw. zur sogenannten ‘pragmatischen Seelengeschichte’.46 Sie setzt mit der Kosmologie als ihrer Grundlage ein und schließt mit der natürlichen Theologie als ihrem Endzweck.47 Im Vergleich mit

Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken Von GOTT, Der Welt und der Seele des Menschen, Auch allen Dingen überhaupt, Den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet. Neue Auflage hin und wieder vermehret [Deutsche. Metaphysik], Halle 111751. 43 Platner, Anthropologie 1772 (wie Anm. 24), Vorrede, III. 44 Platner, Aphorismen I 1776 (wie Anm. 36), 225 (§ 719). 45 Anonymus, [Rez.] Ernst Platners philosophische Aphorismen nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte, Leipzig, 1776, in: Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur 11 (1777), 438–459, hier 452. 46 Platner, Aphorismen I 1776 (wie Anm. 36), 226 (§ 721), 226 (§ 719), 226 (§ 720). 47 „Das vierte Hauptstück [...] enthält die Metaphysik, bey welcher ich mir die Theologie zum Endzweck gesetzt, und die Kosmologie zum Grunde gelegt habe. Die allgemeinen Begriffe, welche man unter dem Titel Ontologie insgemein vorauszusetzen pflegt, habe ich den Untersuchungen selbst eingewebt“ (ebd., 1). Von Platners Metaphysik wußte man insbesondere zu loben, 42

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den Kapiteln der Wolffschen Metaphysik fällt folgendes auf: Von der allgemeinen Metaphysik (metaphysica generalis) hat sich anscheinend nichts erhalten, zur besonderen Metaphysik (metaphysica specialis) werden jetzt nur noch die Gegenstände Gott und Welt gerechnet. Die Seele als dritte Hauptart des Seienden und ebenfalls Gegenstand der speziellen Metaphysik findet ihren Platz in der ihr vorangestellten Logik. Den Dingen überhaupt aber, die in der allgemeinen Metaphysik als der Ontologie abgehandelt worden waren, ist kein gesondertes Kapitel mehr vorbehalten; entsprechende Ausführungen habe er, so Platner, gelegentlich eingeflochten. Die Platnersche ‘Metaphysik’, die sogenannte „Philosophie im engsten Verstande“, hat in formaler und inhaltlicher Hinsicht kaum noch Gemeinsames mit den alten Metaphysiken des Wolffianismus und ihrer Unterteilung in Ontologie, Kosmologie, empirische Psychologie, rationale Psychologie und natürliche Theologie oder der Crusianer mit ihrer Unterscheidung von Ontologie, theoretischer natürlicher Theologie, Kosmologie und Pneumatologie. Bei den Philosophischen Aphorismen handelt es sich um eine ‘pragmatische Psychologie’. Selbst die ‘Metaphysik’ ist nun Teil der Psychologie, wird sie doch als „Geschichte der Ideen vom Möglichen und Nothwendigen“ stets nur „in Beziehung auf die wirkliche Welt“ betrachtet, nur daß in ihr nicht die durch die Sinne vermittelte Welt der Phänomene (die Scheinwelt48) untersucht wird, sondern mit Hilfe der „Grundbegriffe vom Möglichen und Notwendigen, die wahre intellektuelle Welt“49 Gegenstand ist. Hier ließe sich die „sinnliche[] und psychologische[] Relativität“50 überwinden und positive Erkenntnis der wahren intelligiblen Welt erlangen. Psychologie ist bei Platner, ganz im Sinne der psychologischen Revision der Philosophie (1772) Christoph Meiners, an die Stelle der bisher der Metaphysik

daß in ihr „[g]röstentheils [...] die unnützen, unfruchtbaren, identischen Sätze [...] weggelassen“ worden sind, „die eine gewisse Schule durchgehends mit einer so gelehrten Mine demonstrirte“ (Anonymus, Rez. Ernst Platners philosophische Aphorismen [wie Anm. 45], 455). Vor allem in der Behandlung der natürlichen Theologie wußte sich Platner als ‘wahrer Philosoph’ zu zeigen, war er doch „ehrlich genug, die gewönlichen Lehrsätze, die der Verstand des selbstdenkenden Philosophen nicht durchzuschauen vermag, und hinter welche doch, in den gewönlichen Lehrbüchern pralerischer Demonstranten, sinnlose Demonstrationen aufgepflanzt werden, unter dem Titel: Skeptische Fragen, zusammen zu fassen. So mus jeder Philosoph lehren, wenn er seine Kräfte kent!“ (Ebd., 458.) 48 Platner, Aphorismen I 1776 (wie Anm. 36), 225 (§ 718). Leibniz habe man den Nachweis zu danken, daß die Seele nichts Ausgedehntes ist und „daß ausgedähnte Dinge ganz und gar nicht existiren könnten, und daß alle Ausdähnung, alle Materie nur ein Schein sey“ (ebd., 261 [§ 804 Anm.]). 49 Ebd., 226 (§ 720). 50 Ebd., 224 (§ 714); vgl. 223 (§ 713).

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vorgeschalteten Logik getreten. Die philosophische Logik bekommt damit einen neuen Inhalt, mit dem Ziel, den althergebrachten, leeren und nichtssagenden aristotelischen Formalismus daraus zu verbannen.51 Die Logik beschäftigt sich von nun ab nicht mit formalen, vom Subjekt völlig unabhängigen Bedeutungen und ihren Beziehungen – sie ist also keine Analytik mehr. Sondern sie ist nunmehr die Wissenschaft von der Art und Weise, wie ein Subjekt aufgrund seiner psychophysischen Determination wahrnimmt, empfindet, denkt. – Die Logik ist insofern zur Denkpsychologie und Erkenntnistheorie geworden. In dem Umstand, daß Platner seine Philosophischen Aphorismen als ‘pragmatische Seelengeschichte’ konzipiert, kommt demnach eine grundlegende Frontstellung gegenüber dem Intellektualismus Wolffscher Provenienz, ja der ganzen bisherigen Schulphilosophie zum Tragen. Der Wolffianismus sah schon in der bloßen Kenntnis ein Gut. Fragen der Perspektive, Geschichtlichkeit und Wertung spielten hier eine nur untergeordnete Rolle. In der pragmatischen Sicht hingegen mußte alles kausalgenetisch legitimiert werden. Wie in der Geschichtsschreibung sollte auch der Philosoph alles daran setzen, die Veranlassungen und Ursachen einer merkwürdigen Begebenheit aufzusuchen, und das ganze System von Ursachen und Wirkungen, von Mitteln und Absichten, so verwirrt auch alles im Anfange durch und neben einander zu laufen scheint, aufs möglichste entwickelt darzustellen.52

In der Psychologie kam es darauf an, das psychologisch Relative in seiner Entwicklung nachzuzeichnen, um dann schließlich Zugang zum Wesentlichen zu bekommen. Wolffs Philosophie war Möglichkeitswissenschaft: „Die Welt-Weisheit ist eine Wissenschaft aller möglichen Dinge, wie und warum sie möglich sind“.53

Sonst verstand man unter Logik nur „ein Regelverzeichniß von den Erklärungen, Eintheilungen, Sätzen und Schlüssen“ (ebd., 1). Diese Gedanken gehören zum Gemeingut der Zeit; man begegnet ihnen beispielsweise im Hauptwerk des Erfurter Professors Johann Christian Lossius (1743–1813), den Physischen Ursachen des Wahren (1775), in denen dieser sich konkret auf Meiners Revision der Philosophie und Bonnets Essai de Psychologie (1755) bezieht (Johann Christian Lossius, Physische Ursachen des Wahren, Gotha 1775, Einleitung, 9 f.). 52 Johann Christoph Gatterer, Vom historischen Plan und der darauf sich gründenden Zusammenfügung der Erzählungen, in: Allgemeine historische Bibliothek 1 (1767), 80. 53 Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken Von den Kräfften des menschlichen Verstandes Und Ihrem richtigen Gebrauche in Erkänntniß der Wahrheit [Deutsche Logik], Halle 1713 [Nachdruck 1965]. Vorbericht von der Welt-Weisheit, 115 § 1. Als Möglichkeitswissenschaft unterbreitete Wolff die Philosophie erstmals 1709 in der Praefatio seiner Aërometriae Elementa (Leipzig) [unpag., a6r.v]. Auf diesen Begriff hatte er sie erstmals 1703 als junger Leipziger Mathematikprofessor gebracht: „Diese Definition der Philosophie habe ich im Jahre 1703 entdeckt, als ich mich dazu entschloß, Philosophie in privaten Vorlesungen an der Universität Leipzig zu lehren“. (Chri51

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Nicht die Untersuchung der Art und Weise der Beschaffenheit der möglichen Dinge war das Ziel seines Philosophierens. Vielmehr machte er es der Philosophie zur Aufgabe, den Grund des Seins der möglichen Dinge aufzuweisen. Im Gegensatz zu den historischen bzw. beschreibenden, also deskriptiven Wissenschaften sollte die Philosophie eine erklärende, also demonstrative Wissenschaft sein. Erklärung mittels des Satzes vom Grunde und Darstellung mittels der mathematischen Methode bildeten bei ihm eine Einheit. Bei Crusius hingegen war sie in Abgrenzung zu Wolffs Possibilitätsfundierung der Metaphysik Notwendigkeitswissenschaft, die „Wissenschaft der nothwendigen VernunftWahrheiten [...],wiefern sie den zufälligen entgegen gesetzet werden“. „Ich habe in meine Metaphysik keine andern als nothwendige Vernunft-Wahrheiten, das ist solche rechnen wollen“, schreibt er weiter, „von denen sich demonstrativ oder wahrscheinlich zeigen läßt, daß sie bey Setzung einer ieweden Welt stat haben müssen“.54 Bei Platner nun bot sie die „Geschichte der Ideen vom Möglichen und Notwendigen in Beziehung auf die wirkliche Welt. [...] Demnach ist sie ein Theil der Geschichte der menschlichen Seele, und folglich ein Hauptstück der Psychologie“.55 Es hat den Anschein, als ob Platner beide Konzeptio-

stian Wolff, Discursus praeliminaris de philosophia in genere - Einleitende Abhandlung über Philosophie im Allgemeinen. Historisch-kritische Ausgabe, hg. von Günter Gawlick, Lothar Kreimendahl, Stuttgart-Bad Cannstatt 1996 (Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung: Abt. 1, Texte, 1), 32 f. (§ 29). Die möglichen Dinge (res possibiles) sind die „durch die Erfahrung als möglich bezeugt[en] und gesichert[en]“ Dinge. In der Philosophie wird nicht danach gefragt, was möglich und ob etwas möglich ist, denn das ist bereits durch die historische Erkenntnis entschieden. Die Philosophie kümmert sich vielmehr darum, „wie und warum etwas möglich ist, wie, d.h. unter welchen Bedingungen es entstehen oder bewirkt werden kann, warum, d.h. welches die Gründe seiner Existenz sind, sie ist ganz auf das Wirklichwerden des Möglichen eingestellt“. (Lüthje, Christian Wolffs Philosophiebegriff [wie Anm. 40], 49 und 53). 54 Christian August Crusius, Entwurf der nothwendigen Vernunft-Wahrheiten, wiefern sie den zufälligen entgegen gesetzet werden [=Metaphysik], Leipzig 1745. Vorrede b2v und b3r. Vgl. auch 6 § 4: Die Metaphysik ist „die Wissenschaft von denenjenigen theoretischen VernunftWahrheiten, welche nothwendig sind, das ist, welche nicht zu der zufälligen Einrichtung dieser Welt gehören, und welche in etwas anders, als in der Betrachtung der Gattungen, Verhältnisse und Ausmessung der ausgedehnten Grössen bestehen“. Vgl. auch ders., Weg zur Gewißheit und Zuverläßigkeit der menschlichen Erkenntniß [=Logik], Leipzig 1747, Vorbericht [unpag., A2r]: Philosophie ist der „Inbegriff derjenigen Erkenntniß [...], welche mit solchen Vernunftwahrheiten zu thun hat, deren Object beständig fortdauret. Ich nenne aber Vernunftwahrheiten diejenigen, welche wir aus der Betrachtung natürlicher Dinge in der Welt erkennen können, und welche deswegen den geoffenbarten entgegen gesetzet sind“. Zu einer „philosophischen Wahrheit [...] gehöret zweyerley: 1) Sie muß sich durch die blosse Vernunft erkennen lassen; 2) Sie muß ein Object haben, welches schlechterdings nothwendig und unveränderlich ist“ (ebd., A2v). 55 Platner, Aphorismen I 1776 (wie Anm. 36), 226 (§ 721). Feder bestimmte die ‘Philosophie’ als „Wissenschaft von allgemeinen und nützlichen Vernunftwahrheiten“ (vgl. Feder, Logik und Metaphysik [wie Anm. 33], 4).

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nen miteinander zu verbinden, die vermeintlich negativen Effekte der einen und der anderen zu unterdrücken, das jeweils Positive aber zu bewahren suchte. So etwa, indem er Crusius’ Metaphysikkonzeption die empirische Psychologie wieder einverleibte, die dieser – bei Wolff war sie noch integraler Bestandteil der Metaphysik – ausgeschlossen hatte, da sie ja doch nur zufällige und keine notwendigen Wahrheiten enthalte.56 Darauf wies auch der Rezensent des ersten Bandes der Platnerschen Aphorismen in der Auserlesenen Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur57 hin, der vor allem in den ersten drei Hauptstücken vielfach die „Prüfung und Verwerfung der gangbaren Regeln der Logiker, die selten einigen Nutzen stiften, oder, wenn sie ihn stiften könten, impraktikabel sind“, zu finden vermochte und den Ansatz, Logik als Psychologie bzw. pragmatische Seelengeschichte zu behandeln, nur zu loben wußte. „Keine Methode“, schrieb er, „ist je unschiklicher und verkehrter gewesen, als die Zurükweisung der Geschichte der Ideen, und der Beobachtungen über die menschliche Seele, in die [recte: aus der] Metaphysik“.58 An Platners Aphorismen schätzte er unter anderem daher besonders, daß die empirische Psychologie ihren Platz vor der Metaphysik gefunden habe. Auch Johann August Eberhard, der Platners Aphorismen für die Allgemeine deutsche Bibliothek besprach,59 konnte dem Aufbau der theoretischen Philosophie viel Positives abgewinnen. Für Lernende eigne sich die genetische Methode des Philosophieunterrichts besonders gut. Bisher sei es üblich gewesen, mit der Ontologie zu beginnen. Platner aber beginne nicht mit den allgemeinsten Bestimmungen, sondern mit dem Besonderen, der Seele in der Entwicklung ihrer Ideen, und gehe dann zum Allgemeinen über. Zum Zwecke der Lehre, so Eberhard, sei es durchaus legitim, von der ‘wissenschaftlichen Ordnung’ abzugehen und der ‘natürlichen Methode’ zu folgen.60 III. Für die von ihm gewählte Form der Darstellung, die ‘aphoristische Schreibart’, beansprucht Platner, daß sie „hinlängliche[] Scharfsichtigkeit und Bündigkeit“ seines Philosophierens widerspiegele.61 ‘Aphorismen’ im strengen Wortsinne

Crusius, Entwurf der nothwendigen Vernunft-Wahrheiten (wie Anm. 54), 821 f. (§ 424). Anonymus, [Rez.] Ernst Platners philosophische Aphorismen (wie Anm. 45), 438–459. 58 Ebd., 439. 59 Eberhard, [Rez.] Ernst Platners philosophische Aphorismen (wie Anm. 4), 28–39. Vgl. dazu Ute Schneider, Friedrich Nicolais Allgemeine Deutsche Bibliothek als Integrationsmedium der Gelehrtenrepublik, Wiesbaden 1995, 197. 60 Eberhard, [Rez.] Ernst Platners philosophische Aphorismen (wie Anm. 4), 29. 61 Platner, Anthropologie 1772 (wie Anm. 24), Vorrede, XIII. 56 57

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bieten die Philosophischen Aphorismen Platners indes nicht, sollten sie auch nicht: Sie sind keine kotextuell isolierten Gebilde;62 ihre Reihenfolge, ihr systematischer Ort, ist genauso festgelegt wie das Vorkommen jedes einzelnen Aphorismus. Denn sie bilden in ihrer geordneten Ganzheit eine spezifische Systematik ab; sie sind interdependierende Gebilde, Lehrsätze innerhalb eines Lehrgebäudes bzw. Systems.63 Vorbilder hierfür waren ihm – eigenem Eingeständnis zufolge – der den Hippokratischen aphorismoi64 nachgebildete aphoristische Grundriß Hermann Boerhaaves (1668–1738)65 und die „körnichten“ seiner Schüler Hieronymus Davides Gaubius (1705–1780)66 und Albrecht von Haller (1708–1777).67 Darüber hinaus ist in diesem Zusammenhang aber auch Dazu Harald Fricke, Aphorismus, Stuttgart 1984 (Sammlung Metzler, 208), 7–18, 25–29, 42. Vgl. zu Platners Aphoristik insbesondere Friedemann Spicker, Der Aphorismus. Begriff und Gattung von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis 1912, Berlin und New York 1997 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, 11), aber auch Giulia Cantarutti, Moralistik, Anthropologie und Etikettenschwindel. Überlegungen aus Anlaß eines Urteils über Platners ‘Philosophische Aphorismen’, in: Giulia Cantarutti und Hans Schumacher (Hg.), Neuere Studien zur Aphoristik und Essayistik. Mit einer Handvoll zeitgenössischer Aphorismen, Frankfurt am Main, Berlin, New York 1986 (Berliner Beiträge zur neueren deutschen Literaturgeschichte, 9), 49–103 und Gerhard Neumann, Ideenparadiese. Untersuchungen zur Aphoristik von Lichtenberg, Novalis, Friedrich Schlegel und Goethe, München 1976. 63 Wilhelm Traugott Krug, Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften: nebst ihrer Literatur und Geschichte. Nach dem heutigen Standpuncte der Wissenschaft. Erster Band, Leipzig 1832, 189: „Wird eine ganze Wissenschaft in Aphorismen vorgetragen (wie die Philosophie in Platner’s Aphorismen): so müssen auch dergleichen Aphorismen genauer zusammenhangen, und es bedeutet dann dieser Ausdruck eigentlich nichts anders als die Paragraphen eines Lehrbuchs“. 64 Hippokrates’ Aphorismen waren Lehrsätze, die „ohne Hypothesen, allein aus unmittelbarer Beobachtung der Natur einer Krankheit[,] gewonnene Einsichten“ formulieren (Heinz Krüger, Über den Aphorismus als philosophische Form. Mit einer Einführung von Theodor W. Adorno, München 1988 [Dialektische Studien], 27). Die Koppelung der aphoristischen Form an erfahrungswissenschaftliches Philosophieren hebt mit Hippokrates an und führt über Bacon und Boerhaave bis hin zu Platner. Ausgehend von der Einsicht, daß das Wissen um Sachverhalte zunächst einmal stets vom Fragmentarischen seinen Ausgang nimmt, mithin analytisch verfährt, wird mit der aphoristischen Form der einzelne Sachverhalt ins Zentrum des Interesses gerückt und der Blick auf das Konkrete gerichtet und das Selbstwahrnehmen und -denken betont. Die systematische Form hingegen lenkt die Aufmerksamkeit mehr auf die Verknüpfung des zunächst Fragmentarischen, tendiert notgedrungen zur Abstraktion und Synthese und setzt ein Vertrauen auf die Richtigkeit des Denkens anderer geradezu voraus. 65 Aphorismi de cognoscendis et curandis morbis (1709 u.ö.) [dt.: Kurze Lehr-Sätze über Erkennung und Heilung der Krankheiten]. 66 Institutiones Pathologiae medicinalis (1758) [dt.: Anfangsgründe der Medicinischen Krankheitslehre]. 67 Primae lineae physiologiae in usum praelectionum academicarum (1747) [dt.: Grundriß bzw. Anfangsgründe der Physiologie für Vorlesungen]. Vgl. Platner, Anthropologie 1772 (wie Anm. 24), Vorrede, XXIV. 62

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neuerlich Feders Logik und Metaphysik-Kompendium zu nennen, das ebenfalls in ‘Aphorismen’ abgefaßt ist, wenngleich er sie nicht so genannt hat.68 Überhaupt war der aphoristische Lehrbuchstil in Leipzig schon lange Zeit heimisch: Christian Gottlieb Ludwig etwa publizierte im Jahre 1738 seine Aphorismi botanici, und Johann August Ernesti legte seinen Dogmatikvorlesungen die Theologia Aphoristica (1710) seines Wittenberger Lehrers Johann Georg Neumann zugrunde. Platner rechtfertigt die ‘aphoristische Darstellung’ zwar mit dem Hinweis, er habe kein System, sondern – im Falle der Anthropologie – nur den „Entwurf eines Grundrisses“ liefern wollen.69 Das ist aber nun nicht dahingehend zu verstehen, daß er in seinem Philosophieren keiner Ordnung habe folgen wollen. Seine Philosophischen Aphorismen sind vielmehr ein hierarchisch strukturierter Text, kenntlich an verschiedenen Textgliederungsmitteln wie den auf unterschiedlichen Ebenen gruppierten Überschriften und der semantische und syntaktische Kohärenz generierenden und bequeme Verweisungen und Bezugnahmen allererst ermöglichenden Paragraphenzählung. Das ist den Zeitgenossen nicht verborgen geblieben.70 Johann August Eberhard etwa lobt den ‘Apho-

Feder schreibt in der Vorrede dazu: „Meine Absicht ist gemeinnützige Erkenntniß zu befördern, und, ohne durch unnöthige Verlassung der gewöhnlichen Einkleidung zweckwidriges Aufsehn zu erregen, doch nach Maaßgabe des gegenwärtigen Zustandes der Gelehrsamkeit und des bürgerlichen Lebens die Wissenschaft vorzutragen. Bey manchem Paragraphen wird es nöthig seyn sich zu erinnern, daß dieß Buch zu öffentlichen Vorlesungen bestimmt ist; und also hier und da die Ergänzung, die Zergliederung und genaue Ordnung der Sätze, dem mündlichen Unterrichte wohl überlassen werden könnte“ (Feder, Logik und Metaphysik (wie Anm. 33), [unpag., *2v]). 69 Analog heißt es noch 1789 bei Friedrich Christian von Schleswig-Holstein-SonderburgAugustenburg: „Sind wir nicht alle bisher noch zu sehr Anfänger in der Seelenlehre, um uns schmeicheln zu dürfen, zusammenhängende Sisteme derselben schon jezt zu bilden? Samlen wir nicht bis jezt erst blos Materialien? Ist unsre Philosophie wohl mehr als eine Sammlung einzelner auf einander gethürmter aber noch nicht verkitteter und noch nicht als ein Ganzes zusammenhängender Bruchstücke? Platner bringt diese Materialien zusammen und giebt eine Übersicht aller Zusammengehörigen, Er führt uns auf den Hügel, von dem wir die Zusammengehörigen in bestimmten Abtheilungen liegen sehen können. [...] Ich opfere noch immer auf Platners Altar. Die Lesung seiner Aphorismen sezt meine Ideen in weit mehr Bewegung als die Anhörung dieser Vorträge der göttingischen Schule, so ausgemacht auch übrigens ihr vorzüglicher Wehrt, besonders in Zergliederung und Anwendung der einzelnen Begriffe ist“. (Friedrich Christian an die Schwester Luise Auguste von Schleswig-Holstein-Augustenburg, 17. Januar 1789). 70 So Jean Paul, wenn er schreibt: „Wer kein großes Ganze, kein System, kein Fertiges hat, der muß diese [Feilstaub, Blumenstaub, Gedankenspäne, Papierspäne] haben und geben. So gab Novalis Blumenstaub, Friedr. Schlegel Feilstaub oder Fragmente oder Sentenzen, andere taten Aussprüche von Gehalt, tiefe Blicke und so fort. Man nahm sich hier mit Recht die Käsemade zum Muster, welche, da sie nicht gehen kann, dafür außerordentlich springt, und zwar dreißigmal höher, als sie lang ist. Platner kehrte es um und gab unter dem Namen Aphorismen ein wirkliches System, aber wenn philosophische weniger als schöne Geister gern mit Sentenzen, Genieblicken, 68

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rismus’ ausdrücklich, empfehle er sich doch für ein „philosophische[s] Elementarbuch“ wie die Philosophischen Aphorismen gerade seiner Kürze wegen: „Weiter als auf diese Kürze der Sätze gehet auch das Aphoristische derselben nicht. Denn sie stehen gar nicht abgetrennt da, gleich den Hippokratischen Erfahrungsaphorismen; sondern sind in einem guten systematischen Zusammenhange hingestellt“.71 Ein anderer Hörer Platners, sein späterer Kollege Karl Heinrich Ludwig Pölitz (1772–1838),72 kommt in seiner 1805 publizierten Systematischen Encyklopädie der stylistischen Wissenschaften bei der Behandlung der unterschiedlichen Lehrstile ebenfalls auf den ‘Aphorismus’ zu sprechen: Er unterscheidet (1) den systematischen Lehrstil, (2) den kompendiarischen bzw. epitomatorischen, (3) den erläuternden bzw. kommentierenden, (4) den populären und (5) den dialektisch-kritisierenden (Disputation, schriftliche Prüfung) Lehrstil. Der systematische Lehrstil (1) bringt den Stoff „zusammenhängend, vollständig und erschöpfend, [so] daß die Form selbst als Totalität aufgefaßt werde“. „Einheit und innere Verkettung des Ganzen“ hindern, daß Genieblitzen und Feilstaub auftreten: so hält die Welt sie mit Vergnügen für Philosophen. Auch jede andere Wissenschaft vertreten gute Madensprünge leicht“. (Jean Paul, Kleine Nachschule zur ästhetischen Vorschule, hg. von Norbert Miller, München 1963 [Sämtliche Werke. Abt. 1., Bd. 5], 491 f.) Wolfgang Proß zufolge ist Jean Pauls „poetische Enzyklopädie“ u.a. auch wissenschaftlich von „Ernst Platners Kettentechnik in Paragraphen“ beeinflußt, „die gerade die Verknüpfung aller Fragen im Sinn der Enzyklopädisten deutlich macht und der Jean Pauls Denkweise, aber auch Darstellungsweise der theoretischen Schriften (in ihrer Paragraphenform) verpflichtet ist“ (Wolfgang Proß, Jean Pauls geschichtliche Stellung, Tübingen 1975 [Studien zur deutschen Literatur; 44], 228). 71 Eberhard, [Rez.] Ernst Platners philosophische Aphorismen (wie Anm. 4), 28–39, hier 29. Auch Lichtenberg weiß die Vorteile des Aphorismus hinsichtlich seiner primär didaktischen Funktion wertzuschätzen: HII 175: „Zu einer allgemein brauchbaren Grundlage zu Vorlesungen sind die meisten Handbücher der Physik zu weitläuftig; es fehlt ihnen an der aphoristischen Kürze und der Präzision des Ausdrucks, der zu einem solchen gehört. Ein zu einer Grundlage brauchbares Lehrbuch muß nur den Kern seiner Wissenschaft oder Kunst in der gedrängtesten Kürze enthalten, daß der Lehrer in jeder Zeile leichte Veranlassung findet das Angegebene zu erklären“. Der Aphorismus schien Platner all jenen Kriterien wie „Vollständigkeit, Ordnung, Faßlichkeit und Kürze“, denen ein Vorlesungs-Lehrbuch zu entsprechen hatte, Genüge zu tun (Johann Joachim Eschenburg, Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften. Zur Grundlage bei Vorlesungen, Berlin, Stettin 21789, 322). 72 Pölitz – wie Wilhelm Traugott Krug von Franz Volkmar Reinhard protegiert – hatte bereits vor Beginn seiner akademischen Studien Platners philosophische Schriften gelesen. Auf der Universität Leipzig, die er von Ostern 1791 bis 1793 als Student besuchte, hörte er dann auch den Kantianer Karl Heinrich Heydenreich (1764–1801), dessen „geistvolle[m] freie[n] Vortrag [er] eine neue Richtung“ verdankte, indem er ihn für die kritische Philosophie zu gewinnen vermochte, „obgleich Platners Vorträge mich vor der sklavischen Anschließung an dieses System bewahrten. Beide bewirkten, durch Deutlichkeit und Bestimmtheit der Begriffe, daß der Mysticismus nie bei mir anschlagen konnte“. (Karl Heinrich Ludwig Pölitz, Nachrichten von Pölitz über sein Leben, in: Katalog der Pölitzischen Bibliothek, Leipzig 1839, IX-XVI, hier X).

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weder „Lücke noch Sprung“ vorkommen.73 Der kompendiarische Lehrstil (2) wird vornehmlich in Kompendien praktiziert. Diese verkörperten „System[e] in einem verjüngten Maasstabe“. Zwar darf die Kürze des Kompendiums nie die systematische Haltung der Wissenschaft selbst beeinträchtigen, vielmehr muß die Symmetrie der einzelnen Theile des Ganzen aus der kompendiarischen Form hervorleuchten; aber dadurch unterscheidet sie sich von dem Systeme, daß sie die weitere Ausführung der Gegenstände der mündlichen Erläuterung, oder dem Scharfsinne des Lesers überläßt, und die einzelnen Theile des Systems mehr nur mit kräftigen Zügen andeutet, und unter der allgemeinsten Hülle des logisch durchgeführten Planes bezeichnet, als das Detail selbst ausführlich entwickelt.74

Diese Charakterisierung deckt sich aufs genaueste mit Platners Aphorismusdefinition. Und man kann durchaus davon ausgehen, daß diese hier auch tatsächlich Pate gestanden hat. Jedenfalls läßt es sich Pölitz nicht nehmen, an erster Stelle auf „Platners Anthropologie und Aphorismen“ hinzuweisen. – Der von Platner verwendete kompendiarische Lehrstil wird komplettiert durch den dritten von Pölitz angeführten Lehrstil, durch den „commentirenden Lehrstyl“. Dieser stellt gewissermaßen das Pendant zum kompendiarischen dar, indem er das Schwergewicht auf die das kompendiarische System verständlich machenden Kommentare legt. Denn [j]e concentrirter der innere Zusammenhang des Systems [...] ist; desto nöthiger ist es, daß durch Commentare die Übersicht und Beurtheilung eines Systems erleichtert [...], der Geist der entgegengesetzten Systeme geprüft, das schwer zu verstehende durch zweckmäßig gewählte Beispiele erläutert, und manches, was man an demselben tadelte, tiefer begründet, oder unter einer befriedigendern Ansicht dargestellt werde.75

Platner bedient sich hierfür in seinen Anmerkungen nicht ungern der Darstellungsform der Parallele. Diese gibt ihm die Möglichkeit an die Hand, zur „[v]ielseitigen Ansicht der von mehrern verschiedenartig dargestellten Gegenstände; unpartheiische[n] Würdigung jedes wahren Verdienstes; Toleranz gegen fremde Meinungen“ zugleich mit dem „eigne[n] Fortschritt [...] des Zeitalters in wissenschaftlicher Hinsicht“ abzugleichen. Aphorismus und (kommentierende und verweisende) Anmerkungen stiften auf diese Weise zusammen eine philosophische Systematik, die von vielen der Zeitgenossen Platners nicht unbemerkt geblieben ist. Beide Bände der Platnerschen Aphorismen gliedern sich in Hauptstücke, gelegentliche Einleitungen in die Hauptstücke, Kapitel, Kapitelabschnitte, ParaKarl Heinrich Ludwig Pölitz, Systematischen Encyklopädie der stylistischen Wissenschaften. Ein Lehrbuch der teutschen Sprache nach ihrem ganzen Umfange und in ihrer gegenwärtigen Gestalt, Leipzig 1805, 169. 74 Ebd., 171 f. 75 Ebd., 172 f. 73

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graphengruppen, Paragraphen, Paragraphenabschnitte und -anhänge, Vorbemerkungen und Anhänge. Was fehlt, ist ein den zu erwartenden Inhalt klar benennendes und strukturierendes Inhaltsverzeichnis. Innerhalb der Kapitel sind Paragraphen gelegentlich thematisch in lateinischer Zählung zusammengefaßt, Paragraphen zuweilen auch in sich noch einmal untergliedert, dann in arabischer Zählung. Diese Textgliederungsmittel verleihen dem Platnerschen Werk eine in sich geschlossene architektonische Form. Es geht damit das in Erfüllung, was er sich von einem „guten Kompendi[um]“ erhoffte: einen „Grundri[ß], aber kein[] vollendete[s] Lehrgebäude, obgleich die ganze Form und fast alle Materialien des Lehrgebäudes in den ersten Linien angedeutet sind“.76 ‘Aphoristisch’ muß ein Werk zwingend abgefaßt sein, so Platner, wenn „die Wissenschaft, deren Plan man entwirft, mehr Fakta als Spekulationen enthält“. Die Fakten würden selbstredend nicht gegen das Aphoristische sprechen, aber das Vorkommen spekulativer Darlegungen könnte ein gewichtiger Grund dafür sein, davon abzusehen. Platner, der als Aufklärer, als skeptischer Eklektizist, Spekulationen eine gehörige Portion Mißtrauen entgegenbringt und darauf fußendem Dogmatismus wenig abzugewinnen weiß, bringt zwei Gründe in Anschlag, die für die Verwendung der aphoristischen Schreibart sprächen: Sie präsentiere die Spekulationen einerseits sehr „entscheidend“, verberge andererseits aber ihre „Veranlassungen und Folgen“ derart, daß der Leser in diesen dogmatischen Fragen dem Verfasser nicht einfach zustimmen wird, ohne doch zuvor selbst darüber nachgedacht zu haben. Das aphoristisch verkürzte spekulative Dogma wird so einerseits auf dogmatisch nachdrückliche Weise präsentiert. Andererseits wird es auf diese Art der Präsentation in seinen Gründen genugsam verdunkelt, um den Leser in seiner skeptischen Grundhaltung zu bestärken und zur Selbstaufklärung herauszufordern. Denn für seine ‘Spekulationen’ beansprucht Platner stets nur, daß sie die „Geschichte [s]einer Ideen“ sind, nicht aber ‘Dogmen’, die „entscheiden[den] Unterricht“ verlangen. Die Aphorismen sollen sich in der der Menge von Fakten und der grundsätzlichen Fragwürdigkeit von Spekulationen entsprechenden Vollständigkeit und Kürze präsentieren. Der Popularaufklärer Platner weiß so das Kriterium der „allgemeine[n] Verständlichkeit“ dialektisch aufzufassen und seiner skeptischen Grundhaltung entsprechend zum Zwecke der Selbstaufklärung der Darstellungsform seiner Philosophie anzupassen. ‘Aphorismen’ sind „Merkzeichen“. Sie markieren dem Lehrenden den Ort und die Richtung seiner Kommentare, und den Lernenden erinnern die „vorher dunkeln Worte“ des Kompendiums in der Nachbereitung der Vorlesung an den

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Platner, Anthropologie 1772 (wie Anm. 24), Vorrede, XX.

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aufklärenden, die Selbstaufklärung vorbereitenden und provozierenden „Commentar des Lehrers“.77 Die Unterschiede zu und die Gemeinsamkeiten mit Wolff in methodischer Hinsicht sind merklich. Platner hat sich nicht – was wohl für alle damaligen Philosophen gilt – vom obersten Gesetz der philosophischen Methode Wolffs verabschiedet, wonach „dasjenige vorauszuschicken ist, wodurch das Folgende verstanden und erwiesen wird“.78 Nur hat er ein anderes Verständnis davon, welche Erkenntnis Voraussetzung der folgenden ist. Hier hat sich die Mitte des Jahrhunderts mit Crusius vollzogene Abwendung von der synthetischen Methode Wolffs und die Hinwendung zur analytischen niedergeschlagen. Ausgegangen wird vom Erfahrungsmaterial, um schließlich ins Metaphysische überzugehen. Aber natürlich definiert auch er, stiftet auch er argumentativ einen systematischen Zusammenhang seiner Lehrsätze. Er unterscheidet sich aber von Wolff im Stil des Philosophierens: Jener verlangte vom Philosophen, daß er stets darauf zu achten habe, „dem andern die Gedanken unseres Geistes offen[zu]legen“, darauf vertrauend, daß der (wolffsche) Philosoph im Besitz der philosophia apodictica und damit der unfehlbaren Wahrheit ist und nun nur noch darauf zu sehen habe, diese dem Leser „ganz deutlich [zu] erklären, damit er sie nicht verfehlen kann, wenn er die für die Lektüre philosophischer Schriften nötige Aufmerksamkeit aufbringt. Nicht durch die Macht der Worte, sondern durch das Gewicht der Argumente“ sei man gesonnen, dem Leser die „Zustimmung“ zur Lehre förmlich „[abzu]zwingen“ und ihn „zu sicherer Erkenntnis“ zu führen.79 Platner war jedoch von seiner ganzen Grundhaltung her viel zu sehr skeptischer Eklektizist, viel zu skeptisch der Vernunft, sich und anderen gegenüber, als daß er mit einem solch apodiktischen Wahrheitsanspruch aufgetreten wäre. Weder wollte er jemanden zwingen noch überreden. Er wollte vielmehr zum Selbstdenken anregen. Und hierfür wählte er einen anderen philosophischen Stil, den der ‘aphoristischen Schreibart’. Dieser allein schien ihm geeignet, die fragile Balance zwischen sektiererischem Dogmatismus einerseits und beliebig verfahrendem Synkretismus andererseits zu halten sowie der aus der analytischen Forschungsmethode und der synthetisch verfahrenden Darstellungsform resultierenden Spannung Herr zu werden – eine Schwierigkeit, der sich letztlich jeder, zumal skeptische Eklektizist, gegenübersieht.

Ebd., XVIII-XXI. Wolff, Discursus praeliminaris de philosophia in genere (wie Anm. 53), hier: Kapitel IV: „Von der philosophischen Methode“, 152–155, hier 152 f. 79 Ebd., Kapitel V: „Vom philosophischen Stil“, 164 f. Bekanntlich gehen die Wolffianer – im Unterschied zu den Thomasianern – davon aus, daß das, was der Verstand einsieht, unmittelbar handlungswirksam wird, ungeachtet der Tatsache, daß subjektive Mängel das Urteil trüben können. 77 78

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Und doch wünschten sich die Zeitgenossen manches Mal etwas mehr Wolffsche ‘Klarheit’, weniger aphoristische ‘Unterbestimmtheit’. Denn gesetzt den Fall, es erscheint den Lesern einmal ein Satz Platners undeutlich, unbestimmt, unrichtig [...,] so müssen sie sich, wenn sie billig seyn wollen, allemal stillschweigend auf den mündlichen Vortrag des Verfassers verweisen, wo das, was ihnen beym Lesen Schwierigkeiten gemacht, seine Aufklärung und Bestimmung erhalten werde.80

Aus sich heraus ist das System zuweilen kaum verständlich. Viele Vagheiten lassen den Leser im Zweifel, ob er den Sinn richtig gefaßt, ob er das Intendierte begriffen hat. Platner hat es damit nicht bewenden lassen. Das Verständnis erschweren darüber hinaus noch eigenschöpferische Begrifflichkeiten, die dem gängigen philosophischen Sprachgebrauch nicht entsprachen, so etwa, wenn er anstatt von Descartes’ ‘materieller Idee’ von ‘Ideenbild’ oder anstelle des Wolffschen Ausdrucks ‘sich Vorstellen’ lieber vom ‘Schauen’ spricht; auch das, was Platner ‘geistige Ideen’ nennt, bezeichnete im zeitgenössischen philosophischen Sprachgebrauch ‘Apperzeptionen’, ‘bewußte Vorstellungen’. Aber auch ihm zuliebe hätte man sich mehr Klarheit gewünscht. So in dem Kapitel Grundsätze der Metaphysik, wo es heißt: „Das Gegentheil des Möglichen ist unmöglich. Demnach ist alles Mögliche nothwendig. Denn nothwendig ist das, dessen Gegentheil unmöglich ist“.81 „Ein offenbares Wortspiel, dergleichen man nun bei Wolf in dieser Materie manche findet“, kommentiert ein Rezensent82 lakonisch. Doch Platner, dem jener Rezensent zugute hält, daß er sich hier bestimmt verschrieben habe, wäre in diesem konkreten Falle gerade gut beraten gewesen, Wolffs Metaphysik zu Rate zu ziehen. Platner hätte nur § 13 des „2. Capitel: Von den ersten Gründen unserer Erkäntniß und allen Dingen überhaupt“ konsultieren müssen, der dem Nachweis dienen soll, daß nicht alles das, was möglich ist, zugleich wirklich ist, sprich: daß von der Möglichkeit nicht auf die Wirklichkeit qua allgemeine und vernünftige Notwendigkeit geschlossen werden darf. Denn dann wäre dieser Passus in der vom Dresdner Kirchenrat erstellten Agenda des von ihm zu Verantwortenden möglicherweise ausgespart geblieben: Der Satz, wonach alles Mögliche zugleich notwendig ist, sei nicht nur falsch, so die oberste Kirchenbehörde Sachsens, er sei auch schädlich: „Denn alle wirklich existierenden lasterhaften Neigungen und Handlungen sind möglich. Ergo sind alle wirklich existierenden lasterhaften Neigungen Eberhard, [Rez.] Ernst Platners philosophische Aphorismen (wie Anm. 4), 28–39, hier 31. Platner, Aphorismen I 1776 (wie Anm. 36), 227 (§ 724). 82 Auch Feder kommt in seiner Besprechung darauf zu sprechen und meint en passant: „Der Schluß, mittelst dessen § 714 bewiesen wird, daß alles Mögliche nothwendig, dürfte wohl die genaue Prüfung nicht aushalten“ (Feder, [Rez.] Ernst Platners philosophische Aphorismen [wie Anm. 35], 153–158, hier 156). 80 81

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und Handlungen notwendig“.83 – Platner sah sich hier einem Vorwurf ausgesetzt, der im kommenden Jahrhundert auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel gemacht wurde, der ganz ähnlich argumentierte, wenn er in der Vorrede zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts (1820) schreibt: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; | und was wirklich ist, das ist vernünftig“.84 Nur daß Platner Wert auf die Anerkennung des Natürlichen und des Naturrechts legte, während Hegel den Status des historisch Gewordenen zum Kristallisationspunkt seiner rechtsphilosophischen Erörterungen machte, da einzig von ihm ausgehend, vom historisch Gewordenen, eigentlicher Erkenntnisgewinn möglich ist, getreu dem Hegelschen Diktum von der Eule der Minerva, die erst bei einbrechender Dämmerung, erst nachdem die Wirklichkeit sich entfaltet hat, ihren Flug beginnen könne.85 Und Hegel vergleichbar sah sich auch Platner dem Vorwurf der Verherrlichung des Faktischen gegenüber.86

IV. Platner begründet den „systematischen Zweifel“ und die „Nothwendigkeit fortgesetzter Erfahrungen“87 damit, daß die physischen Begriffe hinsichtlich der damit bezeichneten Gegenstände und Sachverhalte als auch mit Rücksicht auf die sich dauernd verändernde Kenntnis, die der Mensch davon hat, stets korrekturbedürftig bleiben werden, und das auch angesichts der angenommenen Unwandelbarkeit allgemeiner, d.h. wesentlicher metaphysischer Begriffe. Die Notwendigkeit des „systematischen Zweifels“ sei deshalb vor allem angezeigt, weil häufig in den „Erzählungen und Raisonnements, nur die Gründe für Ernst Bergmann, Ernst Platner und die Kunstphilosophie des 18. Jahrhunderts. Nach ungedruckten Quellen dargestellt, Leipzig 1913, 314. Auch später noch, im Jahre 1799, sieht sich Johann Benjamin Erhard beispielsweise genötigt darauf hinzuweisen, daß „in der Natur [...] nichts möglich [ist], sondern alles, was möglich ist, ist zugleich wirklich, das heißt, nothwendig“, in: Johann Benjamin Erhard, Versuch eines Organons der Heilkunde, in: Magazin zur Vervollkommnung der theoretischen und praktischen Heilkunde 3/1 (1799), 1–25, hier 8. In der 1784 veranstalteten „neue[n] durchaus umgearbeitete[n] Ausgabe“ des ersten Teils der Philosophischen Aphorismen heißt es dann: „Alles Wirkliche ist etwas Mögliches, und mit Setzung seiner Grundbestimmungen etwas Nothwendiges. Was also das einzige Mögliche, und folglich das Nothwendige ist [...], das ist schlechterdings wahr“ (ebd., 264 [§ 816]). 84 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Mit Hegels eigenhändigen Notizen und den mündlichen Zusätzen, Frankfurt am Main 31993, 24. 85 Ebd., 28. 86 Vgl. dazu Odo Marquard, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Aufsätze, Frankfurt am Main 31992, 37–51, 153–167. 87 Platner, Aphorismen I 1776 (wie Anm. 36), 181 f. (§ 603). 83

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beygebracht und ins Licht gestellt sind, und die Gründe wider, durch eigene historische oder philosophische Untersuchungen in den Menschen entstehen müssen“, die dann aber nur allzu oft durch Leichtgläubigkeit auf fehlerhafte Ansichten gerieten.88 Notwendig sei daher eine Art ‘skeptischer Kritik’, die er später einmal psychologisch folgendermaßen charakterisierte: Sie sei eine Art von schwindelnder Unstetigkeit, welche alle Überzeugung unmöglich macht; – bis endlich, mit Hinzukunft einer Art von Gemüthsbewegung, der Entschluß zu Stande gebracht und durchgesetzt wird: nichts weder zu bejahen, noch zu verneinen; alle Ideen der Menschen, ohne Partheynehmung (ε̉ποχη), von sich zu weisen, und, bey den scheinbarsten Anlässen zum Glauben, in einer unverrückten Selbstständigkeit (α̉ταραξια) zu beharren – mithin dem Räthsel der Welt, ruhig zuzuschauen und allen metaphysischen Nachforschungen darüber zu entsagen. Diese Denkart ist der Scepticismus89,

der ihm dann seitens der Kantianer den Vorwurf des Dogmatismus, des ‘dogmatischen Skepticismus’ einbrachte.90 Diese skeptische Grundüberzeugung hat Platners eklektische Methodik unmittelbar beeinflußt und auch wesentlich auf seine Darstellungsweise abgefärbt, die sich in etwa folgendermaßen beschreiben läßt: Zunächst wird eine Erfahrungstatsache benannt, danach werden verschiedene, oft einander widerstreitende Erklärungen unterschiedlicher philosophischer Schulen benannt, im Anschluß die Defizite oder Fruchtbarkeit der einen oder anderen Sichtweise aufgezeigt und damit die Entscheidung für die eine oder andere Erklärung motiviert. Dabei läßt er es sich stets angelegen sein, den jeweils unterschiedlichen Gewißheitsgrad des gerade Behandelten anzuzeigen, so wenn er darauf verweist, daß es sich um eine ‘historische oder raisonnirte Anzeige’, um Ergebnisse der „physiologischen Geschichte“ oder eben um eine ‘Hypothese’91 oder gar um etwas ‘Ungewisses’ handelt, das allerdings bedenkenlos angeführt werden könne, da es keine „wichtigen Folgen“ zeitige.92 Zwei Beispiele mögen das illustrieren, einmal seine Behandlung der Freiheit, der Moralität und des Schicksals und zum anderen seine Überlegungen zum Ursprung des Übels. Zunächst also zum Fragekomplex „Freyheit, Moralität und Schicksal“: Anfangs entfaltet er die Problemlagen, benennt Lösungsversuche und bietet diese dem Leser in einer in den Aphorismen ansonsten eher unüblichen Ausführlichkeit. Danach positioniert er sich derart, daß er sich für die eine ausspricht, weil die andere widersprüchlich sei oder Widersprüche

Ebd., 209 f. (§ 686). Ernst Platner, Philosophische Aphorismen, nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte. Ganz neue Ausarbeitung. Erster Theil, Leipzig 1793, 353 f. (§ 705). 90 Allgemeine Literatur-Zeitung (2. Dezember 1794), Nr. 379, 480. 91 Platner, Aphorismen I 1793 (wie Anm. 89), 15 (§ 49). 92 Ebd., 47 (§ 150). 88 89

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zeitige. So auch im Falle des ‘Schicksals’. Drei Lösungsansätze lassen sich Platner zufolge aus der Geschichte der Philosophie abnehmen: Schicksal einmal als „unbedingte Nothwendigkeit ohne Rücksicht auf göttlichen Rathschluß, 2) bedingte Nothwendigkeit von göttlichen Rathschluß abhängig; 3) völlige Zufälligkeit“.93 Er verwirft das „Democritische[] Schicksal“,94 favorisiert den zweiten Lösungsansatz und stellt sich damit in eine Reihe mit Aristoteles, Leibniz und Wolff, nicht ohne jedoch auch der dritten Variante, die die „gleichgültige Freyheit des menschlichen Willen“ behauptet, und ihren Gewährsmännern, den Anti-Wolffianern um Crusius, als einen in der Motivation zumindest durchaus berechtigten Ansatz auszuzeichnen. Denn diese hätten wohl „nicht die Absicht gehabt, die Freyheit der Gleichgültigkeit, als vielmehr die Würde der menschlichen Tugend zu behaupten, welche ihnen in gewissen Lehrsätzen, z.B. von den Gnadenwirkungen und von der Unfähigkeit des gefallenen und natürlichen Menschen zum Guten u. d. g. zu weit herabgesetzt zu seyn schien“.95 Dem erstgenannten Begründungsversuch widerspreche aber eindeutig „die Wahrheit: es ist ein Gott und eine Vorsehung“, so Platner bündig.96 Die gleiche Vorgehensweise wählte Platner, als er sich anschickte, die Frage des Ursprungs der Übel zu behandeln: „Abgerechnet die widerlegten atheistischen Systeme, welche das Übel, so wie die Vollkommenheit der Welt, entweder aus blinder Nothwendigkeit, oder aus blinder Zufälligkeit erklären“, schreibt er eingangs des Kapitels, „hat man dreyerley theistische Systeme über den Ursprung des Übels: Das Manichäische, das Augustinische, das Leibnitzische“.97 Diese werden nun kurz charakterisiert und in mehrseitigen historischen Überblicken, die die jeweilige Lehre in ihrer konkreten Ausformung bei den einzelnen Vertretern skizzieren, vorgestellt. Dem Manichäischen und dem Augustinischen sind je ein doxographischer Paragraph gewidmet, dem Leibnizischen System ganze acht. Dafür ist die historische Anmerkung zu Leibniz im Vergleich zu den anderen beiden auffällig gering bemessen. Man könnte meinen, Platner würde sich hier nun ganz der Leibnizschen Lehre verschreiben. Aber weit gefehlt. In der Anmerkung zu Leibniz’ Erklärung des Übels aus „einer bloßen Privation“ heißt es ganz im Gegenteil: „Diese Erklärung des Übels durch eine bloße Privation [...] ist sehr schwer zu ihrer Evidenz zu bringen, und veranlaßt wenigstens Wortstreitigkeiten“.98 Und noch kurz zuvor99 hat

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Ebd., 310 ff. (§ 913). Ebd., 314 f. (§ 915). Ebd., 314 (§ 913 Anm.). Ebd., 314 (§ 914). Ebd., 387 f. (§ 1038). Ebd., 397 (§ 1041).

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er die Motive der anderen, der Augustinischen Lehre, die „durchgängig in der N.[atürlichen] Th.[eologie] des Hrn. D. Crusius, s. dessen Metaphysik §. 278– 306“ wiederzufinden sei, noch ausdrücklich gelobt – wie schon in der Besprechung der verschiedenen Lösungsversuche hinsichtlich der Fragen zu ‘Freiheit, Moralität und Schicksal’.100 Gleichwohl ist es nicht zu übersehen, daß er auch hier der Leibniz-Wolffschen Lehre zuneigt, indem er schlußendlich darauf abhebt, daß die „Erfahrung lehrt, daß jedes Elend und jede Einschränkung der endlichen Wesen eine Wirkung oder eine Ursache unendlich größerer Glückseligkeiten [...] sey“, und zudem noch auf die entsprechende Abhandlung Bülfingers verweist.101

V. Platner geht von „Empfindung[en]“ aus,102 eigenen und fremden und solchen, die sich im „Sprachgebrauche“ niederschlagen, also von Zeugnissen und Phänomenen als verursachten Wirkungen. Er fordert die Einheit systematischen und begriffsgeschichtlichen Philosophierens, was den zeitgenössischen Tendenzen einerseits, andererseits auch seinen seelengeschichtlichen und damit verbundenen sprachphilosophischen und -kritischen Neigungen entspricht. Keineswegs zufällig und nur so von ungefähr also sind die Aphorismen in der

Ebd., 396 f. (§ 1040). Ebd., 310–314 (§ 913). 101 Ebd., 400 (§ 1048). Gemeint ist Georg Bernhard Bilfinger, De origine et permissione mali praecipue moralis commentatio philosophica, Tübingen 1743. 102 Platner, Anthropologie 1772 (wie Anm. 24), Vorrede, XI ff.: „Irrig, und wider den Sprachgebrauch“ sei es, so Platner, jene Äußerungen der Erkenntniskräfte der Seele (sinnliche Vorstellung, Gedächtnis, Denken, logisches Urteilen und Schließen, Witz und Genie) „auf Empfindung zurück[zuführen]“, wie dies Helvetius getan habe (Platner, Philosophische Aphorismen I (1776), 18 § 65) – Platner beharrt auf der Unterscheidung von Vernunft und Empfindung, die Skeptiker und Atomisten vernachlässigt hätten (ebd., 138 f. § 454), wendet sich andererseits gegen Bestimmungen, die wie die Wolffsche unter ‘Vernunft’ bloß „das Vermögen, den Zusammenhang allgemeiner Wahrheiten einzusehen“ (Wolff, Vernünfftige Gedancken Von GOTT, Der Welt und der Seele des Menschen, Auch allen Dingen überhaupt [wie Anm. 42], 224 [§ 368]), verstehen und diese auf die „Absonderungs- [i.e. Abstraktions-] oder Urtheils- oder Schlußthätigkeiten“ zu reduzieren suchen (Aphorismen I 1776 [wie Anm. 36], 139 [§ 456]). Er setzt dagegen einen Vernunftbegriff, der charakterisiert ist durch die Herder-Sulzersche ‘Besonnenheit’ einerseits und durch das System angeborener Grundsätze Leibniz’scher Provenienz andererseits (ebd., 139 f. [§ 458]; vgl. auch 146 [§ 482 Anm.]). Die ‘Besonnenheit’ als die „vornehmste Anlage der Vernunft“ (ebd., 141 [§ 464]) bindet diese, obgleich sie seelischer Abstammung ist, zugleich immerwährend an die „Organisation [des Körpers]“ (ebd., 141 [§ 463 f.]). 99

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Ich-Form abgefaßt, unter steter Betonung der subjektiven Perspektive: „dabey denke ich mir“,103 „darunter verstehe ich“.104 Definitorische Festlegungen werden in Rücksicht, aber auch unter rechtfertigender Zugrundelegung des „einmüthigen Sprachgebrauche[s]“105 vorgenommen. So heißt es zum Beispiel einmal: „Ich und Seele sind gleichbedeutende Ausdrucke. […] Demnach denkt man unter dem Worte Seele …“. Zuweilen markiert Platner in seinen Aphorismen auch nur bündig den systematischen Ort, an dem der anhand seines Lehrbuchs lesende Dozent dem Auditorium „Beyspiele aus dem Redegebrauch“ vortragen soll, die die Richtigkeit des entsprechenden Lehrsatzes zu belegen vermögen.106 Solcherart am Sprachgebrauch – oft auch am eigenen – abgelesene Sinn- und Bedeutungszusammenhänge bilden die Basis Platnerschen Philosophierens. Dieser Sprachgebrauch gilt ihm als eine Beweisinstanz par excellence.107 Deshalb habe er auch seine Anthropologie (1772) in deutscher Sprache publizieren müssen, weil er mit ihr „ein System der menschlichen Natur“ präsentiere, das sich überall mit der Erklärung verschiedener Verhältnisse, Empfindungen und Zustände beschäfftig[e], welche wir täglich an uns selbst und an andern erfahren, und da alle diese Zustände in unserer Sprache ihre eigenen Benennungen haben, an denen man sie sogleich erkennt und in dem Augenblicke gleichsam selbst erfährt.108

Der Grund, warum die psychologische bzw. genetische Untersuchung der Ideen in der Philosophie nicht hinreicht, sondern die philosophische Begriffsgeschichte ebenso notwendig ist, liegt in dem Umstand begründet, daß diese, die Ideen, grundsätzlich sprachlich verfaßt sind und vermittelt werden, „daß diese allgemeinen Begriffe jetzt nicht mehr in unsern Köpfen entstehen, und daß wir sie mit der Sprache schon fertig überliefert bekommen“109 haben. Da die „wichtigsten der philosophischen Irrthümer [...] aus der Überlieferung der Wörter“ resultieren, sich die „Verwandlung eines Wortes in ein Wort einer andern Sprache [...] selten ohne Nachtheil der Wahrheit“ vollzieht, ist es für den Philosophen unverzichtbar, sprachkritisch tätig zu sein. Die Kultur- bzw. Milieuabhängigkeit der Sprachen und die damit einhergehende Sprachrelativität des Denkens macht es dem Philosophen zur Pflicht, „um die Wahrheit dieser Begriffe aus ihrer Entstehung zu beurtheilen, nicht nur die Sprache, sondern

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75.

Ebd., 4 (§ 4). Ebd., 4 (§ 5). Ebd., 3 (§ 1). Ebd., 5 (§ 8). Vgl. ebd., 4 (§§ 5 und 7). Platner, Anthropologie I 1772 (wie Anm. 24), Vorrede, XXVI. Platner, Der Professor. Erstes Stück: III. Von der Verachtung der Gelehrsamkeit (1773/74),

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auch die übrige Verfassung desjenigen Volks [zu] kennen, welches diese allgemeinen Begriffe gebildet und uns überliefert hat. Die Mittel zu diesen Untersuchungen sind das was man Litteratur nennt“.110 Die „Geschichte der philosophischen Begriffe des menschlichen Geistes“, die nur mit Hilfe der „Sprachkenntniß und Litteratur“ erschlossen werden kann, „ist der einzige Weg zu der wahren Philosophie, oder vielmehr die wahre Philosophie selbst“.111 Die Begriffsgeschichte soll jene Momente aufweisen, in denen der sich selbst überlassene Mensch in der ruhigsten und von allen zufälligen Verhältnissen ungebundensten Gemüthsverfassung, durch das kalte unenthusiastische Anschauen der Dinge selbst, durch den natürlichen, ungekünstelten, unerzwungenen Gebrauch seiner Geistigen Kräfte, durch sein inneres Gefühl, durch die Anwendung der gewöhnlichsten Schlußarten, deren er sich überall ohne Unterricht bedient, auf [ein]en Begriff geführet wurde.112

Ein solch wahrhafter, natürlicher, milieugebundener Moment fördere wahrhafte, natürliche Begriffe zutage, die die Basis bilden für eine Begriffsgeschichte, die entgegenstehende Begriffe als erwachsen „aus der philosophischen Verkünstelung [d]er Seele, aus dem Hange zu neuen und gewagten Erklärungen, aus der Begierde nach Ruhm und Verewigung, durch Hülfe einer noch kindischen unausgebildeten Naturlehre“ dekuvriert.113 In die Münzmetaphorik überführt, liest sich die wechselvolle Geschichte eines Begriffs bei Platner dann folgendermaßen: Sehen Sie dieses Silberstück an, und denken Sie rückwärts durch wie viele Hände, durch wie viele Maschinen und Werkzeuge es gehen mußte, ehe es eine gültige Münze ward. Und ein einziger Begriff der jetzt viele Menschen weise und glückselig macht, mußte vielleicht durch hundert Köpfe hindurchgehen, ehe er den Gehalt und das Gepräge der Wahrheit bekommen, und unter den Menschen gangbar werden konnte.114

Ebd., 76. Ebd., 77 und 79. Der Zweck und Wert der „medicinischen Litteratur“ wird von Platner analog bestimmt: „Die Geschichte der Erfahrungen, Hypothesen und allgemeinen Begriffe, aus denen das medicinische System zusammengesetzt ist, das ist die wahre medicinische Geschichte“ (ebd., 80). Bislang sei diese jedoch bloßes Ideal. Zu sehr habe man sich bis dato darauf konzentriert, die äußere Geschichte der Medizin zu konturieren und hierfür nur die Vitae einzelner Ärzte konsultiert. Nicht das dies überflüßig wäre! „Ich kann eine Hypothese, ein Lehrgebäude weit besser übersehen, wenn ich den Geist des Mannes und die äußern Umstände, die zu der Bildung dieses Geistes gewirkt haben, genau kenne“ (ebd., 81). In der Hauptsache aber komme es auf die „Geschichte der medicinischen Erfahrung und Einbildungskraft und des medicinischen Genies“ an (ebd., 81). Diese Einsichten haben Platner bewogen, als Physiologieprofessor zeitlebens über die Medizinische Literärgeschichte der Physiologie zu lesen. 112 Ebd., 78. 113 Ebd. 114 Ebd., 81 f. 110 111

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Dieses wahrheitsläuternde ‘Durch-die-Köpfe-Gehen’ beschreibt eben jenen notwendigen Akt von Sprach- und Kulturkritik, der jedweder begriffsgeschichtlichen Arbeit Platner zufolge inhärent sein muß.115 Platner legt dem fiktiven Autor seiner ‘Wochenschrift’, dem Professor Sophron,116 die Definition dessen, was er unter ‘philosophischer Litteratur’ versteht, die dem Philosophen zu kennen unabdingbar ist, in den Mund: Danach ist unter ‘philosophischer Litteratur’ „vornehmlich die Lektüre der Alten, und dann die Kenntniß der philosophischen Streitigkeiten, die Bekanntschaft mit den berühmtesten Lehrmeinungen und ihren Urhebern, und mit einem Worte die philosophische Geschichte“ zu verstehen. ‘Philosophische Geschichte’ nicht im Sinne Jakob Bruckers oder Thomas Stanleys ist gemeint: „Ich verstehe darunter die alten Schriftsteller, den Plato, Xenophon, Plutarch u. s. f.“117 Zur Unterstützung seiner Ansichten nimmt er Zuflucht zur Autorität „unsers Ernesti“,118 den er in extenso zitiert: Man macht sich von dem Nutzen der Lektüre der alten Schriftsteller insgemein abgeschmackte, kindische Begriffe. Die griechischen Schriftsteller, sagt man, müssen die Theologen lesen nur um das griechische Testament zu verstehen. Die Rechtsgelehrten haben gar nicht nöthig sich damit abzugeben; die Ärzte aber müßten sich in so fern dieser Lektüre unterziehen, in wie fern sie dadurch in den Stand gesetzt werden ihre Kunstwörter zu erklären. Was die lateinischen Autoren betrifft, so sind diese, der gemeinen Meynung nach, nur den Schulknaben nützlich, damit sie dereinst als Studenten im Stande seyn, die Vorlesungen ihrer Professoren und die zu ihrer Wissenschaft gehörigen Bücher zu verstehen, oder damit sie mit Fertigkeit öffentlich disputiren und einen guten lateinischen Styl schreiben lernen. – Kann man von der Lektüre der Alten nichts weiter erwarten, und sind diese bemeldeten Vortheile der einzige und größte Nutzen, den man davon zu hoffen hat, so wollte ich noch heute alle diese Schriftsteller wegwerfen. – Wie ungerecht ist das Schicksal dieser weisen Männer, von denen die meisten nicht nur Philosophen, sondern auch zugleich praktische Staatsmänner waren, daß man sie nur den Schulknaben zu lesen giebt, gleich als ob man aus ihren Schriften nichts Interessantes für das menschliche Leben, nichts Interessante für die bürgerliche Glückseligkeit lernen könnte.119

Verständlich wird damit nun der Ursprung seines polyhistorisch verankerten Skeptizismus, der in kritischer Durchsicht und prüfendem Vergleich des polyhistorisch Angehäuften besteht. Damit erst eröffnete sich ihm die Möglichkeit, Von daher wird auch Platners anwaltliches Eintreten für die sog. Hilfswissenschaften verständlich: „Ich höre täglich, wenn von Litteratoren, Sprach- und Alterthumsforschern die Rede ist, jene modische Frage: was nützt dieser Mann der Welt“ (ebd., 84)? Daß nicht zuletzt darin Platners Eintreten für die polyhistorische Bildung ihre Ursache hat, verdient nicht unerwähnt zu bleiben. 116 Ebd., 56 und 64. 117 Ebd., 59. 118 Ebd., 61. 119 Ebd., 60 f. 115

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unterschiedlichste, vielfach bewährte, diskutierte, ja auch angefochtene Wissenssysteme durchzumustern, auf ihre spezifische Problemlösungstauglichkeit hin abzuklopfen, ihr jeweiliges Für und Wider zu erörtern, um auf diesem eklektischen Wege schließlich zu einer probaten ‘Gesamtschau’ zu gelangen.120 Deshalb auch erscheinen seine Lehrsätze – nichts anderes meint Platner mit ‘Aphorismus’ – durchaus in einem systematischen und argumentationslogischen Zusammenhang und aus der Normal- und Umgangssprache extrahiert. Er erweist sich in seinem Bestreben, aus der genauen Kenntnis des jeweiligen milieuabhängigen usus loquendi den sensus verborum ermitteln zu wollen, als ein Parteigänger der Ernestischen Hermeneutik. Das läßt sich sehr gut zu Beginn des ersten Hauptstücks der Philosophischen Aphorismen, das sich der Wesensbestimmung der Seele widmet, beobachten. Zuerst werden unzweifelhafte Phänomene benannt: Denken, Empfinden, Wollen, Handeln, und „einem einmüthigen Sprachgebrauche“ entsprechend als Seelenwirkungen klassifiziert. Im darauffolgenden Paragraphen dann wird definiert: sie, die Seele, ist (a) ein von den Ideen und Empfindungen und (b) von der Körpermaschine unterschiedenes Wesen. „Speculative Beweise“ dieses Lehrsatzes werden vorerst hintangestellt; im Moment interessieren ihn nur „Erfahrungsbeweise“. Hierfür wird – eingedenk der Tatsache, daß „die Natur unsers Schließens [...] großentheils eine Sache der Sprache ist“ und „dem strengen Auslegungsrechte nach, [...] nichts dagegen [ist], daß man sich an die Worte hält“121 – erneut der Sprachgebrauch gemustert und konstatiert, daß „Ich und Seele“ darin als „gleichbedeutende Worte“ fungieren, was in einem nächsten Schritt die Analyse der Sprachverwendung des Wortes „Ich“ nach sich zieht, um so schließlich noch etwas mehr über das „Wort“ Seele herauszubekommen. Platner schreibt: „Ich, dabey denke ich mir ...“ sowie „Ich, darunter verstehe ich ...“ und bestimmt als „Ich“ einmal eine „ideenschauende Kraft“ im Unterschied zu den von ihr bewirkten Ideen. Darüber hinaus wird das „Ich“ bestimmt als ein vom Körper Unterschiedenes, dem der Körper aber als Eigentum zugehört. Im folgenden Paragraphen wird erneut auf den Sprachgebrauch rekurriert, nochmals auf die gleiche Bedeutung der Ausdrücke abgehoben und all das, was soeben aus dem Es gibt keine Gleichartigkeit der Wahrnehmungen, die – eine Gleichartigkeit der Denkoperationen zugegeben – eine Intersubjektivität des Erkennens begründen könnte. Die Einsicht in die multiperspektivische Wahrnehmung mündete in einen Skeptizismus. Ein universales Welterklärungsprinzip läßt sich danach schlechterdings nicht mehr hoffen, die Suche danach erscheint von vornherein als ein aussichtsloses Unterfangen, gibt sich prima facie bereits als dogmatischreduktionistisches Ansinnen zu erkennen. Sensualismus kann nach Platner daher nur skeptisch verfaßt sein, eben weil er weitgehend auf metaphysische Gewißheit Verzicht leisten muß, derer er andererseits wiederum bedürftig ist und einen Abgleich des induktiv Erschlossenen mit deduktiven Prinzipien verlangt, ersteht doch das Relative erst vor einem Absoluten. 121 Platner, Aphorismen I 1793 (wie Anm. 89), XIV. 120

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Sprachgebrauch bezüglich des Terminus „Ich“ abgenommen worden ist, dem Ausdruck „Seele“ beigelegt.122 Auf diese Weise nun wurde der Gegenstand der weiteren Untersuchungen ‘historisch’ anhand von Erfahrungsbeweisen konstituiert. Wieder und wieder ist es die ‘Erfahrung’, auch die sprachlich fixierte, die als Bestätigungs- und Berufungsinstanz einzustehen hat: „Dieß lehrt die Erfahrung“;123 „Dieß sagt die Erfahrung“;124 „Dieß zeigen die psychologischen und physischen Heilungsmittel“,125 heißt es dann. Es gibt aber auch Dinge, die „weder aus der Erfahrung erwiesen, noch aus Grundsätzen erweislich“ sind;126 einige Erklärungen jedoch sind „der innern Empfindung und dem Sprachgebrauche nicht zuwider“,127 obgleich es auch „Täuschung[en] der Sprache“ gebe.128 Auch sei man mitunter schon einmal gehalten, eine Frage zurückzuweisen oder sich deren Beantwortung für die Zukunft vorzubehalten, da einstweilen die Voraussetzungen noch zu strittig seien, als daß man zuverlässigerweise eine Beantwortung wagen könnte.129

VI. Platners Auseinandersetzung mit Christian Wolff ist in seiner Grundsätzlichkeit nicht so sehr an einzelnen strittigen Philosophemen ablesbar. Bezugnahmen auf Wolff finden sich in den Philosophischen Aphorismen selbstredend eine Vielzahl, verglichen mit anderen ebenfalls darin genannten Philosophen aber nicht überproportional viele. Es ist schlechterdings kaum möglich, von einer spezifischen Wolff-Auseinandersetzung zu sprechen, die zentral für Platner gewesen wäre. Bei ihm wie bei Feder finden sich Abgrenzungen, Übereinstimmungen und Fortbildungen. Dazu zählen etwa das Festhalten an den materiellen Ideen Descartes’ als Ideenbildchen im Gegensatz zu Wolffs motus (eine Idee, die er erst 1790 verabschiedet), seine Übereinstimmung mit Wolff hinsichtlich der einen homogenen Welt,130 seine Ablehnung des Wolffschen Determinismus131 Platner, Aphorismen I 1776 (wie Anm. 36), 3–5 (§§ 1–10). Ebd., 6 (§ 12), 91 (§ 298), 97 (§ 323). 124 Ebd., 7 (§ 17). 125 Ebd., 97 (§ 324). 126 Ebd., 298 (§ 881). 127 Ebd., 305 (§ 899). 128 Ebd., 306 (§ 901), 309 (§ 910). 129 Ebd., 347 f. (§ 971). 130 Ebd., 296 (§ 875): „Wer nach Wolfs Erklärung unter einer Welt sonst nichts als das versteht, der sagt richtig: es ist nur Eine wirkliche Welt möglich“. 131 Ebd., 299 f. (§ 884). 122 123

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und dessen Unterscheidung von bedingter und unbedingter Notwendigkeit,132 seine Auseinandersetzung mit Leibniz, Wolff und Bilfinger hinsichtlich des bei ihnen zu sehr eingeschränkten Geltungsbereiches des Satzes vom Nichtzuunterscheidenden133 und hinsichtlich einzelner Gottesbeweise.134 Den grundlegendsten Unterschied zwischen beiden, Platner und Wolff, spiegeln Aufbau, Stil und Methode der Philosophischen Aphorismen. Die psychologistische Grundierung der theoretischen Philosophie, die Einbettung der Metaphysik in die Physik der Seele, der restringierte Wahrheits- und Erkenntnisanspruch, die gezielte Verwendung des ‘Aphorismus’ sowie das mit Nachdruck geforderte und zum Teil auch erfolgreich praktizierte ästhetisch ansprechende Philosophieren in Schrift und Rede,135 die Zurückweisung des Deduktionismus und des damit verbundenen formalistischen Mathematizismus – all das scheint den Unterschied beider – bei allen auch zu konstatierenden Gemeinsamkeiten – am sinnfälligsten zum Ausdruck zu bringen. Mit Johann August Ernesti und Johann Heinrich Winkler, seinen wichtigsten und bedeutungsvollsten akademischen Lehrern und Mentoren, steht Platner in einer nahezu ungebrochenen Wolffschen Philosophietradition, aus der heraus nicht zuletzt auch seine Frontstellung zur Philosophie Christian August Crusius’ verständlich wird. Wolffs Philosophie bildet damit zugleich den Ausgangspunkt seiner Bemühungen für eine Reformulierung der Schulphilosophie und deren popularphilosophische Neuausrichtung als ‘Philosophie für die Welt’. Solch kritische Auseinandersetzung mit der Wolffschen Philosophietradition wird vornehmlich in methodischer und darstellerisch-struktureller Hinsicht kenntlich. Sprachkritische und begriffsgeschichtliche Methodik einerseits und aphoristische Darstellungsform Ebd., 304 (§ 896). Ebd., 320–322 (§§ 930 f.). 134 Ebd., 262 f. (§ 980 f.). 135 Platner wird nicht müde, Wolffs „trockne[n], kalte[n], schwerfällige[n] Vortrag“ „bei dem Glatten und niedlichen seiner Schreibart“ sowie das Fehlen „einer innigen, warmen Theilnahme an der großen Sache der Welt und des menschlichen Daseyns“ zu beklagen (Platner, Vorlesungen über Ästhetik (1836), 74, 76; vgl. auch ebd., 90, 92). „Er schreibt z.B. vom höchsten Gute, oder von der Bestimmung des Menschen so, daß man wol die vollkommenste und vollständigste Erkenntniß aller Begriffe wahrnimmt, welche zum System gehören; aber Etwas, das aus dem Innern und dem Geiste der Sache herausgeschöpft sey, wird man gewiß nicht wahr“ (ebd., 76). Es sei die „Pflicht eines Lehrers, er trage eine Wissenschaft vor, welche er wolle, den Einfluß derselben auf das Ganze der wirklichen Welt und die menschliche Glückseligkeit zu zeigen [...] und somit der Wissenschaft selbst das Interesse der ganzen Menschheit zu erwerben. Dies ist die Kunst eines wahren Genies, und diese Kunst besaß vorzüglich Leibnitz, der ein universeller Kopf, der, wie sich Bayle ausdrückt, ein unermeßliches Genie war. Er erfand die schwere und wichtige Kunst, alle Kenntnisse und Geschäfte mit den großen Angelegenheiten der Welt und der Menschheit in Verbindung zu bringen“ (ebd., 85). 132 133

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andererseits bilden das Fundament des von Platner in popularphilosophischer Absicht propagierten systematischen und skeptischen Eklektizismus. Together with Johann August Ernesti and Johann Heinrich Winkler, his most important and most considerable academic teachers and mentors, Platner stands in an almost unbroken Wolffian philosophical tradition, which also makes comprehensible his dominance regarding the philosophy of Christian August Crusius. Therefore Wolff’s philosophy can also be seen as the staring point of his attempts to reformulate the Scholasticism and its popular-philosophical direction as a ‘philosophy for the world’. Such a critical occupation with the Wolffian philosophical tradition can mainly be noticed in methodical and representational respects. Linguistic criticism and conceptual-historical methods on the one hand and aphoristic forms of representation on the other hand form the base of the systematic and sceptical eclecticism that has been propagated with popular-philosophical intent by Platner. Dr. Hans-Peter Nowitzki, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Institut für germanistische Literaturwissenschaft, Fürstengraben 18, D-07743 Jena, E-Mail: [email protected]

G IDEON S TIE NING Platners Aufklärung Das Theorem der angeborenen Ideen zwischen Anthropologie, Erkenntnistheorie und Metaphysik

Während Ernst Platner zwischen 1781 und 1782 in die Auseinandersetzung mit Johann Karl Wezel über die Aktualität und Bedeutung der Leibnizschen Theodicee in Leipzig verstrickt ist,1 ziehen sich über Berlin die Gewitterwolken einer anderen, ungleich bekannteren und einflußreicheren Aufklärungsdebatte allmählich zusammen: Ende 1782 wird die Berlinische Monatsschrift ins Leben gerufen, in der ab Ende des Jahres 1783 eine der bedeutendsten Selbstverständigungsdebatten der Aufklärung stattfinden wird, und dies unter Beteiligung der unterschiedlichsten Strömungen der Aufklärungsphilosophien, -wissenschaften und -disziplinen. Bemerkenswert ist nun, daß selbst in der umfangreichen Dokumentation dieser Debatte durch Norbert Hinske2 nicht nur der Autor, sondern gar der Name ‘Ernst Platner’ nicht vorkommt. Überhaupt scheinen sich die seit den 1770er Jahren hervortretenden Anthropologen wie Tetens, Hißmann, Meiners, Tiedemann oder Irving an dieser Debatte der Aufklärung nicht beteiligt zu haben, will man nicht Feder und Garve so halb und halb dazurechnen.3

Vgl. hierzu Johann Karl Wezel, Schriften der Platner-Wezel-Kontroverse, in: J. K. W., Gesamtausgabe in acht Bänden, hg. von Klaus Manger, Bd. 6 (Epistel an die deutschen Dichter, Appelation an die deutschen Dichter, Über Sprache, Wissenschaften und Geschmack der Teutschen, Schriften der Platner-Wezel-Kontroverse, Tros Rutulusve fuit, nullo discrimine habetur), hg. von Hans-Peter Nowitzki, Heidelberg 2006, 259–487. 2 Vgl. hierzu Was ist Aufklärung? Beiträge aus der Berlinischen Monatsschrift, hg. von Norbert Hinske, Darmstadt 41990. 3 Zur Stellung Garves und Feders zu Kant einerseits und der Anthropologie andererseits vgl. Wolfgang Röd, Die Philosophie der Neuzeit 2. Von Newton bis Rousseau, München 1984 (Geschichte der Philosophie, 8), 277–281; Walter C. Zimmerli, „Schwere Rüstung“ des Dogmatikers und „anwendbare Eklektik“, in: Studia Leibniziana XV (1983), 58–71; Siegfried Jaeger, Zum Verhältnis von Aufklärung, Psychologie und Geschichte in Deutschland zur Zeit der Französi1

Aufklärung 19 · © Felix Meiner Verlag 2007 · ISSN 0178-7128

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Dieser Befund ist sehr aufschlußreich: Denn Platner entwickelt sehr wohl – zumindest in seinen späteren Schriften – einen elaborierten Begriff von ‘Aufklärung’, der sich in spezifischer Weise auf diese Debatte bezieht und dennoch einen eigenständigen Standpunkt konturiert. In den folgenden Passagen seiner Moralphilosophie, d.h. im zweiten Teil seiner Philosophischen Aphorismen in beiden Auflagen (1782 und 1800), hat Platner dieses Aufklärungsverständnis entwickelt, das eng an eine rationale Moralitätskonzeption angeschlossen ist: „Die höhere Tugend wird befördert durch die Aufklärung, die niedere durch Rührung; beyde durch Gewohnheit und Uebung“.4 Im Zusammenhang eines von Platner entworfenen „Systems der moralischen Vernunft“ wird der Begriff erneut aufgenommen: Zu den geistigen Vergnügen [als Art der Glückseligkeit, der Bestimmung des Menschen] gehören folgende angenehme Empfindungen: 1) die Seligkeiten des Denkens und Nachdenkens in der mannichfaltigen Abwechslung, Verbindung, Zergliederung und Aufklärung der Ideen und das damit verbundene selbstschmeichelnde Gefühl des Scharfsinnes, des Witzes und überhaupt der Verstandeskraft; sowohl bey der einsamen Beschäfftigung des Geistes, als auch in dem Umgange mit aufgeklärten Menschen.5

In der zweiten Auflage dieses Teils der Aphorismen aus dem Jahre 1800 werden die Ausführungen Platners zur ‘Aufklärung’ allerdings erheblich differenzierter; hier heißt es im Kapitel über „Ideen zu einer Geschichte der Moralität des Menschengeschlechts; in Rücksicht auf Antimoralismus“, das eine in sechs Abschnitten typologisierte Geschichtstheorie ausführt: VI. Stand der Aufklärung. Davon ist, auch in den gebildeten Völkern, mehr nicht vorhanden, als die kaum richtig gefaßte Idee. Der Stand der Aufklärung wäre, in einem Volke, der unumschränkte Einfluß religiöser Begriffe, von dem Zwecke der Welt und des menschlichen Daseyns, über alle Einrichtungen des bürgerlichen und häuslichen Lebens; allgemeine Schätzung der Menschenrechte, und Abscheu vor allen Verfassungen und Handlungen, welche dieselben verletzen; Ungestattlichkeit eines unverhältnismäßigen Reichthums, der vom Raube herstammt, und, unter dem Schutze der Verjährung, der Armuth Hohn spricht; gänzliche Vertilgung des Rang- und Hoheitsstolzes; weder Despotismus, noch Empörungsgeist: bürgerliche Oberherrschaft ohne Geiz und Hoffart, durchaus behandelt als ein Mittel der allgemeinen Glückseligkeit und Tugend; bürgerlicher Gehorsam ohne Sklavensinn, geleistet aus Liebe zur Pflicht; Religion ohne

schen Revolution, in: Studies in the History of Psychology and Social Science 5 (1988), 165–182; Reinhard Brandt, Feder und Kant, in: Kant-Studien 80 (1989), 249–264; Jan Rachold, Die aufklärerische Vernunft im Spannungsfeld zwischen rationalistisch-metaphysischer und politischsozialer Deutung. Eine Studie zur Philosophie der deutschen Aufklärung (Wolff, Abbt, Feder, Meiners, Weishaupt), Berlin, New York u.a. 1999, 199–215. 4 Ernst Platner, Philosophische Aphorismen. Anderer Theil, Frankfurt, Leipzig 1782, 281 (§ 614). 5 Ebd., 40 (§ 100); vgl. auch ebd., 128 (§ 308).

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Aberglaube; Philosophie ohne Unglauben; patriarchalische Einfachheit der Lebensweise; gänzliche Entfernung des Luxus; Leitung des Geschmacks durch den Natursinn; Menschen- und Geschöpfliebe bis zur Schwärmerey; Betrachtung des Lebens aus dem Gesichtspunkte des Todes; und des Todes aus dem Gesichtspunkt der Unsterblichkeit: Mit wenigen Worten: Wahres, reines, thätiges Christentum.6

Ohne dieses moral- und religionspolitische Ideal, das Platner unter Verwendung des Begriffs „Aufklärung“ als zukünftiger Epoche des Menschengeschlechts hier entwirft, ausdeuten zu müssen, wird doch ersichtlich, daß der Leipziger Philosoph und Mediziner einen reflektierten Aufklärungsbegriff entwickelt, der in der Aufnahme der 1783er Debatte zugleich die seit dem Wöllnerschen Religionsedikt von 17887 vorherrschende und in den 1790er Jahren wirksame Aufklärungskritik zu konterkarieren unternimmt durch die Verknüpfung der Aufklärung als Stadium der Menschheitsentwicklung mit der Realisation der Werte einer religiös fundierten Moral. Unabhängig von der zeitgenössischen Aktualität des Platnerschen Aufklärungsverständnisses ist allerdings festzuhalten, daß diese Entwürfe sowohl 1782 als auch 1800 mit dem anthropologischen Programm, das Platner in den 1770er Jahren inauguriert und in erneuerter Form im Jahre 1790 entfaltet hatte, nichts zu tun hat. Vom commercium mentis et corporis, vom ‘ganzen Menschen’ oder einer Vermittlung von Medizin und Philosophie ist an dieser aufklärungstheoretischen Passage nichts zu vernehmen. Dieser Sachverhalt ist aus der Eigenperspektive der Epoche wenig überraschend, verbanden die Zeitgenossen mit dem Begriff der Aufklärung doch vor allem Fragen der praktischen, d.h. der Moral- und Religionstheorie bzw. der Geschichts- und der politischen Philosophie.8 Aussagekräftig wird diese für Platner selbstverständliche Distinktion zwischen anthropologischen und aufklärungstheoretischen Überlegungen allerdings aus einer forschungsgeschichtlichen Perspektive: Denn die Erforschung der anthropologischen Konzepte und Programmentwürfe der Spätaufklärung, die ausgehend von den Studien Hans-Jürgen Schings’9 in

Ernst Platner, Philosophische Aphorismen nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte. Ganz neue Ausarbeitung. Anderer Theil II, Leipzig 1800, 440 f. (§ 759 f.). 7 Zur gegenaufklärerischen Stoßrichtung dieses Edikts vgl u.a. Dirk Kemper, Obskurantismus als Mittel der Politik. Johann Christoph Wöllners Politik der Gegenaufklärung am Vorabend der Französischen Revolution, in: Christoph Weiß, Wolfgang Albrecht (Hg.), Von ‘Obscuranten’ und ‘Eudämonisten’. Gegenaufklärerische, konservative und antirevolutionäre Publizisten im späten 18. Jahrhundert, St. Ingbert 1997, 193–220. 8 Vgl. u.a. Horst Stuke, Art. Aufklärung, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. von Otto Brunner, Werner Conze, Reinhard Koselleck, Stuttgart 1974 ff., Bd. 1, 243–342. 9 Hans-Jürgen Schings (Hg.), Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposion 1991, Stuttgart, Weimar 1994. 6

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den letzten 15 Jahren insbesondere in den literatur- und kulturwissenschaftlichen Fächern ausführlicher bearbeitet wurden,10 legt die Frage nach Platners Aufklärungskonzeption allererst nahe. Das Gros dieser Forschung behauptet nämlich keineswegs, einen bisher ausgesparten Bereich der empiristisch fundierten Aufklärungstheorien nunmehr in helleres Licht zu rücken. Beansprucht wird vielmehr, ein neues Paradigma der Aufklärungsforschung anhand anthropologischer Theorien entwickelt zu haben. Mit der Fokussierung auf die Anthropologie der Spätaufklärung sei ein lange Zeit „verlorenes“, nunmehr aber „wieder gewonnenes Paradigma der Aufklärung“ zu erfassen;11 eine These, die in der Formel von einer „Anthropologischen Wende der Aufklärung als Selbstaufklärungsprozeß der Aufklärung“ gebündelt wird.12 Als entscheidende Momente dieses neuen Paradigmas werden die „Empirisierung der Psychologie“ durch „Physiologisierung der Seele“13 und damit die Grundlegung allen Denkens und Handelns im Commercium mentis et corporis benannt.14 In diesem durch „Naturalisierung, Empirisierung und Historisierung“,15 vor allem aber durch eine allgemeine empirische Szientifizierung charakterisierten denkgeschichtlichen Prozeß der Aufklärung zu sich selbst nehme Platners Anthropologie für Ärzte und Weltweise von 1772 eine

Zur Forschung bis 1994 vgl. Wolfgang Riedel, Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. 6. Sonderheft, 1994, 93–157; für die enorm angewachsene Forschung seit Mitte der 1990er Jahre gibt es bislang keinen Forschungsbericht oder auch nur eine Bibliographie, Ansätze einer systematisierenden Übersicht bei Gideon Stiening, Ein „Sistem“ für den „ganzen Menschen“. Zum anthropologischen Argument bei Johann Karl Wezel, in: Dieter Hüning, Karin Michel, Andreas Thomas (Hg.), Aufklärung durch Kritik. Festschrift für Manfred Baum, Berlin 2004, 113–139, hier 113–125; angekündigt ist zudem Yvonne Wübben, Aufklärungsanthropologien im Widerstreit? Probleme und Perspektiven der Anthropologieforschung am Beispiel von Hans-Peter Nowitzkis „Der wohltemperierte Mensch“, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 1 (2007). 11 So u.a. Carsten Zelle, Johann August Unzers Gedanken vom Träumen (1746) im Kontext der Anthropologie der vernünftigen Ärzte in Halle, in: Jörn Garber, Heinz Thoma (Hg.), Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung: Anthropologie im 18. Jahrhundert, Tübingen 2004, 19– 30, besonders 19. 12 Vgl. eine der ambitioniertesten Arbeiten mit dieser These von Tanja van Hoorn, Dem Leibe abgelesen. Georg Forster im Kontext der physischen Anthropologie des 18. Jahrhundert, Tübingen 2004. 13 Wolfgang Riedel, Erster Psychologismus. Umbau des Seelenbegriffs in der deutschen Spätaufklärung, in: Garber, Thoma (Hg.), Anthropologie im 18. Jahrhundert (wie Anm. 11), 1–17. 14 Vgl. hierzu schon in hernach selten erreichter Präzision: Jutta Heinz, Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung, Berlin, New York 1996, 50. 15 Vgl. Heinz Thoma, Anthropologische Konstruktion, Wissenschaft, Ethik und Fiktion bei Diderot, in: Garber, Thoma (Hg.), Anthropologie im 18. Jahrhundert (wie Anm. 11), 145–176, hier 148. 10

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prominente Rolle ein. Denn trotz einer gewichtigen Vorgeschichte16 bildet erst dieser Text und seine häufig zitierte Vorrede den Kristallisationspunkt für eine die physische Anthropologie zur Fundamentalwissenschaft erhebenden wissenschafts- und philosophiegeschichtlichen Entwicklung, die als Vorgeschichte der Entstehung einer empirisch-experimentellen, mathematisch-physikalischen Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts interpretiert wird.17 Unabhängig von der erheblichen Problematik der Thesen zu einer ‘Wende der Aufklärung’ und der zu einer longue durée der Wirkungen aufklärerischer Anthropologie18 kann konstatiert werden, daß Platners erste Anthropologie in den 1770er Jahren einen Reflexionsprozeß in Gang setzt, der sich u.a. in den großen anthropologischen Entwürfen von Meiners und Hißmann, von Irving und Tiedemann und noch von Wezel, Forster oder Metzger realisiert und der schon Ernst Cassirer davon sprechen ließ, daß die Aufklärung nach Wolff dazu tendiert habe, „die Logik, die Moral, die Theologie in bloße Anthropologie aufzulösen“.19 Daß sich diese Debatte nach dem Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft 1781 und den von Kant ausgetragenen Kämpfen gegen wichtige Protagonisten der Anthropologie20 durchaus

Zu dieser – keineswegs unproblematischen, weil an einem nur kleinen Textkorpus verifizierten – These einer Vorverlagerung der anthropologischen Wende der Aufklärung vgl. Gabriele Dürbeck: Einbildungskraft und Aufklärung. Perspektiven der Philosophie, Anthropologie und Ästhetik um 1750, Tübingen 1998, sowie Carsten Zelle, „Zwischen Weltweisheit und Arzneiwissenschaft“. Zur Vordatierung der anthropologischen Wende in die Frühaufklärung nach Halle, in: Reinhard Bach, Roland Desné, Gerda Haßler (Hg.), Formen der Aufklärung und ihrer Rezeption, Tübingen 1999, 35–44; C. Z. (Hg.), Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung, Tübingen 2001; C. Z., ‘Vernünftige Ärzte’. Hallesche Psychomediziner und Ästhetiker in der anthropologischen Wende der Frühaufklärung, in: Walter Schmitz, C. Z. (Hg.), Innovation und Transfer. Naturwissenschaft, Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, Dresden 2004, 47–62. 17 So die ideengeschichtlich bedenkliche Konstruktion u.a. bei Wolfgang Riedel, Erkennen und Empfinden. Anthropologische Achsendrehung und Wende zur Ästhetik bei Johann Georg Sulzer, in: Schings (Hg.), Der ganze Mensch (wie Anm. 9), 410–439, hier 411 ff.; Hans-Peter Nowitzki, Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien im Widerstreit, Berlin, New York 2003, oder auch Wolfgang Riedel, Erster Psychologismus (wie Anm. 13), 16 f. 18 Zur Kritik hieran vgl. Stiening, Ein „Sistem“ (wie Anm. 10), 123 f. 19 Ernst Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, Tübingen 31973, 155. 20 Zu Kants aktiver und bewußt hergestellter Auseinandersetzung mit den deutschsprachigen Vertretern des Empirismus, wie Feder, Garve, Herder, Forster, Soemmerring, Metzger oder Schiller vgl. u.a. Ernst Cassirer, Kants Leben und Lehre, Darmstadt 21994, 232 ff.; Manfred Riedel, Historizismus und Kritizismus. Kants Streit mit G. Forster und J. G. Herder, in: M. R., Urteilskraft und Vernunft. Kants ursprüngliche Fragestellung, Frankfurt am Main 1989, 148–170; Wolfgang Pross, „Ein Reich unsichtbarer Kräfte“. Was kritisiert Kant an Herder?, in: Scientia Poetica 1 (1997), 62–119; van Hoorn, Dem Leibe abgelesen (wie Anm. 12), 85–176; in bezug auf die Auseinandersetzung mit Soemmerring vgl. die präzise Rekonstruktion durch Werner Euler, Die 16

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verändert,21 soll im vorliegenden Zusammenhang von geringerem Interesse sein. Wichtiger ist, daß sich der seit den 1750er Jahren durch Hume, Hartley und Priestley, durch Bonnet, Condillac und Voltaire,22 aber auch Sulzer, die Thomasius-Schule oder Krüger forcierte Prozeß einer empiristischen Fundierung nicht nur der Erkenntnistheorie, sondern auch der Naturtheorie und der Anthropologie in den 1770er Jahren verstärkt beobachten läßt, wenngleich dieser Prozeß keineswegs ‘die Aufklärung’ wendet.23 Auch wenn ein einflußreicher Autor wie Johann Nicolas Tetens in seinen Versuchen über die Natur des Menschen einer physikalistischen Interpretation der Anthropologie kritisch gegenübersteht,24 bleibt eine weitgehend empiristische Erkenntnistheorie ein auch bei ihm unbestrittenes Fundament seiner Anthropologie.25

Suche nach dem „Seelenorgan“. Kants philosophische Analyse einer anatomischen Entdeckung Soemmerrings, in: Kant-Studien 93 (2002), 453–480. 21 Vgl. hierzu u.a. Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Berlin 31922 (Nachdruck Darmstadt 1991), Bd. 2, 393 ff.; Falk Wunderlich, Kant und die Bewußtseinstheorien des 18. Jahrhunderts, Berlin, New York 2005, 122 ff.; Wolfgang Röd, Die Philosophie der Neuzeit 3. Teil 1: Kritische Philosophie von Kant bis Schopenhauer , München 2006 (Geschichte der Philosophie, 9.1), 13 ff. 22 Zum expliziten Anti-Innatismus dieser Autoren vgl. Kenneth P. Winkler, Perception and Ideas, Judgement, in: Knud Haakonssen (Hg.), The Cambridge History of Eighteenth-Century Philosophy, Bd. 1, Cambridge 2006, 234–285, hier 249 ff.; zur hieraus erwachsenden Anthropologie in der englischsprachigen Philosophie vgl. Aaron Garret, Anthropology: the ‘original’ of human nature, in: Alexander Broadie (Hg.), The Cambridge Compendium to the Scottish Enlightement, Cambridge 2003, 79–93. 23 Vgl. hierzu das hinsichtlich der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte zwischen Wolff und Kant nach wie vor unverzichtbare siebte Buch von Cassirer, Erkenntnisproblem (wie Anm. 21), 391–582, sowie die Studie von Marion Heinz, Sensualistischer Idealismus. Untersuchungen zur Erkenntnistheorie und Metaphysik des jungen Herder (1763–1778), Hamburg 1994. 24 Vgl. hierzu die deutlichen, auf Platners Anthropologie von 1772 zu beziehenden Worte in Johann Nicolas Tetens, Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung, hg. vom Wilhelm Ueberle, Berlin 1913 (EA 1777), IV: „Was man in der neueren Psychologie die a n a l y t i s c h e, auch wohl die a n t h r o p o l o g i s c h e Methode nennet, ist ein hievon ganz unterschiedenes Verfahren. Man betrachtet die Seelenveränderung von der Seite, da sie etwas in dem G e h i r n, als dem innern Organ der Seele sind, und sucht sie als solche Gehirnsbeschaffenheiten und Veränderungen zu erklären. Der Materialist löst alle Körperveränderungen auf, die eine Folge der innern Organisation sind; die m e c h a n i s c h e n Psychologien unterscheiden zwar die unkörperliche Seele, das Ich, von dem körperlichen Organ, und lassen auf jener ihren eigenen Antheil an den Seelenäußerungen, der von dem Antheil, den das Organ daran hat, verschieden ist; aber es geht doch bey ihren Analysen eben sowohl, als bey den Erklärungen der erstern alles dahin, zu zeigen, wie weit Fühlen, Vorstellen, Bewußtseyn, Denken, Lust, Unlust, Wollen, Thun, nicht nur von der Organisation des Gehirns abhängen, sondern selbst in Veränderungen und Beschaffenheiten desselben bestehen“. 25 Vgl. hierzu u.a. Cassirer, Erkenntnisproblem (wie Anm. 21), 567 ff.; Hans Ulrich Baumgarten, Kant und Tetens. Untersuchungen zum Problem von Vorstellung und Gegenstand, Stuttgart

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Nun durchläuft aber ausgerechnet Ernst Platner im Hinblick auf die erkenntnistheoretischen Momente seines anthropologischen Konzepts eine Entwicklung, die ihn ausgehend von einem Empirismus Lockescher Prägung spätestens in den 1780er Jahren zu einem spezifischen Leibnizianismus führt.26 Aus der Perspektive der Forschungen zur sogenannten ‘anthropologischen Wende der Aufklärung’ kehrte Platner damit zu einem „obsoleten“ rationalistischen Paradigma zurück.27 Will man die Gründe dieses Vorgangs nicht auf die Idiosynkrasie eines metaphysisch verirrten Anthropologen zurückführen, dann muß man zur Rekonstruktion der von Platner mehr implizit angeführten Gründe in der anthropologischen Sache sowie zum Einbezug des philosophiegeschichtlichen Kontextes übergehen. Beide Perspektiven werden eröffnen, wie wenig die normativ überlagerte These von einer ‘anthropologischen Wende der Spätaufklärung’ der epistemischen Situation28 der 1770er und noch der 1780er Jahre gerecht zu werden vermag.29 Im folgenden wird an einigen Passagen aus der ersten und zweiten Auflage der Platnerschen Anthropologie, der ersten, zweiten und dritten Auflage des ersten Teils seiner Philosophischen Aphorismen sowie beiden Auflagen des zweiten Teils dieses Kompendiums zu zeigen sein, daß man wichtige erkenntnistheoretische Grundlegungen der Platnerschen Konzeption und ihre werkgeschichtlichen Veränderungen in eine klassische Problematik der vorkantischen Aufklärungstheorie integrieren kann und muß. Es wird sich erweisen, daß diese

1992; Christian Hauser, Selbstbewußtsein und personale Identität. Positionen und Aporien ihrer vorkantischen Geschichte, Locke, Leibniz, Hume und Tetens, Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, 124– 151; Wunderlich, Kant und die Bewußtseinstheorien (wie Anm. 21), 69–81; Alexei N. Krouglov, Der Begriff transzendental bei J. N. Teten. Historischer Kontext und Hintergründe, in: Aufklärung 17 (2005), 35–75, sowie Jürgen Engfer, Einleitung, in: Johann Nicolas Tetens, Die philosophischen Werke, Bd. 3: Kleine Schriften, Teil 1, hg. von Jürgen Engfer, Hildesheim, Zürich, New York 2005, XV-XLI. 26 Zu diesem bekannten ideengeschichtlichen Phänomen vgl. schon – allerdings ohne Rekonstruktion der argumentationslogischen und systematischen Beweggründe Platners – Ernst Bergemann, Ernst Platner und die Kunstphilosophie des 18. Jahrhunderts, Leipzig 1913, sowie Nowitzki, Aufklärungsanthropologien im Widerstreit (wie Anm. 17), 165–249. 27 So u.a. Wolfgang Riedel, Die anthropologische Wende: Schillers Modernität, in: Jörg Robert (Hg.), Würzburger Schiller-Vorträge 2005, Würzburg 2007, 1–24; differenzierter dazu Winkler, Perception and Ideas (wie Anm. 22), 249 ff. 28 Zur leitenden historiographischen Funktion des Begriffs der ‘epistemischen Situation’ für eine weder historistische noch teleologische und doch kontinuitätskonstituierte Wissens- und Wissenschaftsgeschichte vgl. Lutz Danneberg, Epistemische Situationen, kognitive Asymmetrien und kontrafaktische Imaginationen, in: Lutz Raphael, Heinz-Elmar Tenorth (Hg.), Ideen als geschichtliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte, München 2006, 193–221. 29 Vgl. die unaufgeregtere Darstellung bei Cassirer, Aufklärung (wie Anm. 19), 123–177.

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Problemlage, die sich an Platners Stellung zum Theorem der „angeborenen Ideen“ rekonstruieren läßt, durch das Spannungsverhältnis zwischen Empirismus und Rationalismus konstituiert wird,30 und dies sowohl in epistemologischer als auch in anthropologischer und allgemein metaphysischer Hinsicht. Platners Stellung zum und im Streit um die angeborenen Ideen wird die nahezu ungebrochene Wirksamkeit der zwischen Locke und Leibniz ausgetragenen Kontroverse31 noch bis in die 1790er Jahre verdeutlichen sowie die Grundlegung des ‘anthropologischen Arguments’ in dieser vorkantischen Problemlage.

I. Platners Locke: Der strenge Anti-Innatismus der ‘Anthropologie’ von 1772 In der ersten Auflage der Anthropologie von 1772 liefert Platner im ersten Abschnitt des zweiten Hauptstückes, das seine Ansichten zur Erzeugung der Ideen abhandelt, eine ausführliche Begründung für eine Widerlegung der Theorien von den angeborenen Ideen: Alle Ideen entstehen zuerst durch die sinnliche Empfindung. Die Seele hat in sich selbst weder angebohrne Begriffe, noch Gedanken. Alles dieses erwirbt sie sich durch die Erfahrung. Die ewigen Vernunftwahrheiten, der Satz des Widerspruches, von der Ursache und Wirkung, sind keine angebohrnen Begriffe. Die Einsicht der Einstimmung und des Widerspruchs entsteht aus der Erfahrung, indem der Mensch wahrnimmt daß das was ist, wirklich ist, und eben deswegen nicht auch zugleich nicht ist. Diese Einsicht wird nicht eher wirklich, als bis der Mensch angefangen hat zu empfinden und zu

Vgl. hierzu schon die Ausführungen von Cassirer, Erkenntnisproblem (wie Anm. 21), 533; insofern kann und muß an der in jüngerer Zeit in Frage gestellten systematischen Unterscheidung zwischen Empirismus und Rationalismus (vgl. Hans-Jürgen Engfer, Empirismus versus Rationalismus? Kritik eines philosophischen Schemas, Paderborn 1996, sowie Dominik Perler, Was ist ein frühneuzeitlicher Text? Kritische Überlegungen zum Rationalismus/Empirismus-Schema, in: Helmut Puff, Christoph Wild (Hg.), Zwischen den Disziplinen? Perspektiven der Frühneuzeitforschung, Göttingen 2003, 55–80) gerade deshalb als heuristischer Distinktion festgehalten werden, weil sich in ideengeschichtlicher Hinsicht diese Systeme nur in Mischformen zeigen; in welcher Weise und aus welchen Gründen diese vor Kant einen echten Vermittlungscharakter entbehrenden Verknüpfungen gestaltet werden, kann nur unter Beibehaltung der systematischen Distinktion rekonstruiert werden, vgl. hierzu Michael Ayers, Theories of Knowledge and Belief, in: Daniel Garber, M. A. (Hg.), The Cambridge History of Seventennth-Cenrury Philosophy, Cambridge 1998, 1003–1061, hier 1028 ff. 31 Zur epistemologischen und metaphysischen Systematik dieser Kontroverse vgl. Marcel Weber, Über die Vergleichbarkeit metaphysischer Systeme: Der Fall Leibniz kontra Locke, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 59 (2005), 202–222. 30

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denken. So lange die Seele keine Gegenstände der Gedanken hat, solange hat sie zu dieser Einsicht bloß die Kraft. […]. Der Begriff von der Gottheit ist nicht angebohren.32

Platner führt hier eine konsequente Anwendung des empiristischen Grundsatzes nihil est in intellectu quod non prius fuerit in sensu vor,33 weil er dessen Gültigkeit auch für die „ewigen“ Vernunftwahrheiten, den Satz des Widerspruches und den Satz des Grundes, der hier in seiner Konkretisierung als Satz der Kausalität firmiert,34 aus der Erfahrung ableitet. Die durch Anleihen beim Humeschen Gewöhnungskonzept35 begründete Universalität des Kausalitätsprinzips ermöglicht es darüber hinaus, auch den Gottesbegriff auf Erfahrung zurückzuführen. Platners Argumentation wider die Thesen von der Angeborenheit von Begriffen, Ideen oder Grundsätzen ist in ihrer grundlegenden Anbindung an die schon im 18. Jahrhundert berühmten Lockeschen Ausführungen unverkennbar.36 Schon für Locke konnten weder die allgemeinsten „spekulativen Prinzipien“37 noch der Gottesbegriff38 angeboren sein, sondern mußten aus der Erfahrung gewonnen werden. Selbst Platners Präzisierung seiner Position, zwar sei weder ein Begriff noch eine Idee oder gar ein Grundsatz angeboren, dennoch müsse eine „angebohrne Kraft, das Einstimmende und Widersprechende einzusehen“, angenommen werden, die er als allgemeine „Kraft zum Denken“ bestimmt,39 bewegt sich vollständig auf dem Boden des Lockeschen Systems. Auch Locke hatte bei aller Zurückweisung angeborener Ideen oder Prinzipien

Ernst Platner, Anthropologie für Aerzte und Weltweise. Erster Theil, Leipzig 1772, 50 (§§ 180–183). 33 Zum mittelalterlichen Ursprung dieser bis in der Aufklärung wirkungsmächtigen Formel vgl. Paul F. Cranefield, On the Origin of the Phrase nihil est in intellectu quod non prius fuerit in sensu, in: Journal of the History of Medicine 25 (1970), 77–80. 34 Diese unmittelbare Identität von Grund und Ursache ist insofern bemerkenswert, als Platner die von Crusius schon 1745 vorgetragene Begründung für eine notwendige Unterscheidung zwischen Grund und Ursache (vgl. hierzu Cassirer, Erkenntnisproblem [wie Anm. 21], 550 ff.) offenbar unberücksichtigt läßt. Zur gleichwohl wichtigen Crusius-Rezeption Platners vgl. Nowitzki, Aufklärungsanthropologien im Widerstreit (wie Anm. 17), 185 ff. 35 Vgl. Platner, Anthropologie 1772 (wie Anm. 32), 51 (§ 183): „Diese [die Erfahrung] lehrt, daß alles was geschieht allezeit durch eine vorhergegangene Ursache geschieht; hierdurch lernt der Mensch sich daran zu gewöhnen, keine Wirkung ohne Ursache zu denken“. Zur HumeRezeption Platners (auch im Hinblick auf diese Stelle) vgl. den Beitrag von Falk Wunderlich in diesem Band. 36 Vgl. hierzu auch Hartmut Brands, Untersuchungen zur Lehre von den angeborenen Ideen, Meisenheim 1977, 50 ff. 37 Vgl. John Locke, Versuch über den menschlichen Verstand, Hamburg 41981, Bd. 1, 30 (I, 1, 4) sowie 81 ff. (I, 3, 3 ff.) 38 Ebd., 84 ff. ( I, 3, 8 ff.). 39 Platner, Anthropologie 1772 (wie Anm. 32), 34 (§ 124), 50 (§ 182), 188 f. (§ 561). 32

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festgehalten: „Denn niemand hat, denke ich, jemals bestritten, daß der Geist fähig ist, verschiedene Wahrheiten zu erkennen. Die Fähigkeit, so sagt man, sei angeboren, die Kenntnis sei erworben“.40 Und schon Locke hatte diese Fähigkeit als eine „der uns von Natur verliehenen Kräfte“ näherhin bestimmt.41 Angeboren ist also nach Locke und Platner die „Kraft zu Denken“ als allgemeines Vermögen des Identifizierens und Unterscheidens; dieser ‘dispositionelle Innatismus’42 führt jedoch keineswegs einen systematischen Apriorismus aus, weil für Locke wie für Platner alle Inhalte des Wissens aus der Erfahrung gewonnen werden müssen und die Dispositionen zu ihrer Realisation entweder auf Gott oder auf die Natur zurückzuführen sind.43 Neben dieser grundlegenden Gemeinsamkeit Platners mit der Lockeschen Position gibt es allerdings auch wichtige Unterschiede zu verzeichnen. So sind für Locke insbesondere der Satz der Identität und der Satz des Widerspruches bzw. die Ideen der „Unmöglichkeit“ und der „Identität“ oberste spekulative Prinzipien,44 während für Platner der Satz des Widerspruches und der Satz des Grundes in seiner Spezifizierung als Satz der Kausalität diesen Status oberster Grundsätze einnehmen. Dabei läßt sich präzise zeigen, daß sich Platner über die Tragweite dieser dem Rationalismus zutendierenden Ausführungen vollauf bewußt ist: Im fünften Hauptstück der Anthropologie von 1772, das „Von der Vernunft und ihren verschiedenen Aeusserungen“ handelt, wird der Satz des Widerspruches als Einsicht in die Aehnlichkeit und Verschiedenheit mit der Vernunft schlechthin identifiziert45 und aus diesem Grundsatz der Satz des zureichenden Grundes in seiner universalen Geltung abgeleitet. Ausdrücklich spricht Platner davon, daß „ohne innern oder äußern Grund nichts möglich“ sei,46 daß aber „der Satz des zureichenden Grundes, so wenig als irgend ein anderer, ein oberster Grundsatz der Vernunft ist, weil sich außer jenem einzigen

Locke, Versuch über den menschlichen Verstand (wie Anm. 37), 32 (I, 1, 5). Ebd., 102 (I, 3, 23); vgl. auch Engfer, Empirismus versus Rationalismus (wie Anm. 30), 184 ff. 42 Vgl. hierzu auch Rainer Specht, Über Angeborene Ideen bei Locke, in: Udo Thiel (Hg.), John Locke, Essay über den menschlichen Verstand, Berlin 1997 (Klassiker auslegen, 6), 39–63. 43 Sowohl hinsichtlich des von ihm abgelehnten propositionellen Innatismus als auch hinsichtlich des dispositionellen Innatismus bedient sich Locke der Natur und Gottes als Verursachungsinstanz; vgl. Locke, Versuch über den menschlichen Verstand (wie Anm. 37), 45 (I, 1, 22) mit ebd., 57 (I, 2, 6), insb. ebd., 89 (I, 3, 12): „An Güte aber hat es Gott den Menschen gegenüber auch ohne solche ursprünglichen Eindrücke der Erkenntnis oder solche in den Geist eingeprägten Ideen nicht fehlen lassen; denn er hat den Menschen mit jenen Fähigkeiten ausgestattet, die zur hinlänglichen Entdeckung aller Dinge dienen, die um ein solches Wissen notwendig sind“. 44 Ebd., 32 (I, 1, 5) sowie 81 (I, 3, 3). 45 Platner, Anthropologie 1772 (wie Anm. 32), 186 (§ 555). 46 Ebd., 188 (§ 560) 40 41

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(d.i. dem Satz des Widerspruches) keiner denken läßt“.47 Platner ist sich also nicht nur über die fundierende Stellung des Satzes vom Widerspruch im klaren (der gleichwohl aus der Erfahrung gewonnen werden soll), er legt zudem eine ebenso unlockesche wie antileibnizianische Begründung für ein Ableitungsverhältnis vom Satz des Grundes aus dem Satz des Widerspruches vor, die vielmehr den Wolffschen Überlegungen entsprechen.48 Hegel hat diese rationalistische Ableitungstheorie im Hinblick auf Jacobi in die zutreffende Formel gefaßt, Jacobi begreife „nämlich den Satz des Grundes als reinen Satz des Widerspruches“,49 weil schon jede Widerspruchsfreiheit der Grund der Möglichkeit der Existenz einer Entität enthalte.50 Diesen logisch-ontologischen Kurzschluß zieht auch Platner: „Was dem Satze des Widerspruches entgegen ist, das ist nicht unbegreiflich, sondern unmöglich“.51 Ähnliches hatte zwar auch Locke behauptet,52 aber daraus keineswegs den Umkehrschluß gezogen, wonach jede widerspruchsfrei bestimmte Entität notwendig existiert; erst die Ableitung des Satzes vom Grunde aus dem Satz des Widerspruchs erlaubt diese Engführung. Auf empiristischen Grundlagen ist diese Ableitung aber schlechterdings unmöglich, weshalb sich Locke solcher Spekulationen auch enthält; für ihn ist das Kausalitätsprinzip Produkt von Erfahrungsakkumulationen und dessen Verhältnis zum Satze des Grundes ebenso unerheblich wie unabhängig vom Satz des Widerspruchs.53 Auch Leibniz hatte eine Gleichursprünglichkeit des Satzes vom Widerspruch und des Satzes vom Grunde angenommen, deren

Ebd., (§ 561). Zu dieser spezifisch Wolffschen „Rückführung des Satzes vom zureichenden Grunde auf das Nonkontradiktionsprinzip“ (Lothar Kreimendahl, Christian Wolff, Einleitende Abhandlung über Philosophie im allgemeinen [1728], in: L. K., Hauptwerke der Philosophie. Rationalismus und Empirismus, Stuttgart 1994, 215–246, hier 240); vgl. Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und auch der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt [Deutsche Metaphysik], Halle 1751, 16 ff. (§ 30 ff.). Vgl. dazu schon Cassirer, Erkenntnisproblem (wie Anm. 21), 546 ff., sowie Ludger Honnefelder, Scientia transcendens. Die Formale Bestimmung der Seiendheit und Realität in der Metaphysik des Mittelalters und der Neuzeit, Hamburg 1990, 295 ff. 49 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie, in: G: W. F. H., Werke in 20 Bänden, hg. von Karl Markus Michel und Eva Moldenhauer, Frankfurt am Main 1986, Bd. 2, 287–433, hier 336. 50 Vgl. hierzu auch Gideon Stiening, Substanz und Grund bei Spinoza, in: Dieter Hüning, G. S., Ulrich Vogel (Hg.), Societas rationis. Festschrift für Burkhard Tuschling zum 65. Geburtstag, Berlin 2002, 61–82. 51 Platner, Anthropologie 1772 (wie Anm. 32), 191 (§ 567). 52 Locke, Versuch über den menschlichen Verstand (wie Anm. 37), 81 (I, 3, 3). 53 Ebd., 404–408 (II, 26). 47 48

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Gültigkeit aber rein rational begründet.54 Es sind ausschließlich Christian Wolff und seine Schule, die jenes Ableitungsverhältnis vortrugen, das auch Platner annimmt.55 Zugleich gegen Wolff und mit Locke hält Platner aber ausdrücklich an der These fest, der Satz des Widerspruches als oberster Grundsatz der Vernunft sei aus der Erfahrung gewonnen; und so kann er bündig resümieren: Die angebohrenen Begriffe sind etwas ganz willkürlich ohne Erfahrung und Grund angenommenes. Ohne Erfahrung, denn niemand ist sich dieser Begriffe bewußt. Ohne Grund, denn wenn diese Begriffe ohne das Zeugnis der Erfahrung angenommen werden können, so müssen sie a priori aus dem Wesen der Seele erweislich seyn. Aber unsere Erkenntnis von dem Wesen der Seele beruht ganz auf der Erfahrung.56

Daher sind – so Platner abschließend – „alle darauf [auf das Theorem der angeborenen Ideen] gebaute Systeme von der menschlichen Seele falsch“.57 Wie selbstverständlich also verknüpft Platner das Lockesche Fundament seiner Erkenntnis- und Vermögenslehre mit Wolffschen Deduktionen einer rationalen Grundsatzlehre und liefert damit eine für die 1770er Jahre typische – letztlich inkohärente – ‘Kombination’ empiristischer und rationalistischer Konzeptionselemente,58 die mit den Begriffen Eklektizismus oder Synkretismus nur äußerlich beschrieben,59 nicht aber weiter analysiert werden. Entscheidend ist nämGottfried Wilhelm Leibniz, Die „Monadologie“, in: G. W. L., Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, hg. von Ernst Cassirer, Hamburg 31966, Bd. 2, 435–456, hier 443 (§ 31, 32); vgl. hierzu u.a. Jürgen Mittelstraß, Die Begründung des principium rationis sufficientis, in: Studia Leibnitiana, Supplementa III (1969): Akten des Internationalen Leibniz-Kongresses in Hannover 1966, Bd. 3, 136–148; J. M., Neuzeit und Aufklärung. Studien zur Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie, Berlin, New York 1970, 453 ff., sowie insbesondere die Studie von Michael Wolff, Der Satz vom Grunde oder: Was ist philosophische Argumentation? in: Neue Hefte für Philosophie 26 (1986), 89–114. 55 Vgl. hierzu Cassirer, Erkenntnisproblem (wie Anm. 21), 547 f.; Gertrud Kahl-Furthmann, Der Satz vom zureichenden Grund von Leibniz bis Kant, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 30 (1976), 107–122; Hans-Jürgen Engfer, Art. Principium rationis sufficientis, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter u.a., Basel 1974–2004, Bd. 7, Sp. 1325–1336, hier, Sp. 1326 f. Zu Platners Wolff-Rezeption vgl. den Beitrag von Hans-Peter Nowitzki in diesem Band. 56 Platner, Anthropologie 1772 (wie Anm. 32), 52 (§ 186). 57 Ebd., 53 (§ 188). 58 Vgl. hierzu erneut Cassirer, Erkenntnisproblem (wie Anm. 21), 555, sowie Fernando Vidal, The Enlightement Century as Century of Psychology, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 8 (2000), 407–434; Stefan Heßbrüggen-Walter, Die Seele und ihre Vermögen. Kants Metaphysik des Mentalen in der Kritik der reinen Vernunft, Paderborn 2004, 55–125. 59 Zur Problematik des Eklektizismusbegriffs als historiographischer Kategorie vgl. Frank Grunert, Normbegründung und politische Legitimität. Zur Rechts- und Staatsphilosophie der deutschen Frühaufklärung, Tübingen 2000, 75 f.: „Im strengen Sinne kann die Eklektitk überhaupt keine ‘methodenlose Methode’ sein, ihre Auswahl verdankt sich notwendigerweise be54

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lich, daß Platner die obersten spekulativen Prinzipien als erfahrungsgeneriert bezeichnet und somit ganz empiristisch argumentiert, ihnen aber zugleich durch die Zuschreibung eines Status als Vernunftwahrheiten ein Deduktionsverhältnis attestiert, das nur auf der Grundlage eines ebenso spezifischen wie strengen Rationalismus möglich wird. Das im Rahmen der zeitgenössischen Anthropologiedebatte Charakteristische dieser Platnerschen Konzeption läßt sich durch einen kurzen Seitenblick auf einen seiner zeitweiligen Lieblingsgegner erläutern. Johann Karl Wezel entwickelt in seinem Versuch über die Kenntniß des Menschen, der in den Jahren 1784/85 erschien, ebenfalls eine streng empiristische Erkenntnistheorie: Alles, was sich nicht auf Beobachtung und Erfahrung oder auf Schlüsse aus Erfahrungen und solchen Grundsätzen gründet, die das Resultat von einer Menge gleichförmiger Erfahrungen sind, gilt bey mir für keine Philosophie: in diesem Gesichtspunkte betrachte ich Leibnitzen und alle Philosophen, und habe daher schon längst Alle aus meiner Liste der Philosophen ausgestrichen, außer den griechischen Weltweisen und einigen Neuern von Locke an.60

Aus diesem strengen Empirismus entwickelt Wezel konsequent einen sensualistischen Phänomenalismus, der sich bestimmter Erklärungen enthalten muß: „Die Grundursachen, die verborgenen Kräfte, welche das Ganze in Bewegung setzen und also die Phänomene hervorbringen, wollen wir nicht wissen, weil sie unserm Auge zu tief liegen: nur die veranlassenden können wir erforschen, und nur diese meine ich, wenn ich von Ursachen rede, [...]“.61 Platner dagegen kann seine Aussagen – trotz empiristischer Epistemologie – nicht auf diesen Beschreibungsstatus reduzieren; für ihn nämlich gibt es „nichts an und für sich unbegreifliches“, weil alles Mögliche Bestimmungen hat, aus denen sich „der Grund der äußern oder innern Möglichkeit einsehen läßt“.62 Platner hält mithin an dem erzrationali-

stimmten Vorentscheidungen, die freilich der Eklektiker möglichst zu camouflieren sucht, um seine kritische Einstellung gegenüber jeder sektiererischen Dogmatik nicht dem Verdacht auszusetzen, selbst wiederum nur sektiererisch zu sein. Dabei ist dies kaum zu vermeiden; der Eklektiker wird nicht notgedrungen zu einem Sektierer – wie Schneiders betont –, er ist strenggenommen immer schon einer gewesen“. 60 Johann Karl Wezel, Kritische Schriften, hg. von Albert R. Schmitt, 3 Bde., Stuttgart 1971– 75, Bd. 3, 446; zu Wezels Locke-Rezeption vgl. Nowitzki, Aufklärungsanthropologien im Widerstreit (wie Anm. 17), 258–263; Gideon Stiening, „Aufseher seiner Selbst“. Bewußtsein und Selbstgefühl bei Wezel im Ausgang von John Locke, in: Wezel-Jahrbuch 6/7 (2003/4), 81–111. 61 Vgl. Johann Karl Wezel, Versuch über die Kenntnis des Menschen, in: J. K. W., Gesamtausgabe in acht Bänden, hg. von Klaus Manger, Bd. 7 (Versuch über die Kenntnis des Menschen. Rezensionen. Schriften zur Pädagogik), hg. von Jutta Heinz, Cathrin Blöss, Heidelberg 2001, 7– 281, hier 373–8. Zu Wezels Phänomenalismus vgl. Nowitzki, Aufklärungsanthropologien im Widerstreit (wie Anm. 17), 296 f. 62 Platner, Anthropologie 1772 (wie Anm. 32), 189 (§ 563).

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stischen Prinzip nihil sine ratione und dem Anspruch fest, diesem auch mit den Instrumenten der menschlichen Erkenntnisvermögen gerecht werden zu können – ohne von seinen empiristischen Prämissen abzurücken. Bemerkenswerter Weise erscheint bei Wezel jedoch neben den durchaus empiristisch begründeten, daher weitgehend im Geltungsstatus methodologisch auf heuristische Maximen63 eingeschränkten Grundsätzen physischer Anthropologie wenigstens ein zentrales Theorem, das ebenfalls eindeutig rationalistischen Begründungstheorien zuzuordnen ist. Inmitten seiner Ausführungen zum anthropologischen Argument64 behauptet Wezel unvermittelt: „Das Gesetz des Widerspruchs, ‘eine Sache kann nicht zu gleicher Zeit seyn und auch nicht seyn’, ist unstreitig das allgemeinste, das wir kennen“.65 Warum das aber so ist, und in welchem Verhältnis dieses „allgemeinste“ Gesetz der Vernunft zum empiristischen Erkenntnispostulat steht, wird nicht ausgeführt, geschweige denn begründet. Bricht bei Wezel der ‘internalisierte Wolff’ unvermittelt in den Argumentationsverlauf des Textes ein, so kann man bei Platner immerhin nachvollziehen, wie es zur Annahme der allgemeinen Geltung dieses Grundsatzes der Vernunft kommt und in welchem Verhältnis er zur sensualistischen Prämisse des nihil est in intellectu quod non prius fuerit in sensu steht. Platner führt mithin den empiristischen Wissenschaftsanspruch seiner Anthropologie einerseits konsequenter durch als Wezel, weil er mit Locke noch den Satz der Identität und den Satz des Widerspruchs als erfahrungskonstituiert bezeichnet, er hält aber andererseits gegen die empiristisch-phänomenologischen Begrenzungen der Erklärungsmöglichkeiten der Welt an einer uneingeschränkten Erkenn- und Bestimmbarkeit alles dessen, was ist, fest und damit am Grundprogramm rationalistischer Aufklärung: „Nichts ist an und für sich unbegreiflich. Unbegreiflich ist eine Wahrheit, deren innere oder äußere Möglichkeit die Vernunft nicht einsieht“.66 An dieser grundsätzlich uneinschränkbaren Erklärungsmöglichkeit von Welt muß Platner festhalten, weil er das Phänomen des commercium mentis et corporis, das er als bisher nicht vollständig erklärbar qualifiziert, für grundlegend erklärungsfähig ausweisen können muß. Andernfalls fundierte er sein System auf einem dunklen, weil unerklärlichen Sachverhalt. Er befände sich damit unversehens nicht nur im Lager einer von Hume ausgehenden Gegenaufklärung.67 Er könnte auch den von ihm anvisierten Status des anthropologischen Arguments nicht aufrechterhalten, denn einem apriori nicht erklärbaren Phä63 64 65 66 67

Vgl. hierzu Nowitzki, Aufklärungsanthropologien im Widerstreit (wie Anm. 17), 293 ff. Vgl. hierzu Stiening, Ein „Sistem“ (wie Anm. 10), 129 ff. Wezel, Versuch (wie Anm. 61), 2826–28. Platner, Anthropologie 1772 (wie Anm. 32), 189 (§ 563). Vgl. hierzu Röd, Die Philosophie der Neuzeit 2 (wie Anm. 3), 310 ff.

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nomen läßt sich nicht oder nur unter erheblichen Schwierigkeiten – u.a. mit Blick auf den zugleich erhobenen naturwissenschaftlichen Erklärungsanspruch – der Status eines Grundlegungstheorems zuschreiben. Platner muß also seinem anthropologischen Programm zuliebe, das er erkenntnistheoretisch und erkenntnismethodisch empiristisch fundieren will, das erzrationalistische Programm einer lückenlosen Erklärbarkeit der Welt reinthronisieren und greift zu genau diesem Zweck auf Wolffs Ableitung des Satzes vom Grunde aus dem Satz des Widerspruchs zurück, welcher letztere selbst Locke als wichtigstes „spekulative[s] Prinzip[] […] des Beweisens“ galt.68 Platners ‘Vermittlung’ von Locke und Wolff in seiner Anthropologie von 1772 ist somit nicht Produkt eines fröhlich unbedarften Eklektizismus der Spätaufklärung, sondern dem Programm einer zugleich empiristischen und physischen Fundamentalanthropologie geschuldet. Daß diese auch von anderen Anthropologen der 1770er Jahre versuchte Vermittlung nicht ohne Aporien auskommt, zeigt sich deutlich: Platner ignoriert die Wolffschen Argumente69 wider die Möglichkeit einer Begründbarkeit der Geltung des Satzes vom Widerspruch und des Satzes vom Grunde aus der Erfahrung – warum nämlich diese Vernunftwahrheiten oberste Grundsätze sind und den Geltungsanspruch ewiger Wahrheiten genießen, kann die Erfahrung nicht beantworten. Platner umgeht also die Aporien des Empirismus in ihrer Wezelschen Ausprägung (der unvermittelten unbegründeten Annahme von allgemeinen Vernunftwahrheiten), indem er diese zu erfahrungsgenerierten Wahrheiten erklärt, ihren für sein anthropologisches Forschungsprogramm erforderlichen allgemeinen Status aber rational ableiten muß. Von dem für die Anthropologie der Spätaufklärung behaupteten allgemeinen Phänomenalismus70 – einer konsequent empirischen Begrenzung des Wissensanspruches auf Beschreibung – bleibt aber bei Platner, gerade weil er sein anthropologisches Grundlagentheorem begründet bestimmen will, nichts übrig.

II. Philosophiehistorischer Exkurs: Hume, Kant und Hißmann zu ‘angeborenen Ideen’ Die Vehemenz, mit der Platner die Debatte um die angeborenen Ideen im Jahre 1772 erneut aufnimmt und zu einem wichtigen Moment seiner anthropologisch fundierten Epistemologie erhebt, muß unter philosophiehistorischen Gesichts-

68 69 70

Locke, Versuch über den menschlichen Verstand (wie Anm. 37), 30 (I, 1, 4). Wolff, Deutsche Metaphysik (wie Anm. 48), 6 (§ 10). Riedel, Erster Psychologismus (wie Anm. 13), 12 f.

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punkten71 zunächst überraschen, bedenkt man, daß der Streit um die Notwendigkeit bzw. Unmöglichkeit angeborener Ideen schon 1756 durch Hume, spätestens 1770 durch Kant entschärft bzw. geschlichtet worden war. Schon David Hume hatte angesichts der breiten und leidenschaftlichen Diskussion Lockes – die Leibnizsche Antwort mußte ihm im Jahre 1756 noch unbekannt sein – verwundert festgehalten: Wahrscheinlich haben diejenigen, welche angeborene Ideen leugnen, damit weiter nichts gemeint, als daß alle Ideen Kopien unserer Eindrücke seien; allerdings muß zugegeben werden, daß die hier gebrauchten Ausdrücke weder so vorsichtig gewählt noch so genau genug bestimmt sind, um allen Mißverständnissen über ihre Lehre vorzubeugen. Denn was versteht man unter angeboren (innate)? Bedeutet angeboren das gleiche wie natürlich, so müssen wir jede Perzeption und Idee des Geistes als angeboren oder natürlich anerkennen, in welchem Sinne wir auch dies letztere Wort gebrauchen: als Gegensatz zum Ungewöhnlichen, Künstlichen oder Wunderbaren. Soll angeboren bedeuten: gleichzeitig mit der Geburt, so scheint mir der Streit leichtfertig; es lohnt sich auch nicht die Mühe, zu untersuchen, in welchem Zeitpunkt das Denken beginnt, ob vor, bei oder nach der Geburt. […] Werden aber die Bezeichnungen Eindrücke und Idee im oben erklärten Sinne gebraucht und wird unter angeboren das verstanden, was ursprünglich, d.h. von keiner vorangegangenen Idee kopiert ist, dann können wir wohl behaupten, daß alle unsere Eindrücke angeboren und unsere Ideen nicht angeboren sind.72

Schon Hume also wie auch die philosophiehistorische Forschung des 19. und 20. Jahrhunderts73 depotenziert die berühmte Auseinandersetzung aus dem ersten Buch des Lockeschen Essays, indem er die Fragestellung als irrational kennzeichnet – allerdings auf der Grundlage jenes dispositionellen Innatismus, den Locke gegen einen propositionellen Innatismus in Stellung gebracht hatte. Dieser aber wurde neben Herbert von Cherbury, gegen den Locke sich ausdrücklich wendet,74 vor allem von theologischer Seite seit der Reformation

Zur Unterscheidung zwischen ideengeschichtlicher und philosophiegeschichtlicher Methodik und Erkenntnisprogrammatik vgl. Bernard Williams, Descartes. Das Vorhaben einer reinen philosophischen Untersuchung, Frankfurt am Main 1988, IX, sowie Dominik Perler, Ein historisch geschärfter Blick auf die Philosophie der frühen Neuzeit, in: Philosophische Rundschau 46 (1999), 43–55, sowie Kurt Flasch, Ideen zur Theorie der Philosophiehistorie, in K. F., Philosophie hat Geschichte, Bd. 2: Theorie der Philosophiehistorie, Frankfurt am Main 2005, 15-72. 72 David Hume, Eine Untersuchungen über den menschlichen Verstand, Aus dem Englischen von Raoul Richter. Durchgesehen und überarbeitet vom Lambert Wiesing. Kommentar von L. W. Frankfurt am Main 2007, 31 f.; siehe auch den Kommentar ebd., 447. 73 Vgl. Hegel, Werke (wie Anm. 49), Bd. 20, 147 ff.; Specht, Über Angeborene Ideen (wie Anm. 42), und die dort angegebene Literatur. 74 Locke, Versuch über den menschlichen Verstand (wie Anm. 37), 69 ff. (I, 2, 15 ff.); vgl. hierzu auch Michael Ayer, Ideas and Objective Being, in: Garber, Ayers (Hg.), Cambridge History (wie Anm. 30), 1062–1107, hier 1073 f. 71

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erneut vertreten, so u.a. von Melanchthon, der durch diesen propositionellen Innatismus die epistemologische Funktion Gottes gesichert sah.75 Für den britischen Aufklärer David Hume sind solche Probleme Mitte des 18. Jahrhunderts offenbar sachlich überwunden,76 ebenso wie für Immanuel Kant, der in seiner Inauguraldissertation von 1770 unmißverständlich festhielt: Die Philosophie nun, welche die e r s t e n G r u n d s ä t z e des Gebrauchs des r e i n e n V e r s t a n d e s enthält, ist die M e t a p h y s i k. Die Wissenschaft jedoch, die ihr zur Vorübung dient, ist die, welche den Unterschied der sinnlichen von der Verstandeserkenntnis lehrt, wovon wir in dieser unserer Abhandlung eine Probe liefern. Da man demnach in der Metaphysik keine empirischen Grundsätze antrifft: so sind die in ihr vorkommenden Begriffe nicht in den Sinnen zu suchen, sondern in der Natur selber des reinen Verstandes, nicht als a n g e b o r e n e Begriffe, sondern als solche, die aus den der Erkenntniskraft eingepflanzten Gesetzen (dadurch, daß man auf ihre Handlungen bei Gelegenheit der Erfahrung achtet) abgezogen und folglich e r w o r b e n sind.77

Daß jedoch dem Konzept der ideae innatae noch im Jahre 1770 eine spezifische Aktualität zukommt, zeigt eine weitere Passage aus Kants Schrift, die die schon von Locke gegen die Theorie der angeborenen Ideen ins Spiel gebrachte politische bzw. moralische Aufklärungskritik erneut aufruft: Schließlich kommt jedem wie von selbst die Frage, ob letztere Begriffe a n g e b o r e n oder e r w o r b e n seien. Das letztere scheint zwar durch das Bewiesene schon widerlegt, das erstere aber ebnet einer Philosophie der Faulen den Weg, die jede weitere Nachforschung durch Berufung auf die erste Ursache für unnütz erklärt, und darf daher nicht so aufs Gratewohl zugelassen werden.78

Hatte Locke die Theorie der angeborenen Ideen aufgrund ihrer politischen Instrumentalisierbarkeit beklagt,79 so gründet Kant seine Ablehnung hier auf moralische Einwände, weil die Geltung angeborener Begriffe einer rationalen Vgl. hierzu die in der Darstellung von Brands, Untersuchungen (wie Anm. 36), übergangene Diskussion um die notitiae naturales im 16. Jahrhundert bei Gideon Stiening, „Deus vult aliquas esse certas noticias“. Philipp Melanchthon, Rudolf Goclenius und das Konzept der notitiae naturales in der Psychologie des 16. Jahrhunderts, in: Barbara Bauer (Hg.), Philipp Melanchthon und die Marburger Professoren (1527–1627), Ausstellungskatalog, Marburg 1999, Bd. 2, 757– 787. 76 Zu Humes berühmter Anmerkung vgl. u.a. Brands, Untersuchungen (wie Anm. 36), 64 ff., sowie Heidrun Hesse, Eindrücke und Ideen. Die Funktion der Wahrnehmung, in: Jens Kulenkampff (Hg.), David Hume. Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Berlin 1997 (Klassiker auslegen, 8), 39–52, hier, 41 f. 77 Immanuel Kant, De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis, in: I. K., Werke in 10 Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1983, Bd. 5, 37 f. 78 Ebd., 69. 79 Locke, Versuch über den menschlichen Verstand (wie Anm. 37), 103 ff. (I, 3, 25); vgl. hierzu Specht, Über Angeborene Ideen (wie Anm. 42), 52 f. 75

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Überprüfung durch deren Rückführung auf die Gottesinstanz im Wege stünde und so zu einer „Philosophie der Faulen“ führte. Neben dieser Politisierung und Moralisierung lassen sich schon in den 1770er Jahren Versuche einer Historisierung der Theorien von den angeborenen Ideen beobachten. So bemüht sich Michael Hißmann in einer 1777 im Teutschen Merkur veröffentlichten Abhandlung, „im wahren Geist der Geschichte der Philosophie, eine Vergleichung unter den angebohrnen Begriffen des Plato, des Deskartes, und des Leibnitz“ anzustellen. Hißmann zielt mit dieser philosophiehistorischen Perspektive auf eine Depotenzierung der systematischen Bedeutung des Streites zwischen Locke und Leibniz ab, dennoch weiß er: Man wird einsehen, daß die Pfeile, die Locke auf die Vertheidiger dieser Lehre [der angeborenen Begriffe] abschießt, bey der Waffenrüstung des teutschen Genies größtentheils abprallen, und daß die Gründe, mit welchen jener diese Lehre lächerlich macht, auf die Eigenschaften, die Leibniz seinen angebohrnen Begriffen giebt, nicht einmal anwendbar sind.80

Noch im Jahre 1789/90 bekommt Kant in der Tat zu spüren, daß das Konzept der angeborenen Vorstellungen in seiner rationalistischen Grundlegung zur „Waffenrüstung des deutschen Genies“ konstitutiv gehört, weshalb er in der Auseinandersetzung mit Johann August Eberhardt ausdrücklich darauf hinweist: „Die Kritik erlaubt schlechterdings keine anerschaffene oder angeborne Vorstellung; alle insgesamt, sie mögen zur Anschauung oder zu den Verstandesbegriffen gehören, nimmt sie als erworben an“.81 Ernst Platner, der weder einer konservativen Gegenaufklärung zutendiert noch einer ‘faulen Vernunft’ frönt und dessen Philosophische Aphorismen stets eine „Anleitung zur Geschichte der Philosophie“ enthalten, wird dennoch zu der Überzeugung von einer systematischen Unverzichtbarkeit der Annahme angeborener Ideen gelangen.

Michael Hißmann, Bemerkungen über einige Regeln für den Geschichtsschreiber philosophischer Systeme; über Dutens Untersuchungen; – und über die angebohrnen Begriffe des Plato, Deskartes und Leibnitz, in: Der Teutsche Merkur 1777.4, 22–52, hier 33; zu Hißmanns strengem Empirismus vgl. Udo Thiel, Varieties of inner Sense. Two Pre-Kantian Theories, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 79 (1997), 58–79. 81 Vgl. Immanuel Kant, Der Streit mit Johann August Eberhardt, hg. von Marion Lauschke, Manfred Zahn, Hamburg 1998, 151. 80

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III. 1776: Vermittlungsversuche zwischen Locke und Leibniz In der ersten Auflage des ersten Teils der Aphorismen von 1776 stellt Platner im Abschnitt „Etwas von den Streitigkeiten über die angebohrnen Ideen, in Beziehung auf das Wesen der Seele“82 die beiden sich ausschließenden Systeme, deren Autoren er als Leugner und Verteidiger der angeborenen Ideen bezeichnet, und deren jeweilige Begründungen vor. Dabei erscheint die Fraktion der „Leugner“ – die Platner vor allem durch die Autoritäten Aristoteles und Locke konkretisiert, aber auch anreichert mit kenntnisreichen Ausführungen zur Stellung bekannter Zeitgenossen wie Rüdiger, Bonnet, Condillac und Hume – homogener als die Positionen der „Vertheidiger“, die durch Plato und Cicero, durch Leibniz, Crusius und Descartes realisiert seien und die zwischen den Varianten des dispositionellen und des propositionellen Innatismus schwankten. Dabei kommt Platner hinsichtlich des Verhältnisses der Lockeschen und Leibnizschen Systematik allerdings zu dem Schluß: „Beyde Systeme scheinen sich vereinigen zu lassen“.83 Diese Vermittlung von dispositionellem Innatismus Leibnizens, der – darauf weist Platner ausdrücklich hin – in den Nouveaux Essais „[a]ngebohrne Gedanken ausdrücklich läugnet“,84 mit dem Lockeschen Empirismus stellt sich für Platner in systematischer Hinsicht wie folgt dar: Es muß in der Seele etwas Wesentliches vor dem Sinnenerkenntniß seyn, woraus sich die Art und Weise der so in ihr entstehenden Veränderungen erklären läßt. Dieses Wesentliche wären also Gründe ihres Verfahrens. Will man diese Gründe Ideen oder Grundsätze nennen, so sind es angebohrne Ideen. In diesem Sinne sind einige Begriffe des reinen Verstandes, und von allen diesen Begriffen die Gründe, angebohren.85

Diese Argumentation führt keineswegs einen ‘kurzen und bündigen Beweis’ „der Lehre von den angeborenen Ideen gegen Locke aus“, wie Seligkowitz meinte.86 Vielmehr bemüht sich Platner hier noch um eine Vermittlung zwischen Locke und Leibniz. Daß allerdings auch dieser Versuch nicht ohne Wolff auskommt, zeigt die Konkretisierung des „Systems angebohrner Grundsätze“87 im III. Hauptstück dieser Aphorismen. Platner betont bei der Vorstellung der

Ernst Platner, Philosophische Aphorismen nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte. Erster Theil, Leipzig 1776, 19–29 (§ 69–83). 83 Ebd., 28 (§ 78). 84 Ebd. (§ 79, Anm.). 85 Ebd., 31 (§ 89); Hvhb. von mir. 86 Benzian Seligkowitz, Ernst Platner’s wissenschaftliche Stellung zu Kant in Erkenntnistheorie und Moralphilosophie, in: Vierteljahrschrift für wissenschaftliche Philosophie 16 (1892), 76– 103, hier, 82 Anm. 2. 87 So Platners Formulierung in Aphorismen I 1776 (wie Anm. 82), 139 (§ 457). 82

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ersten Grundsätze, daß man in erkenntnisgenetischer Hinsicht aus „dem Verfahren der Seele beym Nachdenken, Urtheilen, Schließen u.s.w. gewisse Gesetze abstrahieren“88 könne, denen allerdings in erkenntnistheoretischer Hinsicht der Status des Angeborenen zugeschrieben werden müsse: „Diese Gesetze sind der menschlichen Seele eingepflanzt“.89 Im folgenden entfaltet Platner jene Gesetze als deduktiv vermitteltes System, nach dem aus dem „Satz des Widerspruchs“ als „höchste[m] Gesetz der Vernunft“90 der „Grundsatz vom Nichtzutrennenden und Nichtzuverbindenden“91 abgeleitet wird, von dem aus eine Deduktion zum „Satz des zureichenden Grundes“ führt. Platner betont dieses lückenlose Ableitungsverhältnis ausdrücklich: Das Gesetz des Z.G. [zureichenden Grundes] so wie auch das vierte Gesetz, und alle andere vorgegebene höchste Vernunftgesetze sind unmittelbar dem G.d.W. [Gesetz des Widerspruches] untergeordnet, und unmittelbar aus ihm erweislich. Alle übrige sind nichts anders, als Gesetze seiner Aeußerung in gewissen besonderen Fällen.92

Diese gänzlich der Wolff-Schule zugehörige – wie schon Cassirer zeigte, wenig überzeugende93 – Ableitung des principium rationis aus dem Satz des Widerspruchs bleibt mit einigen Modifikationen94 wie in der 1772er-Anthropologie in Geltung – trotz der sich anbahnenden Veränderung im Hinblick auf die Frage des Ursprungs der Ideen. Diese Kontinuität gilt auch für die ontologische These, nach der „alles Mögliche nothwendig ist“.95 Die wichtigste Veränderung gegenüber der Anthropologie von 1772 zeichnet sich aber – ausgehend vom Theorem der angeborenen Ideen – hinsichtlich des anthropologischen Grundlagenprogramms ab. Von einem gegenseitigen Einfluß zwischen Körper und Seele – entscheidende, wenngleich uneingelöste

Ebd., 146 (§ 483); insofern bleibt Platner auch hier noch seinen Lockeschen Grundlegungen verpflichtet; zu Lockes Begriff einer durch Abstraktion gewonnen Allgemeinheit vgl. Rainer Specht, John Lockes Lehre vom Allgemeinen, in: Aufklärung 18 (2006), 69–92. 89 Platner, Aphorismen I 1776 (wie Anm. 82), 147 (§ 485). 90 Ebd., 148 (§ 490). 91 Ebd., (§ 491). 92 Ebd., 149 (§ 495). 93 Vgl. Cassirer, Erkenntnisproblem (wie Anm. 21), 546 f.; schon Feder moniert 1777 diesen ontologischen Kurzschluß, wenn er schreibt: „Der Schluß, mittelst dessen § 714 bewiesen wird, daß alles Mögliche nothwendig, dürfte wohl die genaue Prüfung nicht aushalten“. Vgl. [Johann Georg Heinrich Feder], [Rez.] Ernst Platners philosophische Aphorismen in: Göttingische Anzeigen von Gelehrten Sachen (1777), 153–158, hier 156. 94 U.a. ändert sich die schlichte Identität von Grund-Folge und Ursache-Wirkungsverhältnis, letzteres wird von ersterem nun tatsächlich mit Crusianischen Instrumenten unterschieden, vgl. Platner, Aphorismen I 1776 (wie Anm. 82), 294 ff. (§ 868 ff.). 95 Ebd., 227 (§ 724). 88

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Prämisse des 1772er-Textes96 – ist hier nämlich nur noch in bezug auf das Tier die Rede,97 der Körper des Menschen ist schon ab 1776 ausschließlich Instrument des sich die Welt erschließenden, relativ autonomen Geistes: „Einen Geist der sich die Welt vermittelst eines beygesellten organischen Körpers vorstellt, nenne ich hier zum Unterschied, eine Seele“.98 Und so dient das commercium-Problem und dessen Lösung auch nicht mehr als Grundlage, sondern nur noch als eine Bedingung allen weiteren Wissens und Handelns. Platner ist sich über entscheidende Konsequenzen seiner veränderten Konzeption deutlich bewußt: Die Ermöglichung einer Unsterblichkeit der Seele – eines der wegen der Abwehr des Materialismusvorwurfes drängendsten Probleme aller Fundamentalanthropologie im späten 18. Jahrhundert99 – bedarf der Annahme einer Existenz der Seele unabhängig vom Körper, was nach Platner u.a. garantiert werden kann „[m]it Vorausssetzung Platonischer und Leibnitzischer angebohrner Ideen“.100 Die Grundlegung der Psychophysik des anthropologischen Programms im Konzept des influxus physicus101 ist damit aber – so Platner zu Recht – gefährdet. Dennoch kann sich der ‘philosophische Arzt’ von diesem Fundierungsprogramm weder 1776 noch 1790 in der zweiten Auflage der Anthropologie102 vollständig verabschieden. Denn neben den anderen beiden Systemen der Erklärung einer Vermittlung von Körper und Seele, dem Okkasionalismus und der prästabilierten Harmonie,103 beinhaltet die influxus-physicusTheorie nach Platner noch 1776 einen entscheidenden Vorteil: „Das System des physischen Einflusses beruhet einzig und allein auf der Erfahrung“.104

Platner, Anthropologie 1772 (wie Anm. 32), 37 (§ 137); vgl. hierzu den Beitrag von Werner Euler in diesem Band. 97 Platner, Aphorismen I 1776 (wie Anm. 82), 33 (§ 96): „Denn man hat Grund zu glauben, daß zur Möglichkeit eines Thieres, gegenseitiges Verhältnis der Seele und der Organisation erfordert werde“. 98 Ebd., 32 (§ 92). 99 Vgl. hierzu Johann Georg Sulzer, Ueber die Unsterblichkeit der Seele, in: J. G. S., Vermischte philosophische Schriften, Leipzig 1781, 1-84, sowie die Interpretation und Kontextualisierung durch Helmuth Holzhey, Die Berliner Popularphilosophie. Mendelssohn und Sulzer über die Unsterblichkeit der Seele, in: Martin Fontius, H. H. (Hg.), Schweizer im Berlin des 18. Jahrhunderts, Berlin 1996, 201-216. 100 Ebd., 34 (§ 99). 101 Zur Stellung und Bedeutung der influxus-physicus-Theorie im Rahmen der Anthropologie der Spätaufklärung vgl. Riedel, Anthropologische Wende (wie Anm. 27), 7 ff. 102 Vgl. Ernst Platner, Neue Anthropologie für Aerzte und Weltweise. Mit besondere Rücksicht auf Physiologie, Pathologie, Moralphilosophie und Aesthetik, Leipzig 1790, 68 (§ 201): „Es wird hier vorausgesetzt das System des physischen Einflusses“. 103 Zur Korrelation aller drei Modelle vgl. Platner, Aphorismen I 1776 (wie Anm. 82), 286 ff. (§ 859 ff.). 104 Ebd., 287 (§ 861). 96

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So unentschieden Platner 1776 zwischen angeborenen Ideen und Erfahrungsuniversalismus, zwischen Leibniz und Locke, zwischen Anthropologie und Metaphysik noch wirkt; klar ist ihm schon hier, daß das anthropologiekonstitutive influxus-physicus-Modell und der Innatismus unter den bislang gegebenen Voraussetzungen nicht zusammenstimmen können.

IV. 1784: Der Durchbruch zu Leibniz 12 Jahre nach der Publikation der schnell berühmt werdenden Anthropologie für Aerzte und Weltweise sowie acht Jahre nach der ersten Auflage der Philosophischen Aphorismen veröffentlicht Platner, der womöglich eitel,105 laut Garve aber auch ein ausnehmend fleißiger und der Selbstkritik fähiger Wissenschaftler war,106 die zweite Auflage des ersten Bandes der Aphorismen. Im ersten Hauptstück des ersten Buches entwickelt der Autor unter der Überschrift „Die Streitigkeit über die angebornen Vernunftbegriffe, in Beziehung auf das Wesen der Seele“ erneut jene bekannte Problematik: Viele ältere und neuere Weltweise sprechen der Seele ab alle von der Erfahrung der Sinne abhängige Begriffe, und lassen ihr nichts wesentlich seyn, als eine lebendige Kraft und ein mehr in Möglichkeit, als in Wirklichkeit bestehendes Vermögen zu denken. Dieses System beruht auf folgenden Hauptsätzen: 1) Es läßt sich kein Begriff, noch ein Grundsatz der Vernunft angeben, dessen Abkunft aus dem Sinnenerkenntnis nicht dargethan werden könnte, durch eine richtige psychologische Ableitung. 2) Der Mangel eines Sinnes zieht nach sich, den Mangel aller von ihm abhängigen Begriffe und Grundsätze. 3) Ohne alle Sinnen würde die Seele keinen einzigen Begriff noch Grundsatz haben. 4) Lägen Begriffe, oder Grundsätze in der Seele unabhängig von der Erkenntniß der Sinnen, so müßte die Seele sich derselben bewußt seyn; denn Begriffe oder Grundsätze ohne Bewußtseyn, lassen sich nicht denken. 5) Folglich entstehen alle Begriffe durch die Sinnen, und auch alle Grundsätze der Vernunft, ohne Ausnahme des Satzes vom Widerspruch, vom zureichenden Grunde, noch irgend eines andern. 6) Das Wesen der menschlichen Seele bestehet nicht im Denken, sondern im Vermögen zu denken; nicht in dem vorsinnlichen Besitz reiner Begriffe und Grundsätze der Vernunft: sondern in dem Vermögen aus dem Stoffe des Sinnenerkenntnis dergleichen zu bereiten. 7) Die Behauptung angeborner Begriffe und Grundsätze ist sehr schädlich dem wahren Vortheil der Weltweisheit und der Wissenschaften überhaupt.107

Vgl. Alexander Kosenina, Ernst Platners Anthropologie und Philosophie. Der ‘philosophische Arzt’ und seine Wirkung auf Johann Karl Wezel und Jean Paul, Würzburg 1989, 17 f.; HansPeter Nowitzki, Kommentar, in: Wezel, Werke, Bd. 6 (wie Anm. 1), 963. 106 Vgl. Alexander Košenina, „Briefe eines Arztes an seinen Freund“. Zwei ungedruckte Briefe Ernst Platners an Christian Garve, in: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 31 (1990), 141–151, hier 144. 107 Ernst Platner, Philosophische Aphorismen nebst einigen Anleitungen zur philosophischen 105

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Nach den Ausführungen zur Anthropologie von 1772 läßt sich unschwer erkennen, daß mit den „ältere[n] und neurere[n] Weltweisen“, von denen Platner hier spricht, einerseits Aristoteles und John Locke gemeint sind, andererseits aber niemand anderes als er selbst; jedes der angeführten sieben Argumente findet sich in ähnlicher Formulierung im Text von 1772. Doch werden die jetzigen Ausführungen wie folgt fortgeführt: Die Widerlegung dieses Systems und die deutlichere Darstellung des entgegengesetzten, ist enthalten in den folgenden Paragraphen. […] Daß die Allgemeinbegriffe und Grundsätze der reinen Vernunft aus den Sinnen entstehen, ist ganz unerweislich, ja nicht einmal begreiflich, wie sie aus dieser Quelle entstehen könnten.108

Nach einer Phase relativer Unentschiedenheit Mitte der 1770er Jahre ist Platner im Jahre 1784 endgültig auf die Seite eines anti-empiristischen Innatismus gewechselt, der eine entschiedene Abkehr von den epistemologischen Prinzipien seines Anthropologiekonzepts einschließt. Diese ‘Wende’ zum Rationalismus mag äußerlich motiviert oder wenigstens verschärft worden sein durch Platners Auseinandersetzung mit den kirchlichen Behörden im Anschluß an die Veröffentlichung der ersten Auflage seiner Philosophischen Aphorismen, innerhalb derer sich der aufstrebende Leipziger Mediziner und Philosoph dem Vorwurf des Skeptizismus erwehren mußte;109 sie mag zudem verstärkt worden sein durch den von Platner hochgeschätzten Johann Nicolas Tetens, der in seinen Philosophischen Versuchen über die menschliche Natur und ihre Entwicklung aus dem Jahre 1777 u.a. gegen Hume nachgewiesen hatte, daß „die allgemeinen nothwendigen Gründsätze“ nicht durch Induktion aus der Erfahrung gewonnen werden können.110 Platners Wendung zum Rationalismus scheint jedoch vor allem sachlich motiviert zu sein durch eine grundsätzlich veränderte anthropologische Konzeption, die er erstmalig in der ersten Auflage des zweiten Teils der Aphorismen (1782) vorgetragen hatte; Platner ‘löst’ hier nämlich das noch 1772 ungeklärte und 1776 zum Streit mit der Theologie führende Problem eines grundlegenden, daher universellen commercium mentis et corporis, das zugleich den Erfordernissen des Axioms einer Unsterblich-

Geschichte. Erster Theil. Neue durchaus umgearbeitete Ausgabe, Frankfurt, Leipzig 1784, 27 ff. (§ 85). 108 Ebd., 29 (§ 86, § 88). 109 Vgl. hierzu Bergemann, Ernst Platner und die Kunstphilosophie des 18. Jahrhunderts (wie Anm. 26), 66 ff. und 313 ff., sowie die biographische Skizze von Hans-Peter Nowitzki in diesem Band. 110 Tetens, Philosophische Versuche (wie Anm. 24), 451 ff.; zu Platners Tetens-Rezeption vgl. Artur Wreschner, Ernst Platners und Kants Erkenntnistheorie mit besonderer Berücksichtigung von Tetens und Aenesidemus, in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 100 (1892), 1–25, hier 12 ff.

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keit der Seele und dem Konzept der ideae innatae entsprechen mußte, mit Hilfe eines neuen Modells für den Begriff und die Sache des „Seelenorgans“.111 Bevor diese ‘neue Anthropologie’ darzustellen ist, soll kurz das in den weiteren Paragraphen der 1784er-Schrift entwickelte Alternativkonzept genauer betrachtet werden. In den §§ 92 und 93 führt Platner nämlich unmißverständlich aus: Diese angebornen Begriffe, oder Grundsätze der Vernunft enthalten in sich alle ewige nothwendige Wahrheiten, und folglich den Grund aller reindemonstrativen Wissenschaften; das zusammenhangende System derselben in der Seele ist das, was man Vernunft nennt. Die ursprünglichen Begriffe, oder Grundsätze der reinen Vernunft sind nicht ein bloßes unwirksames Vermögen, sondern sie sind stets bereit und bestrebt sich anzuwenden und zu äußern, in den durch Sinnen oder Gedächtnis vorschwebenden Ideen.112

Diese Abgrenzung von einer abstrakten Vermögenslehre hatte auch Leibniz durchgeführt in der Behauptung: „Hier liegt also kein nacktes Vermögen, keine bloße Möglichkeit, sie [die eingeborenen Wahrheiten] zu begreifen vor, sondern eine Anlage, eine Fertigkeit, eine Präformation, die unsere Seele bestimmt und bewirkt, daß sie aus ihr gewonnen werden können“.113 Platner hatte schon vor dieser Passage ausgeführt, daß die angeborenen Begriffe und Grundsätze nicht unmittelbar in jeder Seele bewußt seien, sondern daß sie „durch Veranlassung der mittelst der Sinnen und des Gedächtnis vorschwebenden Ideen“ realisiert würden.114 Damit wendet er sich implizit gegen die seit Melanchthon gängige theologische Variante der Theorie von den notiones communes, die von Gott der Seele eingegeben seien,115 und akzeptiert zugleich den noch 1772 explizit abgelehnten116 leibnizschen Bewußtseinsbegriff, hatte dieser doch festgehalten: „Um zu behaupten, daß bestimmte Erkenntnisse, Ideen oder Wahrheiten in unserem Geiste seien, ist es nicht notwendig, daß wir jemals wirklich an sie gedacht haben; es sind nur natürliche Fertigkeiten, d.h. aktive

Zur Stellung der Seelenorgandebatte in Medizin, Anthropologie und Metaphysik der Spätaufklärung vgl. die exzellente Studie von Euler, „Seelenorgan“ (wie Anm. 20), sowie Yvonne Wübben, Popularisiert, präpariert. Funktionsgeschichtliche Überlegungen zur SeelenorganDiskussion, in: Tanja van Hoorn (Hg.), Natur – Mensch – Kultur. Georg Forster im Wissenschaftsfeld seiner Zeit, Hannover-Laatzen 2006, 103–124. 112 Platner, Philosophische Aphorismen I 1784 (wie Anm. 107), 30 f. (§ 92, § 93). 113 Gottfried Wilhelm Leibniz, Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Übersetzt, eingeleitet und erläutert von Ernst Cassirer, Hamburg 31971, 47 f.; vgl. hierzu auch Engfer, Empirismus versus Rationalismus (wie Anm. 30), 236 ff. 114 Platner, Philosophische Aphorismen I 1784 (wie Anm. 107), 29 f. (§ 89). 115 Vgl. Stiening, „Deus vult aliquas esse certas noticias“ (wie Anm. 75). 116 Vgl. hierzu Platner, Anthropologie 1772 (wie Anm. 32), 54 (§ 192): „Die Seele kann unmöglich ohne Bewußtseyn denken“. 111

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und passive Anlagen und Zustände, die mehr bedeuten als eine t a b u la r as a“.117 Um deutlicher noch zu erklären, worum es ihm geht, führt Platner die Präzisierung ein, daß man besser von angebornen Grundgesetzen der Vernunft statt von Begriffen und Grundsätzen reden möge, und damit ist er dem vorkritischen Kant denkbar nahe.118 In einer historischen Anmerkung zu den seit Platon verschiedenen Konzepten der κοιναὶ ̉έννοιαι und deren Gegenkonzept, gebündelt in der Formel von der Seele als tabula rasa, führt Platner zwar aus, daß „unter den Neuern Locke in dieser Lehre noch immer mehr Anhänger zu haben scheint, als Leibniz“, und er nennt u.a. Hume, Condillac, Bonnet und Tiedemann119 als Gewährsmänner für diese These, doch bleibt völlig eindeutig, daß er selbst sich in dieser Hinsicht nunmehr zu den Leibnizianern rechnet. Diese Nähe zu Leibniz deutet sich auch in der der Metaphysik zugeordneten „Grundlehre“ von jenen allgemeinen Vernunftgesetzen an, deren Verbindung zur innatistischen Epistemologie im letzten Kapitel der Logik erneut konstatiert wird: „In welchem Verstande die Gesetze des Denkens, und in ihnen die ewigen, unwandelbaren Gesetze der Wahrheit, und folglich die Gründe aller reinen Vernunftbegriffe, eingepflanzt sind der menschlichen Seele, unabhängig von der Erfahrung der Sinnen […] das ist ausführlich gezeigt worden, in dem ersten Hauptstücke § 87 – 93“.120 Diese hier angekündigten „ewigen unwandelbaren Gesetze der Wahrheit“ werden dann zu Beginn der Metaphysik, dem zweiten Buch der Aphorismen, entwickelt. Wie schon 1776 bestimmt Platner den „Satz des Widerspruches“ und den „Satz des zureichenden Grundes“ als zwei der wichtigsten dieser Wahrheitsgesetze,121 ergänzt nunmehr um den „Satz von der notwendigen Folge“, während der 1776 noch wirksame „Grundsatz vom Nichtzutrennenden und Nichtzuverbindenden“122 weggefallen ist. Der wesentliche Unterschied zur Konzeption dieser obersten Prinzipien bzw. Gesetze der Vernunft besteht in Platners Behauptung, ein strenges Ableitungsverhältnis dieser Sätze sei nicht zu konstatieren. Mußte noch 1776 das „Gesetz des zureichenden Grundes“ aus dem alleinigen obersten „Gesetz des Widerspruches“ abgeleitet werden, so weist Platner dieses Deduktionsverhältnis nunmehr explizit zurück: „Die Frage, ob der Satz des Widerspruchs, oder der Satz des Vgl. Leibniz, Neue Abhandlungen (wie Anm. 113), 78 u.ö. Platner, Anthropologie 1772 (wie Anm. 32), 34 (§ 95); vgl. hierzu das auf S. 123 angegebene Kant-Zitat. 119 Ebd., 33 f. (§ 93, Anm.); vgl. hierzu Diedrich Tiedemann, Untersuchungen über den Menschen, 3 Bde. Leipzig 1777–1778; zu Tiedemanns entschiedener Gegnerschaft zum Theorem der angeborenen Ideen vgl. Manfred Kühn, Art. Tiedemann [Biobibliographical appendix], in: Haakonssen (Hg.), Cambridge History (wie Anm. 22), 1226. 120 Platner, Aphorismen I 1784 (wie Anm. 107), 241 f. (§ 769). 121 Ebd., 265 (§ 821) und 267 (§ 828). 122 Platner, Aphorismen I 1776 (wie Anm. 82), 148 (§ 491). 117 118

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zureichenden Grundes höher sey, ist an sich selbst ohne allen Belang. Beyde lassen sich einander gegenseitig unterordnen und gegenseitig aus einander beweisen“.123 Dennoch bleibt der Satz des Widerspruchs für Platner in eigentümlicher Weise privilegiert; explizit begründet er diesen herausgehobenen Status nur pragmatisch: „Aber genug ist es, das der Satz des Widerspruchs der deutlichste und anschaulichste, und folglich zur Entscheidung aller streitigen Fälle der Vernunft, der schicklichste und entschiedenste ist“.124 Weil aber auch 1784 – trotz der Kritik Feders im Anschluß an die nämliche These in den Aphorismen 1776125 – „alles mögliche, als Gegentheil des Unmöglichen, nothwendig“ ist,126 was nur auf der Grundlage einer strengen Ableitung des principium rationis sufficientis aus den Satz des Widerspruchs Geltung haben kann, bleibt das vormals Wolffianische Modell entgegen den ausdrücklichen Ausführungen weiterhin gültig. Der grundlegenden Veränderung in der Epistemologie korrespondiert schon in diesem Text von 1784 – also nicht erst in der Neuen Anthropologie von 1790 – eine fundamentale Modifikation in anthropologischer Hinsicht. Zwar entfaltet Platner unter der schon 1776 ähnlich verwendeten Überschrift „Untersuchung, wiefern die Verbindung mit dem Körper zum Wesen der Seele gehöre?“ erneut ein einseitig funktionales Verhältnis zwischen Körper und Seele, insofern der „Mensch“ als „eine Art vernünftiger Geister“ bestimmt wird, „welche sich die Welt vorstellet mittelst eines thierischen Körpers“.127 Platner betont gar gegenüber 1776 die spezifisch anthropologische Dimension des Körper-SeeleVerhältnisses: Daß der Mensch, Mensch ist, d.h. die menschliche Art von Weltvorstellung (Ideen, Leben, Daseyn) hat, das ist gegründet 1) in der besonderen Beschaffenheit der menschlichen Seele, 2) in der besonderen Beschaffenheit des menschlichen Körpers. Aus der Vereinigung einer menschlichen Seele mit einem niederartigen Thierkörper würde kein Mensch, d.h. keine menschliche Weltvorstellung werden.128

Doch wird mit der Unterscheidung zwischen tierischem und menschlichem Körper unmißverständlich klar, daß die „Stetigkeit der Wesen in der göttlichen Ordnung“, mithin die Unsterblichkeit der menschlichen Seele, nur auf der Grundlage einer veränderten commercium-mentis-et-corporis-Theorie bestehen kann. Platner bedient sich hierfür – wie ähnlich schon 1772129 – des Begriffs

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Platner, Aphorismen I 1784 (wie Anm. 107), 272 (§ 843 Anm.). Ebd., 273. Vgl. hierzu Zitat und Angabe in Anm. 93. Platner, Aphorismen I 1784 (wie Anm. 107), 269 (§ 834). Ebd., 35 (§ 97). Ebd., 36 (§ 100 f.). Vgl. Platner, Anthropologie 1772 (wie Anm. 32), 44 ff. (§ 159 ff.).

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des „Seelenorgans“, den er allerdings im 1782 publizierten zweiten Teil der Aphorismen völlig neu bestimmt hatte: „Aus diesen Erläuterungen des IIten Theils ist begreiflich wie die Seele, auch ohne die Gemeinschaft mit diesem thierischen Körper, vereinigt bleibe mit dem wesentlich Seeleorgan“.130 Diese hier unerläutert bleibenden Thesen von einem „wesentlichen Seelenorgan“ können unter Rekurs auf die entsprechenden Passagen aus dem zweiten Teil der Aphorismen von 1782 präzisiert werden. In dieser Schrift entwickelt Platner nämlich im Rahmen einer Temperamentenlehre „Physiologische Grundsätze“, die seine Vorstellungen vom Seelenorgan aus der Anthropologie von 1772 grundstürzend ändern. Sie verlegen das allgemeine Vermittlungsproblem von Körper und Seele, die dort in einem letztlich dualistischen System bestimmt wurden, nun in das Seelenorgan selbst. Platner behauptet nämlich 1782 mit affirmativem Bezug auf Plotin, daß es nicht ein, sondern vielmehr zwei Seelenorgane gebe, die in Verbindung mit der „thierischen Masse“ den „menschlichen Körper“ ausmachten: Das erste Seelenorgan ist enthalten in den Gesichts- Gehör- und Gefühlsnerven, und in dem Werkzeuge der Phantasie, in wiefern sich die Phantasie auf diese Sinnen beziehet, und materiellen Ideen enthält, welche mittelbar, oder unmittelbar von denselben abhangen. Das andere S.O. [Seelenorgan] ist enthalten, in den Geruch- Geschmack- und gemeinen Gefühlnerven, und in dem Werkzeuge der Phantasie, in wiefern sich die Phantasie auf diese Sinnen bezieht und materielle Ideen enthält, welche mittelbar, oder unmittelbar von denselben abhangen. Das erste S.O. ist das wesentliche und edlere, und erwecket in der Seele diejenigen Ideen, oder Weltvorstellungen, welche sich unmittelbar beziehen, auf den wesentlichen Trieb nach Ideenbeschäftigung und auf die edlere Bestimmung des menschlichen Daseyns: nämlich Sinn- und Gedächtnisideen von Subjekten, Eigenschaften, Wirkungen, Verhältnissen der vorliegenden Welt; abgezogene, allgemeine Begriffe, und reine Wahrheiten und Grundsätze, Urtheile und Ueberzeugungen der Vernunft, eingekleidet in Worte oder in andere materielle Ideen.131

Entscheidend ist, daß beide Seelenorgane nach Platner interagieren und so auf unterschiedlichen Ebenen und im Zusammenspiel eine Vermittlung von Körper und Seele realisieren. Dabei ist das wesentliche Seelenorgan – obwohl durch die Sinne im unmittelbaren Kontakt zum menschlichen Körper – selbst an der Schwelle zur Immaterialität und daher mit konstitutiven Eigenschaften der Seele als Substanz ausgestattet: „Also das Seelenorgan der vernünftigen Seele ist ein ätherisches, himmlisches Wesen, welches unzerstörbar, und gleichwie die Seele welches es beschließt, unvergänglich ist“.132 Platner vermittelt mit diesem Seelenorgan die universelle Geltung seiner commercium-Theorie mit

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Platner, Aphorismen I 1784 (wie Anm. 107), 37 f. (§ 106). Platner, Aphorismen II 1782 (wie Anm. 4), 244 f. (§§ 564–566). Ebd., 247 (§ 569 Anm.).

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dem Postulat einer Unsterblichkeit der Seele; diese kann nun gar mit dem Seelenorgan den Körper verlassen und in die Ewigkeit eingehen. Daß Platner mit diesem ‘immateriellen Seelenorgan’ das schon 1772 ungelöste commercium-Problem nur verlagert, nämlich in die hybride Konstruktion eines ‘unvergänglichen Organs’, kann in vorliegendem Zusammenhang unbetrachtet bleiben. Wichtiger scheint, daß der in erkenntnistheoretischer und metaphysischer Hinsicht konvertierte Platner seine physische Anthropologie gerettet sieht, weil noch diejenigen Momente der Seele, in denen die ewigen Gesetze der Vernunft eingeboren liegen, mit Hilfe jenes wesentlichen Seelenorgans an den Körper vermittelt sind. Die rationalistische Seelenlehre, Erkenntnistheorie und Metaphysik, zu der Platner sich durchrang, gerade um die rationalen Prämissen aller physischen Anthropologie angemessen zu berücksichtigen, bedroht zugleich deren Kohärenz und damit deren Stellung als Fundierungstheorem. Mit der Einführung eines doppelten Seelenorgans scheint nicht nur dieses Problem einer Vermittlung von Epistemologie und Anthropologie gelöst, auch die Anschlüsse zur Theologie scheinen wiederhergestellt, weil das commercium-Postulat einer Unsterblichkeit der Seele nicht mehr im Wege steht. Doch der Schein trügt: Kaum zehn Jahre später wird Platner das Verhältnis von Anthropologie, Erkenntnistheorie und Metaphysik erneut modifizieren. V. Im Schatten Kants: Anthropologie als Moment praktischer Vernunft (1793/1800) Die 1793 erschienene dritte Auflage des ersten Teils der Philosophischen Aphorismen steht deutlicher als die vorherige Auflage im Interesse einer Auseinandersetzung mit der Kantischen Philosophie: „Wirklich hat mich, nächst Tetens Versuchen über die menschliche Natur, kein neuerlich herausgekommenes philosophisches Buch so sehr interessiert, als Kants Kritik der Vernunft“.133 Bemerkbar134 macht sich der Einfluß dieser Lektüre schon in der Zuweisung Ernst Platner, Philosophische Aphorismen nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte. Ganz neue Ausarbeitung. Erster Theil, Leipzig 1793. 134 Es braucht in vorliegendem Zusammenhang nicht darüber gestritten zu werden, ob und in welchem Maße Platner das Kantische Programm überhaupt verstanden hat. Sicher sind ihm die Kernelemente der Kantischen Transzendentalphilosophie verschlossen geblieben; auch auf der Ebene der praktischen Philosophie konnte sich Platner nie vollkommen von einem eudämonistischen Programm verabschieden – doch kann sich die hier bevorzugte ideengeschichtliche Perspektive zunächst nur auf die Rekonstruktion der Bedeutung dieser Kant-Lektüre für Platners Epistemologie, Anthropologie und Metaphysik beschränken. Die ältere Forschung zu Platner hat der philosophiegeschichtlich wichtigen Frage des systematischen Verhältnisses zwischen Platner und Kant in fruchtbarer Weise großes Gewicht beigemessen; vgl. u.a. Seligkowitz, Platner’s 133

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der hier im Zentrum der Betrachtung stehenden ideae innatae zur Logik und damit zur Erkenntnistheorie. Waren die angeborenen Ideen – nicht in ihrem Ursprung, wohl aber in ihrem Gehalt – unter dem Einfluß Leibniz’ (und Wolffs) – 1784 der Metaphysik zugeteilt worden, so kehren sie – offenbar unter dem Einfluß Kants – in die Epistemologie zurück. Im letzten Abschnitt der „Logik, Von dem Wesen des höhern Erkenntnisvermögens“,135 entwickelt Platner nun seine erneut modifizierte Lehre von den angeborenen Ideen als einem „System“.136 Anders als noch 1784 kann er zudem die dort disziplinär getrennt ausgeführten erkenntnisgenetischen und erkenntnistheoretischen Dimensionen dieser Frage unmittelbar nacheinander abhandeln. Im Hinblick auf die erste Frage nach dem Ursprung der ewigen Wahrheiten stellt Platner zunächst fest, daß nicht die Begriffe selber, sondern die allgemeine Fähigkeit zu ihrer Bildung angeboren sei; in zwei weiteren Argumentationsschritten präzisiert er seine gesamte Konzeption: Die Fähigkeit zu einer Vorstellung ist nicht im eigentlichen Verstande ein Begriff; als welcher selbst eine Vorstellung ist; also sind nicht die Grundbegriffe, sondern eigentlich nur die Fähigkeiten sie vorzustellen, ursprünglich in der Seele vorhanden. Das, was einen Begriff in Ansehung seiner vorstellungsmäßigen Merkmale bestimmt, ist seine Form […] Da nun alle unsere Vorstellungen die Form jener Grundbegriffe haben, so muß das Vorstellungsvermögen sie ihnen ertheilen und mithin sie ursprünglich in sich selbst haben; […]. Der Ausdruck: es sind der Seele ursprünglich angebohren die Formen der Grundbegriffe, ist noch immer eine Metapher: der eigentliche Sinn ist: Die Seele ist von Natur so eingerichtet, daß sie alles, was sie vorstellt oder denkt, als Gegenstände sinnlicher Erfahrung vorstellt oder denkt, in der Form jener Grundbegriffe; d.h. entweder als Substanz, oder als Acczidenz, als Eins, oder Viele usw. und zwar mit den Bestimmungen von Raum und Zeit.137

Daß Platner hiermit keineswegs eine Kantischen Konzeption vorstellt, sondern seinen Leibniz entlehnten dispositionellen Innatismus schlicht verfeinert,138 macht er – neben der letzteren Andeutung, nach der Raum und Zeit zu Kategorien erklärt werden – kenntlich durch einen erneuten Versuch der Vermittlung von Lockes Verstandesfähigkeiten und Leibniz’ angeborenen Ideen139 sowie

wissenschaftliche Stellung (wie Anm. 86); Wreschner, Ernst Platner (wie Anm. 110); Paul Rohr, Platner und Kant. Ein Beitrag zur Geschichte der Philosophie, Gotha 1890, sowie die Beiträge von Werner Euler, Udo Thiel, Falk Wunderlich und Temilo van Zantwijk in diesem Band. 135 Platner, Philosophische Aphorismen I 1793 (wie Anm. 133), 306–374, hier 314 ff. (§ 661 ff.). 136 Ebd., 318 (§ 669). 137 Ebd., 315 f. (§§ 664–666). 138 Zu dieser Einschätzung vgl. auch Rohr, Platner und Kant (wie Anm. 134), 66 f. 139 Platner, Philosophische Aphorismen I 1793 (wie Anm. 133), 319 (§ 669 Anm.).

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weitere ausdrückliche Abgrenzungen zu Kant.140 Zugleich betont er die besondere Leistungsfähigkeit der Kantischen Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft für Fragen des Innatismus: Alle Schriftsteller, (ich nehme mich selbst nicht aus), haben bisher die Frage von dem Ursprünglichen, Angebohrnen in dem E.V. [Erkenntnisvermögen] so mit ganz ungetheilter Rücksicht auf Verstandesbegriffe und Vernunftgesetze behandelt, daß daraus nothwendig allenthalben Unbestimmtheit und Verwirrung entstehen mußte. […] Wenn diese Streitigkeit, wie es jetzt wirklich das Ansehen hat, endlich einmal aufs reine gebracht werden sollte; so wäre es vorzüglich Kants Verdienst; denn ohne eine systematische Darstellung der Grundbegriffe, und ohne eine genaue Unterscheidung derselben von den Vernunftgesetzen war das unmöglich.141

Mithilfe dieser Unterscheidung kann Platner verdeutlichen, daß angeboren keineswegs Verstandesbegriffe, sondern einzig Vernunftgesetze seien, die hinsichtlich ihres Gehaltes – wie schon in den Jahrzehnten zuvor – durch das Gesetz des Widerspruchs, des Grundes, der Folge und der Notwendigkeit konkretisiert werden.142 Doch weil sich der Status dieser Vernunftgesetze durch den Einfluß Kants gegenüber 1776 und 1784 grundlegend ändert, sie keine metaphysischen Gesetze darstellen, sondern nurmehr „logische Bedeutung“143 haben, kann Platner das 1784 explizit zurückgewiesene Ableitungsverhältnis des Satzes vom zureichenden Grunde aus dem Satz des Widerspruchs erneut ausführen;144 für Platner ist Kant das Einfallstor eines zurückgewonnenen Wolffianismus in Grundsatzfragen. So kann er nun abschließend seinen ebenso kantisch verfeinerten wie wolffianisch tingierten Leibnizianismus in Fragen des Innatismus wie folgt zusammenfassen: „Erst dann, wann die Grundgesetze der Vernunft sich geäußert, entwickelt, in Worte eingekleidet und so als bewußte Vorstellungen sich dem Gedächtnis einverleibt haben: können sie Grundsätze der Vernunft genannt werden. Also sind angebohren, nicht die Grundsätze, sondern die Grundgesetze der Vernunft“.145 Daß diese Konzeption den Kantischen Ergebnissen weniger entspricht, als dies Platner wohl erhoffte – was ihm allerdings schon von Reinhold präzise vorgerechnet wurde146 – soll unter der hier gewählten ideengeschichtlichen Ebd., 319 (§ 670). Ebd., 321 (§ 672 Anm.) sowie 328 (§ 681 Anm.) 142 Ebd., 321 ff. (§§ 676–677). 143 Ebd., 322 (§ 673 Anm.). 144 Ebd., 322 (§ 674): „Also schreibt, in dem Gesetze des Widerspruchs, die Vernunft vor das Gesetz des Grundes: Nichts denken ohne Grund der Gedenkbarkeit“. 145 Ebd., 328 (§ 682). 146 [Carl Leonhard Reinhold], [Rez.] Ernst Platner, Philosophische Aphorismen, in: Allgemeine Literaturzeitung 379/380 (2./3. Dezember 1794), Sp. 473–480; vgl. hierzu auch den Beitrag von Alessandro Lazzari in diesem Band. 140 141

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Perspektive weniger interessieren als die Tatsache, daß Platners eigentümliche Kant-Rezeption auch zu einem soweit veränderten Logik-Begriff führte, daß die jahrelang drängenden Probleme einer Verknüpfung des Innatismus mit dem commercium-Theorem 1793 irrelevant geworden scheinen. Zumindest wird die Gemeinschaft von Seele und Körper in diesem Text – mit Ausnahme der Theorie des influxus physicus als einem der drei möglichen Modelle für die Interaktion von Substanzen, die allerdings allesamt verworfen werden147 – nicht mehr erwähnt. Dieses Aussparen einer Anthropologie aus den Fragen der Erkenntnistheorie und damit der Metaphysik wird ermöglicht durch das Konzept einer sogenannten „höheren Logik“,148 die die epistemologischen Bedingungen für eine allgemeine Metaphysik formulieren soll, zu denen die hier betrachteten Ausführungen zum Innatismus und zu den Gesetzen der Vernunft gehören und die – wie bei Kant – ohne erkenntnisgenetische und damit anthropologische Grundlegung bestimmt werden können. Diese bemerkenswerte Tatsache bedeutet allerdings nicht, daß für den philosophierenden Arzt Ernst Platner das Zentralthema seiner Anthropologie von 1772 – der ‘ganze Mensch’, der sich ab 1782 und verstärkt in der Neuen Anthropologie von 1790 in der Interaktion der Seelenorgane verwirklichte – vollkommen unbearbeitet bliebe im Sinne der Kantischen Maxime, daß „alles theoretische Vernünfteln hierüber [das Verhältnis von Geist und Gehirn] reiner Verlust“ sei.149 Vielmehr verlagert Platner das mind-body-problem und damit eine abermals erneuerte Anthropologie in die praktische Philosophie und ruft im Jahre 1800, in der zweiten Auflage des zweiten Teils seiner Aphorismen, jene Formeln auf, die in den 1770er Jahren die Konjunktur der physischen Anthropologie trugen: „Das sinnliche Wesen, der Mensch ist eine Zusammensetzung von Thier und Geist“.150 Die Lösung der hier wie 1770 mit dem Begriff der „Zusammensetzung“ aufgerufenen Problematik wird aber nicht mehr der physischen Anthropologie überantwortet, sondern einer praktischen Wissenschaft: „Die Metaphysik betrachtet den Menschen, einseitig, als Geist; die Physiologie, einseitig, als Thier; die Moral betrachtet ihn im Ganzen, als sinnliches Geschöpf, als Mensch“.151 Das commercium mentis et corporis, dessen „physiologische Grundsätze“ – wie schon 1782 – in das Problem der Korrelation der beiden Seelenorgane verlegt werden, ist hiermit aus seiner Funktion der Grundlegung (1772) bzw. einer zentralen Bedingung (1776 und 1784) für eine

Platner, Philosophische Aphorismen I 1793 (wie Anm. 133), 567 ff. (§ 817 ff.). Ebd., 27 ff. (§ 22 ff.). 149 Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Werke (wie Anm. 77), Bd. 10, 399–690, hier 399. 150 Platner, Anthropologie II 1800 (wie Anm. 6), 230 (§ 392). 151 Ebd., 233 f. (§ 394). 147 148

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jede Epistemologie und Metaphysik endgültig entlassen und als Moment einer eudämonistisch ausgerichteten Ethik inthronisiert.152 Daß Platner für diese Volte keine grundlegenden ‘Wenden’ vollziehen mußte, sondern vielmehr einen Prozeß der Ausdifferenzierung eines schon 1772 angelegten Programms, zeigt ein Blick auf die ersten Paragraphen jener ersten Anthropologie, die eben nicht mit dem commercium-Problem einsetzen, sondern vielmehr mit einer Bestimmung des Menschen beginnen, die dessen Telos als Suche nach Glückseligkeit und damit eindeutig praktisch auslegen. Physische Anthropologie – so zeigt die philosophische Entwicklung Ernst Platners – ist letztlich fundiert in einer dogmatisch-eudämonistischen ‘Metaphysik der Sitten’; erst 1800 kann sich Platner zu dieser impliziten Anlage seiner Fragestellung explizit durchringen. VI. Anthropologie und Metaphysik Unübersehbar hatte das Festhalten an den Grundsätzen des Rationalismus schon 1772 wie auch noch 1776 die Funktion des Zurückweisens jeglichen Skeptizismus und Materialismus; ebenso topisch wie die – oft problematische – Berufung auf Erfahrung taucht die Abwehr des Skeptizismus und des Materialismus in den Texten Platners auf.153 Und dieser weitgehend affektive AntiMaterialismus macht eine wichtige und zu grundlegenden Aporien führende Prämisse der meisten Anthropologien seit 1772 aus, so daß sie sich – trotz influxus physicus und der Affinität zu monistischen Erklärungsmodellen – nicht zu einer konsequent materialistischen Psychologie und Anthropologie durchringen können.154 Platners Weg aber ist darüber hinaus gekennzeichnet durch die Umkehrung dessen, was die Forschung als ‘anthropologische Wende’ bezeichnete,155 nämlich durch die konsequente Rückkehr zur Leibnizschen Epistemologie und Metaphysik, gerade um – zumindest bis 1790 – einen theoretischen Fundierungsanspruch der Anthropologie realisieren zu können, der das Körper-SeeleZur womöglich grundsätzlich moraltheoretischen Fundierung der Anthropologie der Spätaufklärung vgl. Gideon Stiening, Rezension von Garber, Thomas (Hg.), Empirisierung (wie Anm. 11), in: Das achtzehnte Jahrhundert 29.2 (2005), 244–254. 153 Vgl. u.a. Platner, Anthropologie 1772, (wie Anm. 32), 25 ff. (§ 89 ff.); Platner, Aphorismen I 1776 (wie Anm. 82), 210 ff. (§ 687 ff.); Platner, Aphorismen I 1784 (wie Anm. 107), 351 (§ 990); Platner, Neue Anthropologie 1790 (wie Anm. 102), 54 ff. (§ 161 ff.), sowie Platner, Aphorismen I 1793 (wie Anm. 133), 389 ff. (§ 747 ff.); vgl. hierzu auch den Beitrag von Martin Bondeli in diesem Band. 154 Vgl. hierzu schon Cassirer, Aufklärung (wie Anm. 19), 155 ff. 155 Vgl. u.a. van Hoorn, Vom Leibe abgelesen (wie Anm. 12), 6 ff.; Riedel, Anthropologische Wende (wie Anm. 27). 152

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Verhältnis als Grundlagentheorem aufrechterhält. Erst die umfangreichere Rezeption der Kantischen Philosophie wird die Anthropologie zu einer Grundlage nur mehr der Ethik depotenzieren, ohne allerdings vom metaphysischen Charakter anthropologischer Voraussetzungen abzurücken. Denn eine Grundlegung allen Wissens und Handelns auf das commercium mentis et corporis, die Platner bis in die 1780er Jahre und danach ausdifferenziert behauptet,156 ist streng empiristisch nicht zu begründen, nicht nur weil dieses commercium tatsächlich nicht zu beobachten ist157 – weshalb solcherart Physiologie immer spekulativ bleibt –, sondern auch, weil sein Status als Fundierungstheorem nur rational begründet werden kann. Dem strengen Empiriker – das zeigten Tetens und Kant – muß alles ‘Vernünfteln’ über das Verhältnis von Geist und Gehirn stets ‘reiner Verlust’ sein und bleiben, so daß bei den meisten Anthropologien der 1770er Jahre auf der Grundlage der stets uneingestandenen Fundierungsfunktion rationalistischer Prämissen und einem zugleich ausdrücklichen Empirismus von einem ‘spekulativen Empirismus’ ebenso gesprochen werden kann wie von einer „spekulativen Physiologie“.158 Platners Weg von Locke zu Leibniz macht die Notwendigkeit rationalistischer Voraussetzungen jedes anthropologischen Programms nur explizit, und aus ebendiesem Grunde ist die Geschichte seines philosophischen Werkes für die systematische Problemlage physischer Anthropologie im 18. Jahrhundert und darüber hinaus besonders aussagekräftig. Für die Aufrechterhaltung des Programms einer solchen Anthropologie in Abgrenzung zum stets abgelehnten Materialismus mußte Platner ab 1776 auf die Theorie der angeborenen Ideen und damit auf ein klassisch rationalistisches Konzept zurückgreifen. Im Abschnitt über die „Wirklichkeit einer Seele in der menschlichen Natur“ der Neuen Anthropologie heißt es gegen Ende: Ein voller und in seiner Völligkeit erhabener Begriff von dem inneren geistigen Wesen der Seele, ist, nach der Einsicht des Verfassers, nicht anders möglich, als mittels der auf wohlerklärten Erfahrungen und deutlich eingesehenen Schlüssen beruhenden Ueber-

Insofern ist nur schwer zu begreifen, daß Tanja van Hoorn (Vom Leibe abgelesen [wie Anm. 12], 7) eine Anthropologie-Konzeption gegen die Platnersche konturiert, die „unmittelbar am Körper des Menschen“ ansetze bzw. – was wohl synonym zu verwenden ist – „dem Leibe zugewandt“ sei. Platners Versuche einer Fundamentalanthropologie setzen unverkennbar unmittelbar am Körper an, sie versuchen nur zugleich, einen Materialismus zu vermeiden. Platner umgeht damit nur jene Widersprüche, denen der sich als Materialist begreifende, in Wahrheit einem naiven Dogmatismus verpflichtete Georg Forster zeitlebens ausgesetzt blieb. 157 Vgl. hierzu Michael Wolff, Das Körper-Seele-Problem. Kommentar zu Hegel, Enzyklopädie (1830), § 389, Frankfurt am Main 1992. 158 Vgl. hierzu Falk Wunderlichs (Bewußtseinstheorien [wie Anm. 21], 82) jüngst in bezug auf Platners Anthropologie gefundene glückliche, weil präzise Bestimmung einer „spekulativen Physiologie“. 156

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zeugung, daß in der Seele beschlossen liegt das ganze System der ewigen Wahrheiten der Vernunft.159

Dieses „angebohrne System der reinen Vernunft“160 ist aber essentielles Moment der in dieser Neuen Anthropologie eigentlich interessierenden Frage nach einer nicht-materialistischen Lösung des Leib-Seele Problems: Der Mensch ist in sofern das Ganze von Seele und Körper, wiefern die Veränderungen der Seele, theils Wirkungen, theils Ursachen von Veränderungen des Körpers, folglich Seele und Körper, durch diese wechselseitige Verhältnis, innigst und genau verbunden sind.161

Spätestens ab 1793 sind solcherart Spekulationen nur als Moment einer ausschließlich praktischen Metaphysik zu halten. Die Studie versucht Platner Entwicklung vom strengen Empiristen und LockeAnhänger zum moderaten Rationalisten und Leibniz-Verehrer nachzuzeichnen. Im Fokus dieser Rekonstruktion steht Platners zunächst ablehnende, dann affirmative Stellung zum Theorem der angeborenen Ideen, das schon zwischen Locke und Leibniz kontrovers diskutiert wurde. Es läßt sich zeigen, daß Platners Wandlung zum Leibnizianer im Spannungsverhältnis zwischen den Wissensfeldern der Anthropologie, Erkenntnistheorie und Metaphysik gründet, das seit der ersten Auflage der Anthropologie von 1772 stets neu systematisiert werden mußte. Die physische Anthropologie – jene Lehre vom ‘ganzen Menschen’ –, die Platner als Fundamentalwissenschaft inaugurierte, verändert in diesem Prozeß ihre Stellung und wird über mehreren Zwischenstufen zu einer Bedingung der Ethik herabgestuft. In this study it is intended to trace Platner’s development from a strict empiricist and adherent of Locke to a moderate rationalist and devotee of Leibniz. At the centre of this reconstruction stands Platner’s initially adverse, later on affirmative attitude towards the theorem of innate ideas about which Locke and Leibniz had already discussed controversially. It is shown that Platner’s conversion to a Leibnizite is based on the stress ration between the fields of anthropology, epistemology and metaphysics, which had to be re-systematized again and again after the first edition of the anthropology in 1772. The physical anthropology – that theory of the ‘complete man’ – which Platner inaugurated as a fundamental science changes its position in that process and is degraded to a requirement of ethics on several interstages. Dr. Gideon Stiening, Institut für deutsche Philologie, Schellingstraße 3, 80799 München, E-Mail: [email protected]

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Platner, Neue Anthropologie (wie Anm. 102), 56 f. (§ 170). Ebd., 57 (§ 171). Ebd., 59 (§ 176).

U DO T H I E L Das „Gefühl Ich“ Ernst Platner zwischen Empirischer Psychologie und Transzendentalphilosophie

Wenn von der Geschichte der heute viel diskutierten Selbstbewußtseinsproblematik die Rede ist, wird Ernst Platner nur äußerst selten erwähnt.1 Dies ist bedauerlich insofern, als sich bei Platner begriffliche Unterscheidungen und Argumente finden, die beachtenswert sind und auf Probleme verweisen, die durchaus auch in der Gegenwartsdiskussion wiederkehren und von systematischem Interesse sein können. Möglicherweise hat die Vernachlässigung Platners damit zu tun, daß er oft vorschnell und vereinfachend als „Wolffianier“ kategorisiert wird und somit als nicht originell gilt.2 Platners Ansatz soll im vorliegenden Beitrag vor allem in seinem Verhältnis zu Kant und Reinhold erläutert und kritisch gewürdigt werden. Seine Ausführungen zum Selbstbewußtsein stehen natürlich auch im Kontext der zahlreichen vorkantischen Überlegungen zu diesem Thema, nicht zuletzt Christian Wolffs und seiner Schüler und Kritiker. Schon 1772 also, als Platner seine Anthropologie zum ersten Mal veröffentlichte, konnte er auf eine Diskussionsgeschichte zum Selbstbewußtsein zurückgreifen. Es ist nicht möglich, im Rahmen dieses Beitrags diese recht komplexe Geschichte von Locke bis Wolff und darüber hinaus im einzelnen zu untersuchen.3 Es sei schon hier darauf hingewiesen, daß Plat-

Die ausführlichste Untersuchung zu Platners theoretischer Philosophie, in der auch das Problem der Selbstbezüglichkeit behandelt wird, liegt schon mehr als 100 Jahre zurück. Vgl. Arthur Wreschner, Ernst Platner und Kant’s Kritik der reinen Vernunft mit besonderer Berücksichtigung von Tetens und Aenesidemus, Leipzig 1893. 2 Vgl. beispielsweise Manfred Frank, Selbstgefühl, Frankfurt am Main 2002, 39. 3 Vgl. hierzu Udo Thiel, Leibniz and the Concept of Apperception, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 76/2 (1994), 195–209; Hume’s Notions of Consciousness and Reflection in Context, in: British Journal for the History of Philosophy 2/2 (1994), 75–115; Between Wolff and Kant: Merian’s Theory of Apperception, in: Journal of the History of Philosophy 34 (1996), 213– 232; Varieties of Inner Sense. Two Pre-Kantian Theories, in: Archiv für Geschichte der Philoso1

Aufklärung 19 · © Felix Meiner Verlag 2007 · ISSN 0178-7128

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ner in den 1770er Jahren einen Aspekt des Selbstbewußtseins hervorgehoben hat, der von vielen seiner Zeitgenossen vernachlässigt wurde – nämlich den des Leibbezugs des Bewußtseins. Später, unter dem Einfluß Kants und Reinholds, entwickelt Platner neue Gedanken zum Thema, ohne aber die Idee des Leibbezugs zu verwerfen. Wie sich zeigen wird, ergibt sich die Problematik von Platners nachkantischer Theorie jedoch gerade aus ihrem Verhältnis zu seinem frühen Verständnis von Selbstbewußtsein. Platner stellt in der dritten Auflage der Philosophischen Aphorismen (1793) seine Position als die eines „wohlverstandenen Skeptizismus“ dar.4 Der kantischen Kritik, die für ihn „dogmatisch“ ist,5 stellt er seine eigene „skeptische Kritik“ gegenüber.6 Wir könnten nicht mit absoluter Gewißheit erkennen, sagt Platner gegen Kant, was die Natur unseres Erkenntnisvermögens sei. Wir seien bestenfalls in der Lage, Hypothesen über solche Dinge zu formulieren. Denn das „menschliche Erkenntnißvermögen hat nicht das Ansehen sich selbst erklären zu können“.7 Platners „skeptische Kritik“ folgt aber nicht einfach Hume, sondern nimmt Gedanken von Kant und Reinhold auf, obwohl sie auch gerade gegen diese gerichtet ist. Platners Äußerungen zum Selbstbewußtsein und zur Identität illustrieren dies. In bezug auf Platners nachkantische Schriften und insbesondere auf den ersten Teil der Philosophischen Aphorismen von 1793 läßt sich eine Unterschei-

phie 79/1 (1997), 58–79; Kant’s Notion of Self-Consciousness in Context, in: Volker Gerhardt, Rolf-Peter Horstmann, Ralph Schumacher (Hg.), Kant und die Berliner Aufklärung, Berlin, New York 2001, Bd. 2, 468–476; Self-Consciousness and Personal Identity, in: Knud Haakonssen (Hg.), The Cambridge History of Eighteenth-Century Philosophy, Cambridge 2006, 286–318; Zum Verhältnis von Gegenstandsbewußtsein und Selbstbewußtsein bei Wolff und seinen Kritikern, in: Jürgen Stolzenberg, Oliver-Pierre Rudolph (Hg.), Christian Wolff und die Europäische Aufklärung, Hildesheim (im Erscheinen). Vgl. auch Falk Wunderlich, Kant und die Bewußtseinstheorien des 18. Jahrhunderts, Berlin, New York 2005. 4 Ernst Platner, Philosophische Aphorismen nebst einigen Anleitungen zur Philosophischen Geschichte. Erster Theil. Ganz neue Ausarbeitung, Leipzig 1793, XV. Auf diese Auflage des ersten Teils wird im folgenden verwiesen. 5 Ebd., 335 (§ 696). 6 Ebd., 353, (§ 705). 7 Ebd., 364, (§ 709). Arthur Wreschner behauptet hinsichtlich des Platnerschen Skeptizismus einen Einfluß von Schulzes Aenesidemus (Wreschner, Ernst Platner [wie Anm. 1], 12, 109–111). Und in der Tat sind Ähnlichkeiten zwischen Schulzes und Platners Kant-Kritik festzustellen, aber es gibt auch bedeutende Unterschiede. Dies läßt sich am Verhältnis beider Denker zu Hume feststellen. Zwar bewundert Platner Hume durchaus (Platner, Aphorismen I 1793 [wie Anm. 4], 358 [§ 705]), fordert aber anders als Schulze nicht eine Rückkehr zu Hume. Beispielsweise weist er Humes skeptische Behandlung des Ich und die „Bündel“-Theorie ausdrücklich zurück (ebd, 90 [§ 150]). Siehe hierzu auch die Angaben in Anm. 59.

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dung von vier Arten des Bewußtseins feststellen, die alle einen Selbstbezug bedeuten bzw. enthalten: (1) Das Bewußstsein von Vorstellungen: das „Ich denke“.8 (2) Das Bewußtsein der Existenz: das „Ich bin“.9 (3) Das „Bewußtseyn der Persönlichkeit“.10 (4) Das Bewußtsein als Selbstgefühl oder „Gefühl Ich“.11 Wie wir sehen werden, sind diese vier Arten des Bewußtseins auf verschiedene Weisen miteinander verknüpft, ohne daß Platner selbst diese Zusammenhänge immer deutlich macht. Auch die Unterscheidung in vier distinkte Arten des Bewußtseins wird von Platner nicht in der hier dargestellten systematischen Form vorgenommen, ist aber durch den Text inhaltlich gerechtfertigt. Das Selbstgefühl oder das „Gefühl Ich“ erweist sich dabei als eine fundamentale Art des Bewußtseins oder des Selbstbezugs – als etwas, das als eine notwendige Bedingung der anderen Formen des Bewußtseins fungiert.

I. Das Bewußtsein von Vorstellungen: Wolff – Reinhold – Platner Platner argumentiert nachdrücklich für die Existenz unbewußter Vorstellungen.12 Allerdings sind nur die bewußten laut Platner Vorstellungen „im eigentlichen Verstande“, sie werden von ihm auch „völlige Vorstellungen“ genannt.13 Offensichtlich kann es nur um diese gehen, wenn das Bewußtsein verhandelt werden soll. Diesbezüglich betont Platner bereits in der frühen Anthropologie von 1772, daß die Unterscheidungsfähigkeit bzw. -handlung ein dem Bewußtsein von Vorstellungen wesentliches Merkmal sei.14 Damit folgt er wie viele andere seiner Zeit einem einflußreichen Gedanken, den Christian Wolff in seiner Deutschen Metaphysik von 1720 zum Ausdruck gebracht hat. Bei Wolff heißt es aber nicht nur, „daß wir uns alsdenn der Dinge bewust sind, wenn wir sie voneinander unterscheiden“,15 sondern auch, daß wir beim Unterscheiden Platner, Aphorismen I 1793 (wie Anm. 4), 79 (§ 126). Ebd., 88 (§ 145). 10 Ebd., 76 (§ 122). 11 Ebd., 88 (§ 146). 12 Ebd., 32–36 (§§ 28–33) und 69–71 (§ 113). 13 Ebd., 2 (§ 28). 14 Ernst Platner, Anthropologie für Aerzte und Weltweise, Leipzig 1772 (Nachdruck Hildesheim 1998), 13 (§ 45). 15 Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt (Christian Wolff, Gesammelte Werke, Teil I, Bd. 2, hg. von Charles A. Corr, Hildesheim 1983 – Abk.: Deutsche Metaphysik) § 729. Vgl. zu Wolff Thiel, Zum Verhältnis von Gegenstandsbewußtsein und Selbstbewußtsein bei Wolff und seinen Kritikern (wie 8 9

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der Gegenstände voneinander uns dieser Unterscheidungshandlung bewußt werden und dadurch unserer selbst als etwas von den Gegenständen, derer wir uns bewußt sind, Unterschiedenes.16 Die Unterscheidungshandlung bringt laut Wolff also ein Bewußtsein von dieser Handlung und damit auch von dem Subjekt dieser Handlung mit sich. In diesem Sinne ist das Bewußtsein für Wolff immer zugleich subjekt- und objektbezogen. Dieser Gedanke findet sich bei Platner leicht abgewandelt sowohl in den vor- als auch in den nachkantischen Schriften. In der Anthropologie von 1772 betont Platner wie Wolff die Bedeutung der Unterscheidungsfähigkeit für Gegenstands- und Selbstbewußtsein: Ich bin mir der Gegenstände, die ich denke, als außer mir bewußt, und unterscheide sie von meiner Person von mir selbst – ich vergleiche jedesmal das Verhältnis in denen ich mit ihnen stehe – also bin ich mir meiner selbst bewußt, indem ich mich niemals mit anderen Gegenständen vermische. Folglich bin ich mir meines Daseyns bewußt.17

Platner präzisiert seinen Selbstbewußtseinsbegriff später durch die Differenz von Klarheit und Deutlichkeit. Das Bewußtsein von einer Vorstellung sei dann deutlich, wenn wir auch den Unterschied zwischen dem Objekt und unserem Ich oder unserer Seele perzipieren, und zwar derart, daß wir uns den Akt des Unterscheidens zwischen Subjekt und Objekt vorstellen. Ohne eine solche Vorstellung von dem Akt des Unterscheidens sei das Bewußtsein nicht deutlich, sondern nur klar: „Wenn die Seele den Unterschied des Gegenstandes und ihrer selbst […] so wahrnimmt, daß sie sich wiederum die Unterscheidung vorstellt: so ist das Bewußtseyn deutlich; außerdem nur klar“.18 Nach Platner kann es also kein Bewußtsein ohne die Unterscheidungshandlung geben, aber sehr wohl Bewußtsein, das nicht deutlich ist, das heißt Bewußtsein, das nicht ein Bewußtsein von dieser Unterscheidungshandlung selbst mit sich bringt.19 Die zuletzt zitierte Stelle stammt aus den Philosophischen Aphorismen von 1793, aus einem Werk also, in dem Platner auch Kant und Reinhold verarbeitet. Im gegenwärtigen Zusammenhang ist besonders Reinhold von Bedeutung, da für diesen das Verhältnis von Subjekt, Objekt und Vorstellung an systematisch zentraler Stelle steht. Reinhold dürfte ähnlich wie schon Platner in den 1770er Jahren von den skizzierten Wolffschen Gedanken inspiriert gewesen

Anm. 3), und Wunderlich, Kant und die Bewußtseinstheorien des 18. Jahrhunderts (wie Anm. 3), 18–46. 16 Wolff, Deutsche Metaphysik (wie Anm. 15) § 730. 17 Platner, Anthropologie 1772 (wie Anm. 14), 13 (§ 45). 18 Platner, Aphorismen I 1793 (wie Anm. 4), 79 f. (§ 127). 19 Ebd., 80 (§ 128).

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sein.20 Aber anders als Wolff entwickelt Reinhold eine Theorie, derzufolge das Verhältnis von Subjekt-Objekt und Vorstellung in die Form eines Prinzips zu bringen ist, das die gesamte Philosophie fundieren könne. In diesem Prinzip, von Reinhold „Satz des Bewußtseins“ genannt, geht es näherhin um das Wesen der Vorstellung. Es besagt, „dass die Vorstellung im Bewusstseyn durch das Subjekt vom Objekt und Subjekt unterschieden und auf beyde bezogen werde“.21 Beim Vorstellen seien also notwendigerweise beteiligt: ein Subjekt und ein Objekt und die Handlungen des Unterscheidens und Beziehens der Vorstellung in Rücksicht auf das Subjekt und das Objekt. Reinholds Prinzip nimmt hier einen Gegenstandsbezug als mit dem Selbstbezug gleichursprünglich an. Es ist diese doppelte Beziehung auf Subjekt und Objekt, die das Vorstellen allererst ermöglicht. Der im Satz des Bewußtsein angesprochene Subjektbezug ist daher nicht ein solcher des Vorstellens, sondern ist vielmehr als notwendige Bedingung des Vorstellens anzusehen – und damit auch des Denkens überhaupt und der Philosophie. Platners Formulierungen erinnern bisweilen deutlich an diese Reinholdschen Überlegungen, auf die er sich auch ausdrücklich beruft.22 Für Platner unterscheidet die Seele im Bewußtsein der Vorstellung diese sowohl von ihrem Gegenstand als auch von ihr selbst, dem Subjekt. Und die sinnliche Vorstellung werde „bezogen einerseits auf einen äußerlichen Gegenstand, andererseits auf die Seele als auf das vorstellende Subjekt. Und so entsteht das Bewußtseyn, in welchem einerseits Bewußtseyn des Gegenstandes ist, und andererseits Selbstbewußtseyn“.23 Das Bewußtsein von Vorstellungen, so scheint Platner hier zu sagen, enthalte ein Beziehen sowohl auf das Objekt als auch auf das vorstellende Subjekt. Das Bezogensein der Vorstellung auf das Subjekt nennt Platner „Selbstbewußtseyn“. Zum Objektbezug merkt Platner an, wie es scheint ganz in Übereinstimmung mit Kant und Reinhold, daß dazu eine bestimmte „Verbindung des Denkens“ erforderlich sei: „Bezieht aber die Seele die Vorstellungen nicht auf sich, so kann sie sie auch nicht beziehen auf einen Gegenstand: denn dieses setzt Alessandro Lazzari hat darauf hingewiesen, daß Reinholds Betonung der Unterscheidungshandlung sich von Platners früher Seelenlehre und seiner Unterscheidung zwischen Ich und Leib her erklären lassen könnte. Vgl. Alessandro Lazzari, Zur Genese von Reinholds „Satz des Bewußtseins“, in: Martin Bondeli, Alessandro Lazzari (Hg.), Philosophie ohne Beynamen. System, Freiheit und Geschichte im Denken Karl Leonhard Reinholds, Basel 2004, 21–38, hier 25. Unseres Erachtens zehren sowohl Platner als auch Reinhold von denselben, wolffianischen, Quellen. Vgl. Thiel, Zum Verhältnis von Gegenstandsbewußtsein und Selbstbewußtsein bei Wolff und seinen Kritikern (wie Anm. 3). 21 Karl Leonhard Reinhold, Über das Fundament des philosophischen Wissens, Jena 1791, 78. 22 Platner, Aphorismen I 1793 (wie Anm. 4), 78 (§ 124). 23 Ebd., 77 (§ 123). 20

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nothwendig voraus, daß die Vorstellung in ein Bewußtseyn verknüpft sey“.24 Das Selbstbewußtsein ist demnach ein Selbstbezug, der schon im bloßen Haben von gegenstandsgerichteten Vorstellungen notwendigerweise enthalten ist. Darum sagt Platner, das Selbstbewußtsein sei etwas, „welches jeder völligen Vorstellung beygehet“; und es „kann ausgedrückt werden ohngefähr mit diesen Worten: Ich denke“.25 Trotz dieser sich offensichtlich an Reinhold orientierenden Gedanken über die Handlungen des Unterscheidens und Beziehens, die das Subjekt, das Objekt und die Vorstellung betreffen, sind die Unterschiede zu Reinhold letztlich signifikanter als die Gemeinsamkeiten. Denn aus dem Gesagten geht hervor, daß die Handlungen des Beziehens und Unterscheidens für Platner empirisch aufzufassen sind. Darüber hinaus versteht Platner sowohl das Subjekt als auch das Objekt des Vorstellens als empirsch identifizierbares, reales Wesen.26 Bei Reinhold dagegen sind das Beziehen und das Unterscheiden, um die es im Satz des Bewußtseins geht, apriorische, notwendige Bedingungen der Möglichkeit jeder Vorstellung überhaupt. Und dementsprechend sind die Begriffe von Subjekt und Objekt in Reinholds Prinzip natürlich nicht empirisch zu deuten. Platner liest es dennoch als ein „Lehrstück der Psychologie“.27 Schon aus diesem Grund kann er anders als Reinhold das doppelte Bezugnehmen der Vorstellung auf Subjekt und Objekt nicht im Sinne eines fundamentalen Prinzips der Philosophie auffassen. Es fragt sich allerdings, ob Platner diese psychologische Wendung Reinholdscher Gedanken konsistent durchführt. Denn er scheint, wie oben gezeigt wurde, das Beziehen der Vorstellungen auf das Subjekt auch als eine notwendige Bedingung für das gegenstandsgerichtete Vorstellen anzusehen. Eine solche Bedingungsfunktion des Subjektsbezugs dürfte allerdings nur schwerlich mit dem empirisch-psychologischen Charakter vereinbar sein, den Platner ihm zuschreibt. Im übrigen wendet sich Platner bezüglich anderer Fragen ausdrücklich gegen Reinhold. So weist er dessen Behauptung zurück, daß das Bewußtsein von

Ebd., 79 (§ 125). Ebd., 79 (§ 126) 26 Vgl. ebd., 77 (§ 123). 27 Platner, Aphorismen I 1793 (wie Anm. 4), 78 (§ 124). Reinhold kritisiert den Psychologismus Platners in den früheren Auflagen der Aphorismen (1776 und 1784) schon in seinem Werk über das Vorstellungsvermögen von 1789. Er schreibt über Platners Unterscheidung zwischen dem Bewußtsein der Existenz und dem Bewußtsein der Persönlichkeit: „Alles was dieser Philosoph in den ersten Abschnitten seiner Aphorismen über das Bewußtseyn der Existenz und der Personalität sagt […], [ist] zwar reichhaltig an psychologischen Aufschlüssen über diese beyden Arten des Bewußtseyns“, beantworte aber nicht die Frage, was Bewußtsein überhaupt ist, vielmehr setze es voraus, daß diese Frage bereits beantwortet sei (Karl Leonhard Reinhold, Versuch einer Neuen Theorie des Menschlichen Vorstellungsvermögens, Prag, Jena 1789, 322 f.). 24 25

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Vorstellungen zum „Bewußtseyn überhaupt“ gehöre. Diese Kritik setzt offensichtlich Platners empirisch-psychologische Lesart von Reinholds Bewußtseinsverständnis voraus. Denn Platner nimmt an, daß laut Reinhold das Bewußtsein einer Vorstellung in jedem aktualen Bewußtsein, das wir von einem Gegenstand haben, explizit vorkomme. Dies sei aber empirisch falsch, behauptet Platner. Die meisten Menschen sprächen zwar von ihrem Bewußtsein eines Gegenstandes, nicht aber von dem einer Vorstellung, die sich auf einen Gegenstand bezieht. „Daher kommt es auch, daß das Wort Vorstellung nur wissenschaftlich, und nicht populär ist“.28 Die meisten Menschen würden nur zwischen ihnen selbst und den Gegenständen unterscheiden und wüßten gar nichts von ‘Vorstellungen’.

II. Das Bewußtsein der Existenz und der Identität des vorstellenden Subjekts Der Ausdruck „Bewußtseyn der Existenz“ ist bei Platner als Abkürzung zu verstehen für das Bewußtsein der Seele „von ihrem selbsteigenen Daseyn“.29 Näherhin bezieht sich dieses Bewußtsein auf die Handlungen bzw. das „Wirken“ der Seele. Platner sagt, er glaube „noch immer, daß der erste Gegenstand, auf den wir den Begriff der Existenz anwenden, unser selbsteigenes Wirken ist, und also das Gefühl davon die erste empirische Entwickelung dieses Begriffes darbietet“.30 Der Begriff der Existenz werde zu allererst von dem Bewußtsein abgeleitet, das die Seele von ihren Handlungen hat. Im Vorgang des Denkens seien wir uns dieser Denkhandlung bewußt und damit auch der Seele als der „Kraft“, die diese Handlung hervorbringt.31 In seinen vorkantischen Schriften vertritt Platner die Auffassung, daß wir durch das Selbstbewußtsein Gewißheit nicht nur von der Existenz, sondern auch von der Natur oder dem Wesens der Seele erlangten – und zwar von der Natur der Seele als unkörperlicher Substanz.32 „Das was sich bewußt ist, dies Ich heist meine Seele […] Ich und Seele ist einerley. Also ist die Seele eine Substanz, eine von dem ganzen Körper verschiedene Substanz, und immer die

Platner, Aphorismen I 1793 (wie Anm. 4), 81 (§ 130). Ernst Platner, Neue Anthropologie für Aerzte und Weltweise, Leipzig 1790, 207 (§ 525). 30 Platner, Aphorismen I 1793 (wie Anm. 4), 384 (§ 732). 31 „Ich denke; und indem ich denke, bin ich mir bewußt meiner Seelenwirkungen, als meiner Thätigkeiten, und fühle mich, als die Kraft, welche diese Thätigkeiten hervorbringt. Ich fühle mich also wirkend, und dieses Gefühl meines Wirkens ist der Inhalt des Gefühls, welches ich habe von meinem Daseyn, oder von meiner Wirklichkeit und Existenz“ (ebd., 381 [§ 728]). 32 Platner, Anthropologie 1772 (wie Anm. 14), 25–30 (§§ 89–106). 28 29

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nämliche Seele“.33 Diese durch nichts erwiesene Behauptung, das Selbstbewußtsein bezeuge die immaterielle Natur der Seele, ist natürlich höchstproblematisch, aber es war im achtzehnten Jahrhundert eine weitverbreitete Auffassung unter zum Empirismus tendierenden Denkern, daß die immaterielle Natur der Seele durch ein Gefühl oder einen unmittelbaren Selbstbezug gewußt werden könne.34 In Platners Aphorismen von 1793 werden diese Thesen zur unkörperlichen Substantialität der Seele dank der Wirksamkeit Kants und Reinholds skeptisch zurückgenommen. Platner unterscheidet das Existenzbewußtsein von dem oben in Abschnitt I besprochenen Vorstellungsbewußtsein und dem darin enthaltenen Selbstbewußtsein. Denn ersteres umfasse auch das Bewußtsein von der diachronen Identität der Seele. Laut Platner bin ich mir bewußt, „daß ich dasselbige Subjekt bin, welches die gegenwärtigen, und die vergangenen Vorstellungen meines Lebens hatte. Und so sind alle Vorstellungen meines Lebens vereinigt in ein allgemeines Bewußtseyn [der Existenz]“.35 Während das Selbstbewußtsein, das zum Vorstellen gehört, mit dem Terminus „Ich denke“ bezeichnet werden könne, lasse sich dasjenige Selbstbewußtsein, das als Bewußtsein der Existenz und der Identität zu verstehen sei, durch die Fomel „Ich bin“ zum Ausdruck bringen.36 Es ist allerdings zweifelhaft, ob sich Platners Trennung zwischen dem im Vorstellungsbewußtsein enthaltenen Selbstbewußtsein einerseits und dem Bewußtsein der Existenz und Identität andererseits, also zwischen dem Ich denke und dem Ich bin, überhaupt durchhalten läßt. Denn Platner selbst spricht von der Identität des denkenden Subjekts auch im Zusammenhang des Vorstellungsbewußtsein bzw. des Ich denke: Denn anlangend das Selbstbewußtseyn […]: wenn die Seele nicht zurücksähe von den letzten Theilen der Vorstellung auf die ersten und nicht bey den letzten fühlte, daß sie es war, welche die ersten hatte [Hervorh. U.T.]: so könnte die Seele nicht die ganze Vorstellung überhaupt haben, also sie nicht als ein Ganzes beziehen auf sich.37

Die Identität des vorstellenden Subjekts wird hier geradezu als Bedingung des Habens von Vorstellungen dargestellt und müßte daher wie die Handlungen des Beziehens und Unterscheidens als zu diesem gehörig angesehen werden.

Ebd., 16 (§ 59). Vgl. auch: „Ich kann mir alle Theile meines Körpers als außer mir vorstellen. Folglich sind alle Theile meines Körpers außer mir – außer meiner Person. Ich bin kein Theil meines Körpers, und mein Körper ist außer meinem Ich“ (ebd., 14 [§ 48]). 34 Vgl. hierzu beispielsweise Thiel, Self-Consciousness and Personal Identity (wie Anm. 3), 307. 35 Platner, Aphorismen I 1793 (wie Anm. 4), 87 (§ 143). 36 Ebd., 88 (§§ 144 f.). 37 Ebd., 79 (§ 125). 33

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Platner scheint also anzudeuten, daß es ohne das Bewußtsein der Identität (das er zum Existenzbewußtsein rechnet) gar kein Vorstellungsbewußtsein geben könnte. Dies ist ein systematisch wichtiger Gedanke, der von Platner allerdings nicht ausgeführt wird; er erläutert diese Zusammenhänge zwischen Ich bin und Ich denke nicht weiter und scheint ihre Bedeutung auch nicht erkannt zu haben. Vielmehr bezieht er das Ich bin und das Ich denke auf einen fundamentaleren Selbstbezug, auf das „Gefühl Ich“, wie wir unten im vierten Abschnitt sehen werden.

III. Das „Bewußtseyn der Persönlichkeit“ und die Leiblichkeit des Subjekts Eingangs wurde angedeutet, daß Platner schon in den 1770er Jahren einen Aspekt des Selbstbewußtseins hervorhebt, der von vielen Denkern seiner Zeit vernachlässigt, oft sogar ganz ignoriert wird: das Bewußtsein von der Leiblichkeit des Subjekts. Dieser Bezug zur Leiblichkeit ist wesentlich für das, was Platner das „Bewußtseyn der Persönlichkeit“ nennt. Er unterscheidet dieses Bewußtsein nicht nur vom Vorstellungsbewußtsein, sondern auch vom Bewußtsein der Existenz.38 Beim Bewußtsein der Existenz geht es um das Subjekt und dessen Identität nur, insofern es ein vorstellendes Subjekt oder eine Seele ist. Die Leiblichkeit und die raum-zeitliche Situiertheit des Subjekts werden dabei ausgeblendet; diese sind aber gerade für das Bewußtsein der Persönlichkeit zentral. „Das Bewußtseyn der Persönlichkeit“, sagt Platner, ist „eine besondere Art des Selbstbewußtseyns“.39 Es scheint sowohl das Vorstellungsbewußtsein als auch das Existenzbewußtsein vorauszusetzen, aber Platner macht auch diesen Zusammenhang nicht explizit. In der Anthropologie von 1772 scheint er eher umgekehrt das Bezugnehmen auf den eigenen Leib als wesentliche Bedingung von Selbstbewußtsein anzuführen. Dort heißt es zunächst in bezug auf die raum-zeitliche Situiertheit des Subjekts: „Wir sind uns unser, d.h. unsers Daseyns bewußt, wenn wir die Verhältnisse des Orts, der Zeit und andere Verhältnisse unsers Zustands kennen. Wenn wir nicht wissen, wo wir sind und wann wir sind, so sind wir unser nicht bewußt“.40 Für Platner ist hier die Seele „sich ihres Daseyns nie bewußt, wenn sie sich nicht in gewissen Verhätnissen, wenigstens des Orts und der Zeit denkt“.41 Der Platner, Aphorismen I 1793 (wie Anm. 4), 90 (§ 150); vgl auch Platner, Neue Anthropologie 1790 (wie Anm. 29), 207 (§ 525). 39 Platner, Aphorismen I 1793 (wie Anm. 4), 76 (§ 122). 40 Platner, Anthropologie 1772 (wie Anm. 14), 54 f. (§ 193). 41 Ebd., 56 (§ 199)) 38

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Gedanke, daß Selbstbewußtsein sich auf die raum-zeitliche Position des Subjekts bezieht, impliziert für Platner, daß das Subjekt als leibliches Wesen angesehen werden muß. Dementsprechend sagt er an anderer Stelle: „Wenn man aber von der Stellung und Lage seines Körpers gar nichts empfindet, so ist man sich gar nicht bewußt“.42 Des weiteren heißt es: „die Seele kann sich allein nicht denken, ohne wenigstens einen einzigen Gegenstand und wenn dies auch nichts wäre, als eine einzige Empfindung ihres Körpers, zugleich mit wahrzunehmen“.43 Demgemäß kann es ohne das Bewußtsein der Leiblichkeit überhaupt gar kein Selbstbewußtsein geben. Ersteres ist notwendige Bedingung für letzteres. Platner betont die Bedeutung des Persönlichkeitsbewußtseins durchaus auch in den späteren, nachkantischen Schriften. Er sagt hier, daß es eine komplexe Angelegenheit sei, „in welchem enthalten ist 1) das unendlich viel befassende Gefühl von dem Zustande des Körpers, 2) das eben so zusammengesetzte Gefühl von dem geistigen Zustande (unsern Vorstellungen, Empfindnissen, Fähigkeiten, Neigungen u.s.w.), 3) die Vorstellung des Orts und der Zeit und die Uebersicht unserer Lebensumstände“.44 Der Gedanke eines Bewußtseinsbezugs auf die Leiblichkeit wurde Mitte der 1770er Jahre auch von anderen Denkern in ihre psychologischen Analysen des Bewußtseins aufgenommen.45 Die Göttinger Michael Hißmann und Christoph Ebd., 55 (§ 194). Ebd., 56 (§ 200). 44 Platner, Aphorismen I 1793 (wie Anm. 4), 76 f. (§ 122). 45 Dieser Gedanke war natürlich nicht ganz neu. Auch nach Locke, auf den letztlich die gesamte Personalitätsdiskussion des achtzehnten Jahrhunderts zurückgeht, bezieht sich das Bewußtsein auch auf den Leib und die äußeren Handlungen des leiblichen Subjekts. Vgl. beispielsweise John Locke, An Essay concerning Human Understanding, hg. von P. H. Nidditch, Oxford 1979: Buch II, Kapitel 27, §§ 11 und 17. Vgl. ausführlich hierzu Udo Thiel, Lockes Theorie der personalen Identität, Bonn 1983, 167–173. Wenn Locke deutlich macht, daß für ihn die persönliche Identität allein im Bewußtsein bestehe („it is the consciousness […] which makes the same Person, and constitutes this inseparable self“ (II.27.17); „it is impossible to make personal identity to consist in any thing but consciousness” (II.27.21)), darf dies demnach nicht so verstanden werden, als wäre nur vom Bewußtsein von Gedanken und mentalen Handlungen die Rede. Reinhard Brandt liegt also ganz falsch, wenn er suggeriert, Bewußtsein beziehe sich gemäß Locke allein auf „die rein noetische Tätigkeit“, um dann auf dieser Grundlage (1) gegen Lockes Text (s.o.) zu behaupten, es sei „problematisch“ zu meinen, für Locke werde persönliche Identität durch Bewußtsein konstituiert, und (2) irreführenderweise zu beklagen, daß „die gesamte Rezeptionsgeschichte“ Lockes Theorie „fälschlich auf das Bewußtsein reduziert” und nicht den grundlegenden Begriff der Selbstsorge berücksichtigt habe. Vgl. Reinhard Brandt, John Lockes Konzept der Persönlichen Identität. Ein Resümee, in: Aufklärung 18, (2006), 37–54, hier 40 und 48. Der von Brandt hervorgehobene Begriff der Sorge (40–43) spielt, wie in der Locke-Forschung allerdings allgemein bekannt ist, in der Tat eine wichtige Rolle in Lockes Theorie, aber Brandt vergißt darauf hinzuweisen (obwohl relevante Stellen in einem von ihm zitierten Passus vorkommen), daß für 42 43

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Meiners beispielsweise unterscheiden ähnlich wie vor ihnen Platner begrifflich zwischen dem Bewußtsein der bloßen Existenz und einem leibbezogenen Selbstbewußtsein, nehmen aber an, daß es ein bloßes Existenzbewußtsein auch ganz unabhängig von dem leibbezogenen Selbstbewußtsein geben könne.46 Mit Bezug auf Platner stellt sich die Frage, ob der Begriff eines Existenzbewußtseins von der Seele als unkörperlicher Substanz mit seiner These vereinbar ist, daß man sich gar nicht seiner bewußt sein könne, wenn man sich nicht des Leibes und seiner raum-zeitlichen Situation bewußt sei. Einerseits führt er den Bezug auf den Leib als dem Selbstbewußtsein wesentlich ein, behauptet aber andererseits, der Gegenstand des Bewußtseins der Existenz und der Identität sei die unkörperliche Seele. Wie gesehen, behauptet Platner sogar, daß der Begriff der Existenz überhaupt sich ursprünglich aus dem Bewußtsein von Seelenhandlungen herleite. Platner selbst scheint die Gefahr der Inkonsistenz in bezug auf seine Ausführungen zum Existenzbewußtsein und Persönlichkeitsbewußtsein nicht bemerkt zu haben.

IV. Das Selbstgefühl oder das „Gefühl Ich“ Der Terminus ‘Selbstgefühl’ hatte in den oft psychologisch ausgerichteten philosophischen Untersuchungen der 1770er Jahre Hochkonjunktur. Was allerdings genau mit diesem Ausdruck gemeint ist, bleibt oft unklar. Er wird von verschiedenen Denkern recht unterschiedlich gebraucht.47 Unbestritten ist nur, daß er eine Art des Selbstbezugs bezeichnet. Platner bestimmt in der frühen Anthropologie das Selbstgefühl als „die eigene Erfahrung von den Wirkungen und Modifikationen unserer Seele“, und er sagt, daß wir durch es Ideen vom „Bewußtsein, Fühlen, Denken, Wollen“ erhielten.48 Mehr noch, laut Platner führen die Ideen, die wir durch das Selbstgefühl erwerben, zum Begriff der Seele.49 Außerdem seien wir durch das Selbstgefühl, das er 1772 noch nicht Locke die Sorge („concern“, „concernment“) eine Begleiterscheinung („concomitant“) des Bewußtseins ist, die erst durch letzteres entsteht: „consciousness, whereby [this personality] becomes concerned and accountable” (Essay II.27.26). Vgl. ausführlich hierzu wieder Thiel, Lockes Theorie der personalen Identität, 128–151 (das Kapitel „Personale Identität über die Zeit hinweg: 1. Sorge und Verantwortlichkeit“). Siehe auch Udo Thiel, Personal Identity, in: Daniel Garber, Michael Ayers (Hg.), The Cambridge History of Seventeenth-Century Philosophy, Cambridge 1998, 868–912, hier 894–897. 46 Vgl. hierzu Thiel, Varieties of Inner Sense (wie Anm.3), 72–74. 47 Zur komplexen Geschichte des Begriffs des Selbstgefühls vgl. Thiel, Varieties of Inner Sense (wie Anm. 3) und Frank, Selbstgefühl (wie Anm. 2). 48 Platner, Anthropologie 1772 (wie Anm. 14), 17 f. (§ 65). 49 Ebd., 18 (§ 67).

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vom Selbstbewußtsein unterscheidet, nicht nur unserer diachronen Identität gewiß,50 sondern auch, wie wir oben im zweiten Abschnitt sahen, der immateriellen Natur der Seele. Das Selbstgefühl hat hier also eine ganze Reihe von Aufgaben zu erfüllen, ohne daß Platner diesen Begriff über die zitierte, sehr knappe Charakterisierung hinaus genau bestimmt und von anderen, verwandten Begriffen unterscheidet.51 Dies wird jedoch in den Schriften der 1790er Jahre nachgeholt. Der Begriff des Selbstgefühls oder, wie Platner jetzt auch sagt, des „Gefühls Ich“ wird von den Begriffen des Bewußtseins der Existenz, der Vorstellungen und der Persönlichkeit unterschieden und in Beziehung zu ihnen gesetzt. Darüber hinaus dürfte schon die Tatsache, daß der Begriff des Gefühls für eine Art des Selbstbezugs eingeführt wird, zumindest darauf hinweisen, daß hier ein unmittelbarer, das heißt ein empirischer, aber nicht durch Begriffe oder andere Vorstellungen vermitttelter Selbstbezug gemeint ist. Platner argumentiert, daß das im Bewußtsein von Vorstellungen enthaltene Selbstbewußtsein (das Ich denke) und das Bewußtsein der Existenz (das Ich bin) auf einen anderen Ich-Bezug verweisen, der als notwendige Bedingung für jene fungiert. Diesen fundamentalen Ich-Bezug nennt Platner das „einfache Gefühl Ich“ oder „Selbstgefühl“. Das „Gefühl Ich“ sei (1) eine notwendige Bedingung des Ich denke, weil alle Teile einer Vorstellung erst im Selbstgefühl verknüpft sein müßten, damit sie eine einheitliche Vorstellung konstituieren können.52 Das Selbstbewußtseyn, (welches jeder völligen Vorstellung beygehet) kann ausgedrückt werden ohngefähr mit diesen Worten: I c h d e n k e . Dieses I c h d e n k e aber setzt voraus das Gefühl I c h , als das vorstellende Subjekt: demnach ist das Gefühl Ich das nothwendige Bedingniß aller Vorstellungen.53

Das „Gefühl Ich“ fungiert nach Platner (2) als notwendige Bedingung des Ich bin, des Bewußtseins der Existenz und der Identität des vorstellenden Subjekts: Gleichwie jeder einzelnen Vorstellung in mir zum Grunde liegt das Selbstgefühl I c h […], in welches die gesammten Theile derselben zusammengefaßt werden […]; so liegt

Ebd., 15 f. (§§ 56 f.) und 27 (§ 97). Ähnliches gilt beispielsweise auch für Johann Karl Wezels Ausführungen zum Selbstgefühl in seinem Versuch über die Kenntniß des Menschen (2 Bde, Leipzig 1784/85). Vgl. hierzu die detaillierte und erhellende Analyse von Gideon Stiening, „Aufseher seiner Selbst“. Bewußtsein und Selbstgefühl bei Wezel im Ausgang von John Locke, in: Wezel-Jahrbuch 6–7 (2003/2004), 81–111. 52 Platner, Aphorismen I 1793 (wie Anm. 4), 87 (§ 143). 53 Ebd., 79 (§ 126). 50 51

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es auch zum Grunde der allgemeinen Vorstellung aller Seelenwirkungen meines ganzen Lebens.54

Das „zum Grunde Liegen“, von dem Platner hier spricht, ist, wie andere Stellen verdeutlichen, im Sinne einer notwendigen Bedingung zu interpretieren. Ohne das Selbstgefühl könnten wir eine Vielheit von Vorstellungen nicht in den Begriff von einem über die Zeit hinweg identischen Subjekt vereinigen (Ich bin). Da das Selbstgefühl als notwendige Bedingung sowohl des Ich denke als auch des Ich bin fungiert, kann es mit keinem von beidem einfach identisch sein: Das Gefühl: I c h b i n […] kann zwar angesehen werden, als abgezogen von dem mehrmalen wiederholten Gefühl: I c h d e n k e […]. Aber so fern das einfache Gefühl I c h , welches beyden zum Grunde liegt [Hervorh. U.T.] ein durchaus nothwendiges Bedingniß alles möglichen Bewußtseyns an sich selbst ist: so fern ist es auch an sich selbst das nothwendige Bedingniß des Bewußtseyns der I d e n t i t ä t .55

Obwohl Platner das Selbstgefühl nicht explizit auch zur Bedingung des Bewußtseins der Persönlichkeit macht, liegt auf der Hand, daß es auch hier eine Bedingungsfunktion erfüllen muß. Platner legt dies zumindest nahe, wenn er in dem eben zitierten Passus sagt, daß das Gefühl Ich „ein durchaus nothwendiges Bedingniß alles [Hervorh. U.T.] möglichen Bewußtseins an sich selbst“ sei. Sein Begriff des Selbstgefühls ist aber in mehr als einer Hinsicht problematisch. Erstens ist schon die Behauptung von der Existenz eines Selbstgefühls als im Prinzip empirisch identifizierbarer Größe sehr fragwürdig, und Platner begründet sie weder in den vor- noch in den nachkantischen Schriften. Freilich war Platner keineswegs der erste und einzige Denker im achtzehnten Jahrhundert, der ein unvermitteltes, empirisches und gegenständliches Bewußtsein bzw. „Gefühl“ vom eigenen Ich annimmt, das allen anderen Bewußtseinsarten logisch vorangeht. In Deutschland sind so unterschiedliche Denker wie Johann Christian Lossius und Johann Bernhard Merian dieser Auffassung.56 Hier sei nur auf David Humes Freund und Kritiker, Henry Home, Lord Kames, eingegangen, der zur frühen Schule der Common Sense Philosophie gehört. In seinen Essays on the Principles of Morality and Natural Religion von 1751, die

Ebd., 87 (§ 143). Vgl. hierzu auch: „Und so wie ich die Theile jeder einzelnen Vorstellung auf mich beziehe, indem ich fühle, daß ich dasselbige Subjekt bin, welches die letztern und welches die erstern in sich hatte [...]: so bin ich mir bewußt, daß ich dasselbige Subjekt bin, welches die gegenwärtigen, und die vergangenen Vorstellungen meines Lebens hatte. Und so sind alle Vorstellungen meines Lebens vereinigt in ein allgemeines Bewußtsein, so wie bey jeder Vorstellung vereinigt sind derselben Theile in ein besonderes“ (ebd., 87 f. (§ 143)). 55 Platner, Aphorismen I 1793 (wie Anm. 4), 88 (§ 146). 56 Vgl. zu Merian Thiel, Between Wolff and Kant: Merian’s Theory of Apperception (wie Anm. 3); vgl. zu Lossius Thiel, Varieties of Inner Sense (wie Anm.3). 54

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1768 in deutscher Übersetzung erschienen, argumentiert Home, daß es ein solches Selbstgefühl einfach geben müsse. Wenn es nur solche unmittelbaren Eindrücke gäbe, „die von äußerlichen Sinnen entstehen“, dann hätten wir in der Tat keine Vorstellung von unserem Ich. Aber das hieße, wir würden „in einer ständigen Träumerey dahingehen“; niemand „würde fähig seyn, seine Begriffe mit sich selbst zu verknüpfen“, sagt Kames. Daher ist es für ihn „eine ungezweifelte Wahrheit, daß [der Mensch] eine ursprüngliche Empfindung oder Bewußtseyn von sich selbst [Hervorh. U.T.] hat, die größtentheils jede seiner Vorstellungen und Ideen, und jede Handlung seiner Seele oder seines Leibes begleitet“.57 Home spricht also bereits vor Kant von einem ‘ursprünglichen Bewußtsein’ vom Ich, das er allerdings empirisch auffaßt. Auch hier wird, ähnlich wie bei Platner, die Existenz einer Ich-Empfindung oder eines IchGefühls zwar behauptet, aber nicht erläutert und begründet. Kames, Platner und andere Vertreter dieser Auffassung mögen sich für die Existenz des Selbstgefühls auf die innere Erfahrung berufen. Aber dann wäre zu fragen, wie es beispielsweise Hume tat, ob eine solche Ich-Empfindung als unabhängig von allen anderen Empfindungen und Vorstellungen introspektiv überhaupt identifizierbar ist. Zweitens, selbst wenn wir die Existenz des Selbstgefühls im Sinne Platners annähmen, wäre zweifelhaft, ob das, was eine allgemeine Bedingungsfunktion für empirisches Bewußtsein überhaupt erfüllen soll, selbst eine Form empirischen Bewußtseins sein kann. Deutet nicht gerade die Bedingungsfunktion, die diesem fundamentalen Selbstbezug zugesprochen wird, darauf hin, daß er selbst nicht Teil der Erfahrung sein kann, die er bedingen soll? Eine ähnliche Frage wurde oben bereits in bezug auf Platners Analyse des Vorstellungsbewußtseins gestellt (Abschnitt I). Drittens ergibt sich ein Problem, das allgemeiner das Verhältnis des Selbstgefühls zum Vorstellen betrifft. Der Ausdruck „Gefühl Ich“ (nicht ‘Gefühl des Ich’ oder ‘vom Ich’), könnte darauf hindeuten, daß Platner einen Dualismus zwischen dem Gefühl und dem Ich, das gefühlt wird, vermeiden will und daß es sich beim Selbstgefühl um ein unmittelbares, d.h. nicht durch Vorstellungen vermitteltes Beziehen auf das Ich handelt. Es scheint, als postulierte Platner mit dem Gefühl Ich ein unabhängig von allem Vorstellen prä-reflexives Beziehen auf das Ich, das als notwendige Bedingung für jedes Bewußtsein vorausgesetzt werden muß.58 Und in der Tat sagt Platner, das Selbstgefühl werde „bey jeder

Die Zitate stammen aus der Übersetzung der Essays von Christian Günther Rautenberg, Versuche über die ersten Gründe der Sittlichkeit und der natürlichen Religion, Braunschweig 1768, 9. 58 Arthur Wreschner sieht eine Ähnlichkeit zwischen Tetens’ „dunklem“ Gefühl des Ich und Platners „einfachem Gefühl Ich”. Vgl. Wreschner, Ernst Platner (wie Anm.1), 123 f., 133. 57

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Vorstellung vorausgesetzt“.59 Allerdings unterminiert Platner letztlich diesen Gedanken vom Selbstgefühl als einem unmittelbaren Selbstbezug. Denn er sagt, im Selbstgefühl werde „das Ich vorgestellt [Hervorh. U.T.], als etwas von allen Seelenwirkungen Unterschiedenes“.60 Damit wird die Unmittelbarkeit des Selbstbezugs, die Platners Rede vom Gefühl Ich zumindest nahe legte, zunichte gemacht. Denn hier wird selbst dieser fundamentale Selbtsbezug als ein durch die Vorstellung vermittelter charakterisiert. Also kann von einem vorstellungsunabhängigen Beziehen auf das Ich durch das Selbstgefühl bei Platner nicht die Rede sein. Das, was „bey jeder Vorstellung vorausgesetzt“ werden muß,61 soll selbst eine Vorstellung sein. Platner scheint zu behaupten, das Gefühl Ich sei sowohl Bedingung aller Vorstellungen als auch selbst eine Vorstellung oder durch eine Vorstellung vermittelt. Dieses Problem verdeutlicht nochmals den Unterschied zu Reinhold. Für Reinhold ist zwar das Selbstbewußtsein ein Vorstellen: „Das Bewusstsein des Vorstellenden als eines solchen, das Selbstbewusstsein, hat das Vorstellende selbst zum Gegenstande“. Das heißt: „Beim Selbstbewusstsein wird das Objekt des Bewusstseins als identisch mit dem Subjekte vorgestellt“.62 Aber das, was Reinhold hier „Selbstbewußtsein“ nennt, erfüllt nicht die fundamentale Funktion, die Platner dem Gefühl Ich zuspricht. Diese Funktion wird vielmehr jenem Selbstbezug zugeschrieben, der in Reinholds „Satz des Bewußtseins“ angesprochen und nicht als durch das Vorstellen vermittelt angesehen wird. Der hier gemeinte Selbstbezug gehe allen bestimmten Vorstellungen vorher, ohne selbst vorgestellt zu werden.63 Was Reinhold ‘Selbstbewußtsein’ nennt, ist genaugenommen eine Art Selbsterkenntnis, die den im Satz des Bewußtseins gedachten Selbstbezug voraussetzt. Anders als Platner unterscheidet Reinhold zwischen

Dieses Argument ist gegen Hume gerichtet: „Das Selbstgefühl I c h [...] ist nicht ein Haufen oder eine Reihe von Vorstellungen; denn es wird bey jeder Vorstellung vorausgesetzt [...]“ (Platner, Aphorismen I 1793 [wie Anm. 4], 90 [§ 150]). Das, was vorstellt, müsse als unterschieden von dem gedacht werden, was vorgestellt wird. Nach Platner konfundiert Hume das Bewußtsein der Existenz mit dem der Persönlichkeit. Platner sagt, Humes hauptsächlicher Grund dafür, den Gedanken einer Vorstellung vom Ich zurückzuweisen, bestehe in der Annahme, daß es für eine solche Vorstellung einer impression vom Ich bedürfe, „deren Möglichkeit er [aber] nicht einsehet“ (ebd.), zumal das Ich oder die Seele für Hume nur eine Mannigfaltigkeit von Eindrücken oder impressions sei. 60 Ebd., 88 (§ 147). 61 Ebd., 90 (§ 150). 62 Reinhold, Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens (wie Anm. 27), 326, 335. 63 Reinhold betont, die Unterscheidung der Vorstellung von Subjekt und Objekt könne vor sich gehen, „ohne immer vorgestellt zu werden“, und müsse vielmehr „jeder ihrer Vorstellungen vorhergehen“ (Reinhold, Versuch [wie Anm. 27], 339). 59

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diesem fundamentalen Selbstbezug und einer durch Vorstellungen vermittelten Bezugnahme auf das Subjekt. Viertens ist es nicht einfach, Platners Verständnis vom Selbstgefühl als notwendiger Bedingung jeder Vorstellung (und damit auch jeder Erkenntnis) mit zentralen Aspekten seiner „skeptischen Kritik“ zu vereinbaren. Denn diese behauptet, wie eingangs angedeutet, daß das „menschliche Erkenntnißvermögen“ sich nicht selbst erklären könne.64 Mit seinen Thesen über die Funktion des Selbstgefühls scheint Platner jedoch die skeptischen Grenzen, die er sich selbst gesetzt hat, überschritten zu haben; denn wenn er argumentiert, daß das Gefühl Ich eine notwendige Bedingung von Vorstellungen sei, stellt er damit eine Behauptung auf, die impliziert, daß sich das menschliche Erkenntnisvermögen wenigstens hinsichtlich einiger fundamentaler Aspekte sehr wohl selbst erklären kann – nämlich, indem es notwendige Bedingungen des Denkens und Vorstellens entdeckt.

V. Zum Verhältnis von „logischem Subjekt“ und „realem Subjekt“: Platner und Kant Wir haben oben an mehreren Stellen Platners Verständnis der Selbstbezüglichkeit vor allem kritisch auf Reinhold bezogen. Bisweilen scheint Platner aber das „Gefühl Ich“ mit Kants „Ich der Apperception“65 oder dem „logischen Ich“66 zu identifizieren. Durch einen Vergleich Platners mit Kant wird es möglich, den Fragen, die Platners Auffassung vom Selbstgefühl aufwirft, auf den Grund zu gehen. Wie bereits an einigen Stellen sichtbar wurde, versäumt es Platner, immer genau zwischen psychologischen und transzendentalphilosophischen Überlegungen zu unterscheiden. Dies erweist sich als der Kern der Problematik von Platners Lehre der Selbstbezüglichkeit. Denn einerseits versteht Platner das „Gefühl Ich“ als etwas, das sich ganz im Sinne Kants auf ein „logisches Subjekt des Denkens“ bezieht,67 aber andererseits behauptet er, daß es auch ein „wirkliches Subjekt“ bezeichne. Platner sagt in den Aphorismen von 1793 ganz wie in seinen Schriften aus den 1770er Jahren, daß die Seele sich als Substanz fühle: „Das Selbstgefühl I c h weiset hin auf das logische Subjekt des Denkens, und zugleich auf ein wirkliches Subjekt;

Platner, Aphorismen I 1793 (wie Anm. 4), 364 (§ 709). Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (Abk.: KrV), B 407. 66 Immanuel Kant, Gesammelte Schriften (Akademieausgabe), Berlin 1900 ff. (Abk.: AA), Bd. 20, 270. 67 Platner, Aphorismen I 1793 (wie Anm. 4), 90 (§ 151). 64 65

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und schließt in sich Bewußtseyn der Einheit und Identität. Mit anderen Worten: die Seele fühlt sich als Substanz“.68 Angesichts dieser These kann es nicht überraschen, daß Platner Kants Auffassung ausdrücklich als „dogmatisch“ zurückweist, dergemäß das Selbstgefühl (bzw. die transzendentale Apperzeption) völlig inhaltsleer sei. Platner argumentiert hier wie folgt: 1) bislang ist noch nicht bewiesen worden, daß es unmöglich sei, ein Gefühl von dem wirklichen ursächlichen Prinzip unserer geistigen Vermögen zu haben; 2) obwohl das Gefühl Ich „das logische Subjekt des Denkens ausmacht“, folgt daraus nicht, daß es „nicht auch zugleich einen wirklichen Inhalt haben könne“; 3) es ist noch nicht zugestanden worden, daß nichts wahrgenommen werden könne außer dem, was wir durch die äußeren Sinne wahrnehmen.69 Platner will hiermit allerdings nicht sagen, daß sich das Selbstgefühl erwiesenermaßen auf eine Seelensubstanz beziehe. Er stellt lediglich in negativer Weise fest, daß es nicht unmöglich sei, daß das Selbstgefühl sich auf ein reales Subjekt beziehen könne. Nach Platner gelingt es Kants „dogmatischer Kritik“ darüber hinaus nicht zu beweisen, daß das Subjekt nicht eine immaterielle Substanz sein könne.70 Platners positive Darstellung des Selbstgefühls als ein Bezugnehmen auf ein reales Subjekt hängt mit seinem Verständnis vom Selbstgefühl als einem Vorstellen zusammen. Im Selbstgefühl stelle sich die Seele selbst vor, insofern sie ein vorstellendes Subjekt sei. Dieser Gedanke entspricht, wie wir sahen, im wesentlichen dem, was Reinhold unter Selbstbewußtsein versteht. Platner sagt: Wenn zugegeben werden muß, daß in dem deutlichen Bewußtseyn der Vorstellung die Seele sich bewußt ist ihrer selbst, als des Vorstellenden, und als von den Vorstellungen unterschieden; und daß also hier die Seele eine Vorstellung hat, in welcher sie selbst das Objekt ist: so wird auch zugegeben, daß die Seele sich selbst, als einen Gegenstand wahrnimmt, und daß in so fern das Selbstgefühl I c h nicht leer ist von allem Inhalt, sondern einen wirklichen Gegenstand hat. Denn wenn keine Vorstellung möglich ist ohne Beziehung auf einen Gegenstand; so ist ohne diese auch nicht möglich die

Ebd., 90 f. (§ 151). Ebd., 91 f. (§ 153). 70 Im übrigen weist Platner die Behauptung zurück, daß alle Philosophen vor Kant tatsächlich versucht hätten, die metaphysischen Attribute der Seele direkt aus dem Selbstgefühl abzuleiten und zu beweisen (ebd., 94 [§ 155]). Um die Immaterialität der Seele zu beweisen, hätten beispielsweise Denker wie etwa Leibniz und Reimarus anerkannt, daß zusätzlich das Argument erforderlich sei, daß die „Seelenwirkungen uns nicht, wie die Materie, in Ausdehnung, Figur, Bewegung u.s.w. erscheinen, also auch das Subjekt derselben etwas anders als die Materie seyn möge“ (ebd.). Kant scheine letzteres sogar akzeptiert zu haben, nur habe er geglaubt, es sei möglich, daß das Substrat der Seele trotz ihrer immateriellen „Wirkungsart“ im Prinzip materiell sein könne. 68 69

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Vorstellung eines vorstellenden Subjekts, d.h. die Vorstellung der Seele von sich selbst.71

Für Platner gilt demnach, daß insoweit, als die Seele sich als ein Objekt „wahrnimmt“, das Selbstgefühl nicht inhaltsleer sein kann. Wenn es unmöglich sei, eine Vorstellung zu haben, die sich nicht auf einen Gegenstand bezieht, dann sei die Vorstellung vom vorstellenden Subjekt auch nicht möglich, ohne sich auf letzteres als auf ein reales Wesen zu beziehen. Platner meint, daß dieser Gedanke sogar bei Kant angelegt sei, und beruft sich dabei auf Kants Begriff der inneren Anschauung, was allerdings problematisch ist. Denn erstens ist die innere Anschauung (ein empirisches Bewußtsein) nach Kant zwar ein Vorstellen, aber „an sich zerstreut und ohne Beziehung auf die Identität des Subjekts“,72 und zweitens muß nach Kant zwischen der inneren Anschauung und der transzendentalen Apperzeption streng unterschieden werden. Kant spricht von der ‘Leerheit’ der transzendentalen Apperzeption,73 nicht von einer solchen der inneren Anschauung. Wie aber ist Platners These zu verstehen, daß das Selbstgefühl nicht nur nicht inhaltsleer sei, sondern näherhin die Seele als Substanz zum Gegenstand habe? Platner betont, daß das Selbstgefühl keineswegs die Existenz des Ich als Substanz erweise. Das Selbstgefühl als solches könne nur die Vorstellung des Subjekts als des Vorstellenden hervorbringen. Andere Attribute, die der Seele zukommen mögen, wie etwa Immaterialität, Identität usw. könnten aus dem bloßen Selbstgefühl nicht abgeleitet werden.74 Hierin unterscheiden sich die Aphorismen von 1793 also deutlich von der frühen Anthropologie, in der, wie wir oben im Abschnitt zum Existenzbewußtsein sahen, noch davon Rede ist, daß Substantialität und Immaterialität der Seele durch das Selbstgefühl erwiesen seien. Diese Veränderung verdankt sich offensichtlich der Kantischen Kritik. Sie folgt dieser aber nicht in jeder Hinsicht, sondern muß im Kontext von Platners „skeptischer Kritik“ am metaphysischen Begriff der Substanz gesehen werden. Kant versucht zu zeigen, so Platner (1), daß es nicht möglich sei, einen objektiv gültigen Begriff von Substanzen als Dingen an sich zu haben,75 (2) daß wir dennoch „unserer Denkart nach“ die Idee der Substanz verfolgen können

Ebd., 92 (§ 154); vgl. auch Platner, Neue Anthropologie 1790 (wie Anm. 29), 52 f. (§ 158). Kant, KrV, B 133. 73 Kant, KrV, B 404. 74 „Wer in dem Selbstgefühl mehr sucht, als die Vorstellung des Vorstellenden, und daraus zu entwickeln hofft die Prädikate, die der Seele, außer dem Vermögen des Vorstellens, zukommen könnten; z.B. Unkörperlichkeit, Beharrlichkeit, Identität u.d.gl. der kennt nicht die Quellen dieser Prädikate“ (Platner, Aphorismen I 1793 [wie Anm. 4], 93 [§ 155]). 75 Ebd., 447 f. (§ 773). 71 72

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und müssen, in dem Versuch, ein System der Vernunft zu entwickeln.76 Platners skeptische Kritik akzeptiert Punkt (1), aber nicht einschränkungslos als „zuverlässige Wahrheit“.77 Man müsse es als Möglichkeit offen lassen, daß der Substanzbegriff objektive Realität für Dinge an sich habe. Platner anerkennt einschränkungslos (2), argumentiert aber auf dieser Grundlage überraschenderweise, daß es gerechtfertigt sein müsse, die Substanzkategorie auch auf „übersinnliche Objekte“ anzuwenden.78 Platner anerkennt also „Substanzen als Dinge an sich; ohne im übrigen dieser Idee eine von menschlicher Denkart unabhängige Realität zusichern zu wollen; aber auch ohne ihr weniger Realität, als dem sinnlichen Begriffe Substanz zuzutrauen“.79 Er sagt, es sei „eine allgemein anerkannte Nothwendigkeit unseres Verstandes die Seele als Substanz zu denken. Ob aber dieser Verstandesbegriff etwas beweise für die wirkliche Selbständigkeit der Seele: das ist eine spätere Frage der Metaphysik“.80 Für Platner begründet das Selbstgefühl also nur den Gedanken von der Seele als einem wirklichen und unkörperlichen Wesen: „Und dieses nun ist ein empirischer Grund zu der Idee, daß die Seele etwas Wirkliches sey, und etwas theils von allen ihren Wirkungen, theils von dem durch sie empfundenen und durch sie belebten Körper Unterschiedenes“.81 Indem das Selbstgefühl den Gedanken von der Seele als immaterieller Substanz begründet, begründet es aber auch die Möglichkeit der Unsterblichkeit der Seele. Platner insistiert, daß auch die Unsterblichkeit der Seele nicht durch das Selbstgefühl bewiesen werden könne. Die Unsterblichkeit der Seele könne überhaupt nicht theoretisch bewiesen werden (und in dieser Hinsicht folgt er offensichtlich Kant). Vielmehr beruhe die Unsterblichkeit allein auf der Weisheit Gottes.82 Philosophisch beweisen

Ebd., 449 (§ 773). Ebd., 449 f. (§ 774). 78 Ebd., 450 (§ 774). 79 Ebd. 80 Ebd., 95 (§ 156). In dem Teil der Aphorismen von 1793, in dem Platner ausdrücklich von der Metaphysik handelt, stimmt er darin mit Reinhold und Kant überein, daß wir keine Kenntnis von unserer inneren Natur hätten, argumentiert aber, daß dennoch ein „Gewinn” darin bestehe, daß wir die Seele als etwas denken könnten, das von der Materie verschieden ist. „Ich fühle mich wie ein von meinen Seelenwirkungen unterschiedenes, unter dem Wechsel aller seiner leidendlichen und thätigen Veränderungen, beharrendes Wesen; und ich meine in dem Gefühl der Kraft, welches den Inhalt meines Selbstgefühls I c h ausmachet, etwas Anschauliches für die Idee I c h oder S e e l e zu haben, die ich nach Einrichtung meines Verstandes als Substanz denke“ (Aphorismen I 1793 [wie Anm. 4], 400 [§ 753]). Platner erklärt allerdings nicht, worin im einzelnen der „Gewinn“ dieser Denkmöglichkeit bestehen soll. 81 Ebd., 89 (§ 149). 82 Ebd., 626 (§ 1025). 76 77

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könne man nur die Möglichkeit der kontinuierlichen Existenz und Fortdauer der Seele; diese Möglichkeit sei allerdings durch das Selbstgefühl erwiesen.83 Abgesehen von der Unsterblichkeitsfrage, sagt Platner, sei das Problem der diachronen Identität nur noch in „Beziehung auf die Zurechnung“ wichtig.84 Hiermit spricht er eher nebenbei ein Thema an, das in der Philosophie der Neuzeit spätestens seit Locke als zentral für die Diskussion der persönlichen Identität gilt.85 In diesem Zusammenhang scheint Platner, ohne allerdings ausdrücklich darauf hinzuweisen, den Begriff der unkörperlichen Seelensubstanz zugunsten eines Ich-Begriffs zu vernachlässigen, der eher dem „Bewußtseyn der Persönlichkeit“ entspricht, von dem oben im dritten Abschnitt die Rede war. Denn dieses Bewußtsein bezieht sich ja nicht nur auf den „Zustand des Körpers“, sondern auch auf die „Vorstellungen, Empfindnissen, Fähigkeiten, Neigungen“ und „die Uebersicht unserer Lebensumstände“.86 Und gerade diese Aspekte des Ich, nicht die Substantialität der Seele, seien für die Zurechnung von Bedeutung, wie Platner hier näher ausführt. Es sei offensichtlich, „daß Verdienst und Schuld sich auf eine gewisse Art zu denken und zu wollen beziehet“87 und nicht auf die Fortdauer desselben Substrats.88 Mit dem Begriff einer bestimmten „Art zu denken und zu wollen“ bezeichnet Platner das Ich (1) im Sinne eines „Inbegriff[s] geistiger Kräfte und Eigenschaften, in welchen Arten und Grade des Denkens und Empfindens möglich sind, 2) als ein Subjekt, in welchem auch von vorherigen Zuständen gewisse Richtungen, Fertigkeiten, und mit einem Worte Folgen zurück bleiben“.89 Ob diese „gewisse Art

Ebd., 627 (§ 1025). „Übrigens ist es gleichgültig, ob das fortdauernde Bewußtseyn stets in demselben Substratum verbleibet, oder aus einem in das andere übergehet. In beyden Fällen ist die Möglichkeit der persönlichen Fortdauer da; und mehr als die Möglichkeit kann hier nicht bewiesen werden, weil die Wirklichkeit allzeit, und in allen metaphysischen Hypothesen über die Natur der Seele, von dem Willen des höchsten Wesens abhängig bleibt“ (ebd., 627 [§ 1025]). 84 Ebd., 626 (§ 1025). 85 Zu Locke siehe die Angaben in Anm. 45. 86 Platner, Aphorismen I 1793 (wie Anm. 4), 77 (§ 122); vgl. auch 89 f. (§ 149). 87 Ebd., 627 (§ 1025). 88 Mit Bezug auf Kant (KrV, A 363 f.) führt Platner aus: „Gehe nun auch diese Art zu denken und zu wollen aus A in B über: nun so wird B in A verwandelt, aber der Gegenstand der Zurechnung bleibt immer derselbige. Und am Ende, wenn ich von meiner Seele eine gewisse Art des Denkens, Wollens und Bewußtseyns abziehe: so begreife ich nicht, was das Substratum der Seele noch außer diesem allen seyn möge. Folglich kann ich mir bey einer solchen Umwandlung meines Verstandes, Willens und Selbstbewußtseyns aus einem substanziellen Substratum in das andere, gar nichts denken“ (ebd., 627 [§ 1025]). 89 Ebd., 625 f. (§ 1025). Arthur Wreschner merkt richtig an, daß dieses Seelenverständnis ein ganz anderes sei als das, was Platner zum Ausdruck bringt, wenn er über die Substantialität und Immaterialität der Seele spricht (Wreschner, Ernst Platner [wie Anm. 1], 134). Allerdings übersieht Wreschner dabei, daß es sich hierbei keineswegs um einen Widerspruch handelt. Denn 83

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zu denken und zu wollen“ ein und derselben Substanz angehöre, sei für Fragen der Zurechnung und damit der Verantwortlichkeit irrelevant. Diese Äußerungen muten fast Lockeanisch an, denn Platner scheint zu sagen, daß lediglich eine bestimmte Art psychologischer Kontinuität für die moralische Verantwortlichkeit von Bedeutung sei.90 Aber anders als Locke verknüpft Platner Verantwortlichkeit nicht mit dem Bewußtsein von Gedanken und Handlungen, sondern, wie es scheint, mit einer allgemeinen geistigen Haltung oder Einstellung der Person. Dabei bleibt jedoch unklar, wie die allgemeine „Art zu denken und zu wollen“ als Grundlage der Zurechnung bestimmter Handlungen fungieren können soll.

VI. Schlußbemerkung In diesem Beitrag konnte nur auf einige Aspekte von Platners Gedanken zur Selbstbezüglichkeit eingegangen werden. Das Verhältnis des späten Platner zu Kant und Reinhold verdient zweifellos eine ausführlichere Würdigung als die hier vorgelegte. Auf die Rezeption von Platner wäre ebenfalls detaillierter einzugehen. Beispielsweise hat Reinhold Platner rezensiert, und Fichte benutzt bekanntlich Platners Aphorismen für seine Vorlesungen. Im vorliegenden Beitrag kam es jedoch darauf an, vor allem Platners eigene Auffassungen und Argumente kritisch in bezug auf Kant und Reinhold und wenigstens ansatzweise im Verhältnis zur vorkantischen Philosophie zu würdigen.91

Platner bezieht sich hier einfach auf eine andere Art von Bewußtsein - auf das Bewußtsein der Persönlichkeit. Es besteht prinzipiell kein Widerspruch zwischen diesem und dem Selbstgefühl, das uns nach Platner das Ich als Seelensubstanz denken läßt. Auch Locke unterschied ganz konsistent zwischen dem Ich als Seelensubstanz, deren inneres Wesen wir nicht erkennen können, und dem Ich als Person, dem wir durch Bewußtsein Handlungen und Gedanken zuschreiben (vgl. Locke, Essay [wie Anm. 45], II.27.9 und 15). Allerdings ist Wreschner insofern zuzustimmen, als einige Formulierungen Platners nahelegen, daß er im Zusammenhang des Zurechnungsproblems von der Seele als einer Substanz gar nichts mehr wissen will und nur noch von einer „Art zu denken und zu wollen“ spricht. Vgl. Platner, Aphorismen I 1793 (wie Anm. 4), 627 (§ 1025). Siehe das Zitat in Anm. 88. 90 Vgl. zu Locke wieder die Angaben in Anm. 45. 91 Es sei hier nur daran erinnert, daß das Verhältnis zwischen Reinhold und Platner durchaus komplex ist. Reinhold war nicht lediglich ein Einfluß auf Platner und Gegenstand Platnerscher Kritik. Platner war Reinholds Lehrer in Leipzig, und es ist umgekehrt auch für einen Einfluß Platners auf Reinhold argumentiert worden. Nach Lazzari haben Platners Aphorismen in der ersten und zweiten Auflage (also vor 1793) eine bedeutende Rolle für Reinholds Entwicklung des „Satzes des Bewußtseins“ gespielt. Des weiteren kommentiert Reinhold Platner mehrmals in seinem Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens (wie Anm. 27), und er veröffentlicht auch eine kritische Rezension der 1793er Auflage von Platners Aphorismen

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Positiv ist zu vermerken, daß Platner nicht nur verschiedene Ideen zum Thema der Selbstbezüglichkeit verarbeitet, sondern auch darauf aufbauend versucht, einen eigenständigen Ansatz zu entwickeln. Schon Platners begriffliche Unterscheidungen hinsichtlich der Selbstbezüglichkeit (Bewußtsein der Existenz, Selbstgefühl, Vorstellungsbewußtsein usw.) sind in diesem Zusammenhang von Bedeutung und einer eingehenden Betrachtung wert. Sie könnten als Beitrag zu einem Projekt verstanden werden, das Hume für ganz wichtig hält und von ihm als „mental geography“ bezeichnet wird.92 Die Analyse des nachkantischen Platner hat allerdings gezeigt, daß seine Ausführungen letztlich insofern problematisch sind, als sie seine empiristische Betrachtungsweise aus den 1770er Jahren mit transzendentalen Gedanken, die sich aus Kant und Reinhold speisen, einfach vermengen. Statt einer eigenständigen und konsistenten Theorie, die die vor- und nachkantischen Ansätze kritisch in Beziehung zueinander setzen könnte, entsteht so ein systematisch nicht haltbares Konglomerat aus empirisch-psychologischen und transzendentalen Überlegungen. Der Beitrag untersucht Platners begriffliche Unterscheidungen und Argumente zum Thema der Selbstbezüglichkeit. Unter Berücksichtigung sowohl seiner vor- als auch nachkantischen Schriften wird Platners Ansatz in seinem Verhältnis zu Kant und Reinhold erläutert und kritisch gewürdigt. Platners Versuch, zwischen verschiedenen Formen des selbstbezüglichen Bewußtseins zu unterscheiden, wird positiv bewertet. Der Beitrag zeigt aber, daß Platners Argumentation überaus problematisch ist und daß dies letztlich in seiner Vermengung von empirischpsychologischen Überlegungen mit transzendentalen Gedanken wurzelt. This paper examines Platner’s conceptual distinctions and arguments on the topic of relating to one’s own self. Considering both his pre- and postkantian

in: Allgemeine Literatur-Zeitung 10/4 (Dezember 1794), Spalten 473–487. Vgl. hierzu Alexander Košenina, Ernst Platners Anthropologie und Philosophie, Würzburg 1989, 20; Lazzari, Zur Genese (wie Anm. 20), 26. 92 David Hume, An Enquiry Concerning Human Understanding, hg. von Tom. L. Beauchamp, Oxford 1999, 92 f. Dort heißt es: „It becomes, therefore, no inconsiderable part of science barely to know the different operations of the mind, to separate them from each other, to class them under their proper heads, and to correct all that seeming disorder, in which they lie involved, when made the object of reflection and enquiry. This task of ordering and distinguishing [...] rises in its value, when directed towards the operations of the mind, in proportion to the difficulty and labour, which we meet with in performing it. And if we can go no farther than this mental geography, or delineation of the distinct parts and powers of the mind, it is at least a satisfaction to go so far; and the more obvious this science may appear (and it is by no means obvious) the more contemptible still must the ignorance of it be esteemed, in all pretenders to learning and philosophy.” Es ist hierbei natürlich unerheblich, daß Platner Humes Ich-Lehre inhaltlich zurückweist (vgl. Anm. 59).

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contributions it explains and critically evaluates Platner’s position in relation to Kant and Reinhold. In short, Platner’s attempt to distinguish between different forms of relating to one’s own self is to be recommended, but there are several major problems with his account. For the most part these problems are ultimately due to the fact that Platner mixes up empirical-pyschological considerations with transcendental ones. Dr. Udo Thiel, Senior Lecturer, Philosophy Programme, School of Humanities, Australian National University, Canberra, ACT 0200, Australia, E-Mail: [email protected]

FALK W UNDERLICH Ernst Platners Auseinandersetzung mit David Hume

Ernst Platners Verständnis von David Humes Philosophie ist in mehreren Hinsichten von Interesse.1 So setzt er bei seiner Diskussion Schwerpunkte, die aus heutiger Sicht überraschend erscheinen: Kausalität spielt beispielsweise nur eine untergeordnete Rolle, Humes Kritik an der Substanzmetaphysik dagegen eine um so größere. Zudem ist Platner einer der wenigen Philosophen im deutschsprachigen Raum, die sich mit Humes sogenannter Bündeltheorie des Geistes beschäftigen. Seine Hume-Auffassung wandelt sich erheblich im Laufe der Jahre, wie an den verschiedenen Auflagen der Philosophischen Aphorismen zu sehen ist. Aufschlußreich ist dabei insbesondere, in welches Verhältnis Platner Hume und Kant setzt, auch angesichts der Tatsache, daß Kant in der Forschung zur Hume-Rezeption in Deutschland meist im Zentrum steht. Im folgenden werde ich zunächst einen kurzen Überblick zum Stand der Diskussion zur deutschen Hume-Rezeption im allgemeinen geben. Anschließend beschäftige ich mich mit Platners Hume-Verständnis im Zusammenhang der Kausalitätsdiskussion und der übergreifenden Skeptizismus-Problematik (I.); da die Hume-Bezüge hier eher spärlich ausfallen, läßt sich dies recht kurz abhandeln. Im zweiten Teil des Beitrags beschäftige ich mich mit den verschiedenen Stadien von Platners Diskussion der Subjekttheorie, die für sein Hume-Verständnis offenbar von größerer Bedeutung war (II.). Dabei werde ich weitgehend der Chronologie der drei Auflagen von Platners Philosophischen Aphorismen folgen.2. Ich beschränke mich in diesem Beitrag allerdings auf die

Die Arbeit an diesem Beitrag wurde ermöglicht durch ein Stipendium der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, wofür ich mich an dieser Stelle herzlich bedanken möchte. 2 Ernst Platner, Philosophische Aphorismen nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte, Leipzig 1776; E. P., Philosophische Aphorismen nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte. Erster Theil. Neue durchaus umgearbeitete Ausgabe, Frankfurt und Leipzig 1784; E. P., Philosophische Aphorismen nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte. Ganz neue Ausarbeitung. Erster Theil, Leipzig 1793 (zitiert nach J. G. Fichte, Ge1

Aufklärung 19 · © Felix Meiner Verlag 2007 · ISSN 0178-7128

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theoretische Philosophie; Platner hat darüber hinaus Humes Dialogues Concerning Natural Religion übersetzt und mit einem ausführlichen Kommentar versehen.3 In Platners Moraltheorie spielt Hume, soweit ich sehen kann, keine größere Rolle, obwohl dort z.B. Adam Smiths Theorie der moral sentiments ausführlich diskutiert wird.4 In den meisten Untersuchungen zur Hume-Rezeption in Deutschland steht Kant im Mittelpunkt, der an verschiedenen Stellen die entscheidende Bedeutung Humes für seine eigene philosophische Entwicklung hervorgehoben hat.5 Die Hume-Rezeption im allgemeinen ist dagegen vor allem von Manfred Kühn einerseits, Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl andererseits kontrovers diskutiert worden. Es versteht sich von selbst, daß nur anhand von Platners Beispiel hier nichts Entscheidendes zu dieser Kontroverse beigetragen werden kann. Das ist auch gar nicht das Ziel dieses Beitrags. Sie soll vielmehr deswegen zu Beginn dargestellt werden, weil sie einen Orientierungsrahmen anbietet, auf den sich die Entwicklung von Platners Hume-Verständnis beziehen läßt. Gawlick und Kreimendahl argumentieren, daß Humes philosophische Wirkung in Deutschland relativ spät einsetzt. Zunächst haben, so Gawlick und Kreimendahl, nur seine religionsphilosophischen Schriften Interesse geweckt, wobei sie überwiegend auf Ablehnung stießen.6 Dies ändere sich erst unter dem Einfluß Kants, dessen ausdrückliche Bezugnahme auf Hume auch zu einer weitergehenden Beschäftigung mit Hume Anlaß gegeben habe. Dadurch sei das Interesse an Hume aber grundsätzlich ein sekundäres gewesen und von vornherein durch die kantianische Perspektive bestimmt worden. Dementsprechend sei Hume im wesentlichen als durch Kant bereits ausreichend widerlegt angesehen worden. Kühn argumentiert demgegenüber, daß bereits seit Mitte der fünfziger Jahre

samtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hg. von Reinhard Lauth u.a., Stuttgart-Bad Cannstatt 1977 ff., Bd. 2). 3 Ernst Platner, Gespräche über natürliche Religion von David Hume. Nach der zwoten Englischen Ausgabe. Nebst einem Gespräch über den Atheismus von Ernst Platner, Leipzig 1781. 4 Ernst Platner, Philosophische Aphorismen. Zweyter Theil, Leipzig 1782, 72–94. In der zweiten Auflage des zweiten Teils (Leipzig 1800) dominiert die Auseinandersetzung mit Kant und seinen Anhängern. 5 Z.B. in den Prolegomena, in: Kant’s gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1903 ff., Bd. 4, 260. Zu Kants Hume-Verständnis vgl. etwa Lewis White Beck, Essays on Kant and Hume, New Haven, London 1978; Robert Paul Wolff, Kant’s Debt to Hume via Beattie, in: Journal of the History of Ideas 21 (1960), 117–123; Lothar Kreimendahl, Kant – Der Durchbruch von 1769, Köln 1990; Eric Watkins, Kant and the Metaphysics of Causality, Cambridge 2005. 6 Günter Gawlick, Lothar Kreimendahl, Hume in der deutschen Aufklärung, Stuttgart-Bad Cannstatt 1987, 84 ff.

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des 18. Jahrhunderts auch Humes theoretische Philosophie auf reges Interesse stieß. Mit dem Tod Christian Wolffs 1754 sei ein intellektuelles Vakuum entstanden, das nicht sofort von einer Figur gleicher Wirkmächtigkeit gefüllt werden konnte, und daher sei nicht nur Hume, sondern die britische und schottische Philosophie allgemein stärker rezipiert worden als zuvor.7 Kühn bestreitet, daß Hume vor allem aus religiösen Gründen abgelehnt wurde.8 Er argumentiert weiter, daß viele Zeitgenossen den Kant der Kritik der reinen Vernunft nicht etwa für einen Kritiker des Humeschen Skeptizismus hielten (wie er heute überwiegend verstanden wird), sondern ganz im Gegenteil für einen Anhänger desselben; worin er, nach dem Geschmack der meisten Zeitgenossen, zu weit ging.9 Dies schließt nicht geradezu aus, daß die Beschäftigung mit Hume durch Kant ausgelöst wurde, wie Gawlick und Kreimendahl meinen. Kühns These besagt aber etwas deutlich anderes hinsichtlich der Ausrichtung dieser Beschäftigung mit Hume: Während Gawlick und Kreimendahl davon ausgehen, daß sich Kants Ansichten schon weitgehend durchgesetzt haben und demzufolge Hume von einem kantianischen Standpunkt kritisiert wird, wird Kühn zufolge Kant gerade dafür kritisiert, daß er (vermeintlich) Humesche Positionen vertritt. Kein wirklicher Gegensatz, aber eine deutliche Abstufung findet sich bei Gawlick/Kreimendahl und Kühn im Hinblick auf die Einschätzung des philosophischen Niveaus der Diskussion. Kühn räumt zwar ein, daß kaum einer der Beteiligten ein „großer Philosoph“ ist. Skeptizismus war für sie mehr eine Attitüde als ein durchgearbeitetes Argument.10 Gawlick/Kreimendahls Urteil fällt jedoch erheblich schärfer aus. Mit wenigen Ausnahmen wie Tetens, Reinhold, Maimon und Aenesidemus-Schulze ist das Niveau ihrer Ansicht nach erbärmlich: „Aufs Ganze gesehen ist die Diskussion durch eine argumentative Dürftigkeit gekennzeichnet, die geradezu bestürzen muß“.11 Ineins damit wird Gawlick und Kreimendahl zufolge der Skeptizismus meist rundheraus und schroff abgelehnt, während Kühn viele Sympathien für einen, wie er es nennt, moderaten Skeptizismus sieht.

Manfred Kühn, Kant’s Conception of „Hume’s Problem“, in: Journal of the History of Philosophy 21 (1983), 175–193, hier 177–179; vgl. weiter M. K., Scottish Common Sense in Germany: 1768–1800, Kingston 1987; M. K., David Hume and Moses Mendelssohn, in: HumeStudies 21 (1995), 197–220. 8 Manfred Kühn, Skepticism: Philosophical Disease or Cure?, in: Johan van der Zande, Richard H. Popkin (Hg.), The Skeptical Tradition around 1800, Dordrecht 1998, 81–100, hier 86. 9 Kühn, Kant’s Conception (wie Anm. 7), 177–179. 10 Manfred Kühn, Scepticism before Kant, in: Richard H. Popkin (Hg.), The Columbia History of Western Philosophy, New York 1999, 487–490. 11 Gawlick, Kreimendahl, Hume (wie Anm. 6), 84. 7

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I. Skeptizismus und Kausalität In der ersten Auflage der Aphorismen sind die Hume-Bezüge generell spärlich gesät. So enthält sie zwar ein Kapitel „Über den Skepticismus“, mehr als zwei Drittel dieses Kapitels sind aber dem antiken Skeptizismus gewidmet. Hume wird im Zusammenhang mit dem Enquiry Concerning Human Understanding (von Platner hier als „Essay on human Understanding“ tituliert) nur in einem Satz als eine Gestalt des neuzeitlichen Skeptizismus unter vielen behandelt, und nicht einmal als eine besonders radikale. Platner schreibt, Hume „bezweifelt nach Art der Alten mehr die Quellen und Gründe der menschlichen Erkenntniß“, anders als etwa Montaigne und Bayle, deren Skeptizismus sich gegen Moral und Theologie richtet.12 Ganz im Sinne von Manfred Kühn wird der Skeptizismus im übrigen im Gespräch über den Atheismus (1781) als „weise Unentschiedenheit“ und als „Denkart“ im Gegensatz zu einem ausgearbeiteten System behandelt.13 Aufschlußreich ist auch die Diskussion der Kausalitätstheorie in der ersten Auflage der Aphorismen. Hume argumentiert bekanntlich, daß unsere Kausalvorstellungen nicht auf notwendigen Relationen beruhen, die wir durch die Vernunft erkennen, sondern nur auf der Beobachtung, daß ein bestimmtes Ereignis immer üblicherweise auf ein anderes folgt. Eine Kausalrelation als solche können wir aber nicht beobachten.14 Platner bezeichnet im Kapitel „Allgemeiner Begriff von der Kausalverbindung“ den Begriff der Ursache als einen einfachen, der sich direkt aus dem Begriff der Kraft ableiten läßt, und diese beiden Begriffe – Ursache und Kraft – „sind von jeher ein Objekt des Skepticismus gewesen“.15 Platner verweist dabei auf die Beispiele von Sextus Empiricus und eben David Hume. Wer nun aber eine nähere Diskussion von Humes Einwänden erwartet, sieht sich getäuscht. Auf den folgenden Seiten werden die skeptischen Einwände gegen unsere Kausalitätsvorstellungen nicht mehr erwähnt. Statt dessen findet sich eine ausführliche Kritik von Christian Wolffs Kausalitätstheorie, im Zuge derer Platner sich gegen dessen Ansichten über die Durchgängigkeit des Kausalzusammenhangs der Welt richtet, die er für zu weitgehend hält. Eine in gewisser Hinsicht an Hume erinnernde Diskussion über Kausalität findet sich daneben in § 183 der Anthropologie. Danach „lernt

Platner, Aphorismen I 1776 (wie Anm. 2), 213. Platner, Gespräche über natürliche Religion (wie Anm. 3), 261 f.; ebd., 268, gilt der Skeptizismus gar als ein „Affekt“. 14 David Hume, A Treatise of Human Nature, hg. von David Fate Norton, Mary J. Norton, Oxford 2000; David Hume, Enquiries Concerning Human Understanding and Concerning the Principles of Morals, hg. von L. A. Selby-Bigge, P. H. Nidditch, Oxford 1975. 15 Platner, Aphorismen I 1776 (wie Anm. 2), 295. 12 13

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der Mensch sich daran gewöhnen, keine Wirkung ohne Ursache zu denken“.16 Was er genauer dabei lernt, entspricht allerdings nicht Humes Ansicht, denn die sinnliche Erfahrung soll Platner zufolge gerade lehren, „daß alles was geschieht allezeit durch eine vorhergegangene Ursache geschieht“.17 Gerade dies soll Hume zufolge die Erfahrung ja nicht enthalten, sondern im Gegenteil nur die wiederholte Aufeinanderfolge von Ereignissen. Die zweite Auflage der Aphorismen enthält unter der Überschrift „Widerlegung des Skepticism“ eine systematische Analyse skeptizistischer Grundpositionen.18 Die historischen Positionen, die Platner mit dem Skeptizismus verbindet und in einiger Ausführlichkeit bespricht, finden sich allerdings mehrheitlich in der Antike. Der Skeptizismus beruht Platner zufolge einerseits darauf, daß seine Vertreter nur die Wirklichkeit ihrer Ideen zugestehen, und andererseits darauf, daß sie die Ideen nur als Relationen, nicht aber als Abdrücke der Dinge selbst ansehen. Platners Hauptargument gegen den Skeptizismus beruht darauf, daß es, so Platner, eine „allgemeine Einstimmigkeit aller Köpfe und Denkarten, über die Prädicate des Möglichen und Nothwendigen, in der Ontologie und reinen Mathematik“ gibt.19 Wäre der Skeptizismus im Recht, so Platner, würden wir diese weitgehende Übereinstimmung aller Subjekte hinsichtlich von Ontologie und reiner Mathematik nicht beobachten. Platner hält den Skeptizismus jedoch nicht einfach für einen Irrweg, sondern räumt eine Reihe von Gründen ein, die für ihn sprechen, beispielsweise, daß die sinnliche Welt in der Tat etwas anderes sei als die wirkliche.20 Unter den frühneuzeitlichen Philosophen finden sich Platner zufolge nur wenige echte Skeptiker, wobei Hume eine herausragende Stellung eingeräumt wird: „Alle alte und neuere Skeptiker übertrifft Hume an Scharfsinn und Stärke“; worauf diese herausragende Stellung beruht, erläutert Platner aber nicht weiter.21 Bemerkenswert ist schließlich noch Platners Einschätzung von Humes zeitgenössischen Kritikern: James Oswald und James Beattie haben Platner zufolge „gegen Humen, nur gepredigt“, wohingegen man Moses Mendelssohn und Thomas Reid mit Gewinn liest.22 Das Thema Kausalität läßt sich hinsichtlich der zweiten Auflage schnell abhandeln: Obwohl für Platner die Frage nach der Verbindung der wirklichen Dinge in der Welt qua Ursache und Wirkung eine der drei Hauptfragen der

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Ernst Platner, Anthropologie für Aerzte und Weltweise, Leipzig 1772, 51. Ebd. Platner, Aphorismen I 1784 (wie Anm. 2), 249–262. Ebd., 254. Ebd., 256. Ebd., 261. Ebd., 262.

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Metaphysik darstellt, diskutiert er Hume in diesem Zusammenhang überhaupt nicht.23 Auch im Kapitel „Das Humische System“ stellt Kausalität nur einen Nebenaspekt dar. Dort befaßt sich Platner überwiegend mit Humes Kritik an der Substanzmetaphysik und der Seelenlehre, wie in Abschnitt II zu sehen ist. In der dritten Auflage der Aphorismen erklärt Platner den Skeptizismus für „durchaus unwiderlegbar“, was aber vor allem daran liegt, daß er weder etwas behaupte noch verneine.24 Obwohl ihm jetzt mehr vordergründige Sympathie entgegengebracht wird als in der zweiten Auflage, bleiben die Argumente wie beispielsweise hinsichtlich der reinen Mathematik dieselben. Die ausführliche Darstellung historischer Positionen im Anhang zu § 705 ist wörtlich aus der zweiten Auflage übernommen.25 Dafür geht Platner nun etwas direkter auf Humes Kausalitätstheorie ein und bezeichnet dessen Ansicht, daß unsere Kausalvorstellungen allein durch Ideenverbindung und Gewohnheit entstehen, als „unbegreiflich“.26 Das erste dazu aufgebotene Argument besagt, daß man beim Entstehen der Wirkung aus der Ursache „einen erzeugenden Nisus einer Kraft und also viel mehr denke[n], als verbundene Vorstellungen“. Platners zweitem Argument zufolge verbinde ich in vielen Fällen Vorstellungen nur durch das Gedächtnis, und dabei sei ich mir zugleich im klaren darüber, daß sie nicht objektiv „in ursachlicher Verbindung“, sondern nur in der Zeit verbunden sind. Da ich in der Lage bin, solche Fälle bloßer Gedankenverbindung von Fällen realer Kausalität klar zu unterscheiden – so scheint Platners Überlegung zu sein –, kann ich auch darauf vertrauen, daß es diesen Unterschied wirklich gibt. Man könnte hier an Beispiele denken wie das folgende: Ich erinnere mich an den Anblick eines Gemäldes, während dessen ich den Geruch von Rosen wahrgenommen habe. Beide Sinneseindrücke sind im Gedächtnis als zeitlich zusammengehörig miteinander verbunden, ohne daß ich unter normalen Umständen annehmen würde, der Geruch werde vom Gemälde verursacht oder der Anblick des Gemäldes sei Folge der Geruchswahrnehmung.

II. Substanzmetaphysik und Seelenlehre Humes nur im Treatise of Human Nature dargestellte Theorie des Geistes besagt, kurz gefaßt, daß alles, was wir über den menschlichen Geist sagen können, sich darauf beschränkt, daß er aus einer Abfolge sich mit großer Ge-

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Ebd., 270–273. Platner, Aphorismen I 1793 (wie Anm. 2), 179. Ebd., 174–176. Ebd., 237 f.

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schwindigkeit abwechselnder Vorstellungen besteht.27 Für die Existenz eines gleichbleibenden Subjekts der Vorstellungen, das von diesen unterschieden ist oder gar selbständig existiert, gibt es Hume zufolge keinerlei ernstzunehmende Hinweise, d.h. für ihn: keine korrespondierenden Sinneseindrücke. Alles, was wir wahrnehmen können, sind einzelne Vorstellungen und ihre Abfolge. Dies wird häufig als Humes „Bündeltheorie“ des Geistes bezeichnet.28 Man sollte vermuten, daß eine solche Theorie gerade im 18. Jahrhundert einigen philosophischen Sprengstoff barg. In Deutschland wurde sie jedoch kaum zur Kenntnis genommen, was wohl in erster Linie daran lag, daß die meisten deutschen Gelehrten der Zeit des Englischen nicht mächtig waren. Ins Deutsche übersetzt wurde der Treatise erst 1790, und zwar durch den Kantianer Ludwig Heinrich Jakob.29 Humes 1748 erschienener Enquiry concerning Human Understanding enthielt keine Hinweise mehr auf die Bündeltheorie; der Enquiry lag bereits seit 1755 in von Johann Georg Sulzer herausgegebener deutscher Übersetzung vor.30 Zu den wenigen, die sich zu Humes Bündeltheorie des Geistes einlassen, gehört Ernst Platner in den Philosophischen Aphorismen, neben Johann Nikolaus Tetens, Johann Bernhard Merian und dem Übersetzer Ludwig Heinrich Jakob.31 Platners Beschäftigung mit Humes Theorie des Geistes ändert sich erheblich im Verlauf der drei Auflagen der Aphorismen, so daß diese Entwicklung hier den weiteren Aufbau des Beitrags bestimmen wird. In der ersten Auflage der Aphorismen von 1776 wird Humes Theorie des Geistes noch nicht erwähnt.32 Platner orientiert sich hier im wesentlichen an

Hume, A Treatise of Human Nature (wie Anm. 14), 164–171. Die Bündeltheorie des Geistes findet in der Hume-Forschung große Aufmerksamkeit, insbesondere da Hume sie im Appendix zum Treatise als mit seiner übrigen Theorie nicht vereinbar ansieht und angesichts dieser Schwierigkeit kapituliert (Hume, A Treatise of Human Nature [wie Anm. 14], 398–400). Zur gegenwärtigen Diskussion vgl. etwa Daniel Flage, David Hume’s Theory of Mind, London, New York 1990 und Donald Ainslie, Hume’s Reflections on the Identity and Simplicity of Mind, in: Philosophy and Phenomenological Research 62 (2001), 557–578. 29 Ludwig Heinrich Jakob, David Hume über die menschliche Natur aus dem Englischen nebst kritischen Versuchen zur Beurtheilung dieses Werks, Halle 1790. 30 David Hume, Philosophische Versuche über die menschliche Erkenntniss, hg. von Johann Georg Sulzer, Hamburg 1755. Zu Sulzers ausführlichem Hume-Kommentar in diesem Band vgl. Eric Watkins, Kant and the Metaphysics of Causality (wie Anm. 5), 364–368. 31 Johann Nicolaus Tetens, Philosophische Versuche über die menschliche Natur, Leipzig 1777, Bd. 1, 392–395; John Christian Laursen, Richard Popkin, Hume in the Prussian Academy: Jean Bernard Merian’s ‘On the Phenomenalism of David Hume’, in: Hume Studies 23 (1997), 153–191 enthält sowohl den französischen Originaltext als auch eine englische Übersetzung von Merians „Sur le phenomènisme de David Hume”, ursprünglich erschienen 1792/93 in den Histoire de l’Academie Royale des Sciences et des Belles Lettres de Berlin. 32 Die Bibliographie der Aphorismen I 1776 (wie Anm. 2) erwähnt nur Humes Essais and Treatises on several subjects, London 1758, während in Aphorismen I 1784 (wie Anm. 2) und 27 28

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der Seelenlehre, wie sie in der Leibniz-Wolffschen Tradition üblich ist: Die menschliche Seele ist ein Wesen, das sowohl von den Ideen und Empfindungen als auch vom Körper verschieden ist.33 Ihre wesentliche Bestimmung ist die Vorstellungskraft.34 Platner schließt sich auch der von Leibniz und Wolff bekannten Unterscheidung von Perzeption und Apperzeption an, ebenso wie der damit direkt zusammenhängenden Ansicht, daß die Seele sich nicht immer aller Vorstellungen bewußt ist und es also unbewußte Vorstellungen gibt.35 In der ersten Auflage behandelt Platner das sogenannte „Bewußtsein der Person“ (auch „Bewußtsein der Persönlichkeit“ genannt) als eine der beiden grundlegenden Formen des Bewußtseins. Er behauptet – ohne sich sonderlich um eine Begründung zu bemühen –, daß alles Bewußtsein entweder ein einfaches „Bewußtsein der Kraft“ ist, oder ein solches Bewußtsein der Kraft, das um das Bewußtsein der „persönlichen Individualität“ ergänzt ist. Es handelt sich also näher betrachtet nicht um zwei verschiedene grundlegende Bewußtseinsformen. Grundlegend ist vielmehr nur das Bewußtsein der Kraft, das sich unter bestimmten Bedingungen zu einem Bewußtsein der persönlichen Individualität weiterentwickelt.36 Mit dem Ausdruck „Bewußtsein der Kraft“ bezieht sich Platner auf die aktive Rolle, die die Seele bei mentalen Operationen spielt. In dieser Aktivität liegt, daß die Seele die Ideen und andere mentale Ereignisse von sich selbst unterscheidet, und zwar näher die Ursache (die Seele selbst) von den Wirkungen (den Ideen).37 Das Bewußtsein der Kraft wird von Platner verschiedentlich auch als „Bewußtsein der Existenz“ bezeichnet, besonders in der zweiten Auflage der Aphorismen. Das Bewußtsein der persönlichen Individualität beschreibt Platner als eine komplexe Idee. Es enthält (1) die Idee vom Körper und (2) die Idee von äußeren Dingen, die auf den Körper einwirken (worin die räumliche Lokalisation des Körpers enthalten ist).38 (3) Das Bewußtsein der persönlichen Individualität enthält zudem die Idee des zeitlichen Verhältnisses zwischen gegenwärtigen und früheren Seelenzuständen, und (4) die größtenteils dunkle, also unbewußte Vorstellung des Ganzen aller Ideen, die sich auf das Ich beziehen.39 Aphorismen I 1793 (wie Anm. 2) jeweils der Treatise nach der Ausgabe London 1739/40 zu finden ist. 33 Platner, Aphorismen I 1776 (wie Anm. 2), 3. 34 Ebd., 15 f. 35 Ebd., 7. 36 Ebd., 9. 37 Ebd., 9, vgl. ebd., 14, die Behauptung, dieser Unterschied der beiden Bewußtseinsformen sei „nur empirisch, nicht reell“. 38 In seinem Beitrag zu diesem Band weist Udo Thiel darauf hin, daß Platner wohl als erster dem Körper eine wichtige Rolle bei der Erklärung der Person beigemessen hat. 39 Platner, Aphorismen I 1776 (wie Anm. 2), 11 ff.

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Platner nimmt in der ersten Auflage also sichtlich keinen Bezug auf Humes Bündeltheorie des Ich und läßt es hinsichtlich der Bewußtseinstheorie mit den gerade wiedergegebenen Überlegungen bewenden. Die soeben dargestellten Einteilungen bilden aber in den folgenden Auflagen die Grundlage für seine Kritik an Hume. In der zweiten Auflage der Aphorismen, die 1784 erscheint, ändert sich die Lage hinsichtlich Humes vollständig, obwohl diese Umarbeitung der Aphorismen im allgemeinen längst nicht so weit geht wie in der dritten Auflage (1793). Humes Theorie stellt für Platner nun eine der drei fundamentalen Alternativen in der Philosophie des Geistes, neben Seelensubstanzlehre und Materialismus, dar.40 Weiter ist Platner der Ansicht, daß Kants Theorie des Geistes aus dem Paralogismenkapitel der Kritik der reinen Vernunft, drei Jahre vor der Umarbeitung der Aphorismen erschienen, im wesentlichen mit Hume übereinstimmt.41 Platner hat in dieser Auflage ein eigenes Kapitel eingefügt unter dem Titel „Das Humische System“, das der Kritik an Humes Philosophie gewidmet sein soll, in der Tat aber weit ausführlicher auf Kant eingeht. In der dritten Auflage findet sich wiederum kein eigenes Hume-Kapitel.42 Platner zufolge stellen sich zwei zentrale Fragen hinsichtlich der Natur des Subjekts: (1) ob das Ich vom Körper verschieden ist – das wird von den Materialisten bestritten, und (2) ob das Ich von den Seelenwirkungen verschieden ist – was Hume und Kant in Abrede stellen. Humes und Kants Fehler beruht Platner zufolge darauf, daß sie die Beweiskraft des Selbstgefühls bezweifeln, dem Platner anscheinend einen direkten Beweis dafür zutraut, daß die Seele ein selbständig existierendes Wesen ist.43 Den tieferen Grund für diesen Irrtum sieht Platner darin, daß Hume und Kant es versäumen, die beiden schon aus der ersten Auflage bekannten Bewußtseinsformen, das allgemeine Bewußtsein der Eine erste (und im übrigen zutreffende) Darstellung der Bündeltheorie findet sich im Gespräch über den Atheismus von 1781: „Hume gibt überhaupt von den geistigen Kräften sehr verkleinerliche Vorstellungen, oder vielmehr er hebt, gleich den spätern Eleatikern zu den Zeiten des Socrates, das Wesen derselben ganz auf, indem er alles für sich Bestehende Substanzielle läugnet. Ihm ist ein Geist, eine Seele, nichts anders, als ein Haufen von Ideen, die neben einander sind und auf einander folgen – ohne eine substanzielle Kraft, welche diese Ideen hervorbringt, oder anschauet [...] Er erkennt aber keine bleibende Kraft, keine geistige Thätigkeit, und mit einem Worte, keine Seele, welche die Fähigkeit richte, oder die verschiedenen Ideen zusammenordne, sondern das, was wir Seele nennen, ist ihm nichts, als die Vielheit von Vorstellungen selbst“ (Platner, Gespräche über natürliche Religion [wie Anm. 3], 306 f.). 41 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, hg. von Raymund Schmidt, Hamburg 1976, A 348-A 405. 42 Platner, Aphorismen I 1784 (wie Anm. 2), 281–286. 43 Vgl. grundlegend zum Begriff des Selbstgefühls Udo Thiel, Varieties of Inner Sense: Two Pre-Kantian Theories, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 79 (1997), 58–79, sowie Manfred Frank, Selbstgefühl, Frankfurt am Main 2002. 40

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Existenz und das Bewußtsein der Person, zu unterscheiden.44 Platner entwikkelt diese Einwände nicht weiter. Ich will jedoch versuchen, sie etwas nachvollziehbarer zu machen auf der Grundlage von weiteren Bemerkungen Platners über das Selbstgefühl und die Unterscheidung von Existenzbewußtsein und Bewußtsein der Person. Platner argumentiert im wesentlichen, daß das Selbstgefühl unter anderem ein direktes Gefühl davon ist, daß das Ich oder die Seele sowohl von den Vorstellungen als auch vom Körper verschieden ist. Des näheren soll es sich dabei um eine Unterscheidung handeln von einer Kraft (der Vorstellungskraft) und den Gegenständen, auf die diese Kraft wirkt. Platner hält es für recht offenkundig, daß wir über ein solches Gefühl verfügen: Wenn ich mein Ich, oder Selbst empfinde, so empfinde ich klar die Ideen, welche mir vorschweben, als etwas von dem Ich, oder Selbst Unterschiedenes; ich empfinde das Ich oder Selbst, als eine Kraft welche sich Ideen vorstellt, die Ideen aber, als die Gegenstände dieser Kraft.45

Entsprechend schreibt Platner im Kapitel „Das Humische System“, daß ich mir, indem ich denke, zugleich meiner Seelenwirkungen als Tätigkeiten bewußt bin und mich somit als wirkend fühle.46 Platner behauptet hier auch, daß das Selbstgefühl selbst kein Haufen von Ideen ist, sondern das Gefühl von einer „Kraft, welche Ideen behandelt“.47 Er behauptet darüber hinaus, daß das Selbstgefühl selbst numerisch identisch ist, bezogen auf den Wechsel der Vorstellungen.48 Dies ist das genaue Gegenteil von Humes Prämisse im Treatise, wonach es gerade keine Vorstellung gibt, die konstant und unverändert bleibt, weshalb wir über keine gerechtfertigte Idee von einem beständigen Subjekt verfügen.49 Bezeichnenderweise erwähnt Platner Hume hier nur als den Urheber dieser Überlegungen und geht dann zu einer detaillierten Diskussion von Kants Paralogismen über, in denen Platner zufolge derselbe Ansatz verfolgt wird.

„Wenn Hume und Kannt [sic] die Beweiskraft dieses Selbstgefühls bezweifeln, und in demselben nur wechselnde Verhältnisse von Ideen gegen Ideen erkennen, so scheinen sie nicht zu unterscheiden das hier allein gemeinte Bewußtseyn der Existenz, von dem Bewußtseyn der Person“ (Platner, Aphorismen I 1784 [wie Anm. 2], 9 f.). 45 Platner, Aphorismen I 1784 (wie Anm. 2), 8 f. Platner argumentiert ähnlich für den Unterschied von Selbst und Körper: „Eben so klar empfinde ich das Ich, oder das Selbst, als etwas von allen nahmhaften Theilen des Körpers Unterschiedenes“ (ebd., 20). „Den Körper empfinde ich, als mein Eigenthum; mich selbst, als dessen Besitzer“ (ebd., 9). 46 Ebd., 275. 47 Ebd. 48 „Das Selbstgefühl von meinem Ich ... selbst nicht wechselt, jedoch sich verändert, d.h. übergehet von einer Art des Seyns auf die andere, und ihre eigene Beharrlichkeit von dem Wechsel ihrer Zustände klar unterscheidet“ (ebd., 283). 49 Hume, A Treatise of Human Nature (wie Anm. 14), 164 f. 44

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Es sollte an dieser Stelle vermerkt werden, daß Platners Annahme eines numerisch identischen Selbstgefühls zwar merkwürdig anmutet, sich aber sehr wohl genau auf Humes Argument bezieht: Würde Platner zurecht annehmen, daß wir ein direktes Gefühl von der Verschiedenheit der Seele von den Ideen haben, dann würde er über ein brauchbares Argument gegen Hume verfügen, denn daß wir ein solches Gefühl nicht haben, ist eben Humes zentrale Prämisse. Das ändert jedoch auch nichts an der Tatsache, daß Platners Annahme eines identischen Selbstgefühls empirisch äußerst unplausibel erscheint und schon gar nicht so unmittelbar einleuchtet, wie Platner anscheinend dachte. Platner bemüht sich dementsprechend nicht, seine Überlegung weiter zu untermauern, sondern beruft sich nur auf Hermann Samuel Reimarus’ „Beweis der Wirklichkeit der Seele aus dem Selbstgefühl“.50 Reimarus ist in der Tat der einzige Vertreter der wolffianischen Schule, der einen ausführlicheren Versuch zur Erklärung von personaler Identität unternimmt (die sonst einfach direkt auf die Identität der Seelensubstanz zurückgeführt wird). Reimarus’ Argument basiert auf dem wolffianischen Bewußtseinsbegriff: Ich bin mir dann eines Gegenstandes oder einer Vorstellung bewußt, wenn ich sie von anderen unterscheide. Es steht Reimarus zufolge außer Zweifel, daß wir Bewußtsein haben. Bewußtsein zu haben bedeutet, Gegenstände oder Vorstellungen voneinander zu unterscheiden. Um Vorstellungen oder Gegenstände klar unterscheiden zu können, soll es erforderlich sein, sie zu vergleichen, und zwar insbesondere mit früheren Zuständen oder Fällen. Um nun aber verschiedene Fälle, Zustände von Objekten oder Vorstellungen, die zu unterschiedlichen Zeiten auftreten, vergleichen zu können, ist eine Instanz erforderlich, die in der Zeit identisch bleibt. Da aber kein Körper in der Zeit identisch bleibt, kann das in der Zeit fortdauernde Wesen nur ein immaterielles sein.51 Inwiefern Platners Überlegungen sich sinnvoll auf Kant beziehen lassen, ist eine andere Frage, der ich hier nicht weiter nachgehen will; eine Empfindung des Selbst spielt in dessen Theorie jedenfalls keine Rolle. Wie schon gesehen, sollte der tiefere Grund für Humes und Kants gemeinsamen Irrtum darin liegen, daß sie das Bewußtsein der Existenz – das Gefühl, daß wir sind – mit dem Bewußtsein der Person – dem Gefühl, wer wir sind – verwechseln. Diese bereits in der ersten Auflage getroffene Unterscheidung wird in der zweiten noch etwas differenzierter dargestellt. Das Bewußtsein der Existenz soll nun aus drei Komponenten bestehen, (1) dem „Gefühl des Lebens und Wirkens, der Kraft, Thätigkeit“,52 (2) der Unterscheidung unserer WirkunAphorismen I 1776 (wie Anm. 2), 19. Hermann Samuel Reimarus, Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion, Hamburg 31776, 440–445. 52 Das heißt vor allem auch, daß es nicht im traumlosen Schlaf vorliegt. 50 51

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gen oder Ideen von der Kraft der Seele, und (3) der „Anerkennung der Ideen nach Merkmalen“, womit Platner die Unterscheidung und Zusammenschau von Teilvorstellungen meint.53 Das Bewußtsein der Person soll die teils sinnliche, teils gedächtnismäßige Vorstellung „derjenigen Eigenschaften, Verhältnisse und Umstände [sein] welche das Besondere und Persönliche des Menschen ausmachen“.54 Es setzt das Bewußtsein der Existenz voraus und ist meist nur undeutlich vorhanden.55 Dieses Bewußtsein der Person ist also wesentlich spezifischer und reicher bestimmt als das bloße Bewußtsein von der numerischen Identität und bezeichnet wohl im wesentlichen die Merkmale einer Person, die sie zu einem individuellen Charakter machen und von anderen Personen unterscheiden. Das Bewußtsein der Person schließt Platner zufolge drei Aspekte ein: (1) eine Vorstellung vom Körper und seinen Teilen und ihren gegenwärtigen Zuständen;56 die „sehr zusammengesetzte“ Vorstellung aller Ideen, Prinzipien, Meinungen und Neigungen, die zur Seele gehören;57 (3) die Vorstellung von der gegenwärtigen Position des Subjekts in Raum und Zeit.58 Es kann hier dahingestellt bleiben, warum beispielsweise die Bestimmung der Position im Raum essentiell für das Bewußtsein der Person sein soll. Wichtiger ist die Frage, ob sich anhand dieser Unterscheidung herausfinden läßt, worin Humes und Kants vermeintlicher Fehler bestanden hat. In der Tat scheint Platners Bewußtsein der Person, im Unterschied zum Bewußtsein der Existenz, keinen Bezug auf eine gleichbleibende Entität zu enthalten. Dasjenige, was das Besondere einer Person ausmacht, muß nicht im gesamten Verlauf ihres Lebens gleichbleiben. Im Sinne des so bestimmten Bewußtseins der Person könnte man z.B. sagen: „Durch die Erfahrung X bin ich eine vollständig andere Person geworden“. Mit diesem Satz bringe ich

Platner, Aphorismen I 1784, 13 ff. Ebd., 18. 55 Ebd., 21. 56 „Die sehr zusammengesetzte Idee von dem beygesellten Körper, und seinem jedesmaligen gegenwärtigen Zustande. Dieses unleugbare, und zu dem Wesen des Menschen nothwendige Gefühl der Seele von allen Theilen, Kräften, Thätigkeiten und Zuständen des ihm beygesellten Körpers, ist der Grund des Stahlischen Systems“ (ebd., 18). 57 „Die sehr zusammengesetzte, allzeit undeutliche, selten vollständige Vorstellung aller Ideen [...] Grundsätze, Meinungen, Verstandesfähigkeiten, Empfindnisse, Neigungen, Gesinnungen u. s. w. welche der Seele zugehören, als Eigenschaften und Theile, und den Grund ausmachen ihres Tons und Charakters“ (ebd., 19). 58 „Eine Idee von den gegenwärtigen Verhältnissen des Ortes und der Zeit. Wer nicht weis, wo und wann er ist, der weis nicht, wer er ist. Zeitverhältnisse heißen hier überhaupt die Umstände des Lebens. Die Seele denkt ihre Persönlichkeit allzeit in den Ort- und Zeitverhältnissen, von denen sie gegenwärtig die lebhafteste Vorstellung hat“ (ebd.). 53 54

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nicht zum Ausdruck, daß ich im Sinne der numerischen Identität eine andere Person geworden bin; in diesem Sinne bin ich vielmehr immer noch dasselbe Subjekt, kann mich beispielsweise an meine vergangenen Handlungen erinnern und für sie zur Verantwortung gezogen werden. Sondern ich bringe dadurch zum Ausdruck, daß sich durch eine einschneidende Erfahrung so viele meiner Attribute geändert haben, daß ich mit mir selbst zu einem früheren Zeitpunkt nur noch wenig Ähnlichkeit habe.59 Und auch die weiteren Aspekte des Bewußtseins der Person – die Vorstellungen vom Körper und von der gegenwärtigen Position in Raum und Zeit – sind solche, die ständigen Veränderungen unterliegen. Für das Bewußtsein der Person in diesem Sinne könnte die Bezeichnung als Bündel oder Haufen von Vorstellungen und Attributen also durchaus zutreffen. Platners Argument würde dann also lauten: Hume und Kant beachten nur das „Bewußtsein der Person“, das keinen Bezug auf eine identisch bleibende Entität aufweist, und übersehen dabei das grundlegendere „Bewußtsein der Existenz“, das uns als „Bewußtsein der Kraft“ ein Gefühl von der Seele als separater (und wohl auch gleichbleibender) Entität vermittelt.60 Auch wenn man Platners Einteilungen für unbegründet hält, so muß man m.E. doch zugestehen, daß dies ein durchaus originelles Argument ist. Ich möchte nun noch einmal im Zusammenhang auf das Kapitel „Das Humische System“ eingehen, von dem oben bereits die Rede war. Es hat den Anschein, daß für Platner Humes zentrales Anliegen in der Ablehnung des traditionellen Substanzbegriffs (und nicht etwa in seiner Kausalitätsauffassung oder der Assoziationstheorie) besteht. So beginnt er das Kapitel mit den Schwierigkeiten, mit denen der „Begriff von selbständigen Dingen“ verbunden ist, die Platner zufolge zu dem Gedanken führen, daß die geistige und materielle Welt nichts anders sey, als theils ein Haufen, theils eine Reihe von Erscheinungen, ohne selbstständige Kräfte.61

Platner tritt nun an, den Substanzbegriff gegenüber Humes Einwänden – defacto aber vor allem gegenüber Kants Einwänden – zu rechtfertigen. Er stellt

Eric Olsen, Personal Identity, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Fall 2002 Edition), hg. von Edward N. Zalta (http://plato.stanford.edu/archives/fall2002/entries/identitypersonal/), führt eine Reihe von Problemstellungen an, die mit der der personalen Identität verwandt und lose verbunden, aber eben nicht identisch sind. Seine Bestimmung der Person im Sinne der Frage „Who am I“ entspricht ziemlich genau Platners Bewußtsein der Person, im Unterschied eben zur Frage nach der numerischen Identität der Person. 60 In der dritten Auflage der Aphorismen wird das Bewußtsein der Person öfter direkt im stärkeren Sinn als Bewußtsein der Identität angesprochen (z.B. Platner, Aphorismen I 1793 [wie Anm. 2], 47). 61 Platner, Aphorismen I 1784 (wie Anm. 2), 281. 59

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dabei drei Überlegungen in den Mittelpunkt, die die Kritiker der Substanzmetaphysik nicht hinreichend berücksichtigt haben sollen: Diejenigen, welche die Wahrheit und Erweislichkeit des Begriffs Substanz bezweifeln, haben dreyerley zu beweisen: 1) daß das Selbstgefühl die Selbständigkeit unserer Vorstellungskraft nicht deutlich ausdrücke; 2) daß unser Begriff von dem Unterschiede der Thätigkeit und Kraft, des Zustandes und der Substanz, der Wirkung und der Ursache, blos das Werk der Ideenverbindung sey; 3) daß Thätigkeit sich denken lasse ohne Widerspruch, unabhängig von Kraft oder Substanz, Wirkung unabhängig von Ursache.62

Daß Platner davon ausgeht, daß wir in unserem „Selbstgefühl“ den Unterschied des denkenden Wesens von den Gedanken unmittelbar wahrnehmen, wurde bereits oben eingehend diskutiert. Natürlich ist er auch der Ansicht, daß sich zeigen läßt, daß Begriffe wie Tätigkeit und Kraft keine reinen Ideenverbindungen darstellen. Er bietet dazu in den nachfolgenden Paragraphen zwei Argumente auf: (1) Wenn ich selbst wirke, empfinde ich dabei Bestreben, Anstrengung und Kraft, und somit mehr als bloße Ideenverbindung. Dieses Argument setzt ähnlich wie das Selbstgefühl-Argument – wenn man so will, empiristisch – bei einer Behauptung darüber an, was uns in der Empfindung direkt gegeben ist.63 (2) Das zweite Argument setzt dagegen gerade umgekehrt an: Platner behauptet hier nichts anderes, als daß wir über die wesentlichen Verhältnisbegriffe a priori verfügen: sie sind „früher“ als Erfahrung und Ideenverbindung, und Einsicht in ihren notwendigen Zusammenhang erlangen wir mittels der Vernunft: ... anlangend, die Außendinge, es viele wesentliche Verhältnisbegriffe giebt, welche theils früher sind, als Erfahrung und Ideenverbindung, theils in unserer Vorstellung mit sich führen, die vernunftmäßige Einsicht einer Abhängigkeit der Wirkung von der Ursache, wie einer Folge von ihrem Grunde.64

Das bleibt aber auch wieder nur eine Behauptung Platners. Es könnte ihm an dieser Stelle eigentlich aufgefallen sein, daß der häufig zitierte Kant für eine ähnliche Aufgabenstellung in seiner Deduktion der Kategorien etwas mehr aufgewandt hat als einen einzigen Halbsatz. Platners dritte Überlegung aus Aphorismen I 1784, 283 – daß sich Tätigkeit nicht widerspruchsfrei denken lasse ohne Unterstellung einer Kraft oder Substanz, ebenso wie Ursache nicht ohne Wirkung – gibt einen weiteren Grund dafür an, daß Kraft und Substanz sowie Ursache und Wirkung Begriffe a priori sind: Sie sind denknotwendig, insofern sich ohne sie der Begriff der Tätigkeit nicht widerspruchsfrei denken

62 63 64

Ebd., 283. Ebd., 284. Ebd.

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läßt bzw. der Gedanke von einer Wirkung notwendig den Gedanken an eine Ursache einschließt. In der dritten Auflage der Aphorismen von 1793 gewinnt man den Eindruck, daß Platner sich in mancher Hinsicht Kant angenähert hat, auch wenn er nach wie vor nicht mit Kritik spart. Im Unterschied zur zweiten Auflage werden Kant und Hume nun separat behandelt, und Kant tritt als (nicht sehr erfolgreicher) Kritiker Humes auf.65 Platner schreibt nun: Das Selbstgefühl Ich (147) ist nicht ein Haufen oder eine Reihe von Vorstellungen; denn es wird bey jeder Vorstellung vorausgesetzt (126); und das Vorstellende ist etwas anders, als die Vorstellung.66

Als Vertreter dieser Auffassung wird nur noch Hume erwähnt, und als sein Hauptfehler wird, wie in der zweiten Auflage, die Verwechslung von Bewußtsein der Existenz und Bewußtsein der Persönlichkeit genannt.67 Auch bestreite Hume, daß die Seele eine anschauliche Vorstellung von sich selbst hat, und zwar deswegen, weil er die Möglichkeit einer entsprechenden „so genannte[n] Impression“ nicht einsieht.68 Das zweite Argument aus der soeben zitierten Passage – daß das Vorstellende etwas anderes sein muß als die Vorstellung – ähnelt einem der Einwände gegen den Substantialismus, die Platner in der zweiten Auflage diskutiert hat. Das erste Argument scheint jedoch in eine etwas andere Richtung zu weisen: Weil das Selbstgefühl eine Voraussetzung für jede Vorstellung ist, kann es selbst nicht das Resultat einer Vorstellung (oder der Kombination von Vorstellungen) sein. Diese Idee weist eine gewisse Verwandtschaft mit kantianischen Überlegungen auf, muß aber nicht notwendigerweise von Kant beeinflußt sein. Denn Platner hat schon früher, z.B. in der Anthropologie von 1772, argumentiert, daß jedes Bewußtsein sowohl Bewußtsein der Vorstellung als auch Selbstbewußtsein enthält und somit Selbstbewußtsein zu den notwendigen Bedingungen des Vorstellens gehört.69 Direkt im Anschluß geht Platner zur Diskussion von Kants Unterscheidung von logischem und realem Ich über und stimmt Kant darin zu, daß sich Prädikate wie Unkörperlichkeit, Beharrlichkeit und Identität nicht aus dem Selbstgefühl begründen lassen.70 Er wendet sich jedoch gegen Kants Ansicht, wonach das Ich, weil logisches Subjekt, nicht zugleich auch einen Inhalt haben kann. Bemer-

Platner, Aphorismen I 1793 (wie Anm. 2), 180. Ebd., 48. 67 Bei der Erörterung der „dogmatischen Kritik“ am Substanzbegriff sind Hume und Kant wieder vereint, nun auch zusammen mit Locke (ebd., 218). 68 Ebd. 69 „Wenn sich die Seele ein äußeres Objekt denken soll, so muß sie sich 2) ihrer selbst bewußt seyn“ (Platner, Anthropologie 1772 [wie Anm. 16], 86). 70 Platner, Aphorismen I 1793 (wie Anm. 2), 50. 65 66

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kenswert ist noch, daß Platner in der dritten Auflage das Bewußtsein der Persönlichkeit nicht mehr ausführlicher behandeln will: Es „war in den vorigen Ausgaben eine der fremdartigen Lehren, die ich hier weggelassen habe“.71 Platner stellt nunmehr die Unterscheidung zwischen dem Bewußtsein der Existenz und dem „Bewußtseyn, sofern es den Vorstellungen zugehört“ in den Mittelpunkt.72 Er behauptet nun unter Bezugnahme auf Reinhold, daß das Bewußtsein der Vorstellungen immer sowohl ein Bewußtsein des Gegenstandes als auch ein Selbstbewußtsein einschließt. Zum Bewußtsein der Persönlichkeit verweist Platner auf seine Neue Anthropologie, wo er besonders auf die Veränderlichkeit dieser Bewußtseinsform abhebt.73

III. Schluß Platners Ausführungen entsprechen sicherlich oft nicht dem, was man heute von einem ausgearbeiteten Argument erwartet. Insbesondere scheint er sich über die Tragweite einiger Probleme nicht vollständig im klaren gewesen zu sein, so daß seine Überlegungen gelegentlich recht kurz angebunden wirken. Dennoch scheint mir das philosophische Niveau der Diskussion bei weitem nicht so erbärmlich und zugleich die Ablehnung Humes nicht so schroff zu sein, wie es Gawlick und Kreimendahl für die deutsche Hume-Rezeption insgesamt diagnostiziert haben. Platners Einstellung ist, besonders in der dritten Auflage, eher von einem freundlichen Wohlwollen gegenüber dem Skeptizismus geprägt, das auch Hume einschließt. Das ändert nichts daran, daß Platner in den Sachfragen meist doch an rationalistischen Positionen festhält – diese Haltung wird recht gut durch Kühns „moderaten Skeptizismus“ wiedergegeben. Ganz im Sinne von Gawlick und Kreimendahl ist es allerdings, daß Platner sich zunächst ausführlicher mit Humes Religionsphilosophie beschäftigt und sich für weitere Aspekte seiner Philosophie erst unter dem Einfluß Kants zu interessieren beginnt. Platner ist zwar schon vor dem Erscheinen von Kants Kritik der reinen Vernunft mit Humes Ansichten vertraut, setzt sich aber noch kaum mit ihnen auseinander. Mit dem Erscheinen der Kritik der reinen Ver-

Ebd. 42. Ebd. 73 Ernst Platner, Neue Anthropologie für Aerzte und Weltweise, Leipzig 1790, 295–299, 329– 333. So argumentiert er beispielsweise: „Das allgemein [sic], unbestimmte, in unmittelbaren thierischen Empfindungen beruhende Bewußtseyn der Seele von dem Zustande des Körpers in Beziehung auf das Seelenorgan überhaupt, und auf die Lebenswerkzeuge insbesondere, ist sehr veränderlich und täuschend“ (ebd., 315). Interessanterweise handelt es sich bei den Gründen für diese Instabilität um physiologische, z.B. die unterschiedliche Irritabilität der Nerven. 71 72

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nunft ändert sich dies vollständig. Die Art und Weise dieser Auseinandersetzung entspricht wiederum eher Kühns Beschreibung. Platner betrachtet Hume hier nicht durch die kantische Brille, sondern wendet sich im Sinne eines moderaten Skeptizismus gleichermaßen gegen Hume und Kant. Hinsichtlich der Theorie des Geistes verdienen zwei Aspekte besondere Beachtung. Zum einen ist Platner zugute zu halten, daß er den Ausgangspunkt von Humes Argument genau erfaßt hat: Hume bestreitet deshalb die Existenz eines substantiellen Subjekts, weil wir keine Empfindung davon haben; alle weiteren Bestimmungen der Bündeltheorie des Geistes ergeben sich aus dieser Prämisse. Platner hat richtig gesehen, daß eine der Möglichkeiten, sich dieser Theorie entgegenzustellen, darin liegt, eben diese Prämisse zu bestreiten. Genau dies tut er, wenn er plausibel zu machen versucht, daß wir die Selbständigkeit des Subjekts gegenüber Materie und Vorstellungen direkt wahrnehmen. Zum anderen: Platner ist nicht der erste Philosoph in Deutschland gewesen, der sich mit Humes Bündeltheorie des Geistes beschäftigt hat. Dieses Verdienst kommt Johann Nikolaus Tetens zu. Im Unterschied zu Platner hat Tetens aber nicht die Sprengkraft und Reichweite der Bündeltheorie erkannt. Tetens argumentiert, ähnlich wie Platner, daß wir sehr wohl eine Empfindung des Selbst haben.74 Tetens bekennt sich schließlich auch, wenn auch mit einigen Vorbehalten, zum rationalistischen Seelensubstanz-Modell.75 Entscheidend ist jedoch, daß er all dies nicht als grundlegende Alternative zu Humes Theorie sieht, sondern ganz im Gegenteil als nur in Nuancen von ihr verschieden. Hume habe, so Tetens, nur eine Kleinigkeit übersehen, nämlich daß wir mit den Vorstellungen zugleich ihren Zusammenhang empfinden. Platner dagegen ist sich vollständig im klaren darüber, daß die Bündeltheorie eine fundamentale Alternative in der Philosophie des Geistes darstellt, die sich als dritte mögliche Grundposition neben dem Materialismus und der Lehre von der immateriellen Seelensubstanz einreiht. Aus heutiger Sicht etwas überraschend beschäftigt sich Platner nur am Rande mit Humes Skeptizismus und der Kausalitätstheorie. Weit ausführlicher geht er auf Humes Kritik an der Substanzmetaphysik und ihre Folgen für die Theorie des Subjekts ein. Platner ist damit in Deutschland einer der wenigen Philosophen der Zeit, die sich mit der sogenannten Bündeltheorie des Ich befassen. Platners Ansichten zu Humes Subjekttheorie wandeln sich im Verlauf seiner Schriften erheblich. Während er in der ersten Auflage der Aphorismen überhaupt nicht darauf zu

74

Tetens, Philosophische Versuche über die menschliche Natur (wie Anm. 31), Bd. 1, 392–

395. 75

Ebd., Bd. 2, 180–210.

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sprechen kommt, stellt sie in der zweiten und dritten Auflage eine der grundlegenden Alternativen neben Seelenlehre und Materialismus dar. Interessanterweise hält Platner in dieser Hinsicht Kant für einen Anhänger Humes. Platners Kritik basiert auf der Annahme, daß Hume und Kant nicht anerkennen, daß das Selbstgefühl uns unmittelbar über die Existenz einer immateriellen Seele Auskunft gibt. From a contemporary point of view, it is noticable that Platner rather neglects Hume’s scepticism and his theory of causality. On the contrary, he pays a lot more attention to Hume’s criticism of substance metaphysics and its consequences for the notion of subject. Platner is one of the few German philosophers of the time to address Hume’s bundle theory of mind. Platner’s views on Hume’s theory undergo significant changes over the course of his writings. Whereas in the first edition of the Aphorismen, he does not address the bundle theory at all, it figures as one of the fundamental alternatives besides the doctrine of soul and materialism in the second and third edition. Strikingly, Platner considers Kant a follower of Hume in this respect. Platner’s criticism is based on the assumption that Hume and Kant fail to acknowledge that the feeling of self directly reveals the existence of an immaterial soul. Dr. Falk Wunderlich, Bergische Universität Wuppertal, Fachbereich A: Philosophie, 42097 Wuppertal, E-Mail: [email protected]

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Platner, Kant und der Skeptizismus

Die Auseinandersetzung mit dem Skeptizismus in der Philosophie von Kant bis Hegel ist nicht als bloße Abgrenzung fundamentalphilosophischer Begründungsansprüche gegen lästige, aber ansonsten unzutreffende Einwände zu begreifen. Der Skeptizismus ist für Kants Vernunftkritik, für Reinholds Theorie des Vorstellungsvermögens und seine Elementarphilosophie, für Fichtes frühe Wissenschaftslehre und für Hegels Differenzschrift und Phänomenologie, um einige wichtige Beispiele zu nennen, von systematischer Tragweite. In einer Reihe von Untersuchungen ist insbesondere für den Jenaer Hegel gezeigt worden, daß die Systementwicklung nach Kant nicht als bloße Zurückweisung des Skeptizismus zu begreifen ist, sondern als ein Durchgang durch ihn, und zwar ein Durchgang im Sinne des Skeptizismus selbst und mit seinen Methoden.1 Ausgehend von dieser Einsicht sind Autoren, deren historische Bedeutung früher eher als marginal erschien, neu gewürdigt worden. Dies gilt insbesondere für Johann Friedrich Ernst Kirsten,2 Gottlob Ernst Schulze3 und Carl Friedrich Stäudlin.4 Wenig wurde bisher Ernst Platners Skeptizismus beachtet, der Vgl. Michael N. Forster, Hegel and Scepticism, Cambridge 1989; Hans-Friedrich Fulda, Rolf-Peter Horstmann (Hg.), Skeptizismus und spekulatives Denken in der Philosophie Hegels, Stuttgart 1996; Brady Bowman, Klaus Vieweg (Hg.), Die freie Seite der Philosophie. Skeptizismus in hegelscher Perspektive, Würzburg 2006; Gerhard Hofweber, Skeptizismus als ‘die erste Stufe zur Philosophie’ beim Jenaer Hegel, Heidelberg 2006. 2 Johann Friedrich Ernst Kirsten, Grundzüge des neuesten Skepticismus, hg. von Brady Bowman, Klaus Vieweg, München 2005. 3 Vgl. z.B. Daniel Breazeale, Fichte’s Aenesidemus Review and The Transformation of German Idealism, in: Review of Metaphysics 34 (1981), 545–68. 4 Zu Carl Friedrich Stäudlin, dessen Geschichte und Geist des Skeptizismus, vorzüglich in Rücksicht auf Moral und Religion (Leipzig 1794), insbesondere wegen der darin durchgeführten systematischen Unterscheidung verschiedener Arten des Skeptizismus, heute allgemein als grundlegend für den Skeptizismus um 1800 angesehen wird, vgl. die Beiträge von Popkin, Blackwell und Laursen in: Johan van der Zande, Richard Popkin (Hg.), The Skeptical Tradition around 1800. Skepticism in Philosophy, Science, and Society, Dordrecht, Boston, London 1998, Kapitel VII, 339–378. 1

Aufklärung 19 · © Felix Meiner Verlag 2007 · ISSN 0178-7128

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eine Zuspitzung von Kants Begriff der Kritik und dem in ihm enthaltenen skeptischen Erbe ist.5 Zum Teil lehnt sich Platner mit seiner Unterscheidung zwischen der Variante eines ‘dogmatischen’, von bestimmten Voraussetzungen abhängigen, und einem ‘kritischen’, die dogmatische Variante noch einmal hinterfragenden Skeptizismus an den ersten Teil von Reinholds Theorie des Vorstellungsvermögens (1789) an.6 Zu zeigen ist aber, daß Platner, indem er die skeptische Kritik gegen Kants Unterscheidung zwischen ‘Begriff’ und ‘Anschauung’ und damit gegen die Einteilung des Erkenntnisvermögens in die Stämme des Verstandes und der Sinnlichkeit wendet, einen zentralen Punkt der an Kant anschließenden Diskussion um die Einheit des Subjekts trifft. Obwohl es bekannt ist, daß Fichte auf der Grundlage der Aphorismen Vorlesungen zur Einführung in die Philosophie gehalten hat, ist die Wirkungsgeschichte der Aphorismen eher unklar. Im Folgenden ist zumindest der systematische Beitrag von Platners Philosophische[n] Aphorismen zur Nachkantischen Philosophie zu würdigen. I. Kant: Skeptizismus als Antidogmatismus Kant unterscheidet zwischen Skeptizismus als Prinzip und als Methode. Er verwirft den prinzipiellen Skeptizismus, der sich ausdrücken läßt in dem „Grundsatz einer kunstmäßigen und szientifischen Unwissenheit, welcher die Grundlage aller Erkenntnis untergräbt“.7 Die skeptische Methode hingegen, die darin besteht, jedem Beweis einen möglichst gleichstarken gegenüberzustellen, dient der philosophischen Kritik und trägt Kants eigenes Kritik-Verständnis: Der methodische Skeptizismus im Sinne der Vernunftkritik befriedigt „die mit sich selbst veruneinigte reine Vernunft“.8 Er kommt zum Beispiel in der Transzendentalen Dialektik zum Tragen.

Vgl. aber die zutreffenden knappen Bemerkungen bei Michael Albrecht, [Art.] Skepsis, Skeptizismus, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9 (1995), 938–974, hier 961 f. 6 Vgl. Karl Leonhard Reinhold, Von welchem Skeptizismus läßt sich eine Reformation der Philosophie erhoffen?, in: Berlinische Monatsschrift 14/1 (1789), 49–73. Wiederabdruck in: Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens, Prag und Jena 1789, 120– 141, hier 131 (im Aufsatz Seite 62): „Der kritische Skeptizismus bezweifelt, was der dogmatische für ausgemacht hält; er sucht Gründe für die Erweislichkeit der objektiven Wahrheit aus, während der letztere schon Gründe für die Unerweislichkeit derselben zu besitzen glaubt“. Vgl. den Aufsatz von Daniel Breazeale, Putting Doubt in its Place: Karl Leonhard Reinhold on the Relationship between Philosophical Scepticism and Transcendental Idealism, in: Van der Zande, Popkin (Hg.), The Skeptical Tradition (wie Anm. 4), 119–132. 7 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (= KrV), hg. von Jens Timmermann. Mit einer Bibliographie von Heiner Klemme, Hamburg 1998, A 424, B 451. 8 Kant, KrV, A 758, B 786. 5

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Der Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Form des Skeptizismus läßt sich am besten verdeutlichen, indem man sie zum Dogmatismus in Beziehung setzt. Nicht der Skeptizismus im erstgenannten Sinn, sondern der Dogmatismus, insbesondere in Fragen der Metaphysik, ist der Hauptgegner Kants in der ersten Kritik. Wie für den Skeptizismus gilt auch für den Dogmatismus, daß Kant zwischen einer methodischen und einer inhaltlichen bzw. prinzipiellen Variante unterscheidet. Nicht dem „dogmatischen Verfahren der reinen Vernunft“, wie es aus Logik und Mathematik bekannt ist, gilt die Kritik, sondern „dem Dogmatism, d.i. der Anmaßung, mit einer reinen Erkenntnis aus Begriffen (der philosophischen), nach Prinzipien, so wie sie die Vernunft längst im Gebrauche hat, ohne Erkundigung der Art und des Rechts, womit sie dazu gelanget ist, allein fortzukommen“.9 Der Dogmatismus ist in diesem Sinne einerseits durch den überfliegenden Gebrauch der Begriffe gekennzeichnet: Sie ist in einem schlechten Sinne reine Erkenntnis, da nicht geprüft wird und sich auch gar nicht prüfen läßt, ob den Begriffen ein Gegenstand in der Anschauung korrespondiert. Zum schlechten Dogmatismus verleitet das metaphysische Bedürfnis, auf Fragen, welche die Vernunft für Kant belästigen, eine Antwort zu finden. Das sind bekanntermaßen die Fragen der Metaphysik nach Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. Die skeptische Methode der Kritik steht dem Dogmatismus nun nur insofern ablehnend gegenüber, als dieser sich den Nachweis der Berechtigung ihres Gebrauchs von Begriffen gespart hat. Kant bezeichnet sie ausdrücklich als „die notwendige Vorveranstaltung zur Beförderung einer gründlichen Metaphysik als Wissenschaft, die notwendig dogmatisch und nach der strengsten Foderung systematisch, mithin schulgerecht (nicht populär) ausgeführt werden muß“.10 Ein ganz anderes Verhältnis zum Dogmatismus hat der prinzipielle Skeptizismus. In Ueber eine Entdeckung bestimmt Kant diese Form des Skeptizismus als Antipode zum Dogmatismus: Ist dieser „das allgemeine Zutrauen zu ihren Principien ohne vorhergehende Kritik des Vernunftvermögens blos um des Gelingens willen“, so ist Skeptizismus „das ohne vorhergegangene Kritik gegen die reine Vernunft gefaßte allgemeine Mißtrauen blos um des Mißlingens ihrer Behauptungen willen“.11 Diese scharfe Zurückweisung des Skeptizismus gilt allerdings nur im Kontext der bestimmenden Urteile, nicht wenn es um vorläufige Urteile geht, die sich durch die ihnen vorhergehende kritische Reflexion von bloßen Vorurteilen und durch ihre prinzipielle Revidierbarkeit von bestimmenden Urteilen unterscheiden. In der Logik Blomberg möchte Kant ein Kant, KrV, B XXXV. Ebd., B XXXVI. 11 Immanuel Kant: Gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften (Akademie-Ausgabe), Bd. 8: Abhandlungen nach 1781, Berlin u.a. 1912, 226. 9

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grundsätzliches skeptisches Mißtrauen gegen vorläufige Urteile, deren Gebiet das Scheinbare (im Sinne der rhetorischen Plausibilität) ist, als legitim verstanden wissen.12 In der Transzendentale[n] Methodenlehre verdeutlicht Kant dies an Humes Kritik des ‘Grundsatzes der Kausalität’, d.h. hier des Kausalprinzips: Alles was ist oder geschieht, hat eine Ursache, warum es ist oder geschieht. Hume hat dieses Prinzip unter Bezugnahme auf prinzipielle Grenzen der menschlichen Erkenntnis kritisiert. Da der Begriff der Kausalität keinen empirischen Sinn hat, läßt sich für Hume nicht feststellen, ob das Kausalprinzip wahr oder falsch ist. Deshalb liegt es für ihn außerhalb der Grenzen menschlicher Erfahrung, wie, so Kant, alle „Anmaßungen der Vernunft überhaupt, über das Empirische hinaus zu gehen“.13 Für Kant macht der prinzipielle Skeptizismus hier aber einen Fehler, der ihn zwar nicht wertlos macht, seine Bedeutung aber doch erheblich einschränkt: Der Skeptizismus verwechselt die Grenzen der empirischen Erkenntnis mit der Frage nach den Grenzen der Vernunft. Für Kant ist die Frage nach der Grenze der Erkenntnis sinnvoll, aber sie ist selbst keine empirische Frage. Der Skeptizismus zieht der Vernunft hier zwar Schranken, begrenzt sie aber nicht durch eine Kritik ihres eigenen Vermögens. Dies ist nach dem dogmatisch transzendenten Gebrauch der Vernunft für Kant „nur der zweite Schritt, der noch lange nicht das Werk vollendet“.14 Kant hält nun aber diesen prinzipiellen Skeptizismus, obwohl er ihn selbst nicht vertritt, dennoch für wichtig für die Überwindung des Dogmatismus. In diesem Zusammenhang wird deutlich, daß nicht erst Hegel, sondern auch bereits Kant die Vorstellung von einer Geschichte der Vernunft, welche verschiedene Phasen durchläuft, vor Augen gestanden hat: „Der erste Schritt in Sachen der reinen Vernunft, der das Kindesalter derselben auszeichnet, ist dogmatisch. Der ebengenannte zweite Schritt ist skeptisch, und zeugt von Vorsichtigkeit der durch Erfahrung gewitzigten Urteilskraft. Nun ist aber noch ein dritter Schritt nötig, der nur der gereiften und männlichen Urteilskraft zukommt, welche feste und ihrer Allgemeinheit nach bewährte Maximen zum Grunde hat“.15 Ist die erste, prinzipiellskeptische Kritik als Zensur der Vernunft anzusehen, so ist der zweite, methodische Skeptizismus für Kant erst Kritik in seinem Sinne.

Vgl. Rudolf A. Makkreel, Kant’s Responses to Skepticism, in: van der Zande, Popkin (Hg.), The Skeptical Tradition (wie Anm. 4), 101–109, hier 103 f. 13 Kant, KrV, A 760, B 788. 14 Ebd., A 761, B 789. 15 Ebd., A 760 f., B 788 f. 12

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II. Platner: Skeptische versus dogmatische Kritik Platners Philosophische Aphorismen in der völlig umgearbeiteten Ausgabe von 1793 sind das Ergebnis einer intensiven Beschäftigung mit Kant, die für Platners Selbstverständnis als Skeptiker außerordentlich fruchtbringend gewesen ist. Es führt sicher nicht zu weit, zu behaupten, daß die Auseinandersetzung mit Kant das Reflexionsniveau seiner Philosophie verbessert hat, ohne jedoch Platner zu einem Kantianer zu machen. Tatsächlich entfalten die Aphorismen von 1793 eine eigenständige erkenntnistheoretische Position, die Kant aber, insbesondere, wenn es um die Kritik sowohl an rationalistischer Metaphysik als auch am Empirismus geht, einiges verdankt. Ich werde im folgenden zeigen, daß die Position Platners außerdem eine fruchtbare Kritik an Kants Erkenntnislehre enthält, die noch aus heutiger Sicht als bedenkenswert erscheint. Platners Erkenntnistheorie folgt einem gewissen Aufbau, den ich für meine Ziele etwas abwandele. Ich werde diesen Aufbau aber im Laufe meiner Ausführungen erklären. Platner unterscheidet zwischen dem höheren und dem niederen Erkenntnisvermögen und liefert im ersten Abschnitt der Aphorismen eine Beschreibung des niederen Vermögens, der auch die Operationen der Begriffsbildung sowie die Theorien des Urteils und der Schlüsse umfaßt, also die Logik. Von diesem Teil sehe ich in meinen Ausführungen weitgehend ab. Die Diskussion mit Kant findet zentral in den Abschnitten über das höhere Erkenntnisvermögen statt. Das höhere Erkenntnisvermögen umfaßt die Regeln des Denkens und die Reflexion auf diese Regeln. Platner ordnet diesen Vermögen die Begriffe Verstand und Vernunft zu. Wichtig ist nun, daß die Erkenntnistheorie in diesem Teil zwei Aufgaben verfolgt, nämlich erstens, die Grundanlagen des höheren Erkenntnisvermögens zu entdecken, und zweitens, menschliche Erkenntnis als wahrheitsfähig zu rechtfertigen. Unter dem ersten Gesichtspunkt geht es um den Beitrag des Verstandes zur Erfahrung und vor allem um den nichtempirischen Teil der Erfahrung, also um die Frage, was Kategorien sind und welche es gibt. Im Unterschied zu Kant rechnet Platner diesen Teil nicht zur Kritik. Er weist ihm auch einen anderen Status zu als Kant. Der Skeptizismus hat an ihm also keinen Anteil. Erst hinsichtlich der zweiten Aufgabe wird Platners Verständnis von Skeptizismus tragend. Betrachten wir also zunächst die Aufgabe, die Platner als den eigentlichen Schlußstein der Erkenntniskritik ansieht. Platner sieht seine Philosophie als eine Weiterführung der Kantischen. Zumindest ansatzweise bedient er sich der Figur einer Überbietung der Philosophie Kants, nur auf eine etwas andere Art und Weise als dies zeitweise im Deutschen Idealismus üblich wurde. Platner setzt beim Begriff der Kritik an, den er schärfer fassen möchte als Kant, um so zu einem verbesserten Verständnis der skeptischen Methode zu kommen. Eine

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zentrale Rolle dabei spielt die Unterscheidung zwischen dogmatischer und skeptischer Kritik: „Die dogmatische Kritik will die Schranken des ganzen Erkenntnißvermögens ausmessen und daraus die Schranken der Metaphysik mit demonstratifer Genauigkeit bestimmen“.16 Leitend sind hier: 1. ein holistischer Ansatz (das ‘ganze’ Erkenntnisvermögen), 2. die Vorstellung einer Vermessung oder inneren Begrenzung, 3. die Idee einer Beschränkung der Ansprüche der Metaphysik, die umgekehrt aber auch eine neue Begründung ihrer übrigbleibenden Teile beinhalten soll, 4. die Vorstellung der logisch präzisen Durchführung dieses Unternehmens. Wenn Platner Kants Vernunftkritik mit diesem Begriff der dogmatischen Kritik identifiziert, ist dies sicherlich mehr als nur eine rhetorisch geschickte Diskreditierung Kants. Kant kennzeichnet den dogmatischen Gebrauch der Vernunft mit ähnlichen Mitteln. In der Vorrede zur B-Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft setzt er sich zum Ziel, daß die Metaphysik den sicheren Gang einer Wissenschaft nehmen möge. Wenn wir uns fragen, was dies heißt: den sicheren Gang einer Wissenschaft nehmen, dann sehen wir, daß Platners Einschätzung einen Punkt in Kants Überlegungen trifft. Es gibt für Kant einen legitimen dogmatischen Vernunftgebrauch. Dieser betrifft die Methode und die Darstellungsform der wissenschaftlichen Erkenntnis und ist überall dort anzuwenden, wo es auf Einsicht in notwendige Zusammenhänge zwischen Erkenntnissen ankommt. So ist die Logik eine dogmatische Wissenschaft, ohne daß deshalb an der Logik irgend etwas Anrüchiges wäre. Wenn wir davon ausgehen, daß Kants Auffassung von ‘einen sicheren Gang nehmen’ etwas mit einem für ihn unproblematischen Dogmatismus zu tun hat, wird es nachvollziehbar, daß Platner die Vernunftkritik als ‘dogmatische Kritik’ einstuft. Nun kann man sich fragen, ob Platner damit nicht eine rein terminologische Differenzierung eingeführt habe, die im Grunde für das Unternehmen der Vernunftkritik ziemlich belanglos sei. Nun, dies ist natürlich noch nicht alles. Die dogmatische Kritik ist nicht voraussetzungslos. Sie hat einige unreflektierte Grundannahmen und bleibt damit der dogmatischen Metaphysik, die sie überwinden möchte, verhaftet. Die dogmatische Kritik ist Platner nicht kritisch genug: „Sie setzt zum Theil schon voraus die Gewißheit des Erkenntnisvermögens, welches sie prüft, angesehen sie voraussetzt die Gewißheit des Erkenntnisses von sich selbst, und der Schlußarten des Erkenntnißvermögens, welche dabey eintreten“.17 Die dogmatische Kritik stimmt demnach in einem wesentlichen Punkt mit dem metaphysischen Dogmatismus, den er überwinden möchte, Ernst Platner, Philosophische Aphorismen nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte. Ganz neue Ausarbeitung. Erster Theil, Leipzig 1793 (Nachdruck Bruxelles 1970), 335 (§ 695). 17 Ebd. 16

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überein. Mit dem Selbstbewußtsein und der Deduktion der Kategorien aus ihm hängt die dogmatische Kritik letztlich ihrerseits von Prämissen ab, die in ihr nicht begründet werden. Verallgemeinern wir diese Überlegung für beweisende Rechtfertigungsunternehmungen überhaupt, so gelangen wir zum bekannten Tropus Diallele,18 der besagt, daß jeder Beweis ein Beweiskriterium voraussetzt, für das wieder ein Beweis verlangt werden kann, u.s.w. Jedes Beweisverfahren stößt dann irgendwann an einen in ihm zwangsläufig blind bleibenden Fleck und kann im Sinne Platners nicht im vollen Sinne kritisch sein. Dies scheint mir der Befund zu sein, der hinter Platners Bestimmung des Kantischen Unternehmens als dogmatische Kritik steht. Worin besteht nun die skeptische Kritik? „Der wahre vollendete Skeptizismus […] brach zu allererst in dem Geiste des Pyrrho aus“.19 Die skeptische Kritik entsteht durch eine bestimmte Anwendung des pyrrhonischen Skeptizismus auf die dogmatische Kritik Kants. Platner beschreibt diesen für ihn vorbildlichen Skeptizismus folgendermaßen: Wenn Köpfe, welche mit einem hohen Grade der psychologischen Einsicht und des dialektischen Scharfsinns, eine besondere Laune, d.h. die Gabe und Geneigtheit, die Dinge von einer eignen Seite anzusehen, verbinden; das Innere des menschlichen Erkenntnißvermögens und alle die Verhältnisse betrachten, von denen Vorstellung, Urtheil, Ueberzeugung abhängen; und dabey hinblicken auf die widereinanderlaufenden Denkarten und Meynungen der Menschen: so entsteht in ihnen eine Art von schwindelnder Unstetigkeit, welche alle Ueberzeugung unmöglich macht.20

Der Skeptizismus wird hier als ein ganzes Spektrum an Einstellungen und Fähigkeiten psychischer und intellektueller Art angesehen. Er bindet die Reflexion an eine bestimmte Gestimmtheit (Laune). Die Objekte der Reflexion sind Vorstellung, Urteil, Überzeugung, das heißt gerade diejenigen Aspekte einer Erkenntnis, die mit der Entscheidung des Erkenntnissubjektes über Wahrheit und Falschheit zusammenhängen. Der Nutzenseite stehen auch Kosten gegenüber: eine Unstetigkeit oder gar Unfähigkeit des Fürwahrhaltens sind die bekannten Folgen der radikalen Skepsis. Platner spielt hier offenkundig auf die Isosthenie an. Hinzu kommt, wie Platner sagt, eine Art von Gemütsbewegung, die zu einem bestimmten Entschluß führt: Dieser Entschluß besteht darin, die Einstellung der völligen Urteilsenthaltung (epoché) einzunehmen. Der Skeptiker verweigert sich der Parteinahme für oder wider eine Sache und verpflichtet sich auf Gelassenheit (ataraxia). Er ist damit ausdrücklich nicht auf das Bestreiten oder Widerlegen von Behauptungen anderer festgelegt. Dies alles Sextus Empiricus, Pyrrhonische Hypotyposen, zit. nach Karlheinz Hülser, Fragmente zur Dialektik der Stoiker, Bd. 4, Stuttgart, Bad-Cannstatt 1988, 1524 (Nr. 1126). 19 Platner, Aphorismen I 1793 (wie Anm. 16), 354 (§ 705). 20 Ebd., 353 (§ 705). 18

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sind bekannte Elemente der pyrrhonischen Skepsis, und Platner bezeichnet entsprechend Pyrrho als Vorbild. Im Kontrast zu diesen bekannten Elementen ist ein Spezifikum des Platnerschen Skeptizismus hervorzuheben, das vermutlich mit seiner Beschäftigung mit Kant zusammenhängt. Die skeptische Einstellung wird ausschließlich vorgeschrieben mit Bezug zum „Räthsel der Welt“ bzw. „allen metaphysischen Nachforschungen“.21 Dieser Punkt scheint mir wichtig zu sein. Denn daraus ergibt sich unmittelbar, daß Platner kein Pyrrhoniker ist. In Fragen der empirischen Erkenntnis nähert Platner sich vielmehr der stoischen Position an, daß bestimmte qualifizierte Sinneswahrnehmungen, die kataleptischen Vorstellungen, eine gesicherte unmittelbare Erkenntnis empirischer Sachverhalte liefern.22 Platner ist somit sicherlich kein radikaler Skeptiker. Er ist ein Skeptiker in Sachen Metaphysik, das heißt, wenn es um Gott, Freiheit und Unsterblichkeit geht. Auf andere Teilgebiete der Philosophie bezogen ist Platner Eklektiker. Dieser Umstand verbindet ihn mit den Popularphilosophen des achtzehnten Jahrhunderts. Somit ist festzuhalten, daß Platner einer Vielzahl von skeptischen Positionen nahesteht, die für ihn ineinander übergehen. Das ist kein Vorwurf. Allgemein akzeptierte, historisch fundierte Einteilungen des Skeptizismus kommen erst in den 1830er Jahren auf, unter anderem durch J. F. Fries.23 In Platners Position gehen folgende, aus der Sicht heutiger Forschung zu unterscheidende Positionen ein: 1. der Antike Skeptizismus, sowohl der Pyrrhonismus als auch die akademische Skepsis; 2. der methodische Skeptizismus von Descartes, der zumindest seinem Anspruch nach ein Ende in einem Fundament des Wissens findet; 3. der Erkenntnistheoretische Skeptizismus Humes, der sich auf die Probleme der Realität der Außenwelt und der Berechtigung zur Verknüpfung von Tatsachen bezieht; 4. der Skeptizismus der Popularphilosophie, der sich im bewußten Eklektizismus einer von ihr angestrebten Wissenschaft vom Menschen ausdrückt. Diese letztgenannte Variante bezeichnet Van der Zande als literarisches und praktisch-moralisches Erziehungssystem, welches nützliche Bürger im absoluten Staat hervorbringen soll.24 Hier liegt ein „moderater“ Skeptizismus vor, der einerseits, insofern er in einer latenten TheorieFeindlichkeit besteht, dem Renaissance-Humanismus ähnlich ist, andererseits, insofern er auf Ataraxie und nicht auf endgültige Beseitigung allen Zweifels

Ebd., 354 (§ 705). Vgl. dazu Michael Frede, Stoic Epistemology, in: Keimpe Algra u.a. (Hg.), The Cambridge History of Hellenistic Philosophy, Cambridge 1999, 295–322. 23 Albrecht, [Art.] Skepsis, Skeptizismus (wie Anm. 5), 963. 24 Johan van der Zande, The moderate Skepticism of German Popular Philosophy, in: van der Zande, Popkin (Hg.), The Skeptical Tradition (wie Anm. 4), 69–80, hier 74. 21 22

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aus ist, dem antiken Skeptizismus ähnelt.25 Obwohl also Platner im allgemeinen nicht zu den Popularphilosophen, sondern zu der von Leibniz und Wolff inspirierten Schulphilosophie gerechnet wird, zeigt seine Auseinandersetzung mit dem Skeptizismus, wie fließend die Grenzen zwischen diesen Strömungen am Ende des 18. Jahrhunderts geworden sind. Weiter ist zu bemerken, daß der religiös motivierte Skeptizismus der Renaissance und des frühneuzeitlichen Humanismus bei Savonarola und Erasmus, den man mit Popkin als „Fideismus“ (d.i. die Auffassung, daß man einen Satz glauben kann, ohne ihn für gewiß zu halten)26 bezeichnen kann, bei Platner keine Rolle zu spielen scheint. Dies ist insofern bemerkenswert, als der religiöse Skeptizismus als grundlegend für die Entstehung des neuzeitlichen Skeptizismus angesehen wird.27 Noch Reinhold führt den Skeptizismus wie selbstverständlich vor einem religiösen Hintergrund ein.

III. Kritik der Kritik Nach dem Bisherigen können wir feststellen, daß Platner unter ‘Skeptizismus’ eben etwas anderes verstanden wissen möchte als Kant. Dieser Umstand allein muß weder Kant noch irgendeinen Anhänger seiner Philosophie beeindrucken. Platner wendet seine skeptische Kritik aber auch gegen die Fundamente der Kantischen Vernunftkritik. Hier ist auf die im vorherigen ausgeklammerte Frage nach den Quellen und Prinzipien der Erkenntnis zurückzukommen. Erstens ist etwas zur Kategorienlehre zu sagen. Die Hauptfrage ist in diesem Zusammenhang, ob Kategorien reine Verstandesbegriffe sind bzw. was diese Definition eigentlich leistet. Platner bemerkt dazu, daß die zu seiner Zeit vielfach von Kant aus an Aristoteles geäußerte Kritik problematisch sei, weil Aristoteles einfach einen anderen, nämlich auf die Seinsweise der Dinge, wie sie in Aussageformen prädiziert werde, bezogenen Kategorienbegriff habe. Bereits die Frage, was eigentlich eine Kategorie sei, ist nach Platner offen.28 Dennoch steht auch für Platner fest, daß die Erkenntnistheorie einen kategorialen Anteil haben müsse. Er stimmt mit Kant und den Rationalisten in der Kritik am EmpiEbd., 69 f. Richard Popkin, The History of Scepticism. From Savonarola to Bayle, revised and expanded Edition, Oxford 2003, XXI. 27 Dies gilt zumindest für Erasmus’ skeptische Einwände gegen Luthers Auffassung, daß das Gewissen in Glaubensfragen letzte Entscheidungsinstanz sei. Popkin nimmt Savonarolas ‘prophetischen Skeptizismus’ von dieser Vorläuferschaft aus. Vgl. van der Zande, Popkin (Hg.), The Sceptical Tradition (wie Anm. 4), 308, Anm. 36. 28 Vgl. Platner, Aphorismen I 1793 (wie Anm. 16), 310 (§ 653), wo Platner die Aristotelische Kategorienlehre als seriöse Alternative zur Kantischen präsentiert. 25 26

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rismus überein, daß es zwar keine Erkenntnis ohne die Sinne gebe, daß sich aber deshalb nicht umgekehrt alle Erkenntnis aus der Erfahrung begründen lasse. Steht nun aber schon nicht fest, was eine Kategorie überhaupt ist, so ist noch viel weniger daran zu denken, ein allgemein verbindliches System von Kategorien aufzustellen, wie es die Kantischen zwölf, aus den Urteilsformen abgeleiteten, sind. Nun könnte man fragen: Gibt es denn keinen anderen Weg, einen Kategorienbegriff einzuführen? Platner gibt hierauf eine ernüchternde Antwort: Einen alternativen Begründungsweg kann es nicht geben, weil den Kategorien in der Erkenntnis, wie sie uns Menschen verfügbar ist, nichts entspricht. Das Problem der Kantischen Kategorienbegründung ist für ihn, daß die Kategorien abstrakt („abgezogen“)29 sind. Bei Kant entsteht dieses Problem daraus, daß er Denken und Anschauen als zwei getrennte Operationen des Geistes betrachtet. In der konkreten Erfahrung sind Denken und Anschauen verbunden. In diesem letzten Punkt unterscheidet Platner sich nicht von Kant. Wohl aber zieht er daraus eine Konsequenz für die Rede von ‘reinen Verstandesbegriffen’. Weil wir Menschen so etwas wie reines Denken nicht kennen, kennen wir nach Platner auch keine reinen Verstandesbegriffe. Damit drückt die Philosophie Kants für ihn aber nur ein allgemeines Problem aus. Kein kategoriales System der Erkenntnisbegründung läßt sich aus der uns vertrauten Erkenntnis gewinnen. Es beruht auf einem unserer natürlichen Einstellung fremden Abstraktionsverfahren. Es ist zu beachten, daß sich Platners grundlegende Kritik an Kant nicht auf die Kategoriendeduktion bezieht, die bis heute die Diskussion um Kants Kategorienlehre dominiert.30 Die Frage nach einer Kategoriendeduktion stellt sich für ihn erst, wenn klar ist, was eine Kategorie sein soll und welche Kategorien es gibt. Diese Existenzbedingung versteht er offensichtlich in einem empirischen Sinn, sie ist nicht durch ein Beweisverfahren zu beantworten. Ein Beweisverfahren kann ausschließlich zeigen, daß es die bereits gefundenen Kategorien geben muß, daß also das, was sich empirisch feststellen läßt, unter anerkannten Prämissen notwendig existiert. Da weder die Definitionsfrage noch die Es-Gibt-Frage positiv beantwortet werden können, scheitert Kants Kategorienlehre für Platner bereits, bevor wir zur eigentlichen Deduktion kommen. Die Frage, ob in der Rede von einer ‘transzendentalen Deduktion’ das Wort ‘Deduktion’ überhaupt im Sinne einer logischen Folgerung und nicht vielmehr in einem juristischen Sinne zu verstehen sein soll, stellt sich für Platner, für den eine Deduktion eben ein logisch zwingender Beweis ist, nicht. Ebd., 319 f. (§ 670). Stellvertretend für die umfangreiche Literatur sei hier auf die Studie von Manfred Baum, Deduktion und Beweis. Untersuchungen zur Kritik der reinen Vernunft, Königstein 1986, verwiesen. 29 30

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Diese wichtige Option zur Klarstellung und Rechtfertigung des Kantischen Unternehmens kann im Ausgang von Platners Kritik der Kritik also nicht gewürdigt werden. Für die Würdigung von Platners Kritik der Kritik spielt aber dieser Befund wiederum keine ausschlaggebende Rolle, denn sie setzt auf der gewissermaßen ‘früheren’ Ebene derjenigen Begriffe an, die in die Deduktion eingehen. Was alles geht in diesem Sinne ‘unbewiesen’ in Kants Kategoriendeduktion ein? Es wurde bereits gezeigt, daß mit der Unterscheidung von Anschauung und Begriff eine für Platner vorausgesetzte Trennung von zwei Stämmen der Erkenntnis verbunden ist.31 Weiter geht es um eine Auswirkung dieser Trennung: die Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Urteilen, wobei für die synthetischen Urteile weiter zwischen synthetischen Urteilen a priori und a posteriori unterschieden wird.32 Kants Kriterium für die Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Urteilen ist bekanntlich, daß es Urteile gibt, in welchen der Prädikatbegriff im Subjektbegriff enthalten ist, wie in ‘Alle Körper sind ausgedehnt’ und Urteile, für die dieses nicht gilt, wie in ‘Alle Körper sind schwer’. Die Wahrheit von analytischen Urteilen ist entsprechend ausschließlich unter Bezugnahme auf Bedeutungsregeln entscheidbar, während synthetische Urteile im Rückgang auf empirische Informationen entschieden werden müssen. Weil er die Kategoriendeduktion ohnehin schon als im Ansatz gescheitert betrachtet, bestreitet Platner die Position Kants nicht direkt. Er zeigt nur, daß Kants Überlegungen eben so gut zu konträren Annahmen führen könnten. Das heißt, er bestreitet nicht ihre Richtigkeit, sondern ihre Notwendigkeit und Gewißheit. Damit fällt bereits der Anspruch der Kategoriendeduktion zu zeigen, daß es die Kategorien geben muß. Platner wirft dazu folgende Frage auf: „Wie soll man sich einen Begriff denken, ohne alles Schema? d.h. die Fähigkeit zu einer Vorstellung, ohne die Fähigkeit das Vorgestellte anzuschauen?“33 Warum sollte man also, diese Frage auf Kants Beispiel für ein synthetisches Urteil a posteriori beziehend, nicht sagen, daß im Urteil ‘Alle Körper sind schwer’ der Begriff ‘schwer’ gar keine isolierte ‘reine’ Bedeutung an sich hat? Könnte man nicht auch sagen, daß der Begriff ‘schwer’ nichts anderes als ein Anschauungsschema für unter anderem schwere Körper ist? Dann könnte man auch sagen, daß die Kenntnis der Bedeutung der verwendeten Ausdrücke ausreicht, um über die Wahrheit oder Falschheit einer Aussage zu entscheiden, und daß dazu kein Übergang zur Anschauung erforderlich sei. Die Unterscheidung zwischen ‘Begriff’ und ‘Anschauung’ und damit zwischen den zwei Stämmen der Er31 32 33

Platner, Aphorismen I 1793 (wie Anm. 16), 336 f. (§ 697). Ebd., 338 ff. (§ 698). Ebd., 338 (§ 698).

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kenntnis, Sinnlichkeit und Verstand, wäre hinfällig, ebenso wie die Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Urteilen. Zu beachten ist auch hier, daß Platner nicht versucht, die Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Urteilen als unsinnig zu überführen. Er möchte nur zeigen, daß sie nicht zwingend ist. Platners Argumentation stützt sich auf eine von Kant abweichende Auffassung von Begriffen, die sich, so die leitende Überlegung, von Kant aus nicht als falsch eliminieren läßt. Begriffe sind demnach unzertrennlich mit Anschauungen verbunden, sie sind Anschauungsschemata. Führt man diese Begriffsauffassung ein, dann entfällt aber tatsächlich der Unterschied zwischen Erläuterungs- und Erweiterungsurteilen, da in jedem Begriff das, was Kant ‘Erweiterung’ nennt, nämlich Verknüpfung eines Begriffs mit einem anderen Begriff, gestützt auf Gegenstände der Anschauung, bei Platner zur Erläuterung dessen wird, was jeder Begriff von sich aus schon ist: Subsumtionsschema für Gegenstände der Anschauung. Dabei sei noch einmal betont, daß Platner nicht zeigen muß, daß diese Alternative die ‘richtige’ und die Kantische die ‘irrige’ ist; es genügt zu zeigen, daß die Kantische nicht zwingend ist. Insgesamt ist festzustellen, daß Platners Konzeption einer skeptischen Kritik, die eine Kritik der dogmatischen Kritik sein soll, als radikal zu Ende geführter methodischer Zweifel zu verstehen ist. Es soll nicht die Falschheit einer irrigen Überzeugung nachgewiesen werden, sondern nur gezeigt werden, daß die kritisierte Auffassung nicht absolut gewiß bzw. zwingend ist. In diesem Punkt berühren sich die skeptische Kritik und das Vorgehen, das Descartes in den Meditationen durchführt, das auch nicht die Wahrheit etwa der Erkenntnis durch Sinneswahrnehmung in Frage stellt, sondern deren Gewißheit. Auch der Gedanke eines stufenweise radikalisierten Zweifels, der den Aufbau der Meditationen bestimmt, findet sich in der skeptischen Kritik wieder: Ausgehend von der Kritik an der Unterscheidung zwischen Begriff und Anschauung geht Platner zur Kritik der Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Urteilen über und von dort zur Kritik der transzendentalen Deduktion. Gegen Kant gewendet liefert dieses Verfahren ein durchaus beachtenswertes Resultat: Jede Erkenntniskritik fängt mit irgendwelchen Festsetzungen an, keine beginnt mit nichts. Bei Kant gehört die Unterscheidung zwischen Begriff und Anschauung und alles, was sich daran knüpft, zu den Voraussetzungen, die in der Vernunftkritik nicht mehr der Kritik unterzogen werden. Platner sieht Kants Auffassung von Raum und Zeit als reine Anschauungsformen und die Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Urteilen als Auswirkungen dieser Grundunterscheidung an. Das heißt, daß die Hauptfrage der Vernunftkritik ‘Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?’ bereits von Voraussetzungen abhängt, die nicht zwingend sind, dennoch aber der Kritik nicht unterzogen, sondern dogmatisch vorausgesetzt werden.

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IV. Ist Kants Vernunftkritik ein Konstitutionssystem der Erkenntnis? Wie ist nun, alles überschlagend, Platners skeptische Kritik zu bewerten? Um diese Frage zu beantworten, muß ich einen Begriff einführen, der nicht dem Kontext der Auseinandersetzung Platners mit Kant entstammt, der aber geeignet ist, die Streitsache zu entscheiden. Dieser Begriff ist der des Konstitutionssystems, den Carnap in seinem ersten Hauptwerk Der logische Aufbau der Welt eingeführt hat. Um den logischen Empirismus soll es hier nicht gehen. Der Begriff des Konstitutionssystems bestimmt allgemein einen Typ von Erkenntnistheorie und hängt für Carnap ausdrücklich nicht von einer bestimmten Position ab. Ein Konstitutionssystem ist kurz gesagt ein System, das es sich zum Ziel setzt, das Ganze der Erkenntnis auf einige wenige Grundbestandteile zurückzuführen und auf logisch kontrollierte Weise aus den Grundgegebenheiten aufzubauen: Unter einem ‘Konstitutionssystem’ verstehen wir eine stufenweise Ordnung der Gegenstände derart, daß die Gegenstände einer jeden Stufe aus denen der niedrigeren Stufen konstituiert werden. Wegen der Transitivität der Zurückführbarkeit werden dadurch indirekt alle Gegenstände des Konstitutionssystems aus den Gegenständen der ersten Stufe konstituiert; diese ‘Grundgegenstände’ bilden die ‘Basis’ des Systems.34

Demnach muß ein Konstitutionssystem drei Bedingungen erfüllen: 1. muß angeben werden, welche Gegenstandsarten es gibt. Bei Carnap sind dies psychische, physische und geistige Gegenstände; 2. ist eine Basis zu wählen und sind die Grundgegenstände, die diese Basis umfaßt, zu definieren; 3. wird eine Logik benötigt, die zeigt, wie Aussagen über höherstufige, nicht zur Basis gehörende Gegenstände umgeformt werden können in Aussagen über die Grundgegenstände (Reduzierbarkeitskriterium). Wie weit oder eng man den Begriff ‘Konstitutionssystem’ faßt, hängt davon ab, welche Anforderungen man an den Begriff ‘Umformung’ stellt. Fordert man mit Carnap eine streng logische Zurückführbarkeit auf wenige Grundgegenstände (aus denen alle Gegenstände des Systems durch Definition konstituiert werden),35 und läßt man als Grundgegenstände ausschließlich Relationen zu, dann wird der Bereich der konstituierbaren Erkenntnis auf die formalen Struktureigenschaften eines Gegenstandsgebietes beschränkt und liegt eine materiale Beschreibung der Wirklichkeit außerhalb der wissenschaftlichen Weltauffassung. Ein Konstitutionssystem im Sinne Carnaps verhält sich, um eine von ihm verwendete Metapher zu benutzen, zu seinem Gegenstandsgebiet wie eine Netzkarte zu einem Eisenbahnnetz. 34 35

Rudolf Carnap, Der logische Aufbau der Welt, Hamburg 1998, 2. Ebd., 51 f.

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Im Zusammenhang der vorliegenden Überlegungen ist nun ausschließlich wichtig, was unter der Basis eines Konstitutionssystems zu verstehen sein soll. Carnap stellt zwei Forderungen an die Basis: 1. Sie soll es erlauben, weitere (komplexere) Eigenschaften des Systems abzuleiten. Als Grundgegenstände dürfen deshalb keine isolierten, beziehungslosen Grundelemente angenommen werden, sondern nur Grundrelationen. 2. Die Basis soll objektiv gültig sein. Das heißt, daß sie nicht willkürlich gesetzt werden darf, sondern bestimmte Anforderungen, zum Beispiel die der Zweckmäßigkeit, zu erfüllen hat. Von Objektivität ist dabei im Sinne intersubjektiver Gültigkeit zu sprechen (übrigens kann von unterschiedlichen Grundgegenständen ausgegangen werden). Wie ist vor diesem Hintergrund Platners Kritik an Kant zu bewerten? Faßt man den Begriff ‘Konstitutionssystem’ im Sinne einer Strukturbeschreibung auf, dann kann man Kants erste Kritik nicht als Konstitutionssystem bezeichnen, denn die Ausdrücke ‘Sinnlichkeit’, ‘Verstand’, ‘Anschauung’, ‘Begriff’, ‘Kategorie’ bezeichnen keine Grundrelationen, sondern ‘Vermögen’ (dispositionale Eigenschaften eines Subjekts) und deren Leistungen. Kants Vernunftkritik wäre, streng genommen, also ein materiales und kein formales Erkenntnissystem. Unter dem Gesichtspunkt der Zielsetzung der Vernunftkritik treten aber Ähnlichkeiten mit den Forderungen, die Carnap an ein Konstitutionssystem stellt, ans Licht. Im Architektonik-Kapitel weist Kant die systematische Einheit der Erkenntnis als sein Hauptziel aus: Unter der Regierung der Vernunft dürfen unsere Erkenntnisse überhaupt keine Rhapsodie, sondern sie müssen ein System ausmachen, in welchem sie allein die wesentlichen Zwecke derselben unterstützen und befördern können. Ich verstehe aber unter einem Systeme die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee. Diese ist der Vernunftbegriff von der Form eines Ganzen, so fern durch denselben der Umfang des Mannigfaltigen so wohl, als die Stelle der Teile unter einander a priori bestimmt wird. Der szientifische Vernunftbegriff enthält also den Zweck und die Form des Ganzen, das mit demselben kongruiert. Die Einheit des Zwecks […] macht, daß ein jeder Teil bei der Kenntnis der übrigen vermißt werden kann, und keine zufällige Hinzusetzung […] stattfindet.36

Folgende Auffassungen Kants stimmen mit Thesen Carnaps im Logischen Aufbau überein und erlauben es, die Kritik der reinen Vernunft als ein Konstitutionssystem in einem weiteren Sinne zu bezeichnen: 1. Kant fordert ein System welches Einheit in das Mannigfaltige der Erkenntnis bringt. Dies entspricht Carnaps Forderung einer Einheitswissenschaft. 2. Das System bestimme die Beziehungen der Teile untereinander. Dies ist bei Carnap nicht anders. Kant macht aber keine weiteren Angaben darüber, was ‘die Beziehungen der Teile untereinander bestimmen’ genau heißt. Carnap verstärkt die Kriterien, die zu 36

Kant, KrV, B 860, A 832.

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erfüllen sind, wenn Teile untereinander bestimmt sein sollen, gegenüber Kant drastisch. Nur deshalb fällt Kants Vernunftkritik streng genommen nicht unter den Begriff ‘Konstitutionssystem’ im Sinne Carnaps. Nichtsdestoweniger ist die Verwandtschaft im Ansatz unverkennbar. In dem Umstand, daß Kant ‘System’ als die Einheit des Mannigfaltigen unter einer Idee definiert, deutet sich allerdings auch ein Unterschied zu Carnap an. Kants Systembegriff hat nicht die reduktionistischen Implikationen, die Carnap mit ihm verbindet: Daß das Mannigfaltige im Sinne Kants unter einer Idee stehend als Einheit erkennbar ist, heißt nicht, daß es auf diese Idee zurückführbar ist, sondern nur, daß es als Einheit erscheint, wenn wir es betrachten, ‘als ob’ es durch diese Idee bestimmt sei. Bei genauerem Hinsehen wird man nur bestimmte Teile der Systemkonzeption Kants als ‘konstitutiv’ bezeichnen können. Dies gilt aber immerhin für den ganzen ersten Teil der Transzendentalen Analytik, d.h. für die Erklärung der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori mittels der reinen Anschauungsformen, der Kategorien und des Begriffs der transzendentalen Einheit der Apperzeption. Weiter ist die Erklärung der Möglichkeit einer Anwendung der Kategorien auf Erscheinungen mittels des transzendentalen Zeitschematismus (zweiter Teil der Transzendentalen Analytik) als eine konstitutive Theorie anzusehen. Das heißt: Aussagen über mögliche Gegenstände der Erfahrung sind nach Kant zurückführbar auf Aussagen über diese Konstitutionsbedingungen der Erfahrung. In diesem Sinne ist für Kant etwa die empirische Einheit des Mannigfaltigen in der Synthesis der Apprehension auf den Begriff der notwendigen Einheit des Mannigfaltigen in der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft (Einheit der Apperzeption) zurückführbar.37 Platner ist nun dafür zu würdigen, daß er in Kants Unternehmen eine prinzipielle Schwierigkeit entdeckt hat. Diesem System fehlt ein entscheidender Aspekt eines Konstitutionssystems, nämlich eine Basis. Dies scheint mir am Ende der Sinn seines ständig wiederholten Hinweises zu sein, daß die Trennung von Begriff und Anschauung sowie die Aussonderung von Raum und Zeit von den Verstandesbegriffen, die Unterscheidung zwischen synthetischen und analytischen Urteilen und dergleichen bloße Setzungen seien. Wenn wir Platners Einwände im Sinne Carnaps interpretieren, gelangen wir zu einem ernüchternden Fazit: Weil Kant die Grundbegriffe, von denen das System ausgeht, nicht genau bestimmt und intersubjektiv gesichert hat, wissen wir nicht, was das System überhaupt erklärt. Wer dieses Ergebnis akzeptiert, hat sich von Kants eigenem Anspruch auf Gewißheit, den er in der Vorrede der ersten Auflage formuliert hat, weit entfernt:

37

Ebd., B 160; 164 f.

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Was nun die Gewißheit betrifft, so habe ich mir selbst das Urteil gesprochen: daß es in dieser Art von Betrachtungen auf keine Weise erlaubt sei, zu meinen, und dass alles, was darin einer Hypothese nur ähnlich sieht, verbotene Ware sei, die auch nicht vor dem geringsten Preis feil stehen darf, sondern, so bald sie entdeckt wird, beschlagen werden muß. Denn das kündigt eine jede Erkenntnis, die a priori feststehen soll, selbst an: daß sie für schlechthinnotwendig gehalten werden will, und eine Bestimmung aller reinen Erkenntnisse a priori noch vielmehr, die das Richtmaß, mithin selbst das Beispiel aller apodiktischen (philosophischen) Gewißheit sein soll.38

Im Anschluß an die von Reinhold eingeführte Unterscheidung zwischen ‘dogmatischer’ und ‘kritischer’ Kritik versucht Platner, Kants Transzendentalphilosophie durch eine ‘Kritik der Kritik’ von ihrem vermeintlichen Dogmatismus zu befreien. Obwohl Platner Kants transzendentalphilosophischer Argumentation nicht ganz gerecht wird, hat er eine grundlegende Schwierigkeit in Kants Erkenntnislehre entdeckt, insofern diese als ein Konstitutionssystem der Erfahrung aufzufassen ist: Wie Platner herausstellt, sind Grundbegriffe in Kants System willkürliche Setzungen, zu denen es durchaus Alternativen gibt. Adopting a distinction made by Reinhold Platner aims at a ‘Critique of the Critique’ Kants in order to overcome its ‘dogmatic’ criticism by a more tenable ‘critical’ criticism. Although it has to be acknowledged that Platner does not fully appreciate the force of Kant’s transcendental argument, he has exposed a fundamental difficulty in Kant’s epistemology in as far as it is seen as a constitutional system (Konstitutionssystem) of experience: as Platner points out Kant does not give an account for basic epistemological concepts of his system. Alternative definitions of the basic concepts are available however. Dr. Temilo van Zantwijk, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Institut für Philosophie, 07737 Jena, E-Mail: [email protected]

38

Ebd., A, XV.

J U T TA H E IN Z „Eben so viel feine Beobachtungsgabe, als philosophischen Scharfsinn“ Anthropologische Charakteristik in Platners Philosophischen Aphorismen

Ernst Platners Philosophische Aphorismen sind bekanntlich in zwei Teile gegliedert. Der erste, etwas bekanntere, widmet sich mit Logik und Metaphysik den Disziplinen der theoretischen Vernunft, der zweite der Moralphilosophie, mithin der praktischen Vernunft. Eben dieser zweite oder auch „andere Theil“ zerfällt wiederum in zwei Bücher: Das erste enthält die „allgemeine Moralphilosophie“ und untersucht die Neigungen, Gemütsbewegungen und Handlungen der Menschen; das zweite trägt den Titel „angewandte Moralphilosophie oder Karakteristik“.1 Die Wahl des Terminus „Karakteristik“ begründet Platner eigens zu Beginn des zweiten Buchs: „Die angewandte Moralphilosophie kann, auf jeden Fall, den Titel Karakteristik behaupten, wenn sie auch nicht alles in Schilderungen, sondern vieles in Lehrsätzen sagt. Jeder Lehrsatz der Sittenlehre enthält doch allemal einen Zug des tugendhaften, oder des untugendhaften Karakters“.2 Das hier verwendete Argument ist ein doppeltes: Zum einen wird die Anwendbarkeit der Sittenlehre auf die praktische Menschenkenntnis behauptet; zum zweiten wird daraus eine Änderung der formalen Darbietungsweise abgeleitet. Die hier angekündigte Aufteilung in „Lehrsätze“ (Aphorismen)3 und Ernst Platner, Philosophische Aphorismen nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte. Ganz neue Ausarbeitung. Anderer Theil, Leipzig 1800, 443. 2 Ebd. 3 Zur Gattungstradition der medizinisch-wissenschaftlichen Lehrbuch-Aphoristik nach dem Muster des Corpus Hippocraticum vgl. Harald Fricke, Aphorismus, Stuttgart 1984, hier Kap. 2.1. Aphorismen als systematisch gereihte Lehrsätze einer Wissenschaft finden sich bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts; methodisch wird diese Form häufig mit Bekenntnissen zu Empirie und Induktion verbunden. Ein zweiter Traditionsstrang bildet sich ausgehend von Tacitus’ Maximen der Politik (vgl. ebd., Kap. 2.5): Diese werden vor allem in der Moralistik rezipiert. Vgl. dazu 1

Aufklärung 19 · © Felix Meiner Verlag 2007 · ISSN 0178-7128

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„Schilderungen“ (Charakteristiken) prägt denn auch vor allem das erste Hauptstück der „angewandten Moralphilosophie“, die „Karakteristik der Neigungen“. Die strenge Paragraphenfolge der Lehrbuch-Aphorismen mit ihren Definitionen, Ableitungen und Verweisen wird hier durchbrochen durch kompakte Beschreibungen unterschiedlicher Typen des Temperamentes, des Geizes und des Stolzes. Warum führt Platner gerade an dieser Stelle mit den Charakter-Schilderungen eine sowohl inhaltlich wie formal neue Kategorie ein? Dieses bemerkenswerte Phänomen hat bisher wenig Aufmerksamkeit in Forschung und Rezeption gefunden; was auch damit zu tun hat, daß der Terminus „Charakteristik“ zu diesem Zeitpunkt keinesfalls fest etabliert ist, sondern zwischen verschiedenen Disziplinen und dem Alltagswissen herumvagabundiert. Die schwebende Bedeutung zeigen auch einschlägige Wörterbuch-Einträge. Adelung führt das Wort im Grammatisch-Kritischen Wörterbuch zum ersten, entsprechend seiner griechischen Herkunft – eingraben, prägen – unter der allgemeinen Bedeutung „Zeichen“, „Schriftzeichen“, „Buchstaben“.4 Zum zweiten bezeichne es, nunmehr im figürlichen Sinn, die unterscheidenden Merkmale eines Menschen bezüglich seiner Gemütseigenschaften. Zum dritten schließlich und im Singular (der Charakter) sei es die Gesamtheit eben dieser unterauch Friedemann Spricker, Der Aphorismus. Begriff und Gattung von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis 1912, Berlin, New York 1992 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, 11 [245]). – Platners Benennung seines philosophischen Lehrbuchs als Aphorismen wurde allerdings bereits von den Zeitgenossen kritisiert; hier zeigt sich, daß zu dieser Zeit die Gattungsnorm sich schon hin zum modernen Begriff des literarischen Aphorismus verschoben hatte. Jean Paul urteilte in der Kleinen Nachschule zur ästhetischen Vorschule, in: J. P., Sämtliche Werke, Abt. 1, Bd. 5, hg. von Norbert Miller, München 1963, 491: „Platner [...] gab unter dem Namen Aphorismen ein wirkliches System“. Platner selbst hatte die aphoristische Form in seiner Anthropologie für Aerzte und Weltweise (1772) unter Berufung auf die medizinische Lehrbuchtradition gerechtfertigt: „Die aphoristische Schreibart hat den Vorzug der möglichsten Kürze, und dieses ohne Nachtheil der Vollständigkeit. Man drängt [...] einzelne Worte fest an einander, wovon jedes das Merkzeichen einer gewissen Reihe von Begriffen ist, und den Stoff eines Commentars erhält“ (Ernst Platner, Anthropologie für Aerzte und Weltweise, Leipzig 1772, XIX f.). Vgl. dazu ausführlich Giulia Cantarutti, Moralistik, Anthropologie und Etikettenschwindel. Überlegungen aus Anlaß eines Urteils über Platners „Philosophische Aphorismen“, in: G. C., Hans Schumacher (Hg.), Neuere Studien zur Aphoristik und Essayistik, Frankfurt am Main, Bern, New York 1986 (Berliner Beiträge zur neueren deutschen Literaturgeschichte, 9), 49–103. Cantarutti diagnostiziert eine enge Verbindung zwischen Anthropologie und Aphorismus: Die Lehrsätze dienten dem Lehrer und den Schülern als einprägsame Sprüche; sie mußten jedoch beim Vortrag kommentiert werden und regten dadurch die Denkfähigkeit der Zuhörer an: „Gerade zu diesem Zweck trägt nach Platner die durch die Kürze entstehende Dunkelheit entschieden bei, weil sie gleichsam als Stimulans für die Denkfähigkeiten der Lernenden agiert“ (ebd., 81). 4 Diese Bedeutungsfacette ist im englischen Sprachraum („characters“ als Druckzeichen) erhalten geblieben.

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scheidenden Merkmale.5 Und noch im Grimmschen Wörterbuch wird einleitend beklagt, es handle sich um „ein dem ohr des volks seltsam lautendes wort, für dessen verschiedne bedeutungen wir unsere eignen ausdrücke mahl, bild, zeichen, art, sitte, gepräge hätten heranbilden können“.6 Diesen begrifflichen und systematischen Notstand beklagt auch Wilhelm von Humboldt in seiner eigenen Charakteristik Das achtzehnte Jahrhundert (1797): „Unter allen Studien sind wenige bisher so vernachlässigt worden, wie das Studium menschlicher Charaktere“.7 Bisher sei das Thema nämlich immer nur eine Art philosophischer Nebenkriegsschauplatz gewesen; die (rationalistischen) Philosophen hätten es zu allgemein behandelt, die (empiristischen) Moralisten zu „particulair“. Eine rühmliche Ausnahme hingegen, man höre und staune, „machen die Aphorismen des H. Prof. Platner, deren zweiter Theil mehrere überaus glückliche Charakterschilderungen enthält, die eben so viel feine Beobachtungsgabe, als philosophischen Scharfsinn verraten“.8 Wozu dienen nun diese Charakterskizzen im Kontext der angewandten Moralphilosophie Platners? Markieren sie den endgültigen Einbruch der zeitgenössischen Anthropologie in die Herrschaftsgebiete der Philosophie im engeren Sinne oder sind sie nur Demonstrationsmaterial? Und in welchem Verhältnis stehen „Lehrsätze“ und „Schilderungen“ – also Aphoristik und Charakteristik? Bevor ich diese Fragen mittels einer eingehenderen Analyse der Platnerschen Charakteristiken zu beantworten versuche (IV), will ich zunächst die diskursiven Kontexte und Gattungstraditionen darstellen, auf die Platner mit seiner Charakteristik zurückgreift. Diese entstammen im wesentlichen der griechischen Antike (I), der französischen Moralistik (II) sowie der englischen und deutschen (Popular-)philosophie (III). Abschließend werde ich Kants Konzept der Charakteristik in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht kurz vorstellen (V) und auf die Beziehungen der Charakteristik zur Literatur eingehen (VI).

Vgl. Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen, Bd. 1, Wien 1811, Sp. 1323 f. Die „Charakteristik“ wird hier bereits bestimmt als „die Wissenschaft, den Charakter der Menschen und ihrer Handlung richtig zu beurtheilen“ (ebd., 1324). 6 Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 2, Leipzig 1860, 611. 7 Wilhelm von Humboldt, Das achtzehnte Jahrhundert, in: W. H., Gesammelte Schriften, Bd. 2: 1796–1799, hg. von Albert Leitzmann, Berlin 1904, 52. 8 Ebd. 5

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I. Der locus classicus sind natürlich die Charaktere des Aristoteles-Schülers Theophrast (nach 319 v. Chr.). In unsystematischer Folge und immergleicher Struktur präsentieren sie 30 Charakterbilder, bezeichnenderweise nur negative; es handelt sich um eine Art antiken Lasterkatalog. Eine Überschrift gibt jeweils zunächst eine bestimmte Eigenschaft vor; darauf folgt eine eher alltagsweltliche, kaum begrifflich verfaßte Definition. Ich zitiere zur Veranschaulichung kurz ein Beispiel, nämlich das des „Überheblichen“ (Nr. 24).9 Es beginnt: „Der Überhebliche. (1) Überheblichkeit ist eine Geringschätzung der übrigen außer einem selbst“. Darauf folgt eine exemplarische Übertragung auf ein menschliches Verhalten: „der Überhebliche aber ist einer, (2) der jemandem, der in Eile ist, sagt, nach Tisch könne er ihn auf dem Spaziergang treffen“.10 Daran schließt sich eine Aufzählung weiterer markanter Verhaltensweisen in jeweils einem Satz an: (4) Im Vorübergehen trifft er Schiedsgerichtsentscheidungen, die ihm angetragen werden. [...] (8) Auf der Straße redet er mit keinem, der ihm begegnet, er geht niedergebeugt und, wenn es ihm gefällt, wiederum aufrecht. (9) Wenn er die Freunde einlädt, speist er nicht mit ihnen, sondern trägt einem von seinen Leuten auf, für sie zu sorgen.11

Die größte Anzahl von Theophrasts Charakteren ist verbreiteten kommunikativen Verfehlungen in feiner Abstufung gewidmet – so gibt es den Unaufrichtigen (Nr. 1), den Redseligen (Nr. 3), den Schwätzer (Nr. 7), den Gerüchtemacher (Nr. 8). Beinahe ebenso wichtig ist das soziale und gesellige Verhalten; aus Mängeln in diesem Bereich resultieren beispielsweise die Charaktere des Bäurischen (Nr. 4), des Gefallsüchtigen (Nr. 5) sowie des oben angeführten Überheblichen (Nr. 24). Schließlich wird häufig moralisches Fehlverhalten (der Feigling, Nr. 25; der „Pervertierte“, Nr. 29) und ökonomisches Fehlverhalten (Kleinlichkeit, Nr. 10; Knausrigkeit, Nr. 22; Geiz, Nr. 30) gegeißelt;12 politisches Fehlverhalten hingegen spielt eine eher untergeordnete Rolle.13 In allen Skizzen wird der jeweilige Charakter in den unterschiedlichsten Situationen gezeigt: auf dem Markt, bei Gericht, im Theater, im Bad, im eigenen Haushalt;14 eine dominante Rolle spielt dabei das jeweils typische Kommunikati-

Die Charaktere werden nach folgender Ausgabe zitiert: Theophrast, Charaktere. Griechisch/Deutsch, übersetzt und hg. von Dietrich Klose, Stuttgart 2000. 10 Ebd., 61. 11 Ebd. 12 Eine besondere Rolle spielen auch die Zeitökonomie (der „Ungelegene“, Nr. 12) oder Formen nicht altersgemäßen Verhaltens (der Spätgebildete, Nr. 26). 13 Hier wäre wohl nur der „Oligarchische“ (Nr. 27) zu nennen. 14 Vgl. zu Leben und Werk von Theophrast sowie dem Entstehungshintergrund der Schrift das 9

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onsverhalten. Insgesamt ist die Darstellung untergründig durch ein diätetisches Mäßigkeitsideal geprägt: Ein unangemessenes Verhalten ist ein solches, das einer bestimmten Situation nicht angemessen ist und dementsprechend karikaturistisch überzeichnet dargestellt wird. Explizite Wertungen werden jedoch nicht ausgesprochen. Stilistisch herrscht die knappe, prägnante, lakonische Formulierung vor. Den philosophischen Hintergrund bilden Theophrasts theoretische Schriften, vor allem diejenigen, die sich mit der Erziehung und Prägung des Menschen beschäftigen.15

II. Die Wirkungsgeschichte der kleinen Schrift ist gewaltig; vor allem im europäischen Humanismus wird sie häufig übersetzt und durch Kommentare erschlossen. Das wohl stärkste Rezeptionszeugnis bilden die Caractères de Théophraste, traduits du grec, avec les Caractères ou les mœurs dece siècle des französischen Moralisten Jean de La Bruyère.16 Seine Theophrast-Übersetzung erscheint erstmals 1688; im Lauf der Zeit reichert er die Sammlung immer mehr mit weiteren eigenen Beispielen der „Charaktere und Sitten des Zeitalters“ an. La Bruyères Caractères unterscheiden sich in mehreren Punkten von seinem Vorbild. Am augenfälligsten ist der formale Unterschied: Es gibt keine isolierten Kurzskizzen mehr, keine unverbundene Reihung von Sentenzen. Auch die einleitende Definition fehlt; überhaupt werden die einzelnen Charaktere selten explizit unter eine Eigenschaft gefaßt. Vielmehr werden in längeren Kapiteln unter einem Obertitel allgemeine Reflexionen, Lektürefrüchte und Erzählungen mit Charakterskizzen vermischt dargeboten. In der Vorrede rechtfertigt La Bruyère, daß er sich unterschiedlicher Genres bediene17 und damit

informative Nachwort von Peter Steinmetz in der hier benutzten Reclam-Ausgabe. Steinmetz hebt besonders den kulturgeschichtlichen Wert und die Realitätsnähe hervor: „In dieser ihrer Art gewähren die Charaktere wie kaum ein zweites Buch der Antike einen Einblick in das Leben und Treiben der bürgerlichen Gesellschaft im Athen des Frühhellenismus. [...] Wir hören die Phrasen und Schlagwörter der Zeit. Kurz, vor unsere Augen tritt lebendiges Leben“ (Steinmetz, Nachwort, in: Theophrast, Charaktere [wie Anm. 9], 99). 15 Vgl. zu Theophrasts pädagogischen Konzepten, wie sie sich in einem Bruchstück seiner Schrift über Erziehung darstellen, Steinmetz, Nachwort (wie Anm. 14), 98 f. 16 Zur Rezeption der Charaktere vgl. Steinmetz (ebd., 101–103). Sie wurden in der Renaissance zuerst ins Lateinische übersetzt und 1527 zum ersten Mal in Nürnberg gedruckt. Besonders einflußreich wurde der Kommentar des Isaac Casaubon (1592). Im 17. und 18. Jahrhundert entfaltete sich dann ihre ganze Wirkung vor allem in England, Frankreich und Deutschland. 17 Ein weiteres Argument für die Formenvielfalt ist, daß die Abwechslung die Aufmerksamkeit des Lesers besser erhalte.

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auch von der Standardform moralistischer Darbietung, der prägnanten aphoristischen „Maxime“, abweicht: „Man denkt die Dinge verschieden und gibt ihnen darum auf verschiedene Weise Ausdruck, durch eine Sentenz, eine logische Beweisführung, ein Bild, einen einfachen Vergleich, durch ein Ereignis [...], eine Beschreibung, ein Gemälde“.18 Das Argument verdient Beachtung: „Man denkt die Dinge verschieden“. La Bruyère denkt seine Charaktere, und auch das ist ein wesentlicher Unterschied zu Theophrast, von seiner subjektiven Warte aus, im ständigen direkten Gespräch mit dem Leser und vor dem Hintergrund einer philosophisch ausgeprägt skeptischen Haltung. All die verschiedenen Formen und Themen verbindet das schreibende „Ich“, das Beobachtungen macht, Urteile fällt, Szenen schildert. Das macht den Text zum einen sehr viel lebendiger gegenüber Theophrasts stereotyper Sentenzenreihung; auch in der formalen Gestaltung ist La Bruyère deutlich ambitionierter. So verwendet er gern kontrastierende Darstellungsweisen;19 häufig sind pointierte Schlußwendungen zu finden. Zum anderen gibt das schreibende Ich hier explizite moralische Bewertungen ab und intendiert damit eine unmittelbare lebenspraktische und erzieherische Wirkung. Ebenfalls in der Vorrede weist La Bruyère, wenn auch mit deutlich ironischem Unterton, darauf hin, daß er sich strikt dem prodesse-et-delectare-Modell literarischer Tätigkeit verpflichtet sieht: „Man soll nur zur Belehrung reden und schreiben; daß man dabei noch gefällt, braucht einen nicht zu reuen, falls es dazu dienlich ist, für heilsame Wahrheiten auf angenehme Weise empfänglich zu machen“.20 Es geht ihm also nicht nur darum, falsches oder lasterhaftes Verhalten darzustellen; dieses wird gleichzeitig als natürliche menschliche Schwäche analysiert,21 und dem Leser werden Verhaltensalternativen anheimgestellt. Den moralischen Maßstab bildet dabei, ganz ähnlich wie bei Theophrast, das diätetische Ideal der Mäßigung.22

Jean de La Bruyère, Die Charaktere oder die Sitten des Jahrhunderts, übertragen und hg. von Gerhard Hess, Bremen 1978, hier 26. 19 So wird Giton, dem Reichen, Phädon, der Arme, direkt gegenübergestellt (vgl. ebd., 163– 165). 20 Ebd., 23. 21 Vgl. zum Menschenbild allgemein das Kapitel „Vom Menschen“: Der Mensch ist ein schwaches Wesen; das zeigt sich in Gefühllosigkeit, Undankbarkeit, Hochmut, Eigenliebe, Gleichgültigkeit gegen andere (vgl. ebd., 260); er ist stimmungsabhängig und gebunden an seine Launen (ebd., 270). Zugespitzt und unter Bezug auf den Charakterbegriff im Singular formuliert La Bruyère: „Die Menschen haben keinen Charakter“, kein „festgeprägtes, unverkennbares Wesen“ (ebd., 311). 22 Vgl. ebd., 453: „Alles Extreme birgt einen Mangel und kommt vom Menschen; jeder Ausgleich ist gerecht und hat Gott zum Urheber“. 18

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Schließlich denkt La Bruyère seine Charaktere in vielschichtigeren sozialen Bezugssystemen als Theophrast, der sozusagen vom Normalmodell des polisBürgers der Oberschicht ausging. Zwar wolle er, so wiederum die Vorrede, durchaus die „Charaktere oder Sitten des Jahrhunderts“23 darstellen. Es sei jedoch der höhere Zweck des Buches, Aussagen über „die Menschen im allgemeinen“24 zu treffen; nur so kann der moralistische Anspruch aufrechterhalten werden. Gleichwohl sind die konkreten sozialen und ständischen Kontexte allgegenwärtig, bereits in den Überschriften der Kapitel: Neben allgemeinere Themen wie „Vom Herzen“ oder „Vom Urteil“ treten Kapitel über Geschlechtscharaktere („Von den Frauen“), Berufscharaktere („Von den Kanzelrednern“), Standescharaktere („Von den großen Herren“). Auch hier sei das Gesagte kurz an einem Beispiel demonstriert. Bei La Bruyère gibt es wie bei Theophrast einen „Überheblichen“. Er findet sich im Kapitel „Von den großen Herren“, heißt Pamphil, und auch er wird uns vorgestellt über sein Kommunikationsverhalten: „Man kann nicht sagen, daß Pamphil sich mit den Leuten unterhalte, die ihm in Saal und Hof begegnen: nach seiner feierlichen Miene und erhobenen Stimme zu urteilen, empfängt er sie“.25 Im folgenden werden, ganz ähnlich wie bei Theophrast, einzelne Verhaltens- und Kommunikationsweisen in verschiedenen Situationen und gegenüber unterschiedlichen Menschen aufgezählt: „Die Pamphile sind ein unerschöpfliches Thema: sie sind unterwürfig und furchtsam vor Fürsten und Ministern; voll Hochmut und Selbstgefühl gegenüber denen, die nichts besitzen als Tugend; stumm und verlegen in Gegenwart von Gelehrten; lebhaft, dreist und bestimmt in Gesellschaft von Unwissenden“.26 Zwischendurch gibt der Erzähler zusammenfassende Einschätzungen ab: „Mit einem Wort, ein Pamphil möchte ein großer Herr sein, er glaubt es auch zu sein; er ist es aber nicht, er ist das Zerrbild eines Großen“.27 Ein besonderer Vorwurf gilt dabei seiner Unbeständigkeit und seinem Opportunismus: „Mit Lebensregeln befassen sie sich nicht, mit Grundsätzen noch viel weniger: sie leben in den Tag hinein“.28 Das jedoch ist sozusagen die Ursünde gegen das moralistische Gebot zur reflektierten und allzeit selbst verantworteten Lebensführung. Im nächsten Abschnitt bietet La Bruyère deshalb ein Rezept an, um gegen die Überheblichkeit und Wankelmütigkeit der großen Herren gefeit zu sein: „Was soll man gegen eine so zähende, fressende Krankheit tun? Mit we-

23 24 25 26 27 28

Ebd., 24. Ebd. Ebd., 231 f. Ebd., 233. Ebd., 232. Ebd., 233.

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nigem zufrieden sein, wenn möglich mit noch weniger; Verluste ertragen können, wenn sie uns treffen; dies Rezept hilft unfehlbar, und ich bin bereit, es an mir zu erproben“.29 Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die „Charaktere“ vor dem Hintergrund der französischen Moralistik zugleich komplexer, moralischer und literarischer geworden sind.30 Sie skizzieren Formen menschlichen Verhaltens in einer weit stärker ausdifferenzierten Kultur und Gesellschaft; sie bewerten es vor dem Hintergrund eines skeptischen Menschenbildes, aber einer gleichwohl metaphysisch zu rechtfertigenden Weltordnung und dem verbindlichen Gebot zum tugendhaften Leben.31 Und sie schildern es mit den unterschiedlichsten literarischen und stilistischen Mitteln.32

III. Ganz in die Nähe von Platner führt das nächste Beispiel: Es handelt sich um Christian Fürchtegott Gellerts Moralische Vorlesungen, die mit einem Anhang Moralische Charaktere 1770 veröffentlicht werden.33 Gellert hatte in seinen Vorlesungen, das überliefern die Zeitgenossen, „um seinem Vortrage mehr Lebhaftigkeit, seinen Vorschriften grössere Deutlichkeit zu geben, und über-

Ebd., 233 f. Andere Beispiele finden sich z.B. bei Montaigne in den Essaies: Über den Müßiggang; Über die Lügner; Über das Maßhalten (alle 1. Buch); Über die Trunksucht; Über den Dünkel; Über Tugend und Tapferkeit (alle 2. Buch); Über die Eitelkeit (3. Buch). 31 Vgl. dazu besonders das Kapitel „Von den Freigeistern“. 32 In einer ähnlichen Tradition stehen auch Shaftesburys Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times (1711). Direkter auf die Theophrast-Tradition hingegen gehen die sogenannten „Character-Writers“ in den englischen moralischen Wochenschriften zurück. Berühmte Vertreter wie Samuel Butler, Richard Steele, Joseph Addison und andere veröffentlichen dort Charakterskizzen, die sich wieder konkret auf eine, zentrale Charaktereigenschaft beziehen, jedoch häufig auch gute Beispiele geben. Neben Titeln wie „A Rake and a Coquette“ (einem Beispiel für Geschlechtscharaktere) finden sich z.B. der „Good Judge“ und der „True, Fine Gentleman“ (vgl. dazu: English Character-Writing, hg. von Heinz Bergner, Tübingen 1971). In der englischen Literatur hat sich der „Character“ auf dieser breiteren Textbasis zu einem eigenen Gattungsbegriff entwickelt, der Nähe zu Formen wie Essay, Satire, Pamphlet oder historischem Porträt aufweist. 33 Gellert hatte sich zunächst gegen die Veröffentlichung gewehrt, und zwar mit dem Argument, wenn die Vorlesungen erst veröffentlicht seien, könne er sie nicht mehr öffentlich halten. Zudem werde sich der ganze „Ton der Schreibart“, der auf einen mündlichen „discours“ gerichtet sei, ändern und „würde declamatorisch u. enthusiastisch“ (Brief an Johann Adolf Schlegel vom 7.3.1768; zitiert nach: Christian Fürchtegott Gellert, Gesammelte Schriften. Kritische, kommentierte Ausgabe, hg. von Bernd Witte, Bd. 6: Moralische Vorlesungen, Moralische Charaktere, hg. von Sibylle Späth. Berlin, New York 1992, hier 338. 29 30

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haupt um seine Zuhörer zur Beobachtung der Welt zu gewöhnen, seinen Vorlesungen gewisse Charactere“ eingefügt.34 Sein Freund Johann Adolf Schlegel schlägt Gellert nun in einem Brief vom 1. Juni 1768 vor, die Charakterschilderungen in die Veröffentlichung einzubeziehen und sogar noch auszubauen; und er nennt auch gleich die einschlägigen Quellen: „Du nimmst Dir nämlich die Zeit, Dir aus dem Bruyere, aus andern Franzosen [...] desgleichen aus den besten englischen Moralisten wohlgezeichnete und schickliche Charaktere auszusuchen“.35 Gellert ist offensichtlich zumindest auf den ersten Teil des Vorschlags eingegangen. Im Anhang der Moralischen Vorlesungen finden sich unter dem Titel „Moralische Charaktere“ elf Charakterskizzen, die zum Teil nach einem Kontrastmuster angeordnet sind: So beginnt die Reihe mit Regelmäßige Sinnlichkeit, in dem Charakter des Kriton vorgestellt; darauf folgt Euphemon, das Gegenteil des Kriton. Teilweise sind die Schilderungen sehr genau am Theophrastischen Muster ausgerichtet: Auf eine begriffliche Definition folgen Aufzählungen von Kommunikationsverhalten und Sozialverhalten in verschiedenen Situationen; auch das ökonomische Verhalten spielt hier im „bürgerlichen“ Milieu wieder eine größere Rolle. Besonders stark in den Vordergrund tritt nun aber die moralische Bewertung. Interessanterweise schildert Gellert häufig gemischte Charaktere:36 Menschen, die oberflächlich tugendhaft, äußerlich erfolgreich, ja sogar insgesamt vorbildlich erscheinen mögen, aber, wie das Schlußresümee dann ergibt, sich nicht genug um ihre unsterblichen und geistigen Werte gesorgt haben. Eine solche gemischte Charaktereigenschaft ist auch der Stolz, der hier erstmals – bezeichnenderweise in der Ausprägung als „stolzer Demüthiger“ – anstelle der Überheblichkeit ins Visier genommen wird. Nicht zufällig handelt es sich bei ihm um eine spezifisch christliche Todsünde; gleichwohl, so Gellert, ist er weit verbreitet und tritt häufig gerade unter dem Deckmantel christlicher Demut auf. Mit einer entsprechenden Reflexion beginnt die Charakterskizze,37 bevor dann erst die Figur auftritt: „Antenor, ein verständiger Mann, hasset den Stolz und hält sich für demüthig“.38 Im folgenden wird Antenors Stolz zunächst Rezension aus der Deutschen Bibliothek der schönen Wissenschaften, Halle 1770; zitiert nach ebd., 351. 35 Ebd., 340. 36 Vgl. z.B. „Der Mann mit einem Laster und vielen Tugenden“. 37 „Es ist kein Fehler, der uns an Andern beschwerlicher fällt, als der Stolz; und keiner, den wir uns selbst leichter erlauben, oder weniger an uns gewahr werden, als derselbe. [...] Wir können es nämlich vor uns selbst nicht leugnen, daß die Demuth für so mangelhafte Geschöpfe, als wir sind, etwas sehr anständiges und eine nothwendige Tugend sey; aber genug, sie erniedriget uns“ (Gellert, Moralische Vorlesungen, Moralische Charaktere [wie Anm. 33], 304). 38 Ebd. 34

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mit seinem Geburtsadel und seiner vermeintlich demütigen Betonung bürgerlicher Werte verbunden, sowohl in der Lebensführung wie auch in der äußeren Erscheinung. Anschließend werden Verhaltensbeispiele gegeben und zumeist sofort einer moralischen Wertung unterzogen, die in Form einer rhetorischen Frage eingeleitet wird: „Wer mag das tadeln?“39 Am Schluß steht dann die rhetorisch glanzvolle Verurteilung des „Character-writers“: „Hältst du das Gute, was du an dir hast, nicht für unverdiente Geschenke der Vorsehung, und erkennest du deine mannichfaltigen Mängel nicht: so verleugne äußerlich deinen Werth noch so sehr, du bist doch weder gegen Gott noch Menschen demüthig, du bist eine Mißgeburt der Moral, ein stolzer Demüthiger“.40 Stilistisch folgen die Charaktere dem Ideal der leichten, natürlichen Diktion, wie Gellert es in seinem Briefsteller theoretisch formuliert und in seinen literarischen Texten umgesetzt hat. Besonders wichtig im Blick auf Platner aber ist ihr systematischer Platz: Sie stehen im Dienst der angewandten Morallehre, wie sie Gellert in seinen Vorlesungen mit der Formulierung allgemeiner Verhaltensmaximen – „Lebensregeln“ im Sinne der Moralisten – praktizierte und in den angehängten Charakteren veranschaulichte.41

IV. Man kann wohl davon ausgehen, daß Platner während seines Studiums in Leipzig die berühmten Vorlesungen Gellerts besucht hat.42 Mit den Philosophischen Aphorismen erscheint ab 1776 Platners eigenes Lehrbuch der Moral, das nicht nur er selbst, sondern viele seiner Zeitgenossen als Vorlesungsgrundlage verwenden; und auch Platner benutzt nun in diesem Zusammenhang Charakterskizzen. Im Literaturverzeichnis tauchen, wie zu erwarten, neben Gellerts Moralischen Vorlesungen auch Theophrast, La Bruyère und weitere französische

Ebd., 308. Ebd., 307. 41 Mit Gellert ist die Charakteristik endgültig in den Horizont der in diesem Falle explizit christlichen, im sozialen Kontext bürgerlichen Moral eingeholt. Gleichwohl schätzen die Zeitgenossen die Beobachtungsschärfe und Menschenkenntnis, die aus ihnen spricht; in einem Brief von Christian Friedrich Daniel Schubart vom 13. Oktober 1777 heißt es, wiederum unter Anrufung der kanonischen Autoritäten, über Gellert: „Seine Charaktere sind Meisterstücke. Ausgemalter und richtiger als Theophrasts und des Bruyère Charaktere – und hier war auch Gellert in seinem Elemente“ (Gellert, Moralische Vorlesungen, Moralische Charaktere [wie Anm. 33], 343). 42 Einen Hinweis gibt ein „Sinngedicht“ von Abraham Gotthelf Kästner mit der Nummer 228: „Ein Wort im Himmel geredet, zu der Zeit, als es auf Erden 1771 war: Als Gellert Plattner’n kommen sah, | Sprach er, schwermüthig froh: Sind Sie denn auch schon da?“ 1771 war Platner allerdings schon außerordentlicher Professor der Medizin in Leipzig. 39 40

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Moralisten sowie Shaftesbury auf. Platners Charakterskizzen zehren aus diesen verschiedenen Traditionssträngen in unterschiedlichem Maße und ergänzen sie zudem durch neue Aspekte; das will ich im folgenden an einer etwas eingehenderen Analyse der drei Charakter-Gruppen in der „angewandten Moralphilosophie oder Karakteristik“ zeigen, der Charakteristik der verschiedenen Temperamente (1), derjenigen des Geizes (2) und derjenigen des Stolzes (3).43 (1) Die erste Gruppe findet sich im Kontext der Temperamentenlehre im ersten Abschnitt des Ersten Hauptstücks, der Karakteristik der Neigungen. Platner unterscheidet sechs verschiedene Arten des sinnlichen Vergnügens als Basis aller Neigungen.44 In diesem Zusammenhang werden die Temperamente definiert als „verschiedene Formen der Sinnlichkeit“, die auf konkreten „physischen Grundanlagen“45 beruhen; diese werden nach dem jeweiligen Verhältnis des „tierischen“ und „geistigen Seelenorgans“46 zueinander genauer bestimmt. Die Temperamente ergeben sich dabei allein durch den Einfluß des tierischen Seelenorgans auf das geistige; die umgekehrte Einflußrichtung, so Platner, sei Gegenstand der „medizinischen Temperamentenlehre“47 – also nicht der philosophischen, die er hier vorlegt. Platner bezieht sich damit auf seine eigene Theorie des zweifachen Seelenorgans, wie er sie ausführlich in der Neuen Anthropologie für Aerzte und Weltweise (1790) entwickelt hatte.48 Darauf aufsetzend entwickelt er eine logische Systematik, die auf einer mehrfachen Permutation beruht. Zunächst ergeben sich, je nach der quantitativen Wirkung der beiden Seelenorgane, vier verschiedene Untertemperamente: Sind beide sehr stark, entsteht das sogenannte „römische Temperament“ (§ 836); ist das geistige stärker als das tierische, haben wir das „attische Temperament (§ 837)“. Ist umgekehrt das tierische stärker als das geistige, erhält man das „lydische Temperament“ (§ 838); und sind beide nur schwach, hat man ein „phrygisches Temperament“ (§ 839).49

Den folgenden Ausführungen liegt die „ganz neue Ausarbeitung“ des zweiten Bandes der Philosophischen Aphorismen von 1800 (wie Anm. 1) zugrunde, die das Charakter-Konzept sehr viel ausgearbeiteter und differenzierter präsentiert. In der Erstauflage von 1782 fand sich die Charakteristik im vierten Hauptstück unter dem Titel „Raisonnirte Karakteristik“. 44 Neigung definiert Platner als „Richtung des naturmäßigen Willens auf Gattungen des – physischen, oder sittlichen – Vergnügens. Der Grund liegt einestheils in ursprünglichen Anlagen, anderntheils in angenommenen Fertigkeiten“ (Platner, Aphorismen II 1800 [wie Anm. 1], 457). 45 Ebd., 482. 46 Ebd. 47 Ebd., 486 f. 48 Vgl. Ernst Platner, Neue Anthropologie für Aerzte und Weltweise. Mit besonderer Rücksicht auf Physiologie, Pathologie, Moralphilosophie und Aesthetik, Bd. 1, Leipzig 1790, hier 1. Buch, Kap. IX, §§ 209ff. 49 Die Quellen für die teilweise in der traditionellen Temperamentenlehre ungewöhnlichen Be43

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Nun wird, in einem zweiten Schritt, der quantitative Aspekt mit einem qualitativen multipliziert. Je nachdem, ob die entsprechenden Kräfte ruhig oder heftig, fein oder grob sind, entstehen aus dem römischen Temperament das männliche (§ 843) und das feurige (§ 846); aus dem attischen Temperament das ätherische (§ 849) oder das melancholische (§ 852); aus dem lydischen Temperament das sanguinische (§ 855) oder das böotische (§ 858); und aus dem phrygischen Temperament das phlegmatische (§ 861) oder das hektische (§ 864). Diese nunmehr acht Temperamente werden in einem dritten und letzten Schritt bezüglich der sechserlei verschiedenen Arten des Vergnügens durchdekliniert; also bezüglich ihrer Einstellung zum Wohlleben im allgemeinen, zu Ruhe und Tätigkeit, zur Geschlechtslust und zu ästhetischen und moralischen Vergnügen geschildert. Aus diesen Permutationen ergeben sich nach Platner die Hauptzüge der jeweiligen Temperaments-Charaktere. Da jedoch darüber hinaus mit den Neigungen noch andere Gemütsbewegungen und Handlungen verbunden sind, werden diese in sogenannten „Nebenzügen“ den jeweiligen Charakterschilderungen angehängt, um so auch „das Allgemeine des ganzen Karakters“50 erfassen zu können. Das erscheint, präsentiert man es auf das systematische Gerippe verkürzt, ziemlich kompliziert. Im Text selbst werden die Bezüge durch ständige Querverweise auf die entsprechenden Paragraphen mit ihren aphoristischen Definitionen hergestellt. Innerhalb der Charakterschilderungen verfährt Platner dann ähnlich wie Theophrast: Es werden kurze, meist syntaktisch unvollständige Sätze stichwortartig aneinandergereiht. Ich will auch hier wenigstens ein Beispiel geben, um das Vorgehen wie auch die Formulierung zu veranschaulichen. Unter dem Stichpunkt des „ätherischen Temperaments“ (§ 849) – der positivsten Charakterausprägung des Spektrums insgesamt, nämlich der lebhaften und leichten Variante des „attischen Temperamentes“ – heißt es zunächst in einem definierenden Paragraphen: „Das ätherische Temperament (837) ist Hang zu einer Art des Vergnügens (841), welches, bey einer geringern Theilnehmung des Körpers, durch Lebhaftigkeit erwecket und zugleich durch Feinheit beschäftigt“.51 Es folgt die Aufzählung unter Bezug auf die sechs verschiedenen Arten des Vergnügens, die ich zur Verdeutlichung in den eckigen Klammern ergänzt habe: Ein Karakter. Wenig Hang zum physischen Wohlleben [1: Vergnügen]; viel Mäßigkeit und Genügsamkeit. Unabläßige Thätigkeit der Seele (807), bald im Nachdenken, bald im Empfinden. Abneigung vor geistlosen Geschäften und Ergötzungen [2 und 3: Ruhe

zeichnungen ist unklar. Die lydisch-phrygische Tonart spielt beispielsweise eine Rolle in der Musik. Interessant ist auch die hier vorgenommene Verbindung mit Nationalcharakteren. 50 Platner, Aphorismen II 1800 (wie Anm. 1), 498. 51 Ebd., 502 f.

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und Tätigkeit]. [...] Lebhafte Bewegungen der Geschlechtslust (815) [4: Geschlechtslust], anhaltend und beherrschend bey fesselnder Theilnehmung des Verstandes und Herzens [...]. Feiner Sinn für das Wahre und Gute, Erhabene und Schöne (821) [...] [5: ästhetisches Vergnügen]. Große Empfänglichkeit für alle Arten des moralischen Vergnügens [6: moralische Empfindung].52

Darauf folgen die Nebenzüge, von denen ich nur kurz den Anfang zitieren will: „Selbstgleiche Heiterkeit und Fröhlichkeit. Schnelle Vertilgung trauriger Empfindungen, ohne Leichtsinn. Keine Art des Stolzes; schnelle Anmerkung fremden Verdienstes“.53 Obwohl Platner mit diesen Schilderungen keine explizite Wertung verbindet, scheinen gerade in dem Positiv-Beispiel durchaus diejenigen Merkmale durch, die auch für Platner einen ausgewogenen und guten Charakter kennzeichnen: Mäßigkeit – der Ausgleich von Kopf und Herz zieht sich leitmotivartig durch die ganze Schilderung –, Seelenstärke, Besonnenheit; umgekehrt sind die Beispiele ausgesprochen negativer Temperamentslagen, wie diejenigen des Böotiers oder des Phlegmatikers, durch einen Hang zu Unmäßigkeit, grober Sinnlichkeit und Kraftlosigkeit gekennzeichnet. Platner geht bezüglich der Temperamenten-Charakteristik also von einer anthropologischen Definition aus; er untermauert diese zudem einleitend durch einen Gewaltmarsch durch die Geschichte der Temperamentenlehre von der Antike bis zu seinen Zeitgenossen. Die lange Anmerkung endet mit dem bezeichnenden Satz: „Im übrigen ist unser jetziges philosophisches Zeitalter viel zu spekulatif, um von den Temperamenten Kenntniß zu nehmen. Das Kürzeste ist, daß man sagt: es kommt nichts bey der Sache heraus“.54 Diesem Vorurteil versucht Platner offenbar abzuhelfen, indem er mit seiner strengen Einbindung der Charakterbilder in das Definitionsschema des Textes und dessen Permutationen eine Systematisierungsleistung vollbringt. Die Charaktere bestehen nun nicht mehr aus einer mehr oder weniger willkürlichen Aufzählung einzelner Verhaltens- oder Gesinnungsmerkmale, sondern bilden eine nachvollziehbare Ableitung aus den Lehrsätzen selbst.

Ebd. Vgl. dazu in der Neuen Anthropologie die Aufzählung der „eigentlich menschlichen“ Empfindungen (2. Buch, 2. Hauptstück, 2. Abschnitt: „Von den Empfindungen“). Die Sinnlichkeit wird dort definiert als „Vermischung des Geistigen und Thierischen in einem lebendigen Wesen“, und zwar „gleichmäßig“ (Platner, Neue Anthropologie [wie Anm. 48], 337): „und eben diese Sinnlichkeit ist der Karakter der eigentlich menschlichen Natur“ (ebd.). Darüber hinaus unterscheidet Platner hier drei Klassen bestimmter Empfindung: a) gemeines sinnliches Vergnügen (vgl. Wohlleben); b) Vergnügen an ästhetischer und c) moralischer Vollkommenheit; sowie zwei Klassen unbestimmter Empfindungen: a) Eigentum, b) Ehre. 53 Platner, Aphorismen II 1800 (wie Anm. 1), 503. 54 Ebd., 497. 52

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(2) Das ändert sich zumindest graduell im zweiten Abschnitt des ersten Hauptstücks, wo es um die „Neigung zum Eigenthum“ geht.55 Wie diese positiv zu gestalten ist, zeigt das Beispiel eines „weisen, tugendhaften Mannes“ (§ 881),56 das den Negativ-Charakteristiken vorangestellt ist: Dieser schätzt das Eigentum als Mittel zur Erreichung der Glückseligkeit, aber nur insofern es Genuß verleiht und die Möglichkeit wohlwollender Tätigkeit vergrößert. Die Charakteristik gilt dann allein den negativen Auswüchsen dieser speziellen Neigung, die als „übertriebene, d.h. tugendwidrige Neigung zum Eigentum“57 (also einmal mehr als Verletzung des Mäßigkeitsgebots) definiert und unter dem Oberbegriff des „Geizes“ abgehandelt werden. Hier gibt Platner nur noch eine Feinabstufung in die Kategorien der „Sparsucht“ (§ 884), „Genauigkeit“ (§ 885) und „Erwerbssucht“ (§ 886). Die daraus entwickelten sechs Charaktere des Geizes können jedoch nicht mehr systematisch abgeleitet werden, obwohl entsprechende Querverweise auf frühere Paragraphen nicht fehlen. Sie beruhen vielmehr auf unterschiedlichen Gemütseigenschaften, die nur teilweise in Termini der Temperamentenlehre geschildert werden. Dabei ist eine graduelle Abstufung in der Reihenfolge bemerkbar: An erster Stelle steht, offensichtlich eine Extremposition, der „wahnsinnige Geiz“ (§ 891; eine Art Dagobert-DuckPorträt); eigens als „weiblicher Karakter“ eingeführt folgt der „schwachsinnige Geiz“ (§ 894); über den „egoistischen“ (§ 897), den „phlegmatischen“ (§ 900) und den „mürrischen“ Geiz (§ 903) geht es schließlich zum kaum noch abwertend gezeichneten „kaufmännischen Geiz“ (§ 906). Was hier verglichen mit den Temperaments-Charakteren an systematischer Grundlegung verlorengeht, wird durch eine größere Realitätsnähe wettgemacht. So liegt natürlich die Frage nahe, warum ausgerechnet der „schwachsinnige Geiz“ spezifisch weiblich sein soll. Analysiert man die entsprechende Passage, so ist zunächst auffällig, daß der zugrundeliegende weibliche Charakter positiv geschildert wird: Die schwachsinnig Geizige ist durchaus mit einem „guten natürlichen Verstand“ und „richtigen Grundsätzen der Moral und der Religion“ ausgestattet; sie zeigt „Neigung zum Wohlleben, zum Zeitvertreib und Umgang; und – ein ausdrückliches Unvermögen, etwas von diesen Freuden, durch den kleinsten Aufwand, zu erkaufen“.58 Stärker als ihre männlichen Gesinnungsgenossen im Geiz legt sie Wert auf die Wahrung des äußeren Scheins, macht Zugeständnisse an die gesellschaftlichen Konventionen – und

55 Der Grund der Neigung zum Eigentum ist ein „dürftiger Trieb nach Glückseligkeit“; Eigentum wird nach Platner wahrgenommen als Teil der eigenen Kraft, des Ich und des Selbst (ebd., 516). 56 Ebd., 520 f. 57 Ebd., 522. 58 Ebd., 528.

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ist zudem natürlich auch nur in beschränktem Maße die Herrin ihres eigenen Vermögens; ihre Finanzkompetenzen erstrecken sich im wesentlichen auf die Verteilung von Wohltätigkeiten. Hier finden sich damit die Faktoren von sozialer Stellung und anthropologischer Geschlechtscharakteristik wieder, die auch La Bruyère stärker berücksichtigt hatte. Zeigt schon die beim weiblichen Geiz zitierte Formulierung von der Neigung zum Wohlleben und dem „ausdrücklichen Unvermögen“, es sich zu erkaufen, eine gewisse ironische Pointierung, so ist darüber hinaus die Schlußwendung beinahe aller Geiz-Charaktere äußerst bemerkenswert. Den letzten Satz bildet nämlich jeweils eine Aussage über das charaktertypische Sterben: Der wahnsinnig Geizige verscheidet zaghaft und ohne Temperament; die schwachsinnig Geizige andächtig, mit „kleinen Geschenke und großen, wohlthätigen Vermächtnissen“;59 u.s.w. Das könnte zum einen ein Erbe der Gellertschen Charaktere sein, in denen sich häufig eine Schlußwendung nach Art des „letzten Gerichts“ findet: Erst im Angesicht der Ewigkeit erweist sich, ob ein äußerlich tugendhaft geführtes Leben auch innerlichen und damit unvergänglichen Wert hatte. Bei Platner ist sie jedoch völlig säkularisiert: Der Tod bringt zwar zum letzten Mal den Charakter unverhüllt zum Ausdruck; aber er begründet zuvörderst eine konkrete ökonomische und juristische Problematik, den Umgang mit dem Erbe im Testament nämlich. (3) Damit komme ich zum dritten und letzten Abschnitt des ersten Hauptstücks und der dritten und letzten Gruppe von Charakteren. Hier geht es systematisch um die „Neigung zur Ehre“.60 Wiederum wird das Ideal des „weisen Mannes“ (§ 921) vorangestellt; wiederum gilt die Charakteristik nur den Verfehlungen im maßvollen Umgang mit dieser Neigung, nämlich den auf „nichtige Vollkommenheiten“61 gegründeten Unterarten des Stolzes. Das gute Beispiel ist offenbar keiner Variation fähig – die Abweichungen von ihm hingegen geradezu unendlicher. Wie beim Geiz gibt es keine genaue Ableitungsregel zwischen Lehrsätzen und Schilderungen mehr; die Differenzierungsleistung wird noch verstärkt. Zunächst argumentiert Platner hier erstmals explizit historisch: Die verschiedenen Formen des Stolzes unterschieden sich je nach dem Gegenstand, dem

Ebd., 530. Bemerkenswerterweise ist der eher positive kaufmännische Geiz nicht mehr gekennzeichnet durch eine bestimmte Todesart, sondern endet mit „finanzmäßiger Verheyratung der Kinder“ (ebd., 539). 60 Nach Platner ist die Neigung zur Ehre die „geäußerte Anerkennung unserer theils in Eigenschaften, theils in Verhältnissen beruhenden Vollkommenheiten und der Ansprüche, welche darinnen gegründet sind“ (Platner, Aphorismen II 1800 [wie Anm. 1], 540 f.); Grundlage ist ein meist undeutliches „Streben nach persönlicher Freyheit in der Welt“ (ebd., 542). 61 Ebd., 547. 59

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besondere Vollkommenheit zugesprochen werde; da solche Wertschätzungen sich im Laufe der Zeiten jedoch änderten, könne seine Charakteristik nur dem eigenen Zeitalter gelten – es geht, wie bei La Bruyère, um die Caracteres ou mœurs dece siècle. Diesem eigenen Zeitalter schreibt Platner zehn verschiedene Vollkommenheitsideale zu, aus denen dann zehn verschiedene Arten des Stolzes abgeleitet werden.62 Nur einige Beispiele: Aus der alleinigen Wertschätzung der Leibesstärke ergibt sich der „Ritterstolz“ (§ 967); aus derjenigen der Macht der „aristokratische Stolz“ (§ 965); aus der der Freiheit der „demokratische Stolz“ (§ 969); u.s.w. Der „grobe Adelsstolz“ als nächster Verwandter von La Bruyères überheblichem Pamphil wird folgendermaßen gekennzeichnet: Gänzlicher Mangel aller philosophischen Kultur; mitleidenswürdige Beschränkung des Verstandes. [...] Anspruchsvolles, in einer vornehm-leeren Physiognomie ausgedrücktes Selbstgefühl (929) von Ahnen, Würden, Ordensbändern, Verwandtschaften und andern Verhältnissen der hohen Person. [...] Glänzende Tafel, mit sprachloser Repräsentazion; steife Asssembleen ohne Unterhaltung [...]. Hochmüthiges Betragen (958) gegen den nichtadelichen Stand; gänzliche Vermeidung seines Umganges. Verlegenheit mit Gelehrten und Künstlern.63

Ich habe gerade diese Stellen aus der etwas längeren Passage ausgewählt, weil sich hier deutliche inhaltliche Bezüge zu den „überheblichen“ Charakteren Theophrasts und La Bruyères zeigen lassen: Wie Theophrasts Überheblicher kommuniziert der Adelsstolze nicht mit Nicht-Ranggleichen; wie er dort beim Gastmahl sich entzieht, schweigt er hier bei der Tafel. An La Bruyère hingegen erinnert die Verlegenheit im Umgang mit Gelehrten, die dort wörtlich auch auftaucht. Insgesamt jedoch bleibt Platner in seinen Skizzen eher bei der Aufzählung allgemeiner Verhaltensweisen; konkrete Situationen werden relativ wenig geschildert. Positive wie negative Eigenschaften erscheinen bunt gemischt, wobei insgesamt das Negative überwiegt. Die explizite Wertung jedoch tritt ganz zurück: Es geht Platner offensichtlich nicht darum, moralische Verdammungsurteile auszusprechen, sondern vielmehr um die genaue Beschreibung von Haltungen und Verhaltensweisen und deren Herleitung aus den im systematischen Teil erläuterten moralischen Dispositionen des Menschen. Die kontextuelle Feindifferenzierung der Charaktere wird darüber hinaus bei Platner noch um einige Stufen weitergetrieben. Wiederum finden sich explizit

Platner macht an dieser Stelle eine Einschränkung, die aber wohl für alle Charakteristiken gilt: „Daß das nur logische Absonderungen sind und daß, in der Neigung selbst, die hier gesonderten Theile sehr genau mit einander zusammenhangen; das versteht sich wohl ohne meine Erinnerung“ (ebd., 545). 63 Ebd., 577 f. 62

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weibliche Charaktere (der „Weiberstolz“, § 989); daneben tauchen Standesund Berufscharaktere auf, wie z.B. der zitierte „Rang- und Adelsstolz“ (§ 974), der spezielle „Geld- und Kaufmannsstolz“ (§ 971), der „Schulstolz“ (§ 992) des Wissenschaftlers oder der „moralische Stolz“ (§ 997) des Geistlichen. Zudem werden auch diese Unterarten des Stolzes in sich noch unterteilt: So gibt es beispielsweise den „altgelehrten“ (§ 993) Schulstolz und den „methodischen“ (§ 994) Schulstolz. Auch hier also geht mit der Einbuße an Systematik eine größere Realitätsnähe einher. Zudem entstehen durch die große Variationsbreite der aufgezählten Verhaltenszüge und deren interne Feinabstimmung nun schon beinahe diffizile Porträts komplexer Persönlichkeiten. Dabei gestaltet Platner seine Charaktere im allgemeinen nichts weniger als literarisch ambitioniert; gleichwohl gewinnen sie durchaus dann und wann, besonders durch die treffenden Adjektive, die Wahl ebenso treffender Beispiele und eine Brise Süffisanz eine gewisse rhetorische Brillanz. Als Beispiel möge ein Ausschnitt des „methodischen Schulstolzes“ dienen – und es ist nicht allzu schwer zu erkennen, von wem Platner hier spricht: Der methodische Schulstolz (992), rühmt sich in der Wissenschaft, die sein Gegenstand ist, der einzig wahren Methode. Er beruhet, gewöhnlich, in einer selbstdenkenden Einseitigkeit des Systems; bey der er ganz vergißt, eines theils die Möglichkeit, dasselbe Ziel zu erreichen auf ganz verschiedenen Wegen; anderntheils die Schwierigkeit, die alleinwahren Prinzipien einer Wissenschaft zu erfinden und zu beweisen [...]. Daher die selbstgefällige Meinung, daß durch die aufgestellte Methode, die Wissenschaft erst ihr wahres Daseyn erhalte; eine unduldsam verfolgerische, bald mit Spott, bald mit grober Arroganz gewaffnete Herabwürdigung derer, welche sie nicht anerkennen; die pedantische Besorgniß, daß, ohne sie, alles in dem Gebiete dieser Wissenschaft verlohren und durch die Andersdenkenden das größte Unglück verhänget werde: und ein lächerlicher Enthusiasmus, der die ganze Welt zur Theilnehmung auffodert und das Interesse des Autors oder Professors darstellt, als eine Angelegenheit des Menschengeschlechts.64

Zusammenfassend kann man sagen: Platner greift die antike Charakteristik Theophrasts vor allem in der Art der Darstellung auf – vorangestellte Definition, gefolgt von einer stichwortartigen Aufzählung verschiedener Merkmale, Enthaltung von expliziter Wertung. Er bezieht sich inhaltlich, wenn auch schwächer, auf die Tradition der französischen Moralisten, indem er Geschlechts- und Standescharaktere einbezieht und historisch argumentiert; er übernimmt jedoch weder die damit verbundenen expliziten Wertungen noch den subjektiven Tenor der Schilderung. Von Gellert schließlich erbt er die Verbindung von aphoristischem Lehrsatz und anthropologischer Charakterskizze

Ebd., 591 f. Hingegen gemahnt der Charakter des „philosophischen Stolzes“ (§ 995) in vielen Zügen an Rousseau. 64

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im Vorlesungskontext.65 Sein wesentlicher eigener Beitrag ist zum einen in der systematischen Einbindung der Charakterskizzen in das Lehrgerüst selbst zu sehen, die vor allem die Temperaments-Charaktere prägt. Zum zweiten erreichen die zunehmend feiner differenzierten Charaktere des Geizes und des Stolzes eine für philosophische Texte nicht ganz selbstverständliche Lebensnähe. Da sie jedoch immer noch konsequent in das Verweissystem des Textes eingebunden sind, bilden sie nicht willkürliches Anschauungsmaterial, sondern können präzise auf einzelne Definitionen zurückbezogen werden und verstärken damit letztlich die innere Konsistenz des Textes in systematischer Hinsicht: Theoretische Morallehre und praktische Menschenkenntnis werfen ein wechselseitiges Licht aufeinander. Zwar sind die Charaktere auf der niedrigsten Stufe der Systemarchitektur der Philosophischen Aphorismen angesiedelt. Dennoch erweisen sie hier nicht nur die Anwendbarkeit der Theorie aufs Leben, sondern auch umgekehrt den Nutzen der anthropologischen Menschenkenntnis für die philosophische Systematik, den Wert analytischer Beobachtung für die synthetische Abstraktion. Für diese Wechselwirkung schließlich spielt auch die formale Gestaltung eine nicht geringe Rolle; um noch einmal La Bruyère zu wiederholen: Man denkt die Dinge verschieden und gibt ihnen auf verschiedene Weise Ausdruck. Insofern steht auch die Kombination des Schulaphorismus der hippokratischen Tradition und der Charakterskizze in der Theophrast-Tradition für eine notwendige Komplementarität zwischen abstrahierend-verkürzter und konkretisierend-aufzählender Denkweise.66

V. Eine „anthropologische Charakteristik“ findet sich schließlich auch in Immanuel Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht.67 Sie soll abschließend kurz skizziert werden, da hier wesentliche Unterschiede zwischen den beiden Einmal mehr erkennt man hier deutlich den eklektizistischen Grundzug, den Platner mit vielen anderen Vertretern der spätaufklärerischen Philosophie und Anthropologie teilt. 66 Den wechselseitigen Nutzen hebt auch Wilhelm von Humboldt in seiner eigenen Konzeption einer idealen Charakteristik hervor: „Die Kunst einer vollkommen praktischen Menschenkenntniss beruht allein auf drey verschiedenen Punkten: richtige und vollkommen individuelle Beobachtungen zu machen, aus denselben das Wesen des Charakters, das in den Aeusserungen nur theilweise erscheint, gehörig und ganz zu abstrahiren, und sich von der Beobachtung zu dem Begriff, und von diesem zu jener mit vollkommener Leichtigkeit hin- und herüber zu bewegen, um beide durch einander gegenseitig zu berichtigen“ (Humboldt, Das achtzehnte Jahrhundert [wie Anm. 7], 77). 67 Der 1798 erschienenen Schrift liegen bekanntlich Vorlesungen zugrunde, die Kant seit 1772/73 gehalten hat. 65

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sich durchaus als Konkurrenten begreifenden Philosophen deutlich werden. Bei Kant ist der erste und längere Teil der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht die „anthropologische Didaktik“; als „Art, das Innere sowohl als das Äußere zu erkennen“, begründet sie die „Elementarlehre der Menschenkunde“. Demgegenüber lehrt der zweite Teil, die „anthropologische Charakteristik“, als „Methodenlehre“ die „Art, das Innere des Menschen aus dem Äußeren zu erkennen“.68 Die Charakteristik steht also an einer Schlüsselstelle zwischen Physis und Psyche und übernimmt von der kritischen Philosophie die dualistische Grundanlage, die nun direkt in den Charakterbegriff selbst übertragen wird.69 Kant definiert: In pragmatischer Rücksicht bedient sich die allgemeine, natürliche [...] Zeichenlehre (semiotica universalis) des Worts Charakter in zwiefacher Bedeutung, da man teils sagt: ein gewisser Mensch hat diesen oder jenen (physischen) Charakter; teils: er hat überhaupt einen Charakter (einen moralischen), der nur ein einziger, oder gar keiner sein kann. Das erste ist das Unterscheidungszeichen des Menschen als eines sinnlichen, oder Naturwesens; das zweite desselben als eines vernünftigen, mit Freiheit begabten Wesens. [...] Daher kann man in der Charakteristik [...] das Charakteristische in a) Naturell oder Naturanlage, b) Temperament, oder Sinnesart und c) Charakter schlechthin, oder Denkungsart, einteilen.70

Innerhalb der anthropologischen Charakteristik behandelt Kant dann in der üblichen aufsteigenden Reihenfolge vom Besonderen zum Allgemeinen zunächst den Charakter der Person (1), daraufhin den des Geschlechts sowie des Volks (2) und schließlich der Gattung (3) des Menschen. (1) Der Charakter der Person verbindet zunächst die drei Aspekte, die Kant in seiner Definition genannt hatte. Das „Charakteristische“ – also die einzelnen Charakterzüge – liegen im „Naturell“ des Individuums, seinen habituellen Dispositionen und Gewohnheiten, sowie in seinem physiologischen und psychologischen „Temperament“ begründet; hier verbleibt Kant ganz im Rahmen Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: I. K., Werke in zehn Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 10, Darmstadt 1983, hier 623. 69 Eine ähnliche zweiteilige Definition gibt auch Humboldt: Er „begreift unter dem Charakter alle diejenigen Eigentümlichkeiten zusammen [...], welche den Menschen, als ein physisches, intellectuelles und moralisches Wesen betrachtet, sowohl überhaupt, als auch insbesondre einen vor dem andern auszeichnen“ (Humboldt, Das achtzehnte Jahrhundert [wie Anm. 7], 55). Letztlich löst Kant den seltsamen Widerspruch im Charakter-Begriff zwischen unterscheidendem Individualitätskriterium (den einzelnen Charakterzügen) und unspezifischem Allgemeinheitskriterium (dem Charakter), der schon in Adelungs anfangs zitierter Definition vorliegt, durch sein dualistisches Menschenbild. Humboldt setzt darauf auf und unterscheidet zwischen dem Einzelmensch als Individuum und der Menschheit als Gattungswesen. 70 Kant, Anthropologie (wie Anm. 68), 625. Damit steht Kant noch in der anhand von Adelung anfangs demonstrierten Begriffstradition: „Charakter“ als Zeichen; Charakter als unterscheidendes individuelles Merkmal; die Gesamtheit der Merkmale als der Charakter im Singular. 68

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der traditionellen Temperamentenlehre mit ihren vier Grundtypen des Sanguinischen, Melancholischen, Cholerischen und Phlegmatischen.71 Dabei werden die Temperamentstypen jeweils in einer Art kurzem, erzählerisch dargebotenem Charakterbild präsentiert, das durchaus an die Charaktere des Theophrast gemahnt. Es wird wenig definiert und viel mit Beispielen sozialen Verhaltens sowie kommunikativen Leistungen und Minderleistungen gearbeitet. Der medizinisch-physiologische Hintergrund wird zwar noch erwähnt, ist insgesamt aber stark zurückgedrängt. Besonderen Wert legt Kant jedoch auf den dritten Punkt der „Denkungsart“, also den Charakter im Singular: Dieser allein verleiht dem Individuum einen „inneren Wert“, der weder einen „Marktpreis“ – wie das auf dem physischen Naturell beruhende Talent – noch einen „Affektionspreis“ – wie das Temperament – habe.72 Ähnlich verfährt Kant auch bei der höchsten Stufe, dem in sich selbst wertvollen moralischen Charakter des Menschen als eines „vernünftigen Wesens“. Da dieser nichts anderes als ein formales Prinzip sei, nämlich der Entschluß, fortan nach festen Grundsätzen zu handeln,73 kann er inhaltlich so wenig gefüllt werden wie das Moralgesetz selbst. Er kann höchstens negativ eingegrenzt werden – hier zählt auch Kant vor allem kommunikative Normen und solche des sozialen Umgangs auf.74 Zudem kann ein solcher moralischer Charakter nur durch willentliche Anstrengung erworben werden; interessanterweise behauptet Kant hier sogar, daß weder Erziehung noch Belehrung bei dieser Art der Charakterbildung wirksam werden, sondern daß ein moralischer Charakter in einer „Art von Wiedergeburt“, einer „Revolution“, ja gar einer „Explosion“ quasi gewaltsam sich seinen Weg bricht.75 Dafür ist zum einen ein gewisses Mindestalter vonnöten – und zwar eher 40 denn 30 Jahre –; und zum zweiten sind gewisse gesellschaftliche und Berufsstände eher hinderlich. Mit spitzer

Die ersteren beiden, also den Sanguiniker und den Melancholiker, bezeichnet Kant als „Temperamente des Gefühls“, die letzten beiden, den Choleriker und den Phlegmatiker, als „Temperamente der Tätigkeit“ (vgl. ebd., 627). Besonders charakteristisch ist dabei im Vergleich zu Platner, der eher die lebhaften und feurigen Temperamentspole schätzte, Kants Wertung des Phlegmatikers: Phlegma trete häufig verbunden mit Weisheit auf (631) und sei deshalb eine besonders gute Anlage für einen Philosophen. 72 Ebd., 634. 73 Vgl. ebd., 637. 74 Ein Mensch von Charakter lügt nicht, heuchelt nicht, bricht seine Verbrechen nicht, pflegt keinen schlechten Umgang und schert sich nicht um Moden und unfundierte Meinungsäußerungen anderer (vgl. ebd., 636). 75 Ebd., 637 f. „Fragmentarisch ein besserer Mensch werden zu wollen, ist ein vergeblicher Versuch“. 71

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Zunge führt Kant die Poeten, die Hofleute und die Geistlichen als Existenzformen mit einer habituellen Tendenz zur Charakterschwäche an.76 (2) Auf der Ebene des Charakters der Person schließt sich Kant damit an tradierte Diskurse der Charakteristik an. Er bindet diese, ganz ähnlich wie Gellert, durchgängig in sein eigenes moralphilosophisches System ein. Darüber hinaus erweitert er das Konzept im folgenden auf die kollektiven Einheiten des biologischen Geschlechts und der nationalen Volksgruppen. Beide werden, vor allem in den die jeweiligen Kapitel beschließenden „Zerstreuten Anmerkungen“, mit knappen „Charakterzeichnungen“77 und historischen Anekdoten verbunden, die typisch weibliche mit typisch männlichen Verhaltensweisen kontrastieren bzw. nationale Klischees auflisten. In beiden Fällen geht Kant wiederum von einem angeborenen „natürlichen“ Charakter aus, der dann durch einen „erworbenen und künstlichen“78 im Lauf der Geschichte überformt werde; die in der zeitgenössischen Anthropologie verbreiteten Theorien über den Einfluß des Klimas bzw. der Regierungsart auf den Charakter lehnt er hingegen explizit ab.79 (3) Der „Charakter der Gattung“ schließlich fällt in eins mit der Bestimmung des Menschen zur Vernunft schlechthin, wurzelt in seiner Perfektibilität, entwickelt sich im kulturellen Prozeß und gipfelt in der Vision einer „weltbürgerlichen Gesellschaft“,80 in der sich der Gattungscharakter dann vollständig entfalten könnte. An diesem Punkt geht die Anthropologie fließend in die Geschichtsphilosophie über. Der Charakterbegriff hat sich aber in diesem Zusammenhang so verallgemeinert, daß er von einem allgemeinen Tugendbegriff kaum zu unterscheiden ist. Das zeigt bereits eine Bemerkung im Kapitel zum moralischen Charakter der Person. Dort bedauert Kant, wenn auch mit einem kleinen ironischen Unterton: „Vielleicht aber sind wohl gar die Philosophen daran schuld: dadurch daß sie diesen Begriff [den Charakter] noch nie abgesondert in ein gnugsam helles Licht gesetzt und die Tugend nur in Bruchstükken, aber nie ganz in ihrer schönen Gestalt vorstellig und für alle Menschen interessant zu machen gesucht haben“.81 Letzteres jedoch, den tugendhaften Charakter in seiner „schönen Gestalt“ und auf „interessante“ Weise darzustellen, ist eine traditionell literarische Aufgabe.

76 77 78 79 80 81

Vgl. ebd. Ebd., 665. Ebd., 659. Vgl. ebd., 661. Ebd., 687. Ebd., 637.

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VI. Daß die Charakteristik ein wesentliches Bindeglied von der Anthropologie zur Literatur der Zeit darstellt, demonstriert nicht nur Jean Pauls Satire über den „Adelsstolz“, die sich bekanntlich in wesentlichen Zügen auf Platners entsprechende Charakterschilderung bezieht.82 Schon in der Frühaufklärung zehren die Typenkomödie und die Satire offensichtlich vom gleichen Diskurs.83 Später verfassen Popularphilosophen wie Johann Jakob Engel „Charakterstücke“ in den moralischen Wochenschriften.84 Auch Texte wie Johann Karl Wezels Ehestandsgeschichten (1779)85 lassen sich in vielem auf die Geschlechtscharakteristik zurückführen; so ist es vielleicht kein Zufall, wenn die fünf ersten Ehen des Peter Marks mit dem Tod der jeweiligen Ehefrau enden, wobei die jeweilige Todesart, wie schon bei Gellert und Platner, aufs schönste den besonderen Charakter der unglücklichen Gattinnen spiegelt.86 Im einzelnen ist jedoch schwer nachweisbar, wieviel sich in einem solchen Fall auf die CharakterTexte der Tradition und wieviel auf den alltäglichen Geschlechterdiskurs zurückführen läßt. Für Humboldt allerdings stand es außer Frage, daß neben den Philosophen und den Geschichtsschreibern87 vor allem die Dichter für die Charakteristik zuständig sind:88 „Da sie ihre Charaktere neu schaffen, und für die Einbildungskraft schaffen mussten, so durften sie, gleich dem bildenden

Vgl. dazu: Alexander Košenina, Ernst Platners Anthropologie und Philosophie. Der ‘philosophische Arzt’ und seine Wirkung auf Johann Karl Wezel und Jean Paul, Würzburg 1989, 56–60. 83 Platner selbst verweist beim „wahnsinnigen Geiz“ auf Plautus und Molière (Platner, Aphorismen II 1800 [wie Anm. 1], 525). Schon bei Theophrast sind Beziehungen zur zeitgenössischen Komödie des Menander sowie zur römischen Satire des Horaz nachweisbar (vgl. Steinmetz, Nachwort [wie Anm. 14], 101). 84 Vgl. z.B. von Johann Jakob Engel, Lorenz Stark. Ein Charaktergemälde (1801), in dem die Hauptfigur als Vertreter des Geld- und Kaufmannsstolzes gezeichnet wird. 85 Vgl. Johann Karl Wezel, EhestandsGeschichte des Hrn. Philipp Peter Marks (1776); Die wilde Betty. Eine Ehestandsgeschichte (1779). 86 In diesem Fall kann wohl mit Gewißheit davon ausgegangen werden, daß Wezel, der während seines Studiums in Leipzig zeitweise im Gellertschen Hause wohnte, auch dessen Vorlesungen gehört hat. 87 Humboldt beruft sich hier schon auf Plutarch, der als erster die Wichtigkeit des „täglichen Privatlebens“ bemerkte (Humboldt, Das achtzehnte Jahrhundert [wie Anm. 7], 52). 88 Die zugespitzten Charaktere der Temperamentenlehre, so meint er, taugten eher für die Komödie; die Gestaltung komplexer Charaktere jedoch verfahre sowohl im Roman als auch im Drama am besten genetisch und demonstriere den Charakter in Aktion: „Jeder gute Beobachter wird daher schon im täglichen Gespräch, wenn er die Schilderung eines Charakters entwirft, denselben, mehr wie der Dichter, handelnd und redend einführen, als gleich dem Moralisten seine Eigenschaften einzeln herzählen“ (ebd., 73). Auf die entscheidende Rolle des Kommunikationsverhaltens hatte aber auch schon die philosophische Charakteristik abgestellt. 82

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Künstler, keinen Zug unvollendet lassen“.89 Um so stärker ist Wilhelm von Humboldts anfangs zitiertes positives Urteil über Platner zu gewichten: Er ist neben Shakespeare90 und dem nicht namentlich genannten, aber deutlich genug skizzierten Goethe91 der einzige Charakter-Autor, der lobend erwähnt wird. Humboldts Wertschätzung galt dabei sowohl der „feinen Beobachtungsgabe“ als auch dem „philosophischen Scharfsinn“ Platners; also genau dem bezeichnenden Zusammenspiel von anthropologischer Menschenkenntnis und philosophischer Systematik. Ein solches Lob hätten die Philosophischen Aphorismen von einem Mann wie Wilhelm von Humboldt wohl ohne die „Karakteristik“ niemals erhalten. Der Beitrag beschäftigt sich mit Ernst Platners „Karakteristiken“, die im zweiten Buch des zweiten Teils der Philosophischen Aphorismen enthalten sind. Er untersucht ihr Verhältnis zur Gattungstradition der Charakteristik und geht dabei auf die griechische Antike (Theophrast, Charaktere), die französische Moralistik (La Bruyère, Caractères de Théophrast) und die deutsche Popularphilosophie (Gellerts Moralische Charaktere in seinen Moralischen Vorlesungen) ein. Platners eigener Beitrag zur Charakteristik in den Philosophischen Aphorismen wird ausführlich nachgezeichnet und analysiert. Dabei zeigt sich, daß Platner zwar eine Vielzahl von Gattungstraditionen aufgreift. Die Charakteristiken erfahren jedoch insgesamt durch ihre Einbindung in die Systematik der gesamten Moralphilosophie eine Vertiefung bezüglich ihrer historischen und anthropologischen Differenziertheit und eine Erweiterung bezüglich ihres systematischen Erkenntniswerts. Theoretische Morallehre und praktische Menschenkenntnis bzw. die ihnen zugehörigen Formen von abstrakten Lehrsätzen („Aphorismen“) und anschaulichen „Schilderungen“ werfen hier ein wechselseitiges Licht aufeinander. Abschließend wird die Charakteristik Platners gegen das Kantische Konzept in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht abgegrenzt sowie ihr Bezug zur Literatur der Zeit skizziert. The study takes a close look at Ernst Platner’s „Karakteristiken“ which are contained in the second book of the second part of the Philosophische Aphorismen. It analyses their relation to the history of the genre characteristics in general, starting with the ancient greek writer Theophrast (Characters), followed by French moralists like La Bruyère (Caractères de Théophrast) and the German popular philosophy (Gellert’s Moralische Charaktere in his Moralische Vorlesungen). Nevertheless, the survey emphasises Platners own contribution to the genre of characteristics based on his Philosophische Aphorismen. It becomes evident that Platner takes up a multitude of genre traditions. His characteristics on the whole

89 90 91

Ebd., 53. Vgl. ebd. Vgl. ebd., 54.

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show enrichment and enlargement at the same time. First, because of their special position in the system of moral philosophy they stand for enrichment of historical and anthropological differentiation. Second, Platners „Karakteritiken” show an enlargement of insight in general: Theoretical „Morallehre” and practical knowledge of human nature are corresponding with each other, especially the forms of abstract theorems („aphorism”) and the illustrative „Schilderungen”. Finally the analysis differentiates between Platner’s „Karakteristiken” and Kant’s concept of an Anthropologie in pragmatischer Hinsicht and shows some relations between literature and characteristics. PD Dr. Jutta Heinz, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Institut für germanistische Literaturwissenschaft, Fürstengraben 18, 07743 Jena, E-Mail: [email protected]

M ICHAEL A N SE L Ernst Platner und die Popularphilosophie1

Das Thema meines Aufsatzes setzt zwei relativ unbekannte Größen in Korrelation zueinander. Was Popularphilosophie ist, weiß man immer noch nicht so genau, obwohl in den letzten zwanzig Jahren einige aufschlußreiche Studien und Untersuchungen darüber erschienen sind. Dennoch ist die Forschungslandschaft zur Popularphilosophie nicht allzu üppig – dies ist eine geradezu topische Formulierung unter jenen Philosophiehistorikern, die sich zu Recht nicht mit dem Umstand abfinden wollen, daß die zwischen dem Wolffschen Rationalismus bzw. Thomasius einerseits und dem mit Kant beginnenden Deutschen Idealismus andererseits anzusiedelnde Philosophie des 18. Jahrhunderts nach wie vor viel zu wenig Beachtung erfährt. Wie Platner im Kontext jener aufklärerischen Philosophie einzuordnen und wie sein vielgestaltiges philosophisches Werk zu beurteilen ist, kann ebenfalls nicht im Mindesten als geklärt gelten. Eine eigenständige Platner-Forschung gibt es – von vereinzelten Ansätzen abgesehen – noch weniger als eine Popularphilosophie-Forschung. Konkret bedeutet das, daß ich mit zwei nicht sonderlich bekannten Größen hantieren muß. Man wird also von den folgenden Ausführungen in Anbetracht ihrer doppelt unzureichenden Ausgangslage wenig gesicherte Ergebnisse, sondern primär einen vorläufigen, problemorientierten Aufriß des Verhältnisses von Platner zur Popularphilosophie erwarten können. Ich will den angekündigten Sondierungsversuch mit seiner bescheidenen Zielsetzung in drei Schritten angehen. Erstens gebe ich einen kurzen Abriß dessen, was hier unter Popularphilosophie verstanden wird. Dabei suche ich eine idealtypische Annäherung an diesen Gegenstand, sofern man den Idealtypus eines wissenschaftlich gar nicht hinreichend erschlossenen Gegenstands überhaupt bestimmen kann. Ich werde also bei der Begriffsbestimmung der Popularphilosophie in chronologischer oder räumlicher Hinsicht kaum differenzieren, weil dies für meine allgemeine Fragestellung weder notwendig noch Ich danke Gideon Stiening herzlich für philosophiegeschichtliche Hinweise und weiterführende Anregungen. 1

Aufklärung 19 · © Felix Meiner Verlag 2007 · ISSN 0178-7128

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hilfreich ist. Zweitens werde ich mich auf die Suche nach popularphilosophischen Schriften oder popularphilosophischen Elementen in Platners Werk machen. Was läßt sich mit dem im ersten Untersuchungsschritt Erarbeiteten konstruktiv in Beziehung setzen und was nicht? Drittens schließlich bilanziere und kommentiere ich meine Darlegungen und formuliere einige einschlägige Forschungsdesiderate. I. Popularphilosophie Helmut Holzhey definiert Popularphilosophie „als historiographische Bezeichnung einer philosophischen Richtung der deutschen Aufklärung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts“.2 Im folgenden ist im Sinne dieser wertneutralen, deskriptiv-ideengeschichtlichen Begriffsbestimmung von Popularphilosophie die Rede. Sie ist von einer polemischen, durch Karl Leonhard Reinhold inaugurierten und „populär“ als Synonym für „seicht“ und „trivial“ verwendenden Schlagwortbildung abzugrenzen. Die Blütezeit der Popularphilosophie wird im allgemeinen zwischen 1750 und 1790 angesetzt. Als Eckpunkte werden meiH[elmut] Holzhey, [Art.] Popularphilosophie, in: Joachim Ritter, Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7: P–Q, Basel 1989, Sp. 1093–1100, hier 1093. Des weiteren einschlägig sind H. H., Der Philosoph für die Welt – eine Chimäre der deutschen Aufklärung?, in: H. H., Walther Ch. Zimmerli (Hg.), Esoterik und Exoterik der Philosophie. Beiträge zu Geschichte und Sinn philosophischer Selbstbestimmung, Basel, Stuttgart 1977, 117–138; Walther Ch. Zimmerli, Arbeitsteilige Philosophie? Gedanken zur Teil-Rehabilitierung der Popularphilosophie, in: Hermann Lübbe (Hg.), Wozu Philosophie? Stellungnahmen eines Arbeitskreises, Berlin, New York 1978, 181–212; Gert Ueding, Popularphilosophie, in: Rolf Grimminger (Hg.), Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution 1680–1789, München, Wien 1980 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 3), 605–634 und 902–906; Werner Schneiders, Zwischen Welt und Weisheit. Zur Verweltlichung der Philosophie in der frühen Moderne, in: Studia Leibnitiana 15 (1983), 2–18; W. Sch., Der Philosophiebegriff des philosophischen Zeitalters. Wandlungen im Selbstverständnis der Philosophie von Leibniz bis Kant, in: Rudolf Vierhaus (Hg.), Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung, Göttingen 1985, 58–92; Doris BachmannMedick, Die ästhetische Ordnung des Handelns. Moralphilosophie und Ästhetik in der Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1989; Zwi Batscha, „Despotismus von jeder Art reizt zur Widersetzlichkeit“. Die Französische Revolution in der deutschen Popularphilosophie, Frankfurt am Main 1989; Wolfgang Riedel, Einleitung: Weltweisheit als Menschenlehre. Das philosophische Profil von Schillers Lehrer Abel, in: Jacob Friedrich Abel. Eine Quellenedition zum Philosophieunterricht an der Stuttgarter Karlsschule (1773–1782). Mit Einleitung, Übersetzung, Kommentar und Bibliographie, hg. von W. R., Würzburg 1995, 375–450; Werner Schneiders, [Art.] Popularphilosophie, in: W. Sch. (Hg.), Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa, München 1995, 324–326; Wolfgang Riedel, Schiller und die popularphilosophische Tradition, in: Helmut Koopmann (Hg.), Schiller-Handbuch, Stuttgart 1998, 155–166; Christoph Böhr, Philosophie für die Welt. Die Popularphilosophie der deutschen Spätaufklärung im Zeitalter Kants, Stuttgart-Bad Cannstatt 2003 (Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung. II: Monographien, 17). 2

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stens Johann August Ernestis Rede De philosophia populari prolusio (1754) und der in den 1780er Jahren ausgebrochene Streit über Kants Transzendentalphilosophie angesetzt. Da viele popularphilosophische Schriften bis 1800, ja sogar darüber hinaus erschienen sind, scheint es angebracht, von einer Verbreitung und Wirksamkeit der Popularphilosophie bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts auszugehen. Christoph Böhr betont jedenfalls, daß erst mit Johann Christoph Greilings seit 1795 erscheinenden Schriften „die Diskussion über eine Theorie popularer Philosophie“ ihren Höhepunkt erreicht.3 Ideengeschichtlich ist allerdings klar, daß die Popularphilosophie sich gegen Wolffs systematischen, deduktiven Rationalismus wandte und von der durch Kants Werk eingeleiteten Philosophie des Deutschen Idealismus abgelöst wurde. Eine überzeugende, hinreichend distinkte Abgrenzung der Popularphilosophie von anderen zeitgleichen Formen des Philosophierens ist der Forschung bislang nicht gelungen. Man weiß zwar, was sie nicht war und nicht sein wollte, tut sich aber bei der Bestimmung ihrer positiven Merkmale schwer: „Je nachdem, welche Definition von Popularphilosophie man voraussetzt [...], kann man fast die ganze deutsche Philosophie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als Popularphilosophie charakterisieren“.4 Aus ideengeschichtlicher Perspektive gibt es mindestens drei Gründe, weshalb sie sich einer definitorischen Erfassung so schwer fügt: Da sie erstens der rationalistischen Schulphilosophie Leibniz-Wolffscher Provenienz trotz deren expliziter Ablehnung in grundlegender epistemologischer Hinsicht verhaftet bleibt, läßt sie sich kaum trennscharf davon scheiden. Insofern sie zweitens einen prinzipiell bejahten Eklektizismus praktiziert, tritt sie in vielfältiger und rasch wandelbarer Gestalt in Erscheinung und entzieht sich so einer eingängigen Klassifizierung. Und da drittens die philosophischen Innovationen vor der Entstehung des Deutschen Idealismus von ihr und nicht von der akademischen Philosophie ihrer Zeit ausgegangen sind, wird sie trotz ihrer bisherigen unzureichenden Erforschung in der allgemeinen, vorrangig auf epochentypische Originalität fixierten philosophie- bzw. literaturgeschichtlichen Wahrnehmung kurzerhand mit der gesamten Ideengeschichte der mittleren und späten Aufklärung gleichgesetzt. Aus diesem Grund ist das Bewußtsein der auch aus synchroner Perspektive gebotenen Notwendigkeit ihrer begrifflichen Eingrenzung als partielle Richtung der aufklärerischen Philosophie offenbar nur schwach ausgeprägt. Die Popularphilosophie hat vielfältige ideen- und wissenschaftsgeschichtliche Wurzeln bzw. Voraussetzungen. Als säkulare Denkströmung profitierte sie zunächst vom rasch erodierenden Deutungsmonopol der Theologie und brachte dies in ihrer selbstgewählten, die paulinische Denunzierung des unnützen Wis3 4

Böhr, Philosophie für die Welt (wie Anm. 2), 139. Schneiders, Zwischen Welt und Weltweisheit (wie Anm. 2), 16.

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sens von dieser Welt bewußt unterlaufenden Bezeichnung als Weltweisheit zumindest indirekt zum Ausdruck. Des weiteren begünstigte der Autoritätsverlust des dogmatischen Rationalismus der Wolff-Schule die verstärkte Auseinandersetzung mit dem englischen Empirismus und dem französischen Sensualismus bzw. Materialismus, deren Lösungskompetenz als alternative Erklärungsmodelle für prinzipielle philosophische Fragen einer unvoreingenommenen Prüfung unterzogen werden sollte. Dennoch griff die sich als erfahrungsfundierte Wissenschaft begreifende Popularphilosophie auf die aus der empirischen Psychologie Wolffs selbst stammende Aisthesis als Lehre von der sinnlichen Erkenntnis und deren Aufwertung der unteren Erkenntnisvermögen zurück.5 In dieselbe Richtung zielte ihre maßgebliche Beteiligung am Anthropologiediskurs seit den 1750er Jahren, der den Menschen als einheitliches, aus Körper und Geist bestehendes Lebewesen zu begreifen suchte und daher bestrebt war, die menschliche Physis im Gegensatz zu ihrer früheren philosophischen Vernachlässigung in jeder Hinsicht aufzuwerten und ihren Einklang mit dem Geist zu bestimmen. Auch die Anerkennung der grundlegenden Bedeutung der durch Francis Bacon (1561–1626) begründeten neuzeitlichen Naturwissenschaft und ihres Methodenideals der Beobachtung und des Experiments trug zur Etablierung der Popularphilosophie als einer an der Integration der Erfahrungswirklichkeit interessierten Denkströmung bei. Schließlich konnte sie auf die in der Mitte des 18. Jahrhunderts zwar nicht mehr ungebrochene, aber durchaus noch präsente Thomasius-Tradition und deren Philosophieverständnis als antischolastische und praktische Weltweisheit zurückgreifen. Die Popularphilosophie verstand sich als Philosophie für „alle“ mit einer ausdrücklich betonten lebenspraktischen Wirkungsabsicht. Faktisch richtete sie sich natürlich nicht an alle, sondern an jene mittelständischen Schichten, die im Zuge der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft im Verlauf des 18. Jahrhunderts entstanden. Der expandierende Buchmarkt seit den 1750er Jahren reagierte auf die Ausbreitung eines laienhaften, jenseits der traditionellen Gelehrten anzusiedelnden Lesepublikums, das die Moralischen Wochenschriften und später dann die Zeitschriften der Aufklärung rezipierte und sich in Lesegesellschaften zusammenfand. Die Hinwendung zu diesem Laienpublikum, das den wichtigsten Adressaten der Popularphilosophie bildete, verlangte Norbert Hinske, Wolffs empirische Psychologie und Kants pragmatische Anthropologie. Zur Diskussion über die Anfänge der Anthropologie im 18. Jahrhundert, in: Aufklärung 11/1 (1999), 97–107. Hinske bezeichnet Wolff unumwunden als den „Urheber der empirischen Psychologie [...] Es ist kein Zweifel, daß der Weg, den die Psychologie als Erfahrungswissenschaft genommen hat, tiefgreifend von Wolff bestimmt worden ist“ (S. 97). Vgl. Oliver-Pierre Rudolph, JeanFrançois Goubet (Hg.), Die Psychologie Christian Wolffs. Systematische und historische Untersuchungen, Tübingen 2004 (Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung, 22). 5

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eine klare und allgemeinverständliche, sich nach Möglichkeit illustrierender Beispiele bedienender Schreibweise in deutscher Sprache. An die Stelle streng logischer, mathematisch-geometrischer Deduktionen im Sinne des dogmatischen Wolffianismus, deren begrifflicher Aufwand in einem zunehmenden Mißverhältnis zu ihrem philosophischen Ertrag stand, traten lockerere Darstellungstechniken, die Assoziationsspielräume der Rezipienten bewußt einkalkulierten und nicht mehr auf metaphysische Beweisgründe, sondern auf lebenspraktische Evidenz und den sogenannten gesunden Menschenverstand zurückgingen. Man schrieb kurze Aufsätze und Essays, Betrachtungen, Briefe und Dialoge, die in einer flüssigen und eloquenten, dem Geschmack als ästhetischer Zentralkategorie des 18. Jahrhunderts verpflichteten Diktion verfaßt sind und Unterhaltungswert besitzen sollten.6 Diese kleinen, sich ansprechender Darstellungsmittel bedienenden Prosaformen wurden in einem ihren Zielsetzungen entsprechenden medialen Umfeld (erst)veröffentlicht: Sie erschienen in (kleinformatigen) Zeitschriften und Taschenbüchern, die oftmals einen eleganten Satzspiegel und eine gehobene Ausstattung aufweisen und insofern eine kalkulierte Kontrastfolie gegen die verspotteten dickleibigen Folianten der schulphilosophischen Gelehrsamkeit bildeten. Auch für später zusammengestellte Aufsatzsammlungen oder Buchpublikationen popularphilosophischer Autoren wurden meist kleine Formate mit anspruchsvollem Drucksatz gewählt. Auf den Adressatenkreis waren aber nicht nur die Textgattungen, Darstellungsmittel und Medien, sondern auch die bevorzugten Untersuchungsmethoden und Themen popularphilosophischer Reflexion ausgerichtet. Man befleißigte sich eines um Gegenstandsnähe bemühten Eklektizismus,7 der seine Objekte nicht von den Anfangsgründen der Weltweisheit herleiten, sondern vergleichsweise direkt in den Blick nehmen sollte. Im Mittelpunkt des Interesses standen Fragen der diesseitigen Lebensorientierung und die Propagierung einer säkularen Moral. Es ging um die Verbreitung einer nützlichen Menschenund Weltkenntnis, um die Bekämpfung von Aberglauben und Ignoranz und um die Popularisierung praktischen Wissens, das nicht in schulphilosophischsystematischen Zusammenhängen, sondern nach Maßgabe der ihm eigenen Evidenz erörtert wurde. Behandelt wurde eine große Bandbreite von Themen aus den Bereichen der Literatur, Kunst und Ästhetik, Psychologie und Medizin, Ethik und Religion, Gesellschaft und Politik, der Moden und des Konsums. Vgl. Giulia Cantarutti, Zu den großen Zusammenhängen der Kleinen Prosa, in: Thomas Althaus, Wolfgang Bunzel, Dirk Göttsche (Hg.), Kleine Prosa. Theorie und Geschichte eines Textfeldes im Literatursystem der Moderne, Tübingen 2007, 25–44, hier 30–38. 7 Helmut Holzhey, Philosophie als Eklektik, in: Studia Leibnitiana 15 (1983), 19–29; Michael Albrecht, Eklektik. Eine Begriffsgeschichte mit Hinweisen auf die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte, Stuttgart-Bad Cannstatt 1994 (Quaestiones. Themen und Gestalten der Philosophie, 5). 6

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Dabei scheint es Forschungskonsens zur Popularphilosophie zu sein, daß das Verhältnis zwischen der eben angesprochenen Darstellungstechnik und der mittels ihrer behandelten Themen uneinheitlich bestimmt wurde. Einerseits gab es Popularphilosophen, die ihr Werk thematisch eingrenzten, indem sie es wie die Göttinger Autoren Johann Georg Heinrich Feder (1740–1821), Christoph Meiners (1747–1811) und Michael Hissmann (1752–1784) der Instanz des normalen Menschenverstands unterordneten und nur auf der Basis einer „empirischen“, der Erfahrung zugänglichen Psychologie begründeten. Ihnen standen andere Denker wie beispielsweise Christian Garve (1742-1798) gegenüber, die allein die Behandlungsart, also den Modus der allgemeinverständlichen, an Laien ausgerichteten Darstellung, für das wesentliche Charakteristikum ihres Metiers erklärten und von der Annahme ausgingen, daß grundsätzlich alle philosophischen Materien der popularphilosophischen Behandlung offen stünden. Diese offensive, den uneingeschränkten Geltungsbereich ihrer Reflexionsarbeit reklamierende Fraktion sah darüber hinaus das höchste Ziel jeder Philosophie darin, sich zur allgemeinverständlichen, gesellschaftliche Wirksamkeit entfaltenden Popularphilosophie zu entwickeln. Die Popularphilosophie kann insbesondere an den beiden Zentren Berlin8 und Göttingen9 lokalisiert werden, die jedoch keine in sich geschlossenen Diskursgemeinschaften bildeten, sondern in vielfältigem Austausch miteinander standen. Während die eben genannten Göttinger Autoren Universitätsprofessoren waren, dominierten in Berlin Vertreter des aufgeklärten preußischen Beamtenapparats, die, einschließlich des dort ebenfalls anzutreffenden Typus des freien bzw. nicht (mehr) vom Staat alimentierten Schriftstellers – man denke an Johann Georg Sulzer oder Moses Mendelssohn –, in die Formen der gelehrten Kommunikation eingebunden waren. In institutionen- bzw. mediengeschichtlicher Hinsicht waren für die Berliner Popularphilosophen die 1783 gegründete Mittwochsgesellschaft, Friedrich Nicolais Zeitschriften und die von Johann Erich Biester und Friedrich Gedike herausgegebene Berlinische Monatsschrift wichtig. Damit werden allerdings Fragen zur Autorentypologie und Wissensorganisation angeschnitten, die in der Forschung noch nicht einmal ansatzweise behandelt worden sind. Hinzuweisen ist hier jedoch auf den grundsätzlichen Was ist Aufklärung? Beiträge aus der Berlinischen Monatsschrift. In Zusammenarbeit mit Michael Albrecht ausgewählt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Norbert Hinske, Darmstadt 31981; Yvonne Wübben, Von ‘Geistersehern’ und ‘Proselyten’. Zum politischen Kontext einer Kontroverse in der Berlinischen Monatsschrift (1783–1789), in: Ursula Goldenbaum, Alexander Košenina (Hg.), Berliner Aufklärung. Kulturwissenschaftliche Studien, Bd. 2, Hannover-Laatzen 2003, 189–220. 9 Walter Ch. Zimmerli, „Schwere Rüstung“ des Dogmatismus und „anwendbare Eklektik“. J. G. H. Feder und die Göttinger Philosophie im ausgehenden 18. Jahrhundert, in: Studia Leibnitiana 15 (1983), 58–71. 8

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Sachverhalt, daß Walter Ch. Zimmerlis Ausgrenzung der „eher als popularisierende Schulphilosophen“ zu bezeichnenden Göttinger Denker aus dem Kontext der Popularphilosophie sich weder durchsetzen konnte noch sachlich gerechtfertigt ist. Zimmerlis arbeitsteiliges Konzept beruht auf falschen philosophiehistorischen Prämissen und verkennt den für die Einschätzung der Popularphilosophie prinzipiell relevanten Sachverhalt, daß der heute geläufige, auch von ihm verwendete Begriff der Popularisierung eine professionalisierte Wissenschaftslandschaft voraussetzt, die mit dem schlichtweg alle Wissensgebiete umfassenden, klare epistemologische Hierarchien definierenden und ständestaatlich fundierten Wolffschen Rationalismus nicht einmal ansatzweise verwirklicht war.10

II. Platners Werk im Kontext der Popularphilosophie Angesichts der eingangs zitierten Feststellung von Schneiders, je nach Definition könne man fast die gesamte Philosophie der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als Popularphilosophie begreifen, verwundert es nicht, daß Ernst Platner in einigen einschlägigen Arbeiten explizit als Popularphilosoph bezeichnet wird.11 Diese Einschätzung kann auch auf den bereits erwähnten 10 Die Problematik liegt für Zimmerli, Arbeitsteilige Philosophie (wie Anm. 2), 204 f., „in der Abtrennung der popularphilosophischen Entwicklung von der Fach- oder Schulphilosophie, und zwar in beiden Hinsichten, nicht nur so, daß die abgetrennte Popularphilosophie sich nicht auf Ergebnisse der Fachphilosophie deduktiv stützen konnte, sondern auch umgekehrt so, daß die Fachphilosophie selbst, von ihrer lebensweltlichen Basis abgeschnitten, trocken und steril werden mußte“. Gegen diese Diagnose ist einzuwenden, daß sich alle Varianten der Popularphilosophie trotz ihrer empiristischen Importe durchaus letztlich auf die rationalistische Metaphysik gestützt haben und daß die Gründe für den Niedergang der Schulphilosophie nicht in deren mangelnder lebensweltlicher Verankerung, sondern in deren veraltender, mit Professionalisierungstendenzen grundsätzlich unvereinbarer Episteme zu suchen sind. – Zur Professionalisierungsthematik vgl. Rudolf Stichweh, Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Physik in Deutschland 1740–1890, Frankfurt am Main 1984; R. St., Wissenschaft, Universität, Professionen. Soziologische Analysen, Frankfurt am Main 1994. Wichtige Forschungsergebnisse zum nach wie vor unzureichend geklärten Popularisierungsphänomen referiert Carsten Kretschmann, Einleitung: Wissenspopularisierung – ein altes, neues Forschungsfeld, in: C. Kr. (Hg.), Wissenspopularisierung. Konzepte der Wissensverbreitung im Wandel, Berlin 2003, 7–21. 11 Giulia Cantarutti, Moralistik, Anthropologie und Etikettenschwindel. Überlegungen aus Anlaß eines Urteils über Platners „Philosophische Aphorismen“, in: G. C., Hans Schumacher (Hg.), Neuere Studien zur Aphoristik und Essayistik. Mit einer Handvoll zeitgenössischer Aphorismen, Frankfurt am Main u.a. 1986 (Berliner Beiträge zur neueren deutschen Literaturgeschichte, 9), 49–103, hier 64 und 86; Gerhard Sauder, Popularphilosophie und Kant-Exegese: Daniel Jenisch, in: Christoph Jamme, Gerhard Kurz (Hg.), Idealismus und Aufklärung. Kontinuität und Kritik der Aufklärung in Philosophie und Poesie um 1800, Stuttgart 1988 (Deutscher Idealismus, 14), 162– 178, hier 163; Manfred Kühn, Kant. Eine Biographie. Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer, München 2003, hier 406.

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Umstand zurückgeführt werden, daß eine Platner-Forschung allenfalls in Ansätzen existiert. Platner taucht beiläufig in einigen literaturgeschichtlichen Monographien auf, in denen es weniger um sein Werk selbst als vorrangig um seinen Einfluß auf andere Autoren oder übergreifende Epochenphänomene geht.12 Doch selbst jene seit etwa 20 Jahren vorgelegen Untersuchungen, die sich ausführlich(er) mit Platner beschäftigen, sind – dem derzeitigen Forschungstrend folgend – ausschließlich anthropologischen Erkenntnisinteressen gewidmet und schweigen sich über die grundsätzliche Frage nach Platners philosophiegeschichtlicher Position weitgehend aus.13 Angesichts dieser Forschungslage ist die Vermutung nicht abwegig, daß sich Platners Einschätzung als Philosoph wohl unterschwellig auf ein Reflexionsniveau stützt, das bereits im späten 18. bzw. frühen 19. Jahrhundert grundgelegt wurde. Von wirkungsgeschichtlicher Relevanz sind hier Reinholds Rezension der Neuausgabe der Philosophischen Aphorismen (1794) und Schillers bzw. Goethes Xenien (1797), in denen übereinstimmend auf der Basis eines elitären Philosophiebzw. Literaturverständnisses Platner der Oberflächlichkeit und Gefallsucht

So z.B. – um nur einige neuere Publikationen zu nennen – bei Helmut Pfotenhauer, Literarische Anthropologie. Selbstbiographien und ihre Geschichte – am Leitfaden des Leibes, Stuttgart 1987 (Germanistische Abhandlungen, 62); Alexander Košenina, Anthropologie und Schauspielkunst. Studien zur ‘eloquentia corporis’ im 18. Jahrhundert, Tübingen 1995 (Theatron, 11); Carsten Zelle (Hg.), „Vernünftige Ärzte“. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung, Tübingen 2001 (Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung, 19); Carl Niekerk, Zwischen Naturgeschichte und Anthropologie. Lichtenberg im Kontext der Spätaufklärung, Tübingen 2005 (Studien zur deutschen Literatur, 176). 13 Rolf Kocher, Die Forensik in Leipzig um die Wende zum 19. Jahrhundert. Ernst Platner und sein Werk, (Diss. masch.) Bern 1985; Harald Schöndorf, Der Leib und sein Verhältnis zur Seele bei Ernst Platner, in: Theologie und Philosophie 60 (1985), 77–87; Alexander Košenina, Ernst Platners Anthropologie und Philosophie. Der ‘philosophische Arzt’ und seine Wirkung auf Johann Karl Wezel und Jean Paul, Würzburg 1989 (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft, 35); A. K., Nachwort, in: Ernst Platner. Anthropologie für Ärzte und Weltweise. Erster Teil [mehr nicht erschienen]. Mit einem Nachwort von A. K., Leipzig 1772 (Nachdruck Hildesheim u.a. 2000), 303–313; Temilo van Zantwijk, Psychologie oder Psychagogie? Die menschliche Seele in der angewandten Philosophie Platners und Fichtes, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 27 (2002), 49–65; Hans-Peter Nowitzki, Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien im Widerstreit, Berlin, New York 2003 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, 25 [259]); Ernst Stöckmann, Phänomenologie der Empfindungen – Kultivierung des Gefühlsvermögens. Aspekte der anthropologischen Empfindungstheorie der deutschen Spätaufklärung am Beispiel von Platner und Irwing, in: Walter Schmitz, Carsten Zelle (Hg.), Innovation und Transfer. Naturwissenschaften, Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, Dresden 2004 (Aufklärungsforschung, 2), 75–96; Jean-François Goubet, Platner und Fichte: Von der medizinischen zur philosophischen Anthropologie, in: Katja Regenspurger, Temilo van Zantwijk (Hg.), Wissenschaftliche Anthropologie um 1800?, Stuttgart 2005, 70–85. 12

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geziehen wurde.14 Platner sei kein tiefer oder origineller Denker, sondern ein Philosoph für die Welt. Es ist verständlich, daß diese Urteile insbesondere innerhalb einer Philosophiegeschichtsschreibung überdauern konnten, deren Blickwinkel auf die Gipfelleistungen der Ideengeschichte fixiert blieb. Und es ist natürlich gleichfalls verständlich, daß diese Urteile nicht länger ungeprüft tradiert werden sollten. Allein die Gegnerschaft gegen Kant und die daraus resultierende, von Reinhold und – ihm folgend – von Schiller und Goethe praktizierte Diskreditierung Platners als popularitätsheischender Denker sind noch keine hinreichenden Kriterien für dessen Einordnung als Popularphilosoph. Es ist nun also zu fragen, welche weiteren, philosophiehistorisch relevanten Gründe für oder gegen eine solche Einordnung angeführt werden können. Wenn man Platners Werkverzeichnis betrachtet,15 dann fällt sofort eine große, ja eine bei weitem überwiegende Anzahl von Titeln auf, die nicht zur Popularphilosophie zu rechnen sind. Das sind zunächst alle in lateinischer Sprache verfaßten Arbeiten. Zwar ist diese Ausgrenzung insofern etwas schematisch, als es laut Böhr durchaus einige in Latein geschriebene Werke gibt, die dem Korpus popularphilosophischer Schriften zugezählt werden können – so zum Beispiel Johann August Ernestis bereits erwähnte Rede De philosophia populari prolusio. Wenn man aber Latein als neuzeitliche Gelehrtensprache begreift und wenn man weiterhin die zuvor betonte Ausrichtung der Popularphilosophie auf ein Laienpublikum bedenkt, dann wird man das Kriterium der Deutschsprachigkeit als einschlägiges Unterscheidungsmerkmal akzeptieren können. Zusätzliches Gewicht erhält dieses Kriterium im Fall Platners durch den Umstand, daß es sich bei den in lateinischer Sprache verfaßten Werken überwiegend um medizinische und forensische Schriften, also um fachwissenschaftliche Texte,16 handelt. Neben diesen schon numerisch dominierenden Texten nehmen sich die deutschsprachigen Titel relativ bescheiden aus. Ich nenne die wichtigsten von ihnen unter Auslassung der wenigen in deutscher Sprache vorgelegten fachmedizinischen Arbeiten und beziehe dabei auch die von Platner herausgegebenen und um eigene Beiträge ergänzten Titel ein: Briefe eines Arztes an seinen Freund über den menschlichen Körper (1770/71), Anthropologie für Aerzte und Weltweise (1772), eine Rezension von Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Wissenschaften (1773) in Nicolais Neuer Bibliothek der schönen Wissenschaften, in der drei Jahre später der Versuch über die Einseitigkeit des Stoischen und Epikureischen Systems in der Erklärung vom Ursprunge des Vergnügens (1776) vorgelegt wurde, Der Professor (1773), Philosophische 14 15 16

Vgl. Košenina, Ernst Platners Anthropologie (wie Anm. 13), 14 ff. Vgl. ebd., 137 ff. Vgl. hierzu die Beiträge von Simone de Angelis und Udo Roth in diesem Band.

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Aphorismen (1776/82), die jeweils überarbeitet 1784 in zweiter und 1793/1800 in dritter Auflage erschienen, Gespräche über die natürliche Religion von David Hume. Nebst einem Gespräch über den Atheismus (1781), Über den Atheismus. Ein Gespräch. Neue Ausgabe (1783), Neue Anthropologie für Aerzte und Weltweise (1790), Lehrbuch der Logik und Metaphysik (1795) und schließlich die nicht für die Öffentlichkeit bestimmten, sondern in Briefen an das dänische Prinzenpaar Friedrich Christian und Luise Augusta beigelegten Traktate Ueber die Kantische Philosophie, Ueber einige naturmäßige Vorzüge des weiblichen Geschlechts vor dem männlichen und Ueber Liebe, Ehe und Frauenschönheit (alle 1796). Diese Auflistung deutschsprachiger Titel kann man nun thematisch weiter untergliedern: Da gibt es Arbeiten, die medizinisches Wissen an nichtgelehrte und an gelehrte Nichtmediziner vermitteln sollen: Zu ersteren gehören die Briefe eines Arztes und zu letzteren die beiden Anthropologien. Daneben treten Arbeiten zur Ästhetik – so die Sulzer-Rezension – und Religionskritik, wie die von der Hume-Übersetzung Karl Gottfried Schreiters inspirierten Texte. Außerdem sind Platners Briefe bzw. Briefbeilagen an aristokratische Schüler(innen) zu berücksichtigen, die thematisch offenbar je nach Informationsbedürfnis der Adressaten ausgefallen sind. Das quantitativ und qualitativ dominierende Textkorpus wird jedoch von Kompendien gebildet, die dem philosophischen Universitätsvortrag zugrunde gelegt wurden. Hierzu zählen die als Platners philosophisches Hauptwerk zu bezeichnenden, im Verlauf eines Vierteljahrhunderts drei Auflagen erlebenden Philosophischen Aphorismen, die noch vom jungen Reinhold und von Fichte verwendet wurden, und das Lehrbuch der Logik und Metaphysik. Als Resultat dieser Bilanz kann man also festhalten, daß Platner kein Popularphilosoph gewesen zu sein scheint. Es fehlt seinem Werk sowohl in thematischer als auch in medialer, die bevorzugten Publikationsformen und -foren betreffender Hinsicht ein eindeutiger Schwerpunkt, der spezifisch popularphilosophische Konturen aufweist. Insofern ist Alexander Košeninas Befund plausibel, daß Platner im Gegensatz zu den bereits angeführten anderslautenden Urteilen „allgemein nicht zu den Popularphilosophen gezählt“ wird.17 Sollte man es bei dieser Feststellung belassen? Kann man zwischen Platner und der Popularphilosophie keinerlei Übereinstimmungen oder zumindest Affinitäten feststellen? Um das Verhältnis dieser beiden Größen doch etwas differenzierter bestimmen und vielleicht ein wenig zu deren wechselseitiger Erhellung beitragen zu können, möchte ich drei generelle Tendenzen der deutschen Philosophie seit etwa 1750 in Erinnerung rufen: Erstens war diese Philosophie trotz aller internen Differenzierungen zweifellos homogener als die 17

Košenina, Ernst Platners Anthropologie (wie Anm. 13), 23.

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philosophische Landschaft seit der Entstehung des Deutschen Idealismus. Deshalb mußte zweitens die Popularphilosophie mit der von ihr attackierten Schulphilosophie mehr Gemeinsamkeiten haben, als sie selbst zuzugeben bereit war. Dies bekundet sich hinsichtlich der uns interessierenden persönlichen Konstellationen in dem Umstand, daß Platner unter der Obhut seines Pflegevaters und Förderers Johann August Ernesti akademisch sozialisiert wurde und später enge Kontakte zu Johann Jakob Engel, Christian Garve18 und Friedrich Nicolai unterhielt. Von solchen Gemeinsamkeiten kann drittens deshalb ausgegangen werden, weil die feste, geradezu diskursprägende Verankerung der Popularphilosophie im Aufklärungsdenken der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unstrittig ist. Wendet man sich unter Berücksichtigung dieser Basisannahmen zu unserem Thema zurück, so wird man zumindest fragen können, welche allgemeinen Überschneidungen zwischen Platners Werk und der Popularphilosophie zu konstatieren sind. Ich möchte diese Frage mit einer etwas fadenscheinigen Begriffserschleichung einleiten: Ist Platner nicht ein Philosoph für die Welt gewesen? Also ein Denker, dessen ganzer Habitus auf die keineswegs auf universitätsinterne Kanäle beschränkte Vermittlung von Philosophie als Weltweisheit ausgerichtet war? Platners öffentliche Vorträge über Ästhetik, Moralphilosophie und Anthropologie in dem von Adam Friedrich Oeser gestalteten Saal, an denen – in einem angrenzenden Kabinett – selbst Damen teilnahmen, und Platners Eloquenz sowie weltmännisches Auftreten zeigen jedenfalls deutlich, daß man es in seinem Fall nicht mit einem pedantischen Schulfuchs, sondern mit einem an der Popularisierung seines Wissens interessierten Gelehrten zu tun hat. Möglicherweise lassen sich bei Platner noch Relikte der von Werner Schneiders diagnostizierten Hof- bzw. Damenphilosophie beobachten, die insbesondere ein Phänomen des 17. und frühen 18. Jahrhunderts war.19 Man denke an die Korrespondenzen von Descartes oder Leibniz mit exponierten Persönlichkeiten der europäischen Aristokratie. Dennoch muß man berücksichtigen, daß auch diese Hof- und Damenphilosophie von Popularisierungsabsichten geprägt war und daß Platners Publikum zur Mehrzahl eben nicht aus Adeligen, sondern aus Söhnen der aufstiegswilligen Mittelschichten bestand. Mit seinem Anliegen, jenseits fachmedizinischer Unterrichtsveranstaltungen lebenspraktisch relevante Philosophie für die Welt zu lehren, in eklektizistischer Manier auf die hierfür geeigneten Themen zurückzugreifen und zugleich offensiv auf einen nichtge18 Alexander Košenina, „Briefe eines Arztes an seinen Freund“. Zwei ungedruckte Briefe Ernst Platners an Christian Garve, in: Jahrbuch der schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 31 (1990), 141–151. 19 Schneiders, Zwischen Welt und Weisheit (wie Anm. 2), 10–12; Werner Schneiders, Das philosophische Frauenzimmer. Ein Essay, in: Tradition und Emanzipation. Katalog der Ausstellung von Claude Weber und Frank Grunert, Luxembourg 1991, 50–94.

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lehrten Adressatenkreis zuzugehen, teilt Platner einen wichtigen Grundzug der Popularphilosophie. Mit seinem Geburtsdatum (1744) wäre Platner geradezu zum Popularphilosophen prädestiniert gewesen. Zeitnah mit ihm wurden drei der wichtigsten Popularphilosophen geboren – nämlich Johann Georg Heinrich Feder 1740, Johann Jakob Engel 1741 und Christian Garve 1742. Möglicherweise kann man eine Generation der in den 1730/40er Jahren geborenen Philosophen definieren, die den Weg zur Popularphilosophie gefunden haben und in ihrem dritten Lebensjahrzehnt zu publizieren begannen.20 Chronologisch würde Platner in diesen Personenkreis problemlos hineinpassen. So klingt es plausibel, daß Košenina trotz seiner eben erwähnten, zustimmend hervorgehobenen Abgrenzung Platners von der Popularphilosophie dessen gegen 1773 anonym vorgelegte Abhandlung Der Professor als „eine deutlich durch die Popularphilosophie geprägte Frühschrift“ bezeichnet.21 Platners Verfasserschaft dieser Abhandlung ist allerdings nicht gesichert. Wenn dort laut Košenina gegen die weltfremde, nutzlose Kathederweisheit polemisiert und statt dessen eine erfahrungswissenschaftlich und anthropologisch fundierte, auf die Bedürfnisse des Menschen und seine konkrete Lebensrealität zugeschnittene Philosophie postuliert wird und wenn es dort emphatisch heißt, daß „der Endzweck unseres Studirens der Mensch“ ist, so sind diese Ausführungen einschließlich der Erwähnung „unsers Ernesti“ gängige Argumente im Kontext der (Leipziger) Aufklärung, die keineswegs zwingend auf Platner verweisen.22 Dennoch ist Košeninas Hinweis im Rahmen der hier angesprochenen Generationenproblematik interessant, wenn man ihn mit anderen Textbeobachtungen in Beziehung setzt. Am 25. November 1772 schreibt Platner an Christian Garve: Wäre ich doch ein Professor! Wie viel unnützes Zeug muß ich nicht lernen um es lesen zu können. Und lese ich es nicht so bin ich kein Professor – ich rede von der Medicin. Es kann seyn daß ich ein gelehrter Mann werde. Aber da bin ich was rechts [...] Hätte mich doch frühzeitig ein Mann wie Sie, vor der gleißenden Thorheit der Universitäten Aus diesem Raster herausfallen würden Johann Georg Sulzer (1720–1779), Johann Bernhard Basedow (1723–1790), Johann Georg Zimmermann (1728–1795) und Moses Mendelssohn (1729–1786) einerseits sowie Michael Hissman (1752–1784) und Daniel Jenisch (1762–1804) andererseits. Ebenfalls mit dem Generationenkonzept arbeitet Schneiders, Der Philosophiebegriff (wie Anm. 2), 60, der von der „zweite[n], wesentlich popularphilosophische[n] Phase der Hochaufklärung oder: [der] Generation von Meier, Mendelssohn und anderen“ spricht. Mit diesen beiden Namen wird die Geburtszeitspanne der popularphilosophischen Generation allerdings zu früh angesetzt. 21 Košenina, Ernst Platners Anthropologie (wie Anm. 13), 24. 22 Auch die weiteren, von Košenina, ebd., 24 f., angeführten Argumente können Platners Autorschaft bestenfalls plausibilisieren, aber nicht definitiv belegen. Die obigen Zitate aus der in Rede stehenden Abhandlung finden sich ebd., 25, Anm. 58. 20

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gewarnt. Itzt weis ich alles. Ein praktischer Arzt und ein Philosoph hätte ich werden sollen. Itzt bin ich ordentlich ein Mauerluchs. Von außen halte ich es noch mit der Gelehrsamkeit halbwegs, und neuerlich bin ich ihr gram. Zum Reformator der verdienstlosen Gelehrsamkeit hätte ich vielleicht Lust, aber nicht das Herz – und zum Professor habe ich vielleicht einiges Geschick. Aber die Medicin, die Universitäten, die Lehrlinge –, und ein Professor, alles das müßte etwas ganz andres seyn wenn ich recht Lust dazu haben sollte [...] Jetzt bin ich ein wahrer medicinischer Scherztreiber. Das ist vielleicht ein gutes Zeichen.23

Das von karrierestrategischen Überlegungen motivierte Schwanken des seit zwei Jahren als außerordentlicher Professor der Medizin amtierenden Platner zwischen universitärer Schulgelehrsamkeit und praktischer Medizin bzw. Philosophie wurde wohl durch Garves kurz zuvor vollzogenen freiwilligen Rückzug von dessen Leipziger Professur veranlaßt. Daß hier trotz aller zweifellos mitschwingenden Koketterie kein beiläufiges, sich nur einer augenblicklichen Stimmung verdankendes, sondern ein die Briefpartner öfters beschäftigendes Thema zur Sprache kam, wird aus einem Brief an Garve vom 29. Dezember 1772 ersichtlich, in dem Georg Joachim Zollikofers dem Adressaten mitteilt, Platner sei verwundert über den Umstand, „daß Sie in Ihren Briefen an ihn der Gelehrsamkeit vor dem philosophischen Denken wieder den Vorzug zu geben scheinen, und ihn zur Treibung der erstern aufmuntern“.24 Der junge Platner hat offenbar mit dem Gedanken einer außeruniversitären Karriere als philosophischer Arzt und Popularphilosoph gespielt, wie sie von seinen Zeitgenossen Johann August Unzer (1727–1799)25 oder Melchior Adam Weikard (1742– 1803) eingeschlagen wurde. Diese Annahme erhält zusätzliches Gewicht durch den Umstand, daß alle seine einschränkungslos dem Textkorpus popularphilosophischer Arbeiten zuordbaren Publikationen in der gut zehn Jahre umfassenden Zeitspanne bis kurz nach seiner Berufung zum ordentlichen Professor für Physiologie im Jahr 1780 vorgelegt worden sind: Als letzte, hier einschlägige Veröffentlichung ist das bereits als Neuausgabe einer zwei Jahre älteren Veröffentlichung firmierende Gespräch Über den Atheismus (1783) zu nennen. Wenn Platner aber noch nach seiner Ernennung zum Extraordinarius für Medizin die durchaus realistische Option einer Laufbahn als popularphilosophischer, den freien literarischen Markt bedienender Schriftsteller in Erwägung Zitiert nach Košenina, Briefe eines Arztes (wie Anm. 18), 151. Košenina kommentiert diese Ausführungen mit den Worten, sie hätten „große Ähnlichkeit zu [Platners] Schrift mit dem Titel ‘Der Professor’ (151, Anm. 42). 24 Zitiert nach Košenina, Briefe eines Arztes (wie Anm. 18), 145 (dortige Transkriptionsfehler wurden gemäß der Zitatvorlage korrigiert). 25 Matthias Reiber, Anatomie eines Bestsellers. Johann August Unzers Wochenschrift „Der Arzt“ (1759–1764), Göttingen 1999 (Das achtzehnte Jahrhundert. Supplementa, 8); M. R., Johann August Unzers Wochenschrift Der Arzt (1759–1764). Oder: Wie man das Wissen vom Menschen mit Erfolg verbreitet, in: Zelle, Vernünftige Ärzte (wie Anm. 12), 186–199. 23

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ziehen konnte, so verweist dieser Sachverhalt auch aus institutionengeschichtlicher Perspektive auf die relative Nähe und Durchlässigkeit zwischen der Universitätsphilosophie und dem Wissen für die Welt, die auch im Fall der an der Göttinger Reformuniversität verankerten Popularphilosophie beobachtet werden können. Weitere Parallelen zwischen Platners Werk und der Popularphilosophie sind in deren gemeinsamer anthropozentrischer Ausrichtung und in der Affinität beider zur Ästhetik zu erblicken. Ich verstehe hier unter Ästhetik in breiter, dem 18. Jahrhundert angemessener Bedeutung die Wissenschaft von der sinnlichen Erkenntnis bzw. von den unteren Erkenntnisvermögen, wie sie von Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762) und Georg Friedrich Meier (1718– 1777) begründet wurde. Böhr hat gezeigt, daß die Aufwertung dieser Wissenschaft für die Popularphilosophie gleich in mehrfacher Hinsicht einschlägig wurde:26 Nach Meiers Auffassung setzte die Vernunftlehre die Ästhetik zwingend voraus, weil die sinnliche Erfahrung der Erkenntnis immer vorgeordnet und deshalb unverzichtbar sei. Außerdem hob Meier hervor, daß man Personen mit geringeren intellektuellen Fähigkeiten wenigstens mittels der unteren Erkenntnisvermögen erreichen könne und daß es angesichts der leib-seelischen Doppelnatur des Menschen immer besser sei, beide Seiten in ihm anzusprechen. Selbst der Gelehrte sei leichter von einer Sache zu überzeugen, wenn er sie sowohl geistig als auch sinnlich begreife. Außerdem sei jeder Mensch verpflichtet, seinen Leib und dessen Bedürfnisse zu achten und seine Sinnlichkeit auf angemessene Weise zu disziplinieren. Auch dazu könne vor allem die Ästhetik wichtige Aufschlüsse geben und so komplementär zur Vernunfterkenntnis an der gesunden Ausbildung des aus Körper und Geist bestehenden Menschen mitwirken. Es ist evident, daß alle diese in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts popularphilosophisch relevant werdenden Positionen – Erfahrungsorientierung, Wirkungssteigerung einer anschaulichen, den Bereich der sinnlichen Wahrnehmung einbeziehenden Diktion, Doppelnatur des Menschen und Anerkennung seiner physischen Bedürfnisstruktur – auch für Platners Werk konstitutiv sind. Dies braucht deshalb nicht näher begründet zu werden. Angesichts der derzeitigen Forschungslage scheint mir jedoch eine Klarstellung angebracht zu sein: Wenn hier von Erfahrungsorientierung gesprochen wird, so ist damit nicht gemeint, daß wir es bei Platner oder der Popularphilosophie mit Vorläufern der empirischen Wissenschaft im Sinne des 19. Jahrhunderts zu tun haben. HansVgl. Böhr, Philosophie für die Welt (wie Anm. 2), 37–51; vgl. hierzu Carsten Zelle, Sinnlichkeit und Therapie. Zur Gleichursprünglichkeit von Ästhetik und Anthropologie um 1750, in: Zelle, Vernünftige Ärzte (wie Anm. 12), 5–24. Auch Zelle erkennt Meier eine wichtige Rolle für die Etablierung der anthropologischen Medizin im Umkreis der Halleschen Psychomediziner zu. 26

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Peter Nowitzki formuliert daher in seiner grundlegenden Arbeit mit erfreulicher Direktheit, daß Platners Anthropologie „trotz des Bekenntnisses zum Empirischen nicht auf der Selbst- und Fremdbeobachtung beruht, sondern über weite Strecken spekulativ-metaphysisch verfährt“.27 Dasselbe gilt für die Popularphilosophie, die den Menschen von vornherein unter die eudämonistischen und teleologischen Kategorien der Glückseligkeit und vernunftgemäßen Erkenntnis der Vollkommenheit stellt. Angesichts dieses Umstandes ist es befremdlich, wenn in Arbeiten zur literarischen Anthropologie mit den Begriffen „empirisch“ oder „naturwissenschaftlich“ relativ unbekümmert, ja sogar naiv umgegangen und Platners Werk explizit in die Vorgeschichte der sich im 19. Jahrhundert ausbildenden exakten Naturwissenschaften gestellt wird.28 Eine solche Einschätzung muß sich den Vorwurf der Geschichtsklitterung gefallen lassen, weil sie den Umstand negiert, daß die methodologische Aufwertung der Beobachtung und des Experiments in der Popularphilosophie und bei Platner in den Grenzen metaphysischer Kategorien Leibniz-Wolffscher Provenienz verbleibt und deshalb basale Traditionsbestände der rationalistischen Episteme unangetastet läßt. Ich komme zu einem letzten Punkt, der die von Platner verwendeten Genres und seine Schreibart betrifft. Wichtige Werke Platners – seine Anthropologie, seine Philosophischen Aphorismen und sein Lehrbuch für Logik und Metaphysik – sind in kurze Paragraphen untergliedert, die Platner selbst gemäß dem eben zitierten Titel seines mehrfach aufgelegten Hauptwerks als „Aphorismen“ bezeichnet.29 Damit ist ein Traditionszusammenhang aufgerufen, der bis zum Corpus hippocraticum ins vierte vorchristliche Jahrhundert zurückreicht. Dieser bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts lebendigen Tradition entsprechend, in Nowitzki, Der wohltemperierte Mensch (wie Anm. 13), 173. Exemplarisch sei nur verwiesen auf Košenina, Nachwort (wie Anm. 13), 307, und Wolfgang Riedel, Erster Psychologismus. Umbau des Seelenbegriffs in der deutschen Spätaufklärung, in: Jörn Garber, Heinz Thoma (Hg.), Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung: Anthropologie im 18. Jahrhundert, Tübingen 2004 (Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung, 24), 1–17, hier 3 und 17. Dagegen hat Gideon Stiening (Ein „Sistem“ für den „ganzen Menschen“. Die Suche nach einer anthropologischen Wende der Aufklärung und das anthropologische Argument bei Johann Carl Wezel, in: Dieter Hüning, Karin Michel, Andreas Thomas [Hg.], Aufklärung durch Kritik, Berlin 2004 [Philosophische Schriften, 56], 113–139, hier 118 und 116) zu Recht betont, daß Platner und eine Vielzahl weiterer, am aufklärerischen Anthropologiediskurs beteiligter Autoren „rationalistische Begriffe und Konzepte Wolffianischer oder Leibnizianischer Couleur [...] als Grundlagen ihrer empirischen Physiologien verwendeten“ und daher „ihren Wolff und [...] Leibniz besser kannten als ihre kulturwissenschaftlichen Interpreten“. 29 Zum Folgenden ist grundlegend Friedemann Spicker, Der Aphorismus. Begriff und Gattung von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis 1912, Berlin, New York 1997 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, 11 [245]), 21–67; vgl. hierzu auch die Beiträge von HansPeter Nowitzki und Jutta Heinz in diesem Band. 27 28

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deren Kontext auch Platners stilistische Vorbilder Hermann Boerhaave (1668– 1738) und Albrecht von Haller (1708–1777) einzuordnen sind, verstand man unter Aphorismen eine Sammlung systematisch gereihter medizinischer Lehrsätze. Da es sich in ihrem Fall, wie Platner in der Vorrede der Anthropologie ausführt, um möglichst kurze, „um allgemeine Verständlichkeit“ unbekümmerte“ Sätze handelt, die „dem Lehrling das Buch völlig unverständlich mache[n]“30 und von ihrem Verfasser ausführlich kommentiert werden müssen, scheinen sie das genaue Gegenteil einer allgemeinfaßlichen popularphilosophischen Schreibart zu sein. Das ist aber nur die eine Seite der Medaille, die, wie Platner betont, generell für wissenschaftliche Kompendien gilt. Seine Anthropologie hingegen, so schreibt er weiter, werde wegen ihrer relativen Ausführlichkeit wesentlich verständlicher sein als ein aus Aphorismen bestehendes Lehrbuch. Und er fährt fort: „Ueberhaupt liegt zu Sätzen dieser Art der Commentar fast in der Beobachtung und Erfahrung eines jeden Menschen“. Sein Werk sei trotz seiner schon im Titel festgehaltenen Ausrichtung auf Ärzte und Weltweise auch für Laien lesbar, weil es der Erörterung „der menschlichen Natur“ gewidmet sei und „sich überall mit der Erklärung verschiedener Verhältnisse, Empfindungen und Zustände beschäftigt, welche wir täglich an uns selbst und an anderen erfahren“. Mit diesen Bemerkungen sind wir natürlich wieder nahe an einem zentralen Anliegen der anthropozentrischen Popularphilosophie. Giulia Cantarutti hat die breiten Berührungspunkte zwischen Anthropologie und Aphoristik im späteren 18. und frühen 19. Jahrhundert hervorgehoben.31 Mit Kurzprosa in Form von Aphorismen, Essays oder Fragmenten – das war die Meinung Platners und seiner Zeitgenossen – ließen sich der proteïsche, vielgestaltige, rätselhafte Mensch und die von ihm geschaffene Lebenswelt jeweils punktuell am besten fassen. Dem Methodenideal des Eklektizismus korrespondierte das Stilideal einer Prosa, die ihre Systemfeindlichkeit durch Kürze und den unmittelbaren Zugriff auf die sie interessierenden Phänomene der Menschenwelt zum Ausdruck brachte. Hierher gehören auch die zwischen 1740 und 1760 vorgelegten „Gedanken“-Essays der Hallischen Gelehrten bzw. Psychomediziner Georg Friedrich Meier, Johann Gottlob Krüger (1715–1759) und Ernst Anton Nicolai (1722–1802), die Jutta Heinz vorgestellt und analysiert hat.32 Punktualität schließt aber Deutlichkeit und Bestimmtheit keineswegs aus – im Gegenteil. Insofern kann also der aphoristische Stil Platners der auf Allgemeinverständ30 Platner, Anthropologie für Ärzte und Weltweise (wie Anm. 13), XIX und XX, die folgenden Zitate ebd., XXIV und XXVI. 31 Zur aphoristischen Schreibart in Lehrbüchern der Aufklärung vgl. Cantarutti, Moralistik, Anthropologie und Etikettenschwindel (wie Anm. 11), 68–92. 32 Jutta Heinz, ‘Gedanken’ über Gott und die Welt. Die Erprobung der Anthropologie im Essay bei Meier, Krüger und Nicolai, in: Zelle, Vernünftige Ärzte (wie Anm. 12), 141–155.

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lichkeit und Wirkungsabsicht ausgerichteten popularphilosophischen Schreibart an die Seite gestellt werden. Dasselbe gilt für Platners Verwendung der auch von der Popularphilosophie häufig genutzten Briefform oder des Gesprächs, wie sie beispielsweise in den Briefen eines Arztes oder in dem Gespräch über den Atheismus Verwendung finden. Daß Platner diesen allgemeinen Kommunikationskontext anvisiert hat, wird noch ex negativo aus der Rezension der Briefe eines Arztes durch Johann August Unzer ersichtlich. Unzer moniert neben sachlichen Einwänden, daß Platners Briefstil sehr zu wünschen übrig lasse und daß man durch die gelegentliche Einfügung der Anrede „Mein theuerster Freund“ aus trockenen Abhandlungen noch keine lebendigen epistolarischen Texte machen könne.33 Besser geglückt ist Platner zweifellos das Gespräch über die Religion, in dem Theophil und Philaleth auf anregenden Weise über Skeptizismus und Atheismus und über die Vereinbarkeit von Vernunft und Offenbarung streiten. III. Ergebnisse Bei einem ersten Blick auf sein Publikationsverzeichnis scheint das Werk Platners wenig Ähnlichkeiten mit der Popularphilosophie aufzuweisen. Die meisten für die Popularphilosophie typischen Themen und Fragestellungen und deren Behandlung in eigenen, auf sie abgestimmten Text- und Medienformen findet man dort nicht. Bei Platner dominieren lateinisch verfaßte fachmedizinische Arbeiten, und selbst seine in deutscher Sprache geschriebenen Abhandlungen sind primär durch universitätsspezifische Lehraufgaben geprägt. Seine akademischen Kollegen wußten dies zu schätzen und zu nutzen: Reinhold und Fichte waren gewiß nicht die einzigen Professoren, die seine Philosophischen Aphorismen zeitweilig den eigenen Vorlesungen zugrundelegten. Bei genauerer Betrachtung kann man es jedoch nachvollziehbar finden, daß Platner nicht nur wegen der Zählebigkeit seines schon in den 1790er Jahren lancierten schlechten Renommees als Kant-Gegner und seichter Welt- und Modephilosoph auch noch heutzutage mit dem zumindest seinerzeit pejorativ gemeinten Etikett des Popularphilosophen versehen wird. Da sein Werk an der „diskursprägende[n] popularphilosophische[n] Verknüpfung von Ethik, Ästhetik, Anthropologie und Psychologie“34 partizipiert, weist es durchaus eine Matrix epochentypischer Berührungspunkte mit der Popularphilosophie auf: die Absicht, lebenspraktisch relevante Philosophie für die Welt über die universitätsinterne Lehre hinaus an die bürgerlich-mittelständischen Schichten zu vermitteln, die anthropozentrische Ausrichtung und die – im Sinne der eben betonten Einschränkungen – 33 34

Vgl. Nowitzki, Der wohltemperierte Mensch (wie Anm. 13), 170–172. Bachmann-Medick, Die ästhetische Ordnung (wie Anm. 2), 8.

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ästhetisch-erfahrungswissenschaftliche Fundierung, die Anwendung eklektizistischer Verfahren und die Nutzung einschlägiger Schreibtechniken und Gattungen (Aphorismen, Briefe und Dialoge). Der letzte Punkt gilt insbesondere für die 1770er Jahre, in denen Platner offenbar die Option einer außeruniversitären Karriere erwogen und sich deshalb in einem später nicht mehr erreichten Umfang popularphilosophischer Publikationswege sowie Genres bedient hat. Was ist von diesen Ergebnissen zu halten? Da sie sich angesichts der eingangs erwähnten Forschungslage im Bereich des Erwartbaren bewegen, sind sie wohl nicht besonders aufregend: Die Affinitäten, die Platners Werk zur Popularphilosophie aufweist, lassen sich wegen des allgemeinen ideen- und wissenschaftsgeschichtlichen Kontexts in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch an anderen zeitgenössischen Philosophen beobachten – beispielsweise an Schillers Lehrer Jacob Friedrich Abel, wie Wolfgang Riedel gezeigt hat.35 Vielleicht werden diese Ergebnisse aber etwas attraktiver, wenn man sie zum einen im Hinblick auf ihre epistemologische Bedeutung für Platners Werk befragt und zum anderen in jenem größeren ideengeschichtlichen Kontext diskutiert. Im Hinblick auf Platner kann man sagen, daß der Leipziger Professor für Medizin und Philosophie offenbar deshalb zeitweilig eine so große Wirkung ausgeübt hat, weil er ein versierter eklektizistischer Synthetisierer war. Platner beerbte unterschiedliche philosophische Theorien, indem er einzelne Elemente von ihnen in sein Werk integrierte und dadurch sowohl Anschlußoptionen offerierte als auch den Geltungs- und Erklärungsanspruch seines Werks erweiterte. In unserem konkreten Fall kann man sagen, daß er sich als Gesprächspartner der Popularphilosophie angeboten und ihr gleichzeitig so viel Terrain als möglich abzugewinnen versucht hat, sofern das mit seinen Verpflichtungen als Universitätslehrer vereinbar war. Eine Grenze dieser Assimilierungsfähigkeit markierte die Fundierung seines Denken im LeibnizWolffschen Rationalismus: Nicht umsonst hat Platner die Position von Leibniz in seiner Kontroverse mit Johann Carl Wezel 1781/82 verteidigt36 und auf dem Titelblatt der dritten Auflage des ersten Bandes seiner Philosophischen Aphorismen (1793) das Konterfei dieses Philosophen abdrucken lassen. Da jedoch die Popularphilosophie dieselbe rationalistische Basis teilte, muß von einer zumindest grundsätzlichen, für die vorkantische Philosophie gültigen Kompatibilität zwischen ihr und Platners Werk ausgegangen werden. Riedel, Einleitung (wie Anm. 2). Prägnant hält Riedel fest, daß „in Abels Kopf [...] viele gedacht [haben]“ (402). 36 Johann Karl Wezel, Gesamtausgabe in acht Bänden (Jenaer Ausgabe), hg. von Klaus Manger, Bd. 6 (Epistel an die deutschen Dichter, Appelation an die deutschen Dichter, Über Sprache, Wissenschaften und Geschmack der Teutschen, Schriften der Platner-Wezel-Kontroverse, Tros Rutulusve fuit, nullo discrimine habuetur), hg. von Hans-Peter Nowitzki, Heidelberg 2006, 259– 487 und 963–1052 (Komm.). 35

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Stellt man die vorgelegten Ergebnisse in einen übergreifenden Kontext, so kann man sie als implizites Plädoyer für die Notwendigkeit einer sich intensivierenden philosophiegeschichtlichen Forschung begreifen. Es dürfte einmal mehr klar geworden sein, daß die Beschäftigung mit einem seinerzeit berühmten Denker, der heutzutage jedoch primär als wenig origineller Schulphilosoph gilt, in philosophiehistorischer Hinsicht ergiebiger ist als die noch immer bevorzugte Auseinandersetzung mit den ‘großen Geistern’ der Aufklärung. Wer etwas über die dominierende deutsche Schulphilosophie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erfahren möchte, sollte sich mit Platner und nicht nur mit seinem Zeitgenossen Kant beschäftigen. Zugleich aber wirft die starke zeittypische Gebundenheit koexistierender ideengeschichtlicher Strömungen natürlich interpretatorische und definitorische Probleme bezüglich ihrer Abgrenzung auf. Dies macht sich bei der Bestimmung der Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Platners Werk und der Popularphilosophie negativ bemerkbar: Wir wissen zu wenig über beide Größen, um das Verhältnis zwischen ihnen abschließend bestimmen zu können, wobei hier noch gar nicht dem Umstand Rechnung getragen wurde, ob eventuell die Popularphilosophie ihrerseits in hinreichend distinkte Diskursgemeinschaften zu unterteilen ist. Zugleich kann man aber auch festhalten, daß der vergleichende Blick einen produktiven Prozeß der wechselseitigen Erhellung in Gang setzt: Sowohl in der PlatnerForschung als auch in den Forschungen zur Popularphilosophie werden Themen behandelt, die oftmals gewinnbringend an den jeweils anderen Untersuchungsgegenstand herangetragen werden können. Insgesamt vermag der Aufsatz auf exemplarische Weise zu verdeutlichen, daß wir zur befriedigenden Lösung der eben skizzierten sowie weiterer Fragen systematische philosophiehistorische Untersuchungen benötigen, die nicht nur (vermeintlich) große Denker und deren Werke zueinander in Beziehung setzen. Die hier praktizierte Berücksichtigung beispielsweise von Textgattungen und Medien, Schriftstellertypen und Institutionen hat vielmehr gezeigt, daß solche Fragen keine akzidentiellen, zu vernachlässigenden Aspekte betreffen, sondern wesentlichen Einfluß auf die Produktion von Wissen und dessen Reichweite bzw. soziale Akzeptanz besitzen. Wir brauchen daher Studien, welche die institutionellen und organisatorischen Rahmenbedingungen der Philosophie des 18. Jahrhunderts in ihre Analysen einbeziehen.37 Wenn wir solche Studien durchführen, können wir nicht nur unsere Kenntnisse über Platner und die Popularphilosophie und deren (unterschiedliche) Produktions-, Rezeptionsund Distributionskontexte im territorialstaatlich zersplitterten Deutschland 37 Hans Erich Bödeker, Von der „Magd der Theologie“ zur „Leitwissenschaft“. Vorüberlegungen zu einer Geschichte der Philosophie des 18. Jahrhunderts, in: Das achtzehnte Jahrhundert 14/1 (1990), 19–56.

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bereichern, sondern auch besser begreifen, warum nicht sie, sondern Kant und der Deutsche Idealismus Geschichte gemacht haben. Selbst die originellen, über vorrangig historische Erkenntnisinteressen erhabenen Philosophen werden davon also profitieren. Aber auch im bislang noch am besten erforschten Bereich der philosophischen Ideen und Kategorien sind Fragen offen, wie abschließend an einem Beispiel zur Popularphilosophie demonstriert werden soll. Wenn die Popularphilosophie tatsächlich gemeinsam mit Platners Denken – wie soeben betont wurde – im Leibniz-Wolffschen Rationalismus wurzelt, dann widerspricht das Böhrs Ansatz, der sie mit Blick auf Karl Heinrich Ludwig Pölitz (1772–1838), Karl August Moritz Schlegel (1756–1826) und Johann Christoph Greiling (1765–1840) auch im Umkreis (der Popularisierung) des Kantianismus lokalisieren möchte.38 Nur unter dieser Voraussetzung Böhrs ist die im ersten Teil meines Aufsatzes referierte zeitliche Erstreckung der Popularphilosophie über die 1790er Jahre hinaus zutreffend. Es fragt sich aber, ob die kantianisch geprägten Autoren nicht etwas anderes als die meist früher geborenen, vom Rationalismus ausgehenden Philosophen meinten, wenn sie von „Popularität“, „populärer Philosophie“ und Ähnlichem sprachen. Zwei signifikante Unterschiede scheinen mir diesen Sachverhalt zu belegen: Zum einen bezogen sich erstere nicht nur bewußt, sondern auch zustimmend auf Kants Philosophie. Ihrem Selbstverständnis zufolge ging die kritische Philosophie der Popularisierung der von ihr hervorgebrachten, explizit als wahr betrachteten Denkresultate notwendigerweise voraus. Die vorkantianischen und kantkritischen Popularphilosophen hingegen blieben dem Rationalismus unbewußt verhaftet, obwohl sie ihn mittels empirischer und lebensweltlicher Daten zu überwinden trachteten. Nach ihrer Selbsteinschätzung waren sie an dem Abbruchunternehmen der definitiv für obsolet erachteten Metaphysik Wolffs beschäftigt. Neben diesem konträren Verhältnis zur vorhandenen philosophischen Doxa, die aus ganz unterschiedlichen Gründen Popularisierungsabsichten freisetzte, ist zweitens zu berücksichtigen, daß die für die Kantianer verbindliche Vorgängigkeit des für eine gebildete Öffentlichkeit aufzubereitenden Wissens als ein Aspekt jener Professionalisierung betrachtet werden kann, die für die Wissenschaftslandschaft seit dem 19. Jahrhunderts charakteristisch geworden ist. Indem Kant den Gegenstandsbereich der Philosophie erkenntnistheoretisch eingrenzt und zugleich sichert, auf der Produktion von Wissen innerhalb einer dafür ausgebildeten (universitären) Gemeinschaft insistiert und mit seinen drei Kritiken bzw. seiner Begrifflichkeit schulbildend wirkt, lassen sich in seinem 38 Böhr, Philosophie für die Welt (wie Anm. 2), 105–202. Böhr hält ausdrücklich fest, „daß jede Würdigung der Popularphilosophie zu kurz greift, die lediglich auf deren Verwobenheit mit der Leibniz-Wolffschen Tradition verweist“ (ebd., 136 f.).

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Umkreis erste Ansätze zu einer Disziplinenbildung beobachten, wie sie für die später entstehende professionelle Wissenschaft typisch wird. Diese Tendenzen haben sich in der deutschen Philosophie erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts breiter entfalten können – und es ist wohl keineswegs zufällig, daß der Neukantianismus dabei eine entscheidende Rolle gespielt hat.39 Wenn aber unter solchen Voraussetzungen die Qualität der Popularisierung mit der a priori lebenspraktischen Ausrichtung der Popularphilosophie nicht vergleichbar ist, weil letztere auf die Erzeugung philosophischer Innovation und Modernisierung, jene hingegen lediglich auf die Distribution des zuvor disziplinär erarbeiteten Wissens und Erkenntniszuwachses ausgerichtet ist, dann erweist sich die Einbeziehung der kantianisch inspirierten Autoren in die Popularphilosophie als wenig sinnvoll. Der Aufsatz diskutiert Ernst Platners ambivalentes, von der bisherigen Philosophiegeschichtsschreibung eher intuitiv erfaßtes als reflektiert begründetes Verhältnis zur Popularphilosophie. Er legt dar, dass Platners Werk zwar weder in thematischer noch in medialer Hinsicht einen eindeutigen Schwerpunkt mit spezifisch popularphilosophischen Konturen besitzt, zugleich jedoch eine Matrix epochentypischer Berührungspunkte mit der Popularphilosophie teilt. Platner wird als versierter, zeitweilig wirkungsmächtiger eklektizistischer Synthetisierer vorgestellt, der Elemente unterschiedlicher philosophischer Provenienz in sein Werk integriert und dadurch dessen Geltungs- und Erklärungsanspruch erweitert sowie Anschlussoptionen offeriert. Eine abschließende Problematisierung des Begriffs der Popularphilosophie zeigt, dass zur Erforschung der Philosophiegeschichte (des 18. Jahrhunderts) Untersuchungen nötig sind, die neben der Rekonstruktion der Ideen und Kategorien die institutionellen und organisatorischen Rahmenbedingungen der philosophischen Wissensproduktion angemessen berücksichtigen. The study deals with Ernst Platner’s ambivalent relationship to popular philosophy, which has so far rather been apprehended intuitively than constituted reflectively by the philosophical historiography. It is shown that even though Platner’s work does not have a decisive focus with popular-philosophical outlines – neither in thematic nor in medial terms –, it does nevertheless share a matrix of several points of contact with the popular philosophy that are typical for that era. Platner is presented as a versed, occasionally forceful and eclecticistic synthesizer, who integrates elements of different philosophical provenance in his work by which he widens its claim for application and explanation as well as offers options of continuation. A concluding approach of the term ‘popular philosophy’ shows that the 39 Klaus Christian Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus, Frankfurt am Main 1993 (erstmals 1986).

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study of the philosophical history (of the 18th century) does require examinations which apart from the reconstruction of the ideas and categories adequately take into account the institutional and organisational parameters of the production of philosophical knowledge. PD Dr. Michael Ansel, Insitut für deutsche Philologie, Schellingstraße 3, 80799 München, E-Mail: [email protected]

S IMONE D E A NGELIS Unbewußte Perzeptivität und metaphysisches Bedürfnis Ernst Platners Auseinandersetzung mit Haller in den Quaestiones physiologicae (1794)

hoc corpus nostrum [...] non corpus humanum, sed ipse homo est E. Platner, Quaest. physiol.

I. Es wird den Leser vielleicht wundern, daß ich einen Beitrag über Platner und die Medizin mit einem Zitat aus einem Brief Platners beginne, den er ein Jahr vor der Veröffentlichung der Quaestiones physiologicae schrieb und der scheinbar alles andere als mit seiner Physiologie zu tun hat. Im Jahre 1793 erläutert Platner in diesem Brief den Zusammenhang zwischen dem Fortbestand des despotischen Absolutismus und dem historischen Rechtsdenken: Er ist an Platners Schüler und Gönner Prinz Friedrich Christian von SchleswigHolstein, einem aufgeklärten Aristokraten und Parteigänger der Französischen Revolution, gerichtet. „Ob es wahrscheinlich sey, daß das System der Freyheit jetzt in Europa Fortgang gewinnen, und vielleicht gar einen gänzlichen Umsturz der Fürstengewalt bewirken werde“,1 so lautet die Frage, die Platner dem Erbprinzen mit einem klaren Nein beantwortet. Denn auch wenn die Voraussetzungen durch den Druck des Despotismus und die „innere Energie“ des Volkes, das dessen Anmaßungen als Unrecht empfindet, gegeben sind – zu 1 Ernst Platner, Begleitschreiben zu einem Brief an den Erbprinzen Friedrich Christian von Schleswig-Holstein (undatiert). Erstmals publ., gemeinsam mit zwei Briefen von Platners Schwager Chr. F. Weiße an den selben Adressaten, von Hans Schulz, Leipziger Stimmen von 1793 über Deutschland und die Revolution, in: Euphorion 17 (1910), 48–55 und 298–306, hier 53. Auf die Existenz dieses Briefes hat als erster vor über dreißig Jahren Wolfgang Pross (Jean Pauls geschichtliche Stellung, Tübingen 1975, 229–237) aufmerksam gemacht.

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einer Revolution nach französischem Vorbild werde es trotzdem nicht kommen. Dazu bräuchte es, so Platner, die Beteiligung der geistigen und politisch führenden Schicht, die – anders als in Frankreich – nicht darum bemüht sei, „Begriffe und Gesinnungen von menschlichen Rechten und von fürstlichen Verbindlichkeiten auch dem niedrigsten Pöbel einzuflössen“.2 Keine Revolution ließe sich auslösen, so Platner weiter, wenn nicht ein Teil der Energie des Volkes auch in den regierenden Klassen des Adels und der Fürsten enthalten sei, welche sich statt dessen gegenseitig stützten und geschlossen hinter die obrigkeitsstaatlichen Prinzipien stellten. Diese Prinzipien würden durch die ‘mechanische’ Arbeit der Juristen noch weiter zementiert: Nicht weniger Hindernisse der guten Sache sehe ich in dem obrigkeitlichen Stande. Dieser besteht in Deutschland aus bloßen Juristen, welche ziemlich das Gegentheil von Philosophen und Rednern und, geradezu gesprochen, nichts anders sind, als bloße Gesetzmaschinen, die auf den Universitäten von kunstreichen Professoren organisiert, und dann in Landesregierungen, Fakultäten, Stadtgerichten, Amtsstuben und andern Werkstätten der Justiz von der Hand des Despotismus an dem schreyenden Rade der Verfassung immer und ewig gedreht werden. Diese Leute denken nie daran und dürfen nie daran denken, die Quellen der Gesetze, nach denen ihre mechanischen Geschäfte fortgehen, in der Natur des Menschen aufzusuchen, oder außer dem so genannten Majestätsrechte eine andere verbindliche Kraft derselben erfordern. Der Grund von dieser kläglichen Beschaffenheit unseres obrigkeitlichen Standes, liegt offenbar in der teutschen Jurisprudenz; die, wie Ew. Durchl. bekannt ist, anstatt auf das Naturrecht gebaut zu seyn, sich keiner anderen Gründe bewußt ist, als der römischen und altgermanischen Gesetze. Durch dieses Verhältniß, welches die gelehrte Pedanterey sehr schön und elegant findet, (Ew. Durch. wissen, was das in Teutschland heißt, ein eleganter Jurist), wird der Philosophie aller Einfluß auf die Denkungsart des obrigkeitlichen Standes verwehrt. Es ist mit der Abstammung unserer Rechte von den römischen und altgermanischen, gerade wie mit der Abstammung der christlichen Religion von der jüdischen. Was hier das alte Testament ist, das ist dort das Korpus Juris. So lange die Theologen das Christenthum nur auf das Judenthum gründeten: dachten sie nicht daran, seine Gründe in der Vernunft, in der Natur und dem moralischen Bedürfnisse des Menschen zu untersuchen. Und so lange die Juristen nur beschäftigt sind, unsere Gesetze von den Römern und Longobarden herzuleiten: so lange wird der obrigkeitliche Stand keinen Begriff von ihrer Beziehung auf die natürlichen Menschenrechte haben. Dieser Stand ist in der Kultur, glaube ich, noch am allerweitesten zurück, und er wird ihr nicht anders näher gebracht werden können, als durch den juristischen Naturalismus: sowie überhaupt Naturalismus das Ziel aller Kultur ist.3

Platner, Begleitschreiben (wie Anm. 1), 300. Ebd., 301 f. Vgl. zum Gesetzesabsolutismus und zum Richterbild im späten Naturrecht jetzt Matthias Albrecht, Die Methode der preußischen Richter in der Anwendung des Preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794. Eine Studie zum Gesetzesbegriff und zur Rechtsanwendung im späten Naturrecht, Frankfurt am Main u.a. 2005 (Schriften zur Preußischen Rechtsgeschichte, 2), bes. 60–80: „Die Idee, Gesellschaftsplanung mit Hilfe des Gesetzgebungsmonopol zu betrei2 3

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Bestechend klar drückt hier der Mediziner Platner sein Zeitbewußtsein aus. Seine Analyse ist das Pendant dessen, was sein Zeitgenosse Friedrich Schiller in Bezug auf den Prozeß der gesamten Kultur mit Scharfsinn erkannt hat: Auf der einen Seite führen die Erweiterung der Erfahrung und die Rationalitätsschübe im Denken zu einer zunehmenden Ausdifferenzierung und Spezialisierung der Naturwissenschaften, auf der anderen werden durch die ‘Mechanisierung’ des Staatsapparates die Stände und die Arbeit strenger geteilt und das Individuum innerlich gespalten; die Zerrissenheit des ‘modernen’ menschlichen Bewußtseins („so zerriß auch der innere Bund der menschlichen Natur“) betrachtet Schiller als Folge dieses Kulturprozesses.4 Das waren Anzeichen einer sich transformierenden Welt und Realität, mit der sich auch Platner auseinandersetzen mußte. Die Bezeichnung der Juristen als „Gesetzmaschinen“ verrät das Denkschema, das Platner anprangert – indem er die fortgeschrittene ‘Mechanisierung’ der sozialen Institutionen des Staates denunziert – und dem er „die natürlichen Menschenrechte“ und die „moralischen Bedürfnisse des Menschen“ entgegenstellt. Dieser Brief belegt, daß Platner den Fragenkomplex des Naturrechts in seine Vorlesungen einbezogen hat. Auch seine Schriften zeigen die genaue Kenntnis der wichtigsten Literatur auf diesem Gebiet.5 Für das Jahr 1793 zeigt zudem ein weiterer Brief, daß Platner als Prinzenerzieher „Moral, Naturrecht, natürliches Staatsrecht und natürliche Religion“ unterrichtet hat.6 Wie ich im folgenden zeigen werde, spielt das Naturrecht als „das umfassende Konzept aller Diskurse über den Menschen“7 auch im Hinblick auf die Beurteilung von Platners Konzeption der Physiologie in den Quaestiones physiologicae eine tragende Rolle. Denn die Erreichung des ‘Naturalismus’, also die Durchsetzung der Naturrechtslehre, von der Platner spricht, war in den 1790er Jahren nicht nur durch den politischen, sondern auch durch den philosophischen ben, wurde gerade von den aufgeklärten Herrschern Preußens und Österreichs aufgenommen, die der Kodifikationsidee [sc. eine erschöpfende Neuordnung und Systematisierung des Rechtsstoffes] eine konkrete Gestalt gaben. […] Es sollten also nicht mehr die Menschen, sondern allein das geschriebene Recht herrschen“ (69 f.). 4 Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen [1794/95], 6. Brief, in: F. S., Sämtliche Werke, hg. von Wolfgang Riedel, Bd. 5, München, Wien 2004, 583. 5 Ernst Platner, Philosophische Aphorismen nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte. Anderer Teil, Leipzig 1782, II. Theil, II. Hauptstück (Von den moralischen Fähigkeiten des Menschen), VII, §§ 293–315 (über Rousseau, Ferguson, Thomasius, Grotius, Pufendorf, Hobbes), VIII, §§ 316–351 (über die Naturzustandshypothese). 6 Platner, Begleitschreiben (wie Anm. 1), 52. 7 Hans Erich Bödeker, Istvan Hont, Naturrecht, Politische Ökonomie und Geschichte der Menschheit. Der Diskurs über Politik und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit, in: Otto Dann, Diethelm Klippel (Hg.), Naturrecht – Spätaufklärung – Revolution, Hamburg 1995 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert, 16), 80–89, hier 82.

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Druck gefährdet, der von Kant und seiner Schule ausging.8 Dafür spricht zum Beispiel die Rezension, die Kant im Jahre 1795 über Gottlieb Hufelands Versuch über den Grundsatz des Naturrechts (1785) schreibt, in der er unter Anwendung der formalen Kriterien seiner praktischen Philosophie die inhaltlichen Forderungen des Naturrechtsdenkens angreift und fordert, die Prinzipien des Rechts, also letztlich die Frage „wozu ich ein Recht habe“, gemäß allen anderen Vernunftwissenschaften zu berichtigen und dem Geschmack sowie den Erfordernissen seines Zeitalters angemessen anzupassen.9 Was auf dem Gebiet des Rechts geschieht, ist generell in den Prozeß der Rationalisierung der Wissenschaften einzuordnen, den die kritische Philosophie Kants entscheidend vorantreibt. Als ihr vielleicht wichtigstes Resultat ist die Entteleologisierung der natürlichen Welt und der Wissenschaften zu betrachten sowie die Förderung einer mechanistischen Weltauffassung, die auf der Geltung von Naturgesetzen beruht.10 Kants Vernunft-Kritik entzog den Wissenschaften endgültig die Ausrichtung auf eine Teleologie, d.h. auf einen metaphysischen Sinn der Welt, so daß sich die Wissenschaften auf die Lösung der jeweiligen Probleme des Faches konzentrieren und dabei spekulative Fragen außer Acht lassen konnten. Zu diesen gehörten auch problematische Aspekte im Bereich der menschlichen Seele. Die Voraussetzung für diese Entwicklung im Kantschen Apriorismus analysiert Platner bereits in den 1780er Jahren, als er in den Philosophischen Aphorismen Positionen aus der Kritik der reinen Vernunft (1781) diskutiert und anzweifelt. Insbesondere betrifft dies die Frage nach dem Selbstgefühl des Ich. Platner meint, aus den Schriften Kants herauszulesen, daß das Ich „nur die formelle Bedingung aller unserer Vorstellungen“ sei, „aber nicht eine Vorstellung selbst“.11 Es komme, so Platner, aber alles darauf an, „ob das Gefühl des Ich darum, weil es die Bedingung und Form aller unsrer Ideen enthält“ und also nach Kant „das logische Subject des Denkens ist, nicht auch mit einem Anschauen von Kraft und Selbstständigkeit vereinbar seyn könne“.12 Für PlatVgl. zum ‘Zurücktreten des Naturrechts’ gegenüber der ‘rationaleren’ Kultur des Kantianismus und Historismus die ausführliche Analyse bei Proß, Jean Pauls geschichtliche Stellung (wie Anm. 1), 229–260. 9 Immanuel Kant, Werke, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 10.2, Darmstadt 1983 [1964], 809–812, hier 811 f. Kant nennt Platner explizit unter den Vertretern des Naturrechts. 10 Vgl. zu Kants Naturgesetzesbegriff jetzt: Michael Hampe, Idealistische Variationen. Beobachtungen zur Entwicklung des Gesetzesbegriffs von Kant bis Peirce, in: Karin Hartbecke, Christian Schütte (Hg.), Naturgesetze. Historisch-systematische Analysen eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, Paderborn 2006, 249–268, hier 250–253. 11 Platner, Philosophische Aphorismen. Erster Theil, Leipzig 1784, Anderes Buch. Metaphysik, I. Hauptstück, II. Abschnitt (Prüfung der verschiedenen Systeme über das innere Wesen der Welt, oder den Grund unsrer Ideen von wirklichen Dingen), 283 (§ 866). 12 Ebd., 284. 8

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ner ist hingegen „[d]as Selbstgefühl von meinem Ich [...] nicht ein Haufen von Ideen, sondern das Gefühl einer Kraft, welche Ideen behandelt, selbst nicht wechselt, jedoch sich verändert, d.h. übergehet von einer Art des Seyns auf die andere, und ihre eigene Beharrlichkeit von dem Wechsel ihrer Zustände klar unterscheidet“.13 Damit mündet der Vorgang der Mechanisierung um 1800 tendenziell in die Trennung zwischen der Philosophie als der „Wissenschaft von der Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft“,14 wie es bei Kant heißt, und einer empirischen Psychologie und den Naturwissenschaften, zu denen auch die medizinischen Disziplinen gehören. In ihrem vielleicht wichtigsten Moment entzieht die Kantsche Entteleologisierung der Wissenschaften dem Naturrecht seine theologische Stütze, auf der ein einheitlicher Begründungsdiskurs in sozialer, religiöser und wissenschaftlicher Hinsicht aufbaute, wie das etwa noch Charles Bonnets physikotheologisch konzipiertes Werk Contemplation de la nature (1764) widerspiegelt. Dieses Werk stellt eine kontinuierliche Entfaltung der organisierten Lebewesen vom Mineralien-, über das Pflanzen- und Tierreich bis hin zum Menschen dar.15 Das Kontinuitätsprinzip der Leibnizschen Philosophie, die Bonnet seinen naturalistischen Studien zugrundelegt, führt ihn von der Beobachtung der Regeneration von Lebewesen zu psychologischen Fragen über die Einheit des Ich, die den Menschen auch über dessen Tod hinaus betrifft. Es ist daher kein Zufall, daß sich Bonnet in den Quaestiones physiologicae in Fragen der natürlichen Theologie als ein Schlüsselautor für Platner entpuppt – ein Zeichen, daß Platners Spätwerk – besonders die Physiologie – auf dem einheitlichen Begründungsdiskurs des Naturrechts beharrt und zwar in Gegentendenz zum Prozeß, den die Kantsche Denkrevolution in Gang gebracht hatte. Diese Gegentendenz, welche die geistesgeschichtliche Lage der Spätaufklärung mitkonstituiert, ist, so Wolfgang Pross, „nur zu begründen als Festhalten an einem die religiöse Sinnfrage einbeziehenden Weltbild“, in dem der Mensch als Herrschaftsobjekt vom Naturrecht, die Natur vom induktiven Empirismus Bacons und das metaphysische Bedürfnis von der natürlichen Theologie her interpretiert wird.16 Innerhalb eines Weltbildes, in dem physische und moralische Gegenstände gemeinsam erfaßt werden, verhält sich die Physiologie gegenüber dem metaphysischen Bedürfnis nicht indifferent, sondern versucht es Ebd., 283. Zum Selbstgefühl bei Platner vgl. den Beitrag von Udo Thiel in diesem Band. Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: Kant, Werke (wie Anm. 9), Bd. 4, 700. 15 Im bibliografischen Anhang der Philosophischen Aphorismen (1784) ist die zweibändige Amsterdamer Erstausgabe von Bonnets Werk, das in Lausanne 1770 in der Zweitauflage erscheint, erwähnt. 16 Pross, Jean Pauls geschichtliche Stellung (wie Anm. 1), 47–59 (zum metaphysischen Bedürfnis), Zitat 48. 13 14

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zu bewältigen. So wird verständlich, warum Platner in seiner Verteidigung der natürlichen Rechte dafür plädiert, die Gründe für die christliche Religion im moralischen Bedürfnis des Menschen zu suchen. Dies ist vielleicht der wichtigste Aspekt, um – im Rahmen dieses Aufsatzes – den physiologischen Ansatz Platners in den 1790er Jahren begreiflich zu machen. In struktureller Hinsicht erinnert der Rationalisierungsschub in den Wissenschaften um 1800 an die Neuordnung der Disziplinen um 1600, als sich im Zuge der Seelendiskussion des 16. Jahrhunderts die Metaphysik bzw. die Ontologie (die Seinswissenschaft von der vom Körper abgetrennten Seele) von der Physica abspaltete. Im deutschen Sprachraum ging dieser erste Rationalisierungsschub als Resultat der Auseinandersetzung des Marburger Professors Rudolph Goclenius mit den naturalistischen Positionen über die Seele des medicus philologus Julius Caesar Scaliger hervor.17 Die Goclenius-ScaligerDebatte ist wichtig, weil sie beim Goclenius-Schüler Otto Casmann zur dualistischen Aufteilung der Textgattung Anthropologia in die Bereiche Psychologia (Geist) und Somatotomia (Körper) geführt hat,18 die bis weit ins 18. Jahrhundert bestehen bleibt und dazu führt, daß im medizinischen Kontext „Anthropologia“ bzw. „Anthropographia“ praktisch mit der Textgattung „Anatomia“ oder „Physiologia“ zusammenfällt. In diesem Texttypus ist – wie dies etwa der Mediziner Friedrich Christian Cregut (1675-1758) in seiner Dissertatio de Anthropologia (1737) belegt – im wesentlichen das Wissen über den menschlichen Körper in seinem natürlichen und gesunden Zustand dargestellt.19 Der

Simone De Angelis, Zwischen generatio und creatio. Zum Problem der Genese der Seele um 1600 – Rudolph Goclenius, Julius Caesar Scaliger, Fortunio Liceti, in: Lutz Danneberg u.a. (Hg.), Säkularisierung der Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit, Bd. 2: Zwischen christlicher Apologetik und methodologischem Atheismus, Berlin, New York 2002, 94–144. 18 Otto Casmann, Psychologia Anthropologica; Sive Animae Humanae Doctrina, Methodicé informata, capitibus dissecta, singulorumque Capitum disquisitionibus, ac controversarum questionum ventilationibus illustrata. […], Hanau 1594; O. C., Secunda Pars Anthropologiae: hoc est; fabrica humani corporis; methodice descriptiva, Hanau 1596. 19 Friedrich Christian Cregut, Dissertatio de Anthropologia [1737], fol. av: „Uti autem in arte pingendi ii perfectiores habentur, qui Hominum formas nitide pingere perdidicerun, ita illi Doctiores sunt Anthropographie, qui tam de internarum quam externarum corporis humani partium, venarum, arteriarum, nervorum, vasorum ac relinquorum canalium, membranarum, ossium, tendinum, musculorum, viscerum omnium, & structurae ac fabricae accuratiorem habent cognitione. […] Talem Hominis tractationem in Medicorum Scholis etiam Physiologiae nomine insigniunt. Alli suos in hac materia labores, Libros de Natura Humana, imò libros de oëconomia animali, Doctrinam de usu partium corporis humani vocarunt, quae diversae nuncupationes unum idemque significant. Nimirum omnes pro objecto habent Hominem, cujus statum naturalem ac sanum considerant, atque omnes actiones, quae vel a sola Anima, vel a solo Corpore, vel ab utriusque connubio pendent, explicare, extricare, & evidenter demonstrare conantur“. Creguts Dissertatio ist dem Werk seines berühmten sächsischen Kollegen Johann Gottfried Berger (165917

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frühneuzeitliche Wissenshorizont ist also aus zweierlei Gründen von außerordentlicher Relevanz: Im Blick auf den Neuansatz von Platners Anthropologie (1772), die „Körper und Seele in ihren gegenseitigen Verhältnissen, Einschränkungen und Beziehungen zusammen betrachtet“,20 sowie – darauf ist noch zurückzukommen – im Blick auf Platners Wiederanknüpfung an ‘animistische’ Konzepte in seiner Physiologie von 1794. In Platners naturrechtlicher Konzeption des Menschen, auf der auch seine Physiologie gründet, ist der Wissenshorizont um 1600 also stets präsent. Damit bekräftigt er die Beziehung zwischen Naturrecht und Medizin, die im Grunde schon seit der Konstitution der modernen Naturrechtstheorien im 17. Jahrhundert besteht. Damals hatte vor allem der englische Naturrechtslehrer Richard Cumberland (1631-1718) gegen die These des egoistischen menschlichen Verhaltens bei Hobbes den Akzent auf die gegenüber dem Tier bessere physiologische Konstitution des Menschen gesetzt (aufrechter Gang, Bau und Durchblutung des Gehirns etc.), die dessen Einbildungskraft und Gedächtnis begünstige und ihn gesellschaftsfähig mache. Dabei hatte Cumberland seine anatomischen und physiologischen Argumente auf Resultate gestützt, die ihm die Gehirn- und Herzforschung der 1660er Jahre in England (Thomas Willis, Richard Lower) lieferte.21 Cumberland, dessen Werk in der Mitte des 18. Jahrhunderts vom Pufendorf-Kommentator Jean Barbeyrac ins Französische übersetzt wurde,22 galt „auch in Deutschland als der prominenteste Gegner von Hobbes“; sein Konzept der mutual benevolence, zu der sich die 1736), das Cregut postum herausgibt, vorangestellt: Johann Gottfried Berger, Physiologia Medica sive de Natura Humana Liber bipartitus, hg. von J. G. Cregut, Frankfurt 1737. 20 Ernst Platner, Anthropologie für Aerzte und Weltweise. Erster Theil, Leipzig 1772, xvii. Vgl. zu den Platnerschen Anthropologiekonzeptionen Hans-Peter Nowitzki, Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien im Widerstreit, Berlin, New York 2003, 165–249. Kritisch dazu: Gideon Stiening, in: Wezel-Jahrbuch. Studien zur europäischen Aufklärung 5 (2002), 195– 216, bes. 209–211. 21 Richard Cumberland, De Legibus Naturae Disquisitio Philosophica, In qua Earum Forma, summa Capita, Ordo, Promulgatio, & Obligatio è rerum Natura investigantur; Quinetiam Elementa Philosophiae Hobbianae, Cum Moralis tum Civilis, considerantur & refutantur, London 1672, Cap. II (De Natura Humana, & recta Ratione), §§ XXIII–XXVII. Vgl. hierzu Simone De Angelis, Von Newton zu Haller. Studien zum Naturbegriff zwischen Empirismus und deduktiver Methode in der Schweizer Frühaufklärung, Tübingen 2003 (Frühe Neuzeit, 74), 259–263; vgl. auch S. De A., Pufendorf und der Cartesianismus. Medizin als Leitwissenschaft und die Rolle der Bibelhermeneutik in Pufendorfs Verteidigung des Naturrechts um 1680, in: IASL 29/1 (2004), 129–172. 22 Traité philosophique des Loix naturelles, où l’on recherche et l’on établit, par la nature des choses, la forme de ces lois, leurs principaux chefs, leur ordre, leur publication et leur obligation: on y refute les Elémens de la Morale & de la Politique de Thomas Hobbes. Par le Dr Richard Cumberland. Traduit du latin par Monsieur Barbeyrac, avec des notes du traducteur, qui y joint celles de la Traduction Angloise, A Amsterdam, Chez Pierre Mortier, 1744.

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Menschen durch vernünftige Einsicht motiviert fühlen, spielte in der Spätaufklärung, etwa bei Adolph Freiherr Knigge, noch eine relevante Rolle.23 So ist es kein Zufall, daß Platner Cumberlands De Legibus naturae in der Zweitauflage (Lübeck, Frankfurt am Main 1683) in der eigenen Zweitauflage der Philosophischen Aphorismen (Frankfurt, Leipzig 1790) in das ‘Verzeichniß der angeführten Schriften’ aufgenommen hat. In den 1790er Jahren sah Platner diesen integrativen (die psychophysische und sozialethische Seite der menschlichen Natur einbeziehenden) Denkansatz des Naturrechts dennoch vor allem durch die Entwicklung der Medizin in seinem Jahrhundert, auf das er zurückblicken konnte, unterminiert. Bereits in der Vorrede zu den Quaestiones physiologicae gilt Platners Kritik den mechanistischen Physiologiekonzeptionen, die das empirisch abgesicherte oder probable Wissen dieses Faches nicht auf den Menschen, sondern auf dessen Körper zurückbeziehen, und deren Anhänger der Meinung sind, die Physiologie sei die Wissenschaft, welche die menschliche Maschine erkläre. Daher glaubten die mechanischen Ärzte, die Physiologie gänzlich unter die Vorschriften der Physik stellen zu können.24 Die Physiologie aber, so Platner, folge anderen Prinzipien als die Physik, und weil unser Körper lebendig und mit dem Geist verbunden sei, sei er nicht der menschliche Körper, sondern der Mensch selbst (ipse homo).25 Es ist also eine primäre Intention der Physiologie Platners, genau diejenigen Fragestellungen über die menschlichen Geisteskräfte zu restituieren, welche die mechanistisch konzipierten Physiologien von vornherein als unwissenschaftlich erklären und worüber sich, so Platner, die Physiologen der Schule von Boerhaave und Haller, welche die Kräfte des menschlichen Körpers erforschen, gänzlich ausschwiegen. So lautet der erste Abschnitt des ersten Buches der Quaestiones, den Platner später auch als akademische Rede hielt und der postum separat publiziert wurde: Über die Natur des Geistes in physiologischer Hinsicht.26 Darin skizziert der Leipziger Professor eine ArchiFriedrich Vollhardt, Ueber Eigennutz und Undank. Knigges Beitrag zur moralphilosophischen Diskussion der Spätaufklärung, in: Martin Rector (Hg.), Zwischen Weltklugheit und Moral. Der Aufklärer Adolph Freiherr Knigge, Göttingen 1999 (Das Knigge Archiv, 2), 45–67, hier 57 f. 24 Ernesti Platneri Qaestionum Physiologicarum Libri Duo Quorum Altero Generalis Altero Particularis Physiologiae Potiora capita Illustrantur Praecedit Prooemium Tripartitum De constituenda Physiologiae Disciplina, Lipsiae 1794, Prooemium, 22. Über die Quaestiones physiologicae gibt es praktisch keine Forschung; pionierhaft hat Wolfgang Proß, Jean Pauls geschichtliche Stellung (wie Anm. 1), 53, 113–115, 154–156 und 253–257, einige wichtige Passagen daraus ins Deutsche übersetzt. 25 „Ergo quoniam hoc corpus nostrum vitae particeps et animo copulatum, non corpus humanum, sed ipse homo est“ (ebd.). 26 Platner, Quaest. physiol. (wie Anm. 24), Liber Primus, I (De natura animi quantum ad physiologiam), 45–54; vgl. auch E. Platner: De natura animi quoad ad physiologiam. In: Ernesti Platneri, quondam Professoris Lipsiensis, Opuscula Academica sive Collectio Quaestionum 23

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tektonik der menschlichen Geisteskräfte (vires animi) und deren Perzeptionsweisen. Neben der vis rationis, der Denk- und Urteilskraft, dem sensus, der sinnlich wahrnehmenden, sowie der appetitiven und adversativen Kraft unterscheidet Platner ein viertes Perzeptionsvermögen.27 Dabei handelt es sich um Perzeptionen, die der Geist vom Zustand seines Körpers hat, wobei die Tätigkeiten des Geistes, die von hier aus folgen, allesamt dunkel und vollends ohne Bewußtsein sind; dieser Punkt müsse in der Physiologie minutiös erklärt werden, ohne gleich damit der Stahlschen Lehre das Wort zu reden.28 Bevor ich zu Platners Physiologie komme, möchte ich die in den folgenden vier Abschnitten dargestellte Argumentation kurz skizzieren. In Teil II werfe ich zunächst einen Blick auf die Irritabilitätslehre Albrecht von Hallers, nicht nur, weil sich Platner in den Quaestiones mit ihr auseinandersetzt, sondern weil Haller seine ursprüngliche Position in den Göttinger Akademievorträgen von 175229 in der Zwischenzeit etwas modifiziert hatte und es vor allem die modifizierte Form der Irritabilität gewesen ist, die in Deutschland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wahrgenommen wurde und zu Interpretationen Anlaß gab, die weit über sein ‘neomechanistisches’ System hinausgingen.30 Teil III erörtert Platners Begriff der ‘Lebenskraft’ im Zusammenhang mit seiner Stahl- und Leibniz-Lektüre; Teil IV erläutert in einem ersten Schritt, wie Platner auf der Folie seiner Reflexion des Metaphysikbegriffs Hallers Kritik an Stahl ablehnt. Anschließend geht es darum zu zeigen, wie Platners NervensaftMedicinae Forensis, Psychicae, Publicae, Aliarumque, quas Auctor per quinquaginta annos academico more tractavit. Post mortem Auctoris Edidit C. G. Neumann, MD, Berlin 1824, 328– 334. 27 Platner, Quaest. physiol. (wie Anm. 24), Lib. I, I, 47 f.: „Igitur tres omnino animi facultates sunt: ratio, cuius est cogitare et iudicare; deinde sensus, per quem voluptat ac dolore afficimur; denique cum illo coniunctissim vis appetendi et aversandi. Sed harum facultatum quasi materia suppeditatur a perceptionibus, sive per res externas, sive per phantasiam oblatis; […] Qua de re illis tribus adiuncta est per percipiendi facultas, tanquam caeterarum ministra quaedam“. 28 Ebd., 50: „Sed quoniam illae perceptiones, quibus animum statuimus admoneri de corporis sui statu, et actiones quae hinc consequuntur, omnes obscurae sunt et conscientia nostra prorsus exclusae: ne id repugnans cuidam videatur, animum multa percipere et agere sine conscientia, hic locus omnium diligentissime est in physiologia explicandus. Nam multos vidi, qui, ne Stahlianam disciplinam probarent, hac una difficultate impedirentur; scilicet laborantes in perceptionibus et actionibus destitutis conscientia“. 29 Albertus de Haller, De Partibus Corporis Humani Sensilibus et Irritabilibus. Die 22 April. & die 6 Maii 1752, in: Commentarii Societas Regiae Scientiarum Gottingensis, Bd. 2, Göttingen 1753, 114–158. 30 Zur Rekonstruktion der Irritabilitätsdebatte im europäischen Kontext vgl. jetzt Hubert Steinke, Irritating Experiments. Haller’s Concept and the European Controversy on Irritability and Sensibility, 1750–90, Amsterdam, New York 2005; zur Debatte in den deutschen Gebieten vgl. bes. 206–212. Zum vitalistischen Diskurs der Aufklärung vgl. Peter Hanns Reill, Vitalizing Nature in the Enlightenment, Berkeley u.a. 2005.

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Hypothese eine natürliche Theologie zu stützen beabsichtigt; in Teil V formuliere ich schließlich drei Korollarien zu Platners Physiologie.

II. Ein Problem im Hallerschen System der vitalen Kräfte des tierischen Körpers ist durch die Nervenkraft oder vis nervea gegeben. Die Dichotomie in Hallers Begriffssystem – Muskel-Bewegung, Nerv-Empfindung – durchbricht die vis nervea insofern, als sie einerseits eine Impulsfunktion wahrnimmt, die sich vom Bewußtseinszentrum im Gehirn über die Nerven zu den Muskeln auswirkt. Auf der anderen Seite fungiert die vis nervea als Stimulus, der in den Muskeln, die dem Willen unterworfen sind, eine kontraktive Bewegung auslöst. Indem sie das tut, ist die vis nervea, die von den Nerven vermittelt wird, also zu einer ‘nervösen Bewegung’ befähigt, die den Nerven selbst aber nach Haller in keiner Weise zukommt. Der problematische Status der vis nervea tritt im Irritabilitätstraktat von 1753 noch nicht deutlich hervor. Er verdeutlicht sich aber im vierten Band der Elementa physiologiae corporis humani von 1762 und dann in dem Artikel Irritabilité, den Haller 1773 für die Encyclopédie von Yverdon schreibt.31 In diesem Artikel vermutet Haller eine einheitliche Kraft als Basis der Bewegung in den Fibern des tierischen Körpers, nämlich die tote Kraft oder force morte, die in der muskulären Fiber als Irritabilität oder vis insita hervortritt, weil in dieser Fiber die Eignung zur Kontraktion stärker gegeben ist als in der bloßen zellulären Fiber. Die Nervenkraft täte dann nichts anderes, als einen stimulierenden Saft beizusteuern, der die Muskelfiber dazu reizt, sich zusammenzuziehen.32 Die Basiskraft wird also in drei kontraktive Kräfte zerlegt, die für Haller aber distinkt bleiben müssen: „Es gibt in den Fibern des tierischen Körpers drei kontraktive Kräfte, oder – wenn man so will, drei Abstufungen – aber sehr deutlich unterscheidbare – der selben Kraft: die tote Kraft, die Irritabilität und die Nervenbewegung“.33 Es bleibt nach wie vor zu fragen, ob Haller hiermit Vgl. hierzu De Angelis, Von Newton zu Haller (wie Anm. 21), 324–330. Albrecht von Haller, [Art.] Irritabilité, in: Encyclopédie, ou Dictionnaire universel raisonné des connaissances humaines. Mis en ordre par M. De Felice, Bd. 25, Yverdon 1773, 104b–108b, hier: 108a–b: „Peut-être la force morte sert-elle de base à tout mouvement animal, & qu’elle devient irritabilité dans la fibre musculaire, uniquement parce que dans cette fibre l’aptitude à la contraction est plus forte que dans la fibre simplement cellulaire. La force nerveuse n’y ajoute peut-être encore qu’une liqueur stimulante, qui excite la fibre musculaire à se contracter. Cette fibre a dans les muscles volontaires besoins de ce secours pour agir, au lieu que dans les muscles vitaux, cette même force agit sans être aidée par le stimulus du suc nerveux“. 33 Ebd., 104b: „Il y a dans les fibres animales trois forces contractives, ou si l’on veut, trois 31 32

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nicht die Grundlage für ganzheitliche Konzepte der Physiologie des menschlichen Körpers in Richtung der ‘Theorie der Lebenskraft’ legte, die dann von Autoren bevorzugt werden, die nicht mehr bereit waren, Hallers strikte Begrenzungen der vitalen Kräfte auf spezifische Strukturen des Körpers zu berücksichtigen.34 Wichtiger noch ist die Frage, ob es Haller gelingt, die funktionalen Bereiche von Bewußtsein–Wille–Nerven–Empfindung und von Muskel–Irritabilität–Bewegung systemgerecht auseinanderzuhalten, wenn er den Nerven die Funktion der Übertragung einer Nervenbewegung auf den Muskel zuweist. Der Grund liegt in der doppelten Funktion der vis nervea: Denn einmal vermitteln die Nerven den Muskeln eine bewegende Kraft, also eigentlich einen Kraftimpuls, der vom Willen ausgeht und also bewußt ist, und einmal üben die Nerven einen Stimulus aus, der im Muskel eine kontraktive Bewegung bewirkt, die aber nach Haller nicht vom Psychisch-Seelischen abhängt. Diese Schwierigkeit muß Haller bewußt gewesen sein, wenn er in seinem Encyclopédie-Artikel Nerf so wie auch im jenem über die Irritabilité zwei Zusatzerklärungen benötigt, die er für experimentell abgesichert hält: Erstens wird die monodirektionale Bewegung Wille–Gehirn–Nerv–Muskel festgelegt: Die Bewegung wirkt also nicht vom Muskel zurück zum Gehirn. Eine Empfindung in der Seele entsteht nur dann, wenn der Nerv seine natürliche Verbindung zum Gehirn beibehält; ist diese unterbrochen, dann haben auch die gröbsten Verletzungen des Nervs auf die Seele keine Wirkung; zweitens schließt Haller aus anatomischen Gründen aus, daß die Nerven, die ‘vitale Bewegungen’ (mouvemens vitaux) verursachen, im Kleinhirn als dem materiellen Referenten der Nervenkraft ihren Ursprung haben; deren Verbindung zum Kleinhirn/Rückenmark ist also unterbrochen. Die ‘vitalen Nerven’ (nerfs vitaux), wie Haller sie nennt, vermitteln aber den Muskeln, die dem Willen unterworfen sind, ihren Stimulus unabhängig davon, ob der Nerv isoliert ist oder ob er mit dem Gehirn in Verbindung steht.35 degrés, mais très-distinctes de la même force; la force morte, l’irritabilité & le mouvement nerveux“. Die dt. Übers. ist von Wolfgang Proß (Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Kommentar, Bd. 3.2, 188 f.). Haller spricht zwar von der ‘Nervenbewegung’, meint aber damit keineswegs die Bewegung der Nerven, sondern lediglich deren Stimulusfunktion. 34 Vgl. zu dieser Diskussion auch Steinke, Irritating Experiments (wie Anm. 30), 199–212. 35 Albrecht von Haller, [Art.] Nerf, in: Supplément à l’Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers, Bd. 4, Amsterdam 1777, 29b–31a: „Les nerfs communiquent donc au muscle une force motrice. Mais d’autres expériences prouvent que c’est la puissance dérivée de la volonté qu’ils lui communiquent. […] Mais cette puissance de la volonté s’exécute uniquement par le ministère des nerfs. Qu’on lie le nerf d’un muscle quelconque, que ce nerf soit comprimé ou coupé, l’âme a beau vouloir, le mouvement qu’elle voudroit ordonner ne s’exécute plus. […] Le mouvement que le nerf donne au muscle, va en descendant, c’est-à-dire, qu’il descend du cerveau ou de la moëlle de l’épine au muscle, & il ne remonte pas du muscle au

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Das ist also die Ausgangslage für die Betrachtung der Hallerschen Irritabilitätslehre auch noch in den 1790er Jahren, als Platner sich ihrer annahm.36 Dabei scheint mir gerade der ambivalente Status der Nervenkraft in Hallers System ein Schlüssel zu sein, um zu verstehen, wie Platner – Hallers experimentelle Begründungen übergehend – die Trennung der Bereiche der Nerven und der Muskeln in seiner Physiologie aufhebt. Systematisch geht das Platner im Kapitel „De vi vitali” (‘Über die Lebenskraft’) der Quaestiones an, wo er einige Sektionen aus Band IV der Elementa physiologiae einer kritischen Lektüre unterzieht und seinen Begriff der ‘Lebenskraft’ darlegt.

III. Grundsätzlich betont Platner viel stärker als Haller die Rolle der Nerven, die in sich selbst die primäre Ursache der Fibernkontraktion haben können. In ihnen sucht er das Lebensprinzip, wobei er darunter nicht die vollständige Struktur der Nerven versteht, sondern den subtilen Spiritus, der die Nervenfibern durchwirkt. Platner operiert hier mit dem Begriff der ‘Lebenskraft’. Die Hallersche Irritabilität als selbstbewegende innere Kraft der Muskelfibern hält Platner für einen wahren Befund, es sei jedoch kontrovers, ob die ‘Lebenskraft’ (vis vitalis) mit der Irritabilität ende. Obschon die Nerven nicht irritabel seien, weil deren Struktur zur Kontraktion nicht geeignet sei, hindere nichts daran, daß die Muskelkontraktionen durch Nervenimpulse ausgelöst würden, und weil alle Muskelfibern innerviert seien, so sei der Stimulus zwar in den Nerven, dessen Empfindung (sensus) aber – wenn auch dunkel – im Geist; aus der Fibernbewegung resultiere also eine Empfindung, wobei es die Lebenskraft sei,

cerveau. […] Le sentiment n’a lieu que lorsque le nerf a conservé sa continuité naturelle avec le cerveau; dès qu’elle est interrompue, les lésions les plus violentes du nerf ne font plus d’effet sur l’âme. Il n’en est pas de même du mouvement. Pour que l’irritation du nerf en produise dans le muscle, il n’est pas nécessaire que le nerf soit entier, ni qu’il communique avec le cerveau. Un nerf séparé de sa partie supérieure ou lié, produit également des contractions dans son muscle, quand il est irrité sous la ligature ou sous la division. […] les nerfs, auteurs des mouvemens vitaux, ne partent pas privativement du cervelet: […]“. Vgl. auch: Haller, [Art.] Irritabilité, 107a: „[…] la force nerveuse, […], que je regarde simplement comme le mouvement produit dans les muscles par l’action des nerfs. Cette action est supprimée par la ligature du nerf, par son retranchement, par une cause quelconque, qui interrompt le commerce du nerf avec le cerveau, ou par des causes, qui affectent le cerveau, & et la moëlle de l’épine assez fort pour en intercepter l’influence sur le nerf“. Vgl. auch De Angelis, Von Newton zu Haller (wie Anm. 21), 330. 36 Zu Platners Kritik am Hallerschen Irritabilitätskonzept vgl. auch Ernst Platner, Neue Anthropologie für Aerzte und Weltweise. Mit besonderer Rücksicht auf Physiologie, Pathologie, Moralphilosophie und Aesthetik. Erster Band, Leipzig 1790, I. Buch, §§ 273–308.

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die in Abhängigkeit von der Struktur eine Bewegung hervorbringe oder nicht.37 Das steht ziemlich konträr zu dem, was Haller über die Wirkung der Nervenkraft gesagt hatte, die ihm zufolge nie in der Lage wäre, eine Empfindung auszulösen. Platner geht es also darum, die von Haller in den Elementa strikt festgelegte Grenze zwischen der Klasse der autonom-unbewußten, wie etwa dem Herzmuskel, und der nicht-autonomen, also dem Willen unterworfenen vitalen Bewegungen zu überwinden.38 Das tut Platner, indem er gegenüber den Alternativen Struktur (z.B. der Muskelfiber) oder Wille, die Haller als Ursachen von Muskelbewegungen angibt, einen dritten Weg geht. Zu diesem Zweck nimmt Platner eine Neuauslegung von Georg Ernst Stahls physiologischer Theorie vor und zieht hierzu Gottfried Wilhelm Leibnizens Schrift heran, die dieser über die Theoria medica vera Stahls verfaßt hatte;39 die Schrift war 1768 in der von Louis Dutens edierten sechsbändigen Genfer Leibniz-Werkausgabe erschienen.40 Das zeigt, daß Platner hier vor einem komplexen Text- bzw. Wissenshintergrund argumentiert. Aufgrund seiner Leibniz-Lektüre versucht er den motus vitalis mit Hilfe des Konzepts der appetitio obscura als einer vorrationalen Platner, Quaest. physiol. (wie Anm. 24), Lib. I, IV (De vi vitali), 105 f.: „Ergo ut nervi ad contractionem inepti sint: tamen contractionis fibrarum possunt in se primariam causam habere. Nos autem vitae principium in nervis quaerentes, ipsos integros nervos non intelligimus, sed subtilem spiritum eorum fibras pervadentem. […] Sed hoc nimirum caput controversiae est, an vis vitalis huiuscemodi irritabilitate terminetur. Qualis etsi non contigit nervis, utpote ad eam carentibus structurae commoditate: tamen nihil impedit, quo minus contractiones fibrarum muscularium illorum impulsu fiant: hoc pacto, ut, cum nulla earum nervos non habeat, stimulus in nervis fit, eius autem sensus (quamlibet obscurus) in animo; sensum denique fibrarum motus consequatur. Itaque vis vitalis nunc motum aliquem edit, nun nullum edit“. 38 Ebd., 117: „[El. Ph.] L.[iber] IV. Sect. V. §. 11.: ‘Monuisse sufficiat, classes musculorum voluntati obnoxiorum, et eorum, qui vitali imperio reguntur, aeternum fixas esse, neque in ullo homine aut arbitrarium aliquem musculum in spontaneam classem transire, aut vicissim vitalem musculum in eam migrare tribum, quae voluntati obsequitur’“. 39 Vgl. zur animistischen Physiologie Stahls: Francesco de Ceglia, Introduzione alla Fisiologia di Georg Ernst Stahl, Lecce 2000; vgl. auch François Duchesneau, Stahl, Leibniz, and the Territories of Soul and Body, in: John P. Wright, Paul Potter (Hg.), Psyche and Soma. Physicians and metaphysicians on the mind-body problem from Antiquity to Enlightenment, Oxford 2000, 217– 235; F. D., Leibniz et Stahl: divergences sur le concept d’organisme, in: Studia Leibnitiana 27/1 (1995), 185–212; zu den kommentierten Texten der Kontroverse Leibniz-Stahl in französischer Übersetzung vgl. jetzt: La controverse entre Stahl et Leibniz sur la vie, l’organisme et le mixte, hg. von Sarah Carvallo, Paris 2004. 40 Gottfried Wilhelm Leibniz, Animadversiones Circa Assertiones aliquas Theoriae Medicae verae Clar. Stahlii; cum ejusdem Leibnitii ad Stahlianas observationes Responsibus [1707], in: Gothofredi Guillelmi Leibnitii, Opera omnia. Nunc primum collecta, in Classes distributa, praefationibus & indicibus exornata, studio Ludovici Dutens, Bd. 2, Zweiter Halbband: Physicam generalem, Chymicam, Medicinam, Botanicam, Historiam Naturalem, Artes & c. Genevae, Apud Fratres de Tournes, MDCCLXVIII, 128–161. 37

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Perzeption zu begreifen.41 So entstehe der motus vitalis nicht aufgrund von Überlegung (ratiocinatio), sondern durch eine vorbewußte Seelenregung, die nicht voluntativ, sondern vital sei, d.h. ein innerer Zweck, nicht distinkt, dunkel und einem gewissen Erhaltungstrieb des Körpers eingeschrieben.42 Es sei daher übertrieben, wenn Stahl sage, die mens lenke sämtliche Lebensfunktionen des Körpers. Der Fehler liege aber in der Wortwahl, nicht im Inhalt der Stahlschen Aussage. Denn Stahl habe darunter nicht die voluntas, sondern lediglich die appetitio verstanden.43 Es gibt nämlich, so Platner, viele Tätigkeiten des Geistes in der Lenkung körperlicher Prozesse, denen kein Bewußtsein beigegeben ist und die einzig durch dunkle Perzeptionen ausgelöst werden. Demnach kann diejenige Bewegung, die von einer dunklen Empfindung ausgeht, wie sie Platner der Wirkung der Nerven zuschreibt, weder unter das Bewußtsein, noch unter die voluntas fallen.44 In der Identifizierung eines für vitale Funktionen zuständigen Mittelbereichs zwischen Körper und Geist sieht sich Platner durch Leibniz bestätigt, der in seiner Schrift über Stahl davon spricht, daß im Körper nichts geschehe, was die Seele nicht perzipiere und nicht durch ihr appetitives Vermögen ausgeführt werde, selbst wenn wir nichts davon merkten.45 Das Beispiel, das Leibniz anführt, um seine Aussage zu veranschaulichen, ist der Embryologie bzw. der 41 Zum Begriff der ‘vorrationalen Perzeption’ vgl. Thomas Leinkauf, Der Naturbegriff des 17. Jahrhunderts und zwei seiner Interpretamente: „res extensa“ und „intima rerum“, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 23 (2003), 399–418. 42 Platner, Quaest. physiol. (wie Anm. 24), Lib. I, IV, 117: „Motus vitales non ratiocinatione fieri, sed ratione, non animali voluntate, sed vitali, i.e. propter finem; quamvis non distincte cogitatum, sed obscuro tantum quodam corporis conservandi desiderio involutum atque comprehensum“. 43 Ebd., 118: „Itaque hoc nimium est, quod Stahlius dicit, mentem totius corporis quasi gubernacula tenere, eiusque functiones omnes insigni cum prudentia regere ac moderari. Sed hoc in verbis, ut opinor, non in sententia vitium est. […] Ergo non voluntas, sed quaedam duntaxat appetitio est a Stahlio intellecta. Attamen demto voluntatis vocabulo non tollitur animi vis“. Dadurch wird auch verständlich, weshalb Leibniz gegenüber Stahl u.a. die materialistische Implikationen beinhaltende Verwendung des Begriffs ‘anima’ als ‘mens’ kritisiert; vgl. Roberto Palaia, Machine Infinite e Organismi. Machina-Machine negli scritti leibniziani, in: Marco Veneziani (Hg.), Machina. XI Colloquio Internazionale Roma, 8–10 gennaio 2004, Firenze 2005, 385–398, hier 395. 44 Ebd.: „Etenim multae sunt animi, in tractandis atque regendis corporis nostri instrumentis, actiones, quibus nulla adiuncta conscientia sit, solis obscuris perceptionibus elicitae. Atqui ille sensus, quem dicimus nervorum ministerio excitari, cum omnium maxime obscurus sit, et conscientiae expers: nec in eum motum, qui inde nascitur, aut conscientia cadere potest, aut voluntas“. 45 „[...] ita ut nihil fiat in corpore, quod non anima revera percipiat, nihil circa quod non appetitum suum, [...] exerceat; etsi non advertentibus nobis“. Vgl. Animadv. Circa Assertiones aliquas Theor. Med. Clar. Stahlii. Leibn. Opp. Tom. II. P. II., 135 (zit. nach Platner, Quaest. physiol. [wie Anm. 24], Lib. I, IV, 120).

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Embryogenese entnommen: Leibniz greift nämlich ein embryogenetisches Erklärungsmodell auf, das auf die Debatte um die Rolle der vegetativen Seele im modifizierten Aristotelismus des 16. Jahrhunderts zurückgeht und etwa in Julius Caeser Scaligers einflußreichem Werk Exotericae exercitationes (1557) diskutiert worden war:46 Nach diesem Modell übt die anima vegetativa in der embryonalen Phase – und zwar zuerst im Blick auf die Bildung der Organe der Ernährung – eine perzeptiv-plastische Funktion aus und nicht eine perzeptivsensitive bzw. kognitive, weil der Embryo die hierzu notwendigen Organe noch gar nicht hat.47 Auf dieser niedrigen Stufe des foetalen Lebens ist es nach Leibniz möglich, die Verbindung von konfusen Perzeptionen bzw. der appetitio obscura mit sämtlichen körperlichen Ernährungsfunktionen, die nicht dem Willen unterworfen sind, zu verstehen.48 Mit der Entwicklung des Foetus und der Ausbildung der Sinnesorgane hört diese vegetative Funktion jedoch nicht auf zu existieren, sondern agiert weiter als perzeptiv-vitales Prinzip, das, ohne vom Bewußtsein wahrgenommen zu werden, die Lebensfunktionen des Körpers steuert, und zwar auch die vitalen Bewegungen, die ‘als dem Willen unterworfen’ bezeichnet werden. Für Leibniz sind nämlich nur diejenigen Tätigkeiten eigentlich ‘als dem Willen unterworfen’ zu bezeichnen, die wir durch einen freien Willensakt machen und derer wir uns bewußt sind.49 Leibniz’ Vorgaben ermöglichen Platner also, sein Argument gegen Hallers apodiktisch festgelegte Kategorisierungen auf einen präzisen Punkt zu bringen und an einem Beispiel zu illustrieren: In dem Genre von vitaler Bewegung, die dem Willen unterworfen und also bewußt ist, ist dennoch das Bewußtsein bzw. der Wille nicht auf die Bewegung selbst zu beziehen, sondern lediglich auf die Handlung, die aus dieser Bewegung hervorgeht. Niemand ist sich nämlich des vielfältigen Gebrauchs der Finger bewußt, der Kontraktionen und Dehnungen, Zwischen 1557 und 1665 kannte Scaligers Werk insgesamt elf Ausgaben, die meisten davon wurden in Deutschland veröffentlicht; vgl. hierzu Michel Magnien, Bibliographie Scaligérienne, in: Acta Scaligeriana. Actes du Colloque International organisé pour le cinquième centenaire de la naissance de Jules-César Scaliger (Agen, 14–16 septembre 1984), hg. von Jean Cubelier de Beynac, Michel Magnien, Agen 1986, 293–331, hier 301 f. 47 De Angelis, Zum Problem der Genese der Seele (wie Anm. 17), 101–109. 48 Animadv. Circa Assertiones aliquas Theor. Med. Clar. Stahlii. Leibn. Opp. Tom. II. P. II., 135: „[…] et peculiariter cum fetu, intelligere licet, confusas perceptiones et occultos appetitus non minus concurrere consentireque cum omnibus intestinis functionibus corporis, quae involuntariae appellantur, totaque formatione fetus; […]“ (zitiert nach Platner, Quaest. physiol. [wie Anm. 24], Lib. I, IV, 120). 49 Ebd.: „Interim non inepte motus voluntarii appellatur, qui appetitibus distinctius cognitis connectuntur, ubi media finibus ab anima nostra adaptari animadvertimus ipsi: tametsi in motibus etiam caeteris appetitus ad suos fines per media procedat; quanquam non animadvertentibus. Voluntariae enim eae actiones demum proprie appellantur, quae deliberatione facimus et quarum conscii sumus“ (zitiert nach Platner, Quaest. physiol. [wie Anm. 24], 120). 46

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die durch viele Muskeln, Gelenkverbindungen und Sehnen ausgeführt werden. So sind auch diejenigen Muskelbewegungen, die als ‘dem Willen unterworfen’ bezeichnet werden, in gewisser Weise frei von Willen. Einmal vom freien Willen des Geistes ausgelöst, pflanzt sich eine solche Bewegung ohne ein Bewußtsein fort. Daraus geht hervor, schließt Platner sein Argument, daß es eine Einwirkung des Geistes auf die Organe des Körpers geben kann, ohne daß das Bewußtsein und der Wille daran teilhaben.50 Das Beispiel der Muskelbewegung in den Fingern des Gitarrenspielers, der bei seinem virtuosen Zupfen des Saiteninstruments nicht an jede einzelne seiner Fingerbewegungen denken muß, ist signifikant für den Wissenshorizont, vor dem Platner hier argumentiert: Dieses Beispiel findet sich nämlich schon bei Scaliger, der diese Form von ‘Muskelgedächtnis’ als eine natürliche Funktion der anima vegetativa erklärt, die auf zwei Prinzipien des Erinnerungsvermögens – der Übung und der Gewohnheit – beruht. In der heutigen Hirnforschung würde man solche Fingerbewegungen als automatisierte Bewegungen beschreiben, die vom sogenannten ‘impliziten’ bzw. ‘prozeduralen’ Gedächtnis gespeichert werden.51 Leibniz, Stahl und Platner greifen also mit ihrer Idee eines außerhalb der Willens- und Urteilssphäre agierenden plastischen oder perzeptiv-vitalen Prinzips des Geistes, das sämtlichen Lebensfunktionen zugrundeliegt, auf ein vorcartesianisches Wissen über die Seele zurück, das mit dem rationalistischen Denkmodell der klaren Trennung des Körperlich-Ausgedehnten und des Seelisch-Geistigen grundsätzlich nicht zu vereinbaren ist. In wissenschaftsmethodologischer Hinsicht ist auch die Physiologie Hallers diesem rationalistischen Denkmodell verpflichtet geblieben, woraus sich dessen Vorwürfe gegenüber der animistischen Physiologie Stahls, die Platner beerbt, erklären lassen. So erstaunt es wenig, wenn Hallers Kritik an Stahl, die Platner referiert, stark an die Probleme erinnert, die schon Goclenius im Seelenbegriff Scaligers identifiziert hatte. Das betrifft vor allem die Vorstellung von der ‘weisen’, d.h. plastisch-vegetativen Seele52 sowie die Vorstellung, daß der animus humanus Platner, Quaest. physiol. (wie Anm. 24), Lib. I, IV, 121 f.: „Et quod caput rei est, in hoc quoque voluntariarum actionum genere, etsi viget animi conscientia cum voluntate: non tamen, nec voluntas, nec conscientia ad ipsum motum spectat, sed tantum ad eam actionem, quae ex hoc motu oritura est. Nemo enim, ut hoc utar, in vario illo ac multiplici digitorum usu sibi conscius est, contractionum, diductionum, porrectionum, quae tot musculis, commissuris, tendinibus et articulis perficiuntur. Ergo etiam eorum musculorum, quos voluntarios appellant, motus quodammodo expers est voluntatis. Qui etsi inchoari per animi arbitrium solet: tamen semel inchoatus, sine ulla nec motus, nec instrumentorum conscientia procedit. Ex his manifestum est, posse in corporis instrumentis mentis actionem esse, citra ullam conscientiae ac voluntatis participationem“. 51 Vgl. hierzu auch De Angelis, Zum Problem der Genese der Seele (wie Anm. 17), 111, sowie unten Abschn. V, Koroll. 2. 52 Vgl. z.B. Rodolphi Goclenii Professoris Logici et Mathematici in Academia Marpurgensi, 50

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seinen Körper selbst erbaut, ernährt und erhält, weil der Körper das nicht von selbst tut, sondern der eigenen Zerstörung zuarbeitet, und schließlich die Vorstellung, daß die actio vitalis den Prinzipien der Gewohnheit und der Notwendigkeit folgt.53 Das sind Vorstellungen, die allesamt wiederum embryogenetischen Konzepten der Renaissance entstammen. So findet sich etwa die Idee, daß sich der Geist im Mutterleib seinen eigenen Körper erbaut, im De animaKommentar des griechischen Aristotelesinterpreten Themistios, den auch Scaliger kannte.54 Hallers starke Polemik gegen Stahl richtet sich besonders gegen das Konzept der ‘weisen’ Seele, welche die Macht Gottes nachahme. Damit wird klar, daß Hallers Bedenken gegenüber jedwedem Konzept von plastischer Seele vor allem theologisch motiviert waren.55 Platner aber kann der Hallerschen Kritik nicht folgen. Ihm geht es vor allem darum, zu zeigen, daß das, was Stahl sagt, nichts Unsinniges an sich hat.56 Stahl meine nämlich jene plastisch-vitale Fähigkeit des Geistes, die auch Embryos bilde und die wir auch Analyses In exercitationes aliquot Julii Caesaris Scaligeri, de Subtilitate, quas è dictantis or exceptas Philosophiae studiosis exhibet & communicat M. Johannes Schroderus Suecus, Marpurgi 1599, VI. Sect. Explicatio, 119: „Affirmationem hic tuetur Scaliger: nobis placet negans. Vegetatrix enim nihil cognoscit, cùm cognitio sit in sensitrice vel intellectrice: & quid cognoscat illa anima, cùm nondum habeat organa, quibus cognoscat, cùm nondum exerceat actus, officia, ενεργειαν, functiones sensuum? Anima quidem non est ignara suarum actionum, postquam ex utero prodiit vivens. At anima in utero nondum potest per propria organa operari, cùm adhuc imbecilla & imperfecta sit: [...]. Ignara igitur est suarum functionum, dum in utero est“. 53 Platner, Quaest. physiol. (wie Anm. 24), Lib. I, IV, 130 f.: „Igitur Stahlius, cuius de vi consuetudinis ac necessitatis sententia iam paulo diductius explananda est, statuit, multisque argumentis, certe probabilibus et ad persuadendum idoneis, demonstrat, fuisse quondam in illos quoque vitales motus animi imperium quoddam; nempe cum animus ipse sibi corpus suum, (quod Stahlio placet), in utero materno construeret. Id vero imperium abrogatum et sublatum esse, harum actionum perpetua consuetudine, et paulatim firmata necessitate. […]. Proinde animus humanus, quamvis a nobis dicatur corporis sui fabricator, et altor, et conservator esse: tamen in his omnibus vitae animalis procurationibus, non suae prudentiae consiliae quaedam exequitur, sed divinae sapientiae videtur esse minister“. 54 Julius Caesar Scaliger, Exotericarum exercitationes liber quintus decimus de subtilitate ad Hieronymum Cardanum, Lutetiae 1557, fol. 15v: „Sic etiam sensit Themistius in primo De anima: Animam sui esse domicilij architectam“. Vgl. auch De Angelis, Zum Problem der Genese der Seele (wie Anm. 17), 104. 55 Zum ‘neospinozistischen’ bzw. ‘materialistischen’ Problemhintergrund bei der Beurteilung der bildenden Kräfte der Materie durch Haller vgl. De Angelis, Von Newton zu Haller (wie Anm. 21), 439–477. 56 Platner, Quaest. physiol. (wie Anm. 24), Lib. I, IV, 130 f.: „Ego vero, etsi haec subtilissimi viri [sc. Stahl] decreta nunc nolo tueri: temperare tamen mihi non possum, quin saltem hoc ostendam, nihil ea ineptiae in se habere; quod visum est nonnullis doctis viris, et in his, ut credo, ipsi Hallero, scribenti haec: ‘Nihil unquam mihi vel a poeta visum est minus credibile dici, quam hanc animae, adeo fero, adeo modice sapientis, aemulam divini creatoris potestatem’“.

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den Seelen der einfachsten Insekten nicht absprächen. Platner erläutert hier ausführlich den Begriff der ‘Tierseele’, den etwa Hermann Samuel Reimarus in seinen Allgemeine[n] Betrachtungen über die Triebe der Thiere, hauptsächlich über ihre Kunsttriebe (1760) behandelt hat und den Platner bedenkenlos in den Rahmen einer natürlichen Theologie bzw. Religion stellt.57 Gerade dieser Text von Reimarus, den Platner in den Philosophischen Aphorismen berücksichtigt,58 ist von grundlegender Bedeutung für eine neue Wissenschaft vom Menschen, wie sie sich in der Spätaufklärung vor allem bei Herder konstituiert; sie basiert u.a. auf der zentralen These der „umgekehrten Proportionalität der Instinktbindung und organischer Entwicklung“, die eine Voraussetzung dafür ist, daß der im Vergleich zum Tier instinktärmere Mensch auf der naturalen Basis des aufrechten Ganges ‘Vernunft’ ausbildet – in Form von Gesellschaft, Sprache und Kultur.59 In den 1790er Jahren orientiert sich Platner, was die Vorstellung einer Höherentwicklung von Organismen bzw. psychischen Vermögen betrifft, wieder mehr an der philosophischen Linie von Leibniz-Bonnet, auf die am Schluß des folgenden Abschnittes nochmals zurückzukommen ist.

IV. Vor diesem Hintergrund läßt sich besser begreifen, warum Platner Hallers Vorwurf an Stahl, dieser gebe statt einer physischen eine metaphysische Erklärung der Bewegung der vitalen Organe, insbesondere der Herzbewegung, zurückweist.60 Die Deutung des Begriffs des Metaphysischen, die Platner in die-

Ebd., 131: „At vero Hallerus non cogitat, hebetissimorum animantium, inprimis insectorum, sine experientia et sagacitate, mirabilia artificia deprehendi. Ea autem ab ipsis illorum animis perfici, quis inficietur? At vero etiam hoc adiungunt philosophi, animos brutorum, insitis a deo ac determinatis facultatibus ad illa sua artificia concinnanda impelli, et quadam dirigi necessitate; ita ut non suae sed divinae sapientiae testimonium edant. […] Ergo Stahlius, […], tale arbitrium intelligit, quale etiam stupidissimorum insectorum animis haud negamus inesse. Id vero arbitrium amissum esse consuetudine, stabilita autem consuetudine necessitatem motuum vitalium invaluisse, minime repugnat“. 58 Im bibliographischen Anhang der Philosophischen Aphorismen (1784) ist die dritte Ausgabe Hamburg 1773 erwähnt. 59 Vgl. Wolfgang Proßens Kommentar zu: Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Bd. 3.2, München, Wien 2002, 213–220, Zitat 213. 60 Platner, Quaest. physiol. (wie Anm. 24), Lib. I, IV, 135: „[Elementa Physiologiae] L. IV. Sect. V. §. X. ‘Metaphysica illa Cl. Viri explicatio non adsignat causam corpoream, quare organa vitalia, et cor inprimis perpetuo alterno motu magis agitentur, quam quidem alia quaevis corporis animati caro’“. 57

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sem Zusammenhang vorlegt,61 ist sehr aufschlußreich, weil sie einerseits die naturrechtliche Matrix aufzeigt, vor der Platner argumentiert. Andererseits ist sein Metaphysikbegriff Ausdruck der Krise eben dieses naturrechtlichen Diskurses und der animistischen Physiologie, die darauf basiert; er ist zudem auch im Kontext des Rationalisierungsvorganges zu lesen, der die epistemische Situation um 1800 kennzeichnet. Platner setzt das Problem, um das es ihm geht, bereits auf der Ebene des Sprachgebrauchs an: Haller bezeichne Stahls Begründung vitaler Regungen deshalb als ‘metaphysisch’, weil in dessen Sprechweise einzig das als ‘physisch’ bezeichnet werden darf, was die Eigenschaften und Gesetze von Körpern enthält. Das habe zum weitverbreiteten Irrtum geführt, daß in allen naturwissenschaftlichen Fragen jede Erklärung falsch sei, die nicht von den Gesetzen von Körpern abgeleitet ist.62 Das Ausschließen der Kategorie der ‘geistigen’ Ursachen aus der Naturwissenschaft, die etwa Seelenregungen betreffen,63 sieht Platner also als Bedrohung der gesamten vom Renaissancearistotelismus her kommenden, von Stahl tradierten und von Leibniz bestätigten Physiologie: Denn ließe man die Kraft des Geistes nicht gelten, würde die Erfassung des Seelischen unmöglich.64 Ganz im Sinne des naturrechtlichen Denkens faßt Platner also unter dem Begriff der ‘physischen’ und ‘metaphysischen’ Dinge Wissensbereiche zusammen, welche die von Goclenius in Deutschland eingeführte Metaphysik scharf voneinander getrennt hatte.65 Platner beurteilt Stahl Ebd., 135 und 138: „Duplex in hoc argumento inest Stahlianae disciplinae reprehensio: una quod male ab eo adhibeatur metaphysica explicatio, altera, quod physica explicatio male omittatur. Igitur duplici quoque responsione videtur esse opus. Primum non video, quid peccatum sit a Stahlio, in quaestione naturali, metaphysicam quandam explicationem adhibente. Vel potius id disquiramus, quid sit metaphysica explicatio?“ 62 Ebd., 136 f: „[…] factum esse perversa quadam loquendi ratione, ut tantum id physicum diceretur, quod corporum attributa et leges comprehenderet; adeo ut parum abesset, quin animi eorumque proprietates de rerum natura quasi excluderentur. Unde ille plurimorum error manavit, omnem in quaestionibus naturalibus explicationem vitiosam esse, quae non a corporum legibus ducatur“. 63 Ebd., 137: „[…] ut, quia duo omnino sunt rerum genera, corpora et mentes, etiam duo causarum genera constituantur; unum corporearum rerum, alterum incorporearum; in quo postremo genere inest omnis animorum actio“. 64 Ebd.: „Nam demta vi animi, tollitur notio animalis; hac autem sublata, omnis evertitur physiologiae disciplina“. 65 Vgl. Rodolphi Goclenij Academiae Marpurgensis Professoris, Isagoge in Peripateticorum et Scholasticorum Primam Philosophiam, quae dici consueuit Metaphysica. Accesserunt disputationes huius generis aliquot, Francofurti 1598, und jetzt auch R. Goclenius, Isagoge. Einführung in die Metaphysik 1598, übers. und hg. von Hans Günter Zekl, Würzburg 2005. Zur Analyse der Trennung von physica und metaphysica bei Goclenius vgl. De Angelis, Zum Problem der Genese der Seele (wie Anm. 17), 112–122; vgl. zum Metaphysikbegriff bei Goclenius auch Gideon Stiening, „Partes Metaphysicae sunt duae: Deus & Mentes.“ Anmerkungen zur Entstehung und 61

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somit im Horizont dieses frühneuzeitlichen Verständnisses von Metaphysik als eben genau jener „prima philosophia sive ontologia“, die „sich einzig mit den Begriffen und Prinzipien des menschlichen Geistes beschäftigt“; Stahls Erklärung sei daher „ganz physisch, da sie ja die Dinge betrachtet, die ausserhalb unseres Intellekts im Reich der Natur bestehen“.66 Aus diesem Blickwinkel legitimiert Platner also nicht nur scheinbar metaphysische Fragestellungen, sondern relativiert skeptisch auch vermeintliche Gewißheiten über die Konzepte der Physiologie: So seien seine Argumente „nicht ‘metaphysischer’ als die übrigen, die andere in der Physiologie einbringen, wie die Lehre von den Elementen, vom Nervensaft oder [Hallers eigene Lehre] von den einfachen Fibern“.67 In der Tat wußte Haller selbst gut genug, daß er den submikroskopischen Bau der Muskelfiber – dem Basisbegriff seiner Physiologie – nicht sehen konnte.68 Von hier aus lassen sich schließlich auch die spekulativen Elemente in Platners Physiologie wie die Nervensaft- oder fluidum nerveum-Hypothese erklären. Diese hat er – wohlgemerkt – selbst auch als wahrscheinliche Hypothese verstanden, wie seine methodologisch reflektierten Überlegungen über den grundsätzlich wahrscheinlichen und konjekturalen Charakter der empirischen und theoretischen Sätze der Physiologie am Beginn der Quaestiones zeigen.69 In den Quaestiones physiologicae identifiziert Platner den Nervensaft mit der Lebenskraft, mit eben dem vitalen Prinzip, das die Fibern des Gehirnmarks und der Nerven durchdringt70 und das – gemeinsam mit dem Seelenorgan im Entwicklung der Psychologie als Metaphysica specialis zwischen Rudolph Goclenius und Christian Wolff, in: Oliver-Pierre Rudolph, Jean-François Goubet (Hg.), Die Psychologie Christian Wolffs: Systematische und historische Untersuchungen, Tübingen 2004 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung, 22), 207–226. 66 Platner, Quaest. physiol. (wie Anm 24), Lib. I, IV, 138: „Itaque Hallerus illam Stahlii explicationem, e media philosophia petitam, hoc nomine exagitans, quod metaphysica sit, non physica: in ipsa notione metaphysices videtur errare. Ea enim, si discesseris ab illa prima philosophia, sive ontologia, quae in summis notionibus atque principiis mentis humanae declarandis versatur: tota physica est; quippe quae res extra intellectum nostrum positas et natura comprehensas contempletur“. 67 Ebd.: „Quandoquidem igitur omnis quaestio de rebus extra sensus positis instituta, et non a sensibus sed a ratione suscepta, metaphysica est: quae nos proponimus, non magis metaphysica sunt, quam caetera, quibus alii in physiologia utuntur; ut, u.c. elementa, fibrae vere simplices, fluidum nerveum“. 68 De Angelis, Von Newton zu Haller (wie Anm. 21), 321 f. 69 Platner, Quaest. physiol. (wie Anm 24.), Prooemium, II (De physiologiae definitione), 16– 18, hier 17: „Ideoque disputationem probabilem nomino physiologiam: quippe in qua nihil non coniecturale est, sive ad observationes respicias, quae ei pro materia et fundamento sunt, sive ad argumentationes, quae inde deducuntur“. 70 Platner bezeichnet aber auch den ‘Nervengeist’ als Seelenorgan, das einen ‘geistigen’ und einen ‘thierischen’ Teil hat; vgl. Platner, Neue Anthropologie 1790, I. Buch, VI, § 186, IX, §§ 210

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Gehirn71 – konstitutiver Bestandteil des sogenannten ‘Ätherkörpers’ (corpus aethereum) ist; der Ätherkörper ist seinerseits mit dem (immateriellen) unsterblichen Geist verbunden und wirkt gleichzeitig in diesen ein.72 Wenn man nun bedenkt, was Charles Bonnet, dem Platner hier viel verdankt, über die Konjektur des Ätherkörpers schreibt – dieser sei der Körper des Menschen in der Welt nach dem Tod, in dem dessen Ich bzw. Persönlichkeit gänzlich aufbewahrt bleibe,73 – so wird deutlich, daß die Nervensaft-Hypothese letztlich einer natürund 212: „Das geistige Seelenorgan ist derjenige Theil des Nervengeistes, welcher enthalten ist in den Nerven der höheren Sinnen; und in den Werkzeugen der Phantasie, wiefern sich die Phantasie auf die höhern Sinnen bezieht, und materielle Ideen hervorbringt, welche mittelbar oder unmittelbar davon abhangen. […]“. 71 Platner ist wie die meisten Philosophen und Physiologen überzeugt, daß das Seelenorgan als dem Perzeptions-, Gedächtnis- sowie Impulszentrum der willentlichen Bewegungen in der Gehirnregion zu verorten ist, in der alle Nerven entspringen und wo auch der Sitz der Seele vermutet wird. Vgl. Quaest. physiol., Lib. I, II (Corporis humani descriptio generalis), 57: „Atque hoc est animi primarium instrumentum πρωτόν αι̉σθητηριον, in quo philosophorum atque physiologorum omnium concessu, et perceptionis atque memoriae officinam, et voluntariae actionis vigorem, ipsiusque animi sedem ac domicilium collocamus. Quod ubi sit, etsi non ita exploratum habemus, ut digito monstrare queamus: tamen non potest dubitari quin sit in ea cerebri regione, in qua coniunctio est nervorum omnium“. Vgl. auch ebd., 58: „Quod non eo iam dico, ut cerebro nulla ad sensum et memoriam commoditas relinquatur: sed haec mea opinio est, motus eos, qui ad excitandas ideas valeant, (illos motus perabsurdo vocabulo ideas materiales appellant), in primario hoc, quod quaerimus, animi instrumento inesse, non fibrarum medullarium tremoribus concitari: tametsi una hae quoque in motum cieantur; quippe transmittentes ad instrumentum animi impulsionem externam, et vero etiam resuscitantes quodammodo hanc impulsionem, quando per memoriam visum aliquod instauratur“. Platner basiert seine Aussagen u.a. auf Studien der Anatomen Wriesberg und Soemmerring, die den Ursprung der Nerven in der Nähe der sogenannten vierfachen Erhebungen (corpora quadraginta) in Richtung Gehirnzentrum annahmen; vgl. ebd., 59. Thomas Soemmerring greift seinerseits Platners Konzept auf und zieht in seiner Schrift Ueber das Organ der Seele (1796) den Schluß, daß das Seelenorgan „in der Feuchtigkeit der Hirnhöhlen bestehen, oder in selbiger enthalten seyn“ müsse; vgl. hierzu Werner Euler, Die Suche nach dem „Seelenorgan“. Kants philosophische Analyse einer anatomischen Entdeckung Soemmerrings, in: Kant-Studien 93 (2002), 453–480, Zitat 461. 72 Platner, Quaest. physiol. (wie Anm. 24), Lib. I, II (Corporis Humani Descriptio Generalis), 64: „I. CORPUS AETHEREUM. […] Cuius si quis a me definitionem requirit, eam partem corporis humani dico, quae una et sine alius partis interiectu cum animo copulata est, unaque in eum agit; et in qua vicissim omnes conatus ad motum omnesque actiones suscipiuntur et diriguntur. Sed vero duplex hoc corpus aethereum esse dicas, duabusque partibus complexum: nam aliud est instrumentum animi primarium de cuius principatu supra dixi: aliud vitale principium per omnes diffusum carnosae partis nervos; quod fluidum nerveum vulgo solet nominari“. 73 Charles Bonnet, Essai analytique sur les facultés de l’âme. Kopenhagen 1760 (ND Hildesheim 1973), Chap. XXIV, §§ 738–750: „On est aujourd’hui fort porté à penser, que le Fluide nerveux est d’une nature analogue à celle du Feu, ou du Fluide électrique. […] C’est donc une Conjecture qui n’est pas dépourvë de probabilité, que l’Organe immédiat des Opérations de nôtre Ame, est un Composé de Matière analogue à celle du Feu ou de l’Ether. […] Dans ce nouvel état, l’Homme peut conserver son Moi, sa Personalité. Son Ame demeure unie à une petite Machine,

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lichen Theologie dient, an der Platner festhält. Die Interpretation, die Bonnet seinen experimentellen Studien über die Regeneration von Süßwasserpolypen gibt und die auch seine Theorie der präformierten Keime stützt (daß nämlich jede Reproduktion ein ganzes Individuum enthält), hat er auf seine Idee von ‘Palingenesie’ übertragen, bei der es u.a. um die Bewahrung der Persönlichkeit des Individuums im Zustand nach dem Tod geht.74 Das ist genau das Konzept, das Platner in seine Physiologie aufnimmt, denn Platner faßt den Tod nicht als Ende, sondern als Wandel, als Metamorphose im Sinne Bonnets auf: Der Ätherkörper bleibt über den Zustand des Lebens hinaus mit dem unsterblichen Geist verbunden, und die Persönlichkeit eines Individuums bewahrt ihren vergangenen Zustand auch in einem zukünftigen Zustand nach dem Tod. Die Lebenskraft bzw. der Nervensaft avanciert somit bei Platner nicht nur zur physiologischen Basis der bewußten und unbewußten geistigen Prozesse eines lebenden Individuums, sondern durch den Ätherkörper auch zur Grundlage der Aufbewahrung von dessen Persönlichkeit über den Tod hinaus. So mag es denn wenig erstaunen, wenn die physiologische Hypothese in den Quaestiones physiologicae in direktem Zusammenhang mit dem metaphysischen Bedürfnis steht. Über jenes primäre Seelenorgan bestehe zwar nicht die Gewißheit, die durch die Wahrheit der Sinne bezeugt werden kann, dennoch sei er mit seiner Konjektur nicht vom Prinzip der Wahrscheinlichkeit abgewichen, schreibt Platner; er gestehe, daß er an ihr um so stärker festhalte, als sie ihm hinsichtlich des Glaubens an die Unsterblichkeit der Seelen ein stützendes Argument liefere, das, wenn nicht vor der Vernunft, so doch vor der Fantasie von einigem Gewicht zu sein scheine.75 Damit macht Platner klar, daß dem dont quelques Fibres ont retenu des Déterminations plus ou moins durables. […] Nôtre Corps actuel a un rapport direct au Monde que nous habitons: celui qui est renfermé en petit dans le Siège de l’Ame, a un rapport direct au Monde que nous habiterons un jour“. Vgl. auch Charles Bonnet, Palingénésie philosophique [1769], 1ère partie, Idée sur l’état futur des animaux, Paris 2002, 129–140; vgl. hierzu Roselyne Rey: La partie, le tout et l’individu: Science et philosophie dans l’œuvre de Charles Bonnet, in: Marino Buscaglia u.a. (Hg.), Charles Bonnet. Savant et Philosophe (1720–1793), Actes du Colloque international de Genève (25–27 novembre 1993), Genève 1994, 61–75, 69 f. 74 Bonnet, Essai analytique (wie Anm. 73), Chap. XIV, §§ 726 und 728: „La Mort ne seroitelle point pour lui [sc. l’Homme] une préparation à une sorte de Métamorphose qui le feroit jouïr d’une nouvelle Vie? […] Si la Mort n’est pas le terme de la durée de nôtre Etre; si nôtre Ame doit être unie un jour à un autre Corps, pour n’en être jamais séparée; il y a quelque probabilité que ce Corps existe déja en petit dans celui qu’elle habite actuellement“; vgl. hierzu auch Bonnet, Palingénésie philosophique, Troisième partie. Berührungspunkte und Schwierigkeiten der Beziehung zwischen Lebenswissenschaften und Philosophie bei Bonnet analysiert Rey, La partie, le tout et l’individu (wie Anm. 73), 63–70. 75 Platner, Quaest. physiol. (wie Anm. 24), Lib. I, II, 74: „Quanquam de illo primario instrumento non ita constat, ut eius veritatem sensuum fide comprobatam habeamus: tamen quoniam in illa coniectura non receditur a modo probabilitatis, fateor me tanto magis eam com-

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Problem des metaphysischen Bedürfnisses nicht auf der Ebene der abstrakten Vernunft begegnet werden kann.76 Denn die Vernunft entlarvt das Bedürfnis nach Unsterblichkeit als Wunschglauben – und „der Wunsch, etwas zu glauben, ist nicht nur ein unzureichender Grund, es zu glauben, sondern an und für sich ein Gegengrund“.77 Damit ist aber das metaphysische Bedürfnis als Problem nicht liquidiert. Im Gegenteil: Den Glauben betrachtet etwa der Glaubensphilosoph Friedrich Heinrich Jacobi „als der einzige Überzeugungsgrund für das Seyn Gottes“, den die Vernunft nicht begreifen kann.78 Der Arzt Platner setzt auf der Ebene der psychischen Zustände und der alltäglichen Phänomene in der Lebenswelt an. Dort, wo angesichts des Problems des Todes ein konkretes metaphysisches Bedürfnis existiert bzw. erfahren wird. Denn das Totsein sei zwar kein Übel, dennoch sei im Sterben zu liegen qualvoll.79 Es geht also um psychische Zustände und Imaginationen von Menschen, die an ein Leben nach dem Tod und sich gleichzeitig dem Tod nahe glauben.80 Platner ist zudem in der Lage, genauer zu sagen, wovor sich jemand, der bald plecti atque tueri, quod ad spem immortalitatis animorum adiumenti aliquid, si non rationi, tamen phantasiae hominum, videtur afferre“. 76 Vgl. auch Ernst Tugendhat: Über den Tod. Frankfurt am Main 2006, 7: „Freilich, man könnte weitergehen und die Besorgnis zum Ausdruck bringen, daß die abstrakt begrifflichen Mittel der Philosophie schon als solche die Todeserfahrung in ihrer Konkretisierung und Variabilität verstellen“. Über den Tod ist zuerst erschienen in: Marcelo Stamm (Hg.), Philosophie in synthetischer Absicht, Stuttgart 1998, 487–512. Die Ausgabe 2006 folgt dem Wiederabdruck in: Ernst Tugendhat, Aufsätze 1992–2000, Frankfurt am Main 2001 67–90. Vgl. auch Ernst Tugendhat, Wem kann ich danken? Über Religion als Bedürfnis und die Schwierigkeit seiner Befriedigung, in: NZZ, 9. Dezember 2006. Vgl. http://www.nzz.ch/2006/12/09/li/articleENZ78.html [Accessed December 19 2006]: „Menschen haben, jedenfalls im Allgemeinen, das Bedürfnis weiterzuleben; auch das ist anthropologisch begründet. Dieses Bedürfnis steht aber im Widerspruch zur Realität: Alles individuelle Leben hört nach einiger Zeit auf. Aber das Bedürfnis weiterzuleben ist so tief fundiert, daß Menschen in allen Kulturen versucht haben, auf die eine oder andere Weise, mit oder ohne Religion, ein Weiterleben nach dem Tod zu konstruieren“. 77 Tugendhat, Über Religion als Bedürfnis (wie Anm. 76), 7. 78 Friedrich Heinrich Jacobi, Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung [1811], in: F. H. J., Werke, hg. von Klaus Hammacher, Walter Jaeschke, Bd. 3, Hamburg 2000, 124. Vgl. auch Tugendhat, Über Religion als Bedürfnis (wie Anm. 76): „Der Glaube an Gott oder der Glaube an ein Weiterleben nach dem Tod entgeht diesem Schicksal der Halluzination nur deswegen, weil der Gegenstand des Glaubens im Übersinnlichen liegt, in einem Bereich, der gegenüber empirischen Evidenzen und Gegenevidenzen immun ist“. 79 Platner, Quaest. physiol. (wie Anm. 24), Lib. I, II, 74: „Nam ut nihil mali sit mortuum esse, tamen illud miserum, esse moriendum“. 80 Vgl. auch Tugendhat, Über den Tod (wie Anm. 76), 14.: „Von vegetativer Todesangst spreche ich, wenn man in einer bedrohlichen Situation zu sein glaubt, die zum Tod führen kann, aber nicht muß, z.B. wenn man verfolgt wird oder von einer Brücke herunterstürzt oder sich in einem abstürzenden Flugzeug befindet usw. Wieder ein wenig anders ist es, wenn man in einer Krankheit im Sterben zu liegen glaubt; in diesem Fall kommt die Bedrohung von innen“.

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zu sterben glaubt, fürchtet: So habe er viele Menschen gesehen, die vor allem von einer Furcht immer wieder heimgesucht werden, und zwar, daß dem Geist nach dem Tod, nach der Beseitigung des Körpers, sämtliche Denk- und Lebensfunktionen abhanden kommen.81 Es ist also die von christlichen Jenseitsvorstellungen hervorgebrachte Furcht, daß der Zustand nach dem Tod geistig leer sein könnte. Für Bonnet etwa, den Platner hier in petto hat, ist es die Erinnerung (Souvenir) an den vergangenen Zustand, die eine Persönlichkeit im postmortalen Zustand hauptsächlich konstituiert.82 Hier bekommt die physiologische Hypothese ihren metaphysischen Sinn: Platner geht es darum, todesfürchtigen Menschen eine Hilfestellung anzubieten und ihnen den Grund ihrer Furcht, der Ätherkörper könne mit dem fleischlichen Körper gemeinsam zugrunde gehen, zu nehmen.83 Das beruht offenbar nicht auf Gründen der augenscheinlichen Evidenz oder der Vernunft, sondern auf solchen des Glaubens, die der Physiologe dennoch für wahrscheinlich hält: „Obwohl ich nicht garantiere, daß er [sc. das primäre Seelenorgan bzw. der Ätherkörper] nicht zerstört werden kann; dennoch glaube ich nicht, daß er zerstört wird“.84 Es war mit Blick auf die physiologische Hypothese also offenbar naheliegend, „das Bedürfnis statt als Gegengrund als Grund anzusehen“.85

Platner, Quaest. physiol. (wie Anm. 24), Lib. I, II, 74: „Atque multos vidi, qui inprimis hunc sibi crebro metum redire et angorem quererentur, ut ne mens nostra, quamvis ipsa in sese expers corruptionis, post factam corporis amotionem, omnibus cogitandi et vivendi instrumentis destitueretur“. Ähnliches formuliert Platner auch in der akademischen Rede Spes immortalis animorum per rationes physiologicas confirmata (1791), in: E. Platner, Opuscula Academica, 334–341, bes. 341: „Atqui volui tantummodo eorum sollicitudini subvenire, qui propterea, quod vel cerebrum, vel universum corpus ad animi functiones necessarium esse putant, metuunt, ne animo, quanquam ipsi non perituro, tamen omnis vitae et facultatum suarum usus per mortem adimatur“. Vgl. auch die akademische Rede An ridiculum sit, animi sedem inquirere? [1795], ebd., 341–352. 82 Bonnet, Essai analytique (wie Anm. 73), Chap. XIV, §§ 734. 83 Platner, Quaest. physiol. (wie Anm. 24), Lib. I, II, 74 f.: „Horum sollicitudini subvenire, nescio an magis physiologorum sit, quam philosophorum. Atque saltem probabilis opinio est, dissoluta corporis carnosi compage, πρωτόν αι̉σθητηριον servari; quo, eoque uno relicto nec sensuum externorum, neque cerebri artificio arbitror esse opus.[…] Et si quis metueret, ne ipsum quoque πρωτόν αι̉σθητηριον, una cum reliquo corpore humaretur ac destrueretur: huius formidinis nullum fundamentum haberet“. 84 Platner, Quaest. physiol. (wie Anm. 24), Lib. I, II, 75: „Quanquam illud destrui non posse haud assevero; tamen destrui non credo“. 85 Tugendhat, Über Religion als Bedürfnis (wie Anm. 76). 81

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V. Aus der hier gegebenen Darstellung lassen sich schließlich drei Korollarien ableiten, die Platners Physiologie weiter kontextualisieren und deren Tragweite in methodologischer, psychophysischer und ästhetischer Hinsicht deutlicher hervortreten lassen. 1. Platners Nervensaft-Hypothese ist, was ihre physiologische Seite angeht (Abschnitt IV.), nicht spekulativer als andere zeitgenössische naturwissenschaftliche Ansätze, besonders auf dem Feld der Elektrizitätslehre und der Chemie. Zu denken ist etwa an das, was Georg Christoph Lichtenberg in seiner Vorlesung über Experimentalphysik (1781) über verschiedene Luftarten und Gase – „Inflamable Air“ (Wasserstoffgas), „Dephlogistierte Air“ (Sauerstoffgas) – auf der Basis des hypothetischen Grundstoffes des Phlogiston86 sagt oder was er über Elektrizität schreibt: Die elektrische Materie könne entweder auf „Phlogiston“ oder auf „Feuer-Materie“ zurückgeführt werden, aus denen das zweiteilige Wesen der Flamme bestehe.87 Es handelt sich hier um den Umgang mit einem weitgehend noch ‘unsicheren’ Wissen, auch wenn etwa Lavoisier Verbrennungsprozesse bereits mit dem Sauerstoffverbrauch in der Luft erklärte und damit die Phlogiston-Hypothese eliminierte. Ähnlich verhielt es sich auch mit dem physiologischen Wissen, das Platner nicht zufällig als probables Wissen charakterisiert. Gerade durch die Verwendung von Hypothesen steht er in einer epistemologischen und methodologischen Tradition, die seit dem frühen 18. Jahrhundert besteht und auf das Werk von Hallers Lehrer in Leiden, Willem Jacob ’s Gravesande, zurückgeht, der über Evidenz, Wahrscheinlichkeit sowie über Regeln zur Bildung und Prüfung von Hypothesen in den Naturwissenschaften nachgedacht hat.88 Vor diesem Hintergrund wirkt Platners Nervensaft-Hypothese alles andere als abwegig, sondern weist in eine Richtung, in die etwa Christian Heinrich Pfaff (1795) und Alexander von Humboldt (1797) die Physiologie im Anschluß an die Gideon Herman de Rogier, Verstreute Aufzeichnungen aus Georg Christoph Lichtenbergs Vorlesungen zur Experimental-Physik 1781, hg. und kommentiert von Olle Bergquist, übers. aus dem Schwedischen von Anne-Bitt Gerecke, Göttingen 2004 (Lichtenberg-Studien, 12), Einleitung, 20–22 und 92–94. Vgl. hierzu Simone De Angelis’ Rezension in: Cardanus. Jahrbuch für Wissenschaftsgeschichte 5 (2005), 113b–119b. 87 An Franz Ferdinand Wolff, 06. 01. 1785, in: Georg Christoph Lichtenberg, Schriften und Briefe, hg. von Wolfgang Promies, Bd. 4, München 1994 [1967], 603. 88 Willem Jacob ’s Gravesande, Introductio ad Philosophiam, Metaphysicam et Logicam continens, Leiden 1736, Lib. II, Pars I, Cap. XII–XVI (De evidentia moralis), Lib. II, Pars I, Cap. XVII (De probabilitate), u. L. II, Pars III, Cap. XXXIV (De usu Hypothesium). Zit. nach dem ND der Editio Altera (Leiden 21737), in: Christian Wolff, Gesammelte Werke. Materialien und Dokumente, Bd. 67, Hildesheim 2001, 182–195 und 300–308. Vgl. hierzu De Angelis, Von Newton zu Haller (wie Anm. 21), 291–305, 321–342, 417–438. 86

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Experimente Galvanis über die Rolle der Elektrizität bei Muskelbewegungen weiterentwickeln.89 In den Quaestiones physiologicae versteht Platner nämlich die Übertragung von Sinneseindrücken über die Nervenbahnen ins Gehirn als elektromagnetischen Prozeß: „Denn jener Lebensgeist [spiritus vitalis] durchströmt die Nerven entweder so, wie das Blut die Arterien oder die Venen: oder aber die Nerven sind mit ihm derart gesättigt, wie vergleichsweise ein Seidenfaden, der sich elektrisch auflädt. Jene ist Boerhaaves, diese ist meine Ansicht“.90 Zu fragen ist hier, inwiefern der Galvanismus bzw. die tierische Elektrizität Kontinuitäten mit den Konzepten der Irritabilität und der Lebenskraft aufweisen.91 2. Mit dem Leibniz-Platnerschen Konzept der vorbewußten Perzeptivität und dem embryogenetischen Modell, das diese veranschaulicht (Abschnitt III.), sind wir nicht weit vom Konzept des ‘Embodiment’ entfernt, mit dem die Neurowissenschaften heute zum Beispiel die Herausbildung und Stabilisierung von neuronalen Netzwerken – gewissermaßen die „inneren Muster“ von Körperprozessen – erklären, die im Embryo vollkommen unbewußt ablaufen.92 Das von Platner gemachte Beispiel der unbewußten Fingerbewegungen und auto89 Katja Regenspurger, Temilo van Zantwijk, Allgemeine Lebenswissenschaft? Physiologie zwischen Philosophie und Medizin, in: K. R., T. v. Z. (Hg.),Wissenschaftliche Anthropologie um 1800, Stuttgart 2005, 7–23, hier 14: „Dieser [Galvani] vermutete, dass die Muskelfasern beide Elektrizitätsarten [die positive und die negative] enthalten und die Nerven als Leiter fungieren, welche die Elektrizität vom Inneren des Muskels nach außen lenken“ (S. 14). Über die Ansätze von Ch. H. Pfaff, Über thierische Elektricität und Reizbarkeit, Ein Beytrag zu den neuesten Entdeckungen über diese Gegenstände, Leipzig 1795 und A. von Humboldt, Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser nebst Vermutungen über den chemischen Process des Lebens in der Thier- und Pflanzenwelt. Erster Band, Posen, Berlin 1797, vgl. ebd., 12–19. 90 Platner, Quaest. physiol. (wie Anm. 24), Lib. II, III (De nutritione), 219: „Nam ille spiritus vitalis nervos aut permanat, sicuti sanguis arterias vel venas: aut nervi eo ita imbuti sunt, ut v.g. filum sericum imbuitur materia electrica. Illa Boerhavii, haec mea ratio est“. Vgl. hierzu auch Pross, Jean Pauls geschichtliche Stellung (wie Anm. 1), 150. 91 Vgl. hierzu grundlegend Francesco Moiso, Magnetismus, Elektrizität, Galvanismus, in: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Ergänzungsband zu Werke Band 5 bis 9. Wissenschaftshistorischer Bericht zu Schellings Naturphilosophischen Schriften 1797–1800, Stuttgart 1994, 165– 372, bes. 320–339: „er [sc. Galvani] vermutete, daß sich die Elektrizität – wie der ‘Nervensaft’ – von den Nerven zu den Muskeln bewegte“ (322). Vgl. auch Walter Bernardi, I Fluidi della Vita. Alle Origini della Controversia sull’Elettricità Animale, Firenze 1992, bes. 245–261. 92 Gerald Hüther, Wie Embodiment neurobiologisch erklärt werden kann, in: Maja Storch u.a. (Hg.), Embodiment. Die Wechselwirkung von Körper und Psyche verstehen und nutzen, Bern 2006, 73–97, hierzu 82–87, bes. 84: „Der Aufbau und die Stabilisierung von Körperrepräsentationen laufen vollkommen unbewusst ab, denn diese Prozesse geschehen zu einer Zeit, in der alle Bereiche des Gehirns, in denen später die bewussten Wahrnehmungen und Reaktionen miteinander verknüpft werden, noch sehr unreif und daher noch nicht funktionsfähig sind. Dennoch entsteht im Gehirn des ungeborenen Kindes ein immer vollständiger und komplexer werdendes inneres Bild über die Beschaffenheit seines Körpers und über die in diesem Körper ablaufenden und vom Gehirn selbst wieder beeinflussbaren Prozesse“.

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matisierten Muskelkontraktionen – oder das ‘Muskelgedächtnis’ des Gitarrenspielers bei Scaliger – sind demzufolge als „die unterste Ebene der Stufenleiter, auf der das sich entwickelnde Gehirn lernt,“93 zu verstehen.94 Selbst die Koordination dieser frühen einfachen Regelkreise durch später sich herausbildende übergeordnete neuronale Netzwerke erfolgt, bevor sich im Embryo die ersten Sinnesorgane ausformen und Signale aus der Umgebung an sein Gehirn weitergeleitet werden. Deshalb sind die frühesten komplexen neuronalen Verschaltungen, die sich im Gehirn ausbilden, „quasi ‘innere Bilder’ von Vorgängen, die im Körper ablaufen“.95 Dieser ständige „völlig unbewußte[n] Informationsfluss“96 über den Körper an das Gehirn führt zu dem, was der Hirnforscher Antonio Damasio das ‘Protoselbst’ nennt.97 Darauf beruht das spätere (bewußtseinsfähige) Körpergefühl, das signalisiert, wie der Körper auf einen äußeren Reiz reagiert oder sich an eine Reizantwort erinnert. Gemeinsam bilden Protoselbst und Körpergefühl die Grundlage „für die weitere Konstruktion der eigenen Vorstellungen von einem ‘Ich’“.98 Die historische Formation des neurowissenschaftlichen Begriffs des ‘impliziten Gedächtnisses’99 läßt sich somit auf den Ansatz der animistischen Physiologie in der Reihe Scaliger–Leibniz– Stahl–Platner zurückverfolgen, die um 1800 eine Voraussetzung der Erforschung der vielfältigen Formen der Ich-Erfahrung bildet. Ein berühmtes Beispiel ist etwa Jean Pauls Traumreflexion, in der sowohl das Konzept des ‘Äthergehirns’ als auch das des ‘körperlichen Gedächtnisses’ aufgenommen sind (s. Koroll. 3.).

Ebd., 85. Ebd., 84 f.: „Je häufiger diese einfachen Regelkreise zur Aufrechterhaltung oder zur Wiederherstellung eines bestimmten Kontraktionsmusters einzelner Muskelgruppen oder zur Steuerung bestimmter Leistungen einzelner Organe und Organsysteme benutzt werden, desto fester und stabiler werden die dabei jeweils aktivierten Nervenzellverschaltungen miteinander verbunden und gebahnt. Aus den anfangs noch sehr labilen und deshalb recht störanfälligen Verbindungen werden auf diese Weise immer perfekter, immer automatischer, immer reflexartiger funktionierende Regelkreise für die Steuerung einzelner Teilfunktionen“. 95 Ebd., 85. 96 Ebd., 86. 97 Antonio Damasio, Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins, München 2001, 187. Vgl. auch Hüther, Wie Embodiment neurobiologisch erklärt werden kann (wie Anm. 92), 86. 98 Hüther, Wie Embodiment neurobiologisch erklärt werden kann (wie Anm. 92), ebd. 99 Ebd., 89: „Alle frühen Erfahrungen und alle späteren affektiven, sensorischen und motorischen Eindrücke werden im Gehirn zunächst noch ohne Verbindung zum Sprachzentrum oder zu kognitiven Strukturen abgespeichert. Dieses implizite Gedächtnis ist das grundlegende Substrat des sog. Unbewussten“. 93 94

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3. Das Substrat der physiologischen Terminologie Platners läßt sich vor allem in Jean Pauls Essay Blicke in die Traumwelt (1814)100 aufzeigen.101 Darin findet sich auch die auf Haller bezogene Anatomen-Parodie,102 welche in den Satz mündet: „Denn in Tat und Wahrheit liegt die gemeine Sandwüste des Mechanischen längst hinter uns“.103 Der Satz fällt im § 6 über Die vier Mitarbeiter am Traume, die sind: 1. das Gehirn; 2. der Geist; 3. das körperliche Gedächtnis der Fertigkeit und 4. die Außenwelt. In ihrer gegenseitigen Beziehung lassen sie sich wie im Schema auf S. 271 darstellen und beschreiben. Was läßt sich aus dieser Darstellung schlußfolgern? Daß Jean Pauls Beschäftigung mit dem Traum nicht so sehr mit der sogenannten „Empirisierung der Anthropologie“104 zu tun hat als vielmehr mit dem, was „das historische Bewusstsein des Dichters von seiner Poesie“ begründet: „als zwangsläufiger ‘Einsturz’ in die ‘Innenwelt’, der die Rettung des animistischen naturrechtlichen Denkens der Poesie zuweist, nachdem dieses der wissenschaftlich-mechanistischen Welterfassung unterlegen ist“.105 Bei der Traumarbeit bzw. der -aufzeichnung handelt es sich also um ein Beispiel der ‘Spiritualisierung der Materie’, mittels der Jean Paul die physiologische

100 Jean Paul, Sämtliche Werke, hg. von Norbert Miller, Wilhelm Schmidt-Biggemann, Bd. 2.2, München [1976] 1996, 1017–1048, bes. 1038–1047. 101 Die Jean Paul-Forschung hat sich neuerdings dem Thema des Traumes zugewandt: vgl. z.B. Helmut Pfotenhauer, Empfindbild, Gesichtserscheinung, Vision. Zur Geschichte des inneren Sehens und Jean Pauls Beitrag dazu, in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 38 (2003), 78–109 oder Hans-Walter Schmidt-Hannisa, „Der Traum ist unwillkürliche Dichtkunst“. Traumtheorie und Traumaufzeichnung bei Jean Paul, in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 35/36 (2001), 93– 113, die aber nicht auf die Physiologie Platners eingehen. Schmidt-Hannisa erörtert u.a., wie Jean Paul in seinem Vita-Buch (eine Materialsammlung für eine geplante Autobiografie) eine Reihe von Traumexperimenten durchführt und Träume aufzeichnet, in denen er Aspekte seiner Traumtheorie inszeniert. Dabei beschäftigt sich der Dichter vor allem mit Wahl- oder Halbträumen sowie mit Erfahrungen der Ich-Spaltung. 102 Jean Paul, Sämtliche Werke (wie Anm. 100), Bd. 2.2, 1041: „Kein Anatomist rechne hier nach, ob das Gehirn die unzähligen Empfind-Spuren oder Abdrücke des Lebens [...] beherbergen könne; denn H. Hooke rechnet ihm vor, daß von einem vierpfündigen Gehirne, nach Abzug eines Pfundes für Blut und Gefäße und eines für die Rinde, noch zwei Pfund übrig bleiben, wovon 1 Gran Gehirn-Mark 205452 Spuren faßt“. 103 Ebd., 1042. 104 Schmidt-Hannisa, „Der Traum ist unwillkürliche Dichtkunst“ (wie Anm. 101), 95. Auch Jean Pauls Kenntnis der Beiträge zum Traum in Karl Philipp Moritz’ Magazin der Erfahrungsseelenkunde in den Jahrgängen 1787, 1788 (speziell zu den hypnagogen Bilder des Halbschlafs) sowie dessen Lektüre des Auszugs aus Girolamo Cardanos Lebensbeschreibung, die Helmut Pfotenhauer, Empfindbild (wie Anm. 101), 86, Anm. 42, hervorhebt, ändern nichts an der Relevanz von Platners Physiologie für die Jean Paulsche Traumreflexion. 105 Pross, Jean Pauls geschichtliche Stellung (wie Anm. 1), 157.

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Schema von: § 6 Die vier Mitarbeiter am Traume SINNESWAHRNEHMUNG NERVEN

Ableiter der elektrischen Tätigkeit des Gehirns Aufbewahrung der Empfindung

elektromagnetische Prozesse

EMPFINDBILDER ÄTHERGEHIRN109

TRAUMBILDER (im Schlaf)108 Instrumente des Geistes

GEIST111 [2. Mitarbeiter]

UNBEWUSSTES BEWUSSTES

GEHIRN106 [1. Mitarbeiter]

Elektrizitätsträger

FLUIDUM NERVEUM Transport der Reizinformation zum Gehirn Ordnung der Empfindbilder durch ‘körperliche FolgeGesetze’107 Teil des CORPUS ÄTHEREUM KÖRPERLICHES GEDÄCHTNIS DER FERTIGKEIT110 [3. Mitarbeiter] TRAUM Ordnung des (kreativen) Geistes112

AUSSENWELT113[4. Mitarb.]

Ebd.: „[…] insofern dasselbe [sc. das Gehirn] bei dem Einschlafen, das ihm die Nerven als die Ableiter seiner elektrischen Tätigkeit unterbindet, sich zum Sammler seiner Kräfte (zum Elektrizitätsträger) isoliert und sich durch aufspringende Empfindbilder entlädt; […]“. 107 Ebd.: „Hier tritt noch alles körper-willkürlich und geist-unwillkürlich auf, und nur die körperlichen Folge-Gesetze der Gleichzeitigkeit und Gleichräumigkeit der empfangenen Empfindungen können die Reihe der Empfindbilder notdürftig ordnen“. 108 Ebd., 1041: „Genug, im Gehirne bleiben von den Empfindungen Empfindbilder zurück, welche unter gewissen Vergünstigungen, wie im Schlafe, wo das neu erfrischte Gehirn, ungestört und unbeschädigt von Außen, seine Schätze glänzen lassen kann, als Traumbilder auferstehen“. 109 Ebd., 1042: „Denn wie im Ohre 1/16 Kubikzoll Luft alle verschiedenen Tönungen und Bebungen eines vollstimmigen Konzerts unverworren faßt und trägt, so dann auch das Äthergehirn (wovon das sichtbare nur der rohe Träger ist, wie das Metall von Magnetismus, Elektrizität und Galvanismus) so gut eine Welt tragen und behalten als mit ihm der Geist“. 110 Ebd., 1044: „Wenn die Hand des Tonkünstlers, der Fuß des Tänzers zuletzt eine Kunstreihe von alten Bewegungen zu geben vermögen, ohne bewußte Einmengung des Geistes, welcher nur die neuen schwereren bewußt befiehlt und erzeugt: so muß im Reiche des Gehirns dieselbe Kunstreihe körperlich-geistiger Fertigkeiten durch den Traum erstehen können, ohne einen größeren Aufwand geistiger Regierung, als im Wachen ist; […] wie im Wachen der Geist mitten unter der bewußten Anstrengung noch Kraft einer unbewußten für die Körperfertigkeiten behält, so muß er ebenso gut, wo nicht mehr, im Traume, bei Stillstand der bewußten, Macht der unbewußten übrig haben und zeigen“. 111 Ebd., 1043: „Die Auferstandenen oder Revenants der Empfindung müssen ihre Sprache aus dem Wachen in den Traum mitbringen und also mit dem Ich zu sprechen scheinen, das sie sprechen lässt. Hier nun, besonders mehr bei den Worten als den Tönen, tritt der Geist auf, nicht als bloßer Zuschauer und Zuhörer seines Gehirns, sondern als Bildaufseher und Einbläser der Empfind-Bilder, […]“. 112 Ebd., 1043 f.: „Indes daß die ersten Empfind-Bilder außerhalb des Zauberkreises des Geistes stehen, rufen und reizen die spätern seine Herrschaft auf, und er stellt im Gehirne, das nur die losen rohen Gaben der Nerven und die Wirkspuren des Geistes unverbunden gemischt wiederbringen kann, darin stellt er als eine zweite höhere Natur die geistigen geordneten Seh- und HörReihen durch Wollen und Erregen auf, und nach dem gewöhnlichen Wechsel-Übergewicht des Geistes und des Körpers behauptet er seine Allmacht durch eine Ordnung für jedes Ich“. 113 Ebd., 1045: „[…] die Außenwelt, welche, zumal in dem leisen Morgenschlummer und be106

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Grundlage seines Denkens in den Bereich der Dichtung überführt.114 Vor diesem Hintergrund läßt sich auch der ‘Traum als Modell für die Dichtung’,115 wie sie Jean Paul konzeptualisiert, besser begreifen. Ernst Platner kritisiert in den Quaestiones physiologicae die Irritabilitätslehre Albrecht von Hallers in einem wesentlichen Punkt: der Ausschließung der Seele aus der Physiologie. Dies zeigt, wie wichtig der Denkrahmen des Naturrechts (verstanden als umfassender Begründungsdiskurs über den Menschen im 18. Jahrhundert) ist, um Platners Stellung als Mediziner und Physiologe zu begreifen. Gegenüber der ‘Mechanisierung’ des Staatsapparates, dem Rationalisierungsschub in den Wissenschaften sowie gegenüber einer Physiologie, welche die ‘menschliche Maschine’ zu erklären vorgibt, setzt Platner in den 1790er Jahren den Akzent auf die menschlichen Rechte und auf die moralischen Bedürfnisse des Menschen. Dies erfordert eine Physiologie, die auch problematische Aspekte im Bereich der menschlichen Seele reflektiert. Der Aufsatz zeigt u.a., auf welchem komplexen Text- und Wissenshorizont Platner argumentiert: Das Konzept der ‘vorbewußten Perzeption’ gründet auf der Lektüre von Leibniz und Stahl und seine ‘Ätherkörper’-Hypothese wird von der Psychologie Charles Bonnets gestützt. Dabei zeigt sich, daß sein (auch methodologisch reflektiertes) Konzept der ‘Lebenskraft’ und der ‘elektrisch aufgeladenen Nerven’ bereits in eine Richtung weist, wie der Galvanismus die Physiologie weiterentwickeln wird. In the Quaestiones physiologicae Ernst Platner criticizes Albrecht von Haller’s theory of irritability in one main aspect: the exclusion of the soul from physiology. This shows how important the intellectual frame of the natural law (understood as a thorough fundamental discourse about man in the 18th century) is for comprehending Platner’s position as medical and physiologist. In the nineties of the 18th century Platner put the emphasis on the human rights and the moral need of man – in contrast to the ‘mechanization’ of the state, the thrust of rationalization in the sciences as well as a physiology that pretends to explain the ‘human machine’. This requires a physiology that also reflects problematic aspects in the field of the human soul. The article shows among others the complex textual and knowledgebased basis of Platner’s argumentation: the concept of the ‘preconscious perception’ is based on the reading of Leibniz and Stahl, and his hypothesis of an ‘Aetherbody’ is supported by Charles Bonnet’s psychology. This makes evident that sonders durch unangenehme Gefühle, den Geist nötigt, sich eine Bilderwelt zu ihrer Erklärung zu schaffen“. 114 Ebd., 153–157, hier 153 f. und 156: „Die Grundmetapher, in Platners ästhetischen Vorlesungen bereits aus dem Bereich der Physiolgie in den der Poesie übertragen, ist der ‘poetische Geist’; die Bedeutung dieser Metapher – sinnliches Auffassen, freie Kombinatorik und ein ‘Beseelen’ aller körperlichen Gegenstände – basiert auf dem Substrat der Theorie des Nervensaftes“. 115 Schmidt-Hannisa, „Der Traum ist unwillkürliche Dichtkunst“ (wie Anm. 101), 101.

Unbewußte Perzeptivität und metaphysisches Bedürfnis

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his (methodically reflected) concept of ‘Lebenskraft’ and ‘electrically charged nerves’ does already indicate towards a physiological line that will later on be evolved by the galvanism. Dr. Simone De Angelis, Universität Bern, Institut für Germanistik, Länggass-Strasse 49, CH-3012 Bern, E-Mail: [email protected]

U DO R O T H „Es giebt eine gewisse Gattung des Wahnsinns, [...] nämlich den verborgenen“ Ernst Platner als Forensiker*

Klein soll er gewesen sein, unangenehm kraus- und schwarzhaarig, mit plattgedrückter Nase und geschwollener Oberlippe, vaterlos aufgewachsen – der auch über die Grenzen Schwabens hinaus berühmte ‘Sonnenwirt’ Friedrich Schwan.1 Klein war er in der Tat – nur „5. Fuß 7. Zoll lang“,2 also knapp ein Meter sechzig –, doch sind die weiteren von Schiller dem ‘Sonnenwirt’ zugeschriebenen Attribute Produkte der Phantasie. Aus ihnen aber spricht der Versuch, über die äußere Erscheinung und den Lebenswandel eines Menschen auf sein individuelles und gesellschaftliches Verhalten zu schließen und so den Verbrecher zu phänomenologisieren. Versuche dieser Art ziehen sich insbesondere durch das 18. und 19. Jahrhundert, unter anderem von Johann Caspar Lavaters ‘Physiognomik’3 über Franz Joseph Galls ‘Schädellehre’4 bis hin zu Cesare Lombrosos (1835–1909) körperliche Anomalien und kriminelle Energie

* Für vielfältige Anregungen und Hinweise zum juridischen und rechtsphilosophischen Hin-

tergrund danke ich Sonja Mitze. 1 Vgl. Friedrich Schiller, Verbrecher aus Infamie, in: Thalia 1 (1786), 20–58. 2 So der Fahndungsbrief aus dem Jahre 1758 (Stadtarchiv Reutlingen). 3 Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente. Zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe, 4 Bde., Leipzig, Winterthur 1775–1778; J. C. L., Physiognomik. Zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Vervollständigte neue Auflage der verkürzt [von J. M. Ambruster 1783–1786] herausgegebenen Physiognomischen Fragmente, Wien 1829. 4 Vgl. insbesondere Franz Joseph Gall, Sur les fonctions du cerveau et sur celles de chacune de ses parties, 6 Bde., Paris 1822–1825; erst sein Schüler Johann Caspar Spurzheim (1776–1832) nannte diese Lehre ‘Phrenologie’; vgl. Michael Hagner, Homo cerebralis. Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn, Darmstadt 1997, 89–118; ebenso Olaf Breidbach, Die Materialisierung des Ich. Zur Geschichte der Hirnforschung im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1997, 76–88.

Aufklärung 19 · © Felix Meiner Verlag 2007 · ISSN 0178-7128

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verbindende ‘Verbrecherstudien’.5 „Wenn die Physiognomik das wird“, so Georg Christoph Lichtenberg ironisch in einem seiner Aphorismen, was Lavater von ihr erwartet, so wird man die Kinder aufhängen ehe sie die Taten getan haben, die den Galgen verdienen, es wird also eine neue Art von Firmelung jedes Jahr vorgenommen werden. Ein physiognomisches Auto da Fe.6

Solche kriminalanthropologischen Theorien verweisen auf die Bemühungen, auf der Grundlage positivistischer Falluntersuchungen exogene Faktoren als Ursache der Kriminalität auszuweisen7 und damit auf die Versuche zu ergründen, warum sich der Mensch, der seit der Aufklärung als autonomes und mit einem freien Willen ausgestattetes Vernunftwesen gilt, sich mitunter dazu verleiten lassen kann, seine Mitmenschen durch das Begehen einer Straftat zu schädigen. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang aber auch die Vertreter der sogenannten ‘klassischen Schule’ – etwa Cesare Beccaria (1738–1794) und Johann Anselm von Feuerbach (1775–1834) –, die eine Gesetzesübertretung als das Produkt einer rationalen Kosten-Nutzen-Rechung definierten, bei der der Täter den mit der Straftat verbundenen Vorteil größer einschätze als die Nachteile, die ihm im Falle einer Entdeckung drohen, und die Anhänger der sogenannten ‘kriminalsoziologischen’ Schule – etwa Alexander Lacassagne (1843–1909), Gabriel Tarde (1843–1904) und der Soziologe Emile Durkheim

Vgl. vor allem Cesare Lombroso, L’uomo delinquente, Turin 1885; Lombroso attestierte u.a., daß „[i]m Allgemeinen [...] bei Verbrechern von Geburt die Ohren henkelförmig, das Haupthaar voll, der Bart spärlich, die Stirnhöhlen gewölbt, die Kinnlade enorm, das Kinn viereckig oder vorragend, die Backenknochen breit – kurz, ein mongolischer und bisweilen mongolischer oder negerähnlicher Typus vorhanden“ sei, vgl. ebd., hier zitiert nach der deutschen Übersetzung: Der Verbrecher in anthropologischer, ärztlicher und juristischer Beziehung, Hamburg 1887, 231 f. 6 Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft F 521, in: G. C. L., Schriften und Briefe, hg. von Wolfgang Promies, 4 Bde., München 1968, Bd. 1, 532; zu Lichtenbergs unverhohlener Ablehnung der Lavaterschen ‘Physiognomik’ vgl. G. C. L., Über Physiognomik; wider die Physiognomen. Zur Beförderung der Menschenliebe und Menschenkenntnis, in: ebd., Bd. 3, 256– 295. 7 Doch jeweils immer nur e i n e n besonderen Faktor; erst der Jurist und Kriminalpolitiker Franz von Liszt (1851–1919) – der mit seiner Antrittsvorlesung im Jahre 1882 an der Marburger Universität das sogenannte ‘Marburger Programm’ bzw. die ‘Marburger Schule’ begründete – legte die erste „multikausale Kriminalitätserklärung“ (Karl-Ludwig Kunz, Kriminologie. Eine Grundlegung, 4., völlig überarb. und aktual. Aufl., Bern, Stuttgart, Wien 2004, 97) vor, indem er das Verbrechen als Konglomerat biologischer und gesellschaftlicher Faktoren, als „Produkt aus der Eigenart des Verbrechers einerseits und den den Verbrecher im Augenblick der That umgebenen gesellschaftlichen Verhältnissen andererseits; also das Produkt des einen individuellen Faktors und der ungezählten gesellschaftlichen Faktoren“ definierte (vgl. Franz von Liszt, Das Verbrechen als sozial-pathologische Erscheinung (1898), in: F. v. L., Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Bd. 2, Berlin 1905 (Nachdruck Berlin, New York 1970), 234. 5

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(1858–1917) –, die das soziale Milieu als ausschlaggebend für die Veranlassung zum Begehen von Straftaten charakterisierten.8 Die historische Aufarbeitung dieser Veränderung der Sichtweise von der Tat zum Täter, die seit etwa 1780 eine Fülle von Schriften hervorbrachte,9 führt – wie auch die der Forensik insgesamt – noch immer ein Schattendasein. Insbesondere die ‘Criminalpsychologie’,10 jener Teil der forensischen Wissenschaft also, der sich mit den psychologischen Umständen der Tatbegehung beschäftigt, zersplittert innerhalb der Disziplinen. Medizingeschichtliche wie rechtshistorische Untersuchungen nehmen sich des Themengebietes zwar gelegentlich an, verengen die Perspektive aber auf wenige, landläufig bekannte Protagonisten wie Philippe Pinel (1745–1826) und Johann Christian Reil (1759–1813) oder den bereits genannten Johann Anselm von Feuerbach,11 oder sie ergehen sich in teils voyeuristischen Darstellungen der Tat und der Tatumstände.12 Von psychiatrie- bzw. psychologiehistorischer Seite wurden ebenfalls Eine vertiefende Darstellung findet sich in Dietrich von Engelhardt, Kriminalität zwischen Krankheit und Abnormität im wissenschaftlichen Denken des 19. Jahrhunderts, in: Hans-Jürgen Kerner, Hans Göppinger, Franz Streng (Hg.), Kriminologie – Psychiatrie – Strafrecht. Festschrift für Heinz Leferenz, Heidelberg 1983, 261–278. 9 In Friedrich Kapplers 1838 erschienenem Handbuch des Criminalrechts werden allein etwa hundert Titel zu diesem Themengebiet aufgeführt, vgl. Kappler, Handbuch des Criminalrechts und dessen philosophischer und medizinischer Hülfswissenschaften, Stuttgart 1838, 85–94. 10 Vgl. dazu u.a. Johann Christian Gottlieb Schaumann, Ideen zu einer Criminalpsychologie, Halle 1792. 11 Die wohl immer noch umfangreichste Darstellung von Esther Fischer-Homberger, Medizin vor Gericht – Gerichtsmedizin von der Renaissance bis zur Aufklärung, Bern, Stuttgart, Wien 1983, bricht mit dem Hinweis auf das „Ende unserer Berichtsperiode“ mit eben jenen Autoren ab (vgl. ebd., 166 f.); auch die Arbeit der Juristin Ylva Greve, Verbrechen und Krankheit. Die Entdeckung der „Criminalpsychologie“ im 19. Jahrhundert, Köln, Weimar, Wien 2004, läßt trotz der Fülle des erschlossenen Materials noch viele Fragen offen, insbesondere hinsichtlich der praktischen Umsetzung der ‘criminalpsychologischen’ Erkenntnisse – ob aber der aus dem ‘kulturwissenschaftlichen’ Lager vorgetragene Vorwurf gerechtfertigt ist, es sei „verwunderlich“ (sic!), daß die Studie „ohne eine einzige Erwähnung zumindest der thematisch einschlägigen Arbeiten Michel Foucaults“ auskomme bzw. neuere „kulturwissenschaftliche“ Arbeiten ausklammere (vgl. Hania Siebenpfeiffer, Die Erfindung der ‘kriminellen’ Psyche, in: IASL-online, 11.03.2005), bleibt mehr als fraglich. 12 Vgl. etwa Maren Lorenz, „... da der anfängliche Schmerz in Liebeshitze übergehen kann“: Das Delikt der „Nothzucht“ im gerichtsmedizinischen Diskurs des 18. Jahrhunderts, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 3 (1994), 328–357 (gekürzt und aktualisiert in: Christine Künzel [Hg.], Unzucht – Notzucht – Vergewaltigung. Definitionen und Deutungen sexueller Gewalt von der Aufklärung bis heute, Frankfurt am Main 2003, 63–87); M. L., Kriminelle Körper – Gestörte Gemüter. Die Normierung des Individuums in Gerichtsmedizin und Psychiatrie der Aufklärung, Hamburg 1999; mit Bezug zur literarischen Thematisierung Christine Künzel, Vergewaltigungslektüren. Zur Codierung sexueller Gewalt in Literatur und Recht, Frankfurt am Main, New York 2003; Gesa Dane, „Zeter und Mordio“. Vergewaltigung in Literatur und 8

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nur Momentaufnahmen vorgelegt, die zwar Einblicke etwa in die Kompetenzrangeleien zwischen Forensikern und Richtern geben – und damit durchaus einen Einblick in die Praxis bieten –, dies aber ebenfalls mit einer sehr verengten Perspektive.13 Nicht zuletzt die unter literaturwissenschaftlicher Prämisse dargelegten historischen Begutachtungen verdienen der Erwähnung, doch bleibt das Spektrum auch hier auf einige wenige herausragende Fälle beschränkt.14 Gerade aber die – fiktionale – Literatur leistete einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Verbreitung forensischer und insbesondere forensischpsychologischer Erkenntnisse. Denn der Austausch zwischen kriminologischer Wissenschaft und breiter Öffentlichkeit, das heißt die Darstellung von Fallgeschichten, in denen dem Publikum anhand konkreter Beispiele vor Augen geführt wird, warum sich manche Menschen dazu verleiten lassen, ‘Böses’ zu tun und damit das Vernunftprinzip unterlaufen, funktioniert kaum über die unkommentierte Wiedergabe „strafrechtlichen Fachschrifttum[s]“ wie etwa einer Zusammenstellung von Urteilen und Plädoyers.15 Das ‘juristische’ Laienpublikum erhofft sich eine plastische Schilderung der Tat und des Tatherganges. Der französische Anwalt und Schriftsteller François Gayot de Pitaval (1673–1743) konnte diese Hoffnung sicherlich deutlich befriedigen, als er in den Jahren zwischen 1734 und 1742 eine Sammlung von Causes célèbres et interessantes,16 also berühmten und interessanten Rechtsfällen veröffentlichte. Pitaval band die sachverhaltsrelevanten Fakten in einen gut lesbaren Prosatext ein, und seine unterhaltsame Darstellung der authentisch belegten ‘unerhörten Begebenheiten’ erfreute sich rasch überaus großer Beliebtheit. Dem deutschsprachigen Publikum blieb die Pitavalsche Fallsammlung nicht vorenthalten, denn Recht, Göttingen 2005; Hania Siebenpfeiffer, „Böse Lust“. Gewaltverbrechen in Diskursen der Weimarer Republik, Köln u.a. 2005. 13 Vgl. etwa Doris Kaufmann, Aufklärung, bürgerliche Selbsterfahrung und die „Erfindung“ der Psychiatrie in Deutschland, 1770–1850, Göttingen 1995; vgl. ebenso Andreas Marneros, Frank Pillmann, Das Wort Psychiatrie ... wurde in Halle geboren. Von den Anfängen der deutschen Psychiatrie, Stuttgart, New York 2005. 14 Vgl. etwa Georg Reuchlein, Das Problem der Zurechnungsfähigkeit bei E. T. A. Hoffmann und Georg Büchner. Zum Verhältnis von Literatur, Psychiatrie und Justiz im frühen 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main u.a. 1985; ebenso Hartmut Mangold, Gerechtigkeit durch Poesie. Rechtliche Konfliktsituationen und ihre literarische Gestaltung bei E. T. A. Hoffmann, Wiesbaden 1989. 15 Fedor Seifert, Schöne Literatur und Feuerbach. Die Anfänge der Kriminalpsychologie, in: Annäherungen an das Thema ‘Recht und Literatur’. Recht, Literatur und Kunst in der Neuen Juristischen Wochenschrift (1), Baden-Baden 2002 (Juristische Zeitgeschichte, Abt. 6: Recht in der Kunst, 9), 79–90, hier 85. 16 François Gayot de Pitaval, Causes célèbres et intéressantes, avec les jugemens qui les ont decideés, 22 Bde., La Haye 1734 ff., ab Bd. 13 Paris 1739 ff.

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bereits 1747, also nur drei Jahre, nachdem der Franzose den letzten Band herausgegeben hatte, erschien eine deutsche Übersetzung des voluminösen Werkes.17 Der große Zuspruch animierte auch andere – insbesondere deutschsprachige – Autoren wie etwa Johann Anselm von Feuerbach, Merkwürdige Kriminalrechtsfälle zu publizieren,18 ja den wohl größten Erfolg feierte der Neue Pitaval, begründete von dem Juristen Julius Eduard Hitzig (1780–1849) und dem juristisch geschulten Literaten Georg Wilhelm Heinrich Häring (sc. Willibald Alexis; 1798–1871),19 der es bis 1891 auf 60, zum Teil mehrmals aufgelegte Bände20 brachte. Im deutsprachigen Raum übte – wie von Walter Müller-Seidel erstmals nachgewiesen21 – das Auftauchen der neuen Gattung der Pitavalgeschichte, einem ‘Zwitterwesen’ zwischen Erzähltext und juristischem Schrifttum, einen keinesfalls zu unterschätzenden Einfluß auf die Verbrechensdarstellung im Rahmen der ‘schönen’ Literatur aus. Hatten die Literaten vormals ihren Augenmerk auf die Tat selbst gelegt, vollzogen sie nun eine „Blickwendung“22 auf die Begleitumstände der kriminellen Handlung. Hierbei widmeten sie sich jedoch nicht den Tatfolgen, etwa den psychologischen und physiologischen Lasten, an denen die Opfer eines Verbrechens zu tragen haben, sondern der Vorgeschichte des Verbrechens. Der wohl erste namhafte Literat, der diese „entscheidende Wendung“23 des Blickes aufsehenerregend vollzog, war Friedrich Schiller, der in Die Räuber (1779/1778), seiner ersten großen dramatischen Arbeit, und auch in seinem Verbrecher aus verlorener Ehre (1786/1792) das Schicksal von Menschen vorstellte, die nicht aufgrund einer freien Wissens- und Willensentscheidung zu Verbrechern werden, sondern an deren „sittliche[m] Niedergang“24 die Gesellschaft zumindest eine Mitschuld trägt. Selbst Gayot von Pitavals Parlamentsadvokat zu Paris, Erzählung sonderbarer Rechtshändel, sammt deren gerichtlichen Entscheidung. Aus dem Französischen übersetzt, 22 Bde., Leipzig 1747. 18 Paul Johann Anselm von Feuerbach, Merkwürdige Criminal-Rechtsfälle, 2 Bde., Gießen 1808–1811. 19 Vgl. Joachim Linder, Deutsche Pitalvalgeschichten in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Konkurrierende Formen der Wissensvermittlung und der Verbrechensdeutung bei W. Häring und W. L. Demme, in: Jörg Schönert (Hg.), Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920. Vorträge zu einem interdisziplinären Kolloquium, Hamburg, 10.–12. April 1985, Tübingen 1991 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, 27), 313–348, hier 313 f. 20 Vgl. ebd., 313. 21 Vgl. Walter Müller-Seidel, Theodor Fontane. Soziale Romankunst in Deutschland, Stuttgart 1975. 22 Ebd., 212. 23 Ebd. 24 Ebd., 213. 17

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wenn es sich nicht um authentisch belegte Fälle handelte,25 sondern um fiktive Vorkommnisse, die die Literaten ins Zentrum ihrer ‘kriminellen’ Geschichten stellten, waren sie in jedem Fall in der Lage, auf diese Weise ein Täterpsychogramm zu erstellen, das die kriminologische Theoriebildung nicht nur beeinflussen, sondern mitunter sogar selbst zum Untersuchungsobjekt der empirischkriminologischen Beweissicherung avancieren konnte.26 Denn immer bleibt nicht die eigentliche Tat, sondern die Person des Täters und die Motivationen des Gesetzesbruches im Zentrum des Interesses, keine „individuelle[] Verschuldung“,27 vielmehr das Ergebnis eines Zusammenspiels von Faktoren, zu deren unschuldigem Opfer der im Sinne des Gesetzes Schuldige wird.

I. Forensische Aspekte werden bereits im Pentateuch angesprochen (vgl. etwa Num 35,16–25), die Peinliche Halsgerichtsordnung Karls V. kodifizierte bei Tötungsdelikten ganz selbstverständlich die Hinzuziehung von medizinischen Sachverständigen.28 Erst der päpstliche Leibarzt Paolo Zacchia (Paulus ZacchiSchiller etwa präsentiert das Leben und die Taten des eingangs genannten ‘Sonnenwirts’ Friedrich Schwan (hingerichtet am 30. Juli 1760 in Vaihingen) in seinem Verbrecher aus Infamie, 1786 erschienen (wie Anm. 1) und 1792 überarbeitet und unter dem Titel Der Verbrecher aus verlorener Ehre. Eine wahre Geschichte in die Kleineren prosaischen Schriften aufgenommen (1. Theil., Leipzig 1792, 291–345), zwar als ‘wahre Geschichte’, bemüht sich aber deutlich, neben der Zuweisung einer Schuld der Gesellschaft, den Räuber Schwan durchaus auch als den scheinbar ‘geborenen Verbrecher’ herauszustellen: Körperlich von der Natur benachteiligt, noch dazu ohne die starke Hand des Vaters aufgewachsen, von losem Lebenswandel und gewalttätigem Charakter – was übrigens in keinster Weise auf den historischen Schwan zutrifft! – konnte das Leben Schwans nur so enden, wie es endete? Ein Urteil wird dem Leser überlassen. Vgl. demgegenüber Hermann Kurz, Der Sonnenwirt. Schwäbische Volksgeschichte aus dem vorigen Jahrhundert, Frankfurt am Main 1855, der sich – insbesondere auf der Grundlage der Protokolle und Prozeßakten – um eine detaillierte Psychologisierung dieses ‘Räubers’ bemüht. 26 Hierauf weist Karl-Ludwig Kunz in seinem Standardwerk zur Kriminologie ausdrücklich hin: Auch fiktionale Darstellungen von Kriminalität müßten zurate gezogen werden, denn diese seien in der Lage, einen „andere[n] Zugangsweg[] zu den Phänomenen von Kriminalität und Kriminalisierung“ zu eröffnen und „uns [die Kriminologen] in die Abgründe von Tätern, Opfern und Verfolgern“ blicken zu lassen; vgl. Kunz, Kriminologie (wie Anm. 7), 24. 27 Jörg Schönert, Zur Einführung in den Gegenstandsbereich und zum interdisziplinären Vorgehen, in: J. S. (Hg.), Erzählte Kriminalität (wie Anm. 19), 11–55, hier 45. 28 Vgl. Des allerdurchleuchtigsten großmechtigsten vnüberwindtlichsten Keyser Karls des fünfften: vnnd des heyligen Römischen Reichs peinlich gerichts ordnung, auff den Reichßtägen zu Augspurgk und Regenspurgk, inn jaren deissig, und zwey und dreisssig gehalten, auffgericht und beschlossen, Frankfurt am Main 1532 (Nachdruck Stuttgart 1975), besonders § 149: „Vnnd damit dann inn obgemelten fellen [Tötungsdelikten] gebürlich ermessen vnd erkantnuß solcher vnderschiedlichen verwundung halb, nach der begrebnuß des entleibten dester minder mangel sei, 25

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as; 1584–1659) räumte unter anderem in seinen 1621 erschienenen Quaestiones medico-legales nicht nur mit abergläubischen Beweisformen wie der Bahrprobe – die Wunden eines Ermordeten sollen in Gegenwart des Mörders zu bluten beginnen – auf, sondern sprach auch vehement dem ‘Chirurgen’ – als Praktiker, und damit auch dem Bader und dem Barbier – einen ärztlichen Status ab, differenzierte zwischen vital und postmortal entstandenen Wunden und suchte, unter bewußter Ausklammerung der kirchlichen Dämonologie,29 nach seelischen Hintergründen für die Ausübung einer Straftat.30 Trotz der Verdienste des ‘Gründungsvaters’ der Forensik bildet sich aber erst im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert das zu einer akademischen Disziplin aus, was heute als gerichtliche Medizin bezeichnet wird. Und in dieser aufblühenden Gerichtsmediziner-Szene ging es durchaus handfest zu. Es soll an dieser Stelle kein chronologischer Abriß der forensischen Medizin eröffnet werden, doch stellen gerade die drei letztgenannten Verdienste Zacchias’ Grundpfeiler der sich langsam formierenden Disziplin dar. Erst die Verdrängung der teils unzureichend ausgebildeten, vielfach aus Geldgier die Grenzen ihres Wissens ignorierenden Chirurgen aus der Praxis und die Integration der Chirurgie in die Medizin als akademischer Disziplin nämlich erlaubt die normative Formung des ärztlichen Berufes. Und die genaue Inaugenscheinnahme von Verletzungen schafft wie die Frage nach der Motivation für die Tat erst die Basis der auch heute noch geltenden ärztlichen Befund- und Beweissicherung zum Zwecke der strafrechtlichen Verwertbarkeit. Neben Gutachten im zivilrechtlichen31 und im kirchenrechtlichen32 Bereich habe die ‘medicina legalis’ nämlich, so führt 1769 der Königsberger Mediziner soll der Richter, sampt zweyen schöffen dem gerichtsschreiber vnd eynem oder mer wundtärzten (so man die gehaben vnd solchs geschehen kan) die dann zuuor beeydigt werden sollen, den selben todten körper vor der begrebnuß mit fleiß besichtigen, vnd alle seine empfangene wunden, schleg, vnd würff, wie der jedes funden vnd ermessen würde, mit fleiß mercken vnd verzeychnen lassen“. 29 Für deren juristische Relevanz bis weit in die Aufklärung hinein – und darüber hinaus – u.a. der 1486 publizierte Malleus Maleficarum des Dominikaners Heinrich Kramer (Henricus Institoris; um 1430–1505) maßgeblich war (der übrigens aufgrund der vorgebundenen ver-, wenn nicht gar gefälschten päpstlichen Bulle Summis desiderantes affectibus vom 5. Dez. 1484, die alle bisherigen weltlichen und kirchenrechtlichen Bestimmungen außer Kraft setzte [!], juristischen Allgemeinanspruch erhob); ebenso auch Jean Bodins (1529/30–1596) De la Démonomanie des Sorciers (Paris 1580). 30 Vgl. Paulus Zacchias, Quaestiones medico-legales. In quibus eae materiae medicae, quae ad legales facultates videntur pertinere, proponuntur, pertractantur, resolvuntur. Opus, iurisperitis apprime necessarium, medicis perutile, caeteris non injucundum, 7 Bde., Rom 1621–1650; zu Zacchia vgl. u.a. Adalberto Pazzini, Paolo Zacchia e l’opera sua massima, in: Atti della Società romana di medicina legale e delle assicurazioni 35 (1960), Vol. 23, Fasc. 4. 31 Insbesondere etwa Fragen nach der Jungfräulichkeit der Braut, aber auch nach untergeschobenen Vaterschaften (vgl. u.a. Fischer-Homberger, Medizin vor Gericht [wie Anm. 11], 210 ff.).

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Christoph Gottlieb Büttner (1708–1776) aus, in „Foro criminali“ solche zu erstellen über Körper, welche theils mit Gift oder andern giftigen Sachen vergeben, theils würklich gewaltsamer Weise getödtet, theils im Wasser ertrunken, im Walde oder andern Örtern erhangen, auf dem Acker oder am Landwege todt gefunden, auch nach etlichen Wochen aus der Erde wieder ausgegraben worden, ingleichen todt oder lebendig geborne und auf diese oder jene Art gewaltsam oder aus natürlicher Ursache gestorbne Kinder, auch abgetriebene Früchte zu besichtigen, wegen eines von andern begangenen Strupi violenti oder gewaltsamen Beyschlafs, nicht minder wegen der mit Tortur zu belegenden Übelthäter den Richter zu belehren, in wie weit ersteres gültig und letzteres nach der Leibesbeschaffenheit des Übelthäters gering oder stärker anzusehen sey?33

Als eine Hochburg dieser forensischen Tätigkeit entwickelte sich seit dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts die Universität Leipzig.34 Seit ihrer Konstituierung 1415 hatte die medizinische Fakultät wegen chronischen Geldmangels ein eher bescheidenes Dasein gefristet, doch stieg das ‘Collegium medicum’ unter den Ordinarien Gottfried Welsch (1618–1690) und Johannes Bohn (1640–1718) zu der Instanz der ‘Medicina forensi specimen’ auf, so die von Bohn geprägte Bezeichnung (gerichtliche Medizin).35 Maßgeblich hierfür war einerseits die Forderung, bei umstrittenen Todesfällen alle drei Leibeshöhlen zu öffnen, also ‘ad cadaverum’ zu begutachten – ein heute allgemein anerkanntes Prinzip, doch hatte man bis dato etwa bei Verletzungen nur ‘ad vulnerum’ inspiziert. Andererseits suchten die Leipziger Forensiker die Verwirrung hinsichtlich der Letalitätsgrade von Wunden zu beseitigen. Verletzungen konnten dem zeitgenössischen Verständnis zufolge ‘absolut tödlich’, ‘notwendig tödlich’, ‘an sich tödlich’, ‘häufig tödlich’, ‘zufällig tödlich’ sein; Wortspielereien, die es manchem Verteidiger leicht machten, einem angeklagten Mörder im wahrHier spielt die Unfruchtbarkeit der Frau eine Rolle, weitaus höher ist indes das Interesse daran, ob ein Mann körperlich in der Lage ist, den ehelichen Pflichten nachzukommen (vgl. ebd., 183 ff.). 33 Christoph Gottlieb Büttner, Aufrichtiger Unterricht vor neuangehende Aerzte und Wundärzte, wie sie sich vor, in, und nach den legalen Besichtigungen todter Körper zu verhalten [...] haben: nebst zwey und sechzig von gehabten Besichtigungen todter Körper [...] Besichtigungsscheine und Zeugnisse, Königsberg, Leipzig 1769, Vorbericht. 34 Vgl. etwa Siegfried Krefft, Die Entwicklung der Gerichtlichen Medizin in Leipzig, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl-Marx-Universität Leipzig 4 (1954/55), 215–229; ebenso Werner J. Kleemann, Die gerichtliche Medizin an der medizinischen Fakultät vor Gründung des Institutes, in: Adelgunde Graefe, R. Klaus Müller, Werner J. Kleemann (Hg.), 100 Jahre forensische Toxikologie im Institut für Rechtsmedizin in Leipzig, Leipzig 2004, 6–23. 35 Vgl. bereits Johannes Bohn, De renunciatione vulnerum seu vulnerum lethalium examen, Leipzig 1689, insbesondere aber J. B., Specimen Primium Medicinae Forensis, Leipzig 1690; J. B., Specimen Secundum Medicinae Forensis, Leipzig 1690; J. B., Specimen Tertium Medicinae Forensis, Leipzig 1692. 32

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sten Sinne des Wortes den Kopf zu retten. Bohn aber plädierte schon 1689 für nur noch zwei Letalitätsgrade, nämlich ‘absolut tödlich’ und ‘zufällig tödlich’ – ein Stich ins Herz ist, aufgrund der lebenserhaltenden Funktion des Muskels, absolut tödlich, ein im Grunde nicht tödlicher Schnitt in den Finger, dem bei unsachgemäßer oder unterbliebener Behandlung Wundbrand folgt, endet dennoch tödlich. Gerade diese Kategorisierung erwies sich als folgenschwer. Der Gutachter hatte nun auf der Grundlage einer Kausalbeziehung zwischen Verletzung und Tod über die Schuld bzw. Unschuld des Verursachers zu entscheiden. Daß solche Überlegungen keineswegs immer auf Gegenliebe stießen, zeigt anschaulich der Widerspruch des Polyhistors, aber mit medizinischen Meriten ausgezeichneten Polykarp Leyser (1690–1728): Wenn ein Geständnis des Täters, das Tatwerkzeug und der Leichnam vorlägen, sei eine Sektion völlig unnötig, ja sie bringe in die an sich ‘klare’ Sache gar ein unnötiges ‘Dunkel’.36

II. In die Tradition jener Leipziger Reformer muß auch Ernst Platner eingereiht werden, der Sohn des früh verstorbenen Pathologen Johann Zacharias Platner (1694–1747), dessen 1740 publizierte Sammlung zweifelhafter, auf forensischpsychiatrischen Momenten gründender Straftaten bis ins 19. Jahrhundert hinein der Charakter eines Standardwerks zukam.37 Auch der Sohn lehrte in Leipzig die materia medica, seit 1770 als außerordentlicher Professor, später, 1780, als Ordinarius. Im Hauptfache Physiologe, las Ernst Platner zudem über gerichtliche Medizin und nahm als Mitglied des ‘Collegium medicum’ forensische Gutachteraufgaben wahr. Nicht nur das: In den seit 1797 erscheinenden Quaestiones medicinae forensis, einer kommentierten Fall- und Gutachtensammlung, setzt er sich auch kritisch mit dem Berufsbild seiner Zunft auseinander.38 Vgl. Ernst Platner, Quaestiones medicae forensis, Leipzig 1797–1817; Sammlung und dt. Übers. u. d. T. Ernst Platners Untersuchungen über einige Hauptcapitel der gerichtlichen ArzneiWissenschaft durch beigefügt zahlreiche Gutachten der Leipziger medicinischen Facultät erläutert. Aus dem Lateinischen übers. und hg. von Carl Ernst Hedrich, Leipzig 1820; im folgenden Zitate nach dieser, vom Übersetzer neu geordneten Ausgabe (die ehemaligen Nummern und Titel der einzelnen Quaestiones sind aber aus einer Synopse ersichtlich), vgl. hier XXV, 295 f.; eine lat. Sammelausgabe erschien 1824: Ernesti Platneri [...] Quaestiones medicinae forensis et medicinae studium octo semestribus descriptum. Indicem copiosum et vitam Platneri adiecit, hg. von Ludwig Choulant, Leipzig 1824. 37 Vgl. Johannes Zacharias Platner, Prolusio XVIII. qua, medicos de insanis et furiosis audiendos esse, ostendit (1740), in: J. Z. P., Opusculorum Tomus II, Prolusiones, Leipzig 1749, 146– 165; siehe hierzu auch den Beitrag von Hans-Peter Nowitzki, Curriculum Vitae. Fundstücke und Nachträge zur Biographie Ernst Platners in diesem Band. 38 Vgl. Ernst Platner, Quaestiones medicae forensis (wie Anm. 36). 36

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Und gerade hier treten die sich seit Zacchia hinziehenden Diskussionen um die Zuständigkeit des begutachtenden Arztes sowie die Tauglichkeit und Gerichtsverwertbarkeit seines Befundes hervor. Zwar sind es nicht mehr die Barbiere und Chirurgen, die Platners Mißtrauen anheimfallen, doch lassen sich gewisse Aversionen gegen den ‘Physicus’ nicht verhehlen, gegen jenen „von der Obrigkeit ordentlich bestellte[n] Medicus, der in besonderen Medicinischen Fällen, so vor Gericht vorkommen, sein Gutachten geben muß“ und „auch Medicus forensis genennet“ wird.39 Eben diesen Physici, obgleich akademisch ausgebildet, wirft Platner „ihre Flüchtigkeit und Oberflächlichkeit im Untersuchen und Bemerken“, ihre „Dreustigkeit und Anmassung im Behaupten und Urtheilen“ vor.40 Das ist weniger eine Kompetenzrangelei als vielmehr eine insbesondere die gerichtliche Praxis hinterfragende Überlegung, denn da die Physici, „wenn sie entweder über eine Todes-Ursache, oder über einen Gemüths-Zustand ein Urtheil fällen, zugleich auch Schuld und Strafe bestimmen“,41 kann ein auf einem oberflächlichen Gutachten gegründeter falscher Befund schwerwiegende Konsequenzen nach sich ziehen – hat doch der Bericht eines Physicus die „Kraft der Aussage eines Augenzeugen, und was mehr noch die Glaubhaftigkeit erhöht, eines verpflichteten Zeugen“.42 Auf dieser eher pragmatischen Grundlage plädiert Platner eindringlich für eine deutliche Unterteilung der hinsichtlich der Tat gutachtenden Mediziner: Einerseits die gerichtlichen Zergliederer, deren Aufgabe die Beschreibung des Leichnams sei, andererseits die ärztlichen Collegii, in deren Obhut die Ermittlung der Todesursache liege.43 Zur Verdeutlichung sei einer der in den Quaestiones beschriebenen Fälle erwähnt: Der gemeine Soldat Johann Gottlob Rönner schlägt zunächst mit einem Dreschflegel seinen Nebenbuhler Johann Christian Heumann mit Wissen und Einverständnis von dessen Ehefrau bewußtlos, um ihm dann mit der stumpfen Seite eines Beils den Schädel einzuschlagen; da im Gebüsch versteckt, findet man den Leichnam erst 20 Tage später; dieser ist aufgrund von Tierfraß so stark skelettiert, daß der hinzugezogene Physicus zunächst keine Hinweise auf einen gewaltsamen Tod finden kann – außer „einem lockeren Knochenstük auf der linken Seite des Stirnbeines und einer drei Zoll langen Spalte, welche sich auf dem selben Knochen nach rechts hin über die Augenhöhle erstrekte“ und der Tatsache, daß die Rückenseite des als Tatwerkzeug identifizierten Beils genau in die durch fehlende Knochenstücke hervorgerufene Lücke im Schädel paßt. Der Gutachter, so stellt Platner fest, überschritt in diesem Falle die ihm 39 40 41 42 43

Art. Physikus, in: Zedler’s Grosses Universal-Lexicon, Bd. 27, Sp. 2138 f. Ernst Platner, Untersuchungen (wie Anm. 36), XXIII, 271. Ebd., XXI, 251. Ebd., XXIII, 272. Vgl. ebd., XXV, 296 f.

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gesetzten Grenzen: Dieser nämlich befand, daß es nicht möglich sei, anhand des entstellten Leichnams festzustellen, ob der Schädel durch ein „tödtende[s] Werkzeuge, oder durch den Fusstritt irgend eines grössern Thieres, oder durch einen darauf gefallenen Stein, oder durch eine andere zufällige Ursache“ gebrochen sei. Die hieraus resultierenden Konsequenzen sind offensichtlich. Zwar konnte auch das nun hinzugezogene Leipziger Medizinalcolleg keinen eindeutigen Befund präsentieren, doch, so Platner, lag in diesem Falle den Mitgliedern ja auch das corpus delicti, der skelettierte Leichnam vor. Hätte dieses gefehlt, wäre auf der Grundlage der bloßen Beschreibung zumindest der Möglichkeit nach weitaus mehr Sicherheit bei der Feststellung der Todesursache gegeben gewesen, auch wenn, wie Platner einräumt, nicht immer eine hundertprozentige Zuverlässigkeit bestehe.44 Platner wendet überhaupt viel Energie auf, um exakte Definitionen der Todesursache, also davon zu geben, was letztendlich den Tod herbeigeführt hat. Zunächst einmal stellt er heraus, daß es zwei Arten von Todesursachen gebe: Die innere, worunter er die durch die Sektion nachgewiesenen Verletzungen verstanden wissen will, und die äußere, worunter er alles das subsumiert, was diese Verletzungen verursacht hat.45 Platner weist hinsichtlich der Verursachung ebenso eindringlich auf die Gefahr einer ‘Verwechslung’ hin wie angesichts der Verletzung selbst, denn anders als der Chirurg – hier im positiven Sinne –, der an einem lebenden Körper vorherbestimmt, ob eine Verletzung geheilt werden könne, muß der Gerichtmediziner am Leichnam oder auch auf der Grundlage von Akteneinsicht entscheiden, ob eine Heilung hätte stattfinden können.46 Dies mag zunächst nicht gänzlich einleuchten, doch Platner baut hierauf seine Kategorisierung tödlicher Verletzungen auf. Wie bereits Bohn bezeichnet er zunächst die immer noch vorherrschende Einteilung von tödlichen Verletzungen als grundlegend falsch: Es werde von notwendig tödlichen, an sich tödlichen und von zufällig tödlichen Verletzungen gesprochen. Die zweite ist in Platners Augen reine „Dialectic“, in diesem Falle also Wortspielerei. Denn ebenso wie für Bohn gibt es für Platner einzig zwei Todesursachen, nämlich die notwendig tödliche und die zufällig tödliche. Letztere charakterisiert er ähnlich den Ausführungen des Vorgängers, erstere aber seien alle jene Verletzungen, die nach den Umständen, unter denen der Angreifer sie zugefügt habe, keine Heilung zulassen konnten. Solche Umstände seien 1.) die Zerstörung lebenswichtiger Organe wie etwa des Herzens, der Leber oder des Gehirns durch Stich, Schuß, Hieb oder Schlag; 2.) eine verzögerte oder nicht erfolgte 44 45 46

Vgl. ebd., XXIV, 288–295. Vgl. ebd., XXVI, 306 f. Vgl. ebd., XXVII, 314 f.

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ärztliche Hilfeleistung, eine bewußt unterlassene Hilfeleistung also; und 3.) eine die Heilung verhindernde Krankheit, das heißt konkret: Wenn bei einer dem Angreifer bekannten Krankheit des Angegriffenen diesem eine Verletzung zugefügt wird, und sei sie auch nicht tödlich, so wird der Eintritt des Todes doch durch die Krankheit beschleunigt – insbesondere gilt dies bei Gift. Hier kann also von einer Definition von – im juristischen Sinne – Mordmerkmalen gesprochen werden, entscheidet doch zumindest bei den letzteren beiden Umständen der Vorsatz über das Maß der Strafe.47

III. Vorsatz (dolus), im modernen Strafgesetzbuch nur erwähnt, nicht aber definiert,48 wird im juristischen Sinne als das „Wissen und Wollen der Tatumstände“, also des ‘rechtswidrigen Erfolges’ charakterisiert, womit er seit der Carolina als „Grundvoraussetzung jeder Strafbarkeit“ gilt.49 Gerade über dieses ‘Wollen’ aber macht sich Platner Gedanken. Denn wie läßt sich beurteilen, ob ein Mensch mit Vorsatz gehandelt hat, als er seinem Gegenüber im Wirtshaus oder im Wald den Schädel einschlug – das heißt, ob er es gewollt hat. Natürlich, es kann sich im Wirtshaus um eine Straftat im Affekt gehandelt haben, ein heftiger Streit, ein halb leerer Maßkrug stand parat, und die Schädeldecke brach. Im Wald hingegen stehen gemeinhin nur wenige Maßkrüge zur Verfügung, der Täter müßte, um im Bild zu bleiben, sein Tatwerkzeug schon ganz bewußt als solches, also mit Vorsatz, zu jener Lokalität mitgebracht haben, an der die Tat sich ereignet. Aber kann es nicht ganz anders gewesen sein? Platner führt hierzu folgenden Fall an: Ein gutartiger, doch geistig etwas minderbemittelter Ziegeleiarbeiter wähnt sich von einem Kollegen mit Zauberei verfolgt und fürchtet um sein Leben. Zwar meidet er ihn, vertraut sich jedoch in bezug auf seinen Verdacht niemandem an, wirkt nach außen ganz besonnen und gesund. Schließlich faßt er den Plan, den verdächtigen Kollegen umzubringen. Pistole, Pulver und Blei sind schnell zur Hand, ein Tag des Übens ist hinreichend, und der Kollege stirbt durch einen Kopfschuß. Vor Gericht ist der Arbeiter gefaßt, ja erleichtert und gesteht die Tat, die dadurch ausgelöst worden sei, daß er sich durch Zauberei bedroht gefühlt habe.50 Vgl. ebd., XXVII, 316–324. Vgl. StGB, § 15: „Strafbar ist nur vorsätzliches Handeln“. 49 Vgl. E. Kaufmann, (Art.) Vorsatz, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. V (1997), Sp. 1062–1065; vgl. auch die Kommentare zum § 276 BGB. 50 Vgl. Ernst Platner, Untersuchungen (wie Anm. 36), II, 17–28 (zuerst erschienen 1797 als Quaestio I unter dem Titel „De amentia occulta“). 47 48

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Hat dieser Mann mit Vorsatz gehandelt? Alles spricht dafür: die Vorbereitung der Tat, die Beschaffung des Tatwerkzeugs, das Üben, letztlich die Ausführung selbst. Aber kann dieser Mann nicht auch wahnsinnig und damit schuldunfähig sein? Platner behauptet: ja! Denn hierfür spreche im vorliegenden Fall eindeutig dreierlei. Erstens leide der Täter seit Jahren an den sogenannten ‘blinden Hämorrhoiden’, was ursächlich oder doch zumindest mitursächlich für eine Geisteskrankheit anzusehen sei: Gehinderte Hämorrhoidalblutung übe, wie etwa auch die gehinderte Menstruation – beide entsprechen als reinigendem Fluß einander – große Gewalt auf Gehirn und Nerven aus, Körper und Seele seien gleichermaßen krank. Hier rekurriert Ernst Platner ganz auf die landläufige Meinung und insbesondere auf seinen Vater, hatte dieser doch in seinen Prolusiones darauf verwiesen, daß es gewisse körperliche Zustände gebe, die das Gehirn affizieren und so Geisteskrankheiten auslösen.51 Wie aber ist nun das Fehlen jedweder Auffälligkeit – die auf eine mögliche Geisteskrankheit schließen läßt –, und wie die vorsätzliche und zielgerichtete Tat zu bewerten? Genau hier setzt jene Originalität Platners ein, die bisher kaum beachtet wurde. Zweitens nämlich entstehe „[a]ller Wahnsinn“, „wenn das Licht und Steuerruder der Vernunft den Verstandes-Verrichtungen entzogen“ und so „theils das Erkenntniss-Vermögen blind, theils der Wille auf Abwegen“ sei.52 Der Verstand aber sei das, was die auf dem Welttheater ausgestellten Dinge mit Anleit der Sinne fass[e], Bilder und Aehnlichkeiten davon dem Gedächtniss eingeprägt erhält und nach den Regeln desselben mit Hülfe der Phantasie von Zeit zu Zeit erneut und wiederhervorbringt.53

Vgl. J. Z. Platner, Prolusio XVII (wie Anm. 37), passim; ein gehinderter reinigender Fluß wird aber auch noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als bedenkenswert bei der Beurteilung auslösender Momente von Geisteskrankheit bezeichnet, vgl. etwa Johann Baptist Friedreich, Systematisches Handbuch der gerichtlichen Psychologie, für Medicinalbeamte, Richter und Vertheidiger, Leipzig 1835, 596, wonach zu den „Gelegenheitsursachen“ u.a. zu zählen sind: „Störungen naturgemäßer oder habitueller Ausleerungen, wie des Monatsflusses, der Milchsecretion, des Hämorrhoidalflusses, des Fußschweißes [sic!] etc.“ 52 Ernst Platner, Untersuchungen (wie Anm. 36), I, 14 (zuerst erschienen 1817 als Quaestio XLIII unter dem Titel „Quid differat inter animum et mentem quantum ad signa amentia“); da die Quaestio mit den Worten schließt: „Reliquum est, ut proxime dicam de amentiae definitiones, et in potiora genera sua distributione“ („Es bleibt mir noch übrig, nächstens von der Definition des Wahnsinns, und der Eintheilung desselben in seine Hauptcapitel zu reden“), geht der Übersetzer wohl zu Recht davon aus, daß Platner eine Überarbeitung derjenigen Quaestiones, die sich mit dem Wahnsinn beschäftigen, geplant habe, da „Er [sic!] in unsrer Zeit besser verstanden und beachtet zu werden [hoffte], als vor 15–20 Jahren“ (vgl. Ernst Platner, Untersuchungen [wie Anm. 36], VI). 53 Ebd., I, 2. 51

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Der Verstand leitet demnach die Abscheu oder das Begehren auf der Grundlage von im Gedächtnis gespeicherten Codes. Er bedient sich in der Verweigerung oder Erfüllung der an ihn herangetragenen Reize angeborener oder durch Übung und Gewohnheit erworbener „Geschicklichkeiten“. Der Verstand handelt also keineswegs vorsätzlich, doch immer sowohl sich seiner selbst bewußt als auch der Sache, wonach er strebt. Das Erinnerungsvermögen ist demnach maßgeblich daran beteiligt, daß wir so handeln, wie wir handeln. Denn „[n]ichts kann gewollt werden, was nicht zuvor vorgestellt oder gedacht wird“.54 Doch ist „das Wollen [nur] eine von den drey möglichen Folgen der Vorstellungen“, das heißt „das Willensvermögen“ ist eben „nicht ein Theil des Vorstellungs- und Erkenntnißvermögens, sondern von demselben unterschieden“.55 Die Vernunft hingegen, obgleich durch das Gedächtnis unterstützt, ordnet die auf das Individuum einströmenden Reize. Hierbei kennt sie keinerlei Schranken hinsichtlich des Erkenntnisvermögens, kann also gegen die aktuell vorteilhafteste Vorstellung verstoßen. Sie wirkt insofern mit, als sie „die Einstimmungen und den Widerspruch, das Aehnliche und Verschiedene, das Verbundene und Abgesonderte in den zusammen erweckten Vorstellungen beständig übersieht, und das Zusammenpassende überall zu halten, und das Fremde zu entfernen sucht“.56 Doch sind die Regeln des Gedächtnisses natürliche und keine Vernunftgesetze, das heißt, die Vernunft weckt und treibt den Willen zu gutem und mit ‘ihren’ Gesetzen übereinstimmendem Handeln und warnt vor einem bösen Tun, sie tadelt auch, doch kann sie nicht erzwingen, so zu handeln, wie sie es für richtig hält. Denn [j]enes Wahre, Schikliche und Widerstreitlose, nach dessen Vorbild und Richtschnur die Vernunft, was wir nur urtheilen oder thun, uns vollziehen heisst, ist ganz in allgemeinen Grundsätzen enthalten, deren Erinnerung zum allgemeinen Behuf der Vernunft vorhanden und bereit seyn muss. Wenn nun, bei übrigens gut beschaffenem Gedächtniss, ein Vergessen jener Grundsätze bei einem Menschen vorkommt, der durch bedeutendere entweder geistige oder körperliche Reizungen und Beunruhigungen davon abgezogen wurde, so wird der Vernunft-Gebrauch nothwendig aufgehoben.57

Es könne also drittens durchaus ein schwerer und tiefer „Gemüthsdruk“ vorliegen, durch dessen Reizungen der Wille zum Gewaltschritt eines heimlichen, Ernst Platner, Philosophische Aphorismen. Nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte. Anderer Theil. Ganz neue Ausarbeitung, Leipzig 1800, 212 (§ 359). 55 Ebd. 56 Ernst Platner, Anthropologie für Aerzte und Weltweise. Erster Theil, Leipzig 1772, 219 (§ 635). 57 Ernst Platner, Untersuchungen (wie Anm. 36), II, 22 f.; vgl. auch Ernst Platner, Anthropologie für Aerzte und Weltweise (wie Anm. 56), 219 (§ 635): „Wenn die Wirksamkeit der Vernunft abläßt, [...] so entsteht eine Verwirrung der Ideen, z.B. im Träume, in der Fieberhitze, Raserey, Melancholie u.s.f.“ 54

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das heißt unvorhersehbaren Verbrechen angetrieben werde – und zwar auch bei unterdrückter Vernunft mit zielgerichtetem Handeln –, so, als wolle sich der Mensch von einer unerträglichen Last befreien. Die Befreiung von einer solchen Last veranschaulicht Platner im selben Jahr 1797 am Beispiel einer 17jährigen Magd, die mehrfach auf dem Hof ihres Arbeitgebers Feuer legte. Immer, wenn die Flammen besonders schön loderten, verspürte sie eine gewisse Genugtuung, aber nicht aufgrund der Folgen ihrer Tat – die Zerstörung fremden Eigentums –, sondern aufgrund der Tat selbst. Eine Stimme, so vermeldete das junge Mädchen im Verhör, habe sie zur Brandstiftung angeregt, und immer, wenn sie Feuer gelegt habe, sei die Stimme verschwunden. Obwohl keinerlei Auffälligkeiten im Lebenswandel der Magd festgestellt werden konnten, keinerlei Streit mit dem Bauern, der einen Vorsatz hätte geltend machen können – der übrigens durchaus gegeben war, hatte die Inquisitin doch Brandbeschleuniger, unter anderem eine Zündschnur, benutzt –, plädiert Platner auch in vorliegendem Fall auf eine verminderte bzw. fehlende Zurechnungsfähigkeit.58 Denn es gebe, so führt der forensische Mediziner aus, eine gewisse Gattung des Wahnsinns, [...] nämlich den verborgenen und tief im Menschen verschlossenen, unvermuthet und plötzlich ausbrechenden, und hinsichtlich des Gedächtniss- und Urtheils-Vermögens sowohl, als auch von dem ganzen sonstigen Betragen so gleichsam abweichenden, dass er durch äussere Merkmale, eben weil Ursache und Wirkung der Krankheit tiefer verstekt liegen, weder vorausgesehen, noch, wenn er gegenwärtig ist, erkannt werden kann.59

Sie aber sei „dessenungeachtet eine wirkliche Vernunft-Unfreiheit“ (womit hier eben jene Unterdrückung der Vernunft gemeint ist), „ein Drang und Bestreben des belästigten Gemüths nach einer gewaltsamen Handlung, wobei es diese Handlung heimlich begehrt und vorbereitet, als sey sie ein Mittel zur Erleichterung und Befreiung von ihrem Drucke“.60 Diesen Zustand bezeichnete Platner 1797 als ‘amentia occulta’, als den ‘versteckten Wahnsinn’, der eben deshalb ‘occult’ sei, weil ihn die Gutachter und Richter nicht wahrnehmen können bzw. wollen. Genau dieser ‘occulte’ Wahnsinn61 aber ist es, der nach der Wende zum 19. Jahrhundert zu der Königsdisziplin der nun aufstrebenden forensischen Psychiatrie aufstieg. Vgl. Ernst Platner, Untersuchungen (wie Anm. 36), III, 30–36 (zuerst erschienen 1797 als Quaestio II unter dem Titel „De amentia occulta, alia observatio quaedem“). 59 Ebd., II, 15. 60 Ebd., II, 15 f. 61 Platner beschrieb ihn in diesem Jahr gleich in zwei Formen, einerseits als dem „Bewußtseyn[] theilhaftig“ – der Ziegeleiarbeiter hatte schon eine Vorstellung davon, wer oder was ihn konkret bedrohte –, andererseits als dem Bewußtsein abgehend – die Magd hörte einfach nur Stimmen. Vgl. ebd., III, 31. 58

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IV. Platner nämlich traf mit dieser kriminalpsychologischen Theorie ins Mark der zeitgenössischen Strafrechtstheorie. In deren interdeterministischen Sichtweise war nur in wenigen Zuständen eine Negation der Grundmaxime der Willensfreiheit und der grundsätzlichen Vernunftherrschaft möglich und damit einem Menschen Unzurechnungsfähigkeit zu attestieren: neben einem noch ‘jugendlichen’ Alter (in dem das Bewußtsein der Strafbarkeit noch fehle) ‘Wahnsinn’, ‘Blödsinn’, ‘Raserei’,62 die sich zweifelsfrei in, auch für den Laien erkennbaren, Merkmalen wie ‘Irrereden’ etc. äußerten. Anderenfalls sei er ein „Verbrecher“, weil er seinen Willen gegen eine feindselige Leidenschaft oder Neigung beugt, und von ihr zur beleidigenden That sich hinziehen läßt, wo ihm doch schon die durchdringende Stimme des gemeinsten Menschenverstandes mit Entgegenhaltung der heiligen Würde der Persönlichkeit des Mitmenschen ohne allen Zweifel ermahnen mußte, sich über jene Anreizung erhaben zu halten.63

Auch laut Platner weckt die Vernunft den Willen und treibt ihn zu ‘gutem’ und mit ihren Gesetzesvorstellungen übereinstimmendem Handeln und warnt vor ‘bösem’ Handeln, aber sie zwingt ihn nicht – die Vernunft ist zwar Herrin über das Erkenntnisvermögen, nicht aber über den Willen, sie ist nur dessen „Leiterin und Rathgeberin“.64 Im Zustande der ‘amentia occulta’ fehle eben dieses „Licht und Steuerruder“, der Wille sei folglich „auf Abwegen“. Mit dieser Degradierung der Vernunftherrschaft65 und der Abkehr von einem immer und jederzeit ‘freien’ Willen nahm Platner entschieden Partei für jene Strömungen der spätaufklärerischen ‘Psychologie’, der es um ein Ineinandergreifen von Psychologie und Physiologie, um die Vereinigung von Geistigem und Natürlichem, Körperlichem zu tun war. Erfahrungsseelenkunde und Vermögenspsychologie hatten gegen Ende des 18. Jahrhunderts den Weg für eine der rationalen Psychologie entgegenstehende empirische Methode eröffnet, die in Fremd- und Selbstbeobachtung durch sinnliche Wahrnehmung die menschli-

Vgl. etwa die entsprechenden Regelungen im Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794, Textausgabe mit einer Einführung von Hans Hattenhauer, Frankfurt am Main, Berlin 1970, Tit 1, § 27 f. 63 Martin Aschenbrenner, Begründung und Geist des peinlichen Rechtes in seinen Grundprincipien, Bamberg 1800, 92. 64 Vgl. Ernst Platner, Untersuchungen (wie Anm. 36), I, 11–13. 65 So bezeichnete noch 1805 Johann Karl Wezel die Vernunft als die „obere Gesetzgeberin und Richterin“, vgl. Wezel, Grundriß eines eigentlichen Systems der anthropologischen Psychologie, 2. Theil: Empirische Psychologie, Leipzig 1805, 19. 62

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che Psyche zu begreifen und ihre Gesetzmäßigkeiten zu erfassen suchte;66 Johann Christian Reil (1759–1813) hatte mit seinem psychophysiologischen Funktionsmodell, Gall mit seinem organologischen Modell den Weg bereitet für eine Hirnforschung, die Psyche und Soma gleichermaßen betrachtete. Um 1810 jedoch werden vermehrt Stimmen laut, die in dieser Verknüpfung von Denken und Sein eine ‘Entwürdigung’ des Menschen sahen und vehement die Trennung zwischen Psychologie – als Lehre von den psychischen Erscheinungen – und der Physiologie – als Lehre von den organischen Erscheinungen – fordern. Den „‘Ungeheuerlichkeiten’“ der deterministischen und materialistischen ‘Seelenlehre’ mit solch „‘fatalen Konsequenzen [wie den] sogenannte[n] Willenskrankheiten, Monomanien etc.’“67 suchte man mit dualistischen Positionen zu begegnen, die die Seele wieder im Bereich des Religiösen verorteten, als frei, unkörperlich, unsterblich: Denn „die Naturwissenschaft“ sagt, wenn sie „von der Seele in Hinsicht der Freyheit“ spricht, so der Astronom und Naturkundler Franz von Paula Gruithuisen (1774–1852), nur negatives: nämlich, wenn ihr Aner, Isten und Iker die Seele in unser Gebiet verlegt, so ist sie der Nothwendigkeit unterworfen, wie jedes andere Ding; bey uns findet ihr nirgends in einer Kraft oder in einem Ding Freyheit.68

Die Weigerung, von den organischen Funktionen auf das Geistesleben zu schließen und damit mögliche Erkrankungen der ‘Seele’ wissenschaftlich begründen zu können, brachte insbesondere für die ‘Criminalpsychologie’ weitreichende Folgen mit sich. Da der Trieb [...] bei uns nicht unmittelbar zur Handlung [führt], wie dies in der unfreiwilligen Natur der Fall ist; eben weil er bei uns durch die Vorstellung hindurchgeht, bekommen wir Selbstmacht über ihn. Unabhängig von uns fordern uns unsere Begierden auf, etwas zu tun, aber ihnen zu folgen oder nicht, steht in unserer Gewalt. Diese unsere Unabhängigkeit von den Trieben in unserem wirklichen Handeln, heißt sittliche Freiheit, und das Vermögen der Selbstbestimmung im Gegensatz zur Begierde, heißt Wille.69

Die Debatte kulminierte also abermals im Primat der absoluten Willensfreiheit und der grundsätzlichen Vernunftherrschaft, auch wenn nicht wenige Gerichtsärzte und auch Philosophen [sic!] recht darauf auszugehen scheinen, die Sphäre der Zurechnung möglichst zu beschränken, indem sie der Freiheitslo-

Vgl. Dietrich von Engelhardt, Historisches Bewußtsein in der Naturwissenschaft von der Aufklärung bis zum Positivismus, Freiburg i.Br., München 1979, 105–110. 67 Vgl. Max Dessoir, Geschichte der neueren deutschen Psychologie, Nachdruck der 2. Aufl. Berlin 1902, Amsterdam 1964, 384. 68 Franz von Paula Gruithuisen, Beyträge zur Physiognosie und Eautognosie [i.e. Natur- und Selbstkunde], für Freunde der Naturforschung auf dem Erfahrungswege, München 1812, 398. 69 Christian Friedrich Callisen, Kurzer Abriß der Erfahrungsseelenlehre, als Grundlage bei Vorlesungen über diese Wissenschaft, Kiel 1802, § 23. 66

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sigkeit (Unfreiheit) eine Ausdehnung geben, die fast unnatürlich ist, und mit der Benennung: verborgene psychische Störung, ein fast arges Spiel treiben.70

Der Leipziger Mediziner und Ordinarius für Psychische Therapie Johann Christian Heinroth (1773–1843)71 machte 1833 seinem Ärger über solchen „Unfug, der schon seit geraumer Zeit mit der Entschuldigung fast aller und jeder Capital-Verbrechen durch sogenannte krankhafte Gemüthszustände getrieben worden“ sei, in einem voluminösen Kompendium Luft, in dem er die „Mißbilligung der Unbefangenen und Einsichtsvolleren“ vereinigte72 – und insbesondere auf seine eigene, von religiösen und moralischen Dogmen durchtränkte ‘Eigenschuldtheorie’ verwies, nach der es „seine Schuld“ sei, wenn „der Mensch zur Bestie“ werde: „[D]enn das heilige Gesetz Gottes ist Jedem ursprünglich als Gewissen beigegeben“.73 Folglich müsse man unterscheiden zwischen der Georg Heinrich Masius, Handbuch der gerichtlichen Arzneiwissenschaft. Zum Gebrauche für gerichtliche Ärzte und Rechtsgelehrte, 2 Bde., Stendal 1821–1832, Bd. 2, IV. 71 Heinroth erhielt 1811 als Leipziger Ordinarius für ‘Psychische Therapie’ den ersten eigens für die Psychiatrie eingerichteten Lehrstuhl an einer deutschen Universität – und auch weltweit –, doch wurde dieser nach Heinroths Tod auf Betreiben des Anatomen Ernst Heinrich von Weber (1795–1878) mit Verweis auf eine bessere Besoldung der Professoren zunächst ‘halbiert’ und in den 1850er Jahren ohne formellen Akt aufgelöst (vgl. Holger Steinberg, Die Errichtung des ersten psychiatrischen Lehrstuhls: Johann Christian August Heinroth in Leipzig, in: Der Nervenarzt 75 [2004], 303–307; H. S., Johann Christian August Heinroth [1773–1843] – der erste Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie und sein Krankheitskonzept, in: Matthias C. Angermeyer, H. S., 200 Jahre Psychiatrie an der Universität Leipzig. Personen und Konzepte, Berlin, Heidelberg 2005, 1–80); während seines Medizinstudiums in Leipzig stand Heinroth übrigens unter dem Einfluß Platners, und nach seiner Promotion 1805 erarbeitete er gemeinsam mit diesem die 15 Seiten umfassende Schrift De melancholia senili occvlta observatio, die als Quaestio XXV 1806 erschien (vgl. Platner, Untersuchungen [wie Anm. 36], 78–90). 72 Johann Christian Heinroth, Grundzüge der Criminal-Psychologie oder: Die Theorie des Bösen in ihrer Anwendung auf die Criminal-Rechtspflege, Berlin 1833, II; vgl. zu Heinroths Lehre des ‘Bösen’ auch Holger Steinberg, The sin in the aetiological concept of Johann Christian August Heinroth (1773–1843). Part 1: Between theology and psychiatry. Heinroth’s concepts of ‘whose being’, ‘freedom’, ‘reason’ and ‘disturbance of the soul’, in: History of Psychiatry (2004), 329– 344, sowie H. S., The sin in the aetiological concept of Johann Christian August Heinroth (1773– 1843). Part 2: Self-guilt as turning away from reason in the framework of Heinroth’s concept of the interrelationships between body and soul, in: ebd., 437–454. 73 Johann Christian Heinroth, System der psychisch-gerichtlichen Medizin, oder theoretischpraktische Anweisung zur wissenschaftlichen Erkenntniß und gutachtlichen Darstellung der krankhaften persönlichen Zustände, welche vor Gericht in Betracht kommen, Leipzig 1825, 328 (§ 84); Heinroth setzt sich hierin auch ausführlich mit Platners Ansichten über die Unzurechnungsfähigkeit auseinander, zitiert lange Passagen aus verschiedenen Quaestiones – nach der 1824 von Ludwig Choulant lateinisch herausgegebenen Ausgabe (wie Anm. 36) – und kommt zu dem Schluß, daß Platner insbesondere im Falle des erwähnten Ziegeleiarbeiters „Unrecht hat, diesen Zustand noch eine amentiam occultam zu nennen“: Man dürfe „diese Zustände nicht v e r b o rg e n e nennen: denn wo wollte man etwas von ihnen wissen? und warum sollte nicht einem jeden inneren Zustande auch ein äußerer entsprechen? Es fehlt nur daran, daß solche 70

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„Straf-Unfähigkeit“ und der „Un -Sträflichkeit“,74 da jeder Mensch ursprünglich die Möglichkeit besitze, zwischen ‘Gut’ und ‘Böse’ zu wählen. Entscheide er sich für das ‘Böse’, handele er also nicht ‘verständig’, so werde er ein ‘schlechter’ Mensch und könne unter Umständen wahnsinnig werden. Denn ein Mensch, der „sich außer Stand setzt, verständig zu handeln, begeht einen moralischen Selbstmord“,75 mithin eine ‘Sünde’. Diese Unfreiheit des Willens, diese ‘Erniedrigung’ zum „Dienste untergeordneter fremder Gewalten, die er sich unterwerfen sollte“ – „äußere[] Antriebe[] oder Impulse[]“, die ihn „locken, verführen, bestimmen“ wollen – könne letztendlich zu geistigen Erkrankungen führen.76 Daher sei auch für „eine That, im Zustande der Unfreiheit begangen, keine Entschuldigung [zu] finden“; sie entspringe „aus einem selbstverschuldeten Zustande“, denn daß er [der Wille] unfrei w a r d, muß d e r P e r s o n z u g e r e c h n e t w e r d e n: denn n u r d u r c h i h r e S c h u l d , nur durch v e r n u n f t w i d r i g e s L e b e n, kann sie der e i n g e b o r n e n, ihr d u r c h k e i n e ä u ß e r l i c h e G e w a l t z u e n t r e i ß e n d e n, Freiheit verlustig gehen.77

Heinroth sieht alle jene „criminalistischen Psychologen der neuesten Schule“ scheitern, die eine „psychisch-so matisch e Anlage des verkehrten Sinnes, oder eine o rganisch e Bedingtheit des Bösen annehmen“, um die Unzurechnungsfähigkeit eines Verbrechers zu diagnostizieren – dadurch werde „der Charakter der Persönlichkeit, ohne den doch das Böse nicht denkbar ist“, aufgehoben.78

V. Mit jenen „criminalistischen Psychologen der neuesten Schule“ meinte Heinroth die praktischen wie theoretischen Forscher, die sich seit der Wende zum 19. Jahrhundert verstärkt für die Diagnose des ‘Wahnsinns’ als wirklicher – psychisch oder somatisch ausgelöster – Krankheit aussprachen. Wegweisend waren hierbei nach einhelliger Meinung der Fachhistoriker die Untersuchungen des Franzosen Philippe Pinel (1745–1826), dem neben der Begründung der

Kranke vor dem offenbaren Ausbruche ihres Uebels nicht genug beobachtet werden“ – bei näherer Beobachtung hätte man also „den gar nicht verborgenen krankhaften Zustand desselben [Ziegeleiarbeiters] erkannt“ (vgl. 265 ff. [§ 63 ff.], Zitate 272 [§ 64], 277 [§ 65]). 74 Heinroth, Grundzüge (wie Anm. 72), 48. 75 Heinroth, System (wie Anm. 73), 333 (§ 84). 76 Vgl. Heinroth, Grundzüge (wie Anm. 72), 56 (§ 5). 77 Ebd., 183 (§ 47). 78 Ebd., 102 (§ 21).

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Psychiatrie auch in Deutschland79 das Verdienst zugestanden wird, die in den ‘Irrenhäusern’ einsitzenden ‘Wahnsinnigen’ von den Ketten befreit zu haben.80 Aufgrund zahlreicher Beobachtungen während der Revolutionsjahre in ‘Irrenhäusern’ – unter anderem im ‘Bicêtre’ (männliche ‘Irre’) und in der ‘Salpêtrière’ (weibliche ‘Irre’) –, die zugleich auch als Gefängnisse benutzt wurden, gelangte Pinel zu dem Schluß, daß ‘Irresein’ eine behandelbare Störung der Identität sei, eine ‘Entfremdung’ (aliénation).81 In seinem Traité médicophilosophique sur l’aliénation mentale systematisierte Pinel diese ‘Entfremdungen’, wobei er als deren „deuxième espèce“ die ‘Manie sans délire’ hervorhob, deren „caractère spécifique“ darin bestehe, daß [e]lle est continue, ou marquée par des accès périodiques. Nulle altération sensible dans les fonctions de l’entendement, la perception, le jugement, l’imagination la mémoire, etc.: mais perversion dans les fonctions affectives, implusion aveugle à des actes de violence, ou même d’une fureur sanguinaire, sans qu’on puisse assinguer aucune idée dominante, aucune illusion de l’imagination qui soit la cause déterminante de ces funestes penchans.82

Als entscheidendes Kriterium dieser Art der ‘Geisteskrankheit’ ist also eine Beeinträchtigung der affektiven Funktionen bei ‘ungestörten Verstandeskräften’ zu bestimmen, die sich insbesondere darin äußert, daß kein zur gewaltsamen Handlung hinreichender triftiger Grund – und damit kein Motiv – zu finden sei. Hierauf verweist auch der Schöpfer des Begriffes ‘Psychiatrie’83 und Klaus Dörner, Bürger und Irre. Zur Sozialgeschichte und Wissenssoziologie der Psychiatrie. Überarb. Neuaufl., Frankfurt am Main 1984, 144. 80 Vgl. dazu etwa Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft (Histoire de la folie à l’âge classique, 1961), Frankfurt am Main 1973, 435 ff.; demgegenüber betonen Franz Alexander, Sheldon T. Selesnick, The History of Psychiatry, New York 1966, 116, daß bereits im Spanien des beginnenden 15. Jahrhunderts, etwa in den Anstalten von Valencia, Sevilla oder Saragossa, psychisch Kranke ‘von den Ketten befreit’ worden seien. 81 Vgl. hierzu Dörner, Bürger und Irre (wie Anm. 79), 143–153. 82 Philippe Pinel, Traité médico-philosophique sur l’aliénation mentale, ou la manie, Paris 1801, 156. „Diese Manie sans delire ist entweder anhaltend oder durch periodische Anfälle ausgezeichnet. Keine in die Augen fallende Veränderung der Verstandesverrichtungen, der Perception, der Urtheilskraft, der Einbildungskraft, des Gedächtnisses kommt dabei vor: wohl aber Verkehrtheit in den Willensäußerungen, nämlich ein blinder Antrieb zu gewaltthätigen Handlungen, oder gar zur blutdürstigen Wuth, ohne daß man irgend eine herrschende Idee, irgend eine Täuschung der Einbildungskraft, welche die bestimmende Ursache dieses Hanges wäre, angeben kann“ (Philippe Pinel, Philosophisch-medizinische Abhandlungen über Geistesverwirrungen oder Manie, übers. von Michael Wagner, Wien 1801, 160). 83 Noch unter der Bezeichnung ‘Psychiaterie’, vgl. Johann Christian Reil, Ueber den Begriff der Medicin und ihre Verzweigungen, besonders in Beziehung auf die Berichtigung der Topik der Psychiaterie, Halle 1808 (J. C. R., Johann Christoph Hoffbauer [Hg.], Beyträge zur Beförderung einer Kurmethode auf psychischem Wege, Bd. 1), speziell 161; vgl. auch Achim Mechler, Das Wort ‘Psychiatrie’. Historische Anmerkungen, in: Der Nervenarzt 34 (1963), 405 f. 79

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eigentlicher Begründer der psychiatrischen Wissenschaft in Deutschland,84 Johann Christian Reil, der die ‘manie sans délire’ als „Wuth ohne Verkehrtheit des Verstandes“ charakterisiert, die ein automatischer Drang zur Grausamkeit, oder ein blinder Trieb zu Gewalttätigkeiten und blutdürstigen Handlungen [sei], der bloß durch körperliche Gefühle geweckt, aber nicht durch Erkenntnisse eines Zweckes oder Objektes zur Tätigkeit bestimmt wird. Alle Funktionen des Seelenorganes sind in normalen Zustand, die Sinne, die Imaginationen und der Verstand wirken wie bei einem gesunden Menschen. Daher kann auch der Kranke seine Seelenkräfte zur Ausführung seines blinden Dranges aufs planmäßige anwenden und auf die überlegteste Art sich die Mittel dazu verschaffen.85

Auch anderweitig fand dieses Krankheitsbild Eingang in die Debatten um die Zurechnungsfähigkeit. So attestierte etwa Johann Christoph Hoffbauer (1766– 1827), daß es [d]urch psychologische Beobachtungen [...] nämlich außer Zweifel gesetzt [sei], daß Menschen, die übrigens ihres Verstandes ganz mächtig sind, so daß sie völlig richtig und zusammenhängend urtheilen, und dabei von allen Anfällen des Wahnsinns frei sind, doch durch einen unwiderstehlichen Zwang zu gewissen Handlungen hingerissen werden.86

Einen solchen vorrübergehenden psychischen Zustand, in dem die „Seelenvermögen sich auf eine ihrer Naturbestimmung zuwiderlaufenden Art und unwillkürlich äußern“,87 und ein Mensch trotz „völlig hellen und ungestört thätigen Verstande[s]“ zu „gewissen Handlungen unwillkürlich fortgerissen wird“,88 nannte Hoffbauer den ‘gebundenen Vorsatz’. Pinels Schüler Jean Etienne Dominique Esquirol (1772–1840) differenzierte die Typisierung der ‘manie sans délire’ in seiner Lehre der sogenannten ‘MoReils Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Curmethoden auf Geisteszerrüttungen (Halle 1803) gelten gemeinhin als Grundstock der Psychiatrie in Deutschland, vgl. Arnold Boldt, Über die Stellung und Bedeutung der „Rhapsodien“ von J. C. Reil in der Geschichte der Psychiatrie, Berlin 1936; zu Reils aber immer noch in der romantischen Wissenschaftsauffassung und Naturphilosophie verwurzelten Position vgl. Dörner, Bürger und Irre (wie Anm. 79), 218– 225. 85 Johann Christian Reil, Ueber die Erkenntniß und Cur der Fieber. Besondere Fieberlehre, Bd. 4: Nervenkrankheiten, 2. verm. Aufl., Halle 1805, 396 (1. Aufl. Halle 1802). 86 Johann Christoph Hoffbauer, Die Psychologie in ihren Hauptanwendungen auf die Rechtspflege nach Gesichtspunkten der allgemeinen Gesetzgebung oder die sogenannte gerichtliche Arzneywissenschaft nach ihrem psychologischen Theile, Halle 1808, 17; zu Hoffbauer vgl. Matthias John, Hoffbauer: ‘Gerichtliche Arzneywissenschaft nach ihrem psychologischen Theile’, in: Katja Regenspurger, Temilo van Zantwijk (Hg.), Wissenschaftliche Anthropologie um 1800?, Stuttgart 2005, 94–103. 87 So die Definition der ‘Seelenkrankheit’ in Johann Christoph Hoffbauer, Untersuchungen über die Krankheiten der Seele und die verwandten Zustände, Hannover, Halle 1802, 274. 88 Hoffbauer, Psychologie (wie Anm. 86), 395. 84

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nomanien’,89 die er als „chronisches Gehirnleiden ohne Fieber“ definierte, „das sich durch eine partielle Störung der Intelligenz, der Neigungen oder des Willens charakterisiert“, wobei der Täter aber völlig gesund erscheine.90 Maßgeblich für die Monomanie sei neben einer nicht dem Charakter entsprechenden Haltung das Gerichtetsein auf einen bestimmten Gegenstand, sich ausdrückend etwa durch den unwiderstehlichen Drang, eine – meist sehr nahestehende – Person zu töten (Mord-Monomanie), ohne Veranlassung, Bedürfnis oder Not zu stehlen (Kleptomanie) oder Brände zu legen (Pyromanie).91 Diese seien oftmals ‘Willenskrankheiten’, denn der Wille [sei] verletzt, und der Kranke wird zu Handlungen hingezogen, zu denen ihn weder Vernunft, noch Gefühl bestimmen, und welche sein Gewissen missbilligt. Aber er hat nicht die Kraft, sie zu unterdrücken, die Handlungen geschehen unfreiwillig, instinctartig.92

Diese von Pinel und Esquirol scheinbar ‘neu entdeckten’ und zur Debatte gestellten Krankheitsbilder werden als eigentliche Innovation in der Frage um die Zurechnungs- und damit Straffähigkeit eines Inquisiten angesehen.93 Doch auch, wenn man den Namen Platner in der zeitgenössischen forensischen Fachliteratur oft vergebens sucht bzw. Platners Quaestiones nur beiläufig erwähnt findet,94 scheinen sich Vertreter der ‘gerichtlichen Arzneikunde’ wie Juristen im Vgl. u.a. Esquirols Artikel Monomanie im Dictionnaire des Sciences Médicales, Bd. 34 (1817), 114–125. 90 Jean Etienne Dominique Esquirol, Des maladies mentales, considérées sous les rapports médical, hygiénique et medico-legal, 2 Bde., Paris 1838; hier zitiert nach der Übersetzung von W. Bernhard, Die Geisteskrankheiten in Beziehung zur Medizin und Staatsarzneikunde vollständig dargestellt, 2 Bde., Berlin 1838, Bd. 1, 1. 91 Zu weiteren Monomanien wie der ‘érotomanie’, der ‘nymphomanie’, der ‘théomanie’ (religiöse Monomanie), der ‘démonomanie’ (dämonenfürchtige Monomanie) vgl. ebd., Bd. 2, 15 ff.; eine solchermaßen ‘Monomanie’, nämlich den krankhaften „Triebe zum Selbstmorde“, hatte indes schon 1783 der österreichische Arzt Johann Leopold Auenbrugger, Edler von Auenbrugg (1722–1809) beschrieben, vgl. Auenbrugger, Von der stillen Wuth, oder dem Triebe zum Selbstmorde als wirkliche Krankheit, mit Original-Beobachtungen und Anmerkungen, Dessau 1783, und damit die Deutung des Suizids als Todsünde wider Gottes Gebot wie auch als moralischer Verwerflichkeit aufgeweicht. 92 Esquirol, Die Geisteskrankheiten (wie Anm. 90), Bd. 2, 1 f. 93 Vgl. u.a. Greve, Verbrechen und Krankheit (wie Anm. 11), 270. 94 So führt etwa Johann Daniel Metzger (1739–1805) in seinem System der gerichtlichen Arzneiwissenschaft unter den zahlreichen „besten Schriften, die wir in dieser Rücksicht [auf ‘Gemütskrankheiten’] empfehlen können“ die Quaestiones nur kursorisch mit dem Hinweis „darunter die meisten de amentia“ auf, vgl. Johann Daniel Metzger, Kurzgefasstes System der gerichtlichen Arzneiwissenschaft, 3. Aufl., Königsberg, Leipzig 1805, 409 (§ 406); in der 1799 publizierten 2. Auflage des Systems hingegen werden im Zusammenhang mit der Darstellung des Wahnsinns zwar Johann Zacharias Platners Prolusiones (wie Anm. 37) erwähnt, ein Hinweis zumindest auf die bis dahin erschienenen Quaestiones des Sohnes aber fehlt (vgl. J. D. M., Kurzgefaßtes System 89

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ersten Drittel des 19. Jahrhunderts doch darüber einig, wie hoch Platners Verdienst und wie weitreichend seine Originalität veranschlagt werden muß. So stellte etwa der Rostocker Ordinarius für Medizin Samuel Gottlieb Vogel (1750–1837) in seiner Auslegung eines der wohl öffentlickeitswirksamsten Prozesse des frühen 19. Jahrhunderts, dem um den Perückenmacher Johann Christian Woyzeck,95 fest: C l a r u s in seiner neuesten Schrift [...] sagt, daß die ganze Lehre von Amentia occulta noch keineswegs im Reinen sey, sondern in hohem Grade einer strengen Revision bedürfe u.s.w. Ein erfahrener gerichtlicher Arzt, H i e r. L u h t e r [...], hegt ähnliche Gesinnung. Ausser P l a t n e r stehen dagegen auf der andern Seite H o f [f]b a u e r, R e i l, A d o l p h und E d u a r d H e n k e, (der Arzt und Criminalist) G r o h ma n n, J . C. F. M e i st e r, F e u e r b a c h, K l e i n s c h r o d, P f i st e r, C o n r a d i, K a u s c h, ein eben so schrafsinniger als erfahrner psychologischer Arzt, und mehrere Andere, welche in der Vo g e l’schen Schrift („Ein Beitrag zur gerichtärztl. Lehre von der Zurechnungsfäh. Berl. 1822. 8.“) angeführt sind.96

der gerichtlichen Arzneywissenschaft, 2. Aufl., Wien 1799, 269 (§ 408); auch die posthum immer wieder aktualisierten Auflagen des Standardkompendiums behalten dies bei, vgl. etwa J. D. M., System der gerichtlichen Arzneiwissenschaft. Nach dem Tode des Verfassers verbessert und mit Zusätzen versehen von Christian Gottfried Gruner. Erweitert und berichtigt von Wilhelm Hermann Georg Remer, 5. Aufl., Königsberg, Leipzig 1820, 473 (§ 406). 95 Die Jahre währende Debatte um die Zurechnungsfähigkeit des Inquisiten – ausgelöst durch das Gutachten des Platner-Schülers Johann Christian August Clarus (1774–1854), Professor für medizinische Klinik in Leipzig und Kreisamts-, Stadt- sowie Universitätsphysikus – bildete vermutlich die Anregung für Georg Büchners fragmentarisches Drama Woyzeck. Vgl. dazu bereits Hugo Bieber, Wozzeck und Woyzeck, in: Das literarische Echo 16 (1914), Sp. 1188–1191; so auch Georg Büchner, Woyzeck, Marburger Ausgabe, Bd. 7.1, hg. von Burghard Dedner, Gerald Funk, Bd. 7.2, hg. von B. D., Darmstadt 2005. 96 Samuel Gottlieb Vogel, Ein Facultäts-Gutachten über die Zurechnungsfähigkeit eines Mörders, in: Zeitschrift für die Staatsarzneikunde, 16. Ergänzungsheft (1832), 83–171, hier 118 f.; Vogel, der sich hier selbst zitiert, verweist auf Johann Christian August Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, nach Grundsätzen der Staatsarzneikunde aktenmäßig erwiesen, in: Zeitschrift für die Staatsarzneikunde, 4. Ergänzungsheft (1825), 1–97; Clarus’ Gutachten erschien bereits früher auch als Separatdruck, der jedoch „sehr schnell vergriffen“ war (vgl. ebd., 1): J. C. A. C., Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, nach Grundsätzen der Staatsarzneikunde aktenmäßig erwiesen, Leipzig 1824; weiterhin verweist Vogel u.a. auf die bereits genannten Schriften von Hoffbauer, Psychologie (wie Anm. 86), und Reil, Ueber die Erkenntniß und Cur der Fieber (wie Anm. 85), aber auch auf Hieronymus Luther, Ueber die Zurechnungsfähigkeit bey gesetzwidrigen Handlungen überhaupt, und besonders in Beziehung auf die neuern Grundsätze in der gerichtlichen ArzeneyWissenschaft, Eisenach 1824, und Johann Christian August Grohmann, Ueber die zweifelhaften Zustände des Gemüths; besonders in Beziehung auf ein von dem Herrn Hofrath Dr. Clarus gefälltes gerichtsärztliches Gutachten, in: Zeitschrift für die Anthropologie 1 (1825), 291–337; Luther spricht sich indes dafür aus, daß die „Momente [...] wie die Benennungen selbst“ – „instinktartige Wuth, [...] Mania occulta, [...] Wuth ohne Verkehrtheit des Verstandes, Mania ohne Geistes-

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Vogels Gegenüberstellung zweier ‘Lehrmeinungen’ und die Auflistung der ‘Parteigänger’ Platners wirft ein aufschlußreiches Bild auf die Verhältnisse der 1820er und 1830er Jahre. In seinem 1823 erstellten Gutachten über die Zurechnungsfähigkeit des Inquisiten Woyzeck hatte Clarus unter Verweis auf Platners Quaestiones – „amentia occulta (E. Platner Quaestion. medic. forens. I. II. Lips. 1797)“ – ausdrücklich die Möglichkeit verworfen, daß bei der Tötung der Johanna Christiane Woost ein „außerordentlicher, blinder und unwillkürlicher Antrieb [...] verborgen gelegen haben könne“, Woyzeck also im Zustande der „stille[n] Wuth (amentia occulta)“ gehandelt habe.97 Ein Grund, um anzunehmen, daß derselbe zu irgend einer Zeit in seinem Leben, und namentlich unmittelbar vor, bei und nach der von ihm verübten Mordthat sich im Zustande einer Seelenstörung befunden, oder dabei nach einem nothwendigen, blinden und instinktartigen Antriebe, und überhaupt anders, als nach gewöhnlichen Anreizungen gehandelt habe, [sei] nicht vorhanden.98

Nicht vorhanden sei ein Grund eben deshalb, weil „Beobachtungen über die gegenwärtige körperliche und geistige Verfassung des Inquisiten kein Merkmal an die Hand [geben], welches auf das Daseyn eines kranken, die freye Selbstbestimmung und die Zurechnungsfähigkeit aufhebenden, Seelenzustandes zu schließen berechtige“.99 Clarus war sich seiner Diagnose sicher, drängte jedoch darauf, „wegen der ungewöhnlichen Schwierigkeit, Vielseitigkeit und Wichtigkeit des von [ihm] beurtheilten Gegenstandes“100 ein weiteres Gutachten, und zwar der Leipziger medizinischen Fakultät, einzuholen – diese stimmte im April 1824 Clarus in allen Belangen und ohne Umschweife zu. Am Morgen des Verrucktheit [...] und wie sie alle heißen“ – „noch dem Wortspiel und der Willkür überlassen“ seien, vgl. Luther, ebd., 116 f. 97 Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck 1825 (wie Anm. 96), 76 f.; das Originalgutachten der Leipziger medizinischen Fakultät gilt als verloren, eine zum Verbleib bei der Fakultät angefertigte Abschrift entdeckte aber vor kurzem Holger Steinberg im Leipziger Universitätsarchiv, vgl. Holger Steinberg, Das Gutachten der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig zum Fall Woyzeck. Nach 180 Jahren wieder entdeckt, in: Der Nervenarzt 76 (2005), 626–632; H. S., Sebastian Schmideler, Eine wiederentdeckte Quelle zu Büchners Vorlage zum „Woyzeck“: Das Gutachten der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig, in: Zeitschrift für Germanistik N.F. XVI-2 (2006), 339–366 (mit Faksimiles und differenzierter Umschrift). 98 Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck 1825 (wie Anm. 96), 90. 99 Johann Christian August Clarus, Früheres Gutachten [...] über den Gemüthszustand des Mörders Joh. Christ. Woyzeck, erstattet am 16. Sept. 1821, in: Zeitschrift für die Staatsarzneikunde, 5. Ergänzungsheft (1826), 129–149, hier 148; in diesem ‘ersten’ Gutachten, 1821 erstellt und Basis für das Gutachten von 1825, diagnostiziert Clarus ebenfalls die Zurechnungsfähigkeit Woyzecks. 100 Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck 1825 (wie Anm. 96), 91.

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27. Augusts 1824 fiel Woyzecks Kopf mit „Präcision und Schnelle“ auf dem Marktplatz von Leipzig durch das Schwert des Henkers.101 Das Clarussche Gutachten löste eine bis weit in die 1830er Jahre hinein andauernde Debatte über die Frage der Zurechnungsfähigkeit aus, in die neben den führenden deutschen Forensikern – unter anderen der bereits zitierte Heinroth, aber auch Adolph Christian Heinrich Henke (1775–1843) und Johann Christian August Grohmann (1769–1847) – auch Juristen wie Carl Joseph Mittermaier (1787–1867) und Julius Eduard Hitzig (1780–1849) eingriffen. Letzterer, Richter und preußischer Kriminalrat, stellte auch eine Verbindung zu dem ähnlich gelagerten Fall um den Tabakspinner Daniel Schmolling (1779– 1828) aus den 1810er Jahren her, dem er eine „von den Aerzten behauptete, und den erkennenden Collegien bestrittene amentia occulta“ attestierte.102 Auch in diesem Verfahren,103 das sich ebenfalls über Jahre hinzog, wurde die Zurechnungsfähigkeit des Täters, der im November 1817 seine Geliebte durch einen Messerstich so schwer verletzt hatte, daß sie tags darauf an den Folgen starb, diskutiert. Der von Gerichts wegen eingesetzte Gutachter, der Berliner Stadtphysikus Johann Friedrich Alexander Mertzdorff, diagnostizierte, da „die höchst sorgfältig geführte Untersuchung auch nicht die entfernteste Spur einer causa facinoris [Tatmotiv] habe ermitteln können“, daß in der Tat die „frappanteste Aehnlichkeit mit solchen Todschlägen zu erkennen“ sei, „welche Folgen der von Platner sogenannten amentia occulta“ gewesen seien. Der Inquisit habe, so Mertzdorff weiter, „den Todschlag in einem Anfalle von amentia [o]cculta beschlossen und vollführt“, er sei „also im Momente der Entschließung zur That, der Freiheit, sich selbst nach Vernunftgründen zu bestimmen, völlig beraubt gewesen, ohne sich selbst durch Trunkenheit oder leidenschaftlichen Affect um diese Freiheit gebracht zu haben“.104 Trotz dieses Gutachtens und der daraus resultierenden Unzurechnungsfähigkeit des Täters bei der VerVgl. die Anzeige über Woyzecks Hinrichtung im Allergnädigst privilegirten Leipziger Tageblatt, Nr. 59 (28. August 1824), 241. 102 Julius Eduard Hitzig, [Rezension von] Johann Christian August Clarus: Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, nach Grundsätzen der Staatsarzneikunde aktenmäßig erwiesen [und] Carl Moritz Marc: War der am 27ten August 1824 in Leipzig hingerichtete Mörder Johann Christian Woyzeck zurechnungsfähig? Bamberg 1825, in: Zeitschrift für die Criminal-Rechts-Pflege in den Preußischen Staaten 1 (1825), 487–500, hier 493. 103 Das Büchner vermutlich ebenso wie das Verfahren um den Perückenmacher Johann Christian Woyzeck bekannt war (vgl. Anm. 95) und ebenfalls in den Woyzeck eingeflossen ist. Vgl. Georg Büchner, Woyzeck, krit. hg. von Egon Krause, Frankfurt am Main 1969, 172–179, ebenso Reuchlein, Das Problem der Zurechnungsfähigkeit (wie Anm. 14), besonders 26. 104 Vgl. Ernst Horn, Gutachten über den Gemüthszustand des Tobacksspinnergesellen Daniel Schmolling, welcher den 25sten September 1817 seine Geliebte tödtete, in: Archiv für medizinische Erfahrung im Gebiete der praktischen Medizin und Staatsarzneikunde 1820, 292–367, hier 316 f. 101

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übung der Tat sprach das Stadtgericht Berlin Schmolling im September 1818 des Mordes schuldig und verurteilte ihn zum Tode durch das Rad. Das Urteil wurde im Januar 1819 vom Berliner Kammergericht bestätigt. Der gutachtende Richter, Ernst Theodor Amadeus Hoffmann, wies das Gutachten Mertzdorffs mit dem Hinweis ab, der Inquisit zeige keinerlei Symptome des Wahnsinns; als Motiv kämen beträchtliche Schulden und die Schwangerschaft der Geliebten in Betracht – doch komme es bei einer so „völlig feststehenden That“ auch gar nicht auf das Motiv an.105 Schmollings Verteidiger focht das Urteil – übrigens gegen den Willen des Inquisiten – an: Der als Gutachter bestellte Medizinalrat Anton Ludwig Ernst Horn (1774–1848) sprach sich dafür aus, daß der Inquisit „nicht fü r zurechnung sfäh ig gehalten werden könne“,106 und verwies darauf, daß krankhafte Gemüthszustände, welche der Dr. M.[ertzdorff] mit P l a t n e r amentia occulta nennt, und Andere damit verwandte, die mit den Namen Wuth ohne Verstandesverwirrung, Anreiz durch den gebundenen Vorsatz, Zustand der Unfreiheit bei anscheinend nicht zerrüttetem Verstande, Furor transitorius u.s.w. bezeichnet werden, wirklich vorkommen.107

Der Oberappellationssenat bestätigte jedoch mit Verweis auf die – auch für den Laien erkennbare – Überlegtheit und Willkür der Tat das erstinstanzliche Urteil. Aufgrund der Intervention des preußischen Justizministers Friedrich Leopold von Kircheisen, der erhebliche Zweifel an der völligen Zurechnungsfähigkeit Schmollings im Moment der Tat äußerte, begnadigte König Friedrich Wilhelm III. den Tabakspinner im März 1820 zu lebenslanger Zuchthausstrafe. Auf der Festung Glatz einsitzend, erschlug Schmolling jedoch im Februar 1825 einen Mithäftling, woraufhin er im November 1827 zum Tode verurteilt und knapp sieben Monate später mit dem Beil hingerichtet wurde. Trotz solcher ‘Rückschläge’ sahen sich die „Aerzte bei weitern ruhigen Forschungen“ aber nun „genöthigt, Seelenzustände unter die Krankheiten der Seele aufzunehmen, die vorher als Krankheit unbeachtet geblieben waren“, wozu „vorzüglich zu zählen [ist] amentia occulta, der unwiderstehliche blinde

Vgl. das Gutachten in E. T. A. Hoffmann, Juristische Arbeite, hg. und erl. von Friedrich Schnapp, München 1973, 83–120, hier 116; vgl. zu Hoffmanns Gutachten auch Mangold, Gerechtigkeit durch Poesie (wie Anm. 14), 71–90; vgl. auch Jutta Kolckenbrock-Netz, Das Gutachten zum Fall Schmolling und die Erzählung ‘Der Einsiedler Serapion’ von E.T.A. Hoffmann, in: J. K.-N., Gerhard Plumpe, Hans-Jürgen Schimpf (Hg.), Wege der Literaturwissenschaft, Bonn 1985, 122–144. 106 Horn, Gutachten über den Gemüthszustand des Tobacksspinnergesellen Daniel Schmolling (wie Anm. 104), 366. 107 Ebd., 344 f. 105

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Drang zu gewaltthätigen Handlungen“.108 Denn nur zu deutlich stimmen die von Platner in den beiden Fallbeispielen beigebrachten Charakteristika mit den Thesen Pinels und Esquirols überein. Bei dem Ziegeleiarbeiter, der sich von einem Kollegen mit Zauberei verfolgt glaubte, zeigen sich eindeutig Symptome der von Esquirol als ‘démonomanie’ beschriebenen Monomanie. Die Magd, die den Hof ihres Arbeitgebers mehrfach in Schutt und Asche legte und hierbei eine Genugtuung aufgrund eben dieser Tat spürte, zeigt deutliche Züge der Pyromanie, des Triebes zur Brandstiftung. Letztere ‘Monomanie’ zieht sich gleich einem roten Faden durch die Frühgeschichte der forensisch-psychiatrischen Wissenschaft auch in Deutschland.109 1794 etwa zündete die 17jährige Magd Maria Kalinowska den Hof ihres Dienstherren an, weil sie sich von nicht näher erläuterten Angstzuständen befreien wollte. Das zuständige Königlich Preußische Kammergericht sah die Tat als einen „nicht ganz (willens-)freien Zustand“ an, mithin als einen psychischen Krankheitszustand.110 Henke, der 1817 eine Zusammenstellung der bemerkenswertesten Fälle von Brandstiftungen vorlegte, konstatierte in 14 der von ihm untersuchten 20 Fälle den meist jugendlichen Tätern ein einwandfreies Motiv, meist war es der Wunsch, aus dem Arbeitsverhältnis entlassen zu werden. In vier Fällen war aufgrund fehlender Kasuistik kein Motiv erruierbar. In zwei der Fälle jedoch attestierte Henke einen „ungewöhnliche[n] und krankhafte[n] psychische[n] Zustand“, zurückzuführen vornehmlich auf somatische Ursachen: neben dem Fall Kalinowska auch Platners Magd.111 Als Carl Friedrich Flemming 1830 die Diagnosen Henkes einer kritischen Überprüfung unterzog, kam auch er zu dem Ergebnis, daß in ebendiesen Fällen eindeutig ein „zweifelhafter psychischer Zustand“, ein „krankhafte[r] Seelenzustand“ vorgelegen habe.112

Johann Friedrich Niemann, Taschenbuch der Staats-Arzneikunde für Aerzte und Wundärzte, Bd. 1: Gerichtliche Arzneiwissenschaft, Leipzig 1827, 144 mit Anm. 3. 109 Vgl. dazu auch Winfried Barnett, Psychiatrie der Brandstiftung. Eine psychologische Studie anhand von Gutachten, Darmstadt 2005; vgl. ebenso Nolan D. Lewis, Helen Yarnell, Pathological fire-setting (Pyromania), New York 1951 (Nervous and Mental Disease Monographs, 82), und – speziell für das 18. Jahrhundert – Lorenz, Kriminelle Körper (wie Anm. 12), 289–300. 110 Vgl. Willers Jessen, Die Brandstiftung in Affecten und Geistesstörungen: ein Beitrag zur gerichtlichen Medicin für Juristen und Aerzte, Kiel 1860, 20. 111 Vgl. Adolph Henke, Ueber Geisteszerrüttung und Hang zur Brandstiftung als Wirkung unregelmäßiger Entwicklung beim Eintritte der Mannbarkeit, in: Kopp’s Jahrbuch der Staatsarzneikunde 10 (1817), 78–133. 112 Vgl. Carl Friedrich Flemming, Über die Existenz eines Brandstiftungstriebes, als krankhaft psychischen Zustand, in: Archiv für medizinische Erfahrung 2 (1830), 256–283. 108

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VI. Gerade diese Überlegungen zur Pyromanie eröffnen den Weg, das auch den Franzosen durchaus bewußte, doch augenscheinlich unterdrückte Verdienst Platners hervorzustreichen: Während Pinel keine Kasuistiken beibringt, vermerkte sein Schüler Esquirol nämlich in seinem Lehrbuch über die Geisteskrankheiten, keine Fälle von „Brandmonomanie“ oder „Monomanie incendiaire“ beobachtet zu haben – er zog daher entsprechende Fälle aus den Erörterungen seines Schülers Charles Chrétien Henri Marc (1771–1841)113 heran.114 Dieser wiederum zeigte sich in seinem 1840 erschienenen ‘Handbuch’ für Gerichtsärzte und Juristen dann endlich – wenn auch nur knapp – als unvoreingenommener Historiker der forensischen Psychologie: Es war, so Marc, „einem der Genies unseres Jahrhunderts, es war Pinel vorbehalten, zuerst diesen ausserordentlichen Zustand [die ‘manie sans délire’] zu schildern“115 – doch sei diese schon von Michael Ettmüller (1644–1683) als ‘melancholia sine delirio’ beschrieben worden,116 und zwar den ‘Drang’ betreffend in so vollkommen inhaltlicher Übereinstimmung, daß Marc beinahe enthusiasmiert berichtet, Ettmüller „citier[e] sogar bei dieser Gelegenheit zwei Beobachtungen von Platner“.117 Auch Marc jedoch insistierte darauf, die Pyromanie – und mit ihr jedwede Art der ‘Monomanie’ – als eine reine, auf ein abnormes Ziel hin gerichtete Willensstörung und eben nicht als eine „Unterdrückung der Vernunft“ anzusehen,118 wie dies etwa Henke und vor ihm Platner taten. Auch wenn Marcs Auslegung einer solcherart instinktiven Monomanie „Tür und Tor“ für die Charakteristik der Unzurechnungsfähigkeit auch in Fällen „umsichtig und überlegt durchgeführter, normalpsychologisch motivierte[r] Taten“ geöffnet hatte,119 machte es gerade diese Nobilitierung des freien WilVgl. Charles Chrétien Henri Marc, Considérations médico-légales sur la monomanie et particulièrement sur la monomanie incendiaire, in: Annales d’hygiène publique et de médicine légale 10 (1833), 367–484. 114 Vgl. Esquirol, Die Geisteskrankheiten (wie Anm. 90), Bd. 2, 41. 115 Charles Chrétien Henri Marc, De la folie, considérée dans ses rapports avec les questions médico-judiciaires, 2 Bde., Paris 1840; hier zitiert nach Marc, Die Geisteskrankheiten in Beziehung zur Rechtspflege. Ein Handbuch für Gerichtsärzte und Juristen, deutsch bearb. und mit Anmerkungen von Karl Wilhelm Ideler, 2 Bde., Berlin 1843/44, Bd. 1, 159. 116 Vgl. Michael Ettmüller, Opera medica theoretico-practica, 3 Bde., Frankfurt am Main 1708, Bd. 3, 368. 117 Marc, Die Geisteskrankheiten (wie Anm. 115), Bd. 1, 159 f., Anm., hier 160; es handelt sich hierbei um Ettmüllers Fallbeschreibung einer Frau, die von dem Verlangen gequält wurde, ihr Kind zu töten, und der einer anderen, die oft das Verlangen empfand, Gotteslästerungen auszustoßen. 118 Vgl. Marc, Die Geisteskrankheiten (wie Anm. 115), Bd. 1, 172, Anm. 119 Vgl. Barnett, Psychiatrie der Brandstiftung (wie Anm. 109), 20. 113

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lens – einhergehend mit den empirischen Studien, den ‘Rekonstruktionen’ verwerflicher oder doch zumindest fragwürdiger Lebensführung, den beinahe endlosen Auflistungen von Fällen ohne eine wie auch immer hinterfragte Begründungstheorie – den Gegnern der „sogenannte[n] krankhafte[n] Gemüthszustände“ leicht, insbesondere moralphilosophische, ja -theologische Elemente in die Debatte um die Zurechnungsfähigkeit einzubringen. Das Verbrechen bleibt „Sünde“!120 Ein „Individuum“ könne „moralisch abnorm oder krank, zugleich aber ärztlich betrachtet durchaus psychisch gesund seyn“: Der Unmoralische, der seinen Trieben und Neigungen frönt [...] weiss es, dass er sich seinen Neigungen hingibt und er will [sic!] es, ist also willensfrei, denn er könnte es eben so gut auch unterlassen. Freier Wille ist immer da, er hat nur eine unrechte, vom Moralisten nicht gebilligte Richtung.121

Natürlich hatte es den Anschein, als ob jeder der beiden von Platner erwähnten Inquisiten „seine Seelenkräfte zur Ausführung seines blinden Dranges aufs planmäßige anwenden und auf die überlegteste Art sich die Mittel dazu verschaffen“ konnte,122 die Tat also willentlich beging. Gerade die unter anderem von Heinroth vehement geforderte Maßnahme, den „ganze[n] Lebens-Gang und Wandel des Kranken in Anschlag“ zu bringen und auf dieser empirischen Grundlage ein Urteil zu bilden,123 war gleichsam Wasser auf die Mühlen der Gegner einer pathologischen Forensik124 – ließ sich doch jederzeit eine wie auch immer geartete moralische Verfehlung wenn nicht finden, so doch konGeorg Jacob Friedrich Meister, Practische Bemerkungen aus dem Criminal- und Civilrecht, durch Urtheile und Gutachten der Göttingischen Juristen-Facultät erläutert, 2 Bde., Göttingen 1791–1795, Bd. 1, 76. 121 Friedreich, Systematisches Handbuch (wie Anm. 51), 105 f. 122 Vgl. Reil, Ueber die Erkenntniß und Cur der Fieber (wie Anm. 85), 396. 123 Heinroth, System (wie Anm. 73), 269 (§ 63). 124 Und unterstützte damit natürlich auch Kants Verdikt, daß, wenn „jemand vorsetzlich ein Unglück angerichtet hat und nun, ob und welche Schuld deswegen auf ihm hafte, die Frage ist, mithin zuvor ausgemacht werden muß, ob er damals verrückt gewesen sei oder nicht, [...] das Gericht ihn nicht an die medicinische [verweisen könne], sondern müßte (der Inkompetenz des Gerichthofes halber) ihn an die philosophische Facultät verweisen. Denn die Frage: ob der Angeklagte bei seiner That im Besitz seines natürlichen Verstandes- und Beurtheilungsvermögens gewesen sei, ist gänzlich psychologisch“, die „Ärzte und Physiologen“ seien noch gar nicht in der Lage, „die Anwandlung zu einer solchen Gräuelthat“ anhand pathologischer Gegebenheiten zu erklären: „[E]ine g e r i c h t l i c h e A r z n e i k u n d e (medicina forensis) ist – wenn es auf die Frage ankommt: ob der Gemüthszustand des Thäters Verrückung, oder mit gesundem Verstande genommene Entschließung gewesen sei – Einmischung in ein fremdes Geschäft“ (Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischen Hinsicht, in: I. K., Werke, Akademie-Textausgabe, Bd. 7, 117– 334, hier 213 f. [§ 51]; – wogegen sich Platner durchaus verwahrte: Es sei eben „kein philosophischer Gedanke“, „[j]eder einzelnen Fähigkeit der Seele [...] eine besondere Stelle im Gehirn zu[zu]weisen“ (Ernst Platner, Neue Anthropologie für Aerzte und Weltweise. Mit besonderer Rücksicht auf Physiologie, Pathologie, Moralphilosophie und Aesthetik, Bd. 1, Leipzig 1790, 90). 120

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struieren. Clarus etwa hob hervor, der Inquisit Woyzeck habe „den Trunk in hohem Grade geliebt“ und sei überhaupt in einem Stadium der „moralische[n] Verwilderung“, habe er doch gar „mit einer ledigen Weibsperson [...] ein Kind gezeugt“,125 was Heinroth in seiner Rezension des Gutachtens zu dem Urteil kommen ließ, daß ein a l s o mo r a l i s c h v e r w i l d e r t e s Leben [...] organische und psychische Verstimmung erzeugen [mußte]; ein durch solche Leidenschaften und Ausschweifungen entarteter Charakter m u ß t e den Menschen zu s o l c h e r That wenigstens v o r b e r e i t e n, ja bey und nach derselben der Ausdruck dieser That selbst seyn [...]. [...] Indem uns aber das g a n z e p sy c h o l o g i s c h e Bi l d des Verbrechers seine That erklärt [...], indem uns durch solche Betrachtungsweise, welche alle Lebens-Momente zusammenfaßt, deutliche wird, daß die Ve s a n i a [i.e. ‘Seelenstörung’] K r a n k h e i t d e r P e r s o n, daß sie das Resultat des p e r s ö n l i c h e n L e b e n s und H a n d e l n s ist.126

Und auch Schmollings zweites Kapitalverbrechen, der nach seiner Begnadigung im Zuchthaus begangene Mord an einem Mithäftling im Februar 1825, bestätigte für Heinroth nur dessen ‘tiefe moralische Verwilderung’,127 enthielt doch sein ‘psychologisches Bild’ den Hang zu einem ‘unmoralischen’ Lebenswandel – unter anderem zeugte er mit einer Witwe zwei Kinder und „vermischt[e]“ sich nach deren Tod „häufig fleischlich“ mit ihrer Tochter, was eine Schwangerschaft zur Folge hatte128 –: Schmolling hätte „auf keinen Fall begn adig t werden“ dürfen!129 Vgl. Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck 1825 (wie Anm. 96), Zitate 20 u.ö., 9, 17; ähnlich urteilte übrigens gut 50 Jahre früher der Waldersbacher Pfarrer Johann Friedrich Oberlin (1740–1826), als er die ‘seelischen’ Leiden des ihm in Obhut gegebenen Dichters Reinhold Michael Jakob Lenz als „die Folgen seines Ungehorsams gegen seinen Vater, seiner herumschweifenden Lebensart, seiner unzweckmäßigen Beschäftigungen, seines häufigen Umgangs mit Frauenzimmern“ charakterisierte ([Johann Friedrich Oberlin,] Herr L...... [1778], in: Georg Büchner, Lenz, Marburger Ausgabe, hg. von Burghard Dedner, Hubert Gersch, Darmstadt 2001, Bd. 5, 230–241, hier 239. 126 D. P. [i.e. Johann Christian August Heinroth], [Rez. von Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck 1824 (wie Anm. 96)], in: Jenaische Allgemeine LiteraturZeitung (1824), Nr. 180, Sp. 473–480, Nr. 181, Sp. 481–484, hier Nr. 180, Sp. 478. 127 Vgl. Johann Christian August Heinroth, Ueber das falsche ärztliche Verfahren bei criminalgerichtlichen Untersuchungen zweifelhafter Gemüthszustände, in: Zeitschrift für die CriminalRechts-Pflege in den Preußischen Staaten 8 (1828), 95–180, hier 146–149; vgl. ebenso etwa Carl Ernst Jarcke, Ueber die Zurechnung und die Aufhebung derselben durch unfreie Gemüthszustände, in: Zeitschrift für die Criminal-Rechts-Pflege in den Preußischen Staaten 11 (1829), 82–207, 306–412, 12 (1829), 35–149, hier 12, 80 f. 128 Vgl. Horn, Gutachten über den Gemüthszustand des Tobacksspinnergesellen Daniel Schmolling (wie Anm. 104), 295 f.; diese Schwangerschaft als Motiv zog ja auch Hoffmann in seiner ‘Urteilsfindung’ heran, vgl. oben 303. 129 Vgl. den Beitrag von Eugen Skalley, Zu der Meditation Bd. 1 S. 367–376, in: Zeitschrift für die Criminal-Rechts-Pflege in den Preußischen Staaten 2 (1826), 222–232; der Beitrag bezieht sich auf die Nachschrift des Herausgebers zu der Vertheidigungsschrift zweiter Instanz für den 125

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Unter strikter Berufung auf die Willensfreiheit des Menschen apostrophierte Heinroth vehement, daß wir nicht vergessen dürfen, daß das Böse eine geistige Krankheit ist, die weder mit dem Ursprunge, noch mit dem Sitz und Wesen körperlicher Krankheiten etwas gemein hat. Eine Bemerkung, welche in diesen Tagen nichts weniger als überflüssig ist, wo man in den Verbrechern gern nur Herz- oder Leber- oder Nerven-Kranke sieht, und auch andern diese Überzeugung auf pomphaft-sophistische Weise beizubringen bemüht ist.130

Er negierte somit jedweden Zusammenhang zwischen somatischen oder psychischen Krankheitsbildern und Verbrechen. Denn auch, wenn „[a]lte und neue Ärzte [...] dieser Meinung“ seien und sogar vor kurzem Esquirol eine Mordmonomanie aus solchen körperlichen Ursachen ersonnen [habe], mit welcher er Niemandem willkommener sein [werde] als Herrn Prof. Grohmann, der schon längst die gräßlichsten Mordthaten als Folge von Herzkrankheiten betrachtet,131

sei es allein des Menschen Wille, ein Verbrechen zu begehen – was sich ja auch empirisch nachweisen lasse. Ein solches Diktum machte alle Hoffnung zunichte, die Joseph Jakob Plenk (1738[?]–1807), Professor für Chirurgie an der Wiener Militärakademie, gegen Ende des 18. Jahrhunderts mit der forensischen Psychologie und Psychiatrie verbunden hatte: Ohne das Urtheil der Gerichtlichen Arzneywissenschaft würde sehr oft ein wider seinen Willen, und nicht tödtlich Verwundender seinen Kopf verlieren, eine unschuldige Mutter, die auf Kindsmord gesetzte Todesstrafe erfahren müssen, ein armer Wahnsinniger auf die den Selbstmördern bestimmte schandvolle Art verscharrt werden. Ohne Unterricht in dieser Wissenschaft sähe man noch jetzt in unseren Ländern Feuerstöße für die unglücklichen Hexen auflodern [...]. Und noch immer würde bei der VerstandesVerrückung einer Thörichten, oder den Betrügereien eines schelmischen Verstellers, von Exorcismen Gebrauch gemacht werden.132

Es deutet alles darauf hin, daß Platner kurz vor seinem Tode in der Tat eine Überarbeitung derjenigen Quaestiones plante, die sich mit dem ‘Wahnsinn’ beschäftigen – wohl aber kaum, weil „Er [sic!] in unsrer Zeit besser verstanden und beachtet zu werden“ hoffte, wie der Übersetzer Carl Ernst Hedrich 1820 Tabackspinnergesellen Daniel Schmolling welcher seine Geliebte ohne eine erkennbare Causa facinoris ermordete. (Ein Beitrag zur Lehre von der Zurechnungsfähigkeit.), in: Zeitschrift für die Criminal-Rechts-Pflege in den Preußischen Staaten 1 (1825), 261–376, in der der Herausgeber Julius Eduard Hitzig in einer Fußnote aus einem an ihn gerichteten Brief Heinroths zitiert (225 ff., Anm., hier 227. 130 Heinroth, Grundzüge (wie Anm. 72), 86 (§ 17). 131 Ebd., 137 (§ 26). 132 Joseph Jakob Plenk, Elementa medicinae et chirurgiae forensis, Wien 1781; dt. Übers. von F. August von Wasserberg unter dem Titel Anfangsgründe der gerichtlichen Arztneywissenschaft und Wundarztneykunst, Wien 1782; hier zitiert nach der 4. Aufl., Wien 1802, Vorrede.

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anmerkte, sondern, weil er die tiefgreifenden Folgen der Remoralisierung des Seelischen für die ‘Criminalpsychologie’ erkannte. Bei der Deutung von menschlichen Handlungen komme es nämlich, so Platner im zweiten Teil der Philosophischen Aphorismen von 1800, hinsichtlich des moralischen Gefühls, als dem undeutlich praktischen Bewußtsein des formalen Moralgesetzes, auf zweierlei an: einerseits auf „das Bewußtseyn des Moralgesetzes, und andererseits auf die durch dasselbe bestimmte richterliche Beurtheilung“,133 wobei diese als Zurechnung dem Urheber der Handlung ein „gesetzliche[s], oder gesetzwidrige[s], Handeln, „Verdienst oder Schuld, zuweist“.134 Nun enthält aber die „richterliche Beurtheilung“ wiederum zweierlei: einen „Ausspruch über das Verhältnis der Handlung gegen das Moralgesetz“ und die „Zurechnung von Verdienst und Schuld“, also das „Gefühl der Strafwürdigkeit“, und zwar sowohl bei „selbsteigenen“ als auch „in fremden Handlungen“.135 Dem Menschen kommt die, a priori als Idee bestimmte, absolute Freiheit zu, das Vermögen, unter mehreren gleichermaßen möglichen Willensbestimmungen eine zu wählen und „wirklich zu machen“, wobei zu dieser absoluten Freiheit Willkür und Selbsttätigkeit gefordert wird: Willkür als die Möglichkeit verschiedener Willensbestimmungen und die von ihr getrennte und nicht bewußte Selbsttätigkeit als das Vermögen, den Willen zu einer dieser möglichen Handlungen zu bestimmen. Folge hiervon ist, daß „der Mensch, wenn er moralisch böse handelt, die Handlung seinem freyen Willen zuschreibt und, selbstrichtend, sich sagt, er hätte gut handeln können“.136 Bei fremden Handlungen aber sei die „richtige Bestimmung des Antheils der Freiheit und der Nothwendigkeit in einzelnen Handlungen“ unmöglich, denn es könne „nie ausgemacht werden, ob die zu beurtheilende [Handlung] unter die Gattung der freyen gehörte; oder, bey dem Anschein der Selbstthätigkeit, mit unverschuldeter Nothwendigkeit“, also dem (sinnlichen) Wohlergehen zuträglich gewesen sei.137 Da aber „nicht freye Willensbestimmungen den Anschein freyer haben können“, müsse die richterliche moralische Zurechnung, um gerecht zu sein, „theoretisch seyn, d.h. in der deutlichen Erkenntnis der innern Ursachen der Handlung beruhen“, und hierbei auf der „deutliche[n] Einsicht, wie die Handlung in der vollkommensten Selbstthätigkeit, d.h. durch die alleinigen Kräfte des Handelnden, geschahe“.138 Werden Vorstellungen nicht im „Gedächtnis unterhalten“ so sind sie „keine selbsteigenen“, womit die durch

133 134 135 136 137 138

Ernst Platner, Philosophische Aphorismen (wie Anm. 54), 350 (§596), 352 (§ 601). Ebd., 361 (§ 623). Ebd., 355 f. (§ 608), 364 (§ 631). Vgl. ebd., 376–382 (§§ 655, 660 f., 663, 665). Ebd., 397 (§ 690). Ebd., 398 (§§ 692 f.), 399 (§ 697).

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sie bewirkte Handlung „auf keine Weise selbstthätig“ ist.139 Die den Willen bestimmenden, in „Fähigkeiten, Fertigkeiten und Gemüthszuständen enthaltenen, und von dem Bewußtseyn ganz entlegenen Gründe“ machen es unmöglich,140 eine „vollständige Erkenntniß [...] von dem Gebrauche“ zu erlangen, „den der Handelnde von der Freyheit gemacht, oder unterlassen“ hat, um die Handlung selbst zu verhindern. Platner urteilt denn auch, daß ein moralisches Gericht des Menschen über den Menschen [...] unmöglich [ist]. [...] Der einzige moralische Richter ist Gott: das menschliche Richteramt beurtheilt nur die juristische Schuld, nicht die moralische; und bestraft den bösen Willen, nicht wiefern er böse ist vermöge der Freyheit, sondern weil er schädlich ist durch den Erfolg.141

Und auch in den Quaestiones legt Platner das Augenmerk gerade auf diese Trennung zwischen „eine[r] moralische[n] und eine[r] juridische[n] Zurechnung“, sei erstere doch „so beschaffen, dass die Menschen es kaum wagen dürfen, sich zu Beurtheilern derselben aufzuwerfen, Richter aber und Strafende es nimmermehr seyn können“.142 Vielleicht wäre Woyzeck um 1800 nicht hingerichtet worden. Mit der Beschreibung des ‘versteckten Wahnsinns’ als psychischer Krankheit leistete Platner einen entscheidenden Beitrag zu der um die Wende zum 19. Jahrhundert heftig geführten Debatte über die Zurechnungsfähigkeit bei Straftätern. Die Studie rekonstruiert die Begründungstheorie dieser ‘amentia occulta’ und sucht die Differenzen zu der von Philippe Pinel und seinen Schülern später als ‘manie sans delire’ beschriebenen Störung der Identität herauszuarbeiten. Ein weiterer Fokus liegt auf den Charakteristika der sogenannten ‘Eigenschuldtheorie’ Johann Christian Heinroths und deren Platners Konzept grundsätzlich entgegenstehenden Erklärung. With the description of ‘veiled insanity’ as a psychic disease Platner contributes crucially to the ferocious debate on the accountability of delinquents that had taken place at the turn of the 19th century. The study reconstructs the fundamental theory of that ‘amentia occulta’ and tries to work out its differences to the disorder of identity called ‘manie sans delire’ which had been established by Philippe Pinel and his pupils. Another focus is laid on the characteristics of the so called ‘theory of self-guilt’ by Johann Christian Heinroth and its explanation, which is completely opposed to Platner’s concept. Dr. Udo Roth, Institut für Deutsche Philologie, Schellingstraße 3, D-80799 München, E-Mail: [email protected] Vgl. ebd., 401 (§§ 701 f.). Ebd., 391 (§ 679). 141 Ebd., 401 f. (§§ 703 f.). 142 Ernst Platner, Untersuchungen (wie Anm. 36), V, 49 f. (zuerst erschienen 1798 als Quaestio V unter dem Titel „De inanibus amentiae probandae argumentis. Ad Defensores“). 139 140

A LESSANDRO L A ZZ A R I Platner und Reinhold über das Vergnügen

Wir wissen nicht sehr viel über Platners und Reinholds Bekanntschaft und über die Art und Weise, wie sie sich in ihren Werken niedergeschlagen hat. Das wenige, was wir aus den veröffentlichten Schriften und dem privaten Briefwechsel beider Denker darüber wissen, ist aber – so der Hauptpunkt meiner folgenden Argumentation – irreführend für die Rekonstruktion der Rolle, die sie in der Denkentwicklung des jeweils anderen gespielt haben. Bevor ich Platners und Reinholds Ansichten zum Thema ‘Vergnügen’ näher untersuche – das wird den zweiten Teil des Aufsatzes ausmachen –, möchte ich deshalb in einem ersten Teil einige Bemerkungen zum persönlichen und philosophischen Verhältnis zwischen beiden Denkern vorausschicken. Hinsichtlich der Bedeutung Platners für die Entwicklung von Reinholds Philosophie – ich beschränke meine Ausführungen auf diese Seite der Beziehung – wird der Vergleich zwischen der gegenseitigen Einschätzung beider Denker einerseits und den beiden Theorien des Vergnügens und der Triebe andererseits eine Diskrepanz offenlegen, die es erlauben wird, Platners Bedeutung für Reinholds Denken einen höheren Stellenwert beizumessen, als aus Reinholds expliziten Bezugnahmen auf Platner hervorgeht. I. Reinhold und Platner 1. Platners Beziehung zu Reinhold Wie später Johann Gottlieb Fichte und zahlreiche andere Persönlichkeiten dieser Zeit hat auch Reinhold für eine kurze Zeit Platners Vorlesungen in Leipzig gehört. Der 26-jährige und später für seine wichtige Rolle zunächst in der Verbreitung der Kantischen Philosophie, dann in der Emanzipation der deutschen Philosophie von Kant berühmte Karl Leonhard Reinhold (1757–1823) ist Mitte November 1783 noch Novizenmeister bei den Wiener Barnabiten.1 Aus 1

Kloster St. Margarethen am Moos.

Aufklärung 19 · © Felix Meiner Verlag 2007 · ISSN 0178-7128

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Alessandro Lazzari

Gründen, die immer noch nicht ganz klar sind, flüchtet er aber am 19. November 1783 nach Leipzig.2 Er immatrikuliert sich an der dortigen Universität und besucht – wie wir von seinem Sohn Ernst wissen – „Platners und Andrer Vorlesungen“,3 d.h., was Platner betrifft, dessen Vorlesungen über Logik, Metaphysik und Moral nach der ersten Auflage der Philosophischen Aphorismen (1776/1782).4 Reinholds Aufenthalt in Leipzig dauert aber nicht lang. Aufgeschreckt durch die Nachricht, seine Anwesenheit sei den ortsansässigen ‘Loyoliten’ bekannt,5 und durch die Aussicht möglicher strafrechtlicher Maßnahmen, begibt sich Reinhold bereits Anfang Mai 1784 nach Weimar unter die Obhut Christoph Martin Wielands. Trotz der Kürze seines Leipziger Aufenthalts (weniger als ein halbes Jahr) muß Reinhold sehr schnell in den engeren Kreis der Personen um Platner gelangt sein. Denn zu wiederholten Malen versucht Platner in den nächsten Jahren durch Erwähnung der guten alten Zeiten den Kontakt zu seinem ehemaligen Schüler, der inzwischen Kant-Anhänger geworden war, wieder aufzufrischen. So heißt es in einem Brief von Karl Heinrich Heydenreich an Reinhold vom Juli 1789: „Platner wartet sehnlich auf ein Buch von Ihnen über die Schicksale der Kantischen Philosophie, worin Sie zeigen würden, daß Sie, weit entfernt, ein Kantianer zu seyn, immer noch der Philosophie anhingen, die er Ihnen in seinen Collegien beizubringen die Ehre gehabt“.6 In einem Brief an Reinhold vom August 1790, der auf Kritiken Bezug nimmt, die Reinhold in seinem Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens von 1789 gegen Platner richtet,7 schreibt dieser: Ich wünschte im Ernste, liebster Freund, daß wir beide einmal nur acht Tage zusammen leben und über Kantische Philosophie uns recht gründlich unterreden könnten. Ihre Theorie des Vorstellungsvermögens würde sehr viel Stoff darbieten. Ich sehe täglich mehr ein, daß ich von Kant nicht so weit entfernt bin, als ich Anfangs glaubte. Schrei-

Karl Leonhard Reinhold, Korrespondenzausgabe der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, hg. von Reinhard Lauth, Kurt Hiller und Wolfgang Schrader, Bd. 1: Korrespondenz 1773–1788, Stuttgart-Bad Cannstatt 1983, 15. 3 Ernst Reinhold, Karl Leonhard Reinhold’s Leben und litterarisches Wirken, nebst einer Auswahl von Briefen Kant’s, Fichte’s, Jacobi’s und andrer philosophirender Zeitgenossen an ihn, Jena 1825, 21. 4 Vgl. Reinhold, Korrespondenzausgabe (wie Anm. 2), 15. 5 Vgl. Ignaz von Born an Reinhold, 19. April 1784, in: Reinhold, Korrespondenzausgabe (wie Anm. 2), 15–19, hier 15 f. 6 Heydenreich an Reinhold, 20. Juli 1789, in: Reinhold, Karl Leonhard Reinhold’s Leben (wie Anm. 3), 344. 7 Vgl. die in meinen Anm. 19, 20, 22 und 23 angeführten Stellen aus Karl Leonhard Reinhold, Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens, Prag und Jena 1789 (unveränderter fotomechanischer Nachdruck Darmstadt 1963) (= TVV). 2

Platner und Reinhold über das Vergnügen

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ben Sie mir doch einmal und unter andern auch darüber, ob Sie mich noch lieben. Vor der Hand rechne ich darauf.8

Noch im Oktober 1793 versucht Platner, Reinhold zu einem Ausdruck seiner Freundschaft zu bewegen: Aber erlauben Sie mir, daß ich diese Veranlassung mit zu der Frage benutze: ob Sie noch mein Freund sind? Oft, wenn ich Ihre Schriften lese und sehe, wie die Eclectiker bei Ihnen angeschrieben sind, zu denen Sie mich rechnen, besorge ich, daß die Meinung, die Sie von meiner Philosophie haben, Ihrer Gewogenheit gegen mich Abbruch thun könne. Aber ich versichre Sie, Sie verkennen mich ganz. [...] Ich gestehe Ihnen, ich wünschte die unseligen Mißverständnisse endlich einmal auseinandergesetzt zu sehen, welche Männer von einander trennen, die durch die Gleichartigkeit ihrer Philosophie aufs genaueste mit einander verbunden sind.9

Platners Annäherungsversuche sind freilich nicht ganz uninteressiert. Gehörte er selbst bis dahin noch zu den berühmtesten Philosophen Deutschlands, kann er nun, nach dem Aufstieg der Kantischen Philosophie und deren Befürworter − unter ihnen ist Reinhold der prominenteste −, höchstens noch eine Nebenrolle beanspruchen. Versuche wie der in seinem Brief an Reinhold vom Oktober 1793 enthaltene, Reinhold zu einem schriftlichen Austausch über die Philosophischen Aphorismen zu bewegen, mit dem Ziel, den Briefwechsel dem Publikum vorzulegen, sind in dieser Hinsicht durchaus verständlich.10 Dennoch geht aus Platners wiederholten Anfragen eine genuine Verwunderung über Reinholds abweisendes Schweigen hervor, die unverständliche Distanzierung gegenüber demjenigen, der Reinhold wahrscheinlich als erster auf Kant aufmerksam gemacht hat,11 ein Umstand, der auf ein früheres näheres Verhältnis hindeutet.

2. Reinholds Beziehung zu Platner Reinhold hat auf Platners Aufforderungen wahrscheinlich nie geantwortet. Sowohl in seinem Briefwechsel wie in seinen veröffentlichten Schriften gibt es

Platner an Reinhold, 27. August 1790, in: Reinhold, Karl Leonhard Reinhold’s Leben (wie Anm. 3), 356 f. 9 Platner an Reinhold, 21. Oktober 1793, in: ebd., 357. 10 Platner an Reinhold, 21. Oktober 1793, in: ebd., 358. 11 Vgl. Ernst Bergmann, Ernst Platner und die Kunstphilosophie des 18. Jahrhunderts, Leipzig 1913, 52: „Ist doch auch Karl Leonhard Reinhold, der erste Prophet Kants, ein Schüler Platners gewesen und, wie nur wenige wissen, durch ihn, den späteren Kritiker Kants, zuerst auf den großen Königsberger Denker aufmerksam geworden“. Belege für seine Behauptung liefert Bergmann allerdings nicht. 8

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jedoch zahlreiche zumeist kritische Bezugnahmen auf den ehemaligen Lehrer. Diese kritischen Bezugnahmen lassen sich in zwei Gruppen aufteilen. Auf der einen Seite handelt es sich um zuweilen emotiv aufgeladene Kritiken an Platners Charakter und Persönlichkeit − diese Stellen finden sich ausschließlich in Reinholds privater Korrespondenz. Vor allem seinen Freunden Baggesen und Erhard erzählt Reinhold, wie stark ihm Platners Gegenwart zuwider ist − es ist von „Eitelkeit“,12 von „dummvornehmem, affektiertem Betragen“,13 ja von „ekelhafter Gegenwart“14 die Rede. Platner wird als „Schönschwätzer“15 bezeichnet, der durch seine rhapsodische, amüsante Art zu philosophieren einen schlechten Einfluß auf die Studierenden ausübe.16 Seine Vorlesungen „müßten Ungebildeten, und Anfängern überhaupt, verderblich werden; müßten ihnen Haß gegen alles Systematische, Gleichgültigkeit gegen feste Grundsätze, und Kaltsinn gegen Wahrheit einflößen“.17 Schließlich wirft Reinhold Platner vor, durch dessen ironische Lobreden auf Reinholds Philosophie, dieser nachteiliger zu sein „als die bitterste Satyre“.18 Auf der anderen Seite enthalten Reinholds veröffentlichte Schriften zahlreiche kritische Bemerkungen zu einzelnen philosophischen Stellungnahmen Platners sowie zu seinem philosophischen Stil insgesamt. Im wesentlichen wirft Reinhold Platner mangelnde Wissenschaftlichkeit vor. Diese äußere sich erstens im Fehlen einer wissenschaftlichen Form, im Aphoristischen, Rhapsodischen, Unsystematischen und Willkürlichen der Platnerschen Gedankenführung.19 Ein zweiter, damit zusammenhängender Punkt ist die Nachlässigkeit in der Begriffsbestimmung. So sei es nicht möglich, in Platners Schriften befriedigende Bestimmungen von Grundbegriffen wie ‘Vernunft’, ‘Vorstellung’ und ‘Vorstellungsvermögen’, ‘Sinnlichkeit’, ‘Erkenntnis’, ‘Bewußtsein’, ‘Erfahrung’ und ‘Philosophie’ zu finden.20 Jens Baggesen, Aus Jens Baggesen’s Briefwechsel mit Karl Leonhard Reinhold und Friedrich Heinrich Jacobi. In zwei Theilen. Erster Theil: Dezember 1790 bis Januar 1795. Zweiter Theil: Januar 1795 bis November 1801. Nebst vierzehn Beilagen, hg. von Karl und August Baggesen, Leipzig 1831, II, 89. 13 Karl August Varnhagen von Ense, Ausgewählte Schriften, 19 Bde., Bd. 16: Denkwürdigkeiten des Philosophen und Arztes Johann Benjamin Erhard, Teil II, Leipzig 31874, 10. 14 Ebd. 15 Ebd. 16 Baggesen, Aus Jens Baggesen’s Briefwechsel (wie Anm. 12), I, 37, 65. 17 Ebd., I, 65. 18 Ebd., I, 29. 19 Reinhold, TVV (wie Anm. 7), 2; K. L. R., Über den Begrif der Geschichte der Philosophie. Eine akademische Vorlesung, in: Georg Gustav Fülleborn (Hg.), Beyträge zur Geschichte der Philosophie, 1. Stück (1791), 6 f. 20 Vgl. Karl Leonhard Reinhold, Beyträge zur Berichtigung bisheriger Mißverständnisse der 12

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Die unzureichende Begriffsbestimmung veranlasse aber drittens Platner dazu, altbekannte Thesen zu vertreten, die im Grunde genommen sinnlos sind, wie die Annahme der vorstellenden Kraft als Substanz der Seele,21 die Wirklichkeit bewußtseinsloser Vorstellungen,22 die Einfachheit der vorstellenden Substanz23 und die Existenz angeborener Begriffe und Grundsätze der reinen Vernunft, die alle notwendigen und ewigen Wahrheiten in sich enthielten.24 Schließlich ist noch ein Kritikpunkt zu erwähnen, der vor allem die zweite Auflage des ersten Teils der Philosophischen Aphorismen von 1784 betrifft, nämlich die unzureichende Berücksichtigung der Philosophie Kants. Diesbezüglich heißt es in einem Brief an den Regierungsrat Voigt von Anfang November 1786: Selbst Plattner fertiget in der neuen Ausgabe seiner philosophischen Aphorismen [1784] die kantischen Grundideen mit einigen kurzen hingeworfenen Anmerkungen ab, ohne auch nur eine einzige von den vielen Berichtigungen, welche auch sogar der bisherigen Metaphysik aus der Kritik d. V. [der Vernunft] zu statten kommen könnten, in sein Werk aufzunehmen.25

Reinhold spricht an zahlreichen Stellen von Platner als ‘scharfsinnigem Denker’, doch abgesehen von der Tatsache, daß es sich hier um eine durchaus gängige Höflichkeitsfloskel handelt, erhält diese Kennzeichnung durch den Kontext, in den sie eingefügt ist, eine ironische Konnotation. Denn ohne Ausnahme ist von Platner als scharfsinnigem Denker dort die Rede, wo auf Mängel und Fehler seiner Philosophie hingewiesen wird. Selbst an Stellen, wo Platner etwas zugute gehalten wird, wird dies − und so auch das Lob auf seinen Scharfsinn – durch Abzüge wieder aufgehoben. Eine kleine Summe der verschiedenen Seiten von Reinholds Auseinandersetzung mit Platner, die die Züge einer Abrechnung hat, ist in Reinholds Rezension der dritten Auflage des ersten Bandes von Platners Philosophischen Aphorismen von 1793 enthalten, die in der Allgemeinen Literaturzeitung vom 2. und 3. Dezember 1794 erschienen ist.26 Philosophen. Erster Band, das Fundament der Elementarphilosophie betreffend, Jena 1790 (neue Ausgabe hg. von Faustino Fabbianelli, Hamburg 2003), 36 f., 133, 153 f., 198, 219 f.; TVV (wie Anm. 7), 188, 322 f.; Reinhold, Über den Begrif der Geschichte (wie Anm. 19), 6 f. 21 Reinhold, Beyträge I (wie Anm. 20), 133. 22 Ebd., 153 f.; Reinhold, TVV (wie Anm. 7), 330 f. 23 Reinhold, TVV (wie Anm. 7), 270 f. 24 Reinhold, Beyträge I (wie Anm. 20), 36 f. 25 Reinhold, Korrespondenzausgabe (wie Anm. 2), 150 f. 26 Nr. 379/380, Sp. 473–480, 481–488. Daß Reinhold tatsächlich der Autor dieser in Alexander von Schönborn, Karl Leonhard Reinhold. Eine annotierte Bibliographie, Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, nicht verzeichneten Rezension ist, geht aus seinem Brief an Jens Baggesen vom 30. März 1796 hervor: „Gestern war Platner bei uns, [...] Er fing sogleich über die Recension seiner Aphorismen zu sprechen an, zu der man allgemein mich als den Verfasser nannte, welches er wegen

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Dem Geiste der Zeit, den sie [Platners Philosophische Aphorismen] vorzüglich mit bestimmen halfen, stellen sie zwar ein sehr ungleichartiges Allerley aus Bruchstücken der verschiedensten Lehrgebäude[n], mit den eigenen philosophischen Einfällen des Vf. vermengt, in rhapsodischer Einkleidung auf; enthalten aber nichts destoweniger eine sehr schätzbare Sammlung theils treffender Bemerkungen über bisherige metaphysische Vorstellungsarten, theils scharfsinniger empirisch-psychologischer Beobachtungen, theils lehrreicher Winke über ältere Geschichte der Philosophie. Man wird in Kurzem aufhören, sie für ein gründliches Lehrbuch der Wissenschaft, aber nie für einen reichhaltigen Beytrag brauchbarer Materialien für den Bearbeiter derselben zu halten; man wird in ihnen zwar keine eigentliche Philosophie, aber gesunde Nahrung des philosophischen Geistes suchen und finden. Um so mehr ist es zu bedauern, daß auch dieser Gebrauch den Besitzern der gegenwärtigen Ausgabe durch den Weg, den der Vf. bey der gänzlich neuen Ausarbeitung eingeschlagen hat, so sehr erschwert worden ist.27

Das Platner-Bild, das aus Reinholds Äußerungen in seinen Briefen und veröffentlichten Schriften hervorgeht, ist das einer widerwärtigen Persönlichkeit, deren akademische und publizistische Tätigkeit zu Unrecht einen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebt und vielfach schädlich ist. Platners höfliche und nicht ganz uninteressierte Versuche, den früheren Kontakt zu Reinhold aufzufrischen und durch eine ausführliche Diskussion der kantischen Philosophie, der Philosophischen Aphorismen und der Theorie des Vorstellungsvermögens zu beleben, stehen in auffälligem Kontrast dazu. Durch die nun folgende Erörterung einiger Aspekte der Reinholdschen Theorie des Vorstellungsvermögens, vor allem der Theorie des Vergnügens, und durch ihren Vergleich mit einigen Theoremen Platners soll gezeigt werden, daß – im Gegenteil zu dem, was aus den eben wiedergegebenen Einschätzungen zu der Bitterkeit und Unhöflichkeit des Tones derselben nicht glauben könnte. Ich bekannte mich sogleich dazu, versicherte, daß sie noch immer meine Überzeugung enthielte, aber daß ich mir keiner Absicht, ihn zu kränken, bewußt wäre [...]“ (Baggensen, Aus Jens Baggensen’s Briefwechsel [wie Anm. 12], II, 88). Ein Brief Platners an Christian Gottfried Schütz, den Herausgeber der Allgemeinen Literaturzeitung, bestätigt die Vermutung, es handle sich bei der von Reinhold erwähnten Rezension um die ALZ-Besprechung vom 2.–3. Dezember 1794: „Und wie es mir armen Manne in der Recension des 1. Th. der Neuen Philosophischen Aphorismen in Ihrer Lit. Zeit. ergangen ist, dessen // sind Sie noch erinnert. Verzeihe es Ihnen Gott, daß Sie mich damals in die Hände meiner Feinde gaben! [...] Daß ich scherze, brauche ich Ihnen wohl nicht erst zu sagen. Also war auch das Scherz, was ich von der Recension des ersten Theils erwähnte? Ja, lieber, würdiger Mann! Geben Sie mich immer wieder in Reinholds Hände. Da ihm sein Plan fehlgeschlagen ist, in der Philosophie zu herrschen: so wollen wir ihm doch nicht auch die Freude verderben, zuweilen allein zu reden. Und das thut man nicht gemächlicher, als incognito“ (Platner an Schütz, 18. Juli 1800, in: Christian Gottfried Schütz, Darstellung seines Lebens, Charakters und Verdienstes; nebst einer Auswahl aus seinem litterarischen Briefwechsel mit den berühmtesten Gelehrten und Dichtern seiner Zeit, hg. von seinem Sohne Friedrich Karl Julius Schütz, 2 Bde., Halle 1834–1835, Bd. 2, 330 f.). 27 Allgemeine Literatur-Zeitung, hg. von Christian Gottfried Schütz, Nr. 379 (2. Dezember 1794), Sp. 473.

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erwarten ist – Reinhold durch Platner vor allem während der Vorarbeiten zur Theorie des Vorstellungsvermögens einige wichtige, fruchtbare und nicht deklarierte Impulse erfahren hat. In Abweichung von dem ironischen Unterton von Reinholds Zugeständnis, Platners Aphorismen lieferten „einen reichhaltigen Beytrag brauchbarer Materialien für den Bearbeiter derselben“, wird sich zeigen, daß diese Beschreibung gut zu der Art und Weise paßt, wie sich Reinhold bei Platner bedient, sieht man davon ab, daß Reinhold an manchen Stellen nicht nur „Materialien“ zur eigenen Bearbeitung übernimmt, sondern selbst die Art und Weise der Bearbeitung Platner entlehnt.

II. Platners Einfluß auf Reinhold Um dies zu zeigen, möchte ich zunächst kurz etwas über Reinholds Anlehnung an Platners Seelenlehre der Aphorismen von 1784 sagen (II.1.). Danach werde ich mich der Vergnügensthematik zuwenden (II.2.). In diesem Zusammenhang sollen in einem ersten Schritt (II.2.a.) Reinholds Theorie des Vergnügens und die Platner-Bezugnahmen in seinem Aufsatz Über die Natur des Vergnügens näher betrachtet werden. Danach werde ich Platners Theorie des Vergnügens darstellen, wie sie in den Aphorismen von 1782 (II.2.b.) und in einem Aufsatz von 1776 enthalten ist (II.2.c.), um schließlich zu einem Vergleich beider Positionen zu kommen (II.2.d.).

1. Reinholds Anlehnung an Platners Seelenlehre Was Reinholds Anlehnung an Platners Seelenlehre der Aphorismen von 1784 betrifft, so habe ich an anderer Stelle ausführlicher gezeigt, daß sich in einigen Schriften Reinholds zwischen 1786 und 1789 Indizien für eine anhaltende Suche nach einer sicheren philosophischen Grundlage für die Annahme der Unsterblichkeit der Seele aufzeigen lassen.28 In dieser Suche geht Reinhold – ohne diesen zu nennen – von Platners Gedanken Ueber das innere Wesen der Seele zu Beginn seiner Philosophischen Aphorismen von 1784 aus. Hier – in den §§ 21 bis 23 – setzt Platner zu einem Beweis an, daß die Seele ein eigenständiges Wesen ist, das sowohl von den Seelenwirkungen wie von ihrem Körper unterschieden werden muß. Auf eine Weise, die bereits im wesentlichen das Unterscheidungsmoment aus Reinholds späterem oberstem Grundsatz der 28 Vgl. Alessandro Lazzari, Zur Genese von Reinholds ‘Satz des Bewußtseins’, in: Martin Bondeli, A. L. (Hg.), Philosophie ohne Beynamen. System, Freiheit und Geschichte im Denken Karl Leonhard Reinholds, Basel 2004, 21–38.

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Philosophie, dem sogenannten ‘Satz des Bewußtseins’,29 vorwegnimmt, argumentiert Platner, daß es das Selbstgefühl unserer Seele bzw. unseres Ich ist, welches uns Zeugnis liefert von der Unterschiedenheit desselben von den Ideen einerseits und vom Körper andererseits. Eine progressive kritische Auseinandersetzung mit diesem Theorem Platners zunächst im sechsten und siebenten der Merkur-Briefe über die Kantische Philosophie, dann im Aufsatz Ueber die Natur des Vergnügens und schließlich im Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens von 1789, führt Reinhold zu einer Reihe von Formulierungsversuchen, die 1790 in der ersten reifen Fassung des ‘Satz des Bewußtseins’ gipfeln. Damit muß Platner auch ohne explizite Nennung seines Namens als einer der wichtigsten Gesprächspartner Reinholds auf dem komplexen Weg angesehen werden, der zur endgültigen Formulierung von Reinholds oberstem Grundsatz der Philosophie geführt hat.

2. Die Natur des Vergnügens a) Reinholds Überlegungen Über die Natur des Vergnügens Die zwischen Oktober 1788 und Januar 1789 in Wielands Teutschem Merkur erschienene Abhandlung Über die Natur des Vergnügens enthält zwei kurze, aber bemerkenswerte Verweise auf Ernst Platner. Reinhold versucht in dieser Abhandlung, ein bereits früher ausgearbeitetes logisches Schema zur Rekonstruktion und Beurteilung philosophischer Auseinandersetzungen auf das Problem der Natur des Vergnügens anzuwenden. Nach diesem Schema läßt sich jedes philosophische Problem unter vier möglichen Gesichtspunkten betrachten. Die unbewußte Verabsolutierung eines einzigen dieser vier wahren Gesichtspunkte führt zur Formierung von vier philosophischen Positionen, die zwar die Frage aus einem je eigenen wahren Gesichtspunkt betrachten, wegen ihrer Einseitigkeit jedoch unhaltbare Positionen sind, die der Komplexität des untersuchten Gegenstands nicht gerecht werden. In der Frage nach der Natur des Vergnügens sind diese vier Positionen die folgenden: – diejenige, die das Vergnügen allein aus dem subjektiven Gesichtspunkt betrachtet – d.h. unter ausschließlicher Berücksichtigung der Frage, was beim Vergnügen im Gemüt vor sich geht. Als Vertreter dieser Auffassung „Im Bewußtseyn wird die Vorstellung durch das Subjekt vom Subjekt und Objekt unterschieden und auf beyde bezogen“. Reinhold, Beyträge I (wie Anm. 20), 167; K. L. R., Ueber das Fundament des philosophischen Wissens – nebst einigen Erläuterungen über die Theorie des Vorstellungsvermögens, Jena 1791 (Fotomech. Nachdruck Hamburg 1978, hg. von Wolfgang Schrader), 78. 29

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werden Jean-Baptiste Dubos und Louis-Jean Levesque de Pouilly angeführt; – die Position, die das Vergnügen allein aus dem objektiven Gesichtspunkt betrachtet – d.h. unter ausschließlicher Berücksichtigung der Frage, welche Eigenschaft des vorgestellten Objekts Ursache des Vergnügens ist. Als Vertreter dieser Auffassung werden Christian Wolff und Moses Mendelssohn angeführt; – die Position, die das Vergnügen sowohl aus dem subjektiven wie aus dem objektiven Gesichtspunkt betrachtet, jedoch mit „einseitiger Rücksicht“ auf den tätigen Teil des Vorstellungsvermögens. Als Vertreter dieser Auffassung wird Johann Georg Sulzer angeführt; – die Position, die das Vergnügen sowohl aus dem subjektiven wie aus dem objektiven Gesichtspunkt betrachtet, jedoch mit „einseitiger Rücksicht“ auf den leidenden Teil des Vorstellungsvermögens. Als Vertreter dieser Auffassung wird Claude Helvétius angeführt.30 Nach einer kurzen Übersicht über die vier Positionen, der der erste Paragraph des Aufsatzes gewidmet ist, wendet sich Reinhold in den Paragraphen 2 bis 5 ihrer näheren Erörterung zu. In der eben erwähnten Reihenfolge werden die einzelnen Positionen zuerst dargestellt, dann kritisiert, um in einem abschließenden sechsten Paragraphen ausgehend von Kants „Theorie des Erkenntnisvermögens“ die Quellen der jeweiligen Unzulänglichkeiten zu lokalisieren. Die erste Bezugnahme auf Platner findet sich bereits in der Uebersicht der vornehmsten bisherigen Lehrmeynungen im ersten Paragraphen. Reinhold verweist nach den vier erwähnten Theorien an fünfter Stelle auf Platners im zweiten, praktischen Teil seiner Philosophischen Aphorismen von 1782 enthaltene Auffassung des Vergnügens als auf eine Position, in der das Vergnügen „aus beyden Gesichtspunkten“31 – d.h. sowohl aus dem subjektiven wie aus dem objektiven Gesichtspunkt – „und mit beyden Rücksichten“32 betrachtet wird – d.h. unter Berücksichtigung sowohl des tätigen wie des leidenden Teils des Vorstellungsvermögens. Reinhold bezieht sich hier auf Jean-Baptiste Dubos, Réflexions critiques sur la poësie et sur la peinture, 2 Bde., Paris 1719; Louis-Jean Levesque de Pouilly, Théorie des sentiments agréables, Paris 1743; Christian Wolff, Psychologia empirica, methodo scientifica pertractata, Frankfurt und Leipzig 1732 (Nachdruck Hildesheim 1968); Moses Mendelssohn, Über die Empfindungen, in: M. M., Philosophische Schriften. Erster Theil, Berlin 1771; Claude Helvétius, De l’esprit, Paris 1758, und Johann Georg Sulzer, Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen, in: Vermischte Philosophische Schriften. Erster Theil, Leipzig 1782, 1– 100. 31 Karl Leonhard Reinhold, Über die Natur des Vergnügens, in: Der Teutsche Merkur, Bd. 4 (1788), 61–79, 144–167, und Bd. 1 (1789), 37–52, hier Bd. 4 (1788), 62. 32 Ebd. 30

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Diese kurze Bezugnahme auf Platner ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Erstens wird Platners Konzeption des Vergnügens als eine Position umrissen, die, im Unterschied zu den übrigen vier Positionen, unter keiner Einseitigkeit leidet, ein Umstand, der Platner zumindest in diesem Punkt in die Nähe von Reinholds eigener Position rückt. Diese Bezugnahme auf Platner ist aber zweitens auch deshalb bemerkenswert, weil – auch hier im Unterschied zu den übrigen Positionen – die durch sie angekündigte ausführliche Diskussion von Platners Vergnügenskonzeption nicht mehr durchgeführt wird. Gerade an der Stelle des Aufsatzes, wo es zur Darstellung der Platnerschen Position kommen sollte, beendet Reinhold seine Ausführungen und schließt etwas abrupt mit einem in acht Zeilen vorgetragenen Resultat der Vergleichung zwischen allen bisher vorgetragenen und geprüften Theorien. Nicht nur die auffällige Kürze und das plötzliche Einsetzen von Reinholds Schlußbetrachtung deuten jedoch auf eine kurzfristige Veränderung der ursprünglich geplanten Gedankenfolge. In diese Richtung deutet ebenfalls der Umstand, daß der gesamte Schlußparagraph von Reinholds Aufsatz zwar unter der Überschrift Vereinigung der vier einseitigen Systeme steht,33 der Gedanke der Vereinigung der vier einseitigen Systeme jedoch an keiner Stelle des Paragraphen erörtert wird und auch nur im achtzeiligen Resultat der Reinholdschen Überlegungen implizit enthalten ist. Es ist interessant, daß Reinholds zweite Bezugnahme auf Platner dieser kurzen Schlußbemerkung unmittelbar vorausgeht. Hier heißt es im Hinblick auf Helvétius: Wie sehr seine Zurückführung alles Vergnügens auf Sinnenlust dem richtigen Begriffe von Vernunft und Vernunfthandlung widerspreche, wird sich, wie ich hoffe, einleuchtend genug in der Betrachtung über das eigennützige und uneigennützige Vergnügen ergeben, die ich bey Gelegenheit der Platnerschen Theorie anstellen werde.34

Diese Betrachtung „bei Gelegenheit der Platnerschen Theorie“ hat es jedoch auch in späteren Publikationen nicht gegeben. Sie könnte allerdings stillschweigend in die Erarbeitung des letzten Abschnitts von Reinholds Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens eingeflossen sein, in dem kurz nach Erscheinen seiner Abhandlung Über die Natur des Vergnügens im Rahmen der Diskussion des Begehrungsvermögens die Ausdrücke ‘eigennütziger’ und ‘uneigennütziger Trieb’ eingeführt werden. Zu Reinholds Bezugnahmen auf Platner in seinem Aufsatz Über die Natur des Vergnügens läßt sich also zusammenfassend festhalten: 1) Anders als üblich, sieht Reinhold große Übereinstimmungen zwischen Platners Konzeption des Vergnügens und der eigenen. Denn Platners Konzeption des Vergnügens kommt in Reinholds Aufsatz als einzige nicht-einseitige 33 34

Ebd., Bd. 1 (1789), 47. Ebd., 51.

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Position vor, die ursprünglich im sechsten Paragraphen als vereinigende Theorie hätte erörtert werden sollen. 2) Reinhold könnte wichtige Impulse aus Platners Konzeption des Vergnügens für den Aufbau der eigenen Theorie des Vorstellungsvermögens erhalten haben. Denn es sollte „bei Gelegenheit der Platnerschen Theorie“ vor allem zu einer näheren Betrachtung des „eigennützigen“ und des „uneigennützigen Vergnügens“ kommen, wobei sich tatsächlich eine Erörterung des „eigennützigen“ und des „uneigennützigen Triebs“ im letzten Abschnitt der Theorie des Vorstellungsvermögens findet.

b) Die Aphorismen von 1782 Wir müssen nun sehen, ob sich diese Behauptungen durch einen inhaltlichen Vergleich zwischen Reinholds und Platners Theorien des Vergnügens erhärten lassen. Dazu möchte ich als erstes Platners Konzeption des Vergnügens in den ersten Abschnitten des zweiten Teils seiner Philosophischen Aphorismen von 1782 näher betrachten. Platners Theorie des Vergnügens befindet sich hier im zweiten Abschnitt des ersten Hauptstücks. Ihr zentraler Gedanke besagt, daß Vergnügen und Mißvergnügen nur „in Beziehung auf einen Trieb“ im empfindenden Subjekt angenommen werden können. Ausgehend von der Feststellung, daß „jede Empfindung das Bewußtseyn einer gegenwärtigen Vollkommenheit oder Unvollkommenheit“ ist,35 und daß keine der beiden Bewußtseinsformen dem Menschen gleichgültig ist, schließt Platner zunächst, daß jede Empfindung entweder angenehm oder unangenehm ist. Weil aber ein Zustand der Vollkommenheit oder Unvollkommenheit nur dadurch Vergnügen oder Mißvergnügen bereiten kann, daß er sich auf einen Endzweck des Menschen bezieht, der selbst mit Vergnügen oder Mißvergnügen empfunden wird, und weil die lebhafte und jedoch undeutliche Vorstellung eines solchen Endzwecks ein Trieb ist, kann Platner auch schließen, daß ein Zustand der Vollkommenheit oder Unvollkommenheit nur dadurch Vergnügen oder Mißvergnügen bereiten kann, daß er sich auf einen Trieb bezieht, d.h.: „Die Empfindung ist angenehm oder unangenehm, jenachdem sie mit dem Triebe übereinstimmend, oder widersprechend ist“.36 Empfindungen sind nach Platner entweder körperlich oder geistig. Da jedoch jede Empfindung zugleich ein Bewußtsein des Zustandes des Kör-

35 Ernst Platner, Philosophische Aphorismen nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte. Anderer Theil, Leipzig 1782, 14 (§ 39). 36 Ebd., 15 (§ 44).

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pers und ein Bewußtsein des Zustandes der Seele ist,37 wird diese Einteilung nicht einen Unterschied zwischen Arten, sondern ein „Mehr und Weniger“ innerhalb derselben Art ausdrücken. Wenn dabei das Wohlgefallen oder Mißfallen mehr den Wahrnehmungszustand betrifft als einen erkannten Wert der vorgestellten Sache − das ist bei überwiegend körperlichen Empfindungen der Fall −, wird es sich um eine eigennützige Empfindung handeln; wenn hingegen das Wohlgefallen oder Mißfallen mehr den erkannten Wert der vorgestellten Sache betrifft als den Wahrnehmungszustand − das ist bei überwiegend geistigen Empfindungen der Fall −, wird es sich um eine uneigennützige Empfindung handeln.38 Das Gemeinsame aller Empfindungen und der Umstand, daß sich jede Empfindung auf einen Trieb bezieht, veranlassen Platner daraufhin zu dem (irrtümlichen) Schluß, daß in der menschlichen Natur ein allgemeiner Trieb wirksam sein muß, aus dem sich das Gemeinsame aller Empfindungen erklären läßt.39 Dieser allgemeine Trieb ist für Platner der angeborene „Trieb des Lebens“, der aus zwei Triebkomponenten besteht, der Trieb nach „Ideenbeschäftigung“ und der Trieb nach „körperlichem Wohlstand“.40 Eine Empfindung ist demnach für Platner auch als „Bewußtseyn des gegenwärtigen Grades des Lebens – in beyden Beziehungen“41 zu verstehen, d.h. sowohl in Beziehung auf Ideenbeschäftigung wie auch in Beziehung auf körperlichen Wohlstand. Und je nachdem ob in einer Empfindung in bezug auf die eine und die andere Triebkomponente42 „etwas erreicht, oder verfehlt“ wird,43 wird es sich um eine angenehme oder um eine unangenehme Empfindung handeln, wobei diese mehr oder weniger geistig sein können. Wie alle seine Schriften, so enthalten auch diese Psychologischen Lehrsätze von der Glückseligkeit und von den angenehmen Empfindungen zahlreiche zum Teil kritische Verweise auf die einschlägige philosophische Literatur. Interessant für unsere Diskussion ist hier erstens der Umstand, daß sich unter den von Platner genannten Autoren mit einer Ausnahme (Dubos) alle die befinden, die auch von Reinhold in seinen Ausführungen Über die Natur des Vergnügens Ebd., 22 (§ 65). Vgl. ebd., 21 (§§ 60–61). 39 Ebd., 23 (§ 70): „Weil nun in allen Empfindungen ist etwas Gemeinsames [...], und jede Empfindung sich beziehet auf einen Trieb [...], so muß in der menschlichen Natur wirksam seyn irgend ein allgemeiner Trieb, aus welchem erklärlich sey das was allen Empfindungen gemeinsam ist [...]“. Es handelt sich hier um den bekannten Fehlschluß, der dann zustande kommt, wenn man von einer Proposition des Typs (x)(∃y)Fxy auf die entsprechende Proposition des Typs (∃y)(x)Fxy schließt. 40 Ebd., 24 (§ 73); vgl. ebd. 26 (§ 77): „Beyde Triebe sind ein einiger Trieb – der Trieb des Lebens“. 41 Ebd., 26 (§ 79). 42 Dieser Ausdruck kommt bei Platner allerdings nicht vor. 43 Ebd., 26 (§ 80). 37 38

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enthalten sind (Pouilly, Wolff, Mendelssohn, Sulzer und Helvétius). Bedeutsam für unsere Diskussion ist aber vor allem die Kritik, die Platner an den Vergnügensauffassungen von Epikur und Sulzer übt, eine Kritik, die mit den Einwänden Reinholds eine auffallende Ähnlichkeit aufweist: „Epicur erklärt den Ursprung der angenehmen Empfindungen so einseitig aus dem Triebe des körperlichen Wohlstandes [...], als Sulzer aus dem Triebe der Ideenbeschäftigung [...] Beyde Triebe sind ein einiger Trieb [...] der Trieb des Lebens [...]“.44 Gerade in diesem Zusammenhang verweist Platner auf einen älteren Aufsatz, der eine ausführlichere Auseinandersetzung dieses Punktes enthalten soll: „Ueber den Missverstand in der Eintheilung des geistigen und körperlichen Vergnügens habe ich mich ausführlicher erklärt in der Abh. über die Stoische und Epicurische Erklärung des Vergnügens in der N. Bibl. der schönen W. B. XIX“.45

c) Platners Aufsatz von 1776 Platner bezieht sich auf einen 1776 anonym im neunzehnten Band der Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste publizierten Aufsatz mit dem Titel Versuch über die Einseitigkeit des Stoischen und Epikurischen Systems in der Erklärung vom Ursprunge des Vergnügens. Der Epikureismus und der Stoizismus werden hier als zwei „Systeme“ dargestellt, die sich hinsichtlich der Frage nach dem Ursprung des Vergnügens gegensätzlich gegenüberstehen. Platner sieht aber dabei keine der beiden Positionen als die wahre und keine als die falsche an. Vielmehr zeichnen sich beide dadurch aus, daß sie je einen Teil der Wahrheit enthalten, und zwar genau den Teil, der der gegenüberstehenden Position fehlt, so daß es sich in beiden Fällen um einseitige und komplementäre Positionen handelt.46 Epikur erklärt das Vergnügen als ein Gefühl des körperlichen Wohlstands. Doch folgt er hier allein der Selbsterfahrung und läßt die Berücksichtigung der „besten Bestimmung des Menschen“47 völlig beiseite. Die Frage nach der Natur des Vergnügens ist bei ihm eigentlich die Frage nach dem, „was der Mensch Ebd., 27 (§ 82). Ebd., 33 (§ 92). 46 Ernst Platner, Versuch über die Einseitigkeit des Stoischen und Epikurischen Systems in der Erklärung vom Ursprunge des Vergnügens, in: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste. Erstes Stück, Leipzig 1776, 5–30, hier 7. Eine in manchen Punkten ähnliche Gegenüberstellung zwischen Stoizismus und Epikureismus findet sich bekanntlich im Abschnitt „Von der Dialektik der reinen Vernunft in Bestimmung des Begriffs vom höchsten Gut“ in Kants Kritik der praktischen Vernunft. 47 Ebd., 8. 44 45

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zunächst und am lebhaftesten empfindet, wenn er in dem Zustande des Vergnügens ist“, und das ist freilich ein Gefühl des körperlichen Wohlstands. Verändert man die Antwort auf diese Frage zur Beantwortung der Frage nach der Natur des Vergnügens, muß man notgedrungen zu der einseitigen Auffassung gelangen, daß Vergnügen überhaupt nichts als ein Gefühl des körperlichen Wohlstands ist. Das „Stoische System in der weitesten Bedeutung“ hingegen begreift „das Vergnügen ganz allein aus einer Vorstellung des Zustandes der geistigen Vollkommenheit“48 und läßt die wirkliche Selbsterfahrung des Menschen völlig beiseite. Die Frage nach der Natur des Vergnügens ist für die Vertreter dieses Systems eigentlich die Frage nach dem, was die unsterbliche, rein geistige Seele des Menschen empfindet, wenn sie sich selbst fühlt, und das kann freilich nur eine Beschäftigung des Geistes durch Ideen sein.49 Verändert man aber die Antwort auf diese Frage zur Beantwortung der Frage nach der Natur des Vergnügens, so muß man notgedrungen zur einseitigen Auffassung gelangen, daß Vergnügen überhaupt nichts als ein Zustand geistiger Vollkommenheit ist.50 Platner schließt: Der Fehler, welchen ich in beiden Systemen bemerke, ist die Einseitigkeit. In dem einen wird nur die menschliche Organisation, in dem andern nur allein die menschliche Seele in Betrachtung gezogen, − aber in keinem von beiden die menschliche Natur. In dem einen denkt man nur an die niedere, in dem andern nur an die höhere Bestimmung des Menschen, aber in beiden vergißt man den Zusammenhang der niedern menschlichen Bestimmung mit der höhern. In dem einen ist der Mensch ein bloßes Thier, in dem andern ist er ein reiner Geist, und in keinem von beiden ist er eigentlich ein Mensch. In beiden Systemen wird die eine der beiden Hauptarten des Vergnügens auf eine höchst gezwungene Weise erklärt. In dem Stoischen System trifft dies die sinnlichen; in dem Epikurischen trifft es die geistigen Vergnügungen.51

Insofern nun diese einseitigen Auffassungen des Vergnügens allesamt in „einseitigen Begriffen von dem Wesen der Seele gegründet“52 sind, ist die adäquate Konzeption des Vergnügens in der Vereinigung der zwei gegensätzlichen „Systeme[] der Psychologie“ in ein drittes gegeben, ein System, in dem nunmehr der ganze Mensch als Grundlage fungiert.53

48 49 50 51 52 53

Ebd., 10. Ebd., 13. Ebd., 14. Ebd. Ebd., 15. Ebd., 15 ff.

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d) Gemeinsamkeiten Wenn wir auf seiten Reinholds den Aufsatz Über die Natur des Vergnügens und den letzten Abschnitt seiner Theorie des Vorstellungsvermögens von 1789 berücksichtigen − die Grundlinien der Theorie des Begehrungsvermögens −, auf seiten Platners hingegen die erwähnten Abschnitte der Aphorismen von 1782 und den Versuch über die Einseitigkeit des Stoischen und Epikurischen Systems von 1776, dann lassen sich hinsichtlich der philosophischen Erörterung des Vergnügens zwei Arten von Gemeinsamkeiten erkennen. Die erste betrifft die kritische Erörterung anderer Positionen zu diesem Thema. Die zweite hingegen die von beiden vertretene Vergnügungs- und Triebkonzeption. Beide lassen sich schematisch wie folgt darstellen: 1. Gemeinsamkeiten zwischen Platner und Reinhold (kritischer Teil) 1. Die wichtigsten Auffassungen in der Frage nach der Natur des Vergnügens sind einseitige Auffassungen. 2. Diese einseitigen Auffassungen zeichnen sich dadurch aus, daß sie je für sich einen Teil der Wahrheit verkörpern, und zwar gerade einen Teil, der von allen anderen Positionen vernachlässigt wird. 3. Diese Einseitigkeiten sind bedingt durch Einseitigkeiten in der jeweiligen Seelenkonzeption. 4. Der Übergang von den einseitigen Positionen zur gültigen Auffassung besteht in der Vereinigung der einseitigen Positionen. 2. Gemeinsamkeiten zwischen Platner und Reinhold (theoretischer Teil) 1. Vergnügen ist die Befriedigung eines allgemeinen Triebs, der aus zwei untergeordneten Trieben bzw. Triebkomponenten zusammengesetzt ist. 2. Die Befriedigung des allgemeinen Triebs kommt dann und nur dann zustande, wenn die beiden untergeordneten Triebe bzw. Triebkomponenten befriedigt werden. 3. Die Befriedigung des allgemeinen Triebs und der untergeordneten Triebe bzw. Triebkomponenten kommt dann und nur dann zustande, wenn das Gemüt durch das vorgestellte Objekt auf zweierlei Weise in Tätigkeit gesetzt wird. Die theoretischen Gemeinsamkeiten zwischen Platner und Reinhold können auch anhand einer schematischen Darstellung der beiden Trieblehren veranschaulicht werden:

Alessandro Lazzari

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Reinhold

Platner

Trieb nach Form der Vorstellung (leichte Beschäftigung)

intellektuell in weiter Bedeutung

uneigennützig (uneigennütziges Vergnügen)

Trieb nach Stoff der Vorstellung (starke Beschäftigung)

sinnlich in weiter Bedeutung

eigennützig (eigennütziges Vergnügen)

Trieb nach Ideenbeschäftigung

geistige Empfindung

uneigennützige Empfindung

Trieb nach körperlichem Wohlsein

körperliche Empfindung

eigennützige Empfindung

Trieb nach Vorstellung überhaupt

Trieb des Lebens

III. Schluß Betrachtet man einerseits die Art und Weise, wie Reinhold Platners Seelenlehre der Aphorismen von 1784 berücksichtigt, und andererseits die Gemeinsamkeiten zwischen den Äußerungen beider Autoren zum Thema ‘Vergnügen’, so kommt man nicht umhin, zumindest für die Entstehungsphase der Theorie des Vorstellungsvermögens eine Diskrepanz zwischen der schriftlich geäußerten und der wirklich praktizierten Wertschätzung Platners durch Reinhold festzustellen. Anders als in seinen schriftlichen Äußerungen, in denen Platner ein eigentlicher wissenschaftlicher und philosophischer Wert abgesprochen wird und die Formel der Bereitstellung „brauchbarer Materialien für den Bearbeiter

Platner und Reinhold über das Vergnügen

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derselben“ mehr ironisch gemeint ist, hat Reinhold Platner ohne es zuzugeben als einen wichtigen Gesprächspartner für das eigene philosophische Denken betrachtet. Nicht nur hat Reinhold tatsächlich zahlreiche „Materialien“ von Platner übernommen und für die Bearbeitung seiner Theorie des Vorstellungsvermögens fruchtbar gemacht. Selbst die Art und Weise ihrer Bearbeitung stammt zuweilen aus dem Gedankengut Platners, ein Umstand, der vielleicht auch Reinholds distanzierte und abweisende Haltung gegenüber seinem ehemaligen Lehrer und ungeliebten Kollegen erklären könnte. Vergleicht man die expliziten gegenseitigen Einschätzungen Ernst Platners und Karl Leonhard Reinholds mit den von beiden entwickelten Theorien des Vergnügens und der Triebe, so ist vor allem bei Reinhold eine Diskrepanz zwischen persönlicher Würdigung Platners und Anlehnung an dessen Theorie offensichtlich. Reinholds einschlägige Passagen in dem Aufsatz Über die Natur des Vergnügens und im letzten Abschnitt seiner Theorie des Vorstellungsvermögens von 1789 weisen eine derartige Ähnlichkeit mit Platners Versuch über die Einseitigkeit des Stoischen und Epikurischen Systems (1776) und einigen Abschnitten aus dessen Aphorismen von 1782 auf, daß sie die negative Bewertung Platners geradezu als Versuch erscheinen lassen, das Ausmaß der von ihm ausgegangenen Impulse zu verdecken. A comparison between Ernst Platner’s and Karl Leonhard Reinhold’s judgments on each other and their theories of pleasure and striving shows a clear discrepancy between Reinhold’s appraisal of Platner and the dependence upon his theory. The corresponding paragraphs in Reinhold’s article Über die Natur des Vergnügens and in the last chapter of his theory of the power of representation show such a similarity to Platner’s Versuch über die Einseitigkeit des Stoischen und Epikurischen Systems (1776) and to some sections of his Aphorisms of 1782, that Reinhold’s negative judgments on Platner appear as the attempt to hide the extent of the latter’s influence. Dr. Alessandro Lazzari, Universität Luzern, Philosophisches Seminar, Postfach 7455, CH-6000 Luzern 7, E-Mail: [email protected]

M ARTIN B O N D E L I Über eine „Entdeckung“ in der Psychologie Reinholds Auseinandersetzung mit Platners Bemerkungen zur Geschichte des Seelenbegriffs

Im 10. und 11. seiner Briefe über die Kantische Philosophie von 17901 präsentiert Reinhold einige konzentrierte Überlegungen zur Geschichte des Seelenbegriffs. Durch Kants Reflexionen zur Moraltheologie und zum positiven Gebrauch der transzendentalen Ideen angeregt,2 wird in den vorangehenden Briefen der Begriff der Seele als „psychologische Idee“, „Erkenntnißvermögen“ und „Vorstellungsvermögen“ ausgelegt und das Dogma der Unsterblichkeit der Seele zugunsten eines moralischen Postulates des „zukünftigen Lebens“ zurückgewiesen. Darauf folgt nun eine auf dieses Resultat ausgerichtete genetisch-philosophiehistorische Betrachtung. Reinhold diskutiert die Entwicklungen und Verwicklungen des Seelenbegriffs bei den „Alten“, die bei Descartes anhebende Neufassung dieses Begriffs im Sinne eines denkenden Ich sowie in Andeutungen ebenfalls die Fortschritte und Schicksale des Cartesianischen Ansatzes in neueren und neuesten Zeiten. Ein Leitthema ist dabei der die Geschichte des Seelenbegriffs durchziehende Gegensatz von Materialismus und Spiritualismus. Im Mittelpunkt allerdings steht der Nachweis, daß die Alten und dabei insbesondere Platon, Aristoteles, die frühen Stoiker und Epikur bereits über einen ausgefeilten Begriff des Erkenntnisvermögens verfügten, dieser jedoch erst beim Autor der Kritik der reinen Vernunft in befriedigender Weise bestimmt worden ist. Das Vertrauen, das hiermit in die Kantische PhiloKarl Leonhard Reinhold, Briefe über die Kantische Philosophie. Erster Band, mit einem Kommentar hg. von Martin Bondeli, Basel 2007, 262−332 (die Seitenzahlen beziehen sich auf die Originalausgabe Leipzig 1790, deren Paginierung in der kommentierten Ausgabe mitverzeichnet ist). – Die beiden Briefe sind überarbeite Fassungen des 7. und 8. der Briefe über die Kantische Philosophie von August und September 1787 aus dem Teutschen Merkur (1787, 3. Viertelj.), 142−165, 247−278. 2 Zu Kants moraltheologischer Grundlegung, die für Reinhold relevant war, siehe: Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 631 ff., 814 ff., 827 ff. 1

Aufklärung 19 · © Felix Meiner Verlag 2007 · ISSN 0178-7128

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sophie gesetzt wird, ist alles andere als gering. Mit Kants Analyse des Erkenntnisvermögens soll die Geschichte des Seelenbegriffs durch eine alles entscheidende Entdeckung bereichert und die definitorische Bestimmung des Seelenbegriffs von Mißverständnissen und mühsamen Querelen zwischen Materialisten und Spiritualisten befreit worden sein. Der Erkenntnistheoretiker Kant soll das Verständnis für dasjenige geschärft haben, was die alten Psychologen eigentlich intendierten; er soll den „Schlüssel zur rationalen Psychologie der Griechen“ geliefert haben.3 Diese Präsentation und diese Ansprüche sind symptomatisch für Reinholds damaligen Umgang mit Kants Philosophie. Kant erschien ihm nicht als der berühmt-berüchtigte ‘Alleszermalmer’, sondern als der große kritische Vermittler zwischen den Fronten sich paralysierender philosophischer Fraktionen, nicht als Verächter aller spekulativen Weltbegriffe, sondern als besonnener Auflöser von Welträtseln. Ein nicht zu unterschätzendes Motiv dafür, daß Reinhold sich der psychologischen Idee in philosophiehistorischer Hinsicht zuwandte, war allerdings auch die Konkurrenz mit vergleichbaren Unternehmen anderer führender Autoren seiner Zeit. Zu nennen ist allen voran der an der medizinischen und philosophischen Fakultät der Universität Leipzig lehrende Ernst Platner, den Reinhold seit dem Besuch von dessen Vorlesungen im Wintersemester 1783/1784 persönlich kannte.4 In einer Fußnote im 11. Brief5 bezieht Reinhold sich en passant auf Platners „Bemerkungen“ zum Seelenbegriff in der „griechischen Philosophie“ aus den Aphorismen. Führt man sich die betreffenden Textpassagen Platners6 vor Augen, kommt man zum Schluß, daß Reinhold sie mehr als nur flüchtig kannte. Nicht wenige Quellenangaben und Urteile Platners zur Seelelehre der Alten Reinhold, Briefe über die Kantische Philosophie (wie Anm. 1), 288. Siehe Alfred Klemmt, Karl Leonhard Reinholds Elementarphilosophie, Hamburg 1985, 2; Gerhard W. Fuchs, Karl Leonhard Reinhold – Illuminat und Philosoph, Frankfurt am Main 1994, 33−35. Fuchs äußert sich ebenfalls kurz zur philosophischen Wirkung Platners auf Reinhold und erwähnt, daß nicht nur der Psychologe, sondern auch der Moralphilosoph Platner für Reinhold bedeutsam gewesen sein dürfte. Viele Passagen Reinholds vor allem im zweiten Band der Briefe über die Kantische Philosophie von 1792 bestätigen diese Vermutung. Reinhold hat sich unter anderem an Platners naturrechtlicher Hypothese über den „ursprünglichen Stand der Natur“ (vgl. Ernst Platner, Philosophische Aphorismen. Anderer Theil, Frankfurt, Leipzig 1782, 131 ff.) abgearbeitet. 5 Reinhold, Briefe über die Kantische Philosophie (wie Anm. 1), 292. – Diese Fußnote fehlt in der Merkur-Fassung dieses Briefs ebenso wie eine weitere wichtige Fußnote zu Christoph Meiners, Geschichte des Ursprungs, Fortgangs und Verfalls der Wissenschaften in Griechenland und Rom, 2 Bde, Lemgo 1781. 6 Aus dem Kontext geht hervor, daß Reinhold sich zur Hauptsache bezieht auf: Platner, Philosophische Aphorismen nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte, Leipzig 1776, 258−262. Weitere wichtige Anmerkungen Platners zum selben Thema finden sich ebenfalls ebd., 388−397. 3 4

Über eine „Entdeckung“ in der Psychologie

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kehren in den beiden Briefen Reinholds wieder.7 Und das in ihnen eifrig besprochene Verhältnis von Materialismus und Spiritualismus ist bereits bei Platner Problem- und Gliederungsvorgabe des sich entwickelnden Seelenbegriffs. Natürlich konnte es Reinhold nicht unterlassen, Platners Ergebnis aus der eigenen, mit Kant geteilten Sicht zu überbieten, stand für ihn doch außer Zweifel, daß sein ehemaliger Lehrer im Kern einer vor-kantischen Denkweise anhing. Aus dem höheren Standpunkt, den Reinhold gewonnen zu haben beansprucht, erscheint ihm Platner genauer besehen als neuerer Geschichtsschreiber, der dem Rätsel der Psychologie auf der Spur war, der den dominanten Entwicklungsstrang und Fortschritt auf dem Weg der älteren zur neueren Psychologie aber nicht zu entdecken vermochte. Im Folgenden möchte ich auf diesen Reinholdschen Überbietungsversuch eingehen. Dazu freilich ist es nötig, einige Charakteristika von Platners systematischer Behandlung des Seelenbegriffs, wie sie sich seit der Anthropologie für Aerzte und Weltweise von 1772 darbietet, hervorzuheben und darauf aufbauend seine philosophiegeschichtlichen Anmerkungen zum Seelenbegriff aus den Philosophischen Aphorismen von 1776 zu umreißen.

I. Platners Plädoyer für die Immaterialität der Seele Ohne Zweifel folgen Platners Untersuchungen zum Seelenbegriff weitgehend einem philosophisch-wissenschaftlichen Zweig, den man als empiristisch im Sinne Lockes und der französischen Sensualisten sowie als in einer gängigen Bedeutung psychophysisch bezeichnen kann. Das Desiderat, Phänomene des Empfindens und Denkens an die „Organisation“ und an die „Werkzeuge“ des menschlichen Körpers zu binden, ist ebenso unverkennbar wie der stete Versuch, die relevanten Wechselwirkungen zwischen Seele und Körper aufzuzeigen. Zudem setzt Platner in markanter Weise eine Tendenz in der Erforschung des Seelenvermögens fort, die für die empirische Psychologie der Wolffschen Tradition typisch ist. In Anlehnung an die Bewußtseins- und Apperzeptionsthematik dieser Tradition ist er bestrebt, die Seele als geistiges Wesen zu begreifen, das nicht selbständig, sondern nur in einem Beziehungs- und Unterscheidungszusammenhang zum Körper und zu äußeren Gegenständen zu 7 Einen Passus Platners zu Cicero (ebd., 258 f.) hat Reinhold so gut wie unverändert in seinen Text (vgl. Reinhold, Briefe über die Kantische Philosophie [wie Anm. 1], 273) eingefügt. Der betreffende Passus fehlt in der Ausgabe der Philosophischen Aphorismen von 1784, was dafür spricht, daß Reinhold sich bei seinen Ausführungen im 10. und 11. Brief – wenn auch nicht ausschließlich (man beachte Reinhold, Briefe über die Kantische Philosophie [wie Anm. 1], 325. Anm.) – auf die Ausgabe von 1776 stützte.

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existieren vermag.8 Dabei kann man ihm bei diesem letzten Unternehmen eine gewisse Originalität nicht absprechen. Platner dürfte vorbildlich für jene geworden sein, welche die Auffassung vertreten, ein adäquates Verständnis der Körper-Seele-Beziehung impliziere die Einbeziehung der Eigenperspektive, d.h. der Tatsache, daß die Seele meine Seele sei. Dieser Auffassung wird bei ihm nicht zuletzt auf definitorischer Ebene zugearbeitet: Seele ist nur ein anderes Wort für „Ich“ oder „meine Person“.9 Was man bei diesem ausgeprägten Interesse an der körperlich-sensualistischen Basis unserer Seele allerdings nicht konstatieren kann, ist die Sympathie für ein materialistisches Seelenverständnis. Im Gegenteil: Platner distanziert sich wiederholt vom Materialismus. Dies geschieht insbesondere dort, wo es die Frage nach der Materialität oder Immaterialität der Seele zu beantworten gilt. In diesem Punkt stellt Platner sich entschieden auf die Seite des Immaterialismus oder Spiritualismus.10 Dabei wird zur Verteidigung dieser Position bald mit den klassisch-rationalistischen Axiomen der Einfachheit und Substantialität der Seele argumentiert, bald mit einer aus der „Erfahrung“ geschöpften Erklärung, die nicht weniger beweiskräftig sein soll als jede rationalistische. Wie vor ihm auffällig Rousseau im berühmten „Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars“11 appelliert Platner an ein tätiges Ich-Gefühl und verleiht der Überzeugung Ausdruck, daß dieses „Selbstgefühl“ uns die Existenz und intertemporale Einheit unseres Ich in unbezweifelbarer Weise erfahren läßt und damit gleichfalls die Unteilbarkeit und Unkörperlichkeit des Ich.12 Siehe Platner, Anthropologie für Aerzte und Weltweise. Erster Theil, Leipzig 1772, §§ 45 und 48 ff. 9 Siehe ebd., §§ 46 und 59. 10 Daß Platner damit eine Annahme teilt, die damals für viele (u.a. für Mendelssohn) als entscheidende Voraussetzung für einen Beweis der Unsterblichkeit der Seele angesehen wird, versteht sich. Für Platner selbst spielt das Interesse an einem solchen Beweis aber offenbar eine untergeordnete Rolle. 11 Siehe Rousseau, Emile oder von der Erziehung. (In der deutschen Erstübertragung von 1762), München 1981, 361. 12 Vgl. Platner, Anthropologie (wie Anm. 8), §§ 58, 102 und 119. – Eine gewisse Wirkung Platners auf Kant ist in dieser Sache durchaus möglich. Kant hielt es jedenfalls nicht für abwegig, die Existenz der reinen Apperzeption durch ein „Gefühl eines Daseins“ zu erklären (vgl. Prolegomena, in: Kants gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, 1903 ff., Bd. 4, § 46 Anmerkung). Für eine Begründung der Einheit der Apperzeption erachtete Kant den Rekurs auf das Ich-Gefühl allerdings für wenig hilfreich. Das Selbstgefühl kann genauso wenig wie der spontane Selbstbezug, der mit dem Ich (der Annahme, daß die Vorstellungen meine Vorstellungen sind) einhergeht, Garant dafür sein, daß ein durch die Zeit hindurch identisches Selbst besteht. Hierzu muß ein Begründungsweg eingeschlagen werden, bei dem die Apperzeption in ihren Funktionen der Synthesis und Objektbildung betrachtet wird. Dazu Martin Bondeli, Apperzeption und Erfahrung. Kants transzendentale Deduktion im Spannungsfeld der frühen Rezeption und Kritik, Basel 2006, 42 ff., 52 ff. 8

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Was Platner mit diesem Plädoyer für die Immaterialität der Seele der Sache nach von sich weist, ist vor allem die empiristische (= atomistische) These einer aus einzelnen Ich-Empfindungen zusammengesetzten Seele sowie die Auffassung einer lediglich empirischen (= hypothetischen) Einheit der Seele. Allerdings stehen dadurch, daß er ausdrücklich den Materialismus zum Gegner erklärt, nicht diese empiristischen Aspekte im Zentrum seiner Kritik. Vielmehr sind es zwei Hauptsysteme des Materialismus, welche die Existenz der Seele als geistiges Prinzip oder einer Seele jeder Art in Frage stellen. Das erste System behauptet näher besehen, die „Seele sey ein materielles Element, ein Atom, oder wohl gar ein Aggregat von Materie“.13 Der Vertreter dieses Systems ist somit darauf aus, sich die Seele in irgendeiner Weise als qualitativ besonderen Teil, als höherartiges Produkt oder als geistige Hinzufügung der Materie vorzustellen. Das zweite System basiert auf der Behauptung, daß es im Menschen keine Instanz gibt, die Seele genannt werden kann. Es zeichnet sich mit anderen Worten durch „die Leugnung der Seele“ aus.14 Dasjenige, was wir als Seelisches oder Gedankliches bezeichnen, irrtümlich für eine besondere Instanz im Menschen halten, wird bei diesem System durch eine „Harmonie“ von Stoffen oder körperlichen Bewegungen erklärt. Platner zufolge sind die beiden Systeme nicht nur deshalb abzulehnen, weil sie schädliche moralischreligiöse Folgen haben könnten, sondern auch deshalb, weil sie sich als unhaltbar herausstellen. Das erste operiert mit Vorstellungen, die sich nicht begreiflich machen lassen, das zweite ist allzuweit entfernt von gängigen Ansichten und Erfahrungen über unser Ich. Um eine zureichende Vorstellung von Platners Seelenverständnis zu erhalten, darf schließlich nicht außer acht gelassen werden, daß er in bezug auf die Frage, was die Seele ihren Grundeigenschaften nach ist, eine – für viele damals wohl als unorthodox empfundene – aktivistische Deutung des Substanzdenkens favorisiert. Spätestens seit Leibniz und Wolff wird die bei Descartes als cogitio und denkende Substanz (res cogitans) eingeführte Seele mit dynamischen Sinngehalten versehen. Dabei kann die denkende Substanz dadurch, daß sie nicht nur als beharrliches Wesen definiert wird, sondern auch als ein Wesen, das durch sich oder aus sich selbst existiert, relativ reibungslos im Sinne einer substantiellen Kraft oder eines substantiellen Vermögens ausgelegt werden. Diese aktivistische Neuprofilierung des Substanzdenkens, bei der immer auch die Berührungsangst mit der angeblich starren, passiven Substanz Spinozas und der Spinozisten eine Rolle spielt, erhält in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zusätzlichen Auftrieb. Die in diese Periode fallende Zurückdrängung des metaphysischen durch einen psychologischen oder anthropologi13 14

Platner, Anthropologie (wie Anm. 8) § 89. Ebd., §§ 89 und 101.

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schen Weltbezug begünstigt den Übergang zu trieb- und handlungstheoretischen Interpretationen der dynamischen Seelensubstanz. Die Rede von „Grundkräften“ der Seele erfreut sich großer Beliebtheit. Bei Tetens wird eine der menschlichen Willens- und Handlungsfreiheit verwandte „Selbstthätigkeit“ der Seele in Vorschlag gebracht.15 Platner steht dem in nichts nach. Seines Erachtens besteht die Seele aus Grundkräften, deren oberste die „Denkkraft“ ist.16 Und die sich durch die Eigenschaften der „Substanz“ und des „Bewußtseyns“ auszeichnende Seele darf keinesfalls als ein „Leiden“, als „tode Vorstellung“ mißverstanden werden. Sie ist einzig und allein „Handlung“.17 Die Nähe zu einem Empirismus, der von operations of mind spricht, ist evident. Aber auch die Differenz zu ebendiesem Empirismus, wenn man bedenkt, mit welcher Radikalität dieser die Vorstellung einer Ich-Substanz verwirft. Humes einschlägige These, das Ich oder die Seele sei nichts als ein eng geschnürtes Bündel (bundle) von Ich-Perzeptionen,18 ist für Platner offenbar kein Thema oder jedenfalls kein Grund, etwas an seiner selbstverständlichen Anwendung des Substanzbegriffs auf die Seele zu ändern.

II. Platner über die Geschichte des Seelenbegriffs – Die Materialität der Seele bei den Alten und die spiritualistische Wende bei Descartes und Leibniz In Platners Anmerkungen zum Seelenbegriff der griechischen und neueren Philosophie, auf die man in den Aphorismen von 1776 stößt, spiegelt sich nicht die Vielfältigkeit seines Seelenkonzepts. Vielmehr sind sie ein historisierender Fortsatz seiner Verteidigung der Immaterialität der Seele. Die Geschichte des Seelenbegriffs erscheint in erster Linie als Kampf eines sich zur reinen Geistigkeit herausbildenden Seelenverständnisses gegen ältere und neuere Formen des Materialismus. Dabei macht Platner nun auch kenntlich, welche Autoren oder Strömungen er im Zusammenhang der zu widerlegenden Systeme des Materialismus als seine hauptsächlichen Gegner betrachtet.19 Für das System, welches die Seele leugnet oder sie für eine Harmonie von Bewegungen oder Stoffen hält, ist dies bei den Alten der von Cicero erwähnte Aristoteles-Schüler

Siehe Johann Nicolaus Tetens, Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung. Erster Band, Leipzig 1777, 752 ff. 16 Vgl. Platner, Anthropologie (wie Anm. 8) § 112. 17 Vgl. ebd., §§ 285 f. 18 Vgl. David Hume, A Treatise of Human Nature, hg. von David Fate Norton, Mary J. Norton, Oxford 2000, I, Part IV, Sec. 6. 19 Siehe Platner, Aphorismen I 1776 (wie Anm. 6), 258. 15

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Dikaiarch,20 bei den Neuen der französische Materialismus (namentlich La Mettrie und d’Holbach). Beim System, welches die Seele als einen besonderen Teil des Körpers begreift, nennt Platner bei den Alten Epikur, im Blick auf die neueren Zeiten Coward,21 Toland22 und Hobbes. Konstitutiv für Platners Geschichte des Seelenbegriffs ist neben dieser Kampfeskonfiguration von Materialismus und Spiritualismus aber auch eine Art Paradigmenwechsel im Verhältnis von älterer und neuerer Psychologie. Offenbart wird dies insbesondere durch die folgende Feststellung zu den griechischen Seelenlehren: „Was die alten Psychologen betrifft, so scheinen sie, wenn man nach dem grammatischen Sinn ihrer Ausdrücke, und nicht nach dem Zusammenhang ihrer Lehrsätze urtheilt, allesammt die Seele materiell geglaubt zu haben“.23 Wie dazu weiter ausgeführt wird, soll bei den Alten ein Konsens über die Materialität der Seele vorgeherrscht haben, den alle noch so radikalen spiritualistischen Gegentendenzen in manchen ihrer Seelenlehren nicht aufzubrechen vermochten. Selbst dort, wo unzweifelhaft von unkörperlichen, immateriellen und unzerstörbaren Seelenteilen gesprochen werde, bleibe ein materieller Sinn im grundsätzlichen Verständnis von Seele erhalten. In keiner Weise werde auf die Vorstellung verzichtet, die Seele als solche sei eine „feine Materie“, ein luftartiger Stoff (pneuma) oder ein anderes geistähnliches Stoffwesen. Daß sich bei den Alten dennoch ein Unterschied zwischen „Materialisten“ und „Spiritualisten“ abzeichnet, erklärt Platner dadurch, daß es bei ihnen unterschiedliche Auffassungen über die „Weltseele“ und die Einzelseelen als davon „abgesonderten Stücken“ gab.24 Jene, die uns als Spiritualisten oder auch Dualisten erscheinen – Platner nennt Thales, Pythagoras, Sokrates, Platon und Aristoteles –, gehen von zwei Seelenteilen der Weltseele aus, wobei der eine von Gott, der andere von der Materie abstammen soll; und sie übertragen sodann diese Auffassung auf die menschliche Seele und unterscheiden zwischen vernünftigen, aktiven, unvergänglichen und unvernünftigen, rezeptiven, vergänglichen Seelenteilen. Jene, die wir als Materialisten oder auch Monisten zu Siehe Cicero, Tusculanae disputationes, I, 10 (21). Platner hat seine Informationen zu diesem meist vergessenen antiken Materialisten neben dieser Cicero-Stelle offensichtlich der Dikaiarch-Darstellung Bayles entnommen. Der Aristoteles-Schüler wird dort als Autor porträtiert, der die Seele bald für nichts hält, bald für dasselbe wie die Materie. Zudem finden sich dort die folgenden, durch Aussagen Plutarchs belegten Worte über ihn: „Er glaubte, daß die Seele die Harmonie der vier Elemente sei“ (Pierre Bayle, Historisches und kritisches Wörterbuch. Eine Auswahl, hg. von Günter Gawlick, Lothar Kreimendahl, Hamburg 2003, 77, Anm.). 21 William Coward (1656−1725), englischer Freidenker, der für die These der Sterblichkeit der Seele eintritt. 22 John Toland (1670−1722), englischer Freidenker und Deist, bekannt auch als Schöpfer des Terminus „pantheist“. 23 Platner, Aphorismen I 1776 (wie Anm. 6), 258. 24 Ebd., 259. 20

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bezeichnen geneigt sind – Platner denkt hier an Anaximander, Heraklit, Empedokles und einige Stoiker –, nehmen eine einheitliche, in ihrer Unterschiedlichkeit und Dynamik auf die Idee des Zu- und Abflusses von Stoffen beschränkte Weltseele an und sehen dementsprechend bei der Menschenseele auch keinen wesentlichen Unterschied zwischen vernünftigen und unvernünftigen, wirkenden und empfindenden Teilen. Wie man leicht erahnen kann, steht Platner zufolge die Geschichte des Seelenbegriffs nach der Epoche der Alten im Zeichen eines generellen Spiritualismus, was nicht ausschließt, daß es bis in die Gegenwart Rückfälle in den Materialismus gibt und daß sich ein reiner Spiritualismus erst nach längeren Anlaufschwierigkeiten durchzusetzen vermochte. Als eine Periode der Verzögerung des reinen Spiritualismus gilt Platner dabei offenbar die christliche Philosophie vor der Neuzeit. Ihr wird jedenfalls nicht zugebilligt, das materialistische Paradigma der Alten überwunden zu haben. Die „Kirchenväter“, so sehr sie mit ihren Gut-Böse-Dichotomien einer sich verschärfenden Entzweiung von Geist und Materie Vorschub leisteten, forderten immer noch „für alle Geister, und selbst für die Gottheit, einen Körper“.25 Spätestens bei Descartes aber erfolgt der Durchbruch, wird ein Spiritualismus etabliert, der seinen Namen auch verdient. Mit Descartes wird die Geistigkeit der Seele rein herausgehoben, zumal der unteilbaren und unkörperlichen Seele nun ebenso die Eigenschaft der Unausgedehntheit oder Unräumlichkeit zugeschrieben wird: „Descartes sagte so: die Seele kann in keinem Verstande etwas Ausgedehntes seyn, denn alle ihre Eigenschaften sind den Eigenschaften ausgedehnter Dinge gerade entgegengesetzt“.26 Da Descartes neben der geistigen, denkenden aber auch eine ausgedehnte Substanz kennt, ist sein Spiritualismus noch nicht vollständig, noch nicht umfassend. Dies ruft eine weitere, letzte Aufgabe auf den Plan, die schließlich Leibniz auf sich genommen und erfolgreich bewältigt hat. Er vollendete Descartes’ Ergebnis, „indem er zeigte, daß ausgedehnte Dinge ganz und gar nicht existieren können, und daß alle Ausdehnung nur ein Schein sey“.27 Zu erwähnen bleibt, daß Platner seine systematische Kritik am Materialismus sodann auch diesem Standpunkt des vollendeten Spiritualismus entsprechend präzisiert. Es folgt umgehend die Behauptung, daß die „scheinbarsten Gründe des Materialismus“ auf der „Idee des positiven Raums, der räumlichen Bewegung und der wirklichen Existenz ausgedehnter Dinge“ beruhen.28 Und in einem weiteren Schritt wird erklärt, daß eine Materie, welche die Eigenschaft 25 26 27 28

Ebd., 260. Ebd., 260. Ebd., 261. Ebd.

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des Denkens aufweist, und eine empfindende Seele, die eine vom Denken getrennte materielle Substanz sein soll, Ausgeburten einer undurchschauten Abstraktion sind: Was einige alte und neue Weltweise die empfindende Seele, im Gegensatz der denkenden nennen, das ist nicht Eine Substanz, sondern ein abgezogener Begriff von der Thätigkeit und Reizbarkeit der einfachen, lebendigen Kräfte, deren Zusammenkunft den thierischen Körper ausmacht, und welche jede einzeln für sich, und bisweilen ohne merkliche Verhältnisse mit der denkenden Seele wirken, oft aber durch ihre Wirkungen, wenn sie stark genug sind, klare Empfindungen in der denkenden Seele hervorbringen.29

Der wirkliche, nicht scheinbare Raum und das für sich bestehende empfindende Wesen – dies sind nach Platner offenkundig die gegenwärtigen Hauptbastionen des Materialismus. Platners These über die grundsätzliche Materialität der Seele bei den Alten und über die spiritualistische Wende bei Descartes ist im Detail nicht unproblematisch. Vor allem fragt man sich, ob die Alten aufgrund ihrer Materialitätsannahme einem der beiden materialistischen Systeme zuzurechnen sind oder eine eigene Spielart des Materialismus bilden. Im großen aber gibt sie zu wenig Kontroversen Anlaß. Man wird Platner auch durchaus beipflichten können, wenn er gegen Interpreten, die in Platons Seelenkonzeption einen radikalen Spiritualismus oder Manichäismus sehen, einwendet, Platon habe die vernünftige Seele (psyche oder nous) als ein geistiges Prinzip der „Selbstbewegung“ verstanden und somit nicht als eine von der Materie getrennte geistige Substanz.30 Weit problematischer, und dies bereits von der Anlage her, ist dagegen Platners Nachzeichnung des Seelenbegriffs der neuen Zeit. Zu bemängeln ist, daß bei ihm der neuzeitliche Empirismus – soweit er als neuer Skeptizismus gegen den Rationalismus auftritt und mit der Forderung einhergeht, die Erkenntnis auf den Bereich der Erfahrung einzuschränken – nicht oder zumindest nicht als relevante, für das Endresultat konstitutive Stufe des Seelenbegriffs betrachtet wird. Platner gelangt deshalb auch nicht zu einer Schlußgestalt des Seelenbegriffs, die man als empiristisch geläuterten Rationalismus bezeichnen kann. Sein Ergebnis ist vielmehr ein Rationalismus, der auf der einen Seite zu einem Anti-Materialismus im Sinne Berkeleys gesteigert, auf der anderen Seite durch eine empiristische Richtung, die den Zusammenhang von geistigen und Ebd., 261 f. Vgl. ebd., 393 f. – Natürlich bleibt bei dieser Sicht die Frage, wie Platon seine Auffassung der grundsätzlichen Materialität der Seele mit Aussagen aus seinen Dialogen, die auf eine Vorstellung der Präexistenz der Seele vor dem Körper schließen lassen, vereinen kann. Platner scheint dieses Problem, wie damals auch Johann August Eberhard, mit der Annahme gelöst zu haben, daß Platon nicht nur Philosoph, sondern auch – von pythagoreischer Mystik beeinflußter – Dichter und Mythologe war. 29 30

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körperlichen Phänomenen betont, untermauert wird. Es ist nicht schwer sich vorzustellen, daß dieses Ergebnis für einen Kantianer als Ausdruck einer eklektischen Denkart erscheint. Und man kann sich auch leicht ausrechnen, daß die Aussage über den Scheincharakter des Raumes für einen Kantianer, der mit seinem Lehrmeister zwar nicht einen im gewöhnlichen Sinne wirklichen, aber doch einen als Bedingung des äußeren Anschauens notwendigen und insofern objektiv gültigen Raum behauptet, eine Zumutung darstellt.

III. Reinholds Geschichte des Seelenbegriffs im Lichte des Kantischen Erkenntnisvermögens Für Reinhold, der sich ab Mitte 1785 in Kants Philosophie zu vertiefen beginnt und sich in den folgenden Jahren zum Apostel des Kantischen Evangeliums aufschwingt, ist Platners Geschichte des Seelenbegriffs im Geiste eines spiritualistischen Rationalismus jedenfalls Provokation genug, um im Sommer 1787 eine Gegendarstellung in Angriff zu nehmen. Nichts einzuwenden hat Reinhold dabei gegen Platners Auffassung über die grundsätzliche Materialität der Seele bei den Alten. Der Seelenbegriff in den philosophischen Schulen der Griechen läßt sich, so Reinhold, durchweg aus einem sich modifizierenden „Schema des unsichtbaren Körpers“ begreiflich machen, einem Schema, das selbst bei den „erhabensten Speculationen eines Plato, so wie dem Scharfsinne eines Aristoteles, und aller ihrer Nachfolger unter den Griechen und Römern“ seine Gültigkeit hatte.31 Ebenso selbstverständlich teilt Reinhold Platners Ansicht, daß man in diesem Rahmen dennoch unterscheiden kann zwischen einem sich gleichermaßen bei den Konzeptionen der Weltseele und der menschlichen Seele manifestierenden „Materialismus und Spiritualismus der Alten“.32 Und es besteht schließlich auch Konsens darüber, daß mit Descartes’ Axiom einer unausgedehnten, unräumlichen Seelensubstanz die für die neuere Zeit entscheidende Vergeistigung des Seelenbegriffs eintritt. Die Griechen sprachen über eine seelische „Natur des Einfachen“ insofern, als sie die Seele für „untheilbar“ hielten, nicht jedoch für „unausgedehnt“.33 Descartes dagegen hat Reinhold, Briefe über die Kantische Philosophie (wie Anm. 1), 272. – Im Unterschied zu Platner betont Reinhold allerdings, daß der Materialismus der Alten, da er die Einfachheit des Seelischen in der Regel nicht bestritt, kein Angriff auf die Annahme der Unsterblichkeit der Seele sein konnte. Zudem empört Reinhold sich über die bei Eberhard und Platner vernehmbare Meinung, das Bild einer präexistierenden Seele gehe auf das Konto des Dichters und Mythologen Platon, und unternimmt den Versuch, den rationalen Gehalt dieses Bildes freizulegen, die präexistierende Seele als das angeborene Vorstellungsvermögen zu interpretieren. Vgl. ebd., 325 ff. 32 Vgl. ebd., 286, 272, 288. 33 Vgl. ebd., 292 f. 31

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die „Vernunftidee von der Geistigkeit der Seele in ihrem wesentlichsten Merkmale fest gesetzt“, vor ihm wurde das „Einfache“ vom „Zusammengesetzten“, aber nicht vom „Ausgedehnten“ unterschieden.34 Bei alldem richtet Reinhold nun aber seinen Blick voll und ganz auf den Kantischen Begriff des „Erkenntnißvermögens“ bzw. auf den daraus entfalteten eigenen Begriff des „Vorstellungsvermögens“,35 so daß sich die bei Platner vorliegende Perspektive erweitert. Auffällig wird dies umgehend bei Reinholds Einlassungen zum Verhältnis von Weltseele und menschlichem Seelenvermögen. Platners Erklärung, die sich bei den Griechen abzeichnende Unterscheidung zwischen Materialismus und Spiritualismus sei auf die unterschiedlichen Konzeptionen der Weltseele und die daraus folgenden unterschiedlichen Auffassungen über die menschliche Seele zurückzuführen, wird von Reinhold angezweifelt: Einige Autoren der griechischen Antike, Reinhold nennt die „Epikuräer“,36 kennen keine Weltseele, setzen aber doch klare materialistische oder idealistische Akzente innerhalb des generellen Materialismus. Am Ende sieht Reinhold in diesem Befund ein Indiz dafür, daß es das von Platner dargelegte Ursache-Folge-Verhältnis umzukehren gilt. Die unterschiedlichen Weltseelekonzeptionen sind nicht Ursachen, sondern Produkte der unterschiedlichen Auffassungen über das menschliche Seelenvermögen. Die „menschliche Seele“ ist mit anderen Worten das „Urbild“ aller Seelen- und Geistervorstellungen.37 Dabei denkt Reinhold insbesondere an die menschliche Seele mit ihren vernünftigen, aktiven und sinnlichen, rezeptiven Erkenntniswerkzeugen, an jene menschliche Seele also, auf die sich Kant mit seiner Untersuchung Vgl. ebd., 253 f. In der Merkur-Fassung (1787) verwendet Reinhold noch fast durchweg den Kantischen Terminus „Erkenntnißvermögen“. In der Ausgabe von 1790 ersetzt er ihn an zahlreichen Stellen durch „Vorstellungsvermögen“. Daß Reinhold, der spätestens 1789 seine Neudarstellung der theoretischen und praktischen Vernunftkritik Kants als Theorie des Vorstellungsvermögens bezeichnet, unter anderem aufgrund Platnerscher Anregungen zu diesem Terminus überwechselt, ist nicht auszuschließen. Siehe dazu Fuchs, Karl Leonhard Reinhold (wie Anm. 4), 34, der auf den möglichen Einfluß durch den bei Platner verwendeten Terminus „Vorstellkraft“ hinweist. Siehe ebenfalls Alessandro Lazzari, Zur Genese von Reinholds „Satz des Bewußtseins“, in: Martin Bondeli, A. L. (Hg.), Philosophie ohne Beynamen. System, Freiheit und Geschichte im Denken K. L. Reinholds, Basel 2004, 21−38, der ausgehend von der Reinhold zugeschriebenen Rezension (ALZ, 2. September 1785) der Platnerschen Aphorismen von 1784 (die allerdings auch von Schütz stammen könnte – siehe Horst Schröpfer, Kants Weg in die Öffentlichkeit. Christian Gottfried Schütz als Wegbereiter der kritischen Philosophie, Stuttgart-Bad Cannstatt 2003, 210, 218 ff.) auf Affinitäten von Platners Seele-Gegenstand-Unterscheidung mit Reinholds vorstellungstheoretischem Satz des Bewußtseins aufmerksam macht. Zur späteren Kritik Platners an Reinholds Vorstellungsbegriff siehe Faustino Fabbianelli, Einleitung, in: Die zeitgenössischen Rezensionen der Elementarphilosophie K. L. Reinholds, Hildesheim 2003, XLI−XLV. 36 Vgl. Reinhold, Briefe über die Kantische Philosophie (wie Anm. 1), 294. 37 Vgl. ebd., 294 f. 34 35

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unserer Formen der sinnlichen Anschauung und des reinen Verstandes konzentriert hat. Diesem anthropologisch-erkenntnistheoretischen Zugang entsprechend, hält Reinhold nicht nur das Bestreben, eine sich von der materiellen Welt abhebende reine Seelenwelt zu generieren, für den Schrittmacher in der Entwicklung des Seelenbegriffs. Genauso bedeutsam ist seines Erachtens die Herausbildung eines befriedigenden Verhältnisses von Vernunft und Sinnlichkeit, die sich vervollständigende Darstellung des Zusammenhangs und des Unterschieds von Verstandes- und Sinneswerkzeugen. Um diese Sicht zu erläutern und zu belegen, bespricht Reinhold erkenntnistheoretische Grundüberzeugungen Platons, Aristoteles’, der Epikureer und der Stoiker, hebt den vorzüglichen Entwicklungsstand, aber auch die verbleibenden Unzulänglichkeiten ihrer Erkenntniskonzepte hervor. Dem großen Ideenlehrer der Antike wird ein entwickeltes Problembewußtsein in Bezug auf die Darstellung von Zusammenhängen und Unterschieden von Verstand und Sinnlichkeit attestiert, jedoch auch die Verwechslung von Verstand und Sinnlichkeit mit einem – überdies irrtümlich als Substanz gefaßten – „unbekannten Subjekte“ angelastet. Der Gesichtspunkt seiner Betrachtung des Erkenntnisvermögens wird deshalb als „metaphysisch“ eingestuft.38 Aristoteles, dessen Gesichtspunkt Reinhold als „logisch“ bezeichnet, wird aufgrund seiner Meisterschaft in der Zergliederung des Erkenntnisvermögens ebenfalls hoch eingeschätzt, zugleich aber für eine übertriebene Trennung der Sinnlichkeit vom Verstand gerügt, die ihre Ursache darin haben soll, daß er den „leidenden Verstand“ (nous pathetikos), den er zum Zwecke der Vermittlung von wirkendem, poietischem Verstand und Empfänglichkeit der Sinne einführt, nicht als eigentliche Mitte betrachten kann, da er ihn auf metaphysischer Ebene einem anderen, sterblichen Ursprung überantwortet.39 Den Positionen Epikurs und der Stoiker (Zenons von Kition) wird positiv angerechnet, daß sie ein Wahrheitskriterium in der Frage der Erkenntnis auszumachen versuchen, jedoch auch eine gravierende Einseitigkeit bei der Darstellung des Verhältnisses von Verstand und Sinnlichkeit vorgeworfen. Der erkenntnistheoretische Gesichtspunkt Epikurs ist „empirisch-psychologisch“. Der Verstand gilt ihm als Folge von Empfindungen, der Begriff als Folge von Sensationen.40 Umgekehrt reduzieren die Stoiker die Sinnlichkeit auf den Verstand. Ihr erkenntnistheoretischer Gesichtspunkt ist im Grunde „moralisch“. Sie führen „die Vorstellungen der Sinnlichkeit auf die Quelle der moralischen Handlungen, auf die Vernunft zurück“.41 38 39 40 41

Vgl. ebd., 304. Vgl. ebd., 301−303. Vgl. ebd., 298 f. Ebd., 300.

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Was die neuere Geschichte der Philosophie betrifft, insbesondere die Epoche seit Descartes, setzt sich Reinhold zufolge nicht nur eine spiritualistische Grundhaltung durch. Es kommt auch zu einer Neuauflage der am Leitfaden des Erkenntnisvermögens fortlaufenden Geschichte des Seelenbegriffs. Dabei erfährt der Gegensatz von Materialismus und Spiritualismus, wie er sich in den Erkenntniskonzepten der Alten abzeichnete, auf neuer Basis seine Fortsetzung. Es entsteht ein Gegensatz von Rationalismus und Empirismus, den Reinhold am Streit zwischen Leibniz und Locke sowie an der Gegenüberstellung der Positionen Mendelssohns und Helvétius’ festmacht.42 Dieser Gegensatz wirkt sich nun zwar befruchtend auf die Untersuchungen zum menschlichen Erkenntnisvermögen aus, doch werden mit ihm die Einseitigkeiten in der Darstellung des Verhältnisses von Verstand und Sinnlichkeit gerade nicht überwunden. Und auch die Konfusionen in der Beschreibung des Erkenntnisvermögens nach seinen aktiven und rezeptiven Bestandteilen können damit nicht beseitigt werden. Erst mit dem Autor der Kritik der reinen Vernunft, so die schon angedeutete Pointe von Reinholds Geschichte des Seelenbegriffs, wendet sich nun seit einigen Jahren die Sache zum Besseren. Kants Analyse des Erkenntnisvermögens hat es ermöglicht, mit allen Mißverständnissen und nutzlosen philosophischen Debatten über das Verhältnis von Verstand und Sinnlichkeit, Materialismus und Spiritualismus aufzuräumen. Dabei sieht Reinhold das punctum saliens von Kants glücklicher Wende in der Tatsache, daß mit der Kritik der reinen Vernunft ein Konzept des Erkenntnisvermögens vorliegt, das die Vorstellung von reiner Sinnlichkeit angemessen zur Geltung bringt. Genau darin soll Kants bahnbrechende Entdeckung bestehen: „Kant hat […] einen bisher unbekannten, oder wenigstens ganz verkannten Bestandtheil des menschlichen Vorstellungsvermögens entdeckt – die r e i n e S i n n l i c h k e i t“.43 Kant hat als erster klar unterschieden zwischen der reinen Sinnlichkeit als der „Receptivität des Vorstellungsvermögens“ und der empirischen Sinnlichkeit als „Receptivität der sinnlichen Organe“.44 Oder anders, konkreter ausgedrückt: „Kant hat erwiesen, daß die Form der Empfänglichkeit des äußeren Sinnes im bloßen Raume, der Empfänglichkeit des inneren aber in der bloßen Zeit beständen“.45 Es bedurfte dieser Entdeckung der reinen Sinnlichkeit, damit Zusammenhang und Unterschied von Verstand und Sinnlichkeit mit der richtigen Zuordnung expliziert werden können. Das wesentliche Resultat besteht nun darin, daß der Zusammenhang von Verstand und Sinnlichkeit auf der Ebene der reinen Sinn42 43 44 45

Vgl. ebd., 297 f. Ebd., 307 f. Vgl. ebd., 279. Ebd., 314.

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lichkeit, der Unterschied dagegen auf der Ebene der empirischen Sinnlichkeit als äußerer oder innerer Rezeptivität besteht. Und schließlich: daß der Zusammenhang von Verstand und reiner Sinnlichkeit dort und nur dort besteht, wo diese in der Funktion der schematisierten Kategorien des Verstandes auftritt. Alles andere würde zu fehlerhaften Vermischungen wie im Falle der Vorstellung eines anschauenden Verstandes führen. IV. Schlußfolgerungen Wenn Reinhold von Kantischen Entdeckungen oder von Enträtselungen, die durch Kants Standpunkt ermöglicht worden sind, spricht, so spricht er im Grunde nicht über die Sache selbst, sondern über ein Gefühl der Einsicht, das sich beim Wahrnehmen der Sache einstellt. In diesem Sinne gilt es festzuhalten, daß Reinhold nicht die Geschichte des Seelenbegriffs ans Licht bringt, sondern daß er – im Gestus der Verkündigung einer neuen Wahrheit – lediglich eine andere Geschichte erzählt als seine Mitstreiter. Dabei darf man aber mit gutem Grund behaupten, daß er im Vergleich mit Platner ein reicheres, vielschichtigeres Geschichtsbild skizziert. Im Unterschied zu Platner macht Reinhold darauf aufmerksam, daß die Kämpfe zwischen Materialismus und Spiritualismus, die sich durch die gesamte Geschichte der psychologischen Idee hindurchziehen, von Anbeginn nicht allein auf dem Gebiete der Metaphysik, sondern immer auch auf einem psychologisch-anthropologischen und erkenntnistheoretischen Terrain ausgefochten werden. Das Verhältnis von älterer und neuerer Psychologie erscheint damit nicht mehr nur als Kontrast von allgemeinem Materialismus und allgemeinem Spiritualismus. Durch die Ausrichtung auf die menschliche Seele und das Erkenntnisvermögen werden weitere Kontinuitäten und Differenzen in diesem Verhältnis ersichtlich, kann gleichsam auf ein „modernes“ Ergebnis bei den alten Psychologen aufmerksam gemacht werden. Hinzu kommt, daß Reinhold im Unterschied zu Platner bei der neueren, mit Descartes einsetzenden Geschichte des Seelenbegriffs die Herausforderung des Rationalismus und Spiritualismus durch den Empirismus und Skeptizismus mit der nötigen Gewichtung einbezieht und dadurch auch den Abschluß dieser Geschichte in einer ausgewogenen Vermittlung von Rationalismus und Empirismus sucht. Hinsichtlich der Reinholdschen Mitteilung, Kant habe die reine Sinnlichkeit entdeckt, drängt sich in der Grundtendenz ein ähnliches Fazit auf. Kant hat die reine Sinnlichkeit nicht entdeckt, sondern lediglich eine andere Auffassung von reiner Sinnlichkeit eingeführt. Dabei geht diese Einführung aber in der Tat mit einer beachtlichen philosophischen Weichenstellung einher. Die reine Sinnlichkeit ist ein entscheidender, wenn nicht der entscheidende Baustein in Kants

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Gebäude der theoretischen Vernunftkritik. Dank der reinen Sinnlichkeit gelingt es Kant, ein reicheres und differenzierteres Problembewußtsein bezüglich erkenntnistheoretischer und metaphysischer Grundfragen zu entwickeln als seine rationalistischen und empiristischen Vorgänger oder – wie im Falle Platners – Mitstreiter. Daß dem so ist, wird einsichtig, wenn man sich vergegenwärtigt, welche neuen systematischen Errungenschaften der Kantischen Vernunftkritik direkt oder indirekt mit der Auffassung von reiner Sinnlichkeit verklammert sind. Kants Auffassung von reiner Sinnlichkeit eröffnet die Möglichkeit, sowohl dem die Sinnlichkeit abwertenden Begriffsmonismus Leibniz-Wolffscher Prägung zu entgehen als auch einem Empirismus, der die Kapazitäten der Sinnlichkeit durch eine Sensifizierung des Begrifflichen überstrapaziert. Die aus dieser Auffassung fließende Annahme, der Raum als reine Form der äußeren Anschauung sei eine notwendige Bedingung des Anschauens, kann verdeutlichen, daß nicht nur ein Materialismus, der alle materiellen und geistigen Dinge auf Ausgedehntes reduziert, leicht anfechtbar ist, sondern auch jeder Spiritualismus oder Idealismus, der Raum und äußere Dinge für Schein bzw. ein Produkt unseres Verstandes hält. Dementsprechend ergeben sich daraus neue Perspektiven hinsichtlich der Art und Weise, wie zwischen Materialismus und Spiritualismus vermittelt werden kann. Der bisherige Streit zwischen Materialismus und Spiritualismus läßt sich insofern schlichten, als im erkenntnistheoretischen Bereich die Verträglichkeit von transzendentalem Idealismus (im Sinne der Voraussetzung apriorischer Vorstellungen im Ich) einerseits und empirischem Realismus (im Sinne der Annahme raum-zeitlicher Gegenstände der Erscheinung) andererseits aufgezeigt werden kann. Desgleichen läßt sich für eine Vermittlung beider Systeme dahingehend argumentieren, daß die als immateriell und unausgedehnt zu begreifende Seele in der reinen Form des inneren Sinns, in der Zeit, über ein empirisches Datum verfügt. Und nicht zu vergessen ist schließlich, daß die Auffassung von reiner Sinnlichkeit unverzichtbarer Bestandteil der erkenntniskritischen Einsicht ist, wonach die Attacke der Empiristen auf die rationalistische Behauptung einer substantiellen Seele ihre Berechtigung hat. Das Dasein und die Einheit der Seele können nicht mit der Kategorie der Substanz in Zusammenhang gebracht werden, sondern bestenfalls mit einer – als Hypothese der Vernunft einzustufenden – „Idee“ der Substanz. Dies ist deshalb der Fall, weil nur Begriffe, die sich adäquat auf räumlich und zeitlich strukturierte Daten oder Gegenstände der Erfahrung beziehen lassen, gültige Begriffe im Sinne von Erkenntnis sein können, die als unausgedehnt zu fassende Seele im Unterschied zur Kategorie der Substanz aber kein Begriff dieser Art ist. Ob Kant mit diesen auf die Auffassung von reiner Sinnlichkeit bauenden Errungenschaften nicht nur ein reicheres, differenzierteres Problembewußtsein

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entwickelt, sondern zu den jeweiligen Problemstellungen auch befriedigende Lösungen unterbreitet hat, ist natürlich eine andere Frage – und dabei vor allem auch eine Frage der jeweiligen philosophischen Bedürfnisse und Grundüberzeugungen. Wer nach der Kantischen Ära die Denkpfade eines neuen spekulativen Idealismus oder eines erneuerten Empirismus beschreitet, kommt meistens zum Schluß, daß Kants Lösungen nicht befriedigen können und überdies eine Reihe neuer, hartnäckiger Probleme hervorrufen. Allerdings besteht hierbei doch auch weitgehend Konsens, daß eine künftige Philosophie das Kantische Problembewußtsein nicht mehr wird unterschreiten dürfen. Platner hatte mit kantisch denkenden Zeitgenossen zu kämpfen, und dies auch auf philosophiehistorischem Terrain. Sein ehemaliger Schüler Karl Leonhard Reinhold wendet sich in den Briefen über die Kantische Philosophie auf der Basis von Resultaten der Kritik der reinen Vernunft geschichtlichen Betrachtungen zum Seelenbegriff bei den alten Griechen und in der neueren Philosophie seit Descartes zu und setzt sich dabei kritisch mit Anmerkungen zur Geschichte der Psychologie aus Platners Aphorismen auseinander. Dabei lautet Reinholds Fazit: Platner skizziere, bedingt durch seine Verteidigung der Immaterialität der Seele, eine einseitige Siegesgeschichte des neuzeitlichen Spiritualismus über den antiken Materialismus. Jener Denkansatz in der empirischen Psychologie der Griechen, der seine Fortsetzung in Kants differenzierter Betrachtung des Verhältnisses von Verstand und sinnlicher Anschauung finde, bleibe unentdeckt. Platner had to struggle against Kantian critics – this also in the field of the history of philosophy. K. L. Reinhold discusses in his Letters on the Kantian philosophy the concepts of soul in the classical Greek philosophy and in the epoch since Descartes and relates for this purpose to the notes concerning history of psychology in Platner’s Aphorismen. Reinhold’s critical result is: Platner’s view of history favours in a one-sided way a modern spiritualism. Platner fails to recognize the path from Greek empirical psychology to Kant’s complex examination about the relation and distinction between intellect and sensible intuition. PD Dr. Martin Bondeli, Institut für Philosophie, Universität Bern, Länggass-Strasse 49a, CH-3012 Bern, Email: [email protected]

H ANS -P E T ER N O WI T Z KI Curriculum Vitae Fundstücke und Nachträge zur Biographie Ernst Platners

Platner blieb nicht nur seiner Geburtsstadt Leipzig, sondern auch deren Universität zeitlebens eng verbunden. Wenig mehr als fünfzig Jahre – die vier- bzw. fünfjährige Studienzeit nicht eingerechnet – wirkte Platner an der Academia Lipsiensis. Sie war diejenige Institution, die Platners Denken maßgeblich formte. Seine Philosophie für die Welt war eine Philosophie der Schule. Die Aufhellung der Ursprünge, Entwicklung und Profilierung seines Philosophierens hat eine gesamtheitliche, nicht nur wenige Werke einbeziehende Perspektive zur Voraussetzung und kann nur unter genugsamer Berücksichtigung der jeweiligen institutionellen Rahmenbedingungen gelingen. Der folgende Abriß – Teil einer umfänglicheren Platner-Monographie – entstand auf Grundlage der biographischen Exkurse Ernst Bergmanns (1913) und Alexander Košeninas (1989) und sucht unter Einbezug neuen Materials wichtige Details der Bildungsgeschichte Platners zu rekonstruieren.

I. 1744−1762 Ernst Platner wurde am Donnerstag, dem 11. Juni 1744, in Leipzig geboren und am darauffolgenden Sonnabend zu St. Nicolai getauft. Paten des letztgeborenen Kindes von Johann Zacharias und Christiana Sophia Platner waren laut Taufbucheintragung: „1.) Herr Johann August Ernesti, Prof: Publ: ExtraOrdin: Eloqventiæ und Rector der Schulen zu St. Thomæ alhier, 2.) Frau Johanna Sabina, Herrn, D. Johann Gottfried Zemischens,1 Juris Pr: alhier Frau Wittbe, 3.) Herr, D. Gottlieb Gaudlitz,2 Pastor bey der Kirche zu St. Thomæ alJohann Gottfried Zemisch immatrikulierte sich im Sommersemester 1716 und wurde nach Abschluß seiner Studien 1734 von Franz Karl Conradi promoviert. Er starb 1736 und wurde am 13. Februar beigesetzt (vgl. Stadtarchiv Leipzig. Ratsleichenbuch Tom. XXXVIII. Anno 1728). 2 Gottlieb Gaudlitz (1694−1745) war seit 1741 als Pfarrer an der Thomaskirche tätig. 1

Aufklärung 19 · © Felix Meiner Verlag 2007 · ISSN 0178-7128

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hier“.3 Sein Vater, Johann Zacharias Platner (1694−1747), aus Chemnitz gebürtig, war ein europaweit bekannter und geschätzter Arzt und Chirurg. Er lehrte seit 1721, zunächst als außerordentlicher, später als ordentlicher Medizinprofessor in Leipzig. Gemeinsam mit dem Helmstedter Lorenz Heister (1683−1785) und dem Tübinger Burkard David Mauchart (1696−1751) kommt ihm das Verdienst zu, nicht nur die wissenschaftliche Ophthalmologie in Deutschland als universitäre Disziplin etabliert, sondern darüber hinaus auch der Vereinigung der Chirurgie und Medizin vorgearbeitet zu haben. Seinen Vater verlor Ernst Platner schon 1747; er war damals noch keine vier Jahre alt. Knapp drei Jahre vor seinem Ableben hatte Johann Zacharias Platner testamentarisch bestimmt, daß im Falle seines Todes seine Frau Vormund der gemeinsamen Kinder sein sollte. Als Nebenvormund bestellte er den Rats- und Stadtrichter Rudolph August Schubert (1694−1770). Als Johann Zacharias Platner, seinerzeit Dekan der Medizinischen Fakultät, dann am 19. Dezember 1747 starb, nahm sich Johann August Ernesti4 seiner als Pflegevater und Mentor an.5 Er ließ den jungen Ernst Platner gemeinsam mit Carl Friedrich Bahrdt vom damaligen Tertius der Leipziger Thomasschule Johann Gottlob Hofmann (1760−1797) privatim in die „ersten Anfangsgründe[] der Religion und Wissenschaften“6 einführen. Daneben besuchte er Ernestis Lehrveranstaltungen an der Thomana. 1753 bezog Platner für zwei Jahre das Friedrichs-Gymnasium im unweit Leipzigs gelegenen Altenburg. Dort lehrten zwei Schüler Ernestis: Salomon Ranisch (1719−1766), erster Professor der Einrichtung, und Samuel Benjamin Reichel (1716−1793), deren zweiter Professor. Im Jahre 1755 kehrte Platner nach Leipzig zurück, erhielt einstweilen Privatunterricht von den Magistern Johann Friedrich Lin(c)ke und Johann Gottlob Troitzsch (1730−1801) und besuchte erneut die von Ernesti geleitete Thomasschule. 1760 wurde Platner auf Anraten Ernestis7 auf das Geraer Gymnasium, das Rutheneum, geschickt, um

Kirchliches Archiv Leipzig. Taufbuch St. Nicolai 1744, 415. Getauft wurde üblicherweise drei Tage nach der Geburt. 4 Johann August Ernesti (1707−1781), Philologe und Theologe, wurde 1731, im Alter von 24 Jahren, Konrektor der Thomasschule. Von 1734 bis 1759 amtierte er als deren Rektor, auch noch als er seit 1742 als außerordentlicher Professor der klassischen Literatur und ab 1756 als ordentlicher Professor der Eloquenz an der Leipziger Universität lehrte. Erst als man ihm 1759 die ordentliche Professur der Theologie in der Nachfolge Johann Christian Hebenstreits (1686−1756) übertragen hatte, legte er sein Rektorat an der Thomasschule nieder, behielt daneben allerdings seine philosophische Professur der Eloquenz. In den Semestern 1761/62 und 1769/70 verwaltete er das Rektoramt der Universität. 5 Vgl. Christian Daniel Beck, Worte des Dank’s an Herrn Hofrath D. Platner nach seiner Vorlesung am 12. May 1817 dem Tage seines Lehrer-Jubiläums gesprochen, Leipzig [1817], 13. 6 Allgemeine (Hallische) Literatur Zeitung vom May 1819, Nr. 126, 159. 7 Diversos veterum et recentiorum inclarescendi modos XII. Philosophiae et Artium candida3

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dort seine Schulbildung abschließend zu vervollkommnen.8 In Gera wurde Platner zwei Jahre lang von Konrektor Johann Daniel Heyde (1714−1785), in dessen Haus er wohlwollende Aufnahme gefunden hatte, sowie von Johann Gottfried Hauptmann (1712−1782) und Heinrich August Zeibich (1729−1787) unterrichtet. Gelehrt wurde am Rutheneum in den Fächern Religion, Deutsch, Philosophie, Griechisch, Französisch und Italienisch, Englisch, Hebräisch, Geschichte und Geographie, Altertümer, Mathematik, Physik, physische Anthropologie, Naturgeschichte, Schönschreiben, Rechnen, Tanzen und Fechten. Hauptmann las über die deutsche Beredsamkeit und die Geschichte der deutschen Poesie und führte in Johann Christoph Gottscheds Grammatik ein.

II. 1762−1768 Anfang des Jahres 1762, nach Abschluß seiner gymnasialen Ausbildung, kehrte Platner ins heimische Leipzig zurück, inskribierte sich am 3. April 1762 an der Academia Lipsiensis9 und besuchte in der Folge philosophische und medizinische Lehrveranstaltungen. Seinen Fleiß und sein intellektuelles Format dokumentiert nicht zuletzt die Tatsache, daß er schon drei Monate später, am 10. Juli 1762, Christian August Clodius10 bei dessen Habilitationsdissertation assistieren11 und hierfür die Abhandlung De Præsidiis Eloquentiae Romanae unter dessen Vorsitz verteidigen durfte.

tis qui magistri renuntiantur. [...] Solenni carmine declarat Carolus Andreas Bel. D. XIII. Febr. A. C. N. MDCCLXVI, Lipsiae, XIII. 8 Platners Geraer Schülerzeit aufhellende Dokumente fehlen. Allem Anschein nach hat sich nichts erhalten: Weder die vor dem jeweiligen Examen vernale und autumnale an das Konsistorium eingesandten Conduitenlisten sind überliefert, noch hat die Durchsicht der Schulrechnungen nebst Belegbänden diesbezügliche Hinweise erbracht. Auch in den Geraer Justiz- und Parteisachen ist sein Name nicht gebucht. (Diese Auskünfte verdanken sich der freundlichen Unterstützung des Geraer Oberarchivrates Jens Berger.) 9 Vgl. Die jüngere Matrikel der Universität Leipzig 1559−1809 als Personen- und Ortsregister bearbeitet und durch Nachträge aus den Promotionslisten ergänzt, Bd. 3: Die Immatrikulationen vom Wintersemester 1709 bis zum Sommersemester 1809, hg. von Georg Erler, Leipzig 1909, 305. „Die Inscription kostet in Leipzig 5 thlr. Nobiles bezahlen 6 thlr“ ([Johann Heinrich Jugler], Leipzig und seine Universität vor hundert Jahren. Aus den gleichzeitigen Aufzeichnungen eines Leipziger Studenten jetzo zuerst an’s Licht gestellt, hg. von Friedrich Zarncke, Leipzig 1879, 51). 10 Christian August Clodius (1738−1784) wurde 1759 Magister, 1760 außerordentlicher Professor der Philosophie. 1764 ist ihm die ordentliche Professur der Philosophie, 1778 die der Logik und 1782 schließlich die der Dichtkunst anvertraut worden. 11 Christian August Clodius (Praes.) und Ernst Platner (Resp.), Praesidia eloquentiae Romanae. Disput. philos. Leipzig 10. Juli 1762. Vgl. Ernst Platner, Proprium vitae curriculum, in: Anton Wilhelm Plaz, Ordinis Medicorvm In Vniversitate Lipsica H. T. Procancellarivs D. Antonivs

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In der Philosophischen Fakultät belegte Platner Lehrveranstaltungen bei Johann August Ernesti,12 Christian August Clodius und Samuel Friedrich Nathanael Morus (1736−1792),13 um seine Kenntnisse in den studia humanitatis zu vervollständigen. „Die gesamte Philosophie und Physik vermittelte [ihm] vor allem der großartige Winkler, an dessen Übungen im Disputieren [er] auch teilgenommen [hat]“. Stets sei es ihm angenehm zu wissen gewesen, ihn als „Förderer“ gehabt zu haben.14 Die Mathematik hörte er bei Georg Heinrich Borz (1714− 1799)15 und Johann Jakob Ebert (1737−1805).16 Lehrveranstaltungen zur Logik und zum Naturrecht besuchte er bei Carl Andreas Bel (1717−1782).17 Belehrung und Unterricht in der Sittenlehre holte er sich in den Lehrveranstaltungen Christian Fürchtegott Gellerts (1715−1769).18 Seine medizintheoretische Ausbildung erhielt er anfangs bei dem Anatom Johann Gottfried Janke (1724−1763).19 Nach dessen Ableben besuchte Platner die anatomischen und chirurgischen Lehrveranstaltungen bei Johann Christoph Pohl (1706−1780),20 Jankes Nachfolger. Von ihm weiß Platner lobend zu erGvilielmvs Plaz [...] Panegyrin Medicam Ad D. IV. Sept. A. R. G. MDCCLXVII. Indicit Et De Volvptatibvs Stvdiorvm Impedimentis Exponit, Lipsiae 1767, XV. 12 „Dessen Unterrichtung und Aufmunterung brachte mir in den studia humanitatis viel Nutzen“ (Platner, Proprium vitae curriculum [wie Anm. 11], XIV). 13 Morus, aus Lauban gebürtig, promovierte 1760 zum Magister, habilitierte sich 1761, wurde 1768 außerordentlicher Professor der Philosophie und 1771 Professor der griechischen und lateinischen Sprache. 1782 rückte er in der Nachfolge Ernestis als vierter Professor in die Theologische Fakultät ein. Er war Schüler Crusius’ ebenso wie Ernestis, der ihm lebenslang Freund und Gönner blieb. Bei ihm dürfte Platner Vorlesungen über lateinische und griechische Klassiker gehört haben. 14 Platner, Proprium vitae curriculum (wie Anm. 11), XIV. 15 Der Mathematiker Borz hatte ebenfalls in Leipzig studiert, wo er in der Theologie ein Schüler Baumgartens, in der Mathematik ein Schüler Wolffs war. 1743 wurde er gemeinsam mit Christian Fürchtegott Gellert und dem zweiten Professor des Altenburger Friedrich-Gymnasiums Samuel Benjamin Reichel zum Magister promoviert. 1763 erhielt er eine außerordentliche, 1769 eine ordentliche Professur der Philosophie. 16 Auch er war ein vertrauter Freund Ernestis und Gellerts. 1760 erwarb er die Magisterwürde, bot in der Folgezeit an der Alma Lipsia Kollegien zu mathematischen und philosophischen Themen an und veranstaltete Stil- und Disputierübungen. 1764 unternahm er eine Reise durch Frankreich und Deutschland, fand 1768 eine Anstellung als Hofmeister in Petersburg und bekam 1769 eine Professur für Mathematik an der Universität Wittenberg übertragen. 17 Bel war seit 1756 ordentlicher Professor der Dichtkunst, von 1758 an verwaltete er darüber hinaus das Amt des Vorstehers der Universitätsbibliothek. 18 Diversos veterum et recentiorum (wie Anm. 7), XIII. 19 Janke wurde 1753 außerordentlicher Professor der Anatomie, 1754 der Medizin und 1762 als Nachfolger Carl Friedrich Hundertmarks (1712–1762) ordentlicher Professor der Anatomie und Chirurgie. Er starb am 20. Januar 1763. 20 Pohl wurde 1747 außerordentlicher Professor der Medizin, 1758 ordentlicher Professor der Physiologie und 1763 schließlich Professor der Chirurgie und Anatomie.

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wähnen, daß er ihm „eine Vielzahl von Leichnamen“21 zu Ausbildungszwecken überlassen habe. Bei Ernst Gottlob Bose (1723−1788)22 belegte er ebenfalls anatomische Veranstaltungen, darüber hinaus auch botanische und physiologische. Er vermittelte Platner zudem eine Ambulanz zur medizinpraktischen Fortbildung. Seine Kenntnisse in der Geschichte der Medizin half ihm der Botaniker und Physiologe Anton Wilhelm Plaz (1706−1784)23 zu vervielfältigen und zu vertiefen. Unter dessen Leitung unterzog er sich „auch einer Vielzahl von disputatorischen Übungen und Prüfungen“.24 In der Physiologie vertraute er sich darüber hinaus der Führung des „erfahrenen Reichel“25 und des „hervorragenden Gehler“26 an. Letzterer führte ihn auch in die Mineralogie ein. „Chemie, Arzneimittellehre (Materia medica) und Pharmazie betrieb [er] beim hervorragenden Poerner,27 einem höchst tüchtigen Mann“. Dem medizintheoretischen Studium schloß sich Platners medizinpraktische Ausbildung beim „großen Ludwig“28 an. Bei ihm, einem Schüler seines Vaters Johann Zacharias Platner und vertrauten Freund Albrecht von Hallers, eignete er sich „alle Grundlagen der Abteilungen der Praktischen Medizin, auch Chirurgie und Forensische Medizin“29 an. Christian Gottlieb Ludwig (1709−1773) war seinerzeit ein ‘Aushängeschild’ der Leipziger Universität: Als Botaniker hatte er vormals Johann Ernst Hebenstreit (1702−1757) – den Verfasser der Anthropologia forensis (1751, 21753) – auf seiner Afrikaexpedition begleitet. Platner, Proprium vitae curriculum (wie Anm. 11), XV. Der Botaniker und Anatom Bose, der ab 1763 über Physiologie las, promovierte 1748 zum Doktor der Medizin. 1755 bedachte man ihn mit einer ordentlichen Professur der Botanik, 1773 mit der ordentlichen Professur für Anatomie, 1780 mit der Professur für Pathologie und 1784 schließlich mit der Professur für Therapie. 23 Plaz, Mediziner und Botaniker, hatte in Leipzig und Halle studiert und 1733 eine außerordentliche Professur der Medizin in Leipzig übertragen bekommen. 1749 wurde er ordentlicher Professor für Botanik und 1754 für Physiologie. 24 Platner, Proprium vitae curriculum (wie Anm. 11), XV. 25 Ebd., XV. Georg Christian Reichel (1727−1771), Goethes Leipziger Arzt, war seit 1759 als außerordentlicher Professor in Leipzig tätig. 26 Johann Carl Gehler (1732−1796) unternahm, nachdem er zum Doktor der Medizin promoviert worden war, 1758 eine Reise nach Freiberg, durch die Schweiz und Deutschland bis nach Straßburg, um dort Geburtshilfe unter Johann Jakob Fried (1689−1769) an der damals führenden geburtshilflichen Schule zu studieren. Er las in Leipzig als erster über Mineralogie, deckte aber auch das geburtshilfliche Fach in der Lehre ab. 1762 übertrug man ihm eine außerordentliche Professur für Botanik, 1773 die ordentliche Professur für Physiologie, 1780 die für Anatomie und Chirurgie und 1789 die für praktische Medizin. Von 1782 bis 1785 redigierte er die 1775 gegründete Neue Zeitung von gelehrten Sachen. 27 Karl Wilhelm Pörner (1732−1796) war Mediziner, Bergrat, Chemiker und Mineraloge der Porzellanmanufaktur zu Meißen. 28 Ludwig erwarb 1736 die Magisterwürde, promovierte 1737 zum Doktor der Medizin, wurde 1740 außerordentlicher und 1747 ordentlicher Professor der Medizin. 29 Platner, Proprium vitae curriculum (wie Anm. 11), XV. 21 22

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Als einer der ersten hat er die von Joseph Leopold von Auenbrugger (1722−1809) im Jahre 1761 beschriebene und vorgeschlagene, von vielen seinerzeit aber noch verkannte Perkussionsmethode angewandt. Ludwigs weitbeachtete Abhandlungen legen beredtes Zeugnis seiner umfänglichen Interessen ab: Sie reichen von der Botanik über die Augenheilkunde bis zur gerichtlichen Medizin. Das philosophische Magisterium erwarb Platner am 13. Februar 176630 (eine philosophische Bakkalaureatsprüfung gab es in Leipzig seit 1765 nicht mehr). Die zweitägige Magisterprüfung im Jahre 1766, darauf hatte man sich in der Philosophischen Fakultät zuvor am 21. Dezember 1765 verständigt, sollte am Montag, dem 13. Januar 1766, ihren Anfang nehmen. Platner hatte das Philosophie- parallel zum Medizinstudium betrieben. Er schien von Anfang an eine philosophische Dozentur mit im Blick gehabt zu haben. Denn das Magisterium, die Voraussetzung für die Lehrberechtigung (licenciam docendi), strebten gewöhnlich nur diejenigen an, die danach auch tatsächlich als magister legens tätig werden wollten. Seine Johann August Ernesti gewidmete philosophische pro licentia-Abhandlung De vi corporis in memoria specimen primum cerebri in apprehendendis et retinendis ideis officium sistens verteidigte er gemeinsam mit dem Respondenten Johann Siegfried Kähler am 16. Mai 1767 vormittags „mit vielem Beyfalle“.31 Mit dieser Habilitationsdisputation hatte er sich das Recht erworben, als Magister legens in der Philosophischen Fakultät Lehrveranstaltungen am Schwarzen Brett anzukündigen. In der Medizinischen Fakultät hatte Platner im Verlaufe seines akademischen Werdeganges nacheinander drei Würden, die des Bakkalaureus, des Lizentiaten und des Doktors zu erwerben. Am 10. Juli 1765 wurde er nach bestandenem ersten Examen medizinischer Bakkalaureus – was in etwa dem heutigen Physikum entspricht. Der Erwerb der medizinischen Lizentiaten- und der Doktorwürde sah das erfolgreiche Bestehen dreier Prüfungen vor, das der examina pro candidatura und pro praxi sowie das examen rigorosum; abschließend hatte sich der Examinand in einer öffentlichen Disputation zu bewähren.32 Für die Lizenz war vom Kandidaten zudem der Nachweis zu erbrinUniversitätsarchiv Leipzig. Film-Nr. 33: Pro-Cancellar-Buch der Phil. Fakultät B 128a, 13 f.: „Ao.MDCCLXVI. | [...] | Die XIII. Febr. | Renunciati ac creati sunt Magistri: | [...] 1.) Ernestus Platner, Lipsiensis, Medicinae Baccalaureus“. Vgl. auch: Diversos veterum et recentiorum (wie Anm. 7) (1766), XII–XIV. Das 50jährige philosophische Magister- bzw. Doktorjubiläum wurde am 29. Februar 1816 feierlich begangen; vgl. Die jüngere Matrikel der Universität Leipzig (wie Anm. 9), 305. 31 Dreßdnische Wöchentliche Frag- und Anzeigen, Von allerhand dem gemeinen Wesen nöthigen und nützlichen Sachen. Dienstags, den 20. Oct. Anno 1767. No. XLII [ungez.]. 32 Zu Promotionen im allgemeinen vgl. u.a. Ulrich Rasche, Studien zur Habilitation und zur 30

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gen, daß er weitere zwei Jahre hindurch die medizinischen Vorlesungen besucht und einem oder mehreren Ärzten in ihrer Praxis gefolgt war. Dann erst durfte er um die Erlaubnis bei der Medizinischen Fakultät nachsuchen, eine Vorlesung pro licentia suo tempore adipiscenda halten zu dürfen. Daran schlossen sich erneut Examen rigorosum und Examen publicum an, deren erfolgreiche Absolvierung ihm schlußendlich die erstrebte Lizentiatenwürde verschaffte. Mit seinen öffentlichen, De terminis arteriarum betitelten, medizinischen Lectiones pro Licentia, die „drey Tage hintereinander, jeden Tag eine Stunde (gemeiniglich 1–2 Uhr Nachm.) im medicinischen Hörsaale [...] [zu] halten [waren], wobey allemal ein Facultist gegenwärtig seyn muß[te]“,33 begann er am 4. Mai 1767. Danach meldete er sich zum medizinischen Rigorosum,34 absolvierte es im Juli 1767 und begann schon unmittelbar darauf, „denen der Chirurgie und Medicin Beflissenen in Collegiis einen gründlichen Unterricht“35 zu erteilen. Für den 4. September 1767 war die Verteidigung seiner medizinischen Inaugural- bzw. pro gradu doctoris-Abhandlung (de vi corporis in memoria specimen secundum Pathologiam ad cognoscendas memoriae vicissitudines necessariam sistens) anberaumt worden, womit er um die Lizenz zum höchsten medizinischen Grad (licentia promovendi), den Doktorgrad, nachsuchte. Platner vermochte alle Hürden der Promotion erfolgreich zu nehmen. Er verteidigte seine Arbeit – ein Ausweis seiner Exzellenz – ohne Vorsitz gegen die bei pro loco-Disputationen obligatorisch opponierenden Fakultisten und empfahl sich auf diese Weise zu einer künftigen Assessur in der Fakultät. Beide Habilitationsdisputationenen De vi corporis in memoria, die philosophische wie die medizinische, lassen nicht nur bereits deutlich Platners „Streben nach einer Philosophie [erkennen], die gewissermaßen zwischen Idealismus und Materialismus, als Vermittlerin“36 steht: „In dieser Frage“, so Platners Plädoyer in der ersten Disputation, „müssen wir sorgfältig die Kräfte des menschlichen Körpers betrachten und diese mit den Möglichkeiten des Geistes vergleichen, aber so, daß wir ihnen weder zuviel zuweisen noch glauben, daß im Körper alles verborgen ist, und wir auf diese Weise dem unsterblichen Geist Kollektivbiographie Jenaer Privatdozenten 1835−1914, in: Matthias Steinbach, Stefan Gerber (Hg.), „Klassische Universität“ und „akademische Provinz“. Studien zur Universität Jena von der Mitte des 19. bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts, Jena, Quedlinburg 2005, 129−191. 33 Jugler, Leipzig und seine Unversität (wie Anm. 9), 46. 34 Dafür hatte er einen Taler und 16 Groschen zu bezahlen; vgl. Universitätsarchiv Leipzig. Med.-Fak. B 22: Relationes Fiscorum ad Facultatem medicam pertinentium a Term. Nov. Anni 1767. de diem 31. Decbr. dicti anni exhibuit D. Christianus Gottlieb Ludwig Decanus, 62. 35 Dreßdnische Wöchentliche Frag- und Anzeigen (wie Anm. 31), [ungez.]. 36 Karl Ludwig Methusalem Müller, Ernst Platner, in: Zeitung für die elegante Welt Nr. 31 (Freitags, den 12. Februar 1819), 243−246, hier 243.

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etwas wegzunehmen scheinen“.37 Bereits in den Habilitationsdisputationen dokumentiert sich Platners Hinwendung zum einheitsstiftenden, Physiologie und Psychologie verbindenden influxus physicus im Rahmen einer commercium mentis et corporis-Konzeption und damit zur Anthropologie. Er steht damit in der Nachfolge seiner philosophischen Mentoren Johann August Ernesti und Johann Heinrich Winckler.38 Daß er seinen in den beiden Habilitationsdissertationen bezeugten psychologisch-anthropologischen Neigungen auch im darauffolgenden akademischen Jahr, von dem sich kein Vorlesungsverzeichnis erhalten zu haben scheint, treu geblieben ist, belegt eine Prolusio, mit der er die Leipziger Studenten zu seinen philosophischen Lehrveranstaltungen einlud und die sich der Frage widmete, inwiefern man berechtigt sei zu sagen, daß die Seele wachse.39 III. 1768−1769 Ende 1768 dann unternahm er eine Bildungsreise,40 um unter anderem die großen Spitäler zu besichtigen, so die in Mainz und Paris. Sein Weg führte ihn zunächst nach Straßburg, von dort nach Paris, wo er das Winterhalbjahr verbrachte. Über Brabant und Holland – im 18. Jahrhundert nicht nur eine Hochburg der Medizin, sondern auch der Klassischen Philologie41 – sowie die Niederlande kehrte er Anfang 1769 wieder nach Leipzig zurück. Im Dezember 1768 hielt er sich ein paar Stunden in Versailles auf, und im 40 Kilometer nördlich von Paris gelegenen Schloß Chantilly, beim Kriegsminister Ludwigs XV., Charles de Rohan, prince de Soubise (1715−1787), verbrachte er anderthalb Tage. Soupers, Bälle und Feuerwerke besuchte er ebenso wie die 1713 gegründete Pariser Académie royale de chirurgie und das HôtelVgl. Ernst Platner und Johann Siegfried Kähler, De vi corporis in memoria specimen primum cerebri in apprehendendis et retinendis ideis officium sistens, Leipzig 16. Mai 1767, 2. 38 Vgl. Johann Gottlieb Buhle, Geschichte der neuern Philosophie seit der Epoche der Wiederherstellung der Wissenschaften. Vierter Band, Göttingen 1803, 659 f. (Geschichte der Künste und Wissenschaften seit der Wiederherstellung derselben bis an das Ende des achtzehnten Jahrhunderts). Auch Christian August Crusius ging in der anthropologischen Grundlegung seiner prophetischen Theologie von einer physischen Wechselwirkung von Geist und Materie aus. Die Annahme eines influxus physicus war in Leipzig lange schon vor Platners Anthropologie opinio communis. 39 Anima quo sensu crescere dicatur prolusio, qua scholas philosophicas aperit Ernestus Platner, Leipzig: Breitkopf Jubilitate und Fest. Trin. 1768. 40 Studienreisen waren vormals elementarer curricularer Bestandteil der Leipziger Medizinprofessoren gewesen. Im 18. Jahrhundert, vor allem dann in der zweiten Hälfte, sind die Studienreisen unter ihnen immer seltener geworden. 41 Leyden etwa verdankte seinen Ruf nicht zuletzt auch dem Wirken des Arabisten Albert Schultens (1686−1750). 37

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Dieu.42 Überrascht nahm er wahr, welch große Wertschätzung die Werke seines Vaters in Paris genossen: Ich erstaune täglich mehr über die gar außerordentliche Hochachtung, die man hier für meinen Vater hat. Die größten Männer nennen ihn ihren Lehrer und ihr Orakel, und lieben seinen Sohn wie ihren Bruder. Ich habe bei allen Chirurgis [...] einen freien Zutritt, und im Hôtel-Dieu bin ich wie zu Hause. Bei den öffentlichen Operationen, welche zur Übung gemacht werden, sitze ich in den Schranken mitten unter lauter Allonge-Perücken, eine Ehre, die schlechterdings nur den obersten Chirurgis im HôtelDieu zukommt, und keinem einzigen Fremden wiederfährt. In der Akademie der Chirurgie bin ich bei den wöchentlichen Versammlungen als Zuhörer aufgenommen worden, welches ein Collegium von mehr denn 60 Personen ist.43

Am 29. März 1769 reiste er, von Brüssel kommend, weiter nach Antwerpen, erreichte es auf dem Wasserweg am 2. April und verweilte dort bis zum vierten. Danach wandte er sich nach Haag, wo er noch am selben Tag anlangte. „Der Herr von Meermann,44 Mr. Dubois der sächsische Resident, Hr. D. Sandifort, haben mir [in Haag] sehr viel Ehre erzeigt“.45 Mit letzterem, dem Leydener Anatomen, Arzt und Chirurgen Eduard Sandifort (1740−1819), Nachfolger Albinus’, stand er fortan in brieflichem Kontakt. Haag verließ Platner am 8. April, um nach Delft zu reisen, von wo aus er am 10. April nach Leyden aufbrach. Dort wurde er von „Prof. Allamand,46 an den mich Mr. Morand47 Vgl. dazu Alexis Chevalier, L’Hotel-Dieu de Paris et les Sœurs Augustines (650 à 1810), Paris 1910, 403−495 und Anonymus, Übersicht der vornehmsten Krankenanstalten und Hospitäler in Paris, in: Medizinische Nationalzeitung, Supplementband Nr. 22 (11. November 1798), 350: „Das ehemalige Hotel-Dieu, jetzt Hospice de l’humanité ist ein großes Gebäude, das in seinem Äußerlichen noch ganz das Gepräge des Mönchsalters trägt. Die Säle sind ungewöhnlich groß, finster und unrein. Die Betten stehen dicht aneinander, und es liegen oft mehr als 50 Kranke in einem Saal. Man kann sich daher von der Beschaffenheit der Luft in einem solchen Krankensaal leicht einen Begriff machen. Das Hospital hat zwar Raum für 2000 Kranke, doch ist seit der Revolution die Zahl derselben nicht mehr so groß, wodurch der wesentliche Vortheil entsteht, daß man nicht, wie man ehedem zu thun genöthigt war, mehrere Kranke in ein Bett legt“. 43 Brief Platners an seine Tante (Paris, 25. Dezember 1768), in: Karl Ludwig Methusalem Müller, Ernst Platner, in: Zeitung für die elegante Welt Nr. 33 (Montags, den 15. Februar 1819), 257−261, hier 260. 44 Gerhard Meermann (geb. 1722 in Leyden, gest. 1771 in Aachen), Jurist. 45 Platner an seine Tante (Amsterdam, 15. April 1769), in: Karl Ludwig Methusalem Müller, Ernst Platner, in: Zeitung für die elegante Welt Nr. 34 (Dienstags, den 16. Februar 1819), 267−270, hier 269. 46 Der Waadtländer Physiker Jean Nicolas Sébastien Allamand lebte von 1716 bis 1787. 47 Der seinerzeit an der Pariser Charité als Wundarzt tätige Wegbereiter der modernen Urologie Sauveur François Morand (1697−1773), erster königlicher Leibwundarzt, Ophthalmologe und beständiger Sekretär der Académie royale de chirurgie, deren Mitbegründer er war, zeigte sich Ernst Platner gegenüber, Johann Zacharias Platners wegen, überaus wohlwollend und zuvorkommend. Die Empfehlung und andere Gefälligkeiten bewogen Platner im Jahre 1776, eine Übersetzung von Morands Opuscules de chirurgie zu veranlassen, „ein an wahren und gründlichen 42

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empfohlen“, empfangen und „alles, was bei der Universität zu sehen ist, mit vieler Mühe gezeigt. Der berühmte Albinus48 hat mir sein anatomisches Kabinet gewiesen; eine Ehre, welcher sich wenige rühmen können“.49 Leyden verließ er am 13. April in Richtung Harlem, in dem er kurz Zwischenstation machte, um noch gleichen Tages nach Amsterdam weiterzureisen, das er am 14. oder 15. April erreichte. In Leipzig traf er pünktlich zum Beginn des Sommersemesters 1769 wieder ein, um an seine am 12. Mai des Vorjahres begonnenen Vorlesungen unmittelbar anknüpfen zu können. Im Herbst desselben Jahres, am 26. Oktober, ehelichte Platner die Tochter des Geraer Arztes Heinrich Christian Liebig. Der Ehe Ernst und Dorothea Elisabeth Christiane Platners (1748–1795) entstammen drei Söhne und drei Töchter. IV. 1770−1780 Nach nur drei Jahren akademischer Lehre, Anfang des Jahres 1770, wurde Platner eine außerordentliche Professur der Medizin mit 300 Talern Besoldung zuteil. Als designierter „Professor der Arzneykunst“ hatte er sein Lehramt mit einer Rede anzutreten, zu der wiederum mit einem Programm einzuladen war. Das Programm, Historia litterario chirurgica lithotomiae mulierum betitelt, das „ein vollständiges kritisches Verzeichniß aller Methoden [enthält], deren man sich jemals, und itzt in den neueren Zeiten, bey dem Steinschnitte der Weiber bedient hat“,50 datiert von Laetare, also dem dritten Sonntag vor Ostern, mitten in der Fastenzeit. Platner lud damit zu seiner Antrittsrede Medicos de animi cum corpore consensu audiendos esse, ad infringenda commenta Beobachtungen wichtiges Buch [...], worinnen durch die Bemühungen des Hrn. D. Platners nur die brauchbarsten und lehrreichsten Abhandlungen enthalten sind. Aufsätze, die nur die französische Chirurgie intereßiren, sind mit Recht weggelaßen. Diese Abkürzung ist ein großes Verdienst der deutschen Ausgabe; dann wozu hilft das viele französische Gewäsche?” (Neue Zeitungen von gelehrten Sachen vom 26. September 1776, 634). Er hat die Ausgabe inhaltlich konzipiert und die Auswahl der aufzunehmenden Aufsätze bestimmt. Darunter finden sich die Kapitel „Betrachtungen über die verschiedenen Arten des Steinschnitts“ (123−305) und „Vom Herausnehmen des Steins bey Frauenspersonen“ (352 f.), Arbeiten, die unmittelbar an seine Prolusio anläßlich des ihm übertragenen Extraordinariats der Medizin aus dem Jahre 1770 anknüpften. Morand hatte bereits im März 1727, wohl als erster überhaupt, einen Unterbauchschnitt durchgeführt. – Zu Platners Übersetzungsmaximen vgl. Platners Vorwort zu Le Drans Chirurgischen Gutachten von 1773. 48 Bernhard Siegfried Albinus (1697−1770), Schüler seines Vaters Bernhard Albinus (1653−1721) und Johannes Jacobus Raus (1668−1719) sowie Hermann Boerhaaves (1668−1738). 49 Platner an seine Tante (Amsterdam, 15. April 1769), in: Müller, Ernst Platner (wie Anm. 43), 270. 50 Neue Zeitungen von gelehrten Sachen (2. Juli 1770), 421 f.

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materialistarum51 am 28. März ein. Der Blasensteinschnitt war im 18. Jahrhundert eine der schwierigsten und auch gefährlichsten Operationen. Der Umgang mit dem Steinschnittmesser (Lithotom) stellte an die Fertigkeiten des Chirurgen höchste Ansprüche. Die gebräuchlichen Methoden des Steinschnitts unterzog Platner erstmals – so der Rezensent der Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen52 – einer kritischen Sichtung und vermochte damit, seine Kenntnisse auf medizinpraktischem Gebiete überzeugend unter Beweis zu stellen. Das Programm belegt zudem, daß sein Augenmerk von Beginn seiner akademischen Lehrtätigkeit an nicht nur der medizinischen Literaturgeschichte der Physiologie, sondern auch der Chirurgie galt. Im selben Jahr noch publizierte er eine der mechanistischen Physiologie Albrecht von Hallers verpflichtete populäre Physiologie, die Briefe eines Arztes an seinen Freund über den menschlichen Körper, die, Johann Georg Zimmermann (1728−1795) gewidmet,53 auf vier Bände berechnet war und „denen, die keine Ärzte seyn wollen, eine deutliche Vorstellung, von der Natur und den wahren Verhältnissen unserer Maschine, machen könnte“.54 Das Unternehmen geriet schnell ins Stocken: schon der für die Michaelismesse 1771 angekündigte dritte Band blieb aus. Ausschlaggebend hierfür war sicherlich Johann August Unzers ausnehmend kritische Besprechung des ersten Bandes der Briefe eines Arztes (1770) in der Allgemeinen deutschen Bibliothek.55 Die kritischen Einreden wenig achtend ist er weiterhin rege als Autor, Übersetzer, Herausgeber und Rezensent tätig gewesen; so verfaßte er beispielsweise einen Versuch über die Einseitigkeit des Stoischen und Epikurischen Systems in der Erklärung vom Ursprunge des Vergnügens56 und eine Rezension von Sulzers Theorie der schönen Künste57– wohl die einzige, die er je verfertigt hat58 „Die Ärzte müssen zum Zusammenhang des Geistes mit dem Körper gehört werden, zur Entkräftung der Erfindungen bzw. Einfälle der Materialisten“ (Übers. H.-P. N.). 52 Neue Zeitungen von gelehrten Sachen (2. Juli 1770), 421−424, hier 421 f. 53 Platner hatte ihn während seiner Studienreise im Jahre 1769 in Hannover besucht, vgl. Sendschreiben „An Herrn Zimmermann“ (Leipzig, den 12. May 1770), in: Ernst Platner, Briefe eines Arztes an seinen Freund über den menschlichen Körper 1 (1770), III−XX, hier III f. 54 Ebd., VII. 55 [Johann August Unzer], [Rez.] Erster Band der Platnerschen Briefe eines Arztes an seinen Freund, über den menschlichen Körper (1771), in: Allgemeine deutsche Bibliothek 14 (1771), 81−90. 56 In: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 19 (1776), 5−30. Vgl. zu diesem Text den Beitrag von Alessandro Lazzari in diesem Band. 57 In: ebd., 15 (1773), 32−85. 58 Getreu dem Ratschlag, den er später einmal seinem Sohn gab: „Aber höre Eduard Nichts in Zeitschriften eingerückt, was in der Verbindung einen Bruch giebt! Ein Gelehrter wird um solcher kleinen Arbeiten willen nicht einmahl ein Autor genannt. Ein Autor muß mit einem Solo auftreten: als Mitarbeiter gilt er einem nur für einen Figuranten“ (Schreiben Ernst Platners an seinen Sohn Eduard Platner [nach 1800]; Krakau: Biblioteka Jagiellónska. Berol. Autographen Samm51

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–, veranlaßte Übersetzungen wie die von Le Drans Chirurgischen Gutachten und von Morands Vermischten chirurgischen Schriften, fertigte zahlreiche Dissertationen und Programme, zwei Fragment gebliebene Anthropologien und drei immer wieder aufs neue über- und umgearbeitete, ergänzte und berichtigte sowie auf aktuelle philosophische und medizinische Debatten reagierende Philosophie-Kompendien, seine bekannten Philosophischen Aphorismen. Im Verfolg seiner anthropologischen Interessen las er schon Anfang der siebziger Jahre parallel zu seinen medizinischen Vorlesungen in der Philosophischen Fakultät, und zwar über Logik und Metaphysik sowie Anthropologie. Später bot er dann auch Vorlesungen über Moralphilosophie und Ästhetik an. Und dennoch war er mit sich nicht so recht zufrieden. Selbstzweifel quälten ihn: Er fand sich eingesperrt zwischen den Schreibtisch und zwischen die Armlehnen meines Stuhls, um den Rest von einem bischen gelehrten Plunder zusammenzufaßen, aus dem ich ein Kapitel meiner litterarischen Chirurgie59 zusammenflicken will. Wäre ich doch ein Professor! Wie viel unnützes Zeug muß ich nicht lernen um es lesen [i.e. als Dozent lehren] zu können. Und lese ich es nicht[,] so bin ich kein Professor – ich rede von der Medicin. Es kann seyn daß ich ein gelehrter Mann werde. Aber da bin ich was rechts. [...] Ein praktischer Arzt60 und ein Philosoph hätte ich werden sollen. Itzt bin ich ordentlich ein Mauerluchs. lung. Platner). 1784/85 bat ihn Christian Gottfried Schütz (1747−1832) um Rezensionen für die Allgemeine Literatur-Zeitung, wozu sich Platner jedoch außerstande sah. Vgl. Platner an Henriette Schütz; 23. März 1785 (Berlin: Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz. Slg. Darmstaedter 3a 1790 [2], Bl. 1r.v). Parallel wollte Schütz Immanuel Kant für seine A. L. Z. gewinnen und fragte an, „ob Sie nicht noch einige der besten philosophischen Werke für bis halbe Jahr recensiren wollen z.B. Platners Aphorismen; Eberhards vermischte Schriften u. e. a“ (Christian Gottfried Schütz an Immanuel Kant [Jena, 18. Februar 1785], in: Kant’s gesammelte Schriften [AkademieAusgabe], Bd. 10: Briefe 1747−1788, hg. von Rudolf Reicke, Berlin, Leipzig 21922, 399). Schütz seinerseits kam dann den wiederholten Bitten Platners, doch seine Schriften wie die Quaestiones physiologicae und das Lehrbuch der Logik und Metaphysik in der A. L. Z. besprechen zu lassen, nicht mehr nach (vgl. Platner an Christian Gottfried Schütz; Leipzig, 18. Juli 1800, in: Christian Gottfried Schütz, Darstellung seines Lebens, Charakters und Verdienstes; nebst einer Auswahl aus seinem litterarischen Briefwechsel mit den berühmtesten Gelehrten und Dichtern seiner Zeit, Bd. 2, hg. von Friedrich Karl Julius Schütz, Halle 1835, 330 f.) und an Heinrich Carl Abraham Eichstädt; Leipzig, den 5. Februar 1798 (Jena: Universitätsarchiv: EN 23,57). 59 Supplementa in Jo. Zach. Platneri Institvtiones chirvrgiae avctore Ernesto Platnero, Leipzig 1773 [dt. Zusätze zu meines Vaters Einleitung in die Chirurgie. Erster Theil, Leipzig 1776]. 60 ‘Praktischer Arzt’ heißt hier ‘praktizierender Arzt’. Wenn im folgenden von dem ‘praktischen Arzt’ oder von der ‘praktischen Medizin’ die Rede ist, so ist damit nicht eine etwaige praxisnähere oder -fernere Tätigkeit gemeint, sondern lediglich der Inhalt des zu Lehrenden bestimmt; vgl. Klaus Pielmeyer, Statuten der deutschen medizinischen Fakultäten im Mittelalter. Ein Beitrag zur Geschichte des medizinischen Unterrichts an deutschen Universitäten anhand der Statuten der ersten 16 deutschen medizinischen Fakultäten von ihrer Gründung bis zum Ende des 16. Jahrhunderts, Diss. med. Bonn 1981, 26 f. Noch 1779 allerdings wird Platner als praktischer Arzt in den Akten geführt; vgl. Kirchliches Archiv Leipzig. Taufbuch St. Nicolai 1779, 643:

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Von außen halte ich es noch mit der Gelehrsamkeit halbwegs, und neuerlich bin ich ihr gram. Zum Reformator der verdienstlosen Gelehrsamkeit hätte ich vielleicht Lust, aber nicht das Herz – und zum Professor habe ich vielleicht einiges Geschick. Aber die Medicin, die Universitäten, die Lehrlinge –, und ein Professor, alles das müßte etwas ganz andres seyn wenn ich recht Lust dazu haben sollte. Vielleicht findet sich noch beydes, oder eins von beydem. Ich bin wirklich zu spät auf den rechten Weg gekommen [...].61

Er suchte den Unterschied zwischen ‘Gelehrsamkeit’ und ‘philosophischem Denken’ zu markieren und allein letzteres für sich zu reklamieren, ohne doch recht zu wissen, wie es anzustellen ist.62 Ungeachtet des Verdrusses fuhr er fort, als Publizist und Lehrer tätig zu sein, stets darauf bedacht, das von Christian Thomasius, Gottfried Wilhelm Leibniz63 und Christian Wolff ins Werk gesetzte philosophische und das von Johann Matthias Gesner (1691−1761) und Johann August Ernesti inaugurierte philologische, auf die Erneuerung der klassischen Gelehrsamkeit zielende Reformprogramm, fortzusetzen. Ein Kennzeichen seiner Arbeiten – besonders jener frühen Jahre – ist das Unfertige: Die Physiologie in Briefen bleibt Torso, ebenso die Anthropologie, die auf drei Bände berechneten Svpplementa in Io. Z. Platneri Institvtiones Chirvrgiae und die Zeitschrift Der Professor. Die Svpplementa, in denen er zuweilen seines Vaters Anhänglichkeit an die Lehren Boerhaaves abzumildern und um neue Einsichten aus der Chirurgie zu vermehren suchte, stießen bei den Wundärzten auf wenig Gegenliebe: Niemand wird es diesem Buche ansehen können, daß es ein Supplement zur plattnerischen Chirurgie ist, so wenig Ähnlichkeit hat es mit demselben. Hier Erfahrung; dort fast nichts als Compilation. Hier Einfalt, Kürze, Deutlichkeit, fast nichts als BrauchbaFriderica Platner, getauft am 20. April 1779; dort wird der Vater Ernst Platner als „Med. P. P. Extraord. u. Practicus alhier“ aufgeführt. 61 Brief Platners an Christian Garve (Leipzig, 25. November 1772), in: Alexander Košenina, „Briefe eines Arztes an seinen Freund“ – Zwei ungedruckte Briefe Ernst Platners an Christian Garve, in: Jahrbuch der schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 31 (1990), 141−151, hier 150 f. 62 Vgl. Brief Zollikofers an Garve (Leipzig, 29. Dezember 1772): „Er [Platner] wundert sich darüber, daß Sie in Ihren Briefen an ihn der Gelehrsamkeit vor dem philosophischen Denken wieder den Vorzug zu geben scheinen, und ihn zur Treibung der erstern aufmuntern“ (Briefwechsel zwischen Christian Garve und Georg Joachim Zollikofer nebst einigen Briefen des erstern an andere Freunde, hg. von Johann Gottlob Schneider, Breslau 1804, 50). Vor dem Hintergrund dieses Sachverhalts wird einsichtig, weshalb gerade auch Garve sich von dem nur wenige Bogen umfänglichen Professor angesprochen fühlte und „an seinen Verfasser weitläuftiger darüber [zu] schreiben“ beabsichtigte (Brief Garves an Weiße Breslau, 5. Februar 1774], in: Briefe von Christian Garve an Christian Felix Weiße und einige andere Freunde. Erster Theil, hg. von Johann Caspar Friedrich Manso, Breslau 1803, 57). 63 Vgl. Ernst Gottlob Bose (Präs.), Carl Joseph Oehme (Resp.): De serie corporvm natvralivm continva, [Leipzig 1772], 5: „philosophiae restaurator Leibnitzivs“.

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res; dort Theorieen, überfließende Gelehrsamkeit, Citationen in ungeheurer Menge und Weitläuftigkeit. In der That sieht dies Buch fast mehr einem Commentare als Supplemente ähnlich.64

Er ließ dadurch den von vielen an Johann Zacharias Platners Institutiones chirurgiae so wertgeschätzten Handbuchcharakter vermissen und beraubte sich damit von vornherein einer breiten Leserschaft. Erkennbar ist Platners medizinische Schwerpunktsetzung: Er beschäftigte sich in jener Zeit fast ausschließlich mit chirurgischen Themen. Erst später, als er die Physiologieprofessur übertragen bekommen hatte, galt sein Interesse wieder mehr physiologischen Fragen, die unzweifelhaft seinen anthropologischen Ambitionen näher lagen. Dennoch hat Platner zeitlebens medizinpraktischen Angelegenheiten einen hohen Grad von Aufmerksamkeit geschenkt, ist zuweilen selbst auch operativ tätig geworden.65 Die Herausgabe der von Anton de Haën, dem Begründer der sog. ‘älteren Wiener Schule’, in fünfzehn Bänden unter dem Titel Ratio medendi in nosocomio practico Vindobonensi (1758–1779) verfertigten klinischen Jahresberichte in deutscher Sprache,66 vermehrt um eigene Aufsätze, ist hierfür ein sprechender Beleg. Sein späteres Engagement zur Verbesserung des klinischen Unterrichts in Leipzig, das schließlich in der Gründung einer klinischen Anstalt kulminiert, bestätigt diesen Befund. Für seinen Unterricht in der Philosophischen Fakultät arbeitete er, nachdem er dafür anfänglich auf Feders Logik und Metaphysik, nebst der philosophischen Geschichte im Grundriß (1769) zurückgegriffen hatte, ein eigenes Kompendium aus, die Philosophischen Aphorismen (1776). Erstmalig ist davon

[August Gottlieb Richter]: [Rez.] Ernst Platner: Supplementa in J. Z. Platneri institutiones chirurgiae. P. I, in: Allgemeine deutsche Bibliothek 22 (1774), 2, 480−482, hier 481. 65 Vgl. Brief Garves an Zollikofer (Breslau, 25. Januar 1784), in: Briefe von Christian Garve (wie Anm. 62), 338 f.: „Von dem weitern Erfolge der Platnerschen Operationen geben Sie mir doch Nachricht. [Gemeint ist die ‘Ausziehung des Staars bey einem Blindgebornen’.] – Ich habe schon lange geglaubt, daß das, was man bisher aus den Cheseldenschen Beobachtungen geschlossen hat, und was ich selbst so oft auf dem Catheder wiederhohlet habe, einseitige Beobachtungen sind, und daß bey unserm Sehen sich nicht so viel von unsern Urtheilen und Schlüssen einmischt, als man in den Schulen der Philosophen annimmt“. 66 Anton von Haens Heilungsmethode in dem kaiserlichen Krankenhause zu Wien. Aus dem Lateinischen. Mit einigen Aufsätzen begleitet von Ernst Platner, 9 Bde., Leipzig 1779−1785. Die Jahresberichte präsentieren die klinischen Erfahrungen in einer nichtsystematischen, kasuistischen Form und weisen den Verfasser in der Fülle trefflicher Beobachtungen als einen Hippokratiker ersten Ranges aus. Die begleitenden Aufsätze Platners fanden nicht nur beifällige Aufnahme, sondern gelegentlich entschiedenen Widerspruch; vgl. z.B. Carl Wilhelm Rose, Über die Zuläßigkeit der Ausführungen durch Brechmittel in hitzigen Krankheiten, Augsburg 1781, der viele der „uns so vertrauten Mittel [in Platners Abhandlungen] auf gewisse Weise einem verführerischen Raisonnement [...] Preis [ge]geben“ sieht. 64

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Anfang 1774 die Rede. „D. Platner studirt sehr fleißig, und wird“, so Georg Joachim Zollikofer Christian Garve gegenüber, nun ein Compendium der Logik und Metaphysik drucken lassen. Die Crusianer sind ihm aber von Herzen gram. Überhaupt scheint sich die Crusianische Schwärmerey immer weiter auszubreiten, und die meisten Großen des Landes sollen davon angesteckt seyn. Beträfe die Sache bloß philosophische oder theologische Speculationen, so hätte ich eben nichts dagegen; allein die Verachtung, mit welcher diese Leute alle, die nicht zu ihrer Partey gehören, behandeln, und die Verdammungssucht, die ihnen eigen ist, müssen nothwendig viel Böses stiften.67

Ganze zwei Jahre dauerte es noch, bis das Kompendium im Druck erschien und ihn als Autor und akademischen Lehrer im Jahr darauf in Konflikt mit dem Dresdner Oberkonsistorium und Kirchenrat brachte. Hierfür war die crusiusaffine religiöse Haltung einiger maßgeblicher Dresdner Entscheidungsträger ausschlaggebend. Denn Crusius mit seiner „finstren Philosophie“68 leistete seinerzeit nicht zuletzt auch herrnhuterschem und rosenkreuzerschem69 Denken Vorschub, das in den siebziger und beginnenden achtziger Jahren in Kursachsen viele Anhänger hatte, bis hinein in die höchsten Regierungskreise. In Leipzig hatten diese vor allem in Christian August Crusius (1715–1775) einen herausragenden Propagator. Mit seinem dreibändigen exegetischen Hauptwerk, den Hypomnemata ad Theologiam Propheticam (1764, 1771, 1778), so der Vorwurf seitens der Aufklärer, habe er im Anschluß an Johann Albrecht Bengel (1667–1752) mit seiner prophetischen, auf der realistischen Exegese der Schrift fußenden Theologie den Nährboden für die damals bei vielen beliebten prophetischen Interessen geboten.

Brief Zollikofers an Garve (Leipzig, 5. Januar 1774), in: Briefe von Christian Garve (wie Anm. 62), 150 f. 68 So Johann Karl Wezel an seinen Lehrer Gottfried Konrad Böttger (Leipzig, den 29. Juni 1765); vgl. dazu auch Kurt Sprengel, Versuch einer pragmatischen Geschichte der Arzneikunde, Bd. 5, Halle 21803, 630. 69 Bekanntlich hatte die wissenschafts- und kunstfeindliche Herrnhuter Brüdergemeinde 1748 die Confessio Augustana invariata anerkannt und ist daraufhin im Jahre 1749 als Augsburgische Konfessionsverwandte mit vollständig freier Religionsausübung innerhalb der kursächsischen Landeskirche zugelassen worden (im Gegensatz zu den Brüdergemeinden in England und Preußen, die zwar auch akkreditiert worden waren, allerdings nur als Sekte). – Die Rosenkreuzer, die seit 1777 als Gold- und Rosenkreuzerorden in Mitteldeutschland aktiv waren, verstanden sich in betonter Frontstellung zu den Illuminaten „als Verteidiger [...] der christlichen Religion gegen die Säkularisierungstendenzen der Aufklärung als auch der legitimen Macht der regierenden Fürsten [...] – revolutionierende politische Ziele hingegen waren ihnen fremd“ (Renko Geffarth, Geheimrat und Rosenkreuzer. Geheimbundmitglieder in der kursächsischen Regierung und Verwaltung 1780−1794, in: Aufklärung. Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts 15 [2003], [Themenschwerpunkt: Arkanwelten im politischen Kontext, hg. von Monika NeugebauerWölk], 105−123, hier 122). 67

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Unter den Studenten konnte sich Platner in den siebziger Jahren eines regen Zuspruchs erfreuen. Davon zeugt nicht zuletzt die ihm im Leipziger Musenalmanach aufs Jahr 1776 entgegengebrachte geradezu hymnische Verehrung Dem Hn. D. Pl – tner: „Du Arzt und Weiser, Kenner der Seele wie | Des Körpers, du, dem Überredung | Herzüberströmend von Lippen träufelt“.70 Nicht wenig dazu beigetragen haben dürften Platners Vorlesungskompendien, die Anthropologie für Ärzte und Weltweise von 1772 ebenso wie die Philosophischen Aphorismen nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte (1776). In Dresden mochte man das auch so gesehen haben, denn man tat alles, um ihn im glücklichen Verfolg seiner akademischen Ambitionen zu unterstützen. Ein wichtiger Schritt hierbei war die am 25. Juni 1773 auf kurfürstliche Anordnung vorgenommene ‘Saxonisierung’, also seine Versetzung von der Meißnischen in die Sächsische Nation,71 was jedoch vielfältige Unstimmigkeiten unter den Lehrenden an der Leipziger Universität zur Folge hatte. Dem kurfürstlichen Reskript mußten erst noch drei weitere gleichen Inhalts folgen (datiert am 28. Februar, am 14. Mai und am 1. August 1774), bevor man in Leipzig der Anordnung endlich nachkam. Ernst Platner hatte selbst „den Einfall gehabt, unterm 4ten Juny 1771. um Versetzung seiner aus der Meißnischen in die Sächsische Nation, um deswillen weil Ew. Churfürstl. Durchl. ihn zum Professor Extraordin: gemacht hätten und weil er sonst noch warten müßte, ehe ein academischer Vortheil an ihn käme, unterthänigst anzusuchen“.72 Platners Kalkül, sich mit der Nationalisierung gegenüber seinen akademischen Konkurrenten Karrierevorteile zu verschaffen, sollte Erfolg beschieden sein: So etwa entschied man sich am 4. Dezember 1782 in der Wahl des aus vier Beisitzern bestehenden Concilium perpetuum73 für „Herr[n] D. Ernst Platner aus der sächsischen [...] Nation“ und erkor ihn im darauffolgenden Semester zum Rektor der Leipziger Universität.74

Leipziger Musenalmanach aufs Jahr 1776, 57−59, hier 58. Universitätsarchiv Leipzig: Rep. I/XIX/II C 26: Dr. Ernst Platners Versetzung aus der Meißnischen in die Sächsische Nation. 1774, fol. 1. Vgl. dazu auch Die jüngere Matrikel (wie Anm. 9), X. 72 Universitätsarchiv Leipzig: Rep. I/XIX/II C 26: Dr. Ernst Platners Versetzung aus der Meißnischen in die Sächsische Nation. 1774, fol. 16v−17r. 73 Vgl. Leipziger gelehrtes Tagebuch 3 (1782), 93. 74 Leipziger gelehrtes Tagebuch 4 (1783), 53: „Den 16ten [Oktober] legte der bisherige Rector Magnificus, Hr. D. Ernst Platner, Physiol. P. O. sein Amt, während dessen er 300 neue akademische Bürger, worunter drey Prinzen*), eingeschrieben, nieder [...]“. „*) Herr Friedrich Christian Erbprinz von Schleswig Holstein-Augustenburg. Hr. Friedrich Karl Emil, Prinz von Schlesw[ig] Holstein-Augustenb[urg] und Hr. Christian August, Prinz von Schlesw[ig] Holstein-Augustenb[urg]“ (ebd., 88 f.). Als Exrektor gehörte Platner im Wintersemester 1783/84 erneut dem Consilium perpetuum an (ebd., 92). 70 71

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Indessen schien Platners akademische Karriere Mitte der siebziger Jahre vorläufig an ihr Ende gekommen zu sein. Ein zur Ostermesse 1777 dem Konferenzminister Friedrich Ludwig Wurmb75 überreichtes Gesuch Platners in Dresden um „Zusicherung []einer Pension auf LebensZeit und Ertheilung einer fünften Professionis Medicinæ ordinariae mit Sitz und Stimme im Consilio Professorio“ wurde am 15. September 1777 abschlägig beschieden.76 Platner war sichtlich darum bemüht, sich ein angemesseneres Einkommen zu sichern. Der abschlägige Bescheid gehört in einen größeren Zusammenhang, der Platner 1777 in einer schweren Krisensituation zeigt. Auslöser waren seine Philosophischen Aphorismen von 1776, dessen Kapitel Skeptische Fragen über die Unendlichkeit und Fortsetzung der skeptischen Fragen Platner den Vorwurf eintrugen, „denen Grundsäzen der christlichen Religion und der Erhaltung guter Ordnung und Sitte zuwider laufende Meynungen divulgiret [i.e. unter dem Volke ausgestreuet] [und] der studierenden Jugend dergleichen dem gemeinen Wesen schädliche Principia beygebracht“ zu haben.77 Ihm wurde daraufhin am 1. Dezember 1777 ein Reskript und ein Katalog von Fragen zugestellt. Platner würde, so die Quintessenz des Katalogs, in seinen Philosophischen Aphorismen Skeptizismus und Fatalismus in Glaubensfragen propagieren – Vorwürfe, wie sie den wolffischen Philosophen seitens der crusianischpietistischen Parteigänger immer wieder gemacht worden waren. Platners Stellungnahme ist nicht überliefert. Soviel scheint aber gewiß: Die „Neue durchaus umgearbeitete Ausgabe“ der Aphorismen von 1784 reagiert auch auf die theologischen Einwände seitens des Oberkonsistoriums. Überdies ließ er der von ihm im Jahre 1781 herausgegebenen Übersetzung der Humeschen Gespräche über natürliche Religion, diese „trostlose[] Schrift“,78 die „den erschrecklichsten Atheismus und Scepticismus [...], den man sich denken kann“,79 enthalte – durch die Auseinandersetzung mit der Dresdner Behörde sensibilisiert – ein Gespräch über den Atheismus anhängen. Darin suchte er „die stärksten Ideen des brittischen Schriftstellers zu widerlegen“.80 Einen höhnenden Seitenhieb Friedrich Ludwig Wurmb (1723−1800), 1748 Hof- und Justizienrat, 1763 Geheimer Rat und 1769 Konferenzminister, protegierte seinerzeit „die fromme, und andächtige Parthei in Dresden“ (Dr. Carl Friedrich Bahrdts Geschichte seines Lebens, seiner Meinungen und Schicksale. Von ihm selbst geschrieben. Zweyter Theil, Berlin 1790, 81). 76 Universitätsarchiv Leipzig: Rep. I/VIII Nr. 151: Acta Die von Herrn D. Ernst Plattnern P. P. gesuchte Zusicherung seiner Pension auf LebensZeit und Ertheilung einer fünften Professionis Medicinæ ordinariae mit Sitz und Stimme im Consilio Professorio betr. 77 Ernst Bergmann, Ernst Platner und die Kunstphilosophie des 18. Jahrhunderts, Leipzig 1913, 313−318, hier 313. 78 David Hume, Gespräche über natürliche Religion. Nach der zwoten Englischen Ausgabe. Nebst einem Gespräch über den Atheismus von Ernst Platner, Leipzig 1781, 257. 79 Ebd., 393. 80 Ebd., 257. 75

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auf die Theologen des Oberkonsistoriums, die ihm vormals die Rechtfertigung der indizierten Philosophischen Aphorismen abforderten, konnte er sich darin dann aber doch nicht versagen: „Aber was waren das auch für Theologen!“81 Platners Renommee war beschädigt worden, der erfolgreiche Fortgang der akademischen Karriere einstweilen zweifelhaft. Und das, wo man ihm soeben erst, im August 1777, eine Dozentur in Halle angeboten hatte. Karl Abraham von Zedlitz, der seinerzeit als Staatsminister des Geistlichen Departements in Lutherischen Kirchen- und Schulsachen auch für die königlichen Universitäten verantwortlich war und darauf sann, der Göttinger Augustana mit einer gut ausgestatteten und besetzten Hallenser Fridericiana Paroli zu bieten und diese wieder „so empor zu bringen als [sie] es jemahls gewesen ist“,82 hatte u.a. Friedrich Nicolai83 wiederholt um Vorschläge zur Besetzung vakanter Stellen im preußischen Kirchen-, Schul- und Universitätswesen gebeten. So auch jetzt, als es galt, einen passenden Ersatz für den im Juni verstorbenen Professor für Philosophie Georg Friedrich Meier (1718–1777) zu finden. Das führte zu einer Offerte von Zedlitz an Platner. Er bot ihm ein Gehalt von 1000 Reichstalern.84 Platner jedoch blieb schwankend und machte seine Zusage von dem in Dresden eingereichten Gesuch um eine lebenslange Pension und Konferierung einer fünften, für ihn zu errichtenden ordentlichen Medizinprofessur abhängig. Bis Ende August hoffte er auf den Bescheid aus Dresden. Und solange bat er von Zedlitz um Bedenkzeit. Zwischenzeitlich ist der Unmut über Platner in Dresden auch in Leipzig ruchbar geworden. Platner wurde zugetragen, daß seinem Gesuch nicht stattgegeben werden würde. Er mußte zur Kenntnis nehmen, daß einem seiner ehemaligen Schüler, einem Kandidaten der Theologie, die versprochene Versorgung von von Einsiedel85 deshalb vorenthalten wurde, weil er ein Schüler Platners war. Und er mußte erfahren, „daß der Bruder86 des Asses-

Ebd., 282. Von Zedlitz an Immanuel Kant (28. März 1778), in: Kants Briefwechsel (wie Anm. 58), 212. 83 Bei Nicolai wurden nicht selten Nominierungsvorschläge eingeholt. So hatte Nicolai auch maßgeblichen Anteil an der Berufung Johann Daniel Metzgers nach Königsberg; vgl. dazu Peter Mainka, Karl Abraham von Zedlitz und Leipe (1731−1793). Ein schlesischer Adliger in Diensten Friedrichs II. und Friedrich Wilhelms II. von Preußen, Berlin 1995 (Quellen und Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte, 8), 477−502. 84 Platner an Friedrich Nicolai (16. August 1777; Berlin: Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz. Nicolai-Nachl. Bd. 58, Bl. 3r-4r). 85 Johann Georg Graf von Einsiedel (1730−1811), kursächsischer Gesandter in Paris und London, 1763 Kabinettsminister, Bruder des Thomas von Fritzsch (1700−1775) nahestehenden Reformers Detlev Carl Graf von Einsiedel (1737−1810) und wie dieser pietistisch erzogen und Mitglied der Herrnhuter Brüdergemeinde. 86 Wohl Karl Friedrich Seger. 81 82

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sor Segers,87 der verstorbene M. Seger [ihm] auf seinem Todesbette Vorwürfe gemacht h[a]tte, daß [er] ihn den Atheismus gelehrt habe“.88 Die Kollegen der Medizinischen Fakultät ‘zwingen’ ihn binnen kürzester Frist pro loco in hoc ordine capessendo zu disputieren, wozu er sich den darauffolgenden Sonntag auch anschickte, aber dann von dem außerordentlichen Professor der Philosophie Christian Friedrich Pezold (1743−1788) – Schüler und Nachfolger Crusius’ sowie Herausgeber des dritten Bandes von dessen Hypomnemata ad Theologiam Propheticam (1778) – der Kanzel verwiesen wurde. Erst am 5. September sollte er Gelegenheit haben, seine in Rede stehende, Christian Erhard Kapp gewidmete Dissertation De principio vitali sententia gemeinsam mit Ernst Benjamin Gottlieb Hebenstreit (1758−1803) verteidigen zu können. Der unguten Vorzeichen ungeachtet war Platner noch optimistisch gewesen, daß man seinem Gesuch stattgeben werde und ließ es von Zedlitz’ Gutdünken anheimgestellt, ob er den Ruf an ihn, verbunden mit einem Gehalt von 1000 Reichstalern, noch länger aufrechterhalten will: „Wählt er, oder hat er gewählt, nun wohl. So viel aber versichre ich Sie, als ein ehrlicher Mann, daß nur in dem einzigen Fall, daß das alte Gesuch wegen der beyzubehaltenden Pension im Vortrage ist und bewilligt wird, ich abgeneigt bin nach Halle zugehen“.89 Weder das eine noch das andere sollte ihm beschieden sein.

V. 1780−1790 Erst 1780, zehn Jahre, nachdem ihm eine außerordentliche Professur für Medizin zuteil geworden war, wurde er ordentlicher Professor für Physiologie in Leipzig, erhielt – nach nunmehr 13 Jahren akademischer Lehrtätigkeit – seine Besoldung als Kollegiat des Kleinen Fürstenkollegs. Die Physiologieprofessur war die vierte, geringstbesoldete ordentliche Lehrstelle.90 Die einträglichste war die Professur für Hygiene und Therapie, die zugleich verbunden war mit dem beständigen Dekanat. Sie wurde seinerzeit von Anton Wilhelm Plaz bekleidet. Ernst Gottlob Bose hatte die Professur für Pathologie und SymptomaJohann Gottlieb Seger (1735−1786), Dr. phil. et. jur., Professor und Assessor der Leipziger Juristenfakultät. 88 Platner an Friedrich Nicolai (29. August 1777; Berlin: Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz. Nicolai-Nachl. Bd. 58, Bl. 5r−6v). 89 Ebd. 90 Ursprünglich war die Physiologieprofessur die drittlozierte: Ein herzogliches Reskript aus dem Jahre 1531 bestimmte, daß in der Medizinischen Fakultät „eine dritte lectur in der physiologie, so zur artznei dienstlich, aufgerichtet werde[]“ (Urkundenbuch der Universität Leipzig von 1409 bis 1555, hg. von Bruno Stübel, Leipzig 1879 [Codex Diplomaticus Saxoniae Regiae, 2/XI], 485 f.). 87

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tologie inne, Johann Karl Gehler die zweite Professur, die der Anatomie und Chirurgie. Wieder hatte Platner als designierter Professor eine Antrittsvorlesung zu halten und dazu mit einem Programm einzuladen. Er bat zu ihr mit einem 18seitigen Programm, Palaeophysiologia de inspiratione principii vitalis betitelt. Sie sollte am 7. Dezember stattfinden.91 Gelobt wird von den Zeitgenossen an dem Programm nicht nur der Inhalt, sondern auch die „reine Schreibart“ und seine unter den akademischen Lehrern selten gewordene innige Vertrautheit mit den alten Ärzten.92 Schätzenswert sei Platners Zurückweisung der mechanizistischen Lehre vom Atemholen in Anlehnung an Georg Ernst Stahl (1659−1734). In der mit dem Programm angekündigten Antrittsrede De bonis Academiae Lipsiensis oratio schließlich rühmt er die Vorzüge der Leipziger Universität.93 Nach Ordnung und Gepflogenheit der Aszendenz durchlief Platner nun im Verlaufe mehrerer Jahre alle Stufen der Fakultätshierarchie vom Professor Quartus bis zum Professor Primarius, ohne jemals aber seine Physiologieprofessur aufzugeben – ein seinerzeit noch nicht alltägliches Faktum (der fünfte Professor, der den Lehrstuhl für Chemie innehatte, war von dem Anciennitätsprinzip ausgenommen und rückte nicht mit auf). Mit Platner fand die „thörige Einrichtung“, entsprechend der Anciennität in der Fakultäten- und Besoldungshierarchie aufzusteigen, ihr Ende.94 Im Jahre 1784 wurde er dritter, 1789 zweiter und 1796 schließlich erster Professor.95 Ungeachtet der ordentlichen Professur hatte Platner in Leipzig auch Anfang der achtziger Jahre noch einen schwierigen Stand. Der ‘Aphorismenstreit’ wirkte weiter nach. Platner suchte zwar hier und da seine skeptische Position dahingehend deutlicher darzustellen, daß sie weder Religion noch Tugend noch Glückseligkeit infrage stellte, da er von der Wahrheit völlig überzeugt ist und sie auch überzeugend bewiesen hat, daß der Mensch angebohrne Begriffe und ein angebohrnes Sistem der Vernunft habe, welches nur durch die Sinne und durch die Erfahrung entwickelt und ausgebildet wird, so

Vgl. Leipziger gelehrtes Tagebuch 1 (1780), 94. Vgl. Christian Gottfried Gruner, Kritische Nachrichten von kleinen medicinischen Schriften inn- und ausländischer Akademien vom Jahre 1780. In Auszügen und kurzen Urtheilen. Erster Theil, Leipzig 1783, 66−69. 93 Noch 1833, in Ansehung der von vielen geforderten Reformen zur Erhaltung und Verbesserung der Leipziger Universität, weiß man sich an die Platnersche Antrittsrede aus dem Jahre 1780 zu erinnern (Anonymus: De bonis academiae Lipsiensis, in: Leipziger Literatur-Zeitung. Intelligenz-Blatt. 6. Februar 1833, 49−53). 94 [Anonymus] *r., Ernst Platner, in: Denkmäler verdienstvoller Deutschen des 18ten und 19ten Jahrhunderts. Drittes Bändchen, Leipzig 1829, 55−76, hier 59 Anm. ***). 95 Leipziger gelehrtes Tagebuch 17 (1796), 94. 91 92

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ist es ihm auch sehr leicht, den Skepticismuß in Ansehung der auf die Grundsätze der reinen Vernunft beruhenden Wahrheiten zu widerlegen.96

Aber unter seinen Kollegen gab es auch weiterhin einige, die ihn seines Skeptizismus wegen in Mißkredit brachten oder zumindest zu bringen suchten. Friedrich Christian zu Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg sieht ihn geradezu „von Feinden umgeben [...], die ihn wirklich von allen Seiten anbellen und ankreischen, wie ein kleiner Hund einen grosen Bären“.97 Die gelehrten Händel schienen kein Ende nehmen zu wollen: Die Marcus-HerzKontroverse, die im Jahre 1773 mit dessen Rezension der Anthropologie von 1772 begonnen hatte, fand ihre Fortsetzung in dessen Versuch über den Schwindel (1786, 21791), die öffentliche Debatte mit Johann Karl Wezel von 1781/8298 wurde von diesem in seinem Versuch über die Kenntniß des Menschen (1784/85) weitergeführt, der entstehende und rasch an Boden gewinnende Kantianismus brachte ebenfalls neue Herausforderungen, denen Platner, wollte er seine Reputation nicht verlieren, gerecht zu werden hatte. Gerade noch zu seiner Hörerschaft zählend, erklärten sich viele häufig schon kurz danach zu seinen Widersachern.

VI. 1790−1800 Noch vermochte Platner seinen Stand in Leipzig als gefeierter Extraordinarius für Philosophie so einigermaßen zu behaupten, obgleich ihm inzwischen in der Person seines vormaligen Schülers Karl Heinrich Heydenreich (1764–1801) starke Konkurrenz erwachsen war. Der „ganz neuentstandne[] Gelehrte“, wie ihn Platner in seinen Vorlesungen abschätzig zu nennen beliebte, fand in Leipzig eine immer größere Hörerschaft und vermochte den Zulauf zu den Platnerschen Lehrveranstaltungen empfindlich zu mindern. So viel aber ist sicher, daß es mit P. sehr bergab geht, daß H. Collegia mehr frequentirt werden sollen, als die seinigen; und daß der leztere mehr die Liebe der Studenten hat, weil der erstere durch seine philosophische Arroganz, durch sein Prahlen mit der Freundschaft der Großen, etc. etc. sich viel Haß zuzieht. Denn aus Liebe zur GründFriedrich Christian zu Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg an seine Schwester Luise von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg (Leipzig, 10. August 1784), in: Hans Schulz (Hg.), Aus dem Briefwechsel des Herzogs Friedrich Christian zu Schleswig-Holstein. Briefanhang zur Biographie 1910, Stuttgart, Leipzig 1913, 12. 97 Friedrich Christian zu Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg an seine Schwester Luise von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg (Leipzig, 10. August 1784), in: ebd., 12 f. 98 Vgl. Johann Karl Wezel, Gesamtausgabe in acht Bänden, Bd. 6, hg. von Hans-Peter Nowitzki, Heidelberg 2006, 963–1052. 96

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lichkeit möchte ich die Verlaßung seines Hörsaals wohl nicht allgemein herleiten; obgleich es in der Studenten Welt, so viel ich sie kenne es im Ganzen jezt etwas beßer auszusehn scheint, und viele den Kant studiren.99

Platner trug sich daher um 1790 mit dem Gedanken, mit Immanuel Kant und Karl Leonhard Reinhold in engen persönlichen und brieflichen Kontakt zu treten, um gemeinsam über die Herausforderungen, die von der Kantischen Denkungsart ausgingen, zu beratschlagen. Reinhold schlug er einen achttägigen Gedankenaustausch über Kantische Philosophie vor.100 Später – inzwischen hatte Reinhold seinen vormaligen Lehrer Platner als einen „Schönschwätzer“ ‘kennengelernt’, der auch schon einmal „ein sehr dummvornehmes Betragen gegen [ihn] affektirte“ und ihm seine Anwesenheit zur „ekelhafte[n] Gegenwart“ werden ließ101 – schlug er ihm einen Briefwechsel vor: Sie nehmen die neue Ausarbeitung meiner Aphorismen und schreiben mir über jeden Hauptsatz Ihre Zweifel und Widersprüche ohne Rückhalt. Ich beantworte Ihnen jeden Zweifel und Widerspruch, entweder um mich zu vertheidigen, oder um Ihnen nachzugeben. Auf jeden kommt alle vierzehn Tage höchstens Ein Brief. Nachdem wir so in dem Verlauf eines halben oder ganzen Jahres über die Hauptpuncte uns gegen einander erklärt haben, schicken wir einander gegenseitig die gesammelten Briefe zurück, gehen sie nochmals genau durch und – – lassen sie drucken. Denn sonst hat das Publicum keinen Nutzen davon.102

Aus all dem ist nichts geworden. Erst im März 1796 besuchte Platner Reinhold in Hamburg, um sich dort lange mit ihm über philosophische Probleme auszutauschen. Im Wintersemester 1791/92, während seiner Arbeiten zur dritten Auflage der Philosophischen Aphorismen (1793), rang er „beständig mit Kant und Kants Genossen“, dabei stets davon überzeugt, „daß Kant von Leibnitz nicht so abweichet, als seine Freunde glauben“. Überzeugt davon, daß dieser „Mißverstand“ nachteilige Folgen zeitigen könnte, sann er auf einen persönlichen zweiwöchigen Umgang mit Kant, um „alles aufzuklären und zu berichtigen,

Johann Gottlieb Fichte an Friedrich August Weißhuhn (Leipzig, 27. September 1790), in: Johann Gottlieb Fichte. Briefwechsel 1775−1793, hg. von Reinhard Lauth, Hans Jacob, StuttgartBad Cannstatt 1968 (J. G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Briefe, 1), 175. 100 Platner an Karl Leonhard Reinhold (Leipzig, 27. August 1790), in: Ernst Reinhold, Karl Leonhard Reinhold’s Leben und litterarisches Wirken, nebst einer Auswahl von Briefen Kant’s, Fichte’s, Jacobi’s und andrer philosophirender Zeitgenossen an ihn, Jena 1825, 356 f. 101 Karl Leonhard Reinhold an Johann Benjamin Erhard (Jena, 7. August 1791), in: Denkwürdigkeiten des Philosophen und Arztes Johann Benjamin Erhard, hg. von K. A. Varnhagen von Ense, Stuttgart, Tübingen 1830, 313. 102 Ernst Platner an Karl Leonhard Reinhold (Leipzig, 21. Oktober 1793), in: Reinhold’s Leben und litterarisches Wirken (wie Anm. 100), 357–359. 99

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was darinn dunkel ist und verfälscht, oder falsch“.103 Die für das Frühjahr 1791 geplante Reise nach Königsberg kam jedoch ebenfalls nicht zustande, weil der Universität Leipzig für derartige Unternehmungen keine Geldmittel zur Verfügung standen und er sich als Privatmann finanziell überfordert sah.104 Statt zu einer Reise nach Königsberg aufzubrechen, erreichte Platner eine Einladung Friedrich Christians von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg, ihn und seine Frau Luise Augusta (1771−1843) Ende Mai nach Karlsbad und Bad Pyrmont zu begleiten.105 Die finanzielle Einbuße von mindestens 1.000 Talern Kolleggeldern und Gehalt bewogen ihn aber zunächst, das Anerbieten auszuschlagen.106 Als ihm aber das herzogliche Ehepaar anbot, den Verdienstausfall zu ersetzen,107 mochte er dem Angebot nicht länger widerstehen.108 Nach Leipzig wieder zurückgekehrt, widmete er sich der Umarbeitung seiner Philosophischen Aphorismen, die er eigentlich nicht geplant, wozu er sich dann aber doch veranlaßt gesehen hatte. „Zu dieser, besonders in den jetzigen Konjunkturen mühsamen Arbeit kamen nun eine Menge zurückgebliebener medizinischer Responsen, Programmen und Reden“.109 Überdies erbat Graf

Er meinte, daß sie auf „völligen Unglauben“ hinauslaufe und daher „sehr gefährlich werden [könne], wenn sie Überhand gewönne“ (Friedrich Christian an Schwester Luise von SchleswigHolstein-Sonderburg-Augustenburg [1764–1815] [24. Juli 1791], in: Schulz [Hg.], Aus dem Briefwechsel [wie Anm. 96], 97). „Der Eindruck den die Kantische Philosophie allenthalben macht, ist von der Art, daß ich völlig überzeugt bin, unser Zeitalter steht im Begriff zu sinken. Kant ist ein tiefer Denker; und Kants Philosophie ist ein bisher unbekannt gewesenes Resultat des menschlichen Forschungsgeistes: das sind zwey ganz verschiedene Sätze. Den ersten will niemand weniger in Zweifel ziehen, als ich: aber den andern leugne ich schlechterdings. Überhaupt, Gnädigster Herr, ist es lächerlich schon an sich selbst, eine Philosophie zu glauben welche die großen Fragen der denkenden Menschheit durch ganz besondere Künste auflöse. Medizinische Arcana glaube ich zur Noth, philosophische aber durchaus nicht“ (Ernst Platner an den Erbprinzen Friedrich Christian zu Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg [Leipzig, 19. Mai 1792], in: ebd., 104 f.). 104 Platner an Friedrich Christian von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg (Leipzig, 6. Februar 1791), in: ebd., 87 f. 105 Friedrich Christian von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg an Platner (undatiert [März 1791]), in: ebd., 89 f. 106 Vgl. Platner an Friedrich Christian von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg (Leipzig, 22. März 1791; Schleswig: Landesarchiv Schleswig-Holstein. Abt. 22. Nr. 251). 107 Er bekam 280 Louisd’or, also etwa 1400 Reichstaler als Ersatz für den Verdienstausfall; vgl. Friedrich Christian von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg an Platner (undatiert [Altona, nach dem 6. September 1791]), in: Bergmann, Ernst Platner und die Kunstphilosophie (wie Anm. 77), 321. 108 Platner an Friedrich Christian von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg (14. April 1791; Schleswig: Landesarchiv Schleswig-Holstein. Abt. 22. Nr. 251), Auszug in: Schulz (Hg.), Aus dem Briefwechsel (wie Anm. 96), 128 f. 109 Ernst Platner an den Erbprinzen Friedrich Christian zu Schleswig-Holstein-Sonderburg103

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Ludwig Heinrich Adolf zur Lippe, Onkel und Vormund Wilhelm Leopolds I., Fürst zu Lippe-Detmold (1767−1802), just zu diesem Zeitpunkt von Platner ein „umständliches Gutachten [...] in sechs Fragen“ über den Geisteszustand seines Neffen,110 das „in der Abschrift nicht weniger, als achtundzwanzig Bogen“ betrug und ihn „seit dem Anfange des Jahres am allermeisten drückte“.111 Auch Friedrich Christian Herzog zu Schleswig-Holstein, Platners vormaliger Schüler und Mäzen Friedrich Schillers,112 bat seinen Freund, allerdings angesichts der Vorgänge in Frankreich, um eine gutachterliche Auskunft, „wie man sich in Deutschland zur Revolution stellen würde, nicht die Regierungen, sondern das Volk, ob die Regierten dem Beispiele der westlichen Nachbarn folgen würden“.113 Platner reagierte auf die Anfrage mit einem Aufsatz als Beilage zu einem Brief: Ob es wahrscheinlich ist, daß das System der Freyheit jetzt in Europa Fortgang gewinnen, und vielleicht gar einen gänzlichen Umsturz der Fürstengewalt bewirken werde.114 In ihm verteidigt er die Aufklärungsbewegung mit ihrem „philosophische[n] Ideal der Freyheit[, das] wohl Augustenburg (Leipzig, 19. Mai 1792), in: Bergmann, Ernst Platner und die Kunstphilosophie (wie Anm. 77), 322. 110 Die schon früher diagnostizierte Neigung zur Geistesgestörtheit brach 1790 offen aus, weswegen er vom Reichskammergericht vorübergehend entmündigt wurde. 1795 besserte sich sein Geisteszustand wieder: „[W]erden Sie es glauben? – so vernünftig, als er es je gewesen ist“, schreibt Friedrich von Blanckenburg an Friedrich Nicolai. „Freylich heisst dieses nicht viel, aber es ist denn doch etwas; unsers Platners Gutachten kommt doch dabey sehr ins Gedränge. Er weiß alles, was er in der unglücklichen Intervalle gethan, und man mit ihm gemacht hat; er spricht davon, aber sich beklagend, und weiß wirklich über manches sich zu rechtfertigen“ (Blanckenburg an Nicolai [Leipzig, Ende Oktober 1795], in: Sigrid Habersaat, Verteidigung der Aufklärung. Friedrich Nicolai in religiösen und politischen Debatten. Teil 2: Editionsband: Friedrich Nicolai [1733−1811] in Korrespondenz mit Johann Georg Zimmermann [1728−1795] und Christian Friedrich von Blanckenburg [1744−1796]. Edition und Kommentar, Würzburg 2001 [Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft, 316], 271). 111 Ernst Platner an den Erbprinzen Friedrich Christian zu Schleswig-Holstein-SonderburgAugustenburg (Leipzig, 19. Mai 1792), in: Bergmann, Ernst Platner und die Kunstphilosophie (wie Anm. 77), 322. 112 Friedrich Christian unterstützte Schiller ab 1791 fünf Jahre lang mit einem Stipendium von jährlich 1.000 Talern. 113 Schulz (Hg.), Aus dem Briefwechsel des Herzogs Friedrich Christian (wie Anm. 96), 150. Platner verneint die Frage. Seine Abhandlung ist eine Beilage zu einem Brief aus dem Jahre 1793 [vor dem 15. September]; vgl. Hans Schulz, Leipziger Stimmen von 1793 über Deutschland und die Revolution, in: Euphorion 17 (1910), 48–55 und 298–306, zu Platner ebd., 51ff. 114 Platner an den Erbprinzen Friedrich Christian zu Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg (undatiert [vor dem 15. September 1793]), in: Schulz, Leipziger Stimmen (wie Anm. 113), 53: „Wenn das geschehen sollte, daß der Druck unter den man jetzt die philosophische und politische Freyheit zu zwingen sucht, den Widerstand reizte“, schreibt er, „dann würde, glaube ich selbst, eine gänzliche Veränderung der Dinge nahe seyn. Allein aber daran zweifle ich: und darum habe ich Ihre Aufgabe verneinend beantwortet. Ich schäme mich die Bogen, welche meine Gedanken darüber enthalten, beyzulegen; weil sie so schlecht geschrieben sind“.

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die Folge von Empörungen, aber ich glaube nicht so leicht die Ursache derselben seyn“115 könne. Die politische Aufklärung werde in Deutschland zunächst nur zu „eine[r] stille[n] Vereinigung denkender Köpfe“ führen, vermutlich zudem noch eine Reaktion auf den Plan rufen, wodurch die Aufklärungsbewegung dezimiert werde.116 Häufig kam er – auch in seinen Vorlesungen – auf soziale Mißstände zu sprechen: Dann prangerte er die mangelhafte Gesetzgebung, die Kindermord und Armut bewirkten, das Fehlen wahrhafter religiöser Gesinnungen ebenso scharf an wie die Intention vieler, „das Volk in der Verstandesunmündigkeit“ zu erhalten und ihm „die höhere Cultur zu rauben“.117 Friedrich Christians Hochschätzung Platners litt auch in der Folgezeit keinerlei Einbuße. Im Gegenteil: Nicht nur, daß er – der damals das dänische Universitätspatronat verwaltete und einer dafür gebildeten Kommission vorstand – anstelle Reinholds lieber seinen philosophischen Mentor Platner als Nachfolger Johann Nikolaus Tetens’ in Kiel118 gesehen hätte. Auch für die von ihm in Vorbereitung einer grundlegenden Reform des dänischen Universitätsund höheren Gelehrtenschulwesens ausgearbeiteten Aufsätze119 hatte er sich neben Jens Immanuel Baggesen (1764−1826) und Christian Gottlob Heyne

Ebd., 54. Ebd., 299. 117 [Anonymus], Ernst Platner (wie Anm. 94), 69. 118 Tetens (1736−1807) hatte die Professur der Philosophie in Kiel von 1776 bis 1789 inne. 1789 berief man ihn ins Finanzkollegium nach Kopenhagen. An Reinhold erging der Ruf im August 1793 – auf Vermittlung Lavaters. Die Christian-Albrechts-Universität zählte damals zwar nur etwa 150 Studenten. Aber das Fünffache des Jenaer Gehalts wog schwerer als der im Vergleich zu Jena eingeschränktere Wirkungskreis (Peter Rohs, Philosophie, in: Geschichte der Philosophischen Fakultät. Teil 1, hg. von Peter Rohs u.a., Neumünster 1969 [Geschichte der Christian-Albrechts-Universität Kiel 1665−1965; 5/1], 34). Nachfolger Reinholds in Jena war Johann Gottlieb Fichte. Friedrich Christians Ansinnen, seinen Leipziger Lehrer nach Kiel als Nachfolger Tetens’ zu berufen, standen jedoch Platners hohe Gehaltsforderungen entgegen (Schulz [Hg.], Aus dem Briefwechsel [wie Anm. 96], 161). Platner war aber auch nicht ernsthaft interessiert: „Eine Professur in Kiel wäre meine Sache nicht gewesen: böte man mir aber eine Professur in Kopenhagen an, solche Bedingungen dabey vorausgesetzt, die mich für mein hier sehr ansehnliches Einkommen entschädigte; so sehr ich auch Sachsen und Leipzig, den Kuhrfürst und meine Freunde hier, liebe: ich käme ganz gewiß. Dänemark ist jetzt der einzige Staat in Europa, in welchem ich wünschen könnte, zu leben“ (Platner an den Erbprinzen Friedrich Christian zu Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg; undatiert [vor dem 15. September 1793]; Schleswig: Landesarchiv Schleswig-Holstein. Abt. 22. Nr. 251). 119 Erbprinz Friedrich Christian zu Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg an Platner (15. September 1793; Schleswig: Landesarchiv Schleswig-Holstein. Abt. 22. Nr. 251). Beilagen: Antwort zu Platners, Ob es wahrscheinlich ist, daß das System der Freiheit jetzt in Europa Fortgang gewinnen, und vielleicht gar einen gänzlichen Umsturz der Fürstengewalt bewirken werde (1793) und Friedrich Christians Aufsatz, Meine ganze Theorie vom öffentlichen Erziehungswesen .... 115 116

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(1729−1812) Platner als Gutachter auserkoren.120 Friedrich Christian ging in seinen zur Vorlage in der Kommission zur Reform des öffentlichen Erziehungswesens bestimmten Aufsätzen von „der Eintheilung der Menschen in höhere und niedere, oder welches gleichbedeutend ist, in mehr oder minder gesittete Ständen“ aus. Darin sei der Zweck der unterschiedlichen Bildungsanstalten beschlossen. Seine nur kursorischen Darlegungen rechtfertigte er mit dem Hinweis, daß „weitere Ausführung[en] nur ein Commentar Ihrer Aphorismen oder eine Abschrift Ihrer Vorträge seyn würde“.121 Nachdem Friedrich Christian sich über die allgemeinen Grundsätze erklärt hatte, wandte er sich mit weiterführenden Fragen an Platner, so beispielsweise: „Welche Lehrbücher die allen Forderungen ein Gnüge leisten, haben wir schon; welche fehlen noch?“ Platner, der Friedrich Christian bereitwillig seiner Unterstützung versicherte, um Dänemarks Aufklärung voranzubringen, kam zwei Jahre später, im Jahre 1795, erneut darauf zu sprechen, just zu dem Zeitpunkt, als er gerade sein Lehrbuch der Logik und Metaphysik (1795) verfertigte. Er würde gerne, wenn das gewünscht werde, ein philosophisches Lehrbuch für die gelehrten Schulen und eines für die Universitäten in Dänemark ausarbeiten. Daß diese lateinischen Lehrbücher auch hinsichtlich ihrer grammatischen und stilistischen Qualitäten durchaus hohen Ansprüchen genügen werden, dafür bürge er „als ein alter Schüler von Ernesti“.122 Allem Anschein nach ließ sich das Projekt nicht realisieren; jedenfalls hat Platner kein solches Lehrbuch publiziert. Gleichwohl stand Platner auch in den kommenden Jahren Friedrich Christian hilfreich, wenn auch etwas glücklos zur Seite: Als es galt, für das Direktorat des im Rahmen der dänischen Schul- und Universitätsreformen neu zu errichtenden Schulz (Hg.), Aus dem Briefwechsel (wie Anm. 96), 168; vgl. die Briefe Friedrich Christians zu Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg an Platner (Augustenburg, 15. September 1793; Schleswig: Landesarchiv Schleswig-Holstein. Abt. 22. Nr. 251) und an Heyne (Gravenstein, 26. Oktober 1793), in: Schulz (Hg.), Aus dem Briefwechsel (wie Anm. 96), 123 und 127– 129. 121 Vgl. dazu Johann Friedrich Reichardts (1752−1814) Einrede „Freiheit für Alle; zum neuen Jahr“, in: Deutschland (1796), 1. Stück, 7–20, 3. Stück, 281–297. Darin heißt es u.a., nachdem er die kantische Philosophie als „die einzig wahre Art zu philosophiren“ und „einzig wahre[] Philosophie“ gepriesen (ebd., 284) und Männer wie Beck, Fichte, Fülleborn, Heidenreich, Jakob, Kiesewetter, Reinhold, Snell, Schmidt und Schulz lobend erwähnt hat (ebd., 285): „Ein Mann [gemeint ist Platner], der sich weiser dünkt als die Weisesten, der selbst auf die großen Entdekkungen und herkulischen Werke unsers großen Reformators in der Philosophie [Kant] mit vornehmlächelnden Beifall herabsieht, und durch hämische armselige Spötteleien die Achtung für ihn bei seinen Zuhörern untergräbt, dieser Mann mißbraucht seine schätzbare Gabe zu lebhaftem eindringenden Vortrage um seinem Auditorium von höherer und niederer Tugend vorzureden; theilt die ganze Menschheit in Zwei Classen“ (ebd., 292). 122 Platner an den Erbprinzen Friedrich Christian zu Schleswig-Holstein-SonderburgAugustenburg (Leipzig, 18. März 1795; Schleswig: Landesarchiv Schleswig-Holstein. Abt. 22. Nr. 251). 120

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Königlichen philologischen Seminars in Kopenhagen einen geeigneten Mann zu finden, war es Platner, der für Friedrich Christian als Unterhändler tätig wurde, Vorschläge machte und die Verhandlungen führte. Er brachte dafür zunächst den Hallenser Philologen Friedrich August Wolf (1759−1824) ins Gespräch. Nachdem die Unterhandlungen mit ihm nicht den gewünschten Verlauf nahmen – in Kopenhagen kursierte das Gerücht von Wolfs angeblicher Unsittlichkeit, die Platner postwendend dementierte123 –, schlug Platner einen seiner vormaligen Schüler, den Weimarer Philologen und Direktor des dortigen Gymnasiums Karl August Böttiger (1760−1835) vor, der die „Schulwissenschaften mit Philosophie und Geschmack in einem hohen Grade verbindet: und dabey ein Mensch, ein Gesellschafter: kurz ein trefflicher, seltner Gelehrter“124 ist. Sollte Böttiger dem Rufe nicht folgen, würde er an den Jenaer Heinrich Carl Abraham Eichstädt (1772−1848)125 – „ein mächtiger Philolog, einer der besten Schüler von Reiz und Morus“126 – herantreten und ihm die Stelle antragen.127 Noch 1810 erbat sich Friedrich Christian, als sein Bruder Christian August als Karl August Kronprinz von Schweden (1768−1810) am 28. Mai für 123 Platner an den Erbprinzen Friedrich Christian zu Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg (undatiert [1798]. In dem darauffolgenden Schreiben heißt es dann aber, daß die Vorwürfe, wie er inzwischen habe erfahren müssen, doch nicht ganz unbegründet gewesen seien (Platner an den Erbprinzen Friedrich Christian zu Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg; Leipzig, 26. August 1798; Schleswig: Landesarchiv Schleswig-Holstein. Abt. 22. Nr. 261). 124 Platner an Friedrich Christian zu Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg (Leipzig, 7. Februar 1798; Schleswig: Landesarchiv Schleswig-Holstein. Abt. 22. Nr. 261). Vgl. dazu Otto Francke, Karl August Böttiger, seine Anstellung als Gymnasialdirektor in Weimar und seine Berufungen, in: Euphorion 3 (1896), 53−64, 408−421, besonders 63, 409 f., sowie Julia A. Schmidt-Funke, Karl August Böttiger (1760–1835). Weltmann und Gelehrter, Heidelberg 2006 (Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800. Ästhetische Forschungen, 14), 30, 33 f. 125 Vgl. Walter Görner, Kanzler Christian Gottlob von Voigt, sein Sohn und Geh. Hofrat Universitäts-Professor Dr. Heinrich Karl Abraham Eichstädt. Heimatforschung, zugleich eine Nachlese zu dem 1925 im Schlosse Benndorf aufgefundenen literarischen Schatz, Masch. schr. o.J. [UB Jena: HSB:DB:3000:Eichstädt:o.J.], Bl. 43: „Seine Hauptbildung verdankte er Morus, Platner, Beck und Reiz“. Vgl. auch Franz Volkmar Reinhard an Wilhelm Traugott Krug (Dresden, 5. Januar 1795), in: Krug’s Lebensreise in sechs Stazionen von ihm selbst beschrieben. Nebst Franz Volkmar Reinhard’s Briefen an den Verfasser. Neue, verbesserte und vermehrte, Ausgabe, Leipzig 1842, 272 f. 126 Platner an den Erbprinzen Friedrich Christian zu Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg (Leipzig, 5. Dezember 1798 und vom 6. Februar 1799; beide Schleswig: Landesarchiv Schleswig-Holstein. Abt. 22. Nr. 251). Eichstädt bezeichnet sich selbst als Platnerschüler (Platner an Heinrich Carl Abraham Eichstädt; Leipzig, 5. Februar 1798; Jena: Universitätsarchiv: EN 23,57). 127 Platner an Karl August Böttiger (Leipzig, 9. November 1798; Dresden: Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek. Nachlaß Böttiger. Mscr. Dresd. h 37, Vermischtes Folio, R 1,2) und an den Erbprinzen Friedrich Christian zu Schleswig-Holstein-SonderburgAugustenburg (Leipzig, 5. Dezember 1798).

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alle unerwartet einen Schlaganfall (‘Schlagfluß’) erlitten hatte und verstarb und sich rasch das Gerücht verbreitete, er sei einem Giftmord zum Opfer gefallen, von Platner ein ärztliches Gutachten.128 Im Jahre 1793 unternahm Platner eine Reise ins Württembergische und besuchte Tübingen, Stuttgart und Ludwigsburg. Jacob Friedrich Abel (1751– 1829)129 hatte Platner an Friedrich Wilhelm von Hoven (1759–1838),130 Schillers „familiärste[n] Jugendfreund[]“ und ersten Physicus Ludwigsburgs, empfohlen. Von Hoven berichtet in seiner Biographie (1840), daß er Platner „überall hin[führte], wo etwas Interessantes für ihn zu sehen war, in das herzogliche Residenzschloß, welches er dem Schlosse in Versailles sehr ähnlich fand, jedoch mit der Bemerkung, daß es viel kleiner sei, in die Porzellanfabrik, in das Zeughaus, in das Irrenhaus usw. Überall machte er mehr tadelnde als lobende Bemerkungen, und am wenigsten schien er mit dem Irrenhaus zufrieden zu sein“. Sein arrogantes „vornehme[s] Wesen“, das Platner während seines Besuches allenthalben merken ließ, mochte von Hoven sogar teilweise entschuldigen und es auf den Umstand zurückführen, daß der Herzog,131 der ihn gern als Kanzler seiner Karls-Universität gesehen hätte, [ihn] auf Schulz (Hg.), Aus dem Briefwechsel (wie Anm. 96), 333, und Platners Brief an den Erbprinzen Friedrich Christian zu Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg (Leipzig, 10. Juli 1810; Schleswig: Landesarchiv Schleswig-Holstein. Abt. 22. Nr. 251). 129 Abel war seit 1772 Professor der dritten Klasse, ab 1774 Professor für Philosophie an der Hohen Karlsschule auf der Solitude bei Stuttgart – unter seinen Schülern befand sich bekanntlich Friedrich Schiller. Von 1790 an war er Professor für praktische Philosophie an der Tübinger Universität und unterrichtete ein Jahr lang, 1782, theoretische Philosophie unter Zugrundelegung von Platners Philosophischen Aphorismen, mit dessen Ansichten er großenteils übereinstimmte (vgl. Wolfgang Riedel, Einleitung, in: Jacob Friedrich Abel. Eine Quellenedition zum Philosophieunterricht an der Stuttgarter Karlsschule [1773−1782]. Mit Einleitung, Übersetzung, Kommentar und Bibliographie, hg. von Wolfgang Riedel, Würzburg 1995, 375−450, hier 400). Christoph Meiners hatte zweimal, 1785 und 1788, vergeblich versucht, ihn für die Göttinger Universität zu gewinnen. 130 Von Hoven, der bereits während seiner Studienzeit an der Karlsschule Platners Anthropologie für Ärzte und Weltweise (1772) studiert hatte und sich insbesondere auch an dessen medizinischen Anschauungen interessiert zeigte, praktizierte seit 1780 in Ludwigsburg, zunächst als Armenarzt. Seit 1785 hatte er die zweite, seit 1793 die erste Physicatstelle inne. Mit dem ersten Physicat verbunden war die Aufsicht über das Waisenhaus, das Zucht- und Arbeitshaus sowie die Irrenanstalt. Von letzterer berichtet von Hoven, daß er sie Platner gezeigt und verfügt habe, diesem einzelne Zellen zu öffnen. D.h., daß er zum Zeitpunkt von Platners Besuch bereits als erster Physicus amtierte. Herzog Carl Eugen starb am 24. Oktober 1793. Platner weilte also in der Zeit nach von Hovens Antritt der ersten Physicatstelle und vor dem Ableben des Herzogs in Ludwigsburg. 131 Herzog Carl Eugens Prestigeprojekt Hohe Karlsschule wurde im März 1773 gegründet. Seit Ende der siebziger Jahre trug sich der im unweit Stuttgarts gelegenen, 1785 erbauten Hohenheimer Schloß residierende Herzog mit einer Reform der Universität Tübingen im Sinne einer ‘Militärakademie’, die den Nachwuchs an Hof- und Staatsbeamten sowie militärischen Führungskräf128

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eine solche Art auszeichnete, daß auch der bescheidenste Gelehrte hätte stolz werden müssen. Er lud ihn, was schon an sich eine außerordentliche Auszeichnung war, nach Hohenheim ein; aber diese Auszeichnung wurde noch dadurch erhöht, daß er nicht nur Professoren der Universität, sondern auch zwei Geheimeräte zu seiner Begleitung dahin aufforderte. Die Gelehrten sind überhaupt eitel auf Fürstengunst, und wer will es Platner verdenken, wenn er es auch war.132

Zur Ernennung zum Kanzler der Karlsuniversität in Stuttgart ist es indes nicht gekommen. Der Tod des Herzogs bedeutete zugleich das Aus der Einrichtung. Anfang April 1795, zur Jubilatemesse, unternahm Platner erneut eine Reise, die ihn nun nach Eulenburg (Eilenburg?), Wittenberg, Berlin und Torgau führte. Im darauffolgenden Jahr wurde er als Erstlozierter unter den medizinischen Ordinarien beständiger Dekan seiner Fakultät133 und zugleich kurfürstlichsächsischer Hof- und Justizrat.134 Er war institutionell nun so gestellt, daß er einige zwischenzeitlich ins Stocken geratene universitäre Reformvorhaben wieder auf den Weg und zu einem guten Ende zu bringen vermochte.

VII. 1801−1818 Am 10. Mai 1801 suchte Platner mit einem Schreiben beim Dresdner Geheimen Consilium um Konferierung einer außerordentlichen Professur der Philosophie nach: Die mehr als dreissigjahrige Gewohnheit, tägl:, neben andern mir obliegenden Lehrstunden, eine philosophische Vorlesung zu halten, hat, in Verbindung mit einer gewißen enthusiastischen und durch das Studium der Physiologie berufsmäßig gewordenen Liebhaberei an der Weltweisheit selbst, schon manchmal den Wunsch in mir erregt, von

ten sichern sollte. Die Universitätsreform scheiterte aber am Widerstand der Tübinger Professorenschaft. Daraufhin wurde die Hohe Karlsschule auf der Solitude begründet. Nach ihrem Umzug nach Stuttgart im Jahre 1775 wurde sie zu einer Gesamthochschule ausgebaut, an der alle universitären Fächer, außer Theologie, in insgesamt sechs Fakultäten gelehrt wurden. Am 4. Januar 1794, kurz nachdem Carl Eugen verstorben war (am 24. Oktober 1793), ließ sein Bruder und Nachfolger Ludwig Eugen Johann (1731−1759) die Einrichtung schließen. 132 Friedrich Wilhelm von Hoven: Lebenserinnerungen [=Biographie des Doktor Friedrich Wilhelm von Hoven [...]. Von ihm selbst geschrieben und wenige Tage vor seinem Tode noch beendiget], hg. von Hans-Günther Thalheim, Evelyn Laufer, Berlin 1984, 113−115, hier 114 f. 133 Das medizinische Dekanat war wie das juristische in Leipzig seinerzeit noch ein sog. perpetuierliches. 134 „Andere Beförderungen und Ehrenbezeugungen. | Se. Kurfürstl. Durchl. haben den Professor der Arzneywissenschaft, Hrn. D. Platner, zum Hofrath [...] ernannt“ (Leipziger gelehrtes Tagebuch 17 [1796], 106). Vgl. auch Neue allgemeine deutsche Bibliothek 29 (1797), Intelligenzblatt Nr. 4, 25.

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einer Wissenschaft, die ich so sehr schätzte, und in der ich so lange Zeit gelehrt hatte, den academischen Titel eines Professors zu führen.135

Verstimmungen innerhalb der Philosophischen Fakultät waren vorauszusehen.136 Ausschlaggebend war der für ihn mittlerweile unerträgliche, da erniedrigende, in der althergebrachten Universitätsverfassung festgeschriebene Umstand, daß er als Magister legens gehalten war, jede am Schwarzen Brett anzuschlagende Vorlesungsankündigung vom jeweiligen Dekan der Philosophischen Fakultät zuvor unterschreiben zu lassen. Der Bitte um Konferierung einer außerordentlichen philosophischen Professur wurde am 13. Mai 1801 mit der Begründung stattgegeben, daß [d]ie so viele Jahre hindurch von ihm mit Auszeichnung gehaltenen, theils eigentlich philosophischen, theils allezeit mit dieser Wissenschaft verwandten Vorlesungen sowohl die von ihm zum Besten der academischen Verfassung von Zeit zu Zeit angewendeten Bemühungen, nebst dem durch seine Schriften und sonst im Ausland erworbenen Vertrauen, [...] der Universität mancherlei nicht zu verkennende Urtheile gewähret [haben]; und Uns hat hiernächst insonderheit zu gnädigsten Wohlgefallen gereicht, daß derselbe den Grundsätzen der neuen speculativen Mode-Philosophie sich nie conformiret, vielmehr in seinen Schriften und dem Vernehmen nach, auch auf dem Catheder seine Zuhörer dafür iederzeit verwarnet hat. Wir haben dahero zum Beweiß Unserer gnädigsten Zufriedenheit, ermeldeten Hofrathe D. Platner, die gebetene Professionem Philosophiae extraordinariam hiermit, ohne vorgängige weitere Befragungen, so fort zu conferiren, Uns bewogen gefunden […].137

Das bot zugleich die Gelegenheit, die Prorektoren zu ermahnen und die akademischen Kollegen zu erinnern, daß auf diejenigen Grundsätze und Lehren, die ein ieder von ihnen in theologicis, philosophicis und politicis auf dem Catheder, im Druck und durch Beispiel zu verbreiten, anderweit verständiget und ernstlich erinnert werden, wie auf Beweise Unserer Gnade, von welcher Art sie gesucht werden möchten, bei befundener Entfernung von der Wahrheit und Brauchbarkeit, oder Verführung der Zuhörer und Leser zu falschen und schädlichen Grundsätzen in ieder Art von Wissenschaft, sich niemals Hoffnung zu machen sey.138

SächsHStA, 10088, Oberkonsistorium, Loc. 1776, Vol. V: Acta Die Professiones philosophiae extraordinarias und deren Besetzung auf der Universität zu Leipzig betr. Ober-Consistorium Anno 1795–1806, 65r. 136 Vgl. Universitätsarchiv Leipzig. Phil. Fak. B 15 [alte Sign.: Rep. I/VII. No. 45]: Acta Decanatus, 361 f. 137 SächsHStA, 10088, Oberkonsistorium, Loc. 1776, Vol. V: Acta Die Professiones philosophiae extraordinarias und deren Besetzung auf der Universität zu Leipzig betr. Ober-Consistorium Anno 1795−1806, p. 64r. Vgl. auch UAL PA 812, fol. 1r−2r. 138 Ebd., 64v. 135

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Der Anordnung ungeachtet hat ihn die Philosophische Fakultät allem Anschein nach zunächst nicht renuntiiert.139 In den Vorlesungsverzeichnissen wird von der Ernennung zunächst keine Notiz genommen. Erstmals im Sommersemester 1806 wird er als designierter außerordentlicher Professor angeführt. Das blieb bis zum Wintersemester 1810/11 so. Platners Philosophie stieß – anders als noch 1777 – in Dresden nun ganz offensichtlich auf Gegenliebe: „Niemand auf der Universität war am Hofe in Dresden geschätzter als er“.140 Denn das Dresdner Oberkonsistorium sah die Leipziger Entwicklungen in der Philosophischen Fakultät Anfang des 19. Jahrhunderts mit Sorge: „[D]as arme Leipzig wird [...] Mühe haben, sich zu behaupten, da es, wie man es nun erfährt, an Halle eine gefährliche Nebenbuhlerin erhalten hat, als es bisher daran gehabt hat“.141 1808 war es dann soweit. Es zeigte sich, daß die Befürchtungen keineswegs unbegründet waren. Nach Ecks und Seydlitz’ Tode142 gab es niemand mehr außer Platner, „der sich eines großen Applauses zu erfreuen hat[te]“.143 Deshalb wurden die schon 1806 geplanten, der Kriegswirren wegen einstweilen jedoch ausgesetzten Visitationen wieder aufgenommen und eine Commission zur Revision und Reformation der Leipziger Universität installiert, mit der Aufgabe, der Universität „eine ganz neue den gegenwärtigen Umständen angemessene Organisation“ zu verschaffen. In der zweiten Hälfte des Jahres 1808 nahmen die Visitationen ihren Anfang und dauerten bis zu Beginn des neuen Jahres an. Ziel war es, die Verwaltung der vernachläßigten Güter und Fonds zu reorganisieren, um damit die Gehälter der Professoren nachhaltig aufzubessern und der Universität durch diese „Wiedergeburt“ mehr Studenten und im Ausland einen besseren Ruf zu verschaffen.144 Man war zudem gesonnen,

Gleichwohl vermeldet das Leipziger gelehrte Tagebuch von 1801: „Von Sr. Kurfürstl. Durchl. [ist] Hr. Hofr. D. Platner zum außerordentlichen Professor der Philosophie, ernannt worden“ (Leipziger gelehrtes Tagebuch 22 [1801], 118). Vgl. auch Neue allgemeine deutsche Bibliothek 61 (1801), 2, Intelligenzblatt, 506. 140 [Anonymus] *r, Ernst Platner (wie Anm. 94), 63. 141 Franz Volkmar Reinhard an Wilhelm Traugott Krug (Dresden, 4. Januar 1808), in: Krug’s Lebensreise (wie Anm. 125), 323. 142 Die Nachfolge Seydlitzens wurde Wilhelm Traugott Krug (1770–1842) angetragen, der dem Ruf Ostern 1809 folgte. Zu Krugs Disputation pro loco erschienen wenige der Professoren, „außer dem alten Platner, der aber auch nur kam, um mir den locus streitig zu machen, sich jedoch durch einige Schmeicheleien besänftigen ließ und nachher immer in gutem Vernehmen mit mir gelebt hat, ob ich ihm gleich einen guten Theil seiner Zuhörer entzog. Er zeigte sich hier philosophischer, als späterhin bei einer andern Gelegenheit, über welche den Schleier fallen zu lassen die Achtung gegen den übrigens so hochverdienten Mann gebietet“ (ebd., 137). 143 Franz Volkmar Reinhard an Wilhelm Traugott Krug (Dresden, 28. März 1808), in: ebd., 325. 144 Ebd., 326. 139

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„durch Aufhebung unnütze[r] Formalitäten“ die Berufung auswärtiger Professoren zu erleichtern.145 In seiner Funktion als ständiger Dekan (Decanus perpetuus) der Medizinischen Fakultät verwaltete Platner neben dem Amt als Direktor des medizinischen Spruchkollegiums und des Medizinalbezirkes auch mehrere Stiftungen und Fonds. Die Visitation brachte Unregelmäßigkeiten bei deren Finanzverwaltung zutage, begleitet von Unredlichkeitsbezichtigungen und Kabalen seitens der Fakultätskollegen, die ihn „fürchterlich angegriffen haben“.146 Zwar haben sich alle Bereicherungsvorwürfe als nichtig herausgestellt, aber die festgestellten Mängel in der Finanzverwaltung führten doch dazu, daß die Visitationskommission das ständige Dekanat kassierte.147 Von da an wechselte es – unter Absehung von einer vorbestimmten Reihenfolge – semesterweise unter den vier ordentlichen Medizinprofessuren.148 Kompensatorisch wurde Platner der Titel eines Professor primarius verliehen – ein Titel, den es sonst nicht gab, auch in Zukunft nicht mehr geben sollte. 1811 bekam er eine neugestiftete ordentliche Professur der Philosophie übertragen, die er aber wohl nicht angetreten hat.149 Im Vorlesungsverzeichnis vom Sommersemester 1811 wurde er als Primarius der Medizinischen Fakultät ausgewiesen; im darauffolgenden Semester firmierte er zudem als designierter ordentlicher Professor für praktische Philosophie. Im Wintersemester 1812/13 gab es eine neuerliche Umbenennung: nunmehr wurde er als Primarius der Medizinischen Fakultät und ordentlicher Professor der Physiologie mit Pathologie sowie Professor der praktischen Philosophie ausgewiesen. Diese Benennung blieb ihm dann bis an sein Lebensende erhalten. 145

Franz Volkmar Reinhard an Wilhelm Traugott Krug (Dresden, 2. September 1808), in: ebd.,

329. Platner an Karl August Böttiger (Leipzig, 12. November 1809; Dresden: Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek. Nachlaß Böttiger. Mscr. Dresd. h 37, Bd. 149 quart. No. 37). 147 Es ging wohl nur um „Einhundert Thaler in irgend einer Armencasse“ (Platner an Karl August Böttiger; Leipzig, 2. September 1809; Dresden: Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek. Nachlaß Böttiger. Mscr. Dresd. h 37, Bd. 149 quart. No. 36). Vgl. auch Platner an Karl August Böttiger; Leipzig, 12. November 1809; Dresden: Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek. Nachlaß Böttiger. Mscr. Dresd. h 37, Bd. 149 quart. No. 37. 148 Carl Christian Carus Gretschel, Die Universität Leipzig in der Vergangenheit und Gegenwart, Dresden 1830, 133, und Emil Friedberg, Die Universität Leipzig in Vergangenheit und Gegenwart, Leipzig 1898, 10, Anm. 3. 149 „Mein Vater, Ernst Platner, war Professor der Medizin, und später der Philosophie, zu Leipzig, obschon er die letztere Professur, so viel ich weiß, nicht angetreten hat“ (Eduard Platner, Autobiographische Skizze, in: Grundlage zu einer Hessischen Gelehrten-, Schriftsteller- und Künstler-Geschichte, Bd. 19: Vom Jahre 1806 bis zum Jahre 1830, hg. von Karl Wilhelm Justi, Marburg 1831, 512). 146

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Wie an anderen Universitäten war es auch in Leipzig üblich, Jubilantes und Semisaeculares die akademischen Diplome zu erneuern. Auch Platner konnte 1816 sein 50jähriges philosophisches Magister- bzw. Doktordiplom150 feiern und hierfür ein Ehrendiplom in Empfang nehmen. Im Jahr darauf, 1817, beging er sein 50jähriges medizinisches Doktorjubiläum.151 Unter den Zuhörern seiner aus diesem Anlaß gehaltenen anderthalbstündigen Vorlesung über die Freiheit des Willens (de libero arbitrio) in Bezug auf die Zurechnung (imputatio) befanden sich auch einige, die bereits 1767 unter seiner Hörerschaft gewesen waren, wie etwa der Rektor Christian Daniel Beck, der als ordentlicher Professor für griechische und lateinische Sprache im Namen des Publikums die Worte des Dankes an den Hrn. Hofr. Platner nach seiner Vorlesung am 12. Mai 1817, dem Tage seines Lehrerjubiläums,152 gesprochen hatte. Im Anschluß daran, um 13 Uhr, versammelten sich fast 300 Gäste zu einem „festlich frohen Mahle in dem Konzertsaale des Gewandhauses“, in unmittelbarer Nachbarschaft zu seinem vielgerühmten Auditorium. Währenddessen wurde ihm ein auf Pergament gedrucktes und elegant eingebundenes, von Clodius verfaßtes Gedicht „Ihrem Lehrer Ernst Platner bey der Jubelfeyer seines funfzigjährigen Lehramtes seine frühern Zuhörer“ überreicht.153 Ein weiteres, in griechischer Sprache, dedizierte ihm der Magister Beyer. „Am Abend brachten ihm die Studirenden unter Fackelschein und Musikbegleitung die Beweise ihrer Verehrung und Liebe dar“.154 Die Freude war jedoch getrübt: Schmerzlich vermißte Platner eine seinen Verdiensten um die Universität und Sachsen entsprechende Würdigung seitens des sächsischen Königshauses.155 Platner vereinsamte nun zusehends. Halt fand er zuletzt fast nur noch in der Harmonie.156 Ein Jahr später, kurz nach dem Beginn der Sommervorlesungen, Vgl. auch Universitätsarchiv Leipzig. Phil. Fak. B 128a: Procancellariats-Buch 1 (Promotionsbuch der Philosophischen Fakultät) (1757−1891), 92. 151 Universitätsarchiv Leipzig. Med. Fak. A VI 10, Bd. 1, fol. 335r.v: Absprache der Fakultätsmitglieder, in welcher Form („elegante Kapsel“) das zu druckende Ehrendiplom (Velin oder Pergament) Platner überreicht werden soll. Der Aktenfaszikel im SächsHStA Dresden: Hofrath Dr. Ernst Platner feiert am 12. Mai 1817 sein 50-jähr. Jubiläum als Lehrer an der Universität Leipzig und erhält einen Brillant-Ring. Acta die Auszeichnung verdienter Lehrer der Univers. Zu Leipzig pp. Loc. 2144, Bl. 1 f. ist dem II. Weltkrieg zum Opfer gefallen. 152 Vgl. Anm. 5. 153 Ihrem Lehrer Ernst Platner bey der Jubelfeyer seines funfzigjährigen Lehramtes seine frühern Zuhörer, Leipzig am zwölften May 1817. 154 Anonymus, Ernst Platner’s Jubelfeyer seines akademischen Lehramtes, am 12. Mai d. J., in: Zeitung für die elegante Welt Nr. 96 (Sonnabends, den 17. Mai 1817), 777−781. 155 Johann Friedrich August Eisfeld, Nachtrag zu Platners Lebensskizze, in: Zeitung für die elegante Welt Nr. 61 (Freitags, den 26. März 1819), 486. 156 Hierbei handelt es sich um eine auf einhundert Mitglieder festgelegte und in zwei Klassen gegliederte Gesellschaft der Leipziger Kaufleute, Universitätsprofessoren und Beamten, die im September 1776 gegründet wurde, um unverschuldete Armut zu lindern, „Gutes zu tun und die 150

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machte sich bei ihm eine Gedächtnisschwäche bemerkbar. Dennoch fuhr er fort, bis Ostern zu lesen. Zuweilen bemerkten die Hörer jetzt einen „Sprung in seinen Ideen [...], die er aber größtentheils noch glücklich genug zu wiederholen und neu darzustellen wußte. Im Mai 1818 nahm seine Schwäche noch mehr zu, und der Irrsinn trat in den Pfingstfeiertagen unter Furchtsamkeit vor Dieben, Feinden, Verräthern und schlechten Menschen hervor“.157 Angst vor Mördern, Dieben und Räubern und daraus erwachsende Bezichtigungen und Arretierungen eigener Hausgenossen machten Vorkehrungen ihm Wohlwollender und Nahestehender unumgänglich. Gelegentlich jedoch, so auch am 15. Mai 1818, vermochte der verwirrte Platner auf die Straße zu gelangen. Nur mit Mühe gelang es dann, „den auf der Gasse sitzenden Herrn Hofr. in sein Logis unter den fürchterl. Auftritten zu bringen. Ein grässl. Brüllen, hohe Röthe des Gesichts, einem Feuerrade ähnl. Rollen der Augen, und eine verzweifelte Nothwehr bestimmten nun d. Genus der Krankheit“, so die Eintragung in das vom 1. Juli bis 30. August 1818 geführte Krankentagebuch. Zur Veröffentlichung des Diariums hatte man sich entschlossen, um im Fall der Nothdurft den Läster und Lügenzungen der heutigen schreibseeligen Welt, durch Darlegung der unbestochenen Wahrheit, zur Ehre des Herrn Hofr. Widersprechen zu können […]. Herumgehende Mährchen, von boshaften Witzlingen in Anekdotenspässe umgeschaffen, Vergrösserungen unglücklicher Scenen durch triumphirende Augenzeugen aller Art, gehörten zu den vorzüglichsten Ursachen dieses Versuchs.158

Und diese Vorsichtsmaßregel schien berechtigt gewesen zu sein. Denn es dauerte nicht lange, bis die ersten Gerüchte in Leipzig kursierten: Einige meinten in seiner Krankheit eine durch den Umgang mit der im Dezember in Leipzig weilenden Mystikerin Freifrau von Krüdener ausgelöste Bekehrung und ein unglücklichen Armen zu unterstützen“ (StA Leipzig, Nachlaß Dufour Nr. 2, Bl. 6 f. [1778]; zitiert nach Katharina Middell, Leipziger Sozietäten im 18. Jahrhundert. Die Bedeutung der Soziabilität für die kulturelle Integration von Minderheiten, in: Neues Archiv für sächsische Geschichte 69 [1998], 125−157, hier 141). 157 Johann Friedrich August Eisfeld, Ein kleiner Nachtrag zu Platner’s Nekrolog, den Zeitraum vom 12ten Mai 1817 bis zu seinem Tode umfassend, nebst dem Sectionsberichte, in: Allgemeine medizinische Annalen des neunzehnten Jahrhunderts auf das Jahr 1819, 283−288, hier 285. Man sah sich infolge der rasant fortschreitenden Verwirrung Platners gezwungen, unverzüglich Vorkehrungen für die ordnungsgemäße Fortführung des Lehrbetriebes zu treffen; vgl. SächsHStA Dresden: Hofrath und Prof. Dr. Ernst Platner verfällt in unheilbare Geistesschwäche. 1818. S. Acta die bey der den Hofrath u. Prof. Dr. Platner pp. Loc. 1778. 158 Erich Ebstein, Ernst Platners Krankheitsgeschichte im Jahre 1818. Auf Grund eines unbekannten Krankheits-Tagebuchs mitgeteilt, in: Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 17 (1915/16), 29/30, 173. Wenn in dem Krankenbericht gelegentlich von „der K.“ die Rede ist, so ist nicht, wie Ebstein vermutet, die Krüdener gemeint (ebd., 126, Anm. 6), sondern Platners K[öchin] und Wartefrau Meyer, mit der er wiederholt „die Vorstellung einer Gräfin, u. eines vollkommenen Ideals verband“ (ebd., 135).

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Strafgericht für sein lebenslanges aufklärerisches Streben wahrnehmen zu können. Denn es war in Leipzig bekannt, daß Platner Umgang mit der religiösen Eiferin pflegte, der dies jedoch tat, ohne ihren Schwärmereien beizupflichten. Ernstlich um Platners Andenken besorgt, sah sich sein Hausarzt Johann Friedrich August Eisfeld genötigt, nach dessen Tod – er starb im Alter von 73 ½ Jahren am 27. Dezember 1818159 – eine Sektion zu veranlassen.160 Man kam zu der Überzeugung, „daß Platners Irrsinn nicht geistig und moralisch, denn er starb verwirrt und entkräftet an Altersschwäche (marasmo senili), sondern körperlich bedingt war“.161 Ursache seines „Irrsinns“ sei eine arteriosklerotisch bedingte Geistesschwäche gewesen, nicht aber „kleinliche[] Eitelkeit“ oder mangelnde Religiosität, „denn er unterstützte ja Gellert’s Moral nur fester, und begründete sie als Philosoph auch für die, denen Gellert’s Moral noch nicht genügte“.162 Platners Werdegang vom „Studiosus philosophiae et medicinae“ zum ordentlichen Professor der Physiologie und Pathologie sowie der praktischen Philosophie erstreckt sich über mehr als fünfzig Jahre, von der Mitte des 18. bis weit in das zweite Dezennium des 19. Jahrhunderts. Nach Absolvierung einer soliden gymnasialen Ausbildung hatte er unterschiedlichsten akademischen Anforderungen und Gepflogenheiten zu entsprechen. Dabei vermochte er zuweilen nicht ungeschickt zu taktieren und sich Vorteile für seinen persönlichen Karriereweg zu eröffnen. Die biographische Skizze gewährt darüber hinaus exemplarische Einblicke in Möglichkeiten und Grenzen akademischen Handelns, insbesondere eines popularphilosophischen. Letzteres erwuchs und speiste sich zu nicht geringen Teilen aus dem seinerzeit im deutschen Reich einzigartigen geistig-kulturellen Milieu der Leipziger Handels- und Universitätsstadt. Platner’s career from a „studiosus philosophiae et medicinae“ to a full professor of physiology, pathology, and practical philosophy spans more than 50 years, from Stadtarchiv Leipzig. Leichenbuch Tom. XXXVIII. Anno 1814, 592: „1818. Den 30. December. H. 8. Ein Mann 74 ½. J. Herr D. Ernst Platner, der Physiologie, Pathologie und pract: Philosophie ordentlicher Profeßor, Königl. Sächs. Hofrath, der medicin. Facultät Primarius, des Königl. klinischen Instituts Ephorus, der Academie Decemvir, des großen Fürsten-Collegiums Collegiat, der Sächs: Nation u. der Academie Senior, der Königl. Acadmie der Wissenschaften zu München, der Königl. Societät der Wissenschaften zu Frankfurt an der Oder, der helvetischen medicinischen, auch der hiesigen ökonom. Societät Ehrenmitglied, am alten Neumarckt, st. 27. Decbr. nachmitt. 2. U.“. 160 Die Leichensektion fand am 28. Dezember 1818, 11 Uhr mittags statt. Sie wurde vom Leipziger Königlich-Sächsischen Polizeichirurgen Johann Gottlob Oetzmann (1767−1828) im Beisein mehrerer Ärzte, unter ihnen Johann Friedrich August Eisfeld (1767−1821), vorgenommen. 161 Eisfeld, Nachtrag zu Platners Lebensskizze (wie Anm. 155), 486. 162 Eisfeld, Ein kleiner Nachtrag zu Platner’s Nekrolog (wie Anm. 157), 286. 159

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the middle of the 18th century until the second decade of the 19th century. After having passed a solid secondary school education he had to meet different academic requirements and conventions. By doing so, he even proceeded quite cleverly at times, deriving some benefits for his personal career. The biographical study does furthermore give an exemplary insight into possibilities and limits of academic performance, especially of a popular-historical one. The latter arose and nourished to a large extent in the intellectual and cultural milieu of Leipzig as a commercial and university town, which was unique in the German Reich in due time. Dr. Hans-Peter Nowitzki, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Institut für germanistische Literaturwissenschaft, Fürstengraben 18, D-07743 Jena, E-Mail: [email protected]

K U R Z BI O G R A P H I E

JOHANN GEORG SULZER (1720−1779)

„So blieb ich mein ganzes Leben lang ein Amphibium, das mit gleicher Lust in der Welt und in dem ruhigen Wohnsitze der Wissenschaften lebte. Wenn dieses nicht der Weg ist, sich in der gelehrten Welt einen grossen Namen zu erwerben, so ist es doch der angenehmste, durch das Leben hindurch zu kommen“. Mit diesen Worten charakterisierte der alte Johann Georg Sulzer sich selbst in seiner Lebensbeschreibung als einen Enzyklopädisten, der ebenso im gesellschaftlichen Umgang und in der Natur wie in den Hallen der Gelehrsamkeit zu Hause war. Sulzer wurde am 16. Oktober 1720 als fünfundzwanzigstes Kind seines Vaters in Winterthur geboren. Der Ratsherr und Seckelmeister Heinrich Sulzer soll ein Liebhaber des Gartenwesens gewesen sein. Er nahm den Knaben schon bald mit auf Inspektionen und führte ihn in die Botanik sowie Naturgeschichte ein. Scheuchzers Naturgeschichte des Schweizerlandes, die Sulzer 1746 mit eigenen Anmerkungen und Zusätzen herausgeben sollte, bildete daher eine seiner ersten Lektüren. Doch währte die Zeit des väterlichen Unterrichts nur kurz. Bereits 1734 verstarben beide Eltern gleichzeitig am Fleckfieber. Das Erbe wurde unter den zahlreichen Kindern aufgeteilt und der sechzehnjährige Sulzer wenig später zum Theologiestudium ins Züricher Carolinum geschickt. Hier entfaltete sich sein ausgreifendes Interesse an fast allen

Gebieten: Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger vermittelten ihm die Schönen Wissenschaften, bei Johann Gessner legte er Herbarien an und machte Übungen in der Experimentalphysik. Vor allem aber soll es Christian Wolffs Deutsche Metaphysik gewesen sein, welche seine erste Lust zum philosophischen Nachdenken weckte. So nahm das Theologiestudium bei Zimmermann rasch eine Wendung. Nach dem bestandenen Examen ergriff Sulzer zunächst eine Privatlehrerstelle in Zürich, später ein Vikariat in Maschwanden. Hoffnungen auf eine theologische Laufbahn machte er sich allerdings nicht. Statt dessen entschloß er sich 1743, die Schweiz zu verlassen und als Hauslehrer in Magdeburg zu unterrichten. Zu dieser Zeit war er bereits als Schriftsteller einiger Abhandlungen zur Naturgeschichte hervorgetreten. Sein physikotheologischer Versuch einiger moralischen Betrachtungen über die Werke der Natur erscheint mit einer Vorrede des Oberkonsistorialrats Sack 1745 in Berlin. Im Laufe seiner Magdeburger Zeit hatte Sulzer auf sich aufmerksam machen können und kam mit Berliner Gelehrtenkreisen in näheren Kontakt. Die Folge war 1747 eine Professur für Mathematik am Joachimsthalschen Gymnasium in Berlin. 1750 wurde er Mitglied der philosophischen Klasse der Akademie der Wissen-

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Kurzbiographie

schaften. Friedrich II. berief ihn schließlich 1765 zum Professor der Philosophie an der neu errichteten Ritterakademie. Die Zeit seiner Akademie-Tätigkeit war Sulzers produktivste Phase. Sein Haus bildete jetzt den Mittelpunkt der Schweizer Gelehrten in Berlin. Zu seinem Aufgabenfeld gehörte auf Wunsch Friedrichs II. unter anderem die Reform verschiedener Lehranstalten. Neben der deutschen Übersetzung von David Humes Enquiry concerning Human Understanding entstanden Arbeiten zur Philosophie und Psychologie, die eine gute Kenntnis der physiologischen und anthropologischen Debatten erkennen lassen. Sie erschienen 1773 als Vermischte philosophische Schriften in Leipzig. Ein zweiter Band sollte unter der Redaktion Friedrich von Blanckenburgs 1781 nach Sulzers Tod folgen. In diesen Studien legte Sulzer in einem popularphilosophischen Ton die Grundlagen seiner späteren Ästhetik, die er mit physiologischen und psychologischen Argumenten fundierte. Ihre Fragestellungen gingen jedoch weit darüber hinaus. Sulzer äußerte sich neben der Empfindungstheorie zu Fragen der Sprachtheorie, des Geniebegriffs, der Pädagogik sowie zur Unsterblichkeit und Immaterialität der Seele. Außerdem entwarf er einen Kurzen Begriff aller Wissenschaften und andern Theile der Gelehrsamkeit (1759), der bereits die enzyklopädischen Interessen zusammenfaßte und der Historia literaria verpflichtet war. Zum Ausgangspunkt seines Denkens wurde ihm die strikte Abgrenzung von Erkennen und Empfinden, die ihn zur Einsicht in die Autonomie des Emotionalen führte: „Der Mensch besitzet zwey, wie es scheint, von einander unabhängige Vermögen“, schrieb er in der Allgemeinen Theorie, „den Verstand und das sittliche Gefühl, auf deren Entwiklung die Glückseligkeit des gesellschaftlichen Lebens gegründet werden muß“. In Auseinander-

setzung mit den moral-sense-Philosophien (Shaftesbury, Hutcheson), aber auch der physiologischen Anthropologie (Krüger) kam es zu einer allmählichen Weiterentwicklung der rationalistischen Psychologie. Sulzer dachte eine Dreiteilung menschlicher Vermögen, die zwischen Vernunft (das Wahre), Gefühl (das Gute) und Geschmack (das Schöne) unterschied und besonders letzterem eine zentrale Funktion für die Vervollkommnung des Menschen und seine Glückseligkeit zuwies. Der Ansatz kulminierte nach Vorarbeiten, die bis ins Jahr 1757 zurückreichen, in Sulzers 1771/1774 erschienenem Hauptwerk: Allgemeine Theorie der schönen Künste. Die über zwei Dezennien entstandene wissenschaftliche Leistung wurde 1776 mit der Direktorenstelle der philosophischen Klasse der preußischen Akademie der Wissenschaften gekrönt. Sulzers ästhetische Enzyklopädie leistete neben der Darstellung einer imposanten Stoffülle und ihrer systematischen Reflexion vor allem eine Neubegründung der deutschen Terminologie für die Ästhetik. Ihr europäischer Vorläufer ist − neben der französischen Encyclopédie − vor allem Jacques Lacombes Dictionnaire portatif des Beaux-Arts (1752-54). Die alphabetische Anordnung erleichterte es, das gesamte Feld der Schönen Künste in knapp 870 Artikeln ebenso für den Philosophen und den Kenner wie für den Dilettanten leicht zu erschließen. Das Werk ist also zugleich als Handbuch und als Philosophie des Schönen konzipiert. Die Mitarbeit weiterer Verfasser ist bis heute nur in wenigen Fällen eindeutig gesichert. Sulzers wissenschaftliches Management fiel nicht immer auf fruchtbaren Boden. Gleim und Winckelmann etwa sagten ab. Wieland hingegen verfaßte den Artikel Naiv, Bodmer schrieb einige Beiträge, wie z.B. den Artikel Politisches Trauerspiel. Im Gebiet der

Kurzbiographie

Musikästhetik wurde Sulzer, der selbst nur geringe Kenntnis davon besaß, von Johann Philipp Kirnberger unterstützt. Auch wenn Sulzers Enzyklopädie ein letztes Prinzip des Schönen entbehrte, konnte sich das Werk als fester Orientierungspunkt der ästhetischen Debatten etablieren und erlebte in der Folge zahlreiche Neuauflagen und Ergänzungen. Daran vermochten selbst Goethes und Mercks harsche Rezensionen des ersten Bandes in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen von 1772 zunächst wenig zu ändern. Es gilt inzwischen als ausgemacht, daß die eigenen Positionen der Stürmer-undDränger ohne die Vorarbeiten Sulzers kaum formulierbar gewesen wären. Der neue Akzent auf der „Lebhaftigkeit“ des Schönen, welches die Sinnlichkeit des Menschen zu rühren und zu verfeinern vermag, diente noch bis in die 1790er Jahre hinein als Bezugspunkt und schärfte das Bewußtsein einer eigenständigen Funktion des Schönen. Von dessen Autonomie kann man allerdings bei Sulzer nicht sprechen, dafür blieb sein Kunstverständnis zu sehr an die moralische Empfindung und das optimistische Projekt einer aufklärerischen Zivilisierung des Menschen gebunden. Friedrich Nicolai überliefert in seinen Anekdoten von König Friedrich II. ein im ausgehenden 18. Jahrhundert geflügeltes Wort des Monarchen, das hierher gehört: „Als er mit dem seligen Sulzer vom Erziehungswesen sprach, und dieser bei der Gelegenheit äusserte: Der Mensch habe von Natur weniger Neigung zum Bösen als zum Guten; so schüttelte der König den Kopf und sagte lächelnd: ‘Je vois bien, mon cher Sulzer, que vous ne conaissez pas comme moi cette race maudite à laquelle nous appartenons.’“ Der Kontrast zwischen Sulzers ästhetisch-pädagogischem Optimismus und den Erfahrungen höfischer Kabinettspolitik könnte kaum

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schärfer auf den Punkt gebracht werden. Das politische Denken war Sulzers Sache nicht. Die letzten Lebensjahre prägte ein schweres Lungenleiden. Albrecht von Haller riet zu einem Erholungsaufenthalt in Nizza (1775). Dies verschaffte kurze Linderung, doch Rückfälle folgten rasch. Wie seine Schriften belegen, ertrug Sulzer seine Krankheit im festem Glauben an die Unsterblichkeit der Seele, was nicht zuletzt seinen Biographen das Bild vom ‘Weltweisen’ einprägte. Sulzer starb am 27. Februar 1779 in Berlin. Man hat dieses ‘Amphibium’ von Naturkenntnis und Buchgelehrsamkeit einen geistigen Wendepunkt der Zeit genannt. Sulzer habe die Weichen der Ästhetik zwischen Baumgarten und Kant neu ausgerichtet, zusammen mit Moses Mendelssohn die Bedeutung des Gefühls für die späteren Generationen herausgearbeitet, Kants Kritik der Urteilskraft und Schillers Projekt einer ästhetischen Erziehung den Weg geebnet; nicht zuletzt sei er durch seine produktive Betonung der dunklen Vorstellungen ein Vorläufer von Freuds Erforschung des Unbewußten gewesen. Eine angemessenere Einschätzung dieser hochgreifenden Bedeutungszuweisungen zeichnet sich erst langsam ab. Literatur: Wolfgang Proß, „Meine einzige Absicht ist, etwas mehr Licht über die Physik der Seele zu verbreiten“. Johann Georg Sulzer (1720–1779), in: Martin Bircher u.a. (Hg.), Helvetien und Deutschland. Kulturelle Beziehungen zwischen der Schweiz und Deutschland in der Zeit von 1770 bis 1830, Amsterdam 1994, 133– 148; Wolfgang Riedel, Erkennen und Empfinden. Anthropologische Achsendrehung und Wende zur Ästhetik bei Johann Georg Sulzer, in: Hans-Jürgen Schings (Hg.), Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFGSymposion 1992, Stuttgart, Weimar 1994,

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410-439; Marion Heinz, Sensualistischer Idealismus. Untersuchungen zur Erkenntnistheorie des jungen Herder (1763−1778), Hamburg 1994, 113 ff.; Hans Erich Bödeker, Konzept und Klassifikation der Wissenschaften bei Johann Georg Sulzer (1720−1779), in: Martin Fontius u.a. (Hg.), Schweizer im Berlin des 18. Jahrhunderts, Berlin 1996, 325–339; Élisabeth Décultot, Éléments d’une histoire interculturelle de l’esthétique. L’exemple de la „Théorie générale des beaux-arts“ de Johann Georg Sulzer, in: Revue Germanique internationale 10 (1998), 141–160; Johan van der Zande, Johann Georg Sulzer’s Allgemeine Theorie der Schönen Künste, in: Carsten Zelle (Hg.), Enzyklopädien, Lexika und Wörterbücher im 18. Jahrhundert, Wolfenbüttel 1998, 87–101 (= Das achtzehnte Jahrhundert 22); Gabriele Dürbeck,

Einbildungskraft und Aufklärung. Perspektiven der Philosophie, Anthropologie und Ästhetik um 1750, Tübingen 1998; Dietmar Till, Transformationen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 2004, 517-531; L’esthétique de Johann Georg Sulzer (1720−1779). Actes du colloque international du 21. novembre 2003, hg. von Bernard Deloche, Lyon 2005; Maurizio Pirro, Sulzers Physik der Seele und die Dramentheorie Schillers, in: Zeitschrift für Germanistik 16 (2006), 314–323; Élisabeth Décultot, Métaphysique ou physiologie de beau? La théorie des plaisirs de Johann Georg Sulzer (1751−1752), in: Revue Germanique internationale 4 (2006), 93–106. Guido Naschert (München)

D I S K U S S IO N

Kants Theodizee-Aufsatz im Spiegel neuerer Arbeiten Ein Forschungsbericht

APPEL, KURT (2003), Kants Theodizee-Kritik. Eine Auseinandersetzung mit den Theodizeekonzeptionen von Leibniz und Kant, Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang (Religion–Kultur–Recht, 2), 153 S. BRACHTENDORF, JOHANNES (2002a), Kants Theodizee-Aufsatz – Die Bedingungen des Gelingens philosophischer Theodizee, in: Kant-Studien 93, 57–83. DERS. (2002b), An Gott glauben in einer „zweckwidrigen“ Welt. Kants These und die gegenwärtige Theodizee-Kritik, in: Theologische Quartalsschrift 182, 14–26. CAVALLAR, GEORG (1993), Kants Weg von der Theodizee zur Anthropodizee und retour. Verspätete Kritik an Odo Marquard, in: Kant-Studien 84, 90–102. RICKEN, FRIEDO (2003), Religionsphilosophie, Stuttgart: Kohlhammer (Grundkurs Philosophie, 17), 376 S. SCHULTE, CHRISTOPH (1991), Zweckwidriges in der Erfahrung. Zur Genese des Mißlingens aller philosophischen Versuche in der Theodizee bei Kant, in: Kant-Studien 82, 371–396. DERS. (1997), Jüdische Theodizee? Überlegungen zum Theodizee-Problem bei Immanuel Kant, Hermann Cohen und Max Weber, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 49, 135–159. WIMMER, REINER (2005), Religionsphilosophische Studien in lebenspraktischer Absicht, Fribourg u.a.: Academic Press Fribourg/Herder (Studien zur theologischen Ethik, 111), 332 S. Die religionsphilosophische Literatur zum Theodizee-Problem ist unübersehbar zahlreich. Stark vereinfacht lassen sich aber dennoch zwei Richtungen ausmachen. Die eine Richtung – nennen wir sie die rationalistische – ist der Überzeugung, daß sich die Frage, ob die Existenz eines allmächtigen und allgütigen Welturhebers mit der Existenz des Übels in unserer Welt widerspruchsfrei vereinbar ist, zumindest prinzipiell mit den Mitteln rationaler Argumentation beantworten läßt, wobei die Antwort entweder positiv zugunsten einer theistischen oder negativ zugunsten einer atheistischen Position ausfallen kann. Die andere Richtung – nennen wir sie die existentiell-praktische – geht demgegenüber davon aus, daß es der menschlichen Vernunft prinzipiell unmöglich ist, diese

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Forschungsbericht

Frage zu beantworten. Die ‚Lösung’ des Theodizee-Problems erblickt sie dementsprechend nicht in einer philosophischen Entscheidung darüber, ob sich die Annahme eines allmächtigen und allgütigen Welturhebers angesichts der Erfahrung des Übels in unserer Welt rational rechtfertigen läßt oder nicht, sondern in einer Praxis der gegenseitigen Anteilnahme an Leiderfahrungen und des gemeinschaftlichen Bemühens um die Beseitigung der Ursachen des Leids, wobei diese Praxis entweder von einer religiösen oder von einer areligiösen Grundhaltung getragen sein kann. Fragt man nun, welcher dieser beiden Richtungen Kants im September 1791 in der Berlinischen Monatsschrift erschienener Aufsatz Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee zugerechnet werden kann, so ist die Antwort auf den ersten Blick scheinbar mit Händen zu greifen: Indem Kant schon im Titel seines Aufsatzes das Mißlingen aller philosophischen Theodizee proklamiert und die von ihm statt dessen im weiteren Verlauf seines Aufsatzes in Aussicht gestellte authentische Theodizee als „Glaubenssache“ (AA VIII/267)1 bezeichnet, scheint er die rationalistische Position in Bausch und Bogen zu verwerfen und sich unmißverständlich auf die Seite der existentiell-praktischen Position zu schlagen. So nimmt es nicht wunder, daß Kants Theodizee-Aufsatz in der neueren deutschsprachigen Literatur mehrheitlich in diesem Sinne gelesen wird. Allerdings ist in jüngster Zeit auch die diametral entgegengesetzte Auffassung vertreten worden, daß Kant in diesem Aufsatz nicht die Gründe für das Scheitern, sondern im Gegenteil die Bedingungen für das Gelingen philosophischer Theodizee namhaft mache. Die nachstehenden Ausführungen verfolgen das Ziel, eine Zwischenbilanz dieser Debatte zu ziehen. Dazu soll zunächst ein Überblick über die in diesem Zusammenhang einschlägigen Forschungspositionen gegeben werden (I). Vor diesem Hintergrund ergeben sich im Hinblick auf die Interpretation der sachlich-systematischen Grundaussage des Kantschen Theodizee-Aufsatzes zwei zentrale Streitfragen, die abschließend zur Diskussion gestellt werden sollen (II).

I. In seinem Theodizee-Aufsatz inszeniert Kant ein Gerichtsverfahren, bei dem der Theodizee-Gegner die Seite der Anklage, der Theodizee-Verfechter die Seite der Verteidigung vertritt. Am Schluß des Verfahrens ergeht ein Grundsatzurteil im Namen der durch Kants Kritizismus über ihre eigenen Erkenntnismöglichkeiten und -grenzen aufgeklärten Vernunft, das sich in etwa folgendermaßen rekonstruieren läßt (vgl. AA VIII/263 ff.): Wir können uns sowohl von der Kunstweisheit als auch von der moralischen Weisheit Gottes einen Begriff bilden. Ersteres geschieht a posteriori auf der Basis der Naturbeobachtung, letzteres a priori auf der Grundlage des Moralgesetzes, insofern wir uns die Realisierbarkeit des höchsten Guts, das zu befördern wir moralisch ver1 Kants Schriften werden zitiert nach Ausgabe der Königlich-Preussischen [später Deutschen, jetzt Berlin-Brandenburgischen] Akademie der Wissenschaften (Akademie-Ausgabe), Berlin 1900 ff., unter Angabe der Band- und Seitenzahl.

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pflichtet sind, nur mit Hilfe des Postulats des Daseins Gottes als eines moralischen Welturhebers denken können. Kant zufolge erheben nun sowohl der TheodizeeVerfechter als auch der Theodizee-Gegner implizit den Anspruch, die Begriffe der Kunstweisheit und moralischen Weisheit Gottes in einem übergeordneten Begriff vereinigen zu können, weil wir nur unter dieser Voraussetzung behaupten können, die Existenz des Übels in unserer Welt diene einem höheren moralischen Zweck bzw. sie widerspreche den moralischen Absichten Gottes. Diesen Anspruch hält Kant jedoch für unberechtigt, da zwischen dem Gebiet der Natur einerseits und dem Gebiet der Freiheit andererseits eine „unübersehbare Kluft“ (AA V/175) bestehe, die vermittels der reflektierenden Urteilskraft zwar überbrückt, aber nicht geschlossen werden könne. Folglich muß sowohl die Position des Theodizee-Gegners als auch die des TheodizeeVerfechters als unhaltbar zurückgewiesen werden. Die einzige Form einer Theodizee, die Kant noch für möglich hält, ist eine authentische Theodizee, bei der wir einerseits eingestehen, daß wir die moralische Weisheit Gottes nicht aus der Erfahrung erkennen können, andererseits aber darauf hoffen, daß Gott uns in einem künftigen Leben die unserer sittlichen Würdigkeit angemessene Glückseligkeit zuteil werden läßt. Betrachten wir zunächst die Autoren, die Kants soeben skizziertes Grundsatzurteil in Sachen Theodizee im Sinne einer existientiell-praktischen Lösung des TheodizeeProblems deuten. Für Christoph Schulte hat Kant in seinem Theodizee-Aufsatz „eine Grundvoraussetzung aller philosophischen Theodizee seit der Antike aufgegeben“, nämlich die Annahme, „daß die göttliche Weisheit teleologisch alles Irdische, inklusive der mala, in einem vernünftigen und menschlich einsichtigen Zweck-Zusammenhang geordnet hat“ (1991, S. 391). Zwar lasse sich eine durch Gottes Weisheit insgesamt zweckmäßig geordnete Welt trotz der Existenz des Übels in unserer Erfahrungswelt widerspruchsfrei denken, aber ein realer Zusammenhang zwischen Gottes Weisheit einerseits und den in unserer Erfahrungswelt anzutreffenden Mißständen andererseits könne mit den Mitteln einer endlichen Vernunft, die durch Kants Kritizismus hindurchgegangen sei, nicht mehr einsichtig gemacht werden (vgl. ebd.). Damit sei das Schicksal der philosophischen Theodizee besiegelt. Übrig bleibe nur noch eine „religiöse Theodizee“ (S. 392). Kants authentische Theodizee, so resümiert Schulte, sei „kein Versuch der Rettung von philosophischer Theodizee, sondern der Verweis der Theodizee in ein anderes Feld: das des Glaubens“ (ebd.). Sie sei „die religiöse Tat und Haltung“ des einzelnen Menschen vor Gott, der nicht allgemein über den Sinn des Übels in der Welt räsoniere, sondern sich „als selbst Leidender vor Gott findet und sich Gottes Willen fügt“ (1997, S. 143). Zu einem in der Sache ähnlichen Ergebnis gelangt Georg Cavallar. Seiner Ansicht nach hat Kant in seinem Aufsatz von 1791 sowohl eine „Theodizee durch Autonomie“, bei der die Verantwortung für die Existenz des Übels in der Welt nicht Gott, sondern dem autonom handelnden Menschen aufgebürdet wird, als auch eine „Theodizee durch Geschichtsphilosophie“, derzufolge die Existenz des Übels in unserer Welt im Dienst des Geschichtsfortschritts steht, „aus einer fideistischen Position zurückgewiesen“ (S. 102). Zwar halte Kant daran fest, daß die Geschichte als Rechtsfortschritt gedeutet werden könne, doch damit verbinde sich für ihn nun keine Lösung des TheodizeeProblems mehr. Wie schon im alttestamentlichen Buch Hiob, so bleibe auch bei Kant

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für den Menschen angesichts der Erfahrung des Leids einzig „das Wagnis des Glaubens“ (ebd.). Dem existentiell-praktischen Interpretationsansatz verpflichtet sind auch die Überlegungen zu Kants Theodizee-Aufsatz, die Friedo Ricken und Reiner Wimmer unlängst im Rahmen eigener religionsphilosophischer Entwürfe vorgetragen haben. Für Friedo Ricken offeriert Kant in seinem Theodizee-Aufsatz „keine Lösung des Theodizeeproblems“ (S. 211); er zeige vielmehr, „daß alle philosophischen Lösungsversuche scheitern“ (ebd.). Statt dessen bringe Kant mit der authentischen Theodizee einen „neuen Begriff von ‚Theodizee’“ (S. 213) ins Spiel, der zwei Elemente beinhalte: „das Zeugnis des Gewissens“ und „die Erkenntnis der eigenen Unwissenheit“ (S. 215). Diese beiden Elemente stehen Ricken zufolge im Zentrum von Kants allegorischer Auslegung des alttestamentlichen Hiob-Buches. Dort werde Hiob als Beispiel eines aufrichtigen Menschen dargestellt, der sein Unvermögen, die Wege der Weisheit Gottes in der Schöpfung zu erkennen, freimütig eingestehe und somit im Gegensatz zu seinen Freunden kein Wissen von Gegenständen vorspiegele, die in Wahrheit jenseits der Grenzen menschlicher Erkenntnis lägen (vgl. S. 214 f.). Auch für Reiner Wimmer erteilt Kant in seinem Theodizee-Aufsatz allen Versuchen, das Theodizee-Problem rationalistisch zu lösen, d.h. die Annahme der Existenz eines weisen Welturhebers in Anbetracht des Übels in unserer Welt argumentativ zu rechtfertigen, eine deutliche Absage. Kants „eigentliche Antwort“ auf die Theodizee-Frage liege vielmehr in der von einem „fundamentalen moralischen Verlangen“ gespeisten Hoffnung auf die Verwirklichung des höchsten Guts in einer moralischen Welt, die allerdings des Glaubens an Gott als den „Verwirklicher“ einer solchen Welt bedürfe (S. 137 f.). Mit dieser Hinwendung zu einem praktischen Vernunftglauben an Gott und die durch ihn ermöglichte moralische Welt übersteige Kant „den theoretischen Standpunkt in Bezug auf die Theodizeefrage zu Gunsten eines moralisch-praktischen und existentiell-religiösen Standpunkts“ (S. 138). Für Wimmer muß der späte Kant deshalb zu den Anhängern einer existentiell-praktischen Lösung des Theodizee-Problems gezählt werden. Die Seite derer, die Kants oben rekonstruiertes Grundsatzurteil in Sachen Theodizee im Sinne einer rationalistischen Lösung des Theodizee-Problems interpretieren, wird vertreten von Johannes Brachtendorf. In ausdrücklichem Widerspruch zu Schulte und Cavallar argumentiert er für eine Deutung des Theodizee-Aufsatzes „nicht als einer grundsätzlichen Theodizee-Kritik, sondern als einer Neufundierung philosophischer Theodizee“ (2002a, S. 58). Nach Brachtendorf ist das Gelingen einer philosophischen Theodizee an zwei Bedingungen geknüpft. Das Wissen um Gottes Allmacht und Weisheit müsse erstens erfahrungsvorgängig sein, d.h. jeder spezifischen Welterfahrung vorausliegen, und zweitens in dem Sinne erfahrungsenthoben sein, daß es weder durch positive Welterfahrung bewiesen noch durch negative widerlegt werden könne (vgl. ebd.). Kants authentische Theodizee erfülle beide der genannten Bedingungen. Sie beruhe auf einem moralischen Gottesbegriff, den die praktische Vernunft a priori bilde und der „ein Implikat des Sittengesetzes“ darstelle, „sofern dieses Anerkennung durch ein vernünftiges, aber doch auch sinnengebundenes Wesen verlangt“ (S. 59). Die Argumentation des Theodizee-Aufsatzes zeige nun, daß die Annahme eines heiligen,

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gütigen und gerechten Urhebers und Lenkers der Welt durch empirisch fundierte Einwände weder verifiziert noch falsifiziert werden könne, mithin daß eine philosophische Theodizee möglich sei (vgl. S. 62 f.). Kants vermeintlicher Beweis der Unmöglichkeit jeder Theodizee sei, so Brachtendorf, „in Wahrheit nur ein Argument gegen die Möglichkeit eines Erfahrungsbeweises für das Wirken Gottes in der Welt“ (S. 59). Die Kritik des Theodizee-Aufsatzes richte sich „nur gegen eine theoretisch-spekulative, nicht gegen eine moralisch-praktische Theodizee“ (S. 74). Wenn Kant die von ihm befürwortete authentische Theodizee gleichwohl als eine „Glaubenssache“ bezeichne, so denke er dabei an einen philosophischen Glauben, der sich aus keinen von außerhalb der Vernunft kommenden Quellen speise. Mit einem biblisch begründeten Offenbarungsglauben habe dies nichts zu tun. „Von einem fideistischen Ansatz“, so Brachtendorf, „der im Gegensatz zur philosophischen Theodizee stünde“, könne bei Kant deshalb „keine Rede sein“ (S. 64 f.). Den Abschluß der hier zu besprechenden Arbeiten bildet eine überaus großflächig angelegte Studie zu Kants Theodizee-Kritik aus der Feder von Kurt Appel. Sie beginnt im ersten Teil mit einer Erörterung der Leibnizschen Theodizee-Konzeption, um dann im zweiten Teil über Kants Unterscheidung der beiden Erkenntnisstämme Anschauung und Verstand, die Antinomienlehre der Kritik der reinen Vernunft, den TheodizeeAufsatz und das erste Stück der Religionsschrift zur Postulatenlehre der Kritik der praktischen Vernunft und der Kritik der Urteilskraft zu gelangen, in der Appel überraschenderweise den Schlußpunkt der Kantschen Überlegungen zum Theodizee-Problem erblickt. Angesichts dieses Mammutprogramms stellt sich jedoch zwangsläufig die Frage, ob nicht eine engere Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes vorteilhaft gewesen wäre. So bewegt sich die Arbeit zumeist auf der Ebene einer bloßen Darstellung der Leibnizschen und Kantschen Positionen, während eine nähere Analyse und Diskussion der jeweiligen Sachargumente nur in Ansätzen stattfindet. Hinzu kommt, daß Appel mitunter zu ausgesprochen kryptischen Formulierungen neigt, was die Transparenz des Gedankengangs erheblich beeinträchtigt.2 Die übergreifende Zielsetzung der Studie Appels besteht nun darin, die bleibende Aktualität der Theodizee-Konzeptionen von Leibniz und Kant herauszustellen, und zwar zum einen gegenüber einer empiristisch orientierten Theodizee-Kritik, wie sie gegenwärtig etwa von Gerhard Streminger vertreten wird, zum anderen aber auch gegenüber diversen fideistischen Positionen, als deren Urvater Pierre Bayle angegeben wird (vgl. S. 14). Gemäß dem eingangs vorgestellten Einteilungsschema wird man Appel also zum Kreis derer zählen dürfen, die bei Kant eine rationalistische Lösung des

Z.B.: „In diesem Bewusstsein [seines Leidens] wird er [der Mensch] sich aber auch der endlichen Seite seiner Freiheit bewusst (der Unmittelbarkeit, die ihm gegenübersteht), und dieses Bewusstsein führt ihn selber bereits in die Aporie von endlicher und unendlicher Seite seiner Freiheit, da er einerseits Selbstvermittlung ist, andererseits diese Selbstvermittlung immer auf Unmittelbarkeit bezogen bleibt“ (51); oder: „Radikal gesagt: Die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Leids kann nicht im Bereich des Seins liegen, weil, wenn Freiheit sein soll, eine solche Antwort überhaupt nicht sein darf, weil die Freiheit (und nicht die Theodizee-Erkenntnis) der Ort der Unendlichkeit ist“ (117). 2

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Theodizee-Problems angelegt sehen. Für diese Einordnung spricht auch, daß sich Appel der These anschließt, Kant habe in seinem Theodizee-Aufsatz eine Transformation der Theodizee in eine Anthropodizee vorgenommen (vgl. S. 144). Hierbei geht es um einen Vorschlag zu einer philosophischen Lösung des Theodizee-Problems, der besagt, daß Gott von der Verantwortung für das Übel freizusprechen und diese statt dessen dem autonom handelnden Menschen anzulasten sei, wobei vorausgesetzt wird, daß eine Welt, in der es autonom handelnde Wesen gibt, wertvoller ist als eine Welt, in der es keine solchen Wesen gibt. Dementsprechend konstatiert Appel, daß bei Kant eine Verlagerung des Theodizee-Problems „von der Frage nach einer zureichend begründeten Welt hin zur moralischen Forderung, dem Anderen als Zweck gerecht zu werden (Pflicht!), d.h. seine Glückseligkeit als Freiheitswesen zu befördern“, stattgefunden habe (S. 129). Mit dem zuletzt genannten Gedankenschritt ist das eigentliche Problem freilich nur verschoben, aber noch nicht gelöst. Denn die Theodizee-Frage stellt sich ja, wie auch Appel zu Recht betont (vgl. S. 144), gerade dann, wenn die Pflicht, fremde Glückseligkeit zu befördern, entweder durch moralisches Fehlverhalten verletzt oder der Mensch durch natürliche Übel wie z.B. physische oder psychische Krankheit daran gehindert wird, sie zu erfüllen. Angesichts dieser Zuspitzung des Zweifels an der Existenz eines moralischen Urhebers und Lenkers der Welt glaubt Appel nun die eigentliche Stärke des Kantschen Lösungsansatzes ausmachen zu können: Mit Hilfe seiner beiden Postulate der Unsterblichkeit der Seele und der Existenz Gottes als eines moralischen Welturhebers eröffne Kant dem Menschen eine Perspektive der Hoffnung auf die Erlangung des höchsten Guts in einer künftigen Welt und bewahre ihn damit von einem Abgleiten in einen Zustand der moralischen Verzweiflung (vgl. ebd.). Die These, Kant habe die Theodizee in eine Anthropodizee transformiert, ist nun keineswegs neu. Sie wurde im Kern bereits Mitte der 1960er Jahre von Odo Marquard aufgestellt.3 Selbstverständlich spricht nichts dagegen, eine bereits im Raum stehende These unter Heranziehung weiteren Quellenmaterials oder unter Prüfung bislang unberücksichtigt gebliebener Argumente von neuem zu diskutieren. In diesem Fall hätte man jedoch eine Auseinandersetzung mit der Position Georg Cavallars erwartet, der eingehend dargelegt hat, daß Marquards These gerade auf Kants Theodizee-Aufsatz nicht zutrifft. Daß diese Auseinandersetzung unterbleibt, ist mehr als nur ein Schönheitsfehler. Gravierender ist jedoch der Einwand, daß sich Appels Argumentation offenkundig in einem Zirkel verfängt. Die Strategie, die Annahme der Existenz eines heiligen, gütigen und gerechten Gottes dadurch zu rechtfertigen, daß man dem autonom handelnden Menschen die alleinige Verantwortung für die Existenz des Übels zuschiebt, mag zwar in Bezug auf das moralische Übel einige Plausibilität besitzen; in Bezug auf das natürliche Übel, das nicht durch moralisch relevantes Fehlverhalten des Menschen verursacht wird, ist sie jedoch zum Scheitern verurteilt. Man kann dann zwar darauf verweisen, daß der Mensch die Frage nach dem Warum des Leidens letztlich nicht Vgl. Odo Marquard, Idealismus und Theodizee, in: Philosophisches Jahrbuch 73 (1965/66), 33–47. 3

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beantworten, sondern lediglich im Rahmen einer „Praxis des Seins beim Anderen“ (S. 148) auf eine Bewältigung des Leids hinwirken kann. Es ist jedoch nicht zu sehen, wie man unter diesen Vorzeichen vernünftigerweise darauf hoffen kann, daß Gott in einem künftigen Leben für die Realisierung des höchsten Guts Sorge tragen wird, da Gottes Existenz ja gerade in Frage steht. Insofern ist das Postulat der Existenz Gottes als eines moralischen Welturhebers zunächst einmal ein Teil des Problems und nicht dessen Lösung. Richtig ist vielmehr, daß Kant in seinem Theodizee-Aufsatz mit den konzeptionellen Mitteln seines transzendentalen Idealismus ein Argument zur Verteidigung seines Gottespostulats entwickelt, mit dem er die Einwände des TheodizeeGegners erfolgreich entkräften zu können glaubt.

II Vor dem Hintergrund der zuvor skizzierten Forschungspositionen lassen sich nun im Hinblick auf die weitere Interpretation von Kants Theodizee-Aufsatz zwei zentrale Fragen aufwerfen: Erstens: Wie ist das Grundsatzurteil, mit dem Kant alle philosophischen Streitigkeiten auf dem Felde der Theodizee „für immer zu endigen“ (AA VIII/263) hofft, in sachlich-systematischer Hinsicht zu interpretieren? – Führt Kant dort das definitive Scheitern aller Bemühungen um eine philosophische Rechtfertigung Gottes angesichts des Übels in der Welt vor Augen (Schulte, Cavallar, Ricken, Wimmer)?4 Oder leistet er im Gegenteil eine Neubegründung philosophischer Theodizee im Sinne einer moralischpraktischen Theodizee (Brachtendorf)? Gegen die erstgenannte, existentiell-praktische Deutung spricht, daß Kant aufzeigt, daß die moralische Weisheit Gottes durch die empirisch begründeten Einwände des Theodizee-Gegners prinzipiell nicht getroffen werden kann. Wie aber könnte man diese Einsicht anders interpretieren als im Sinne einer rationalen Rechtfertigung des moralischen Theismus? Die Deutung Brachtendorfs sieht sich demgegenüber mit der Schwierigkeit konfrontiert, daß Kant selbst ausdrücklich vom Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee spricht. Ein Ausweg könnte darin bestehen, daß man zwischen zwei Ansätzen zu einer rationalistischen Lösung des Theodizee-Problems unterscheidet. In den oben vorgestellten Arbeiten wird das Vorhaben, die Annahme der Existenz eines heiligen, gütigen und gerechten Gottes angesichts der Erfahrung des Übels in unserer Welt rational zu rechtfertigen, durchgängig mit einer philosophischen Theodizee gleichgesetzt. Nun hat sich in der neueren angloamerikanischen Literatur aber die Unterscheidung zweier Strategien einer solchen Rechtfertigung herausgebildet: Während es in einer philosophischen Theodizee (theodicy) darum geht, plausible Gründe namhaft zu machen, weshalb Gott Im angloamerikanischen Sprachraum wird diese Position mit Unterschieden im Detail auch von Ann L. Loades, Kant and Job’s Comforters, Newcastle upon Tyne 1985, besonders 133–150, und Elizabeth C. Galbraith, Kant and „A Theodicy of Protest“, in: Chris L. Firestone, Stephen R. Palmquist (Hg.), Kant and the New Philosophy of Religion, Bloomington u.a. 2006, 179–189, vertreten. 4

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das Übel in der Welt zugelassen hat, reicht es zu einer philosophischen Verteidigung (defense) des Theismus aus, die grundsätzliche vernünftige Vereinbarkeit der Existenz eines weisen Welturhebers mit der Existenz des Übels in unserer Welt aufzuzeigen.5 Im Lichte dieser begrifflichen Differenzierung erscheint es denkbar, daß Kant in seinem Theodizee-Aufsatz zwar eine philosophische Theodizee zurückgewiesen, den Einwänden des Theodizee-Gegners aber sehr wohl eine philosophische Verteidigung seines moralischen Theismus entgegengesetzt hat. Zweitens: Was genau ist unter einer authentischen Theodizee zu verstehen? – Die Autoren, die den Theodizee-Aufsatz existentiell-praktisch interpretieren, tendieren dazu, die authentische Theodizee ausschließlich als Ausdruck eines Fiduzialglaubens aufzufassen (Schulte, Cavallar, Ricken, Wimmer).6 Dieser Glaube äußert sich nicht in einem Fürwahrhalten eines bestimmten Glaubenssatzes, sondern in einem Akt des Vertrauens, bei dem der Glaubende darauf hofft, daß Gott ihm in einem künftigen Leben die seiner sittlichen Würdigkeit angemessene Glückseligkeit zuteil werden läßt. Nun insistiert Kant allerdings selbst darauf, daß ein religiöser Glaube nur dann vernünftig vertretbar ist, wenn es gelingt, die gegen ihn erhobenen Einwände argumentativ zu entkräften (vgl. AA VIII/255 f.). Es sind daher Zweifel an der Vernünftigkeit eines religiösen Glaubens angebracht, der die Frage, ob sich die Annahme der Existenz eines heiligen, gütigen und gerechten Gottes mit der Existenz des Übels in unserer Welt widerspruchsfrei vereinbaren läßt, nicht zu beantworten vermag. Interpretiert man den Theodizee-Aufsatz indes im Sinne einer philosophischen Verteidigung des moralischen Theismus, die durch die Entkräftung der Einwände des Theodizee-Gegners die Voraussetzung dafür schafft, daß ein solcher Akt des Vertrauens auf Gott trotz der Erfahrung des Übels in unserer Welt rational verantwortbar ist, so muß die authentische Theodizee auch als Ausdruck eines doxastischen Glaubens, d.h. eines Fürwahrhaltens der Annahme, daß ein heiliger, gütiger und gerechter Gott existiert, angesehen werden. Nachdem Kants Theodizee-Aufsatz zumindest in der deutschsprachigen Literatur lange Zeit eher ein Schattendasein fristete, liegen mit den hier vorgestellten Arbeiten nun mehrere aspektreiche Untersuchungen zu diesem Gegenstand vor. Es ist zu wünschen, daß die Erforschung dieses Textes sowohl in philologisch-historischer als auch in sachlich-systematischer Hinsicht dadurch neue Impulse erhält.7 Volker Dieringer (Mannheim)

Zu dieser Unterscheidung vgl. z.B. Michael Peterson u.a., Reason and Religious Belief. An Introduction to the Philosophy of Religion, Oxford u.a. 32003, 137 ff.; aus der deutschsprachigen Literatur vgl. jetzt auch Winfried Löffler, Einführung in die Religionsphilosophie, Darmstadt 2006, 129. 6 Aus der angloamerikanischen Literatur vgl. wiederum Loades, Kant and Job’s Comforters, und Galbraith, Kant and „A Theodicy of Protest“ (wie Anm. 4). 7 Der Vf. hat zu diesem Thema eine Dissertation verfaßt, die demnächst unter dem Titel „Kants Verteidigung des moralischen Theismus. Eine Rekonstruktion“, Stuttgart-Bad Cannstatt (Forschungen und Materialien zur Deutschen Aufklärung) erscheinen wird. 5

AUFKLÄRUNG Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte

In Verbindung mit der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts herausgegeben von Lothar Kreimendahl, Monika Neugebauer-Wölk und Friedrich Vollhardt. Gegenstand des Jahrbuches ist die Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte. Der Gedanke der erkenntnisfördernden Kraft der offenen, unparteiischen Diskussion war eine der wichtigsten Überzeugungen des Jahrhunderts. Es ist diese Grundhaltung der Aufklärung, die auch die Anlage des Jahrbuches bestimmt. Das Streben nach Interdisziplinarität war eine dominierende Tendenz und Ausdruck der Integrationskraft der Epoche. Der Umbruch des kulturellen und zivilisatorischen Selbstverständnisses sowie die Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft wurde von ihm mitbestimmt. Auch dieser Idee versucht die Aufklärung zu entsprechen. Fachübergreifend angelegt, wird die Aufklärung thematisch flexibel Ergebnisse und Perspektiven der verschiedenen Forschungsdisziplinen im Hinblick auf die jeweiligen sachlichen Schwerpunkte zusammenführen, die durch Kurzbiographien, Diskussionen sowie Forschungs- und Literaturberichte ergänzt werden. Anschrift der Redaktion Dr. Marianne Willems, Ludwig-Maximilians-Universität München, Institut für Deutsche Philologie, Schellingstraße 3, D-80799 München. Tel.: (089) 21 80 62 20 E-mail: [email protected]

Bezugsbedingungen Das interdisziplinäre Jahrbuch Aufklärung erscheint im Umfang von mindestens 240 Seiten. Der Bezugspreis für den Jahrgang beträgt im Abonnement in Relation zum Umfang ab € 58,– zzgl. Versandspesen (Inland €.3,– / Ausland €.5,–). Einzelbände kosten ab €.68,– zzgl. Versandspesen. Mitglieder der „Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts“ bestellen Abonnements über die Geschäftsstelle der Gesellschaft (c/o Herzog August Bibliothek, Postfach 1364, D-38299 Wolfenbüttel) zum ermäßigten Mitgliederpreis ab €.42,– bzw. ab €.49,– pro Band, jeweils zzgl. Versandspesen (s.o.). Das Jahrbuch Aufklärung und alle in ihm enthaltenen Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. * * * © Felix Meiner Verlag, Richardstraße 47, D-22081 Hamburg. Tel. (040) 29 87 56-0, Fax (040) 29 87 56 20. Email: [email protected] Das Verlagsprogramm kann im Internet unter www.meiner.de eingesehen werden. ISSN 0178-7128.