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German Pages 289 [292] Year 1999
Hans-Peter Krüger Zwischen Lachen und Weinen Das Spektrum menschlicher Phänomene
Hans-Peter Krüger
Zwischen Lachen und Weinen Bandi
Das Spektrum menschlicher Phänomene
Akademie Verlag
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Krüger, Hans-Peter Zwischen Lachen und Weinen / Hans-Peter Krüger - Berlin : A k a d . - Verl. Bd. 1. D a s Spektrum menschlicher P h ä n o m e n e . - 1999 ISBN 3-05-003414-9 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 1999 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der R. Oldenbourg-Gruppe Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706 Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Lektorat: Mischka Dammaschke Einbandgestaltung: Jochen Baltzer Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany
Meinen Lehrern Wolfgang Heise und Gerd Irrlitz
„Das Verhalten der Menschen, solange ihre Natur, wie sie jetzt ist, bliebe, würde also in einen bloßen Mechanismus verwandelt werden, wo wie im Marionettenspiel alles gut gestikulieren, aber in den Figuren doch kein Leben anzutreffen sein würde." Immanuel Kant (1787)
Inhalt
Einleitung: Philosophische Anthropologie als Anwalt des Common Sense in der Frage nach dem Menschen 1. Sechs Themen des Common Sense zur Frage nach der Spezifik des Menschen . . 2. Die Hegemonie von Dualismus und Nihilismus 3. Das Propädeutikum der Philosophischen Anthropologie: den Common Sense gegen die dualistisch-nihilistische Hegemonie auf sich besinnen 4. Der Einsatz der Philosophischen Anthropologie von Helmuth Plessner . . . . 5. Der methodische Viererschritt der Philosophischen Anthropologie 6. Das Prinzip der Unergründlichkeit des Menschen: die philosophische Skepsisform des Common Sense gegenüber der Bemächtigung anthropologischer Themen 7. Mottos und Widmung
1. Die negative Einheit der Sinne: Körper-Leib und Urteilskraft im Kategorischen Konjunktiv 1.1. Körperliche und leibliche Sinne 1.2. Die Körper-Leib-Differenz am eigenen Körper 1.3. Sprachliche Kommunikation der individuellen Urteilskraft mit der soziokulturell verfügbaren Urteilskraft in praxi 1.4. Das kommunikative Zusammenspiel der individuellen und soziokulturellen Urteilskraft in der Körper-Leib-Differenz 1.5. Der Mensch als Lebewesen: eine erste Vorstellung von sich im Meer der anderen 1.6. Unsere lieben Haussäuger 1.7. Was wir mit anderen Säugern teilen: Bewußtsein und Sozialsinn des Spielverhaltens 1.8. Die senso-motorische Grenze 1.9. Zusammenfassung: die beiden Differenzen an Körper-Leib und zu kommunizierender Urteilskraft 1.10. Plessners Hypothese über die Spezifik des Menschlichen: der Kategorische Konjunktiv
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Inhalt
2. Die Freilegung des Nichts: Lektionen zur Sinnesfrage aus den modernen Künsten 2.1. Sinnenleere und Frischfleisch 2.2. Die künstlerische Fokussierung des Kategorischen Konjunktivs 2.3. Der Konflikt zwischen Common Sense und modernen Künsten: seine geschichtliche Herkunft 2.4. Die Krise der modernen Kunstsinne als anthropologisches Experiment 2.5. Asthetisierung der Kunstsinne: ihre Musikalisierung, Visualisierung oder Integration 2.6. Der Common Sense zwischen Alltäglichem und Außeralltäglichem . . . 2.7. Der Rahmen der Asthetisierung der Kunstsinne zwischen Impressionismen und Expressionismen 2.8. Der geschichtliche Charakter des Sinns der Sinne: zwischen der Exzentrierung und der Rezentrierung des eigenen Standortes 2.9. Die Zentrierung aufs Bewußtsein der Subjektivität oder die Exzentrierung der positionalen Lage von menschlichen Lebewesen 2.10. Der Streit über Wagners Gesamtkunstwerk 2.11. Von der Visualisierung der Musik zur Musikalisierung der Malerei . . . . 2.12. Vom sensomotorischen Reflexionskreis der Stimme zum sprachlichen Reflexionsprozeß: Die Metaphern der Intermodalität 2.13. Die sprachliche Verschränkung der Sinne: Schauspielen und Metaphorisieren als Ubersetzung 2.14. Das Bewußtsein ist nichts
3. Die Freilegung von Etwas vor dem Nichts: Naturphilosophische Lektionen zur Sinnesfrage aus den Erfahrungswissenschaften 3.1. Zwischenstand 3.2. Ich-Bewußtsein, Aufmerksamkeit und Wachheit 3.3. Der Doppelaspekt bewußten Erlebens: seine gegenstands- und latent selbstorientierte Aktivitätsrichtung 3.4. Die neuro- und die verhaltensphilosophische Fragerichtung 3.5. Die Situierung des Bewußtseins: zentrische Organisationsform und zentrische oder exzentrische Positionalitätsform 3.6. Der zentrische Charakter der Organisationsform und der Positionalitätsform von Lebewesen, die sich bewußt verhalten können 3.7. Wie die zentrische Organisationsform und die exzentrische Positionalitätsform zusammenhängen können
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Inhalt
3.8. Gegensinn und Gleichsinn in der Zentrierungsrichtung zur Funktionsmitte des Positionsfeldes oder des Organismus 3.9. Die lange Kindheits- und Jugendphase: ihr erotischer Spiel- und Sprachcharakter ,. 3.10. Die Mitwelt als Ermöglichung des Zusammenspiels von Organisationsund Positionalitätsform: die Differenz zwischen Innen- und Außenwelt 3.11. Bewußtsein und Gehirn 3.12. Bewußtsein aktualisiert die Eingespieltheit der zentrischen Organisationsform auf die exzentrische Positionalitätsform 3.13. Bewußtsein und Verhalten 3.14. Die tierische Dominanz der zentrischen Organisationsform und die spezifisch menschliche Dominanz der exzentrischen Positionalitätsform: vom Spielverhalten zum Verhaltensspiel
4. Zwischen Lachen und Weinen I: Die Individualisierung der Person 4.1. Zwischenbilanz der ersten Hälfte: Erschließung der Mitwelt 4.2. Das Strukturproblem der Mitwelt: unsere Eingespieltheit (Vorangepaßtheit) 4.3. Die Entfaltung der Lösungsrichtung: vom Rollenspiel in seinen Grenzen am ungespielten Lachen und Weinen her 4.4. Die lebbar symbolische Verschränkung des Bruches der menschlichen Natur: Ihre Bewahrung vor den Mißverständnissen der Tiefe, Oberfläche, geistigen Aufhebbarkeit und Dekonstruktivität 4.5. Das Spielen der Körper-Leib-Differenz in und mit der Elementarrolle: zwischen der Symbolpraktik des Eigennamens und den Zeichen der Vertretbarkeit 4.6. Die Rolle als Schauspiel: die Differenz zwischen privater und öffentlicher Person 4.7. Das Individualisierungsproblem der drei Selbstbezüglichkeiten, die ambivalent aus dem Schauspielen der Rolle erwachsen 4.8. Der Dauertest des gegenseitigen Blickkontaktes: das Schaubild der Rolle (Habitus) und die Rollensprache ineinander übersetzen, also handeln, sich ausdrücken und sprechen können 4.9. Der Spielcharakter menschlichen Verhaltens: sein Grenzproblem am Ungespielten 4.10. Methodische Bemerkung zum Phänomenzusammenhang 4.11. Ungespieltes Lachen und Weinen als spezifisch menschliche Verhaltensgrenzen: ihre Gemeinsamkeit
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Inhalt 4.12. D e r Unterschied zwischen ungespieltem Lachen und Weinen
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4.13. Das Lächeln der Souveränität 4.14. Das Allzumenschliche bedingter Süchte und Leidenschaften: die Individualisierung der Person, exemplarisch genommen 4.15. Das spielerische Einholen des Weinens in der Sucht und des Lachens in der Leidenschaft 4.16. Unmenschliches jenseits von Lachen und Weinen: das Unbedingtwerden der personae, Süchte oder Leidenschaften
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4.17. Die gewaltsamen Enden des künstlichen Instinkersatzes oder das Individuum ineffabile
5. Zwischen Lachen und Weinen II: Die Personalisierung des Individuums
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5.1. Die Individualisierung der Person und die Personalisierung des Individuums: Einleitung
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5.2. Drei Rollenbegriffe: Das privat-öffentliche Doppelgängertum der Würde bricht die Individualisierung, Vergemeinschaftung oder Vergesesellschaftung der Person
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5.3. D a s ^ m o m i - S p i e l führt aus dem Dualismus zwischen Handeln und Verhalten heraus und in den Kommunikationszusammenhang zwischen Interaktion und Medium hinein
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5.4. Personalität als das Medium gemeinschaftlicher Interaktionen: das Familien- und Sachmodell der Gemeinschaft und die Grenzen der Vergemeinschaftung von Personen 5.5. Personalität als das Medium gesellschaftlicher Interaktionen: Gesellschaft im Alltag, in der Zivilisation und im funktionalen Sinne 5.6. Das Problem der Balance zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft durch die Kunst, das Verfahren und die juristische Methode der Politik 5.7. Die dynamische Fassung der soziokulturellen Mitwelt: kulturelle Entfremdung und Geschichtlichkeit in der Generationenfolge 5.8. D e r utopische Charakter unserer Eingespieltheit und seine Verdeckungen: die Schrift und die Verselbständigung des Bewußtseins
6. Epilog: Die Souveränitätsfrage in der Ermächtigung zu geschichtlichem Tun 6.1. Einleitung: Das Problem des Ausgleiches der Differenzen zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft und zwischen Entfremdung und geschichtlicher Expressivität in der Generationenfolge 6.2. Die Gestaltung der Differenzen ist doch eine Machtfrage: die Emanzipation der Macht
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Inhalt
6.3. Das Balance-Problem in der Vergesellschaftung von Macht: informelle Gemeinschaften und Individualität in der nächsten Generation 6.4. Das Balance-Problem der Vergemeinschaftung von Macht: sportive Spielformen in der Öffentlichkeit 6.5. Macht als die Relation der Unbestimmtheit zu sich 6.6. Die verspätete Nation der Deutschen: eine exemplarische Fallstudie zum Thema der Geschichtlichkeit, auch des homo absconditus der Philosophischen Anthropologie selber 6.7. Die philosophische Verschränkung des Bestimmten und Unbestimmten im Durchlaufen des Spektrums menschlicher Phänomene
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Literaturverzeichnis
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Personenregister
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Sachregister
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Abbildungsnachweis
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Einleitung „ Zu dieser unabgeschlossenen Transformation in eine Gesellschaft ohne vorgegebene Autorität, d. h. der vollendeten Aufklärung, paßt die Scheu vor einer Fixierung menschlichen Wesens und seiner Bestimmung in einem nicht mehr revidierbaren Sinne. " Helmuth Plessner (1956)
Philosophische Anthropologie als Anwalt des Common Sense in der Frage nach dem Menschen Am Ende dieses 20.Jhs. ist es unvermeidlich geworden, die Frage nach dem Menschen erneut zu stellen. Sie ist gerade deshalb von neuem aufzurollen, weil das Wesen des Menschen Gott gefolgt oder, wie es auch heißt, im Verschwinden sei. Gewiß, in der Frage nach dem Menschen überkreuzen sich viele Probleme zu einem Ganzen, an das man im Dienste der Klarheit besser nicht rührte. Schnell stellt sich die Befürchtung ein, der Stab des Zauberlehrlings könnte durch das Medium Mensch hindurch Geister anrufen, deren man nicht mehr Herr würde. Indessen kann Philosophie den Common Sense nicht im Ernst mit der Auskunft abspeisen wollen, die Spuren des Menschen verliefen sich bereits im Sand. Denn nur eine historisierbare Auffassung von seinem Wesen hat sich erschöpft. Auch muß Philosophie diesen „Gemeinsinn" für kein Absolutum im Stich lassen, nicht einmal für das Ideal der kunstsprachlichen Transparenz unter Laborbedingungen. Solche Klarheit über sich zu erlangen, steht dem Menschen selber nicht zu Gebote. Und schließlich: Wie sollte Philosophie, diese altehrwürdige Dame, dieser oder jener politischen Korrektheit, die kommt und geht, den Vorzug geben vor dem sensus communis, der in all seinen Umbildungen doch der Ermöglichungsgrund des Politischen bleibt. Der Common Sense stimmt Anschauung und Urteilskraft praktisch, im Lebensvollzug hier und heute, aufeinander ab. Die Kriterien des Anschauens von „menschlichen" Phänomenen und des Urteilens nach „menschlichem" Ermessen sind spätestens seit dem 18. Jh., seit der Inauguration der Menschenrechte, unser aller umstrittenes Problem. Es lohnt sich auch in der Philosophie, gegenüber Ansprüchen, die den Lebensvollzug übersteigen, die Skepsis des Gemeinsinnes zu teilen. Der Common Sense beharrt zu Recht auf der lebendigen Anschauung von dem, worüber geredet wird. Die philosophische Anthropologie, um die es im folgenden geht, bekennt sich ausdrücklich zu dieser Aufgabe, im Anschluß an das Anschauungsbedürfnis des Gemeinsinnes die Spezifik menschlicher Phänomene zu entdecken. Sie ist philosophischer Anwalt des Common Sense.
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Einleitung
Diese Rolle des Advokaten bezieht sich aber nicht nur darauf, daß Anschauen gelernt sein will. Der Common Sense verliert sich nicht in der Anschauung, sondern muß, um in der Situation angemessen handeln zu können, urteilsfähig werden. Ob man nämlich das Angeschaute richtig beurteilt, zeigt sich darin, daß man ihm gegenüber etwas Angemessenes tut, die Situation also meistert, unter Umständen auch durch ein Unterlassen. Unter dem alltäglichen Druck, ständig verschiedene, aber doch angemessene Schlüsse praktizieren zu sollen, gerät man leicht in Vereinfachungen, die der Komplexität menschlicher Lebenssituationen unangemessen werden. Zwischen Bios, Sozium und Kultur, zwischen Individuuum, Geschichte und Gesellschaft hin- und hergerissen, gerät der Gemeinsinn in Urteilsnot. Es stellt sich ihm selbst die philosophische Frage nach dem Zusammenhang der Aspekte des menschlichen Lebens. Ein guter Arzt wechselt zwischen den Perspektiven der Diagnose am Patienten und des Zusammenhangs der Therapie zur Lebensgeschichte des Menschen. Philosophische Anthropologie ist diesem ärztlichen Blick darin verwandt, daß sie am naturphilosopischen Ermöglichungsgrund das geschichtliche Pluralitätsproblem der Kulturen ansetzt. Es geht dann nicht nur um die Anschauung dieses oder jenes menschlichen Phänomens, wie wir es aus dem Alltag unserer Kultur längst kennen. Vielmehr interessiert der Zusammenhang in einem Spektrum, wie der Untertitel des vorliegenden ersten Bandes lautet. Was es als das spezifisch Menschliche an kulturell vielgestaltigen Phänomenen zu entdecken gilt, entfaltet sich dazu, insofern es einen Reigen von Phänomenen durchlaufen kann. Es ist wie ein bewegtes Bild, das zwar im Augenblick als Foto zu stehen kommt, aber in dem szenischen Zusammenhang seiner Veränderbarkeit schon immer weiterläuft. Die Phänomene menschlicher Art begegnen uns im Spektrum der Potentiale menschlichen Ermessens. Dieses Ermessen kann nur zwischen den Verhaltensgrenzen des Menschen statthaben. In den westlichen Kulturen ist Ermessen vor allem in den Gestalten der schriftlichen Argumentation und dementsprechender Selbstbeherrschung im Handeln entwickelt worden. Diese Einseitigkeit läßt sich jedoch in dem Spielcharakter, der allen menschlichen Tätigkeiten eigen ist, aufheben. Menschliches Ermessen liegt zwischen dem Lachen und Weinen. Ungespieltes Lachen zeugt von unserem Scheitern an zu großer Mehrsinnigkeit, und im ungespielten Weinen scheitern wir am Sinnverlust im Ganzen. Das fragliche Spektrum bildet also einen Kreis des Zusammenstimmens der Sinne, der körperlichen sowohl als der geistigen, auf den eben der Common Sense schon immer aus ist. Wer nicht mehr zwischen dem Lachen und Weinen verbleibt, sondern Lachen und Weinen übersteigt, eröffnet die Potentiale zum Unmenschlichen, sowohl im Anschauen als im Urteilen. Es ist nur allzumenschlich, einer Leidenschaft oder Sucht bedingt zu frönen. Herrschen sie jedoch unbedingt, bleiben uns bald Lachen und Weinen im Halse stecken. Das menschliche Lebewesen darf demnach nicht als ein fixes Wesen verstanden werden, das sich vor anderen Spezies durch ein bestimmtes Monopol auszeichnete,
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etwa das Denken oder Sprechen, die Produktion von Werkzeugen oder Zeichen allein für sich beanspruchen könnte. Vielmehr bedarf das menschliche Lebewesen eines ihm eigenzeitlichen Spielraumes, in dem es sich dank solcher Zuordnungen verlieren und gewinnen kann. Sein Bios braucht eine Zuordnung zwischen der Sensorik und Motorik, läßt aber bis auf ein Gestaltminimum die Bestimmung solcher Zuordnungen weitgehend offen. Das Kultursozium bestimmt derartige Zuordnungen in der Form von Rollen, die jedoch geschichtlich auch anders sein können. Menschliche Lebewesen individualisieren sich, indem sie in und mit solchen Rollen wie unter und mit Masken spielen. Die Maske (persona) erlaubt es, sich vor und hinter ihr bewegend zu verdoppeln. Jeder von uns gibt gleichsam seinen eigenen Doppelgänger. Wir versuchen einerseits, in der jeweiligen Rolle dem Musterbild vergleichbar zu spielen. Dadurch werden wir aber mehr oder weniger vertretbar oder gar austauschbar durch andere, die diese Person auch darstellen könnten, was zweifellos für den gesellschaftlichen Fortgang wichtig ist. Andererseits erproben wir im Anschluß an zugefallene Eigentümlichkeiten, uns im Spiel mit der jeweiligen Rolle zu individualisieren, sei es eher für uns selbst, sei es eher in der Anerkennung durch andere, nicht austauschbar oder auch nur vertretbar zu sein, etwa in der Liebe oder einer anderen Erfindung ohnegleichen. In dem vorliegenden Band wird nicht nur der Individualisierung der personae (Personalrollen) nachgegangen, sondern auch umgekehrt der soziokulturellen Personalisierung von Individuen. Über die Rollen, die Menschen spielen, kann der Phänomenreigen vom Individuum bis zur Menschheit aufgeschlossen werden. Man folgt dann den gemeinschaftlichen Interaktionsarten, die über eine gemeinsame Wertebindung verfügen, und den gesellschaftlichen Interaktionsarten, die ohne eine gemeinsame Wertebindung auskommen müssen. Das Problem, die Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung der Individuen auszubalancieren, entsteht in jeder Generation von neuem. Die Nachwachsenden entfremden sich kulturell ihren Vorgängern, indem sie das technisch Verwertbare von seinem ursprünglichen Sinn befreien und doch geschichtlich bei sich selbst ankommen müssen. Der Phänomenreigen schließt sich also mit der Aufgabe der Selbstermächtigung zu geschichtlichem Tun. Souveräne Machtformen erlauben es, den Spielraum zwischen Lachen und Weinen, die geschichtliche Freiheit zur Selbstfindung, in der Generationenfolge zu bewahren. Demgegenüber setzen nichtsouveräne Machtformen der bloßen Selbstbehauptung diesen Spielraum um den Preis des Unmenschlichen aufs Spiel. 1. Sechs Themen des Common Sense zur Frage nach der Spezifik des Menschen Ich habe eingangs behauptet, daß es am Ende unseres Jhs. unvermeidlich sei, die Menschenfrage erneut zu stellen. Diese These möchte ich exemplarisch an sechs Themen verdeutlichen, die sich dem Common Sense gegenwärtig als Grenzprobleme aufdrängen:
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Einleitung
Erstens: Früher oder später kommt man je individuell als Person in Grenzlagen seiner Lebensführung, sei es aus Erfolg oder Niederlage, aus Glück oder Unglück. Die Meisterung solcher Lebenslagen kann dem Urteil, darauf menschenmöglich zu antworten, nicht entgehen, weder in der Selbstanschauung noch im Dialog mit anderen. Nicht jedes Anzeichen von Liebe wird sich in einem E-Mail auflösen lassen, nicht jedes Virus steckt nur in der Software und nicht jeder Tod ist simuliert. Wir leben immer schon hier und jetzt spontan und erleben uns doch noch von woanders her. Womöglich ist die Einbildung des unverwechselbar eigenen Lebens nur die Illusion, die ein Wesen, das auf sein individuiertes Selbst versessen scheint, nötig hat. Besteht die Wahrheit dieser Einbildung nur darin, eben eine Variable zu sein, die im Kalkül der Kreditverträge, im wahrscheinlichen Durchschnitt der Versicherungspolicen und Patiententestamente längst objektiviert werden kann? Zweitens: Die neuen biomedizinischen Technologien lassen fraglich werden, was an uns Lebewesen Natur ist. Die Bestimmung von etwas als Natur kann drei Bedeutungen haben. Man kann damit meinen, daß es sich als Natur dem von uns künstlich Herstellbaren entzieht. Dann markiert es die Grenze unseres Handelns. Oder man versteht, wie insbesondere in der Moderne, unter erster Natur gerade das, was sich durch die Technologien der Erfahrungswissenschaften erzeugen läßt. Dann handelt es sich um den Unterschied zwischen der Natur des Faktischen, das machbar ist, und der Natur des Normativen, das getan werden soll. Diese dreifache Bedeutung von Natur für unser Handeln kommt der Grenzfrage nach unserer Selbstermächtigung gleich, die sich heute plastisch für unseren eigenen Organismus stellt. Kann der menschliche Organismus selbst, nicht nur dieses oder jenes seiner Organteile, künstlich ersetzt werden? Gentechnologisch behandelt würde er wie eine Kopie reproduzierbar. Drittens: Die anhaltende Expansion der Industriegesellschaften über den Globus hat unsere Population ökologisch zu einem Problem werden lassen. Wer sich der Halbwertzeiten angesichts der Nachfahren erinnert und wer die Müllachen dieser industriellen Ballungszentren gesehen hat, wird kaum glauben können, daß sich die irdische Natur davon erholte. Jedenfalls kann sich keiner der Lösung dieses Problems durch unsere zweite, die soziokulturelle Natur einfach sicher sein. Die Moderne lebt von diesem Kredit auf künftigen Fortschritt soziokultureller Art, der nun auch in Gestalt neuer Umwelttechnologien, bereits gentechnologischer Freilandversuche, praktiziert wird. Die moderne Entwertung der Traditionsbestände verheißt eine Zukunft, die - entkleidet man sie vom Versprechen auf automatischen Fortschritt spätestens von den Nachkommen zu begleichen sein wird, kommt der mögliche Bumerang nicht früher zurück. Viertens: Die Zweitnatur des Menschen schien ihn im Sinne der Sozialität und Kulturalität, insbesondere des Sprechens und Denkens, von der übrigen Natur abzuheben. Aber alle diese Merkmale kommen, so belehren uns die jüngeren Verhaltenswissenschaften, zumindest graduell allen Säugern und vom Prinzip her wohl allen
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Primaten zu. Haben wir seit Jahrhunderten im Tier-Mensch-Vergleich unser Selbstbild zu „niedrig", sozusagen „tierisch" angelegt, indem wir für uns die Kompetenzen bewußten Handelns, darunter des Werkzeughandelns, und der mündlichen Kommunikation unter Anwesenden als Wesensmonopole des Menschseins reklamierten? Und hatte dieses verkürzte Selbstverständnis, da es gleichzeitig gegen unser offenbares Kontinuum mit der tierischen Natur einen gehörigen Abstand wahren sollte, zur Konsequenz, Tiere nicht wie sich selber reproduzierende Lebewesen, sondern nahezu wie leblose Dinge zu behandeln? Dann lebte unser Ethnozentrismus von der Rekrutierung der jeweils auszuschließenden „Indianer" nicht nur innerhalb der eigenen Spezies, sondern mehr noch von der reduktiven Grenzverwischung der Spezies Mensch selbst. Machen wir uns über die historische Wirksamkeit des Universalismus unserer Kultur nichts vor: Wenn es um die konkrete Ausübung der Rechte auf soziokulturelle Teilhabe an ihm ging, wurden Grenzregimes entwickelt, die sich in den biomedizinischen und kulturhistorischen Unterscheidungen Nahrung verschafften. Fünftens: Auch die Informations-, Kognitions- und Kommunikationswissenschaften stellen unser traditionelles Selbstverständnis, eine besonders intelligente und kommunikative Soziokultur zu sein, radikal in Frage. Was unsere Spezifik auszeichnen sollte, Intelligenz und ein als Kommunikation vorgestellter Informationsaustausch, scheint auf neuartige Kombinationen zwischen Hardware und Software übertragbar zu sein. Man müsse, so heißt es, in diese Neuverkopplung nur - sensorisch betrachtet - audiovisuelle Medien und - semantisch-pragmatisch gesehen - einen Konnektionismus der Bedeutungen einbringen. Die Technologien der Künstlichen Intelligenz und der Neuen Medien würden so auf das menschliche Niveau an interaktivem Lernen gebracht. Was für eine Besonderheit des Menschen gehalten worden ist, hier also Intelligenz und Informationsaustausch, wird später in technologischen Verfahren auch vergegenständlicht. Aber wenn dies zutrifft, dann kann das menschliche Dasein, das diese immer neuen Technologien erst ermöglicht, nicht selbst in diesen aufgehen. Je funktionstüchtiger die Technologien werden, desto rätselhafter wird ihre Herkunft und desto problematischer ihre Abkunft im Vollzug menschlicher Lebensformen, die offenbar schon immer vor und noch immer hinter den Technologien liegen. Sechstens: Schließlich ist auch auf das Kultursozium selber, diese Hoffnung auf eine zweite Heimat im unendlichen Universum, kein Verlaß, wenn uns schon die erste Natur, die der erfahrungswissenschaftlichen Technologien, keine Heimstatt bieten kann. Das 20. Jh. hat sowohl im historischen als auch im synchronen Vergleich der Kulturen und Gesellschaften untereinander kaum Zweifel an deren Relativität und Pluralität gelassen. Der Zeitgeist der Wohlstandsinseln verbreitet sich im Äther der Kontingenz. Es hätte alles auch ganz anders kommen können, aber so geht es auch: Solange wir Westeuropäer eben Zentrum bleiben und nicht Peripherie werden. Was zählt dann aber als gesellschaftlich gültig, oder ist letztlich alles erlaubt, was eben durch Machtverschiebung geht? Die Auflösung der pluralen Gesellschaft in affektiv
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Einleitung
oder sachlich nahe Gemeinschaftsformen, in die Wärme der emotionalen oder in die Kälte der rationalen Wertebindung, hat sich durch Diktaturen ins Inhumane verkehrt. Aber ist die Globalisierung der Märkte dann das letzte Wort der Weltgeschichte, das posthistoire einer Weltgesellschaft, die uns der bisherigen Geschichtsbedürftigkeit der Menschennatur enthebt? Auch hier scheint der Mensch in der, nun sozial-technologischen, Verfügbarkeit dessen zu verschwinden, das einst für sein Wesen gehalten wurde. Aber gerade durch dieses Verschwinden gerät er geschichtlich in ein neues Ungleichgewicht seiner Konstitution. Der Menschheit, der ihre Bilder entschwinden, nach denen sie ein Leben zu führen vermag, droht ein Vakuum an Kultur. Man verwechsele dieses Vakuum nicht mit der Liberalität, die sich von dem Fundamentalismus, ausschließlich ein bestimmtes Menschenbild realisieren zu wollen, zu Recht frei weiß. Die Verbote, das Absolute in ein bestimmtes Bild zu pressen, hatten und haben zweifellos den Sinn, Menschen vor ihrem Opfer seiner unbedingten Realisierung zu bewahren. Aber ohne Imagination geht menschliche Lebensführung nicht. Menschen leben schon immer in ihrem Selbstausdruck. Sie kommen erst dadurch zu sich, daß sie sich geschichtlich herausproduzieren. Wir dürfen uns nach diesem Jahrhundert gewiß durch keine Hybris mehr zum Wagnis der Geschichte ermächtigen, wollen wir dem Zwang zur Wiederholung von selbstgemachten Katastrophen entkommen. Aber die nach Menschenmaßen souveräne Selbstermächtigung zu geschichtlichem Tun bleibt auch und gerade uns aufgegeben, Generationen, die technologisch wie nie zuvor reich sind. 2. Die Hegemonie von Dualismus und Nihilismus Das Problem, ein Menschenmaß zu finden, uns selbst gegenüber auch in unvorhersehbaren Situationen angemessen verhalten zu können, bildet den Zusammenhang der sechs genannten Themen. Aber dieser Zusammenhang wird im traditionell hegemonialen Selbstverständnis des modernisierten Westens kaum mehr faßbar. Die Hegemonie über unser Selbstverständnis hat zunächst der Dualismus, der behauptet, etwas sei entweder Körper oder Geist. Die unvertretbar individuelle Antwort auf Grenzlagen der persönlichen Lebensführung, dieses traditionell privaten Bereichs, verlangt nach einer öffentlichen Entsprechung. Die öffentliche Bandbreite, in der den biotechnologischen Veränderungen menschlicher Organismen und der ihnen nötigen Umwelten Grenzen gezogen werden, müßte selber der Individualisierung entgegenkommen. Aber das im modernen Westen traditionell vorherrschende Selbstverständnis denkt Individualisierung geistig und bezieht sie nicht auf die Natur des Zusammenhanges zwischen Organismus und Umwelt. Dieser Zusammenhang scheint auf darwinistische Weise vom Naturalismus besetzt. Oder man hält die Rede von der Individualisierung gleich für eine subjektive Lebensillusion, deren Eigenwert in der ersten Natur der Erfahrungswissenschaften und Technologien nicht gewürdigt werden kann. Das traditionell hegemoniale
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Selbstverständnis zwingt uns eine ausschließende Entweder-oder-Alternative auf, die seit Descartes' Zeiten daran krankt, den Dualismus zwischen Körper und Seele nur unbefriedigend überbrücken zu können. In dieser hegemonialen Tradition schien der Dualismus die Selbstermächtigung eines geistigen Wesens zur Beherrschung der Natur zu legitimieren. Inzwischen finden wir uns als ökologisch bedürftige, künstlich substituierbare oder reproduzierbare Lebewesen in ein Kontinuum der Natur hineinversetzt, in dem wir erst neue Unterscheidungen erlernen. Womöglich ist die Natur als Lebendiges schon eine Individualisierung, die Physikalismus und Mentalismus gemeinsam übersehen mußten. Die dualistische Aufspaltung des Menschenwesens ist nicht einfach gescheitert. Der Dualismus scheitert vielmehr noch immer an seinem Erfolg, dem keine romantische Einheit von Leib und Seele Paroli bieten kann. Je mehr Bereiche der Dualismus zur ersten Natur und als erste Natur der Erfahrungswissenschaften erklärt hat, desto mehr ist uns technologisch verfügbar und rekombinierbar geworden, und zwar bis in die zweite soziokulturelle Natur hinein, als ob auch sie nun endlich durch Märkte und deren Regulierung beherrschbar würde und damit der bisherigen Geschichtlichkeit entrissen werden könnte. Zurück bleibt der Tendenz nach einerseits ein Geist, der sich in Luft auflöst, gesellschaftlich an den Aufmarsch von Gespenstern und individuell an seelische Halluzinationen erinnert, kulturell beliebig, ohne starken Anspruch und ohne Geltungskraft, umringt schon immer von technologisch Machbarem. Was andererseits technologisch verfügbar geworden ist, braucht nicht mehr öffentlich zu gelten. Es orientiert nicht mehr, sondern operiert. Es bedarf keiner geistigen Anstrengung mehr, sondern funktioniert, wenn nicht früher, dann später. Der Dualismus erlischt mit seinem technologischen Erfolg wie der Karneval am Aschermittwoch. Immerhin bot er uns ein Spiel der Selbstbegrenzung, wenngleich in den existentiellen Abgrund übertrieben, vor dem ein Rest von Gott als Vermittler bewahrte. Der Nihilismus ist die erste und massive Folge des technologisch erfolgreichen Dualismus: Es entsteht allenthalben der Eindruck, daß in gesellschaftlicher Instanz nichts mehr gilt, womöglich auch nichts mehr als objektiv gültig ausgewiesen werden kann oder als öffentlich richtig auch nur qualifiziert werden müßte. Es gibt noch immer viel Aufbegehren gegen die alte Hegemonie des Dualismus, als ob diese nicht gleichzeitig im Maße ihres Erfolges im Nihilismus der Macht verschwinden würde, in diesem Glauben daran, daß vom Prinzip her alles funktioniere und daher gesellschaftlich nichts mehr gelten müsse. Der Umschlag vom Dualismus in den Nihilismus ist aber keineswegs zwangsläufig, sondern scheint nur solange plausibel, als die Dinge ohne ernsthafte Konflikte laufen, solange man also meint, sich keine geschichtliche Aufgabe mehr stellen zu müssen. Aus dem von mir unter viertens bis sechstens genannten Punkten geht nicht nur hervor, daß das dualistische Selbstverständnis im interkulturellen und kulturgeschichtlichen Vergleich, im Vergleich mit tierischen Lebewesen und nicht zuletzt anhand seiner eigenen bio-, intelli-
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Einleitung
genz- und medie'ntechnologischen Vergegenständlichungen scheitert. Interessanter ist hier wie auch schon in den ersten drei Fragen, daß alle diese Probleme nur in der Interaktion von menschlichen Lebewesen entstehen, wodurch die Frage, welcher Geltungsmaßstab besser oder schlechter sei, wieder auftaucht. Der springende Punkt heute ist also nicht die alleinige Dualismuskritik, sondern die Notwendigkeit einer gleichzeitigen Nihilismuskritik. Der Dualismus und der Nihilismus bilden das labile Paar; zwischen denen hin- und hergeeilt wird, die Hegemonie über kulturelle Selbstverständnisse auszuüben. Demgegenüber sehe ich die Aufgabe, die geschichtliche Neubildung öffentlicher Geltungsmaßstäbe zu befördern. Statt alte Werte zu beschwören, über den Werteverfall zu klagen oder seiner nihilistischen Schadenfreude über das Schicksal des Dualismus Ausdruck zu verleihen, ist es sinnvoller, sich das Geltungsproblem im menschlichen Leben zu vergegenwärtigen, für das es immer etwas Besseres oder Schlechteres schon gibt oder gefunden werden muß. Für den geschichtlichen Ausgleich der Ungleichgewichte, die zwischen den verschiedenen Vergemeinschaftungs- und Vergesellschaftungsformen in der Generationenfolge erwachsen, scheint doch zur Orientierung eine Art minima moralia des Menschseins vonnöten. Es geht wohl nicht ohne eine souveräne Prävention unserer geschichtlichen Selbstermächtigung davor, in die Rolle Gottes oder in die eines Wurmes zurückzufallen. Man muß nicht jedem Satz in meiner Problemeinkreisung zustimmen, kann aber vielleicht doch einräumen, im Großen und Ganzen treffe die skizzierte Problemlage, vor die sich der Common Sense gestellt sieht, zu. Allein auf diesen, von uns allen geteilten Gemeinsinn, etwas anschauen und praktisch für die Lebensführung beurteilen zu können, ist der I. Band des vorliegenden Buches fokussiert. Natürlich wäre es unvernünftig, auf Expertisen in jedem konkreten Problemfall zu verzichten. Aber selbst wenn sich ausnahmsweise alle Experten einig wären, nimmt uns dies nicht die persönliche Lebensentscheidung ab, erspart uns dies nicht, als mündiger Diskussionsteilnehmer und Staatsbürger Stellung zu nehmen. Wir sind alle Experten auf einem methodisch höchst eingeschränkten Gebiet, aber niemand ist Experte für alle genannten Fragen gleichzeitig, obgleich sie doch unser aller Lebensführung tangieren. Was die verschiedenen Experten als kleinsten gemeinsamen Nenner mit allen Laien teilen, wovon alle speziellen Kompetenzen ihren Ausgang nehmen und wohin sie wieder praktisch einmünden, ist eben der Common Sense. 3. Das Propädeutikum der Philosophischen Anthropologie: den Common Sense gegen die dualistisch-nihilistische Hegemonie auf sich besinnen Wenn das in den westlichen Kulturen vorherrschende Selbstverständnis problematisch geworden ist, dann könnte sich das folgende Leseexperiment lohnen. Das dualistisch-nihilistische Selbstverständnis hat zwar die Vorherrschaft, ist durch die Tradition und Institution der Moderne eingeschleift und gestützt. Aber auch diese
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Hegemonie ist geschichtlich. Das vorherrschende Selbstverständnis und der Common Sense müssen zwar etwas miteinander zu tun haben, aber keineswegs deckungsgleich sein. Es ist diese Differenz zwischen dem hegemonialen Selbstverständnis und dem Common Sense, die den Einstieg der Philosophie, ihr Propädeutikum, gewährt. Der Common Sense lebt vom Zusammenwirken der vielfältigen Bedeutungen, die das Wort Sinn (sensus) in den Sprachen westlicher Kulturen im Anschluß an das Latinum hat. Diese Vielfalt kommt in der deutschen Ubersetzung des Common Sense (sensus communis) als gesunder Menschenverstand schwerlich zur Geltung, weshalb ich auch von Gemeinsinn spreche, um nicht ständig Common Sense sagen zu müssen. Gemeinsinn beruht auf der Interaktion zwischen den Körpersinnen der Aufnahme und den Geistessinnen der Beurteilung des Aufgefaßten, woraus die Konsequenz folgt, etwas zu tun oder zu lassen, also ein Schluß in praxi gezogen wird. Anderenfalls gelänge ihm nicht die praktische Koordination aller situativ relevanten Aspekte im Lebensvollzug, ihr Zusammenstimmen. Da ist etwas, das unsere Sinne aufmerken läßt, sich ihnen kund tut, etwas, das es wahrzunehmen und aufzufassen gilt, wenn man so will im umgangssprachlichen Sinne: eben ein Phänomen. Und da ist auch schon immer ein geistig die eigene Lebenserfahrung akkumulierender Sinn, der das Phänomen nach einer Relevanz nimmt, das situative Zusammenstimmen mit ihm beurteilt und sich entsprechend verhält. Oder wir beginnen im Falle einer Unstimmigkeit damit, uns urteilsfähig zu machen, zu reflektieren und uns zu korrigieren, nach der Eigenrelevanz des Phänomenes zu fragen. Wir gehen dann von dem praktisch die Sprache einschließenden Lebensvollzug über ins ausdrückliche Fragen und Antworten, um uns besinnen zu können. Das dualistisch-nihilistische Selbstverständnis ist demgegenüber von anderer Art. Es bezieht sich nicht auf das Zusammenstimmen der Sinne zum praktischen Schluß des Lebensvollzuges. Vielmehr setzt es da dualistisch mit einer unendlichen Klärung an, wo der Common Sense aufhört, weil ihm die Fortsetzung des Lebensvollzuges immer hier und heute vorgehen muß. Es differenziert das ausdrückliche Fragen und Antworten aus zu diskursiven Ordnungen des Begründens, der analytisch klaren Argumentation in Spezialsprachen. Letztere dienen für Kontexte, die methodisch kontrollierbar und reproduzierbar gemacht werden, bis die daraus resultierende Technologie funktioniert. Diese relational abgeklärten Kontexte sollen gerade von keinem Holismus der Lebensformen und der Normalsprachen gestört werden. Der Leberkrebs ist hier im Vergleich zu allen möglichen Leberkrebsen ein bestimmter Fall, nicht aber der erste und letzte Leberkrebs in nur Deinem Leben. Der Gewinn an Erkenntnis- und Könnensarten auf diesem Wege ist bekannt, aber er hat seinen Preis an einer Lebensferne, die Edmund Husserl die Entfremdung der neuzeitlichen Rationalität von der Lebenswelt nannte. Dieser Weg moderner Rationalisierungen setzt mit einem dualistischen Geltungsaufwand ein und verläuft sich im Falle des Erfolgs in nihilistischen Konsequenzen.
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Gegenüber den nihilistischen Konsequenzen bedarf der Weg moderner Rationalisierungen der Rückübersetzung und der Rückkopplung an die Lebensformen des Common Sense. Diese finden aber kaum statt, obgleich sie im Mittelpunkt der Öffentlichkeiten, der Gewaltenteilung, der Bildung und Kultur stehen müßten. Dieses Bedürfnis tut sich zwar kund, wird aber nicht nur natur- und sozial-technologisch unterlaufen, sondern braucht auch kulturell neue Ausdrucksformen. Hier hat Philosophie erneut ihre genuine Aufgabe. 4. Der Einsatz der Philosophischen Anthropologie von Helmuth Plessner Wenn ich von Philosophischer (großgeschrieben) Anthropologie 1 spreche, dann meine ich eine eigenständige Richtung, die Helmuth Plessner (1892-1985) in den 20er und 30er Jahren unter den deutschsprachigen Philosophien begründet und nach dem 2. Weltkrieg entwickelt hat. Es handelt sich also nicht um eine naturwissenschaftliche, sozial-, geschichts- oder kulturwissenschaftliche Anthropologie, kurz: um keine erfahrungswissenschaftliche Lehre vom Menschen als eines methodisch bestimmten Wesens. Es geht auch nicht um eine philosophische (kleingeschrieben) Anthropologie, wie sie als Subdisziplin in vielen Philosophien neben anderen Subdisziplinen (z. B. der Logik, der Ethik, der Ästhetik etc.) vorkommt, sondern um eine Philosophie, deren zentraler Einsatz die anthropologischen Themen sind. Dadurch, daß sie den Fundierungszusammenhang zwischen der Bio-, Sozial-, Geschichts- und Kulturanthropologie auch für das Philosophieren selber ins Zentrum rückt, unterscheidet sich diese Richtung von anderen Philosophien wie der hermeneutischen, phänomenologischen, dialogischen und Existenzphilosophie, der sprachanalytischen Philosophie, dem Naturalismus und logischen Positivismus bzw. Kritischen Rationalismus, dem Neukantianismus und der Philosophie symbolischer Formen, dem Marxismus, Neopragmatismus und Dekonstruktivismus, der Philosophie der kommunikativen Vernunft. Üblicherweise hält man Max Scheler für den Begründer und Arnold Gehlen für den wichtigsten Vertreter der Philosophischen Anthropologie, was ich zwar für problematisch halte, aber einstweilen aufspare. Auf alle diese problemgeschichtlichen und systematischen Fragen nach der Besonderheit der Philosophischen Anthropologie von Plessner im Unterschied zu anderen Philosophien und den Erfahrungswissenschaften komme ich ausführlich im II. Band des Buches zurück. Hier muß die Anmerkung genügen, daß ich allein an Plessners Philosophie positiv anschließe und mich weder Schelers Geistesphilosophie noch
1 Vgl. Joachim Fischer, Philosophische Anthropologie. Zur Bildungsgeschichte eines Denkansatzes, Dissertation im Fachbereich Sozialwissenschaften der Georg-August-Universität, Göttingen 1997.
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Gehlens Kompensationstheorie verpflichtet weiß. Ich greife auf Plessner nicht nur zurück, weil ich ihn problemgeschichtlich für die große, völlig unterbewertete Alternative zu Heidegger halte, sondern vor allem, weil er systematisch eine neuartige Weise des Philosophierens mit und über Menschen entworfen hat, die noch immer den Kern unserer heutigen Problemlage trifft. Plessner kommt das Verdienst zu, die Philosophische Anthropologie in ihrer ganzen Anlage als die produktive Kritik am Dualismus und gleichzeitig am Nihilismus konzipiert zu haben. Dies macht ihn zu unserem Zeitgenossen, oder besser: uns zu seinen Nachfahren. Die doppelte Kritik der Philosophischen Anthropologie am Dualismus und gleichzeitig am Nihilismus hat Konsequenzen für die Auswahl derjenigen Phänomene, deren Anschauung erlernt werden und urteilsfähig machen soll. Natürlich gibt es Gegenstände, die der dualistischen Alternative, es handele sich entweder um etwas Körperliches oder Geistiges, entsprechen. Wir haben auch im heutigen C o m m o n Sense keinen Grund daran zu zweifeln, daß es so etwas wie die Seele eines Menschen gibt. Die Seele ist einem auf eine Weise gegeben, daß sie nicht einer naturwissenschaftlich-technischen Methode unterworfen werden kann, wenigstens nicht, ohne dadurch Schaden zu nehmen. Abgesehen von der Erwähnung in romantisch aufgeladenen Naturgefühlen und Naturgedichten haben wir im heutigen Gemeinsinn auch keinen Grund dafür, Steine, Elektronen, Lichtwellen nicht für etwas Materielles zu halten, das vom Prinzip her für die naturwissenschaftlich-technische Manipulation öffentlich freigegeben ist. Gegenüber solchen Gegenständen, die sich klar unter entweder materiell oder ideell einordnen lassen, handelt die Philosophische Anthropologie von Phänomenen, für die der „Doppelaspekt" 2 konstitutiv ist: Sie offenbaren sich in ihrer Eigenart nur, wenn man sie als Verschränkungen von Körperlichem und Geistigem ernst nimmt. Dies trifft exemplarisch auch in unserem C o m m o n Sense auf alle Phänomene des Lebens, der Eigenart des Lebendigen, zu, deren physischer Charakter zwar außer Frage steht, die aber eben nicht darin aufgehen. Dabei ziehen übrigens im westlichen Kulturkreis Frauen häufig schon bei Pflanzen und Männer oft erst bei Tieren die scharfe Grenze des Lebendigen, während Kinder noch zur Anthropomorphisierung von allem, auch leblosen Dingen, neigen. Es ist jedenfalls intuitiv klar, daß man Lebewesen nur zu bestimmten, etwa medizinischen Zwecken der Heilung, einer Operation unterziehen darf, nicht nur aus ethischen Gefühlen und Gründen heraus, sondern auch, weil ansonsten das Phänomen selber zerstört werden kann. Diese unsere eigene Haltung gegenüber dem Phänomen korrespondiert spontan damit, daß wir eine Art Eigen- oder Selbstwert für das Phänomen veranschlagen,
2 Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einführung in die philosophische Anthropologie (1928), Berlin-New York 1975, S. 80-105.
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ohne den es überhaupt nicht das wäre, das es konstitutiv ist. Ohne ein gewisses Maß an Selbstorganisation, Selbstreproduktion, gar Freiheit, gäbe es die Phänomenart des Lebendigen einfach nicht. Man kann sich die spontane Ausdrucksart des Common Sense auch durch Umkehrung verdeutlichen: Da ihm Tierversuche, insbesondere Versuche mit Affen, spontan widersprechen, müssen diese Versuche der öffentlichen Anschauung soweit wie möglich entzogen, institutionalisiert und durch außerordentliche Gründe legitimiert werden. Dies gilt um so mehr für alles, das uns als Gefahr noch näher kommt, für Menschenversuche, Kriegsführung usf. Wir werden im Laufe des I. Bandes sehen, daß alle menschlichen Phänomene ihre irreduzible Spezifik gerade dieser Ambivalenz des Lebendigen verdanken, ja, daß sie diesen Ausgang vom Doppelaspekt zwischen Materiellem und Ideellem von Selbststufe zu Selbststufe in immer höheren Spielformen entfalten müssen: „Die Gesellschaft lebt allein vom Geist des Spieles." 3 Uns wird sich eine bestimmte Spielkonzeption als die Lösung des Problems erweisen, wie spezifisch menschliche Phänomene dadurch leben können, daß sie fortwährend ihr Paradox und ihre Tautologie vermeiden. Diese Vermeidung erscheint in Phänomenen des Lachens und Weinens 4 , die wir spontan lieber gespielt als ungespielt erleben, weil sie anderenfalls die Grenze des Menschlichen überschreiten, zeigt sich aber im ganzen Phänomenreigen des spezifisch Menschlichen. Im Unterschied zu dem heute üblichen Ambivalenzgerede der „erschlafften Postmoderne" (Lyotard), dem geschmäcklerischen Distinktionsgehabe in der aisthetischen Barockung von Erlebnissen dreht es sich hier um wirkliche Ambivalenzen, d. h. um solche, die an dem für unsere Hegemonialkultur zentralen Dualismus von Körper und Geist gemessen eintreten müssen. Dieser Dualismus wird nicht einfach über Bord geworfen, um sich sodann nur einem anderen Absolutum zu unterwerfen, sondern radikal eingeschränkt auf die Kontexte, in denen er Sinn macht. Demgegenüber treten die Kontexte des spezifisch Lebendigen, insbesondere spezifisch Menschlichen, hervor, das nicht entweder tautologisch oder paradox ist, sondern sich zwischen seiner Tautologie und seinem Paradox entfaltet, seinen raumzeitlichen Eigenwert in actu beansprucht. Die eigentümlich spiralförmigen Spielformen der Ein- und Ausfaltung von Zwischenphänomenen sind keine Spielerchen zur schnellen Selbstbeeindruckung. Ihre Rekonstruktion erfordert, bis in die Mehrdeutigkeit der Rollen und der Geschichtlichkeit des menschlichen Lebens hinein, eine neue, nicht minder aufwendige Untersuchungsweise. Der ontologisch-gnoseologische Dualismus wird so nicht nur methodisch zur
3 Ders., Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus (1924), in: ders., Gesammelte Schriften (im folgenden: GS), Frankfurt/M. 1980 ff., Bd. V, S. 94. 4 Vgl. ders., Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens (1941), in: ders., GS VII.
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analytischen Unterscheidung gemildert, sondern vor allem dank Medien als dem jeweiligen Dritten, das die Unterscheidung ermöglicht, in einem Prozeß verschränkt. Dieser Prozeß folgt strukturell den Potentialen des Phänomenspektrums, aber je nach den geschichtlich auslösenden Randbedingungen in Phasen. Er ist weder deterministisch noch beliebig oder einfach kontingent. Vielmehr steht dieser Prozeß im Zeichen dessen, was Plessner den „Kategorischen Konjunktiv" 5 nennt. Die aktuale Vollzugsform des Lebendigen ist kategorisch und hat als unbedingte zu gelten. Wie dies aber zu realisieren geht, hängt von den Strukturpotentialen im Konjunktiv und den geschichtlich kontingenten Randbedingungen ab. So sind Menschen Lebewesen, die Kultur brauchen, um überhaupt leben zu können. Dieser kategorische Zusammenhang sagt aber noch nichts über den allein geschichtlichen Vorrang einer bestimmten Kultur aus. „Als Individuum unersetzbar, steht jeder Mensch in seiner möglichen Ersetzbarkeit. Er könnte, aber er kann nicht." 6 Es gibt auch Gegenstände, bei denen zunächst kein echtes Problem öffentlicher Geltung auftaucht, die also dem Nihilismus sein Recht zu lassen scheinen. Der liberalen Differenz zwischen Privatem und Öffentlichem gemäß fällt darunter, was der Privatsphäre angehört. Sofern sie andere nicht schädigt, könne sie frei bleiben von öffentlichen Beweislasten, etwa zur Beantwortung der Frage nach ihrer objektiven Wahrheit und soziokulturellen Richtigkeit, wie sie auch umgekehrt keinen öffentlichen Geltungsanspruch darauf erheben könne, daß ihre existentielle Wahrheit und ihre Dialogizität zwischen Ich und Du auf Gemeinschaften und Gesellschaften übertragen werden müssen. So weit, so gut. Der Unterschied zwischen privatem und öffentlichem Leben wird sich in der Tat als eine anthropologische Kardinaldifferenz menschlichen Daseins herausstellen. Indessen zeigt sich aber auch, daß der Inhalt dieser Unterscheidung geschichtlich umkämpft werden muß, oft so sehr, daß die Unterscheidung selbst generationenweise eingezogen wird. Es hat nicht an Versuchen gefehlt, das Private ganz und gar vergemeinschaften oder vergesellschaften zu wollen. Es gab und gibt auch die umgekehrte Tendenz, gemeinschaftliche oder gesellschaftliche Leistungen ausschließlich privatisieren zu wollen. Der Nihilismus lebt in dem Maße auf, als die Gewaltenteilung zwischen Privatem, Gemeinschaftlichem und Gesellschaftlichem in der Richtung der Privatisierung von allem aufgelöst wird. Diese soziokulturelle, nicht nur politisch-juristische, Gewaltenteilung ist auch, wie John Dewey erkannt hat, ein Prozedere der Verteilung von Beweislasten. 7
5 Ders. Die Stufen ..., a. a. O., S.216. 6 Ders., Der kategorische Konjunktiv. Ein Versuch über die Leidenschaft (1968), in: ders., GS VIII, S. 340. 7 Vgl. John Dewey, Die Öffentlichkeit und ihre Probleme (engl. 1927), Bodenheim 1996.
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Dominiert die Privatisierung, werden gemeinschaftliche Werteordnungen zurückgedrängt und gesellschaftliche Verfahren der Konfliktlösung unterspült zugunsten einer geschmäcklerischen Entscheidungskultur als dem kleinsten gemeinsamen Nenner der sich privatistisch behauptenden Individuen. Eine gesellschaftliche Realisierungschance hat diese Tendenz nur, insofern sich die historisch gewachsene Privatsphäre breitenwirksam durch Märkte mit entsprechenden Technologien versorgen kann. Diese Bedingung ist aber geschichtlich wiederum an andere individuelle, gemeinschaftliche und gesellschaftliche Voraussetzungen dafür gebunden, daß es überhaupt zu einer soziokulturell innovativen Technologieproduktion, die sich auch ökologisch bewähren kann, kommt. Eben gerade darum geht es aber in den anfangs genannten sechs Themenbereichen, die die Frage nach dem Menschen erneut auf die geschichtliche Tagesordnung setzen. Die Phänomene der Philosophischen Anthropologie sind also keineswegs zufällig oder beliebig aufgelesen. Sie offenbaren sich, gemessen am Dualismus, im Doppelaspekt des materiellen und geistigen Sinnes als eine konstitutive Ambivalenz, deren Lebbarkeit einer Spezifikation bis ins irreduzibel Menschliche hinein bedarf. Und gemessen am Nihilismus, handelt es sich um Phänomene, in denen geschichtlich nichts Geringeres als unser Menschsein auf dem Spiele steht, also etwas, das nach öffentlicher Geltung verlangen kann und muß. Sowohl der dualismus- als auch der nihilismuskritische Charakter dieser Philosophie verweisen sie also auf anthropologische Grenzthemen, wodurch sie zur Philosophischen Anthropologie wird. Ihre Pointe besteht dann darin, zu der Herstellung der nötigen kritischen Öffentlichkeit im Propädeutikum des Common Sense ihren Beitrag zu leisten. Die konstitutive Ambivalenz des Common Sense zu entfalten, in der das spezifisch Menschliche geschichtlich auf dem Spiele steht, ist ihr Einsatz. 5. Der methodische Viererschritt der Philosophischen Anthropologie Wenn sich dieser Einsatz auf anthropologischem Felde bewähren muß, dann betrifft dies drei Vergleichsreihen: Einerseits wird auf dem Gebiet der Bioanthropologie und vergleichenden Verhaltensforschung um die Spezifik des Menschlichen unter den Lebewesen, insbesondere unter den Tieren, gestritten, was evolutionsgeschichtliche Rückgänge auf das sog. Tier-Mensch-Ubergangsfeld einschließt. Andererseits steht diese Spezifikation im geschichtlichen Vergleich der Soziokulturen des Menschen untereinander zur Debatte, die bis auf die evolutionsgschichtlichen Startbedingungen zurückreicht. Schließlich stoßen in der Gegenwart selbst viele verschiedene Gesellschaften, Kulturen und Persönlichkeiten aufeinander, deren Konflikte und Übereinstimmungen zu sozial- und kulturanthropologischen Vergleichen herausfordern. Natürlich kann jede Diskussionsteilnehmerin, insbesondere auch die Philosophische Anthropologie, viel aus diesen drei Untersuchungsrichtungen lernen. Nur muß sich jede an einem transdisziplinären Austausch beteiligte Seite darüber im Klaren sein,
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daß Untersuchungsergebnisse methodenabhängig produziert und durch den Common Sense vermittelt werden. Methodisch gesehen folgt die Philosophische Anthropologie einem Viererschritt, der Netzwerke von Phänomenen zu bilden gestattet. Erstens: Es ist eine intellektuelle Kunst, in der dualismus- und nihilismuskritischen Vorauswahl ein Phänomen zu treffen, dessen ambivalenter Charakter von öffentlicher Relevanz zu sein verspricht. Dafür empfiehlt es sich gewiß, auch die schon laufende öffentliche Diskussion zu befragen. Zweitens: Die Anschauung dieses Phänomens ist im Anschluß an den Common Sense und der für ihn dabei relevanten Expertenkulturen zu beschreiben, und zwar so, daß man darüber kommunizieren kann, eine Vorstellung davon bekommt, wie sie dem auch noch in der Forschung wirksamen Gemeinsinn vorschwebt. Die erstmalige Anschauung eines sich selber offenbarenden Phänomens ist nur in Grenzen, eben denen der gemeinsinnigen Vorstellung davon, allgemein kommunikabel. Drittens: Analysiert man das beschriebene Phänomen, stößt man auf das Problem, was dem Angeschauten oder dem Anschauenden in der Anschauung zukommt. Was zeigt sich am Phänomen selber, und was projiziert man nur auf es? Es gilt nun, für die Erlangung von Urteilsfähigkeit eine Rekonstruktion zu leisten: Welche Intuition oder Vorannahme, welche Körperbewegung oder Hilfsmittel, welche bewußte Voraussetzung oder unbewußte Präsupposition nehmen wir dafür in Anspruch, daß sich uns dieses Phänomen offenbart? Man kann diese gesuchte Unterstellung auch dasjenige Medium nennen, das uns praktisch die Anschauung dieses und keines anderen Phänomens ermöglicht. Dieses Medium gilt es schließlich kategorial zu fassen. Die der Anschauung als Ganzer eigene Besinnung wird so begrifflich expliziert, wodurch der zuvor implizite Maßstab des Urteilens heraustritt. Viertens: Die Folgefrage besteht darin, ob wir die kategoriale Verfassung des Mediums, das wir in der Anschauungspraxis beansprucht haben, auch am Angeschauten selbst wahrnehmen können. Wäre dies der Fall, geraten wir in eine Reziprozität zwischen Angeschautem und Anschauendem, die es erneut zu beschreiben und zu rekonstruieren gilt. Oder wir brauchen dafür, das aufgedeckte Medium am Angeschauten selber zu entdecken, ein anderes Phänomen, wodurch wir ebenfalls wieder den ersten Schritt erreichen, nun aber in einem neuen Viererzyklus. Schritt für Schritt können sich so die vier Aufgaben der Auswahl und Beschreibung eines Phänomens, der begrifflichen Rekonstruktion unseres Mediums seiner Anschauung und der Erweiterung des Phänomenbereichs zu Netzwerken verflechten, Komplementaritäten ausbilden oder sich auch in Frage stellen. Obgleich es also eine methodisch informierte Schrittfolge in der Philosophischen Anthropologie gibt, die ihre Phänomene im erfolgreichen Falle auch systematisch ordnet, entsteht daraus doch kein erfahrungswissenschaftlicher Anspruch. Natürlich lassen sich diese Voraussetzungen oder jene Resultate der Schritte erfahrungswissenschaftlich behandeln. Hier liegt das Kooperationsfeld mit den Wissenschaften. Allein,
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die Philosophische Anthropologie wird nicht zu einer positiven Wissenschaft, die das Phänomen so beschneidet, daß es selbst zu etwas Anderem wird, das methodisch kontrolliert und reproduziert werden kann. Wir erreichten so nur erneut das Auswahlproblem, das sich geschichtlich ändern kann. Die Philosophische Anthropologie ist auch unter den Philosophien keine, die letztlich einem positiven Prinzip folgen würde, etwa dem der Natur oder des Geistes, dem der Existenz oder des Dialoges, dem der Vernunft oder des Zeichens, nicht einmal dem des Lebens oder des Menschen in einem positiv bestimmten Sinne. Ich hatte am Anfang schon behauptet, daß sie der Skepsis des Common Sense vor der Realisierung eines Absolutums philosophische Geltung auf anthropologischem Felde verschafft. 6. Das Prinzip der Unergründlichkeit des Menschen: die philosophische Skepsisform des Common Sense gegenüber der Bemächtigung anthropologischer Themen Es ist eine Merkwürdigkeit der Philosophischen Anthropologie, daß sie ihr höchstes Prinzip in einer negativen Fassung vorträgt und gleichwohl auf das Absolute bezieht: Das Wesen des Menschen sei in letzter Instanz unergründlich. Die Frage der Fassung des Absoluten und des ehrfürchtigen Umganges mit ihm ist auch für unsere westlich modernisierten Kulturen von religionsgeschichtlicher Herkunft. Deren lebensweltliche Abkunft wird in den Kinderphantasien und mit dem Blütenstaub jeder nachwachsenden Generation zu neuem Leben erweckt. Wer meint, die Frage nach dem Absoluten gehe ihn, die Philosophie und Anthropologie, etwa im Unterschied zur Metaphysik und Theologie, nichts an, kann von den Katastrophen der Moderne und ihrem anthropologischen Problem einer (in anderen Gesellschaften eben religösen) Begrenzung der Selbstermächtigung nichts begreifen. Er sollte auch nicht von Pluralität und Multikulturalismus reden. An der „Freilegung einer Profansphäre" haben die „griechische Vermenschlichung und die jüdische Entmenschlichung und Transzendierung göttlichen Wesens" mitgeholfen: Beide haben „den Gott-Menschen vorbereitet, in dem Profanität und Sakra lität ihre Synthese fanden." 8 Seither gelingen spezifisch christliche Vermittlungsversuche zwischen Profanem und Sakralem halbwegs. Oder wir sind mit dem kulturgeschichtlichen Auseinanderbrechen solcher Versuche in den totalen Anspruch entweder einer Kirche oder einer Aufklärung konfrontiert. Derart totale, sich an die Stelle Gottes rückende Ansprüche haben in den europäischen Religions- und Ideologiekriegen bis in unser Jahrhundert hinein Selbstermächtigungen legitimiert. Dem christlichen Gott kommen in der theologischen Reflexion noch positive Allprädikate, die der Allmacht, der Allgüte und der Allwissenheit, zu, wenn-
8 Helmuth Plessner, Elemente menschlichen Verhaltens (1961), in: GS VIII, S. 231 f.
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gleich die Grenzbestimmung des Sakralen und seine Vermittlung mit dem Profanen verschieden erfolgen. Die anthropologische Gefahr der Verkehrung menschlicher Energien ist um so größer, je kurzschlüssiger die Anmaßung der positiven Fassung des Absoluten, etwa in modernen Großideologien, profanisiert wird. Dieser positiven Fassung des Absoluten steht jedoch in unserer eigenen westlichen Kulturtradition das skeptische Verständnis von Gott als dem Unergründlichen, als dem „deus absconditus", gegenüber. Geht man, wie zumeist in der Moderne, den zur theologischen Reflexion der Religionsgeschichte umgekehrten Weg, bildet das Profane auch philosophisch gesehen den Ausgangspunkt. An dem endlichen, bedingten und bestimmten Charakter des Profanen gemessen, erscheint das Absolute nur als die abstrakte Negation des Profanen, eben als das Unendliche, Unbedingte und Unbestimmte, kurz: als Un-Prädikat. Immerhin bleibt auch die Selbstbeschreibung des Profanen noch auf seinen Unterschied zum Absoluten angewiesen, wenngleich das Absolute nur negativ aufgefaßt wird. Die vielleicht nicht mehr sakrale Ermöglichung, aber doch noch immer Ermöglichung des Profanen von woanders her bleibt so dem Profanen selber verborgen. Plessner rekonstruiert dieses Medium naturphilosophisch als den Bruch zwischen der ersten und zweiten Natur, der uns geschichtlich ins Erfragen einer Vermittlung stellt. Dabei gilt ihm die Sprache als der „wahre Existentialbeweis" unserer „exzentrischen" Lage: Im Sprechen stellen wir uns als diejenigen dar, die „in der Mitte ihrer eigenen Lebensform", also zentrisch stehen. Aber eben diese Selbstdarstellung können wir nur von woanders her, aus einer exzentrisch „ortlosen, zeitlosen Position" vollbringen. 9 Dieser Aufschluß des Problems müßte auch diejenigen aufmerken lassen, die außer dem allgemein beteuerten Perspektivismus des Profanen nichts akzeptieren. Vergegenwärtigt man sich nun, daß in der modernen Profanisierung von allem der privaten und öffentlichen Selbstbestimmung keine absolute Grenze gesetzt ist, stößt man auf das anthropologische Problem. Es gibt im anthropolgischen Vergleich in der westlichen Moderne ein Defizit daran, sich in der profanen Selbstermächtigung sinnvoll auf ein souveränes Maß begrenzen zu können, was in anderen Soziokulturen durch die symbolischen Praktiken des Sakralen erfolgen konnte und kann. Wie könnte aber in den modernen Verfahren der öffentlichen Gewaltenteilung ein Rest des Abglanzes von Sakralem als die Grenze profaner Selbstermächtigung praktiziert werden? Dieser gesellschaftlichen Frage kommt von Seiten der Individuen mit jeder neuen Generation deren Erotisierungspotential entgegen. Gewiß, dieses Potential wird derzeit in Sport-, Unterhaltungs- und Popkulturindustrien abgefangen. Dabei verkenne ich im Vergleich zu der äußeren und inneren Kriegsführung vorangegangener Generationen nicht einmal den Fortschritt dieser Kompensation.
9 Ders., Die Stufen ..., a. a. O., S. 340.
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Wir werden im I. Band sehen, wie in dem Phänomenspektrum das Herausprozessieren neuer Bestimmungen, Bedingungen und Verendlichungen aus einem daran gemessen Unbestimmten, Unbedingten und Unendlichen erschlossen werden kann. Man verkennt das Anschauungsurteil, das wir vom selbstbewußten Handeln und Sprechen haben, wenn man diesen Inbegriff der Bedingtheit, Bestimmtheit und Verendlichung nicht konfrontiert mit denjenigen Phänomenen, aus denen er herkommt und in die er geschichtlich übergeht: Spielen bedeutet, diejenige Ambivalenz ausleben zu können, sich einerseits von einer bestimmten Bindung ins Unbestimmte zu befreien und doch gleichzeitig aus dieser abstrakten Negation in eine neue Bindung zurückzukehren. Die Formen der eindeutigen Fixierung machen nur im Unterschied zu denen der Ambivalenz Sinn. Und Ambivalenz löst sich ihrerseits in den nicht mehr entwickelbaren Verhaltensgrenzen des ungespielten Lachens und Weinens auf. Die dortige Begegnung mit dem negativen Absolutum kann vom Betroffenen nicht mehr selbst bestimmt, bedingt und verendlicht, kurz: nicht mehr beantwortet werden. Auf diesen Zusammenhang im Phänomenspektrum kommt es also an: Auch die Feier der Ambivalenzen ergibt keinen Lebenssinn ohne den für sie konstitutiven Kontrast an selbstbestimmter Eindeutigkeit einerseits und uns absolut werdender Negativität andererseits. Das spezifisch Menschliche entpuppt sich nicht darin, das ganze Spektrum durch eines seiner Phänomene monopolisieren zu können, was in unmenschliche Fixierungen führen kann, sowohl im Namen der Identität als auch im Namen der Differenz. Das spezifisch Menschliche entpuppt sich erst darin, das ganze Spektrum geschichtlich durchlaufen zu können. Hinter Plessners Orientierung der modernen Öffentlichkeit auf das Prinzip von der Unergründlichkeit des Menschen, vom „homo absconditus", steht das philosophisch-anthropologische Problem, wie die kulturgeschichtliche Transformation der religionsgeschichtlichen Praktiken vom Absoluten in der westlichen Moderne ohne deren Selbstzerstörung bewerkstelligt werden kann. Die restlose Profanisierung des Sakralen wird nicht das Sakrale los, sondern läuft Gefahr, eben das Profane in ununterscheidbarer Konfusion sakral zu ermächtigen: „Der homo absconditus, der unergründliche Mensch, ist die ständig jeder theoretischen Festlegung sich entziehende Macht seiner Freiheit, die alle Fesseln sprengt, die Einseitigkeiten der Spezialwissenschaft ebenso wie die Einseitigkeiten der Gesellschaft." 10 Dabei orientiert die ausdrückliche Kritik der Philosophischen Anthropologie am Eurozentrismus und Ethnozentrismus auf eine geschichtliche Skepsis wider das traditionell hegemoniale Europäertum, ohne hinter dessen Errungenschaften zurückzufallen. Ihre Doppelkritik am Dualismus und Nihilismus schließt die westliche Moderne immanent, nicht im Namen des vermeintlich ganz Anderen von außen, auf.
10 Ders., Über einige Motive der Philosophischen Anthropologie (1956), in: ders., GS VIII, S. 134.
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Es ist nur die Mär von der bonne sauvage (den unverdorben Wilden), wenn man annimmt, wir könnten unseren Zentrismus nicht selber in Frage stellen und müßten daher das Leben der Anderen leben und für diese das Wort ergreifen. Abgesehen von der Flucht, Anmaßung und Vertagung in dieser Fehlorientierung, geht auch all dies nicht, ohne die inneren Differenzen zur öffentlichen Entfaltung zu bringen, die unsere eigene Praxis des Common Sense implizit gegenüber der westlichen Moderne schon immer auszeichnen. „Europäertum", so in Plessners wohlverstandenem Sinne, bestünde darin, „im Zurücktreten von seiner Monopolisierung der Menschlichkeit das Fremde zu seiner Selbstbestimmung nach eigener Willkür" zu entbinden „und mit ihm in einer neu errungenen Sphäre von Freiheit auf gleichem Niveau das fair play" zu beginnen.11 Diese Haltung erfordert eine Souveränität, die nicht aus der kleinbürgerlichen Selbstbehauptung kommen kann, weder aus deren Phantasie eines höheren Seinskontaktes noch aus deren dezisionistischem Kleinmut. Die nötige Großmut muß gerade nicht persönlich auf eine womöglich positive Fassung ihres Absoluten verzichten, wohl aber mit der Selbstlosigkeit rechnen, gesellschaftliche Macht nicht dementsprechend aufbauen zu können. Souverän ist nicht eine Machtbeziehung, die auf die unbedingte Verteidigung des eigenen Selbstverständnisses festgelegt ist, sondern aus der „Relation der Unbestimmtheit zu sich" 12 praktiziert wird, als könnten wir selber noch anders werden. 7. Mottos und Widmung Ich habe durch das Kant-Motto für den ersten Band das Problem der Entpuppung des Lebendigen zu verdeutlichen versucht, an dem der Dualismus scheitert und das der Nihilismus mit einer technologischen Funktionsschleife gleichschaltet: Schon der lebendige Hiatus (Bruch) unserer menschlichen Natur ist eben anders, als es beide, der Dualismus und Nihilismus, durch ihre Verkennung der Anschauungs- und Urteilspraxis des heutigen Common Sense wahr haben wollen. Und ich habe durch das Plessner-Motto für diese Einleitung in den I. Band hervorgehoben, welche Scheu vor dem endgültigen, eben absoluten Anschauungsurteil über den Menschen der modernen Öffentlichkeit präventiv Not tut. Es ist unumgänglich, die Frage nach dem Menschen erneut zu stellen und auf die Probe ihrer Bedingtheit zu antworten. Aber ihre endgültig positive Beantwortung in der Realisierung des Unbedingten wäre unser Ende. Die Menschenfrage ist also in und mit jeder ihrer Beantwortungen von neuem
11 Ders., Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht (1931), in: GS V, S.228. 12 Ebd., S. 188.
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zu eröffnen und bleibt damit dem Fragenden überantwortet: „Den Primat hat das Prinzip der offenen Frage oder das Leben selbst." 13 Es sei mir gestattet, den I. Band von „Zwischen Lachen und Weinen" aus Dankbarkeit meinen Lehrern, den Philosophieprofessoren H e r r n Wolfgang Heise ( H u m boldt-Universität zu Berlin, verstorben 1987) und Herrn Gerd Irrlitz (HumboldtUniversität zu Berlin) zu widmen. Den kommenden II. Band möchte ich meinen Studenten und Mitarbeitern, insbesondere Herrn Dr. Kai Haucke, an der Universität Potsdam anheimstellen, die manches daraus bereits in Lehrveranstaltungen diskutiert haben, w o f ü r ich ebenfalls danke. Diese Widmung ergibt philosophisch-anthropologisch den geschichtlichen Sinn der Generationenfolge, in der jede Emanzipation ihr Niveau dem der vorherigen persönlichen Bindung an die kulturelle Tradition verdankt. Will sich trotz guter Lehrer das Niveau nicht einstellen, trägt allein der Nachrücker die Verantwortung für sein Gestikulieren. Schließlich möchte ich einem möglichen Mißverständnis vorbeugen, da ich die männliche Sprachform benutze. Ich bin in einer soziokulturellen Lebensform aufgewachsen, in der die Emanzipation der Frau selbstverständlich war. Es gibt für mich auch zwischenzeitlich keinen Grund dafür, an der sozialen Gleichstellung der Frau zu zweifeln. Ich glaube daher nicht, für Frauen sprechen zu dürfen. Was in meiner Redeweise vom Menschen zu partikular männlich geraten sollte, fällt so leichter auf und lädt zu feministischer Kritik ein. Dies gilt natürlich auch für andere Kritiken, die nicht weniger willkommen sind.
13 Ebd., S. 202.
1. Die negative Einheit der Sinne: Körper-Leib und Urteilskraft im Kategorischen Konjunktiv
Wir haben viele Sinne, sowohl körperliche als auch geistige, wie man so sagt, und manch einer rühmt sich eines besonderen Sinnes. Schon von unseren üblichen Sinnen ist jeder auf seine Weise, d. h. in seinem Modus, oder wie es auch heißt: intramodal, unersetzbar. Erhalten wir aus den verschiedenen Modi einander entsprechende Impulse, fühlen wir uns zwischen diesen Modi, d. h. intermodal, sicher, die Lage richtig einzuschätzen. Widersprechen sich dagegen die Informationen aus den verschiedenen Sinnen, sind wir zwischen ihnen, eben intermodal, irritiert. Man weiß aber auch, daß die zeitweilige Störung oder der ständige Ausfall bestimmter Sinnesmodalitäten zwar zu gravierenden Einschränkungen führt, aber eben auch kompensiert werden kann. Denken wir an Erblindung, an sogar angeborene Taubstummheit, oder an die vielen Formen eines neuen Analphabetismus in den westlichen Ländern. Es muß bei aller Unersetzbarkeit jedes Modus in sich doch intermodal ein Zusammenspiel der meisten Sinne geben, das menschliches Verhalten ermöglicht. Daher, aus diesem intermodalen Zusammenwirken der verschiedenen Sinnesmodi im menschlichen Verhalten, kommt die Frage nach dem „Sinn der Sinne"1. In welchem übergreifenden (etwa funktionalen oder ganzheitlichen) Sinne passen die verschiedenen einzelnen Sinne so zusammen, daß wir spezifisch Menschliches erleben? Diese Frage soll keine Vorentscheidung darüber bedeuten, daß die Spezifik des Menschlichen allein von intermodaler Qualität sein kann. Wir stellen nur einstweilen die Frage nach der intramodalen Spezifik menschlicher Sinnesleistungen zurück (vgl. das 2. und 3. Kapitel). Lassen wir zunächst auch die provokante Antwort auf die Frage nach dem Sinn der Sinne, wie sie in der Uberschrift dieses ersten Kapitels steht, nämlich die Behauptung der negativen Einheit der Sinne, beiseite. Auch darauf kommen wir bald zurück, ab dem Ende dieses Kapitels. Stellen wir die Frage nach dem intermoda-
1 Vgl. Helmuth Plessner, Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923), in: GS III, S. 20 ff. Erwin Strauss, Vom Sinn der Sinne. Ein Beitrag zur Grundlegung der Psychologie, Berlin 1956.
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len Sinn der Sinne doch erst einmal dem Common Sense, und sehen wir dann zu, ob sich seine Antwort begrifflich rekonstruieren läßt. Wir hatten in der Einleitung gesagt, daß der Common Sense auf der Kooperation der Körpersinne und der Geistessinne beruhe. Die Körpersinne gestatten uns, etwas aufzunehmen, aufzufassen, wahrzunehmen, lassen uns für etwas aufmerksam werden. Die Geistessinne lassen dieses Aufgenommene, Ergriffene, Erfaßte, Aufgefaßte beurteilbar werden, erlauben uns die Einschätzung, ob es gut oder schlecht, richtig oder falsch, zumindest relativ besser oder schlechter, passender oder unpassender ist. Daraus folgt eine Reaktion, eine Antwort, ein Verhalten auf das Beurteilte, sei es ein Handeln oder sei es ein Unterlassen, Gewährenlasssen, weitere Beobachtung, ein Experiment. Diese praktische Konsequenz aus dem Urteil muß nicht sprachlich als Schluß expliziert werden, etwa von der Art: Wenn A, und wenn A auch Β impliziert, dann ist das Handeln C angemessen. Aber der Schluß könnte expliziert werden, wäre er nicht mehr einfache Gewohnheit. Er müßte bzw. sollte ausdrücklich problematisiert werden, wenn er etwa fehlschlägt. Schaut man sich dieses gemeinhin vernünftige Vorgehen näher an, empfiehlt es sich, bei den körperlichen Sinnen zu beginnen, die man als die berühmten sechs Sinne anhand der entsprechenden Sinnesorgane kennenlernt: Man sieht etwas, erschaut es durch die Augen. Es ist optisch, visualisierbar oder gar auf ein Video aufzunehmen. Wir hören etwas, werden aufmerksam auf Geräusche oder Töne durch die Ohren. Etwas ist auditiv, unseren Gehörsinn betreffend, oder hat eine gute Akustik. Man spürt einem Geruch durch die Nase nach oder versucht, einem Gestank durch ihr Zuhalten zu entgehen. Es ist olfaktorisch, den Geruchssinn, vor allem Riechnerv, betreffend. Wir schmecken süße Erdbeeren oder einen überalterten Bismarck-Hering im Mund. Es geht um den oralen Geschmackssinn. Man betastet die Schneide eines Messers oder läßt den trockenen Meeressand sich durch die Finger laufen. Es ist haptisch oder taktil, den Tastsinn unserer Hände und Haut betreffend. Und wer wünschte sich nicht nach einer liebevollen Berührung aller erogenen Zonen die Erfüllung im Geschlechtsakt? Es erotisiert unseren Geschlechtssinn.
1.1. Körperliche und leibliche Sinne Wir könnten, noch immer im ersten Anlauf, diesen Körpersinnen, die nach außen gerichtet sind oder sich auf die Aufnahme von Äußerem ins Innere unseres Körpers beziehen, von den leiblichen Sinnen unterscheiden, die sich nach innen richten oder Inneres nach außen bringen. Man leidet im Innern an Hunger oder Durst, zu großem Völlegefühl im Magen oder verspürt einen Druck in der Blase. Zuweilen haben wir Fieber oder Herzschmerzen, Muskelkater oder Gelenkrheuma. Die Arten des Kopfwehs sind schier unzählig. Wir entgehen auch nicht dieser oder jener hormonellen Uberproduktion. Eine Frau mag sich über das Ausbleiben ihres Zyklus
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wundern. Die Zustände im Leib erscheinen oft weniger klar als die Gegenstände in der äußeren Wahrnehmung. Halluziniert man schon, oder ist man doch nur ein Hypochonder? Wir laufen zum Spiegel, uns wie einen anderen anzusehen, suchen nach befremdlichen Symptomen, vergleichen intuitiv die Körpertemperatur mit dem üblichen Badewannenwasser und greifen schließlich doch lieber zum Fieberthermometer. Gewiß lassen sich Gegenstände finden, für deren Auffassung durch Sinnesorgane allein äußere Sinne maßgeblich sind. Galaxien etwa sind weit genug entfernt und bedürfen für uns der Verlängerung des Auges durch entsprechende Fernrohre. Viren und Bakterien sind derart klein, daß wir für ihre Wahrnehmung besser Elektronenmikroskope verwenden. Und gewiß gibt es auch Zustände in unserem eigenen Körper, für deren Wahrnehmung allein die inneren Sinne ausreichen. In den meisten Fällen koordiniert unser vegetatives Nervensystem die Kooperation der Organe im Körper, ohne daß dafür ein Bewußtseinsaufwand nötig wäre. Wir können dessen froh sein: Man stelle sich vor, wir hätten ständig Immun- und Blutwerte mit Leberund Nierenwerten, der Herzfrequenz und der Atmungsgeschwindigkeit abzugleichen. Wird uns aus dem Inneren etwas bewußt, reicht für die Beantwortung der meisten Gefühle des Unwohlseins eine einfache Maßnahme, und der gesunde Menschverstand ist voll von solchen Ratschlägen, etwa mal an die frische Luft zu gehen. Es entspricht der dualismuskritischen Stellung der Philosophischen Anthropologie, daß sie sich nicht für die Fälle interessiert, in denen die nach innen gerichteten „Sinne der Zuständlichkeit" und die nach außen, gerichteten „Sinne der Gegenständlichkeit"2 auseinanderfallen können. Wir selbst sind uns nicht dadurch gegeben, daß uns entweder gegenständliche oder zuständliche Eigenschaften zukommen. Vielmehr ist uns unser eigener Körper dadurch gegeben, daß wir seine gegenständlichen und zuständlichen Aspekte fortlaufend, mal unmerklich und mal merklich, aufeinander abstimmen, wofür wir die Kooperation beider Sinnesarten brauchen. Problematisch wird unser Verhalten zum je eigenen Körper, wenn diese Abstimmung fehlgeht, womöglich kurzfristig oder längerfristig. Man traut sich etwa im Äußeren den Transport einer Umzugskiste zu, der im Inneren Nerven einklemmt und ein Schulterblatt ausrenkt, was bleibende Schmerzen verursacht. Oder jemand ist für seine berufliche Tätigkeit seit langem derart hochmotiviert, daß die ständige innere Anspannung zur rücksichtslosen Vernachlässigung der gegenständlichen Verfassung seines Körpers führt, was sich womöglich in psychosomatischen Störungen entlädt.
2 H. Plessner, Anthropologie der Sinne (1970), in: GS III, S. 383.
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1.2. Die Körper-Leib-Differenz am eigenen Körper Anthropologisch interessant ist also der Zugang zum eigenen Körper, der einerseits ein Körper ist, vergleichbar in seiner Gegenständlichkeit anderen Körpern in der äußeren Wahrnehmung auch, der aber gleichzeitig auf der anderen Seite unverwechselbar der eigene Körper, eben der Leib einer besonderen Zuständlichkeit, ist. Man kann über leibliche Zustände wie großen Hunger oder quälende Eifersucht nicht ebenso verfügen, wie man Gegenstände zu manipulieren vermag. Aber man versucht indirekt, die zuständliche Problematik dadurch zu lösen, daß man auf ihre gegenständliche Seite zu antworten versucht, in den erwähnten Fällen etwa durch Nahrungsaufnahme oder Abbau der Angst vor dem Vergleich. Das Besondere am eigenen Körper besteht darin, daß er Leib ist. Als Leib ist er uns je unmittelbar in seiner Zuständlichkeit gegeben, sei es willkürlich oder sei es unwillkürlich. Willkürlich können wir ihn spontan bewegen. Dies ist die „motorische" Seite, die zuweilen auch die „kinematologische" genannt wird. Unwillkürlich macht er sich uns spontan bemerkbar. Dies ist die sensorische Seite, die auch „ästhesiologische" heißt.3 Kommen wir mit einer Zuständeart des Leibes nicht mehr unmittelbar aus, versuchen wir, ihr so zu begegnen, als ob es sich um eine Gegenständlichkeit handelte. Wir bemühen uns dann um einen vermittelten Zugang zum eigenen Körper, wie er anderen Körpern vergleichbar in der Außenwelt zu haben ist. Man schaltet so um vom Leib-sein zum Körper-haben. Die leiblichen Hitzegefühle werden am Fieberthermometer gemessen. Das Ausziehen des Pullovers reicht nicht. Womöglich wird der Gang zum Arzt nötig, der einem ein Antibiotikum verschreibt. Wenn Plessner sagt, die „wahre Orux der Leiblichkeit" sei „ihre Verschränkung in den Körper", dann will er das Abstimmungsproblem betonen, das sich in dem dreifachen Zugang zum eigenen Körper stellt: Einerseits ist er einem unmittelbar als Leib gegeben, sensorisch von innen her sich bemerkbar machend und motorisch nach innen gehend anzuspannen. Andererseits ist er auf Abstand auch nur ein „Außending, das anderen Körpern im Wege steht oder ihnen Platz macht und im Unterschied zur Selbstempfindung meines Leibes mich zur Wahrnehmung und Abschätzung von Distanzen und Tragfähigkeiten zwingt."4 Solange wir leben, haben wir nicht die Option, entweder diesen Körper von seinem Leib oder diesen Leib von seinem Körper zu trennen. Solche Rasiermesser, auch in der logischen Gestalt sich ausschließender Alternativen, sind hier fehl am Platze. Die „Entkörperung" oder „Entleiblichung"5 der menschlichen Einheit von Körper
3 Vgl. ebd., S. 368 f. 4 Ebd. 5 Vgl. ders., Elemente menschlichen Verhaltens (1961), in: GS VIII, S. 230 ff.
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und Leib haben in sakralen Opferkulturen ihren Sinn gehabt, der jedoch wortwörtlich unverträglich mit dem heutigen Common Sense ist und höchstens als symbolische Spur in der Öffentlichkeit Sinn machen könnte. Das Lebendige der KörperLeib-Differenz wird vielmehr „in der Verschränkung von Leib und Körper manifest".6 Das Lebendige tut sich darin kund, aus der „Unstimmigkeit" zwischen Leiblichem und Körperlichem heraus die mit einer „Verleiblichung" zusammenstimmende „Verkörperung" und umgekehrt die zu einer „Verkörperung" passende „Verleiblichung" zu finden. Diese Stimmigkeit kann auch mißlingen, sei es auf lustige oder traurige, sei es auf komische oder tragische Weise.7 Noch ehe wir bei den auch im Common Sense geistig genannten Sinnen angekommen scheinen, haben sich uns gleichsam unter der Hand die körperlichen Sinne verdoppelt, nämlich in die Differenz zwischen leiblichen und körperlichen (in engerer Bedeutung) Sinnen hinein. Das Beispiel mit meiner Grippe und der Konsultation des Hausarztes war nicht ganz zufällig. Solange ich mich leiblich wohl fühle, habe ich kein Verkörperungsproblem. Aber will ich mein Fieber senken, bin ich schnell auf die in der modernen Gesellschaft akkumulierten Techniken der Verkörperung verwiesen, insbesondere wie sie in den Expertenkulturen vermittelt werden, um die zu meinem Leibesproblem passende Lösung zu finden. Dies nimmt mir auch im Falle eines erfolgreichen Antibiotikums nichts von der phänomenalen Wirklichkeit meines Leibes. Ich werde, wenngleich abgekürzt, schwitzen müssen. Und vielleicht begehe ich den Fehler, nicht nur mit Hausmitteln mich selber resistenter als die Viren im nächsten Jahr zu machen. Die spezifisch geistigen Sinne, mein Urteil, einen Arzt und dessen Therapievorschlag zu brauchen, kamen ins Spiel, nachdem ich selbst nicht mit meiner Differenz zwischen körperlicher und leiblicher Verfassung klar kam. Daher der indirekte Weg, der so aufwendig an Vermittlungen ist: der Gang in die zweite, sprich: soziokulturelle Natur, in der die Techniken des Umganges mit der ersten Natur (hier dem Virus oder Bakterium) verfügbar werden. Hierin könnte auch ein Unterschied der Menschen zu Tieren bestehen. Es scheint offenbar zu sein, daß der angesprochene Umweg an soziokulturellen Vermittlungen nicht der Weg des Tieres sein kann, ja, daß er selbst unter den menschlichen Kulturen stark relativiert und modifiziert werden müßte, um seinen Eindruck einer hochmodernen Leichtigkeit zu verlieren. Natürlich gebe ich sofort zu, daß noch vor einem halben Jahrhundert Millionen einer derartigen Grippe zum Opfer gefallen wären, da es Antibiotika nicht gab. Mein Punkt dabei ist auch nicht der, daß heute in den entwickeltsten Ländern der Zugang aller Bürger zu den Potentialen der modernen Medizin chancengleich wäre. Wofür das Beispiel allein herhalten sollte, ist der Zusammenhang zwischen dem, was menschliche Lebewesen als Individuen urteils-
6 Ders., Anthropologie der Sinne, a. a. O., S. 385. 7 Vgl. ebd., S. 375, 391.
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und schlußfähig macht, mit dem, was an Urteils- und Schlußmöglichkeiten in der Kultur ihrer Gesellschaft vermittelt wird.
1.3. Sprachliche Kommunikation der individuellen Urteilskraft mit der soziokulturell verfügbaren Urteilskraft in praxi Es geht also nur um die Hypothese, daß es eine Eigenart des Menschlichen sein könnte, eine Arbeits- oder Funktionsteilung durch Kommunikation für die Individuen vermittelbar zu gestalten. Die Frage nach den geistigen Sinnen, die die Angehörigen der Gattung Mensch in praxi Urteils- und schlußfähig werden lassen, auch sie, hätte sich demnach in die Frage nach einem Zusammenhang verdoppelt: Inwieweit partizipiert nämlich das praktische Urteils- und Schlußvermögen der Individuen durch Kommunikation an den Semantiken und Pragmatiken, die die Gesellschaft aufgehäuft hat? Man nennt diese Frage aus bioanthropologischer Sicht im Unterschied zur genetischen Vererbung auch die nach der Vererbung durch soziokulturelles Lernen. Letzteres sollte nicht mit dem individuellen Lernen verwechselt werden, das weder durch Gene vererbt noch kulturell in der Gesellschaft tradiert werden kann. Wollte man demnach das, was dem Common Sense geistig unter Sinn vorschwebt, begrifflich rekonstruieren, wäre es wohl vernünftig, sich auf den Kommunikationszusammenhang zwischen individueller und soziokultureller Urteilskraft einzulassen, sofern daraus praktische Schlüsse gezogen werden können. Diese begrifflich noch weiter zu rekonstruierende Erwartung des Gemeinsinnes mag nicht empirisch massenhaft realisiert werden, aber doch von ihm als das vernünftige Strukturpotential für realisierbar gehalten werden. Gemessen an diesem praktisch vernünftigen Strukturpotential könnte unter Menschen noch viel Tierisches vorkommen, oder neutraler formuliert: viel von dem auftreten, was Lebewesen überhaupt auszeichnet, ohne speziell als vernünftig gelten zu müssen. Einstweilen können wir festhalten, daß die Ausgangsfrage nach dem praktisch schlußförmigen Zusammenstimmen körperlicher und geistiger Sinne, auf das der Common Sense aus ist, zu zwei Verdoppelungen innerhalb des Körperlichen und innerhalb des Geistigen geführt hat. Dabei scheint die Differenz zwischen Leiblichem und Körperlichem auch noch mit der Differenz zwischen individueller und soziokultureller Urteilskraft in der nachfolgenden Hinsicht zu korrespondieren.
1.4. Das kommunikative Zusammenspiel der individuellen und soziokulturellen Urteilskraft in der Körper-Leib-Differenz Die Unmittelbarkeit des Leibes, dessen Zuständlichkeit, ist als solche von dem Individuum selber nicht ablösbar. Das Individuum hat, willkürlich und unwillkürlich,
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einen privilegierten Zugang zu ihm, seinem Leib, nicht in dem Sinne, daß er ihm gehörte, sondern daß er sich ihm spontan aufdrängt. Man kann dem leiblichen Schmerz nicht anders entgehen, als daß man ihn verkörpert. Das Individuum mag sich über seine Zuständlichkeit irren. Aber dies läßt sich erst im Lichte des Erfolges bestimmter soziokultureller Verkörperungen sagen, die sich in der Tat von der individuellen Zeugenschaft einer Zuständlichkeit ablösen lassen, nämlich anhand entsprechender Gemeinschaftsstandards, etwa denen der Arzte. Individuell gesehen bleibt aber der Erfolg daran gebunden, daß sich erneut Unmittelbarkeit einstellt. D a hilft es nichts, wenn der Arzt auf dem Elektrokardiogramm kein Herzflattern entdecken kann, es aber doch dem Individuum noch immer unmittelbar so vorkommt. Dann war eben diese Diagnoseart für diese Leibesstörung verkehrt. Der individuellen Urteilskraft bleibt die Angemessenheit dieser oder jener Anwendung der soziokulturellen Urteilskraft aufgegeben. Dies betrifft gerade nicht nur die Urteilskraft des Patienten oder des Arztes oder irgendeiner anderen Person in ihrer Eigenschaft, Funktionsträger einer bestimmten Gemeinschaft zu sein, sondern die Urteilskraft aller Menschen als Individuen, die aus der Stimmungsfrage der Verkörperungen zur je leiblichen Zuständlichkeit nicht herauskommen. Nicht nur die individuellen Urteile über die Stimmigkeit von Verkörperungen sind es, die wichtige Verstärkungen der soziokulturellen Tradition bilden. Auch die individuellen Urteile über die Unstimmigkeit von Verkörperungen haben eine wichtige Funktion: die der Verunsicherung und Öffnung einer Tradition zugunsten neuer Verkörperungen. Es handelt sich also um Kommunikation des Individuums in seiner Soziokultur, nicht um Einbahnstraßen. Nehmen wir an, dieser erste, einleitende Anlauf zur begrifflichen Rekonstruktion dessen, was dem C o m m o n Sense als Stimmigkeit oder Unstimmigkeit zwischen Körper- und Geistessinnen vorschweben könnte, wäre plausibel. Dann hätten wir zwar durch die Differenz zwischen den körperlichen und leiblichen Sinnen ein Wahrnehmungspotential, das mit der Differenz zwischen individueller und soziokultureller Urteilskraft auf dem Wege der Kommunikation korrespondieren könnte. Insofern würde ein Zugang von den Themen der Individualanthropologie zu denen der Sozial- und Kulturanthropologie zu gewinnen sein. Aber was ergäbe dieser angedeutete Weg für den Tier-Mensch-Vergleich, die bislang ausgesparte Säule der Bioanthropologie, an erster Orientierung?
1.5. Der Mensch als Lebewesen: eine erste Vorstellung von sich im Meer der anderen Kein Zweifel, der gesunde Menschenverstand zählt uns Menschen vor den anderen Tieren und den Pflanzen zu den Lebewesen. Aber was das Lebendige an diesen Wesen sei, fällt ihm schwer zu bestimmen. Sie sind nicht tot, aber sie werden sterben.
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Solle er unabhängig vom Lebendigen sagen, was tot sei, würde ihm so etwas einfallen wie: nicht einem Organismus ähnelnd, eben anorganisch, wie man es in der Schule gelernt habe. Das Lebendige hebe sich irgendwie von der Umwelt selbständig ab, sei es wie Pflanzen durch Photosynthese, denen überhaupt Wasser, Luft und Sonne gut bekämen, obgleich sie meistens festsäßen an einem Ort, sei es wie Tieren, denen Willkür in ihrer Bewegung zukomme. Die Sinnesleistungen der Tiere seien zwar einseitig, nicht minder als ihre Bewegungsmöglichkeiten, aber in dieser Einseitigkeit unübertroffen. D e r Adler fliege und sehe wie kein Mensch, der Hund rieche und springe wie kein Mensch, die Katze fange und balze wie kein Mensch usf. Die Pflanze habe in ihrer Selbständigkeit noch etwas Selbstloses, das sich an den Umweltbedingungen entlang, die sie umranke, ergebe, der Bewegung nach wie in der Zeitlupe. Das tierische Leben scheint hastiger, von sich aus selbstbewegter, an ständige Atmung und Auslaufmöglichkeiten gebunden, aber oft auch auf einem Kurzschluß zwischen seiner Sensorik und Motorik zu beruhen. Es sei von Instinkten geleitet (die Tänze der Reptilien, der Zubiß einer Schlange ähneln wohl dem Reflex an unserem Knie), aber teilweise auch lernfähig, denke man an unsere Haus- und Nutztiere unter den Säugern. Die Primaten, die Menschenaffen, unsere nächsten Verwandten (laut Darwin) gäben Rätsel auf. Ist ihre Willkür zur Selbstbewegung, mit all ihrem sozialen Sinn untereinander, insbesondere bei Schimpansen, schon intelligent zu nennen? So oder ähnlich könnten die Antworten auf Umfragen ausfallen, die man ad hoc unter dem C o m m o n Sense auf der Straße, in der U - B a h n oder in einem Café zum Thema veranstaltet. Sieht man von dieser oder jener individuellen Vorliebe ab, ergeben sich schon deutliche Schwellenwerte, wenn es um den Unterschied zwischen Anorganischem und Lebendigem, zwischen Pflanzen und Tieren, zwischen Säugern, die uns als Haus- oder Nutztiere näher stehen, und anderen Tieren, und schließlich um die problematischen Fälle geht, die eine von vornherein explizite Verunsicherung des Selbstverständnisses eintreten lassen, etwa auch durch das hilfsbereite Spiel- und Kommunikationsvermögen von Delphinen. Die Verwicklung des Fremdverstehens von Tieren in das Selbstverständnis von Menschen wird besonders deutlich, wenn es sich um Fragen nach der Spezifik ab Säugetierniveau handelt. Wir sind selbst Säuger, haben die längste und aufwendigste Aufzuchtperiode bis zur soziokulturellen Reife und nehmen am ehesten Säuger als Haustiere auf, da sie leichter in unser Familienleben passen, was wohl auf Gegenseitigkeit beruht. So nützlich die Spinne auch sein mag, sie bleibt doch besser als Fliegenfänger auf dem Balkon oder höchstens am Badfenster.
1.6. Unsere lieben Haussäuger Es sind nun die üblichen Zuschreibungen zu derartigen Hausgenossen von Interesse, die man selber auch wirklich kennt oder wenigstens kennen kann. Was fällt uns
Unsere lieben Haussäuger
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Erwachsenen an solchen Säugern als charakteristisch im Unterschied zu uns auf, was an ihnen mögen wir vielleicht sogar, weshalb wir sie nicht nur der Kinder wegen dulden? Ob Hund, Katze oder Meerschweinchen daheim, Säugetiere auf der Straße oder im Zoo, ihr Verhältnis zu sich selber scheint unbekümmerter als das unsrige. Sie kennen wohl unseren stets zu meisternden Zwiespalt zwischen Leib und Körper nicht. Was wir wegen lauter reflexiver Vermittlungen schon an uns selbst zu vermissen beginnen, die Natürlichkeit sowohl im Sinne willkürlicher Spontaneität als auch im Sinne unwillkürlicher Unmittelbarkeit, schreiben wir gerade ihnen zu. Man könnte nicht einmal sagen, daß ihnen die Leiblichkeit und uns Menschen die Körperlichkeit zukäme. Dafür sind ihre Körperbeherrschungen zu perfekt, zu spielerisch gekonnt, zu graziös, und dies alles ohne großen Lernaufwand. Und dafür sind auch ihre Leibesprobleme entweder zu schnell lösbar oder zu schnell tödlich, so daß sie unser Handeln erfordern. Für diese Haustiere kennzeichnend scheint vielmehr zu sein, daß ihnen die Unmittelbarkeit der Einheit zwischen Körper und Leib selber zukommt. Sie wenden eine Not, die wir eine leibliche nennen können, eher direkt in eine Körperbewegung und umgekehrt. Oder sie klappen gleich ganz zusammen, was ihnen nicht ihre Unmittelbarkeit, Direktheit und Spontaneität nimmt, die sich auch noch in ihrem Leiden zeigen. „Ein Hund geht an Heimweh zugrunde, aber das Weh hat nur Macht über ihn. Uns ist es gegeben und bildet eine Vermittlung zu uns selbst. Diese Selbstvermitteltheit an ihr kapitulieren wir." 8 Das Leiden des Tieres appelliert an unsere Hilfe, doch nun gleichsam auf unsere menschenerwachsene Weise, eben durch Vermittlung, Indirektheit und Reflexion, tätig zu werden. Nicht nur diese hilfsbedürftige Lage macht sie unseren eigenen Kleinkindern ähnlich, die in ihnen auch schnell fast gleichrangige Kumpane finden. Wir erleben, bei aller Hinzufügung durch Lernen, an ihnen eher eine Unmittelbarkeit in ihrem Einssein als hervorstechend, die uns ans Kleinkindliche erinnert, obgleich wir doch wissen, daß sie als Tiere nie so lange hilflos wie Säuglinge sind, und wir auch nicht erwarten, daß sie früher oder später wie Menschen erwachsen werden, was wir aber doch von unseren Kleinkindern nach Altersperioden schrittweise annehmen können. Fragt man genauer nach, etwa was das Bewußtsein und Selbstbewußtsein, die Lernniveaus und die Sprache oder sonstige Kommunikationsart von Tieren und Menschen im Vergleich bedeuten, verweist uns der Gemeinsinn an die laufende Diskussion in den Expertenkulturen, die sich untereinander nicht minder streiten als auch Laien, die je verschiedene Erfahrungen mit Tieren gemacht haben wollen. Irgendwie gäbe es schon eine Basis an gemeinsamer Intelligenz, Lern- und Kommunikationsart mit diesen Säugern. Anderenfalls wären sie nicht alltäglich in unsere Lebensart zu integrieren. Andererseits scheint aber auch klar zu sein, daß sie bei zu
8 Ebd., S. 353.
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langer Konversation unter uns abschalten oder diese stören, damit wir ihnen wieder Aufmerksamkeit entgegenbringen, sie füttern, mit ihnen spielen oder Gassi gehen. Sie lesen keine Bücher, gewinnen der Kommunikation per P C und Internet kein Interesse ab, sind durch keine Fernseh- oder Videofilme zu faszinieren oder ruhigzustellen, wozu Kinder doch ziemlich schnell neigen.
1.7. Was wir mit anderen Säugern teilen: Bewußtsein und der Sozialsinn des Spielverhaltens Alle diese Auskünfte des Common Sense könnte man dahingehend zusammenfassen, daß es offenbar ein Minimum an Gemeinsamkeiten unter Säugern gibt, das die Sensomotorik des Körperleibes betrifft. Es mag im Vergleich zu uns bei den anderen Säugern einen direkteren, unvermittelteren, spontaneren Zusammenhang geben zwischen dem, was sie sensorisch bemerken, und dem, wie sie eben darauf motorisch reagieren. Gleichwohl ist damit nicht gemeint, gerade im Unterschied zu weniger entwickelten Nichtsäugern, der Zusammenhang zwischen Sensorik und Motorik sei einfach durch angeborene Instinkte wie in einer Eins-zu-eins-Zuordnung festgelegt. Dieser Zusammenhang ist wohl eher „eingeboren" als „angeboren" 9 , was soviel heißt wie, daß die angeborene Disposition nur durch individuelle Erfahrung also in einer bestimmten Variationsbreite mit einem Spiel von Abweichungen zu lebendigem Verhalten erweckt werden kann. Aber selbst diese Umschreibung einer „eingeborenen" Grundausstattung, nach der man Verhaltensarten der Ernährung, Fortpflanzung, Konkurrenz, Kooperation, Besiedlung, Flucht etc. ansetzen könnte, würde noch nicht den lebendigen Charakter unserer Erfahrung im Umgang mit solchen Säugern treffen. Mit der ihnen zugeschriebenen Unmittelbarkeit, Direktheit, Spontaneität ist schon die Willkür gemeint, aus eigener Kraft Bewegungen in Gang zu setzen, sei es aus Bedürfnis, das noch immer so oder anders befriedigt werden kann, sei es aus Spiellaune, die sich auch gefährlich verkehren kann. Das Eingeborene vorausgesetzt: Wenn man mit Bewußtsein darüber hinaus meint, daß die Zuordnungen zwischen Sensorik und Motorik nach eigener Erfahrung erlernt werden, dann haben diese Säuger Bewußtsein, wofür physiologisch auch ihr Zentrales Nervensystem, vor allem ihr Gehirn, spricht. Damit harmoniert auch die menschliche Erfahrung von Haustierbesitzern: Hund ist keineswegs gleich Hund, und Katze ist keineswegs gleich Katze. Sie sehen nicht nur individuell aus, sondern haben auch individuell verschiedene Lebensgeschichten, mit schlechten oder guten Erfahrungen, mit Neurosen oder gar Psychosen.
9 Vgl. ebd., S. 376.
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Dies wirft das weitere Problem auf, wieviel Gemeinsamkeit unter ihnen, aber auch mit uns, dadurch entsteht, daß sie als Säuger sozial in einer Generationenfolge aufwachsen, in der sie geschützt lernen können, was durch ihre Integration als Haustier nochmals potenziert wird. Charakteristisch für Säuger ist eine Kindheits- und Jugendperiode, in der vor allem durch Spielformen gelernt werden kann, gleichsam bevor der Ernst des Lebens beginnt. Wir haben also nicht nur ein physiologisches Korrelat für das Bewußtseinsphänomen, wie wir es in der Interaktion mit solchen Säugern erleben. Wir haben mehr noch in ihrem Verhalten ein Korrelat für ihr Bewußtsein, daß sie nämlich ihre Zuordnungen zwischen Sensorik und Motorik in den eingeborenen Bahnen umweltabhängig und individuell verschieden erlernen können: eben das Spielverhalten im Sozialverband, das auch uns selbst den schönsten Kontakt mit ihnen ermöglicht.
1.8. Die senso-motorische Grenze Obgleich man ihnen also Bewußtsein und dessen Korrelate an Gehirn und Spielverhalten nicht absprechen kann, und obgleich offenbar gerade darin die uns nahe Lebendigkeit, ihre Unmittelbarkeit, Direktheit, Spontaneität bestehen, bleibt doch der große Unterschied zu unserem eigenen Selbstverständnis. Sie bleiben bestenfalls wie Kleinkinder, die nicht erwachsen werden können und nie so lange so hilflos wie ein menschlicher Säugling waren. Sie zeigen Intelligenz und Kommunikation vor allem im Spiel, aber dies alles nur, solange es für den durchs Spiel unmittelbaren Zusammenschluß ihrer Sensorik und Motorik nötig ist, hier und jetzt, nicht darüber hinaus und nicht von woanders her. Sie vollbringen ihre größten, für uns unerreichbaren Leistungen an körper-leiblicher Einheit in den Flugbahnen ihres Spielverhaltens, anscheinend gerade dadurch, daß sie währenddessen darüber ahnungslos bleiben, wie katastrophisch die Landung sein könnte. Sobald wir die für uns charakteristischen, oben genannten Umwege an Vermittlung, Indirektheit und Reflexion, damit auch der Antizipation von Zukunft, einschlagen, schalten sie, unsere Haussäuger, ab. Es hat für ihre, eben doch eingeborene KörperLeib-Einheit keine Relevanz mehr. Diese Einheit mag in uns, die wir das Problem der Brechung zwischen Körper und Leib haben, den Eindruck der größten Harmonie im Zusammenstimmen aller Sinne erwecken. Sie selber erleben dies anders. Es scheint kein Zufall, daß wir in der Interaktion mit ihnen immer wieder das Kleinkindstadium der Ausbildung von senso-motorischer Intelligenz (J. Piaget) assoziieren, wozu signalsprachliche Kommunikation paßt. Sie finden offenbar ein Korrelat für unsere diskursiv geäußerte Intelligenz und für unsere sprachlich getätigte Kommunikation, solange sie eine Relevanz für ihre sensorisch-motorische Funktionseinheit an ihrem Körperleib entdecken, etwa ein Würstchen. Aber übersteigern wir nicht unsere Empathie in sie: Ihr Bellen oder Miauen wird kein Satz, geschweige auf den Monitor geschrieben.
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Die Dinge ändern sich erst, wenn man Primaten, vor allem Menschenaffen und die Sprachversuche mit ihnen, bedenkt. Aber sie gehören gewöhnlich nicht zu den Haustieren des C o m m o n Sense. Hat sich denn nun die anfängliche Selbstbeschreibung des C o m m o n Sense als einer spezifisch menschlichen Praxis im Tier-Mensch-Vergleich behaupten können? Ja, wie im folgenden deutlich werden wird.
1.9. Zusammenfassung: die beiden Differenzen an Körper-Leib und zu kommunizierender Urteilskraft An die Stelle der Körper-Leib-Differenz beim Menschen ist die Körper-Leib-Einheit beim Haussäuger getreten, wollte man die der Praxis des Gemeinsinnes impliziten Orientierungen zur begrifflichen Hypothese ausarbeiten. Die Körper-Leib-Differenz erschien in dem dreifachen Zugang zum menscheneigenen Körper, einem Zugang, den wir demnach nicht unseren Haussäugern unterstellen dürfen. N u r wir, die wir den eigentümlichen Blick haben können, Leiber wie Körper neben anderen Körpern in einer Außenwelt sehen zu können, sehen in dieser die Bruchlandung des Hundes auf dem Eisenzaun vorher, die ihn ereilt, wenn es zu spät ist. Was er sich als Verhaltenseinheit zwischen Körper und Leib unmittelbar erspielt, und was uns daran so lebendig vorkommt, als hätte er nur einen Leib, beruht offenbar auf einer anderen Zuordnung zwischen Sensorik und Motorik. Diese Zuordnung erfolgt zwar schon bewußt, wenngleich sich dieses Bewußtsein auch noch in eingeborenen Verhaltensbahnen bewegt. Es wird aber nicht als mögliche Fehlerquelle von dem Tier selber nochmals kontrolliert, etwa sich selbst zur Anschauung gebracht, sondern nur unmittelbar getätigt, nur im Vollzug der Zuordnung von Sensorik und Motorik ausgeübt, weshalb das Tier einen derart lebendigen Eindruck auf uns macht. Natürlich können wir, eben insofern wir tierische Lebewesen sind und bleiben, auch unmittelbar die bewußten Zuordnungen zwischen Sensorik und Motorik ausüben. N u r können wir diesen Bewußtseinsmodus uns selbst zur Anschauung bringen und uns in ihm agierend vorstellen. Dadurch wird er gebrochen, seine Unmittelbarkeit als Vermittlung zwischen Sensorik und Motorik durchschaubar. An diese Stelle beim Menschen, zwischen der individuellen und der soziokulturellen Urteilskraft einen sprachlichen Kommunikationsprozeß durchlaufen zu können, tritt beim Haussäuger einerseits das sensomotorische Bewußtsein (Intelligenz) des Einzeltieres und andererseits sein sensomotorisches Sozialverhalten im Sozialverband, der das Spielverhalten durch andere Verhaltensarten, etwa der Dominanz, eingrenzt. Das Bewußtsein vermittelt zwar für uns die Zuordnung zwischen seiner Sensorik und Motorik, soweit dies die eingeborenen Verhaltensbahnen erlauben, aber offenbar nicht für es, das Tier, selber. Es ist zwar klar, daß das Spielverhalten insbesondere des Jungtieres im Sozialverband Lernen ermöglicht, aber es bleibt ein zu
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untersuchendes Problem, wie dabei Eingeborenheit, individuelles Lernen und womöglich auch Anfänge eines soziokulturellen Lernens zusammenhängen. Für das zuletzt genannte Lernen wäre die Gretchenfrage die, ob die betroffenen Lebewesen imitieren können. Imitation erfordert aber von dem Imitierenden selbst die Unterscheidung zwischen Vor- und Nachbild. Dies schließt zumindest implizit eine Art von Selbstbild ein 10 , für das es erst bei Menschenaffen deutliche Anhaltspunkte gibt. Selbst wenn dieser erste Begriffsvorschlag plausibel scheint, wird doch mit ihm das spezifisch Menschliche immer rätselhafter. Woher kommt nur und wohin führt nur dieser eigenartige Blick, den wir praktisch schon immer in Anspruch nehmen und in dessen Richtung sich Leiber zu Körpern unter Körpern verfremden? Gewiß, für die menschliche Lebensführung ist die Bewältigung der Ambivalenz, sowohl leiblich als auch körperlich verfaßt zu sein, konstitutiv. Und wir tun gut daran, die zueinander passenden Verleiblichungen und Verkörperungen zu finden. Allein, dieser Zugang zum eigenen Körper enthält eben auch die Möglichkeit, mit anderen Leibern anders zu verfahren, als wären sie nur Körper. Wir werden das ganze Buch brauchen, die Frage nach dieser, menschheitshistorisch oft genug realisierten Möglichkeit auch nur richtig zu stellen. Nehmen wir nicht vorschnell die sprachliche Kommunikation zwischen individueller und soziokultureller Urteilskraft für die grenzenlose Lösung des Problems, sondern nur für diejenige Lösungsmöglichkeit, die dem heutigen Common Sense unter seinen historisch vergleichsweise glücklichen Bedingungen praktisch vorschweben kann.
1.10. Plessners Hypothese über die Spezifik des Menschlichen: Der kategorische Konjunktiv Wenn spezifisch menschlich ist, daß die dem Säuger eigentümliche bewußte Zuordnung von Sensorik und Motorik vor uns selbst auseinanderbricht in die Differenz zwischen körperlichen und leiblichen Sinnen, dann stehen wir von vornherein in einem „Mißverhältnis" oder einer „Unstimmigkeit". 11 Das Zusammenspiel zwischen Verkörperung und Verleiblichung wird sich spontan eher selten einstellen. Jedenfalls können wir wohl in dem Mißverhältnis nur schwer darauf bauen, daß sich diese glückliche Fügung schon wie bei Kleinkindern oder Haussäugern ergeben wird, die beide zudem elterlicher Fürsorge bedürfen. Wenn wir darauf nicht vertrauen können, obgleich es eine bestimmte Art von Erlebnis und von Sehnsucht bleibt, müssen wir
10 Vgl. H. Plessner, Zur Anthropologie der Nachahmung (1948), in: GS VII, S. 389 ff. Vgl. auch schon früher F. J. J. Buytendijk/H. Plessner, Die Deutung des mimischen Ausdrucks. Ein Beitrag zur Lehre vom Bewußtsein des anderen Ichs (1925), in: GS VII, S. 71 ff. 11 H. Plessner, Anthropologie der Sinne, a. a. O., S. 382, 375.
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das Zueinanderpassen quasi herzustellen versuchen. Und sollen diese Versuche, aus eigener Kraft wieder ins Gleichgewicht kommen zu wollen, in der Kontinuität der Tiernatur gedacht werden können, ohne also die Annahme von vergleichsweise göttlichen Eltern, dann müßte diese Steigerung an den tierisch schon vorhandenen Bewußtseinsmodus des Verhaltens anschließen. Plessner sieht hier, in dem Mißverhältnis, das spezifisch menschliche Problem, sich an Mustern orientieren zu müssen, entspringen: „Das Pragma wurzelt aber in der Gebrochenheit von Leib und Körper, in der Verschränkung von innen und außen, deren Überhöhung erst der Schematismus der Willkür erreicht."12 Sich an Pragmata, Handlungsmustern oder Schemata der Willensbildung orientieren zu müssen, erfordert deren situativen Vergleich, also Beurteilung, womit wir wieder bei der sprachlichen Kommunikation zwischen den Urteilspotentialen angekommen wären. Das Problem der Urteilskraft, ihrer praktischen Implikation und sprachlich-kommunikativen Artikulation, antwortet schon immer auf das Mißverhältnis der körperlichen und leiblichen Sinne. Aus dieser Unstimmigkeit kommt die zu beurteilende Frage her, sofern eine Verhaltensgewohnheit als praktische Antwort nicht ausreicht. Die Körper-Leib-Differenz ist die Frageposition, in welche der Haussäuger nicht vor sich selbst gerät. Er braucht daher nicht zu antworten, und er kann nicht auf sie antworten im wortwörtlichen Sinne von Sprache. Hier macht Humboldts Antwort auf die Frage Sinn, warum Tiere nicht sprechen können: Weil sie nichts zu sagen haben. Sie leben nicht in der Position, in der der Bewußtseinsmodus des Verhaltens in Frage zu stellen ist. Wir kommen also nicht umhin, doch schon ein Minimalverständnis von menschlicher Sprache einzuführen, soweit dies hier die Rekonstruktion des Gemeinsinnes erlaubt, um den gröbsten Verwechselungen mit anderen Zeichen- oder Signalsystemen der Kommunikation (Verhaltenskoordinierung) vorzubeugen. Wie bin ich mir selbst sprachlich begegnet, als ich müde, schlaff und fiebrig in eine Körper-Leib-Differenz kam, die meine Urteilskraft langsam als Grippe diagnostizierte, wegen der ich dann mit anderen (dem Arzt) sprachlich darüber kommunizierte, um mir Rat und Tat in meine praktischen Schlüsse zu holen? Wenn jetzt präzisiert werden soll, was bislang provisorisch die Eigenart der individuellen Urteilskraft in der sprachlichen Kommunikation mit der soziokulturellen Urteilskraft hieß, gehen wir am naheliegendsten von der doppelten Bedeutung aus, die der Gebrauch des Personalpronomens „Ich" hat. Offenbar spezifiziere ich in der sprachlichen Kommunikation, etwa mit dem Arzt, was ich für Beschwerden habe, wie ich mich fühle, was ich davon halte und wo ich das Problem sehe, eben durch den Gebrauch dieser Selbstbezeichnung „Ich".
12 Ebd., S. 370. Vgl. auch ebd., S. 386.
Plessners Hypothese
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Ich bin mir sicher, daß mir irgendwie schlecht ist, so ist unmittelbar meine leibliche Befindlichkeit. Ich habe zwar auch eine Hypothese darüber, woran das liegt (Grippe) und wie man es beheben könnte (Therapie mit Antibiotikum). Aber ich bin mir doch noch unsicher darüber, was ich warum habe und wie es zu heilen wäre. Es könnte auch der Anfang oder das Ende von etwas anderem sein. Daher konsultiere ich lieber den Arzt zu dem Problem, welche der vielen möglichen Verkörperungen (Diagnoseund Therapiearten in der Arztekunst) mein leibliches Unwohlsein kurieren könnte, am wahrscheinlichsten wirken würde mit den relativ geringsten negativen Nebenwirkungen usf. Wenn ich bei all dem „Ich" verwende und Rückbezüge auf „mich" herstelle, komme ich unter diesem Titel doppelt vor. Einerseits meine ich meinen Leib, mit dem etwas nicht stimmt, dem ich aber nicht entkommen kann. Ich kann seinen, mir lästig und sorgenvoll gewordenen Ort nicht verlassen. Er kommt immer mit, ja, zieht mich ihm nach ins Bett, da ich schwach bin. Dieses leibliche Unwohlsein okkupiert auch alle meine Zeit. Es bestimmt mein „Hier" und „Jetzt" auf die unangenehmste Weise. Mein Hier und Jetzt sind mir aber unvertretbar und durch nichts austauschbar. Dies trifft natürlich auch dann zu, wenn es mir leiblich gut geht. Die erste Bedeutung der Ich-Bezüge meint so oder so, also strukturell, meine leibliche Situation: „Ich kann mich zu anderen in ein konstantes Gegenüber bringen, in dem mir eine ausgezeichnete Stelle reserviert bleibt, die eben nur durch mich hic et nunc ausgefüllt wird. Insofern sind ,Ich' und ,Hier' äquivalent. Ich bezeichnet den Ort, von dem meine Impulse ausgehen und auf den hin alle Perspektiven konvergieren. Dieser abstrakte Tatbestand kommt dem Menschen in seiner Abstraktheit meistens nur verworren, konkret aber durch die eigene leibhafte Existenz zum Bewußtsein, welche dem Eindringen eines anderen Körpers Widerstand bietet. Mein Leib steht für Ich, das ich auf eine menschliche, eine unvertretbare Weise bin und das mir eine einzigartige Position verschafft." 13 Das mag, bei allem Verständnis, der Arzt anders sehen, für den ich heute der zwanzigste Grippepatient bin. Gleichwohl ändert dies nichts an meiner Selbstbezogenheit von der leiblichen Existenzart. Mir ist und bleibt mein Leib unvertretbar, ausgezeichnet, ob ich will oder nicht, was jeder gute Arzt auch als die Grenze seines Handelns respektiert. Trotzdem kommt jetzt die andere Bedeutung der Ich-Bezüge auch bei mir selbst ins Spiel, derentwegen ich den Arzt aufgesucht habe. Bei meinem heutigen Anliegen wäre ich sogar froh, stellte sich dem Arzt mein leibliches Unwohlsein nur als der konkrete Anwendungsfall einer allgemeinen Diagnose- und Therapietechnik
13 H . Plessner, Der kategorische Konjunktiv. Ein Versuch über die Leidenschaft (1968), in: GS VIII, S . 3 3 8 f .
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dar, so daß es dank einer bestimmten Verkörperung vertretbar würde, und zwar möglichst bald. Dies ist die zweite Bedeutung des Ich-Sagens: Ich meine mich als jemanden oder etwas, das nach Maßgabe einer soziokulturellen Verkörperungsart vertreten, womöglich ersetzt oder ausgetauscht werden kann: „Unvertretbarkeit dank der eigenen Binnendimension enthüllt sich dem Individuum nur nach Maßgabe seiner Einsicht in seine Vertretbarkeit. Einzigartigkeit artikuliert sich nur vor einem Hintergrund, der sie nicht kennt." 14 In der sprachlichen Kommunikation bewege ich mich schon immer, wie Plessner ebenda sagt, in der strukturellen Antinomie zwischen meinem akut leiblichen Ich und meinem soziokulturellen Ich an möglichen Verkörperungen. Die Zuständigkeit meines Leibes ist hier und jetzt akut. Sie weicht von meinem Normalbefinden zunächst fast unendlich ab. Sie ist mir im ersten Augenblick auch unbestimmbar. Ich erlebe sie als unbedingt vorgehend. Die Unmittelbarkeit, mit der sie sich aufdrängt, setzt meine Urteilskraft in Gang, um ihrer habhaft zu werden. Ich suche nach Symptomen, sie diagnostisch und sodann therapeutisch verkörpern zu können. Ich vergleiche die Zuständlichkeit meines Leibes mit den mir bekannten Verkörperungen und schalte diesbezüglich den Experten ein. Ich benutze also mein allgemeines Ich an soziokulturell möglichen Verkörperungen, über die sprachliche Kommunikation in die Gesellschaft hinein vermittelt, um die angemessenste Lösungsform zu finden, die es womöglich (bei einer komplizierteren Krankheit als meiner Grippe) noch nicht gibt. Vielleicht werde ich noch zum Versuchskaninchen, an dem man einen neuen Erreger, wie es heißt, entdeckt. Es geht also nicht um das Sprechen und dessen Strukturen als solche, sondern um die angemessenste Antwort unter den soziokulturell möglichen Antworten auf die Frage, die je meine leibliche Zuständlichkeit stellt, da sie des nötigen Gleichgewichts an körperlicher Gegenständlichkeit entbehrt. Für dieses Fragen und Antworten braucht man Urteilskraft, um das durch die sprachliche Kommunikation Erschließbare auf den Kontext der jeweiligen Körper-Leib-Differenz beziehen zu können, um also dem Common Sense gemäß den praktisch angemessenen Schluß zu ermöglichen. Dies ist der Sinn von Plessners „Kategorischem Konjunktiv", die Spezifik menschlichen Verhaltens zu erfassen: Gemessen an den eingespielten Verkörperungen ist es die Unbedingtheit des Leiblichen, die uns in die Frageposition stellt. Darin besteht das Kategorische an diesem Konjunktiv. Um aus der unbestimmten Frageposition in eine bestimmte Fragestellung zu gelangen, auf die bestimmt geantwortet werden kann, ruft man die soziokulturellen Antwortmöglichkeiten auf, die in der sprachlichen Kommunikation konjunktivisch gebraucht werden (engl, in der Möglichkeitsform Konditional II).
14 Ebd., S. 339 f.
Plessners Hypothese über die Spezifik des
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Obgleich der Kategorische Konjunktiv als eine Sprachform, eben als die strukturelle Antinomie zwischen leiblichem und körperlichem Ich, beschrieben werden kann, handelt es sich bei ihm nicht um irgendeine Sprachform, in der es ausreichen würde, wieder auf andere Sprachformen zu rekurrieren. In seiner philosophischen Thematisierung geht es vielmehr darum, wie überhaupt unser Fragen und Antworten in unsere Lebensform gehört. Um dieses Thema näher aufnehmen zu können, werden wir in den beiden kommenden Kapiteln untersuchen, was die Rekonstruktion desjenigen Gemeinsinnes erbringt, der in den Erfahrungswissenschaften und Künsten dieses Jahrhunderts teils spezieller wirksam war, teils aber auch auf besondere Weise negiert und kritisiert worden ist, wovon hier einleitend abgesehen werden mußte. Die laut Plessners Kategorischem Konjunktiv nötige Rekontextualisierung der Sprache im menschlichen Lebensvollzug benötigt einerseits einen naturphilosophischen Vergleich der menschlichen mit den nichtmenschlichen Lebensformen, den Plessner unter dem Titel der Positionalitätsformen durchführt. Andererseits erfordert diese Rekontextualisierung eine Beantwortung der Frage, wie die sprachlichen und nichtsprachlichen Sinne bei uns Menschen zusammenhängen, sowohl intermodal als auch intramodal. Worin besteht nun der Sinn unserer Sinne? Oder auch anders formuliert: Was macht die Funktion respektive den ganzheitlichen Charakter des Zusammenwirkens aller unserer Sinne aus? Nun, die Kooperation der körperlichen und geistigen Sinne ermöglicht das, was man menschliches Verhalten nennt. In diesem treffen sie sich. Es steht im Zeichen des kategorischen Konjunktivs. Wir leben diesen Kategorischen Konjunktiv, indem wir die Frage nach ihm, wie sie in der Unstimmigkeit zwischen den körperlichen und leiblichen Sinnen anhebt, praktisch zu beantworten versuchen. Die gleichsam motorische Antwort, die wir auf ein derart sensorisches Mißverhältnis geben, ist aber weder instinktiv noch durch ein einmal gelerntes Bewußtsein festgestellt. Sie erfolgt im Lichte der Möglichkeiten, die eine individuelle Urteilskraft nach Maßgabe sprachlicher Kommunikation mit der soziokulturellen Urteilskraft hat. Das Ich des Leibes verhält sich, indem es sich „als Körper und zu seinem Körper, d. h. als Verkörperung bestimmt. Es genügt nicht, mit dem cartesianischen Vorurteil zu brechen" und „in das romantische Gegenextrem einer Leibseeleeinheit zu verfallen": „Leibhaftigkeit ist nicht einfach Körper-Sein, sondern immer auch KörperHaben, d. h. ein Verhalten der Verkörperung und zur Verkörperung, ein in Handlung, Sprache und Gestaltung Körper gewinnendes Verhalten zu ihm und seinen Gegenständen."15 Wir werden später sehen, wie das Spektrum dieser Antwortmöglichkeiten am Handeln, Sprechen und Gestalten zu differenzieren sein wird. Je bedingter, bestimmter und endlicher die Antworten ausfallen, desto dringlicher wird die Frage, wie man die Antworten von neuem aus dem Unbedingten, Unbe-
15 H . Plessner, Anthropologie der Sinne, a. a. O., S. 382 f.
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stimmten und Unendlichen der Frageposition heraus erlernen und verändern kann. Wir werden sehen, wie sich die Grenzen der Antworten im ungespielten Lachen oder Weinen bemerkbar machen. Positiv schaffen diesen Ubergang ins Neue, wen wundert es in der Reihe der Säugetiere, Spielformen, nun allerdings spezifisch menschliche Spielformen, insbesondere der alltäglichen und außeralltäglichen Schauspielerei, mit denen wir von klein auf aufwachsen und im Großen sogar Geschichte machen. 16 Wir sind die Nachahmer und streiten uns um dieses Privileg höchstens mit den Menschenaffen. Wir sind die Nachahmer jedenfalls der Verkörperung, von der wir ein sinnlich zu beurteilendes Bild brauchen, das uns die Zuordnung zwischen Sensorik und Motorik ermöglicht. Wer aber ein Vor-Bild nach-bilden kann, dem kann die Nachbildung unwillkürlich mißlingen und der kann willkürlich von ihr abweichen, je nach seiner N o t und Freude aus leiblicher Zuständlichkeit. Menschen sind Wesen, die Bilder verschleißen. Insofern ist der Sinn der Sinne, zumindest Generationen übergreifend betrachtet, von negativem Charkter. Er negiert die Feststellung der Zuordnung zwischen Sensorik und Motorik, wodurch er neue Zuordnungen eröffnet. Wir hatten oben als Zwischenresultat gewonnen, daß die Umstellung in der Zuordnung zwischen Sensorik und Motorik von Instinkten (angeborener Zuordnung) auf Bewußtsein (individuell erlernbarer Zuordnung) von uns Menschen offenbar nochmals durch Verkörperungen durchbrochen wird. Die Grundform der Verkörperung von uns selbst ist das Spiel der Darstellung unseres Selbst, seiner Differenz an sinnlichen Urteilen. Vielleicht wäre die oben als unheimlich angesprochene Komponente unseres Blickes, die andere Leiber in nichts als Körper verfremdet, in diesen Spielsinn der Skepsis gegen eine endgültige Feststellung ohne Revisionsmöglichkeit zu bannen? Aber dann hätte dieser negative Sinn der Sinne den doch positiven Sinn, stets von neuem eine positive Antwort auf das Unbestimmte der Frage nach dem spezifisch Menschlichen zu finden? Ehe wir hier spekulativ fortsetzen, schauen wir uns lieber an, was sich natur- und kunstphilosophisch zum Thema sagen läßt.
16 Vgl. ebd., S. 391.
2. Die Freilegung des Nichts: Lektionen zur Sinnesfrage aus den modernen Künsten
2.1. Sinnenleere und Frischfleisch Wir alle haben dies schon erlebt: Man läuft in eine Ausstellung und wird dort mit einem sogenannten Bild konfrontiert. Es handelt sich um eine graue, womöglich beigefarbene Leinwand, die derjenige, welcher Künstler genannt wird, keiner Bearbeitung für würdig befand. Auch auf einen Rahmen wurde verzichtet, obgleich ein solcher daneben hängt, ohne daß in ihn etwas eingespannt worden wäre. Sollte man das erste „Objekt", wie es heißt, für konsequenter als das zweite Ausstellungsstück halten, das inzwischen in nicht wenigen Wohnungen hängt, zuweilen durch einen Spiegel verdorben? Noch immer gefällt es Theaterregisseuren, ihr Ensemble und das Publikum in eine auf den ersten Blick peinliche Situation zu versetzen. Mitten im Spiel, zuweilen auch am Anfang, läuft der Theaterabend in unendlich werdenden Minuten leer. Die Schauspieler fahren nicht fort, ihre Rolle zur Aufführung zu bringen, oder beginnen erst gar nicht damit. Sie sitzen, liegen, stehen wie zufällig am Rande oder in der Mitte der Bühne ohne jede Bewegung. Zuweilen werden auch sie noch ausgespart, als gelte es die ohnehin karge Bühnenausstattung in ihrem reinen Materialwert zur Schau zu stellen. Man weiß nicht, handelt es sich um eine Demonstration der Sparmaßnahmen, gegen die man bei nächster Gelegenheit stimmen sollte, politisch unter den Parteiungen oder als Konsument auf dem Markte, wie man zu reden sich angewöhnt hat, oder will einem der verantwortliche künstlerische Leiter den höheren Sinn einer tieferen Einsicht vermitteln, und, falls dies der Fall wäre, um Gottes willen, welcher? Es ist schon lange her, daß so etwas als Provokation der künstlerischen Avantgarde gewirkt, etwa einen Skandal ausgelöst hat. Selbst ein Augenblick von Irritation will sich heute nicht mehr dadurch einstellen. Dazu bedarf es inzwischen, wie in den neuen englischen Wanderausstellungen, echter Tierhaut, wobei echte Menschenhaut nicht lange auf sich warten lassen dürfte. Künftig Verstorbene und Unfallopfer haben dann, bevor sie dieses Schicksal ereilt, die Chance, für die spätere Verwertung ihrer Leichen nicht nur als Organspende, sondern auch als zu präparierendes Ausstellungsobjekt einen Kredit aufzunehmen.
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Selbst auf der Theaterbühne hat man es schon brüsker erlebt als in diesem langweiligen Stillstand zu Beginn des Stückes oder mittendrin. Es kann nicht mehr einfach um den intellektuellen Affront gehen, den Effekt einer Zeitlupe gegen die hohe Schnittgeschwindigkeit amerikanischer Actionfilme zu erzielen. Was hat das Theater nicht alles schon unternommen, um sich dem Film nach- und so entgegenzustellen. Es bleibt sein Vorteil, an den unwiederholbaren Akt der Aufführung gebunden zu sein. Inzwischen ist auch hier die einst avantgardistische Leere, das Innehalten des beschäftigten Kreisels Mensch, wieder zu Fleisch und Blut geworden, nun wortwörtlich die Regie der Leiber, der Brüste, Hüften und Schwänze, der blutenden und amputierten Extremitäten, schwer unterscheidbar von denjenigen Peepshows, die früher einer gewissen Art privater Clubs vorbehalten waren. Angesichts des neuen Unterhaltungswertes frischen Fleisches und eben gerinnenden Blutes, wie er von der Film- und Sexindustrie über das Reality TV nun auch in die Reality Arts übergeschwappt ist, muß man vielleicht schon wieder eine Sympathie mit der Ausstellung der Leere haben, ohne nostalgisch zu werden. Es ist wohl so, daß jede Generation von neuem ihre Stilleben der Seele erst erfinden muß. Die derzeit neue tut es laut, schrill, grell, bunt, cool in Techno verpackt. Verhalten also falle ich in das Klatschen des Publikums ein. Jeder möge die Kunst erlernen, den Stillstand in seiner Raserei zu entdecken, auch ohne Altar und Beichtstuhl. Gleichwohl schaue ich auf die Uhr. Es war ein netter alter Gag des Innehaltens, aber nun macht weiter, wir müssen morgen früh aufstehen. Für die im vorangegangenen Kapitel aufgeworfene Frage nach dem Sinn der Sinne, nach seiner Funktion oder dem ganzheitlichen Charakter des Zusammenwirkens der einzelnen Sinnesmodalitäten im menschlichen Verhalten, ist es lehrreich, sich die Krise der Künste zu vergegenwärtigen. Exemplarisch mögen im folgenden nur einige Hinweise auf die bildenden und die darstellenden oder aufführenden Künste genügen, um den Konflikt zu verdeutlichen, den Common Sense und Künste spätestens seit der letzten Jahrhundertwende offen miteinander haben und unterschwellig vielleicht immer hatten.
2.2. Die künstlerische Fokussierung des Kategorischen Konjunktivs Der Gemeinsinn erwartet eine Bereicherung seiner Anschauungs- und Urteilsmöglichkeiten von denjenigen Subkulturen, die sich ihm gegenüber nach im weitesten Sinne Expertenrollen ausdifferenzieren, mögen diese Rollen professionalisierten Lebenslaufbahnen folgen, wie teilweise in den Wissenschaften, oder nach weniger festen Berufungs- und Berufsstandards ausgebildet werden, wie häufig in den Künsten. Die genannten Künste scheinen in besonderem Maße dazu berufen zu sein, Körper-Leib-Differenzen erlebbar werden zu lassen. Im Unterschied zu den Erfahrungswissenschaften, die sich eher um die möglichst eindeutige Reproduzierbarkeit von
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leiblich ablösbaren Verkörperungen kümmern dürften, kann man im ersten Anlauf von den Künsten einen anderen Weg erwarten. Sie möchten durch die soziokulturell möglichen Verkörperungen hindurch so etwas wie die opake Zuständlichkeit des Leibes entdecken, zu der am ehesten das jeweils leiblich referierende Ich einen Zugang gewinnen kann und dementsprechend künstlerisch angesprochen werden sollte. Der Zugang zum eigenen Körper ist, wie wir im ersten Kapitel gesehen haben, dreifach (unmittelbar willkürlich, unmittelbar unwillkürlich und den Leib verkörpernd wie andere Körper auch), wodurch die Kunst herausgefordert wird, für andere als den im wirklichen Leben Betroffenen, auf indirekte Weise also, eben diesen je privelegierten Zugang zum eigenen Körper zu animieren, seine dreifach möglichen Brechungen und Korrespondenzen für Rezipienten vorzuführen. Die symbolpraktische Indirektheit des Weges ermöglicht seine Art von Öffentlichkeit, in der es gilt, die würdelose Bloßstellung individueller Leiblichkeit und die juristische Ahndung der künstlerischen Spielsituation, als wäre sie eine Lebenssituation, zu vermeiden. Ohne derartige Schutzmaßnahmen ginge die Entdeckung der Leiblichkeit für andere nicht öffentlich, sondern nur privat. Im Hinblick auf die Urteilspraxis des kategorischen Konjunktivs wird man, von unserem Gemeinsinn kommend, annehmen können, daß die Künste je nach Genre und Sujet das der individuellen Lebensführung eigene Kategorische den Rezipienten erschließbar werden lassen. Dieses individuell Unbedingte würde auf dem Wege soziokulturell anderer als der eingewöhnten Verkörperungen womöglich überhaupt erst oder wenigstens besser erfüllt werden können. Die Beurteilung des dem Individuum Nötigen im Lichte verschiedener Potentiale, seine Not praktisch zu wenden, mag dem Unbedingten der Lebensführung anderer konfligieren oder korrespondieren, deren praktischen Urteilspotentialen widersprechen oder entsprechen. Man könnte also zusammenfassend von den Künsten eine spielerisch-öffentliche Aufdeckung des Kategorischen Konjunktivs der menschlichen Lebensführung erwarten. Dieser Aufschluß fokussiert sich der Anschauung nach auf die leibliche Zuständlichkeit des Ichs und der Urteilspraxis nach auf die Individualisierung angemessener Verkörperungspotentiale. Da die leiblichen Zustände nicht ohne den Kontrast mit körperlich Gegenständlichem als leibliche hervortreten können und da die Unvertretbarkeit des Individuumms nur vor dem Horizont seiner Vertretbarkeiten beurteilt werden kann, hat man es mit Ambivalenzen zu tun, in denen die Anschauung des Leiblichen und die Beurteilung des Individuellen nur indirekt ermöglicht werden. Die Konsequenz des Weges der indirekten Kontraste läuft in eine Raum- und Zeitlosigkeit aus, die letztlich wie ein Nichts die Anschauung und Beurteilung von etwas Positivem aus einem äußeren Woanders her zu ermöglichen scheint. Andererseits verweist aber auch die Fokussierung aufs Positive in diesem Lebendigen selber auf etwas, das nicht mehr bezeichnet werden und nicht mehr sich selbst ausdrücken kann. Es erreicht in sich eine Grenze, die Plessner das „individuum ineffabile" nennt, worauf wir am Ende des 4. Kapitels zurückkommen werden.
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2.3. Der Konflikt zwischen Common Sense und modernen Künsten: seine geschichtliche Herkunft N u n ist diese Erwartung des Negativen, das das Positive an individualisierter Leiblichkeit ermöglicht, im Common Sense gewiß nicht verbreitet. Wenn es sie gibt, dann durch außergewöhnliche Erlebnisse in Grenzsituationen und als Produkt der Rückwirkung der modernen Kunstgeschichte und der anderen Expertenkulturen auf den Gemeinsinn, eine Rückwirkung, wie sie in den in den Niederlanden üblich gewordenen Stilleben seit dem 17. Jh. begonnen hat. Verbreiteter ist aber sicherlich noch immer die der Meisterung der Lebenspraxis hier und heute näher liegende Anschauungs- und Urteilspraxis des Positiven an individualisierter Leiblichkeit. Insofern bleibt der Konflikt zwischen Common Sense und modernen Künsten erhalten. Man versteht ihn aber besser, wenn man sich kurz der drei Aspekte in den geschichtlichen Schüben der letzten Jahrhunderte erinnert, Schüben, die die Künste als moderne erst herauszuproduzieren gestattet haben. D a wir hier letztlich auf ein anthropologisches Problem hinauswollen, das nicht mit einem spezifisch modernen Problem verwechselt werden soll, lasse ich die modernetheoretische Debatte beiseite und benutze nur den kleinsten gemeinsamen Nenner der üblichen modernetheoretischen Beschreibungen. 1 Erster Aspekt: Die Künste sind zunächst insofern modern, als sie ihre Sinnesleistungen von der religiösen Indienstnahme zugunsten einer sakralen (heiligen) Sphäre des Jenseitigen befreien und in der profanen (weltlich gemeinen, ungeheiligten) Sphäre des Diesseitigen situieren. Dabei war unter den Modernen selbst umstritten, inwiefern im Diesseits selber das Tremendum (Furchtbare, Schreckliche) und Faszinosum (geheimnisvoll Fesselnde), das früher dem Sakralen zukam, auf neue Weise begegnet oder mit dem Sakralen verschwindet. Man könnte in Variation auf Max Webers berühmte Phrase von dem Disput darüber reden, ob es in der Moderne zu einer neuen Art von Verzauberung kommen kann und muß, oder ob mit der Moderne die Entzauberung der Welt endgültig wird. Dieser Streit hängt nicht mit dem Wogegen, sondern mit dem Wofür der modernen Befreiung zusammen. Zweiter Aspekt: Unter der Moderne in ihrem Wofür versteht man zumeist (seit Max Weber) die Ausdifferenzierung verschiedener Wertsphären für sich, so der Wirtschaft, der Politik, der Expertenkulturen wie Wissenschaften und Künste, wodurch die traditionale Einheit der vormodernen Gesellschaften in funktional autonome Handlungsbereiche mit je besonderen Medien der Handlungskoordinierung zerfällt.
1 Vgl. näher H.-P. Krüger, Perspektivenwechsel. Autopoiese, Moderne und Postmoderne im kommunikationsorientierten Vergleich, Berlin 1993, 2. u. 3. Teil.
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Für die Künste ist dieser Aspekt ihrer autonomen Selbstkonstitution seit dem Ende des 19. Jhs. in der Bewegung des „L'art pour l'art", der Kunst um der Kunst willen, besonders deutlich und breitenwirksam geworden. Damit war die jahrhundertelange Abnabelung der spezifisch künstlerischen Werteorientierung auf das Schöne von der früher religiös-metaphysischen Einheit des Schönen mit dem Guten und Wahren, aber auch von der frühmodern noch philosophisch-metaphysischen Einheit der Wertsphären, vollzogen worden. Dieser modernen Verselbständigung der künstlerischen Werteorientierung gegenüber anderen modernen Funktionswerten entsprach intern eine enorme Formalisierung des künstlerischen Werteaspekts, von der Versinnlichung des geistig Schönen über das profan Schöne und dessen inhaltliche Umkehrung ins Häßliche bis hin in reine Formabstraktionen und nur noch strukturell verstandene Stilunterscheidungen. Diese warfen intern das Problem der Zergliederung in Basiseinheiten und deren methodische Rekombination zu künstlerischen Effekten auf. Die alte philosophische Orientierung der Künste auf Subjektivität schien zugunsten syntaktischer Eigenarten (Relationen der Zeichen untereinander) und methodischer Verfahren überwunden werden zu können, wodurch die Künste als auch verwandt der Mathematik und Wissenschaft aufgefaßt werden konnten. Drittens: Schließlich bestand die Kehrseite des funktionsspezifischen Zerfalls der modernen Gesellschaft in autonome Handlungssphären mit je eigenen Funktionswerten und Medien in der Frage der Reintegration des funktional Ausdifferenzierten. Diese Frage wurde in der Generationenfolge in immer neuen Wellen diskutiert und gewann unter dem Stichwort der Avantgarde im Europa der ersten Hälfte des 20. Jh. an besonderer Schärfe. Mit der Avantgarde stellte sich der Anspruch auf Rückkehr der autonomisierten Kunstleistungen ins gesellschaftliche Leben, aber nicht im Sinne der Rücknahme der Autonomisierung der Künste, sondern im Sinne der Revolutionierung dieses Lebens, die wenigstens kulturell aufgefaßt wurde, oft aber auch sozial durch ein Bündnis mit einer politisch radikalen Bewegung, sowohl von rechts als auch von links, bewerkstelligt werden sollte. Abgesehen von diesen gesellschaftlichen Revolutionsabsichten betraf die Reintegrationsfrage auch mittlere Rekombinationen, so der Künste mit der Wirtschaft und Alltagsswelt, denkt man an Architektur, Werbung und Design, also an die weniger „reinen" als „angewandten" Künste, oder auch kunstinterne Rekombinationen, so der verschiedenen Kunstarten und Genres unter sich, vergegenwärtigt man sich die Geschichte der darstellenden Künste des Musik- und Sprechtheaters über Film und Fernsehen bis zu den heute im weitesten Sinne Performancekünsten und ihren audiovisuellen, weltweit und rechnergestützt vernetzbaren Medienkombinationen. Das Reintegrationsproblem wurde während der letzten Jahrzehnte zumindest in Europa weitgehend ohne avantgardistischen Revolutionsanspruch gegen die klassisch reine Moderne (der reinen Literatur, der reinen Musik, der reinen Malerei etc.) unter dem Titel einer Postmoderne erneut diskutiert.
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2.4. Die Krise der modernen Kunstsinne als anthropologisches Experiment Anthropologisch betrachtet wirft nun die westlich moderne Emanzipation der Kunstsinne ein interessantes Problem auf. Man kann sie nämlich als ein geschichtliches Experiment nolens volens zu der Frage nach den Grenzen der Veränderbarkeit menschlicher Sinnorientierungen, von deren Inter- und Intramodalität, lesen. Unter dem ersten Aspekt der geschichtlichen Modernisierungsschübe stellt sich das Problem, inwiefern die Profanisierung zwar nicht zu einer Resakralisierung führen muß, aber doch aus sich selbst heraus auf die Inanspruchnahme von etwas Anderem als dem einfach Profanen verweist. Dieser Kontrast könnte in einem außeralltäglichen Zusammenspiel der Sinne bestehen. Der situativ übergreifende Lebenssinn scheint aus einem derartigen Zusammenspiel herzukommen und es für die Zukunft (wieder oder endlich) vorzustellen. Diese Imagination kann an die „latente Präsenz", die wir im Alltag immer schon von uns selbst haben 2 , anschließen. Im Hinblick auf den zweiten Punkt kann man sich fragen, wieviel Indirektheit an künstlichen Umwegen (über abstrakte Funktionswerte oder formal-stilistische Distinktionswerte) die künstlerische Entdeckung der Individualisierung des Leiblichen verträgt, um nicht sinnlich in die Leere zu gehen. Es gab und gibt eine Vielzahl kunstimmanenter Wiederbelebungen der Sinnlichkeit gegen den abstrakten Reinheitskult klassisch moderner Kunstformen. Dies führt auf den dritten Aspekt zurück. Was kann mit intermodalen Rekombinationen der Kunstsinne gemeint sein, wenn sie der Integration in die individuellen, soziokulturellen und natürlichen Lebensprozesse dienen mögen?: Offenbar weder die avantgardistische Revolutionierung des Lebens nach abstrakten Funktions- oder Distinktionswerten noch die bloße Verlängerung und Befriedigung des profanen Alltages. Die Lösungsrichtung für alle drei Fragen könnte sich, so die Hypothese, in einer Verdopplung des Profanen abzeichnen, nämlich in der Differenz zwischen Alltäglichem und Außeralltäglichem. Schauen wir uns aber zunächst dieses Experiment, das als die Sinnkrise der modernen Künste zu protokollieren wäre, in Auszügen näher an. Es könnte sein, daß es geschichtlich Schwellenwerte überschritten hat, die aus der Sicht der Philosophischen Anthropologie kritisch und lehrreich auch noch in ihrem Leerlauf sind. Wenn die moderne künstlerische Sinnproduktion von außeralltäglicher Profanität ist, dann entsteht ihr dieser Charakter in dem Maße, in dem sie auch von den alltäglichen Reproduktionspraktiken der modernen Gesellschaft freigestellt wird. Diese Entlastung hängt wesentlich mit der Entdeckung und Verbreitung neuer Medien zusammen, wie z . B . der Fotografie, der Entwicklung von Zeitungen, später des Rundfunks und des Fernsehens zu Massenmedien, bis sie alltäglich gebraucht werden. Im Unterschied zu diesem Gebrauch können neue Medien auch künstlerisch
2 Helmuth Plessner, Anthropologie der Sinne, (1970), in: GS V, S.327.
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genutzt werden, oder sie stellen die traditionellen Medien von alltäglichen Aufgaben frei, wie z. B. die darstellenden und bildenden Künste in ihren Aufführungs- und Ausstellungspraktiken (vgl. zu Medien und Performance 5.3. u. 5.5.).
2.5. Ästhetisierung der Kunstsinne: ihre Musikalisierung, Visualisierung oder Integration In der Freistellung der alten Kunstmedien von nicht nur religiös-sakralen, sondern auch alltäglichen Funktionen mag sich die Sinnkrise zunächst dekadent zuspitzen, aber eben dadurch auch besonders hervortreten und den kunstimmanenten Chancen, mit ihr umzugehen, begegnen. Nennen wir die - gemessen an einer Autonomie der Kunst, die nicht von sich ablassen kann - dekadente Zuspitzung der Sinnentleerung Ästhetizismus. Im Unterschied zum Ästhetizismus folge ich Plessner darin, den historisch neuen Umgang mit den Chancen der Freistellung der Kunstsinne von sakralen und alltäglich nützlichen Aufgaben als die „Ästhetisierung" der Sinne3 zu bezeichnen, die zunächst in den Künsten errungen auch in die Lebensformen einwandern kann. Ästhetisierung heißt dann die Aufgabe, aus der doppelten Befreiung der Kunst ein außeralltägliches Spiel werden zu lassen, in dem mit und in den Kunstsinnen experimentiert werden kann. In solcher Lage gibt es grundsätzlich zwei Antwortmöglichkeiten, nämlich einerseits die Entfaltung und Übertragung einer bestimmten Kunstmodalität, bis sie an ihre Grenzen stößt. So kann Malerei als die Erprobung außeralltäglicher Sehweisen und Musik als die Ausbildung außeralltäglicher Hörweisen aufgefaßt werden. Zwei kunstgeschichtlich exemplarische Varianten der ersten Antwortmöglichkeit bestehen dann darin, das rein Musikalische herauszupräparieren und die Musikalisierung anderer Sinnesmodalitäten zu erproben, und darin, das Visuelle überhaupt herauszuproduzieren und die Visualisierung anderer Modalitäten zu erkunden. Das in einem bestimmten Modus (intramodal) überhaupt Erreichbare, das Musikalisierbare oder Visualisierbare, tritt so in den Grenzen seiner Übertragbarkeit in andere Modi, also intermodal, hervor. In der zweiten Antwortmöglichkeit auf die kritische Lage versucht man umgekehrt, verschiedene Kunstmodi zusammenzuführen, um sie sich wechselseitig in einer Art von Gesamtkunstwerk ergänzen und verstärken zu lassen. Solche Versuche einer integrativen Bündelung sind nicht nur von der Frühromantik und Richard Wagners Schaffen her bekannt geworden, die zu Gegenentwürfen, etwa in der Zusammenarbeit Bertolt Brechts mit Kurt Weill oder Hans Eisler, geführt haben.
3 Ebd. S. 341. Ders., Die Musikalisierung der Sinne. Zur Geschichte eines modernen Phänomens (1972), in: GS VII, S. 489 f.
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Derartige Rekombinationen haben sich auch an der Frage einer kommunikativurbanen Gestaltung von Ballungsgebieten endzündet, insbesondere die Filmgeschichte begleitet und kehren heute in der neuen Verkopplung audiovisueller Medien mit Rechner- und Netzkapazitäten regionalen und globalen Ausmaßes wieder. Die integrativen Antwortversuche geraten schnell an soziokulturelle und insbesondere politische Grenzen, sowohl wegen der vielfältigen Ressourcen, die sie für sich mobilisieren müssen, als auch wegen der Wirkungspotentiale, die sie entfalten können. Die Überschreitung solcher Grenzen muß nicht nur in der politischen Gestalt von Diktaturen erfolgen, wie es vom Stalinismus, Nationalsozialismus und Faschismus her bekannt ist. Sie kann auch auf kommerzielle Weise durch „symbiotische Mechanismen" 4 und die gleichzeitige Einschränkung der Marktfreiheit zustande kommen. So oder so sind für die Aushandlung der Grenzen zwischen der Asthetisierung der Kunstsinne und der „Ästhetisierung der Politik" 5 oder gar der Ästhetisierung der Gesellschaft und Kultur zu „Erlebnisgesellschaften" 6 öffentlich-gewaltenteilige Verfahren unabdingbar.
2.6. Der Commmon Sense zwischen Alltäglichem und Außeralltäglichem D e r C o m m o n Sense kennt selbst den Wechsel zwischen alltäglichen und außeralltäglichen Situationen. Im Alltag sind die Dinge, mit denen man zu schaffen hat, die Interaktionen mit anderen Personen und die Selbstbezüge, die man eingeht, vertraut und eingespielt. Man hat einmal mit Bewußtsein erlernt, zu welcher sensorischen Konstellation von Wahrnehmungen welche motorischen Antworten passen, und ruft nun das Erlernte nur anhand von Anlässen fast automatisiert auf oder muß einen Augenblick innehalten, die übliche Entsprechung zu finden und situativ variieren zu können. Gerät man hingegen in Konflikte, wird das Selbstverständliche problematisch, muß man um seine Einhaltung kämpfen, seine Interpretation legitimieren oder ändern. Abgesehen von den schon erwähnten soziokulturellen Umwegen in die
4 Körperleibliche Sinnkonstitution kann, etwa in der Erotisierung der Werbung, derart kurzschlüssig symbolisiert werden, daß durch solchen symbiotischen Mechanismus eine Annahmebereitschaft für Warenangebote beim Kunden erzeugt wird, ohne daß das Angebot für den Kunden einen Gebrauchswert haben müßte. Vgl. N . Luhmann, Symbiotische Mechanismen, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 3, Opladen 1981, S. 2 2 8 - 2 4 4 . 5 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: ders., Illuminationen, Frankfurt/M 1977, S. 168 f. 6 Vgl. zur Ästhetisierung des Alltagslebens und zum Erlebnismarkt Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt/M. 1993.
Der Common Sense zwischen Alltäglichem und Außeralltäglichem
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indirekten, vermittelten und reflexiven Verfahren der Expertenkulturen, die wir nur mehr oder weniger freiwillig aufsuchen, können wir sehr plötzlich in existentiell außergewöhnliche Situationen geraten, wie Liebe, Glück, Krankheit oder Tod, in denen wir spontan auch schockartig Gestaltsprünge in der Wahrnehmung und Verhaltensunsicherheiten erfahren. Man ist verzaubert, fasziniert, enthusiastisch, oder ängstlich, panisch, deprimiert. Man weiß nicht, wie man sich benehmen soll, was angemessen ist. D e r alltägliche Ernst, den auch noch das alltägliche Spiel einschließt, steigert sich gleichsam manisch oder depressiv. Fahren wir dagegen zu Bildungsund Urlaubszwecken in andere Kulturen, knüpfen wir eher an unser alltägliches Spielvermögen an, um etwas erfahren, uns erholen zu können, uns ablenken und überraschen zu lassen, was in seiner Freiwilligkeit wohl eher an den Genuß der Künste erinnert. O b auf eher angenehme oder auf eher unangenehme Weise, dem Gemeinsinn sind die Wechsel in außeralltägliche Situationen keineswegs fremd. Nicht nur, daß man so der Routine und Langeweile entkommt und daß man nach einer außeralltäglichen Erfahrung auch den Alltag wieder zu schätzen weiß. In gewisser Weise konturiert sich erst in derartigen Wechseln die menschliche Lebensführung, verstehen wir von daher charakterliche Prägungen und reden wir angesichts solcher glücklichen oder unglücklichen Brüche davon, daß jemand erfahren, herumgekommen und offen oder mehr verschlossen, weniger beweglich und eher unerfahren sei. Insofern knüpfen die Künste, wenn sie die Entdeckung der Individualisierung des Leiblichen indirekt durch Verkörperungen erspielen, an ein der Praxis des Gemeinsinnes innewohnendes Bedürfnis an. D e r C o m m o n Sense ist für Sprünge in der Wahrnehmung oder Auffassung von etwas und für Konflikte im Urteilen nach verschiedenen, den Parteiungen je selbstverständlichen Wertmaßstäben empfänglich. Dies trifft gerade auf die Modernisierung der Lebensformen zu, wie sie im Gefolge der ersten Durchindustrialisierung und der neuen Transport- und Kommunikationsmittel (Eisenbahn, Auto, transkontinentaler Schiffsverkehr, erste Flugzeuge, Zeitungen und Zeitschriften, Télégraphié und neue Druckverfahren) insbesondere in den gebildeten Großstädten seit dem Ende des 19. Jhs. erlebbar wurde. In nur wenigen Generationen wurde der Großteil einer agrargesellschaftlichen, persönlich abhängigen Bevölkerung industriegesellschaftlich zu sachlich Abhängigen reklassifiziert, was die Individualisierung einem vergleichsweise enormen Kontingenzdruck aussetzte. Die Städte expandierten unter elektrischem Licht zu bürgerlichen Wirtschafts-, Handels·, Kultur- und Machtzentren mit neuen Institutionen der sozialen Hygiene und allgemeinen Bildung. Das Zusammenleben unterlag einer enormen Verdichtung und Beschleunigung, die den Gegensatz zu den Landregionen enorm vergrößerten und in den Städten zu kompensatorischen Angeboten an Amüsement und parkähnlich eingehegter Natur führten. Es waren wohl nicht zufällig die Themen vom Leben in der Natur und im großstädtischen Verkehr, die sich auch den Künsten zunächst aufdrängten.
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Die Freilegung
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2.7. Der Rahmen der Ästhetisierung der Kunstsinne zwischen Impressionismen und Expressionismen Plessner würdigt in seinen Schriften, was kunsthistorisch üblich ist, den französischen Impressionismus als Wegbereiter des Avantgardismus in der „Emanzipationsgeschichte des Sehens": Der impressionistischen Auflösung der figürlichen Form folgte 1910 Kandinskys wohl expressionistisch motivierte Auflösung der Gegenständlichkeit. 7 Nach Cézannes Preisgabe der in der Renaissance errungenen Zentralperspektive und nach dem pointillistischen Verzicht auf Objekte, die das Auge führen, ging es um „analytische Verfahren", die die vielfältig perspektivische „Erzeugung des Eindrucks aus Elementen" 8 ermöglichen, vor allem aus Farben oder anderen einfachen Grundgestalten, etwa geometrischen Figuren. Bei allem Gegensatz zwischen Impressionismus und Expressionismus, in ihrem Nacheinander wird das ältere Prinzip geistiger Originalität unter den neueren Marktbedingungen konsequent kontinuiert, eben durch die Ästhetisierung der Sinne. 9 Die Ausbildung und die wachsende Resonanz des Impressionismus und Expressionismus können als das erste herausragende Beispiel für die ästhetisch doppelte Befreiung der Kunstsinne von sowohl religiösen als auch alltäglichen Diensten gelten. Dies schließt beim einzelnen Künstler nicht Motive dieser oder jener Art aus, aber sie können nicht die enorme Rezeption dieser Richtungsbewegungen erklären, eine Rezeption, die sich dank der Reproduktionstechniken, der internationalen Wanderausstellungen wie Kunstmärkte und des Aufschwungs an Kulturreisen bis in unsere heutige Zeit nochmals enorm gesteigert hat. Versteht man beide, Impressionismus und Expressionismus, in einem weiteren als nur dem engsten kunsthistorischen Sinne, gab es nicht nur von der Rezeption, sondern auch von der Produktion her gesehen immer neue Anläufe zu Neoimpressionismen oder Kubismen einerseits, zu Symbolismen und Neoexpressionismen andererseits und zu Überkreuzungen beider Richtungen, etwa im Fauvismus, Surrealismus und in solchen herausragenden Lebenswerken wie denen von Max Beckmann oder Francis Bacon. Gegen die zu einfache Lesart, „als habe die nachimpressionistische Malerei und Plastik die Gegenständlichkeit und ihre Wiedergabe in Acht und Bann getan", schreibt Plessner: „Max Ernst, Chagall, Beckmann und Picasso gehören zwar heute nicht mehr zur Avantgarde. Aber sie als bloße Wegbereiter für die Informellen aufzufassen, hieße denn doch den Bogen überspannen. Daß auch Gegenständlichkeit immer aktuell bleibt, sieht man z. B. an einem Fall wie Francis Bacon. Nur muß der
7 H. Plessner, Gesellschaftliche Bedingungen der modernen Malerei (1965), in: GS X , S. 270 f. 8 Ebd., S. 274. 9 Vgl. ebd., S. 272 f., 280 f.
Der Rahmen der Ästhetisierung der Kunstsinne
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Gegenstand Träger einer Mitteilung sein, sonst hat er keinen Anspruch auf künstlerische Wiedergabe."10 Meine Erweiterung des engeren Verständnisses von Impressionismus und Expressionismus auf ihren Zusammenhang im historischen Prozeß hin unterstellt aber einen gewissen anthropologischen Blick. In Impressionismen handelt es sich dann eher um Erlebensbewegungen, die man sich als von außen nach innen verlaufend vorstellen kann und in denen mehr ein leibliches Zusammenstimmen mit der zum Leuchten gebrachten äußeren Natur von Verkörperungen zustande kommt. Demgegenüber stehen in Expressionismen Ausdrucksbewegungen im Vordergrund, die die leibliche Bewegtheit eher gegen eingespielte Verkörperungen symbolisch herauskehren. Beide Verfahren, das der impressionistischen Erlebensbewegungen und das der expressionistischen Ausdrucksbewegungen, unterstellen die spezifisch moderne Freiheit, in der historischen Zuordnung zur gegenseitigen Angemessenheit von Verkörperungen und Verleiblichungen erst kommen zu müssen. Diese ästhetische Gemeinsamkeit beider Richtungen, die zunächst vor lauter stilistischer Zuordnung zwischen bestimmten Inhalten und bestimmten Formen nicht bemerkt wurde, ermöglicht dann die Uberkreuzung beider Phänomene an Kunstsinnen. Der der Individualisierung des Leiblichen Ausdruck verleihende Protest gegen die anerkannten Verkörperungsformen gebiert eben neue, der Individualisierung des Leiblichen in der betreffenden Generation angemessenere Verkörperungen, die ihrerseits wieder zum Stein des Anstoßes der Nachrücker werden. Man kann mit diesem anthropologischen Blick auf den kunsthistorischen Strömungsstreit aus den einseitigen Entweder-oder-Alternativen herausgelangen und Zugang zu Kunstwerken gewinnen, die in sich beide Bewegungsrichtungen bis zur Zerreißprobe gegenläufig ausspielen. Wenn Erlebens- und Ausdrucksbewegungen in ihrem üblichen und historisch kontingenten Gegensinn auf keine Weise mehr zu einem kategorischen Minimum der condition humaine zusammenstimmen können, kommt der kategorische Konjunktiv des Menschseins selber zu Fall. Darin könnte die Sonderstellung solcher Lebenswerke wie das von Max Beckmann in der ersten Hälfte und wie das von Francis Bacon in der zweiten Hälfte des 20. Jhs. gründen.11 Beide, Impressionismus und Expressionismus, gab es vor allem in der Malerei und auch in der Musik, was ihre Entfaltung in den angrenzenden Künsten der sprachlichen Darstellung auf der Bühne und in der Lyrik nicht marginalisieren soll, sie aber sowohl inter- als auch intramodal interessant werden ließ. Der Impressionismus im
10 Ebd., S. 276. 11 So erläutert Wilhelm Fraenger Max Beckmanns Bild „Der Traum" (1921) als eine „absolute", durch keinen Zynismus mehr polarisierbare „Negation" in der „Bändigung des Alpzwangs der Chimäre durch eine tageswache Formbewußtheit". W. Fraenger, Von Bosch bis Beckmann. Ausgewählte Schriften, Dresden 1977, S.293.
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engeren Sinne stammt zwar aus französisch zivilisierten und eher katholischen Mentalitäten, und der Expressionismus im engeren Sinne kommt aus (nord)deutschen, eher kulturgebundenen und protestantischen Mentalitäten. Aber beide haben schnell in den jeweils anderen Mentalitäten auch ein positives Echo gefunden und von Anfang an darüber hinausgehend fremde Anstöße produktiv aufgenommen, ob im Falle des Impressionismus seitens des Japonismus oder im Falle des Kubismus und Expressionismus durch die positiv verstandenen „primitiven" Künste aus Afrika und Ozeanien. Die Internationalisierung und Einbeziehung außerwestlicher Anregungen wachsen, je weiter man das Phänomen der Neoimpressionismen und der Neoexpressionismen versteht. Beide, Impressionismus und Expressionismus, bilden ein zwar gegensätzliches, aber anscheinend auch sich ergänzendes Paar an Modernität der Kunstsinne, das, obgleich es ins letzte Drittel des 19. Jhs. zurückreicht und im ersten Drittel des 20. Jhs. seinen Höhepunkt an Produktivität hatte, in der Rezeption doch noch immer mühelos als Gegenwart erfahren werden kann, in gewisser Weise sogar als unübetroffene künstlerische Zeitgenossenschaft erlebt und zitatweise auch wiederbelebt wird. Man könnte dieses Paar als gleichsam die resonanzfähige Rahmenmöglichkeit für die künstlerische Bedürfnislage des modernen allgemein gebildeten Common Sense ansehen. In diesem und vor diesem Framework heben sich die weiteren avantgardistischen Experimente ab, etwa die der konsequent abstrakten oder ungegenständlichen bzw. informellen Kunst, vor der die Kubisten Picasso und Braque noch bewußt zurückschreckten, während viele der nachfolgenden Avantgardisten Trittbrettfahrer dieses Rahmens wurden. Nähme man ihnen das von den Vorgängern erzeugte Framework als Kontrast, sähe und hörte man nichts. „Protest ist kein Prinzip der Gestaltung." 12
2.8. Der geschichtliche Charakter des Sinns der Sinne: zwischen der Exzentrierung und der Rezentrierung des eigenen Standortes Mit Plessner läßt sich auch der geschichtlich umgekehrte Weg gehen, Impressionismus und Expressionismus nicht nur zu unserer Gegenwart hin aufzuschließen, sondern ebenfalls in den größeren Kontext seit der Renaissance und Reformation im 16. Jahrhundert einzuordnen. Ähnlich wie im Impressionismus und Kubismus der produktive Kontakt zur positiven Naturwissenschaft eine bedeutende Rolle gespielt hat, verdankten wir schon davor die kopernikanische Wende des Weltbildes der Entstehung der modernen Naturwissenschaft. Hier liegt die Parallele in der jeweils neuartigen Verkörperung, die die bisher zentrische Geborgenheit des Leiblichen aufbricht
12 H. Plessner, Gesellschaftliche Bedingungen der modernen Malerei, a. a. O., S. 268.
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und aus der Mitte (der von Gott geschaffenen Natur) an die Peripherie eines befremdlichen, unsere Selbstlosigkeit herausfordernden Naturkontinuums wirft. Aber auch damals schon gab es zu dieser Dezentrierung oder, wie Plessner sagt, Exzentrierung 13 unserer Stellung in der Welt die gegenläufige Ausdrucksbewegung, dem Leiblichen wieder einen zentrischen Halt in der realistisch einzuspielenden Lebenswelt zu vermitteln. Als realistisch kann gelten, was der soziokulturell eingespielten Unmittelbarkeit des Zuganges zum eigenen Körper entspricht. Die bekanntesten Beispiele für die zur Exzentrierung gegenläufige Rezentrierung unserer Stellung in der Welt sind die Zentralperspektive der Renaissance und die reformatorische Verinnerlichung des Christentums 14 , an deren selbstquälerische Inbrunst der Symbolismus von Edvard Munch und der deutsche Expressionismus später dann erneut anschließen. Wir haben es also bei dem historischen Rückgang in die Entstehung der Frühmoderne auch mit einer Parallele an erneuter Verleiblichung in einem Repertoire von epochemachenden Ausdrucksbewegungen zu tun, die wirkungsgeschichtlich modifiziert sogar wiederbelebt werden. Zumindest in der Neuzeit scheinen also Exzentrierungen des eigenen Standortes die für den Menschen zur Unmittelbarkeit eingespielte Zentrierung auf seine Leiblichkeit durch neue Verkörperungsarten in Frage zu stellen. Umgekehrt wird versucht, in Bewegungen des leiblichen Ausdruckes durch eine Rezentrierung des eigenen Standpunktes der Verunsicherung entgegenzuwirken, die eben die exzentrische Verkörperung auslöst. Der Sinn der Sinne stellt sich als ein geschichtlicher Sinn heraus, den man erst in dem Kontrast der Gegenbewegungen des Erlebens neuer Verkörperungen und des Ausdruckes unbestimmter Verleiblichungen zu verstehen lernt. Diese gegenläufigen Bewegungen fragen einander und antworten aufeinander. Ihre Eingespieltheit ergibt ein Rahmenwerk, das sie sich gegenseitig streitig machen. Vor und in diesem Framework erzählen sie ihre Geschichte (narratio) und beurteilen sie abweichende Phänomene als geschichtliche Ereignisse.
2.9. Die Zentrierung aufs Bewußtsein der Subjektivität und die Exzentrierung der positionalen Lage von menschlichen Lebewesen Nun vermerkt allerdings Plessner die deutliche Diskrepanz zwischen dem historischen Selbstverständnis, in dem die historisch Betroffenen von der frühen Moderne über
13 Ebd., S. 272. 14 Vgl. zur deutschen „Weltfrömmigkeit", insbesondere in Philosophie und Musik, aus der Tradition des lutherischen „Bruches zwischen Innerlichkeit und Öffentlichkeit" H . Plessner, Die verspätete Nation. Über die Verfiihrbarkeit bürgerlichen Geistes (1935/1959), Frankfurt/M. 1974, S. 68 ff.
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die kulturell „reine" bis in die industrielle Modernisierung hinein agierten, und dem anthropologischen Blick von heute her zurück auf das kunstgeschichtlich exemplarische Paar und seine historischen Parallelen. Das Selbstverständnis war durch und durch zentriert auf das Bewußtsein und begriff Asthetisierung als eine solche des Bewußtseins oder als Bewußtseinsform. U m die angemessene Bewußtwerdung des Bewußtseins von unangemessenen Bewußtwerdungen unterscheiden zu können, wurde Subjektivität als Maßstab des Urteilens inthronisiert. Die Instanz der Subjektivität hatte das Mißliche, auf den erkenntnistheoretisch-ontologischen Dualismus zur Objektivität festgelegt werden zu können, was nicht immer mit ihr gemeint war. Die Zentrierung auf das Bewußtsein mündet im 20. Jh. unter avantgardistischen Händen auf problematische Weise in Bewußtseinsindustrien. Demgegenüber beschreibt der anthropologische Blick positionale Bewegungen des Erlebens von Verkörperungen, die einer leiblichen Antwort bedürfen, und des Ausdrucks von Verleiblichungen, die eine körperliche Antwort brauchen. In diesen Bewegungen können zwar jeweils die Sensorik und Motorik durch Bewußtsein vermittelt werden, aber erst die Verschränkung der gegenläufigen Bewegungen ergibt das spezifisch menschliche Verhalten, das gerade nicht in dem Bewußtsein der einsinnigen Bewegungen aufgehen kann. Würde menschliches Verhalten in der Zentrierung aufs Bewußtsein aufgehen, wäre es nicht der Geschichtlichkeit bedürftiges Verhalten. Obgleich wir die positional ex- und rezentrierenden Bewegungen menschlicher Lebewesen in ihren Umwelten und Welten erst im nächsten Kapitel, dem naturphilosophischen Aufschluß des Problems erfahrungswissenschaftlicher Zugänge zum Menschen, behandeln werden, sei die Differenz zu der neuzeitlichen Fixierung auf das Bewußtsein und dessen Subjektbildung zum Verhaltenszentrum bereits hier ausdrücklich vermerkt. So schreibt Plessner über das historische Selbstverständnis der Beteiligten, daß es im 17. Jh. für die Malerei und im 18. Jh. für die Musik „einen entscheidenden Einschnitt" erlebt habe. In diesen Jahrhunderten „machte sich für die ihrer Individualität schon höchst gewissen Menschen eine neue Dimension geltend: die Dimension des Bewußtseins. Die Erschütterung des geozentrischen Weltbildes und die Schwächung der zentralen Autorität Roms, des ontologischen Standorts, verlangte eine Neuverwurzelung des Einzelnen in sich selbst. ... Damit wurde die Richtungsumkehr von einer Malerei und Musik, welche die Erfüllung vorgegebener Regeln anstrebte, zu einer die Wirkung auf das Bewußtsein des Beschauers und Hörers vorauslenkenden Artistik vorbereitet. Die ästhetische Kunst des Bewußtseins fand allerdings erst im 19. Jh. zur Erkenntnis ihrer Möglichkeiten und schließlich im Impressionismus erstmals programmatischen Ausdruck." 1 5
15 H . Plessner, Die Musikalisierung der Sinne, a. a. O., S. 487.
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Plessner greift aus der Distanz seiner Philosophischen Anthropologie gegen die modernen Bewußtseinsphilosophien heraus die seines Erachtens nolens volens zutreffende Beschreibung des Wandels durch den avantgardistischen Maler Georges Mathieu auf: „Eine ästhetische Kunst des Bewußtseins versucht ein ästhetisches Bewußtsein der Kunst zu ersetzen." 16 Das Dilemma des avantgardistischen Anspruches kommt darin zum Vorschein, daß das Problem der Ästhetisierung der Sinne, zunächst einmal der Kunstsinne, noch immer als ein Bewußtseinsproblem aufgefaßt wird. Gegen den alltäglich nützlichen und zugleich gegen den religiös-sakralen Gebrauch der Künste setzte sich im 18. Jh. bis zur Romantik zu Beginn des 19.Jhs. ein ästhetisches Bewußtsein von den Künsten durch, dem Subjektivität als Orientierungsmaßstab vorschwebt. Im avantgardistischen Anschluß an die romantizistische Umkehr zu so etwas wie einem Gesamtkunstwerk, dem intermodalen Zusammenspiel der Künste, sollen nun die ästhetischen Künste Bewußtsein erzeugen. An die Stelle des ästhetischen Bewußtseins von den Künsten mögen, so die avantgardistische Umorientierung, die ästhetischen Künste der Bewußtseinsproduktion treten. Das Ästhetische wird nicht mehr dem Bewußtsein über die Künste zugesprochen, sondern den Künsten der Erzeugung von Bewußtsein. Diese Künste orientieren sich nicht mehr wie das ästhetische Bewußtsein an Subjektivität, sondern an ihren analytischen und rekombinativen Verfahren, Bewußtsein herzustellen. Die Gefahr der Verkehrung des avantgardistischen Anspruches in bloß marktförmige „Bewußtseinsindustrien" 17 wirft das Problem der Spezifik der Ästhetisierung der Kunstsinne erneut auf. Wie läßt sich diese Ästhetisierung nicht bewußtseinszentriert auffassen, wo doch offenbar ihre produktionstheoretische Beschreibung nur auf das industrielle Marktverhalten zu passen scheint, nicht aber für den geistigen Sinn der Ästhetisierung erhellend wirkt. Oder ließe sich naturphilosophisch die geistige Spezifikation der Ästhetisierung der Sinne in ein anderes Produktionsverständnis einholen? 18 Darauf kommen wir im nächsten Kapitel zurück.
16 Ebd., S. 486. 17 Ders., Gesellschaftliche Bedingungen der modernen Malerei, a. a. O., S. 283. 18 Vgl. zur Frage einer nicht ausschließlich ökonomischen, sondern vom Standpunkt der sprachlichen Kommunikation universalisierbaren Produktions- und Reproduktionstheorie seit dem 18. Jh. bis heute H.-P. Krüger, Kritik der kommunikativen Vernunft, Berlin 1990. Vgl. zum avantgardistischen Aspekt der Frage bei Brecht H.-P. Krüger, Demission der Helden, Berlin 1992, S. 147-157.
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2.10. Der Streit über Wagners Gesamtkunstwerk Bleiben wir noch bei den Lektionen, die die Kunstgeschichte zu erteilen vermag, um das philosophisch-anthropologische Problem überhaupt erst richtig stellen zu können, und verfolgen wir als nächstes den Faden, der sich vom Romantizismus zum Gesamtkunstwerk bis in die Avantgarde hinein ergibt. Dafür ist der Streit über Wagners Bühnenweihspiel als Modell für das intermodale Gesamtkunstwerk in der Moderne höchst lehrreich. Plessner folgt zunächst Heinrich Besseler, dem Stilhistoriker, wenn dieser „in Wagner die Kulmination der von der Romantik entwickelten passiven Hörweise" sieht: „Passives Hören, wie es zu Konzertsaal und Oper paßt, begünstigt den Instrumentalstil und die große symphonische Form. Der passive Hörer ist der Zuhörer, der ein Geschehen sich gegenüber hat, von dessen Gewalt er zwar mitgerissen sein will, ohne von ihm zur Teilnahme an seiner Realisierung aufgefordert zu sein. Um so wichtiger wird der Dirigent als Mittler zwischen Orchester und Publikum, weil er den vom passiven Hören gewollten Abstand zwischen beiden überbrücken muß." 19 Die Konzentration bei der sog. ernsten Musik auf große Dirigenten hält bis auf den heutigen Tag an. Das passive Hören ist musikhistorisch gesehen keineswegs selbstverständlich, sondern eine Besonderheit, die sich auch in unserer eigenen Tradition von ernster Musik nach der Dominanz von Wagner, Brahms und den Wienern schnell relativiert hat durch die neue Musik und die Reformversuche der Schönbergschen Zwölftontechnik. Umso merkwürdiger erscheint das passive Hören vom Standpunkt heutiger Diskotheken oder damaliger Bälle, die freilich unter Ernsten verpönt waren. Das passive Hören kündigt einerseits den Zusammenhang des Hörens von Musik mit der Motorik auf, der sich akustomotorisch, etwa im Tanz, sogleich herstellt. Es koppelt andererseits das Hören der Rezipienten auch noch vom eigenen Lautproduzieren ab, was den gewöhnlichen Kreisprozeß des Tönens stört. Indem wir unsere eigene Stimme artikulieren und vernehmen, stehen wir in einem Kreisprozeß, der sich im teilnehmenden Wechsel der Stimmen mit anderen erweitert. So herausgelöst aus dem ihm eigenen akustomotorischen und sensomotorischen Verhaltenskontext, wird das Hören zum verselbständigten Bewußtseinsdatum, zu einer, in Paraphrase auf Nietzsche gesprochen, in sich „schwimmenden" (statt tanzenden) Empfindungsart. 20 Der Philosoph und Ästhetiker Theodor W. Adorno hat von einer „Pseudomorphose der Musik an Malerei" gesprochen, um die spätere „Analogie des Uberganges von Debussy zu Strawinsky zu dem (Ubergang: HPK) von der impressionistischen
19 H. Plessner, Anthropologie der Sinne, a. a. O., S. 357. 20 Vgl. ebd., S. 358.
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Malerei zum Kubismus" zu verdeutlichen, womit Adorno eine „Verräumlichung der Musik" meinte. 21 Noch abgesehen von dieser speziellen Analogie, liegt offenbar bereits im passiven Hören selber eine Angleichung des Hörens an das Sehen vor. Obgleich die Töne noch immer in uns eindringen, wodurch wir in diesem Hören mitgerissen werden können, werden sie doch als bloße Empfindungsart durch die Aufführung der Musik da vorne auch in die Lage des Gesehenen gebracht. Für den kundigen Hörer ist zusätzlich der Zusammenhang zur Notenschrift gegeben, eine weitere visuelle Vorstellung zugunsten der räumlichen Bahnenförmigkeit der Töne, die eigentlich eine zeitliche Sukzession darstellen. Schließlich gerät die Darbietung der Musik für ein passiv hörendes Publikum auch noch unter den Zwang, „sich selber darzustellen", wodurch sie in „Sprachnähe" kommt. Die Darbietung und deren Selbstdarstellung erwecken den Eindruck, „als ob da eine von dem Klanggeschehen abhebbare, mit ihm gemeinte Schicht von Bedeutungsgehalten entstanden wäre", die aber Sprache auszeichnet. 22 Insofern beruht das Gesamtkunstwerk, in dem für viele Romantiker die Musik im übertragenen Sinne den Ton angeben sollte, gerade darauf, die dem Musizieren als Tätigkeit eigene Akusto- und Sensomotorik radikal aufzulösen in eine Empfindungsart. Die Herstellung dieses bloßen Bewußtseinsdatums wird dem Sehen (der Aufführung, der Selbstdarstellung, der interpretationsbedürftigen Sprachnähe) angeglichen. Musizierende Tätigkeit gerinnt über einen Abstand hinweg zum Sehobjekt, obgleich das Eindringen der Töne noch immer mitreißt. Der Zeitcharakter der Tonfolge, noch immer gegeben, wenngleich in der Selbstdarstellung des Dirigenten variiert, wird zugleich verräumlicht. Plessner stimmt Adorno ausdrücklich zu: Musik, die sich gegenüber dem Musizieren verselbständigt, verliere ihren besonderen Modalsinn. Dieser besteht laut Plessner darin, an die „vorsymbolische Struktur" von sensomotorischen Akten des sukzessiven „Einstimmens" gebunden zu sein, von dem sich nicht sprachlich noch eine Bedeutung abheben läßt. 23 Musik ist zwar wie auch Lachen und Weinen eine „sprachgeprägte Ausdrucksform", entzieht sich aber „sprachlicher Interpretation". 2 4 Die vielgepriesene Intermodalität des romantizistischen Gesamtkunstwerkes scheint sich dadurch auszuzeichnen, daß sie den musikalischen Kreislauf der akustomotorischen Lautproduktion und -rezeption zerstört und diese Modalität zugunsten der Visualisierung aufgibt. Der Preis dieser Intermodalität ist das Opfer der Intramodalität des Musizierens, die jedem Kind auf der Welt nur durch Kulturzüchtung
21 Th. W. Adorno, Philosophie der neuen Musik, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 12, Frankfurt/M. 1975, S. 175. 22 H . Plessner, Anthropologie der Sinne, a. a. O., S. 362. 23 Vgl. ebd., S. 355 f., 360. 24 Ebd., S. 352.
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nach sozialem Distinktionswert abgewöhnt werden kann. Nun besteht die Gegenthese zur Angleichung der Musik an den Sehmodus der Malerei just darin, daß doch die Geschichte der modernen Malerei umgekehrt deren Musikalisierung zeige. Und in der Tat scheint Plessner gegen Adorno, der sich später auf eine bloße Wahlverwandtschaft zwischen moderner Musik und Malerei zurückgezogen hat, auf den ersten Blick genau diese Gegenthese zu vertreten. Wenn schon in Parenthese zu Adorno sei besser von einer „Pseudomorphose der Malerei an Musik" zu reden. 25
2.11. Von der Visualisierung der Musik zur Musikalisierung der Malerei Für diese beiläufige Umkehrung des Adorno-Zitats spricht das geläufige Selbstverständnis vieler Kunsthistoriker, das die Vorstellungen avantgardistischer Maler, wie Kandinskys selbst, fortsetzt. Die Entgegenständlichung der malerischen Sehweise folge musikalischem Vorbild. Wollte man aber die Metapher von der Musikalisierung des Sehsinnes ernst nehmen, müßte man sich fragen, was die der Musik eigene Verzeitlichung, ihre Rhythmisierung von eindringenden Impulswerten, übertragen auf die Sehweise, anderes bedeuten soll als die Bewegung der Bilder, die später der Film gebracht hat. Es mag sein, daß der Maler und der Ausstellungsbesucher unwillentlich, indem sie die Bilder aus verschiedener Distanz ansahen und nacheinander wechselten, die Bewegung der Kamera vorweggenommen haben. Dies ist zwar plausibel, war aber von Kandinsky 1910 nicht gemeint. Dieser Vergleich wirft jedoch erneut ein sensomotorisches Licht, nun auf das Sehen, dem eher eine Opticosensorik als eine Opticomotorik eignet, wenn man es vom Taktilen, das sofort eine motorische Bewegungsform hat, unterscheidet: „Es ist eben kein Zufall, daß es einen akustomotorischen und keinen opticomotorischen Typ gibt." 26 Der Hörsinn kann, dank des Charakters von Tönen, den Raum zu erfüllen und in uns einzudringen, sowohl Fern- als auch Nahsinn sein. Der Sehsinn ist allein Fernsinn, und zwar im Unterschied zum Hören über einen Abstand, eine Distanz, hinweg. Gerät das Gesehene in Berührungsnähe zum eigenen Körper, kommt es in die Reichweite der taktilen Sinne und damit der Kooperation zwischen Taktilem und Visuellem, was zum Ausprobieren des Wahrgenommenen oder zur Herstellung einer Distanz ihm gegenüber führt, also wieder zum alleinigen Sehen. Evolutionsgeschichtlich stammt diese Emanzipation und Kooperation des Sehsinnes aus dem Erwerb des aufrechten Ganges und dem Freiwerden der Vorderglieder, wodurch die Hand zum „Organ des Kontaktes" wird: „Sehen als Präsentation der Ferne und Tasten als die der Nähe sind Gegenpole, phänomenologisch nach ihrer
25 Ders., Die Musikalisierung der Sinne, a. a. O., S. 490. 26 Ders., Anthropologie der Sinne, a. a. O., S. 361.
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Erlebnisqualität wie in ihrer Rollenverteilung für das Verstehen und Erkennen. Der Zwang, für das Erkennen und alles, was in seiner Linie liegt, Metaphern aus dem Sehbereich zu gebrauchen, ist bekannt." 2 7 Jedes Kind muß im Einsehen oder Ergreifen und im Abstandsehen oder Begreifen die sensomotorische Koordination zwischen Auge und Hand erst erlernen. Diese Koordinierung ist bei uns von vornherein sprachlich vermittelt, was sich bis in die gleichzeitige Aktivierung der entsprechenden Arreale des jüngeren Neocortex hinein zeigen läßt. Wenn man sich also fragt, was einerseits dem Modus der Auge-Hand-Koordination und andererseits dem Modus der kreisförmigen Lautproduktion und -rezeption gemeinsam ist, stößt man außer auf die erwartbare Sprache auf die taktilen Sinne. Die Eigenart etwa des Tastens besteht aber darin, daß wir, indem wir etwas ertasten, zugleich uns selbst empfinden, was uns auf den sinnlichen Zugang zum eigenen Körper zurückführt. Dies trifft auch, um ein anderes Beispiel zu nehmen, auf die Empfindung von Temperatur zu, der im Äußeren etwas entsprechen kann, aber nicht muß. Wir erreichen so „das Atmosphärische des Zumuteseins", das es auch im „nichtaffektiven Bereich" des eigenen Körperleibes gibt. 28 Durch die taktile Gemeinsamkeit körperlicher und leiblicher Sinne eben im Zugang zum eigenen Körper gelangen wir in die sensomotorische Rückkopplung, die der Selbstwahrnehmung, der „Propriozeption" durch Propriomotorik, eigentümlich ist. 29 Wir kommen in das Atmosphärische zwischen Leib und Körper, das auch das Stimmen, ob Ein- oder Gegenstimmen, im Kreisprozeß der Laute charakterisiert. So wichtig aber das Taktile für unsere je eigene körperleibliche Intimsphäre ist, so wenig kann es das Muster für nichtintime persönliche Interaktionen abgeben, noch weniger für unpersönliche soziokulturelle Übertragungen. Es wäre trivial zu sagen, daß sich alle möglichen Modalitäten von Kunstsinnen im Atmosphärischen treffen. Aber es ist nicht trivial, das Atmosphärische aus dem anthropologischen Zugang zum eigenen Körper begreifen zu lernen und angesichts der intimen Grenzen des Taktilen die soziokulturelle Übertragbarkeit des Atmosphärischen von der Stimme her zu entwickeln. Wenn Plessner die Gegenthese von der Musikalisierung der Sinne vertritt, dann in dieser Bedeutung der rhythmisch kreisförmigen oder rückläufigen (rekursiven) Sensomotorik zum eigenen Körper. Im Unterschied zum Zugang zu entweder nur anderen Körpern oder zum nur eigenen Leib ist für diesen sensomotorischen Rücklauf auf den eigenen Körper, für die Entdeckung seiner Ambivalenz, die Stimmung der Stimme exemplarisch. Die Stimmung der Stimme ist gleichsam die paradigmatische Antwort auf die Unstimmigkeit, in dem fraglichen Gegensinn der Körper-oder-Leibbewegungen zu stehen kommen zu
27 Ebd., S. 334 f., vgl. ebd. S. 343 f. 28 Ebd., S. 336. 29 Vgl. ebd., S.367Í.
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können. Die stimmen- und stimmungsähnliche Wahrnehmung durch Bewegung des eigenen Körpers eröffnet einen anthropologischen Blick auf die Explosion der Performancekünste nach dem zweiten Weltkrieg. 30
2.12. Vom sensomotorischen Reflexionskreis der Stimme zum sprachlichen Reflexionsprozeß: Die Metaphern der Intermodalität Indessen haben wir noch immer nicht die letzte Pointe von Plessners These erreicht. So wie wir vom Taktilen aus dem Sehen ins Stimmen kamen, gelangen wir nun von der Musik ins Sprechen, von dem aus wir erneut das Sehen erreichen können, dann aber endlich intermodal. Zum ersten Schritt aus dem Stimmen ins Sprechen: „Musik steht der Gefühlserregung nicht näher als der Sprache. Sie ähnelt beiden, wahrt aber zu beiden Abstand, weil die Stimme Substrat des Sprechens und Klangkörper in einem ist, der jede Emotion reflektiert. Stimme und Stimmung gehören also nicht nur als Worte zueinander. Wären wir fähig, Licht und Farben an uns hervorzurufen (manche Tiere können das), wie wir Laute produzieren, so hätten die optischen Qualitäten Impulswert und ließen sich als impulskonformes Material in künstlerischer Absicht wie Töne verwenden." 31 Bei unserer physischen Konstitution bleiben wir also auf die auditiven Qualitäten als den unmittelbar möglichen Impulswert für unsere Motorik angewiesen, so entscheidend die optischen Qualitäten auf Abstand für unsere Sensorik zweifellos sind. Aber letztere können uns nur über die räumliche Distanz vermittelt, die zeitlich den Augenblick der Besinnung freigibt, in Bewegung versetzen. Der Ubergang von der sensomotorischen Reflexion der zeitlich sukzessiven Stimme in die sprachliche Reflexion, in die leibliche oder körperliche Bedeutung des Gebrauches der Personalpronomen (vgl. Kapitel 1.10.), pointiert nun die These von der Musikalisierung der Kunstsinne. Diese These meine dank Sprache die „Intellektualisierung der Sinne". Damit präzisiert Plessner auch die übliche Redeweise von der „Ästhetisierung der Sinne", der er zunächst, um verständlich in seiner Problematisierung zu sein, gefolgt war. In dieser gewöhnlich schnellen Redeweise geht aber die Intellektualisierung unter, weil man sich aus historischen Gründen des Dualismus angewöhnt hat, das Ästhetische für das zumindest Arationale, wenn nicht gar
30 Vgl. zu John Cage ζ. Β. ebd., S. 342. Da es hier um den sensomotorischen Zugang zum eigenen Körper geht, kann man diesen anthropologischen Ansatz nicht mit der Existentialhermeneutik von Stimmungen verwechseln. Heideggers sprachphilosophische Erschließung von Stimmungen kümmere sich „einen Dreck um die Einbettung der Sprache in das vitale System des Menschen". Ebd., S.346. 31 Ebd., S. 361.
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zumeist für das Irrationale zu halten. „Was vor allem seit der Etablierung einer auf Eindämmen der Ratio bedachten Ästhetik steigende Sensibilisierung bewirkt, hat mit Irrationalismus, Gefühlsseligkeit und Geniekult jetzt nichts mehr zu tun. Ästhetisierung dokumentiert Reflexionsbereitschaft, um nicht zu sagen, Intellektualisierung. Spricht man schon von einer peinture conceptuelle, so ist der Begriff einer musique conceptuelle ihrer ganzen Kunstgeschichte angemessen."32 In der Sprache bringen wir uns nicht nur zum Leibesausdruck (wie in Ausdrucksgebärden), sondern gewinnen wir auch ein Verhältnis zu diesem Ausdruck. Dieses Verhalten zum eigenen Ausdruck im Unterschied zu anderen hebt schon in der sensomotorischen Reflexion des Stimmenkreises an, gerinnt aber zur ablösbaren Verkörperung, wenn wir es in das Augenfeld des Sehens bringen können. Die Rückkopplung des schon rekursiven Stimmenkreises an das Auge-Hand-Sehfeld geschieht zunächst psychogenetisch in der symbolischen Interaktion des Kleinkindes mit der Mutter (bzw. anderen Bezugspersonen) und erfolgt soziokulturell in der Kooperation und im Gespräch mit anderen Anwesenden. Diese Visualisierung des Musikalischen explodiert aber durch die Schrift und an sie anschließende Medien, die die „Affinität zur Visualisierung"33 technisch erweitert durch Schemata der Verkörperung reproduzieren. Die Rückwirkung von der oben erörterten Musikalisierung der Sinne auf die jetzt betrachtete Visualisierung der Sinne begreift Plessner also nicht als eine sprachlose Analogie oder sprachlose Direktheit, sondern als eine sprachliche Metapher, die gerade den Zusammenhang zwischen Musikalisierung und Visualisierung herstellt. Die Intermodalität der Sinne wird im metaphorischen Sprachgebrauch als demjenigen Dritten, das medial die Vergleichbarkeit der intramodalen Eigensinne ermöglicht, erwirkt. Nur in ihm können alle möglichen Modi symbolisch aktualisiert und ins Verhältnis zueinander gesetzt werden. In der Sprache, d. h. in dem Wechsel des Gebrauchs der Personalpronomina, können wir gegenseitig sehen lernen, wie je unser Leib seine Stimmung zum Ausdruck bringt, indem er sich verkörpert. Die durch Sprache als Intellektualisierung begriffene Musikalisierung „bringt für den Bereich der höheren Sinne eine Einheit zustande, in der sich Sehen und Hören wechselseitig transparent werden und dadurch den Grund, das fundamentum in re, sichtbar machen, auf dem diese folgenreiche Metapher ruht." 34 Von daher macht es Sinn, verkörpernde und verleiblichende Schubbewegungen in den modernen Kunstsinnen zu unterscheiden: „Man muß sich klar machen, daß die entscheidenden Entwicklungsschübe in der Malerei der letzten hundert Jahre - und Analoges läßt sich von der Musik seit Schönberg, vom Roman seit Joyce, von der
32 Ders., Die Musikalisierung der Sinne, a. a. O., S. 488. 33 Ders., Anthropologie der Sinne, a. a. O., S. 366. 34 Ders., Die Musikalisierung der Sinne, a. a. O., S. 492.
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poesie pure seit Mallarmé sagen - darauf beruhen, daß immer neue Wahrnehmungsweisen durch Abtrennung und Verselbständigung eigener Möglichkeiten aus den Bereichen des gebundenen Sehens, Hörens, Lesens zustande kamen." 35
2.13. Die sprachliche Verschränkung der Sinne: Schauspielen und Metaphorisieren als Ubersetzung Diese soziokulturelle Ablösbarkeit der Verkörperungen von ihrem ursprünglichen Leibesausdruck zu eigenständiger Bedeutung ist nicht musikalisch zu fassen. „Das Bedeuten kennt die Musik nicht, weshalb sie nur insoweit verstanden werden kann, als sie gemacht wird." 36 Diese Ablösbarkeit ähnelt aber dem Sehen, das sich in der Emanzipation vom Taktilen etwas auf Abstand bringt, indem es gegenüber seinem kooperativen Ergriffensein (sensomotorisch mit dem Taktilen und soziokulturell mit anderen) auf Distanz geht. Sprache stellt diesen Zusammenhang dar zwischen dem selbstbezüglichen Stimmenkreis und der im Sehen abhebbaren Verkörperung, einer Bedeutung also, die aus diesem Kreis stammt. Diesem sprachlichen Zusammenhang zwischen Auditivem und Visuellem entspricht in der sinnlichen Wahrnehmung die des anderen Leibkörpers, seines Spieles zwischen Sensorik und Motorik, das er dem eigenen Schauen zeigt. „Es ist kein Zufall, daß wir für die Aktion des Schauspielers das Wort Verkörperung haben, denn er zeigt sie uns. Die Verschränkung von Leib in Körper, von Körper-Sein und Körper-Haben, ..., die uns festhält, führt uns der Schauspieler vor. Der ganze Mensch wird zur Figur. ... zu einem Beispiel. Diese Erinnerung sollte kein Grund sein, das Theater über alle Künste zu stellen. Wohl aber gelingt nur ihm, die Einheit der Sinne in der Fülle ihrer Dimensionen zu zeigen, ... sie uns im Bilde eines anderen Menschen zu zeigen." 37 Für die exemplarische Erfahrung von Metaphern im Schauspielen sind psychogenetisch betrachtet zwei Stadien besonders relevant, zunächst beim Kleinkind, das Sprechen erlernt, sodann bei im weitesten Sinne Pubertierenden, die eine ungeahnte metaphorische Freiheit entwickeln. Die erste Hürde besteht darin, das Sehen aus seiner unmittelbaren Koordination mit dem Taktilen heraus zum „Fern-sehen" (zum Sehen auf Abstand) zu entwickeln, was offenbar mit einer ersten Versprachlichung der Sinneskoordination zusammenfällt. Das andere Stadium macht sich darin bemerkbar, daß die Schmusezeit mit Kindern endgültig vorbeigeht, da sie selbständig den Intimcharakter ihres Taktilen behaupten. Wie immer man den zeitlichen Zusam-
35 E b d , S. 488. 36 Ders., Anthropologie der Sinne, a. a. O., S. 363. 37 Ebd., S. 391.
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menhang zwischen der Erotisierung der Sinne und der sexuellen Reifung sieht, die Pubertären verändern jedenfalls in der Spannung zum entsprechend anderen Leibkörper ihre gesamte Selbstwahrnehmung und Selbstbewegung. Diese erotische Ausdrucksspannung entlädt sich in einem phantastischen Metaphorisierungsschub des Sprachgebrauches, der auf Beispiele im oben genannten Sinne zur (oft überbordenden) Identifikation und (häufig verletzenden) Abgrenzung setzt, bis eine Ausbalancierung der Verleiblichungen und Verkörperungen einsetzen kann. Dies leitet über zur soziokulturellen Veränderung des Sprachgebrauches in der Generationenfolge. In dieser Folge finden die Submilieus der jeweiligen Generation ihre metaphorische Verschränkung zwischen der symbolischen Verlängerung des Leiblichen in gemeinschaftlich vertrauten Interaktionen und der symbolischen Verlängerung des Körperlichen in gesellschaftlich ambivalenten Interaktionen. Darauf komme ich im 5., und da es eine geschichtliche Wendung erfahren wird, im 6. Kapitel zurück. Hier muß es genügen, den Unterschied zu vermerken, den die menschliche Sprache zu anderen Tieren zu ziehen erlaubt (vgl. 1.3. und 1.9.). Man hat die Erschließung von Welt durch eine bestimmte Sprache oft so verstanden, daß damit auch Welt (als der Inbegriff aller Seinsmöglichkeiten) so begrenzt wie die betreffende Sprache bestimmt ist. Stellt man sich dazu bestimmte soziokulturelle Dialekte vor, durch die sich Sprachgemeinschaften gegen andere abgrenzen, liegt der Gedanke nicht mehr fern, „das Gefangensein in einer Sprache mit dem Gebundensein eines Tieres in seiner Umwelt gleichzusetzen." 3 8 Plessner argumentiert gegen diese Gleichsetzung, obwohl sie nicht einer gewissen Plausibilität für die zentrische Schließung einer Lebensform entbehrt, indem er den doppelt exzentrierenden Zusammenhang einer Sprache hervorhebt. Eine Sprache kann zwar durch ihre Grammatik, nach der Ausdrücke unterscheidbar zu verbinden sind, und durch einen bestimmten Wortschatz, dem das unterscheidbar zu Verbindende entnommen wird, definiert werden. Aber erstens werden alle diese Bestimmungen einer Sprache nur in dem Maße möglich, als sie durch Übersetzung in andere Sprachen mit diesen verglichen wird. Indem man die Erfahrung macht, eine Sprache nur unvollständig in eine andere übersetzen zu können, man also ihre Schranke markiert, ist man über diese vermeintlich „biologische Schranke" hinaus in ihr eigenes Grenzverhältnis gekommen: „Sprache trennt und verbindet in einem und stiftet damit ein Grenzverhältnis zwischen ihrem Eigenbereich zu dem anderer Sprachen, eröffnet also damit die Durchsicht auf die Möglichkeiten des Sagens, die ihr versagt sind. Trennen als Verbinden vermag aber nur eine Grenze, mit der ein Eigenbereich sich selber zum Fremdbereich hin vermittelt." 3 9
38 Ebd. S. 365. 39 Ebd.
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Zweitens: Nun kann man aber das Übersetzungsproblem mißverstehen, etwa als ein vom Prinzip her rechentechnisch lösbares Problem der Zuordnung von Zeichen zwischen „Kunstsprachen", oder als eine nur spezifisch geisteshermeneutisch zu behandelnde Frage, die spekulativen Geist und Einfühlung erfordert. Gegen beide Varianten des Mißverständnisses behauptet die Philosophische Anthropologie den sprachlichen Charakter der intermodalen Verschränkung unserer intramodalen Körperleibsinne. Unser sinnliches Weltverhältnis stellt sich im sprachlichen Können dar, „was ihm einen eigenen Rang unter den menschlichen Privilegien körperlicher und ausdruckshafter Art gewährt."40 Daß Sprache unser sinnliches Weltverhältnis darstellt, leuchtet einem schnell ein, wenn man sich fragt, wie Sprache lebensweltlich erlernt und verändert wird, oder was man in einer kulturell fremden Umgebung, deren Sprache man nicht kennt, tut. In all diesen Fällen geht man zum Schauspielen über, sei es in alltäglich verkürzter Form, um einem offenbaren Mißverständnis entgegenzuwirken oder jemandes verbohrt ernsthafte Haltung aufzulockern, sei es in einem gänzlich fremden Land, in dem man wortwörtlich mit Händen und Füßen sich verständlich zu machen sucht, sei es in anderen außeralltäglichen Spielsituationen, wie denen der Künste. Die Übersetzbarkeit von Zeichen in Zeichen hat Relevanzgrenzen im intermodalen Zusammenhang der körper-leiblichen Sinne. Diese Grenzen werden von uns im Schauspiel der Mimik und Gestik beiläufig angezeigt, der Rhetorik und Darstellung herausgehoben oder innersprachlich durch Metaphern expressis verbis eingeholt. Die Versprachlichung des menschlichen Verhaltens ist nie abgeschlossen. Sie beginnt in der Übersetzung zwischen dem Schauspielen und dem Metaphorisieren stets von neuem. Daher kommt das Darstellbare, über dessen Darstellung man streiten kann. Die Philosophische Anthropologie unterläuft auch den Dualismus zwischen Sprachlichem und Nichtsprachlichem in unserem Verhalten, indem sie den Verschränkungen beider Aspekte nachgeht. Wir können Sprachliches nicht aus einem nichtsprachlichen Verhalten erschließen, ohne uns selbst sprachlich zu verhalten. „Wir sollten uns hier an die Sprache in unserem Horizont halten und den Bereich des Nichtsprachlichen in ihm oder gegen ihn abgrenzen."41 Die Nichthintergehbarkeit von Sprache bedeutet also keineswegs, wie in einem Großteil sprachanalytischer Philosophie oder mißverstandener Diskursanalysen, nur Sprachphänomene behandeln zu können, sondern von der Sprache als dem Kontrastmedium ausgehend auch die nichtssprachlichen Phänomene zu erschließen: „Sprachgeprägte Ausdrucksformen, die sich sprachlicher Interpretation entziehen, sind einmal Lachen und Weinen, zum anderen Musik-Ausdrucksformen, die in Fortführung gewisser sprachlicher Intentio-
40 Ebd. 41 Ebd., S. 352.
Das Bewußtsein
ist nichts
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nen auf ihre Mittel verzichten, finden wir in der Darstellungsform und der Zeichensprache der Mathematik." 4 2
2.14. Das Bewußtsein ist nichts Die moderne Kunstgeschichte des ausgehenden Jahrhunderts hat gewiß die „Belastungsgrenzen", auch die Möglichkeiten zur „extremen Entlastung" 4 3 unserer Sinne erprobt. Sie hat die einzelnen Sinnesmodalitäten gegeneinander auszuspielen versucht und den jeweiligen Kult des Reinen über die Dekomposition der Gestalten und Elemente bis ins schlichtweg Sinnlose vorangetrieben. Sie hat auch intermodale Rekombinationen unternommen, die die Entkopplung von Sensorik und Motorik bis in den „ästhetischen Selbstmord" 4 4 trieben. Der C o m m o n Sense mag unzufrieden sein, da ihm der jeweilige kunsthistorische Horizont, vor dem dieses oder jenes Experiment Sinn gemacht haben könnte, nicht präsent ist. Aber auch die Entdeckung des Nichts, der Stille, der Leere, des Sinnlosen mag Besinnung bringen. Das Bewußtsein war und ist nicht unser Wesen. Das Bewußtsein läßt sich analysieren, dekomponieren, rekombinieren, aber immer von woanders her und woanders hin als ihm selbst. Es ist nur eine sich selbst unmittelbare Vermittlung zwischen Sensorik und Motorik, deren realistisches Eingespieltsein irritiert und zerstört werden kann, bis es nichts mehr zu sehen, zu hören, zu riechen, zu schmecken, zu berühren gibt. Es war historisch in der frühen Moderne ein ästhetisches Bewußtsein, das sich anschickte, die Kunstsinne in ihrer doppelten Befreiung (vom Sakralen und Alltäglichen) instruieren zu können. Und es wurde unter den Händen der Avantgarde zum Nichts des künstlich Konstruierbaren, dessen Effekte man technologisch herstellen kann wie andere positive Fakten auch. Es ist aus sich selbst nichts und weiß sich nicht selber zu beurteilen. Hinter seinem dekompositorischen Abbau kommen in unserem Falle im Unterschied zu unseren Haussäugern (1.7.) nicht einmal mehr Verhaltensbahnen in Sicht, in die es lebenssichernd „eingeboren" wäre. Bewußtsein macht sprachpraktisch und damit intermodal nur Sinn, wenn es Sensorik und Motorik zu einer Verhaltensaktivität erlernbar koppelt, insbesondere Opticosensorik und Akustomotorik verbindet. Je mehr man Effekte des Bewußtseins abkoppelt von Sensorik und Motorik, desto nichtiger werden sie. Dies scheint nur das Ende des Menschen zu sein, wenn man sein Wesen ins Bewußtsein, in also einen tierischen Maßstab, gelegt hat. „Zur Einheit der Sinne kommt der Mensch niemals in
42 Ebd. 43 Ebd., S. 342. 44 Ebd., S. 350.
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bloßer Passivität. Den Qualitäten selber ist sie nicht inhärent, nicht instrumental und nicht intermodal oder synästhetisch. Erst unserer Aktivität erschließt sie sich, ,.." 4 5 Was von dem historischen Beurteilungsmaßstab des Bewußtseins bleiben könnte, von diesem Diskurskonstrukt der Subjektivität aus dem 18. Jh., wäre die Frage nach der Individualisierung des Leiblichen inmitten der schier unendlich scheinenden Möglichkeiten zur Verkörperung. Aber dieser kategorische Konjunktiv ist sprachlich intellektueller Natur (vgl. 1.10.), die die Brücke zwischen Schauspiel und Metaphorik baut. Die Sprache der Exzentrierungen und Rezentrierungen des Verhaltenszentrums von uns als Lebewesen in einer positionalen Lage, diese Sprache der Philosophischen Anthropologie, erzeugt einen Abstand von der Fokussierung im ästhetischen Bewußtsein und später in der künstlichen Produktion des Bewußtseins. Häufig stammen die vom Romantizismus gegen den Dualismus vertretenen Einheitspostulate noch aus der gleichen, in der Moderne popularphilosophisch gewordenen Konstellation, aus der sich auch der Dualismus speist. Ich meine damit die Philosophie der Selbstvergewisserung des Bewußtseins. Diese Selbstvergewisserung scheint im 18. Jh. neu so begriffen worden zu sein, als ob sich das Bewußtsein durch Rückbeugung auf sich seiner selbst bewußt, eben zum reflexiv erzeugten Selbstbewußtsein, würde. Indessen gab es aber nicht nur diese rationale Variante der Bewußtseinsphilosophie, deren Reflexionsverfahren seit Descartes und Kant häufig um einen dualistischen Preis die Identität des Ichs konstruierte. Man darf nicht übersehen, daß auch die romantizistische Gegenlinie, die die Einheit qua Gefühl, Glauben, Intuition oder Empfindung vertrat, oft noch Bewußtseinsphilosophie war, also im Phänomen des Bewußtseins unsere Spezifik als Menschen sah. Wie die irrationale Lebensphilosophie noch unseres Jahrhunderts und ihre populären Ablagerungen bis heute zeigen, können die Selbstbezüge des Bewußtseins als unterbewußt organische oder unbewußt substantielle gedacht werden, ohne Bewußtsein als den zentralen Ausgangspunkt und ohne die darauf bezogene Selbstbildung als das zentrale Problem aufzugeben. Die Mitteilung, wie wichtig das Unbewußte und Unterbewußte seien, ist aufregend, provokativ, subversiv, solange man an die Wichtigkeit des Bewußtseins und seiner reflexiven Selbstbeherrschung glaubt. Wir werden also auch mit falschen Alternativen der Einheit oder des Monismus wider den Dualismus aufräumen und einen wirklichen Neuanfang wagen müssen, was anthropologisch bedeutet, die ganze bewußtseinsphilosophische Ausgangs- und Bezugslage in Frage stellen zu müssen. Gelingt es nicht, diese enorme, traditionell moderne Fokussierung von allem im Bewußtsein durch eine Resituierung des Bewußtseins im spezifisch menschlichen Verhalten zu überwinden, wird der Nihilismus die bleibende Konsequenz sein, sowohl aus dem Scheitern der rationalen als
45 Ebd., S. 391.
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ist nichts
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auch aus dem Scheitern der irrationalen Versuche heraus, unser Selbst ins Bewußtsein zu zwängen. Indessen mag der Leser hier erst einmal in guter Stimmung scheiden. Zur Verdeutlichung der behandelten Körper-Leib-Differenz, wie sie von den Künsten im Hinblick auf die Individualisierung des Leiblichen geleistet werden kann, ist wohl der Surrealismus im allgemeinen und Salvador Dalis Bild „Der Schlaf" (1937) im besonderen geeignet. Bei dem körperlosen Gesichtsausdruck könnte es sich um den in Todesnähe geratenen Bewußtseinsausdruck des Cartesischen Dualismus handeln, dem man besser die nötigen Holzstützen anzeigt. Im Schlaf fällt die Dauerspannung des Tonus, unter der wir tagsüber unsere Muskeln halten, fort. Befreit von dieser Verkörperung kommt das Leibliche zum Vorschein, als könnte es nie individueller als eben jetzt sein: Entbunden von seinem Geschirr an Sensorik und Motorik kann sich das Bewußtsein endlich sich selbst überlassen im Traum, dem wortwörtlich wahren Selbstbewußtsein. Aus der Begründungsphase des Impressionismus erinnere ich an das einschlägige Ölgemälde von Claude Monet, das dieser Bewegung - dank des Journalisten Edmond Renoir, eines Bruders des Malers - den Namen gab: Impression, soleil levant (1873). Obgleich die Sonne erst aufgeht, durchflutet sie bereits - charakteristisch der Spiegeleffekt im Wasser - den Raum und verwandelt die gegenständlichen Konturen in flüchtige Medien eines Naturschauspieles (vgl. zu Medien und performativen Kontexten 5.3.). Bei aller Perspektivenabhängigkeit bietet sich das Spektakel dem Zuschauer des Bildes nicht gänzlich anders, da nicht weniger performativ als dem Zuschauer im Bilde dar, von dem vergleichsweise kleinen, weder am Rande noch in der Mitte plazierten Boot aus. Ernst Barlachs Bronzeskulptur Der singende Mann (um 1930) zeigt den sensomotorischen Reflexionskreis der Stimme in einer dafür typischen Körperleibbewegung. Die im Vordergrund stehende Leibesexpression von innen nach außen entbehrt nicht der körperlichen Rückbeugung auf sich. Bertolt Brecht nannte es einmal Barlachs Humor, daß dieser in sich hinein horchende Mann ein wenig eitel sei. Wenn Existenz, wie Plessner im Vorwort zur zweiten Auflage seines Buches „Die Stufen des Organischen und der Mensch" bemerkte, die Möglichkeit zum Ausdruck bringe, sich ernst zu nehmen, läßt wohl spätestens die Stimmung der Stimme selbst den Existentialisten noch zum Schauspieler werden.
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Lektionen zur Sinnesfrage aus den modernen Künsten
Ernst Barlach: D e r singende Mann
3. Die Freilegung von Etwas vor dem Nichts: naturphilosophische Lektionen zur Sinnesfrage aus den Erfahrungswissenschaften
3.1. Zwischenstand Während sich die Kunstentwicklung des vergangenen Jahrhunderts oft kritisch gegen den Common Sense gleichsam ins Nichts verlaufen hat, möchte man für den Gemeinsinn hoffen, es könnte ihm mit den positiven Erfahrungswissenschaften besser ergehen. Selbst wenn man einräumt, wie im vorigen Kapitel gezeigt, daß die Kunstentwicklung im Ganzen nicht beliebig, sondern in einem Rahmen, und auch nicht irrational oder subjektiv, sondern intellektuell erfolgen kann, darf man wohl von den Erfahrungswissenschaften doch methodisch kontrollierbare und objektiv erklärbare Fakten erwarten, eben etwas positiv Bestimmtes, das die sich leiblich individualisierende Emanzipationslust einer Generation zu überdauern vermag. Gewiß, auch Wissenschaft ist Menschenwerk, aber kann nicht in ihren Grenzen ein Rahmen entworfen werden, der, ähnlich dem in der Kunstentwicklung aufgedeckten Framework, einen anthropologischen Spielraum gewährt? Wir mögen ja, so könnte man im Gemeinsinn präzisierend hinzufügen, kultur-, sozial- und individualgeschichtlich veränderbar sein, aber doch in den Grenzen der naturgeschichtlichen Mitgift unserer Art von Lebewesen. Schließlich waren wir auf dieses Thema unserer Selbstunterscheidung von anderen Lebewesen bereits im ersten Anlauf gekommen (vgl. ab 1.5.). Dort hatte sich die Frage nach der Rolle des Bewußtseins im menschlichen Verhalten, verglichen mit dem der Tiere, als strittig herausgestellt, wozu sich also eine Konsultation mit dem Sachverstand der Wissenschaften lohnen sollte. Versteht man - die Eingeborenheit des Verhaltens vorausgesetzt - unter Bewußtsein die individuell erlernbare Zuordnung zwischen Sensorik und Motorik, dann müssen wir unseren Haussäugern Bewußtsein zusprechen. Sie haben dafür physiologisch gesehen das Korrelat eines Gehirnes und zeigen in ihrem Spielverhalten das ethologische Korrelat für Bewußtsein. Trotz dieser Gemeinsamkeit an beneidenswerter Spontaneität scheint uns davon ein Bruch zu trennen. Während bei Haussäugern deren Bewußtsein eher auf eine unmittelbare Weise die Verhaltenseinheit von Körper und Leib herstellt, so tritt in unserem Zugang zum eigenen Körper zwar kein Dualismus, wohl aber eine Differenz zwischen Körper und Leib auf. Diese Differenz führt in problematischen
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Fällen auf die für Menschen so charakteristischen soziokulturellen Umwege der reflexiven Vermittlung, Körperlichkeit und Leiblichkeit wieder ins Lot zu bringen. Die sprachliche Kommunikation zwischen individueller und soziokultureller Urteilskraft hatten wir (1.10.) im Sinne von Plessners Hypothese als den Kategorischen Konjunktiv der menschlichen Lebensführung rekonstruiert. Die leibliche Not des unvertretbaren Ichs ist durch Verkörperung zu wenden, aber deren gibt es im Ich der soziokulturellen Vertretbarkeiten viele. Daher gilt es, im sprachlichen Kommunikationsprozeß die Frage der leiblich angemessensten Verkörperung zu lösen. Wenn es der Common Sense schon immer mit der lebbaren Auflösung dieser Antinomie zwischen dem leiblich unvertretbaren Ich und dem körperlich vertretbaren Ich zu tun hat, dann sind seine Erwartungen an die Wissenschaften und Künste, Ratschläge für seine Lebensführung zu erhalten, als verschieden gerichtet zu rekonstruieren (vgl. 2.2.). Während es die Künste auf die indirekte, öffentlich erspielte Individualisierung des Leiblichen durch die Verkörperungspotentiale hindurch abgesehen haben dürften, interessieren sich die Erfahrungswissenschaften in umgekehrter Untersuchungsrichtung für die methodisch kontrollierte Ablösbarkeit der Verkörperungsarten, so daß sie im soziokulturellen Bedarfsfalle nach Standardsituationen technologisch abgerufen werden können. Trotz dieses Gegensinnes in der Fokussierungsrichtung der Körper-Leib-Differenz bleiben doch beide, Wissenschaften und Künste, an den Kategorischen Konjunktiv gebunden. Beide teilen darüber hinaus in der Neuzeit die drei (in 2.3.) erinnerten Aspekte der Modernisierung: außeralltägliche Befreiung vom Dienst am Sakralen zu dem am profanen Leben, Autonomie des eigenen Handlungsbereichs nach lebensweltlich abstrakten Funktionswerten, die zur analytischen Rekonstruktion lebensweltlicher Phänomene führen, und schließlich Versuche der Rekombination und Reintegration des Ausdifferenzierten in andere Expertenkulturen und in die Lebensformen hinein. Diese Verwandtschaft zwischen modern emanzipierten Wissenschaften und Künsten trat insbesondere darin hervor, daß die erfahrungswissenschaftliche Exzentrierung des eigenen Standortes (kopernikanische Revolutionsart) über die Parallele an Impressionismen und Kubismen in das kunstimmanente Framework eingeht. Diese Verfremdung provoziert im weiten Sinne symbolistische oder expressionistische Versuche, eine Rezentrierung auf die Individualisierung des Leiblichen zuwege zu bringen, wodurch generationenübergreifend Ausgleichsbewegungen zwischen der Exzentrierung und der Rezentrierung des eigenen Standortes zustande kommen. Wir gingen (in 2.13.) mit Plessner so weit, die ästhetische Spezifik der Künste als ihre Intellektualisierung zu begreifen. Die philosophisch-anthropologische Auswertung dieser Intellektualisierung hat nicht nur Nichts, sondern auch ein Minimum an Unterscheidbarkeit und Zusammenhang zwischen den körperleiblichen Sinnen des Menschen erbracht, zwischen Sehen und Tasten im räumlichen Feld der Auge-Hand-Kooperation, zwischen Hören und Sprechen im zeitlichen Rücklauf des Stimmungskreises, zwischen der Visualisierung
Ich-Bewuptsein, Aufmerksamkeit
und Wachheit
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und Musikalisierung der Sinne dank ihres Zusammenhanges in der Sprache und Schrift. Demgegenüber hat die Konzentration der Künste auf die Produktion von Bewußtsein, eines sensorisch und motorisch durch Verhaltenspassivität entkoppelten Bewußtseins, in die Gefahr der Manipulation und letztlich ins Leere geführt. Dieser negative Ausgang bestimmter Kunstexperimente hat die Rolle des Bewußtseins für menschliches Verhalten stark relativiert, gemessen an der traditionell modernen Zentrierung der Spezifik des Menschen auf das Bewußtsein.
3.2. Ich-Bewußtsein, Aufmerksamkeit und Wachheit Nach dieser Zusammenfassung der früheren Kapitel tun wir also gut daran, die Erfahrungswissenschaften zum Bewußtseinsproblem zu konsultieren. Es ist in der heutigen neurobiologischen und neurophilosophischen Diskussion üblich geworden, den je persönlichen Zugang zum eigenen Bewußtsein die Perspektive der ersten Person (Ich) zu nennen, im Unterschied zur Perspektive der dritten Person, aus der eine Wissenschaftlergemeinschaft von außen durch Beschreibung, Beobachtung und Experiment einen Zugang zum Bewußtsein gewinnt. Wenn man sich fragt, wie aus der Ich-Perspektive Phänomene des Bewußten erlebt werden, sind vor allem drei Merkmale wieder in der Diskussion: Die Phänomene, die man als bewußte erlebt, kommen einem wie „direkt" oder „unmittelbar" gegeben vor, insofern auch als „transparent" oder „durchsichtig".1 Man erlebt etwa bestimmte Dinge in ihren Farben, Ecken und Kanten oder andere Personen in ihrer Physiognomie und ihrem Ausdruck. Es gehört aber zweitens zur Eigenart phänomenalen Erlebens, daß mir das, was mir da gegeben ist, nicht getrennt von mir selber vorkommt, sondern in bezug auf mich als den Mittelpunkt, den Fokus des Bewußtseins. Ich erlebe mich selbst gleich mit dem etwas mit, das ich erlebe. Insofern kommt es in dem Erleben selber nicht zu einer Spaltung zwischen dem Objekt, das ich erlebe, und dem Subjekt, mir selbst, der ich es erlebe. Ich erlebe etwas in einer Zentrierung oder Krümmung auf mich hin, der ich hinter der Szene zu stehen scheine, auf die ich gleichsam meine Scheinwerfer richte. Dieser perspektivische Eindruck kommt schon in dem Erleben selbst vor. Aber er wird erst in dem sprachlich kommunizierten Kontrast zu anderen Perspektiven, die anders erleben oder mit denen man Beobachtungsstandards teilt, eben die Perspektive der ersten Person genannt. In dieser Ich-Perspektive wird eine „räumlich-visuelle mit einer grammatischen Metapher" 2 kombiniert.
1 Thomas Metzinger, Einleitung: Das Problem des Bewußtseins, in: ders. (Hg.), Bewußtsein. Beiträge aus der Gegenwartsphilosophie, Paderborn 1995, S. 25. 2 Ebd., S. 29.
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Die Freilegung
von Etwas vor dem Nichts
Schließlich hat dieses Erleben einen eigenartigen Zeitcharakter. Wir erleben immer gerade hier und jetzt. Man erlebt ein Präsens, eine momentane Gegenwärtigkeit, die nicht mit dem Maß der äußeren Uhren zusammenfällt. Wir alle haben diese Divergenz der Erlebenszeit gegenüber dem Zeitmaß von standardisierten Instrumenten schon erfahren, mit oder ohne Schock nach einem Autounfall. Oder: Wenige Minuten können, kurz vor dem ersten Start über den Atlantik, als unendlich langwierig erlebt werden, während die sich anschließenden Stunden einer interessanten und intensiven Tätigkeit auch wortwörtlich wie im Fluge vergehen. Auch der Neurobiologe und Neurophilosoph Gerhard Roth nennt das perspektivisch „individuelle Bewußtsein", das wie ein „ständig vorhandener Hintergrund" oder wie ein „Begleitzustand von Wahrnehmen, Erkennen, Vorstellen, Erinnern und Handeln empfunden" wird, das „Ich-Bewußtsein" der eigenen Person und Identität, das willentlich Handlungen zu kontrollieren vermag. Man weiß von bestimmten Schizophrenien, Hirnschäden oder neurologischen Erkrankungen, daß dieses IchBewußtsein beeinträchtigt, geschädigt sein oder ausfallen kann. Es ist von dem „Aufmerksamkeits-Bewußtsein" zu unterscheiden, das sich auf bestimmte innere oder äußere Geschehnisse richtet, wie ζ. B. im Wahrnehmen, Denken, Erinnern, Fühlen. Diese Aufmerkung entspricht in der obigen Unterscheidung wohl dem ersten (räumlichen) und dritten (zeitlichen) Aspekt, etwas unmittelbar zu erleben, auf das sich das Bewußtsein richtet, in das es sich vertiefen und im Extremfall verlieren kann. Schließlich unterstellen das Ich- und Aufmerksamkeits-Bewußtsein „noch den Zustand der Wachheit oder Bewußtheit", der hellwach oder normal wach im Unterschied zum Träumen, Dösen, Dahindämmern oder zur Bewußtlosigkeit ist. 3
3.3. Der Doppelaspekt bewußten Erlebens: seine gegenstandsund seine latent selbstorientierte Aktivitätsricntung Diese Unterscheidungen bewußten Erlebens variieren den früher von der Philosophischen Anthropologie entwickelten Rahmen. Das Ich konstituiert sich als „dargelebte Einheit von erster und dritter Person" 4 im kategorischen Konjunktiv. Mißversteht man den Kategorischen Konjunktiv nicht nur als soziokulturell vermittelte Sprachform, sondern nimmt man ihn auch als spontane Lebensform ernst, begegnet er zunächst in der „Situation des Bewußtseins" 5 . Situativ heißt, was unmittelbar oder
3 Gerhard Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiolgie und ihre philosophischen Konsequenzen, Frankfurt/M. 1996, S. 213. 4 Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie (1928), Berlin 1975, S.48. 5 Ebd., S. 244.
Der Doppelaspekt bewußten Erlebens
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direkt, hier und heute eintritt, nun also für das Bewußtsein eintritt. Bewußtsein ist zwar dem Erleben nach in sich eine holistische, je gegenwärtige Szene. Aber in dieser Szene unterscheidet sich das, welches der Aufmerkung nach in „Gegenstandsstellung" kommt, von dem, das sich latent als Ich, in „Selbststellung"6, bereit hält, gegebenenfalls in der Szene Stellung zu nehmen. Das bewußte Erleben von Phänomenen scheint sich spontan in diesem „Doppelaspekt"7 einzuspielen: Eine Szenerie gewinnt Konturen am Ich-Bewußtsein, das aber latent bleibt. Das gleichsam mitlaufende Maß des Ichs hält sich zwar im Hintergrund, ist dem Erleben nur implizit eigen, tritt meistens nicht selber gegenständlich in den Vordergrund, kommt jedoch zur Sprache und wird dadurch explizit. Aber dank dieser Latenz des Ich-Bewußtseins scheinen die Relevanzen für das, was auf der Bühne vor sich geht, zu entstehen. Das Bewußtsein gewinnt wohl aus diesem Doppelaspekt seine Unterscheidungsmöglichkeiten. Was im Vordergrund mit gegenständlichen Konturen hervortritt, hängt offenbar von dem ab, das implizit den Hintergrund an Bewertungsmöglichkeiten bildet. Dieser Zusammenhang beider Aspekte ergibt sich aber auch umgekehrt. Je nachdem, was unter dem gegenstandsorientierten Aspekt auftritt, ändert sich auch die Stimmungslage des Ich-Bewußtseins. Es gruppiert seine Potentiale um, die jeweils passenden Reaktionsmöglichkeiten zu finden und latent zu halten, obgleich es selber im ganzen opak wie im Schatten der Dinge bleibt. Nennen wir das bewußte Erleben eingespielt auf den Doppelaspekt einer gegenstandsorientierten und einer latent selbstorientierten Aktivitätsrichtung. Aus dieser Spannung kommt sein bewegter, spontaner, lebendiger Charakter her. Gewiß, zeitweilig können wir uns so sehr in Phänomene verlieren, daß wir sozusagen ichlos geworden auch blind und taub für anderes sind. Und zeitweilig mag uns auch eine Meditation allein mit unserem Ich-Bewußtsein bekommen, die schnell zum Selbstgespräch wird. Aber wir hätten doch desto größere Bedenken, je öfter, länger und vollständiger beide Aktivitätsrichtungen auseinanderfielen. Wie selbstverständlich dieses Zusammenspiel beider Aspekte ist, erhellt sich anhand der Kontrastfälle, in denen es behindert, gestört oder verunmöglicht wird. Die moderne Kunstgeschichte (vgl. 1.2.) ist reich an Beispielen dafür, dieses alltägliche Zusammenspiel mindestens außeralltäglich in Frage zu stellen. Die moderne Krankengeschichte, vor allem die Geschichte der Neuroerkrankungen, zeigt, wie ernsthaft und schwer die Kontrastfälle werden können. Im Common Sense selbst ist man vor derartigen Überraschungen nicht sicher. Man ist verunsichert, wird ängstlich oder gerät in Panik, versagen einem plötzlich die Sinne, als sei man erblindet oder in einem völlig abgedunkelten Raum, als würden wie bei lokaler Betäubung die Tastsinne taub, als hörte man nichts mehr oder nur noch
6 Ebd., S. 47 f. 7 Ebd., S. 81, 89, 99.
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den Dauerton eines Gehörsturzes, als wäre man im freien Fall aus höchster Höhe, als könnte man seine Glieder nicht mehr bewegen usf. All diese Ausfälle behindern nicht nur die Konturierung des gegenstandsorientierten Aspektes, sondern auch der latenten Selbstpräsenz dank Eigensensorik und -motorik. Viele Menschen versuchen, durch Abenteuer und besonderes Training außergewöhnliche Einspielungen zwischen beiden Bewußtseinsaspekten zu erlernen, nicht zuletzt aber auch durch Leidenschaften und Drogen, worauf wir in späteren Kapiteln zurückkommen. So imposant derartige Grenzverschiebungen sein mögen, sie bleiben an Grenzen gebunden, sollen sie nicht zu Krankheiten führen. Der im Gemeinsinn prominenteste Fall einer Abweichung vom alltäglichen Eingespieltsein der Bewußtseinsaspekte ist gewiß das Träumen, das selbst alltäglich werden kann, mag es uns erfreuen oder arg zu schaffen machen. Im Träumen scheint das Bewußtsein mit sich beschäftigt, ohne daß es von außen gereizt würde, und ohne daß es darauf motorisch antworten müßte. Werden die motorischen Reaktionen auf die Vorstellungen im Traum zu stark, schrecken wir aus ihm auf und werden wach. Das von seiner Sensorik und Motorik weitgehend entkoppelte Bewußtsein kehrt so aus seinem selbstreferentiellen Erholungsspiel in seinen Verhaltenskreislauf zurück. Diese Aufhebung der Verselbständigung des Bewußtseins macht den Unterschied des Wachseins vom Träumen in erster Linie aus.
3.4. Die neuro- und die verhaltensphilosophische Fragerichtung Versuchen wir nun, wie erst begonnen, das bewußte Erleben und seine Probleme, gar pathologisch wirkende Ausfälle im Common Sense zur Sprache zu bringen, entstehen im Hinblick auf die Erfahrungswissenschaften zwei Fragerichtungen. Aus der Perspektive der dritten Person, die sich von den Eigentümlichkeiten der Perspektive der jeweiligen ersten Person freimachen möchte, ohne in die Nähe oder auch (enttäuschende) Ferne einer Du-Perspektive des Ichs zu geraten, interessieren die methodisch eher neutralisierenden Beobachtungs-, Beschreibungs- und Erklärungsmöglichkeiten für Bewußtseinsphänomene. Die erste Richtung fragt danach, wie unser Bewußtsein mit unserer Physis, vor allem mit unserem Gehirn, zusammenhängt. Mit dieser Frage sind die Neurowissenschaften beschäftigt. Noch abgesehen von den Schwierigkeiten, den dafür nötigen Zugang zu gewinnen, mag jeder aus eigener Erfahrung wissen, daß Menschen dort keine Probleme, geschweige krankhafte Veränderungen haben müssen, um auch der zweiten Fragerichtung einen Sinn abgewinnen zu können: Welche Rolle spielt das Bewußtsein im gesamten menschlichen, auf Umwelt und Welt bezogenem Verhalten? Hier setzen die vergleichenden Verhaltenswissenschaften an. Die erste Fragerichtung erscheint wie eine analytische Strategie der Rückführung komplexer Erlebens- oder Verhaltensphänomene auf physiologische Mechanismen,
Die Situierung des Bewußtseins
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von denen her die komplexeren Ebenen erklärt werden sollen. Aber selbst innerhalb dieser „reduktionistischen" Tradition wird immer seltener an derart „reine bottomup-Strategien" geglaubt.8 Auch der umgekehrte zweite Weg macht Sinn, weil gerade bei Menschen viele Elemente oder Momente erst aus ihrer funktional übergreifenden Einbettung heraus begriffen, modifiziert und gegebenenfalls auch ausgetauscht und ersetzt werden können. Das eigentliche Problem besteht demnach inzwischen in der Frage nach dem Zusammenhang beider Fragerichtungen. Bezogen darauf schreibt Thomas Metzinger repräsentativ für die ganze Forschungslage: „Was ist es eigentlich, das wir wissen wollen?" Es sei „im gegenwärtigen Stadium der interdisziplinären Bewußtseinsforschung das Explanandum alles andere als klar". 9 Die Philosophische Anthropologie Plessners ist aktuell, weil sie einen unübertroffenen Vorschlag zu diesem Problem, was als das Erklärungsbedürftige (explanandum) und was als das Erklärende (exlanans) gelten kann, unterbreitet hat. Sie führt die neuro- und die verhaltensphilosophische Fragerichtung zusammen, um das erklärungsbedürftige Erlebnis von Bewußtsein erklärbar werden zu lassen. Schauen wir uns zunächst ihren theoretischen Vorschlag an, und kehren wir dann zur gegenwärtigen interdisziplinären Forschungslage zurück.
3.5. Die Situierung des Bewußtseins: zentrische Organisationsform und zentrische oder exzentrische Positionalitätsform Die Philosophische Anthropologie hat früh beide Fragerichtungen gegen Einwände anderer Philosophien verteidigt und in einem strukturell-funktionalen Sinne verfolgt, weshalb Plessner vom „Funktionswert" und von der „Strukturgesetzlichkeit des Bewußtseins" spricht 10 . Wenn sich unser Bewußtsein phänomenologisch als ein spannungsreiches Zusammenspiel zwischen dem gegenstandsorientierten (oder Aufmerkungs-Aspekt) und dem latent selbstorientierten Aspekt (des Ich-Bewußtseins) beschreiben läßt, dann sollte man die Verselbständigung dieser Aspekte in einem Selbstbewußtsein, das das Gegenstandsbewußtsein ermöglicht, zur Begründung der Theorie vermeiden. Erstens: „Bewußtsein braucht nicht Selbstbewußtsein zu sein."11 Der Selbstbezug eines Organismus, seine Stellung zu sich, kann anders als in der Form eines reflexiv erzeugten Selbstbewußtseins ausgeprägt werden. Zweitens: Bewußtsein ist Prädikat oder Eigenschaft des Verhaltens. „Das Bewußtsein kann
8 Vgl. Patricia Smith Churchland, Die Neurobiologie des Bewußtseins. Was können wir von ihr lernen?, in: Th. Metzinger (Hg.), Bewußtsein, a. a. O., S. 464 ff. 9 Th. Metzinger, Einleitung, a. a. O., S. 20. 10 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a.a.O., S. 78, 67. 11 Ebd., S. 67.
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getrübt, eingeengt, ausgeschaltet sein, seine Inhalte wechseln, seine Struktur hängt ab von der Organisation des Leibes, aber seine Aktualisierung ist immer da gewährleistet, wo die einheitliche Beziehung zwischen Lebenssubjekt und Umwelt in doppelter Richtung, rezeptiv und motorisch, durch den Leib besteht. Bewußtsein ist nur diese Grundform und Grundbedingung des Verhaltens eines Lebewesens in Selbststellung zur Umgebung." 1 2 Wenn an die Stelle der sich mehr oder minder bewußt und selbstbewußt verhaltenden Menschen die aparte Person des Selbstbewußtseins tritt, wie im Deutschen Idealismus, dann läuft man Gefahr, geschichtlich außergewöhnliche Besonderheiten des Verhaltens als Normalfall zur Begründung (explanans) zu erheben, obwohl es sich wohl eher um erklärungsbedürftige (explanandum) Epiphänomene handelt. Die philosophisch-anthropologische Kritik an einer methodischen Vorentscheidung, die die Minimaldifferenz unserer Bewußtseinsphänomene (zwischen Gegenstands- und latenter Selbstorientierung) einseitig auflöst, richtet sich aber nicht nur gegen die idealistische, sondern auch gegen die materialistische Reduktion menschlichen Verhaltens. Man verbindet oft mit dem Behaviorismus die falsche Annahme, der selbstorientierte Bewußtseinsaspekt menschlichen Verhaltens sei nur subjektives Beiwerk, von dem man absehen könne. Die „Bewußtseinsimmanenz" ist aber ein ernstzunehmender Modus unseres positionalen Verhaltens, der darin besteht, Verhaltensmöglichkeiten so zu aktualisieren, daß sie verwirklicht werden können. 1 3 Die Bewußtseinsimmanenz ermöglicht das, was man gemeinhin Realismus nennt. „In Wirklichkeit ist die Sache gerade umgekehrt: nicht ist das Bewußtsein in uns, sondern wir sind ,im' Bewußtsein, d. h. wir verhalten uns als eigenbewegliche Leiber zur Umgebung." 1 4 Positiv orientiert die Philosophische Anthropologie gerade auf eine methodische Verfahrensweise, die Neutralität gegen die dualistischen Vorentscheidungen (zugunsten entweder der Physis oder der Psyche als alleinigem Erklärungsprinzip) herstellt. Diese psycho-physische Neutralität will gerade auf den Zusammenhang der neuround der verhaltensphilosophischen Frage hinaus. Dieser Zusammenhang wird durch den Unterschied zwischen der Organisationsform und der Positionalitätsform von uns Lebewesen thematisiert. Strukturell kann das Bewußtsein nur in die Organisationsform des Organismus gehören, dessen Bewußtsein es ist. Funktional muß es sich in dem Verhalten des Lebewesens bewähren können, das gegenüber und in der (Um)Welt Position bezieht. Wir hatten oben gesehen, daß die phänomenologische Bewußtseinsanalyse zu dem Zusammenspiel des gegenstands- und des latent selbstorientierten Aspektes führt.
12 Ebd. 13 Ebd., S. 328. 14 Ebd., S. 67.
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Dieses Zusammenspiel verweist schon auf die Interaktion zwischen (Um)welt und menschlichem Lebewesen. Wir hatten ebenfalls oben den zentrischen Perspektivcharakter im bewußten Erleben beschrieben. Er könnte der phänomenologische Indikator für die zentrische Organisationsform sein, zu der Bewußtsein organismisch gehört. Plessners Hypothese besteht in der Tat darin, daß die Selbstorganisation und Selbstreproduktion, die den Lebensprozeß ohnehin auszeichnen, nur unter bestimmten Struktur- und Funktionsbedingungen den Umschlag vom „Sein ins Bewußtsein"15 brauchen. Bewußtsein sei an die zentrisch geschlossene Organisationsform von Lebewesen gebunden, die im Unterschied zu der dezentral offenen Oçganisationsform von Pflanzen den Tieren und insofern auch uns Menschen zukomme. Die zentrische Schließung der Organisation nach innen korrespondiert auch im äußeren Verhalten des Lebewesens mit einem zentrischen Charakter. Das sich zentrisch positionierende Lebewesen behauptet seine eigene raumzeitliche Stellung gegenüber dem Positionsfeld, als wäre es die Mitte dieses Feldes. Diese Selbstbehauptung nennt Plessner die zentrische Positionalitätsform. Unter bestimmten, den Menschen spezifizierenden Bedingungen könne aber die zentrische Rückbezüglichkeit so gesteigert werden, daß sie selber auch exzentrisch zu funktionieren vermag. Die zentrische Lage zwischen dem eigenen Körper und Leib könne dann unterschieden und gegebenenfalls korrigiert werden von der dazu exzentrischen Lage, sich aus der funktionalen Mitte einer Welt von Verhaltensmöglichkeiten heraus zu positionieren. Wenn sich das eigene körperleibliche Funktionszentrum als peripher gegenüber den in einer Welt möglichen Funktionszentren erfahren kann, durchbricht es nicht den zentrischen Charakter seiner Organisation und Positionierung. Aber es läßt sein Potential, das eigene Verhalten zentrieren zu können, nun auch gegensinnig vom Positionsfeld her zum eigenen Körperleib laufen. Dadurch gerät es in das Problem, die, gemessen an der eigenen körperleiblichen Mitte, Exzentrierungen und Rezentrierungen seines Verhaltens ausgleichen zu müssen. Dieser Bruch, Hiatus, konstituiert die dem Menschen eigene exzentrische Positionalitätsform.
3.6. D e r zentrische Charakter der Organisationsform und der Positionalitätsform von Lebewesen, die sich bewußt verhalten können Die Frage nach der Organisation von Lebewesen entsteht, wenn das Lebewesen nicht mehr nur aus „intrazellulären Differenzen" besteht, sondern wenn interzelluläre Ver-
15 Ebd., S. 243.
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bände Organe bilden und damit die „einheitbildende Funktion der Organe" 1 6 für den gesamten Organismus zur Debatte steht. „Organisation ist die Daseinsweise des lebendigen Körpers, der sich differenzieren muß und in und mit der Differenzierung jene innere Teleologie ¿erawsbringt, nach der er zugleich geformt und funktionierend erscheint." 17 Man kann sich nun einerseits vorstellen, daß das Einheitsproblem des Organismus eher dezentral von den einzelnen Organen her gelöst wird, die ihre Funktionsteilung quasi nicht auf die Spitze treiben, da noch der Gesamtzusammenhang des Organismus reproduziert wird. Dies ergibt im Hinblick auf die Umwelt eher eine Anlehnung an die Umgebung als eine selbständige Ausgliederung und Gegenüberstellung zu ihr. Insofern scheint die intern dezentrale Organisationsform zu einer gegenüber der Umwelt offenen Organisationsform zu passen, die den Organismus „unmittelbar seiner Umgebung eingliedert und ihn zum unselbständigen Abschnitt des ihm entsprechenden Lebenskreises macht." 18 Man kann sich diese nach innen dezentrale Organisationsform, die sich dadurch gegenüber der Umwelt vielfältig öffnet, zugleich aber auch von der Umwelt abhängig wird, anhand pflanzlicher Lebewesen vorstellen. Das Einheitsproblem kann aber auch eher zentralistisch, durch ein Zentrales Nervensystem (ZNS), gelöst werden, das die funktional ausdifferenzierten Organe aktual aufeinander abstimmt. Zu dieser nach innen zentrischen Organisationsform paßt gegenüber der Umwelt eine Schließung der Einheitsfunktion, natürlich nicht im Sinne des Stoff- und Energieaustausches mit der Umwelt, sondern nur im Sinne der strukturellen Autonomie des Organismus. „Geschlossen ist diejenige Form, welche den Organismus in allen seinen Lebensäußerungen mittelbar seiner Umgebung eingliedert und ihn zum selbständigen Abschnitt des ihm entsprechenden Lebenskreises macht." 19 Man kann sich diesen Zusammenhang zwischen der nach innen zentrischen Organisationsform und der nach außen selbständigen Verhaltensart gegenüber dem Positionsfeld an tierischen Lebewesen vorstellen. Der zentralnervöse Apparat unterbricht die (zuvor reflexartig oder instinktiv angeborenene) Zuordnung zwischen Sensorik und Motorik zugunsten erlernbarer, den Gesamtkörper aktualisierender Zuordnungen. „Merken ist gehemmter, Wirken enthemmter Erregung äquivalent. Zwischen beiden spannt sich die Sphäre des Bewußtseins, durch welche hindurch der Ubergang vom Merken in's Wirken stattfindet. So ist sie die raumhaft innere Grenze, ist sie die zeithafte Pause zwischen dem von außen Kommenden und dem nach innen Gehenden, der Hiatus, die Leere" oder die „Unterbrechung, die den spontanen Zugriff des Organismus verlangt." 20 Um die 16 17 18 19 20
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. 165 f. S. 170. S. 219. S. 226. S. 245.
Der zentrische Charakter der Organisationsform
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Gefahr, in der spontanen Zuordnung einen Fehlschlag zu erleiden, zu mindern, bedarf die bewußt erlernbare Zuordnung nach innen gleichsam einer Verrechnung von „Empfindungen", und nach außen einer Sensorik, die „das Umfeld so weit wie möglich" zu kontrollieren gestattet. 21 Bei aller Lernfreiheit, die das Bewußtsein ermöglicht, bleiben doch auf dem zentralnervösen Kopplungsweg Gefahren bestehen, der die Natur offenbar durch Begrenzung der Bewußtwerdung von Zuordnungen begegnet. Die bewußte Rekonstruktion des Verhaltens als Handlung kostet Zeit, lenkt „Aufmerksamkeit" zwischen dem Gegenstand und der Eigenbewegung hin und her, führt womöglich zur „Zersplitterung" des Bewußtseins und zur Preisgabe der „Unbefangenheit": „Selbst bis zur kompliziertesten Form des Menschen bleibt das Prinzip in Geltung, gewisse Zonen des Körpers unter autonomen Systemen unabhängig von der Zentralkontrolle des Gehirns zu halten und sie damit dem spontanen Zugriff zu entziehen. In dem Maße, als der eigene Körper aber dem Bewußtsein aufgedeckt wird, müssen Instinkt und Gewöhnung kompensierend eingreifen, um wenigstens die Wirkung des Antagonismus (von Handlung und Bewußtsein: H P K ) auf das Leben abzumildern, dessen Ursache, als im Leben selber liegend, sie nicht beseitigen können." 2 2 Fragt man sich nun aber, „Plastizität" des Gehirnes und die „Möglichkeit bewußten Seins" 2 3 einmal vorausgesetzt, wie diese Kopplungsart aus sich verbessert werden kann, besteht ihre weitere Entwicklungschance gerade darin, das zentrische Organisationsprinzip der geschlossenen Form zu steigern. Zunächst liegt es nahe, diese Organisationsform auf die Sensorik und Motorik des eigenen Körpers durch „schematische" Vereinfachung (Signale und Körperschema) übergreifen zu lassen. 24 Damit kann durch Repräsentation von „Leib und Umfeld im Zentrum" der „Kreis der sensomotorischen Funktionen" im „Zentralorgan noch einmal geschlossen" werden. Das Tier merkt so seine Bewegungen im Umfeld und merkt damit sich. Es wird durch den zentralnervösen „Ringschluß des sensomotorischen Funktionsspiels, dem das Auftreten von Dingen im Merkfeld entspricht", für den Beobachter zu einem „rückbezüglichen System", das selbst aber spontan aus sich heraus agiert. 25 Man darf sich jedoch die auswählende „Repräsentation im Zentralorgan" nicht wie ein „Abbilden" vorstellen. Die Vergegenwärtigung von etwas Leiblichem oder Dinghaftem erfolgt in einem funktionalen Korrelieren, das von der organismischen Struktur her bei der „Lokalisation der Funktionen" im Gehirn ansetzt. 26 Diese topologi-
21 Ebd., S. 249. 22 Ebd., S. 251. 23 Ebd., S. 124, 252. 24 Vgl. ebd., S. 249 zur Sensorik und S. 254 zur Motorik. 25 Ebd., S. 252, 255, 238. 26 Ebd., S. 256, vgl. S . 2 5 9 Í .
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Die Freilegung
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sehe Lösungsvariante des Problems der steigenden Differenzierung läßt sich weiter nur noch durch die „Zeithaftigkeit des lebendigen Seins" steigern, die bei zentrischer Organisationsform auch organisch zu Gedächtnissen ausdifferenzieren kann. „Lebendiges Sein beharrt im Werden, indem es ihm selbst vorweg ist. Es ist gegenwärtig, insofern es kommt, die Basis seiner Fundierung in der Zukunft liegt, aus der Zukunft her, ,im Vorgriff' lebt. Nur in diesem .Rücklauf' ist es gesetztes Sein, nur dadurch zeigt es die positionalen Charaktere der raumzeithaften Union, zeigt es Gebundenheit im absoluten Hier-Jetzt, Selbständigkeit."27 Wenn dem lebendigen Dasein Vergangenes aus dem spontanen Vorgriff auf Zukunft erwächst, dann muß auch die Aktualisierung spezieller Gedächtnisorgane der „Einheit von Residuum und Antizipation" Rechnung tragen. Dadurch ist die Vergangenheit keine „abgeschlossene Größe". 28
3.7. Wie die zentrische Organisationsform und die exzentrische Positionalitätsform zusammenhängen können Gewiß gibt es organismische Unterschiede zwischen dem Menschen und anderen Primaten oder anderen Säugetieren, denkt man insbesondere an die relative Größe und die vergleichsweise hohe Differenziertheit des menschlichen Gehirns. Zweifellos weisen auch die verschiedenen Menschenrassen verschiedene Phänotypen auf, erinnert man sich ihrer unterschiedlichen Wuchsformen und Farbenpracht, die mit einigen hormonellen oder enzymatischen Unterschieden parallel gehen, ganz zu schweigen von der enormen soziokulturellen Variationsbreite an Habitusformen. Man muß sich aber zweierlei fragen: Ab wann sind diese organismischen Unterschiede so wesentlich, daß sie strukturell und funktional eine grundsätzlich andere Konstitution von Lebewesen ergeben? Und inwiefern sind solche Unterschiede auch schon die Folge einer anderen Interaktionsweise dieser Lebewesen mit und in ihrer (Um)Welt, also eine Einspielung oder Einpassung29 der Organisationsform in die Positionalitätsform ? Die Philosophische Anthropologie Plessners setzt die Unterscheidung der Menschen von anderen Tieren klar aus einer neuen, eben exzentrischen Positionalitätsform an, die strukturell und funktional betrachtet zu keiner grundsätzlich anderen als der zen-
27 Ebd., S. 279. 28 Ebd., S. 286. 29 Plessner unterscheidet die strukturell-funktionale Angepaßtheit/Eingepaßtheit/Eingespieltheit von Lebewesen in ihre Umwelt, was man später auch Voranpassung (preadaptation) genannt hat, von dem jeweils aktualen Anpassungsverhalten (der aktualen Anpassungshandlung) eines bestimmten Lebewesens. Ebd., S. 202-208.
Gegensinn und Gleichsinn in der
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trischen Organisationsform führe. Diese Aussage schließt natürlich andere als konstitutive Modifikationen der menschlichen Organismusart ein. Da mit der „Exzentrizität keine neue Organisationsform ermöglicht wird", müssen wir Menschen „körperlich Tier bleiben". 30 Diese organismische Kontinuität von uns mit und in der Natur wird von jedem Erfolg der pharmakologischen, substitutiven und reproduktiven Technologien der Bio- und Medizinwissenschaften bestätigt, ob uns dies gefällt oder nicht gefällt. Wie sollen dann aber der zentralnervöse Weg, Sensorik und Motorik durch Bewußtsein zu koppeln, die zentrische Organisationsform also, und die exzentrische Positionalitätsform zueinander passen, wobei letztere kurz wie folgt charakterisiert werden kann: „Mit dem Durchbruch zum Ich (im Sinne des Kategorischen Konjunktivs: HPK) ist ... eine Positionsform etabliert, die ihrer eigenen Mitte ansichtig sein kann und muß und darum nicht mehr in sich ruht. Sie hat ihren Schwerpunkt außer sich, weshalb ich von exzentrischer Positionsform spreche."31 In der Philosophischen Anthropologie besteht also der springende Punkt nicht nur in der Frage, wie die exzentrische Positionalitätsform (Verhaltensaspekt) mit einer zentrischen Organisationsform (Organismusaspekt) auskommen kann, sondern auch umgekehrt in folgendem Problem: Wie kann die Steigerung der „zentrischen Organisationsform" die organismische „Basis" für die Exzentrizität im Verhalten abgeben?32 Da es der Philosophischen Anthropologie gerade um den Zusammenhang zwischen der neuro- und der verhaltensphilosophischen Frage, in ihrer eigenen Begrifflichkeit gesprochen: zwischen der zentrischen Organisationsform und der exzentrischen Positionalitätsform geht, muß man von ihr einen Vorschlag erwarten, wie beide Formen verschränkt begriffen werden können. Wir werden dieses Verschränkungsproblem jetzt nacheinander von der organismischen und positionalen Form her angehen, um die Verschränkungshypothese formulieren zu können.
3.8. Gegensinn und Gleichsinn in der Zentrierungsrichtung zur Funktionsmitte des Positionsfeldes oder des Organismus Würde der Lebensweg über bewußtes Sein einfach in dem Sinne ausgeweitet, daß sich das Bewußtsein gegenüber seiner Funktion, Sensorik und Motorik neu zu koppeln, gänzlich verselbständigte, würde gleichsam die Lage des Traumes und in der Konsequenz der Träume von Träumen eintreten. Der direkte Rückbezug von 30 Ebd., S. 293. Vgl. dagegen Joachim Fischer, der die falsche Kritik von Arnold Gehlen an Plessners Ansatz wiederholt. Die Organisationsform ist bei Plessner klar definiert und nicht mit einer Körperform oder einer Gestalt zu verwechseln. J. Fischer, Philosophische Anthropologie. Zur Bildungsgeschichte eines Denkansatzes, Göttingen (Dissertation) 1997, S. 79. 31 H . Plessner, Der Mensch als Lebewesen (1967), in: GS VIII, S. 323. 32 H . Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 293.
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Bewußtsein auf Bewußtsein, ohne sensomotorische Unterbrechung im äußeren Verhalten, ergibt Traum, und dieser wird in Permanenz zum Trauma. Die selbstreferentielle Funktionsweise des Gehirnes hätte keine Rückkopplung mehr in die Selbstreproduktion des Organismus33, das Zentralorgan würde zum Parasiten seines restorganismischen Wirtes.34 Es käme zu keinen dank selbstreferentieller neuronaler Aktivitäten neuen und modifizierten sonsomotorischen Ringschlüssen mehr, dafür aber zu selbstreferentiellen Zirkelschlüssen mit den oben erwähnten Gefahren. Es gibt strukturell und funktional betrachtet nur ein Potential, die zentrische Organisationsform in sich selbst zu steigern, ohne das Bewßtsein destruktiv zu verselbständigen: Sie ändert, gemessen am Zugang des Bewußtseins zum eigenen Körper, die Richtung der Zentrierung in den Gegensinn. Die organismisch geläufige Richtung der Zentrierung ist die auf die raumzeitlich funktionale Mitte des eigenen Körperleibes hin.35 Sie existiert als der Vollzug einer Kopplung zwischen Sensorik und Motorik im eigenen Körperleib, wobei die Kopplung den (korrelativen) Vergleich mit den Kopplungsmöglichkeiten in den Spuren des Gedächtnisses einschließt. Die Umkehrung der Zentrierungsrichtung bedeutet, die Kopplung von denjenigen Möglichkeiten abhängig zu machen, die sich antizipatorisch aus einer raumzeitlich funktionalen Mitte in dem Positionsfeld der (Um)welt ergeben. Um die Problematik dieser Lösung vorwegzunehmen: Die Umkehrung der Zentrierungsrichtung in den Gegensinn darf nicht absolut werden, denn dann handelte es sich nicht mehr um das Zentralorgan des hier und heute lebenden Wesens, das kategorisch (unbedingt) auf seine funktionale Mitte hin zentrieren muß. Daran gemessen kann die umgekehrte Zentrierungsrichtung auf eine funktionale Mitte im Positionsfeld hin nur konjunktivischen Status haben. Es entsteht also ein Problem des Ausgleichs oder der Verschränkung zwischen beiden Zentrierungsrichtungen, zwischen der Ex-Zentrierung der raumeitlich funktionalen Mitte (aus dem eigenen Körperleib heraus ins Positionsfeld hinein) und der Re-Zentrierung dieser Mitte (aus dem Positionsfeld heraus in den eigenen Körperleib hinein). Gleichwohl sind die Evolutionsvorteile eines Lebewesens absehbar, dem es gelingt, seine eigene funktionale Mitte im Lichte der Möglichkeiten, die seine Umwelt zur Realisierung funktionaler Mitten bietet, zu aktualisieren. Die Umkehrung der Zentrierungsnc^tong stellt nicht die zentrische Organisationsform in Frage, sondern führt letztere nun auch im Gegensinn durch. Noch
33 Vgl. H.-P. Krüger, Perspektivenwechsel. Autopoiese, Moderne und Postmoderne im kommunikationsorientierten Vergleich, Berlin 1993, S. 2 2 - 2 6 , 70 ff. 34 Vgl. zum Gehirn als dem „gefräßigen Parasiten" G. Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit, a. a. O., S. 222. 35 Vgl. H . Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 161.
Gegensinn und Gleichsinn in der Zentrierungsrichtung
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immer wird zentriert, nur jetzt in zwei Richtungen mit dem genannten Ausgleichsproblem. Erst dadurch, daß in beiden Richtungen zentriert wird, holt die Zentralisierung der Organisationsform das ein, was im Falle lebendiger Körper schon immer als „Grenzrealisierung" 36 geschieht. Das Grenzproblem wird zentralisiert, es wird damit als solches bewußt. Lebendige Körper zeichnet vor anorganischen Körpern aus, daß ihnen die Grenze gegenüber dem Medium selbst zukommt. Dank dieser eigenen Grenze (in der Anschauung als Rand oder Membran) entsteht ihnen nach innen das Potential, einen Eigenraum und eine Eigenzeit in einem sich selber reproduzierenden Prozeß zu entfalten, dessen Struktur- und Funktionsbedingungen sie nach außen im Verhalten behaupten müssen. 37 Die gleichsam erste „Antwort" der Natur auf das Problem der Grenzrealisierung unter komplexen Prozeßbedingungen besteht darin, diese Bedingungen nach innen und außen zu organisieren: daher die offenen versus geschlossenen, dezentralen versus zentrischen Organisationsformen. Das mit der Umkehrung der Zentrierungsrichtung Neue besteht nun darin, daß die Bewußtwerdung nicht mehr allein „gleichsinnig" mit dem eigenen Organismus und „gegensinnig zum Positionsfeld" erfolgt, sondern auch „gegensinnig" gegenüber dem eigenen Organismus und „gleichsinnig zum Positionsfeld" erfolgen kann. 38 Dadurch wird die funktional autonome Schließung der zentrischen Organisationsform gegenüber der Umwelt durch die dazu gegenläufige, mit der Umwelt gleichsinnige Öffnung unterbrochen. Diese gegenseitige Unterbrechung im Richtungssinn der Zentrierungsaktivitäten betrifft sowohl die räumliche als auch die zeitliche Richtung. 3 9 Damit diese gegenseitige Unterbrechung nicht zur Paralyse führt, müssen die zum Positionsfeld gleichsinnigen und gegen den Organismus gegensinnigen Richtungen von Raum und Zeit als „reversibel", d.h. als im Konjunktiv der Möglichkeiten „umkehrbar", funktionieren können. Demgegenüber müssen die mit dem Organismus gleichsinnigen und gegen die (Um)Welt gegensinnigen Richtungen von Raum und Zeit als „irreversible", d. h. als im kategorischen Sinne „nichtumkehrbare" 4 0 ausgezeichnet werden. Damit wird das „Gesetz der gegensinnigen Struktur seines (des Organismus: H P K ) eigenen Seins" 4 1 bewußt. Es wird bewußt eben in der Differenz zwischen positionaler Gegenstandsorientierung und latenter Selbstorientierung erlebt. Alles erscheint nun in diesem Kontrast beider Richtungssinne, in denen Zentrierung akti-
36 Ebd., S. 122. 37 Vgl. ebd., S. 103 f., 127 ff. 38 Ebd., S. 204 f. 39 Vgl. ebd., S. 2 0 3 , 2 0 7 f. 40 Vgl. ebd., S. 212 ff. 41 Ebd., S. 211.
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Die Freilegung von Etwas vor dem Nichts
viert werden kann. Für den Organismus, der zentrisch organisiert ist, sind die beiden Zentrierungsrichtungen aber nicht gleichwertig. Spontan steht die Gegenstandsorientierung im Vordergrund des Bewußtseins. Aber sie wird von vornherein wie im Rückblick auf die Funktionsmitte im eigenen Körperleib, die dem Bewußtsein unmittelbar gegeben ist, zentriert. Die Selbstorientierung des Bewußtseins bleibt latent oder eben im Hintergrund. Der Organisationsform, sonst wäre sie nicht organismisch, sind Spontaneität, Unmittelbarkeit und Direktheit primär. Das Interessante am bewußten Erleben von Menschen besteht aber darin, daß die zur spontanen Funktionsmitte des Organismus umgekehrte Zentrierungsrichtung schon immer mitläuft, wenngleich wie abgeschattet, oder wie ein sich aufhebendes Grundrauschen, oder wie in Wartestellung. In problematischen Fällen kann so auf die nur latente oder eben sekundäre Selbstorientierung durch Reflexion, Vermittlung und Indirektheit des bewußten Verhaltens umgeschaltet werden. Für das Lebewesen Mensch bleiben jedoch diese Umwege begrenzt, weshalb Plessner charakteristisch von vermittelter Unmittelbarkeit, indirekter Direktheit, reflexiver Spontaneität spricht, und nicht umgekehrt von unmittelbarer Vermitteltheit, direkter Indirektheit oder spontaner Reflexivität. 42 Dem menschlichen Organismus ist ohne womöglich pathologisch werdende Selbstüberforderung nur die erste Reihe von Charakterisierungen zu leben möglich, während die zweite Reihe von Charakterisierungen eine symbolische Ablösung vom Organismus und soziokulturelle Übertragung erfordert. Erst in diesen Kontexten macht es dann Sinn, von „natürlicher Künstlichkeit" und nicht mehr von „künstlicher Natürlichkeit" zu sprechen. 43
3.9. Die lange Kindheits- und Jugendphase: ihr erotischer Spiel- und Sprachcnarakter Wie sollte es aber von Seiten der Positionalitätsform dazu kommen, innerhalb der zentrischen Organisationsform von Lebewesen die Gegenrichtung der Zentrierungsaktivität zu befördern? Die Antwort darauf ist nicht mehr einfach eine, die von der Bio- und Individualanthropologie gegeben werden kann, sondern eine, die den Übergang zur Sozial- und Kulturanthropologie braucht, wobei dieser Übergang selber schon in der Thematisierung biosozialer und biokultureller Formen einsetzt. Was Plessner die exzentrische Positionalitätsform nennt, soll genau diesen Übergang stets von neuem ermöglichen. 42 Vgl. ebd., S. 321 ff. Plessner hat später, um Mißverständnisse zu vermeiden, diese „anthropologischen Grundgesetze" nur noch „Strukturformeln" genannt, die „keinen abschließend-theoretischen, sondern nur einen aufschließend-exponierenden Wert beanspruchen". Ders., Die Aufgabe der Philosophischen Anthropologie (1937), in: GS VIII, S. 39. 43 Ders., Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 309.
Die lange Kindheits- und Jugendphase
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Nicht die Umwelt schlechthin, oder das Feld der dem Organismus möglichen Positionen überhaupt, kann es sein, wo die zur Funktionsmitte des Organismus gegenläufige Zentrierungsrichtung gleichsam vor Anker geht. D a diese Exzentrierung Gefahren, mindestens aber ein Problem der Verschränkung mit der Rezentrierung beschert, müßte ihre Anlaufstelle sozusagen Geborgenheit und Zuspruch gewähren, um ausprobiert und zu einem sich selbst verstärkenden Lernmechanismus entwickelt werden zu können. Es liegt also nahe, sich die Besonderheiten der Kindheits- und Jugendphase von Menschen im Vergleich zu Tieren genauer anzusehen. Wir kommen nicht fertig zur Welt oder brauchen nicht nur kurze Zeit, um in der Herde mitlaufen und uns in wenigen Jahren vermehren zu können. An unserer Ontogenese (Individualentwicklung) fällt die lange Kindheits- und Jugendphase auf, in der sich noch entwicklungsbiologische Vorgänge (von der Differenzierung und dem Zuwachsen des Gehirnes bis zur sexuellen Reifung) hinziehen, während gleichzeitig längst soziokulturelle Lernprozesse stattfinden. Diese sprachvermittelten Lernprozesse werden aber noch nicht den Interaktionsmustern von Erwachsenen unterworfen, sondern bedeuten als Spielformen eine gewisse Freistellung davon. „Tatsächlich muß der Mensch die ihm vorbehaltenen Funktionen der dauernden Aufrichtung, des Gehens und Stehens, der Koordination der Sinneswahrnehmungen zum Gebrauch der Hand, das Sprechen wie allgemein die Einpassung in die soziale Umwelt lernen. Wir verfügen nicht wie die Tiere über eine Erbmotorik, sondern haben eine Erwerbmotorik". 4 4 Auch triebethologisch betrachtet scheinen wir das Spielverhalten in der Evolution der Säugetiere, insbesondere der Hominiden, mit außergewöhnlicher Konsequenz auf die Spitze zu treiben, so daß meistens die soziokulturelle Anerkennung der Erwachsenenreife nochmals hinter der ohnehin späten sexuellen Reife liegt. Uns führt wohl nicht nur der Drang nach Selbständigkeit, sondern auch die Unmöglichkeit, den Bindungsdrang durch „Wiederaufhebung der mit der Geburt gegebenen Trennung" von der Mutter befriedigen zu können, in eine lange Periode zweckfreien Spielverhaltens „zwischen Bindung und Lösung, das eine von Angst und Gier unbelastete, in sich selbst erfüllte Beziehung stiftet", die, von einer „erotischen Spannung" überzogen, symbolischen Ableitungen offen steht. 4 5
44 Ders., Die Frage nach der Conditio humana (1961), in: GS VIII, S. 166. Plessner folgt hier den Anregungen von Adolf Portmann, Zoologie und das neue Bild vom Menschen. Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen, Hamburg 1956. 45 H . Plessner, Die Frage nach der Conditio humana, a. a. O., S. 167 f. Plessner greift hier einen Gedanken seines langjährigen Kooperationspartners und Freundes auf: F . J . J . Buytendijk, Wesen und Sinn des Spiels. Das Spielen der Menschen und Tiere als Erscheinungsform der Lebenstriebe, Berlin 1933.
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Dieser Zusammenhang zwischen der vergleichsweise langen Kindheits- und Jugendphase, dem Spielen und den symbolischen Übertragungen (in der Ableitung des Triebüberschusses) eröffnet den Zugang zu einer Positionalitätsform, die in ihren Interaktionen exzentrisch ist (gemessen an der funktionalen Mitte aller beteiligten Organismen). Diese Positionalitätsform vermag es, die Exzentrierungs- und Rezentrierungsrichtung in der zentrischen Organisations form der Nachwachsenden zu animieren und zu stimulieren, so daß eine Eingepaßtheit, wenn man so will wortwörtlich: eine Eingespieltheit der zentrischen Organisationsform in die exzentrische Positionalitätsform entstehen kann. Wir kommen in späteren Kapiteln auf die Bedeutung dieser Spiel- und Symbolformen für die Konstitution der dem Menschen eigentümlichen Exzentrizität zurück. Es muß hier die Anmerkung genügen, daß Störungen und Blockierungen der Exzentrierung oder der Ausgleichsbewegungen zwischen Ex- und Rezentrierung auf Defizite im Spiel- und Symbolcharakter der Kindheits- und Jugendphase zurückgehen dürften. Wenn man sich nun näher fragt, worin die Einpassung oder Voranpassung der Organisationsform in die Positionalitätsform strukturell und funktional betrachtet bestehen kann, dann stößt man auf den folgenden Zusammenhang. Dem Ausgleichsproblem der zentrischen Organisationsform, zwischen den Zentrierungsrichtungen zu stehen kommen zu müssen, um die körperleibliche Mitte vollziehen zu können46, entspricht im Interaktionskontext die Verschränkung der Perspektiven, die sprachliche Kommunikation einzunehmen gestattet. Die Bewußtwerdung des organismischen Problems der Grenzrealisierung, zwischen seiner körperleiblichen Mitte und anderen Mitten in der (Um)Welt Position nehmen zu müssen, korrespondiert mit der „Virtualisierung" des Verhaltens durch dessen „Überhöhung" dank „Sprache"·. Der „metaphorische" Sprachgebrauch „überträgt, schiebt sich an Stelle von etwas, ist das repräsentierende Zwischenmedium in dem labil-ambivalenten Verhältnis zwischen Mensch und Welt." 47 Er entspricht dem Problem in der Funktionsweise des Gehirnes, unter allen selektiv und gegensinnig möglichen Repräsentationen zu einer Zuordnung zu kommen. Diese strukturell-funktionale Entsprechung oder Korrespondenz zwischen Organisations- und Positionalitätsform leuchtet ein, sobald man sich vergegenwärtigt, daß die bewußte (Re)Konstruktion von Verhalten als Handeln zunächst von Sprache begleitet wird und sodann auch durch Sprache verkürzt und entlastet werden kann. Insofern scheint ihr Äquivalent in die zentralnervöse Rekonstruktion der neuronalen Muster für sensomotorische Ringschlüsse einzugehen, von denen der Sprachgebrauch selber auch zehrt. Im Sprachgebrauch kommt nicht nur die Stimmung im rückbezüglichen Medium der Stimmen zum Ausdruck, sondern wird dieser Aus-
46 H . Plessner, Die Frage nach der Conditio humana, a. a. O., S. 170. 47 Ebd., S. 177.
Die Mitwelt als Ermöglichung des Zusammenspiels
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druck auch dargestellt. Als Darstellung wird er nach dem Muster der sprachlichen Koordination von Auge und Hand ablösbar von der Situation des Ausdruckes zur Aussage 48 (vgl. 1.2.) Gewiß hat die Schrift diese Ablösbarkeit dramatisch gesteigert und verselbständigt, weshalb man sich den sensomotorischen Vehaltenskontext des Sprachgebrauches besser anhand der anthropologisch unersetzbaren Kommunikation von Angesicht zu Angesicht vergegenwärtigt. Im Gesicht faßt sich auf „nicht virtuelle, sondern unmittelbar ausdruckshafte Weise der Mensch zusammen. Das Gesicht ist, in Grenzen, die Zone einer Spiegelung der ganzen persönlichen Existenz, und zwar unter Einbeziehung des Gesehenwerdens." 49 Wir kommen also wieder, wie schon in den vorangegangenen Kapiteln, beim Erlernen des Kategorischen Konjunktivs (vgl. insbesondere 1.1.) an, der sprachlich in der Form der Ambivalenz zwischen dem leiblich unvertretbaren Ich und dem körperlich vertretbaren oder gar austauschbarem Ich auftritt. Man kann die Doppeldeutigkeit des Ich-Pronomen im Austausch mit den Perspektiven anderer, die in der zweiten oder dritten Person Singular oder Plural auftreten, erlernen und nach allen der Sprache zu Gebote stehenden Reflexionsbeziehungen differenzieren und elaborieren. Soll aber diese „Reziprozität der Perspektiven" nicht syntaktisch oder formalsemantisch von den Personen abgelöst werden, die miteinander kommunizieren, soll sie also pragmatisch im Verhaltens- respektive Handlungskontext Sinn machen, dann muß ihr Riickbezug auf den sensomotorischen Zugang jeder Person zu ihrem Körperleib gewährleistet werden, was üblicherweise durch Mimik und Gestik erfolgt.
3.10. Die Mitwelt als Ermöglichung des Zusammenspiels von Organisations- und Positionalitätsform: die Differenz zwischen Innen- und Außenwelt Es gibt also in der sprachlich reflexiven Pragmatik des Ich-Pronomens das Zusammenspiel zweier „Rückbezüglichkeiten", das oft in entweder die eine oder die andere Rückbezüglichkeit aufgelöst wird. Die eine Rückbezüglichkeit betrifft die Versprachlichung der Interaktionen, in denen die Ich sagenden Personen als soziokulturelle Rollenträger, also wenigstens in nuce öffentlich, auftreten. Diese Rückbezüglichkeit, die Plessner mit Theodor Litt die „Reziprozität der Perspektiven" 50 nennt, gehört dem Kontext nach der exzentrischen Positionalitätsform an, in der sie symbolisch und technisch von den beteiligten Personen (nicht von Personen überhaupt) abgelöst werden kann. Das Durchlaufen dieser Reziprozität sichert die Personalisie-
48 Vgl. ebd., S. 173 f., 179. 49 Ebd., S. 180. 50 H. Plessner, Der Mensch als Lebewesen, a. a. O., S. 319.
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Die Freilegung
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rung des Ichs, so daß es soziokulturell mehr oder minder vertretbar und zumindest in der Generationenfolge auch ersetzbar wird. Darum wird es im fünften Kapitel genauer gehen. Die andere Rückbezüglichkeit betrifft das Ich als die je eigene Person, die ihre Körper-Leib-Differenz als Ganze unvertretbar und nicht austauschbar gestaltet, d. h. individualisiert. Diese Rückbezüglichkeit gehört in den Kontext der Versprachlichung der zentrischen Organisationsform, der Ausbalancierung ihrer beiden Zentrierungsrichtungen in die exzentrische Verkörperung oder in die rezentrische Verleiblichung hinein. Diese Versprachlichung ist angesichts des privaten und je lebendigen Charakters des Selbstverhältnisses, das schon immer in organismischer Form rückbezüglich ist, begrenzt und sensomotorisch nicht ablösbar von dem IchErleben der Person. Plessner nennt diese Versprachlichung des Ichs die „Wir-form des eigenen Ichs" 51 , die zwischen Leibsein (Interiorität) und Körperhaben (Exteriorität) oszilliert52 und ins Individuum ineffabile mündet. Auf diese Individualisierung des Ichs gehe ich im 4. Kapitel näher ein. Die personalisierende und die individualisierende Rückbezüglichkeit der Ich-Bildung weisen offenbar in entgegengesetzte Funktionsrichtungen, in die der Exzentrierung oder die der Rezentrierung. Es scheint auch so, daß sie sich von der Funktion her gegenseitig als Kontrast brauchen, um überhaupt erscheinen zu können. Aber ist ihr Zusammenspiel in der Sprachpragmatik mehr als ein äußerer Zusammenfall? Wenn man sich fragt, was den beiden Rückbezüglichkeiten der Ich-Pragmatik strukturell gemeinsam ist, so daß beide zusammenspielen können und nicht auseinanderfallen müssen, dann nennt Plessner diese Gemeinsamkeit „Mitwelt". Beide Rückbezüglichkeiten sind wie eine Antwort auf eine virtuelle Exzentrierung des eigenen Standortes (eben Ich), die am Medium der Sprache entlang erfragt wird. Gleichwohl bedeutet die jeweilige Rückbezüglichkeit je nach ihrem Kontext anderes. Wegen dieser strukturellen Gemeinsamkeit und bei Beachtung der gegensinnigen Funktionsrichtung können beide Rückbezüglichkeiten des Ichs ineinander spielen und metaphorisch übersetzt werden: „Das spezifische Substrat der Mitwelt beruht... nur auf ihrer eigenen Struktur. Mitwelt ist die vom. Menschen als Sphäre anderer Menschen erfaßte Form der eigenen Position." 53 Ähnlich heißt es auch im Spätwerk Plessners: „Im anderen erfaßt der Mensch den anderen als er selbst, ,weil' er der andere auch ist. Das bedeutet keine Identifikation mit ihm, obwohl sie ihm dadurch ermöglicht wird, sondern eine einfache, in der Ichhaftigkeit wurzelnde Eigenart des Mitseins." 54
51 52 53 54
Ders., Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 303. Vgl. ders., Der Mensch als Lebewesen, a. a. O., S. 320. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 302. Ders., Der Mensch als Lebewesen, a. a. O., S. 320.
Bewußtsein und Gehirn
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Da die Mitwelt weder nur den Interaktionen noch nur dem individuellen Selbstverhältnis zukommt, dafür aber „zwischen mir und mir, mir und ihm liegt", vermag sie als die „Bedingung der Möglichkeit" zu fungieren, daß sich der Mensch „in seiner Stellung erfassen kann": „Als Glied der Mitwelt steht jeder Mensch da, wo der andere steht." 55 Die Mitwelt ermöglicht die Bildung der für das menschliche Weltverhältnis konstitutiven Differenz zwischen Außen weit und Innenwelt. Nicht die Unterscheidung zwischen innen und außen ist neu, sondern deren Weltcharakter im Unterschied zu bloßer Umwelt, die aktionsrelativ für ein zentrisches Lebewesen bleibt. Genau diese wechselseitige Konturierung, eben nicht statisch, sondern in gegenläufigen Aktivitätsrichtungen, entspricht aber unserem bewußten Erleben: „Positional liegt ein Dreifaches vor: das Lebendige ist Körper, im Körper (als Innenleben oder Seele) und außer dem Körper als Blickpunkt, von dem aus es beides ist. Ein Individuum, welches positional derart dreifach charakterisiert ist, heißt Person."56 Damit begreift die Philosophische Anthropologie unser alltäglich bewußtes Erleben, das im Deutschen Idealismus zur Selbstsetzung des Ichs dramatisiert wurde, naturphilosophisch. Die Konturierung von allem zwischen einer gegenstandsorientierten und einer selbstorientierten Bewußtseinsrichtung ist der Modus, in dem die zentrische Organisationsform schon immer in die exzentrische Positionalitätsform eingepaßt ist.57
3.11. Bewußtsein und Gehirn Kommen wir aber endlich auf den neurophilosophischen Aspekt der interdisziplinären neurowissenschaftlichen Forschungslage zurück. Wir haben anfangs dieses Kapitels gesehen, daß die heute in den Neurowissenschaften üblichen Beschreibungen bewußten Erlebens grundsätzlich nichts anderes beinhalten, als in der längeren philosophischen Beschäftigung mit dem Bewußtsein erarbeitet worden war, insbesondere eben in Plessners Einführung in die Philosophische Anthropologie von 1928. Wenn dieser Konzeption gemäß Bewußtsein an die Aktivitätsrichtungen der zentrischen Organisationsform gebunden ist, dann muß es sich in diesem strukturellen und funktionalen Kontext untersuchen lassen, was zunächst vor allem heißt, den Bewußtseinsphänomenen Entsprechendes im Gehirn lokal (räumlich) und temporal (zeitlich) nachweisen zu können. Die neurowissenschaftliche Forschung hat in reichstem Maße solche Nachweise erbracht, und sie ist inzwischen glücklicherweise weniger auf Hirnverletzte (aus den Kriegen oder aus Unfällen) und neurochirurgische Ein-
55 Ders., Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 3 0 2 - 3 0 4 . 56 Ebd., S. 293. 57 Vgl. zur naturphilosophischen Transformation der Hegeischen Geistesphilosophie ebd., S. 305 f.
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griffe (ζ. B. Implantierung von Elektroden) angewiesen, da sie Elektroenzephalographie, Positronen-Emissions-Tomographie und funktionelle Kernspintomographie anwenden kann. Dabei hat sich erstens in der Forschung bestätigt, daß das Gehirn nicht abbildrealistisch funktionieren kann, sondern aktiv konstruieren muß, zunächst nach seiner eigenen Topologie (dem Prinzip des Verarbeitungsortes). Nicht nur die Sensorzellen arbeiten bereits selektiv. Vor allem die Ubersetzung (Transduktion) des Reizes als Impuls in die „Einheitssprache" des Gehirns, d. h. in chemische und elektrische Signale, neutralisiert die Qualität des Reizes zu einer Korrelation von neuronalen Aktivitäten. Der „Neutralität des neuronalen Codes" 58 entsprechend kann das Gehirn einem Nervenimpuls nicht ansehen, woher er stammt. Das Gehirn orientiert sich an der räumlichen Separierung der Verarbeitungsbahnen und kombiniert parallele, konvergente (zusammenfügende) und divergente (auf verschiedene Zentren verteilende) Erregungsverarbeitung zur Produktion eigener Konstrukte. „Diese Konstruktionen sind aber nicht willkürlich, sondern vollziehen sich nach Kriterien, die teils angeboren, teils frühkindlich erworben wurden oder auf späterer Erfahrung beruhen."59 So oder so scheinen die neuronalen Aktivitäten zunächst einmal nach ihrem räumlichen Richtungssinn (von wo nach wo innerhalb des Gehirns) verarbeitet zu werden, wobei die Untersuchung der jeweils gegensinnigen Rücklaufmöglichkeiten in Ringschlüsse aus anthropologischer Sicht besonders relevant wäre. Zweitens hat die neuere Forschung zu einer enormen Aufwertung der Zeitlichkeit und zeitlicher Synchronisationen von neuronalen Aktivitäten geführt, was ebenfalls im Orientierungsrahmen der Philosophischen Anthropologie liegt. Innerhalb der räumlichen Gliederung des Gehirnes gibt es eine gewisse funktionale Spezifik jedes Areals, die zwar durch netzwerkartige Querverbindungen in Grenzen gehalten wird, aber nicht zu einem erneut räumlichen Zentrum innerhalb des Zentralorgans führt. Wenn dies so ist, wird die Frage, wie die neuronalen Aktivitäten der Zeit nach vereinheitlicht werden, so daß wir „Wahrnehmungs- und Bewußtseinseinheiten" erleben können, um so dringlicher.60 Gewiß lassen sich in der Interaktion des Organismus mit der Umwelt „Gestaltgesetze" der räumlichen und zeitlichen Wahrnehmung nachweisen, aber diese sind zu selektiv und zu „opportunistisch", verglichen mit Gedächtnisbildern, um intern die Einheitfunktion zu klären. Daher kommt es einerseits zu einer Aufwertung des Vergleichs der aktualen Erregungsmuster mit den im Gedächtsnis gespeicherten, im deklarativen (bewußt reproduzierbaren) und prozeduralen oder impliziten Gedächtnis, das nicht von Bewußt-
58 G. Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit, a. a. O., S. 93. 59 Ebd., S. 125, vgl. auch S. 250 f. 60 Ebd., S. 256.
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sein begleitet sein muß.61 Gedächtnis sei „unser wichtigstes .Sinnesorgan'", das Daten oder Gestalten schnell zu Einheiten „komplettiert" oder Irritation meldet und damit als „das Bindungssysystem für die Einheit der Wahrnehmung" fungiert.62 Andererseits konnten zwei Forscherteams „sogar zwischen verschiedenen Cortesarealen rhythmische, reizinduzierte Synchronisation nachweisen", und zwar so, daß die „direkt reizgekoppelte Aktivität abgeleiteter Neurone von der bindungscodierenden synchronen Aktivität zu unterscheiden" war.63 Drittens interessieren Forschungen zu der Frage, wo und wann das Gehirn seiner Funktionsweise nach in den Modus des Bewußtseins übergeht. Es ist sicher, daß es Bewußtsein nicht ohne den assoziativen Cortex geben kann, aber Bewußtsein entsteht unter der Beteiligung verschiedener, das ganze Hirn durchziehender Systeme, insbesondere aber, „wenn das Raphe-System und das Locus-coeruleus-System das unbewußt Wahrgenommene ... als hinreichend neu und/oder wichtig bewertet und dies über die aufsteigenden Fasern dem Cortex mitgeteilt haben." 64 Hans Flohr hat (in Spezifikation einer Hypothese von Christoph von der Malsburg) die These aufgestellt, daß Bewußtsein das Auftreten von bestimmten Repräsentationen ist, nämlich solchen, deren Bildungsrate in der Zeit den gehirneigenen Zustand repräsentiert („Metarepräsentation"). „Nach Flohr sind derartige selbstreferentielle Repräsentationen höherer Ordnung identisch mit dem Auftreten von Bewußtseinszuständen."65 Obgleich für diese These bestimmte Konsequenzen sprechen, die man indirekt über Synapsen-Blocker (Anästhetika) ziehen kann, bleibt sie eine Hypothese. Gerhard Roth hat sie unter Berücksichtigung der Interaktion verschiedener corticaler Regionen innerhalb des Gehirns und im Hinblick auf den sich verhaltenden Gesamtorganismus wie folgt erweitert: „Ich behaupte also, daß das Auftreten von Bewußtsein wesentlich mit dem Zustand der Neuverknüpfung von Nervennetzen verbunden ist. Je mehr Verknüpfungsaufwand getrieben wird, desto bewußter wird ein Vorgang, und je mehr .vorgefertigte' Netzwerke für eine bestimmte kognitive oder motorische Aufgabe vorliegen, desto automatisierter und unbewußter erledigen wir diese Aufgabe. Bewußtsein ist das Eigensignal des Gehirns für die Bewältigung eines neuen Problems (ob sensorisch, motorisch oder intern-kognitiv) und des Anlegens entsprechender neuer Nervennetze; es ist das charakteristische Merkmal, um diese Zustände von anderen unterscheiden zu können." 66
61 Ebd., S. 208. 62 Ebd., S. 263 u. 267. 63 Ebd., S. 264 f. Es handelt sich hier um die Forscherteams Eckhorn u. Mitarbeiter (ab 1988) und Singer u. Mitarbeiter (seit 1992 publiziert). 64 Ebd., S. 231. 65 Ebd., S. 239. 66 Ebd., S. 233.
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Falls diese Hypothese richtig sein sollte, muß man sich allerdings viertens fragen, ob dann nicht der Modus des Bewußtseins in der Funktionsweise des Gehirnes aktual schon immer zu spät kommt, weil er aktual höchstens kontrollierend eingreifen kann. Die Versuche von Benjamin Libet sprechen zunächst einmal dafür, daß das Gefühl des Willensentschlusses „nicht die eigentliche Ursache für eine Handlung, sondern eine Begleitempfindung (ist), die auftritt, nachdem corticale Prozesse begonnen haben." 67 In den Versuchen ging dieser Begleitempfindung jedoch die Aktivierung des subcorticalen Bereitschaftspotentials für eine Bewegung um im Durchschnitt schon 350 bis 550 Millisekunden vor der Bewegung und das corticale Motorsignal im Duchschnitt noch immer um 50 bis 100 Millisekunden vor der Bewegung vorauf. Roth zieht aus derartigen Forschungen folgendes „Fazit": „Die Autonomie menschlichen Handelns ist nicht im subjektiv empfundenen Willensakt begründet, sondern in der Fähigkeit des Gehirns, aus innerem Antrieb Handlungen durchzuführen. Das Gehirn oder besser: der ganze Mensch ist also das autonome System, nicht das empfindende Ich. Diese Autonomie beruht darauf, daß das Gehirn alles, was es tut, durch das limbische System bewertet und das Resultat dieser Bewertung im Gedächtnis niederlegt. Gedächtnissystem und Bewertungssystem steuern unser Verhalten in Zusammenarbeit mit dem präfrontalen Cortex als Zentrum bewußter Handlungsplanung. Alle drei Systeme wirken auf die subcorticalen Zentren (Basalkerne, thalamische Kerne, Kleinhirn) ein, die dann die eigentliche Entscheidung treffen und das aktuelle Verhalten auslösen."68 Offenbar ist, wohin Roth selber will, ohne es immer konsequent zu realisieren, für die Rekonstruktion des organismischen Verhaltens das Vokabular der Entscheidung unangemessen, da es das Bewußtsein als Subjekt des Handelns unterstellt, auch noch in der Redeweise von unbewußter Entscheidung, statt das Bewußtsein als Verhaltensfunktion zu begreifen. Aus Roths Fazit kann m. E. folgende Konsequenz gezogen werden: Das Bewußtsein ist nicht nur als aktuale Kontrolle und gegebenenfalls als Blockierung eines anlaufenden Verhaltens funktional. Das Bewußtsein wird auch dadurch für das Verhalten funktional, daß die wertende Abspeicherung seines neuen Nervennetzes als Gedächtnis in die kommenden vorbewußten Vergleiche eingeht, es also in der nächsten Runde aktualisiert werden und damit in den Verhaltenszyklus eingehen kann. Diese Einordnung des Bewußtseins würde nicht nur der dem Common Sense geläufigen Weisheit entsprechen, vor allem aus Fehlern lernen zu müssen, und daß sich menschliche Virtuosität darin zeigt, angemessen zwischen spontanem oder intuitivem Verhalten und bewußter Rekonstruktion durch Handlungen wechseln zu können.69
67 Ebd., S. 309. 68 Ebd., S. 310. 69 Vgl. die „Schritte vom Neuling zum Experten" in: Hubert L. Dreyfus/Stuart E. Dreyfus, Künstliche Intelligenz. Von den Grenzen der Denkmaschine und dem Wert der Intuition, Reinbek bei Hamburg 1987, 1. Kapitel.
Bewußtsein aktualisiert die Eingespieltheit der zentrischen Organisationsform
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Meine Uminterpretation der Hypothese von Roth würde insbesondere mit der Orientierung der Philosophischen Anthropologie harmonieren, daß lebendiges, insofern auch menschliches Verhalten sich schon immer der Zeit nach vorweg ist, weil dieser unmittelbar antizipatorische Charakter des Verhaltens nicht ins Selbstbewußtsein verlegt werden muß. Der spontan antizipatorische Charakter gehört der zentrischen Organisationsform an, während das Reflexionspotential des Selbstbewußtseins auf die exzentrische Positionalitätsform eingespielt ist, also soziokulturell durch sprachliche Kommunikation gewährleistet wird. Man sieht hier sehr schön, wie die neurowissenschaftliche Frage in die verhaltenswissenschaftliche Frage übergeht, also wirklich ein Zusammenhang hergestellt werden muß, wie er von der Philosophischen Anthropologie von vornherein projektiert worden war.
3.12. Bewußtsein aktualisiert die Eingespieltheit der zentrischen Organisationsform auf die exzentrische Positionalitätsform Für die Philosophische Anthropologie ist, so könnte man zusammenfassend sagen, unser Bewußtsein die Einspielung des Verhaltenszyklus der zentrischen Organisationsform auf die exzentrische Positionalitätsform. Das je präsent Bewußte aktualisiert die Eingespieltheit, die wie eine Voranpassung in der Stammesgeschichte höherer Säuger hat entstehen können und im Spielverhalten jeder Kindheits- und Jugendperiode erneut eingeboren wird. Unser Bewußtsein ist der Übergang vom organismisch zentrischen Verhalten, das Umwelt gewohnheitsmäßig von sich her und auf sich hin versteht, zum implizit welterschließenden Verhalten, das in der sprachlichen Kommunikation exzentrisch expliziert wird. Für diese Einspielung bedarf die zentrische Organisationsform in der Tat einer „besonderen Art der Kennzeichnung bestimmter corticaler Prozesse", da der „Cortex der einzige Ort im Gehirn ist, in dem sensorische Afferenzen mit Eingängen aus dem Erinnerungssystem, dem limbischen und reticulären Bewertungssystem zusammenkommen und in dem außerdem ein genügend hohes Maß an Plastizität vorhanden ist, damit schnell neue Netzwerke geformt werden können." 70 Gegenüber diesem neurophysiologischen Befund bringt erst die phänomenologische Beschreibung bewußten Erlebens, die anfangs erwähnte Differenz zwischen gegenstands- und latent selbstorientierter Aufmerkung, zum Vorschein, wie wir schon immer die Welterschließung seitens der exzentrischen Positionalität in Anspruch nehmen. Sie trägt uns rückwärts wie eine Mitwelt, die „scheinbar völlig räum- und zeitlos" ist und uns als dieser Hintergrund nach vorne, in die zentrische oder frontale Gestelltheit hinein, die Sinne zu öffnen scheint zu „in aller Regel"
70 G. Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit, a. a. O., S. 297.
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Die Freilegung
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raumzeitlich deutlichen „Wahrnehmungserlebnissen". 71 Zwischen dieser rückwärtigen Unbestimmtheit und vordergründigen Bestimmtheit liegen Denken, Vorstellen und Erinnern einerseits und Emotionen und Willensbildung andererseits wie in einem Kreis der Verhaltensproportionierung. Wenn dies richtig sein sollte, dann müßte Tieren im Unterschied zu Menschen dieser „Sinn für's Negative", dieser Sinn für die Unbestimmtheit (der latenten Selbstorientierung im Hintergrund), die die Bestimmung im Vordergrund ermöglicht, fehlen. Genau dies ist Plessners These: Dem Tiere könne „noch nicht der Sinn für das Negative, in welcher Form immer, aufgegangen (sein). Abwesenheit, Mangel, Leere sind ihm verschlossene Anschauungsmöglichkeiten." 72 An anderen Menschen, im Spiegel, in der Sprache und in anderen Medien lernen wir den Gegensinn zur organismusbezogenen Zentrierungsrichtung kennen, den Gegensinn also, der uns selbst den Gleichsinn in der exzentrischen Positionalität ermöglicht. Menschen können diese über andere(s) vermittelte Wahrnehmung der eigenen Mitwelt missen, bis in den Selbstverlust hinein. Da wir diesen Gleich- und Gegensinn, den wir haben, solange unser Erinnerungsvermögen an bewußtes Erleben zurückreicht, auch zu unterscheiden lernen, können wir exzentrisch im Gegensinn zu unserer spontan realistischen Zentrierungsrichtung die Differenz zwischen der physischen Außenwelt und unserer soziokulturell erlernten Wahrnehmungswelt aufmachen: „Während unsere Sinnesysteme vieles ausblenden, was in der Außenwelt passiert, enthält umgekehrt unsere Wahrnehmungswelt auch ihrem Inhalt nach sehr vieles, was keinerlei Entsprechung in der Außenwelt hat. Dazu gehören scheinbar einfache Wahrnehmungsinhalte wie Farben und räumliches Sehen (Objekte in unserer Umwelt sind nicht farbig; unsere Umwelt ist nicht perspektivisch aufgebaut, d. h. entfernte Objekte sind nicht klein). Insbesondere aber gehören hierzu alle Kategorien und Begriffe, mit denen wir die Welt (unbewußt oder bewußt) ordnen, alles Bedeutungshafte in unserer Wahrnehmung (die Ereignisse in der Umwelt sind an sich bedeutungslos), Aufmerksamkeit, Bewußtsein, Ich-Identität, Vorstellungen, Denken und Sprache." 73
3.13. Bewußtsein und Verhalten Auch in der Tiere und Menschen vergleichenden Verhaltensforschung ist durch die enormen empirischen Fortschritte (neue Beobachtungsmöglichkeiten in der Feldfor-
71 E b d , S. 273. 72 H . Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 271. 73 G. Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit, a. a. O., S. 253. Vgl. zu den verschiedenen Arten von Selbstreferenz (des Gehirnes und der Sprache) und der Selbstreproduktion (der Selbstherstellung und Selbsterhaltung von Organismen bis Gesellschaften) H.-P. Krüger, Perspektivenwechsel, a. a. O., 1. Teil.
Bewußtsein und Verhalten
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schung und in der Interaktion unter Laborbedingungen) während der letzten Jahrzehnte eine große grundlagentheoretische Verunsicherung eingetreten. Die traditionell den Menschen zugeschriebenen Verhaltensmonopole sind durchweg und auf grundsätzliche Weise fraglich geworden. Den Entwicklungsstand der Primatenforschung resümierend schreibt der Verhaltensbiologe und Anthropologe Andreas Paul, vor allem im Hinblick auf den Vergleich mit Menschenaffen: „Grenzen, die früher als klar und unüberwindlich galten, verschwimmen bei näherer Betrachtung. Intelligenz, Bewußtsein, Sprache, Kultur nichts trennt uns so eindeutig von unseren .bescheidenen Verwandten'." 74 O b man unsere Erbsubstanz anhand der Basenpaare der D N A vergleicht (danach weicht die des Schimpansen von unserer nur um 1,6 Prozent ab, wodurch der Schimpanse näher an uns als am Gorilla zu stehen kommt) oder ob man das Sozial- und Kommunikationsverhalten der Bonobos und Schimpansen nimmt, die nicht nur die Gebärdensprache von Taubstummen, sondern vor allem Yerkish (eine künstliche Symbolsprache auf Computertastatur) im Zusammenleben mit Menschen erlernen können, die alte systematische Klassifikation der höheren Primaten scheint nicht mehr zu stimmen. „Viele Forscher tendieren dazu, die klassische Familie der Pongiden aus der Systematik zu tilgen und die .großen Menschenaffen' in die Familie der Hominiden mitaufzunehmen." 75 Einige Forscher schlagen darüber hinaus vor, uns Menschen mit den Bonobos und Schimpansen in einer neuen gemeinsamen Gattung, genannt Homo, zu vereinigen, wofür übrigens auch die relative Größe des Neocortex im Verhältnis zum restlichen Gehirn sprechen könnte. 7 6 Immerhin scheint, nach allem, was die Verhaltensforscher über die Möglichkeit eines antizipatorischen „Todesbewußtseins" wissen, „die Kluft zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Primaten tief zu sein." 7 7 Todesriten (Totenfeiern, Begräbnisse etc.), die das antizipatorische Todesbewußtsein zur Lebbarkeit hin bannen, gelten kulturgeschichtlich zu Recht als Zeichen für spezifisch menschliche Kulturen. Die Konsequenz dessen, was Plessner den spezifisch menschlichen „Sinn für's Negative" nennt (s. o.), besteht darin, sich seinen eigenen Tod und seine eigene körperliche Abwesenheit aus einer exzentrischen Position vorstellen zu können, was natürlich allen spontanen Lebensimpulsen aus der funktionalen Mitte des eigenen Körperleibes heraus widerspricht, also im Verhalten eines Ausgleiches bedarf. „Die Vertrautheit mit dem Negativen, die den Tieren fehlt, bildet ihrerseits die Grundlage für die Todeserfahrung und die Sorge um das eigene Leben." 7 8
74 Andreas Paul, Von Affen und Menschen. Verhaltensbiologie der Primaten, Darmstadt 1998, S. 235. 75 Ebd., S. 5, vgl. S. 224 ff. 76 Ebd., S. 6 , 2 0 4 f. 77 Ebd., S. 220 f. 78 Helmuth Plessner, Elemente menschlichen Verhaltens (1961), in: GS VIII, S. 231.
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3.14. Die tierische Dominanz der zentrischen Organisationsform und die spezifisch menschliche Dominanz der exzentrischen Positionalitätsform: Vom Spielverhalten zum Verhaltens spiel Insofern scheinen die anderen Hominiden nur inkonsequente Exzentriker zu sein, in einer noch zu bestimmenden Grenze ihrer Zentrizität, während wir Menschen den konsequenten Weg exzentrischen Daseins ausbilden. Bei den anderen Hominiden scheint die zentrische Organisationsform im Ganzen gesehen noch die Verhaltensmöglichkeiten einer exzentrischen Positionalitätsform zu dominieren, die in der elterlichen Fürsorge und im jugendlichen Spielverhalten der höheren Säuger anhebt (s. o.). Demgegenüber verkehrt sich bei uns Menschen offenbar die Dominanz zugunsten der Verhaltenspotentiale, die sich der zentrischen Organisationsform aus der exzentrischen Positionalitätsform eröffnen, die wiederum soziokulturell tradiert und akkumuliert wird, insbesondere durch eine selbstreferentiell werdende Sprachkommunikation. Wie könnte man sich diese Dominanzverschiebung innerhalb eines zentrischexzentrischen Verhaltenskontinuums von Hominiden vorstellen? Was der ethologische (verhaltenswissenschaftliche) Vergleich der Ontogenesen (Individualentwicklungen) dafür ergibt, möchte ich anhand der Spielkonzeption verdeutlichen, die sich auch für unser stammesgeschichtliches (phylogenetisches) Ubergangsfeld von den Vorfahren der heutigen Menschenaffen und Menschen her fruchtbar machen läßt. Ich hatte oben schon Plessners Rückgriff auf Buytendijks Aufwertung des Spielverhaltens erwähnt, an die sich auch Arnold Gehlen hält, an den wiederum der Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt anschließt. 79 Die vergleichende Untersuchung tierischen Spiels „lehrt zunächst, daß mit Ausnahme einiger weniger Vögel nur die Säugetiere spielen - Tiere also, die sich dadurch auszeichnen, daß sie sehr viele Fertigkeiten über Lernprozesse erwerben, und zwar über selbsttätiges Einüben. Der Übungswert des Spiels darf als erwiesen gelten; es gibt dafür auch experimentelle Befunde." 8 0 Auch hinsichtlich der genannten Vögel tritt das Spielen im Zusammenhang von Brutpflege und Lautproduktion auf. Spielen scheint einerseits den genannten Übungswert zu haben und andererseits um so aus-
79 Vgl. Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und Stellung in der Welt (1940), in: ders., Gesamtausgabe, hg. v. Karl-Siegbert Rehberg, Bd. 3.1., Frankfurt/M. 1993, S.240f., wo Gehlen auf Buytendijks Buch (Anmerkung 45) zurückgreift, allerdings nur, um die Spielkonzeption sogleich wieder durch den „Zucht"-Gedanken einzugrenzen (ebd., S.242, 428 ff.), während Plessner die Spielkonzeption bis in die Gesellschaft hinein durchzieht. Vgl. Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Grundriß der Humanethologie, München/Zürich 1995, S. 720, wo der Autor auf Gehlen verweist, ohne Buytendijk zu erwähnen. 80 I. Eibl-Eibesfeldt, Die Biologie des menschlichen Verhaltens, a. a. O., S. 794.
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giebiger zu werden, je entlasteter und entspannter die Tiere durch Fürsorge oder ökologische Nischenbildung sein können, insbesondere also in der Jugendphase. In den meisten Fällen verstehen wir intuitiv oder durch Signale (Schwanzwedeln, Spielgesicht von Menschenaffen oder Menschen) den Unterschied des Spielverhaltens gegenüber dem „ernsten" Verhalten, etwa zwischen dem Ernstkampf und dem Spielkampf zweier Hunde. Was diese Hunde im Falle ernsthaften Dominanzverhaltens nie tun würden, tun sie im Spielverhalten: ,„frei' die Rollen von Verfolger und Verfolgtem wechseln", wofür man eine „gesonderte Spielmotivation" annehmen müsse. Was macht also die Spezifik des Spielverhaltens aus? „Die Bewegungen wären demnach im Spiel von den ihnen normalerweise vorgesetzten Instanzen abgehängt, und deshalb fehlt wohl die Emotionalität des Ernstaffektes, die bei autochthoner Aktivierung eines Instinktes zu beobachten ist. Der Spieldrang aktiviert gewissermaßen heterochthon die verschiedenen Bewegungsweisen. Sie werden dadurch wie Werkzeughandlungen frei verfügbar. Das Tier kann auf diese Weise mit seinem eigenen Bewegungskönnen experimentieren." 81 Diesem Abhängen einer Verhaltenseinheit von ihrem vorherigen (instinktiven) Antrieb entspricht physiologisch, wie unschwer zu erkennen ist, die Hirnfunktion, Sensorik und Motorik neuronal neu zu vernetzen. Der Unterschied zum Menschen scheint dann darin zu bestehen, daß bei letzterem „bereits das Alltagsverhalten - insbesondere wenn er sprachlich handelt - " weniger starr ist und „Züge der spielerischen Freiheit" trägt, die zudem zu einem bis ins Alter fortbestehenden, eben „persistierenden Jugendmerkmal" werden.82 Wir sind also nicht nur die im Vergleich zu den schnell erwachsen werdenden Tieren zu früh Geborenen, sondern die, welche ihr Jugendmerkmal an Spielverhalten auf den ganzen Lebenszyklus auszudehnen suchen. Unter dem Schutz der soziokulturell erfüllten Positionalitätsform exzentrischer Verkörperungen, dieser generationenübergreifenden Verselbständigung des Fürsorgeprinzips, gelingt die Dominanzverschiebung, so würde ich zu sagen vorschlagen, vom Spielverhalten der anderen Säuger, das in die letztlich instinktiven Verhaltensbahnen zurückläuft, in die Verhaltensspiele der Gesellschaft und Kultur von Menschen. Dabei ist im Tier-Mensch-Übergangsfeld sicher die entscheidende Hürde gewesen, das Verhaltensspiel durch selbstreferentielle Sprache aus dem Spielverhalten heraus zu transformieren. Wenn Spielverhalten bedeutet, daß Verhaltensweisen „aus verschiedenen Funktionskreisen" (wie Futter, Paarung, Jagd, Flucht etc.) „frei kombiniert" werden können83, muß man sich in Ergänzung von Eibl-Eibesfeldt fragen, wie das Freigewordene wieder gebunden wird, damit keine grundsätzliche Verhaltensunsicherheit oder gar
81 Ebd., S. 795. 82 Ebd., S. 796. 83 Ebd., S. 721.
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Lebensuntüchtigkeit entsteht. Dem Freiwerden „von" entspricht ein Freiwerden „zu" neuem Gebundensein. Dafür bietet sich im äußeren Verhalten die weitere Symbolisierung desselben bis zur selbstreferentiellen Versprachlichung des Verhaltens und im organismusinternen Kontext die Entwicklung der selbstreferentiellen Funktionsweise des Gehirnes an (oben genannte „Eigensignale" und „Metarepräsentationen"). Man kann sich nun den Ubergang vom Spielverhalten zum Verhaltensspiel durch das Sprechen von den verschiedenen Verhaltensfunktionen her vorstellen, wie nämlich diese ineinander gegriffen haben könnten, wofür es auch noch ontogenetisch betrachtet Anhaltspunkte gibt. Einerseits könnte der Ausbau des neugierigen Spielverhaltens zu einer Affektentlastung und zu einer Perfektionierung des manipulatorischen Werkzeugeinsatzes über die Latéralisation (topologische Spezialisierung der Hirnareale bzw. -hemisphären) bis in das Wachstum und die Differenzierung des Gehirnes hinein geführt haben, unterstellt man ökologisch gesehen die üblichen Annahmen über ein Savannenhabitat und damit die Stimulierung aufrechten Ganges. Insofern erscheint das Spielverhalten als „Voraussetzung" für das Sprechen. 84 Andererseits mehren sich auch unter Verhaltensforschern die Argumente dafür, daß das Sprechen aus den Funktionskreisen der Geschlechterteilung und -kooperation (Werbung, Fortpflanzung, Brutpflege bzw. Aufzucht), aus deren Ausdrucksgebärden und Signalsprachen, herkommt. Letztere könnten selber einer spielfömigen Abhängung unterlegen gewesen sein. „Durch Sprache wird die Interaktion distanzierter, sie findet in einem emotionell mehr entlasteten Feld statt." 8 5 Letztlich entspricht aber dem multifunktionalen Spielverhalten die Multifunktionalität der menschlichen Sprache, ihre metaphorische (s. o.) Ablösbarkeit und Übertragbarkeit, die wiederum Intelligenz erfordern. Grundlage für die Hypothese vom im weiteren Sinne sozialen Ursprung der Intelligenz ist die Annahme, „daß soziale Beziehungen mit ihrem komplexen Gemisch aus Kooperation und Konkurrenz eine größere Herausforderung an die geistigen Fähigkeiten darstellen als die feindlichen Kräfte der Natur'." 8 6 Dafür spricht erstens, daß die erwähnte relative Neocortexgröße (im Verhältnis zum restlichen Gehirn) mit der Anzahl der Artgenossen korreliert, „mit denen Primaten üblichwerweise in einer Gruppe zusammenleben und kooperieren". Zweitens die im Vergleich zu Halbaffen „komplexere Bündnispolitik" von Menschenaffen und Menschen, die gezielt um die Gunst ranghöherer Individuen zu konkurrieren, und drittens lasse sich bei Primaten ein „signifikanter Zusammenhang" zwischen der Häufigkeit taktischer Täuschungen von Artgenossen und der Neocortexgröße nachweisen. 87
84 85 86 87
Vgl. ebd., S. 721 u. 747. Ebd., S. 744. A. Paul, Von Affen und Menschen, a. a. O., S. 239. Vgl. ebd., S.240f.
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Die Versprachlichung des Spielverhaltens mündet in die dem Menschen eigentümlichen „Politiken" 88 des Verhaltensspiels. Sie eröffnet medial Gesellschaft, die Welt im Unterschied zur Umwelt. Es zeigt sich, daß die Philosophische Anthropologie als Orientierungsrahmen noch immer oder schon wieder Sinn macht, nicht nur in der verhaltenswisssenschaftlichen Forschungslage, sondern mehr noch in der Frage ihres Zusammenhangs zur neurobiologischen Konstellation und im Ganzen des Überganges zur Sozial- und Kulturanthropologie, auf die wir in den nächsten beiden Kapiteln näher zu sprechen kommen werden. Zum Abschied aus dem naturphilosophischen Aufriß der condition humaine, um die es in diesem Kapitel ging, habe ich die Abbildung einiger Gesichtsausdrücke von Schimpansen ausgewählt, von denen wir die meisten ohne große Schwierigkeiten sogleich zu deuten wissen, als stammten sie aus den Comic strips unserer Kinder und Jugendlichen. Wir wollen für die nächsten Kapitel hoffen, daß sich das Menschsein nicht darauf reduziert, diese interaktiven Gesichtsausdrücke dank ausgerechnet der exzentrischen Positionalität nur besser als schon Schimpansen verstellen zu können. Schimpansen erkennen nicht nur ihr eigenes Spiegelbild, so daß sie Spiegel in ihre Körperpflege einbauen, sondern malen auch eine Art von „abstrakter Bewegungsmalerei" 89 , in der sie ihre Individualität und ihren sozialen Rang verkörpern, und die sich in den modernen Kunstgalerien sehen lassen kann. Es gibt keine deutlicheren Evidenzen dafür, daß in diesem Falle die Selbstbezüglichkeit des Organismus auch die Form von Selbstbewußtsein angenommen hat. Wer die Spiegel-, Mal- und Sprachversuche mit Schimpansen ablehnt, weil es sich nicht um die Freilandbeobachtung der reinen Schimpansennatur handele, da man die Schimpansenjungen ihr Spielvermögen in dem soziokulturellen Kontext von Interaktionen mit Menschen austoben läßt, hat die Pointe noch nicht begriffen: Die zentrische Organisationsform mit einem selbstreferentiell funktionierenden Gehirn, das also auch im exzentrischen Gleichsinn mit dem Positionsfeld lernen kann, vorausgesetzt, gehört die ganze Differenz zwischen gegenständlich und latent selbstorientiertem Bewußtsein in den Verhaltenskontext einer exzentrischen Positionalitätsform. Selbstbewußtsein kann nirgendwo sonst erscheinen. Findet man für den evolutionsgeschichtlich jungen Neocortex der Großhirnrinde, der die selbstreferentielle Umkehr der Zentrierungsrichtung gestattet, und für das Spielverhalten der Säugerprimaten als der dazu passenden, eben symbolisch exzentrierenden Positionsform, Entsprechungen, dann läßt sich der ganze Ansatz auch auf Delphine, Wale oder womöglich unbekannte Lebensformen übertragen. Lassen wir uns durch keine bestimmte organismische Gestalt irritieren, was übrigens Kinder spontan auch nicht tun. „Mensch sein ist an keine bestimmte Gestalt gebunden und
88 Vgl. auch I. Eibl-Eibesfeldt, Die Biologie des menschlichen Verhaltens, a. a. O., S. 721. 89 Ebd., S. 912.
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könnte daher auch ... unter mancherlei Gestalt stattfinden, die mit der uns bekannten nicht übereinstimmt. Gebunden ist der Charakter des Menschen nur an die zentralistische Organisationsform, welche die Basis für seine Exzentrizität abgibt." 9 0 Dieser Zusammenhang ist für uns wegen der stammesgeschichtlich gemeinsamen Vorfahren in jedem Schimpansengesicht ohne Umstände einsehbar.' Ich will nicht verhehlen, daß mich persönlich der Blick von Schimpansen in dem Freigehege Bush Gardens/Florida im März 1993 aus nächster Nähe wie dieser Blitz aus heiterem Himmel traf.
90 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 293.
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ίΆ.
Einige Gesichtsausdrücke der Schimpansen: a) Anstarren („ärgerlich"); b) WaaGebell („schimpfen"); c) Kreischen (ängstlich-ärgerlich); d) stummes Zähnezeigen mit gewölbten Lippen (ängstlich-zugeneigt?); f) stummes Zähnezeigen mit offenem Mund; g) Schnute, Schmollmund; h) Jammergesicht („whimper face"); i) Heulgesicht (Frustration, Trauer); j) „hoot-face", freundliche Zuwendung ausdrückend; k) Spielgesicht
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Die Freilegung von Etwas vor dem Nichts
Das Spielgesicht oder entspannte Mund-offen-Gesicht eines sechs Jahre alten männlichen Schimpansen
4. Zwischen Lachen und Weinen I: Die Individualisierung der Person
4.1. Zwischenbilanz der ersten Hälfte: Erschließung der Mitwelt In der Einleitung habe ich die Philosophische Anthropologie als einen Anwalt des Common Sense in der Frage nach dem Menschen eingeführt. Es ist zwar unvermeidlich, diese Frage erneut zu stellen. An sechs exemplarischen Themen wurde das Bedürfnis nach einer minimalen Grundorientierung des Gemeinsinnes verdeutlicht. Aber der Common Sense will zu Recht auch nicht zum Opfer einer endgültigen, perfektionistischen oder absoluten, ihm jede Freiheit nehmenden Beantwortung dieser Frage werden. Seine öffentliche Beratung hält die Frage offen und ihm überantwortet. In ihr gilt es, seine Besinnung auf sich gegen die traditionelle Hegemonie im Selbstverständnis westlich modernisierter Gesellschaften zu erreichen. Die Spezifik des Lebendigen, darunter vor allem des menschlichen Daseins, geht in den dualistischen Fehlalternativen, alles entweder für Materie oder Geist zu halten, unter. Im erfolgreichen Falle wird zwar das Materielle technologisch verfügbar und, entsprechende Märkte vorausgesetzt, auch privater Aneignung anheimgestellt. Aber der totale Funktionsglaube an die Verkörperung von allem führt in ein nihilistisches Klima, in dem nichts mehr, nicht einmal mehr etwas Besseres oder Schlechteres, legitimerweise öffentliche Geltung beanspruchen zu können scheint. Dieser nihilistische Ausgang eines technologisch erfolgreichen Dualismus leugnet die Frage nach dem Menschen, die jedoch in jeder Interaktion von Menschen mit neuen Technologien und mit jeder neuen Menschengeneration wieder auftaucht. Wir sind kein festzustellendes Tier, dem man seinen Leib für seine endgültige Verkörperung austreiben könnte. Wir müssen uns immer erneut geschichtlich zu dem machen, was wir im Doppelaspekt schon immer sind, in dem das Lebendige zwischen dem Materiellen und dem Geistigen aufscheint. Für diese Begegnung mit den anthropologisch relevanten Phänomenen habe ich methodisch einen Viererschritt vorgeschlagen, der Strukturen und Funktionen des spezifisch Menschlichen aufzuschließen gestattet. Er kann propädeutisch in der öffentlichen Diskussion einen Orientierungsrahmen abgeben, der der Besinnung des Common Sense, den wir alle teilen, in seiner unabweisbaren Frage nach dem Menschen dienen mag.
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Im ersten Kapitel wurden die beiden Konstituentien unseres Daseins herausgearbeitet, in denen sich der Common Sense schon immer bewegt, und die ihm auch in der Gegenwart die Frage nach dem Menschen unvermeidbar werden lassen. Niemand von uns kann den Zugang zu dem ihm oder ihr eigenen Körperleib überspringen. Er drängt sich uns unwillkürlich auf und ist im Normalfall auch willkürlich zu bewegen, was beides in seiner Unmittelbarkeit seinen Leibcharakter ausmacht. Aber er ist uns ebenfalls mittelbar als Körper wie andere Körper auch gegeben, wodurch wir ihn in der Differenz zwischen Leibsein und Körperhaben erleben. Reicht unsere individuelle Urteilskraft spontan nicht aus, die einander gegenläufige Verleiblichung und Verkörperung angemessen lebbar zu halten, stehen uns die soziokulturellen Umwege durch die sprachliche Kommunikation in indirekte Prozesse der Reflexion und Vermittlung offen, eine angemessene Balance zu erlangen. Bei aller gesellschaftlich kommunikativen Beratung bleibt der individuellen Urteilskraft der Kategorische Konjunktiv der menschlichen Lebensführung aufgegeben. Es gilt, die leiblich unbedingte, für einen selber unvertretbare N o t im Lichte der für sie relevanten soziokulturellen Potentiale angemessen zu wenden. Eben dieser Kategorische Konjunktiv, unsere je eigene Körper-Leib-Differenz im Kontext des kommunikativen Austausches zwischen individueller und soziokultureller Urteilskraft praktizieren zu können, unterscheidet uns offenbar von anderen tierischen Lebensformen. Wie die Vergegenwärtigung der Erfahrungen des Gemeinsinns mit unseren Haussäugern zeigt, teilen wir zwar mit ihnen Bewußtsein (im Sinne einer nichtinstinktiven, individuell erlernten Kopplung zwischen Sensorik und Motorik), wofür insbesondere unser gemeinsames Spielvermögen in der Sozialreihe der Säuger spricht. Während solche Tiere aber ihre Körper-Leib-Differenz unmittelbar als eine Einheit zu aktualisieren scheinen, in der ihr Bewußtsein und Spielsinn an ihren sensomotorischen Verhaltenskreis gebunden bleibt, fällt sie uns an uns selber bereits unmittelbar als eine Differenz auf, die in problematischen Fällen der genannten soziokulturellen Umwege bedarf, um angemessen lebbar werden zu können. Der Common Sense ist sich aber in vielen Fragen der begrifflichen Unterscheidung seiner eigenen Praktiken unsicher. Er läßt dann nicht nur der individuell verschiedenen Lebenserfahrung breiten Raum, sondern rät zur Konsultation mit den Expertenkulturen, gewiß nicht, um sich das Zepter aus der Hand nehmen zu lassen, wohl aber, um die Probleme im Streit der verschiedenen, sich häufig widersprechenden Experten wenigstens genauer stellen zu können. In diesem Sinne haben wir im zweiten Kapitel gefragt, ob nicht die Kunstgeschichte des letzten Jahrhunderts, wenn sie so interpretiert wird, als ob es sich bei ihr um eine Art von anthropologischem Experiment gehalten hat, etwas zu der Frage nach der funktionalen Einheit unserer Sinne, eben nach dem Sinn der Sinne, beisteuern kann. Und im dritten Kapitel stand dann die Frage im Vordergrund, ob nicht die schon in der Einleitung angesprochenen, für die Menschenfrage besonders interessanten Neuro- und Verhaltenswissenschaften Forschungsergebnisse vorweisen können, die für den beabsichtigten Orien-
Zwischenbilanz der ersten Hälfte
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tierungsrahmen einer Philosophischen Anthropologie relevant sind. Im Unterschied zur Einleitung und dem ersten Kapitel, wo ich oft ad, hominem die Urteils- und Schlußpraxis des Gemeinsinnes zu erhellen versucht habe, um die Philosophische Anthropologie vorstellen und darauf beziehen zu können, habe ich mir also im 2. und 3. Kapitel die Freiheit genommen, die expertenkulturellen Erfahrungen aus den relevanten Künsten und Naturwissenschaften auf die begrifflichen Einsichten der Philosophischen Anthropologie zuzuspitzen. Die neueren Künste nehmen für ihre - in der Öffentlichkeit indirekte - Entdeckung der Individualisierungsmöglichkeiten des Leiblichen weder sakrale noch alltagsrealistische, aber derart außeralltägliche Verkörperungen in Anspruch, daß man diese Künste intellektuell in die moderne Tradition kopernikanischer Revolutionen stellen kann. Die perspektivische Relativierung des bislang für absolut gehaltenen Standpunktes, seiner Seh- , Bewegungs-, Hör- und Lesegewohnheiten, führt nicht nur zur Begeisterung für die neuen Medien. Diese Situierung des Vertrauten und vermeintlich Nächsten in der Peripherie, die aus einem bedrohlich fremden Nirgendwo beobachtet wird, provoziert auch eine ausdrucksstarke Rückbesinnung auf die Individualisierungsnot des Leiblichen. Wir sind diesen kunstgeschichtlichen Bewegungen und Gegenbewegungen unter dem Stichwort von Impressionismus/Kubismus und Expressionismus/Symbolismus in einem intellektuell verallgemeinerten Sinne nachgegangen. Die intellektuelle Verwandtschaft der modernen Künste mit dem kopernikanischen Revolutionstyp hat aber philosophiehistorisch zu der Fehlorientierung geführt, die Künste auf die Subjektivität des Bewußtseins zu verpflichten. Immerhin verdanken wir dieser romantischen Fehlidentifikation lehrreiche Kunstexperimente, in denen das Bewußtsein Schritt für Schritt von der Sensorik und Motorik unseres eigenen Körpers so weit abgekoppelt wurde, daß das derart verselbständigte Bewußtsein dem Träumen und der Drogenwirkung immer ähnlicher wurde, bis es schließlich als an sich nichtig auffallen konnte. Wer an die Spezifik des Menschen als im Kern des Bewußtseinswesens geglaubt hat, mag ob dieses nihilistischen Ausganges in avantgardistischen Kunstbehaviorismus bestürzt gewesen sein. Aber das Subjektivitätsproblem der Künste läßt sich auch anders, eben als die Frage nach der Unmittelbarkeit des Leiblichen in der Organisations- und Positionsform von Lebewesen verstehen. Dafür spricht jedenfalls das spezifisch sprachliche Zusammenspiel, in das der sensomotorische Reflexionskreis der Stimme mit dem im Auge-Hand-Feld visuell und taktil Erlebbaren kommt. Was wir menschliches Verhalten nennen, ist wie eine wechselseitige Ubersetzung zwischen der Fülle des sensomotorisch Erlebbaren, die am ehesten Schauspielerei gewährt, und dem Gebrauch von Metaphern, an den der sprachliche Reflexionsprozeß anknüpfen kann. Auf diese intermodale Lösungsrichtung hin ergaben sich im zweiten Kapitel die intramodalen Grenzen der Visualisierung und der Musikalisierung unserer Verhaltenssinne. Schließlich konnten wir das dritte Kapitel mit der freudigen Botschaft beginnen, daß in den heutigen Neurowissenschaften die phänomenologische Selbstbeschreibung des bewußten Erlebens überwiegend respektiert wird, statt - wie früher - durch
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Zwischen Lachen und Weinen I: Die Individualisierung der Person
methodische Vorentscheidungen (entweder introspektiver oder behavioristischer Art) von vornherein ausgeschlossen zu werden. Gleichwohl ist unklar, was dieser Respekt vor Phänomenen in der erfahrungswissenschaftlichen Erklärung, in dem Zusammenhang zwischen dem Erklärungsbedürftigen (explanandum) und dem Erklärenden (ιexplanans), bedeutet. Die Philosophische Anthropologie schlägt in dieser anhaltend komplexen Forschungslage vor, den erklärungsbedürftigen Doppelaspekt bewußten Erlebens, seine gegenstands- und seine latent selbstorientierte Aktivitätsrichtung, in einem bestimmten Zusammenhang der neurowissenschaftlichen und der verhaltenswissenschaftlichen Fragerichtung erklärbar werden zu lassen. Dieser Zusammenhang bestand dann in der folgenden Hypothese, die zunächst von unserer organismischen Seite her, sodann umweltseitig erschlossen wurde: D e r Doppelaspekt bewußten Erlebens könnte in der zentrischen Organisationsform von uns als Lebewesen durch eine selbstreferentielle Funktionsweise des Gehirnes ermöglicht werden. Diese Funktionsweise müßte es erlauben, die Zentrierungsrichtung von der Funktionsmitte des eigenen Körpers her gleichsam virtuell umzukehren auf die möglichen Funktionsmitten im Positionsfeld (der sensomotorisch relevanten Umwelt) hin. Alles, was wir in diesem Falle zwischen den beiden Zentrierungsrichtungen bewußt erleben können, schiene dann gegenständlich konturiert, da latent selbstorientiert zu sein. Es schiene also im Doppelaspekt gegenläufiger Zentrierungsaktivitäten auf. Die gleichzeitige Umkehrung der Zentrierungsrichtung verstößt zwar nicht gegen die zentrische Organisationsform, könnte diese aber doch paralysieren, jedenfalls in eine arge Verhaltensunsicherheit stürzen. Welche Zentrierungsrichtung hat aktual Vorrang? Warum gehen Lebewesen, die sich im Doppelaspekt zentrieren können, was ja auch heißt, daß sie zuungunsten ihres organismischen Selbstes und zugunsten einer ihnen möglich scheinenden Funktionsmitte in der Umwelt handeln könnten, in der Selektion nicht unter? Diese Fragen zeigen schon, daß der organismusseitige Lösungsvorschlag nicht ausreicht, weil diese zu sich selbst gegenläufige, mit dem Positionsfeld gleichsinnige Zentrierungsrichtung von dort her abstützungsbedürftig ist. Diese zentrische Organisationsform bedarf einer ihr exzentrischen Positionalitätsform, deren Potential sich in dem Sozialverhalten der Reihe höherer Säuger, vor allem der Primaten bzw. H o m i niden, als besondere Tendenz abzeichnete. Die kritische Schwelle, an der Spielverhalten in Verhaltensspiel umschlagen könnte, ist eine Frage danach, was in der Vorangepaßtheit des Verhaltens überwiegt, noch die zentrische Organisationsform oder bereits die exzentrische Positionalitätsform. Die Symbolisierung des Verhaltens im von außen beobachtbaren Kontext müßte im letzteren Falle mit einer Art von Eigensignal des selbstreferentiellen Gehirns korrespondieren (für das Gerhard Roth in der Tat das Bewußtsein hält). Es gäbe also, funktional betrachtet, eine Angewiesenheit derjenigen zentrischen Organisationsform, deren Zentrierungsrichtung (gemessen am eigenen Körperleib) gleichzeitig entgegenläuft, auf eine diese Exzentrierung begünstigende, eben exzentrische Positionalitätsform.
Das Strukturproblem
der Mitwelt
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Plessner nannte das, was dieses Zusammenspiel zwischen Organisations- und Positionalitätsform strukturell ermöglicht, die „Mitwelt", aus der sich dann die unserem Bewußtsein schon immer offenbare Differenz zwischen Außen- und Innenwelt ergibt. O b Außenwelt, ob Innenwelt, jede Welt erscheint im Doppelaspekt zwischen „Gegenstandsstellung" und „Selbststellung". Es ist dieser Doppelaspekt, der „Welt" von „Umwelt" unterscheidet, zu der nur gehört, was für den sensomotorischen Funktionskreis relevant ist.1 Nach meinem Verständnis aktualisiert unser Bewußtsein die „Eingespieltheit" 2 , in der wir uns als Organismen schon immer (wie eine Voranpassung) auf unsere soziokulturelle Lebensform hin aktivieren. Das Bewußtsein ist die implizite Einspielung, die in der sprachlichen Kommunikation dann explizit gemacht werden kann, wie wir es schon einleitend auf dem soziokulturellen Umwege der Reflexion und Vermittlung gesehen hatten.
4.2. Das Strukturproblem der Mitwelt: unsere Eingespieltheit (Vorangepaßtheit) Worin also läuft nun die bisherige Gedankenentwicklung zusammen? - Gewiß leben auch schon Säugetiere in Mitverhältnissen, was evolutionstheoretisch unter den Titeln der „co-evolution" und „co-existence", insbesondere aber der Vorangepaßtheit (preadaptiveness) zwischen Population und Umwelt diskutiert wird, die aktuale Anpassungsaktivitäten erst ermöglicht. Insofern gibt es schon innerhalb der Biowissenschaften eine soziokulturelle Wende zu den Tiersozietäten und Populationskulturen hin. Wir müssen indessen versuchen, die das menschliche Dasein ermöglichende Mitwelt genauer zu fassen, was - ähnlich wie schon deren bisherige Erschließung - nur indirekt durch Phänomene hindurch geht. Naturphilosophisch mußten wir im Resultat des Problemaufrisses die Mitwelt als jene Struktur annehmen, die die Eingespieltheit der zentrischen Organisationsform auf die exzentrische Positionalitätsform ermöglicht (vgl. 3.12. u. 3.14). Das uns geläufige Bewußtsein in seinem Doppelaspekt konnte so als eine organismusseitige Aktualisierung dieses mitweltlichen Strukturpotentials an Eingespieltheit vorgestellt werden. Die Verwirklichung des Potentials aber bleibt ein sensomotorisch funktionales Verhalten des Lebewesens in seiner (Um)Welt. Als Mitwelt kann nur fungieren, was die besprochene doppelte Rückbezüglichkeit erlaubt. Wir hatten die (re)zentrische Rückbezüglichkeit der Organisationsform gegenüber dem Positionsfeld (gegensinnig zu diesem) auf sich (als die funktionale Mitte des Lebewesens) und die exzentrische Rückbezüglichkeit der Organisations-
1 Vgl. Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie (1928), Berlin 1975, S. 295-300. 2 Ebd., S. 202.
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Zwischen Lachen und deinen I: Die Individualisierung
der Person
form im Gleichsinn mit der Positionalitätsform auf sich (als ein anders mögliches Funktionszentrum im Positionsfeld) unterschieden (vgl. 3.8. u. 3.10.). Nur in dem Maße, in dem es eine Mitwelt dieser beiden Rückbezüglichkeiten gibt, muß nicht das Experiment, das die Natur mit unserer Spezies zu veranstalten scheint, in den Hiatus auseinanderbrechen, die beiden gegensinnigen Zentrierungsrichtungen aller möglichen Verhaltensweisen nicht mehr verschränken zu können. Da die Mitwelt nicht metaphorisch gesprochen - wie die Außenwelt die Person „umgibt" und auch nicht wie die Innenwelt die Person „erfüllt", sondern die Person „trägt", „indem sie gleichzeitig von ihr getragen und gebildet wird", ist sie eine Frage nach den Medien, die „zwischen mir und mir, mir und ihm" 3 (dem anderen) die Verschränkung der Zentrierungsrichtungen im Verhalten ermöglichen. Nicht alles kann Medium sein, aber auch nicht alle möglichen Medien können ausgerechnet als Mitwelt fungieren, deren, wie man sagen könnte, Stiftungsfunktion von Welthaltigkeit (nicht nur Umweltartigkeit) übernehmen. Rein innerorganismische Quasi-Medien oder rein außerorganismisch technische Medien scheiden insofern aus, als sie keinen strukturellen Resonanzeffekt zwischen den beiden Rückbezüglichkeiten zustande bringen, also für deren Proportionierung untauglich sind. Plessner weist auch und gerade hier, in der Frage nach der Mitwelt, energisch jede methodisch einseitige Vorentscheidung ab, sei es zugunsten der inneren Existenz (Heidegger), sei es zugunsten der äußeren Verhältnisse (Milieutheorien, Darwinismus), sei es im Namen der soziokulturellen Veredelung des Menschen durch seine Vergemeinschaftung (Nationalsozialismus oder Bolschewismus) oder seine Vergesellschaftung (Marktliberalismus).4 Sie alle wollen sich durch die gleichsam avantgardistische Produktion eines verselbständigten Bewußtseins die Mitwelt vindizieren. Bewußtsein aktualisiert dann nicht mehr, sondern verzehrt die Mitwelt, aus der als Potential es aktualisieren kann. Die Mitwelt wird so entweder in die Innenwelt zu ziehen versucht, um sie dort Seelentechniken unterwerfen zu können, oder in die Außenwelt, als ob sie ohne katastrophische Verkehrung sozialtechnisch zu beherrschen wäre. Gegen alle derart ausschließlichen Usurpationsversuche der Mitwelt, mit der die Eingespieltheit der menschlichen Lebensform überhaupt auf dem Spiele steht, beharrt Plessner - in einer „Abgekehrtheit vom Bewußtsein" - auf folgendem: „Real ist die Mitwelt, wenn auch nur eine Person existiert, weil sie die mit der exzentrischen Positionsform gewährleistete Sphäre darstellt, die jeder Aussonderung in der ersten, zweiten, dritten Person Singularis und Pluralis zu Grunde liegt." 5
3 Ebd., S. 303, vgl. zum Medium-Problem ebd., S. 334. 4 Vgl. zur gleichzeitigen Kritik an all diesen Positionen H . Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus (1924), in: GS V. 5 Ders., Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 304.
Das Strukturproblem
der Mitwelt
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Es gehe nicht um eine „Wir-Sphäre", die von vornherein kompensatorisch trösten oder verflucht werden müßte, sondern um die „Wir-Form des eigenen Ichs" 6 , in der sich das Ich gegenüber anders Seienden erst bilden und pluralisieren kann, indem es von diesen her seinen Bruch verschieden zu erleben vermag, eben „fragmentarisch" oder „aspekthaft" 7 . „Der Mensch sagt zu sich und anderen Du, Er, Wir - , nicht etwa darum, weil er erst auf Grund von Analogieschlüssen oder einfühlenden Akten in Wesen, die ihm am konformsten erscheinen, Personen annehmen müßte, sondern kraft der Struktur der eigenen Daseinsweise. An sich selbst ist der Mensch Ich, d. h. Besitzer seines Leibes und seiner Seele, Ich, das nicht in den Umkreis gehört, dessen Mitte es trotzdem bildet. Daher steht es dem Menschen versuchsweise frei, diese OrtZeitlosigkeit der eigenen Stellung, kraft deren er Mensch ist, für sich selber und für jedes andere Wesen in Anspruch zu nehmen auch da, wo ihm Lebewesen gänzlich fremder Art gegenüberstehen." 8 Diese allein auf das Strukturpotential abhebende anthropologische Thematisierung der Mitwelt hört sich für uns westlich Modernisierte mit einem sozial- und kulturtechnisch gepflegten Ich-Bewußtsein befremdlich an, gewinnt aber schnell an Plausibilität, sobald wir die kulturgeschichtliche Variationsbreite bedenken, in der die Anerkennung und Nicht-Anerkennung von (für uns fiktiven oder realen) Wesen als Personen tatsächlich stattgefunden hat, von Tieren, Naturkräften und Fetischen über Fabel- und Götterwesen bis zur Geschichte der relativ jungen Menschenrechte und der daran gemessenen Kolonialismen, Rassismen und Ethnozentrismen. Der Zugang wird noch plausibler, wenn man außer an die stammesgeschichtlichen Befunde von Anthropomorphismus daran denkt, daß jede Kindesentwicklung vom Anthropomorphismus ihren Ausgang nimmt, ja, sich dieser noch in den sachlichsten Gegenständen Erwachsener auch heutigen Tages wiederfindet, etwa in Automobilen, von Popkultur, Science Fiction und Esoterik ganz zu schweigen. Da die anthropologische Stellung des Strukturproblems im menschlichen Dasein nicht auf einen bestimmten soziokulturellen, individuellen oder (phylogenetisch bzw. ontogenetisch) stadialen Lösungsversuch zugeschnitten sein darf, macht Plessners folgende strikte Unterscheidung Sinn: „Das Verfahren der Beschränkung, wie es sich in der Deutung leibhaft erscheinender fremder Lebenszentren abspielt, muß streng getrennt werden von der Voraussetzung, daß fremde Personen möglich sind, daß es eine personale Welt überhaupt gibt." 9 Wenn wir die Mitwelt als das Strukturproblem im menschlichen Dasein nehmen, das mit jeder seiner Lösungen von neuem entstehen mag, solange es eben Menschen
6 7 8 9
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. S. S. S.
303. 293. 300. 301.
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Zwischen Lachen und Weinen I: Die Individualisierung
der Person
gibt, dann kommen wir, statt uns die Mitwelt sogleich auf bestimmte Bedürfnisse zurechtzuschneiden, anthropologisch besser auf den Kategorischen Konjunktiv der menschlichen Lebensführung zurück. Die erinnerte doppelte Rückbezüglichkeit tritt sprachlich expliziert in der Antinomie der beiden Ich-Bedeutungen hervor, der zwischen dem leiblich unvertretbaren Ich und dem durch Verkörperung soziokulturell vertretbaren Ich (vgl. 1.10.). Wenn man sich nun fragt, wie diese sprachlich explizierbare Antinomie der Ich-Bedeutungen mit den einander gegenläufigen Rückbezüglichkeiten (re- und exzentrisch) im sensomotorischen Verhaltenskreis zusammenhängen könnte, dann haben wir die dafür nötigen Medien der Ubersetzung (in 2.13.) vorbereitet: Schauspielen und metaphorischer Sprachgebrauch hatten sich im 2. Kapitel als zentral für die sprachliche Verschränkung aller Sinnesmodalitäten zu einer funktionalen Einheit herausgestellt. Auch das dritte Kapitel lief in der Frage nach der Versprachlichung des Spielverhaltens zusammen, das durch Schauspiel und Metapher in Verhaltensspiele übersetzbar wird, in denen auch sprachähnlich oder sprachverkürzt bis nonverbal kommuniziert werden kann, da grundsätzlich das Sprechniveau beherrscht wird. Diese Suchrichtung leuchtet auch angesichts der im 1. Kapitel erfolgten Selbstbefragung des Gemeinsinnes ein, insbesondere, was den dortigen Vergleich zwischen Haussäugern, Kleinkindern und uns selbst als Erwachsene angeht. Schließlich waren wir bereits in der Einleitung dem Ubersetzungsproblem begegnet, das der Common Sense zwischen Laien- und Expertenkulturen, zwischen der jeweils eigenen Kultur und fremden oder anderen Kulturen hat. Auch in diesen Fällen gehen wir spontan zur Schauspielerei und zu metaphorischen Umschreibungen über, wenn wir die jeweils andere Sprache nicht beherrschen. Dabei hatten wir bislang unter Spiel im einfachsten Sinne nur verstanden, daß ein Verhalten von seinem bisherigen (instinktiven oder erlernten) Antrieb (zeitweilig oder persistent) abgehangen, also frei werden kann, um allerdings erneut (durch einen neu erlernten Antrieb) gebunden zu werden. Ansonsten würde schlicht eine Verhaltensunmöglichkeit oder ein Verhaltenszusammenbruch eintreten, wie im traumatisch verselbständigten Bewußtsein. In der Spielform wird Verhalten frei von einer und frei zu einer anderen sensomotorischen Bindung, was medial als bewußter Verhaltensmodus erscheint, dem entsprechende Plastizität zur neuronalen Vernetzung im Gehirn korrespondiert. Mit Symbol waren im weitesten Verhaltenssinne Zeichen unterstellt, also etwas, das für etwas anderes stehen kann, hier jeweils für eine Verhaltensbindung, oder wenn es sich um bereits spielerisch freigewordenes Verhalten handelt, um eine symbolische Bindung symbolischen Verhaltens. Symbolisierung gleichbedeutend mit Verbalisierung - begegne überall da, „wo etwas für etwas anderes genommen werden kann, das es selbst nicht ist, sondern bedeutet." 10 Der Symbol-
10 Ders., Der Mensch als Lebewesen. Adolf Portmann zum 70. Geburtstag (1967), in: GS VIII, S. 317.
Die Entfaltung der Lösungsrichtung
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begriff hatte aber auch schon die spezifischere Wendung erhalten, den Triebüberschuß, der in der langen Kindheits- und Jugendperiode auftritt, ohne auf erwachsene Weise abgeleitet werden·zu können, in erotischer Symbolik zu binden (vgl. 3.9.).
4.3. Die Entfaltung der Lösungsrichtung: v o m Rollenspiel in seinen Grenzen am ungespielten Lachen und Weinen her Als das anthropologische Minimum, das medial die Mitwelt erscheinen läßt - das die Mitwelt tragen und in einer Differenz zwischen Außen- und Innenwelt bildbar werden läßt - hat Plessner das Rollenspiel begriffen. „Was aber ist der Sinn des Spieles, wenn nicht die Irrealisierung des natürlichen Menschen zur Trägerschaft irgendeiner Bedeutung, irgendeiner Rolle?"11 Eine Rolle zu spielen schlägt den Bogen von der Körper-Leib-Differenz, wie sie in den sensomotorischen Rückbezüglichkeiten spontan entsteht, zur Doppeldeutigkeit des Ichs, die sich in der sprachlichen Kommunikation mit anderen Personen (die pronominal andere Rollen spielen) reflexiv herausstellen kann. Die Verschränkung zwischen den sensomotorischen Rückbezüglichkeiten auf den eigenen Körperleib und den sprachlichen Reflexionsbeziehungen zwischen Personen kommt durch ein aktuales Über-Setzen von beiden Seiten her zustande. Einerseits spielen wir nämlich in und mit dem eigenen Körperleib zur Schau und andererseits tragen wir etwas in und mit der Sprache hinüber, benützen wir also eine Metapher. Das Spielen von Rollen ist uns in den heutigen Praktiken des Common Sense so vertraut, daß wir über diese Phänomene meistens erst stolpern, wenn sie uns besonders lästig werden, sich womöglich verschiedene Rollen widersprechen und wir in Gewissensnot geraten, oder wenn wir - aus welchen Gründen auch immer - derart erfolgreich im Rollenspiel waren, daß wir zu guter Letzt nicht mehr wissen, wer wir selber sind, wenn uns doch noch wirkliche Liebe begegnet. Das Rollenspiel ist offenbar nur in gewissen Grenzen verträglich, solange wir nicht spontan aus ihm ausscheren müssen, sei es durch Lachen oder Weinen. Zuweilen mögen wir eine Rolle, von der uns so viel abzuhängen scheint, noch unbedingt weiterspielen wollen, gar den längst eingetretenen Lach- oder Weinkrampf nochmals zu überspielen versuchen. Um so gespannter wird die Zerreißprobe, sich erneut hinter einer Maske verbergen zu müssen. Das Rollenspielen ist uns auch aus unserer eigenen Kindheit vertraut und begegnet uns in jeder neuen Kindheit als die Weise, das Menschsein zu erlernen. Da man es in diesem Stadium mit der Meisterschaft des Rollenspiels noch nicht weit gebracht hat, bleibt einem viel Spaß im Erleben oder in der Erinnerung, wie einem Rollen tolpat-
11 Ders., Grenzen der Gemeinschaft, a. a. O., S. 94.
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der Person
schig naiv oder aus überdrehender Raffinesse entgleiten können, man plötzlich auffliegt, blamiert oder nackt da steht, in Scham oder gar Schuld gerät, oder wie einem andere auf den Leim gegangen sind, wie man diese „Idioten" ausgetrickst hat. Auch in diesem Erleben oder Erinnern bleiben das ungespielte Lachen oder Weinen, das selbst nicht zur Rolle gehörte, die bedenkenswerten kritischen Schwellen, auf denen man sich nochmals hat fangen können oder die man - die Lippen zusammengebissen - dennoch überschritten hat. Gewiß, je kleiner man war, je jünger die Kinder jetzt sind, desto angeborener und spontaner zeigen sie Ausdrücke des Lachens und Weinens. Alles, was sie erlernen, aufrecht zu stehen und zu gehen, Schlittschuhe laufen und Sprache sprechen, spielt sich zwischen dem Lachen und Weinen ab. Je älter wir werden, desto verwickelter scheint auch unser Lachen oder Weinen zu geraten, wenn wir es nicht - wie meistens - als spielerische Gebärden vorab einsetzen, um nicht ungespielt ins Lachen oder Weinen fallen zu müssen. Nicht selten versiegen beide Quellen, unser Verhalten zu begrenzen, ganz. Schließlich mögen uns die Zeugnisse aus anderen Kulturen noch so fremdartig erscheinen, ihr exotischer Reiz für uns beruht wohl darauf, daß sie das uns vertraute Rollenspielen anders betreiben, mit anderer Gestik und Mimik, mit anderen Lauten, Stimmen, Tönen, gar in einer Trance des Tanzes, in unglaublichen Masken und Kostümen, mit beschwerlichen oder gar gefährlichen Eskapaden. Mich persönlich haben ζ. B. die Schlangentänze von Indianern in Mexiko ebenso angezogen wie abgestoßen, und zu Stierkämpfen kann ich nicht gehen. Ob wir für länger oder kürzer dorthin verreist sind, ob wir Meldungen aus dem Fernsehen, Radio oder dem Internet von dort erhalten, auch in diesen Fällen merken wir intuitiv auf, sobald nicht mehr nur spielerisch gelacht und geweint werden sollte. Wir können uns im ersten Augenblick unsicher sein, wie wir gespieltes Lachen oder Weinen von ungespieltem unterscheiden können. Aber es ist uns intuitiv klar, daß wir den Situationen zumindest des ungespielten Weinens vorbeugen sollten oder, falls es schon zu spät ist, mithelfen sollten, sie möglichst bald zu beenden. Wir werden nun in dem vorliegenden vierten Kapitel den rollentheoretischen Ausgangspunkt zunächst in der soziokulturellen Elementarrolle präzisieren. Sodann können wir sehen, wie sich von der Mitte des Rollenspieles her und begrenzt vom ungespielten Lachen einerseits und dem ungespielten Weinen andererseits ein Spektrum von menschlichen Verhaltensphänomenen vorstellen läßt. Der Orientierung gemäß, die Mitwelt an solchen Phänomenen einholen zu wollen, müssen wir aus Gründen der nur schrittweise gelingenden Darstellbarkeit eine Art Weggabelung einführen. Wenn das Rollenspiel die beiden sensomotorischen Rückbezüglichkeiten des Körperleibes und die beiden damit korrespondierenden Grundbedeutungen des reflexiven Ich-Pronomens verschränkt, dann liegt in dieser Hypothese auch die Behauptung, daß das Spielen in und mit einer Rolle den folgenden Doppelaspekt hat. Wenn man sich das Rollenspiel im ersten Anlauf wie das Spiel in und mit einer Maske vorstellt, dann kann der Rollenträger in der einen Aktivitätsrichtung nach außen für
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andere versuchen, die allgemeinen Erwartungen, die an diese bestimmte Maske, sprich: Rolle, gerichtet werden, so gut wie möglich zu erfüllen. Er wird dann seine ihn leiblich individualisierende Bedürfnislage der Rollenmaske gemäß verkörpern, wodurch er sich sowohl in den Augen der anderen als auch in seinen eigenen Augen personalisiert. In dem Maße aber, in dem er sich personalisiert, wird er auch soziokulturell vertretbar, womöglich austauschbar. Dies wirft in der umgekehrten Aktivitätsrichtung von außen nach innen, gleichsam hinter die Rollenmaske sich wendend, die Frage auf, wie der Rollenträger nicht nur in den Rollenerwartungen spielt, sondern auch von sich aus mit dieser Maske spielen kann, so daß er das Spiel individuell zu variieren vermag. Unter diesem Aspekt der Individualisierung der persona (Maske)12 wird sein Spiel mit ihr für andere wie für ihn selbst unvertretbar, womöglich unersetzbar. Im vierten Kapitel gehe ich exemplarisch der Individualisierung der Person nach, bis in die Extremfälle hinein, wo sich die berechtigte und nötige Individualisierung potentiell ins Unmenschliche verkehren kann, da sie ihre Grenzbedingungen im ungespielten Lachen und Weinen überschreitet. Im kommenden fünften Kapitel steht dann der umgekehrte Aspekt im Vordergrund, auf welchen Wegen die Personalisierung des Individuums erfolgen kann. Dies wird sowohl an Gemeinschafts- und Gesellschaftsphänomenen als auch an solchen der kulturellen Entfremdung und Befreiung in der Generationenfolge verdeutlicht werden. Im Hinblick auf die Personalisierung werden wir ebenfalls auf kritische Ungleichgewichte stoßen, gemessen an dem Doppelaspekt, die Chancen zur Personalisierung und zur gleichzeitigen Individualisierung ausbalancieren zu müssen. Dies führt uns in dem abschließenden sechsten Kapitel auf die Frage aus der Einleitung zurück, wie wir Menschen uns in der Relation zur eigenen Unbestimmtheit geschichtlich ermächtigen können, ohne daß sich diese geschichtliche Selbstermächtigung ins Unmenschliche verkehrt, also unsouverän wird. Menschen bedürfen des Mediums der Geschichte, aus den gleichsam ver-lachten oder ver-weinten Rollen auf ein Neues herauszukommen.
4.4. Die lebbar symbolische Verschränkung des Bruches der menschlichen Natur: ihre Bewahrung vor den Mißverständnissen der Tiefe, Oberfläche, geistigen Aufhebbarkeit und Dekonstruktivität Während also die erste Hälfte des Buches das Strukturproblem der Mitwelt indirekt erschlossen hat, nämlich vor allem an natur- und kunstphilosophischen Phänomenen,
12 Vgl. zu dem kulturgeschichtlich überwältigenden Material dafür, daß die juristische Fixierung von Personen nicht ohne Rollenspiel und dieses nicht ohne Rollenmaske, also persona als Maske, geht, Gottfried Eisermann, Rolle und Maske, Tübingen 1991.
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möge die zweite Hälfte es indirekt entfalten an soziokulturellen Phänomenen, in denen Individualisierung und Personalisierung geschichtlich verschränkt werden. Die Pointe wird darin bestehen, daß die Bildung der menschlichen Mitwelt im Medium der Geschichte anhält oder mit diesem ausfällt. Da der Wendepunkt im Rollenspiel je nach Mentalität leicht mißverstanden werden kann, will ich demgegenüber nur präventiv hervorheben, daß die Entfaltung des Problems der Mitwelt in der Philosophischen Anthropologie keinen dualistischen Charakter annehmen kann, da sie auf dem Doppelaspekt des eben Lebendigen besteht. Die umgangssprachliche Verwendung des Ausdruckes „Rolle" kann, zumal in der deutschen Mentalitätsgeschichte, sowohl eine existentielle Tiefenentrüstung als auch eine westlich-zivilisatorische Oberflächeneuphorie auslösen. Plessner kannte indessen seine Pappenheimer. Wer unter der Voraussetzung dualistischer Hebel radikal sein will, entwurzelt die menschliche Lebensform. Plessner hat in den 60er Jahren erneut seinen aus den 20er Jahren stammenden Zugang vom Rollenspiel her gegen die dualistischen Kämpfe um die Auflösung des Problems verteidigt. Für den inbrünstigen Kult der Innerlichkeit stand wirkungsgeschichtlich noch immer Heideggers Raffinesse, existenzphilosophisch auf das unersetzbare Selbstsein zu orientieren, das sich durch sein vorgängiges Seinsverstehen von der stereotypen Redeweise, die jedermann öffentlich übe, radikal absetze. Für den nach dem zweiten Weltkrieg von der jüngeren Generation angelernten Oberflächenkult der westlichen Zivilisation stand inzwischen in der Soziologie Ralf Dahrendorfs Rollentheorie, die dieser Autor selbst später institutionentheoretisch relativiert hat. Heideggers „Theorie von der Verfallenheit im defizienten Modus des Man ist der deutschen Innerlichkeit aus der Seele gesprochen. Findet sich die Soziologie dazu bereit, das Sein in einer Rolle von dem eigentlichen Selbstsein grundsätzlich zu trennen und dieses gegen das Ärgernis der Gesellschaft auszuspielen (wie das Dahrendorf kürzlich noch mit seinem Homo sociologicus getan hat), dann gibt sie dem antigesellschaftlichen Affekt, gewollt oder ungewollt, neue Nahrung. Die Sphäre der Freiheit mit der der Privatheit, und zwar in einem außersozialen Sinne, gleichgesetzt, wohlgemerkt, um sie unangreifbar zu machen, verliert jeden Kontakt zur Realität, jede Möglichkeit gesellschaftlicher Verwirklichung. Die Freiheit muß eine Rolle spielen können, und das kann sie nur in dem Maße, als die Individuen ihre sozialen Funktionsleistungen nicht als eine bloße Maskerade auffassen, in der jeder dem anderen in Verkleidung gegenübertritt."13 Der Lösungsweg der Philosophischen Anthropologie dafür, unser natürliches und soziokulturelles Dasein ineinander zu verschränken, muß auch vor einer anderen Art von Mißverständnis bewahrt werden. Diese Verschränkung kann nicht nur durch
13 H . Plessner, Soziale Rolle und menschliche Natur (I960), in: G S X , S. 239 f. Vgl. die zutreffende Einordnung durch Theo Kobusch, Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild, Darmstadt 1997, S. 247 ff.
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dualistische Aushebelung verfehlt werden, sondern auch durch eine identitätsphilosophisch monistische Uberkompensation, die prototypisch meisterhaft in Hegels Geistesphilosophie vorliegt. Hat man erst einmal wie Hegel das Problem der Organisationsform in die Unmittelbarkeit des Bewußtseins und das Problem der Positionalitätsform in die reflexive Vermitteltheit des Selbstbewußtseins aufgelöst, dann scheint das Paradigma des Selbstbewußtseins eine geistesphilosophische Versöhnung zu gestatten. Diese Versöhnung geht jedoch über die je individuelle Differenz der Körperleiber und über die Antinomie der Ich-Bedeutungen hinweg. Was Plessner die „Verschränkung" einer „Aspektdifferenz" nennt, bleibt an die mit jeder Generation geschichtlich zu entdeckenden Medien (im Plural) gebunden, ohne sich geistesphilosophisch zu einer Einheit vermitteln zu können, die alle Differenzen überwältigt.14 Das Rollenspiel ist als Spiel und anhand seiner Medien plural zu öffnen. Die dreifache Dimensionalität der menschlichen Positionalität ist selber das Symboldas sich dreistellig entfalten kann, ohne in einem überwältigenden Dritten aufgehoben werden zu müssen: Dem Menschen „ist der Umschlag vom Sein innerhalb seines Leibes zum Sein außerhalb des Leibes ein unaufhebbarer Doppelaspekt der Existenz, ein wirklicher Bruch seiner Natur. Er lebt diesseits und jenseits des Bruchs, als Seele und als Körper und als die psychophysisch neutrale Einheit dieser Sphären. Die Einheit überdeckt jedoch nicht den Doppelaspekt, sie läßt ihn nicht aus sich hervorgehen, sie ist nicht das den Gegensatz versöhnende Dritte, das in die entgegengesetzten Sphären überleitet, sie bildet keine selbständige Sphäre. Sie ist der Bruch, der Hiatus, das leere Hindurch der Vermittlung."16 Das Rollenspiel macht nun diesen Bruch lebbar. Es bleibt im Phänomenspektrum eskortiert vom ungespielten Weinen auf der einen und dem ungespielten Lachen auf der anderen Seite, um eben dem Körperleib die Lebbarkeit der ihm möglichen Positionen zu erhalten. Die dreifache Positionalität menschlichen Daseins ermöglicht den Symbolcharakter allen menschlichen Tuns, ist aber selber nicht einfach ein Symbol, sondern eine Lebensform, deren Erfüllung sich nicht in die potentielle Unendlichkeit der Zeichenketten verschieben läßt. Die Körper-Leib-Differenz muß immer erneut im Hier und Jetzt gelöst werden, was man spätestens nach der ersten Entzündung seines Blinddarmes kreatürlich erfahren hat. Diese Differenz läßt sich nicht in
14 Ich komme auf den Hegel-Plessner-Vergleich ausführlich im zweiten Band zurück. Vgl. vorerst H.-P. Krüger, Helmuth Plessners exzentrisch-zentrische Positionalität als die naturphilosophische Emanzipation der Hegeischen Geisteskonzeption vom Paradigma des Selbstbewußtseins, in: Andreas Arndt u. a. (Hg.), Hegel-Jahrbuch 1999, erscheint Berlin 2000. 15 Dies ermöglicht den Anschluß einer „Philosophie der symbolischen Formen". Vgl. Ernst Cassirer, Zur Metaphysik der symbolischen Formen, hrsg. v. J. M. Krois, Hamburg 1995, S. 59 f. 16 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 292.
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Jacques Derridas „Differieren" auflösen. Auf sie trifft nicht der Satz zu, daß sich das Signifikat „immer schon in der Position des Signifikanten befindet."17 Der Philosophischen Anthropologie geht es um die Lebbarkeit von Ambivalenzen, nicht um das „Zeichen der Zeichen", d.h. nicht um die „Schrift"18 als den Standpunkt der Kritik am Redemodell, wie im Dekonstruktivismus. Die Doppeldeutigkeit des Ich-Sagens und der Eigennamen hat auch sensomotorische Rückbezüglichkeiten, weshalb man den situativen Kontext des Gesprochenen tatsächlich ernst nimmt, was im Dekonstruktivismus bestenfalls als „Spur"19 thematisiert werden kann.
4.5. Das Spielen der Körper-Leib-Differenz in und mit der Elementarrolle: zwischen der Symbolpraktik des Eigennamens und den Zeichen der Vertretbarkeit Es gibt in jeder Gesellschaft eine Vielzahl von Rollen und eine Vielfalt von Spielformen, alltäglichen und außeralltäglichen, privaten und öffentlichen, freieren und gebundeneren, professionalisierten und nicht professionalisierten. Bevor wir solche Unterscheidungen einführen können, sollten wir uns die Phänomene der „Rolle" und des „Spiels" in dem eher „fundamentalen Sinn" vergegenwärtigen, „der vor jeder gesellschaftlichen Differenzierung gesellschaftliches Zusammenwirken als solches trägt" 20 und der sich „als die einzige Konstante in dem Grundverhältnis von sozialer Rolle und menschlicher Natur" bewähren kann. Da dem Menschen nicht von Natur aus ein bestimmtes Wesen vorgegeben ist, ihm aber die Gestaltung seiner KörperLeib-Differenz im Kontext soziokultureller Möglichkeiten aufgegeben ist, „gibt er sich erst sein Wesen kraft der Verdoppelung in einer Rollenfigur, mit der er sich zu identifizieren versucht. Diese mögliche Identifikation eines jeden mit etwas, das keiner von sich aus ist, bewährt sich als die einzige Konstante" in dem genannten Verhältnis.21 Wie kann man diesen Gedanken, wir fänden unsere Wesensmöglichkeit erst in der Verdoppelung vor und für uns selbst im Rollenspiel, verstehen? - Am besten, indem wir zurückgehen auf die positionale Lage, in die wir alle hineingeboren werden, in das eben, anthropologisch betrachtet, elementare Rollenspiel. Dieser Rückgang nimmt uns nicht die Chance, uns gegebenenfalls auch von der bestimmten Rolle emanzipieren zu können, in die wir hineingeboren worden sind. Allerdings befreit
17 18 19 20 21
Jacques Derrida, Grammatologie, Frankfurt 1974, S. 129. Ebd., S. 76. Ebd., S. 124. H. Plessner, Die Frage nach der Conditio humana (1961), in: GS VIII, S. 198. H . Plessner, Soziale Rolle und menschliche Natur, a. a. O., S. 240.
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uns auch diese Emanzipation nicht von der Rollenhaftigkeit menschlichen Daseins überhaupt, die in jedem Rollenwechsel nicht nur bestätigt, sondern im Maße ihres Spielcharakters auch erleichtert und erklärbar wird. Abgesehen vom Saugen und Schreien, einigen reflektorischen Bewegungen, Spiel-, Lach- und Weinmiene, Lall-Lauten, dem vegetativen Nervensystem und der anatomischen Grobverdrahtung im Gehirn (das im ersten Lebensjahr zu Ende und zuwachsen muß) sind unserem Organismus - wie einer Frühgeburt - mit der Geburt kaum Zuordnungen zwischen den verschiedenen Reizschwellen der Sinnesorgane und den Bewegungsmöglichkeiten des eigenen Körperleibes vorgegeben. O b Stehen, Gehen, Sehen, Hören, artikuliertes Intonieren, alle dafür nötigen Zuordnungen müssen erst mehr oder minder bewußt erlernt werden, indem die leibliche Bedürfnisnot in der Interaktion mit Bezugspersonen durch Verkörperungen gelindert wird und zu Wohlbefinden führt. Die während der letzten Jahrzehnte gesammelten Erkenntnisse über die pränatale (vorgeburtliche) Phase im Mutterleib ändern an diesem Grundsatz nichts, sondern führen eher zur Betonung der Kontinuität der Phasen. Demnach gibt es schon pränatal mit der Mutter ein Hör- und Stimmungslernen, während andererseits das Einpegeln hormoneller und stoffwechselbezogener Sollwerte (Spiegel) in der Stillperiode und während der Umstellung auf festere Nahrung noch anhält. Solche Erkenntnisse bestärken nur den Grundsatz der Philosophischen Anthropologie, daß es in jeder Phase auf die Eingespieltheit der Organisations- und Positionsform ankommt, die pränatal eben die Fötus-Mutter-Einheit bedeutet, welche in den letzten Monaten auch bereits interaktiven Charakter annimmt. Der Organismus erlernt seine Positionierungsmöglichkeiten, in die er als Person eingeboren wird, durch „Verkörperung, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Im wörtlichen Sinne: Unsere Existenz als Körper im Körper verwirklicht sich als ein immer erneuter A k t der Inkorporation. Mit ihr schaffen wir den Grund, auf dem wir uns zu dem erheben, woran wir uns zu halten haben: das soziale Gefüge, das uns nun im übertragenen Sinne - als Jemand mit Namen und Status inkorporiert. N u r so werden wir Person. Der Prozeß der Personifikation, den das Kind mit seiner Geburt beginnt, macht das Individuum für sich selber wie für die anderen zu einem Individuum, indem er ihm Ansprechbarkeit durch einen Namen erwirbt. Die Namengebung ist das Siegel seiner unteilbaren Einheit. Wie wir Stehen, Gehen und Sprechen selbst lernen müssen, so findet dieses Selbst seinen Halt nur am Namen, nach außen wie nach innen." 2 2 Die Inkorporation im organismischen Sinne, die die Rückbezüglichkeiten zum eigenen Korperleib ausbildet, steht positional in dem Kontext, eine Elementarrolle zu erlernen. In der Elementarrolle gewinnt der Körperleib Positionierungsmöglichkeiten, indem er - in Ablösung vom Mutterleib - soziokulturell inkorporiert wird.
22 Ders., Die Frage nach der Conditio humana, a. a. O., S. 196 f.
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Diese soziokulturelle Verkörperung gewinnt Gestalt in der symbolischen Praktik des Eigennamens, in der der Status vermittelt wird. Während die Symbolik des Eigennamens die Ansprechbarkeit des Individuums sichert, für es selbst und andere, bezieht diese Symbolik praktisch das Individuum auf den Status, in den es eingeboren wird. Der Status betrifft „die weite Spannung des Rollenbegriffs" zwischen einerseits dem „ascribed, status", also dem, „was einer durch Geburt und Umstände im sozialen Feld ist", und andererseits dem „achieved status", also dem, „was er aus sich macht". 23 Dieser Verdoppelung im äußeren Verhaltenskontext zwischen Rollenträger und Maskenspieler, auf die wir sogleich zurückkommen, geht zunächst, und im Resultat für den Organismus wirksam bleibend, die Verdoppelung der Organisationsform in die Positionsform vorauf. Wir haben es zunächst mit der sensomotorischen Rückbezüglichkeit des Nachwachsenden auf seinen eigenen Körperleib zu tun. Dessen Bedürftigkeit ist aktual in zwei Aktivitätsrichtungen zu befriedigen, einmal durch Inkorporation in dem Sinne, daß die leibliche Bedürftigkeit durch Nahrung, Geborgenheit, Zuwendung zu befriedigen ist. Hier wird - interaktiv von außen, gleichsam als Ersatz für den Mutterleib als der ersten Positionsform - in den Körperleib des Säuglings bzw. Kindes hinein verleiblicht, wofür dieser instinktive Anlagen hat. Zum anderen in dem Sinne, daß die dem Nachwachsenden eigene Körper-Leib-Differenz ausgebildet und durch ihm bewußt erlernbare Verkörperung ausgeglichen werden muß. Dafür gibt es zwar auf seiner Seite einen weitgehend unbestimmten Bewegungsdrang, dem offenbar eine ungebundene Plastizität für neuronale Netzbildungen entspricht, aber keine - wie bei Tieren - stark angeborenen Verhaltensbahnen zwischen einer bestimmten Sensorik und bestimmten Motorik, die durch Erfahrung in bewußter Frontstellung gegenüber anderem im Positionsfeld nur aktiviert werden müßten. Der menschliche Nachwuchs braucht lange von außen interaktive Unterstützung, Ermutigung, Bestärkung darin, den eigenen spontanen Bewegungsdrang von innen nach außen verkörpern, also die Stellung gegenüber anderem auf sich zurücklenken zu können, wodurch der (sich auswachsende) Uberschuß an Plastizität im Gehirn selbstrefrentiell gebunden wird. Jede Bezugsperson (Mutter, Vater, Krippenhelferin, Krankenpfleger) weiß, wie schier unendlich die Versuche von Menschenkindern, ihre Bewegungen koordinieren zu können, wiederholt werden müssen. Bei jeder Bewegungsart (vom Ergreifen der Dinge im Auge-Hand-Sehfeld und dem Laufen bis zum Schreiben und Fahrradfahren) müssen beide Zentrierungsrichtungen der Bewegungskoordination erlernt werden, im stets erneuten Wechsel der bewußten Aufmerkung zwischen Gegenstellung und Selbststellung, bis im Ausgleich beider Richtungen auch mal die Ausführung glückt, langsam parat wird und schließlich sogar automatisiert werden kann. Für die Bestärkung oder Hemmung, den Ausgleich beider Aktivitäts-
23 Ebd., S. 201.
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richtungen an Verleiblichung oder Verkörperung zur Eingespieltheit zu bringen, gibt es kulturell viele mögliche Muster, deren Vor- und Nachteile gewiß im einzelnen zu diskutieren wären. Aber elementar notwendig ist zunächst einmal, daß es überhaupt zu einer Eingespieltheit der Organisationsform auf die Bewegungsmöglichkeiten im Positionsfeld kommt, und dies geht im Falle von menschlichen Lebewesen nicht anders als auf dem Wege des Erlernens von Verkörperungen, die die eigene KörperLeib-Differenz austarieren. In dem Maße, in dem das heranwachsende Lebewesen nicht nur potentiell als Organisationsform, sondern real im Verhalten seine Bewegungen selber koordinieren kann, vermag es auch, tatsächlich zum Träger des Bündels an soziokulturellen Erwartungen anderer zu werden, das man im elementaren Sinne Rolle nennen kann. N u r darf man die Verschränkung der beiden Rollenaspekte, den sensomotorischen Selbstbezug des Rollenträgers und den soziokulturellen Selbstbezug der Rolle in der betreffenden Kultur und Gemeinschaft, nicht in eine Einheit auflösen. D e r Heranwachsende braucht überhaupt Verkörperungen, um seine sensomotorischen R ü c k bezüglichkeiten ausbilden und ausbalancieren zu können. D a ß er aber gerade in diese bestimmte Familie und keine andere, in diese bestimmte Sippe oder Kulturgemeinschaft und keine andere hineingeboren worden ist, bleibt ihm zufällig. Diese Zufälligkeit fällt motivational gesehen - im Hinblick auf die symbolischen Hoffnungen, die die Interaktionspartner in den Eigennamen legen - nicht leicht auf, aber in späteren Ablösungen des Nachwachsenden kann sie womöglich schmerzlich bewußt werden. D a für den Heranwachsenden, ohne daß er eine andere Wahl hätte, die Elementarrolle seinem Organismus den exzentrischen Halt bietet, von dem her er seine sensomotorischen Rückbezüglichkeiten ausbilden und austarieren kann, weicht die Ausführung der Rolle individuell ab, gemessen an den von den anderen soziokulturell gehegten Erwartungen an die Rolle. Diese Abweichung tritt sowohl willentlich als auch unwillentlich ein, sei es zur Freude oder zum Leidwesen der anderen. Die soziokulturelle Rolle, etwa Frau und Mutter oder Mann und Vater zu werden, um die Familien- oder Gemeinschaftstradition in einer bestimmten Weise fortsetzen zu können, bedarf zwar umgekehrt eines organismischen Trägers. Aber daß es gerade dieser und kein anderer Organismus geworden ist, mit diesen und keinen anderen Behinderungen, mit diesen und keinen anderen Talenten, mit diesen und keinen anderen Leidenschaften oder Süchten, mit dieser und keiner anderen sexuellen Orientierung, mit diesen positiven und jenen negativen Abweichungen von den Erwartungen, ist der soziokulturellen Rolle als solcher zufällig. Man versteht viele Maßnahmen der Gesellschaft (Mythen der Blutsverwandtschaft in der männlichen oder weiblichen Linie, Erbschaftsregelungen, Ausdifferenzierung von Narren-, Heiligen- oder Mönchsrollen, Geburtenkontrolle, DNS-Analyse, Schwangerenbetreuung) erst, wenn man sie als die Konstruktion soziokultureller Notwendigekeiten begreift, die diese Zufälligkeit transformieren.
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Je nachdem, welche Differenz der Rollenträger zur Erfüllung der Erwartungen an die Rolle ausbildet, wie er sie über- oder unterbietet, differenziert die Doppeldeutigkeit des Ichs aus, unterscheidet sich also das leiblich hier und jetzt für unvertretbar erachtete Ich von dem in soziokultureller Verkörperung vertretbaren Ich. „Seine Ichhaftigkeit endeckt das Kind verhältnismäßig spät, es nennt sich bei seinem Namen und hebt sich erst allmählich von seiner menschlichen und dinglichen Umgebung ab, vermag auch nur langsam zwischen Personen und Leblosem zu unterscheiden, so daß man überhaupt den Eindruck gewinnt, als verberge sich die Ich-Perspektive gerade dem kleinen Egoisten, der wie selbstverständlich seine Umwelt um sich zentriert erlebt. Ichperspektive und Egozentriertheit haben also, jedenfalls in diesem Stadium, nichts miteinander zu tun. Eher könnte man sagen, daß die Entdeckung der Ichhaftigkeit die Egozentrik um ihre Unschuld bringt. Die Kompaktheit des Alles-auf-Sich-Beziehens wird im eigentlichen Sinn des Wortes durchlöchert. ,Ich' ist eine Öffnung nach .innen'." 24 Wir haben es also inzwischen, nach der Verdoppelung der Organisationsform, ihrer beiden Zentrierungsrichtungen, ins Außere des Rollenverhaltens hinein, mit einer Rückwirkung von dort her zu tun. Die individuelle Ausführung der Rolle übertrifft und/ oder unterschreitet die Erwartungen der anderen an sie, in dieser oder jener Hinsicht bzw. grundsätzlich. In dieser Versprachlichung der Rollenausführung, die im Wechsel der Perspektiven von Interaktionspartnern beurteilt und bewertet wird, wächst die reflexive Doppelbedeutung des Ich-Pronomens heran. Was in dem Kranz der soziokulturellen Erwartungen resonanzfähig ist, kann, muß aber nicht, mit dem zusammentreffen, das der Präferenzbildung in den sensomotorischen Rückbezüglichkeiten auf den eigenen Körperleib entspricht, was also mit dessen Balance zwischen Unmittelbarkeit, Direktheit und Spontaneität gegenüber Vermitteltheit, Indirektheit und Reflexivität im Verhalten korrespondiert. Diese Versprachlichung der schon individuell abweichenden Rollenausführung wirkt auf das Selbstverständnis des Rollenträgers zurück, bestärkt und hemmt ihn, versprachlicht ihm seine beiden Zentrierungsrichtungen des Verhaltens. Die rückbezügliche Versprachlichung des Rollenverhaltens verdoppelt den Rollenträger vor sich selbst nach innen und damit seinen Zugang zur Rolle nach außen.
4.6. Die Rolle als Schauspiel: die Differenz zwischen privater und öffentlicher Person Meistens haben die verschiedenen Interaktionspartner des Nachwachsenden auch verschiedene Vorstellungen darüber, was - jeweils im Horizont ihrer lebensge-
24 Ders., Der Mensch als Lebewesen. Adolf Portmann zum 70. Geburtstag (1967), in: GS VIII, S. 318 f.
Die Rolle als Schauspiel
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schichtlichen Erfahrungen - als tolerierbar oder als - im guten wie im schlechten außergewöhnliche Abweichung von der Elementarrolle gelten müsse. Die meisten Sprachen haben vor der Modernisierung der Gesellschaft, aber auch - wie ζ. B. im Japanischen und Chinesischen - nach oder inmitten der Modernisierung der Gesellschaft, verschiedene Ich-Pronomen, je nach Interaktionsart mit bestimmten Interaktionspartnern, etwa mit Vätern oder Müttern, Großvätern oder Großmüttern, älteren oder jüngeren Geschwistern, aber auch in außerverwandtschaftlichen Beziehungen zu Erwachsenen, Lehrern, Sippen- oder Dorfälteren, Medizinmännern, Kriegern etc. Die Doppeldeutigkeit des abstrakt-allgemeinen Ich-Pronomens, wie sie sich in der westeuropäischen Modernisierung durchgesetzt hat, wird aber zunächst auch kontextbezogen verschieden erlernt. Man kennt die Phasen der Kindesentwicklung, wo sich das Kind je nach Art und Partner verschieden verhält und anfängt, die verschiedenen Interaktionspartner auch gegeneinander auszuspielen, was je nach ihren Reaktionen zu seinem allgemeineren Rollenverständnis führt. So wichtig an anderer Stelle die soziokulturellen Unterschiede noch sein werden: Hier muß einstweilen die Betonung der Gemeinsamkeit genügen, die darin besteht, daß die Versprachlichung des Rollenverhaltens dessen Schauspielcharakter ausgestalten läßt, und zwar nicht nur für Beobachter, sondern eben für den Rollenträger selbst. Dabei ist auch auffallend, daß in den uns bekannten Kulturen die Symbolpraktiken des statusgebenden Eigennamens am Ende der Kindheit bzw. zum Eintritt in die Jugendzeit (die für die Geschlechtszugehörigkeit wichtige Pubertätsschwelle) und zu Beginn der Erwachsenenzeit (die Schwelle zur Übernahme entsprechender Rechte und Pflichten im Gemeinwesen) durch Zeremonien fortgesetzt und bekräftigt werden, die alle Beteiligten schauspielerisch herausfordern, auch dann, wenn sie mit dem größten Ernst bei der Sache sind. Selbst in unseren westlich modernisierten Kulturen, in denen das traditionale Rollenverhalten stark funktionalisiert worden ist, und selbst in Deutschland, wo aus historischen Gründen des nationalsozialistischen Mißbrauches Zeremonien rückläufig sind, lassen sich doch Konfirmationen, Jugendweihen oder Entsprechungen, Schul- oder Ausbildungsabschlußfeiern, Immatrikulationsund Exmatrikulationsfeiern oder auch die an Initiationsriten erinnernden „Mutproben" unter Jugendlichen selbst nicht gänzlich vermeiden, im Gegenteil: Sie leben wieder auf. Für das erste Erlernen der Elementarrolle als Spiel haben wir oben nichts weiter vorausgesetzt, als im Spielverhalten der Säuger vom Prinzip her gegeben ist (Freiwerden von einem Antrieb zu neuer Bindung dank bewußt erlernbarer Kopplung zwischen Sensorik und Motorik) und was wir unter dem Titel der Eingespieltheit der zentrischen Organisationsform auf die exzentrische Positionalität für menschliche Lebewesen spezifiziert hatten. Jetzt, nach der Versprachlichung des Rollenspieles und deren Rückbezug im Selbstverständnis des Rollenträgers, kann das Rollenspiel für den Rolleninhaber selbst zum Schauspiel ausdifferenzieren. Dies meint Plessner, wenn er nicht mehr nur von der elementaren oder ersten Bedeutung des Rollenspieles
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spricht, sondern von der zweiten Bedeutung des Rollenbegriffes, den er „am Bilde des Schauspielers" entwickelt. Dank der Versprachlichung können inzwischen nicht nur erwachsene Beobachter sehen, wie sich der Nachwachsende in der Ausführung der Rolle verdoppelt, sondern der Heranwachsende selbst verdoppelt sich in den „Rollenspieler und Maskenträger": Voraussetzung für die Anwendbarkeit dieses „theatralischen Begriffes" von der Rolle als Schauspiel ist, „daß es einen Rollenträger gibt, der seine Existenz wechselt, um die Rolle zu spielen. Das in der ersten Bedeutung von Rolle als Rollenhaftigkeit latente Spielelement, das in die Konstitution der Person durch die Verkörperung eingeht und in ihr gebunden bleibt, wird freigesetzt und gestattet nun einer Person, eine andere zu sein. Sie tritt an ihre Stelle. Der Verkörperungsprozeß wiederholt sich, nur durch die außer dem Spiel bleibende, bereits gesicherte Identität des Spielers getragen, auf höherem Niveau. Uberall da, wo Repräsentation einen wesentlichen Bestandteil sozialen Lebens bildet, ..., erweitert sich der theatralische Rollenbegriff zu einer gesellschaftlich-politischen Kategorie." 2 5 Indem jemand den Maskenträger spielt, handhabt er - dank dem inzwischen erworbenen Verkörperungsvermögen - den Unterschied zwischen dem, was er anderen von sich öffentlich zugänglich werden läßt, und dem, was er sich privat vorbehält. Nach der Erfahrung des Unterschieds, welches Rollenbild andere erfüllt sehen möchten und welchem man selbst allein nachkommen kann oder möchte, läßt sich - vor und hinter der Maske, dem eigenen, zumindest mimisch-gestischem Verkörperungskönnen - verschieden oder übereinstimmend agieren. Selbst und gerade wenn man sich voll mit den Erwartungen der anderen an das Rollenbild identifiziert, hat man die spontanen leiblichen Möglichkeiten als Gefahren vor Augen, diese Erwartungen enttäuschen zu können. Will man ohnehin etwas anderes darstellen, als einem selber zumute ist, ist der Unterschied zwischen dem, worin man spielt und womit man spielt, für einen selber offenbar. Gleichwohl muß man es in gewissem Maße zur Identifikation zwischen Spieler und Träger bringen. Obwohl man nur mit sich als dem Träger der Rolle für andere spielen will, muß man es möglichst so gut tun, daß zumindest die anderen den Eindruck haben, man ginge in dem Rollenmedium spielend auf und nicht nur mit ihm spielend um. Das „Doppelgängertum", das überhaupt in der Rollenhaftigkeit besteht, wird nun so oder so von dem Rollenspieler selber als dem Maskenträger zur Schau gestellt, indem er die Differenz „privat-öffentlich" 26 betätigt. Diese Differenz kann in der Identität verschwinden, da der Spieler in dem Träger der Rolle aufzugehen scheint, weil er sich affektiv mit dem Träger identifiziert oder ihn wirksam instrumentiert. Womöglich soll diese Differenz aber auch als solche ausdrücklich werden, oder sie wird es einfach, weil einem die Verschränkung zwischen
25 Ders., Die Frage nach der Conditio humana, a. a. O., S. 198 f. 26 Ebd., S. 201.
Die Rolle als Schauspiel
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Spieler und Träger mißlingt, was in einer bestimmten Breite von Fehlertoleranz oft auch erlaubt ist. Wenn in der Philosophischen Anthropologie die individuelle Ausübung soziokultureller Rollen als ein Schauspielen begriffen wird, dann heißt dies nicht, die Behauptung aufzustellen, wir würden alle in einem öffentlich professionalisierten Sinne dem Beruf des Schauspielers nachgehen. Gleichwohl ist auffallend, daß nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene aus allen uns bekannten Kulturen spontan einen Zugang zu öffentlichen Darstellungen gewinnen. Offenbar wird in öffentlichen Aufführungen etwas von jener „Abständigkeit des Menschen zu sich und zu einander" angezeigt, die auch das tägliche Leben durchdringt. Allerdings bildet diese Abständigkeit, „ - verführt sie auch zum Spiel und behält sie auch latent Spielcharakter - die Basis" des täglichen Lebensernstes: „Denn was ist schließlich dieser Ernst der Alltäglichkeit anderes als das Sich-einer-Rolle-verpflichtet-Wissen, welche wir in der Gesellschaft spielen wollen? Freilich will dieses Spiel nicht darstellen, es kennt nur Mit-Spieler, d. h. Mit-Menschen, und die Last des Bildentwurfs für unsere soziale Rolle ist uns durch die Tradition, in die wir hineingeboren werden, abgenommen. Trotzdem müssen wir, als virtuelle Zuschauer unserer selbst und der Welt, die Welt als Szene sehen." 2 7 Es ist dieser szenische Charakter, in dem uns schon immer Welt vorkommt und wir uns in ihr vorkommen, der dem alltäglichen Rollenspiel und der außeralltäglichen Schauspielerei gemeinsam ist. Ansonsten verhalten sich Alltägliches und Außeralltägliches spiegelverkehrt. Ist hier der tradierte Ernst primär, ist es dort das vom direkten Lebensernst entlastete Spiel, als wiederholten sich Züge der Kindheit und Jugend. Man lernt Alltägliches und Außeralltägliches aber nur verstehen, wenn der jeweilige Gegenpart in seiner Latenz parat wird, also das Alltägliche spielerische Raumzeit und spielerische Übergänge gewährt, während das außeralltägliche Schauspiel seine ernsthaften Umschwünge - Peripetien - kennt. Das Schauspielen der Rolle führt nicht nur zu unserer Verdoppelung in einer von außen nach innen privaten und einer von innen nach außen öffentlichen Existenzrichtung, die beide zu einer alltäglich vertrauten Gewohnheit oder einem außeralltäglichen Erlebnis werden können. Das Rollenspiel differenziert sich in beiden Existenzrichtungen aus und führt damit zu neuen Ungleichgewichten zwischen Identifikation und Distanz. Das Merkwürdige am Schauspielen einer Rolle besteht in diesem Wechsel zwischen Identifikation mit ihr und Distanznahme von ihr, wofür man Spielraum und Spielzeit benötigt. Lassen sich Identifikation und Distanz nicht nebeneinander und nacheinander gestalten, bricht der Wechsel gleichsam schizophren auseinander oder wie in einem epileptischen Anfall von Krampf ineinander. Die Extreme des Spektrums, innerhalb dessen durch das Schauspiel der Wechsel lebbar bleibt, sind weit von seiner mehr oder minder verwandten Mitte entfernt.
27 H . Plessner, Zur Anthropologie des Schauspielers (1948), in: G S VII, S. 411.
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Zwischen
Lachen und Weinen I: Die Individualisierung
der Person
Indem man sich in den Träger der Erwartungen anderer hineinspielt, sich mit ihm also identifiziert, wird man von sich frei, verläßt man sich, geht man außer sich. Und man kommt von ihm, dem Doppelgänger, auf sich selber zurück wie ein Verwandter, der aus der Nähe oder Ferne korrigiert, eher freundlich oder eher feindlich, da man sich mit ihm identifiziert. Wir können uns selber wie andere Menschen nah oder fern kommen, worüber zu urteilen eine Art von Verwandtschaft durch Identifikation gewesen sein muß. Indem man aber umgekehrt bei sich gegen die Verkörperung der Rolle bleiben will, nicht in, sondern nur mit dem Träger der Erwartungen anderer spielt, instrumentiert man aus der Distanz heraus sich selbst als Rollenträger. Da man sich nur zum Scheine mit ihm identifiziert, läuft man auch im Rückbezug von ihm her wie ein Fremder auf sich zurück, in dem einen das Andere von einem selbst begegnet. Man wird sich in der Instrumentierung seines Doppelgängers fremd, den man zunächst als den Zwang der anderen wegschreibt und womöglich auch eine andere Rolle zu neuem Ausgleich bringen kann, aber womöglich auch nicht mehr. Die Selbstinstrumentierung verzehrt in der Konsequenz das Selbst, das instrumentieren sollte. Nicht im Zusammenbruch von Sinn überhaupt im Weinen, nicht im Aufbruch aus zu großer Mehrsinnigkeit im Lachen, sondern im Erfolg der konsequenten Instrumentierung des Rollenspiels kann es uns unheimlich werden. „Denn das Fremde ist das Eigene, Vertraute und Heimliche im Anderen und als das Andere und darum - wir erinnern hier an eine Erkenntnis Freuds - das Unheimliche." 28 Das Eigene und das Andere seiner selbst wechseln aktual in der Identifikation mit dem Doppelgänger und in der Distanz zu ihm, dem Rollenträger. Man verwechsele diesen Zugang zum Eigenen und Anderen von einem selbst aus dem Schauspiel der Rolle her nicht mit reinen Bewußtseinszuständen, die entweder unmittelbar da seien oder auf sich reflektieren könnten. Es handelt sich um leibliche und körperliche Bewegungsrichtungen, die sensomotorisch in die Welt hinein und aus ihr zurück - quasi wie im Tanzen - ausgeführt werden müssen und zu deren Verschränkung - sollen sie nicht auseinanderbrechen, bis jemandem schwarz vor Augen wird, man gar in Ohnmacht fällt - Spielraum und Spielzeit auszubilden vonnöten ist, damit die Selbstbezüge entstehen und sich ausgleichen können. Was eine Frage des Spieles zwischen exzentrischen und rezentrischen Positionsbewegungen des Körperleibes ist, steht nicht in der Gewalt des Bewußtseins. Man verspricht sich, die Mimik und Gestik läuft spontan in die Gegenrichtung des Gewollten, man wird hysterisch und neurotisch, das Unterbewußte und Unbewußte bringt in anhaltenden Krisen das Bewußtsein zu Fall, man wird apathisch usf. Gewiß kann man bestimmte Rollen auf bestimmte Weise modifizieren und ändern, wofür die
28 Ders., Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht (1931), in: GS V, S. 193.
Das Individualisierungsproblem
der drei Selbstbezüglichkeiten
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soziokulturellen Bedingungen günstig oder ungünstig sein können (vgl. 5. und 6. Kapitel). Aber man kann nicht auf das anthropologisch elementare Schauspiel seiner Rolle überhaupt, auf sein Doppelgängertum schlechthin, eben nicht auf die Wir-Form des eigenen Ichs verzichten und sie abschneiden, als wäre sie nur etwas Äußerliches. Es gibt keine positionalen Bewegungsrichtungen nach innen und von innen ohne den Kontrast des Gegensinnes an Bewegungsrichtungen des Körperleibes, wie jede gute Therapie in kritischen Fällen zeigt. Die Individualisierung kann sich - ohne eigenen Doppelgänger und damit verlassen von einem Selbst, das sich im Wechsel zwischen Eigenem und Anderem erspielt - gegensinnig ins „Schicksal der Individualisierung"29 kehren.
4.7. Das Individualisierungsproblem der drei Selbstbezüglichkeiten, die ambivalent aus dem Schauspielen der Rolle erwachsen Das Schauspielen der Rolle, das der Spieler an seinen Doppelgänger, den Träger der personae, delegiert zu haben schien, läuft willentlich und unwillentlich auf den Spieler zurück, denn beide teilen sich ein und denselben Körperleib. Daher kommt für Plessner der „doppeldeutige Charakter des Psychischen", der „zur Fixierung hin und zugleich von der Fixierung fort" 3 0 drängt. Diese, für die menschliche Psyche konstitutive Ambivalenz zweier Begwegungsrichtungen zwischen den Doppelgängern des leiblich unvertretbaren und des körperlich vertretbaren Ichs begegnet uns in all unseren Selbstbezügen, dank denen als Kontrast die Welten gegenständlich konturiert werden. Auf diese Doppeldeutigkeit trifft man sowohl in der kognitiven Orientierung, uns bestimmen zu wollen, als auch im praktischen Verhalten, uns gegenüber anderen und mit diesen etwas tun zu wollen, als auch in unserem ästhetisch-erotischen Verhältnis zur Körper-Leib-Differenz. Kognitiv wollen wir „uns sehen und gesehen werden, wie wir sind, und wir wollen ebenso uns verhüllen und ungekannt bleiben, denn hinter jeder Bestimmtheit unseres Seins schlummern die unsagbaren Möglichkeiten des Andersseins. Aus dieser ontologischen Zweideutigkeit resultieren ... die beiden Grundkräfte seelischen Lebens: der Drang nach Offenbarung, die Geltungsbedürftigkeit, und der Drang nach Verhaltung, die Schamhaftigkeit."31 Von Kindesbeinen an sind wir damit beschäftigt, die Ausfälle unseres Geltungsbedürfnisses oder unserer Scham zu kompensieren. Gewiß
29 Ders., Grenzen der Gemeinschaft, a. a. O., S. 60. 30 Ebd., S. 63. 31 Ebd.. Plessner behandelt hier die Individualisierung der Person aus dem Schauspielen der Rolle heraus noch im Rahmen einer aristotelischen Seelenkonzeption, an die er den Grundgedanken des Rollenspiels später nicht mehr systematisch binden muß.
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begünstigen oder behindern bestimmte Gemeinschaftskulturen die Ausbildung von Geltungsbedürfnissen oder Scham. Aber man findet elementar in allen Kulturen eine Tendenz zu beidem und muß die Bestimmtheit einer Kultur schon als die historisch erfahrene Verschränkung beider Bewegungsrichtungen, dem Drang nach Offenbarung oder dem nach Verhaltung, verstehen lernen. Praktisch streben wir nach zwei Seiten, „in die Unbewußtheit, Ursprünglichkeit, Naivität und in die Bewußtheit, in das Raffinement der Überlegung, der Selbstbeobachtung und der Selbstbeherrschung". Wer sich wirklich und nicht nur im Rollenspiel naiv verhält, dem fehlt etwas, nicht weniger als dem, der sich nur reflexiv zu verhalten sucht: „Als aktive Wesen müssen wir den Abgrund unserer Vergangenheit wie unserer Zukunft, den Reichtum der Zeit und des Raumes zudecken und nur soviel davon übrig lassen als wir brauchen. Hierin liegt das Gesetz der Naivität beschlossen. Je mehr der Mensch von sich fortlebt, desto ursprünglicher weiß er sein Leben zu gestalten. Ungebrochen strömt die Energie in seine Taten ein und verleiht ihnen Frische und fortwirkende Kraft. Die Tatbereitschft wächst mit der Unbewußtheit. Zugleich hat das Prinzip der Naivität aber seinen Gegenspieler an dem Sachverhalt, daß zu allen Handlungen Überlegung gehört. Ohne Reflexion ist die Tat blind. Wir haben vorauszuschauen, die möglichen Gefahren zu erwägen, die Widerstände zu beseitigen, wir müssen, kurz gesagt, reflektieren, bevor wir uns loslassen und unsere Ziele setzen." 32 Auch praktisch versuchen die verschiedenen Kulturen, auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen Spontaneität und Reflexion die Antwort einer zu bevorzugenden Verschränkungsart zu geben. Kognitiv zwischen Geltungsbedürftigkeit und Schamhaftigkeit eine Position suchend, praktisch zwischen Naivität und reflexiver Selbstbeobachtung schwankend, überläßt man es inmitten dieser Verhaltensunsicherheiten und bei genügend Spielraum oft dem ästhetisch-erotischen Selbstverhältnis, endlich den Ausschlag für die Positionierung zu geben. Aber der Einsatz dieses Spieles ist hoch. Eine leibhaftig nochmals andere Doppelgängerin als schon der eigene Doppelgänger könnte die eigene Spannung durch ihr „Gnadengeschenk der Liebe" lösen oder endgültig - wie ein Verrat aus nächster Nähe - „dem Fluch der Lächerlichkeit" 33 preisgeben. Auch in ästhetisch-erotischer Hinsicht sind wir in eine Ambivalenz, nun in die Ambivalenz zwischen dem „Nimbus" des Enthüllens und dem des Verhüllens, „in den Antagonismus von Realitätstendenz und Illusionstendenz hineingezogen". 34 Selbst wenn sich Liebe einstellt, nimmt sie einem die Selbständigkeit in dieser Bindung nur auf Zeit ab, da Liebe selber eines besonderen Spieles bedarf: „In der Natur ist alles einander fern oder nah, das Zwischenreich der zur Nähe lockenden Ferne, der in die Ferne
32 Ebd., S. 66. 33 Ebd., S. 72. 34 Ebd., S. 68.
Der Dauertest des gegenseitigen Blickkontaktes
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treibenden Nähe, einer unaufgelösten Fernnähe, kennt erst die psychische Welt." 3 5 Auch in dieser Hinsicht der ästhetisch-erotischen Verhältnismäßigkeit zur KörperLeib-Differenz lohnt der Vergleich, wie die verschiedenen Kulturen auf das unterschwellig stets offene Ausgleichsproblem zwischen der Realitäts- und der Illusionstendenz antworten.
4.8. Der Dauertest des gegenseitigen Blickkontaktes: das Schaubild der Rolle (Habitus) und die Rollensprache ineinander übersetzen, also handeln, sich ausdrücken und sprechen können In dem Maße, in dem man eine Rolle spielen kann, in ihr und mit ihr spielen kann, beherrscht man sie einerseits, was sich darin zeigt, daß man sie situativ angemessen zu variieren vermag. Andererseits beherrscht man sie von woanders als ihr selbst her, von seiner eigenen Individualisierung her, die an der Unteilbarkeit des eigenen Körperleibes stets erneut ihren Ausgangspunkt nimmt und an der - in allen Rückbezüglichkeiten wieder hergestellten - Unvertretbarkeit des eigenen Leibes im Unterschied zum soziokulturell allgemeinen Verkörperungscharakter der Rolle ansetzt. Die soziokulturell tradierte Elementarrolle verspricht, eine Lösungsform der Verhaltensambivalenzen zu sein, die mit jedem nachwachsenden Menschen von vorne aufbrechen. Sie ist diese elementare Verschränkung von Ambivalenzen auch, insofern sich Individuen mit ihr - elementar alternativlos - identifizieren, und sie wird rückwirkend individuell ausgeübt, da kein Individuum die Rolle gleich gut wie andere auch spielen kann. Was lagert sich nun faßbar in dem Rollenspiel als Rolle ab, macht sie identifizierbar und reproduzierbar? - Dies ist eine berechtigte Frage, nachdem wir den Spielcharakter so hoch veranschlagt und als Schauspiel ausgeführt haben: Wenn ständig Verhaltensantriebe abgehangen werden und gleichzeitig neue Verhaltensanbindungen entstehen können, nun zumal auch noch potenziert durch die doppelgängerische Aufteilung des Selbst in einen Spieler und Träger, läuft man Gefahr, vor lauter Ambivalenzen und deren explodierender Eigendynamik zu keiner normativen Auszeichnung einer Verhaltensstabilisierung mehr zu kommen, die den interagierenden Spielern eine gewisse Lebensruhe und der Gesellschaft eine bestimmte Kontinuität gönnt. Inzwischen können wir aus der Perspektive des Rollenspielers, der in und mit dem Rollenträger als seinem Doppelgänger spielt, die Erwartungen der anderen einholen, die diese schon von Geburt an im Blick auf den Nachgeborenen hegten. „Als normal gilt dem Menschen ein Dasein, in dem er sich orientieren kann", was die soziokulturelle Elementarrolle für einen selbst und die anderen gewährt. Das Dasein „muß ihm
35 Ebd., S. 69.
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vertraut sein oder werden können und es muß ihm Spielraum bieten", die „verschwimmende Grenze" zwischen der Vertrautheit und der Fremdheit ausprobieren zu können.36 Als die spielerischen Ubergangsformen zwischen dem Vertrauten und dem Fremden haben wir bisher zwei Unterscheidungen angesprochen, nämlich die zwischen privat und öffentlich und die zwischen alltäglich und außeralltäglich. Aber all diese Differenzierungen müssen eine festere Form annehmen können, in der sie vergleichbar variabel gestaltet und lebensgeschichtlich nach Phasen (wie den Zeremonien zur Bekräftigung des Eigennamens) konkretisiert werden können. Den beiden Übersetzungsmedien der Schau (der Beobachtbarkeit von Körperleibbewegungen) und der Metapher (dem Perspektivenwechsel) entsprechend lautet die Antwort, eine soziokulturell elementare Rollenhaftigkeit gerinnt am Schaubild, dem Habitus der beobachtbaren Körperleibbewegungen, und an einem Sprachverhalten, das den Perspektivenwechsel des Trägers des betreffenden Eigennamens anzeigt. Das (übergestalthafte) Schaubild an der habituellen Verschränkung von körper-leiblichen Aktivitätsrichtungen hält einen Erschließungskontakt zu den sensomotorischen Rückbezüglichkeiten. Diese Rückbezüglichkeiten müssen nicht adäquat in einem alleinigen Sprachverhalten zum Ausdruck kommen, das im Extrem zu illusionär, zu geltungssüchtig und zu reflexiv Perspektivenwechsel andeuten kann, die sich von den Positionswechseln des Körperleibes längst abgelöst haben. Natürlich läßt sich auch das Umgekehrte vorstellen, daß nämlich der Habitus erlernt worden ist (etwa nach dem Motto „Kleider machen Leute"), aber nicht die sprachliche Ubersetzungsfähigkeit. Der Test, ob jemand mit und in seiner Rolle spielen kann, kommt auch nicht an dem Sprachtest vorbei, ob der Betreffende die situativ angemessene Metapher der Uber-Setzung variieren kann. Insoweit harmoniert die Philosophische Anthropologie mit Ergebnissen der kulturvergleichenden Erforschung menschlichen Verhaltens. So nimmt Eibl-Eibesfeldt anhand reichhaltiger Belege an, daß man von einer „funktionellen Äquivalenz konkreter verbaler und nichtverbaler Akte und nicht generell von einer Äquivalenz verbalen und nichtverbalen Verhaltens" sprechen kann.37 Es ist zwar richtig, daß Nichtverbales in Verbales aktweise „übersetzt" werden kann, aber dafür muß man kein beiden Verhaltensweisen „zugrundeliegendes Regelsystem" behaupten38. Man kommt so nur in den Regreß immer neuer Regelsysteme ins Unendliche. Dem hat Plessner durch die Konzeption der Rolle als Schauspielen vorgebeugt.
36 H. Plessner, Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens (1941), in: GS VII, S. 360. 37 I. Eibl-Eibesfeldt, Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Grundriß der Humanethologie, München 1995, S. 744. 38 Ebd., S. 745.
Der Dauertest des gegenseitigen Blickkontaktes
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Die Beherrschung einer Rolle zeigt sich in der Tat darin, daß man zwischen ihrem Schaubild, dem Habitus, und ihrem Sprachverhalten je nach Situation angemessen zu übersetzen vermag. Es kommt beim Rollenerlernen gerade auf diese Einspielung beider Aspekte, der Positions- und der Perspektivenwechsel, aufeinander an. Die menschlichen Körperleibern in Raum und Zeit überhaupt möglichen Positionen werden sprachlich als Perspektiven eingenommen. Die Ausführung körperleiblicher Bewegungen, in Raum und Zeit eine bestimmte Position zu behaupten, erscheint als die Verwirklichung einer Variante, die in den sprachlich erschlossenen Möglichkeiten, sich zu positionieren, in den Perspektiven also, vorkommen müßte. Diese Übersetzungskompetenz zwischen Position und Perspektive fehlt, wenn ich an das KantMotto auf der Titelseite erinnern darf, Marionetten, kommt jedoch dem Marionettenspieler zu. Wir führen körperleibliche Bewegungen aus und nehmen sie perspektivisch wahr. Daher reicht es nicht aus, daß sie im Sinne der Gestaltpsychologie Gestalt haben.39 Ihr ganzheitliches Erscheinungsbild, der Habitus eben, der die bloß addierte Summe von Gestalten überschießt, kommt durch den Perspektivcharakter der Positionierung zustande. Wir nehmen Positionierungen gleichsam in dem Schweif ihres Perspektivcharakters an. Diese Ubersetzbarkeit zwischen körper-leiblichem Habitus und metaphorischem Sprachgebrauch bezieht sich auf die drei menschenmöglichen Positionen: die des Leibes, die des Körpers und die der beides ermöglichenden Exzentrizität. Hier treffen immer gerade jetzt Positionalität und Perspektivität zusammen. Das Medium dieses aktualen Zusammentreffens, des Vollzuges der perspektivisch möglichen Positionsformen ist der gegenseitige Blickkontakt, ist der „Blick, der dem anderen begegnet. In ihm haben wir das elementare Phänomen der Reziprozität zwischen mir und dem Anderen. Sobald mein Blick das fremde Auge trifft, sehe ich mich erblickt, angeblickt ... Der Andere sieht nicht nur aus, sondern - mich an und steht damit in der Position des Vis-à-vis als derjenige, mit dem ich den Platz tauschen kann. In dieser Vertauschbarkeit des Blickpunkts, die mir sein Blick bezeugt, ist er ein anderer, bin ich für ihn ein Anderer."40 Der Andere kommt aber in der Selbstbeziehung bereits vor, d. h. in dem Doppelgängertum zwischen dem Spieler und dem Träger, was nur der gegenseitige Blickkontakt vermitteln kann, der in beiden Richtungen durchlässig und doppelt gerichtet ist: „Indem die Durchlässigkeit des erblickten Blicks mein Blicken an seine Augen fixiert, ist mir zugleich die Symmetrieebene gesichert, um die mein mir selbst nicht sichtbares Gesicht sich ordnet. Am .Leitfaden' des begegnenden Blicks kann daher die Entdeckung des Körperschemas erfolgen".41 Diese Ubersetzbarkeit der Rollenaspekte in ihrer Aufführung vorausgesetzt, wie stellt sich nun - gemessen an der Rolle - normalerweise die Eingespieltheit der Posi39 Vgl. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 93-100. 40 Ders., Zur Anthropologie der Nachahmung (1948), in: GS VII, S. 394. 41 Ebd., S. 395.
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tionen und Perspektiven dar? - Sie erscheint in den „entwicklungsfähigen" Verhaltensarten des „Sprechens, planmäßigen Handelns, variablen Gestaltens". 42 Entwicklungsfähig sind Verhaltensarten, die das Leibsein und das Körperhaben miteinander verschränken. In derartigen Verbindungen beider Aspekte kann die Instrumentalität des Körpers oder die Expressivität des Leibes dominieren. Aus der ersten Kombination kann man die primär gegenständliche Orientierung gewinnen, die in Phänomenen wie dem Homo faber vom Werkzeuggebrauch und der Werkzeugherstellung bis zur erfinderischen Intelligenz reicht. Letztere sucht und handelt daher planmäßig, um finden zu können, im ausdifferenziertesten Falle handelt sie allein bewußt. Aber auch hier gilt die Instrumentierung des eigenen Körpers nicht absolut: „Nur in der Verschränkung von Abgehobensein und Dabeisein, Ferne und Nähe erfüllt die Bewußtseinsimmanenz ihren Wirklichkeitsaufschließenden Sinn. Nur in der Vermittlung durch meinen Körper, der ich selbst leibhaft bin (obwohl ich ihn habe), ist das Ich bei den Dingen, schauend und handelnd." 43 Diese weltoffene Haltung verlangt nach außen eine auf die Vergegenständlichung und nach innen eine auf die dementsprechende Instrumentierung des eigenen Körpers gerichtete Stellung (Position). Zu ihr gehört im Funktionskreis der Sinne die Dominanz des AugeHand-Sehfeldes, in dem der Fernsinn des Sehens mit dem Nahsinn taktilen Fühlens kooperiert. 44 In der Verschränkung zwischen Leibsein und Körperhaben kann aber auch der Expressivität des Leibes der Vorrang zukommen. Das Ich wandert dann für einen Beobachter von der Gegenstandsstellung in seine Selbststellung. Es folgt zwar seinen zentrisch spontanen Ausdrucksbewegungen, versucht aber, diese an der Leibesfläche, insbesondere im Gesicht, und in der Stimme durch Handlungsmuster der Verkörperung im Zaume des Gestus zu halten. „Gehören zum Gesicht Verdecktheit vor sich und Offenheit gegen draußen, weshalb der einzelne durch sein Gesicht aus sich herausgesetzt und jeder Grenzreaktion ausgeliefert ist, bevor er noch durch Mienenspiel sich schützen kann, so ist die Stimme das ideale Medium der Entfaltung von innen nach außen, graduierbar nach Stärke, Höhe, emotionaler Stimmungs- und Umstimmungskraft, modellierbar und artikulierbar als gesungener wie als gesprochener Laut, als ,Träger' musikalischer und sprachlicher Mitteilung." In der Stimme „treten wir, ständig uns selber hörend, nach innen wie nach außen offen und aufgedeckt, in allmählichem Ubergang regulierbarer Entfaltung in den gemeinschaftlichen Konnex des Kündens und Vernehmens." 45 (Vgl. 2.11. u. 2.12.)
42 H . Plessner, Lachen und Weinen, a. a. O., S. 207, 209 f. 43 Ebd., S. 247 f. 44 Vgl. ders., Anthropologie der Sinne (1970), in: GS III, S. 3 3 3 - 3 4 2 . 45 Ders., Lachen und Weinen, a. a. O., S. 251.
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Oft werden Mimik und Gestik von Menschen so verstanden, als ob Mimik aus inneren Erregungen stamme, die wir mit allen tierischen Lebewesen teilen und die sich auf vergleichbare Weise nach außen entladen, während Gestik eine spezifisch menschliche, weil symbolische Uberformung des Mimus darstelle, die eine Art „Zwischenglied zwischen Tiersprache und Menschensprache" sei. Dabei beweist die Gebärdensprache, die ζ. B. Taubstumme verwenden, das gerade Gegenteil: „Die Gestik der Gebärdensprache stilisiert ein mimisches Material. Darum bleibt sie doch nicht Mimik, sondern wird Sprache, deren Zeichen Gesten, d.h. körperliche Gebärden (unter Umständen auch Lautgebärden), sind." 46 Der Zusammenhang zwischen nonverbaler und verbaler Äußerung, den wir oben schon als eine situationskonkrete Gleichwertigkeit im Hinblick auf die Funktionseinheit des Rollenspiels bezeichnet hatten, muß anders als eine evolutionäre Zwischenstufe zwischen Tier und Mensch begriffen werden. Die funktionale Einheit des Rollenspiels entsteht im Rahmen der situativ zu aktualisierenden Eingespieltheit der Organisationsform in die interaktive Positionsform. Die Gestik des „wortlosen Sagens"47 kann Wortsprache situativ ersetzen oder ergänzen (verstärken oder schwächen), aber sie hat implizit schon immer einen Sprachcharakter, der auch wortsprachlich expliziert werden kann. Gleichwohl bleibt ein Unterschied zwischen der Mimik und Gestik bestehen: „Wenn die Geste etwas ausdrückt, indem der Mensch mit ihr etwas meint, so hat der mimische Ausdruck (gleich dem physiognomischen) eine Bedeutung, indem sich in ihm eine Erregung (ein Zustand oder eine Aufwallung des Innern) spiegelnd äußert." 48 Was jetzt, im Falle der gestenlosen Mimik, fehlt, ist die „Dazwischenkunft der Person", die den Gestus herstellt.49 Es mangelt zwar nicht strukturell an Eingespieltheit überhaupt, wohl aber situativ daran, daß die Einspielung nicht durch Personalität aktualisiert werden kann, d. h. nicht durch einen exzentrischen Abstand von der eigenen KörperLeib-Differenz, den das Rollenspiel normalerweise gewährt. Das Entgleiten der Gestik in bloße Mimik signalisiert, daß der Betreffende aus der Rolle fällt, sei es, weil er sie nicht situativ variieren kann, sei es, weil die Situation durch kein elementares Rollenspiel zu meistern ist, menschenunwürdig wird. Aus dem Schauspiel der Rolle erwachsen aber nicht nur gegenständlich orientierte Handlungsformen, in denen die Verkörperung vorherrscht, oder Ausdrucksformen, in denen mimisch unwillentlich und gestisch willentlich die Verleiblichung dominiert. Die in diesen Formen verschiedene Verschränkung von Leib und Körper, wie sie habituell beobachtet werden kann, wird selbst durch Metaphorik, die an die Szene
46 47 48 49
Ebd., S. 255 f. Ebd., S. 257. Ebd., S. 259. Vgl. ebd., S.259Í.
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des Schaubildes anknüpft, in Sprache übersetzt und damit über die Situation hinausgehend soziokulturell reproduzierbar. Der zeitlichen Erfüllung der rollenkonformen Körperleibbewegungen im Positionsraum entspricht strukturell eine rollenkonforme Sprache. In der Sprache werden die gegenstands- und die ausdrucksorientierten Verschränkungen ausdrücklich aufeinander beziehbar. Das Ausdrucksverhältnis wird explizit zum Gegenstand von Ausdrücken gemacht, so daß der Sache nach symbolisch überformter Ausdruck und planvolles Handeln - über die Situation, in der die Körperleiber aktual ihre Positionen ausführen, hinausgehend - ineinander übersetzbar werden. Im Sprachmedium haben wir es mit Handlungsausdrücken und mit Ausdruckshandlungen zu tun, die sich symbolisch von der situativen Aktualisierung der Körperleibbewegungen ablösen und zu Zeichen der Vertretbarkeit werden. Allein die Symbolpraktik des Eigennamens hält - von der täglichen Anrede bis zur Beerdigungszeremonie - an der Aktualisierung der Eingespieltheit von Organisations- und Positionsform des Individuums fest, das sein körperlich vertretbares Ich nicht von seinem leiblich unvertretbarem Ich ablösen kann. Im Gebrauch der „Personalpronomina" werden die von menschlichen Lebewesen einnehmbaren Positionen in Perspektiven transformiert. 50 Das Sprachmedium betrifft die ganze Breite der von menschlichen Lebewesen gemachten Erfahrungen, eben im Rückbezug zwischen der expressiven Selbsterfahrung als Leib („In-Verhältnis" im Körperleib), die eher auditiv teilnehmend und zeitbildend am Phänomen der Stimme gemacht wird, und der Erfahrung, verkörpern zu können, („Gegenüber-Verhältnis" zur Umwelt), die eher visuell beobachtend, verräumlichend und hantierend gemacht wird. 51 Gleichwohl bricht das Sprachmedium menschliche Erfahrungen symbolisch auf, d. h. es hebt sie von dem aktualen sensomotorischen Rückbezug des leibhaftigen Ichs zugunsten des soziokulturell verkörperten Ichs ab. Der Habitus ist Metapher.
4.9. Der Spielcharakter menschlichen Verhaltens: sein Grenzproblem am Ungespielten In unseren westlichen Kulturen sind wir geneigt, die Frage, wie sich eine ihrer selbst mächtige, also nicht gerade ohnmächtige Person zu erkennen gebe, im ersten Anlauf wie soeben erörtert zu beantworten: Diese Selbstmächtigkeit zeige sich darin, daß sich die Person sprachlich zu artikulieren und/oder dementsprechend auch nonverbal
50 Vgl. ders., Der kategorische Konjunktiv. Ein Versuch über die Leidenschaft (1968), in: GS VIII, S. 338-342. 51 Vgl. Hans Redeker, Helmuth Plessner oder die Verkörperte Philosophie, Berlin 1993, S. 204-210.
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Verhaltens
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sinnvoll zu handeln respektive sich mimisch-gestisch zum Ausdruck zu bringen vermag. Wir haben gesehen, daß in dieser Bestimmung die Erwartung einer Konformität mit soziokulturell elementarer Rollenhaftigkeit zum Vorschein kommt, deren soziokulturelle Differenziertheit im 5. Kapitel näher entfaltet werden wird. Unter den elementar rollenbezogenen Verschränkungen von Körper-Haben und Leibsein dominiert im Ausdruck die Expressivität des Leibes und im Handeln die Instrumentalität des Körpers. Obgleich demgegenüber in der Sprache Ausdruck und Handeln expressis verbis integriert werden können, stellt sich diese Verschränkung aber nochmals verschieden in der Rede und in der Schrift dar, worauf ebenfalls im nächsten Kapitel noch zurückzukommen sein wird. Bislang, in der Szenerie des elementaren Rollenspiels, ist die Sprache erst im Sinne der Rede präsent, in der der körperleibliche Habitus metaphorisch übersetzbar gehalten wird, ohne in der Schrift gleichsam zu verschwinden, woraus sich dann das Problem seiner „Spuren" (J. Derrida) ergibt. Soweit zur Erinnerung an die Phänomene, in denen uns Menschen sogleich als solche vorkommen, die sich von sich aus auf eine positive Bestimmung, eben etwas verkörpern und damit zugleich verleiblichen zu können, verstehen. Demgegenüber läßt sich fragen, wie denn derartig positiv bestimmte Verschränkungen von Körper und Leib zu erlernen und zu ändern seien. Diese Frage verweist uns zurück auf das menschliche Verhaltensspiel im Unterschied zu dem Spielverhalten, das wir mit höheren Säugern teilen (vgl. 1.7., 2.13., 3.9., 3.14.). Das Spiel in dem einfachsten Verhaltenssinne, Verhalten von einer bestimmten Anbindung ablösen und an einen neuen Antrieb (im entwickelteren Falle: an eine neue Motivation) binden zu können, wurde so - vom Schauspiel mit der Maske ausgehend - zum Spiel in und mit der soziokulturellen Elementarrolle (vgl. 4.3., 4.5., 4.6.) entfaltet. Dabei zeigt sich die Spezifik des Verhaltensspieles in und mit der Rolle, also im Unterschied zum Spielverhalten, als die folgende doppelte Ambivalenz: Einerseits enthält das Spiel die Doppeldeutung „zwischen Binden und Gebundensein" 52 . Das Gebundensein betrifft sowohl die alte als auch die neue Bindung. Der Reiz des Spieles besteht nicht einfach in dem Gebundensein, sei es in dem alten, sei es in dem neuen Gebundensein, sondern in der Bewegung des Wechsels dazwischen. Die Befreiung von der alten Bindung enthält auch die Möglichkeit zur Befreiung von jeglicher Bindung. Sie involviert diesen Taumel der Freiheit im Sinne von Ungebundenheit überhaupt, ein Schwindel erregendes Moment der Schwerelosigkeit gegenüber dem Sich-Verhalten-Müssen schlechthin. In der Ablösung von dieser je bestimmten Bindung entsteht auch die Gefahr, ganz den Boden unter den Füßen zu verlieren und gleichsam schwerelos in den Weltenraum davonzugleiten, ohne Rückkehr in irgendeine Rückbezüglichkeit des eigenen Körperleibes: quasi eine Höhensucht und zugleich Höhenangst. Und das umgekehrte Einschwingen in eine neue
52 H . Plessner, Lachen und Weinen, a. a. O., S. 289.
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der Person
Bindung enthält auch die Vernichtung der Freiheit im Sinne der totalen Ungebundenheit, etwas von: wieder laufen, stehen, sich irdisch, dem eigenen Körperleib angemessen bewegen zu können, die Erlösung vom Schreckgespinst des Wahnsinnes, aus dem man womöglich nicht hätte zurückkehren können. Die Befriedigung des Spieles, nimmt man es in seiner Konsequenz, liegt in der Bannung dieser Reizgefahr, sich in dem Wechsel der bestimmten Bindungen in eine dazu ganz unbestimmte Bindungslosigkeit zu verlieren. Seine Symbolpraxis setzt kulturgeschichtlich wohl nicht zufällig an jenem Schrecken an, der fasziniert, und an jenem Fesselnden, das den Schrecken verbreitet, die dem Menschen elementare Rollenhaftigkeit womöglich selber zu ver-spielen. Auch das Spielvergnügen der heute Nachwachsenden läßt sich kaum unter der Unglücksgefahr von Schlimmerem als Achterbahnfahren und Fallschirmspringen haben, womöglich auch der Realisierung eines Psychothrillers im wirklichen Leben. Die Bannung der Spielgefahr, sich selber, d. h. seinen eigenen Körperleib, zu ver-spielen, hebt im Spielen selber an. Sie liegt in der „Wahrung des labilen Zwischenzustands einer immer wieder zu erneuernden Bindung, die gegenseitig und gegensinnig zugleich ist, weil sie in Binden und Sichbinden-lassen besteht." 53 Andererseits lebt das Spiel unter Menschen von der Doppeldeutigkeit „zwischen Wirklichkeit und Schein" 54 , also von einer Differenz, die den Vorrang einer bestimmten Bindungsart unter den vielfältig möglichen Bindungsarten sichert. Während das tierische Spielverhalten unter vielen Verhaltens arten (der Nahrungssuche, des Nestbaus, der Partnersuche und Fortpflanzung, der Aufzucht, der Flucht, des Kampfes) raumzeitlich begrenzt vorkommt, vor allem eingeschränkt auf eine relativ kurze Jugendphase extensiv hervortritt, also insgesamt in den phylogenetisch (stammesgeschichtlich) vorgegebenen Funktionskreis des Verhaltens der Population zurückläuft, dient das menschliche Verhaltensspiel angesichts der Variationsbreite von Kulturen offenbar der Einübung in alle möglichen, noch zu erfindenden und sich potentiell über das ganze Leben der Individuen erstreckenden Verhaltensarten. Insoweit der Vorrang der Bindungsart nicht durch den Funktionskreis des Verhaltens der Population vorgegebenen ist, tritt eine andere Unterscheidung an die Stelle des Rücklaufes ins Verhalten, eben die Differenz zwischen Wirklichkeit und Schein. Im Alltag löst sich diese Doppeldeutung zwischen Wirklichkeit und Schein zugunsten der gewöhnlich teilbaren Wirklichkeit auf. Im alltäglichen Ernst dominiert das Gebundensein, zunächst an den Vorrang der Alltagsnöte, sodann innerhalb des Spieles das Gebundensein an die Spielwelt des Scheines einer anderen (womöglich neuen) Bindungsart. Schließlich zeichnet sich gegenüber der Sphäre alltäglichen Ernstes das außeralltägliche Spiel mit seitenverkehrten Auflösungen der Ambivalenzen ab. Was
53 Ebd. 54 Ebd.
Der Spielcharakter menschlichen Verhaltens
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alltäglich nur nebenher gespielt werden kann, vermag außeralltäglich zu einem Spielernst eigener Güte zu werden, denken wir an die im 2. Kapitel behandelten Bezüge auf die Kunstgeschichte. Bevor ich auf die sozio-kulturgeschichtliche Bindung dieser außeralltäglichen Spielsymbolik (in 5.3.-5.7.) ans Sakrale und nachsakral Öffentliche zurückkommen werde, wird es (in 4.14.) individuell betrachtet u m ihre Bindung an durch den eigenen Körperleib bedingte Süchte und Leidenschaften gehen. Das Individuelle erscheint zunächst als eine Verhaltensbedingung des eigenen Körperleibes, die von der Elementarrolle abweicht, sei es durch süchtige oder sei es durch passionierte Bindung, ohne die Ausübung der Elementarrolle grundsätzlich zu verunmöglichen. Derartige Abweichungen - im Sinne der individuell bedingten Unter- oder Überschreitung der Elementarrolle - sind in gewissem Ausmaß in der Symbolik der Eigennamen enthalten, die in Zeremonien der Geburt und Aufnahme in die Erwachsenengemeinschaft verliehen werden. Aber diese Abweichungen können zu mehr als der außeralltäglichen Feier von Individualität geraten. Sie können unbedingt werden und damit aus den Grenzen des Spieles, aus der gegenseitigen und gegensinnigen Bindung, herausfallen. Gegenüber den Ambivalenzen des Spieles münden die Phänomene der positiven Selbstbestimmung im Ausdruck, Handeln und Sprechen der Elementarrolle in eine eindeutige Bedeutung (der Verkörperung) und in einen einsinnigen Sinn (der Verleiblichung). Das Spielen in der Rolle minimiert die Gefahren des Spielens mit der Rolle, gar mit der Rollenhaftigkeit des menschlichen Daseins, enorm. Die Rolle reduziert die Spielgefahr auf ein Verhaltensmaß, eine Verhältnismäßigkeit. Der Maskenträger hält seinen Doppelgänger, den Rollenspieler, vor dem Davonfliegen zurück. Die Eindeutigkeit und Einsinnigkeit der Rollenphänomene erhellen aber nur im Vergleich mit den Spielphänomenen, also im Vergleich mit Doppeldeutigem und Doppelsinnigem. Sofern ich nur in der Rolle spiele, mich also allein mit ihr identifiziere, scheint mein Sinn des Spieles mir selbst in der Bedeutung der Rolle für andere aufzugehen. Sofern ich aber mit der Rolle spiele, aus welcher individuell bedingten Abweichung von ihr auch immer heraus, treten die Ambivalenzen meines Rollenspieles auch für mich selbst hervor, womöglich dadurch gefördert, daß mich ein anderer Liebhaber der Unter- oder Überbietung des Rollenspieles darin noch bestärkt. Indessen muß man auch den in körperleiblicher Hinsicht nicht beliebig reproduzierbaren Moment der von Bindungen überhaupt freien Schwerelosigkeit bedenken. Die Kehrseite des erwähnten Freiheitstaumels besteht in der Gefahr, das Spielen könne sich gegenüber den Verhaltensmöglichkeiten überhaupt verselbständigen. Wenn es Menschen möglich ist, Spielverhalten in Verhaltensspiele zu transformieren, warum sollte es dann nicht auch möglich sein, Verhaltensspiele in grenzenlose Spiele zu überführen, die das Gebundensein dem Entbundensein opfern und auf die Auszeichnung der Wirklichkeit gegenüber dem Schein des Spieles verzichten? Es ist nicht von vornherein ausgemacht, daß das Spielen in eine menschlich rekonstruierte Ver-
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der Person
haltenssicherheit zurückführen, sich also immerhin Mehrdeutigkeit der Verhaltensablösung und Mehrsinnigkeit seiner erneuten Anbindung noch ergeben können. Leugnen wir nicht die oft nur unterschwellig zu machende Erfahrung, eine an einem selbst oder an einem Mitmenschen beobachtete Ver-Rückung könne womöglich ins Grenzenlose ausufern. Die Verhaltensgrenze für das Spielen erlernen wir aber im Lachen und Weinen, nicht nur in der Kindheit, wenn wir uns stoßen und schlagen, uns hänseln und verspotten, und nicht nur in der symbolischen Übertragung des erotischen Triebüberschusses in der Jugendzeit, wenn wir uns die erste Berührung und den ersten Kuß ausmalen, den ersten Korb und die endgültige Abweisung von der geliebten Person befürchten. Sogar wir, die wir aus einer auf das Selbstbewußtsein versessenen Kultur stammen, die inzwischen Gefahr läuft, zu einer reinen Spielkultur zu werden, gerade wir haben die Spiel- und damit Verhaltensgrenze erst wieder zu erlernen. Es ist nun das große Verdienst von Helmuth Plessner gewesen, bereits in den 30er Jahren unseres ausgehenden Jahrhunderts die philosophische Konsequenz aus dem Spielcharakter des menschlichen Daseins gezogen und zugleich das Grenzproblem des Spielcharakters energisch und aufschlußreich gestellt zu haben. Die Konsequenz zu ziehen, das hieß, die gesamte Relation zwischen dem Erklärunsbedürftigen (explanandum), der Spezifik des menschlichen Verhaltens, und dem Erklärenden (explanans), den bisherigen Wesensauffassungen vom Menschen, umzustellen: „Die Wissenschaft fragt nicht: warum ist das Leben ernst, sie fragt: warum spielt es? Und die seltenen Versuche, das Spiel zur Basis zu nehmen und die Gedrücktheit des Daseins als den Verlust seiner ursprünglichen Leichtigkeit, einer im Grunde immer noch möglichen Spielfreiheit aufzufassen, nimmt sie nicht ernst." 5 5 Dies schreibt Plessner anläßlich seiner philosophischen Würdigung des einschlägigen Buches von Buytendijk, dem befreundeten großen Verhaltensforscher 56 , gegen die bis dato umgekehrte Problemstellung, das Spielen der Menschen instrumenteil oder funktional als Vor- und Einübung in etwas anderes, nämlich von dem jeweils für die Basis gehaltenen Ernst einer Kultur her, zu begreifen, wird dabei dieser Ernst als Arbeit oder auch als eine andere Handlungs- und Sprachform verstanden. „Man merkt den Theorien des Spiels eine Schwierigkeit an. Sie alle suchen seine Möglichkeit zu verstehen, indem sie es von der Basis des Ernstes her begreiflich machen wollen. Das Spiel und seine Unvernünftigkeit trägt die Beweislast, nicht die Ökonomie
55 Helmuth Plessner, Das Geheimnis des Spielens, in: Geistige Arbeit. Zeitung aus der wissenschaftlichen Welt (Neue Folge der Minerva-Zeitschrift/Zentralblatt für Gelehrte), hg. v. Hans Sikorski, Berlin/Leipzig (Walter de Gruyter & C o ) 1934, Nr. 17 (Ausgabe v. 5. September 1934), S. 8. 56 Vgl. Frederik J. J. Buytendijk, Wesen und Sinn des Spiels. Das Spielen der Menschen und Tiere als Erscheinungsform der Lebenstriebe, Berlin 1933.
Der Spielcharakter menschlichen Verhaltens
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und das berechnende Leben." 57 Im „Bilde des Spiels", in der „Ambivalenz" zwischen dem Drang „nach Selbständigkeit und Bindung", werde „an die unter der Sorge und kämpferischer Verzerrung vergessene Tiefe schuldlos-gelassenen Lebens erinnert". Wenn wir Menschen, von dem „zerbrechlichen Gleichgewicht" zwischen unserem Streben nach Selbständigkeit und Bindung her gesehen, einer „schwebenden Mitte" zwischen beiden bedürfen, „schwebend genug, um dem Wechsel Unberechenbarkeit zu wahren, Mitte genug, um keinen der beiden Triebe allein ausschwingen zu lassen", dann ist es, im anthropologischen Vergleich betrachtet, nicht verwunderlich, sondern erwartbar, daß die „Sphären des Erotischen und des Kampfes bei Tier und Mensch die primären Spielgebiete" bilden. 58 Gleichzeitig hat Plessner aber für das Problem der Verhaltensgrenze des Menschen möglichen Spielens einen phänomenologischen Aufweis zustande gebracht, wohl nicht zufällig in seinen Groninger Exilvorlesungen ab Mitte der 30er Jahre. Man muß sich nämlich fragen, was geschieht, wenn die Lage, in die Menschen kommen, von ihnen nicht mehr beantwortet werden kann, also weder einer Elementarrolle gemäß klar noch spielerisch im Sinne der Ambivalenzen des Spieles unter Menschen auf die Lage reagiert werden kann. Die Situation ist dann für sie nicht ernsthaft, d. h. nicht durch mehr oder minder eindeutige Körperbeherrschung und mehr oder minder einsinnigen Leibesausdruck sowie beider sprachliche Verschränkung, zu nehmen. Die Lage ist dann aber auch nicht spielerisch zu bewältigen, d. h. ebenso nicht durch eine Mehrdeutigkeit respektive Mehrsinnigkeit in der Verschränkung von Leibesausdruck und Körperbeherrschung, deren Mehr immer noch an gegenseitige Gegensinnigkeit gebunden wäre. Das menschliche Spiel zeichnet sich letztlich dadurch aus, daß sich die an ihm beteiligten Partner den Gegensinn, von der einen (alten) in die andere (neue) Bindungsrichtung, von der wirklichen (ernsthaften) in die scheinhafte (Spiel)Welt laufen zu können, gegenseitig zubilligen, die Ambivalenzen also, obgleich nicht berechenbar, doch allen entdeckbar halten. Plessner versteht Lachen und Weinen als diejenigen Phänomene, die eintreten, wenn menschliches Verhalten auf seine nicht mehr verschiebbare „Grenze zwischen Sinn und Nicht-Sinn" stößt. Menschliches Verhalten gerät an dieser Grenze „über das ihm Mögliche hinaus, und der Träger des Verhaltens, der Mensch, antwortet darauf mit Lachen oder Weinen. Mit Lachen auf die Begrenzung durch Mehrsinnigkeit der Verweisungen, mit Weinen auf die Begrenzung durch Verweisungslosigkeit, durch Aufhebung der Verhältnismäßigkeit im Ganzen des Daseins." 59 Dieser Zugang der Philosophischen Anthropologie zu den Verhaltensgrenzen, auch den Grenzen der Verhaltensspiele, von Menschen ist häufig mißverstanden wor-
57 H. Plessner, Das Geheimnis des Spielens, a. a. O., S. 8. 58 Ebd. 59 H. Plessner, Lachen und Weinen, a. a. O.
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Zwischen Lachen und Weinen I: Die Individualisierung
der Person
den. 6 0 Natürlich wußte Plessner ebenso gut wie jeder andere, daß gestische Anspielungen auf Lachen oder Weinen in allen menschlichen Verhaltensarten vorkommen können, ebenfalls, daß Lachen und Weinen sogar Bestandteil menschlicher Verhaltensspiele sein können, und zwar ein wichtiges Moment derselben, gleichsam die Zeugen ihrer Einbürgerung. All diese Vorkommen von Lachen und Weinen vermerkt Plessner ausdrücklich unter den „Anlässen" 6 1 zu lachen oder zu weinen. Man muß sich nur fragen, worauf diese Anspielungen anspielen und was diese spielerischen Vereinnahmungen vereinnahmen, damit sie zu Anlässen eines plötzlichen U m schwunges in ein eben ungespieltes Lachen und/oder ungespieltes Weinen werden können. Da es hier und jetzt um die phänomenologische Begrenzung menschlichen Verhaltens einschließlich des spezifisch menschlichen Spielverhaltens geht, müssen wir einstweilen davon absehen, daß Lachen und Weinen ihrerseits gespielt werden können, ja, als Verhaltensspiel, etwa in Lach- oder Weinkulturen, zu kultivieren sind. Wir verstehen die Kultivierungen des Lachens oder Weinens, etwa dessen Verbergungen oder Betonungen, den präventiv antizipatorischen oder strategischen Umgang mit ihnen, nicht, wenn wir nicht zuvor mit dem ungespielten Lachen und Weinen begonnen haben, in die jeder Nachwachsende von neuem gerät. Es wird sich dann nämlich herausstellen, daß die Transformation des (tierischen) Spielverhaltens in (menschliche) Verhaltensspiele an eine Rückkopplung zu binden ist, um Menschen lebbar bleiben zu können. Das in seiner Konsequenz vom Verhalten des Lebewesens Mensch entbundene Spiel muß in eine spielerische Bindung seines Verhaltens zurücklaufen können. Wer übersteigt, worauf nicht einmal mehr ein eigener Körperleib - gewissermaßen in Vertretung der Person - antworten kann, setzt mindestens potentiell auf Unmenschliches.
4.10. Methodische Bemerkung zum Phänomenzusammenhang Wieder bringt, methodisch gesehen (vgl. O.5.), erst die Grenzbestimmung eines vorangegangenen Phänomens durch Kontrast mit dem folgenden Phänomen das Medium zum Vorschein, das wir phänomenologisch unauffällig schon wie selbstver-
60 Vgl. aus der jüngeren soziologischen Literatur die Riicktransformation von Plessners Ansatz in einen alten bewußtseinsphilosophischen Dualismus durch Peter L. Berger, Erlösendes Lachen. Das Komische in der menschlichen Erfahrung, Berlin/New York 1998, S. 55 f. Vgl. aus der ethologisch eigentlich verwandten Literatur (diesen Hinweis verdanke ich Herrn Matthias Schloßberger, Berlin) das umgekehrt biologische Mißverständnis Norbert Bischof, Das Rätsel Odipus. Die biologischen Wurzeln des Urkonfliktes zwischen Intimität und Autonomie, München /Zürich 1989, S. 509. 61 Vgl. H. Plessner, Lachen und Weinen, a. a. O., S. 277 ff. u. 333 ff.
Ungespieltes Lachen und Weinen als spezifisch menschliche
Verhaltensgrenzen
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ständlich in Anspruch genommen haben, um das erste Phänomen vorstellend denken zu können. Die Unterstellung der Gegenseitigkeit im Handeln und Selbstausdruck trat noch nicht ausdrücklich in letzteren hervor, sondern kann rückwirkend vom Standpunkt der sprachlichen Verschränkung zwischen Handeln und Ausdruck am individuellen Verhalten selber auffallen. „Sprechend bin ich wie ein anderer, gegen ihn austauschbar, weil in die Reziprozität der Perspektiven eines Sprachgefüges von vornherein eingetauscht. Ihm ist das Füreinander der Sprechenden strukturelle Bedingung." 6 2 Und vom Standpunkt des Spieles, als der Negation des alltäglichen Ernstes, wird offenbar, daß im zunächst für normal gehaltenen, weil rollenkonformen Handeln und Sprechen, gegenseitig eine Eindeutigkeit/Einsinnigkeit unterstellt wird, damit sie überhaupt problemlos ablaufen können. Schließlich tritt die für das Spielen charakteristische Gegenseitigkeit der Gegensinnigkeit erst im Kontrast zur einerseits beliebig und gleichgültig werdenden Vieldeutigkeit oder zur andererseits außeralltäglichen Leidenschaft und Sucht hervor, in denen wir einer erneuten, aber wie wir noch sehen werden - dann unbedingten Vereindeutigung/Vereinsinnigung begegnen werden. Hier und jetzt haben wir es mit der Grenzlage aller dieser möglichen Verhaltensformen zu tun, die auf Deutbarkeit und Sinnigkeit angelegt sind und daher auf der nicht mehr verschiebbaren Grenze von Sinn zu Nicht-Sinn (nicht zum Unsinn) in eine Krise geraten. Im ungespielten Lachen und Weinen brechen die Verhaltensformen zusammen, die in dem Sinne selbstbestimmt sind, als es ein Selbst im Ausgleich des Doppelgängertums zwischen mir, dem Träger der Person, und mir, dem individuellen Spieler der Rolle, gibt. Der Zusammenbruch selbstbestimmter Verhaltensweisen bringt die Medien des für uns erwartbar befundenen Verhaltensspektrums vom Spielen in und mit den Rollenkonformitäten zum Vorschein.
4.11. Ungespieltes Lachen und Weinen als spezifisch menschliche Verhaltensgrenzen: ihre Gemeinsamkeit Ungespieltes Lachen und Weinen „treten als unbeherrschte und als ungeformte Eruptionen des gleichsam verselbständigten Körpers in Erscheinung. Der Mensch verfällt ihnen, er fällt - ins Lachen, er läßt sich fallen - ins Weinen. Er antwortet in ihnen auf etwas, aber nicht in einer entsprechenden Formung, die der sprachlichen Gliederung, der mimischen Gebärde, Geste oder Handlung an die Seite zu stellen wäre. Er antwortet mit seinem Körper als Körper wie aus der Unmöglichkeit heraus, noch selber eine Antwort finden zu können. Und in der verlorenen Beherrschung über sich und seinen Leib erweist er sich als ein Wesen zugleich außerleiblicher Art,
62 Ders., Die Frage nach der Conditio humana, a. a. O., S. 178.
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Zwischen Lachen und Weinen I: Die Individualisierung der Person
das in Spannung zu seiner physischen Existenz lebt, ganz und gar an sie gebunden."63 Fragt man sich, was im Lachen und Weinen auseinanderbricht, so ist es die Verschränkung dazwischen, seinem Leibsein einen Ausdruck verleihen und zugleich seinen Körper haben zu können, die hier verloren geht. Die körperlichen Vorgänge emanzipieren sich zu einem anonym werdenden Automatismus. „Der Mensch wird von ihnen geschüttelt, gestoßen, außer Atem gebracht." 64 Weder kann der Leibesausdruck auf bestimmte Weise gestaltet noch eine Haltung eingenommen werden, die den Körper kontrolliert. Plessner sagt nun charakteristischerweise, daß die Person zwar ihre „Beherrschung" verliere, „aber sie bleibt Person, indem der Körper gewissermaßen für sie die Antwort übernimmt."65 Wir können uns - noch über die ersatzweise Art, im Lachen oder Weinen durch den verselbständigten Körper oder Leib zu antworten, hinausgehend - Situationen vorstellen, in denen nicht einmal mehr diese unkontrollierten Verhaltensweisen möglich sind. Es könnte etwa die Bedrohung von außen so überwältigend sein, daß selbst zum Lachen oder Weinen keine Zeit mehr bleibt, etwa Panik eintritt. Es könnte auch die kulturelle Privilegierung einer selbstbeherrschten oder spielerischen Lebenshaltung so stark fixiert sein, daß die betreffende Person wenigstens nicht augenblicklich ins Lachen oder Weinen fallen kann, sondern erst nach einer Verschleppung. Immerhin liegt demnach im Lachen oder Weinen überhaupt noch eine spezifisch menschliche Verhaltensantwort vor, wenngleich eine - am Selbstbewußtsein gemessen - unbeherrschte und indirekte, weil über die Verselbständigung des Körpers oder des Leibes laufende, die auch kein Spiel im engeren Sinne mehr ermöglicht. Wir merken auch als bloße Beobachter dieser Phänomene, daß da etwas - wohl zutiefst in allen Kulturen und zu allen Zeiten - Menschliches passiert, obgleich oder gerade weil es sich nicht um eine Selbstbeherrschung, gar noch nach dem Modell des Selbstbewußtseins, im Gegensatz zum Spielen, handelt, sondern um Phänomene „quer zu allen diesen Gegensätzen": „Wir können echtem Lachen und Weinen gegenüber nur mit Uberwindung unbeteiligte Zuschauer bleiben." 66 Auf die Frage, warum dies so sei, antwortet Plessner, weil der „Verlust der Beherrschung im Ganzen Ausdruckswert" erlange: „In der Katastrophe noch, die sein sonst beherrschtes Verhältnis zum eigenen Leib erfährt, triumphiert der Mensch und bestätigt sich als Mensch. ... Die effektive Unmöglichkeit, einen entsprechenden Ausdruck und eine passende Antwort zu finden, ist zugleich der einzig entsprechende Ausdruck, die einzig passende Antwort." 67
63 64 65 66 67
Ders., Lachen und Weinen, a. a. O., S. 234f. Ebd., S. 274. Ebd., S. 237. Ebd., S. 224, 262. Ebd., S. 274.
Ungespieltes Lachen und Weinen als spezifisch menschliche Verhaltensgrenzen
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Konnte bisher phänomenologisch unauffällig die Vorstellung mitlaufen, daß Exzentrizität womöglich nicht mit Selbstbewußtsein, aber zumindest mit Selbstbeherrschung der positionalen Lage zusammenfalle, so eröffnen die jetzigen Phänomene der Grenze menschlichen Verhaltens eine andere Art von Souveränität, die nicht mehr in diesem oder einem anderen Selbstsein besteht, sondern in dem Verlust und Verzicht darauf angesichts seines Anderen. Die Plessner eigentümliche Freiheitskonzeption ist eine der Souveränität in dem alltagssprachlichen Sinne, auch noch gegenüber dem eigenen Selbstsein, insbesondere qua Selbstbewußtsein, Distanz gewinnen zu können. Gerade weil dieser Abstand zum Selbst ungewollt eintritt, nämlich unmittelbar wie sich der Leib aufdrängt, und es nicht in der Willkür des Selbst liegt, diesen Abstand unbemerkt und folgenlos zu überspringen, wie es ansonsten willkürlich mit dem eigenen Körper umgehen kann, bewährt sich hier der konzeptionell von Anfang an hervorgehobene Zugang der Philosophischen Anthropologie zum eigenen Körperleib (vgl. 1.2.). Im Verhaltensspiel wird man selbst frei von etwas Bestimmtem und frei zu etwas Bestimmten. Das Selbst erscheint nicht mehr fixiert in einer bestimmten Zuordnung zwischen Ausdruck, Handeln und Sprechen, sondern als der Ubergang von einer solchen Selbstbestimmung zu einer anderen dieser Art von Zuordnung. Im Lachen und Weinen aber kann man frei werden für den Umgang mit Unbestimmtem, aber auf andere Weise als im reinen, vom Verhalten entkoppelten Spiel. Es ist nunmehr sogar dasjenige Selbst, das im Spiel allein als der Übergang oder Vollzug zutage trat, welches jetzt nicht mehr ausreicht. Nicht nur das positiv fixierte Selbst geht gleichsam baden, sondern auch noch dasjenige Selbst, welches im spielerischen Wechsel zwischen Zuordnungen bestand. Diese Selbstbeziehung kannte noch Schwindel, Taumel, Höhengefühl, da es zwar von Bindung abhob, sie aber noch in der Konsequenz der Selbstbeherrschung verfehlte. Seine Selbstbeherrschung über seinen eigenen K ö r perleib kam ihm noch so bestimmend vor, eben im bloßen Spiel, daß es bindungslos werden könnte. O b aus Sucht nach oder aus Angst vor der Bindungslosigkeit, sie schien und war machbar. Das Selbst jetzt, im ungespielten Lachen und Weinen, verschwindet demgegenüber in seinem Körperleib, der aber nun nicht mehr seiner ist und den es nicht mehr haben kann. Es fällt hier in das U n - , in die Negation der Ermöglichung seiner Selbstbestimmung selber, aus der es herkam. Das Souveränitätsproblem entsteht inzwischen nicht mehr aus dem sprachlichen oder spielerischen Verhältnis der Bestimmbarkeit von sich, sondern aus dem Verhältnis der Unbestimmtheit zu sich. In dieses Verhältnis zur eigenen Unbestimmtheit gerät man erst, wenn man außer sich geraten ist. „Im Verlust der Herrschaft über ihn (den Körper: H P K ) , im Verzicht auf ein Verhältnis zu ihm bezeugt der Mensch noch sein souveränes Verständnis des Unverstehbaren, noch seine Macht in der O h n macht, noch seine Freiheit und Größe im Zwang." 6 8 Es geht nun nicht mehr nur um
68 Ebd., S. 276.
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Zwischen Lachen und Weinen I: Die Individualisierung der Person
Perspektivenwechsel, die dank der Selbstreferenz der Sprache vom Betroffenen artikuliert und vorgestellt werden können, sondern erneut um Positionswechsel, eben die Bewegungsmöglichkeiten des Körperleibes. Die Abstandsbewegung des Spielens gegenüber dem Handeln und Sprechen wird auf neue Weise ernst, aber nicht durch Rückkehr ins Alltägliche oder Außeralltägliche, also nicht durch Wiederherstellung von Eindeutigkeit/Einsinnigkeit, sondern durch Begegnung mit einem Nicht-Sinn, der einfach nicht mehr lebbar ist, weder als eindeutig noch als mehrdeutig. Im langsam anhebenden Glucksen, das sich erst allmählich in Wellen des Schluchzens steigert, im plötzlichen Ausbruch des Lachens, von dessen nachhallenden Salven man nicht weiß, ob sie sich nicht schon zum Lachkrampf verfestigen, läßt sich einfach nicht mehr auf bestimmte Weise sagen, handeln, ausdrücken, sehen, fühlen, hören, um welche Einsinnigkeit oder Mehrsinnigkeit es geht. Die bisherigen Unterscheidungen eindeutig/mehrdeutig, alltäglich/außeralltäglich, Ernst/Spiel verschwimmen selbst. Verschieden vom Nichtsinn ist Unsinn als die Negation einer Sinnart noch immer bestimmt oder wenigstens im Rahmen einer Mehrsinnigkeit bestimmbar, was uns zeitweilig traurig oder lustig stimmt. Worum es Plessner in der Steigerung solcher noch spielerisch abzufangenden Vorformen in die Grenze zum Nichtsinn hinein geht, ist die Durchbrechung „jener Zusammenhänge, die für Vernunft und Willen verbindlich sind"69. Zweifellos geht es hier jetzt um einen Vorstoß ins Bodenlose, dahin also, wo die sprachlich vernünftige Verschränkung zwischen Handeln und Ausdruck nicht mehr trägt, ja, nicht einmal mehr ein spielerischer Wechsel in wenigstens irgendeine Willensbestimmung Boden unter den Füßen verspricht. Gleichwohl könnten wir nicht ernsthaft im Anblicke ungespielt Lachender oder ungespielt Weinender behaupten, daß Lachen und Weinen nichts spezifisch Menschliches zum Ausdruck brächten. Zumindest würden wir uns mit einer solchen Behauptung einem uns selber merkwürdigen Verdacht aussetzen oder die ganze Situation fliehen müssen, was sicherlich am häufigsten bei denjenigen geschieht, die eine derartige Behauptung vertreten möchten: Sie entziehen sich der Situation, etwa der, daß jemand des Todes der seine Existenz tragenden Liebe inne wird, oder der, daß jemand nicht mehr über etwas bestimmtes (einen Witz), nicht einmal mehr über sich selbst als seinen Rollenbezug oder über seine daran gemessene Individualität lachen kann, gleichwohl aber lacht und zum beobachtbaren Opfer seines Lachkrampfes wird. Andererseits müssen aber auch diejenigen, denen im derartigen Lachen und Weinen zweifelsfrei etwas spezifisch Menschliches begegnet, sogleich einräumen, daß sie dies nicht in einem empirisch repräsentativen Sinne meinen können. Lachen und Weinen müssen gewiß nicht empirisch massenhaft vorkommen, um als spezifisch menschliche Situationen erlebt werden zu können. Das menschliche Dasein läßt sich nicht durch die Permanenz dieser Phänomene verstetigen, gar tragen. Es geht in den
69 Ebd., S. 384.
Der Unterschied zwischen angespieltem
Lachen und
deinen
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ungespielten Situationen des Lachens und Weinens nicht um die Spezifik menschlicher Böden, sondern menschlicher Bodenlosigkeit, eben um die extremen Grenzen der Verhaltensmöglichkeit. Deren menschlicher Charakter erhellt erst im Kontrast zum vorangegangenen Verhaltensspektrum, eben auf der Grenze zwischen Sinn und Nicht-Sinn, auf der man anschauen kann, was verloren geht oder zu gewinnen wäre. Es handelt sich nicht mehr um dasjenige, was im menschlichen Dasein gespielt wird, sondern um dasjenige, was in demselben auf dem Spiele steht. Lachen und Weinen werden zu Anzeichen dafür, wo die semiotischen Kontingenzen in der Zuordnung zwischen Körper und Leib auf eine kategorische Grenze stoßen, sollen sie einem Menschen lebbar bleiben. Wir begegnen hier erneut Plessners „Kategorischem Konjunktiv" (vgl. 1.10.): Unbedingt (kategorisch) ist ein Kontrastmedium nötig, durch welches die Möglichkeiten der Semiosis in einen Verhaltenskonjunktiv überführt werden. Der üblich gewordene Verweis auf die Unendlichkeit der Semiosis hilft dem immer hier und jetzt lebenden Körperleib nicht weiter, ist lebensfern, wenn nicht lebensblind. In der Verhaltensgrenze zwischen Sinn und Nichtsinn läßt sich nun, nach dem Durchlauf durch positiv bestimmbare Verhaltensphänomene, auch wieder einholen, was wir im Unterschied zu den biotischen Niveaus der Selbstorganisation als ein Nichts (vgl. 2. Kapitel), den Sinn fürs Negative, eingeführt hatten: Im Auseinanderbrechen des biotischen Verhaltens (vgl. 1.4.) eröffnete sich dem Menschen der Sinn fürs Negative: „Eindeutigkeit, Einsinnigkeit wird nicht nur von Mehrdeutigkeit, Mehrsinnigkeit begrenzt, sondern auch von Sinn- und Bedeutungsfreiheit. Die Sprache, Mittel der Verständigung und des Lebens, hat dafür kein Wort. Sie entdeckt und stiftet Beziehungen, Verweisungen, Anknüpfungen, und wehrt das ihnen Feindliche als das Sinnwidrige, Sinnlose, Unsinnige ab. N u n ist hier wohl zu unterscheiden zwischen dem, was einen Sinnzusammenhang unmöglich macht, weil es den Bedingungen eines solchen widerspricht (z.B. in logischer ... grammatischer Hinsicht ...) und dem, was in einen Sinn- und Verweisungszusammenhang überhaupt nicht eingeht. N u r dieses ist sinnfrei und kann nur unmittelbar im Gefühl begegnen. Hierfür gibt es keine Kriterien. Es hängt ausschließlich vom Menschen ab, nicht aber von dem, was ihm da widerfährt, ...". 7 0
4.12. Der Unterschied zwischen ungespieltem Lachen und Weinen Soweit ihre Gemeinsamkeit: Derartigem Lachen und Weinen ist gemeinsam, daß sie im Ganzen auf Grenzlagen zu antworten versuchen, die sich auf keine selbstbestimmte oder spielerische Weise als beantwortbare Situationen nehmen lassen. Im folgenden interessiert der bislang zurückgestellte Gegensatz beider Phänomene, aus
70 Ebd., S. 381.
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Zwischen Lachen und Weinen 1: Die Individualisierung
der Person
dem heraus verständlich wird, daß sich zwischen ihnen ein Spektrum auftut. Der Gegensatz zwischen Lachen und Weinen beruht auf den einander entgegengesetzten „Richtungen, in denen der Mensch in diese Grenzlage gerät. Da sie sich nur auf zweifache Weise als Grenzlage zu erkennen gibt, in der dem Menschen jedes mögliche Verhalten unterbunden ist, treten auch nur zwei Krisenreaktionen von Antwortcharakter auf. Lachen beantwortet die Unterbindung des Verhaltens durch unausgleichbare Mehrsinnigkeit der Anknüpfungspunkte, Weinen die Unterbindung des Verhaltens durch Aufhebung der Verhältnismäßigkeit des Daseins." 71 Lachen kann man wie eine Verlagerung des Verhaltenszentrums nach außen verstehen, die fortreißt und durch keine innere Verhaltenszentrierung mehr ausbalanciert werden kann. Wir hatten diese Unterscheidung zwischen der Verlagerung des Verhaltenszentrums nach außen und der nach innen die Differenz zwischen Exzentrierung (Verkörperung) und Rezentrierung (Verleiblichung) genannt (vgl. 1.2.). In der Anschauung des Lachens fliegt gleichsam der Körper dem Leib nach außen davon. Die Exzentrierung hängt eruptiv die Rezentrierung an dem alten Ort ab. Der Leib bleibt sozusagen auf sich sitzen, während der Körper unhaltbar davonstürmt und in der Rückwendung auf den Leib seine Befreiung herauszuprusten scheint. Diese Szene muß dem Lachenden selber - in charakteristischem Gegensatz zum Weinenden - in seiner Vorstellung begegnen, was auf zweierlei Weise geschehen kann: Es kann sein, daß eine bestimmte Verkörperung zu keiner der vielen, dem Leib möglichen Richtungen, aktiv zu werden, paßt. Gleichwohl wird diese bestimmte Verkörperung aber von dem Betroffenen eingenommen, wodurch die Distanznahme gegenüber den Leibesmöglichkeiten bis zur Abtrennung vom Leib wächst und ein unbeherrschbares Ungleichgewicht zwischen beiden eintritt. In der Auslösung des, so könnte man diese Variante nennen, Auslachens des Leibes scheint die bestimmte Verkörperung zunächst als sicher, denn sie gibt das Maß des Lacheinsatzes ab. Bliebe es indessen bei dieser ersten Salve des Auslachens, hätten wir nicht das Lachen als wirkliche Verhaltensgrenze erreicht, also da, wo es im Halse steckenbleibt, wie man zu sagen pflegt, sondern nur eine der ins Spielen eingebauten Lachformen, wie sie alltäglich auftreten, sei es gegenüber anderen oder gegenüber einem selbst. In das ungespielte Lachen als Verhaltensgrenze gerät erst, wer des Bumerangeffektes ansichtig wird. Falls also andere in der Vorstellung der Ausgangspunkt des Lachens waren, muß inzwischen eine Identifikation mit dem Lachenden selbst erfolgt sein: Diese leiblos gewordene Verkörperung ist nicht mehr der eigene Körper, den ich unmittelbar erleben und direkt willentlich betätigen kann, eben weil er mein eigener Körperleib ist, sondern wie ein anderer Körper, irgendein anderer, der darin allen anderen Körpern gleicht, daß er wie diese außer meiner Macht steht. Wo sich der Lachende im ersten Anlauf dank der bestimmten Verkörperung mächtig vorkam,
71 Ebd., S. 378.
Der Unterschied zwischen ungespieltem Lachen und Weinen
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bricht im Umkehreffekt nicht einmal eine bestimmte Ohnmacht hervor, sondern eine Verunsicherung durch bodenlose Unmacht. Woher ich meinen gleichsam besten Freund, eben Leib, ausgelacht habe, eben dahin kann ich ihn nicht mitnehmen. Der unmittelbare und direkte Zugang zu diesem einzigen Körper ist verloren. Nicht, als ob der Lachende dem Leibe nach einer Querschnittslähmung zum Opfer gefallen wäre, während sein äußeres Körperbewußtsein davon gänzlich unabhängig an Drähten hinge. Das wären schon wieder bestimmte Vorstellungen, mit denen die Phantasie arbeitend aus dem Lachen herauskäme: Wenn der Faden, sich überhaupt noch verhalten zu können, reißt, verschwimmt die Vorstellung. Der nicht mehr Auslachende, sondern nun ins ungespielte Lachen Gefallene gibt die Antwort an seinen Körper ab. Was ihm den ersten Lachgang ermöglicht hat, hat ihm auch die Beine weggeschlagen, wodurch er nun nicht mehr zum Stehen kommt. Der derart Lachende kann sich nicht mehr fragen, ob er im Weiterflug auch noch darüber lachen oder im Fallen ins Weinen geraten soll. Zerrissen in die ihm wesentlichen Verhaltensrichtungen gibt er seine Antwort an seinen Anonymus ab. Ein derart ungespieltes Lachen muß indessen nicht vom Auslachen seinen Ausgang nehmen. Der Betroffene kann anfangs auch in eine Vielfalt von Exzentren, die wie von außen an seinen Leibesmöglichkeiten ziehen, geraten. Diese Verkörperungen lösen dann aber in der Vorstellung für einander gegenläufige Körperbeherrschungen aus. Der relativ sichere Ausgangspunkt sind jetzt die Möglichkeiten des Leibes, der die Rollen gleichsam wie Kleider wechselt. Wer kennt die entsprechenden Vorführungen von Kindern nicht! Aber dieses Verwechselungsspiel gerät im ungespielten Lachen von Erwachsenen, die ihren Rollen nicht mehr gewachsen sind, obgleich sie mit ihnen bereits verwachsen sind, außer Kontrolle. Wer im Ausgangslachen sicher die Kostüme zu wechseln schien, wird sozusagen zur Ablage verschiedener Marionetten, deren Drähte andere spielend und sich untereinander ausschließend für diesen Ausgangsleib ziehen. Aber auch hier reißt der, wenn man so will, Zeichentrickfilm, ehe die Vorstellung auf bestimmte Weise fortliefe. Die Vorstellung der Betroffenen verschwimmt, wo der Wechsel der Kostüme schon längst nicht mehr der Leibesmöglichkeit entsprechen kann. Das Weiterlachen entgleitet in eine Art von Paralyse jeder möglichen Körperhaltung. Das Körperhaben hat plötzlich kein Gegengewicht mehr am Leibsein. Es ist nicht mehr in ihm situiert. Der Leib übergibt sich im Weiterlachen noch immer einer ruckartigen Bewegung nach außen in die Welt, als wäre er nur noch ein Körper ohne innere Bindung. Aber diese ist er nicht. Die Bewegung läuft aus der Leere zurück und wieder hinaus, aber inzwischen längst anonym geworden wie ein Krampf. Das anfängliche Lachen des Leibes über die ihm äußeren Verkörperungsmöglichkeiten hat sich in der Markierung seiner Grenze zur Verkörperung eingeholt. Wie auch immer das Lachen ausgelöst wird, es kommt in der Vorstellung des Betroffenen beim ungespielten Lachen zu einer Umkehrbewegung, die selber in der Vorstellung nicht mehr ausbuchstabiert wird, sondern verschwimmt. Der vorgestellte
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Perspektivenwechsel kommt in seiner Komik an die Grenze, nicht mehr als Positionswechsel ausgeführt werden zu können. Dem Spiel der Verspottung, das den Ausgangspunkt des Lachens bilden konnte, entspricht keine Rückführungsmöglichkeit mehr in ein entsprechendes Verhaltensspiel. Das Ausgangslachen, dem noch eine bestimmte Vorstellung eigen war, entgleitet dem Betroffenen verschwommen und wird vom Beobachter als eine anonym werdende Fortsetzung des Lachens angeschaut. Obgleich es für einen Beobachter schwer sein kann, den Umkehrpunkt aus dem Ausgangslachen in das anonyme Lachen zu erkennen, erscheint es doch zunächst noch immer als Lachen. Insofern steht der Gegensatz zum Weinen im Vordergrund, obwohl sich später beide in der Anonymität des Verhaltens annähern können. Im Hinblick auf diese Phase des Weiterlachens respektive Weiterweinens, nach einer jeweiligen Anfangsphase und vor einer klar anonym gewordenen Körperreaktion, schreibt Plessner plastisch: „Geöffnetheit, Unvermitteltheit, Eruptivität charakterisieren das Lachen, Verschlossenheit, Vermitteltheit, Allmählichkeit das Weinen. Diese Charaktere sind nicht zufällig. Der Lachende ist zur Welt geöffnet. Im Bewußtsein der Abgehobenheit und Entbundenheit, ..., sucht sich der Mensch mit anderen eins zu wissen. Volle Entfaltung des Lachens gedeiht nur in Gemeinschaft mit Mitlachenden." 7 2 Der Einsatz des Beobachters als Mitlachender kann die Erstarrung des Lachenden in der Anonymität abfangen, indem er eine Mitwelt ins Spiel bringt, die aus der verschwommenen Verhaltenssituation wieder herausführt. Womöglich hatte der Mitlachende auch schon bereits das Ausgangslachen ins Weiterlachen ermutigt, was aber die Einladung dazu, das Weiterlachen vor der Erstarrung zu bewahren, nur um so deutlicher werden läßt. Das ungespielte Weinen ist im Vergleich zum ungespielten Lachen die gegensätzliche Art, aus dem Gleichgewicht der Verköperungs- und der Verleiblichungsrichtung zu geraten. Das Weinen erscheint in der Anschauung wie eine Rezentrierung, der keine Exzentrierung mehr die Waage hält. Die Verkörperung hält der Verleiblichung nicht mehr stand. Sie verschwindet allmählich in der Bewegung des Leibes in sich hinein. Die Verleiblichung überwältigt. Dadurch geht zwar auch die Körperbeherrschung verloren, aber diesmal bricht nicht der Körper nach außen los, den Leib mitreißend, sondern umgekehrt der Leib fällt nach innen in sich hinein und zieht den Körper mit: „Wir werden weich. Hiermit ist der Zusammenhang des Nachlassens der Spannung mit dem Aufsteigen der Rührung gefaßt. In dem Akt der inneren Kapitulation, der für das Weinen von zugleich auslösender und konstitutiver Bedeutung ist, vollzieht sich die Ablösung des Menschen aus der Situation normalen Verhaltens im Sinne seiner Vereinsamung. Ergriffen bezieht er sich mit diesem Akt in die anonyme ,Antwort' seines Körpers mit ein. So schließt sich der Weinende gegen die Welt ab." 7 3
72 Ebd., S. 368. 73 Ebd., S. 371.
Der Unterschied zwischen angespieltem Lachen und Weinen
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Während zuviele Weltbezüge im Lachen zu einer Art von Über-Öffnung des Körpers führen, der der Leibessinn kaum mehr nachkommt, verschwimmt im Weinen der Weltsinn überhaupt im Leibsein, das sich und die ihm korrespondierende Körperbeherrschung einschließt, verschließt, eine Art von Über-Schließung bewirkt. In beiden Phänomenen, wenngleich in umgekehrter Richtung, löst sich die Grenzfunktion des Selbst der Verhaltens- oder Spielbestimmung auf. Die Verschränkung, in der gewöhnlich eine Verkörperung und eine Verleiblichung aufeinander zulaufen, um eine eindeutig/einsinnig bestimmte oder spielerisch ambivalente, jedenfalls aufrechte Haltung zu ergeben, löst sich ins Zusammensacken nach innen oder in die Eruption nach außen auf. Im Vergleich mit der Kamera und im Hinblick auf diejenigen, die da lachen oder weinen, gesprochen: Weder in der Überbelichtung noch in der Unterbelichtung werden noch Schatten geworfen. Der selbstbestimmte oder spielende Blick verschwimmt, sei es in den Tränen des Lachens, sei es in denen des Weinens, bis der kirre gelaufene, auf sein vegetatives Notsystem zurückgeworfene Körperleib, das Andere unserer selbst, die Chance zur Erlösung eröffnet oder in eine Wiederholung getrieben wird. Gerade weil sich der Weinende abschließt, ist er der Hilfe vor der Wiederholung bedürftiger als der Lachende. Zugleich ist dadurch aber auch die Hilfe schwieriger zu leisten, denn sie kann die Scham des Weinenden vor seinem Selbstverlust verletzen. Ist man nicht einfach selber mitbetroffen und fällt man nicht daher spontan ins Mitweinen, kann die Versicherung einer Mitwelt hier nur einen indirekten Weg gehen, der taktvoll (vgl. 5.4.) dem indirekten Charakter des Weinens entsprechen sollte. Das ungespielte Lachen und Weinen können zur Aussöhnung mit einem selbst führen. Man ist etwa einer Rolle, in die man sein Wesen gelegt hat, nicht gewachsen und längst mit einer anderen verwachsen. Der lebensgeschichtliche Horizont verengt sich. Aus der Unzahl von Möglichkeiten hat sich unwiderruflich eine in die Falten des Gesichtes eingeschrieben. Man wollte zum Beispiel seiner Liebe dichterischen oder musikalischen Ausdruck geben. Aber er gewinnnt keine andere als erbärmliche Haltung, die niemandem imponiert, einem aber reichlich Mitleid beschert. Jede Lebensführung zwischen der persona und ihrer Individualisierung spielt mit den Möglichkeiten, deren erste Zuordnung in ihrer Realisierung zufällig gewesen sein mag, aber dann einen selbst unter- oder überfordert. Die Wendungen auf einen selbst als das Unbestimmte, das komisch oder tragisch nicht zusammenpassen kann, bedürfen eines Mediums, in dem sie fortan spielerisch zu verknüpfen sind, ohne daß mit dem Medium selbst noch gespielt werden könnte. Das Spiel mit und hinter den Masken gerinnt exemplarisch in diesem Lachen oder in jenem Weinen zu den Zügen eines Charakters, der diesseits von bloßer Kontingenz und überwältigendem Schicksal entsteht. Er wird das Medium, in dem man Verkörperungen und Verleiblichungen spielerisch verschränken kann, da man nicht mit ihm spielt. Als ließen sich doch noch Verkörperungen, die dem eigenen Leib Ausdruck verschaffen, und Verleiblichungen, die auf eigene Weise wie ein Körper behandelt
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werden können, aufeinander einspielen, fällt in der Erlösung des Lachens und Weinens der eigene Körper an einen selber zurück. Darin besteht die im Selbstverlust erlösende und für eine erneute Selbstgewinnung durch nichts zu ersetzende Wirkung des ungespielten Lachens sowohl als des ungespielten Weinens von Erwachsenen. Man erfährt seine je individuellen Grenzen an positiver und spielerischer Selbstbestimmung und toleriert sich als davon Unbestimmtes und auch nicht mehr Bestimmbares. Aber in der beiden Phänomenen eigenen Ubergabe der Verhaltensantwort von der individuierten Person an ihren Körperleib gibt es auch die Gefahr, sich darin, anders als selbst zu sein, zu verlieren, ohne zu einem anderen Selbstsein, das sich jenseits seiner Selbstbestimmung toleriert, nochmals aufbrechen zu können. Die Peripetie ins Lach- oder Wein- Verhalten mündet dann in eine Wiederholung des Selbstverlustes, in eine Repetition gar, die sich gekränkt, krankhaft und schließlich kränkend steigert und zum Zwang verfestigen kann. Gerade in diesem Umschlag von der Unterbrechung eindeutig selbst- und spielbestimmten Verhaltens in ein zwanghaftes Wein- oder Lachverhalten kommen die organismischen Niveaus an Selbstorganisation wieder zum Vorschein, als die Medien nämlich, die menschliches Dasein ermöglichen. Was dort (vgl. 1.5. u. 1.6.) an Phänomenen im Vergleich zu Tieren, Pflanzen, anorganischen Körpern vorgestellt worden war, tritt dann als die dem spezifisch menschlichen Verhaltensspektrum immanente Grenze hervor, als deren Überschreitung wir uns angewöhnt haben, zunächst von psychosomatischen Störungen und zivilisatorischen Krankheiten zu reden. Wir sind aber nicht von vornherein auf diese Regression menschlichen Verhaltens als eines Lebewesens festgelegt, obgleich es wichtig zu vermerken ist, daß die Philosophische Anthropologie auch in dieser Richtung einen Zugang eröffnet. Ich komme darauf im nächsten Abschnitt unter dem Titel des Unbedingtwerdens bedingter Süchte und Leidenschaften zurück. Zunächst möchte ich jedoch die Möglichkeit zum souverän werdenden Ausgang des Lachens und Weinens vergegenwärtigen.
4.13. Das Lächeln der Souveränität Plessner schließt den Reigen der auf die Verhaltensgrenze bezogenen Phänomene mit dem des Lächelns ab, das es stärker und weiter verbreitet als Lachen und Weinen in allen menschlichen Kulturen gibt und für das ebenfalls eine angeborene Disposition an Mimik aufgewiesen werden kann. 7 4 Das Lächeln erfährt in vielen Gesellschaften eine besondere Kultivierung, die nicht nur - wie schon beim Lachen und Weinen - an
74 Vgl. zu dieser Frage Irenaus Eibl-Eibesfeldt, Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Grundriß der Humanethologie, München 1995, S. 53, 59,193 f., 266, 282, 448, 542, 596 f.
Das Lächeln der Souveränität
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angeborene Verhaltensmechanismen anschließt, sondern mit dem präventiven Abfangen der anonym werdenden Verhaltensphase im Lachen und Weinen zusammenzuhängen scheint. Im folgenden handelt es sich nicht um die Besprechung aller möglichen Arten des Lächelns, wie sie empirisch vorkommen können, sondern um dasjenige Phänomen des Lächelns, das im Kontext ungespielten Lachens und Weinens steht. Erst wenn man diese anthropologisch phänomenologische Situierung des spezifisch menschlichen Lächelns verstanden hat, sieht man seine kulturhistorisch besonderen Übertragungen, Stilisierungen und Vermeidungen. Plessner nennt das Phänomen des Lächelns den „Spiegel" und die „Mimik der menschlichen Position", deren Vieldeutigkeit der Vieldeutigkeit des Schweigens „äquivok" sei. 75 Wir setzen also mit diesem Lächeln den Phänomenreigen fort, der vom sprachlich artikulierbaren Perspektivenwechsel zurückführt in die Grenzen des Positionswechsels für den Körperleib. Lachend und weinend ist der Mensch „das Opfer seiner exzentrischen Höhe, lächelnd gibt er ihr Ausdruck", indem er in diesem Ausdruck Abstand zum Ausdruck wahrt, ohne sich sprachlich festzulegen: Im Lächeln herrscht „ein Gleichgewicht zur eigenen Gebärde, die damit Maskenfunktion annehmen kann, mit der Zärtlichkeit wie Aggressivität, Geöffnetheit wie Verschlossenheit gleichermaßen zum Ausdruck kommen. Wie von selbst gleitet das Lächeln aus dem Bereich der unwillkürlichen mimischen Gebärde in den der abgewogenen Geste über, die unergründlich wirken kann, weil sie alles und nichts sagt. So bewahrt der Mensch seine Distanz zu sich und zur Welt und vermag sie, mit ihr spielend, zu zeigen." 7 6 Die Potentialfülle menschlichen Daseins, zwischen Positionen und Perspektiven wechseln und diese verschränken zu können, kann auf einmal, nämlich auf der Grenze „zwischen natürlicher Gebärde und andeutender Geste fließend", eben im Lächeln, zum Ausdruck kommen: „Natur wird - Kunst. Die spontane Symbolik des Leibes wird zur Allegorie." 7 7 Im Augenblick der größten Vieldeutigkeit des Lächelns zeigt sich die Unergründlichkeit der Potentialfülle, die wir im nächsten Moment schon wieder zu einer Bestimmung in Anspruch nehmen. Im Lächeln der Souveränität ist es so, als hätten wir die Erfahrung der eigenen Unbestimmtheit angenommen und als gäben wir ihr in ihrer ganzen Vieldeutigkeit nun auch für andere Ausdruck, aber so, daß wir weder ihr Opfer noch ihr Täter sein wollen. Das Spiel kann nicht mehr ganz von neuem beginnen, als wären wir noch auf die früheren Formen der Selbstbestimmung festgelegt. Insofern kann es nicht nur erneut, sondern sogar freier als zuvor anfangen. Diese Freiheit zur eigenen Unbestimmtheit könnte, muß aber nicht die Interaktion mit anderen stören. Auf dieses
75 Vgl. H. Plessner, Das Lächeln (1950), in: GS, Bd. VII, S. 429, 431. 76 Ders., Die Frage nach der Conditio humana, a. a. O., S. 208f. 77 Ders., Das Lächeln, a. a. O., S. 427.
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Problem werde ich anhand der Balance zwischen den Formen der Vergemeinschaftung oder der Vergesellschaftung der Person zurückkommen (5.4., 5.5.). Dortige Ungleichgewichte können zur Entleerung oder Vermeidung des Lächelns führen, während erst der geschichtliche Ausgleich (6.5.) zwischen Gemeinschaftsbindungen und gesellschaftlichen Emanzipationen der Indiviudalisierung ermöglicht, ihre Allegorie in einer gleichsam stetig mitlaufenden Möglichkeit zum Lächeln auszubilden.
4.14. Das Allzumenschliche bedingter Süchte und Leidenschaften: die Individualisierung der Person exemplarisch genommen Keiner kann die soziokulturelle Elementarrolle genau so spielen, wie sie ein anderer spielt. Dies wird auch nicht in der Symbolpraktik der eben Eigennamen erwartet, selbst dann nicht, wenn uns als Außenstehenden die betreffende Kultur in höchstem Maße ritualisiert vorkommt. Die Ausübung der Rolle, etwa als erster Sohn ein Familienerbe als künftiger Vater anzutreten, hat für alle, die sie erwarten, einen gewissen Spielraum. Die nachwachsenden Organismen sind bisher schon genetisch betrachtet verschieden, sieht man von den relativ seltenen eineiigen Zwillingen ab. Und die Wechselläufe des Lebens von Individuen gleichen sich auch dann nur begrenzt, wenn sie soziokulturell unter vergleichbaren Bedingungen stattfinden, begrenzt durch äußere Zufälle in bestimmten Situationen oder durch spontane Unterschiede im Antwortverhalten der einzelnen Menschen. Wenn man sich nicht länger bei solchen Unterschieden innerhalb des Doppelgängertums eines jeden aufhalten will, die mehr oder minder im Spielraum der Rolle für alle Beteiligten liegen, stößt man auf derart besondere „Talente" oder „Behinderungen", die - gemessen am allgemein akzeptierten Spielraum der Rolle - womöglich grundsätzlich deren Ausübung in Frage stellen oder einer anderen Rolle bedürfen, etwa der, Mönch oder Hofnarr werden zu können, um auf in der Literatur bekannte Beispiele anzuspielen. Hier soll im folgenden das Problem der Individualisierung einer Person, wie es in dem anthropologischen Doppelgängertum von jedem mit sich selbst gestellt ist, an in der Gegenwartsphilosophie wenig prominenten Beispielen behandelt werden, nämlich an dem der Süchte und an dem der Leidenschaften von Menschen. Es mag zunächst etwas Befremdliches haben, die Spezifik des Menschen auch darin zu sehen, ihn als ein Suchtwesen und als ein passioniertes Wesen anzusprechen. Indessen liegt dies nicht nur in der Logik des Zuganges, die Differenz zwischen Körperhaben und Leibsein zu entfalten und die damit möglichen Schwächen oder Stärken der menschlichen Konstitution auch als Chancen und nicht von vornherein nur als bedrohliche Abweichungen von der Rolle wahrzunehmen. Diese Einschätzung ist auch empirisch zutreffend. Wir kennen keine Tiersozietät, in der es auch um die Kultivierung von Süchten und Leidenschaften derart ginge, daß in ihr exzentrisch die Individualisierung gepflegt werden würde. Wer - wie Tiere - sich als Zentrum seines
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bedingter Süchte und
Leidenschaften
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Ausdruckes und Erlebens nicht selbst von woanders her zum Problem wird, kann zwar physische Abhängigkeiten, hormonale Brunstperioden und sensomotorische Aggressionen haben, die auch spontan individueller Natur sein mögen, nicht aber so viel Interesse und Energie wie Menschen darauf verwenden, Süchte oder Leidenschaften - im Anschluß an die lange Spielperiode der erotisch überformten Jugend und geschützt von der soziokulturellen Tradition an Positionierungsmöglichkeiten für die Individualisierung der Person zu kultivieren. Im interkulturellen Vergleich der menschlichen Sozietäten ist auffallend, daß in allen von ihnen, zumindest außeralltäglich, oft aber auch in der Form ganzer Subkulturen, Süchte oder Leidenschaften gepflegt werden, obgleich ihre gesamtkulturelle Stellung schwankt oder strittig bleibt. Insofern in der westlichen Modernisierung ein rational kalkulierendes Selbstverständnis die Oberhand gewonnen hat, galten Süchte oder Leidenschaften als etwas, das der Selbstbeherrschung zu unterwerfen war, als wäre es per se etwas Irrationales, welches den Menschen zerstört. Diese dualistische Aufteilung ist indessen keine kulturgeschichtliche Selbstverständlichkeit. Andere Kulturen hatten und haben ein hohes Maß darin erreicht, den Umgang mit Süchten oder Leidenschaften als das Leben intensivierend zu gestalten, ohne den point of no return zu verfehlen, an dem die kulturelle Bedingung des Genusses von Süchten oder Leidenschaften entgleitet, vor allem und zuerst dem Individuum selber entgleitet, das häufig mit diesem Genuß seine Individualität im Unterschied zu seiner persona verbindet, um sich schließlich in unbedingt werdende Süchte oder Leidenschaften zu verkehren (vgl. 4.16.). Statt der kultivierten Bedingung von Süchten und Leidenschaften nachzugehen, haben wir zumal in Deutschland - häufig eine dualistische Schere anzutreffen. Einerseits werden Süchte und Leidenschaften aus der offiziell vorherrschenden Kultur weitgehend ausgeschlossen, wodurch sie sich andererseits leicht ins Unbedingte verkehren und in zwielichtig kommerzialisierten Subkulturen landen können. Süchten oder Leidenschaften nachzugehen ist nur allzumenschlich, denn sie versprechen und gewähren bedingt auch den Genuß des Außeralltäglichen. Plessner unterscheidet das Allzumenschliche vom Unmenschlichen, indem er das erstere als dasjenige Außeralltägliche („Außergewöhnliche") im Alltäglichen versteht, das den Alltag steigert, ohne ihn zu zerstören, wobei es aber Grenzfälle der individuellen Selbstzerstörung geben kann. Demgegenüber ist das Unmenschliche eine außeralltägliche Zerstörung, die sich „nur gegen andere", „gegen alles, was wehrlos ist: Tiere, Kinder, Gefangene, Wesen, die ihre Ohnmacht empfinden können" 7 8 , richtet. Dies schließt nicht aus, daß unmenschliches Tun kompensatorisch seinen alltäglichen Rückzugsort hat, dieser ist dann jedoch der außergewöhnlichen Aufgabe oder Funktion klar untergeordnet, wie etwa in der „Banalität des Bösen" (H. Arendt).
78 H. Plessner, Das Problem der Unmenschlichkeit (1967), in: GS VIII, S. 335.
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D e m Außeralltäglichen begegnen wir zunächst im Lachen und Weinen, und solange diese sich spielen lassen, verselbständigt sich das außeralltägliche Erlebnis auch nicht gegenüber dem Allerweltstag, sondern verlebendigt ihn. Treten Lachen oder Weinen jedoch ungespielt auf, steht mit ihnen als außeralltäglichen Ereignissen mehr als die außergewöhnliche Erweiterung des Alltages auf dem Spiel. Allerdings ist die Begegnung des Außeralltäglichen im ungespielten Lachen oder Weinen nicht entwickelbar, nicht stabilisierbar. Das Alltägliche umfaßt die Kompetenzen, eine soziokulturell elementare Rolle ausüben zu können, und den Spielraum, mit ihr als dem Vertrauten und dem dazu Unvertrauten umgehen zu können. Das Außeralltägliche führt, im Kontrast zur Bestimmbarkeit, dem Bedingungsgefüge und dem endlichen Charakter des Alltags, ins Unbestimmte, Unbedingte und Unendliche, kurz also: ins Absolute. Natürlich greifen Süchte oder Leidenschaften an affektive Kopplungen zwischen der Sensorik und Motorik des mit der Umwelt interagierenden Organismus an. Insoweit gibt es „Süchte" oder „Leidenschaften" gerade unter unseren Haussäugern, die sie sich unter dem Schutze des Hauses - als Produkt der Domestikation - auch leisten können. Aber kulturell läuft in Süchten oder Leidenschaften etwas anderes mit, die Sucht nach der Begegnung mit dem Absoluten oder das Leiden am Alltäglichen, welches sich ein Un, eine Negation des Bedingten, Bestimmten und Endlichen schafft. Wir kommen hier auf das Problem des menschlichen Spieles, die Freiheit als Bindungslosigkeit, die Abenteuer und Gefahr ist, zurück und dem als umgekehrtes Extrem die Bindungssucht, die Feier des Gebundenseins, entspricht. Dieses Problem des Ausgleiches haben Tiere nicht, die aus ihrer Mitte heraus in diese hineinleben, also nicht sich selbst als den Bruch zwischen Bestimmung und Unbestimmung erleben. „Ihre Individualität setzt sich für sie selber nicht ab, auch wenn sie sich ihrem Sozialverband bemerkbar macht. Das Leittier weiß sich zu behaupten und wird respektiert." 7 9 Tieren erschließt sich nicht die Kultivierung der Sucht oder Leidenschaft als Individualisierungsmöglichkeit der Person, weil sie sich selbst nicht als Doppelgänger vorkommen und für ihr Leben die ganze Differenz zwischen Alltäglichem und Außeralltäglichem nicht brauchen. „Die Vitalität des Menschen ist, verglichen mit der tierischen, gebrochen, weil er sich in jeder Situation realisieren muß: hier bin ich, dort ist der andere. Gebrochenheit besagt aber nicht nur Dämpfung der Antriebskraft, sondern ebenso sehr die Chance ihrer Umformung. Weil die Strukturierung des menschlichen Umfeldes deutlich charakterisierte und voneinander isolierte Zentren der Initiative und des Interesses schafft, die einander streng reziprok und spiegelbildlich zugeordnet sind, weshalb ein jeder jedem gleich, das heißt kraft dieser Gleichheit als der andere ihm entgegen-
79 Ders., Der kategorische Konjunktiv. Ein Versuch über die Leidenschaft (1968), in: GS VIII, S. 341.
Das spielerische Einholen des Weinens in der Sucht
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tritt und unzugänglich ist, läßt sie sich nicht ohne Bruch und Transformation mit seinen vitalen Bedürfnissen in Einklang bringen. So wird man mit Freud sagen, dieser Jedermann stehe in der Versagung vor der Alternative zwischen Neurose und Sublimierung. Nicht nur das erotische Klima der Schnitzler-Zeit, nicht nur die puritanische Verdrängerkultur der Angelsachsen - keine Gesellschaft menschlicher Prägung paßt zur Triebausstattung ihrer Träger."80 Die Gemeinsamkeit von Süchten und Leidenschaften besteht darin, daß in ihnen die Erfahrung des ungespielten Weinens oder des ungespielten Lachens anders zu machen erkundet und damit fortsetzbar wird. Diese - bereits gemachte oder erst befürchtete bzw. erwünschte - Erfahrung muß dazu ins Spielbare gezogen werden, was nicht ohne ein - vergleichsweise - wagemutiges Experiment geht, im Kontrast zu der anerkannten Eingespieltheit von Individuum und Person, dem üblichen Doppelgängertum. Die Begegnung mit dem Außeralltäglichen möge in ihnen, den Süchten oder Leidenschaften, nicht zur ungespielten Verhaltensgrenze überhaupt geraten, sondern anders als durch ungespieltes Weinen oder Lachen besetzt werden können, wodurch sich die Grenzen des Verhaltens künstlich (für andere), aber dem Naturell des Individuums (für den Betroffenen) gemäß verschieben würden. Es dreht sich in ihnen also zunächst, solange sie bedingbar erscheinen, um eine andere Auslebung des Kategorischen Konjunktivs als die soziokulturell übliche, um eine individuell andere Besetzung der Unterscheidung von Alltäglichem und Außeralltäglichem.
4.15. Das spielerische Einholen des Weinens in der Sucht und des Lachens in der Leidenschaft In Süchten oder Leidenschaften wird der Versuch unternommen, die Verhaltensgrenzen am Ungespielten in den Spielkreis des menschlichen Verhaltens einzuholen, und zwar so, als ob das - dem jeweiligen Individuum - Unbedingte nur ein Außeralltägliches wäre, dessen Unterscheidung vom Alltäglichen man selber bedingen kann. Man hält diese Unterscheidung nicht mehr für durch die Personalrolle vorgegeben, sondern als dem Individuum aufgegeben. Auf beiden Wegen, dem der Süchte oder dem der Leidenschaften, wird in dem Sinne das ungespielte Weinen respektive das ungespielte Lachen fortgesetzt, daß man sich dem Körperleib überläßt, diesen stellvertretend für die Person antworten läßt, als ob dadurch in ihm die Individualität zum Vorschein käme. Indessen ist diese Übergabe der Verhaltensantwort an den eigenen Körperleib nicht mehr ungespielt, denn er wird im Fall der Süchte zuvor sensomotorisch manipuliert oder im Falle der Leidenschaften affektiv fixiert. Es tritt so
80 Ders., Das Problem der Unmenschlichkeit, a. a. O., S. 332.
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Zwischen Lachen und Weinen I: Die Individualisierung der Person
nicht einfach ungekünstelt das wahre Naturell des Individuums hervor, sondern dasjenige Naturell, das künstlich erspielt aus dem Konflikt des Doppelgängertums heraus als solches gelten soll. Der Unterschied zwischen Süchten und Leidenschaften erscheint zunächst als der folgende, von der historischen Eingespieltheit des Doppelgängertums aus betrachtet. Eingedenk des physiologischen Zusammenhanges, den man zumindest anfangs nicht in Gang setzen muß, sondern umgehen kann, haben Süchte, Hörigkeiten, Rauschverlangen, also Phänomene der Gruppe A, wie wir sie nennen können, diese Eigenart, den Wechsel vom Alltäglichen ins Außeralltägliche sensomotorisch zu befördern und die Rückkehr aus dem Außeralltäglichen ins Alltägliche durch sensomotorische Fixierung aufzuhalten. Das Außeralltägliche wird so gegenüber dem Alltäglichen privilegiert. Es wird in der Sucht gesucht, im Rausch erhört, in der Vorstellung erträumt, in der Halluzination erlebt, unter Umgehung der Eingespieltheit der Organisationsform auf seine Positionsform, derjenigen Eingespieltheit also, die üblicherweise durch das erlernte Bewußtsein aktualisiert wird (vgl. 3.12., 3.14.). Diese Umgehung der Einspielung kann durch Fetischbildung, die affektive Konditionierung des Bewußtseins im sensomotorischen Verhalten, oder durch passende Pharmaka, die gelernte sensomotorische Kopplungen außer Kraft setzen, erreicht werden. Beides geht, da die Freiheit und Gefahr der Zuordnung zwischen sensorischen und motorischen Gestalten im Bewußtsein besteht, das physisch an die Plastizität und elektrochemische Erregungsverarbeitung eines entsprechenden Gehirnes gebunden ist (vgl. auch 2.14.). Die Phänomene der Gruppe A, der Süchte im weitesten Sinne, kultivieren das, was vom Standpunkt der soziokulturell erwarteten Rollenausübung als Schwäche des Individuums erscheint. Die Rollenkompetenzen eines angemessenen Selbstausdruckes, Handelns und Sprechens werden - zunächst zeit- und bedingungsweise sensomotorisch unterlaufen. Die Verkörperungsleistung des Maskenträgers tritt in dem Maße zurück, als der Spieler sich seiner anfangs selbstbestimmten Verleiblichung überläßt. Insofern wird in den Suchtphänomenen das ungespielte Weinen ins Verhaltensspiel gezogen. In ihnen wird die rollenrelative Schwäche als die Spezifik des Menschlichen gepflegt, in der die jeweilige Individualität zur Erscheinung kommen und gleichsam im Namen der Abhängigkeit des menschlichen Daseins im Ganzen um Sympathie werben kann. Die Suchtphänomene erscheinen als eine Unterschreitung der soziokulturell eingeübten Rolle, der ihr gemäßen Erwartungen, mit dem Appell, zunächst die Individualität der Bedingtheit zu respektieren, schließlich womöglich im Angesicht des Sinnverlustes im Ganzen das Gebundensein der menschlichen Existenz überhaupt zu würdigen und den Spielraum des Doppelgängertums entsprechend zu ändern. Demgegenüber schließen die Phänomene des Leidenschaftlichen, sagen wir also der Gruppe B, an das ungespielte Lachen an. Die Individualisierung der Person wird nun nicht an die Unterschreitung, sondern an die Überschreitung der Rollenerwar-
Unmenschliches jenseits von Lachen und Weinen
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tungen geknüpft. Es geht nicht wie bei den Süchten um Rücklauf auf die sensomotorische Abhängigkeit des eigenen Körperleibes, sondern um Vorlauf in ein dazu exzentrisches Verhaltenszentrum, dessen irreale Antizipation realisiert werden soll. Das Irreale (vgl. 4.7.) des Individuums, sein unausdrückbarer Rest an Unvertretbarkeit und unteilbarer Einzigartigkeit, soll nicht hinter der Maske verborgen, sondern in und vor ihr ausgespielt werden. Das leidenschaftliche Überborden kommt durch Bindung an Anderes (eine Andere, einen Anderen) zustande, wobei die Teilhabe an dieser nach außen gerichteten Bindung ins Unbedingte zu wachsen scheint. Sie wird imperativisch, wo sie nur konjunktivisch hätte sein können. Zieht der Süchtige seine Selbstbestimmung zunächst ins Private hinter die Maske zurück (vgl. 4.6.), um sie sodann langsam durchschimmern und durchsickern zu lassen, beansprucht der Leidenschaftliche für die öffentliche Person selber seine Selbstbestimmung. Er mobilisiert unglaublich imposante, aus den ständigen Ambivalenzen entschieden herausführende Kräfte, wenngleich diese rückwirkend andere Leiber nicht minder als seinen eigenen Körperleib überfordern, eben Leiden schaffen können. Ihm geht es nicht um den Appell ans Mitleid und das Bedenken der Bedingtheit, sondern ums Mitreißen der Mitwelt ins Absolute, den Strudel und Schlund außergewöhnlich lebendiger Bewegtheit dahin, „zu lieben bis Vernunft verbrennt" (L. Aragon). Solange Süchte oder Leidenschaften bedingt werden können, sowohl vom betroffenen Individuum her als auch im soziokulturellen Milieu, werden sie Anlaß geben, an der Schwelle ihrer Unbedingtheit in die Souveränitätsfrage zurückzuführen, die uns als Lächeln begegnet war. Sie treten damit nicht an die Stelle der Ungespieltheit des Lachens und Weinens, die damit vernehmbare Verhaltensgrenzen bleiben, also nicht überspielt werden. O b Sucht oder Leidenschaft, ob Unterschreitung oder Überschreitung der Personenrolle, beide Individualisierungsvarianten unterscheiden sich von der Möglichkeit, die Individualität einfach in die Person fallen zu lassen, und zwar weder aus Stärke noch aus Schwäche, sozusagen um den Preis, keine Außergewöhnlichkeit in der Lebensführung zustande bringen zu können als diejenige, die die Rolle ohnehin vorschreibt.
4.16. Unmenschliches jenseits von Lachen und Weinen: Das Unbedingtwerden àer personne, Süchte oder Leidenschaften Die Phänomene des ungespielten Lachens oder Weinens sind nicht entwickelbar. Sie haben keine Steigerungsform, sondern sind hier und jetzt für den Betroffenen absolut. Sie bilden keinen sicheren Grund für das menschliche Verhalten, aber sie begrenzen die Lebbarkeit der Individualisierung der persona (der Elementarrolle), hic et nunc. Zwischen diesem Lachen und Weinen ist das Spektrum der menschlichen Phänomene entfaltbar als das Spiel mit und in positiven Bestimmungen, die je nach dem
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Zwischen Lachen und Weinen I: Die Individualisierung der Person
Medium wechseln. In dem ungespielten Lachen oder Weinen begegnet der Betroffene seiner Unbestimmtheit, insofern sie sich seiner spielerisch positiven Selbstbestimmung gerade entzieht. Lachen und Weinen markieren die Extreme eines Spektrums, innerhalb dessen das Unbestimmte der Persönlichkeit von ihr selbst nicht fixiert werden kann, sondern als Ermöglichung ihres spielerischen Wechsels zwischen verschiedenen Haltungen betätigt wird. Erst im Lachen oder Weinen selber gerät die Persönlichkeit in eine körperleibliche Lage, in der sie das nicht durch sie selbst Bedingte, ihr Unbedingtes, als die Ermöglichung all ihrer Varianten, etwas von sich aus bedingen zu können, erfährt. Sie fällt wirklich in die Frage nach der Grenze, sich ihrer selbst bemächtigen (vgl. 6.2.) zu können. Ob Süchte oder Leidenschaften, in beiden Phänomenreihen wird, solange sie bedingt werden können, der Versuch unternommen, die zunächst erfahrenen Verhaltensgrenzen doch noch durch Individualisierung gegenüber der Person ins Verhaltensspiel einholen zu können, ohne die Ungespieltheit des Weinens und Lachens abschaffen zu wollen. Nun ist der souveräne Umgang mit dieser Grenzerfahrung, wie er in der Allegorie des Lächelns anhebt, nicht jedermanns Sache. Viele geraten lange nicht ins ungespielte Weinen oder Lachen, und wenn, dann ist es schwer, souverän damit umzugehen, weil es - gemessen an positiver Selbstbestimmung - als Schwäche erscheint, seiner eigenen Unergründlichkeit, dem Individuum ineffabile, zu begegnen, es respektieren, schätzen und sich mit ihm versöhnen zu lernen. Dies gilt um so mehr in Kulturen, die aus geschichtlichen Gründen alle Aufmerksamkeit auf Haltungen der positiven Selbstbestimmung lenken, und in Gesellschaften, deren Rollen solche Haltungen erfordern. Welche Phänomene entstehen in der Fortsetzung des bislang entworfenen Reigens, wenn die Situationen des ungespielten Weinens oder Lachens zu spät eintreten oder ohne außeralltägliche Besinnung auf die Individualität übergangen werden? Der damit gegebene Mangel daran, seine Verhaltensmöglichkeiten in der Individualisierung der Rolle selber begrenzen zu können, bedeutet ein Defizit darin, sein eigenes Maß, seinen Charakter, zu finden. Man ist einerseits dazu verleitet, dieses Defizit durch die bloße Übernahme soziokulturell anerkannter Verhaltensmuster ausgleichen zu wollen. Eine erste Variante scheint also in der Uberidentifikation mit einer der verfügbaren personae soziokultureller Rollen zu bestehen, deren vorgegebene Autorisierung der Rolleninhaber an die Stelle einer individuellen Selbstbegrenzung seiner Autorität rückt. Nennen wir diese Variante den Fall I, in dem der Betroffene seine Individualisierung darin flieht, womöglich am Anfang nur vor sich herschiebt, daß er seine Rolle auf unbedingte Weise ausübt, wodurch sich die persona verselbständigen kann. Andererseits kann nicht jeder seine eigene Individualisierung des Rollenverhaltens zugunsten einer Fremdautorisierung zurückstellen. Die Selbstautorisierung greift in diesem zweiten Falle gegen etablierte Rollenmuster bei dem an, was als die Bedingung der individuellen Abweichung erscheint. Als Bedingungen der Abweichung des Spielers von seiner Rolle können, wie wir gesehen haben, exemplarisch bestimmte
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Süchte (Phänomengruppe A) oder Leidenschaften (Phänomengruppe B) gelten, die ihn im Falle einer Sucht zur Unterschreitung und im Falle einer Leidenschaft zur Überschreitung des Rollenmusters motivieren, „Unter" und „Über" von den Rollenerwartungen der anderen her betrachtet. Soziokulturell gesehen kommen die Abweichungsbedingungen Faktoren der Variation einer Rolle gleich, und im Hinblick auf den Rollenspieler sind sie Bedingungen seiner Individualisierung der Rolle, Träger zu sein. Insofern die Individualisierung dank ihrer Bedingtheit mit der Rollenausübung verträglich bleibt, erscheint sie im soziokulturellen Milieu als tolerierbar oder sogar als positiv zu bewertendes Phänomen, ansonsten als negativ. Jetzt geht es um Phänomene, in denen die individelle Abweichung nicht mehr negativ bewertet und entsprechend eingegrenzt, sondern vom Träger positiv ins Unbedingte entgrenzt wird. Die bisher durch eine bestimmte Sucht oder Leidenschaft errungene Selbstbestimmung wird, je abweichender sie erscheint, desto stärker auf das Unbestimmte der eigenen Persönlichkeit übertragen. Die vormalige Bedingung der Individualisierung, eine bestimmte Sucht oder Leidenschaft, wird inzwischen zum Unbedingten der Persönlichkeit. Das zuvor nur allzumenschliche, weil wechselseitige ΒedingungsVerhältnis, die Rolle individualisieren und das Individuelle verkörpern zu müssen, wird jetzt zugunsten des süchtig oder leidenschaftlich Unbedingten aufgelöst. Ob nun durch Flucht in die unbedingte Fremd- oder in die unbedingte Selbstautorisierung, beide Versuchsrichtungen einer Individualisierung mißlingen dadurch, daß sie das Unbestimmte der Persönlichkeit so besetzen, als ob es sich um eine positive Selbstbestimmung handeln könnte. Als ob alles an ihr selber bestimmbar wäre, wird es entweder dem (von der Rolle) geborgten oder dem (durch Sucht oder Leidenschaft) zugefallenem Selbst unterworfen. Muster, die nur unter bestimmten Bedingungen Bedeutung haben und Sinn machen, erlangen so den Status des Unbedingten der Persönlichkeit. Die Okkupation des der Persönlichkeit Absoluten, ihres Unbestimmten und Unbedingten, durch das von ihr zu Bestimmende und zu Bedingende macht sie selbst grenzenlos. Sie findet nicht die ihrer Individualität angemessene Selbstbegrenzung, sondern steigert die übernommene Fremdautorisierung respektive die dagegen gerichtete Selbstermächtigung ins Unbedingte hinein. Der positionale Anspruch auf Unendliches setzt in der Konsequenz auf entweder Alles oder Nichts, bis er faktisch an den endlichen Bedingungen der Lebensführung in die Schranken verwiesen wird. Dieser Schritt in die Maßlosigkeit der Individualisierung ermöglicht eine obgleich nicht intendierte - Verkehrung des Verhaltens ins Unmenschliche. Das Potential der Verkehrung ins Unmenschliche beginnt nicht zwischen Lachen und Weinen, sondern jenseits von Lachen und Weinen durch Überschreitung der diesen ungespielten Phänomenen eigenen Erfahrung einer absoluten Grenze von Lebbarkeit. Der Effekt des Unmenschlichen wird in der „Bedrohung seines (des Menschen: HPK) leiblichen, seelischen, geistigen Lebens", anderer sowohl als auch des eigenen
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Zwischen Lachen und Weinen I: Die Individualisierung der Person
Lebens, anschaubar: „Dann sieht er sich dem Tode gegenüber." 81 Bevor dieser Effekt eintritt, das Kind gleichsam schon in den Brunnen fällt, ist erst das Potential zu einer derartigen Verkehrung aufzuzeigen. Diesem Verkehrungspotential soll im folgenden anhand des Unbedingtwerdens nachgegangen werden, nämlich für Fall I anhand des Unbedingtwerdens der Selbstauflösung des Individuums in seine Rolle und für Fall II anhand des Unbedingtwerdens einer Sucht oder Leidenschaft. Wir haben früher gesehen, daß die soziokulturelle Elementarrolle zu erlernen heißt, in und mit ihr als Individuum spielen zu können. Insofern man in ihr spielt, identifiziert sich das Individuum mit ihr. Insofern man mit ihr spielt, hat das Individuum Abstand von ihr. Der Wechsel zwischen beiden Lagen, mit einer Rolle und in ihr zu spielen, ist allzumenschlich, wenn er außeralltäglich und alltäglich praktiziert werden kann. Die Blockierung dieses Wechsels unterbricht den Prozeß, die Individualisierung an der persona und die Rolle am Individuum zu begrenzen. Statt das Unbedingte in dem Prozeß des Wechsels zwischen beiden Lagen zu belassen, wird es im Fall I zu der unbedingten Art und Weise, in der sich das Individuum seiner Rolle opfert, oder im Fall II zu der unbedingten Art und Weise, in der sich das Individuum von seiner Rolle emanzipiert. An die Stelle des unbedingten Zusammenspiels zwischen Individuum und Person tritt im Falli die unbedingte Verselbständigung der Person und im Fall II die unbedingte Verselbständigung des Individuums als einer Sucht oder Leidenschaft. Plessner warnt vor einer Verwechselung des „Allzumenschlichen" mit dem „Unmenschlichen". Der inflationäre Gebrauch der Redeweise vom Unmenschlichen könnte, so sehr er nach den Erfahrungen in unserem Jahrhundert und insbesondere in Deutschland verständlich ist, einer neuen ideologischen Selbstermächtigung zum experimentellen „Umbau der Gesellschaft aufgrund einer bis ins Biologische reichenden Umkonstruktion des Menschen", diesmal etwa durch Gentechnologien, Transplantationsmedizin und die „Biochemie der Psychopharmaka", Tür und Tor öffnen. 82 Statt sich „dem Gefühl der unausgleichbaren Spannung zwischen Freiheit und Ohnmacht" zu stellen, erfolge eine „fatale Erhebung der Misanthropie zum Rang einer Ideologie". 83 In der Fehlverallgemeinerung von Enttäuschungen zur allgemeinen Menschenverachtung „gibt sich der Misanthrop nicht nur der Mitwelt, sondern sogar sich selbst gegenüber eine überlegene Stellung, das Bewußtsein des Triumphs trotz aller seiner Niederlagen und zugleich eine Entschuldigung für das Versagen." 84 Dieser attraktive und bequeme „Mechanismus der Misanthropie" avanciere aber erst im Kontext der „Vermassung", der wachsenden gesellschaftlichen „Organisation",
81 H . Plessner, Lachen und Weinen, a. a. O., S. 365. 82 Vgl. ders., Das Problem der Unmenschlichkeit, a. a. O., S. 3 2 9 - 3 3 2 , 336. 83 Vgl. H . Plessner, Über Menschenverachtung (1953), in: GS VIII S. 105, 108. 84 Ebd., S. 107 f.
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der „Verwissenschaftlichung des Lebens" und der „Glaubenslosigkeit" zur „öffentlichen Ideologie", die sich selbst erfüllt: „So wie der Mensch sich sieht, wird er; darin besteht seine Freiheit, an der er festzuhalten hat, um Mensch zu sein. Wissen wir die Objektivierung unserer selbst nicht mit der Scheu vor dem Unerkennbaren unseres Wesens in Grenzen zu halten, so werden wir unsere Freiheit aufgeben, und die Verfügungsgewalt über uns selbst wird unser Tod sein." 8 5 Im Unterschied zu den allzumenschlichen Formen der „Menschenjagd und Menschenerniedrigung", die aus der Schwäche und Stärke eben ungleichgewichtiger, insofern schon immer machtverhaltener Personalisierungen hervorgehen können, gilt Plessner das Unmenschliche als das negative Pendant seiner Auffassung von Souveränität, d. h. als die Negation der Freiheit im Verhältnis zur eigenen Unbestimmtheit. Diese ambivalente Unbestimmtheit entzieht sich analytischen Unterscheidungen, insofern diese schon immer einer Selbstbestimmung dienen, und korrespondiert eher mit einer gelassenen Entsicherung des Selbstes, damit ihm kein Schuß zum Gnadenschuß werde. Sehen wir etwas genauer auf die Fallgruppe I. Wer (wie Kinder bestimmten Alters und entsprechend kindisch gebliebene Erwachsene) nicht umhin kommt, die sensomotorisch frühe Krafterfahrung von Schwäche und Stärke auf die eigene Unbestimmtheit anzuwenden, um sich selbst bestimmen zu können, kommt sich seiner Unbestimmtheit gegenüber ohnmächtig vor. Wer zu schwach ist, mit seiner eigenen Unbestimmtheit frei umgehen zu können, hält es für seine Stärke, sie durch Selbstüberwindung positiv auflösen zu können. In dieser Stählung zur Bestimmung des Unbestimmten liegt ein unglaublicher Kraftaufwand an Versagungen. An diesem Aufwand gemessen erscheinen andere nicht nur als die Schwächlinge, die es nie zur Selbstüberwindung bringen werden, sondern auch als provokante Erinnerungen an die eigene Ohnmacht, die gerade zu bekämpfen sei. In dem Selbstverständnis des Kraftfeldes liegt schon, daß die normative Geltung in faktische Wirksamkeit entgleitet. Dementsprechend mündet der innere Konflikt in eine Anpassung an andere Kräfte und in eine Auslassung an anderen Schwächlingen. „Unmenschlich kann man nur gegen andere sein, gegen alles, was wehrlos ist: Tiere, Kinder, Gefangene, Wesen, die ihre Ohnmacht empfinden können." 8 6 Zur Unmenschlichkeit bedürfe es nicht unbedingt überdurchschnittlicher Grausamkeit, wohl aber „einer überdurchschnittlichen Kälte, die selten auf angeborener oder milieubedingter Verkümmerung des Gefühlslebens beruht (seltener jedenfalls, als sie selbst es behauptet), sondern auf dem Willen zur Zerstörung jeder Art von Schwäche." 8 7 Damit erwächst das Potential der Unmenschlichkeit aus dem Kampf gegen die Schwäche, die der instabilen und ungleichgewichtigen Individualisierung einer Rol-
85 Vgl. ebd., S. 110,115 f. 86 Ebd., S. 335. 87 Ebd., S. 336.
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Zwischen Lachen und Weinen 1: Die Individualisierung
der Person
\en-persona, mithin der Konstitution des Menschlichen selbst, eignet. Gegen diese, für menschliche Wesen konstitutive Schwäche helfen aber keine Logik und keine Institutionalisierung der Stärke als der Ausmerzung von Schwäche, sondern „Formen der Versöhnung" mit der je eigenen Unbestimmtheit. Es geht gerade um die „Weckung und Pflege jener Qualitäten des Herzens ..., die jeder Logik und Institutionalisierung widersprechen. Die außer Kraft setzende Gewalt der Ritterlichkeit gegen den Schwächeren, des Erbarmens mit der Ohnmacht, des entwaffnenden Vergebens, des Hörens auf den einzelnen bilden Formen der Versöhnung, die das (eine natürliche Mitte entbehrende) Lebewesen Mensch kraft seiner Fähigkeit, auch seiner Zerrissenheit noch Herr zu werden, in seiner Macht hat, im Modus des Verzichts auf sie sich als menschlich zu erweisen."88 Man kann bei diesem Thema nicht den Gegensatz zwischen Plessners philosophischer Anthropologie und Arnold Gehlens soziokulturell kompensierender BioAnthropologie übergehen: Für Gehlen ergibt sich aus dem Bruch des Menschen mit der übrigen Natur für das Wesen des Menschen eine derart große Verhaltensunsicherheit, daß in der kulturellen Rekonstruktion des Verhaltens als bewußter Handlungsaufbau sozial die Institutionalisierung von „Zucht" nötig ist. Durch diese soziale Kompensation müsse der biotische Mangel an Verhaltenssicherheit überwunden werden.89 Demgegenüber handelt es sich hier für Plessner nicht um einen bioanthropologisch faßbaren Mangel, sondern um den Mangel an der Individualisierung soziokultureller Rollen im Spiel. Dieses Individualisierungsdefizit entspricht gerade der institutionell autoritären Verselbständigung von Rollen. Wem die Individualisierung des Maßes seiner Lebensführung im Spielen nicht gelingt, ist der institutionell autoritären Verselbständigung der persona bedürftig, ja, flieht dankbar in diese Fremdautorisierung, hinter der er sein Individualisierungsproblem verbergen kann. Gerade in dieser Entsprechung beginnt das Potential des Unmenschlichen im Unterschied zu dem des Allzumenschlichen. Statt die Ausübung der Rolle nach dem individuellen Lebensmaß zu begrenzen, sie eben zu individualisieren, geschieht das Umgekehrte, daß der Inhaber die Rolle als sein bestimmbar Unbestimmtes übernimmt und möglichst unbedingt ausführt. Zu einem Plessner ähnlichen Ergebnis kommt Hannah Arendt in ihrer allerdings existenzphilosophisch ansetzenden Analyse totaler Herrschaft, wenn sie zeigt, wie die „Verlassenheit von sich selbst" - von der je nur eigenen Individualisierung der persona - damit korrespondiert, daß den Rollenträger der nur logische, vom situativen Kontext absehende Zwang zu folgern „mit ganzer Gewalt überfallen kann." 90
88 Ebd., S. 337. 89 Vgl. A. Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, hg. v. K.-S. Rehberg, Frankfurt/M. 1993, S. 428 ff., 438 ff. 90 H . Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986, S. 728.
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Soweit zu Falli, zur unbedingten Unterordnung einer Individualisierung unter eine soziokulturell verfügbare Rolle, zu der Subordination also, aus der ein Potential für unmenschliche Effekte hervorgeht. Wir werden im 5. Kapitel des Buches, wenn die soziokulturelle Ausdifferenzierung der Elementarrolle thematisiert werden wird, sehen, daß dieser Entindividualisierung der Rolle strukturell durch den Wechsel zwischen gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Interaktionsformen und historisch durch den Wechsel zwischen kultureller Entfremdung und kulturellem Neuausdruck der nachwachsenden Generationen entgegengewirkt werden kann. Auf die Phänomene des Unmenschlichen unter dem Gesichtspunkt der Mächtigkeit komme ich im 6. Kapitel zurück, wenn die geschichtliche Vermittlung zwischen den biotischen und soziokulturellen Dimensionen des menschlichen Daseins erörtert werden wird. Es gibt nun aber, wie angekündigt, außer der Möglichkeit, der Individualisierung durch Flucht in die unbedingte Ausübung der Rolle zu entgehen, auch die dazu umgekehrte Möglichkeit, die persona auf unbedingte Weise zu unterlaufen oder zu überschreiten, also die Fallgruppe II. Gemeinsam ist zwar beiden Fallgruppen der Versuch, das je individuell Unbestimmte auf unbedingte Weise einer positiven Selbstbestimmung zu unterwerfen. Ihr Unterschied besteht jedoch darin, daß dies einmal durch die entindividualisierende Bejahung der verfügbaren Rolle geschieht, oder aber gerade durch die Verneinung dieser Rolle, bis die Abweichung von ihr selber - exemplarisch etwa dank einer Sucht oder Leidenschaft - positiv aufgefaßt und auf unbedingte Weise gesteigert werden kann. Sehnsüchte oder Leidenschaften sind allzumenschlich, aber ihrer Unbedingtheit zum Opfer zu fallen, eröffnet die Möglichkeit, noch nicht die Notwendigkeit, unmenschlich zu werden. Nicht darin, daß man im Falle der Unbedingtheit einer eigenen Sucht oder eigenen Leidenschaft unmenschlich wird, liegt ihr Automatismus, sondern darin, daß dann diese Sucht oder diese Leidenschaft automatisch wird. Sie wird ein Selbstläufer, dem Bewußtsein dient, oft ohne ihn aufhalten zu können. Darin mag anfangs eine besondere Lebendigkeit im Eindruck von solchen Phänomenen liegen, aber am Ende handelt es sich um keine spielerische Lebendigkeit. Wächst sich die körperleibliche Automatisierung aus, schränkt sich die Spielfreiheit des Menschen entsprechend ein. Dem Sucht- oder Passionsautomaten unterworfen, kann auch aus dem Lachen oder Weinen keine Souveränität im Umgang mit der eigenen Unbestimmtheit mehr entstehen. Herrscht erst einmal der Automat, und mag er als Sucht oder Leidenschaft noch so allzumenschlich begonnen haben, wird das Lachen nicht minder als das Weinen zwanghaft und verzweifelt. Aus der Unbedingtheit der Sucht oder der Passion entsteht kein Modus des Verzichtes oder der Versöhnung aus der Freiheit der eigenen Unbestimmtheit heraus, sondern, falls überhaupt, aus körperleiblichem Zusammenbruch. Ist eine Sucht oder Leidenschaft kulturell unbedingt, also nicht mehr kulturell eingrenzbar, geworden, verselbständigt sich der Bios im engeren Sinne, d. h. die bioti-
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Zwischen Lachen und deinen I: Die Individualisierung der Person
sehe Bedingung des Körperleibes, pathologisch, nämlich einerseits bei Sucht in Halluzinationen und Krämpfen, andererseits bei Leidenschaft in Verrückungen und im Wahnsinn. Die Sucht kann gewiß dem Leibsein einen außeralltäglichen Ausdruck des Selbstgenusses verschafft haben, solange sie bedingt war, aber dies geht inzwischen, da sie unbedingt wirkt, auf Kosten der Freiheit zur Verkörperung. Man fällt, liegt gebrochen und lallt am Ende zu glasig abwesenden Augen. Die außeralltägliche Feier der Schwäche des Leiblichen geht in der alltäglich gewordenen Zerstörung des Körperlichen unter. Vom raumgreifenden Stehenkönnen im Auge-Hand-Sehfeld und vom zeitrhythmischen Erlebenkönnen des eigenen Ausdrucks in Konvergenz des Stimmungskreises (vgl. 2.12.) bleibt keine Balance zurück, geschweige entsteht eine neue. Die unbedingte Sucht unterläuft die Elementarrolle und deren Spielraum, ohne einen individualisierten Gegenentwurf zustande bringen zu können. Der Protest richtete sich wohl ursprünglich gegen das Rollenspielen, allerdings nicht aus der Souveränität heraus, das Verhältnis zur eigenen Unbestimmtheit lächelnd von neuem gestalten zu können, sondern aus der Auflösung in einen Automaten hinein. War das Außeralltägliche zunächst im Weinen erfahren worden, und sollte es in der Sucht anders erlebt werden können, holt nun nicht einmal mehr das Weinen den Automaten der Sucht, sondern der Automat auch noch das Weinen ein. Ungespieltes Weinen ist nicht entwickelbar. Seine alltägliche Verstetigung ist kein Weinen mehr, nicht einmal mehr dessen Mimik. Verstetigt ist es nicht mehr lebbar, und wer nicht mehr weinen kann, verunmöglicht nolens auch den Ausbruch des Menschlichen in ihm. Auch Leidenschaften können kulturell derart unbedingt werden, daß ihre Grenzenlosigkeit im Auseinanderbrechen der Körperleib-Balance hervortritt und schließlich in einer Automatik von Affekten untergeht. Im Falle der Leidenschaft handelt es sich auch um eine außeralltägliche Feier, nun aber nicht der Schwäche des Leibes im Anschluß an die Erfahrung des Weinens, sondern der Stärke zur Verkörperung, als ließe sich die Erfahrung des spottenden Lachens fortsetzen. Das Unbedingtwerden richtet sich also diesmal gegen die Schwäche, als Mensch überhaupt durch die Körperleib-Differenz begrenzt zu bleiben, statt ausschließlich das Vollkommene der Verkörperung zu erreichen. Die leidenschaftliche Individualisierung hebt nicht wie die süchtige darin an, die Elementarrolle und ihren Spielraum zu unterlaufen, sondern vielmehr darin, diese Rolle samt Spielraum übersteigen zu wollen. Sie kommt nicht aus der Überforderung, sondern aus der Unterforderung der eigenen Körperleib-Differenz durch die soziokulturelle Elementarrolle zustande. In der unbedingten Leidenschaft handelt es sich nicht mehr wie in der Sucht um die schwache Immanenz, sondern um die starke Transzendenz der condition humaine. Es geht um Götterdonner, Teufelslachen, mindestens aber um übermenschliche Heroentat wider diesen alltäglichen Konformismus, als von der einen und einzigen Liebe stets gescheuter und von der Geschichte immer vergessener Doppelgänger mitzulaufen.
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Werden die Passionen des Übermenschlichen nicht symbolisch bedingt, sondern nur unbedingt auslebbar, entgleiten sie in blind werdende Affekte der Verkörperung, die auf Dauer kein Leib aushält, weder der eigene noch ein anderer. Selbst ein Genius, der sich um symbolische Bändigung seiner Bindung ans Unbedingte ausdrücklich bemüht, verbraucht - bekanntlich von Goethe bis Brecht - nicht nur seinen Leib, sondern eine Vielzahl von Verkörperungen samt Mitmenschen, spielen diese nur mit. Wird noch, darüber hinausgehend, die Symbolik durch die Realisierung des Unbedingten entgrenzt, setzt der Affekt eine Körpermechanik in Gang, von der er sich durch Bindung ans Absolute frei glaubte, und verkehrt sich in den Bedingungen dieser Mechanik. Manch außeralltäglich einzigartige Liebe erlosch in einer Affekttötung, manch außeralltägliche Bindung ans absolute Weltgericht verkehrte sich ins Räderwerk der Guillotine. Leidenschaftlichkeit beginnt als eine bewundernswerte „Bewegung von sich fort und über sich hinaus", da der von ihr Betroffene seine „Selbstentschränkung" an das Objekt der Leidenschaft als eine „außerordentliche Selbststeigerung" erlebt. Gleichwohl kann sich diese Selbststeigerung, die sich der Selbstbeschränkung anderer Möglichkeiten des Betroffenen verdankt, derart ins Unbedingte verstetigen, daß der erste „Freiheitsverlust" zum endgültigen „Selbstverlust" gerät.91 „Das Gepacktwerden von der Imagination im verführerischen und verräterischen Modus des .Könnte' erfahren wir in Liebe und Haß, als Drang zur Vereinigung mit dem Liebesobjekt und als Drang zur Vernichtung des gehaßten Objektes." 92 Fällt die Vereinigung mit der/ dem Geliebten einer unbedingten Leidenschaft zum Opfer, bedeutet dies die „Einsetzung des anderen als mich selbst, an meiner Statt unter Auslöschung jeder Art von Intersubjektivität. Denn das Du soll Ich, nicht nur mein werden, eine kategorische Irrealität, wenn es um Menschen geht und auch um Sachen."93 Da die unbedingte Realisierung des Irrealen früher oder später an bestimmten Bedingungen scheitert, schlägt die unbedingt leidenschaftliche Liebe in den dementsprechenden Haß um, der auch vor der Selbstzerstörung im Sinne der Vernichtung des Doppelgängertums als der Möglichkeit von Selbstunterscheidungen nicht Halt finden kann. Ob Sucht nach dem Außeralltäglichen oder Leidenschaft für das Außeralltägliche, beider Unbedingtwerden äußert sich darin, daß das einst süchtig gefundene oder früher leidenschaftlich entdeckte Außeralltägliche zu dem neuen Alltag gerinnt, der keinen Spielraum mehr kennt, da er in sensomotorisch endgültigen Eins-zu-einsZuordnungen endet. Die ganze Differenz zwischen Alltäglichem und Außeralltäglichem erlischt in Kurzschlußreaktionen, die sich nun in ihrer Orientierung an entweder Allem oder Nichts von vornherein gegen die soziokulturellen Umwege des
91 Vgl. H. Plessner, Über den Begriff der Leidenschaft (1950), in: GS VIII, S. 70-74. 92 Ders., Der kategorische Konjunktiv, a. a. O., S. 350. 93 Ebd., S. 351.
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Zwischen Lachen und Weinen I: Die Individualisierung der Person
Common Sense in Reflexion und Vermittlung (vgl. 1.3., 1.9.) sperren. Das Unbedingte der Lebensführung braucht die dualistische Aushebelung des ihm Anderen und den nihilistisch-misanthropischen Selbstschutz, weshalb es sich gegen Öffentlichkeit und das Propädeutikum auch der Philosophischen Anthropologie wenden muß (vgl. O.3.). Die spezifisch menschliche Fülle an Verhaltensmöglichkeiten, die im Lächeln hätte anheben können, verrauscht im Entzug oder nimmt im unkontrollierten Affekt irreversibles Leiden in Kauf. Was ursprünglich als privat bedingte Alternative zur öffentlichen Rolle begann, schlägt im Falle der Leidenschaft in eine ausschließliche öffentliche Selbstbehauptung um und verkehrt sich im Falle der Sucht in eine ausschließliche Privatisierung des Öffentlichen. Was aus unbedingten Süchten oder Leidenschaften nicht nur im Einzelfall wird, hängt natürlich von den soziokulturellen Welten ab. Wenn schon der Kokaingenuß unbedingt wird, dann besser in der Form von Rainer Werner Faßbinders Produktivität als Filmregisseur als etwa in der Gestalt kokainabhängiger Kommandeure im Vietnamkrieg. Sowohl für die unmittelbar selber Betroffenen als auch für die mittelbar möglicherweise Betroffenen ist es sinnvoll, wenn Gesellschaften Interaktionsformen ermöglichen, in denen der Umgang mit Süchten oder Leidenschaften symbolisch erfolgen und dadurch kulturell gebunden werden kann, statt als unbedingter Umgang und damit Mißbrauch in eine sensomotorisch manipulierte oder affektiv dressierte Automatik umzuschlagen. Kulturgeschichtlich lehrt Religion den außeralltäglichen Umgang mit dem Absoluten, worauf wir zurückkommen.
4.17. Die gewaltsamen Enden des künstlichen Instinktersatzes oder das Individuum ineffabile Es gibt nichts, was am Ende mehr ent-individualisiert als die Automatik, entweder den Leib im Namen eines Körperkultes der Stärke oder den Körper im Namen eines Leibeskultes der Schwäche abschaffen, also den spezifisch menschlichen Bruch zwischen Körper und Leib beseitigen zu wollen. Solche Automatik mündet leicht in Gewalt, nämlich in die gewaltsame Zuordnung zwischen einem sensorischen Stimulus und einer motorischen Antwort, in eine Zuordnung also, die der spezifisch menschlichen Freiheit entbehrt. Gewalt ist hier die künstliche Wiederherstellung des Instinktes, ohne daß diese Künstlichkeit Ausdruck einer biotischen Voranpassung an die Umwelt sein könnte. Die künstliche Wiederherstellung des Instinktes ist selbst kein Instinkt, sondern Anzeichen für das Scheitern der Individualisierung der Person durch die unbedingte Fremd- oder Selbstautorisierung, unter letzterer durch das Unterlaufen oder Überschreiten der soziokulturellen Elementarrolle. Die ausschließliche, entweder nur Körper- oder nur Leibmechanik uniformiert. Sie setzt nicht das Weinen oder Lachen fort, sondern die Anonymität, die darin steckte, daß im ungespielten Lachen oder Weinen der Körperleib anstelle der Person antwortete.
Die gewaltsamen Enden des künstlichen Instinktersatzes
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Was allzumenschlich als die individuelle Abweichung von der Elementarrolle begann, kann unbedingterweise unmenschlich enden. Das Unmenschliche wird nicht nur darin ermöglicht, daß, wie im Fall II, das Selbstsein zum Kultmuster gerät, sondern auch darin, daß, wie im Fall I, die Individualität in der Personalität vollständig aufgeht. Wir befinden uns damit (einstweilen) am Ende der exemplarischen Phänomenreihe, die Mitwelt qua Rolle zu individualisieren. Wir verlassen diese Bühne nicht als die glücklich Individualisierten, sondern als diejenigen, denen die Verschränkung ihrer Personalität und Individualität aufgegeben bleibt. Für die - solange wir eben leben - nie vollständige Lösung dieser Aufgabe haben wir keinen Grund, uns in letzter Konsequenz entweder rationalistisch oder irrationalistisch entscheiden zu müssen. Es gibt kein Entscheidungsproblem, das dem vom Verhaltenskreis entkoppelten Bewußtsein vorzulegen wäre. Exklusiver Irrationalismus ist selbst eine Suchtform der unbedingten Art, und exklusiver Rationalismus ist eine Form unbedingter Leidenschaft. Beide begegnen einander in einer intellektuellen Lebensfremdheit, die nur schwer das Ressentiment verleugnen kann, das aus dem Mißlingen der eigenen Verschränkung stammt. Wenn Perspektiven- und Positionenwechsel überhaupt in zueinander passender Proportion verschränkt werden können, dann in Formen des Spiels. In unserem Phänomenreigen, die persona zu individualisieren, sind das ungespielte Lachen oder das ungespielte Weinen der entscheidende Kippunkt gewesen, das Kategorische und das Konjunktivische der je eigenen Lebensführung selber ins Lot zu bringen, an dem also auch jede eigene Probe aufs Exempel ansetzen sollte. In dieses Lachen oder Weinen geht der Spielraum aller Rollenkompetenzen schon ein. Nur unter der Voraussetzung dieses Spielraumes kommen wir in die Grenzfälle spezifisch menschlichen Verhaltens, in denen wir unserer eigenen Unbestimmtheit begegnen. Je nachdem, wie sich in und mit dieser Begegnung leben läßt, außeralltäglich und alltäglich, privat und öffentlich, können eher souveräne oder eher Souveränität kompensierende Formen der Selbstbeziehung den Charakter formen. Je nachdem, ob man über sich selbst lachen oder mit sich selbst weinen kann, statt eben dies nur zu spielen, entstehen Selbstbezüge der Öffnung oder der Schließung der eigenen Mitwelt, der Wirform des eigenen Ichs. Wo ich mir selbst begegne, also in der Unbestimmtheit des Verhältnisses meines Selbstseins zum Anderssein stehe, kann ich mir Gewalt antun, kann ich mit mir rollenkonform umgehen, kann ich mit mir und in mir als Doppelgänger spielen, kann ich süchtig oder leidenschaftlich werden, mit und ohne Unbedingheit. Solange wir uns jeder noch etwas an Unausdrücklichkeit und Unergründlichkeit, also ein „Individuum ineffabile"94, bewahren, hält uns die Körper-Leib-Differenz unteilbar und unvertretbar am Leben. Plessner charakterisiert die menschliche Situa-
94 H. Plessner, Die Frage nach der Conditio humana (1961), in: GS VIII, S. 201.
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tion in ihrem leibhaften Dasein aus der Binnenperspektive mit dem Satz „Ich bin, aber ich habe mich nicht" und aus der Beobachterperspektive damit, „Daß ein jeder ist, aber sich nicht hat". 9 5 In dieser Differenz spielen wir und mit ihr stehen wir auf dem Spiel. Zum Abschluß dieses Hauptkapitels möchte ich den Leser einladen, sich nochmals die Kippbewegung an den Rändern (des Lachens und Weinens) und die Mitte (Lächeln) des Spielspektrums einer soziokulturellen Elementarrolle zu vergegenwärtigen. Dabei mögen die drei folgenden Bilder behilflich sein, die aus verschiedenen Kulturen stammen. Gewiß erkennen wir die Feinheiten aus den beiden fremden Kulturen nicht ohne ein quasi ethnologisches Training. Gleichwohl ist der anthropologisch vergleichbare Gehalt sofort zu erfassen. Ein guter Schauspieler trifft in seiner Darstellung das Elementare des Phänomens in der einfachsten Gestik, hier Heinz Rühmann als der Hauptmann von Köpenick, der bekanntlich kein Hauptmann war, sondern ein Schuster, der nach einer Gefängniszeit wieder einen Paß, den Status seiner Bürgerrechte, haben will. Der Schuster vermochte es, nachdem er sich eine Uniform besorgt und diese mit den Abzeichen eines Hauptmanns versehen hatte, in der uniformgläubigen Welt des Wilhelminischen Kaiserreichs mit Soldaten, die seinen Befehlen blindlings folgten, das Rathaus von Köpenick zu besetzen, um dort allerdings feststellen zu müssen, daß es keine Paßabteilung gab. Was zu einem öffentlichen Gaudium der Kleinbürger, einem Triumph ihrer List hätte werden können, scheitert an der eigenen falschen Unterstellung. Nach der verschmitzten Zufriedenheit über den gelungenen Streich folgt das Lachen aus vollem Halse über den Erfolg des Maskenwechsels im Unwesen preußischen Kastendrills, bis der sinnlos erschreckende Schwindel den erschwindelten Hauptmann selber in einer Umkehrbewegung einholt, deren Mehrdeutigkeit hinter der erhobenen Hand nur noch schwer verborgen werden kann. Der Effekt des Ungespielten an diesem Lachen scheint gerade dadurch erspielt zu werden, daß es in keinerlei Art von Tränen zerfließt, also für das Leben des Doppelgängers wirklich zu ambivalent wird: Die Figur kann in diesem Staat die Geschichte ihres Karnevals weder fortsetzen (etwa Volksheld werden) noch hinter diese geheime Hoffnung zurückweichen, bleibt aber auf ihrer eigenen Dummheit sitzen. Sie hat die Grenze ihrer Verhaltensmöglichkeiten schnell erspielt und bricht als Gefangener ihres Spiels in die ungespielte Schwäche des Allzumenschlichen aus. Der kleine Mann bleibt, was er schon immer war. Bei dem Bild des Weinenden handelt es sich um Babesikna, der nach seiner Rückkehr aus dem vom Feind bedrohten Gartengelände erfahren hat, daß sein jüngerer Bruder Ebna gestorben ist. Babesikna und sein Bruder gehörten dem Eipo-Stamm aus der Gruppe der die Mek-Sprache sprechenden Stämme auf West-Neuguinea an.
95 Ebd., S. 190,194. Vgl. schon ders., Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 232, 237 ff.
Die gewaltsamen Enden des künstlichen
Instinktersatzes
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Das Bild stammt aus Filmmaterial eines deutschen Verhaltensforscherteams. Die Eipos waren eine seinerzeit noch von Außeneinflüssen freie und intakte neusteinzeitliche Pflanzerkultur.96 Das Bild spricht für sich und dokumentiert die Problematik jeder Aufnahme und Veröffentlichung menschlichen Leids. Kehren wir schließlich in die Verhaltensmitten der vielfältigen Weisen des Lächelns zurück, hier anhand der Abbildung einer Nö-Maske aus dem Nö-Spiel, das ursprünglich als eine Kunst der Bettler und Armen im durch Unruhen und Aufstände erschütterten Japan des 14.Jhs. entstand. Die Nö-Maske wird im Nö-Spiel zum Leben erweckt, in dem es „das kire-tsuzuki (Schnitt-Kontinuum) von ,Leben und Tod'" zu zeigen gilt: „Ihr besonderer Charakter liegt darin, daß sie erst durch den Leib des Schauspielers als unpersönliche Maske eigenständig wird. Indem sie nämlich das natürliche Menschsein des Schauspielers verbirgt, läßt sie den Schauspieler Schauspieler sein. Er selbst wird zu einer Maske. Indem die Realität durch die Maske vereinnahmt wird, entsteht eine neue Realität. ... Ihre Schönheit ist nicht die eines vorhandenen Dinges, sondern die eines sich im Realen zeigenden Irrealen." 97 Gleichwohl sichert die Aufführung der Nö-Maske den sensomotorischen Rückbezug auf das Lachen und Weinen, denn ihre Besonderheit besteht darin, daß sie nach unten gedreht beim Zuschauer die Seite des Weinens und nach oben gewendet die des Lachens zeigt, wodurch also in der Mitte tatsächlich das Lächeln des Spektrums liegt. Nicht erst die Aufführung, schon die Anfertigung dieser Nö-Maske erfordert die besondere Kunstfertigkeit, die Extreme des Spektrums und deren Mitte je einzigartig anzeigen zu können.98
96 Vgl. Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Die Biologie des menschlichen Verhaltens, a. a. O., S. 169, 513. 97 Ryosuke Ohashi, Kire. Das Schöne in Japan. Philosophisch-ästhetische Reflexionen zu Geschichte und Moderne, Köln 1994, S. 19. Ich danke Herrn Ohashi, diese Abbildung aus seinem Privatarchiv hier verwenden zu dürfen. 98 Ich danke Frau Sakiko Kitagawa (Tokyo University) für ihre Erklärung des Nö-Maskenspiels, das ich hoffentlich richtig wiedergegeben habe.
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Zwischen Lachen und Weinen I: Die Individualisierung der Person
Die gewaltsamen Enden des künstlichen Instinktersatzes
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Babesikna
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Zwischen Lachen und Weinen I: Die Individualisierung der Person
N o -Maske
5. Zwischen Lachen und Weinen II: Die Personalisierung des Individuums
5.1. Die Individualisierung der Person und die Personalisierung des Individuums: Einleitung Die neuro- und verhaltenswissenschaftliche Forschungslage half (im 3. Kapitel), das Strukturproblem der Mitwelt zu erschließen, (das ich zu Beginn des 4. Kapitels zusammengefaßt habe). Wir erleben uns schon immer in einer Welt, die in dem Kontrast zwischen gegenstandsorientierter und latent selbstorientierter Aktivitätsrichtung aufscheint. Zudem unterscheiden wir anhand unseres eigenen Körperleibes zwischen Innen- und Außenwelt, wobei er als das Grenzverhältnis zwischen beiden Welten vorkommt, eben zwischen Leibsein und Körperhaben. Wenn man sich fragt, woher wir solche Differenzen (an unseren Aktivitätsrichtungen nach außen bzw. innen, gegenstände- respektive selbstorientiert) bilden können, kommt man auf das Strukturproblem der Mitwelt. Wir nehmen sie schon immer in Anspruch, während wir derartige Differenzierungen treffen. Insofern trägt uns die Mitwelt. Aber wenn man es nicht bei einem Spuk oder Gespenst von der Mitwelt belassen will, müssen wir doch selber sie auch bilden. Im Hinblick auf die neuzeitliche Kunstgeschichte (vgl. 2. Kapitel) haben wir gesehen, daß die Mitwelt nicht nur als die Negativität des Sinnes der Sinne ins Sinnlose hinein sich bemerkbar macht. Sie kann auch selber in den Grenzen der Visualisierung, der Musikalisierung und der Versprachlichung des funktionalen Zusammenspieles unserer körperleiblichen Sinne thematisiert werden. Naturphilosophisch wurde die Annahme plausibel, die Mitwelt sei die (preadaptive) Eingespieltheit unserer Organisationsform auf unsere Art von (Um)Welt, auf eben die exzentrische Positionalitätsform. Das Bewußtsein aktualisiert diese Einspielung. Und kunstphilosophisch bestand die Lektion zur Sinnesfrage darin, die metaphorische Übersetzung des Schauspiels der körperleiblichen Sinne im Medium der Geschichte begreifen zu müssen, in dem Ausgleichsbewegungen unseren jeweiligen Standort exzentrieren oder rezentrieren. Beide Lektionen, die natur- und kunstphilosophische, harmonieren mit dem Common Sense (vgl. 1.9.) insofern, als er sich in Konfliktfällen des Urteilsstreites auf die Kommunikation zwischen individueller und soziokulturell verfügbarer Urteilskraft einläßt, dem kategorischen Konjunktiv Genüge zu leisten.
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Zwischen Lachen und Weinen II: Die Personalisierung des Individuums
Die Mitwelt wurde (in 4.5./4.6.) als das Schauspiel der soziokulturell elementaren, an den Eigennamen gebundenen Rolle faßbar, dank der sich jeder von uns verdoppeln kann. Unser Doppelgängertum ist vom Phänomen her offenbar, wenn wir uns den Zugang zum eigenen Körper vergegenwärtigen (vgl. 1.1./1.2.), dem wir als Leib im Extremfall auf Gedeih und Verderb - ausgeliefert sind, während wir ihn als Körper zu beherrschen vermögen. Dieser unmittelbare Zugang läßt sich auch sprachlich zum Kategorischen Konjunktiv der Lebensführung entfalten (vgl. 1.10), in der wir gemeinhin die Unvertretbarkeit und Einzigartigkeit unseres leiblichen Ichs mit der soziokulturellen Vertretbarkeit und Erwartbarkeit eines allgemein verkörperbaren Ichs auszugleichen versuchen. Im vierten Kapitel wurde dieser Unterschied als das Schauspiel näher vorgestellt, das der Träger der persona, der in der Elementarrolle seines Eigennamens spielt, und der Rollenspieler, der mit dieser Rolle spielt, miteinander oder auch gegen einander aufführen. Im vorigen Kapitel standen die Phänomene der Individualisierung der an den Eigennamen gebundenen Elementarrolle im Vordergrund, d.h. sie selbst wurde als gegeben angenommen. Wer in seiner Rolle spielt, erlernt deren Kompetenzen, sich auszudrücken, zu handeln und zu sprechen. Die Ambivalenz seiner eigenen KörperLeib-Differenz wird durch diese soziokulturelle Verkörperung vereindeutigt, bestimmt und verendlicht. Zur Ausübung der Rolle gehört für die Interaktionspartner ein Spielraum und für den sie Aufführenden eine Verdopplung seiner Existenz in eine private und öffentliche (vgl. 4.6.). Während die Praktizierung der Rolle einem Dauertest im Blickkontakt mit den anderen unterliegt (vgl. 4.8.), ensteht dem Rollenspieler sein Individualisierungsproblem in drei elementaren Selbstbezüglichkeiten (kognitiv, praktisch und ästhetisch, 4.7.). Je nachdem, wie dieser Test ausgeht und wie jene Rückbezüge auf den eigenen Körperleib entstehen, spielt man nicht nur in, sondern auch mit der Rolle, womöglich gegen sie an. Die Aufführung der Rolle wird damit für andere mehrdeutig und für einen selbst mehrsinnig. Die Grenzen des Rollenspiels für einen selbst und beobachtbar für die anderen wurden an den Phänomenen des ungespielten Lachens und Weinens vorgestellt, wenn nämlich das Rollenspiel zu mehrsinnig/mehrdeutig wird oder zu einem Sinnverlust im ganzen führt (4.9. - 4.12.). Die Individualisierung der Rolle kann auf souveräne Weise anheben, etwa in einem dementsprechend lächelnden Umgang mit ihr (4.13.), oder an den allzumenschlichen Charakter bedingter Süchte und Leidenschaften anschließen (4.14.). Der individuelle Spielraum mit und in der Rolle potenziert sich nochmals - nach der Differenz privatöffentlich - enorm in den Möglichkeiten, sie alltäglich und außeralltäglich zu praktizieren. Während sich bedingte Süchte so darstellen, als ob man in ihrem außeralltäglichen Genuß die Erfahrung ungespielten Weinens ins eigene Verhaltensspiel einholen kann, scheint der außeralltägliche Charakter bedingter Leidenschaften die Lachgrenze des eigenen Verhaltenskreises durch Selbststeigerung zu verschieben. Indessen kann aber die Bedingtheit der Süchte und Leidenschaften, sie nämlich aufs Außeralltägliche zu beschränken, verloren gehen und muß das Rollenspiel nicht zu
Die Individualisierung der Person und die Personalisierung des Individuums
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einer Individualisierung durch Unterschreitung oder Überschreitung der Rolle führen. Man kann sich auch mit der Rolle bis ins Unbedingte hinein identifizieren oder, statt dieser Fremdautorisierung eben der Selbstautorisierung gegen sie zum Opfer fallen, sofern einem die eigene Sucht oder Leidenschaft ins Unbedingte entgleitet. Die Verkehrung dessen, was als eine außergewöhnliche Erweiterung des eigenen Verhaltensspieles begann, in einen neuen Alltag, der nichts anderes mehr als das Unbedingte praktizieren soll, transzendiert das ungespielte Weinen und das ungespielte Lachen. Was zwischen diesen Verhaltensgrenzen an Spielpotentialen lag, liegt sodann jenseits von ihnen und vermag sich damit, ins Unmenschliche zu wenden (vgl. 4.16.-4.17.). Die Verkehrung der condition humaine, der Bedingtheit menschlicher Existenz im Ganzen, in das Potential zu unmenschlichem Verhalten beginnt in der Zerstörung des je eigenen Doppelgängertums, als ließe sich tierische Instinktsicherheit künstlich wiederherstellen und als wäre sie der Maßstab. Die elementare Wirförmigkeit des eigenen Ichs, zwischen der leiblich unvertretbaren Individualität und der körperlich vertretbaren Personalität zu leben, gewährt alle nötigen Ambivalenzen, eindeutig und mehrdeutig spielen und dieses Spielen am Ungespielten des Lachens und Weinens begrenzen zu können. Das Spielspektrum der Phänomene zwischen solchem Lachen und Weinen zu durchlaufen erneuert das Potential, aus dem für einen selber Unbestimmten, Unbedingten und Unendlichen ins Bestimmen, Bedingen und Verendlichen des Lebensvollzuges zurückkommen zu können. Die Perspektivenwechsel bleiben innerhalb dieses Phänomenspektrums an die Positionswechsel des eigenen Körperleibes lebbar gebunden. Wer dieses Spektrum aber jenseitig überschreitet, respektiert sich nicht mehr als letztlich unausdrücklichen und unergründlichen Menschen, anerkennt sich selbst nicht als Individuum ineffabile. Der Kategorische Konjunktiv des eigenen Lebens verschwindet so in dem Kategorischen Imperativ, das je eigene Unendliche, Unbedingte und Unbestimmte endgültig bedingen und bestimmen zu müssen. Wer sich selbst nicht mehr für noch bestimmbar und bedingbar hält, bringt die Wirform des eigenen Ichs zum Erlöschen. Wer sich Gewalt antut, kann anderen gegenüber gewalttätig werden. In der Gewalt beginnt das Sterben. Im Unterschied zu diesem Phänomenenreigen, der exemplarisch eine gelingende oder scheiternde Individualisierung der Person verdeutlichen sollte, geht es in dem folgenden Kapitel endlich um die Ausdifferenzierung der bislang als elementar unterstellten Rolle, eine persona zu spielen. Wir können fortan voraussetzen, daß es im Rollenspiel zur Ausbildung individueller Rückbezüge auf die eigene Körper-LeibDifferenz kommt, um uns nun einerseits mehr dem Selbstlauf der Interaktionen zu überlassen, ihrer Pluralität also Rechnung zu tragen, um aber andererseits auch wieder Rückschau darauf zu halten, welche gesellschaftlichen Formen der Personalisierung von Individuen deren Individualisierungsprozeß eher fördern oder behindern. Anderenfalls hielten wir nicht an Plessners These vom Doppelgängertum des Menschen fest.
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5.2. Drei Rollenbegriffe: Das privat-öffentliche Doppelgängertum der Würde bricht die Individualisierung, Vergemeinschaftung oder Vergesellschaftung der Person Daß ein jeder „sich nur im Umweg über andre und anderes als ein Jemand hat, gibt der menschlichen Existenz in Gruppen ihren institutionellen Charakter." Die Mitwelt begegnet nun als „ein Geflecht aus Person und Sache, eine Welt des Wir, in der jeder zu jedem in der ersten, zweiten, dritten Person Rückbezüglichkeit und Gegenseitigkeit seiner Verhältnisse zu beachten hat." 1 Die historisch gewachsene Mitwelt erscheint dem in sie Hineingeborenen zunächst als das unmittelbar Selbstverständliche. Erst im Maße nachträglicher Besinnung auf Grund von Konfliktsituationen tritt sie thematisch hervor. Das soziale Gefüge, der Außenhalt, von dem her wir uns exzentrisch erleben können, inkorporiert uns „als Jemanden mit Namen und Status": Durch den Namen werden wir für uns selber wie für die anderen zu einem ansprechbaren Individuum, dessen Selbst am Namen nach außen wie nach innen Halt findet. D e r Status betrifft „die weite Spannung des Rollenbegriffs" zwischen einerseits dem ascribed status, also dem, „was einer durch Geburt und Umstände im sozialen Felde ist", und andererseits dem achieved status, also dem, „was er aus sich macht". 2 „Elementare Rollenhaftigkeit" nennt Plessner, so zur Erinnerung, den „fundamentalen Zug leibhafter Existenz, die eines Namens bedarf, woran sie zur Person wird". Unter der im Verhaltensspiel erlernbaren, die Personalität auszeichnenden dreifachen Positionalität war verstanden worden, sich selbst von außerhalb seines eigenen K ö r perleibes, eben exzentrisch, als die Differenz zwischen unvertretbarem Leib, der uns einschließt, und vertretbarem Körper, der anderen Körpern gleicht, gegeben zu sein. Demgegenüber unterstellt die Rolle „als theatralischer Begriff" bereits, „daß es einen Rollenträger gibt, der seine Existenz wechselt, um die Rolle zu spielen". Damit wird das Spielelement freigesetzt, wobei jetzt aber nicht wie im 4. Kapitel die leiblichen Rückbezüge aufs Individuum im Vordergrund stehen, sondern die sozialen Selbstbezüge der Verkörperung für und über andere Personen. Das Spielelement gestattet „nun einer Person, eine andere zu sein. Sie tritt an ihre Stelle." Die im ersten Schritt erfaßte „Konstitution der Person" wird im zweiten Schritt verdoppelt zur Grunderfahrung des „Doppelgängertums", für das sich „das Bild von Rollenspieler und Maskenträger" anbietet, und das in repräsentativen Zusammenhängen zu einer „gesellschaftlich-politischen Kategorie" wird. 3 Während im 4. Kapitel die privat-öffentliche Verdoppelung als die Spannung zwischen (mindestens privatem) Individuum und (wenigstens öffentlicher) Person thematisiert wurde, geht es jetzt darum, diese Ver-
1 H. Plessner, Die Frage nach der Conditio humana, a. a. O., S. 194. 2 Vgl. ebd., S. 196f.,201. 3 Vgl. ebd., S. 198f.
Drei Rollenbegriffe
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doppelung interaktiv als eine von Personen zu begreifen. Der durch die Differenz von Privatem und Öffentlichem bereits konstituierte Doppelgänger kann sich seinerseits mit dieser Differenz schauspielernd - in Interaktionen als verschiedene Personen vorführen. Die dritte Bedeutung des Rollenbegriffs, die häufig in den Sozialwissenschaften unterstellt wird, kommt erst durch eine erneute Formalisierung in modernen Gesellschaften auf. Das Doppelgängertum (in privater und öffentlicher Person) wird dann als eine reine Funktion verstanden, ohne noch an besondere Menschen und ihr besonderes Verhalten gebunden zu sein: Indem die Leute, wie man sich darüber zu sprechen angewöhnt hat, ihren persönlichen Halt mehr mit einer „nebelhaften Privatexistenz" als mit ihrer Rolle verknüpfen und ihre Leistungen von der Rolle ablösen und auf eine gesellschaftliche Funktion übertragen, machen sie „sich selber zu Funktionären". 4 Der moderne Mensch als Funktionär (vgl. 5. 6.) von ihm vor- oder übergeordneten Verhältnissen privatisiert seine Trägerschaft der Rolle und veröffentlicht seine Rollenfigur, bis es zur Entkopplung von Privatem und Öffentlichem kommt, die elementare Lebensrolle also zerreißt. Damit wird die Zuordnung zwischen privater Motivation und öffentlich verwertbarer Leistung kontingent gesetzt und lebensgeschichtlich verwischt. Der Job ist keine Berufung mehr, nicht einmal mehr ein Beruf (könnte man in Anspielung auf Max Weber sagen). Die Geschichte der westlichen Moderne ist aber ein Streit darüber, inwiefern diese Ablösung der sozial funktionalen Leistungen von den Personen, die sie erbringen bzw. empfangen, inwiefern also die Ablösung, hinter der bereits eine Ablösung der Person von der Individualität der Person steht, schmerzlos, problemlos und grenzenlos ist. 5 Die Philosophische Anthropologie darf durch keine begrifflich-methodische Vorentscheidung dieses Problem eliminieren, sondern muß es für den anthropologischen Vergleich stellen können, womöglich auch für andere Modernisierungsformen offenhalten. Für die Philosophische Anthropologie ist der mittlere Rollenbegriff, die These vom Doppelgängertum, spezifisch und der springende Punkt. Diese These schließt elementare Rollenhaftigkeit ein, ohne Personalisierung mit soziokulturellem Dasein kurzzuschließen. Die moderne Funktionalisierung führt zur Entkopplung von Rol-
4 Vgl. ebd., S. 201f. 5 Statt Individualität, Personalität und Funktionalität vollständig voneinander zu entkoppeln, gibt es verschiedene Möglichkeiten ihres Zusammenhangs. Vgl. im Anschluß an Hegel und Mead zu drei anspruchsvollen Formen der wechselseitigen Anerkennung von Personalität und Individualität, denen allerdings die naturphilosophische Fundierung fehlt, vgl. Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt/M. 1992; ders. (Hg.), Pathologien des Sozialen. Die Aufgaben der Sozialphilosophie, Frankfurt/M. 1994.
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Individuums
lenträger und Rollenfigur. 6 Aber diese Entkopplung fällt im anthropologischen Vergleich erst auf, wenn man sie mit dem Doppelgängertum kontrastiert. Erst die Verdoppelung der Person in „Rollenträger und Rollenfigur", d. h. in eine private und in eine öffentliche Person, führt in das Grenzverhältnis hinein, in welchem Personalisierung das soziokulturelle Dasein der Interaktionen ermöglicht und umgekehrt nach Interaktionen gefragt werden kann, die Personalisierung ermöglichen bzw. behindern oder gar verunmöglichen. Die persona eröffnet sowohl den Zugang zur Vergemeinschaftung oder Vergesellschaftung der Interaktionen als auch den Rückbezug zur Individualisierung der Personen, die interagieren. Als seine Möglichkeit gibt sich der Mensch sein Wesen erst „kraft der Verdoppelung in einer Rollenfigur, mit der er sich zu identifizieren versucht. Diese mögliche Identifikation eines jeden mit etwas, was keiner von sich aus ist, bewährt sich als die einzige Konstante in dem Grundverständnis von sozialer Rolle und menschlicher Natur." 7 Auf diejenige Grenze von Interaktionen, die es ermöglicht, daß die sozial Handelnden gleichwohl noch ihren personal nötigen Positionswechsel ausführen können, zielte Plessner schon in seinem Buch „Grenzen der Gemeinschaft" von 1924 ab, wenngleich in teilweise anderer Terminologie: „Was aber ist der Sinn des Spieles, wenn nicht die Irrealisierung des natürlichen Menschen zur Trägerschaft irgendeiner Bedeutung, irgendeiner Rolle?" 8 Er verstand in diesem leidenschaftlichen Plädoyer für Gesellschaft (im Unterschied zur Gemeinschaft) Würde (im Unterschied zur Ehre) als die minimale Idee der Harmonie von Aktivitätsrichtungen, die „das Ganze der Person, den Einklang ihres Inneren und Äußeren" betrifft. 9 Die Personalisierung muß nicht nur Interaktionen und deren Ablösbarkeit von den Personen im Lauf der Geschichte ermöglichen, sondern im sensomotorischen Rückbezug auf den Personenspieler auch dessen Individualisierung, was schwer zu erreichen ist und daher leicht um den Preis der Lächerlichkeit mißlingt. Wenn man sich fragt, welche Bedingungen Interaktionen zwischen Personen auf die elementarste Weise einhalten müssen, um mit der Individualisierung der Personen
6 Natürlich besteht die Gesellschaft nicht aus Menschen, sondern aus deren Interaktionen, insbesondere Kommunikationen. Für Luhmann ist aber die selbstreferentielle Ablösung der funktionalen Sozialsysteme von den Personen und Individuen so weit fortgeschritten, daß er jeden semantischen Rückbezug der Funktionen auf Menschen als „alteuropäischen Vernunftglauben" ablehnt. Ironischerweise haben dadurch die Götter wieder freie Gesellschaftsbahn: „Die moderne Gesellschaft ist, wie der Gott des Aristoteles, mit sich selber beschäftigt. Sie tut, wie der Gott der Christen, alles, was sie tut, um ihrer selbst willen." Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 2, Frankfurt/M. 1997, S. 1127. Vgl. dagegen zur kommunitaristischen Gesellschaftsauffassung Hans Joas, Die Entstehung der Werte, Frankfurt/M. 1997. 7 H . Plessner, Die Frage nach der Conditio humana, a. a. O., S. 204. 8 Ders., Grenzen der Gemeinschaft, a. a. O., S. 94. 9 Ebd., S. 75.
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verträglich zu sein, ist man ganz schematisch auf Formfragen verwiesen. Solche Formen bewahren einerseits der Person den für ihre Individualisierung nötigen Spielraum und ermöglichen andererseits gegebenenfalls eine bis zur Funktionalisierung fortschreitende Formalisierung. Auf den ersten Blick könnte Plessners Antwort auf die Formfrage altmodisch anmuten: Zeremonie und Prestige. Zeremoniell nannte er dasjenige Schema von Interaktionen, welches das personal nötige Spiel zwischen Gesicht (Offenbarung seines Innenlebens im äußeren Ausdruck) und Maske (Verhüllung des Innenlebens durch Verallgemeinerung und Objektivierung für den Blick von außen) statisch ermöglicht. Die Frage der Wahrung des Gesichts, wie man sagt, ist nicht nur aus asiatischen Kulturen bekannt, sondern sofort auch in anderen Kulturen resonanzfähig. 10 Wenn im sozial-interaktiven Auftritt nicht auf minimale Weise die Würde der Person gesichert wird, ist die freiwillige Fortsetzung der Interaktion und (selbst nur funktional gesehen) Erbringung personaler Leistungen unwahrscheinlich. Die Minimalbedeutung der Interaktion, daß an sie angeschlossen werden kann, wodurch sie sozial relevant wird, entfiele dann. Unter Prestige verstand Plessner die personenbezogene Dynamik des Interaktionsschemas.11 Dieser dynamische Aspekt kehrt später in dem oben zitierten Unterschied zwischen dem achieved status und dem ascribed status wieder. Der Grundgedanke einer Verdoppelung der Person durch ihre darstellerische Verkörperung in eine private und öffentliche war hingegen auch schon 1924 hervorgehoben worden: „Der Mensch verallgemeinert und objektiviert sich durch eine Maske, hinter der er bis zu einem gewissen Grade unsichtbar wird, ohne doch völlig als Person zu verschwinden. Eine Zweiteilung entsteht zwischen Privatperson und Amtsperson, Amt hier noch in einem ganz umfassenden ... Sinne genommen." 12 Selbst wenn man die Termini der Zeremonie und des Prestiges für altmodisch hält, wird man dadurch noch nicht das Problem einer elementaren Schematisierung und Dynamisierung von Personalität los. Wenn Personalität die Fortsetzbarkeit der Interaktionen zu Gesellschaft und Geschichte hin und gleichzeitig die Individualität der Person ermöglicht, dann kann sie nur höchst formal ausfallen, dann muß also in ihr von den Inhalten der immer gerade hier und jetzt ausgeübten Tätigkeiten der Person und den Inhalten der Tätigkeiten ihrer möglichen Interaktionspartner andernorts und zu anderer Zeit abstrahiert werden können. Dieses anthropologische Problem der basalen Sicherung einer formalen Würde taucht in allen Frühkulturen im hohen Stellenwert der Riten auf, die sich in gewisser Weise - allen antiautoritären Idealen
10 Vgl. Erving Goffman, Interaction Ritual, Berkeley 1967, p. 12. 11 Vgl. H. Plessner, Grenzen der Gemeinschaft (1924), in: GS V, S. 75, 85-91, wo auch schon die spätere Ansprechbarkeit des Individuums durch Namen als Nimbus an die irreale Verdoppelung der Person in einer Rolle gebunden wird. 12 Ebd., S. 82 f.
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zum Trotz - in der Kindererziehung wieder einstellen. Dieses Problem hat aber auch die neuere ethnologische und Verhaltensforschung gerade an noch nicht modernisierten Kulturen gezeigt, wodurch deutlich wird, daß es sich bei der Frage nach elementarer oder formaler Würde um keine moderne Erfindung handelt, sondern eher um eine moderne Verlusterfahrung, die mit der tendenziell grenzenlosen Funktionalisierung zusammenhängen könnte. Eibl-Eibesfeldt unterscheidet im Anschluß an interkulturelle Vergleichsstudien drei „Superstrategien", die als schematisch-dynamische Muster in längeren Interaktionsketten immer wieder auftauchen. So untersuchten Brown und Levinson „höfliche verbale Anfragen (Bitten) in Tamil (Südindien), Tzeltal (Mexiko) und Englisch mit zusätzlichen Sprachproben in Malagasy und Japanisch. Sie stellten übereinstimmend fest, daß kleine Bitten durch Betonung der Gruppenzugehörigkeit und/oder unter Berufung auf soziale Ähnlichkeit - also der Betonung einer Gemeinsamkeit vorgetragen werden (Superstrategie der intimen Höflichkeit). Größere Bitten erfordern formelle Höflichkeit durch konventionelle indirekte Sprechakte und Entschuldigung (Superstrategie der formellen Höflichkeit). Bitten, die so groß sind, daß sie eventuell auch abgeschlagen werden können, trägt der Bittsteller indirekt, also verblümt vor (Superstrategie des indirekten Hinweises). Aber nicht nur die Größe der Bitte, auch der soziale Abstand der Interakteure bestimmt entscheidend mit, welche der drei Superstrategien gewählt wird. Und das zentrale Bedürfnis, um das es in allen Fällen geht, besteht darin, das Gesicht zu wahren. Keiner will sich etwas vergeben, niemand will sein öffentliches Selbstbild gefährden, aber auch das seines Ansprechpartners nicht." 13 Plessners große Entdeckung, unser Doppelgängertum im Sinne des mittleren Rollenbegriffs, der Differenz zwischen privater und öffentlicher Existenz also, ermöglicht es der Philosophischen Anthropologie, der häufigen Verwechselung der Individualisierung der Person mit der Vergemeinschaftung oder Vergesellschaftung des Individuums aus dem Wege zu gehen. 14 Auch die Vergemeinschaftung oder Vergesellschaftung betrifft nicht das Individuum, sondern die Person, die sich dank ihrer Verdoppelung mindestens privat von dem öffentlichen Anspruch freihalten können muß. Die Individualisierung ist keine Frage bloßer Willkür oder subjektiver Gespreiztheit. Sie ist auch keine Verinnerlichung (Internalisierung, Interiorisation) des Sozialen oder der Kultur durch einen Trichter. Diese falschen Vorstellungen von der Individualisierung folgen aus der bewußtseinsphilosophischen Erwartung, das Menschenwesen als das Bewußtseinswesen ließe sich dressieren. Indem man Individua-
13 Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Grundriß der Humanethologie, München 1995, S. 693 f. 14 Vgl. dagegen im Anschluß an G. H. Mead auch J. Habermas, Individuierung durch Vergesellschaftung, in: ders., Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt/M. 1988, S. 189 ff.
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lisierung ans Bewußtsein hängt, läßt sie sich als eine moderne Erfindung feiern - was für eine alberne Eitelkeit! - und gleichzeitig als avantgardistische Bewußtseinsindustrie betreiben (vgl. 2. Kapitel). Individualisierung setzt vielmehr in allen Kulturen leibseitig an den sensomotorischen Rückbezügen der Rolle auf den eigenen Körperleib, etwa an eine Sucht oder Leidenschaft, an und hat mindestens privaten Spielraum. Sie kann auch sprachlich bis in die Antinomie der beiden Ichs im Kategorischen Konjunktiv hinein explizit gemacht werden, muß mindestens aber implizit in der leiblichen Unvertretbarkeit des Ichs und in der körperleiblichen Ganzheit des antinomischen Ich durch raumzeitliche Bewegungen behauptet (eben: positioniert) werden. In der Differenz zwischen privater und öffentlicher Person kann jede Bewegungsrichtung nur gebrochen, also indirekt wirken, ob Individualisierung oder Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung immer: der Person, also der dreifachen Positionalität, die als Differenz zwischen durch die Rolle öffentlich zugänglicher und durch die Rolle verborgener Existenz gelebt wird. Individualisierung, Vergemeinschaftung oder Vergesellschaftung beziehen sich alle nur auf Personalität, wenn sie kein factum brutum schaffen sollen, also nicht jenseits von Lachen und Weinen liegen möchten. Personalität im Sinne des mittleren Rollenbegriffes heißt, die Würde der Person dadurch zu wahren, daß ihr der Spielraum zwischen ihrer privaten und öffentlichen Existenz erhalten bleibt. In diesem Spielraum kann ich mich nicht nur (privatissimo) gegenüber mir als (öffentlicher) Person individualisieren, sondern mit mir selber als einer anderen Person interagieren. Gewiß hat die Pluralisierung des eigenen Ichs, die nun nicht mehr nur das leiblich individuelle und soziokulturell verkörperbare Ich meint, sondern in die Wirform des eigenen Ichs auch die Interaktion mit anderen Personen qua Schauspiel einbegreift, je persönliche Grenzen, die letztlich auf das ungespielte Lachen und Weinen zurückverweisen.
5.3. Das persona-Spiel führt aus dem Dualismus zwischen Handeln und Verhalten heraus und in den Kommunikationszusammenhang zwischen Interaktion und Medium hinein Man könnte besser, als auf nackten Zugriffen auf das Individuum durch Gemeinschaft oder Gesellschaft zu bestehen, sagen, daß Personalität das Medium darstellt, dem gegenüber sich Menschen individualisieren, und in dem sie sich auf eine indirekte Weise vergemeinschaften und vergesellschaften, also auf verschiedene Weise interagieren können. Man darf dann nur nicht unter Medium ein Mittel des instrumenteilen Handelns verstehen, das ein Bewußtsein vom Zweck der Handlung voraussetzt. Vielmehr schließt der Medienbegriff an den Begriff der Inter-Aktionen an, in dem gerade das thematisiert wird, was zwischen den Handlungen einerseits und dem Verhalten andererseits liegt. Der Medienbegriff hebt dann den semiotisch-prag-
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matischen Aspekt, also den Aufführungscharakter der Interaktionen, hervor, wodurch sie Kommunikationen werden. Es ist sehr wichtig, diese grundbegrifflich andere als gewöhnliche Weichenstellung der Philosophischen Anthropologie zu verstehen, auch für das Terrain der Sozialund Kulturanthropologie. Plessner hat früh und überzeugend mit Buytendijk zusammen den Behaviorismus, d. h. die Versuche einer ausschließlich physikalischen Kausalerklärung des äußerlich beobachtbaren Verhaltens, kritisiert, weil sie dem Spielraum im Verhalten von Lebewesen nicht gerecht werden kann. 15 Aber er hat diese Kritik geleistet, ohne umgekehrt in einer ausschließlich hermeneutisch, d.h. am Selbstverständnis der Akteure ansetzenden Handlungstheorie den Ausweg zu sehen. An die Stelle des alten Dualismus zwischen einerseits Handeln, das man nur hermeneutisch aus dem Selbstverständnis der Akteure verstehen könne, und andererseits dem Verhalten, das man nur von außen beobachten, beschreiben und kausal erklären könne, tritt in der Philosophischen Anthropologie die begriffliche Umstellung auf Interaktion und Medien. O b Gemeinschaft oder Gesellschaft, sie werden als Arten des Inter-Agierens begriffen. O b Geschichte oder Kultur und Technik, sie werden, wie wir noch sehen werden, als Medien verstanden. Diese Umstellung beginnt bereits innerhalb der Bioanthropologie, nach der Lebewesen dank ihrer Selbstorganisation in ihrer Umwelt den Spielraum haben, mit Medien zu interagieren. 16 Das phänomenologische Aufschließen selber (vgl. 0.5.) lebt davon, daß dank eines Mediums Phänomene sich kund tun können, eine bislang praktizierte Annahme (vgl. 4.10.), die wir jetzt konzeptionell einholen. Der Zusammenhang zwischen Interaktion und Medien befreit uns auch von dem (insbesondere durch A. Gehlen artikulierten) Denkzwang, die biologische Sicherheit instinktiven Verhaltens soziokulturell wiederherstellen zu müssen, nämlich durch die bewußte Rekonstruktion des Verhaltens im Handlungsaufbau und durch autoritär stabilisierte Institutionen. Statt dessen können wir Plessners konzeptionelle Umstellung auf Verhaltensspiele zwischen Lachen und Weinen für soziokulturelle Phänomene konturiert fortsetzen. In dem Wort „Inter-Aktionen" schwingen Aktionen mit, wodurch man an Handeln denkt, das im Unterschied zum Verhalten als intentional geleitet gilt. Dafür spricht auch das Präfix „Inter" im Unterschied zu „in" (lateinisch). Handeln ist zwar etwas, das im Äußeren sichtbar wird, aber gerade nicht im Verhalten aufgeht. Man unterstellt beim Handeln eine Sinnorientierung der Äußerung, die vom Innen des Akteurs kommt, wobei dieses Innere Bewußtsein enthält, aber nicht auf Bewußtsein reduziert werden muß. Intentionalität kann auch eine spontane Sensibilität bedeuten, z . B . für
15 Vgl. u.a. die Zusammenfassung von Frederik J . J . Buytendijk/Helmuth Plessner, Die physiologische Erklärung des Verhaltens. Eine Kritik der Theorie Pawlows (1935), in: GS VIII 16 Vgl. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie (1928), Berlin 1975, S. 103 f., 334-341.
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die Umwelt, wie Jakob von Uexküll sagt, oder eine Orientierungsrichtung, wie Husserl meint, die vor der durch Zeichen artikulierten Bewußtheit liegt, oder eine Stimmung, wie es Heidegger nennt. Intentionalität kann auch, wie etwa Freud und an ihn Anschließende es tun, auf aktual Unbewußtes oder Unterbewußtes erweitert werden, das sich dann spontan - gerade nicht bewußt kontrolliert - in der Äußerung zeigt, etwa in Form von Versprechern, unbewußt gegenläufiger Mimik und Gestik, hysterischem Verhalten etc. Man sieht, wie durch diese für unser Jahrhundert typischen Erweiterungen von Intentionalität über Bewußtheit hinausgehend, noch stärker im Kontrast zum Selbstbewußtsein, langsam der Handlungsbegriff diffus wird. Der Handlungsbegriff entgleitet zu Äußerungen einer Intentionalität, für die letztlich doch das Bewußtsein der Maßstab bleibt. Oder das Handeln wird zu einem von außen beobachtbaren Verhalten, dem intern kein klarer Sinn mehr zugeordnet werden kann. Deshalb ist einerseits die Lebensphilosophie auf den Begriff des Ausdruckes zurückgegangen, der Intentionalität im weitesten Sinne annimmt, nicht speziell und aktual Bewußtes oder gar Selbstbewußtes meint. Demnach sind Lebewesen solche Wesen, die sich ausdrücken. Und deshalb haben sich andererseits in den Beobachtungsmethoden zunächst einmal Verhaltensbegriffe durchgesetzt, die die Binnenhermeneutik des beobachtbaren Verhaltens ausklammerten, was nicht immer so reduktionistisch wie in Pawlows Theorie bedingter Reflexe oder Skinners Behaviorismus erfolgen mußte. Um so näher lag und liegt angesichts dieser Grenzen des Handlungsbegriffes seither der Wechsel zu dem Begriff der Interaktion. Der Begriff der Interaktion schließt nicht aus, daß es eine intentionale Binnenhermeneutik der am Interagieren Beteiligten gibt. Intentionalität kann bei Aktionen mitlaufen, aber sie muß nicht das „Inter" der Aktionen betreffen, geschweige dieses Inter selbst ausmachen. Auf jeden Fall hat Interaktion aber Grenzen. Was „in" ist, ist nicht „inter". Inter ist wortwörtlich, was dazwischen oder unter ist, jedenfalls nicht innen ist. Aber es ist auch ein Dazwischen im Äußeren, das von dem Innen der Inter-Agierenden begrenzt wird. Die Grenze nach innen wird nicht ausgeschlossen, wie im Behavior, sondern als eben die Grenze von Äußerungen nach innen anerkannt. Nur muß es keine eindeutige Zuordnung zwischen dem Innen der Agierenden und dem Dazwischen ihrer Äußerungen geben. Der Sinn des Interaktionsbegriffes besteht gerade darin, die Zuordnung zwischen dem Innen und dem Dazwischen der Agierenden im Spielen zu lockern, bis im Extremfall eine völlige Entkopplung zwischen Innen und Dazwischen eintritt, sich also der Verhaltensbegriff wieder einstellt. Das Inter der Interaktion ist auch nicht einfach das Äußere gegenüber dem Inneren der Interaktionspartner. Was den Interagierenden äußerlich ist, ist nur in den seltensten Fällen auch zwischen ihnen, noch seltener das Dazwischen ihrer Aktionen oder das, was den Aktionen der Beteiligten unterliegt, sie fundiert. Was hat nun dieser bislang eingekreiste, vom Verhalten und vom Handeln abgesetzte Begriff der Interaktion mit Kommunikation zu tun? - Das philosophische
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Problem in den alltagssprachlichen Verwendungsweisen von „kommunizieren" und bedeutungsverwandter Ausdrücke liegt in dem Präfix „Ko"- bzw. „So"- „co", in einer Art von Mit-Gemeinsamem, das mitläuft, aber von niemandem der an der Kommunikation Beteiligten privatistisch, also andere ausschließend, angeeignet werden kann. 17 Dieses Mit-Gemeinsame der Kommunikation begegnet uns im Interaktionsbegriff als das Dazwischen der Aktionen wieder. Insofern haben beide Begriffe eine Gemeinsamkeit, gehen sie problemlos ineinander über, ist Kommunikation Interaktion, und ist umgekehrt Interaktion Kommunikation. Beide Begriffe heben auf etwas ab, das den Bewußtseinen der Beteiligten vorhergehen, neben diesen Bewußtseinen laufen und diese Bewußtseine auch übersteigen kann, ohne Intentionalität auszuschließen. Nur ist nicht sie, die Intentionalität, der Punkt, auf den es in erster Linie ankäme, und von dem her alles aufgeklärt werden könnte. Die Pointe zielt vielmehr auf das Dazwischen oder das Mit ab, das sich in kein Epiphänomen einer beteiligten Intentionalität auflösen läßt. Es ist nicht Folge, Konsequenz oder bloßes Mittel von Intentionalität. Auch was die semiotische Weite angeht, sprachliche und nichtsprachliche Zeichenrepertoires, können sich der allgemeine Kommunikationsbegriff und der allgemeine Interaktionsbegriff vollständig überlappen. Beide treffen auf Lebewesen überhaupt zu und können über die Selbstreferenz der Sprache für Menschen spezifiziert werden, ohne daß das natürliche Kontinuum zwischen allen Lebewesen geleugnet werden müßte. 18 Indessen ermöglicht nun aber der semiotische Aspekt, der dem Kommunikationsbegriff eigen ist, einen anderen Vergleichspunkt, nämlich die Einführung des Medienproblems in unsere Erörterung. Kann man das Dazwischen der Interaktion, da es doch dem Mit-Gemeinsamen der Kommunikation zu entsprechen scheint, als Medium fassen? - Auch hier will ich vom umgangssprachlichen Gebrauch des Wortes Medium und seiner Wortgeschichte aus starten. Man versteht unter einem „Medium" ein Mittel oder einen Mittler, wobei beides sowohl stofflich als auch personal gemeint sein kann. Seit dem lateinischen Ursprung
17 Vgl. H.-P. Krüger, Kommunikation, in: Hans Jörg Sandkühler (Hg.), Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, Bd. 2, Hamburg 1990, S. 829 ff.; ders., Perspektivenwechsel. Autopoiese, Moderne und Postmoderne im kommunikationsorientierten Vergleich, Berlin 1993, S. 86-94. 18 Vgl. den ausgezeichneten Uberblick über Handlungstheorien im weiten Sinne, also in der Erweiterung auf symbolische Interaktion und kollektives Handeln, von Hans Joas, Die Kreativität des Handelns, Frankfurt/M. 1992. Obgleich ich Joas' Motiv, das instrumenteile Handeln vom Standpunkt der Kreativität des Handelns zu kritisieren, teilen kann, eben im Sinne der Spieltheorie der Philosophischen Anthropologie, überzeugt mich sein kommunitaristischer Lösungsvorschlag eines kollektiv kreativen Handelns nicht für die Themen der Gesellschaft - als den öffentlich-interaktiven Spielmedien - , der Geschichte als dem Traditionsbruch und der Individualität im Unterschied zur Personalität.
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wird jedenfalls darunter etwas in der Mitte Stehendes verstanden, das als Adjektiv médius heißt u n d in neutraler F o r m zu medium substantiviert w o r d e n ist, insofern es eben als Mittel oder Mittler taugt. Ein M e d i u m kann etwas ablenken, brechen oder überbrücken, sei es als Stoff, Welle oder Person, etwa Versuchsperson oder spiritualistisch gedacht, w o d u r c h etwas in Erscheinung tritt oder eine Verbindung hergestellt wird. Aus dem Umstand, daß ein M e d i u m ein Mittel sein kann, folgt nicht, daß wir den Ausdruck „Medium" mit „Instrument" oder „Werkzeug" im weitesten Sinne gleichsetzen könnten. Selbst w e n n ein M e d i u m ganz unlebendig vorgestellt wird, nicht also als personenhafter Mittler, verbinden wir doch mit diesem Wort die Erwartung, daß es uns etwas sehen, hören, fassen lassen möge. Es ist dann eine A r t Kontrastmittel, wie etwa die Röntgenstrahlen, die uns etwas sehen lassen, was ansonsten unsichtbar bliebe. Im M e d i u m des Wassers sieht alles gebrochen aus. Im M e d i u m der Luft wird alles gebremst. Die Mittelfunktion eines Mediums ist schon immer eine semiotische. Es geht primär nicht u m andere Gebrauchs- oder Nutzenaspekte, sondern u m ein Mittel, durch das sich etwas zeigt, w a h r n e h m b a r wird. Selbst ein n u r stoffliches oder im weiten Sinne materielles M e d i u m hat einen lebendigen Bezug zu unseren Sinnen, dem Visuellen, dem Auditiven, dem Taktilen. Es handelt sich hier u m die Technik der Semiosis, der Zeichengebung, aber nicht in dem trivialen Sinne, daß ein Zeichen einen Träger braucht, wobei man dann den Träger wieder als Werkzeug oder Instrument ansehen könnte. Zwischen dem Bezeichneten u n d dem Bezeichnenden kann ja Arbitrarität herrschen, d. h. eine Willkür in der Z u o r d n u n g beider, wie bei den meisten sprachlichen Zeichen. Bei ihnen gibt es keinen inhärenten Zusammenhang zwischen Lauten, Buchstaben u n d sogar ganzen Worten einerseits u n d dem dadurch Bezeichneten, d. h. dem semantischen Inhalt oder der pragmatischen Konsequenz, anderseits, es sei denn, man verwendete sie dichterisch, symbolisch, analogisierend oder magisch. Ein M e d i u m hat indessen etwas Dichtes, vielleicht sogar Dichterisches. Es ist nicht einfach arbiträr zu dem, was es ans Licht, zu G e h ö r oder zu fassen bringt. Es gibt einen viel stärkeren als n u r zufällig konventionalisierten Zusammenhang zwischen dem M e d i u m u n d dem, was es strahlen oder erscheinen läßt. D e r Effekt des Mediums u n d das M e d i u m des Effekts sind sich keineswegs gleichgültig. M a n kann sie nicht voneinander ablösen, wie man etwa Instrumente u n d deren P r o d u k t e voneinander ablösen kann. D e r und der Effekt k o m m t durch kein anderes M e d i u m zustande. U n d das u n d das M e d i u m zeitigt keinen anderen Effekt als den, der ihm zugehört. M a n kann versuchen, zwischen Medien u n d ihren Effekten zu übersetzen, aber die Ü b e r setzung wird immer unvollständig sein und einer gewissen A r t von Interpretation, von Nachdichtung, bedürfen. M a n denke an die Bemühungen, R o m a n e zu verfilmen, Theaterstücke als Fernsehspiele zu übertragen, oder wortwörtlich Gedichte von Ezra P o u n d auf Deutsch zu bringen, u m nicht noch Schwierigeres anzuführen, etwa Musik oder Gemälde in Worte zu fassen (vgl. 2. Kapitel). Es gibt beides, das M e d i u m
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und seine Effektart, auch nur gleichzeitig, in gleichzeitiger Aktion. Medium ist eine Art von Materialität, die Aktualität ermöglicht. Aus vielen möglichen Sinnzuweisungen wird eine bestimmte tätig realisiert, in Aktion versetzt, eben aktualisiert, tatsächlich gemacht. Man kann nicht einzelne Sprachzeichen ein Medium nennen, wohl aber das Ganze der Sprache, das in actu verschieden proportioniert wird. Uberhaupt scheint es beim Medium nicht einfach um eine Bezeichnungsfunktion zu gehen, die man sich instrumenteil zu erfüllen denken kann. Die Mediatisierung, d. h. das Medium in Aktion, hat etwas von einer Zeigehandlung, Deixis, während der die semiotischen Elemente nicht voneinander abgekoppelt werden können. Ein Medium ist eine Kopplung in Aktion, eben die Ermöglichung einer Verbindung, die es anders überhaupt nicht gäbe. Dies ist übrigens der Grund, warum die phänomenologische Philosophie im Gefolge Husserls von der Fundierung durch Medien spricht, die an die Stelle der transzendentalen Analyse von Ermöglichungsbedingungen bei Kant tritt. Schon Hegel meinte, wenn er gegen Kant von Vermittlung sprach, die Mit-Teilung zwischen etwas Substantiellem und etwas Subjektivem, zwischen etwas Lebendigem und etwas Reflexivem. Hölderlin hatte das Vermittlungspotential von Geist metaphorisch den Äther genannt. Dies leitet schon über zu der zweiten Bedeutungsdimension von Medium, das nun nicht mehr nur als Kontrast-Mittel im semiotischen Sinne der Ermöglichung des Aufzeigens, sondern als Mittler firmiert, der über noch mehr Eigensinn oder Brechungskraft als das Mittel-Medium verfügt, weil er als personenhaft gilt. Die primär semiotische Zeigefunktion bleibt auch jetzt noch erhalten, wenn unter Medium ein personenhafter Mittler verstanden wird, sei es, daß wir durch diese Person mit Geistern in Kontakt kommen wollen, sei es, daß wir sie als Versuchsperson im psychologischen Labor oder in einer magischen Aufführung erleben wollen, sei es, daß wir alltagssprachlich diese Person als Mittler zu Mitmenschen einsetzen möchten oder wie ein Regisseur einen Schauspieler, oder wie ein Dirigent ein Orchester als Medium einsetzen möchten, um etwas vorführen, aufführen, zeigen, sichtbar, hörbar, fühlbar machen zu können. So oder so soll das Medium im Sinne einer personenhaften Vermittlung eine Performance, eine Vorführung oder Aufführung von etwas ermöglichen. Es geht nicht um internalisierte Kompetenzen, die im Handeln geäußert werden, sondern um die Vorführung, wie im Äußeren zwischen allen wahrnehmbar, für alle beobachtbar dank dem Medium durch Kopplung etwas Neues ermöglicht wird. Gleichwohl gilt die Person, die als Medium fungiert, nur in dieser ihrer medialen Eigenschaft, d. h. als semiotische Ermöglichung vom Aufzeigen einer Verbindung, vom Wahrnehmbarwerden einer lebendigen Kopplung zwischen Person und Sinn. Man könnte sagen, daß ein Medium dasjenige im Äußeren sichtbar, hörbar, faßbar werden läßt, was man sich ansonsten nur erschließen kann. Zwischen Innen, den intentionalen Zuständen, und Außen, dem Ausdrucksverhalten eines Individuums, muß es hin- und hergehen. Aber wir kommen da nicht hinein, jedenfalls nicht, ohne das Individuum zu zerstören. Wir können seine Wechsel zwischen innerer und äuße-
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rer Aktivität nicht wahrnehmen, sondern nur erschließen aus seinem - möglicherweise falschen oder gefälschten - Ausdrucksverhalten. Ein personenhaftes Medium nun hat die Funktion, etwas ansonsten Inneres im Äußeren sichtbar werden zu lassen. Statt uns direkt im Innern des Anderen zu verhakein, dort den Analytiker zu spielen, statt uns dort zu verlieren, taktlos in die Tiefe zu bohren, sich dem Gewissen aufzudrängen, lassen wir uns dieses vermeintlich Innere durch das Medium einer dritten Person als Kontrast entstehen, aufzeigen, wahrnehmbar machen. Durch das Medium geht man also den indirekten Weg. Das vermutete innere Zentrum soll dank des Mediums in der Mitte des Äußeren aufleuchten, eine Art von Hirn- und Herzröntgen, wenn man so will. Das macht das Phänomenale am Medium aus. Es ermöglicht den Sinnen ein Phänomen, eine Art von Gestaltsprung, den es so bisher noch nicht gab. Man stelle sich den Einsatz von Ultraschall und Infrarotkameras vor oder denke an Tänze, an die ersten Fotografien, Stumm- und Tonfilme (seinerzeit eine wirkliche Revolution der Wahrnehmung), an die Geschichte der modernen Malerei und Musik zwischen Impressionismus und Expressionismus. Dies bedeutet aber auch, daß wir mit dem Begriff des Mediums, ob als semiotischdeiktisches Mittel oder als personenhafter Mittler für Performances, immer die dritte Person verbinden, die einen semiotischen Effekt aufzuführen oder vorzuführen ermöglicht. Eine Person kann natürlich ein einzigartiges Ich und ein unvertretbares Du sein. Aber gerade diese Eigenschaften sind nicht gefragt, wenn diese Person als Medium fungiert, das nicht selber unvertretbar und einzigartig sein soll, sondern umgekehrt diejenige dritte Person sein mag, die Unvertretbares oder Einzigartiges im Kontrast sichtbar werden läßt. Der Prototyp des Mediums ist semiotisches Kontrastmittel, des Mediums als Mittel also, sind Wasser, Luft, Sonne, Erde, wenn man an Mythen und kulturgeschichtliche Anfänge denkt. Nicht nur Homer, die ganze griechisch-antike Philosophie ist voll davon. Der Prototyp des personenhaften Mediums, des Mittlers also, ist der Schauspieler, und zwar genauer gesagt: seine Maske als der Kontrast, der das seelisch Innere als Äußeres hervortreten läßt. Di e persona ist, etymologisch betrachtet, zunächst die Maske, ehe sie dann auch als die Verkörperung vergleichbarer Rechtstitel zählt. Genau hier, in der Maske der dritten Person, setzt die Philosophische Anthropologie an. Die Maske der dritten Person fungiert als die exzentrische Mitte, also als die Mitte außerhalb des eigenen Leibkörpers, die Mitte im Äußeren zwischen den Individuen, von der her als Kontrast wir uns wahrnehmbar werden. Von der dritten Person als dem Medium her lernen wir unser intentionales Erleben erleben, aber nun dank des Mediums im Äußeren. Damit ist der Zirkel christlicher Reflexion, wie er seit Thomas von Aquino bis in die Existenzphilosophie unseres Jhs. vorangetrieben worden ist, immer tiefer in die eigene Seele hinabsteigen zu müssen, durchbrochen zugunsten der Mit-Welt, nun der persona als medium. Nach dem bisher Gesagten scheint die folgende Zusammenfassung sinnvoll zu sein: Das Dazwischen der Interaktion und das Mit- bzw. Ko-Gemeinsame der Kom-
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munikation lassen sich wohl als ein Medium qualifizieren. Während der Interaktionsbegriff auf das Dazwischen im Äußeren der Akteure und damit auf das Dazwischen zwischen Handeln und Verhalten verweist, thematisiert der Kommunikationsbegriff dieses Dazwischen semiotisch. Das Ko- wird als die Ko-ordinierung durch die Aktualisierung von Zeichenpotentialen verstanden. Der Medienbegriff qualifiziert nun diesen Koordinierungseffekt als eine aktuale Semiosis in der Form einer Deixis. Die Bezeichnungen, die Zuordnungen zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem, werden nicht einfach vorausgesetzt, sondern vorgeführt wie ein Phänomen. Ein Medium ermöglicht die Vorführung semiotischer Unterscheidungen, indem es als das Kontrastmittel (Neutrum) oder als der Mittler/die Mittlerin (personenhaft) der dritten Person fungiert. Der Unterscheidung zwischen sprachlicher und nichtsprachlicher Kommunikation entspricht jetzt auf Seiten des Medienbegriffs der Unterschied zwischen ganzer Sprache (nicht ihren Elementen) und der Maske als dem Medium der Verkörperung von Leiblichem. Diese, die Sprache und die Maske der dritten Person, sind anthropologisch gesehen die beiden Grundmedien, die als Kontrast alles andere erst hervortreten, sehen, hören, fassen, für wahr nehmen lassen, darunter insbesondere das Wechselbad zwischen der kulturellen Entfremdung der Nachwachsenden und der Erzählung einer eigenen Geschichte. Sprache und Masken können einander davonlaufen, so daß die spezifisch geistigen Wirkungspotentiale nicht mehr den Körperleibbewegungen entsprechen. Die Perspektiven und Positionen werden dann gleichsam entkoppelt voneinander. Oder die Körperleib-Positionen und die sprachlich möglichen Perspektivennahmen werden wieder in dem Sinn einer Geschichte zusammengeführt, sozusagen aneinander gekoppelt. Alle weiteren Differenzierungen von Medien müssen hier ansetzen, falls denn überhaupt ein philosophisch gehaltvoller Medienbegriff Verwendung finden soll, also nicht nur eine Analogie zum Instrument oder Werkzeug.
5.4. Personalität als das Medium gemeinschaftlicher Interaktionen: das Familien- und Sachmodell der Gemeinschaft und die Grenzen der Vergemeinschaftung von Personen Wir können nun an ausgewählten Phänomenen derjenigen Differenzierung nachgehen, die das elementare Doppelgängertum des Unterschiedes zwischen privater und öffentlicher Person in soziokultureller Hinsicht erfährt. Der privaten Person bleiben die leiblichen Rückbezüge des unvertretbaren Ichs vorbehalten, während die öffentliche Person als Interaktionsmedium fungieren kann. Dabei erscheinen die gemeinschaftlichen Interaktionen dank ihrer Wertorientierung wie Antworten auf das Problem, die Kontingenzen der persönlichen Lebensführung überhaupt durch eine Bindung gestalten zu können. Eine Gemeinschaftsbindung ermöglicht dem Doppelgänger, sich endlich bestimmbar und bedingbar zu werden, wodurch sie oft wie eine
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Verlängerung der privaten Existenz erscheint. Gleichwohl nehmen die gemeinschaftlichen Interaktionen zwischen Personen bereits die öffentliche Existenz der Personen in Anspruch, was oft erst in einer - gemessen an der ursprünglich gemeinsamen Werteorientierung - schmerzlichen Ablösung hervortritt. Demgegenüber erscheinen die gesellschaftlichen Interaktionen von vornherein als eine Ausgestaltung der Ambivalenzen, die dem öffentlichen Leben eigen sind, und die in das der Person Unbestimmte, Unbedingte und Unendliche führen können. Gesellschaftliche Interaktionen bedürfen eines Äquivalentes für die ihnen fehlende gemeinschaftliche Wertbindung, um mit dem Doppelgängertum verträglich bleiben zu können (worauf ich näher in 5.5. eingehen werde). Die öffentliche Person ist die soziokulturelle Ausgestaltung der exzentrischen Positionalität in Form einer bestimmten soziokulturellen Position. Von dieser her kann der Rollenspieler die Differenz zwischen seinem Leibsein und Körperhaben verschränken. Die soziokulturelle Positionalität wird über Interaktionen mit Bezugspersonen der zweiten (Du) und dritten Person (Er/Sie/Es) Singularis erlernt, bis sie in der Form der ersten Person Pluralis, in der Perspektive eines Wir, als soziokulturelle Mitwelt geteilt werden kann. Diese Mitwelt wird vom Ihr der zweiten Person Pluralis, die eine andere Mitwelt teilt, unterscheidbar und in der Perspektive der dritten Person Pluralis (Sie) mit anderen Mitwelten vergleichbar. Während die Interaktion mit einem Du die motivierende Identifikation vom Rollenträger auf die Rollenfigur übertragen kann, werden in der dritten Person Singularis die Träger vor der Figur austauschbar und entsteht eine Vergleichsnot möglicher Träger für die betreffende Figur. Die Wir-Perspektive umgrenzt die „wertnahen" Interaktionsarten, die Plessner (in Variation auf Ferdinand Tönnies' berühmte Unterscheidung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft19) unter dem Begriff der Gemeinschaft zusammenfaßt. Dies bedeutet zunächst einmal nur, daß die sozial Handelnden diejenigen Werte teilen, nach denen sie ihre Interaktionen bewerten, insofern also einer Wir-Perspektive angehören. Die motivationale Nähe der Werte zu den Interaktoren kann sich eher affektiv gestalten, d. h. nach dem Modell der im weiten Sinne familiaren „Liebe" (nicht speziell nach dem Muster der im 4. Kapitel erwähnten leidenschaftlichen Liebe) und deren symbolischer Übertragung. Man gewinnt hier den weiten Fächer von Verwandtschaftsbeziehungen (nach Geschlechter-, Generationen- und Lebensalter-Rollen), der insbesondere von der französischen strukturalen Anthropologie entfaltet worden ist, und der symbolischen Ubertragbarkeit von Familienähnlichkeiten, auf die der späte Wittgenstein in seiner Beschreibung von Sprachspielen angespielt haben könnte.
19 Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie (1887), Darmstadt 1979.
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Oder die motivationale Nähe der Werte stellt sich eher objektiv dar, d. h. nach der Art einer überhaupt argumentierenden Lösungsform für Sachprobleme, wie sie sich außerhalb der affektiven Bindungen an personale Raumzeiten darstellen lassen. Im ersten Fall der Familiarität oder der Familienähnlichkeit wird die Gemeinschaftsbildung eher an das personale Problem, Leib zu sein, diesen ausdrücken und anderes rezentrisch verleiblichen können zu müssen, angeschlossen. Der zweite Fall der Lösung sachlicher Aufgaben setzt eher bei dem personalen Problem an, einen Körper haben, ihn exzentrisch ausrichten und anderes verkörpern können zu müssen. Im ersten Fall spricht Plessner vom Typus der „Existenzgemeinschaft": Sie braucht der Affektwerte willen eine „Personmitte" und tendiert insofern unter ihren Teilnehmern zur Hierarchie bezüglich dieser Person. Den zweiten Fall kann man den einer „Sachgemeinschaft" (wie z. B. der Wissenschaft oder einer politischen Sache) nennen, die den rationalen Werten entsprechend eine exzentrische „Sachmitte" (idealiter von einem Nirgendwo/Nirgendwann her) braucht. Insofern tendiert sie langfristig zur „Gleichberechtigung" ihrer Gemeinschaftsmitglieder vor der Sachlösung.20 Alle Interaktionen, die sich durch motivationale Wertnähe auszeichnen, sei diese eher existentiell zentrischer oder mehr rational exzentrischer Art, bilden eine gemeinschaftlich geteilte „Vertrautheitssphäre", von der sich die „Nichtvertrautheitssphäre" der „Gesellschaft" unterscheidet. „Gemeinschaft ohne diese Grenze ist keine Gemeinschaft mehr."21 Plessner hat erkannt, daß diese Grenze der Gemeinschaft, die ihr durch die gesellschaftliche Öffentlichkeit gezogen wird, mit der individuellen Grenze von Gemeinschaftlichkeit korrespondiert. In der Konfrontation der beiden Ideale des Gemeinschaftsethos, der Unendlichkeit der Liebe des Herzens und der Unendlichkeit des Vernunftglaubens an die geistige Sachbestimmung, „zeigen sich die Wesensgrenzen, die jeder Panarchie der Gemeinschaft hindernd im Wege sind: die Unaufhebbarkeit der Öffentlichkeit und die Unvergleichlichkeit von Leben und Geist." - Zur ersten Grenze der Unaufhebbarkeit von Öffentlichkeit: „Öffentlichkeit beginnt da, wo Liebe und blutsmäßige Verbundenheit aufhören. Sie ist der Inbegriff von Möglichkeitsbeziehungen zwischen einer unbestimmten Zahl und Art von Personen als ewig unausschreitbarer, offener Horizont, der eine Gemeinschaft umgibt. Sie ist gerade in dieser Negativität eine sozialformende Macht ersten Ranges." - Und zur zweiten Grenze der Unvergleichlichkeit von Leben und Geist: „Das Leben ist kurz, schnell, beengt, und für die Wurfbahn, in der es sich von Geburt an befindet, sind wir nicht verantwortlich. Von Anfang an ist unserer Freiheit vom Schicksal ein
20 In den beiden letzten Absätzen habe ich, unter Abstraktion von der vordergründig politischhistorischen Argumentation Plessners in seinen Grenzen der Gemeinschaft und zugunsten deren systematischen Zusammenhangs mit dem Gesamtwerk variiert. Vgl. H. Plessner, Grenzen der Gemeinschaft, a. a. O., S. 45-52. 21 Ebd., S. 56.
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höchst begrenzter Spielraum gelassen. Hier gilt es sich zu bewähren, was aber mit Argumenten nur zu einem sehr geringen Teil geschehen kann und geschehen darf. Von einer Mitte aus muß freilich alles geordnet sein, von der Wesensmitte der ganzen Person, nicht von einer Schicht ihrer Existenz, ..." 2 1 Beide Gemeinschaftsgrenzen, die zum Individuum und die zur Gesellschaft als Öffentlichkeit hin, führen aus der Transparenz, Eindeutigkeit und Bestimmtheit heraus, die in einer Sphäre vertrauter Interaktionen dank des Werterepertoires und der Wertepriorität einer Gemeinschaft möglich sind. Sie führen, vom Standpunkt einer jeden schon immer bestimmten Gemeinschaft, hinaus in Intransparenz, in Ambivalenz bis in unüberschaubare Polyvalenz, in eine Unbestimmtheit als der Ermöglichung von Bestimmung (Bestimmbarkeit) hinein, damit aber auch in die Gefahr der Unbestimmbarkeit. In der Konsequenz gelangt man also auf beiden Grenzen der Gemeinschaft zur Unergründlichkeit des Menschen zurück, zum homo absconditus also, jetzt aber einmal in seiner Unerschöpflichkeit ¿««erpersonaler Positions- und Perspektivenwechsel als Individuum ineffabile genommen, und andererseits in der Unerschöpflichkeit ¿nierpersonaler Positions- und Perspektivenwechsel zwischen dem Wertegefüge nach unverbundenen Menschen, also als gesellschaftliche Öffentlichkeit verstanden. Beginnen wir mit der Grenze, die sich aus den intrapersonalen (innerpersonalen) Aktivitätsrichtungen zur Individualisierung hin ergibt. Die Personalisierung dank der Verkörperung einer soziokulturellen Rolle, mit der man sich identifiziert, wird zwei- und mehrdeutig. Wie ist dies zu verstehen? - Die Ambivalenz der Individualisierung besteht darin, daß die Individualität einerseits der Wir-Perspektive als eines Verhaltenszentrums außerhalb ihres Körperleibes bedarf, um überhaupt zu einem Selbst kommen zu können. Andererseits lernt man, indem die Individualität zu sich selbst kommt, sich zugleich von der gemeinschaftlich geteilten Wir-Perspektive zu unterscheiden. Man erfährt sich in der Konsequenz des Maßstabes und am Maßstab der Gemeinschaft als unvertretbar und einzigartig. Es ist diese Zweideutigkeit der Individualisierung, die dem Bestimmungsversuch der Gemeinschaft, die personale Perspektive in der Wir-Perspektive aufgehen zu lassen, zuwiderläuft. Würde der innerpersonale Positionswechsel auf die Wir-Perspektive eingeschränkt, entstünde ein im Sinne der Gemeinschaftswerte durch und durch „authentischer" und „transparenter", „eindeutig festgestellter" und „bestimmter", also eine Art gläserner Mensch. Der Vergemeinschaftung der Person entspricht zwar die personale Tendenz, die Realität exzentrisch bestimmen und sich als anerkennenswert zeigen und offenbaren können zu müssen. Aber ihr widerspricht die für die Balancegewinnung des individuierten Selbstes nicht minder wichtige Gegentendenz, frei von der Anpassung an gemeinsam geteilte Werte Illusionen imaginieren und sein Innenleben gegen außen
22 Ebd., S. 55.
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verhüllen können zu müssen, was eine Schamgrenze auch gegenüber der Gemeinschaft erfordert (vgl. 4.7.). 23 Der Vergemeinschaftung der Person ist die Grenze der Individualisierung der Person gesetzt, nicht nur, weil eine Person ihr Verhaltenszentrum verschieden exzentrieren und damit auch verschieden rezentrieren kann. Die Person kann sich überhaupt auf ihre einmalige leibhafte Existenz rückbeziehen, was man in unserer aristotelischchristlichen Tradition die Entdeckung ihrer Seele nennt, im Unterschied zu ihren Verkörperungen, in denen sie sich vertretbar und ersetzbar wird. Was in dieser Kulturtradition den Menschen „wirklich erst individualisiert, von innen heraus unteilbar und einzigartig macht, ist das Bewußtsein vom Besitz einer Seele, das Leben im Zentrum einer empfindenden, wollenden, denkenden, der Umwelt und dem eigenen Leibe gegenüber eigenwilligen, an Tiefe und innerer Eigenschaftsfülle unvergleichlichen Innerlichkeit." 24 Im Prisma der Sprachpragmatik der Personalpronomina als unserem Kommunikationsmedium, in dem wir Perspektiven verschränken, ist die Individualisierung wie folgt zu fassen: „Die Position des Menschen läßt sich durch Personalpronomina deklinieren, die ... ein doppeltes Verständnis des Wortes Ich möglich machen. Ich kann mich zu anderen in ein konstantes Gegenüber bringen, in dem mir eine ausgezeichnete Stelle reserviert bleibt, die eben nur durch mich hic et nunc ausgefüllt wird. Insofern sind ,Ich' und .Hier' äquivalent. Ich bezeichnet den Ort, von dem meine Impulse ausgehen und auf den hin alle Perspektiven konvergieren. Dieser abstrakte Tatbestand kommt dem Menschen ... konkret aber durch die eigene leibhafte Existenz zum Bewußtsein..." 2 5 Setzt man psychogenetisch die Einbettung in ein intersubjektives Milieu voraus, begegnet die „ausgezeichnete Position des eigenen Ichs im doppelten Sinn der Stellen, die Ich hier ausfüllt (d. h. als eine Leerstelle, die auch ein anderer ausfüllen kann ...), und in einer Binnendimension ..., welche ich einfach bin und habe als Rückzugsmöglichkeit in mich". 2 6 Demnach artikuliert sich Einzigartigkeit nur „vor einem Hintergrund, der sie nicht kennt. Individuelle und generelle Subjektivität, d. h. Intersubjektivität, implizieren einander. Als Individuum unersetzbar, steht jeder Mensch in seiner möglichen Ersetzbarkeit. Er könnte, aber er kann nicht." 2 7
23 Vgl. zum Schicksal der Individualisierung ebd., S. 60, zu den Antagonismen zwischen der Realitäts- und Illusionstendenz, der Zeige- und Offenbarungstendenz und der Scham- und Verhüllungstendenz ebd., S. 66-75. 24 Ebd., S. 61 f. 25 H. Plessner, Der kategorische Konjunktiv. Ein Versuch über die Leidenschaft (1968), in: GS VIII, S. 338. 26 Ebd., S. 339. 27 Ebd., S. 340.
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Die „strukturelle Antinomie, Individuum nur in dem Maß des Eingeständnisses seiner generellen Ersetzbarkeit durch einen anderen zu sein", ermöglicht, mit Kant gesprochen, beide Tendenzen, die zur Geselligkeit und die zur Ungeselligkeit, die den Ausgleich zu ungeselliger Geselligkeit herausfordern. 28 Das Individuum hat sich auf dem Wege über andere und anderes, insofern aber auch auf eine vertretbare und ersetzbare Weise. Und es ist unvertretbar und unersetzbar im Unterschied zu diesem Weg seiner Vermittlungen durch andere und anderes. Die Affekt- oder Sachwerte einer bestimmten Gemeinschaft geben ein vertrautes Maß für Vertretbarkeit und Ersetzbarkeit an, das von Gemeinschaft zu Gemeinschaft ein anderes ist. Die inhaltliche Fülle an Interpretationen, was vertretbar/unvertretbar respektive ersetzbar/ unersetzbar bedeuten, wird durch die strukturelle „Antinomie zwischen Ichsubjekt und Intersubjektivität, am puren Faktum: Wo ich bin und stehe, kann (könnte) jeder stehen" 29 , historisch in Gang gehalten. Sie wird nicht nur im Indikativ realisiert, sondern auch im Konjunktiv irrealisiert. Und in ihr werden nicht nur Perspektiven sprachlich verschränkt, was das Ubersetzungsproblem zwischen Sprachen aufwirft, sondern auch Positionswechsel an der Grenze zum Nichtsprachlichen zum Ausdruck gebracht. 30 O b seelen-phänomenologisch auf die Anschauung der Positionen oder sprachpragmatisch auf die Besonderheit der Ichperspektive bezogen, die Feststellung der Individualposition und -perspektive auf eine bestimmte Gemeinschaftsperspektive stellt sich als problematisch heraus: Insofern nämlich, als die Benamung und Statuierung der Person, die also für den Betreffenden passive Inkorporierung in ein Gemeinwesen, durch die Identifikation mit Gemeinschaftsrollen hindurch die Eigendynamik der doppeldeutigen Ich-Position erfährt, bis sich die Individualität von sich selbst, der bloßen Personalität, abheben kann. Der verliehene Name und der mitgegebene Status werden zum Ausdrucks- und Handlungspotential des Ich selbst im Wechsel der personal möglichen Positionen und Perspektiven. Die Philosophische Anthropologie zeigt also nicht nur die Nowendigkeit der Vergemeinschaftung von Personen anhand der - die Aktivitätsrichtungen des Körperleibes motivierenden - Affekt- und Sachwerte auf, als das Zuhause der Personen, das ihnen vertraut ist und sie mindestens zunächst motiviert. Die Philosophische Anthropologie ermöglicht auch umgekehrt diese Rückfrage: Welche Interaktionsformen begünstigen oder behindern die Individualisierung von Personen? - Diese Grenzfrage liegt einerseits im Hinblick auf die psychopathogenen Folgen der Feststellung einer Person durch eine und ausschließlich eine Gemeinschaftsperspektive nahe, andererseits hinsichtlich der konfliktuären Konsequenzen, die solche Fest-
28 Vgl. ebd., S. 342. 29 Vgl. ebd., S. 346. 30 Vgl. ebd., S. 347 ff.
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Zwischen Lachen und Weinen II: Die Personalisierung
des
Individuums
Stellungen in der betreffenden Gemeinschaft selber zeitigen können. Der Gemeinschaft werden durch die genannte Feststellung von Personen alle personalen Leistungen entzogen, die durch die innerpersonalen Positions- und Perspektivenwechsel ermöglicht würden. Was die elementare Schematisierung von Würde in den wertbestimmten Interaktionen angeht, so entsteht in der Evaluierung der Personen eine Tendenz dazu, die evaluativ Begünstigten zeremoniell und dem Prestige nach überzubewerten und die evaluativ Benachteiligten hier und jetzt bis zur Würdelosigkeit zu behandeln. Das personale und soziale Problem kann durch eine den Personen zugängliche Pluralität von Gemeinschaften gemindert werden, da sich dann die „Plazierungsmöglichkeiten" und „Auffangmöglichkeiten", z . B . in Subkulturen der Imagination, erhöhen. 31 Aber dann entsteht personal und sozial noch immer, wenngleich potenziert, die Frage danach, ob wir nicht erst durch Gesellschaft im Unterschied zu der Gemeinschaft von Gemeinschaften die Grenzen der Vergemeinschaftung übertreten können. Plessner geht so weit, die Erfindung der Gesellschaft - notfalls auch aus nur einer einzigen Gemeinschaft heraus - zu denken. Selbst die Festlegung aller personalen Exzentrierungs- und Rezentrierungspotentiale auf den Wertekanon einer einzigen Gemeinschaft verhindert in der Generationenfolge nicht, daß die von der Gemeinschaft in Anspruch genommenen Resultate personaler Aktivitäten von ihr abgelöst werden, handele es sich dabei um die materiell verkörperten Resultate zur leiblich-körperlichen Befriedigung oder - und mehr noch - um den Spieltrieb der Nachwachsenden, ohne den die gemeinschaftlich definierten Rollenerwartungen nicht erlernt werden können. Die Ermöglichung von Gesellschaft kann aus dem Überschuß menschlichen Trieblebens verstanden werden, aus der „Uberfülle nicht ausgenutzter Kraft", die sich „vornehmlich im Spiel entlädt" und mit den nachwachsenden Generationen von neuem entbunden wird, was schon Friedrich Schiller hervorgehoben hat. Das Spielpotential des Umgangs mit Ambivalenzen, der Übertretung des Geregelten, muß von neuem entbunden werden, selbst wenn damit nur die gemeinschaftsbestimmte Bannung der Ambivalenzen beabsichtigt wäre. „Mithin kann man sagen, gäbe es keine Zivilisation schon aus den einfachsten Zweckmäßigkeitsgründen, so müßte sie um des Spieltriebes willen erfunden werden und würde auch erfunden. Zeigt doch die Analyse der zivilisatorischen Grundhaltungen, Zeremoniell und Prestige, unbeschadet ihrer tiefen Notwendigkeit den ausgesprochenen Charakter der Künstlichkeit, mit der der Mensch sich umgibt. ... Die Gesellschaft lebt allein vom Geist des Spieles." 3 2
31 Vgl. ebd., S. 343, 348 f. 32 H . Plessner, Grenzen der Gemeinschaft, a. a. O., S. 93 f.
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5.5. Personalität als das Medium gesellschaftlicher Interaktionen: Gesellschaft im Alltag, in der Zivilisation und im funktionalen Sinne Im Unterschied zu den gemeinschaftlichen Interaktionen beruhen gesellschaftliche Interaktionen nicht auf einer gemeinsamen Bindung an die gleichen Werteprioritäten. Die damit verbundene Verhaltensunsicherheit steht jedem plastisch vor Augen, wenn er an Kleinkinder denkt, die, plötzlich mit Fremden konfrontiert, bemerken, daß sie nicht mit einem Du interagieren können, sondern auf ein Er/Sie/Es (3. Person Singular) treffen, das wohl einer anderen Wir-Gemeinschaft (einem Ihr: 2. Person Plural) angehört, von der man die Vergleichbarkeit (im Sie der 3. Person Plural) noch nicht erfahren hat. Pubertierende und Halbstarke verlieren sich nicht selten in Bandenkriegen, in denen erst nach Gewaltausübung die Erfahrung dieser Vergleichbarkeit im Plural dämmert. Aber auch als Erwachsener hat man irritierende Erfahrungen, sobald man etwa in fremden Kulturen vom üblichen, touristisch gepflasterten Weg abkommt. Wenn man Gesellschaft als die wahrscheinliche Möglichkeit versteht, mit der Werteorientierung nach Anderen und Fremden gleichwohl interagieren zu können, muß die Personalität in diesem Falle anders als Medium zur Geltung kommen (vgl. 5.3.). Kann man im Falle gemeinschaftlicher Interaktion die gemeinsame Wertebindung unterstellen, weshalb sie oft auch dem Verhalten implizit bleibt oder nur mimischgestisch aktualisiert wird, muß im Falle gesellschaftlicher Interaktion für sie, die gemeinsame Wertebindung, erst ein Äquivalent an gegenseitiger Orientierung gefunden oder erfunden, eben: erspielt werden. Die Entkopplung der gesellschaftlichen Interaktion von einer bestimmten und implizit vorgegebenen Semantik verlagert das Orientierungsproblem in den Prozeß der Pragmatik des äußeren Verhaltens. Unter gesellschaftlichen Bedingungen muß durch Medieneffekte dasjenige im Äußeren zur Erscheinung gebracht werden, was man nicht als die intentional zu aktualisierende Semantik voraussetzen kann. Die Semantik muß in der Vorführung erst erzeugt und immer wieder explizit gemacht werden. Und es ist nicht von vornherein sicher, ob daraus eine gemeinsame Aufführung wird, wenn ich hier mit den beiden Ubersetzungen von performance spielen darf. Schauen wir uns aber phänomenal an, wie Gesellschaft in diesem Sinne uns heutigen Angehörigen einer westlichen Kultur auffällig wird. Sie begegnet uns zumeist auf drei Weisen, im großstädtischen Alltag, im Resultat einer politisch anhaltenden Zivilisationsgeschichte und im Sinne von funktionalen Wertsphären, deren Eigengewicht für westlich modernisierte Gesellschaften als charakteristisch gilt. Wir heutige Städter erfahren bereits im Alltag Gesellschaft, nämlich „zwischen den Polen der Gemeinschaft, Blut und Sache, spannt sich das ungeheure Gebiet einer noch nicht politisch oder ökonomisch faßbaren, gewissermaßen unbestimmten Öffentlichkeit": Zwischen der Familiarität und Objektivität liegt ein Zwischenreich „zwar nicht wertloser, wohl aber moralisch wertäquivalenter, nicht nach einer Alternative so oder so entscheidbarer Situationen, in denen Seele mit Seele in unvermittel-
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ten, d. h. liebefreien und sachfreien, weder durch Sympathie noch durch Uberzeugungen regulierbaren Kontakt gerät". Nicht für jede Kollision und Konstellation gibt es vorbildliche Verhaltensmuster, wie gewöhnlich im Regionalverkehr des Massentransportes oder an der Kasse eines Supermarktes. Aber auch dort kommt etwas dazwischen, ein unfreundliches Wort, ein Vordrängeln, eine schöne Frau, jemand scheint etwas zu stehlen und so fort. Die Alltäglichkeit gilt als der „Inbegriff lauter einzelner Fälle", die gemeistert werden müssen: „Dieses Reich der Alltäglichkeit, der wertäquivalenten Situationen kennen wir alle: es ist die Gesellschaft im Sinne der Einheit des Verkehrs unbestimmt vieler einander unbekannter und durch Mangel an Gelegenheit, Zeit und gegenseitigem Interesse höchstens zur Bekanntschaft gelangender Menschen. Und wir kennen auch diesen tänzerischen Geist, dieses Ethos der Grazie: das gesellschaftliche Benehmen, die Beherrschung nicht nur der geschriebenen und gesetzten Konvention, die virtuose Handhabung der Spielformen, mit denen sich die Menschen nahe kommen, ohne sich zu treffen, mit denen sie sich voneinander entfernen, ohne sich durch Gleichgültigkeit zu verletzen."33 Was uns Städter, zumal Großstädter, im Alltag an Gesellschaft, an wertäquivalenten Interaktionen, begegnet, erfordert spielerische Formen der Bewältigung von Polyvalenz, die historisch im Prozeß der Zivilisation herausgebildet worden sind. Nicht zufällig entstand das Problem der Gesellschaft geballt und wiederkehrend im Außenkontakt verschiedener Gemeinwesen, wofür im politisch-diplomatischen und wirtschaftlich-kulturellen Austausch Verkehrsformen entstanden. Zeichnet sich Öffentlichkeit, als der „Ort der unverbunden sich begegnenden Personen", durch „Wertferne" aus, die keine „Wertfreiheit" bedeutet, entsteht in ihr eine „zwiefache Gebrochenheit". In der gesellschaftlichen Öffentlichkeit herrscht „die Unausgleichbarkeit des Gegensatzes von Situation und Norm" und die Unausgleichbarkeit des Gegensatzes von „Privatperson und ,Amts'person" vor. Während man in einer bestimmten Gemeinschaft dank des gemeinsamen Werterepertoires die Ausgleichsvarianten beider Gegensätze kennt und erwarten darf, gibt es diese Sicherheit in der gesellschaftlichen Interaktion mit der Werteorientierung nach Anderen oder Fremden nicht. Sollen die Personen in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit nicht gleichsam ständig ins Lachen oder Weinen geraten, muß die Situation künstlich vermittelt werden. Da der Rückgang auf eine im vorhinein gemeinsam bestimmte Existenz oder Sache nicht weiterhilft, muß im äußeren Interaktionsgeschehen selber ein künstlicher Ausgleich gefunden werden. Plessner nennt „zweckverfolgende Handlungen von solcher Künstlichkeit", deren Konstellation und Resultante „wesensmäßig nur ungefähr bestimmbar sind", und die eine „Wertgerechtheit" für beide Seiten einschließen, „Geschäftskunst" und politische Kunst der „Diplomatie".34 Was also in einer be-
33 Vgl. ebd., S. 79 f. 34 Vgl. ebd., S. 96 f.
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stimmten Gemeinschaft durch wertekonformes Verhalten gelöst werden kann, kann in der Gesellschaft nur durch diplomatisches Verhalten erreicht werden, eben wegen des Mangels an einer gemeinsamen Bindung an die gleichen Wertorientierungen. In der gesellschaftlichen Sphäre ohne Liebe und ohne Uberzeugung „als bindende Weisen von Mensch zu Mensch gibt es keinen Ausgleich der Gegensätze, sondern nur ihre Vermittlung im Wege des Übereinkommens. Dieser Weg führt hart am offenen Konflikt vorbei, in dem die physische Macht entscheidet." 3 5 Will man die Gewaltentscheidung, die im konsequenten Selbstlauf die Verkehrung des Allzumenschlichen ins Unmenschliche bringen kann, vermeiden, muß man Diplomatie als das „Spiel von Drohung und Einschüchterung" bejahen. Diplomatie kann als diejenige „Kunst" entfaltet werden, die „die Würde des anderen unangetastet läßt", indem sie „die Unterlegenheit des Gegners aus seiner freien Entscheidung hervorzaubert oder die belastende Siegerrolle objektiven Gewalten zuschiebt". Ihr Element ist das der „Geschichte". 3 6 Die sich in ihr als der Prävention des Umschlags in Gewalt ausbildenden Prinzipien sind das des egoistisch „größtmöglichen Vorteils" und das der „Gegenseitigkeit". Beide Prinzipien sind aber situationsabhängig zu vermitteln, da es „keine Logik der Öffentlichkeit" gibt. 3 7 Begegnet uns im Alltag Gesellschaft als situativer Spielzwang, so in der Diplomatie als situationsgebunden ernsthafte Schauspielerei, die es erlaubt, die Verdoppelung der Person zur vollen Entfaltung zu bringen. Diese Entfaltung gestattet es, nach Diplomatie als dem Geschäftsphänomen und Takt als dem Phänomen der Geselligkeit 3 8 auch im gesellschaftlichen Alltag zu fragen, ohne beide in ihren sozialhistorisch elitären Ursprung aufzulösen. „Diplomatische Situationen entstehen und lösen sich zwischen irrealisierten Funktionären oder Geschäftsträgern nach den Gesetzen der Taktik und Strategie, Zug um Zug. Taktsituationen entstehen und lösen sich zwischen natürlichen Personen auf Grund außerrationaler, unmerklicher Vorfühlung und unter sorgfältiger Innehaltung der D i s t a n z . " 3 9 Wo es weder um Logik noch um Familiarität gehen kann, wo es sich vielmehr um „grundlose Zwischenspiele unseres gesellschaftlichen Lebens" handelt, da situativ eine „so nie wiederkommende, unvertretbare und unrubrizierbare Lage" entstanden ist, zählt die „Weisheit des Taktes": „Schonung des anderen um meiner selbst willen, Schonung meiner selbst um des anderen willen". 4 0
35 Ebd., S. 98. 36 Vgl. ebd., S. 99. 37 Vgl. ebd., S. 101 f. 38 Vgl. ebd., S. 112. 39 Ebd., S. 110. 40 Vgl. ebd., S.109f.
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Plessner erschließt diese „Hygiene größtmöglicher Schonung" der Seelen respektive Leiber als „die erste und letzte Tugend des menschlichen Herzens": Takt ist das „Vermögen der Wahrnehmung unwägbarer Verschiedenheiten, die Fähigkeit, jene unübersetzbare Sprache der Erscheinungen zu begreifen, welche die Situationen, die Personen ohne Worte in ihrer Konstellation, in ihrem Benehmen, ihrer Physiognomie nach unergründlichen Symbolen des Lebens reden. Takt ist die ... willige Geöffnetheit, andere zu sehen und sich selber dabei aus dem Blickfeld auszuschalten, andere nach ihrem Maßstab und nicht dem eigenen zu messen." 41 Er ermöglicht die „Kultiviertheit der Andeutung", eine „Kultur der Verhaltenheit": „Im Indirekten zeigt sich das Unnachahmliche des Menschen." 4 2 Schließlich begegnet uns Gesellschaft in dem modernen funktionalen Sinne (wie ihn Max Weber eröffnet hat). Die Gesellschaft qua Öffentlichkeit, d. h. als „das offene System des Verkehrs zwischen unverbundenen Menschen", taucht nicht nur als heute alltägliches und als zivilisationsgeschichtliches Phänomen auf, sondern auch als ein funktionales, für die Ordnung der Moderne bestimmendes Phänomen. Es ist der Überschuß des Spieles, der, sofern er in der diplomatischen Geschäftskunst bewältigt und von ihr ablösbar wurde, eine Art Rechtsgrund für die Logik ausdifferenzierter Handlungssphären ermöglicht. Die Öffentlichkeit, zivilisatorisch einmal erkämpft, gerinnt dann funktional zu einer Vielheit von Bestimmungen: „Dieses offene System des Verkehrs besondert sich zu je eigenartigen Sphären nach Maßgabe bestimmter Wertklassen, zur Sphäre des Rechts, der Sitte und Erziehung, des Staates, der Wirtschaft und des .Verkehrs' im engeren Sinne. Werden also die von Person zu Person unverbundenen Menschen auf diese Weise wieder unter eine gemeinsame Wert- und Sachbindung gebracht, so kann doch daraus keine echte Vergemeinschaftung mehr kommen. Denn es handelt sich hier nicht wie in der Sachgemeinschaft der Kultur um gegenseitige Durchdringung mit Hilfe der Werte, um ihre Erkenntnis, ihre Verinnerlichung, sondern um Ordnung des Verkehrs auf Grund der Werte, die jedoch dafür selbst nicht mehr in den Gesichtskreis des einzelnen zu treten brauchen." 4 3 Hier hat der oben genannte dritte Rollenbegriff seinen Platz, die Funktionalisierung der Person zu Leistungen, die den ausdifferenzierten Wertsphären entsprechen. Was in der Zivilisationsgeschichte am Rande der Gewaltentscheidungen in Geschäftskünsten und diplomatischen Spielformen instabil als Öffentlichkeit errungen wurde, bildet in der Moderne zugleich die Ordnungsfunktion eigenartiger Wertsphären, eine bereits bestimmte und bestimmende Öffentlichkeit, die den Alltag schon vorstrukturiert. Diese institutionell stabilisierte Vorherbestimmung des Alltags eröffnet ein Spektrum von Gleichgewichten und Ungleichgewichten, zunächst einmal
41 Ebd., S. 107. 42 Ebd., S. 106. 43 Ebd., S. 95.
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unter den Formen gesellschaftlicher Öffentlichkeit selber, jener nämlich, die noch immer nur geschichtlich stets von neuem als Zivilisation errungen werden kann, jener, die bereits im Gefolge historischer Auseinandersetzungen am Rande der Gewalt in Wertsphären inkorporiert worden ist, und dieser im Alltag unbestimmten Öffentlichkeit, in der die Urteilskraft für lauter einzelne Fälle zu entbinden ist. Diplomatisches und taktvolles Benehmen „bezeichnen die Weisen des Verhaltens des Menschen in der Öffentlichkeit, je nachdem, ob es Geschäfte zu machen oder nur einfachen Verkehr ohne Zweck, Unterhaltung um der Entspannung und Erhöhung des Lebens willen zu pflegen gilt." 44 Was an gesellschaftlicher Öffentlichkeit geschichtlich errungen, institutionell inkorporiert und alltäglich entbunden wird, wird seinen negativen Hintergrund, von dem es sich abhebt, den möglichen Ausbruch von Gewalt, nicht los. Die Gefahr der Gewalt geht konstitutiv in ihre gesellschaftlich-öffentliche Vermittlung ein, weshalb Plessner entschieden für die „Pflicht zur Macht" plädiert und sich gegen die „Utopie der Gewaltlosigkeit" wendet, die suggeriert, das Gewaltproblem durch Auflösung der Gesellschaft in eine Gemeinschaft lösen zu können. Es ist dieser Kampf zwischen verschiedenen Gemeinschaften um die Ersetzbarkeit von gesellschaftlicher Öffentlichkeit, der, aufgerüstet zum Weltanschauungskrieg, Europa nach den Religionskriegen des 17. Jhs. in die Weltkriege unseres 20. Jhs. gestürzt hat. Was hier gefehlt hat, war nicht das „teure Experiment der Revolution", die „radikal" alle auf die gleiche Weise durch eine Wertegemeinschaft bestimmen würde, sondern waren die Grenzen der Vergemeinschaftung durch Vergesellschaftung und Individualisierung: „Wie dann, wenn die Psyche Gewaltmittel als Schutzmittel der Distanz und Verhaltenheit, Vornehmheit und Künstlichkeit zu ihrer Entwicklung braucht, weil sie durch allzu große Nähe, durch restlose Aufrichtigkeit und Unverhülltheit leidet und Schaden nimmt? Wie, wenn die Seele des Menschen als das absolut Mehrdeutige, das undurchsichtig, verborgen, geschont, also, selbst wennn es eindeutig bestimmbar wäre, mehrdeutig bleiben soll, damit es seine schöpferische Kraft im Geiste behält, die Gewalt in irgendeinem Sinne bejahte? Dann müßte der Mensch um des Höheren willen in ihm die Systeme der Öffentlichkeit, von den einfachsten Höflichkeitsformen zwischen Person und Person bis zu den großen Künstlichkeiten des Staates dieser neuen Möglichkeit zuliebe auf die Utopie der Gewaltlosigkeit verzichten und mit der Welt des Kampfes, eines freilich in den Mitteln kultivierbaren Kampfes, der nicht ums Dasein, sondern ums Sosein ausgefochten werden soll, einen Frieden machen."45 Die Philosophische Anthropologie Plessners hat früh und energisch den ideologischen Aufrüstungen zum sog. Europäischen Bürgerkrieg (zwischen reinem Kapitalismus, internationalem Bolschewismus und Nationalsozialismus) in den 20er Jahren
44 Ebd., S. 112. 45 Ebd., S. 132 f.
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widersprochen. Dieser Ideologiekrieg hat den europäischen Kontinent bis 1989 welthistorisch zurückgeworfen und ist heute wieder auf dem Balkan aufgeflackert. Die Lösungsrichtung kann nur in einer Zivilisierung der gesellschaftlichen Auseinandersetzung am Rande der Gewalt gefunden werden, ohne einerseits alle jeweils Anderen oder Fremden dem Assimilationszwang an eine Gemeinschaft auszusetzen, und ohne andererseits alle Gemeinschaftlichkeit in Gesellschaft aufzulösen.
5.6. Das Problem der Balance zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft durch die Kunst, das Verfahren und die juristische Methode der Politik Die Ideologien des Radikalismus opfern alle möglichen Unterscheidungen dem Schema eines exklusiven Gegensatzes, einer Entweder-oder-Strategie, der alles in letzter Konsequenz untergeordnet wird. Ihnen zufolge muß entweder die Gemeinschaft in Gesellschaft oder die Gesellschaft in Gemeinschaft aufgelöst werden. Plessners Philosophische Anthropologie verteidigt demgegenüber eine Art von kommunitärem Liberalismus. Sie plädiert für die Vermittlung zwischen Gemeinschafts- und Gesellschaftsformen durch die Kunst der Politik, durch das Verfahren des Staates und durch die Methode des Rechts. Die Gesellschaft läuft nicht „außen um die Sphäre der Gemeinschaft herum, sondern durch sie hindurch": Diese Einsicht fällt einem leicht, sobald man sich vergegenwärtigt, daß beide Formen - Gemeinschafts- und Gesellschaftsformen - Interaktionen von sich individuierenden Personen darstellen: „In uns selbst liegen neben den gemeinschaftsverlangenden und gemeinschaftsstützenden die gesellschaftsverlangenden, distanzierenden Mächte des Leibes nicht weniger wie der Seele, in jeder Sozialbeziehung wartet die eine, wenn noch die andere gilt, auf ihre Erweckung." 46 Die „extremistische Geisteshaltung" verspricht in den üblichen Dualismen (vgl. 0.3.) die Erlösung von der Wurzel allen Übels dadurch, daß man Tabula rasa, so etwas wie reinen Tisch mit dem jeweils unvertrauten Gegensatzpol mache. Sie entspricht so nur der „Dissozierung der modernen Gesellschaft": „Die moderne Welt lebt in der Isolierung ihrer eigenen Komponenten den Radikalismus, die Entgeistung der Wirklichkeit und hat darum zu ihrer Apologie wie zu ihrer Opposition radikalistische Theorien nötig." 47 Aus dem Radikalismus der sich zauberhaft alles subsumierenden Einheitsformeln führt erst die Anerkennung des Heteronomen verschiedener Sphären heraus. „Jede Sphäre hat ihre spezifischen Entscheidungsinstanzen, die Gemeinschaft regelt sich
46 Ebd., S. 115. 47 Ebd., S. 18.
Das Problem der Balance zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft durch die Kunst
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nach Einsicht und Liebe, die Gesellschaft nach spielgerechtem Kampf und Takt. Zwischen den Sphären führt keine Brücke, sie gehorchen nicht wieder einer dritten übergeordneten Gesetzmäßigkeit." 48 Wir kommen nicht um unsere urteilskräftige Teilnahme an der Politisierung der nötigen Verschränkung, an dem staatlichen Verfahren und der juristischen Methode der Vermittlung zwischen beiden Sozialformen hier und heute herum, weil nichts geringeres als die Koexistenz im Menschsein auf dem Spiele steht. Es gab in unserem Jahrhundert furchtbare, weil der Möglichkeit des Menschseins zerstörerische Fehlpolitisierungen, denkt man an den nationalsozialistischen Rassenkrieg und den stalinistischen Klassenkrieg, an Auschwitz und den Archipel Gulag. Die Politisierung des Privaten oder des Öffentlichen überhaupt bringt den Springquell der menschlichen Existenz zum Versiegen. Das anthropologisch elementare Doppelgängertum muß von jeder politischen Bemächtigung freigehalten werden. Das Politische entspringt dem Öffentlichen und gewinnt erst an dem Problem, welche Verschränkung von Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung hier und heute die angemessenste ist, sein gewichtiges Thema, das der öffentlichen Partizipation aller bedarf. Es ist diese Frage „einer Ethik des Ausgleichs, der wahren Mitte" 4 9 , die zu Recht im Mittelpunkt der Phänomene des Politischen steht. Dies sei auch gegen die ständigen Scheinpolitisierungen drittklassiger Themen gesagt, die von dem Problem der gerechten Proportion gemeinschaftlicher und gesellschaftlicher Güter ablenken. Unter Politik als Tätigkeit kann man die Kunst verstehen, „aus Gelegenheiten Ereignisse zu machen und im Element einer unausgesetzten Willkür mit den tatsächlichen Mächten, Triebkräften, d. h. in den Grenzen des Möglichen, einen Sinn hervorzubringen". 50 Der Staat ist „keine Substanz", sondern ein „Verfahren"51: Diese Prozedur beginnt in der unbestimmten Öffentlichkeit des Alltäglichen, die die Urteilskraft für lauter einzelne Fälle braucht, und konsultiert die schon nach spezifischen Funktionswerten bestimmten Öffentlichkeiten mit ihrem je eigenen Sachverstand. Dieses Verfahren endet auf Revision durch eine neue Bestimmung in der Rechtssetzung, die gewaltenteilig vonstatten geht. Dieser Verfahrensweg ist nötig, um die „Forderungen der Öffentlichkeit aus ihrer Unabsehbarkeit und Unbestimmtheit herauszuheben und dem Gemeinschaftsverlangen jedes Menschen, seinem Naturrecht auf Wärme und Vertrauen anzugleichen und die Gefahr beständiger Reibungen und Beeinträchtigungen der beiden Sphären zu bannen. Staat ist systematisierte Öffentlichkeit im Dienste der Gemeinschaft, Inbegriff von Sicherungsmaßnahmen der Gemeinschaft im Dienste der Öffentlichkeit.
48 49 50 51
Ebd., S. 116. Ebd., S. 126. Vgl. ebd., S. 125 f. Ebd., S. 115.
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Die Methode dieses Ausgleichs zwischen den von der menschlichen Natur gleichmäßig getragenen Forderungen nach Rückhaltlosigkeit und Verschlossenheit ist das Recht, in dessen Idee das Billige, was einem natürlichen Ausgleich durch Uberzeugung, Stimme der Einsicht, Stimme des Herzens entspricht, und das Gerechte, das Ausgewogene, was einem Ubereinkommen aus verschiedenen Kräfterichtungen als schließliche Resultantenlage äquivalent ist, vereinigt werden." 52 Recht ist das Medium der Ubersetzung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft, zwischen der intrinsisch evaluativen Motivation und dem fairen Interessenausgleich mit Anderen und Fremden. 53 Auf der „imaginären Schnittgeraden von Gemeinschaftskreis und Gesellschaftskreis liegt das Recht als die ewig in Wandlung begriffene Einheit von Gesetzgebung und Rechtsprechung." 54 Werden die einander gegenläufigen Interaktionsformen von Vergemeinschaftungen oder Vergesellschaftungen auf dem öffentlichen Wege der Politik (als der Kunst des Möglichen), des Staates (als dem gewaltenteiligen Verfahren) und des Rechts (als der methodischen Ubersetzung) je neu verschränkt, entsteht ein konstruktives Potential, das im Gegensatz zu den ideologischen Praktiken des Ausschlusses oder der Bemächtigung des jeweils anderen, sei es einer exklusiven Vergemeinschaftungsart (Existenz- oder Sachgemeinschaft) oder einer ausschließlichen Vergesellschaftungsart (Wirtschafts- oder formaler Rechtsliberalismus), den Prozeß des Menschseins für historische Revisionen offenhält, statt ihn in letzter Instanz abschließen zu wollen. Nicht entweder dieses Vergemeinschaftungsniveau oder jenes Vergesellschaftungsniveau wird zum transzendenten Maßstab der ganzen Entwicklung genommen, sondern die Infragestellung bestimmter Maßstäbe hält den Prozeß der geschicht-
52 Ebd., S. 115. 53 Problemgeschichtlich ist Plessners Offentlichkeitskonzeption am besten mit der ebenfalls in den 20er Jahren entstandenen Offentlichkeitsauffassung von John Dewey vergleichbar. Vgl. J. Dewey, Die Öffentlichkeit und ihre Probleme (1927), hg. u. m. einem Nachwort v. H.-P. Krüger, Bodenheim 1996. H.-P. Krüger, Prozesse der öffentlichen Untersuchung. Zum Potential einer zweiten Modernisierung in John Deweys „Logic. The Theory of Inquiry", in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 47 (1999) 1, S. 75-103. 54 H. Plessner, Grenzen der Gemeinschaft, a. a. O., S. 116. In der systematischen Gegenwartsphilosophie versteht Habermas, allerdings ohne Bezug auf Plessner, das Recht als Verfahren und „als Transformator im gesellschaftsweiten Kommunikationskreislauf zwischen System und Lebenswelt". Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt/M. 1992, S. 108, vgl. S.78. Ebd., S.49, heißt es, gleichsam in Ausarbeitung von Plessners Vermittlung zwischen der Bindung an die Wertäquivalenz oder an die Wertnähe der Interaktionen durch das Recht: „Die Rechtsgültigkeit einer Norm - und darin besteht ihr Witz - besagt nun, daß beides zugleich garantiert ist: sowohl die Legalität des Verhaltens im Sinne einer durchschnittlichen Normbefolgung, ..., wie auch die Legitimität der Regel selbst".
Die dynamische Fassung der soziokulturellen
Mitwelt
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liehen Neubestimmung in Gang, nämlich einerseits durch das Individuum ineffabile und anderseits durch das Verfahren der Öffentlichkeit. Die Ambivalenzen des leiblich unvertretbaren Lebens der Individuen korrespondieren mit den Ambivalenzen der Öffentlichkeit, dort freilich bereits in verkörperter Gestalt, zu der sich das Leibliche immer erst erlösen muß. Wird hier durch die Kunst der Existenzführung Lebensgeschichte gestaltet, so dort durch die Kunst der Politik Geschichte der Zivilisation so gut als möglich nicht nur erlitten, sondern auch gemacht. Entsteht das Potential zur Neubestimmung hier im innerpersonalen Positions· und Perspektivenwechsel, durch den sich die Person individualisiert, also im Unterschied zu den Formen ihrer Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung ihrem Leben unvertretbar einzigartigen Ausdruck zu geben versucht, entsteht es dort im interpersonalen Wechsel zwischen verschiedenen Gemeinschafts- und Gesellschaftsperspektiven, um eine zivilisationsgeschichtliche Individuation zu ermöglichen. Die „wertedemokratische Gleichstellung aller Kulturen" erfolgt nicht vor einer universalistischen Regel (eine solche Metaregel für Heteronomes gibt es nicht), sondern „in ihrer Rückbeziehung auf einen schöpferischen Lebensgrund", weshalb sie „von Individuation zu Individuation" fortschreiten kann. 55
5.7. Die dynamische Fassung der soziokulturellen Mitwelt: Kulturelle Entfremdung und Geschichtlichkeit in der Generationenfolge Die Unterscheidung zwischen gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Interaktionsformen der Personen ist zwar die erste komplexe Ausführung der soziokulturellen Mitwelt in der Philosophischen Anthropologie, aber diese Fassung hat noch eine gewisse Statik, bedenkt man das Problem der Generationenfolge in einem soziokulturellen Sinne. Die Differenzierung zwischen Vertrautem und Unvertrautem gerät durch die Generationenfolge in eine Dynamik hinein, aus der sich nicht zwangsläufig Brüche ergeben müssen (die von näheren Bedingungen abhängen). Aber die dynamische Fassung ermöglicht zumindest Veränderungen in der Generationenfolge. Jede Generation durchläuft die Phänomene menschlichen Daseins von neuem, ohne daß sie von vornherein entweder auf die einfache Reproduktion der Tradition oder auf den totalen Bruch mit der Tradition festgelegt werden könnte. Die Nachwachsenden teilen sich zwischen diesen Extremen auf, je nachdem, wie sie mit ihren Freiheitsund Grenzerfahrungen zu leben verstehen und je nachdem, wie sie neue Umstände zu nehmen lernen. Hört der Nachwachsende wie Hamlet die Stimme des väterlichen Geistes, dem er verpflichtet ist, oder tut er sie von vornherein als Spuk ab? Wie soll
55 H. Plessner, Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht (1931), in: GS V, S. 186.
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Zwischen Lachen und deinen
II: Die Personalisierung
des
Individuums
man mit dem Erbe umgehen, nimmt man es an, wodurch man sich auch auf einen Rahmen festlegt? Wieviel von der Tradition wird ausgeschlagen, um freier zu werden oder auch nur in bekannter Manier sich neuen Umständen anzupassen? Die Philosophische Anthropologie, die die Körper-Leib-Differenz hoch veranschlagt, muß daher auch der Generationenfolge große Aufmerksamkeit schenken. Jeder hat nur seinen, diesen einen Körperleib, bestenfalls in einer Reihe von Lebensaltern. Wir mögen kulturell noch so viel sublimieren und symbolisch anhand von Leibesmetaphern auf andere übertragen, wir mögen noch so intensiv ein Leben lang in den sprichwörtlichen Mutterleib zurück wollen, von dem uns nun auch noch die neuen Reproduktionstechnologien befreien könnten: Von unserer leiblichen Bewegtheit bleibt für andere, auch die Nachwachsenden, nichts anderes übrig als eine kulturelle Verkörperung. Der Lebenszyklus ist nicht auf das Format einer Schwangerschaft, die innerleibliche Interaktion, oder auf einen orgiastischen Liebesakt, die zwischenleibliche Interaktion, zu bringen. Umgekehrt, die Uberorientierung aufs Inner- und Zwischenleibliche ist eine Flucht vor der Einsamkeit des je einmaligen Körperleibes. Als ließe sich dessen Körper-Leib-Differenz dualistisch aufspalten, der er aber doch seinen lebendigen Charakter verdankt! Diese Flucht steht schon selber im Zeichen des Todes und vermag ihn so nicht zu verstehen. Für die Individualisierung ist die leibliche Sinnbildung primär, aber soziokulturell überlebt die Verkörperung in ihrer praktischen Bedeutung. Unsere zentrische Organisationsform lebt schon immer auf die exzentrische Positionalität hin, von der her sie sich als Leib und Körper zu differenzieren vermag. Und umgekehrt „braucht" diese Positionsform weltlicher Bewegungsmöglichkeiten eine Organisationsform, die Bewegungen ausführt. Diese Organisationsform und diese Positionalitätsform sind füreinander „notwendige Möglichkeiten", nicht aber zwei Möglichkeiten ein und derselben Notwendigkeit, von der allein Gott reden könnte. Die Anlässe, die zur Eingespieltheit beider aufeinander führen, sind „Gelegenheiten" 5 6 , die sich nicht nochmals einer Metaregel von kausaler Notwendigkeit fügen. Insofern muß uns die Eingespieltheit der Organisations- und Positionsform aufeinander, in der die Mitwelt gleichsam gestiftet wird, und dies mit jeder Generation, letztlich mit jedem Körperleib erneut, eine in letzter Konsequenz wunderliche Grenze für unser Handeln bleiben. Sie erscheint, bei allem, was wir tun, hinaus- und verschieben, befördern und verhindern können, als ein „Schicksal", weder in dem spezifisch griechisch-antiken noch christlichen Sinne, sondern einfach in der Bedeutung, daß auch jede medizinische Kunst - von der Hebamme bis zum Pathologen einmal an ihr Ende gelangt. Es gibt unerwartet plötzlich Herztode, mit denen kein
56 H . Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie (1928), Berlin 1975, S. 151.
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Kardiologe gerechnet hat. Es gibt Krebspatienten, die Jahrzehnte lang ihr Todesdatum überleben, das ihnen ein Dutzend Spezialisten längst ausgestellt hatte. Gleichwohl setzt sich eine von solcher therapeutischen Erfahrung und kausalen Erklärung verschiedene Koinzidenz der aktualen Einspielung und ihres Zusammenbruchs durch, für die die wahrscheinlichkeitstheoretischen Aussagen der Versicherung im Einzelfall nicht viel besagen. „Jugend, Reife und Alter sind die Schicksalsformen des Lebens, weil sie dem Entwicklungsprozeß wesentlich sind. Schicksalsformen sind nicht Formen des Seienden, sondern für das Seiende; das Sein tritt unter sie und erleidet sie. Neben die wasgesetzliche (wesensmäßige) und die vorgangsgesetzliche (folgemäßige) tritt als dritte Art der Notwendigkeit das Schicksal. Nach der ersten Art ist alles, was Etwas ist, bestimmt. Nach der zweiten Art ist alles, was in der Zeit verläuft, bestimmt. Nach der dritten Art sind nur die lebendigen Dinge bestimmt." 57 Ja, die Nachwachsenden stammen von unserem genetischen Code ab, aber der ist der biotische Kode der Verkörperung, nicht der Verleiblichung des Menschen. Jemand mag genau unseren Körper noch einmal haben, also nicht unser gewöhnliches Kind, sondern unser Clon sein: Daraus folgt nicht, daß er lebensgeschichtlich den leiblich gleichen Sinnhorizont aufbauen wird, lebensgeschichtlich gesehen die gleichen Leibesmotivationen wie unsereins haben wird. Dies fällt nicht nur bei fremderzogenen Kindern, insbesondere getrennt lebenden eineiigen Zwillingen auf, sondern den Eltern auch bei den zu Hause und betont gleich erzogenen eineiigen Zwillingen. Selbst wenn die neuen Reproduktionstechnologien biotisch die Differenz zwischen Körper und Leib in der Generationenfolge relativieren würden, bleibt die soziokulturelle Dimension dieser Differenz zu beachten. Kinder mögen von uns abstammen und von uns noch erzogen worden sein, was die Erziehung angehend in der Zivilisation relativ zurückgeht. Kinder sind selbst dann anders als wir, wenn sie uns am ähnlichsten scheinen. Ein Kind mag die Redeweise und das Selbstbewußtsein der Mutter imitieren. Gerade dadurch, daß es diese imitiert, hat es sie nicht selber wie die Mutter ausgebildet, ist also nicht sie. Dieser Mutter ähnelte mehr ein sich von ihr emanzipierendes Kind. Aber ein emanzipiertes Kind ähnelte ihr wieder nicht in anderer Hinsicht. Die größte Empathie von Kindern in Eltern verzögert die Emanzipation von den Eltern oder bedeutet diese Emanzipation. Kinder sind nicht unser Leib, wie vielleicht die Redeweise vom eigenen Fleisch und Blut nahelegt, oder auch die symbolische Übertragung beim Abendmahl. Kinder sind anders, weil sie dazu bestimmt sind, sich dahin zu entwickeln, daß sie ihren eigenen Körper haben können. Deshalb, ihren eigenen Körper zu haben erlernend, machen sie auch Anleihen bei unserer leibesgeschichtlichen Motivation, aber nicht nur bei uns, sondern bei allem, was ihnen begegnet. Und selbst dann, wenn die Anleihe bei uns, den Eltern am größten ist, können sie unsere lebensgeschichtliche
57 Ebd., S. 154.
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Sinnmotivation nicht direkt, d. h. unmittelbar als Leib, sondern indirekt, d. h. mittelbar durch die Verkörperung unseres Leibesausdrucks hindurch, erfahren. Der Hauptweg in der Kulturtradierung von einer Generation zur nächsten geht über die Verkörperung, nicht über die Verleiblichung. „Existentiell bedürftig, hälftenhaft, nackt ist dem Menschen die Künstlichkeit wesensentsprechender Ausdruck seiner Natur. Sie ist der mit der Exzentrizität gesetzte Umweg zu einem zweiten Vaterland, in dem er Heimat und absolute Verwurzelung findet. Ortlos, zeitlos, ins Nichts gestellt schafft sich die exzentrische Lebensform ihren Boden." 5 8 Was bleibt, im Extremfall von ausgestorbenen Kulturen besonders deutlich, sind bestenfalls die Verkörperungen, von den Werkzeugen und Gebrauchsgegenständen über die Unterkünfte und Gräber bis zu den Bildern und Masken, dem Spielzeug. Es sind die „Monumente" und „Dokumente" 5 9 der soziokulturellen Ausführung exzentrischer Positionalität, die am ehesten überdauern, weshalb die Nachkommen nicht von vorne anfangen müssen. Aus den Verkörperungen heraus kann man indirekt, also nicht eindeutig, auf die Intentionen und Motive derer rückschließen, die sich in diesen Verkörperungen ausgedrückt haben. Die Verkörperungen sind Medien, die Motive und Intentionen brechen, also gerade keine Eins-zu-Eins-Zuordnung zwischen den möglichen Motiven und Intentionen der Schöpfer und den uns beobachtbaren Verhaltensmedien ermöglichen. In der lebendigen Traditionsübernahme werden sich die Kinder der Körper-Leib-Differenz ihrer Eltern wohl sicherer sein als bei ferner Stehenden oder gänzlich Fremden. Gleichwohl, irgendein Geheimnis nimmt jeder mit ins Grab, und Nahestehenden fehlt häufig gerade jener verfremdende Blick, der es noch aufgedeckt hätte. Immer sind wir zu nah oder zu fern dran, um ein für allemal eindeutig zu enträtseln. In der westlichen Moderne ist man geneigt, auf Wahrscheinliches zu vertrauen, wo man früher auf Götter oder Dämonen sah. Noch immer mögen wir annehmen, daß die Kinder vor allem von ihren eigenen Eltern erzogen werden, weil diese Annahme es plausibel machen könnte, daß die Tradierung zur Reproduktion des Gleichen schon führen wird. Es kommt der These von der einfachen Tradierung des Gleichen nicht nur der Leib im Unterschied zur genetischen Reproduktion des biotischen Körpers und im Unterschied zur soziokulturellen Verkörperung durch Medien dazwischen. Das Hauptargument von Plessner hatte ich schon unter den Grenzen der Gemeinschaft (vgl. 5.4.) angeführt: Es ist das Spielen in und mit den Verkörperungen, das überhaupt aus dem Kind einen Erwachsenen
58 Ebd., S. 316. 59 Vgl. zur Aufwertung der Monumente nichtsprachlichen Ausdrucks gegenüber den Dokumenten der Schriftkultur, um den Zusammenhang sprachgeprägter (zumindest redesprachlich geprägter) Ausdrucksformen rekonstruieren zu können, H. Plessner, Zur Hermeneutik nichtsprachlichen Ausdrucks (1967), in: GS VII, S. 461 ff.
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werden läßt. Das Spielen hat aber bei aller gegenseitigen Bindung an Gegensinn eine Freiheitsdimension, die man schwer berechnen kann, etwa um narzistisch die Reproduktion des Gleichen, von einem selbst im Kinde, zu sichern. Man mag das Spielen autoritär eingrenzen und wird sich doch nicht sicher sein können, ob das Kind seine Folgsamkeit nur spielt und seine Opposition oder sein Weggang demnächst erfolgen wird. Man mag das Spielen antiautoritär entgrenzen wollen und kann sich doch nicht sicher werden, ob das Kind nicht autoritär folgt, wenn nicht den eigenen Eltern, so längst anderen Bezugspersonen, gerade weil es das erfahrene Haltungsdefizit intuitiv ausgleichen will. Das Spielen als wichtigster Lernmechanismus läßt so oder so deutlich werden, daß eine einfache Tradierung des elterlichen Ebenbildes der mit Abstand unwahrscheinlichste, gleichsam schon pathologische Fall ist. Die Tradierung wird um so mehr aber zusätzliche Variationsbreite gewinnen, je mehr wir zugeben, daß Kinder letztlich nicht durch ihre eigenen Eltern erwachsen werden. Dies ist nicht nur so gemeint, daß sie schließlich nur selbst erwachsen werden können, sondern auch, daß sie dafür anderer Selbstbeziehungen bedürfen, schon in Naturvölkern zu anderen Kindern und zu anderen Erwachsenen, zu anderen Dörfern und Stämmen, sei es im Handel oder durch Verwandtschaft, oder sei es gar im Krieg 6 0 , um so mehr in unserer Zivilisation, wo sie verschiedene Gemeinschaften durchlaufen und vor dem Problem der Gewinnung gesellschaftlicher Selbständigkeit stehen. Wie immer die kulturgeschichtlichen Besonderheiten dieser oder jener Gesellschaft aussehen mögen, für die philosophisch-anthropologische Hypothese ist das folgende entscheidend: In der Tradierung zur nächsten Menschengeneration wird diejenige kulturelle Zuordnung, die die Elterngeneration zwischen Leibsein und Körperhaben errungen hat, brüchig. Für die Tradierung ist eine deutliche Asymmetrie zwischen Verkörperungen und Verleiblichungen charakteristisch, nämlich zugunsten der Verkörperungen. Primär übertragen und von den Nachfolgenden angeeignet werden die Verkörperungen in dem weitesten Sinne, daß etwas auch für andere Bedeutung haben kann. Sekundär bleiben hingegen die Verleiblichungen in dem weitesten Sinne, daß etwas für mein oder unser Leibsein Sinn macht. Diese Asymmetrie ist nur ein anderer Ausdruck für die Hypothese von der Individualisierung der soziokulturellen Rolle des Doppelgängers. Tradiert wird die Rolle; ihre Individualisierung kann man dem Nachwachsenden nicht abnehmen, weil seine Nachahmungen ihm dabei nicht helfen. Die Asymmetrie in der Tradierung von Kör-
60 Die vergleichende Verhaltensforschung bietet ein reiches Material auf gegen die beiden verbreitetsten Selbstschmeicheleien der westlichen Moderne, erst sie hätte die Kindheit und die Gesellschaft erfunden. Vgl. zur „Kultur des Kindes" und der Interaktion mit Fremden in „vorindustriellen Gesellschaften" Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Grundriß der Humanethologie, München 1995, S. 498 ff., 589 ff., 820.
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per und Leib korrespondiert auch mit dem Status des Spielens: Spielen ist kein inneroder zwischenleibliches Geschehen, was die Freiheit zur Selbstbindung gerade nehmen würde. Spielen ist eine Interaktion in, aber eben auch mit Verkörperungen, die nur indirekt, als sächliches oder personenhaftes Medium, mit Brechung also, leiblichsinnliche Motivationen zum Ausdruck bringen und insofern auch erschließen lassen können. Natürlich gilt es auch, die Kehrseite des postulierten kulturellen Bruchs zwischen den Generationen zu bedenken. Die Kehrseite bedeutet nicht nur, daß die Elterngeneration ihre leiblich-sinnlichen Motive und Projektionen entwertet findet und insofern den üblichen Undank als der Welten Lohn erntet. Man kann das Problem auch unabhängig von den Eltern formulieren, ob nämlich die Nachwachsenden das, was hier als das Defizit in der Tradierung in Erscheinung tritt und offenbar nur von ihnen selbst überwunden werden kann, auch wirklich beheben werden. Einerseits eröffnet der kulturelle Bruch zwischen den Generationen für die folgende Generation die Freiheit zur Fortsetzung und/oder zum Abbruch. Andererseits ist gerade durch ihn nicht einmal die einfache oder auch nur quantitativ erweiterte Reproduktion des Tradierten sicher, ja, könnte die nachwachsende Generation Gefahr laufen, das Tradierte überhaupt zu verspielen, sei es durch Überwältigung von außen, sei es, weil sie nicht ihre eigenen, leiblich sinnvollen Motive und Intentionen ausbildet und somit auch den überkommenen Verkörperungen kein Leben einhauchen kann. Darin besteht ja die Asymmetrie: Die Elterngeneration gibt in exemplarischer Praxis Fähigkeiten zur Verkörperung weiter, die auch für andere, nicht zuletzt die Kinder, Bedeutung haben können: Arbeitsfähigkeiten, Spielfähigkeiten, Interaktionsfähigkeiten, kurz: Arten des Könnens werden tradiert. Welches Können man aber ausbildet, in welchem Maße und in welcher Proportion der verfügbaren Könnensarten, hängt davon ab, welches Motiv man hat, es zu betreiben, letztlich davon, ob die mögliche Verkörperung leiblich Sinn macht. Für den einzelnen Menschen erfolgt die Ausbalancierung von Verkörperungen, etwa der Rolle, durch leiblich-sinnliche Motivation, indem er sich individualisiert. Entsprechend selektiv nimmt der Nachwachsende die Rolle in seiner Imagination an und wahr. Das vergleichbare Problem haben nun aber nicht nur einzelne Menschen, sondern ganze Generationen. Durch den kulturellen Bruch zwischen den Generationen kann es Erschütterungen der tradierten Rollen selbst geben, in Kriegen etwa bis in die soziokulturelle Elementarrolle hinein. Der generationenweise Kulturbruch ist die Herausforderung, durch die unsere Körperleiber immer wieder in Frage gestellt werden. Menschen sind damit der Geschichte bedürftige Wesen. Ihre Geschichtlichkeit antwortet auf die N o t des Bruchs, wenn überhaupt etwas dieser N o t genügt. Das kulturelle Selbstverständnis der Elterngeneration wird in dem Maße historisiert, als die nachfolgende Generation erwachsen wird, d. h. den tradierten Verkörperungen einen Sinnhorizont verleiht. Dadurch wird günstigstenfalls das Defizit, das in der kulturellen Tradierung primär der Verkörperungen entstan-
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den ist, in neuen leiblich-sinnlichen Motiven ausgeglichen. Natürlich ist dieser neue Sinnhorizont unter den Jüngeren selber umstritten, nicht zuletzt in Abhängigkeit von ihren jeweiligen Individualisierungen. Es kann und muß sich erst durch Expressivität zeigen, wer repräsentativ, randständig, exklusiv etc. für die Jüngeren sich auszudrücken vermag. Für die Philosophische Anthropologie sind also der kulturelle Bruch (mit seiner Asymmetrie in der Körper-Leib-Tradierung von Generation zu Generation) und die Geschichtlichkeit der Generationen zwei Seiten einer Medaille. Sie sind eben wie die Frage nach der exzentrischen Positionalität und wie die Antwort zur exzentrischen Positionalität, von der her der nötige körperleibliche Ausgleich gelingen könnte. Der kulturelle Bruch führt in die Not hinein, der Tradierung von Verkörperungen der vorangegangenen Generation einen lebensmotivierenden Sinn zu verleihen. Der Not dieses Ungleichgewichts zwischen Verkörperung und Verleiblichung antworten die Selbstausdrücke der Nachwachsenden. Die Geschichtlichkeit erwächst aus der spontanen Expressivität, bis es zu Verstärkungen, Uberlagerungen und Resonanzbildungen zwischen Generationenteilen der Jüngeren kommt, diese zu ihrer Geschichte und ihrer Sinnbelegung der tradierten Verkörperungen kommen. Indessen sind diese Formulierungen des Problems noch zu stark von der Elterngeneration her gedacht, insofern mit deren kulturellem Erbe gebrochen wird. Es muß nicht erst die Infragestellung da sein, die wir in der westlichen Moderne strukturell schon begünstigt haben, eben als unsere fortlaufende Absetzung vom Alten, und sei es durch Scheininnovation. Die Infragestellung macht auch umgekehrt erst insoweit Sinn, als eine andere Antwort expressiv bereits dämmert. „Denn das Erfragte hängt nicht von der Frage (bzw. an der Frage) ab, sondern von der Antwort ab. Genauer: auch von der Antwort ab. Das, Was der Mensch ist oder ich bin oder wir sind, bestimmt die Antwort und wird von der Antwort bestimmmt." 61 Dieses Paradox eines „wahren Regenbogens, der keine Rückseite hat, als echtes Quale", das das faktische Fragen und Antworten in einem „moralontischen ,Als'" vor dem Unterschied zwischen Theorie und Praxis erscheinen läßt 62 , versuchen wir durch geschichtliche Zuschreibungen zu lösen, die im ersten expressiven Anlauf noch nicht gelingen. Der Mensch ist „durch seine Expressivität" ein „Wesen, das selbst bei kontinuierlich sich erhaltender Intention nach immer anderer Verwirklichung drängt und so eine Geschichte hinter sich zurückläßt. Nur in der Expressivität liegt der innere Grund für den historischen Charakter seiner Existenz." 63
61 H . Plessner an Josef König (Brief v. 29. 5.28), in: J. König/H. Plessner, Briefwechsel 1923 bis 1933, hg. v. H . - U . Lessing u. A. Mutzenbecher, Freiburg/ München 1994, S. 192 f. 62 Ebd., S. 193. 63 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 338.
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Zwischen Lachen und Weinen II: Die Personalisierung des Individuums
5.8. Der utopische Charakter unserer Eingespieltheit und seine Verdeckungen: die Schrift und die Verselbständigung des Bewußtseins Die bislang entwickelten soziokulturellen Unterscheidungen, vom personalen Doppelgängertum, dem Unterschied zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft, zwischen den Generationen und damit zwischen kultureller Entfremdung und geschichtlicher Expressivität, befreien die nachwachsenden Generationen nicht davon, nach der Legitimität ihrer Selbstermächtigung dafür zu suchen, alle möglichen Zuschreibungen oder Zuordnungen geschichtlich vorzunehmen, um ihre eigenen geschichtlichen Aufgaben freilegen zu können. Und sei es nur in der Bedeutung, daß sie die behandelten oder ähnliche Unterscheidungen inhaltlich neu belegen und ausfüllen wollten. Um so mehr aber dann, wenn den Nachwachsenden diese Unterscheidungsrichtung der Philosophischen Anthropologie zu plural und zu kontingent gerät. Es handelt sich in dem oben genannten Sinne (5.7.) um notwendige Möglichkeiten der Eingespieltheit unserer zentrischen Organisations form und unserer exzentrischen Positionalitätsform aufeinander. Möglichkeiten, die zur Eingespieltheit notwendig sind, ergeben keine alles übergreifende Notwendigkeit der Einspielung in der Lebensführung. Wer für seine Lebensführung das „Bewußtsein" von einer „unerschütterlichen Gewißheit" braucht, das eine höhere Notwendigkeit zu vermitteln vermag, wird die notwendigen Möglichkeiten der Eingespieltheit des menschlichen Lebens, die die Philosophische Anthropologie erschließt, als die „Nichtigkeit" des Nihilismus verkennen, die durch „Transzendenz" aufgewogen werden muß. 64 Màn kann die Suche nach letztinstanzlicher Legitimität zur geschichtlichen Selbstermächtigung, auf die wir im Epilog noch zurückkommen werden, bewußtseinsphilosophisch mißverstehen, nämlich als eine letzte Entscheidungsschlacht, für die man das Bewußtsein rüsten müßte. Das Entscheidungsproblem nimmt dann die Form der Frage entweder nach einer letzten Metaregel als dem rationalistischen Entscheidungsgrund an, oder es bleibt dem Menschen nur „der Sprung in den Glauben", „will er die Entscheidung so oder so". 65 „Bewußtsein der Individualität des eigenen Seins und der Welt und Bewußtsein der Kontingenz dieser Gesamtrealität sind notwendig miteinander gegeben und fordern einander."66 Verselbständigt man das Bewußtsein gegenüber seiner Funktion im Verhaltenskreis (vgl. 2.14.), die Eingespieltheit des Menschen auf die Mitwelt und damit auf die Differenz zwischen Innen- und Außenwelt zu aktualisieren (vgl. 3.12., 3.14.), wird diesem Bewußtsein alles zufällig und möglich. Ohne Verhaltensbezug verliert es
64 Vgl. ebd., S. 341 f. 65 Ebd., S. 342. 66 Ebd., S. 345.
Der utopische Charakter unserer Eingespieltheit und seine
Verdeckungen
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allein auf sich selbst bezogen jeden Boden unter den Füßen. Es entfremdet sich selbst in bloßer Kontingenz. Es wird sich befremdlich bis zum Verhängnis. 67 Zu dieser Verselbständigung des Bewußtseins (vgl. 2.14.) verleitet die Verschriftlichung der Sprache. Sprache in actu als Rede unter Anwesenden gebraucht, bleibt allen Beteiligten im gegenseitigen Blickkontakt ihr Verhaltenskontext gegeben (vgl. 4.8.): Das Schaubild der Rollen und die Rollensprachen werden ineinander übersetzt. Demgegenüber kann Sprache in der Schrift ihren Charakter verlieren, als personales oder sachliches Medium (vgl. 5.3.) der kommunikativen Interaktion zwischen Personen zu dienen. Was Medium war, indem es Ausdruck und Handlung personal verschränkte, wird dann wie ein Handwerkszeug Denk- oder Schriftzeug, das Verhalten nur noch bezeichnet, sei es zu seiner Instrumentierung oder sei es zu seiner Ersetzung. Was Medium des rückbezüglichen Stimmungskreises der Personen war, wird so zum Objekt und Instrument im Auge-Hand-Sehfeld (vgl. 2.12., 2.13.), von dem man sich distanzieren und etwas ablösen kann. „Sprechend hebt die Sprache ihr eigenes Werk, den physischen, durch Tradition bekräftigten Ausdruck wieder auf. Ihre Vermittlung dient immer der Einsicht in die Sache selbst, die nicht anders zu erreichen ist als eben durch die Brücken schlagende Sprache." 68 Die Freisetzung des Sachgehalts der Sprache vom noch aktual zu lebenden Verhaltenskontext der Rede erfolgt in der Schrift. „Der Zauberstab, der Sprachschranken in überschreitbare Sprachgrenzen verwandelt, ist die Versachlichung. Eine Gefahr ist für den Menschen allerdings mit diesem seinem Monopol verbunden: Die Gleichsetzung von Sache und Ding. Denn über beide verfügt der Mensch nun einmal. Verdinglichung im Zeichen der Versachlichung ist überall dort gegeben, wo der Mensch in seiner Zwienatur den Menschen als Mittel gebraucht. Diese Instrumentalisierung allerdings läßt sich nicht nur nicht vermeiden, sondern ist Grundlage menschlicher Gesellschaftsbildung und damit gesellschaftlichen Entwicklungen ausgeliefert. Da letztere in fortschreitendem Maße mit der Technisierung verbunden sind, ist es zu einer Verdinglichung im Zeichen des Fortschritts gekommen." 69 In gewisser Weise wird die obige Unterscheidungsreihe von der Personalität bis zur geschichtlich legitimen Selbsterkundung an der Verschriftlichung der Sprache entdeckt. In der frühen Neuzeit wird oft die Freilegung der exzentrischen Positionsform gegenüber der soziokulturellen Tradition noch metaphysisch reintegriert oder in positiven Ausmalungen des utopischen Standorts, des Nirgendwo und Nirgendwann, vorgenommen. Gegenüber diesen frühen Versuchen, das Nirgendwo und Nirgendwann der Utopie in die gemeinschaftliche Tradition einzuholen, setzen sich nach
67 Vgl. Plessners Verweis ebd., S. 314, auf den Nachlaß des Selbstmörders Alfred Seidel, Bewußtsein als Verhängnis. Aus dem Nachlaß herausgegeben v. H. Prinzhorn, Bonn 1927. 68 H. Plessner, Zur Anthropologie der Sprache (1975), in: GS VIII, S. 405. 69 Ebd., S. 408.
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den klassischen Ausgleichsversuchen (Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jhs.) ab Ende des 19. Jhs. bis in die Mitte des 20. Jhs. die Versachlichungen und Verdinglichungen der schriftlich zur Ambivalenz der Gesellschaft emanzipierten Sprache durch. Diese Versachlichung qua Verdinglichung der Gesellschaft hat entsprechend expressionistisch-symbolistische Gegenbewegungen (vgl. 2.7. bis 2.9.) ausgelöst. Die Philosophische Anthropologie kritisiert solche Gegenbewegungen nicht, weil sie die Verdinglichung der Versachlichung bejaht, sondern weil sie die „Öffentlichkeit" als den „Realisierungsmodus des Menschen nachweisen will". 70 Die Frage nach dem Absoluten muß gesellschaftlich offen bleiben, um eine Pluralisierung des „ utopischen Standortes", um eine Pluralisierung der „Exzentrizität seiner (des Menschen: HPK) Lebensform, sein(es) Stehen(s) im Nirgendwo" und Nirgendwann, bejahen71 zu können! „Es müßte sich - und so zeigt es die Geschichte der metaphysischen Spekulation - dem Absoluten gegenüber der gleiche Prozeß wiederholen, der zur Transzendierung der Wirklichkeit (wie etwa in der kopernikanischen Wende: HPK) führt: wie die exzentrische Positionsform Vorbedingung dafür ist, daß der Mensch eine Wirklichkeit in Natur, Seele und Mitwelt faßt, so bildet sie zugleich die Bedingung für die Erkenntnis ihrer Haltlosigkeit und Nichtigkeit." 72 Durch dieses existentielle Paradoxon wird die Frage nach dem Menschen wieder offen und ihm überantwortet, aber nicht in dem Sinne des Entscheidungsdramas für das verselbständigte Bewußtsein. Statt also als Bewußtsein die exzentrische Mitte des Lebendigen zu aktualisieren, statt im Spielraum der dualen Aspekte des Lebendigen die hier und jetzt für den eigenen Körperleib angemessene Verschränkung zu finden, statt sich dafür auf die Kommunikation individueller und soziokultureller Urteilskraft einzulassen (vgl. 1.9.), wird dem Standpunkt des verselbständigten Bewußtseins alles nichtig und daher einer Transzendenz bedürftig. Das Verhältnis zur Unbestimmtheit des eigenen Körperleibes - eben ein Verhältnis, dem sich eine souveräne Selbstermächtigung in der Kommunikation individueller und soziokultureller Urteilskraft stellen müßte - ist den Bewußtseinsphilosophien unerträglich. Sie pendeln in dem von ihnen inszenierten Entscheidungsdrama des Bewußtseins zwischen nihilistischer Desillusionierung und dualistischer Aufrüstung hin und her (vgl. O.2.). Statt den existentialistisch, naturalistisch oder idealistisch schon immer vorentschiedenen Strategien der Selbstermächtigung zu folgen, führt erst die gesellschaftlich plurale Öffentlichkeit in die Öffnung der Frage nach dem Menschen, in das ihm Unbestimmte, Unbedingte und Unendliche hinein, wodurch sie unter den geschichtlich endlichen Bedingungen
70 H . Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 345. 71 Vgl. H.-P. Krüger, Das Nirgendwo im Dasein. Joachim Fests Utopieverbot und Inge MiinzKoenens Diskursanalyse utopischen Denkens, in: Weimarer Beiträge 44 (1998) 3, S. 4 6 2 ^ 6 8 . 72 H . Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 346.
Der utopische Charakter unserer Eingespieltheit und seine
erneut bestimmbar wird. Demgegenüber
Kult der schon immer vorgängigen
zelebrieren
Entschiedenheit.
Verdeckungen
die Bewufltseinsphilosophien
225 den
Die Philosophische Anthropologie unterscheidet sich mit ihrem dynamischen Differenzierungsversuch der Mitwelt zwischen kulturell brüchiger Gefahr und Geschichtlichkeit wagender Antwort scharf von anderen Konzeptionen. Plessner kritisiert einerseits die Fortschrittsmetaphysiken, die auf eine Akkumulation oder einfache Kumulation von Verkörperungen über die Generationen hinweg setzen. Diesen Fortschrittsmetaphysiken 73 nach sollen sich das Universalisierbare und Objektivierbare durchsetzen, in Form von Vernunft, von Wirtschafts- und Militärstärke, von erhöhter Lebenserwartung und Bildungsniveau etc. Die Fortschrittsmetaphysiken knüpfen an ausgewählte Verkörperungs- oder Könnensarten an, als ob es deren leibliches Sinn- und Motivationsproblem nicht gäbe, und als ob sich die historische Balance von allein einstellen würde oder durch autoritäre Tradierung sichergestellt werden könnte. Für Metaphysiken mit solchen Fortschrittskriterien bleibt es immer verwunderlich, wenn sogar Großmächte (vom Römischen Imperium bis zur Sowjetunion), die solche Fortschrittskriterien par excellence zu erfüllen scheinen, nicht nur aus Effizienzgründen, sondern aus Sinn- und Motivationsproblemen zusammenbrechen oder zumindest historisch zurückfallen und im Vergleich zu anderen Mächten peripher werden. In dekadenten Zeiten kommt die Sinnbelegung nicht mehr den verkörperten Bedeutungen nach, in wilden Perioden halten die Verkörperungen nicht mit der Expressionskraft Schritt. Nur in klassischen Epochen scheint sich ein Gleichgewicht herzustellen. U m solche Phänomene längerfristiger Ausgleichsbewegungen in den Blick zu bekommen, muß man nochmals von einem Generationenwechsel durch mehrere Generationenwechsel hindurch, wie ich dies im Hinblick auf die Kunstgeschichte (im 2. Kapitel) angedeutet habe, und zudem sehen, wie dabei die Differenz zwischen gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Interaktionsarten driftet. Plessner grenzt das Projekt der Philosophischen Anthropologie andererseits aber auch von dem umgekehrten Fehlschluß ab, für den J.-J. Rousseau und K. Marx stehen. 7 4 Beide kritisierten die gesellschaftliche Entfremdung, als ob es diese kulturell nicht schon in einem einzigen Generationenwechsel gäbe, und als ob man die anthropologische Norm der Vergegenständlichung und der Aneignung von Gegenständen mit dem Privateigentum abschaffen könnte. Rousseaus Konzeption steht für den ästhetischen Leib einer kleinstädtisch überschaubaren Gemeinschaftlichkeit und für die Individualität ihrer Mitglieder, woran gemessen alles andere als die Entfremdung durch Zivilisation gilt. Marx erweiterte diese Gemeinschaft durch Assoziationen und
73 Vgl. H. Plessner, Die Entzauberung des Fortschritts (1936), in: GS X , S. 71 ff. 74 Vgl. H. Plessner, Die verspätete Nation. Uber die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes (1935/1959), Frankfurt/M. 1974, 9., 10. u. 12. Kapitel.
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Zwischen Lachen und Weinen II: Die Personalisierung
des
Individuums
wissenschaftliche Selbstkontrollen zu einer komplexeren Gemeinschaft von Gemeinschaften. Gleichwohl wollte auch er die Gesellschaft in Gemeinschaft heimholen und mit der kulturellen N o t der Entfremdung auch die darauf antwortende Geschichtlichkeit erübrigen. Nach dem Sieg des Kommunismus sollte das Ende der Vorgeschichte der Menschheit eintreten, wobei unklar blieb, ob damit die Geschichtlichkeit des Menschen selber abgeschafft werden müßte. Für die Philosophische Anthropologie ist das, was Rousseau, oder auf komplexere Weise auch Marx, in ein geschichtsphilosophisches Nacheinander zerlegt haben, eine anthropologische Gleichzeitigkeit im Generationenwechsel, die aus der N o t kultureller Entfremdung und deren historischem Lösungsversuch besteht.75 Plessners Bejahung der Entfremdung, die er oft und immer wieder mit Hegel - im Sinne der Vergegenständlichung des Geistes - gegen Rousseauisten und Marxisten vorgetragen hat76, kann man nur in ihrem anthropologischen Zusammenhang verstehen, der da besagt: Die Geschichtsbedürftigkeit des Menschen kann schwerlich um Generationen vertagt werden. Die Moderne entfaltet sich durch solche ungedeckten, nur geschichtsphilosophisch suggerierten Kredite auf die Zukunft. Sie ist erborgt von dem, was menschenmöglich ist, und haushaltet eben nicht damit. Die Philosophische Anthropologie fundiert die ständige und erneute Geschichtsbedürftigkeit menschlicher Generationen, indem sie dazu einlädt, das Verhältnis zur eigenen Unbestimmtheit einzugehen, ohne die notwendigen Möglichkeiten des menschlichen Daseins durch eine es transzendierende Notwendigkeit zu verdecken. Sie ist gerade keine Festschreibung eines historisch invarianten Wesens von Menschen. Demgegenüber erscheint die traditionelle Geschichtsphilosophie gerade nicht als eine Würdigung der geschichtlichen Offenheit von Menschen, sondern als der Versuch, die Menschen auf eine einzige bestimmte Geschichte festzulegen, etwa eine bestimmte Art von Fortschritt. Diese Moderne-Projekte führen aber gerade im Namen nur einer einzigen Geschichte in die Geschichtslosigkeit, in das Ende dieser bestimmten Geschichte, die als das Ende der Geschichte überhaupt ausposaunt wird: die übliche eitle Selbstüberschätzung. 77
75 Vgl. ausführlich H.-P. Krüger, Perspektivenwechsel, a. a. O., Zweiter Teil, 1. Kapitel. 76 Vgl. H. Plessner, Das Problem der Öffentlichkeit und die Idee der Entfremdung (1960), in: GS X , S. 220 f. Vgl. auch mit J. Habermas gegen H. Marcuse in: H . Plessner, Selbstentfremdung, ein anthropologisches Theorem?, in: GS X , S. 285 ff. 77 Odo Marquard kommt in der Geschichte der Philosophie der alten Bundesrepublik zweifellos das Verdienst zu, Motive der Philosophischen Anthropologie Plessners wiederbelebt zu haben, wenngleich dabei das, was Plessner die „notwendigen Möglichkeiten" nannte, zeitgeschichtlich in die Provokation durch Negativa geriet, die schon die Titel verraten. Vgl. O. Marquard, Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981; ders., Apologie des Zufälligen, Stuttgart 1986. Vgl. zur Krise der nachabsolutistischen Lesart von Geschichtsphilosophie Emil Angehrn, Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1991.
Der utopische Charakter unserer Eingespieltheit und seine Verdeckungen
1T7
Die Philosophische Anthropologie versteht nicht nur alle Kulturen als wertedemokratisch gleiche, sondern auch die kulturelle und historische Aufgabe aller Generationen. Sie bejaht die Pluralisierung des utopischen Standortes und die Bewährung des Utopisierens in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit, wodurch wir uns fragwürdig bleiben. Dies bedeutet dann aber auch für die jeweils Heutigen, derart Geschichte zu machen, daß die Nachkommen ihrerseits ihr Geschlecht geschichtlich erneuern können. Dieser Verantwortung für die künftigen Generationen, ihrer condition humaine, widersprechen Projekte, die sich die Realisierung des Unbedingten anmaßen. Wir stehen hier also vor einem geschichtlichen Problem der Selbstermächtigung der Lebenden, der Legitimität ihrer Machtbildung und Machtausführung im Kontext der Erinnerung von Vergangenem und der Antizipation des Zukünftigen. Zum Abschluß auch dieses Kapitels mag sich der Leser den Inhalt der Gedankenführung an Bildern vergegenwärtigen wollen, die zum Vergleich mit seinen Vorstellungen, die er sich bereits während des Lesens gemacht hat, einladen. Wenn, wie für das menschliche Dasein behauptet, die Uber-Setzung zwischen Habitus und Rollensprache so wichtig ist, möchten die begrifflichen Unterscheidungen der Philosophischen Anthropologie der Anschauung und Vorstellung von Phänomenen ausgesetzt werden können. Phänomene freilich tun sich selber kund, ohne nur als Illustration gelten zu können, beanspruchen eben Spielraum. In den ersten Unterkapiteln ging es um die Einsicht, daß für den Menschen nicht nur die Verdoppelung in eine Person (soziokulturelle Elementarrolle) bedeutsam ist, da er an dieser sich individualisieren kann, sondern daß seine Personalität selber auch elementar zu verdoppeln ist, wodurch er einerseits mit sich selber interagieren kann, andererseits aber die Person auch zum Medium für verschiedene Interaktionsformen zu werden vermag. Ohne diese basale Würde kann sich die Person weder individualisieren noch leidenlos vergemeinschaftet und vergesellschaftet werden. Touristen wie wir begehen oft elementare Würdeverletzungen an den Einheimischen, und selbst trainierte Verhaltensforscher müssen da nicht immer besser abschneiden. Auf dem ersten Bild bedroht ein Yanomami (Angehöriger einer kriegerischen Kultur beginnender Pflanzer im oberen Orinoko-Gebiet und der Serra Parima/Venezuela) durch ein demonstratives und wütendes Spotten, das leicht umschlagen könnte, den Fotografen des Forscherteams, der durch sein Tun die Würde des Kriegers offenbar verletzt. Für die soziokulturelle Ausdifferenzierung der Elementarrolle ist entscheidend, inwiefern nicht nur für uns als Beobachter Rollenspiel vorliegen kann, das von den Betroffenen selber noch auf eine naive Weise ernst auszuüben wäre, sondern inwiefern für die Angehörigen ein und derselben Kultur selbst ihr Doppelgängertum dargestellt, also in der Verkörperung nochmals verdoppelt wird, worauf der zweite Rollenbegriff, der des Schauspiels, abhob. Dafür gibt es, gänzlich unabhängig von der sog. abendländischen Entwicklung, deutliche Funde, so hier exemplarisch eine ca. 30 cm hohe, im Original gelb-braune Tonfigur mit dem natürlich späteren, aber wohl
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zutreffenden Titel „Geteiltes Haupt". Sie entstammt der zapotekischen Kultur (3. bis 10. Jh., in etwa parallel zur olmekisch beeinflußten Herausbildung der Maya-Kultur des Tieflandes) aus dem Hochtal von Oaxaca und ist im anthropologischen Museum von Mexiko Stadt zu besichtigen. Während die linke Hälfte lebendig wirkt und die rechte Hälfte skelettartig wird, gehören doch beide Hälften zu ein und demselben Ausdruckskörper, was der einheitliche, einer Rolle zugehörige Kopfschmuck erkennen läßt, aber auch die Anschlußfähigkeit der Mund-, Nasen- und Augenbewegungen in die Verdrehung hinein. Die Maske ist hier nicht vor dem Gesicht, sondern gleichsam die Spaltung des Gesichtes selber, eine Entdeckung lange vor unserer Modernen. Das Gesicht lebt im Angesichte des Grauens, bereits seines eigenen. Die Doppelgesichtigkeit (nicht Spaltung!) findet sich bei Frauenfiguren schon im 1. Jahrtausend v. u. Z. im Hochtal von Mexiko (Tlatilco), aber eher im Kontext eines Fruchtbarkeits- als Totenkultes. Der dritte Rollenbegriff von der Funktionalisierung personaler Leistungen in der modernen Gesellschaft brachte die Entkopplung nicht nur der Person vom Individuum, sondern auch noch der Leistungen von der Personalität der Menschen zur Sprache. Die Verselbständigung gesellschaftlicher Funktionszusammenhhänge gegenüber den Personen und damit auch Individuen macht diese zu Funktionären, oft nur Funktionsrädchen. Der Schrei, nicht nur seine Individualität, sondern womöglich auch Personalität zu verlieren, mag in Francis Bacons Bild „Study for Portrait" (1949) besonders augenfällig werden. In Bacons späterem Triptychon („Triptych, August 1972"), von dem ich hier nur das linke Bild verwende, ist auf spezielle Rollenmerkmale (wie Anzug und Krawatte) bereits keine Rücksicht mehr genommen. Es bleibt der amputierte Körper, dessen Leib ausläuft, in der Bilderfolge stehen, als ob er sich doch noch bewegen könnte, oder schon immer so wie nach seinem Tod bewegt hätte. Die Zerstörung der Personalität endet endlos in der des Körperleibes. Bacon wird den Schock nicht mehr los, seinen Geliebten, George Dyer, der schwer drogenabhängig war, just nach der triumphalen Eröffnung seiner Ausstellung im Grand Palais (Oktober 1971 in Paris) im Hotelzimmer tot aufgefunden zu haben. Exzentrische Positionsform bedeutet, einen utopischen Standort im Nirgendwo und Nirgendwann außerhalb des eigenen Körperleibes einzunehmen. Dieser wird in seiner Unvermeidlichkeit und Zufälligkeit, eben als notwendige Möglichkeit des menschlichen Lebens, erst auffällig, wenn er durch Verschriftung der Sprache in den gesellschaftlichen Vergleich der historischen und gegenwärtigen Pluralität von utopischen Standorten gezogen wird. Dem im vierten Bild abgebildeten Herrscher als Schreiber (Sitzstatue des Der-senedj als Schreiber, 25./24.Jh. v.u.Z.) könnte die Realisierung seiner Utopie vorschweben, eine Verwirklichung, die jedoch anthropologisch betrachtet besser in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit abgelenkt und medial gebrochen würde, wie (bei aller Würde der Figur) doch ihre visionären Augen zeigen.
Der utopische Charakter unserer Eingespieltheit und seine
Geteiltes Haupt, Zapotekische Kultur
Verdeckungen
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Francis Bacon: Studie für ein Porträt
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Figur des Der-senedj als Schreiber
6. Epilog: Die Souveränitätsfrage in der Ermächtigung zu geschichtlichem Tun
6.1. Einleitung: Das Problem des Ausgleichs der Differenzen zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft und zwischen Entfremdung und geschichtlicher Expressivität in der Generationenfolge Nach den Phänomenen der Individualisierung des soziokulturellen Rollenspiels (4. Kapitel) habe ich die Phänomene der soziokulturellen Ausdifferenzierung unseres Doppelgängertums (5. Kapitel) besprochen. Diese Ausdifferenzierung hob mit der Verdopplung der Rolle in ein privates Individuum, das die Rolle verschieden trägt, und in eine öffentliche Rolle, deren Figur nochmals interaktiv (als Schauspiel) zum Medium verdoppelt wird (vgl. 5.2., 5.3.), an. Der Unterschied zwischen der Rollenfigur und ihrer individuellen Ausgestaltung, zwischen dem ascribed status und dem achieved status, warf die Frage nach dem Wertemaßstab auf, von dem her die Erwartungen der Rolle formuliert und ihre individuelle Ausführung beurteilt werden können. Diese Frage wurde durch die Einführung des Begriffs der Gemeinschaft beantwortet, deren Mitglieder ein bestimmtes Werterepertoire teilen, nach welchem sie ihre Interaktionen gestalten und beurteilen, sei es positiv oder negativ, sei es nach dieser existenzgemeinschaftlichen Priorität oder nach jenem sachgemeinschaftlichen Primat an Über- und Unterordnungen von Werten (vgl. 5.4.). Von diesen, dank des gemeinsamen Werterepertoires vertrauten Interaktionen heben sich die dazu unvertrauten Interaktionen ab, die zur Einführung des Gesellschaftsbegriffes geführt haben. Gesellschaft wurde phänomenologisch anhand des großstädtischen Alltags, des anhaltend zivilisationshistorischen Erbes an Diplomatie und Takt, und schließlich anhand der funktionsteiligen Sphären einer modernen Gesellschaft verdeutlicht (vgl. 5.5.). Dabei stellen diplomatisch-taktvolle Interaktionen die für die gesellschaftliche Öffentlichkeit anthropologisch charakteristischen Phänomene dar. Sie setzen einerseits Interaktionsformen in vormodernen Naturvölkern fort, die dort die vergleichende Ethologie Formen der formellen Höflichkeit und Strategien der bis zur Verblümung indirekten Interaktionen nennt (vgl. 5.2.), die der Gewaltandrohung (etwa in Kriegstänzen) und Gewaltanwendung (in Kriegen) zuvorkommen. Diplomatisch-taktvolle Interaktionen begegnen uns aber andererseits auch im Alltag und in den funktional
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Epilog: Die Souveränitätsfrage in der Ermächtigung zu geschichtlichem Tun
ausdifferenzierten Sphären der modernen Gesellschaft. Insofern können sie als anthropologische Phänomene thematisiert werden, obgleich ihre kulturhistorische Ausführung im einzelnen stark variieren kann. Wie immer Zeremonie und Prestige materialisiert werden, Höflichkeit und zweideutige Spielformen gibt es in allen Kulturen, weil sie für die Sicherung der Würde von Personalität elementar sind. So stark Individuen der Identifikation mit einer Gemeinschaftsrolle bedürfen, in die hinein sie sich verdoppeln, wodurch sie ihr Selbst ausbilden, so zweideutig geraten ihre Rückbezüge (vgl. 4.7.) aus der Rolle auf sich. Die ambivalenten Rückbezüge brauchen eine entsprechende Öffnung der Gemeinschafts- in Gesellschaftsformen, in die Ambivalenzen der gesellschaftlichen Öffentlichkeit hinein. Das Bedürfnis, aus den Rückbezügen heraus den Ausdruck zu individualisieren, korrespondiert mit dem medialen Aufführungscharakter gesellschaftlicher Interaktionen, der von den gemeinschaftlichen Fixierungen des Selbst befreit (vgl. 5.4., 5.5.). Mit der Einführung der Differenz Gemeinschaft-Gesellschaft stellte sich das Problem, wie diese Differenz aufzufassen und zu praktizieren sei. Die Philosophische Anthropologie wendet sich gegen alle mentalen Versuche, die Differenz in eine falsche, weil exklusive Alternative zu verwandeln, als stünden wir vor dem Problem, entweder Gemeinschaft durch Gesellschaft oder umgekehrt Gesellschaft durch Gemeinschaft ersetzen zu müssen. Plessner nennt solche Dualisierungen „Radikalismus". „Radikalismus heißt Dualismus." 1 Radikalismus führt in der praktischen Konsequenz dazu, die Politik zu mechanisieren. „Dieser Idee genügt die Welt nur als Mechanismus. Solange ihr noch Eigenwilligkeit und Irrationalität vorbehalten bleibt, kann der Mensch nicht hoffen, sie jemals vollständig zu beherrschen. ... Radikalismus heißt Vernichtung der gegebenen Wirklichkeit zuliebe der Idee, die entweder rational oder irrational, aber in jedem Sinne unendlich ist, Vernichtung der Schranken, die ihrem vollkommenen Ausdruck gezogen sind, um ihrer Materialität, Ungeistigkeit, Unlebendigkeit willen." 2 Politik beschränkt sich dann darauf, ein bestimmtes Schema der entweder Inklusion von „Freunden" oder Exklusion von „Feinden" mechanisch abzuarbeiten, statt „gemeinschaftsoffen" und gesellschaftsoffen 3 , also in einem Dritten, zu verfahren. Radikalismen opfern die Individualisierung der Personen, die sowohl der Vergemeinschaftung als auch der Vergesellschaftung bedarf, der mechanisch anwendbaren Schematisierung der Rolle. Gegen derart radikalistische, also in falsche Alternativen führende Modernisierungsprojekte plädiert die Philosophische Anthropologie für die Fortsetzung des
1 Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus (1924), in: GS V, S. 14. 2 Ebd., S. 16 f. 3 Ders., Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht (1931), in: GS V, S.231.
Einleitung: Das Problem des Ausgleichs
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zivilisationsgeschichtlichen Erbes, Gemeinschafts- und Gesellschaftsformen miteinander zu verschränken. Dafür schlägt sie drei Wege gleichzeitig vor, die sich ergänzen, nämlich die Transformation des Staates von einer Substanz in die Prozedur öffentlicher Verfahren, die Neugestaltung des Rechts in ein Medium der gegenseitigen Ubersetzung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft und die Transformation des Politischen von einer dualistisch-mechanischen Praktik in eine Kunst, die unter den Möglichkeiten das für alle beteiligten Seiten Machbare erkennt und aus Gelegenheiten Ereignisse werden läßt. Mit diesem Lösungsvorschlag haben wir schon die historisch dynamische Betrachtung der für die Lebenswelt konstitutiven Differenz zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft erreicht(vgl. 5.7.). Die Verschränkung beider steht nicht nur für jedes Individuum und innerhalb einer Generation an. Das Verhältnis zwischen gemeinschaftlich Vertrautem und gesellschaftlich Unvertrautem verändert sich, gewollt und ungewollt, in der Generationenfolge. Die nachwachsende Generation entfremdet sich kulturell von der vorangegangenen Generation, weil die Tradierung von Kultur über Generationen hinweg asymmetrisch verläuft. Die Tradierung geschieht primär durch Verkörperung, durch Weitergabe der Arten, etwas tun zu können, die technisch und symbolisch im Großen und Ganzen von jedermann auf jedermann übertragbar sind. Demgegenüber bleibt die Kulturtradierung durch Verleiblichung, durch leibessinnliche Lebensmotive, indirekt, eben im Spiel der Individualisierung ambivalent (vgl. 4.7.). Man verstehe hier die Philosophische Anthropologie nicht falsch: Sie weiß darum, wie entscheidend Verleiblichungen für die Individualisierung sein können, sei es im Sinne der Vorstellung einer quasi innerleiblichen Interaktion, als wäre man gleichsam noch im pränatalen Glück, sei es im Sinne einer zwischenleiblichen Interaktion, als erlangte man in der sexuellen Liebe das Glück der Seelennähe. Entsprechend frustrierend sind die gegensätzlichen Fälle der Abweisung, Abweichung, Unterdrückung, Vergewaltigung etc. Nur muß man hier zwischen in actu und der Symbolik der Akte, eben die erotische Differenz, unterscheiden, woraus sich erst die Psychoanalyse der Obsessionen, Verdrängungen und Übertragungen ergibt, auf die Plessner als ein selbstverständliches Bildungsgut verweist. Erotische Phänomene sind solche der Individualisierung, die nicht per se, sondern nur indirekt, über ihre Symbolisierung, Mediatisierung, Veröffentlichung für die Lösung des Generationenproblems relevant werden können. Ansonsten käme die Tradierung der Abschaffung des Privaten, jeder Schamgrenze gleich. Gerade diese Umwege an symbolischer Indirektheit verwandeln die Verleiblichung in eine individuell verschieden interpretierbare Verkörperung. Sie lösen die umkehrbar eindeutige Zuordnung der Verkörperung mit einem bestimmten Lebensmotiv ab, bestätigen also die Hypothese von der kulturellen Entfremdung der Nachwachsenden. Wenn nun aber im Generationenwechsel die Zuordnung zwischen den akkumulierten Verkörperungen und den lebensgeschichtlich leiblichen Sinnmotivationen der
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Epilog: Die Souveränitätsfrage in der Ermächtigung zu geschichtlichem Tun
älteren Generation für die Nachfolgenden auseinanderbricht, dann entsteht für die nachwachsende Generation die Not, für die Ausübung der tradierten Arten des Könnens Lebensmotive von neuem zu entwickeln, wofür die Lebensmotive der Älteren auf eine nur indirekte Weise Pate stehen können. Der kulturellen Entfremdung respektive Ablösung der Verkörperungen von den Verleiblichungen der Alteren antwortet die Expressivität, der spontane Selbstausdruck der Jüngeren, der eine neue geschichtliche Ausbalancierung ermöglicht. Insofern bricht in der Generationenfolge mit der kulturellen Entfremdung eine Vergesellschaftung herein, die des Ausgleichs mit einer neuen Vergemeinschaftung in geschichtlicher Expressivität bedarf. Durch Ereignisse erfolgt spontan eine Zuordnung zwischen Könnensarten und leibessinnlichen Lebensmotiven von der Art, daß man danach eine Geschichte erleiden oder sich darauf eine Geschichte machen kann. Es setzt sich in den Auswahlprozessen der Jüngeren selber ein Horizont der ihnen charakteristischen historischen Erwartungen, Enttäuschungen und Erfüllungen, ein generationales Lebensgefühl durch, das zu ihren Stilisierungen des Habitus und zu ihrem Sprachdialekt führt. Gegen das geschichtsphilosophische Nacheinander von Entfremdung und deren Aufhebung in einer nachgeschichtlichen Existenz (posthistoire) stellt die Philosophische Anthropologie die Gleichzeitigkeit von Entfremdung und ihrer geschichtlichen Beantwortung in jeder Generation von neuem. Sie ergänzt damit die wertedemokratische Gleichstellung aller Kulturen durch eine wertedemokratische Gleichstellung der Chancen aller Generationen, statt im Namen einer einzigen höheren Geschichte die Generationen in der Zwischenzeit zu vertrösten oder zu opfern. Die Aufwertung der geschichtlich-expressiven Selbstfindung jeder Generation liegt in der Konsequenz der Körper-Leib-Differenz, in der die soziokulturell möglichen Verkörperungen dem Hier und Jetzt der Leiblichkeit im Sinne des Kategorischen Konjunktivs (vgl. 1.10) ausgesetzt sind. Geschichtliche Umbrüche, um deren Problematik es im folgenden gehen wird, führen soziokulturell in Situationen der Unbestimmtheit. Ähnlich wie ungespieltes Lachen und ungespieltes Weinen, die wir nicht in der Hand haben, die Verhaltensgrenzen individuell anzeigen (vgl. 4.), da Verleiblichung und mögliche Verkörperung nicht mehr lebbar ausgeglichen werden können, verlangen geschichtliche Situationen nach Individuation, nach einem spontanen Ausdruck, der einen Neuanfang ermöglicht, um die generationenweise auseinanderlaufenden Gemeinschafts- und Gesellschaftsformen erneut miteinander verschränken zu können. Wir kommen nun also, nachdem wir die soziokulturelle Pluralisierung des Rollenphänomens vergegenwärtigt haben (vgl. 5.), in die soziokulturellen Verhaltensgrenzen hinein, die ebenfalls am Ungespielten entstehen, wenn man so will: am für die ganze betreffende Kultur ungespielten Lachen und Weinen. Welche Macht aber wollte schon geschichtlichen Schiffbruch erleiden! Und welches kulturell eingewöhnte Selbstverständnis wollte schon mehr als durch seine Expertenkulturen auf außeralltägliche Weise überrascht werden! - Die Vorkehrungen zur Ver-
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ist doch eine Machtfrage
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meidung geschichtlicher Situationen der Unbestimmtheit sind mannigfaltig. Aber wenn man sich auf die moderne Säkularisierung des Sakralen beschränkt, das in vormodernen Gesellschaften diese Begrenzungsfunktion ausübte, geht es vor allem um zwei Versuche der Vorkehrung. In der Moderne, der die sakrale Begrenzung des Machbaren fehlt, hat man vor allem mit der Vergesellschaftung (6.3.) und mit der Vergemeinschaftung (6.4.) legitimer Machtbildung (6.2.) experimentiert, um Geschichte nicht erleiden zu müssen, sondern gestalten zu können. Dies kam in unserem Jahrhundert, für dessen Extremismus in besonderer Weise Deutschland steht (vgl. 6.7.), einer unbewußten Anwendung der Moderne auf sich selber gleich. Indessen erleiden beide Vorkehrungen eben in der Generationenfolge auch ihre Verkehrung, wodurch das Problem der geschichtlichen Verschränkung von neuem entsteht. Dann aber ist es sinnvoll, bereits das Machtproblem selber umzustellen, nämlich vom traditionell modernen Laufrad der Selbstbestimmung in das der Verhaltensmöglichkeiten zur eigenen Unbestimmtheit (6.5.). In dieser Umstellung geht es weniger um die üblichen und beliebten Strategien der Selbstermächtigung als vielmehr um die Gewinnung von Souveränität gegenüber dem Anderssein seines Selbstseins. Das Menschliche besteht nicht in der Okkupation eines bestimmten Wesensmonopols (gegenüber Tieren oder anderen Kulturen), sondern in der Sicherung des ganzen Spektrums menschlicher Phänomene, weil es sich erst im Durchlaufen dieses Spektrums zum Lebensprozeß entfalten kann (6.8.)
6.2. Die Gestaltung der Differenzen ist doch eine Machtfrage: Die Emanzipation der Macht Macht begegnet uns nicht nur im Staat, an den man wohl noch immer als erstes denkt, hört man den Begriff der Macht. Sie begegnet uns auch nicht nur in Gemeinschaften, wovon bereits die Rede war, wenn man an die affektgeladene Asymmetrie zwischen den Mitgliedern von Existenzgemeinschaften im Hinblick auf die gemeinsame Bezugsperson oder an die „Hackordnung" denkt, die durch die leistungsbezogene Anwendung von rationalen Werten in Sachgemeinschaften entsteht. Macht emanzipiert sich sowohl vom Staat als einer besonderen Institution, die durch eine Wertesubstanz legitimiert wird, als auch von den personal auffälligen Asymmetrien in Gemeinschaften. Sie entgrenzt sich auf alle Phänomene der Gesellschaft hin, in der Macht aber weniger an Personen, deren Willkür in der Interaktion mit anderen Personen, als vielmehr in der Struktur oder Funktion, und insofern anonymisiert, auffällig wird. Die Universalisierung der Macht durch die ganze Palette aller soziokulturellen Phänomene hindurch war an der Nahtstelle zwischen Darwinismus und Historismus um die Wende vom 19. zum 20. Jh. zum Zeitgeist geworden. Dieser Zeitgeist war auf elitäre Weise in Nietzsches Philosophie des Willens zur Macht eine Generation zuvor entworfen worden. Auf ihn zu antworten, versuchten einerseits
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die verschiedenen Begründungsvarianten der Soziologie und andererseits verschiedene Lebensphilosophien vom Aufstieg und Verfall des Abendlandes. Man kann sich heute das große Skandalon, das in der universellen Wahrnehmung aller menschlichen Phänomene als Machtbeziehungen steckte, kaum mehr vorstellen. Macht war beim Großteil der Bevölkerung noch ihrer Thematisierung entzogen. Sie schien metaphysisch, religiös oder rational durch eine quasi heilige Beglaubigung vorgegeben zu sein. Ihre Legitimität zehrte ehemals von einer Wertesubstanz, die sich gleichsam göttlich selbst bewegte und sich selbst verursachte (daher: Substanz) und an der menschliche Individuen nur akzidentiell (zufällig) oder durch gläubige Annahme der Tradition auch wesentlich teilhaben konnten. Wer Macht zur Sprache brachte, schien unter dieser Voraussetzung einen Umsturz zu planen. Entheiligte Macht fällt in etwas Machbares zusammen, mit dessen Hilfe sich etwas anderes machen läßt. Was ehedem sakral (heilig) war, wird ins Profane, ins ungeweiht Weltliche, gezogen. Macht verkommt so zum bloßen Mittel, zum plastischen Medium der Neuerschaffung des Menschen, womöglich gar des Übermenschen im Unterschied zum letzten Menschen, wie Nietzsche in „Zarathustras Vorrede" schrieb. 4 Behauptet heute jemand, alles sei doch nur eine Machtfrage, antwortet der nächste: Ja, was denn sonst? - Der Umsturz ist in gewisser Weise alltäglich geworden. Abgebrüht ist der gleichsam überletzte Mensch mit seiner permanenten Selbstermächtigung dazu, dies und jenes zu tun oder zu unterlassen, beschäftigt. Zumindest in der Fremdwahrnehmung, oft aber auch schon in der Selbstwahrnehmung ist es selbstverständlich geworden, Machtfiguren zu erblicken. Wir müssen hier, inmitten der heute geläufigen Trivialisierung der Machtfrage, zurück zu einer Unterscheidung, die wir (im 2. u. 4. Kapitel) eingeführt und in der Einleitung zum ganzen Buch angekündigt (vgl. Einl., 6.) hatten: dem Unterschied zwischen Alltag und Außeralltäglichem. Das Sakrale hat die außeralltäglichen Spielmöglichkeiten, deren Ambivalenz zwischen dem Schrecken vor und der Anziehung durch das Unvertraute, gebannt. Es hat gestattet, von dieser symbolisch heiligenden Bannung her das Alltägliche zu ordnen. In der Moderne startet man umgekehrt vom Alltäglichen her in dessen profane Verdoppelung ins Außeralltägliche hinein. Im Außeralltäglichen begegnet man womöglich noch dem Abglanz des ehemals Sakralen und seiner spätreligiösen Rettungsversuche in künstlerisch imaginierten Spuren, in einer Art Epiphanie, in der Erscheinung der persönlichen Lebenssinn spendenden Gottheit. 5 Allerdings gilt auch dem neuen, religiös neutralisierten oder gar areligiösen Common Sense nicht, daß Macht gleich Macht sei. Es wird unter Macht dabei noch etwas
4 Vgl. Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen, in: ders., Werke II, hg. v. Karl Schlechta, Frankfurt/M. 1976, S. 279 ff. 5 Vgl. zu den „Epiphanies of Modernism" Charles Taylor, Sources of the Self. The Making of the Modern Identity, Cambridge, Ma 1989, p. 456 ff.
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Diffuses verstanden, das zwischen persönlicher oder in den Strukturen verankerter Gewalt einerseits und legitimer, d. h. nicht nur legaler Macht andererseits pendelt. 6 Macht hat erstens offenbar mit Gewalt bzw. Sanktion, oder zumindest deren Androhung, etwas zu tun, sei es, daß persönlich jemand die Möglichkeit zur Anwendung von Gewalt- respektive Sanktionsmitteln gegenüber anderen hat, sei es, daß die Strukturen der Interaktion ihm dies gegenüber anderen vorgeben, ohne daß er selbst - als Individuum - zu Gewalt- oder Sanktionsmitteln greifen müßte. In der Redeweise von Macht ist aber nicht nur die reale Anwendungsmöglichkeit von Gewalt bzw. einer Sanktion enthalten, sondern zweitens deren Bedeutung für das Interagieren, nämlich der im Falle ihrer Realisierung wahrscheinliche Effekt, daß eine Abweichung von der Symmetrie und Reziprozität im Interagieren zustande kommt. Entstünde dieser Effekt nicht, geriete man in den Grenzfall gleich mächtiger und insofern im Extrem voreinander gleich freier oder gleich unfreier Interaktoren. Gerade gesellschaftliche Interaktionen müssen formal auf Wechselseitigkeit und Chancengleichheit der Beteiligten zurückgehen, da sie nicht wie gemeinschaftliche Interaktionen auf eine inhaltlich geteilte Wertorientierung zurückgreifen können, eben als Äquivalenz dafür. N u n mag die Mächtigkeit der Interaktoren legal sein, d. h. positiv gesetztem Recht entsprechen. Es schwingt dann drittens noch immer in der Thematisierung von etwas als Macht die Frage mit, ob diese Macht legitim sei. So handelt es sich um die Frage, ob die Machtkonstellation aus einem Grunde verständlich, einsehbar, einleuchtend wird, der in der freiwilligen Selbstbindung der beteiligten Personen liegt, sich an die Macht zu halten, nicht allein in ihrer juristisch vorgeschriebenen Rolle. Interaktionen können guten Grundes nicht reziprok und nicht chancengleich für alle Interaktoren vonstatten gehen: Man kann etwa Maria Callas nicht als Sängerin ersetzen, es kann jemand noch menschlich minderjährig und unerfahren, gerade krank und depressiv, schon wieder ohne Wissen und Kompetenz, gerade unbedingt süchtig oder unbedingt leidenschaftlich sein etc. Die Ethiken der Fürsorge und des inhaltlich Guten zeugen vielfältig von solchen Fällen, in denen die Abweichung von der Reziprozität und von der Maxime, allen Beteiligten gleiche Freiheit zu lassen, Sinn macht. Vielleicht bedeutet ja gleiche Freiheit tatsächlich nur den Grenzfall gleicher Mächtigkeit, den wir, unserem Zeitgeist folgend, strukturell schon im vorhinein festgeschrieben haben wollen. Wie früher die Ungleichheit der Menschen ist heute ihre Gleichheit zum Vorurteil geworden, so daß das Problem der Macht kaum mehr in ihr als solcher liegt, dafür aber in der Abweichung von der Erwartung gleicher Mächtigkeit.
6 Vgl. zur Aufrollung der Implikate des C o m m o n Sense von kommunitaristischer Seite Michael Walzer, Spheres of Justice. A Defense of Pluralism and Equality, N e w York 1983, und vom Kantschen Liberalismus her Jürgen Habermas, Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt/M. 1996.
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Plessner bejaht 1962, seit den 20er Jahren noch immer und deutlich vor der sog. 68er Studentenbewegung, „die Emanzipation der Macht" als den „Preis, den die westliche Welt für ihre Freiheit und Offenheit zahlen muß." 7 Macht wird zunächst als die Verfügungsgewalt zur Uber- und Unterordnung zwischen Menschen verstanden. Betrachte man diese Konstellation nicht nur im Moment ihres augenblicklichen Vollzugs, sondern als das Problem ihrer Verstetigung, dann brauche Macht für ihre Adressaten zu ihrer Stabilisierung eine Umschreibung und Definition. Hier geht es um die Form der Rechtmäßigkeit der Macht. „Macht und Recht gehören strukturell zusammen, auch wenn sehr oft das eine als Widerpart und Bedrohung des anderen erscheint, das Recht als Zügel und Schranke, die Macht als sprengende, anomische Kraft." 8 Plessner würdigt (erneut seit den 20er Jahren) Max Webers Verdienst, die Emanzipation der Macht vom Staat insofern erfaßt zu haben, als Weber die Chance zur Machtausübung nicht auf staatliche Gewaltmittel begrenzt sah, sondern in jeder sozialen Beziehung für anders verortbar hielt. Plessner bekräftigt auch mit Weber sein wertneutrales Machtverständnis, nach welchem Macht an sich weder gut (F. Nietzsche) noch an sich böse (J. Burckhardt) ist. Indessen heiße neutrales Machtverständnis auch nicht, in der Macht des faktischen Bestandes bereits die normative Dimension des Machtphänomens zu sehen, also auch nicht, den Machtpositivismus in Dezisionismus aufzuheben (C. Schmitt). Man sieht hier exemplarisch, wie die Philosophische Anthropologie zunächst, um Machtphänomene überhaupt erst sichtbar werden zu lassen, die falschen Fragen, sprich: Erwartungen, abräumt, die der Voraussetzung eines exklusiven Dualismus geschuldet sind. Erst wird man vor die falsche Alternative gestellt, Macht an sich sei gut oder böse. Diese Fehlalternative kann Anlaß geben zu einer endlosen Moralisierung, die für die eigenartige Verschränktheit zwischen Faktischem und Normativen in den Machtphänomenen blind macht. Dann rutscht man, von diesem Normativismus ermüdet, in den Positivismus der Macht ab und feiert sich selbst in seinem Realismus. Es gehe nicht ums Sollen, sondern ums faktische Sein der Macht, als hänge deren faktische Stabilisierung von keinen normativen Erwartungen ab. Schließlich trägt man der Intuition, daß Machtphänomene doch schon immer etwas Normatives zumindest stillschweigend implizieren, insofern Rechnung, als man dieses Normative in den faktischen Entscheidungswillen desjenigen verlegt, der sich da ermächtigt. Das wiederum unterstellt, dieser, der ermächtigt wird, könnte sich ex nihilo, aus dem Nichts, selber ermächtigen. Dadurch verschwinden strukturelle Fragen ad personam und der Anfang wird zur absoluten, selber unbedingten, gleichsam Gott zukommenden Schöpfung zugespitzt.
7 H . Plessner, Die Emanzipation der Macht (1962), in: ders., GS V, S. 282. 8 Ebd., S. 262.
Das Balance-Problem der Vergesellschaftung von Macht Kurzum: Die normativistische Blindheit schlägt in einen realistischen Gehorsam um, der in der Behauptung endet, schon immer in quasi Göttlichem seinen Ursprung zu haben. Carl Schmitt hatte in der ersten Hälfte der 20er Jahre diesen Doppelschritt mit seinem Begriff des Politischen und seiner Politischen Theologie getan. Das Politische war (mit Thomas Hobbes) auf das Staatliche und das Staatliche auf seine Homogenisierung durch Diktatur eingeschränkt worden, so daß politische Macht insgesamt als das Problem erschien, wie man auf eine funktionale Weise die exklusive FreundFeind-Relation herstellen kann. Als souverän galt bei Schmitt dann, wer über den Ausnahmezustand zu entscheiden vermag. Für diese außerordentliche Selbstermächtigung, sollte sie nicht innerfaktisch in bloß persönlicher Willkür enden, gab es letztlich nur eine theologisch überfaktische Legitimität, im Falle von Schmitt zunächst eine katholische Mission, auf die er nach seiner Naziperiode zurückkam. Indessen zeigen aber die nicht nur nationalsozialistischen, sondern auch linksradikalen Schmitt-Rezeptionen, daß alle Radikalkritiker der Demokratie in seiner dualistischen und homogenisierenden Politik-Vorstellung Nahrung finden können. Schon W. I. Lenin hatte in seinen Schriften zu den Revolutionen von 1905 und 1917 über die Machtfrage und die revolutionäre Situation von links ganz ähnliche Muster zur außerordentlichen Selbstermächtigung entwickelt. Es handelt sich mental um die Haltung, die in den radikal dualistischen Moderneprojekten zum Ausdruck kommt (s. ο. 6.1.).
6.3. Das Balance-Problem in der Vergesellschaftung von Macht: informelle Gemeinschaften und Individualität in der nächsten Generation Demgegenüber hat erst die meritokratische, also auf Leistungseliten gestellte Demokratie das vom Staat und seiner religiösen Legitimation emanzipierte und wertneutrale Machtverständnis selbstverständlich werden lassen. „Radikale Demokratie muß genau in dem Maße, in welchem sie sich zum Prinzip der Chancengleichheit für alle bekennt - ein Prinzip offener Beweglichkeit und der Auslese nach Fähigkeit und Leistung - , den Dynamismus der Macht als der Gesellschaft inhärent anerkennen." 9 Diese, im Effekt gesellschaftliche Verallgemeinerung der Macht durch alle nach Sachwerten rationalisierten Funktionssphären hindurch, fällt aber im nachindustriellen „Zeitalter der wissenschaftlichen Zivilisation" mit einem raschen Zuwachs an technischen Machtpotentialen (so der Genetik) zusammen. Beides befördert die Anonymisierung der Macht, d. h. ihre Ablösung von einem zur Herrschaft legitimierten und begrenzten Kreis von Personen. „Das Für-sich-Werden der Macht hat staatsrechtlich Volkssouveränität und Problematisierung staatlicher Ordnung überhaupt, soziologisch die industrielle Gesellschaft mit ständig wachsendem Machtpotential zur Vor-
9 Ebd., S. 275.
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aussetzung. Mit der Anonymisierung der Machtträger und der Entpersönlichung der Funktionen in der arbeitsteiligen Großgesellschaft steigert sich das Können des einzelnen und seiner Mittel nicht nur, es wird selber zu einer Institution, zu einer ungreifbaren Institution freilich, weil ihr die legitimen Rückhalte fehlen."10 Die generationenübergreifende Folge der Vergesellschaftung der Macht entbehrt nicht der Ironie. In der wissenschaftsgestützten Industriegesellschaft und in der durch Facheliten gestützten Massendemokratie ist die Konsequenz vergesellschafteter Macht spätestens in der nächsten Generation eine Informalisierung der Macht. Formell soll Macht funktionalisiert und damit von den persönlichen Eigenarten emanzipiert werden, was sie auch wird. Aber informell wächst dadurch, ob gewollt oder ungewollt, den einzelnen und ihren inoffiziell entstehenden Netzwerken mehr Verfügungsgewalt zu, als je bestanden hat. Und diese Verfügungsgewalt darf offiziell nicht als legitimiert gelten, höchstens als pragmatisch unvermeidlich toleriert werden. Die Vergesellschaftung der Macht, die in den 20er Jahren zu Recht gegenüber ihren Vergemeinschaftungsversuchen im Nationalsozialismus oder Bolschewismus als der Ausweg galt, hat ihren eigenen Preis der Freiheit. Auch in der gesellschaftlichen Emanzipation der Macht wird potentiell alles zum Machtphänomen, aber auf andere Weise als in den Gemeinschaftsprojekten. Was dort durch funktional eindeutige Inklusion in die Gemeinschaft und Exklusion aus der Gemeinschaft (eben durch Freund-Feind-Verhältnis) politisiert wurde, wird hier alles durch Öffentlichkeit politisierbar, d. h. in ambivalenter, nicht schon an sich eindeutiger, sondern nur pragmatisch von Verfahrensschritt zu Verfahrensschritt entschiedener Form, die nicht situativ, wohl aber der prinzipiellen Möglichkeit nach revidierbar bleiben kann. Das Auf und Ab der durch Chancengleichheit erhöhten Erwartungen an die Politik als besonderer Sphäre wird nicht minder als die damit einhergehenden großen Enttäuschungen von der Politik als organisierter Sphäre in der Öffentlichkeit thematisierbar. Es gibt immer wieder generationenweise derartige Thematisierungswellen zur Aushandlung der Grenze zwischen dem durch Öffentlichkeit Politisierbaren, der Möglichkeit von Politik einerseits, und andererseits dem, was historisch konkret in den Verfahren der Politik als besonderer Sphäre der Moderne Gewicht erhält, also als Politik realisiert wird. Statt mit persönlicher oder zumindest funktionaler Entschiedenheit den FreundFeind-Dualismus zu exekutieren, entstehen diffuse und sich wandelnde Gegnerschaften oder Koalitionen derer, die in der Öffentlichkeit als Proponenten und Opponenten für dies oder das in Erscheinung treten, sich ansonsten aber als Doppelgänger allzumenschlich ähneln. Alles Große des ganz Anderen wird diplomatisch kleingehackt in unendliche Trippelschritte, die gestisch als Schreiten in lächelnder Zeitlupe drapiert vorgestellt werden können. Das Erhebende der Gemeinschaftsbewegungen
10 Ebd., S. 281 f.
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geht verloren. Die Tiefe des existentiellen Selbstgefühls wird auf der Oberfläche von Interaktionen zwischen jedermann austauschbar. Man kennt alle diese kulturkritischen Einwände aus den Ideologien der Gemeinschaftsprojekte, aber sie kehren hier nicht als die totale Alternative zur Vergesellschaftung der Macht wieder, sondern als die generationenweise Entfremdung und geschichtliche Antwort auf diese Entfremdung. Es ist gerade die generationenweise Verstetigung der Emanzipation der Macht, die zur Wiederbelebung der Grenzen der Vergesellschaftung führt. Die formelle Emanzipation der Macht wird informell wieder von Individuen und deren neuen Gemeinschaftsbeziehungen abhängig. Was sich informell an Individualisierung und Vergemeinschaftung ereignet hat, sucht neue gesellschaftliche Anerkennung, kann selbst wieder zur formellen Emanzipation der Macht werden, wofür der Institutionenmarsch der 68er, ihre Integration, ein Beispiel wurde, auch wenn sie kaum ihren ursprünglichen Intentionen entsprach. Von welchem Charakter, welcher Intentionalität und Effektivität, sind die als ungreifbare Institutionen Nachrückenden, ihre informellen Netzwerke, ihre neuen Gemeinschaftsbeziehungen? - Diese Frage stellt sich in jeder Generation neu. Heutzutage, angesichts der Globalisierung durch den Weltmarkt und mehr noch den spekulativ verselbständigten Finanzmarkt etwa, ist die postnationale Wiederbelebung eines Kommunitarismus Ausdruck dieses Bedürfnisses nach einer neuen Balance. Ebenso wird wieder die Individualisierung des Verhaltens aufgewertet, ja, sogar - bei aller grundsätzlichen Ambivalenz, positiv bewertet als Umgangsweise mit der Risikogesellschaft überhaupt.11 Wichtiger, als ein Happy End zu entwerfen, ist es, die strukturelle Gefahr zu benennen, die in der Emanzipation der Macht auch besteht, und die nicht weniger totalitär ausschlagen könnte, als es die radikalistischen Moderneprojekte im Namen einer Existenz- oder Sachgemeinschaft waren. Plessner sieht die Gefahr einer neuen Gleichartigkeit, einer anderen Form von Homogenisierung. Diese Gefahr entsteht durch die intermediäre „Angleichung der staatlichen Verwaltung" an die schon „betriebsförmig gewordene Wissenschaft und Technik". Die Homogenisierung liegt jetzt also in der gleichen Betriebsförmigkeit der für Innovationen wichtigsten Tätigkeitsarten. Mit dieser Betriebsform läßt sich einerseits ökonomisch umgehen, indem man sie dem Markt überläßt. Dies kommt nicht nur einer Abdankung des Politischen gleich, sondern kann zu einer Auflösung der Vielzahl von Wertsphären führen, die als modern gilt. Aus der Marktform der Wirtschaft als besonderer Sphäre würde dann die Vermarktung der Gesellschaft. Die liberale Verteidigung der Marktwirtschaft heißt aber Ablehnung einer Marktgesellschaft, deren Homogenisierungsform nicht minder total werden könnte, als es die Freund-Feind-Verhältnisse radikaler Gemein-
11 Vgl. Ulrich Beck, Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung, Frankfurt/M. 1993, V.Kapitel: „Subpolitik - Die Individuen kehren in die Gesellschaft zurück", S. 149 ff.
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schaftsprojekte waren, die sich durch den Staat - nicht als öffentliches Verfahren, sondern als Apparat - totalisiert haben. Diese gefährliche, d. h. nicht einfach probabilistisch als Risiko berechenbare Tendenz, wird heutzutage wirtschaftsneoliberal unter dem Titel einer alternativlosen Globalisierung diskutiert. Damit ist gemeint, daß die allgemein homogenisierende Betriebsform in sich betriebswirtschaftlich und in ihren Außenbeziehungen allein weltmarktförmig zu handhaben sei, was nicht nur den Ausfall des volkswirtschaftlichen Regulierungsrahmens bedeutet, sondern die Kapitulation des Politischen überhaupt hervorrufen könnte. Wir haben es so nicht mit dem Versuch einer totalen Politisierung der Moderne nach einem Gemeinschaftsmodell, sondern mit einer totalen Ökonomisierung der Moderne zu tun, die fälschlich mit der modernen Gesellschaft identifiziert wird. 12 In beiden Fällen, dem der totalen Politisierung oder dem der totalen Ökonomisierung, wird die Moderne als eine Pluralität von Wertsphären durch eine alles homogenisierende Form monopolistisch aufgelöst. Aber in diesem Monopolanspruch auf die Moderne bestand gerade das Ausgangsdilemma im Kampf zwischen Liberalismus, Nationalsozialismus und Bolschewismus seit dem Beginn des 20.Jhs. Der Kampf zwischen diesen drei ideologischen Grundrichtungen hat Weltkriege, totalitäre Diktaturen und Kalten Krieg gekostet. Liberalismus kann heute nicht unhistorisch heißen, diesen Preis erneut in Kauf nehmen zu wollen. Mit der homogenisierenden Betriebsform läßt sich auch politisch umgehen, und der Versuch, so zu verfahren, wird durch die Tendenz zur Vermarktung von allem geradezu provoziert. Indessen ist die Politik, hier als institutionalisierte Wertsphäre der Moderne genommen, darauf schlecht vorbereitet, leidet sie doch in sich an einem Legitimitätsdilemma. „Die Durchrationalisierung wächst, aber mit ihr der Appell an sie. Gerade deshalb droht der parlamentarischen Demokratie in den funktionsteiligen Großgesellschaften der ständige Umschlag in den totalen Staat, der die im System des offenen Pluralismus anonym gewordene Macht an die Kommandogewalt einer hierarchischen Befehlspyramide und damit an einen legitimen Kreis von Personen binden will." 13 Rationalisiert man also das gestiegene Anspruchsniveau der Chancengleichheit durch, entsteht in der Folge eine Ausweitung der Staatssphäre in dem traditionellen Sinne einer hierarchischen Organisation. Diese Ausweitung, die im Effekt auch schon wieder Bürgerfreiheit einschränkt, führt intern zu einer betriebsförmigen Straffung durch Hierarchisierung. Letztere wiederum begünstigt, daß sich die Exekutivgewalt von ihrer parlamentarischen Kontrolle verselbständigt. Das Projekt des sozial anspruchsvollen Wohlfahrtsstaates hat im Hinblick auf seine Generationen übergreifende Fernwirkung nicht nur die Ausweitung der tradi-
12 Vgl. H.-P. Krüger, Perspektivenwechsel. Autopoiese, Moderne und Postmoderne im kommunikationsorientierten Vergleich, Berlin 1993, II. Teil. 13 H. Plessner, Die Emanzipation der Macht, a. a. O., S. 280.
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tionellen Staatssphäre als Folge gehabt, sondern auch deren Bürokratisierung und Verselbständigung der Exekutive, ohne daß die parlamentarisch-demokratische Legitimation damit hätte Schritt halten können. Man kann einen Augenblick lang wenigstens seine eigenen parteipolitischen Wünsche suspendieren, um dieses über Dekaden akkumulierte Strukturproblem zu sehen. D e r überbordende Wohlfahrtsstaat ist seit den 80er Jahren im angloamerikanischen Raum, wo er traditionell nie stark ausgebildet worden war, und seit den 90er Jahren im kontinentaleuropäischen Raum, wo er für die Befriedung nach dem 2. Weltkrieg zentral war, zurückgedrängt worden, inzwischen mit der ins Gegenteil umschlagenden Globalisierungswelle. 14 Die Verselbständigung der Exekutive scheint zudem inzwischen die normale Politikform geworden zu sein, wenn man an die europäischen und weltpolitischen Gipfeltreffen denkt. Den realen weit- und europapolitischen Folgen dieser Treffen entspricht inhaltlich keine parlamentarische und öffentliche Kontrolle mehr, die nur in nationaler F o r m organisiert ist. Man muß und kann dieses Problem auch dann sehr ernst nehmen, wenn man persönlich mit den Inhalten dieser bestenfalls formal gedeckten Exekutivbeschlüsse größtenteils einverstanden ist. Sie sind strukturell und mental nicht so verstetigt, daß sie sich nicht in ihrer Folge in ihr Gegenteil verkehren können, eben wieder in einen totalen Staat, nach dem doch längst das Bedürfnis erneut wächst. Dieses Bedürfnis fängt immer minoritär an, wie denn sonst, damit kann man sich nicht beruhigen. Denkt man beide Gefahren, die der totalen Vermarktung und die der totalen bürokratischen Exekutivgewalt zusammen, ist es nicht mehr schwer, sich die Popularität vorzustellen, die eine gemeinschaftsideologische Bewegung dadurch finden kann, daß sie sich gegen beide Gefahren wendet. Auch die gesellschaftliche Emanzipation der Macht führt, spätestens in der Generationenfolge, zur Wiedergeburt der Grenzen der Vergesellschaftung, eben zu einer informell ansetzenden Individualisierung und Vergemeinschaftung, und auch dies ist an sich weder gut noch schlecht. Wir kommen strukturell und mental nicht aus der Grundkonstellation heraus, nicht aus diesem proportionsbedürftigen Gefüge zwischen einander anzumessenden Vergesellschaftungen, Vergemeinschaftungen und Individualisierungen. Eben in dieser anzumessenden Proportion besteht die Geschichtsbedürftigkeit jeder sich im Nachwachsen kulturell auch entfremdenden Generation. Hier hat die Moderne eine Lösungsform für das anthropologische Problem zu entwickeln und nicht umgekehrt die Philosophische Anthropologie einer bestimmten Modernisierungsart zu folgen. Wir leben in der „Herausbildung einer noch nicht wieder ins Gleichgewicht gekommenen pluralistischen Gesellschaft, d. h. einer G e sellschaft offen miteinander konkurrierender Wertsysteme. Zu dieser unabgeschlos-
14 Vgl. bereits Jürgen Habermas, Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung utopischer Energien, in: ders., Die Neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt/M. 1985, S. 141 ff.; ders., Die postnationale Konstellation, Frankfurt/M. 1998, II. Teil.
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senen Transformation in eine Gesellschaft ohne vorgegebene Autorität, d. h. (in eine Gesellschaft) der vollendeten Aufklärung, paßt die Scheu vor einer Fixierung (des) menschlichen Wesens und seiner Bestimmung in einem nicht mehr revidierbaren Sinne. Was vom Standpunkt autoritäts- und traditionsgebundener Weltordnung und Gesellschaftsverfassung sich als Schwäche, Unentschlossenheit, Ratlosigkeit lind Angst ausnimmt, erhält im Aspekt der werdenden Gesellschaftsordnung den Wert der Stärke und des Mutes zur Freiheit."15 Mit dem Ende der Nachkriegszeit und der Weltanschauungskriege noch in der Ära des Kalten Krieges stehen wir vor den kontinentalen und globalen Ungleichgewichten einer hoffentlich pluraler werdenden Gesellschaft. Die ihr immanenten Gefahren sollte niemand im Namen einer political correctness wegreden. Plessner jedenfalls hat dies nicht getan und sich auch während des Kalten Krieges vor niemandes ideologischen Karren spannen lassen.
6.4. Das Balance-Problem der Vergemeinschaftung von Macht: sportive Spielformen in der Öffentlichkeit Man kann das anthropologische Problem, um der Individualisierung willen Gemeinschafts- und Gesellschaftsformen miteinander verschränken, kulturelle Entfremdung und geschichtlichen Selbstausdruck in der Generationenfolge miteinander austarieren zu müssen, in der traditionellen Moderne auch so mißverstehen, daß man die dazu nötige politische Macht nochmals selber zu vergemeinschaften sucht. Die provokative Einladung hierzu sind alle Bemühungen, eben diese politische Macht einseitig zugunsten der wirkungsmächtigsten Vergesellschaftungsform, der Marktwirtschaft, zu funktionalisieren. „Maßlose Erkaltung der menschlichen Beziehungen durch maschinelle, geschäftliche, politische Abstraktionen bedingt maßlosen Gegenentwurf im Ideal einer glühenden, in allen ihren Trägern überquellenden Gemeinschaft."16 Für derartige Vergemeinschaftungsversuche der Macht sind insbesondere diejenigen ansprechbar, die noch in der Ausbildung ihres Selbst dank einer soziokulturellen Rolle stecken, ohne bereits den Widerspruch zwischen Rolle und ihren Rückbezügen auf die Individualisierung ausreichend erfahren zu haben. Die bloß gesellschaftliche Funktionalisierüng von Leistungen, deren personaler und individueller Humus verschlissen wird, löst nicht die Sinnfrage und befriedigt nicht das Ausdrucksbedürfnis der nachwachsenden Jugendlichen, um so weniger, wenn sie kulturell keine Kultivierung von spielerischen Lebensformen erlernt haben. Nicht nur die Autoritätshungri-
15 H.Plessner, Über einige Motive der Philosophischen Anthropologie (1956), in: GSVIII, S. 128. 16 Ders., Grenzen der Gemeinschaft, a. a. O., S. 28.
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gen wird es zu Vergemeinschaftungsversuchen der Macht ziehen, auch nicht nur die auf allzumenschliche Weise nach Außeralltäglichem Süchtigen oder dafür empfänglich Leidenschaftlichen, sondern mehr noch die auf unbedingte Weise Übermenschliches Erstrebenden, sofern sie ihr außerordentliches Engagement ins Politische wenden und uneingeschränkt mit ihrem je eigenen Individualisierungsproblem verbinden (vgl. 4.15., 4.16). „Unter Radikalismus verstehen wir allgemein die Überzeugung, daß wahrhaft Großes und Gutes nur aus bewußtem Rückgang auf die Wurzeln der Existenz entsteht; den Glauben an die Heilkraft der Extreme, die Methode, gegen alle traditionellen Werte und Kompromisse Front zu machen. Sozialer Radikalismus ist daher die Opposition gegen das Bestehende, insofern als es immer einen gewissen Ausgleich zwischen den widerstreitenden Kräften der menschlichen Natur einschließt und den Gesetzen der Verwirklichung, dem Zwang des Möglichen gehorcht. Seine These ist Rückhaltlosigkeit, seine Perspektive Unendlichkeit, sein Pathos Enthusiasmus, sein Temperament Glut. Er ist die geborene Weltanschauung der Ungeduldigen, soziologisch: der unteren Klassen, biologisch: der Jugend." 1 7 Diese Motivationslage im Zugang zur Macht ist von vornherein der Aufgabe, durch Macht Extreme lebenserhaltend zu verschränken, schlecht gewachsen, dafür aber für deren einseitigen Gebrauch um so offener: „Der Radikalismus sieht in der Behauptung der Macht in jedem Fall eine Gewissenlosigkeit, als Rationalist und Moralist mit schlechtem, als Irrationalist und Immoralist mit,gutem' Gewissen." 18 Je vielfältigere Verkörperungsmöglichkeiten gesellschaftlich verfügbar sind, um so größer ist der Drang, durch Prioritätensetzung selegieren zu können, und zwar so, daß sich der hier und heute nötige Leibesausdruck durch eine zweifellos höhere oder tiefere Weihe auszeichnen läßt. Während der kategorische Konjunktiv (vgl. 1.10.) in der Gesellschaft konjunktivisch zu zerfließen scheint, so daß er vor lauter Fraglichkeit nicht mehr beantwortbar wird, gerinnt er gemeinschaftlich zu einem kategorischen Imperativ, der die Frage nach sich beantwortet, indem er den leiblichen Sinnen die nach der gemeinschaftlichen Werteordnung passenden körperlichen Sinne (vgl. 1.1.) eindeutig zuordnet. Verschwindet gesellschaftlich die Antwort in der Frage, verschwindet gemeinschaftlich die Frage in der Antwort auf die Körper-Leib-Differenz. Die Gemeinschaftsbindung ist wie ein Schutzpanzer, der sich um die Antwort legt und die Frage zum Erlöschen bringt, nach innen die Aufrichtung des Leibes zur Haltung, nach außen die Instrumentierung der gesellschaftlich verfügbaren Körper. Diesem Dualismus fehlt der Spielraum des Individuums und die Kippbewegung ins ungespielte Lachen und Weinen (vgl. 4.16., 4.17.). Aber er verwandelt alle möglichen Übel in das eine Übel, dessen Wurzel mit Stumpf und Stiel herausgerissen werden zu
17 Ebd., S. 14. 18 Ebd., S. 19.
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können scheint. Diese Zuspitzung auf eine einzige ausschließende Alternative ist der Mechanismus, auf traditionell moderne Weise Politik zu machen. Der mentale Dualismus ermöglicht die Aufrüstung der Seelen zu der politischen Mechanik, nicht nur die äußere, sondern auch die gesellschaftliche, schließlich die eigene Natur ihm entsprechend zu manipulieren. Die Zwischenzeit der politischen Mechanik wird durch die typisch modern anvisierte Herrschaft der Zukunft über die Vergangenheit legitimiert.19 Statt sich der Tradition alter Zeiten zu unterwerfen, also Aufbruch in die Zukunft, immer mit diesem kleinen Restproblem, daß man erst einmal die Gegenwart aus einem Dualismus heraus manipulierbar werden lassen muß. Der allgemeine Friede soll dann später ausbrechen, etwa nachdem die arische Rasse die Weltherrschaft übernommen haben wird, oder nachdem das Weltproletariat seine Herrschaft zur Beseitigung aller Klassenantantagonismen gebraucht haben wird usf. Angesichts nicht mehr der Tradition, aber des künftigen Glückes und im Lichte eines alles sezierenden Dualismus wird die Gegenwart eindeutig manipulierbar. Es gilt nur noch, entweder bist Du Freund oder Feind der jeweiligen Modernisierungsbewegung. Radikale haben einen privilegierten Zugang zum Absoluten, zu dem Unbedingten der Geschichtlichkeit, das alles andere bedingt und das sie bestimmen zu können vermeinen. Sie erfüllen damit noch ein religiöses Bedürfnis nach dem Absoluten, aber nicht mehr auf symbolisch heiligende Weise, sondern auf dem Wege einer höchst profanen Selbstermächtigung. Insofern sind die radikalen Bewegungen für oder wider die Moderne doppelt kodiert. Sie sprechen - noch oder bereits wieder - religiös Bedürftige an, aber auch - schon und erneut - alle diejenigen unter den allein profan Rechnenden, die sich durch aktives Mitwirken oder zumindest Mitlaufen von der Bewegung etwas versprechen, falls sie aufsteigt und dann Posten zu vergeben haben wird. Die Radikalen sind in dem Sinne die Modernen, daß sie das Absolute, das in der sakralen Symbolik dem Machbaren entzogen war, profanisieren, ins hier und heute Machbare bringen. Sie profitieren nicht wirklich von vormodernen Quellen, sondern von der gemeinschaftlich integrierenden Indienststellung bereits modern vergesellschafteter Ressourcen. Insbesondere die Wissenschaften, Technologien und Künste dienen dem außeralltäglichen Schaucharakter, die Vergemeinschaftung der Macht aufzuführen und den haltlos vergesellschafteten Individuen als Halt anzubieten. Wenn man die radikal gemeinschaftsorientierten Bewegungen, ihre Attraktivität und destruktive Dynamik, nicht einfach als vormodern abqualifizieren kann, dann fällt einem die anthropologisch konstitutive Problematik innerhalb der Modernisierungsvarianten auf. Wenn die profane Selbstermächtigung die konstitutiven Differenzen zwischen Gemeinschafts- und Gesellschaftsformen und zwischen kultureller Entfremdung und geschichtlichem Selbstausdruck der Generationen identitär auf-
19 Vgl. Reinhard Koselleck, Vergangene Zukunft. Frankfurt/M. 1979.
Das Balance-Problem
der Vergemeinschaftung
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zulösen versucht, kehrt sich die so monopolisierte Modernisierung gegen die Ermöglichung menschlichen Daseins selber. Die anthropologische Verträglichkeit von Modernisierung entsteht erst im Maße der Pluralisierung möglicher Verschränkungen zwischen Gemeinschafts- und Gesellschaftsformen in der kulturellen Entfremdung und dem geschichtlichen Selbstausdruck der nachwachsenden Generationen. Statt die politische Macht, wie in der traditionellen Moderne des Westens in unserem Jahrhundert geschehen, nochmals entweder einer bestimmten Vergesellschaftsungsart oder einem bestimmten Gemeinschaftsmodus zu unterwerfen, muß sie selbst im Zeichen dieser Pluralisierung legitimatorisch begrenzt und dafür legalisiert werden. Dies betrifft sowohl die öffentlichen Verfahren als auch die Kunst politischer Urteilspraxis als auch die Ubersetzungsfunktion des Rechtsmediums im trans- und sub-nationalen Problemgefüge (vgl. 5.6., 6.2.). Im Unterschied zu der alten kontinentaleuropäischen Kulturkritik muß man für die Frage der gesellschaftlichen Integration von Gemeinschaftsbedürfnissen die vor allem nach dem 2. Weltkrieg massenhaft signifikant gewordenen Phänomene des Tourismus, der Sport-, Spiel- und Unterhaltungsindustrien, der sexuellen Emanzipationen und der Popkulturen außerordentlich hoch veranschlagen. Die gewiß problematische Kapitalisierung dieser Phänomene darf nicht davon ablenken, daß es hier um neue Formen und Potentiale für die Kultivierung und Zivilisierung der KörperLeib-Differenz geht. Der Mangel am breitesten Zugang zu solchen Formen und Potentialen hat in früheren Zeiten die kurzschlüssige Umlenkung und Entladung des gemeinschaftlichen Ausdrucksbedürfnisses der Nachwachsenden in Politiken und Kriegen begünstigt. Man muß sich angesichts des totalitär diktatorischen Ausgangs der Vergemeinschaftungsversuche der politischen Macht fragen, wie das anthropologisch begründete Gemeinschaftsbedürfnis derart kulturell ausgelebt werden kann, daß es sich nicht einseitig auf die Okkupation des Politischen ausrichtet, wodurch das Politische für seine Verschränkungsleistung freizubleiben vermag. Zudem könnte eine bestimmte Art der Kultivierung des Gemeinschaftslebens zu einer mit der Vergesellschaftung kompatiblen, weil zivilisierteren Gemeinschaftsform führen. Plessner hat beide Fragen exemplarisch am Thema des Sports in der Industriegesellschaft erörtert. „Der Sport ist nicht besser oder schlechter als die Gesellschaftsordnung, der er entstammt und für die er einen Ausgleich darstellt. ... Sie gehören zusammen: Seine Rekordsucht ist ihre Rekordsucht. Man wird ihn nicht ändern, ohne den Mut und die Kraft zu haben, auch sie zu ändern. Er ist ihr Gegenbild und sie seine Gegenwelt, und das Urteil, das ihn verdammt oder bewundert, verdammt und bewundert auch sie."20 Gewiß wirkt Sport ausgleichend dem „gestörten Körper-
20 Helmuth Plessner, Die Funktion des Sports in der industriellen Gesellschaft (1956), in: G S X , S. 166.
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Epilog: Die Souveränitätsfrage in der Ermächtigung zu geschichtlichem Tun
gefühl" entgegen, das dem industriegesellschaftlichen Ungleichgewicht „zwischen geistigen Möglichkeiten und körperlichen Beanspruchungen" in der Arbeitswelt entspringt. Ebenso wirkt er dem „Bewußtsein, auswechselbar zu sein, nur noch nach der Leistung gemessen zu werden", entgegen, insofern er die ganze Person und deren Individualität als den Hintergrund der Leistung öffentlich zur Erscheinung bringt und damit auch sozial Aufstiegschancen eröffnet. Schließlich kompensiert Sport den einseitigen „Intellektualismus" der wissenschaftlich-technischen Welt, nicht indem er umgekehrt einseitig verführe, sondern indem in ihm so etwas wie eine andere „Integration" von Verschränkungsmöglichkeiten der Körper-Leib-Differenz zum Vorschein kommt. 2 1 Dies lenkt - bei aller kompensatorischen und damit reproduktiven Funktion des Sports für die Industriegesellschaft, die in der Entwicklung kommerzieller Sportindustrien greifbar ist - , doch die Aufmerksamkeit auf den Gegencharakter in dem Gegenbild des Sportes zu dieser Gesellschaft. Was in der industriellen Leistungsgesellschaft unterdrückt wird und nach den politischen Katastrophen von der politischen Bühne zurückgedrängt war, kam und kommt in den massenmedialen Sportveranstaltungen öffentlich zur Erscheinung. „Darum tendieren die Bedürfnisse nach Erholung und sozialem Kontakt, nach Aggression und Spiel, nach Wettstreit und Selbstbestätigung, nach Heldenverehrung zur Öffentlichkeit und finden ihre Erfüllung im Sport." 2 2 Dabei ist von besonderem Interesse, daß Sport „gewissermaßen eine dem Arbeitscharakter der Gesellschaft, der Arbeitsgesellschaft gegenüberstehende zweite Gesellschaft aufbaut, ein gesellschaftliches Verhalten, das Spielcharakter hat": Dieser Spielcharakter wird aber nicht ungebunden entfaltet, sondern der gesellschaftlichen Leistungsorientierung entsprechend darauf eingeschränkt, als „Basis" einer „neuen Arbeitswelt" zu dienen. 2 3 Es ist aber nicht nur die begrenzte Rückgewinnung des Spielcharakters menschlichen Verhaltens, die in den öffentlichen Sportveranstaltungen begegnet, sondern auch eine „ethische Perspektive": „Sportiv beträgt sich jemand, der den Gegner achtet, fair behandelt, seine eigenen Chancen nicht kleinlich wahrnimmt und die Regeln einhält, auch wenn ihm daraus Nachteil erwächst, ja, wenn er vor allen Dingen verlieren kann." 2 4 Diese ethische Dimension, sofern sie denn nicht aus anderen Gründen in die Regel zum Foul verkehrt wird, paßt zu dem und stilisiert den „Pluralismus der heutigen Gesellschaft": In einer pluralen Gesellschaft ist der andere „formal" zu nehmen, eben „nichts anderes als der Mit- und Gegenspieler, ein in gleicher Weise sich fügendes Gegenglied einer durch Regeln frei begrenzten Situation". Allerdings wird dieses
21 Vgl. ebd., S. 150-153. 22 Ebd., S. 154. 23 Vgl. ebd., S. 158. 24 Ebd., S. 162.
Macht als die Relation der Unbestimmtheit zu sich
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Spielverständnis dem „neutral-formalen Funktionswert" der Leistung gemäß sogleich wieder auf Sportivität eingeschränkt, so daß man aus „Beruf und Arbeit einen Sport machen" kann25, womöglich auch in Grenzen Politik sportiv gestalten kann. Dieser philosophisch-anthropologische Zugang zu Phänomenen öffentlicher Sportspiele läßt sich gewiß auch für die so wichtigen popular cultures entwickeln. Worauf es mir hier allein ankam, war zu zeigen, daß die richtige Problemstellung, durch anthropologisch erwartbare Verschränkungspotentiale aus den üblichen Dualismen herauszukommen, in der Philosophie ansonsten unauffällige Phänomene endlich zum Vorschein bringt und dafür geeignet ist, die über Jahrhunderte geschlagenen Schlachten nicht wiederholen zu müssen. Es gibt Potentiale zur Verschränkung von Gesellschafts- und Gemeinschaftsformen, die ein plurales Zusammenleben ermöglichen können und deren Spielcharakter die Grenzen der bisherigen Arbeits- und Leistungsgesellschaft aufzuzeigen vermag. Nicht das Politische ist das erste Erprobungsfeld, aber Kultur kann es sein, und warum sollte die Zivilisierung aus der Kultur kommend nicht auch den Politikstil ändern können? - Dies ist doch längst der Fall, wenngleich häufig zum Leidwesen der alten Intellektuellenkulturen nicht aus diesen. Nicht darin besteht das Problem, ob die Anstöße aus den höher oder weniger, spezieller oder allgemeiner gebildeten Expertenund Subkulturen kommen, sondern darin, ob sie durch lebendigen Spielcharakter den überkommenen Dualismus und seine nihilistischen Erben zu unterlaufen vermögen (vgl. 0.3.), ohne die Grenzen an ungespieltem Lachen und ungespieltem Weinen ins Jenseits zu transzendieren, wo das Potential zum Unmenschlichen beginnt.
6.5. Macht als die Relation der Unbestimmtheit zu sich So wie Plessner nach dem 2. Weltkrieg die der wesdichen demokratischen und sich pluralisierenden Gesellschaft immanenten Gefahren aufgezeigt hat (vgl. 6.3.), hat er anhand seiner philosophisch in den 20er Jahren erst entstehenden Anthropologie auch schon die Gefahren kritisiert, die sich aus der Totalisierung gemeinschaftsideologischer Instrumentierungsversuche der modernen Gesellschaft ergeben hatten (6.4.), und die dann auch tatsächlich in der Gestalt stalinistischer und nationalsozialistischer respektive faschistischer Diktaturen realisiert worden sind. Wenn es heute um die Jahrhundertbilanz geht, dann fällt mir keine Philosophie ein, die sich auf ähnlich großartige Weise in den geschichtlichen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts bewährt hätte, natürlich im vorhinein, nicht im Mitlaufen mit den jeweiligen Siegern, was keine philosophische Leistung, sondern eher Propaganda ist. Damit komme ich nun auf Plessners originäre philosophische Leistung zurück, nämlich auf die Umstellung der Machtfrage, wie sie sich folgerichtig aus seiner Philosophischen Anthropologie ergibt.
25 Vgl. ebd., S. 163 f.
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Epilog: Die Souveränitätsfrage
in der Ermächtigung
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Tun
Gewöhnlich wird das Thema Macht, wie schon erwähnt, als die Frage nach einer Verfügungsgewalt aufgefaßt, die es einem erlaubt, Interaktionen mit anderen zu bestimmen. In diesen Interaktionen kann man legaler oder legitimer Weise und in erster oder letzter Instanz dank der Gewalt- oder Sanktionsandrohung andere bestimmen. Dadurch legt man sich selbst darauf fest, überhaupt bestimmen zu wollen und sich hier und jetzt gerade so zu bestimmen. Macht wird derart als die Macht des Könnens zu etwas Bestimmtem verstanden. Sie erscheint als eine Art der Bestimmung von anderen dank eines bestimmten Könnens von einem selbst. Insofern hat man sich selbst zu diesem Können auch bestimmt. Die Selbstbestimmung geht so in der Relation zwischen Selber-bestimmen-zu-können und selbst Bestimmt-zu-werden auf. Selbstbestimmung erscheint, so genommen, dem Bewußtsein als ein Problem der Entscheidung, sich selbst aus den Möglichkeiten seines Könnens heraus für eine Bestimmung zu entscheiden, wodurch man sich selbst und in seinem Verhältnis zu anderen festlegt, dabei womöglich aus taktischen Gründen die Festlegung maskiert. In der Inszenierung eines Entscheidungsdramas für das Bewußtsein überschneiden sich der Machtpositivismus von Carl Schmitt26 und die Existentialontologie Martin Heideggers. Während der eine gleichsam als Hobbesscher Beobachter von außen auf die letzte theologische Glaubensbindung hinauswill, hält der andere als Teilnehmer seiner Existenz einen fundamentalontologischen Führungskontakt mit dem Sein dank einer kleingeschriebenen Transzendenz.27 Beide, Schmitts und Heideggers Zugang, begegnen sich im Entscheidungsproblem, dessen Dramatisierung noch aus der Überwältigung durch die Bewußtseinsphilosophie stammt. Demgegenüber stellt Plessner die Machtfrage von der Bestimmtheitsrelation zwischen Anderen und einem Selbst auf das Problem um, eine Relation zur eigenen Unbestimmtheit zu finden. Dies liegt nur in der Konsequenz der Philosophischen Anthropologie, die um die Spielfreiheit in der Differenz zwischen dem eigenen Körper und Leib kreist.28 Insofern erwächst die Machtfrage als ein Folgeproblem aus der
26 Vgl. Norbert Richter, Spiel und Kampf in der politischen Anthropologie Helmuth Plessners. Eine systematisch motivierte Untersuchung mit einem Seitenblick auf Carl Schmitt, Freie Universität Berlin, Fachbereich Philosophie und Sozialwissenschaften I (Magisterarbeit in Philosophie), Berlin 1998. 27 „Sein ist das transzendens
schlechthin.
Die Transzendenz des Seins des Daseins ist eine ausge-
zeichnete, sofern in ihr die Möglichkeit und Notwendigkeit der radikalsten
Individuation
liegt." Martin Heidegger, Sein und Zeit (1927), Tübingen 1985, S. 38. 28 Nach Plessners aktiver Zeit ist es vor allem Michel Foucault, der auf andere Weise damit ringt, die Vergesellschaftung der Macht und Macht als Spiel begreifen zu können. Vgl. M. Foucault, Sexualität und Wahrheit I: Der Wille zum Wissen (1976), Frankfurt/M. 1977, S. 113 ff. Foucault kommt aber erst in seinem Spätwerk dazu, die für die Spielkonzeption nötige Spielfreiheit individuierter Personen gegenüber der Machtstruktur aus ästhetischen Selbstpraktiken des Körperleibes verstehen zu können, mit deren Thematisierung Plessner in den 20er Jahren begann.
Macht als die Relation der Unbestimmtheit
zu sich
253
Frage nach der Freiheit, das allé, auch die relativ Ohnmächtigen, weil in der Machtrelation Bestimmten, haben. Es handelt sich um die Freiheit von sich, um den Spielraum gegenüber seiner tradierten Selbstbestimmung, und der Freiheit zu sich, um den Spielraum zu einer womöglich anderen Selbstauffassung zu kommen. In der Freiheit gegenüber und zu sich selbst kommt das Andere des Selbstseins inmitten der eigenen Selbstbestimmung vor, nämlich als die Möglichkeit zu einem anderen Selbstsein und zum Anderen des Selbstseins überhaupt. Erst dadurch wird der Rückgang frei auf den eigenen Körperleib als das Andere der selbstbewußten Seinsart und als eine andere Selbstbeziehung, die am Rande der Möglichkeit, selbstlos zu sein, liegt. „Mensch-Sein ist das Andere seiner selbst Sein. Erst seine (des Menschen: H P K ) Durchsichtigkeit in ein anderes Reich bezeugt ihn als offene Unergründlichkeit. Man darf diese Einsicht nicht rationalisieren bzw. banalisieren, daß man sie dahin umbiegt: Macht ist erst Macht auf dem Hintergrunde von Ohnmacht; selbst Sein ist erst Selbst-Sein auf dem Grunde eines Nichtselbstseins. Man darf weiterhin dieser Einsicht nicht die Form einer Fundierung geben, als ob das Ohnmächtige das Mächtige trüge oder gar aus sich hervorgehen ließe; dann wäre ja das Prinzip der Unentscheidbarkeit preisgegeben und ein Primat der (ontologischen) Philosophie anerkannt. Und schließlich, was ebenso auf den Primat einer Philosophie hinausliefe, Macht und Ohnmacht, Zurechnungsfähigkeit und Unzurechnungsfähigkeit stehen nicht im dialektischen Verhältnis zueinander. Keines von beiden ist das Frühere. Sie setzen einander nicht mit und rufen einander nicht logisch hervor. Sie tragen einander nicht und gehen nicht ontisch auseinander hervor. Sie sind nicht ein- und dasselbe, nur von zwei Seiten aus gesehen. Zwischen ihnen klafft Leere. Ihre Verbindung ist Undverbindung und Auchverbindung. So als das Andere seiner selbst auch er selbst ist der Mensch ein Ding, ein Körper, ein Seiender unter Seienden, welches auf der Erde vorkommt ... Physisch ist er sich ebenso nah - und fern, wie seine einheimischen Regionen der Lebendigkeit ihm nah - und fern sind. Er ist auch das, worin er sich nicht selbst ist, und er ist es in keinem äußerlicheren und geringeren und nachgeordneten Sinne." 2 9 Die Undverbindung, dank der wir uns unvertretbar als je eigener Leib und vertretbar bis zur Selbstlosigkeit als Körper, also in einem enormen Spektrum des Lebendigen, erleben können, wird von einer dem Körperleib exzentrischen Position aus ermöglicht. Gleichwohl können wir diese Bewegungsmöglichkeit nur als utopische, da aus der zentrischen Funktionsmitte unseres Körperleibes heraus imaginieren. Dazwischen liegen, wie wir (im 4. und 5. Kapitel) gesehen haben das an der Mitwelt Faßbare, die Verdop-
29 H. Plessner, Macht und menschliche Natur, a. a. O., S.225 f. Vgl. H.-P. Krüger, Die Leere zwischen Sein und Sinn: Helmuth Plessners Heidegger-Kritik in „Macht und menschliche Natur" (1931), in: W. Bialas/W. Stenzel (Hg.), Die Weimarer Republik zwischen Metropole und Provinz. Intellektuellendiskurse zur politischen Kultur, Weimar 1996, S. 177-199.
254
Epilog: Die Souveränitätsfrage in der Ermächtigung zu geschichtlichem Tun
pelung der Körper-Leib-Differenz als persona und Individuum und die interaktiven Verdoppelungen der Personalität, kurzum: die soziokulturelle Lebensform. In der endgültigen Feststellung dieses Vermittlungsreigens zwischen der exzentrischen Positionalitätsform und der rezentrischen Funktionsmitte des Körperleibes würde die lebendige Undverbindung der Körper-Leib-Differenz wie in einer Marionette erlöschen. „Die Menschen erreichen zu jeder Zeit, was sie wollen. Und indem sie es erreichen, ist schon der unsichtbare Mensch in ihnen über sie hinweggeschritten. Seine konstitutive Wurzellosigkeit bezeugt die Realität der Weltgeschichte."30 Die „monistischen oder pluralistischen Kompositionsmodelle", die die Undverbindung einem Vorrang opfern, um sich entscheiden zu können, mögen sich selbst „beruhigen", aber sie tun dies, indem sie das Spiel der geschichtlichen Selbstfindung aufgeben, was nur generationenweise gelingen kann. „Als exzentrische Position des In sich - Uber sich ist er das Andere seiner selbst: Mensch, sich weder der Nächste noch der Fernste - und auch der Nächste mit seinen ihm einheimischen Weisen, auch der Fernste, das letzte Rätsel der Welt."31 Will man Plessner als immanenten Kritiker der Bewußtseinsphilosophie begreifen, empfiehlt es sich, die Passagen anzusehen, die er, zunächst noch im Anschluß an Kant, formuliert: Es gehe um den bei Kant „zeitlosen Grundakt der freien Selbstnahme". 32 Diesen Akt transformiert nun aber Plessner im Anschluß an Georg Mischs Fassung von Wilhelm Diltheys Lebensphilosophie geschichtlich: „In der Fassung seiner selber als Macht faßt der Mensch sich als geschichtsbedingend und nicht nur als durch die Geschichte bedingt."33 Bewußtseinsphilosophisch gerät man in die dramatische Fehlalternative, entweder an der Geschichte festzuhalten oder sich von ihr loszusagen.34 Indessen zeigt die geschichtliche Transformation der Entscheidungsstruktur, daß letztere „ihre Geschichte über sich" hat.35 Es kann weder die Geschichte fortgesetzt werden noch aus dem Nichts ein Sein angenommen werden, das eine neue Geschichte ontisch ermöglicht, wie es Heidegger noch in „Sein und Zeit" glaubte. Die Selbstnahme erfolgt in ihrer Geschichte frei, d. h. eben durch Individuation. Die Selbstermächtigung zur eigenen Geschichte ist Ausdruck der Individuation.
30 H . Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., S. 341. Vgl. ausführlich H . P. Krüger, Das Nirgendwo im Dasein. Joachim Fests Utopieverbot und Ingeborg Münz-Koenens Diskursanalyse utopischen Denkens, in: Weimarer Beiträge 44 (1998) 3, S. 462—468. 31 H.Plessner, Macht und menschliche Natur, a . a . O . , S.230. Vgl. näher H.-P. Krüger, The Second Nature of Human Beings: an Invitation for John McDowell to discuss Helmuth Plessner's Philosophical Anthropology, in: Philosophical Explorations, Vol I (2), May, 1998, p. 107— 119. 32 H . Plessner, Macht und menschliche Natur, a. a. O., S. 187. 33 Ebd., S. 188. 34 Vgl. Jacques Derrida, Marx' Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt/M. 1995. 35 H . Plessner, Macht und menschliche Natur, a. a. O., S. 187.
Macht als die Relation der Unbestimmtheit
zu sich
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Was wir unter dem Stichwort der kulturellen Entfremdung behandelt haben, ist ein Freiwerden von der tradierten Selbstbestimmung, und was wir als die geschichtliche Expressivität gefaßt haben, ist ein Freiwerden zu sich selbst, eben dadurch, daß man sich spontan wider die Entfremdung zum Ausdruck bringt. Beide, Entfremdung oder Ablösung und expressive Selbstfindung, sind nur peripher Bewußtseinsprozesse. Bewußtsein läuft in ihnen mit, ist aber nicht der Akteur dieser Körper-LeibDifferenz. Inmitten der Differenz zwischen Freiwerden von sich und zu sich stellt sich die Relation zur eigenen Unbestimmtheit ein, vorzüglich im ungespielten Lachen und Weinen (vgl. 4. Kapitel). Aus dem Verhalten zur eigenen Unbestimmtheit erwächst die Möglichkeit der Macht, über sich und zu sich kommen zu können 36 , d. h. souverän werden zu können. Souverän ist, wer seine Unbestimmtheit aushält, statt an seiner Stellung im Laufrad der Selbstbestimmung festzuhalten, und wer sich zu seiner Unbestimmtheit verhalten kann, indem er Spielraum in und mit ihr gewinnt. Genau zwischen dem Bestimmen-Können und Bestimmt-Werden liegt in actu dank der Unbestimmtheit lebensgeschichtlich die Individualisierung und generationengeschichtlich die Individuation. Die Unvertretbarkeit und Unteilbarkeit der Teilnehmer an einer geschichtlichen Situation entspricht der Offenheit der Frage nach ihrer Wesensbestimmung. Die alten Regeln ihrer Bestimmung gelten nicht mehr und die neuen noch nicht, weshalb es Sinn macht, von Unbestimmtheit zu reden. Man kann, solange man in dieser geschichtlichen Situation zu stehen zu kommen versucht, sie nicht erklären, aber deuten, ihr seiner Expression folgend einen Sinn abgewinnen. Aber diese Selbstfindung folgt keiner bestimmten Logik des Fragen und Antwortens, sondern antwortet spontan auf die offene Frage der Individuation. Man überläßt sich, nolens volens, dem Ausdruck seines Körperleibes, etwa - wie in der DDR im November 1989, als die Mauer zwischen Ost- und Westeuropa fiel - dem Ausdruck des „Wahnsinns", wodurch überhaupt ästhetische und hypothetische Urteile wieder möglich werden: „Diese Unstimmigkeit tritt an der Gebrochenheit der menschlichen Transparenz hervor, von der man, da die Grenzen der Verständlichkeit und des Lebens mit den Grenzen der Erklärbarkeit und des Vorhandenseins nicht zusammenfallen, nicht sagen kann, wer für sie verantwortlich zu machen ist: das Leben in Kündung und Deutung oder die physische Natur." 37 Wir hatten im Spielen jeweils einen Zusammenhang zwischen noch gegenseitiger Bindung an eine Bestimmungsart und der Ablösung oder Freigabe des Verhaltens kennengelernt. Und wir waren im Lachen und Weinen den Grenzfällen menschlichen Verhaltens begegnet, in denen sich eine traditionelle Art von Selbstbestimmung auflöst. Im Lächeln ergab sich uns eine Allegorie auf die Möglichkeit der Souveränität.
36 Ebd., S. 191. 37 Ebd., S. 231.
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Was wir in dieser Phänomenreihe der Individualisierung durchlaufen haben, begegnet nun nicht mehr nur als lebensgeschichtliches Problem, sondern als das der geschichtlichen Individuation der soziokulturellen Ausdifferenzierung der Elementarrolle. Diese haben wir als verdoppelte kennengelernt, die sich zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft relativ statisch und zwischen Entfremdung und Geschichtlichkeit der Generationen dynamisch ausbildet. Die Individuation ist gleichsam im großen eine Individualisierung, in der kollektiv gelacht und geweint werden kann, in der es zwischen Gruppen und Generationen Kampfspiele gibt und womöglich auch die Vieldeutigkeit des Lächeln erneut entsteht. Abschließend zitiere ich die entscheidende Passage aus „Macht und menschliche Natur" zur geschichtlichen Neufassung der Macht über und zu sich, eben der Frage geschichtlicher Selbstermächtigung: „In dieser Relation der Unbestimmtheit zu sich faßt sich der Mensch als Macht und entdeckt sich für sein Leben, theoretisch und praktisch, als offene Frage. Was er sich in diesem Verzicht versagt, wächst ihm als Kraft des Könnens wieder zu. Was er an Fülle der Möglichkeiten dadurch gewinnt, gibt ihm zugleich die entschiedene Begrenzung gegen unendlich andere Möglichkeiten des Selbstverständnisses und des Weltbegreifens, die er damit schon nicht mehr hat." 38 Das ganze Selbstverständnis wird allein durch geschichtlichen Bruch fragwürdig. Anderenfalls hätten wir es nur mit Aspekten von uns zu tun, die das Prädikat der Geschichtlichkeit nicht verdienen. Der Verzicht auf die übliche Selbstbestimmung löst die Arten des Könnens von der bisherigen Sinnmotivation ab, wodurch uns Könnensarten frei verfügbar werden. Hier geht also die kulturelle Entfremdung ein. Die Expression schafft spontan einen Anfang, der in der lebendigen Natur des Menschen hier und heute liegt. Dieser Anfang kann eine neue Selbstbestimmung ermöglichen, zu der es auch kommen muß, aber auf dem Umwege der soziokulturellen Möglichkeiten. Insofern scheiden ««endlich viele andere Möglichkeiten durch geschichtliche Positionierung auch wieder aus. Man mißverstehe die Orientierung der Philosophischen Anthropologie darauf, sich zu seiner eigenen Unbestimmtheit zu verhalten, nicht als die Fixierung aufs Unbestimmte, denn eine derartige Fixierung wäre reine Negativität. Sie führte soziokulturell ins Leere und biotisch ins Nichts. Die Fixierung aufs Bestimmen ergibt demgegenüber für den Beobachter reine Positivität und für den, der sein je eigenes Leben zu führen beansprucht, reine Existenz. Die Fixierung aufs Bestimmen mag uns soziokulturell kompensieren für die uns als Naturwesen konstitutiven Mängel an instinktiver Vorangepaßtheit. Aber beide Fixierungen, philosophisch im Nihilismus und Positivismus respektive Existentialismus ausgedrückt, führen am menschlich Lebbaren vorbei. Sie können bestenfalls symbolisch Grenzen markieren, an denen früher religiöse oder mythologische Absoluta standen, uns im Leben zu
38 Ebd., S. 188.
Die verspätete Nation der Deutschen
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halten.39 Wir können nichts bestimmen, ohne eben dafür von uns Unbestimmtes in Anspruch zu nehmen, die uns geschenkte Körper-Leib-Differenz. Und wir erfahren auch nichts Unbestimmtes ohne den Kontrast zum Bestimmten, in das wir als Elementarrolle einstweilen hineinwachsen. Die Aufgabe, ein Leben zu führen, beginnt genau dazwischen, im Wechsel zwischen diesen beiden Mitgiften. Wir sind nicht, wer sich selbst erschaffen kann, und wir werden auch von niemandem entweder ins Nichts oder in die Fülle des Seins gehalten. Die Philosophische Anthropologie führt, in gleichzeitiger Abgrenzung von der existentialistischen wie auch positivistischen Dramatisierung der Entscheidungsmöglichkeit durchs Bewußtsein, das Verhalten zur eigenen Unbestimmtheit ein. Das Verhalten menschlicher Lebewesen wird durch die Körperleib-Differenz im Wechsel zwischen Erleben und Ausdruck möglich, und es bleibt solange lebbar, als diese Differenz erhalten statt zerstört wird. Was Plessner das Prinzip der Unergründlichkeit des Menschen, des homo absconditus nennt, ist nicht die Fixierung des Unbestimmten, noch weniger des Bestimmens, sondern diejenige Öffnung der dem menschlichen Leben eigentümlichen Differenz, die zurecht Geschichtlichkeit heißt. Sie ist die generationenweise außer alltäglich e Begrenzung der soziokulturell möglichen Verhaltensspiele am ungespielten Ausdruck der Körperleiber.
6.6. Die verspätete Nation der Deutschen: eine exemplarische Fallstudie zum Thema der Geschichtlichkeit, auch des homo absconditus der Philosophischen Anthropologie selber Es ist bekannt, daß sich die deutsche Nationalstaatsentwicklung politisch und sozialökonomisch im Vergleich mit Holland, Frankreich, England und selbst noch den USA - verspätet vollzogen hat. Obgleich bestimmte deutsche Städte in der Renaissance, Reformation und teilweise noch Barock-Zeit zu den Pionieren in Europa gehörten, fielen die deutschen Flächenstaaten in Mitteleuropa insgesamt zurück. Man erinnert sich der Reformation und Gegenreformation, des Dreißigjährigen Krieges, anderer äußerer wie innerer Kriege, schließlich des Untergangs des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation im Abdanken der Habsburger als deutsche Kaiser 1806 durch Napoleon. Man weiß auch um die kleindeutsche Lösung durch Bismarcks Reichseinigung von oben im Jahre 1871 und die dann explosionsartige Modernisierung Deutschlands auf allen Gebieten, die um die Wende zum 20. Jahrhundert internationale Anerkennung feierte. Schließlich ist auch bekannt, wie sich dieses enorme Machtpotential destruktiv in zwei Weltkriegen entlud, wie es sich in Verbrechen verkehrt hat, die, so zitiert Plessner Golo Mann, „in christlichen Zeiten
39 Vgl. zur „Existenz als Ort des Lesens der Chiffreschrift" Karl Jaspers, Philosophie III. Metaphysik (1932), München 1994, S. 150.
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Epilog: Die Souveränitätsfrage in der Ermächtigung zu geschichtlichem Tun
kein anderes Herrschaftssystem sich hat zuschulden kommen lassen"40, bis Deutschlands Teilung im Kalten Krieg zementiert und zum Hauptkampfplatz der Systemauseinandersetzung zwischen West und Ost wurde. Was bedeutet nun diese Verspätung im Vergleich zum Westen und diese destruktive Verkehrung des Machtpotentials der Zu-spät-Gekommenen, verglichen mit der Erwartung des christlichen Abendlandes an sich in geistig-kultureller Hinsicht? Diese Hinsicht ist Plessners Fokus, da er nicht als fremder Kritiker von außen, sondern als immanenter Kritiker, als selber deutscher Staatsbürger, auftritt. Er spricht daher bescheiden ironisch davon, daß die Etikette „Beitrag zur Geistesgeschichte des deutschen Nationalismus noch am wenigsten" seine Intention in diesem Buche „verderben" könne.41 Bedenkt man die Distanz der Philosophischen Anthropologie zum deutschen Idealismus und zur rein geisteswissenschaftlich verfahrenden Hermeneutik, sollte man besser von einem Beitrag zur habituellen Mentalitätengeschichte sprechen (vgl. 4.8.), die sich dem historischen Wandel im öffentlichen Verhalten zwischen leiblichen Ausdrucksformen und verkörpernden Erlebensformen in der Generationenfolge stellt (vgl. 5.6.-5.8.). Die habituell-mentalen Differenzen zwischen tradierten Kulturen sind nicht nebensächlich, sondern können Aufschluß zur Beantwortung der Frage geben, warum im äußeren vergleichbare Probleme - etwa die weltwirtschaftliche und politische Krise Ende der 20er und zu Beginn der 30er Jahre des 20. Jhs. - in verschiedenen Ländern verschieden beantwortet wurden, in den USA dann eben durch New Deal oder in Deutschland 1933 durch die nationalsozialistische Herrschaft. Die habituelle Mentalitätengeschichte interessiert also im Hinblick auf die öffentliche politische Kultur. Die Fallstudie zu den Deutschen ist exemplarisch für die Frage zu nehmen, die alle angeht, wie nämlich Macht nach der Säkularisierung und Pluralisierung legitimiert werden kann (vgl. 6.2.). Man kann die Ausgangslage der Verspätung wie folgt zusammenfassen: „Die wesentliche Differenz zwischen den Deutschen und den Völkern des alten Westens, die ihre nationalstaatliche Basis im 16. und 17.Jh. gefunden hatten ..., liegt in dieser Zeitverschiebung, die eine innere Verbindung zwischen den Mächten der Aufklärung und der Formung des Nationalstaates in Deutschland verhindert hat. Dadurch bildete sich ein Dualismus im Verantwortungsbewußtsein gegen den Staat und gegen die geistige Welt heraus, den wiederum das Luthertum und weiterhin die kirchliche Entwicklung nachhaltig verstärkten. Uns fehlten in den entscheidenden Jahrhunder-
40 Helmuth Plessner, Die verspätete Nation. Über die politische Geistes (1935/1959), Frankfurt/M. 1974, S. 26. (Abgesehen von soeben zitiert habe, und den Anmerkungen aus dem Jahre 1959 unter dem Titel „Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang erschienen.) 41 Ebd., S. 10.
Verführbarkeit bürgerlichen der Einführung, aus der ich war dieses Buch bereits 1935 seiner bürgerlichen Epoche"
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ten der Gestaltung einer neuen Welt, die sich gegen Mittelalter und Aristotelismus, gegen Kaiser und Reich durchsetzte, nicht die Männer (Leibniz!), aber die öffentlichen Gewalten, die ihnen in vorgegebenem gesellschaftlichen Rahmen eine gesamtdeutsche Wirkung hätten sichern können." 4 2 Das Ausgangsproblem besteht demnach darin, daß im deutschen Fall die Formierung des Nationalstaates habituell-mentalitätengeschichtlich nicht mit der ersten Aufklärungswelle in Europa zusammenfiel, die in Westeuropa im Namen des Naturrechts erfolgte. Das Naturrecht war noch religiös, als von Gott gegeben, und schon säkular, als von der Vernunft geteilt, zu interpretieren. Dadurch boten historisch die beiden mental höchsten Autoritäten, Christentum und Vernunft, Distanz zum positiv gesetzten Recht und zum realempirischen Treiben der Politiken als den zu beurteilenden Vorgängen. Das in Deutschland aber gleichzeitig große Defizit an den der Aufklärung entsprechenden öffentlichen Gewalten führte zur Ohnmacht der Aufklärer: Beispiel Leibniz. Daraus folgt der genannte Dualismus, nämlich einerseits dem kleinstaatlichen Absolutismus und Provinzialismus ausgeliefert zu sein und sich andererseits dagegen eine geistige Welt zu schaffen, der es an öffentlichem Austausch und öffentlicher Wirksamkeit fehlt. Die für alle Modernen interessante „Geschichte der Innerlichkeit" verfestigt sich bei den Deutschen über Generationen hinweg zu einer besonderen Kultivierung. Sie wird zu „der Quelle unserer höchsten Vermögen, der Philosophie und der Musik, deren Entfaltung mit dem Mangel der gesellschaftlichen Entwicklung in Deutschland auf das genaueste zusammenhängt." 43 Vergleicht man dieses Folgeproblem, die nicht nur sensible, sondern auch kompensatorische Kultivierung der Innerlichkeit, mit der westlichen Parallelentwicklung, fällt ein deutlicher Kontrast auf. Dort nämlich findet die Entfaltung des Gesellschaftsromans statt, werden praktische Wissenschaften wie die Politische Ökonomie entwickelt, bildet sich in der Öffentlichkeit und insofern objektiv ein Verhalten gegenüber dem publizistisch „zivilisierten Wort" heraus, „welches Ironie und vor allem Selbstironie, die spielerische Beweglichkeit in der sozialgesicherten Hülle des Ernstes, gestattet." 44 Hier, in Deutschland erlangen hingegen ersatzweise nur die Begriffsformen der Philosophie und die Subjektivitätsformen der Musik und Poesie eine international vergleichbare Blüte, deren Wirkungsgeschichte bis heute anhält. Sie bilden die an der Wende vom 18. zum 19. Jh. in Deutschland besonderen Formen der „Weltfrömmigkeit", die dem „Mißverhältnis zwischen Glaubensspaltung und evangelischer Staatskirche" entsprungen war. 45
42 43 44 45
Ebd., S. 14. Ebd. Ebd., S. 15. Ebd., S. 65.
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In welcher, nicht einfach späteren, sondern - habituell-mentalitätengeschichtlich gesehen - anderen Lage kommt es nun aber 1871 zur Bismarckschen Reichsgründung? Diese Reichsgründung habe keine Staatsidee gehabt, jedenfalls nicht in dem westlichen Sinne, Naturrecht respektive Menschenrecht und positives Recht durch Gewaltenteilung ausbalancieren zu müssen, wohinter sowohl ein pessimistisches als auch ein optimistisches Menschenbild stehen konnte. Der Ausfall der Staatsidee 1871 entsprach - schon wieder und immer noch - dem vergleichsweisen Fehlen einer deutschen Gesellschaft und insbesondere dem Fehlen einer emanzipierten bürgerlichen Schicht. Die Ideale der Dichter und Denker aus der klassischen Zeit waren einerseits eher weltoffen als national und hatten andererseits in keiner Trägerschicht reproduziert werden können, sieht man vom bildungsbürgerlich spießigen Zitat derselben ab, das Nietzsche so gerne geißelte. Für dieses Defizit an Gesellschaft, Bürgertum und entsprechend zivilisierter Mentalität trat „die Rechtfertigung der eigenen Lebensformen aus der Geschichte ein". 4 6 Daher die Redeweise von Reichseinigung, die auf die Tradition des römischen Reichs und dessen Germanisierung zurückgreift, und nicht nur von der Gründung eines Nationalstaates, wie ihn andere auch haben. Der Sieg der Germanen über die Römer als historisches Vorbild legt das Deutsche auf das urtümlich Völkische im Gegensatz zur künstlichen Zivilisierung durch Recht und Manieren fest, an die der Erbfeind Frankreich angeknüpft zu haben schien. Das organismisch Gemeinschaftliche und historisch natürlich Gewachsene soll die zivilisierte Künstlichkeit der französischen Gesellschaft und die den Weltmarkt beherrschende Rechenhaftigkeit der englischen Gesellschaft schlagen. Anachronistischer als durch den Rückgang auf eine vorindustrielle Imperialgeschichte aus römisch-germanisch-christlicher Zeit konnte der deutsche Nationalstaat nicht legitimiert werden. Wenn man aus dieser, völkisch fehlinterpretierten Reichstradition wirklich etwas hätte machen können, dann ein halbes Jahrtausend früher unter vorindustriellen Bedingungen in Lehnsverhältnissen und im Namen des christlichen Abendlandes. All das aber spülte der deutsche Nationalstaat gerade fort in seiner immens beschleunigten Industrialisierung, in seiner tatsächlich neuartigen Modernisierung durch Wissenschaft und Technik und damit in seiner Säkularisierung. Ließ man die historischen Kostüme weg, fiel Deutschland in nur zwei Generationen voll in die Säkularisierungsfalle, die der modernen Entwicklung überhaupt eigen ist, in Deutschland aber die geschichtlich organische Legitimation zerstörte: „Das Säkularisationsgefälle, eine gesamteuropäische Erscheinung und in den führenden Industrienationen des 19.Jhs. unter dem Einfluß der Naturwissenschaften mit den gleichen sozialen Auswirkungen verknüpft, wurde in Frankreich und England anders aufgefangen und gewissermaßen besser vertragen als in dem national nur schwach integrierten Deutschland, dem ein Rückhalt an politischer Aufklärung, an
46 Ebd., S. 15.
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politischem Humanismus fehlte. Als Nationalstaat zu jung, als Reich eine nicht gegenwärtige, zwischen Erinnerung und Erwartung gehaltene Größe, sah es sich in seiner geschichtlichen Selbstauffassung durch die Auflösung des christlichen und nachchristlichen Geschichtsbildes im Zuge der fortschreitenden Verweltlichung in seinem geistigen Lebensnerv getroffen. In keinem anderen europäischen Land ist deshalb die Problematik des Historismus und die Kritik des Fortschritts mit solcher unerbittlichen Konsequenz entfaltet und zu Ende gedacht worden wie in Deutschland." 4 7 Diese Entmythologisierung der Geschichte zerstört sie, die Geschichtsauffassung, zunächst als Heilsgeschichte, sodann als die eine Weltgeschichte, die noch Vernunftoder Geistesmaß besaß, und verläuft sich schließlich im „Pluralismus von Geschichtsverläufen" (ebd.), die sich nur von Gegenwart zu Gegenwart perspektivengebunden erschließen. Damit war aus der besonderen geschichtlichen Legitimation des preußischen Kaiserreichs der geistige Atem heraus, falls er je darinnen war. Worauf die geisteswissenschaftliche Hermeneutik im tiefsten Inneren der Geschichtlichkeit stieß, das entpuppte sich einem einheimisch positivistischen oder westlichen Fremdbeobachter, der inzwischen auch schon in der Äußerlichkeit des Sozialdarwinismus denken mochte, nur als eine psychologische Variante seiner positiven Selbstauffassung von Machtbeziehungen. Positivistisch betrachtet konnte man es auch auf einen Konkurrenzkrieg mit der deutschen Seele in den Tanks ankommen lassen, bevor nämlich die Deutschen zu groß würden. Man kennt den 1. Weltkrieg als Ergebnis und weiß auch, wie wenig ungelegen es den Engländern sein mußte, wenn sich ihre Hauptkonkurrenten gegenseitig schwächten. Der zweite nationalstaatliche Versuch der Deutschen in den 20er Jahren kommt einer Periode der gesellschaftlichen Entsicherung gleich. Insofern die Deutschen den Weltkrieg überstanden hatten, wehrten sie sich in Bürgerkriegen für und gegen die Weimarer Republik, fielen sie Rationalisierungs-, Reparations-, Inflations- und Krisenwellen zum Opfer. Sie wurden unter dem Namen der Demokratie gleichsam in den schlimmsten aller möglichen Naturzustände versetzt, in den von Thomas Hobbes beschriebenen. Aus diesem, Wölfen angedichteten, Naturzustand wußte nur die Avantgarde die „Verhaltenslehren der Kälte" zu ziehen, gegen die warme Gemeinschaftskultur der Väter, die in den 1. Weltkrieg geführt hatte. 48 Aber selbst die avantgardistischen Vatermörder der 20er Jahre brauchten noch den Ausgleich, wenigstens indirekt, durch rechte oder linke Gemeinschaftswärme, so von Ernst Jünger, Carl Schmitt und Martin Heidegger einerseits bis Ernst Bloch und Bertolt Brecht andererseits.
47 Ebd., S. 16. 48 Obgleich in traditionell dichotomischer Denkweise vgl. Helmut Lethen, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt/M. 1994.
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Man versteht hier, inmitten dieses Humus von Konflikten, die historischen Wurzeln von Plessners eigenem Antrieb, eine Philosophische Anthropologie der Verschränkung zu entwerfen, die der Geschichte bedarf. Es wird aber auch deutlich, wie minoritär, wie wenig resonanzfähig dieser Versuch in diesem historischen Milieu mit diesen über Jahrhunderten aufgebauten Mentalitäten bleiben mußte. Je irrationaler, je disfunktionaler, je erbarmungsloser die Vergesellschaftungsformen seinerzeit über die bereits geschlagenen Deutschen hereinbrachen, und je stärker dieses Kältebad der Vergesellschaftung mit der falschen Politik der Westlichen Alliierten im Zeichen von Versailles mit dem Westen identifiziert wurde, desto wahrscheinlicher konnten sich Großteile der Deutschen dazu provoziert fühlen, gegen die Demokratie und den Westen in ihre alten Mentalitäten zurückzufliehen, um eine neue Entscheidungsschlacht, die Revanche der Ressentiments, vorzubereiten. Natürlich zeugt das Sichselbst-Festlegen auf Revanche nicht gerade von Klugheit, um so weniger von Souveränität, aber man nennt die (sich von Tacitus' barbarisch teutonisch) deutsche, vor allem protestantisch deutsche Spielunfähigkeit nicht zufällig Treu-Doofheit. In dieser unglücklich zerrissenen Lage fallen letzte mentale Autoritäten, deren man gerade jetzt zur Orientierung bedurft hätte, aus. Auch die Westmächte hatten in der gleichen Periode schwere Wirtschafts- und Politik-Krisen, aber sie konnten auf ein Minimum an zivilisierten Formen der Auseinandersetzung in der Mehrheit zurückgreifen, die generationenübergreifend in den Lebenswelten habitualisiert und in den öffentlichen Verfahren der nationalen Politikbestimmung institutionalisiert worden waren. Sie hatten darin zu Recht ihr Selbstvertrauen. Ist dieses erst einmal gesichert, kann die Avantgarde auch kulturell entsichern, während sie in Deutschland Gefahr lief, daß schon morgen in ihrem Namen Revolver entsichert wurden. Nach mentaler Autorität gefragt, auf die sich die Weimarer Republik hätte stützen können, fällt einem nach der säkularen Auflösung der überweltlichen Autorität Gottes (im 1. Weltkrieg) zunächst die innerweltliche Autorität der Philosophie ein, die ja in den frühmodernen Jahrhunderten die Theologie abgelöst hatte. Indessen war inzwischen auch die Philosophie als Instanz innerweltlicher Autorität zerstört worden. Sie war als diese Instanz zunächst für Teile der Gebildeten im 19. Jh. zerstört worden durch Kierkegaard, Marx und Nietzsche, bevor diese Zerstörung nun unter fast allen gebildeten Multiplikatoren um sich griff und massenwirksam keine andere Erwartung an die Philosophie mehr gerichtet wurde, als die der Bestätigung des relativistischen Zeitgeistes, daß eben alles eine Machtfrage sei. Kierkegaard hatte Hegels Geistesphilosophie in die Individualisierung der Existenzführung aufgehoben, was die Tradition negativer Theologie im Protestantismus wiederbelebte und bei Heidegger in „Sein und Zeit" die Form einer Entscheidungsstruktur gewinnt. Marx hatte Hegels Geist in die revolutionäre Praxis des Klassenkampfes aufgelöst, mit den bekannt ambivalenten, durch das Drama der sowjetischen Revolution weltgeschichtlichen Folgen. Und Nietzsche hatte die Vernunft einem ästhetischen Elitismus geopfert, der sich gegen die christliche Tradition des Abendlandes
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nihilistisch wendet, um den Lebenswillen als produktiven Machtwillen bejahen zu können. Nichts von alledem, weder das privat sich individualisierende Existenzdrama noch der proletarisch-intellektuelle Gemeinschaftsradikalismus noch der alles ästhetisierende Avantgardismus der Leere, konnte der Weimarer Demokratie mentale Autorität verleihen. Im Gegenteil, es ging all diesen inzwischen vielen kleinen Kierkegaards, Marxen und Nietzsches um die Überbietung an Destruktion, der gegenüber die letzten Neukantianer und Wissenschaftspositivisten als schal, langweilig, brav, um nicht zu sagen: machthungrig gelten mußten. „Wenn aber keine der im Laufe der letzten zweihundert Jahre für unangreifbar gehaltenen Grunddimensionen mehr stichhalten sollte: Vernunft und Geist, Freiheit und Geschichte, aus denen die aufstiegswilligen Schichten ihre Zuversicht und ihre Legitimation geschöpft hatten; wenn die Selbstentfremdung aus Selbstüberdruß so weit vorangetrieben war, daß sie zum l'art pour l'art wurde, war der Augenblick gekommen, in welchem die Freiheit freiwillig kapitulierte. Welcher Diktatur und Autorität sie sich dann beugte, entschieden die Machtverhältnisse. Wie die Dinge um 1933 lagen, konnte das revolutionierte Kleinbürgertum unter der Führung einer Handvoll Parias und einer Mythologie des rassistischen Ressentiments den Sieg an seine Hakenkreuzfahnen heften." 49 Zweifellos haben die Westalliierten nach dem 2. Weltkrieg nicht ihren Teil der Fehler wiederholt, die nach dem 1. Weltkrieg begangen worden waren. Vor allem die Amerikaner haben dafür gesorgt, daß der Bundesrepublik Demokratie, D-Mark und Westintegration in die NATO quasi geschenkt wurden, und vor allem Frankreich hat dafür gesorgt, daß es in wechselseitiger Ergänzung mit Deutschland zum Kern der Westeuropäischen Union wurde, die seit 1989 expandieren und zu einer globalen Wirtschaftsmacht werden konnte. Die Konzeption der sozialen Marktwirtschaft wurde zu einer pragmatisch erfolgreichen Brücke, auf der sich das westliche Modell freier Märkte, das seit den 30er Jahren den New Deal zu erlernen begann, mit den kommunitären, den föderalen, den korporativen und den kollegialen Tendenzen verbinden ließ, die es auch in der deutschen Geschichte gab. Alle diese deutschen Traditionen waren übrigens noch in Hegels Rechtsphilosophie empfohlen worden, um Substanz und Reflexion in Modernisierungsprozessen vermitteln zu können, statt in den falschen Dualismus von entweder reiner Positivität oder reiner Negativität auseinanderzufallen. Gewiß hat es auch seit 1968, den Studentendemonstrationen in Frankfurt und Westberlin und dem Scheitern des Prager Frühlings, unter West- und Ostdeutschen einen Mentalitätswandel gegeben, der allerdings zunächst kaum als solcher intendiert war, wie das Wiederaufleben vom Wettlauf im Radikalsein zeigt, einer stereotypisch deutschen Tradition bis in den Fundamentalismus noch unter den Grünen der 80er
49 H . Plessner, Die verspätete Nation, a. a. O., S. 17.
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Jahre hinein. Bei allem Gegensatz zwischen O s t - und Westdeutschen hat es doch auf beiden Seiten schon vor 1989 eine gewisse Pragmatisierung der früher vorherrschenden Gemeinschafts- und Individualradikalismen gegeben, wie auch die Entwicklung nach 1989 unter der Mehrheit vermuten läßt. 5 0 Gleichwohl dürfen wir nicht übersehen, daß West- und Ostdeutsche im Kalten Krieg alles mögliche lernen konnten, nur keine Souveränität, am allerwenigsten im Plessnerschen Sinne, aber nicht einmal in dem für Franzosen, Engländer oder am besten Amerikaner gewöhnlichen Sinne. Souveränität zeigt sich vorzüglich erst in kritischen, also geschichtlichen Lagen, in die die Westdeutschen bisher kaum gekommen sind, sondern nun erst gemeinsam mit den Ostdeutschen geraten angesichts der Ausweitung und dem Ungleichgewicht in der europäischen Integration und angesichts der Globalisierung, vor der die soziale Marktwirtschaft nicht durch Besitzstandswahrung ohne Reformen verteidigt werden kann. Die Krise und damit Bewährung in der geschichtlichen Herausforderung kommt erst noch, und in ihr entfällt der Verweis auf Moskau oder Washington, die bisherigen Weltzentralen, entfällt die ganze Mentalität, immer nur der Stellvertreter und Trittbrettfahrer zu sein. Die Fortsetzung des Kalten Krieges in der deutschen Öffentlichkeit nach 1990 ließ kein Bewußtsein des Souveränitätsproblems erkennen, sondern dessen geschichtliche Verdrängung hinter den alten Schützengräben der D D R und der Bundesrepublik. Wer sein Gestern verteidigt, ja, vorgestern Recht gehabt haben will, gestaltet keine Zukunft, sondern ist historisches Kostüm. D e r jüngste Krieg um das Kosovo läßt erstmals breiter andere Töne hören. Wer in Deutschland seine Zukunft gestalten will, ohne in die alten Fehler der Deutschen zurückzufallen oder nunmehr im dualistisch einfach Entgegengesetzten zu landen, kommt an der Orientierung der Philosophischen Anthropologie auf souveräne Formen der geschichtlichen Selbstermächtigung nicht vorbei. Macht ist nicht gleich Macht, nur weil alles Macht ist, wie Nihilismus und modischer Relativismus versichern. Es ist nicht gleichgültig, ob Deutschland im Zeichen von Blut und Rasse, oder im Zeichen einer geschichtlich der Modernisierung anachronistischen Reichstradition, oder im Zeichen des Naturrechts, oder im Zeichen der Vernunft und des Geistes, oder im Zeichen eines liberal-kommunitären Ausgleichs der Individualisierungsmöglichkeiten legitimiert wird. Dies ergibt nicht nur verschiedene Deutschländer, sondern wegen der kritischen Masse und geopolitischen Lage Deutschlands auch ein Gewicht für verschiedene Europas und damit für verschiedene Zentren einer künftig multipolaren Weltgeschichte, deren „Revisionsmöglichkeit" 5 1 den Nachwachsenden hoffentlich erhalten bleibt.
50 Vgl. zu den ostdeutschen Lebensformen H.-P. Krüger, Demission der Helden. Kritiken von innen 1983-1992, Berlin 1992, insbesondere S. 2 9 - 6 3 . 51 H . Plessner, Macht und menschliche Natur, a. a. O., S. 232.
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Es war Plessners Souveränität, sich durch keine Nazigesetzgebung und auch durch keine typisch deutsche Opferideologie zu einem Juden gemacht haben zu lassen, sondern in seinen politisch-historischen Schriften als deutscher Citoyen zu uns als deutschen Staatsbürgern zu sprechen. Aus deutscher Selbstliebe in das ganz Andere zur westlichen Zivilisation muß nicht Selbsthaß werden, der noch immer stereotypisch deutsch, damit wohl perfektionistisch, aber nicht souverän wirkt. Wir sind, aber wir haben uns nicht. Wir müssen sein, aber wir könnten es auf eine andere Weise tun. Plessners kategorischer Konjunktiv steht jedem Sich-heraus-Reden entgegen, sei es auf einen Determinismus, sei es auf einen Okkasionalismus der zufälligen Gelegenheiten. Es ist der größte Skandal der deutschen Philosophiegeschichte, daß Plessners Philosophische Anthropologie, die seit den 20er Jahren leider im nachhinein wie keine andere Philosophie Recht behalten hat, noch immer als zweitrangig gilt, während die größten Irrungen und Wirrungen, etwa Heideggers Fehlen, als erstrangig gelten. Wie verblendet müssen wir eigentlich noch sein, um dem Souveränitätsproblem im Verhalten zur eigenen Unbestimmtheit zu entkommen? In den europäischen Religionskriegen haben gerade wir Deutsche als Europäer gelernt, die Unergründlichkeit Gottes, den deus absconditus anzuerkennen. Dafür gab es sowohl sakrale als auch säkulare Motive. Die positive Bestimmung, was unter Gott zu verstehen sei, fällt in den Religionsgemeinschaften verschieden aus, sofern diese nicht von vornherein negativ verfahren (etwa durch Bilderverbot). Den Deutungskonflikt kann man politisch zu Kriegen schüren, an denen die europäischen Staaten fast zugrunde gegangen wären und aus denen die großen Einwanderungsströme in die USA resultierten. Pragmatisch, also von den Folgen des Glaubens im Handeln her gesehen, ist es besser, gesellschaftlich die Unergründlichkeit Gottes gelten zu lassen, vor der alle möglichen Interpretationen als gleichwertige dastehen, der Fehlbarkeit des endlichen Menschseins entsprechend. Dies ist sakral mit der Uberzeugung kompatibel, daß wir, endliches und, wie Kant noch sagt, krummes Menschenholze, Heiliges nie einholen können, die Hybris der Gottesanmaßung nicht begehen dürfen, wie schon das griechisch antike Denken lehrt. Die Orientierung der Philosophischen Anthropologie an der Unergründlichkeit des Menschen, am homo absconditus, scheint zunächst nur die säkulare Konsequenz aus dem negativen Umgang mit dem Absoluten zu sein. Aus dem inzwischen innerweltlichen Kampf um die Antwort auf die Frage nach dem Menschsein wird die Konsequenz gezogen, die Frage offen zu halten, statt sie abschließend durch etwa die Vernunft, die individuelle Existenzführung, die Natur, die Geschichte, die Gesellschaft, den Klassenkampf, das Leben, das Blut oder was auch immer zu beantworten. Der Respekt vor der Unergründlichkeit des Menschen kann als die wichtigste Lehre aus dem „deutschen Weltanschauungskampf"52 des ausgehenden Jahrhunderts gelten.
52 H. Plessner, Die verspätete Nation, a. a. O., S. 30.
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Das Offenhalten der Frage nach dem Menschen könnte positivistisch plausibel sein, da es die gesellschaftliche Politik keinem positiven Bestimmungsversuch des Menschen durch ein Gemeinschaftsideal unterwirft und mit den Rechten der Individuen auf Freiheit von Beeinträchtigung (den sog. negativen Freiheitsrechten) harmoniert. Und dieses Offenhalten könnte auch hermeneutisch der existenziellen Würde des menschlichen Daseins Rechnung tragen. Der homo absconditus könnte als minima moralia gelten. Indessen hat die negative Fassung des Absoluten, nicht als des positiv in seiner Allmacht, Allwissenscheit und Allgüte zur realisierenden Gottes, sondern nun als des Unbedingten, des Unbestimmten und des Unendlichen im menschlichen Dasein, auch seine Kehrseite. Die profanen Modernisierungsfolgen führen gleichsam zur Abschaffung des Sakralen, das sich einer unberührbaren Symbolik verdankt, die sich der Bezeichnung und profanen Verwendung gerade entzieht. Eine bestimmte Symbolik des Sakralen mag noch individuell oder gemeinschaftlich Geltung beanspruchen, aber jedenfalls nicht gesellschaftlich und über der Geschichtlichkeit stehend. Man kann das, was statisch Gesellschaft im weiten, nicht nur marktorientierten Sinne heißt, und was dynamisch Geschichtlichkeit genannt werden kann, als die moderne Wiederentdeckung der negativen Fassung des Absoluten nennen. Diese Wiederentdeckung erfolgt angesichts der sich verkehrenden Experimente, die profane Moderne profan auf sich selbst anzuwenden. In der Gesellschaft und Geschichtlichkeit werden die positiv bestimmten Personalrollen der Individuen und der Gemeinschaften wieder unbestimmt, unendlich und unbedingt. Aber sakral wirkt diese negative Fassung des Absoluten nicht mehr. Sie entbehrt gerade der Symbolik, die der Selbstermächtigung im Profanen Grenzen setzt. Was im Sinne der Philosophischen Anthropologie offen bleiben muß, ist der moderne Ersatz für die traditionale Differenz zwischen Sakralem und Profanem. Die bisherigen Modernisierungsversuche kranken alle daran, daß sie diese Differenz nicht substituieren können. Der hermeneutische Sinn und die positivistisch zu beobachtende Funktion des Sakralen ist die Begrenzung der Selbstermächtigung von Menschen im Profanen, daß sie nämlich nicht endgültig sich selbst feststellen. Hat der Mensch vollständig, was er ist, und ist er vollständig, was er hat, erlischt seine Körper-Leib-Differenz. Es ist diese Unergründlichkeit des Menschen für sich, die ihn Bestimmtes entdecken und erfinden läßt. Er muß sich schon immer vorweg sein können, um Bestimmtes zu leisten. Darin liegt geschichtlich der Sinn und die Bedeutung der exzentrischen Position des Menschen. Es kann nur das Politische sein, wie es einer interkulturellen Öffentlichkeit entspringt, das die nötige Selbstbegrenzung des Menschen im Profanen vor seiner eigenen Unergründlichkeit zustande bringt. Im Politischen der prozeduralen Gewaltenteilung, in der Kunst, aus Gelegenheiten, historische Ereignisse zu machen, und in der unvollständigen Ubersetzung des Rechts zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft sind wir zwischen „einander heterogenen Kulturen" der Frage nach uns selbst
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„überantwortet". 53 In diesem Politischen beantworten wir sie so, daß wir sie geschichtlich verantworten können müssen. Die Einsicht, daß alles eine Machtbeziehung sei, ist nicht das vergebliche Ende, sondern der hoffnungsvolle Anfang der Diskussion, weil nicht Machtbeziehung gleich Machtbeziehung ist. Die totalitären Verkehrungen der Macht in unserem Jahrhundert haben gezeigt, daß die geschichtlich legitime Machtbeziehung antitotalitär ausgezeichnet werden muß. Eine derart politische Öffentlichkeit braucht auch eine interkulturell außeralltägliche Dimension, die das geschichtlich Errungene in der Frage hält. In diesem außeralltäglichen Charakter der politischen Öffentlichkeit könnte uns ein matter Abglanz des Sakralen in der Moderne doch noch begegnen, wodurch wir aus der „säkularisierten Vergottung des Menschen, die in der christlichen Uberzeugung von der Menschwerdung Gottes vielleicht ihr Ur- und Gegenbild hat" 54 , herauszutreten vermöchten. Nach der machtförmigen „Durchrelativierung" unserer geistigen Tradition von Selbstbestimmung bleibt weder Verzweiflung noch Nihilismus, sondern entsteht diese „neue Verantwortung": „das Wirkliche gerade in seiner Relativierbarkeit als trotzdem Wirkliches sein zu lassen." 55 Der „Verzicht auf die Vormachtstellung des europäischen Wert- und Kategoriensystems" kann ein „schöpferischer Verzicht" sein: „Europa siegt, indem es entbindet." 56 Plessners Phänomenologie möchte uns die Menschen dafür neu sehen, hören, wahrnehmen lehren, eben in dem Spektrum des kategorischen Konjunktivs. Dieses Spektrum enthält noch (verglichen mit der griechischen Antike) die Spur eines kosmologischen Schauens, das (nach Darwin) auf die geschichtlich zu erneuernde Einspielung (vgl. 3.12.) unserer Organisationsform und unserer Positionsform aufeinander verweist. Nur „sofern wir uns unergründlich nehmen, geben wir die Suprematiestellung gegen andere Kulturen als Barbaren und bloße Fremde, geben wir auch die Stellung der Mission gegen die Fremde als die noch unerlöste unmündige Welt auf und entschränken damit den Horizont der eigenen Vergangenheit und Gegenwart auf die zu den heterogensten Perspektiven aufgebrochene Geschichte." 57 Im Respekt vor der Unergründlichkeit des Menschen könnte eine Art von minima moralia aufscheinen, die die der pluralen Gesellschaft angemessenen Zivilreligionen auszeichnet. Die unfreiwilligen und katastrophischen Experimente der Moderne mit sich, die im Extremismus der verspäteten Deutschen in der ersten Hälfte des 20. Jhs. besonders exemplarisch zum Ausdruck gekommen sind, legen eine politisch geschichtliche Begrenzung des Profanen vor der inter kulturellen Öffnung der Frage
53 54 55 56 57
Ders., Macht und menschliche Natur, a. a. O., S. 191. Ebd., S. 150. Ebd., S. 163. Ebd., 164,182. Ebd., S. 161.
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nach dem Menschen nahe. Die lebenskritischen Versuche, die Moderne auf sich selber anzuwenden, führen zu der Lektion, das Profane selber vom Alltäglichen ins Außeralltägliche verdoppeln zu müssen, um es von dort, dem Profanisierbaren her, begrenzen zu können. Die selbstkritische Modernisierung der bisherigen Modernisierungen entdeckt die anthropologische Grenzfrage unserer Geschichtsbedürftigkeit, die Souveränität herausfordert.
6.7. Die philosophische Verschränkung des Bestimmten und Unbestimmten im Durchlaufen des Spektrums menschlicher Phänomene Die Einordnung statt Verselbständigung des Bewußtseins in den Lebenszyklus erhält sich auch und gerade in der uns Menschen spezifischen Geschichtlichkeit des Lebens. In dem Wechsel von der Bestimmtheit in Unbestimmtheit besteht die Eigenartigkeit geschichtlicher Situationen, die zwischen Geschichte erleiden und Geschichte machen, die zwischen Geschichte bedingend und durch sie bedingt werden liegen. Die naturphilosophisch herauszuarbeitenden Niveaus der Selbstorganisation von uns als einer Körper-Leib-Differenz erlöschen nicht, sondern erwachen gerade in der geschichtlichen Grenzsituation. In diesem Erwachen entsteht auch der Eindruck der außerordentlichen Intensität von Geschichtlichkeit und der spontane Anfang durch Expressivität. Genau hier, in der Geschichtlichkeit, wo die Geisteswissenschaft ihre einzigartige Domäne gegen die Naturwissenschaft zu haben glaubte, entdeckte Plessner deren naturphilosophische Fundierung. Für alle, die wir in einem Dualismus wie dem zwischen Natur und Geist erzogen worden sind, ist dies das Befremdliche an der Philosophischen Anthropologie. Gemeinhin wird gedacht, daß Natur das durch die Naturwissenschaft, also nach methodischen Regeln, positiv Bestimmte ist. Demgegenüber zeigt uns Plessner, wie die verschiedenen Niveaus natürlicher Selbstorganisation und Selbstreproduktion ins „Nichts" 58 führen. Die biotischen Zuordnungen zwischen Leibesaktivitäten von innen nach außen und Körperaktivitäten von außen nach innen brechen aus Instinktmangel auseinander. Eine Zuordnung aber zwischen den Interaktionen des Lebewesens in seiner Umwelt und in ihm selber ist nötig, damit es sich überhaupt verhalten kann. In diesem Sinne fällt der Mensch ins biotische ,Nichts'. Aber dank der Selbstreferenz des plastischen Gehirnes, die als Bewußtsein erlebt und im Spiel Verhalten wird, können derartige Zuordnungen neu gebildet werden. Dafür muß und kann eine soziokulturelle Bestimmung der exzentrischen Positionsform einspringen. Aber dieser kategorischen Not, daß wir infolge unseres innernatürlichen, rezentrische Natur durch exzentrische Natur aufbrechen-
58 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie (1928), Berlin 1975, S. 293.
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den Hiatus von Natur aus künstlich sind, könnte man auf soziokulturell auch andere Weise genügen. Das Kategorische ist im Plural des Konjunktivs der Kulturen zu verwirklichen. D e r Kategorische Konjunktiv fällt nicht nur im gesellschaftlichen Nebeneinander der Kulturen, sondern um so mehr im geschichtlichen Nacheinander vermeintlich ein und derselben Kultur und in den Ambivalenzen der Individualisierung auf. Gesellschaft respektive Geschichtlichkeit und Individualisierung führen ins Unbestimmte zurück und lassen insofern auch wieder das Naturwesen Mensch hervortreten. 5 9 Erinnern wir uns an den Anfang naturphilosophischer Überlegungen (vgl. 1.9., 3.4.): Als Lebewesen stehen wir vor dem Problem, ein Verhältnis zu unserer eigenen Grenze finden zu müssen, von Plessner Positionalität genannt. Dadurch behaupten wir durch Bewegungsmöglichkeit eine Position im Raum, statt etwa auseinanderzufallen oder krystallin zu erstarren. Wir heben uns dank der Grenzregion, die in beiden Bewegungsrichtungen zu passieren geht, in Richtung Leib und in Richtung K ö r per, von der Umwelt als etwas Lebendiges ab. 6 0 Dieses Raumproblem der Grenzregion ist unlösbar, wenn alle Bewegungen in entgegengesetzter Richtung gleichzeitig geschehen würden. Es wird durch die Zerlegung der gegensinnigen Bewegungen in ein zeitliches Nacheinander gelöst. Lebewesen behaupten ihre räumliche Bewegungsmöglichkeit dadurch, daß sie sich zeitlich schon vorweg sind. Sie behaupten ihren Eigenraum an Bewegungsmöglichkeiten in der Form einer Eigenzeit. 6 1 Reicht für die Koordinierung dieser Zeitrhythmik nicht mehr die instinktive oder instinktgestützt erlernbare Zuordnung zwischen den gegensinnigen Bewegungsrichtungen aus, und wird dank einem Zentralen Nervensystem in der Säugerevolution das Verhalten spielerisch ablösbar, müssen soziokulturelle Körper-LeibDifferenzen das naturgeschichtliche Monitum kompensieren. Es wiederholt sich nun, aber auf menschlicher Stufenleiter, das Zuordnungsproblem in der Sprache, nämlich zwischen Ausdruckssinn und Handlungsbedeutung. Was beim Menschen an bestimmter Zuordnung in der Elementarrolle erlernt wird, bleibt indessen nicht gemeinschaftsbestimmt, obgleich die Gemeinschaftsbestimmung unumgänglich ist. Wir haben gesehen, durch welche Phänomene hindurch Handeln-Gestalten-Sprechen, Spielen, Lachen und Weinen, Süchte und Leidenschaften, Lächeln - die eigenbenamte Elementarrolle bis zum Individuum ineffabile individualisiert werden kann. Die Individualisierung führt, gemessen an der gemeinschaftsbestimmten Rolle, erneut ins Unbestimmte. Und wir haben auch die soziokulturellen Ausdifferenzierungen der Elementarrolle verfolgt, wie nämlich das
59 Vgl. Robert Spaemann, Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ,etwas' und .jemand', Stuttgart 1996, S.23, 97, 264. 60 Vgl. H . Plessner, Die Stufen des Organischen, a. a. O., S. 103 ff. 61 Vgl. ebd., S. 180 ff.
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Doppelgängertum der gemeinschaftsbestimmten Rolle zunächst in der Gesellschaft bis auf Austauschbarkeit und Vertretbarkeit - inhaltlich unbestimmt wird. Aber selbst die Gesellschaft hat eine Zivilisationsgeschichte, und gäbe es Gesellschaft nicht, müßte sie im Generationenwechsel als Geschichtlichkeit erfunden werden. In der geschichtlichen Antwort auf kulturelle Entfremdung entstand erneut ein Bestimmungsversuch der Unbestimmtheit, die zuvor geschichtlich eröffnet wurde. Beide Phänomenreihen, die individuell und soziokulturell in die geschichtliche Unergründlichkeit führen, können unter dem Titel des homo absconditus zusammengefaßt werden. Je fremder uns die bisherige soziokulturelle Selbstbestimmung wird, je erfolgreicher wir die tradierten Verkörperungen technisch von ihren früheren Motivationen ablösen können, desto stärker heben wir ab zum Flug in eine Ferne, in der wir uns verlieren. Wir fliegen uns davon und versuchen, einen Horizont zu finden, vor dem die Flüge dem Leib wieder Sinn machen. Wir werden damit auf unsere naturphilosophische Mitgift, die Körper-Leib-Differenz, zurückgeworfen. Im Utopisieren, in der zur Entfremdung gegensinnigen Expression, beginnt ein neuer Schub an Verleiblichungen, um uns spontan in eine Balance zu bringen. Wir kommen so erst wieder in der Geschichte zu stehen. Der Leib, in dessen Unmittelbarkeit wir uns am nächsten zu sein glauben, ist unsere Schwerkraft, die uns die Gefahr zu fallen lehrt. Das menschenspezifische Medium, in dem wir den aufrechten Gang als Gattung erringen können, ist Geschichtlichkeit. In ihr werden wir uns als Fallende oder Steigende erst wahrnehmbar. Es gibt ausgestorbene, gefallene oder ohnmächtige Kulturen, auch Persönlichkeiten, und es gibt aufsteigende, siegreiche, Geschichte machende Gemeinwesen oder deren persönliche Verkörperung. Nicht das Bewußtsein antwortet und fragt durch Sprache als sein Werkzeug hindurch, als wären wir der Meister eines selbstischen Handwerks. Vielmehr kommen wir geschichtlich ins Fragen, wann immer die Körper-Leib-Differenz durch Ablösung auseinanderbricht, wir gleichsam zum Fluge auf Verkörperungen abheben. Vom Standpunkt der tradierten Leibesmotivationen sind die neuen ungewöhnlichen Verkörperungen die Gefahr des Fallens, vor der man warnen muß. Und wir gehen geschichtlich ins Antworten, insofern Expression eine erneute Verschränkung ermöglicht. Der Leibesausdruck selegiert und zügelt die Möglichkeiten der Verkörperung, sucht wieder Angemessenheit darin, mindestens dem Fall zuvorzukommen. Was im Bewußtsein stumm mitläuft, was mitsieht, ohne selbst gesehen zu werden, was mitfühlt, ohne darüber zu sprechen, ist die Körper-Leib-Differenz, von der das Bewußtsein nassauert, sobald es über sich selbst nachdenkt, in deren Dienst es aber auch nur steht. Mal folgt das Bewußtsein der Spontaneität des Leibesausdrucks, in der sich selber organisierende Lebewesen sind. Mal fungiert Bewußtsein auf dem indirekten Wege einer Verkörperung, wodurch wir uns von außen haben können, zu fassen kriegen. Beides ist aber nicht dasselbe, sondern der lebensfremde Kurzschluß des Bewußtseins auf sich. Unser stummer Begleiter, die Körper-Leib-Differenz, gibt sich - gemessen am Selbstbewußtsein - als selbstlos zu erkennen. Wenn nämlich das
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Selbst dem Körperleib im Lachen davonfliegt oder im Weinen in ihn hineinfällt, macht sich die Differenz bemerkbar. Zwischen diesen Grenzfällen läßt die KörperLeib-Differenz ihren Statisten, das Bewußtsein, auf die Bühne, als ob es das Subjekt, der Akteur von allem, wäre. Es darf die Einspielung unserer Organisationsform auf unsere Positionsform aktualisieren. Die Körper-Leib-Differenz entsteht in dem Maße, in dem die instinktiven und in diesem Rahmen erlernbaren Zuordnungen im Spielverhalten der Säuger frei verfügbar werden. Dieses biotische Nichts muß nicht nur kompensiert werden, sondern kann auch ausgeglichen werden. Es ist nicht das absolute Nichts, sondern diejenige biotische Selbstreproduktion, die sich im Spielverhalten für soziokulturelle Bestimmungen und deren Wechsel öffnet. Der Bruch liegt nicht zwischen Natur und Kultur, wie gewöhnlich gedacht wird. Er liegt innerhalb der Natur, wo „gleichsinnige" Natur „gegensinnige" Natur (vgl. 3.8.) aufbricht, weshalb wir von Natur aus der Kunst, ins Gleichgewicht zu kommen, bedürfen. Wir sind auf Bestimmung angewiesen, weil wir nicht schon bestimmt sind, wie es etwa instinktgestützt die Tiere in Ingeborg Bachmanns „Erklär mir, Liebe" sind. Sobald wir bestimmt sind, ist fernere Bestimmung, also das unserem Sein gemäße Werden, nur dadurch möglich, daß wir wieder in Unbestimmtes gelangen. Dementsprechend doppelt ist die philosophisch-anthropologische Auffassung vom Soziokulturellen, das uns zunächst in der Elementarrolle und Gemeinschaftsform als etwas Bestimmtes begegnet. Der Durchlauf durch die soziokulturellen Bestimmungen endet individuell und gesellschaftlich, respektive geschichtlich, im soziokulturell wieder Unbestimmten, das neue Bestimmung ermöglicht. Der Kreis schließt sich also genau da, wo er von den nachwachsenden Körperleibern für sich erneut eröffnet wird. Die Philosophische Anthropologie führt die Phänomene in einer solchen Kreisbewegung von Verschränkungen vor, statt neue Dualismen aufzubauen. Sie hat an keinem Kult mitzuwirken, etwa dem des an sich Unbestimmbaren, Unsagbaren, Unhörbaren etc. Auch das, was sie selbst die Unergründlichkeit des Menschen nennt, ist keine An-sich-Bestimmung des Unbestimmbaren, sondern stets nur das Un-, die Verneinung, des gerade Bestimmten, also was Hegel eine bestimmte Negation nennt. Noch weniger hat sich die Philosophische Anthropologie am Kult der Fixierung von etwas Bestimmtem zu beteiligen, etwa am Kult der Bestimmtheit durch existentielle Entschiedenheit oder gar durch binäre Schematismen, den sie schlicht für lebensgefährlich halten muß, was wir am Beispiel von Radikalismen diskutiert haben. Statt all der Kulte, die sich um dualistische Ausschließungen ranken, kümmert sich die Philosophische Anthropologie um diejenigen Verschränkungen, in denen sich die vermeintlichen Antipoden zu etwas Lebbarem zusammenfügen. Was menschliche Lebensführung ermöglicht, durchläuft das hier im Entwurf vorgestellte, gewiß nicht vollständige Spektrum menschlicher Phänomene. Es braucht lebensgeschichtlichen Prozeß. Das kategorische Ineinandergreifen von biotischen, soziokulturellen und geschichtlichen Ermöglichungsbedingungen zu zeigen, ist wohl der vergleichsweise
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unbequemere Weg als der, ins dualistische Horn zu blasen oder der Misanthropie das Wort zu reden: Man kann sich nicht so oft wiederholen. Menschen haben kein Wesensmonopol und sind keines gegenüber anderen. Aber sie brauchen ein Spektrum an Verhaltensspielen, das zwischen den Grenzen am ungespielten Lachen und ungespielten Weinen liegt, in dessen Durchlaufen sie lebensgeschichtlich auf sich zukommen können und das sie vor dem Überstieg in das Jenseits dieser Grenzen bewahrt. In diesem Spektrum können sie Souveränität gewinnen. Scheiden wir nun in diesem Band letztmalig mit einem anschaulichen Riickbezug der Themen der Philosophischen Anthropologie auf die modernere Kunstgeschichte, deren Entdeckungen ihr, wie wir im 2. Kapitel sahen, wichtig ist. Dort war auch schon auf einen besonderen Stellenwert der Werke von Max Beckmann und Francis Bacon verwiesen worden, bedenkt man das mögliche und wirkliche Ausbleiben der Verschränkung von Leibes- und Körpersinnen. Plessners persönliche Vorliebe für Max Beckmann hat Frau Monika Plessner in ihren Erinnerungen dokumentiert.62 Für die Besinnung auf die Frage nach der geschichtlichen Selbstermächtigung in ihrer Offenheit kann in der Tat Beckmanns Mittelbild des Triptychons „Argonauten" stehen, das er kurz vor seinem Tod 1950 in New York fertigstellte. Es mag in der Mitte Orpheus, den sagenhaften Sänger, und rechts Jason, den Anführer der gleichnamigen griechischen Heldenschar nach Kolchis, wo das Goldene Vlies zu erbeuten war, darstellen, während sie sich zwischen Weiterfahrt und Rückkehr zu entscheiden suchen. Der Alte (links hinten) könnte Glaukos, der weissagende Diener der Meeresgottheit Nereus, sein. Er zeigt zurück und hält die Leiter ins Ungewisse, hinter der die verdunkelte Sonne kreißt, als würden neue, rot glühende Planeten geboren, vor denen noch ein toter Sichelmond steht. Sowenig wir der Vision entbehren können, so verführerisch ist ihr Licht für eine, wie es scheint, archetypische Schönheit nachwachsender Helden. In Emil Noldes Gemälde „Der Große Gärtner" (1940), das er nicht zu seinen religiösen Werken zählte, ist die expressionistische Glut zur pantheistischen Freiheit in und mit der Natur innig gebannt worden. Man lasse sie, die Blumen, die doch von sich aus zu leuchten vermögen, wachsen, helfe ihnen und erfreue sich ihrer. Der Expressionismus war radikal und bleibt doch nur ein Aspekt, in der technologischen Flut möglicher Verkörperungen nach dem leiblichen Sinn und womöglich auch nach der ökologischen Bedeutung zu fragen. Wo er selber - nach den Schlachten mit dem Impressionismus (vgl. 2.7.) - großmütig in der auch impressionistischen Entfaltung von Farbenpracht wird, kann man ihm souveräner begegnen, als schiene da außeralltäglich in der Kunst eine legitime Grenze des Profanen auf, selbst wenn man diese selber lieber anders zöge. Diesem Pan als Naturgott fehlt der Schrecken, den das
62 Vgl. Monika Plessner, Die Argonauten auf Long Island. Begegnungen mit Hannah Arendt, Theodor W. Adorno, Gershom Scholem und anderen, Berlin 1995.
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Sakrale und auf andere Weise die naturwüchsige Moderne auch hatten. Zuviel der Versöhnung? Wir wissen nicht, was den Jemaa Kopf (Terrakotta, Kaduna State, Nigeria) um 500 vor Christus erschrocken, wenigstens aber erstaunen gemacht hat. Er wirkt jedenfalls ästhetisch derart vollendet, daß er den Vergleich mit der griechisch antiken Blüte, von der die westliche Kultur sich stolz herleitet, nicht zu scheuen braucht. Es mag in dieser Kultur, von deren Untergang wir nichts wissen, etwas liegen, das wir schon immer vermißt haben. Sie hat sich auch verkörpert, aber durch einen anderen Spalt gesehen. Zwischen ihrer Anschauungsweise und ihrem Untergang muß kein notwendiger Zusammenhang bestehen. Aber falls doch, dann wäre eben die Frage nach dem Zusammenspiel zwischen dem Kategorischen und dem Konjunktivischen unseres Daseins wieder offen. Wir haben keine Schwierigkeit, den Anderen gerade in seiner Wunderlichkeit als einen von uns zu erkennen.
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Jemaa Kopf
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Personenregister
A Adorno, Theodor Wiesengrund 68-70 Angehrn, Emil 226 Aquino, Thomas von 199 Aragon, Louis 169 Arendt, Hannah 165,174 Aristoteles 190 Β Bachmann, Ingeborg 271 Bacon, Francis 62-63, 227-228, 230-231,272 Barlach, Ernst 79,82 Beck, Ulrich 243 Beckmann, Max 62-63,272, 274 Benjamin, Walter 60 Berger, Peter L. 152 Besseler, Heinrich 68 Bischof, Nobert 152 Bismarck, Otto von 257 Bloch, Ernst 261 Bonaparte, Napoleon 257 Brahms, Johannes 68 Braque, George 64 Brecht, Bertolt 59,177, 261 Brown, P. 192 Burckhardt, Jacob 240 Buytendijk, Frederik Jacobus Johannes 47, 99,110,150,194
C Cage, John 72 Callas, Maria 239 Cassirer, Ernst 129 Cezannes, Paul 62 Chagall, Marc 62 Churchland, Patricia Smith 89
D Dahrendorf, Ralf 128 Dali, Salvador 79, 80 Darwin, Charles 42, 267 Debussy, Claude 68 Derrida, Jacques 130,147,254 Descartes, René 21, 78 Dewey, John 27,214 Dilthey, Wilhelm 254 Dreyfus, Hubert L./Dreyfus, Stuart E. 106 Dyer, George 228 E Eibl-Eibesfeld, Irenäus 110-111, 113, 142,162,181,192,219 Eisermann, Gottfried 127 Eisler, Hans 59 Ernst, Max 62 F Faßbinder, Rainer Werner 178 Fischer, Joachim 24, 95
282
Personenregister
Flohr, Hans 105 Foucault, Michel 252 Fraenger, Wilhelm 63 Freud, Sigmund 138,167,195 G Gehlen, Arnold 24-25, 95, 110,174, 194 Goethe, Johann Wolfgang 177 Goffman, Erving 191 H Habermas, Jürgen 192, 214, 226, 239, 245 Haucke, Kai 34 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 129, 189,198, 226, 262, 263, 271 Heidegger, Martin 25, 72,122,128,195, 252-254, 261-262,265 Heise, Wolfgang 34 Hobbes, Thomas 241, 261 Hölderlin, Friedrich 198 Honneth, Axel 189 Humboldt, Wilhelm 48 Husserl, Edmund 23,195,198 I Irrlitz, Gerd 34
J
Jaspers, Karl 257 Joas, Hans 190,196 Joyce, James 73 Jünger, Ernst 261 Κ Kandinsky, Wassily 62, 70 Kant, Immanuel 33, 78,143,198,205, 254,265 Kierkegaard, Sören 262 Kitagawa, Sakiko 181 Kobusch, Theo 128
König, Josef 221 Koselleck, Reinhard 248 L Leibniz, Gottfried Wilhelm 259 Lenin, Wladimir Iljitsch 241 Lethen, Helmut 261 Levinson, St. 192 Libet, Benjamin 106 Litt, Theodor 101 Lyotard, Jean-François 26 Luhmann, Niklas 60,190 M Mallarmé, Stéphane 74 Malsburg, Christoph von der 105 Mann, Golo 257 Marcuse, Herbert 226 Marquard, Odo 226 Marx, Karl 225-226, 262 Mathieu, Georges 67 Mead, George Herbert 189,192 Metzinger, Thomas 85, 89 Misch, Georg 254 Monet, Claude 79, 81 Munch, Edvard 65 Ν Nietzsche, Friedrich 68, 237-238,240, 260, 262 Nolde, Emil 272, 275 O Ohashi, Ryosuke 181 Ρ Paul, Andreas 109,112 Pawlow, Ivan Petrowitc Picasso, Pablo 62, 64 Piaget, Jean 45 Plessner, Monika 272
194-195
Personenregister
Portmann, Adolf 99 Pound, Ezra 197
R
Redeker, Hans 146 Richter, Nobert 252 Roth, Gerhard 86, 96, 104-108,120 Rousseau, Jean-Jacques 225-226 Rühmann, Heinz 180,182 S Scheler, Max 24 Schiller, Friedrich 206 Schloßberger, Mathias 152 Schmitt, Carl 240-241, 252, 261 Schönberg, Arnold 68, 73 Schulze, Gerhard 60 Seidel, Alfred 223 Skinner, Burrhus Frederic 195
Spaemann, Robert 269 Strauss, Erwin 35 Strawinsky, Igor 68 Τ Tacitus 262 Taylor, Charles 238 Tönnies, Ferdinand 201 U Uexküll, Jakob von 195 W Wagner, Richard 59,68 Walzer, Michael 239 Weber, Max 56, 189, 210, 240 Weill, Kurt 59 Wittgenstein, Ludwig 201
Sachregister
A Absolutes - seine negative oder positive Fassung 30-32, 266 alltäglich/außeralltäglich 58-61, 148-149, 165-167, 208-209, 238, 268 allzumenschlich/unmenschlich 127, 165, 171-175 Antwort, siehe Frage ascribed/achieved status 132 Ästhetizismus 59 Asthetisierung der Sinne 59-60 - ihr Rahmen 64 - als Intellektualisierung 72-73 Asymmetrie zwischen Verkörperung und Verleiblichung 219-221 Atmosphärisches 71 Ausdruck/Expression des Leibes 144-146, 220-221, 236, 254, 270 Β Bewußtsein 4 4 ^ 5 , 65-67, 77-78, 83, 85-93,121,195 - phänomenologisch 85-87 - und Gehirn 88, 103-107 - und Verhalten 88, 108-114 - Zugang der Phil. Anthropologie zum B. 89-103, 106-108,111-114 - Verselbständigung des B. 119-122, 222-224, 254, 257, 268, 270
- Entscheidungsdrama des B. 224,254 Blick-oder Gesichtskontakt 101, 143-144 C Charakter 161, 179 Common Sense (Gemeinsinn) 15-16,23, 36 - und moderne Künste 54-55, 60-61, 64
D Dekonstruktivismus 125 Diplomatie und Takt 209-211 Dualismus 20-22,26,234 - siehe auch Radikalismus E Eigennamen 132,164 Eigenes und Anderes 138 Entfremdung, siehe kulturelle E. Erotik/erotisch 99-100, 235 Europäertum 33 Exzentrierung/Rezentrierung 65-66, 78, 84,100,102,138
F Fortschrittsmetaphysiken 225 Frage/Antwort 48-51,102, 221, 255,270 Freund/Feind 234, 241-243,248
Sachregister
G
285
Κ
Gegensinn/Gleichsinn
96-99,108
Kategorischer Konjunktiv 27, 5 0 - 5 1 ,
Gemeinschaft 2 0 0 - 2 0 1 , 2 3 3 - 2 3 5 , 247 - Existenzgemeinschaft
201-202
101-102, 118,235, 247, 269, - in den Künsten 5 4 - 5 5
- Sachgemeinschaft 202
- in den Wissenschaften 84
-
Grenze zum Individuum 2 0 3 - 2 0 5
- vgl. notwendige Möglichkeiten
-
Grenze zur Gesellschaft 203, 206
Kommunikation 195-196, 200 Körper-Leib
Generationenfolge 75, 2 1 5 - 2 2 2 , 2 3 5 - 2 3 6 , 245
38^0,48
- körperliche/leibliche Sinne 3 6 - 3 7 , 39,
Geschichtlichkeit 6 4 - 6 5 , 215, 2 2 0 - 2 2 7 , 236, 245, 2 5 4 - 2 5 5 , 268, 270
46 kulturelle Entfremdung 215, 226, 235,
Gesellschaft 190, 201, 2 0 6 - 2 1 3 , 2 3 3 - 2 3 5 , 247
255
L
Gesicht, siehe Blick Gewalt 178,187, 211-212
Lachen und Weinen 1 5 0 - 1 5 2 , 1 7 9
Globalisierung 2 4 3 - 2 4 4
- ihre Gemeinsamkeiten 76, 153-157,
161-162
H Habitus
- ihre Unterschiede 157-158, 160-161
142,146,258
Handlung/Handeln 48, 144, 194-195 h o m o absconditus (als minima moralia) 2 6 5 - 2 6 6 , 270
- Emanzipation der M . 240, 243, 245
74
- ihre Vergesellschaftung 2 4 1 - 2 4 2 , 245 - ihre Vergemeinschaftung 242,
I Ich 4 9 - 5 0 , 8 5 - 8 8 , 1 0 1 - 1 0 2 , 1 2 3 - 1 2 4 , 1 3 4 Impressionismen/Expressionismen i. w.
246-248 - als Selbstbestimmung 252 - als Relation der Unbestimmtheit
S. 6 2 - 6 4 Individualisierung der Person 127,
2 5 2 - 2 5 3 , 256 - siehe auch Souveränität/souverän
186-187, 192-193
Medium 142, 1 9 3 - 1 9 4 , 1 9 6 - 2 0 0 , 207, 218
- ihre drei Ambivalenzen (Geltung/Scham, Naivität/Reflexion,
- Sprache als M. 146
Realitäts-/Illusionstendenz)
Metapher 142,146
139-141
- braucht Gemeinschaft und Gesell-
M Macht 2 3 8 - 2 4 0 , 2 5 1 - 2 5 7
H ö r e n (passives) 6 8 - 7 0 - und Sehen
Lächeln 162-163
M i m i k / G e s t i k 145
schaft 212
Mitwelt, siehe Welt
exemplarisch siehe Süchte/Leiden-
Moderne/modern
schaften
189-190,210,212,
226, 2 3 7 - 2 3 8 , 2 4 4 - 2 4 5 , 2 4 8 - 2 4 9
individuum ineffabile 179-180, 187
- in den Künsten 5 6 - 5 7
Innerlichkeit 259
- in den Wissenschaften 84
Interaktion 194-195, 200
- als anthropologisches Experiment 58
intramodal/intermodal 35, 59, 73
Musikalisierung der Kunstsinne 59, 6 9 - 7 3
286
Sachregister
Ν Natur 18,268-269,271 Nihilismus 21-22, 27, 222 Notwendigkeit - ihre drei Arten 217 - notwendige Möglichkeiten, ihre Eingespieltheit 216, 222, 226, 228 - siehe Organisationsform und Positionsform O Öffentlichkeit, gesellschaftliche 207-211, 213,242,247, 266 - als Realisierungsmodus des Menschen 224 öffentlich/privat 136-137,192-193, 202 Organisationsform 94-95 - zentrische/dezentrale 91-98 - und Positionsform 90-91,96-103, 110-114, 120, 216 Ρ Person 103 Personalisierung - elementar 191-193 - des Individuums 127 Personalität als Medium 193 Perspektive oder/und Position 100-102, 125,138,142-143,155-156,201,203,215 Philosophische Anthropologie 15-16, 24-25, 28, 30, 32, 257, 265, 271 - methodisch 29 Politik, mechanisch 234, 248 Politisches 113, 234-235, 267 - als Kunst 213 - als Verfahren der Öffentlichkeit 213-214, 234 - als Methode des Rechts 214 - siehe Macht, Geschichtlichkeit Position oder/und Perspektive, siehe Perspektive
Positionalitätsform 96 - zentrische/exzentrische 94-100, 224, 253-254 - exzentrische P. als Symbol 129 - exzentrische P. als Sprache 31 - und Organisationsform 90-91, 94-95, 101-103, 110-114,120, 216 Prestige 191 profan/sakral 31-32, 56,237-238, 248, 266-267 R Radikalismus 212, 234, 247-248 Realismus/realistisch 65,104 reversibel/irreversibel 97 Rezentrierung, siehe Exzentrierung Rollenbegriffe 188-189 Rollenspiel 125-130 - elementares R. 126-134 - sein Test 142-143 - Verdoppelung des elementaren R. siehe Schauspiel S sakral, siehe profan Schauspiel 74, 76,125,134-139,141 - siehe Spiel, Rollenspiel Schicksal 216-217 Schrift 73,101,223 Selbstbehauptung oder Selbstlosigkeit 33, 65,253 Selbstbestimmung 149, 155-156,162, 165, 237, 252-253, 255 Selbstmächtigkeit 146-147 Selbstsein oder nicht selbst sein 253 Sehen 70-71 - und Sprechen 73-74 Sinn fürs Negative 108-109 Sinn (oder Einheit) der Sinne 51-52 - sein (ihr) geschichtlicher Charakter 64-65, 77-78 - sprachlich (intellektuell) 73-74
Sachregister
Sinn/Nichtsinn 157 Souveränität/souverän 33,155,163, 179, 255,264-265 - im Lächeln 163 - und Unmenschliches 168 Spiel 110-111,124,141,150, 219-220, 250 - zwischen Binden und Gebundensein 147 - zwischen Wirklichkeit und Schein 148 - seine Gefahr 148-150 - Grenze der Verhaltensspiele 150 - Spielverhalten versus Verhaltensspiel 111-113,149-151 Sport - als Gegenbild der Gesellschaft 249-250 sprachliche Kommunikation 40-41, 46, 48, 50-51 Sprechen/Sprache 31, 72, 76,144, 146-147,153, 157 Staat, siehe Öffentlichkeit status, siehe ascribed Stimme 71-73, 79,144 Subjektivität 66-67,119 Süchte und Leidenschaften 165-168 - ihre Gemeinsamkeit 167 - ihre Unterschiede 168-169,176-177 - bedingte 165-169 - unbedingte 169, 171-172, 175-178 Symbol/symbolisch 124-125,129, 235
287
Τ Traum 80, 88, 96 U Unergründlichkeit des Menschen, siehe Absolutes, homo absconditus Unheimliches 138 unmenschlich, siehe allzumenschlich Urteilskraft - individuelle und soziokulturelle 39-41, 46 Utopie/utopisieren 224, 227-228, 253 V Verhalten, menschliches 119, 194 - seine Grenzen 126-127,150-155 - seine Versprachlichung 135 Vertrautes/Fremdes 142 Vertrautes/Unvertrautes 202, 215 Visualisierung der Kunstsinne 59, 69-73 W Wagners Gesamtkunstwerk 68-69 Welt/Umwelt 107,121 - Mitwelt 102-103,121-125, 185-186, 215-216 - Außen-/Innenwelt 103,108 Ζ Zeremonie 191
Abbildungsnachweis
Ich danke allen - jeweils nachstehend aufgeführten - Copyright-Inhabern für ihre Reproduktionsgenehmigung der Abbildungen, die hier in der Reihenfolge ihres Erscheinens in meinem Buch vermerkt sind: Salvador Dali: Der Schlaf (1937). (c) Demart pro Arte B. V./VG Bild-Kunst, Bonn 1999 Claude Monet: Impression, soleil levant (1873). Paris, Musée Marmottan Ernst Barlach: Der singende Mann (Bronze, nach einem Gips von 1928, WVZ-Nr. I343). (c) Ernst und Hans Barlach Lizenzverwaltung Ratzeburg, Ratzeburg 1999 Einige Gesichtsausdrücke der Schimpansen, aus: Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Grundriß der Humanenthologie, S. 651. (c) Piper Verlag G m b H , München 1984,1995 Das Spielgesicht oder entspannte Mund-offen-Gesicht eines sechs Jahre alten männlichen Schimpansen, aus: Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Die Biologie des menschlichen Verhaltens, a. a. O., S. 191. (c) Piper Verlag G m b H , München 1984,1995 Rosemarie Clausen (Fotoaufnahmen): Heinz Rühmann als Hauptmann von Köpenick, aus: Siegfried Melchinger/Rosemarie Clausen, Schauspieler. 36 Portaits, Frankfurt a. M. (Büchergilde Gutenberg), S. 88-89. (c) Bettina Clausen, Hamburg 1999 Babesikna, aus: Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Die Biologie des menschlichen Verhaltens, a. a. O., S. 513. (c) Piper Verlag G m b H , München 19984,1995 Nö-Maske, aus: Privatarchiv von Herrn Prof. Dr. Ryosuke Ohashi (Kyoto), (c) Prof. Dr. Ryosuke Ohashi, Kyoto 1999 Ein Yanomami, der den Fotografen spottend bedroht, aus: Irenäus Eibl-Eibesfeldt: Die Biologie des menschlichen Verhaltens, a. a. O., S. 660. (c) Piper Verlag G m b H , München 1984,1999 Geteiltes Haupt, Zapotekische Kultur, 3. bis 10. Jh., gelb-braune Tonfigur aus dem Hochtal von Oaxaca, Museo Nacional de Anthropologia, Mexiko D. F. Francis Bacon: Study for Portrait (1949). (c) V G Bild-Kunst, Bonn 1999 Francis Bacon: Triptych August 1972, linkes Teilbild, (c) V G Bild-Kunst, Bonn 1999 Figur des Der-senedj als Schreiber, Memphis, 5. Dynastie, um 2450-2300 v. Chr.,
Abbildungsnachweis
289
Inv.-Nr. 15701. (c) Ägyptisches Museum und Papyrussammlung der Staatlichen Museen zu Berlin. Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Berlin 1999 Max Beckmann: Argonauten (1950), Ausschnitt aus dem Mittelbild des Triptychons. (c) V G Bild-Kunst, Bonn 1999 Emil Nolde: Der Große Gärtner (1940). Repro-Vorlage Sprengel Museum Hannover. (c) Stiftung Seebüll Ada und Emil Nolde, Seebüll 1999 Jemaa Kopf, Kadune State, Nigeria, Terrakotta (um 500 v. Chr.). (c) Royal Academy of Arts, London 1995/1996 Der Umschlagentwurf erfolgte unter Verwendung eines Fotos: Steinmaske, aus präkolumbischer Zeit (300 v. Chr. - 500 n. Chr.), Nordwest-Argentinien, (c) Ediciones Fernando Arce, Buenos Aires, Argentina, 1996
Ulrich Steinvorth
Gleiche Freiheit Politische Philosophie und Verteilungsgerechtigkeit 1999. 292 S. - 170 χ 240 mm Gb, D M 6 8 ISBN 3-05-003300-2 Die heutige politische Philosophie und ihre Möglichkeiten, die heute ausgeschöpften und die nicht ausgeschöpften, vorzustellen, ist das Anliegen dieses Buches Für Ulrich Steinvorth bildet die Verteilungsgerechtigkeit den ersten Gegenstand gegenwärtiger politischer Philosophie. Die theoretischen Konzepte namhafter zeitgenössischer Repräsentanten politischer Philosophie (Rawls, Nozick, Steiner, Dworkin, van Parijs) analysierend, wird in der Neuerscheinung diskutiert, wie überzeugend sie das Ideal der gleichen Freiheit, an dem sie alle festhalten, mit einer Kritik der liberalen Verteilungsgerechtigkeit vereinen können. Ausgehend vom Entwurf einer Methodologie, die der Autor Intuitionen- oder Gewissensfalsifikationismus nennt, skizziert er abschließend eine nationale und internationale Verteilungsgerechtigkeit der liberalen Gleichheit. Verteidigt wird ein an Freiheit und Zwang orientierter Begriff des Rechts und des Politischen, und ein an Rechten und Gemeineigentum orientierter Staatsbegriff, wobei der Begriff des Gemeineigentums aus Lockes These entwikkelt wird, daß die Erde und ihre Güter der ganzen Menschheit gehören. Kritisch erörtert werden die Positionen von Carl Schmitt, Jürgen Habermas und Michael Walzer, die trotz ihrer radikal verschiedenen Stellung zu universalistischen Normen und zum Liberalismus darin übereinstimmen, Normen intersubjektiv begründen zu wollen. In Auseinandersetzung mit Karl Marx, Max Weber und Martin Heidegger wird der Versuch unternommen, den historischen Standort der heutigen Gesellschaften zu bestimmen.
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Thomas Noetzel
Authentizität als politisches Problem Ein Beitrag zur Theoriegeschichte der Legitimation politischer Ordnung Politische Ideen, hg. v. Herfried Münkler, Band 9 1999. 188 S. - 170x240 mm Gb, D M 9 8 . ISBN 3-05-003346-0 Thomas Noetzels Buch ist die erste deutschsprachige Untersuchung über den Zusammenhang von Authentizität und Politik. Der Autor zeigt, daß mit der neuen Legitimität politischer Ordnungen ein öffentlicher Diskurs über die Authentizität der individuellen Freiheit beginnt, in welchem die Frage nach dem wahren/ Wahren Wollen im Mittelpunkt steht. Die Fiktion eines moralischen Wesenskerns des Menschen läßt seine Authentizität zum Problem moderner Herrschaftskritik und -legitimation werden. In der Studie werden philosophische, politikwissenschaftliche, soziologische Ansätze zur Authentizitätserforschung untersucht und in einen interdisziplinären Rahmen eingeordnet. Dabei reicht die Spannbreite der vom Autor untersuchten Konstruktion des Authentischen vom Sozialvertrag Rousseaus über Marx' Frühschriften bis hin zur Fundamentalontologie Heideggers, zum Existentialismus, zur Kritischen Theorie und Postmoderne. Aus dem Inhalt: 1. Einleitung 2. Zum Begriff der Authentizität 3. Der Wille der Individuen und die Entstehung politischer Legitimität in der Moderne 4. Das wahre/ Wahre Wollen. Authentizität als Kategorie moderner Herrschaftskritik und -legitimation 5. Post-Moderne Antworten: Das Ende des Authentischen? 6. Zusammenfassende Betrachtung und Ausblick: Von der Unvermeidlichkeit und Unmöglichkeit des Authentischen
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Matthias Kaufmann
Aufgeklärte Anarchie Eine Einführung in die politische Philosophie Edition
Philosophie
1999. 278 S . - 1 4 5 x 2 1 5 mm Pb, D M 5 4 , ISBN 3-05-002935-8 Diese Einführung in die politische Philosophie will zeigen, wie eine angemessene Verbindung des liberalen und des in der aristotelischen Tradition befindlichen politischen Denkens sowohl ein Ziel für die Entwicklung der politischen Gemeinschaft als auch ein solches für die darin lebenden Menschen zu benennen vermag.
Aus dem Inhalt: Einleitung: Warum aufgeklärte Anarchie? Was ist aufgeklärte Anarchie? Anarchismus und politische Philosophie I. Der Zwang gegen das Individuum als Grundphänomen des Politischen in der Neuzeit 1. Das Menschenbild als Begründung des Zwanges 2. Die unsichtbaren Fesseln der Moral: Kann man sie abschaffen? 3. Glanz und Elend der Vertragsmetapher II. Unter Menschen sein heißt nicht nur Zwang. Muß sich die Gemeinschaft vor dem Individuum rechtfertigen? 1. Der Mensch als Gemeinschaftswesen 2. Politische Gemeinschaft - Bürgergemeinschaft 3. Zwang durch Sozialisation
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III. Wer darf zwingen, warum, wozu und wie? Souveränität, Legitimität, Steuer, Strafe 1. Legitimitätsprinzipien und ihre Anwendung 2. Die Methoden staatlichen Zwanges: Steuer und Strafe IV Die Grenzen des Zwanges: Rechte 1. Bürgerrechte, Menschenrechte 2. Freiheit 3. Wie gleich sind die Menschen und was folgt daraus? 4. Ein natürliches Recht auf Eigentum? V. Anarchie als Methode 1. Ehrenhaft auf der Suche 2. Kunst, Erschütterung und Redlichkeit 3. Die Gemeinschaft freier, gleicher Übermenschen
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