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German Pages 434 [436] Year 2006
Ingrid Gilcher-Holtey (Hg.)
Zwischen den Fronten
Zwischen den Fronten Positionskämpfe europäischer Intellektueller im 20. Jahrhundert
Herausgegeben von Ingrid Gilcher-Holtey
Akademie Verlag
Gedruckt mit Unterstützung der Europäischen Kommission (Generaldirektion Forschung) im Rahmen des an der Universität Bielefeld durchgeführten FP6-Projektes - ESSE.
ISBN-10: 3-05-004254-0 ISBN-13: 978-3-05-004254-1 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2006 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einbandgestaltung: Ingo Scheffler, Berlin Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer" GmbH, Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany
Inhalt
INGRID GILCHER-HOLTEY
Prolog
9
I. Der Kampf um die Definition, Rolle und Funktion des Intellektuellen GIS6LE SAPIRO
Vom Schriftsteller zum Intellektuellen: Die Konstruktion eines kritischen Habitus unter der Restauration
25
HERVß SERRY
Die Regeln des Glaubens. Formen und Logiken des Engagements katholischer Intellektueller in Frankreich (1880-1935)
63
STEFFEN BRUENDEL
Zwei Strategien intellektueller Einmischung: Heinrich und Thomas Mann im Ersten Weltkrieg
87
INGRID GILCHER-HOLTEY
Theater und Politik: Bertolt Brechts .Eingreifendes Denken'
117
KRISTINA SCHULZ
Neutralität und Engagement: Denis de Rougemont und das Konzept der „aktiven Neutralität"
153
Inhalt
6 HENNING MARMULLA
Internationalisierung der Intellektuellen? Möglichkeiten und Grenzen einer „communaut6 internationale" nach dem Algerienkrieg
179
ANNA BOSCHETTI
Sozialwissenschaft, Soziologie der Intellektuellen und Engagement. Die Position Pierre Bourdieus und deren soziale Bedingungen
201
DOROTHEE LIEHR
Skandal und Intervention: Adolf Muschg und seine Eingriffe in die Fichen-Affäre 1989/90 - zur Rolle der Intellektuellen seit den 1990er Jahren
231
II.Transferprozesse, externe Konflikte und ihre Wirkungen auf das literarische Feld IOANA POPA
Politisches Engagement und literarischer Transfer. Ein kommunistisches Netz von Übersetzern osteuropäischer Literaturen in Frankreich
257
DOROTHEA KRAUS
Zwischen Agitation und Resignation: Der Künstler als Intellektueller in westdeutschen Inszenierungen der sechziger Jahre
289
CLAUS KRÖGER
„Establishment und Avantgarde zugleich"? Siegfried Unseld und der Börsenverein des Deutschen Buchhandels 1967/68
311
BORIS GOBILLE
Die verlorenen Söhne Andrö Bretons. Die französische surrealistische Bewegung auf dem Prüfstand des Mai 68 oder das Paradox der eingetretenen Prophetien
333
Inhalt
7
MARKUS JOCH
Zwei Staaten, zwei Räume, ein Feld. Die Positionsnahmen im deutsch-deutschen Literaturstreit
363
FRANZISKA SCHÖBLER
Avantgarde nach dem Ende der Avantgarde: Soziales Engagement und Aktionskunst nach 1995
379
HERIBERT TOMMEK
Das deutsche literarische Feld der Gegenwart, eine Welt für sich? Skizzen einer strukturellen Entwicklung, in das Beispiel der (westdeutschen) „Tristesse-Royale"-Popliteraten mündend
397
AUTORINNEN UND AUTOREN
431
INGRID GILCHER-HOLTEY
Prolog
„Es ist nicht der Dichter noch der Schriftsteller, es ist nicht der Philosoph noch der Historiker, nicht der Maler noch der Skulpteur, es ist nicht der Wissenschaftler, wenn er Lehrer ist. Es scheint, daß man es nicht die ganze Zeit sein kann, genauso wie man es nicht ganz sein kann. Es ist ein Teil von uns, der uns momentan von unserer Aufgabe abwendet und uns hinwendet auf das, was in der Welt geschieht, um zu beurteilen und einzuschätzen, was dort vor sich geht." 1 Maurice Blanchot, Schriftsteller und Literaturkritiker, verteidigt mit diesen Worten 1996 die Rolle des Intellektuellen, die sich nicht darauf stützt, daß dieser Angehöriger einer bestimmten Berufsgruppe ist, sondern eine Aufgabe übernimmt, die außerhalb seiner beruflichen Zuständigkeit liegt. Der Intellektuelle ist für ihn kein Theoretiker, sondern steht, wenn er sich engagiert, zwischen Theorie und Praxis. Er mischt sich ein in Aktionen, aber er handelt nicht. Sein Medium ist die Sprache, die Macht der Worte. Er verfugt über Macht, obwohl er keine politische Machtposition innehat. Seine Autorität beruht auf dem Ansehen und Prestige, das er außerhalb der Sache, fur die er sich einsetzt, gewonnen hat. Die engagierte Verteidigung des Intellektuellen, die Blanchot vornimmt, ist nicht zuletzt die Selbstverteidigung eines Mannes, der in der Nachkriegszeit die Rolle des Intellektuellen wahrgenommen und sich zu Beginn der sechziger Jahre couragiert für einen Zusammenschluß der Intellektuellen in Europa eingesetzt hat.2 Das 20. Jahrhundert wird als Zeitalter der Ideologien bezeichnet. Es ist auch das Jahrhundert der Intellektuellen. Es beginnt mit der Verbreitung des Begriffs „les intellectuels" infolge der Dreyfus-Affäre in Frankreich und endet mit einer Debatte über den Tod des Intellektuellen, ausgelöst ebenfalls in Frankreich. Wer oder was ein Intellektueller ist, wurde und wird in keinem europäischen Land einheitlich definiert. Wer über Intellektuelle im 20. Jahrhundert forscht, braucht daher einen analytischen Bezugsrahmen, der den Forschungsgegenstand umreißt, das Profil des Intellektuellen skizziert. 1
Maurice Blanchot, Les intellectuels en question. Ebauche d'une reflexion, Paris 1996, 18 [Übers, d. Verf.].
2
Vgl. dazu den Beitrag von Henning Marmulla in d i e s e m Band.
10
Ingrid
Gilcher-Holtey
Vier konkurrierende Definitionen des Intellektuellen, die in der aktuellen Debatte prägend sind, seien zu Beginn des Bandes daher vorgestellt, der, die Wechselwirkungen zwischen literarischem und politischem Feld analysierend, Positionskämpfe europäischer Intellektueller im 20. Jahrhundert in den Blick nimmt. Positionskämpfe sind, wie die aktuelle Debatte zeigt, immer auch Distinktionskämpfe sowie Kämpfe um die Durchsetzung einer .legitimen' Definition des Intellektuellen, seiner .wahren' Rolle und Funktion. In den aktuellen Definitionskämpfen nimmt dabei auch der Rückbezug auf die Geschichte der Intellektuellen und die .wahren' Vorbilder/Vorläufer einen zentralen Stellenwert ein. Gegen die anhaltenden Begräbnisreden, die den kollektiven Niedergang der Intellektuellen seit den 1980er Jahren beschwören, ruft Blanchot in Erinnerung zurück, was, aus seiner Sicht, in Vergessenheit zu geraten droht: die Geschichte ihrer erfolgreichen Interventionen. Sie begann, aus seiner Sicht, 1898 mit Emile Zolas Artikel „J'accuse" und der Gründung der Ligue des droits des hommes, zu der sich die Unterzeichner zweier Petitionen zusammenschlossen, die gegen die Rechtsbeugung im Prozeß gegen den des Landesverrats angeklagten Hauptmann Alfred Dreyfus aufbegehrten. 3 Zwar räumt Blanchot Schwächen der Intellektuellen im Verlauf des 20. Jahrhunderts ein, diese rechtfertigten es aber nicht, eine Steinplatte über die Figur des Intellektuellen zu legen und das Ende einer ,fur alle gültigen Vernunft' als neue Idee auszugeben, wo doch das ganze 20. Jahrhundert versucht habe, diese Vernunft zu untergraben und durch Unvernunft zu ersetzen. Aufbegehrend gegen Jean-Francis Lyotards These vom Tod des Intellektuellen 4 , dem es, da er seine Aufgabe und Mission erfüllt habe, lediglich noch ein „Grabmal" zu setzen gelte, stellt Blanchot mit seiner Verteidigung einer ,fur alle gültigen Vernunft' zentrale Prämissen des postmodernen Denkens in Frage, das Utopien sowie ganzheitheitliche oder teleologische Ansätze zur Erklärung der Welt negiert und, den Widerstreit von Partikularitäten betonend, Partikulares zu universalisieren untersagt, da zwischen Universalisierung und Totalisierung nur ein theoretischer, nicht aber sachlicher Unterschied bestehe. 5 Das Profil des Intellektuellen, das Blanchot demgegenüber zeichnet, läßt sich als Typus des .allgemeinen Intellektuellen' klassifizieren: des Verteidigers der Vernunft und der Wahrheit, der sich unter Berufung auf abstrakte, universelle Werte - wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit - einmischt in die Politik: sei es als Kritiker der Macht, Ankläger von Unrecht, Ungerechtigkeit und Unterdrückung, sei es als Verteidiger der Opfer von Willkür oder als jemand, der in Alternativen denkt und dadurch Handlungsspielräume öffnet oder doch offenhält. „Öffentliche Intellektuelle" nennt Ralf Dahrendorf diejenigen Intellektuellen, „die ihren Beruf darin sehen, an den vorherrschenden Diskursen der Zeit teilzunehmen, ja 3
Vgl.
dazu
Ingrid
Gilcher-Holtey,
Menschenrechte
oder
Vaterland?
Die
Formierung
der
Intellektuellen in der Dreyfus-Affäre, in: Berliner Journal für S o z i o l o g i e 7 . 1 9 9 7 / H . l , 6 1 - 7 0 . 4 5
Jean-Franfois Lyotard, D a s Grabmal des Intellektuellen, Graz 1985. Vgl. zu den Prämissen des postmodernen D e n k e n s W o l f g a n g W e l s c h , Unsere postmoderne M o derne, W e i n h e i m 1988, insbes. 169ff., 2 2 7 f f . , 2 4 4 f f .
Prolog
11
deren Thematik zu bestimmen und deren Richtung zu prägen." Bestrebt, die Besonderheit und Funktion dieser „movers and shakers", wie er sie auch nennt, zu akzentuieren, grenzt er sich mit seiner Definition des „öffentlichen Intellektuellen" zugleich von der im allgemeinen Sprachgebrauch gängigen Definition des Intellektuellen ab, die nicht zwischen Intellektuellen und Intelligenz differenziert und daher unter Intellektuelle alle Wissenschaftler und Künstler subsumiert. 6 Die historische Referenz für den „öffentlichen Intellektuellen" sieht Dahrendorf in Erasmus von Rotterdam, so daß er auch von „Erasmiem" spricht, wenn er die Gruppe der Verteidiger von Vernunft und Wahrheit nieint. Eine Tafel der Mitglieder und Kandidaten der Gesellschaft der „Erasmier" im 20. Jahrhundert entwerfend, schließt er aus ihren Reihen einen aus: Jean-Paul Sartre. 7 Sieht er Martin Heidegger seine Schwächen gegenüber dem Nationalsozialismus nach, verzeiht er Jean-Paul Sartre seine Weggefährtenschaft mit den Kommunisten nicht. Sartre, der nach Zola wie kein anderer, aus französischer Sicht, den Typus des .allgemeinen Intellektuellen' im 20. Jahrhundert repräsentierte, und dessen Vorbild entscheidend dazu beigetragen hat, die Rolle des Intellektuellen in der politischen Kultur der Bundesrepublik zu verankern 8 , wird vom deutschen Soziologen Dahrendorf exkludiert. Denn: „Öffentlicher Intellektueller" sein, heißt für ihn, eben nicht wie Zola und Sartre für eine Sache Partei zu ergreifen, sondern wie Erasmus von Rotterdam und Raymond Aron, ein „engagierter Beobachter" zu bleiben. Nicht einzugreifen, sondern den „Durchblick zu behalten", macht den engagierten Beobachter aus. 9 Dies kann, so Dahrendorf, nur gelingen, wenn er bei aller „innerer Teilnahme" ein „Zuschauer" bleibt, der es aushält, mit Widersprüchen zu leben, die aus konkurrierenden Werten entstehen, und der Denkfigur eines „allgemeinen Willens" (Rousseau) entsagt, die Einheitlichkeit impliziert, „wo es der Natur der Sache nach doch nur Stimmenvielfalt gibt". 10 In'Dahrendorfs Definition des „öffentlichen Intellektuellen" gehen mithin Prämissen des postmodernen Paradigmas ein, doch bleibt für seine Definition des „öffentlichen Intellektuellen", da er in ihm den Verteidiger des „liberalen Geistes" sieht, eine hierarchisierende und universalisierende Setzung zentral: Freiheit ist wichtiger als Gleichheit." Der Kampf um die Frage, wer ein ,wahrer' Intellektueller ist, zeichnet die Geschichte der Intellektuellen aus. Bereit zu sein, die Waffe der Kritik auch gegeneinander zu 6
Ralf Dahrendorf, V e r s u c h u n g e n der Unfreiheit. D i e Intellektuellen in Zeiten der Prüfung, München 2 0 0 6 , 2 I f f .
7
Ebd., 2 1 9 . D a s B u c h untersucht ausgewählte Intellektuelle der Kohorte 1 9 0 0 - 1 9 1 0 . Ausgegrenzt aus dieser Kohorte wird auch Robert Havemann.
8
Vgl. dazu den Beitrag von Anna Boschetti in d i e s e m Band s o w i e Ingrid Gilcher-Holtey, „ A s k e s e schreiben, schreib: Askese". Zur R o l l e der Gruppe 4 7 in der politischen Kultur der Nachkriegszeit, in: Internationales Archiv fur Sozialgeschichte der deutschen Literatur 2 5 . 2 0 0 0 / H . 2 , 167.
9
Dahrendorf, V e r s u c h u n g e n , 6 8 - 7 1 , 86.
10
Ebd., 63, 84.
11
Ebd., 50.
134-
12
Ingrid
Gilcher-Holtey
richten, ist eine Eigenschaft von Intellektuellen. Die Weigerung anzuerkennen, daß der andere ein Intellektueller ist, ist ebenso Teil ihrer Distinktions- und Konkurrenzkämpfe, wie der permanente Kampf um die Definition des Begriffs. Auch Michel Foucault grenzt seine Konzeption des Intellektuellen entschieden vom politischen Engagement Sartres ab. Der von ihm konzipierte „spezifische Intellektuelle" hört auf, „Träger universaler Werte" zu sein. Er nimmt Abschied vom Intellektuellen als „Meister der Wahrheit und der Gerechtigkeit", „Repräsentanten des Universalen" oder „Gewissen aller".12 Er reiht sich in die Tradition des „Wissenschaftlers als Experten" 13 ein, der aufgrund des Wissens, dessen Inhaber er ist, in politische Kämpfe interveniert. Als eine erste Verkörperung des „spezifischen Intellektuellen" sieht er den Atomphysiker Max Oppenheimer an, der seine „spezifische Stellung in der Ordnung des Wissens" in Anschlag gebracht habe, um die atomare Bedrohung der Menschheit aufzuzeigen. 14 Foucault weist dem „spezifischen Intellektuellen" eine neue Rolle zu: „Die Rolle des Intellektuellen besteht nicht darin", wie er schreibt, „sich .vorweg oder etwas abseits' zu piazieren, um die stumme Wahrheit aller auszusprechen; sie besteht vielmehr darin, dort gegen Formen einer Macht zu kämpfen, wo er zugleich Gegenstand und Instrument dieser Macht ist: in der Ordnung des .Wissens', des ,Bewußtseins' und des ,Diskurses'." 15 Diese Rolle erlegt dem Intellektuellen auf, „lokale", „umständebedingte Kämpfe" zu fuhren sowie „sektorenbezogene Forderungen" zu stellen. Sie geht dabei von einem Machtbegriff aus, der Macht „außerhalb des Modells des Leviathans" zu fassen sucht: in der Ubiquität von Machtbeziehungen, die das ganze Netz der Gesellschaft tief und subtil durchziehen. 16 „Machtzentren" namhaft zu machen und adäquate Kampfformen zu entwickeln, um gegen diese vorzugehen, gewinnt unter dieser Perspektive eine zentrale Bedeutung. Diese Machtzentren anzuklagen, indem man öffentlich über sie spricht, ist für Foucault bereits eine „erste Umkehrung der Macht", die darin bestehen kann, „das Netz der institutionellen Informationen" anzugreifen, „Namen zu nennen" und zu sagen, „wer was getan hat". 17 Er exemplifiziert dies am Beispiel von Diskursen von Gefängnisinsassen und -ärzten, „die für einen Augenblick für sich die Macht in Anspruch nehmen, über das Gefängnis zu sprechen, die Macht, die gegenwärtig allein bei der Verwaltung und ihren reformerischen Helfern liegt."18 Auch der „spezifische Intellektuelle" enthüllt mithin, klagt und prangert an, die Funktion seiner Intervention besteht jedoch nicht 12
Michel Foucault, Die politische Funktion d e s Intellektuellen, in: ders., Schriften, hg. v. Daniel Defert u.a., Bd.3: 1 9 7 6 - 1 9 7 9 , Frankfurt a.M. 2 0 0 3 , 1 4 5 - 1 5 2 , 145. Ebd., 148.
14
Ebd., 147.
15
Michel Foucault, Die Intellektuellen und die Macht, in: ders., Schriften, hg. v. Daniel Defert u.a., Bd.2: 1 9 7 0 - 1 9 7 5 , Frankfurt a.M. 2 0 0 2 , 3 8 2 - 3 9 3 , 3 8 4 .
16
Michel Foucault, D i s p o s i t i v e der Macht. Michel Foucault über Sexualität, W i s s e n und Wahrheit,
17
Foucault, Die Intellektuellen und die Macht, 3 9 0 .
18
Ebd.
Berlin 1978, 88.
Prolog
13
darin aufzudecken, was noch niemandem bewußt war, sondern darin, das „Unsagbare" sagbar zu machen 19 , mit anderen Worten, einen Zustand herbeizufuhren, in dem, wie Gerard Deleuze im Gespräch mit Foucault erklärt, die Betroffenen beginnen, „in ihrem Namen zu sprechen und zu handeln". 20 Der „spezifische Intellektuelle" grenzt sich vom Typus des „allgemeinen Intellektuellen" dadurch ab, daß er nicht wie dieser das Wort ergreift für diejenigen, die dessen nicht mächtig sind, sondern sich einmischt, um sie zum Sprechen, zur Ergreifung des Wortes anzuregen. „Nichtswürdig ist es", so Deleuze, „für andere zu sprechen." 21 Mit anderen Worten: Der „spezifische Intellektuelle" setzt sich dafür ein, dem „Bewußtsein" und „Wissen" derer, die durch das Machtsystem blockiert sind, eine Chance zu verleihen, sich zu artikulieren und ihnen Zugang zu den Medien zu eröffnen. Die Hypothese Lyotards, daß Sprechen „Kämpfen im Sinn des Spielens" ist und „Sprechakte" einem allgemeinen Wettstreit22 unterliegen, geht ein in die Konstruktion des „spezischen Intellektuellen" ä la Focault. Bestrebt, die Macht dort sichtbar zu machen, wo sie am unsichtbarsten und hinterhältigsten ist23, setzt Foucault auf Sprechakte derer, die durch das Netz der die Gesellschaft durchdringenden Machtbeziehungen daran gehindert wurden, das Wort zu ergreifen. Der spezifische Intellektuelle tritt ihnen gegenüber nicht in der Rolle des Ratgebers auf, sondern überläßt ihnen, die Vorhaben, Taktiken und Zielscheibe ihres Kampfes selbst zu finden. 24 Einzugreifen in ihren Kampf, vermag er lediglich, indem er ihnen Analyseinstrumente bereitstellt.25 Foucault räumt jedoch ein, daß die politische Analyse und politische Kritik, die dazu notwendig ist, „zum Großteil erst erfunden werden" müsse. Das gleiche gelte für Strategien der Politisierung, die imstande seien, das Kräfteverhältnis der Machtbeziehungen nachhaltig zu verändern. 26 Im Rahmen der Kampagne der „Groupe d'information sur les prisons" (GIP) unternimmt er den Versuch, neue Politisierungsstrategien experimentell zu erproben. 27 Lyotard hingegen verabschiedet sich von der „Politik der Intellektuellen", um mit der „philosophischen Politik" einen neuen vom Philosophen zu inaugurierenden Politiktypus zu begründen. 28 „Philosophische Politik" ist eine Art
19
Ebd.
20
Ebd., 387.
21
Ebd., 3 8 5 .
22
Jean-Fran?ois Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien 1994, 4 0 .
23
Foucault, D i e Intellektuellen und die Macht, 384.
24
Foucault, Macht und Körper, in: ders., Schriften, Bd.2, 9 3 2 - 9 4 1 , 9 4 0 .
25
Ebd.
26
Michel Foucault, D i e Machtverhältnisse gehen in das Innere der Körper über, in: ders., Schriften,
27
Vgl. dazu Michel Foucault, K ä m p f e um das Gefängnis, in: ders., Schriften, Bd.3,
Bd.3, 2 9 8 - 3 0 9 , 3 0 2 . 1005-1028;
f e m e r Ingrid Gilcher-Holtey, Der „spezifische" Intellektuelle: Michel Foucault, in: dies., Eingreifendes Denken.
D i e Wirkungschancen
von
Intellektuellen
(erscheint Frühjahr 2 0 0 7
im
Velbrück Verlag). 28
Vgl. dazu Jean-Francois
Lyotard, Der Widerstreit, München
postmoderne Moderne, 2 4 1 - 2 4 5 .
1987; ferner W e l s c h ,
Unsere
Ingrid
14
Gilcher-Holtey
Meta- und zugleich Elementarpolitik. Sie zielt darauf, „politisches Standpunktdenken" zu überwinden. Ausgehend von der Prämisse, daß einem Standpunkt zum Siege zu verhelfen impliziert, daß andere legitime Möglichkeiten getilgt werden, mithin die Durchsetzung des einen die Verletzung anderer Standpunkte zur Kehrseite hat, setzt Lyotard sich ein für eine Politik, die den Widerstreit elementarer Differenzen bewahrt. Leitlinien der „philosophischen Politik" sind u.a.: a) allen Übergriffen und Totalisierungen entgegenzutreten, b) Diskurstypen aufzudecken, die „Unrecht" erzeugen, indem sie Partikulares universalisieren, c) den Diskurs der in Sprachlosigkeit gedrängten Partei zur Artikulation zu bringen. 29 Pierre Bourdieu knüpft an Foucaults Begriff des „spezifischen Intellektuellen" an, schreibt dem neuen Typus des Intellektuellen, den er auch „kollektiven Intellektuellen" nennt, jedoch eine andere Rolle, Aufgabe und Funktion zu. Er definiert die Rolle des Intellektuellen als eine Form der Gesellschaftskritik, bestehend aus zwei komplementären strukturellen Elementen: kultureller Autonomie und politischem Engagement. 30 Der Intellektuelle ist, folgt man Bourdieu, ein „bi-dimensionales" oder „paradoxes Wesen". Denn: Zu Intellektuellen werden Schriftsteller, Künstler, Wissenschaftler nur, „wenn (und nur wenn)" sie „über eine spezifische Autorität" verfugen, die ihnen „eine autonome (das heißt von religiösen, wirtschaftlichen, politischen Mächten unabhängige) Welt verleiht", deren spezifische Gesetze sie respektieren, und „wenn (und nur wenn)" sie „diese spezifische Autorität in politischen Auseinandersetzungen" geltend machen. 31 Geprägt wird die politische Stellungnahme des Schriftstellers, Künstlers, Wissenschaftlers durch seine Stellung im Feld der kulturellen Produktion und damit durch die in diesem Feld jeweils vorherrschende Verteilungsstruktur des kulturellen, ökonomischen und symbolischen Kapitals. Die Leitideen, die sein politisches Engagement lenken, sind als ideale Normen dem Feld der kulturellen Produktion (und seinen Subfeldem: dem literarischen, künstlerischen, philosophischen, akademischen etc.) inhärent. Es sind mithin nicht allgemeine Werte der Gesellschaft, sondern spezifische, feldinterne Werte wie die Unabhängigkeit intellektueller und ästhetischer Kriterien von kommerziellen Interessen. Die Wirksamkeit der Stellungnahmen ist dergestalt der Logik des kulturellen Produktionsfeldes unterworfen. Koalitionen mit Akteuren anderer Felder in homologen Positionen vermögen ebenso wie der Zusammenschluß mit anderen Intellektuellen, den Effekt einer politischen Intervention zu steigern. Um als Gegenmacht zu den nationalen, supranationalen, ökonomischen, politischen und massenmedialen Mächten der Gegenwart wirksam zu werden, müssen, aus Sicht Bourdieus, die Intel-
29
E b d . , 238flf.
30
Vgl. dazu Henning Hillmann, Z w i s c h e n Engagement und Autonomie: Elemente für eine S o z i o l o gie d e s Intellektuellen, in: Berliner Journal für S o z i o l o g i e 7 . 1 9 9 7 / H . l , 7 1 - 8 5 , 80.
31
Pierre Bourdieu, Für einen Korporatismus des Universellen, in: ders., D i e Regeln der Kunst. G e n e s e und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a.M. 1999, 5 2 3 - 5 3 5 , 5 2 4 .
Prolog
15
lektuellen sich daher organisieren und vernetzen. 32 Nur wenn sie sich entschließen, ihren Elfenbeinturm zu verlassen und ihren Kampf „kollektiv" zu fuhren, kann es ihnen, aus seiner Sicht, gelingen, ihre Schwäche zu überwinden, die aus interner Konkurrenz und Zerrissenheit resultiert, und neue - über die Petition und das Manifest als klassische Medien der Intellektuellen hinausweisende - Aktionsformen zu finden und zu etablieren. Vorläufer für den „kollektiven Intellektuellen", der ihm vorschwebt, zitiert er nicht. Er hätte Bertolt Brecht nennen können, dessen Konzeption des „Eingreifenden Denkens" zentrale Elemente des „kollektiven Intellektuellen" ä la Bourdieu vorwegnimmt. 33 „Politik ist", so Bourdieu, „ein Kampf um Ideen, aber einen ganz besonderen Typus von Ideen (idees-forces), die als Mobilisierungskraft fungieren." 34 Mit anderen Worten: Politik ist ein Kampf um „Leitideen", die Ordnungsprinzipien enthalten, welche die Sicht auf die Welt festlegen. Bourdieu schreibt dem Intellektuellen die Aufgabe zu, sich in die Kämpfe um Sicht- und Teilungskriterien der sozialen Welt, das heißt um Wahrnehmungs-, Denk- und Klassifikationsschemata, einzumischen und dafür Kräfte zu mobilisieren. Hängt es doch, aus seiner Sicht, vom Ausgang dieser Kämpfe ab, welche Sichtweisen vertreten und welche Kategorien der Wahrnehmung der sozialen Welt ungedacht, unbenannt und ausgeschlossen bleiben. Umgekehrt gilt, wie er im Interview zuspitzend formuliert und an einem historischen Beispiel illustriert: „Wenn das von mir vorgeschlagene Teilungsprinzip von allen anerkannt wird, wenn mein nomos zum universellen nomos wird, wenn alle die Welt so sehen, wie ich sie sehe, dann habe ich die ganze Kraft der Personen, die meine Sicht teilen, hinter mir. .Proletarier aller Länder, vereinigt euch!' ist eine politische Erklärung, die besagt, daß das Prinzip der Teilung in Nationalitäten an Bedeutung verliert gegenüber dem Prinzip der Internationalität, das über alle Grenzen hinweg Reiche und Arme einander entgegenstellt." 35 Der häretische Bruch mit der bestehenden Ordnung setzt, so Bourdieu, eine Konversion der Weltsicht durch „kognitive Subversion" voraus. Vorstellungen sind, aus seiner Sicht, Teil der sozialen Realität. Die „Voraus-Schau" - die Utopie, der Plan oder das Programm - trägt als „performative Vorher-Sage, die verkündet, vorhersieht und vorsieht, selber praktisch zur Realität dessen bei, was sie verkündet." Folgt man dieser Konzeption, ist nicht nur der .Streit der Ideen' weniger realitätsfern als er scheint, sondern fällt auch Worten eine strukturgebende Macht zu. 36 Warum aber sollten gerade die Kulturproduzenten das Wort ergreifen? Einer der Gründe liegt, wie er argumentiert, in
32
Pierre
Bourdieu,
„Und dennoch...",
in: ders. Hg., Intellektuelle,
Markt & Zensur
(Liber.
Internationales Jahrbuch für Literatur und Kultur), Konstanz 1998, 9 9 - 1 0 3 , 102. 33 34
Vgl. dazu den Beitrag von Ingrid Gilcher-Holtey in d i e s e m Band. Pierre Bourdieu, D a s politische Feld, in: ders., D a s politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft, Konstanz 2 0 0 1 , 41 - 5 7 , 51.
35
Ebd.
36
Pierre Bourdieu, W a s heißt sprechen? D i e Ö k o n o m i e des sprachlichen T a u s c h e s , Wien 104ff.
1990,
Ingrid
16
Gilcher-Holtey
der Bedrohung der Autonomie des kulturellen Produktionsfeldes durch die zunehmende Durchdringung der Welt der Kunst und der des Geldes. Dieser Prozeß führe dazu, daß die Verfügungsgewalt über die kulturellen Produktionsverhältnisse (die Konsekrationsinstanzen eingeschlossen) mehr und mehr unter den Einfluß und die Herrschaft der Wirtschaft gerate. Ein anderer Grund liege im Anti-Intellektualismus, der mit dem Zerfall der Autonomie der Sphäre der kulturellen Produktion einhergehe, ein dritter schließlich in der Komplizenschaft von Verlegern und Kritikern mit den Mächten des Kommerzes. Nicht zuletzt ihr Eigeninteresse erfordere es daher, daß sich die Kulturproduzenten engagierten und zusammenschlössen. Aber auch jenseits des korporativen Interesses hält Bourdieu ein Engagement der Intellektuellen für unentbehrlich: im Interesse einer „Realpolitik der Vernunft" einzuschreiten und sich dafür einzusetzen, daß die wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen der Autonomie der kulturellen Produktion erhalten bleiben. Dieses Engagement kann in Form von Situationsanalysen erfolgen, die auf der Grundlage der Kooperation von Experten zustandegekommen sind. Da die Macht der Worte sowie die Macht, die über Worte erlangt werden kann, für Bourdieu gebunden bleibt an die Position und die Eigenschaften der Sprecher, deren soziale Verankerung und Vernetzung, kulturelle und kompetitive Kompetenzen, kann, last but not least, allein schon aufgrund der Ungleichheit der Sprach- und Sprechfähigkeit, das Wort für andere zu ergreifen, nicht aus den möglichen Formen intellektuellen Engagements ausgeschlossen sein, so daß es eine Aufgabe des Intellektuellen bleibt. 37 Vor dem Hintergrund der skizzierten aktuellen Debatten über Aufgabe, Rolle und Funktion der Intellektuellen rekonstruiert und analysiert der vorliegende Band Positionskämpfe europäischer Intellektueller im 20. Jahrhundert. Der Schwerpunkt liegt auf der Untersuchung von Akteuren des literarischen Feldes (Schriftsteilem, Dichtern, Dramatikern, Regisseuren, Literaturkritikern, Verlegern, Übersetzern) in Deutschland, Frankreich, Italien und der Schweiz, die vorübergehend die Rolle des Intellektuellen übernommen unä sich eingemischt haben in den Kampf um Sicht- und Teilungskriterien der sozialen Welt. Das Erkenntnisinteresse richtet sich auf die Wechselwirkungen zwischen dem literarischen und dem politischen Feld. Besteht ein Zusammenhang zwischen Stellung und Stellungnahmen der Akteure? Bildet sich in allen Ländern der Typus des „allgemeinen Intellektuellen" nach dem Vorbild Zolas heraus? Entstehen außerhalb Frankreichs andere Definitionen des Mandats des Intellektuellen sowie konkurrierende Formen des intellektuellen Engagements? Wie wirken historische Ereignisse (Erster Weltkrieg, Nationalsozialismus, Kalter Krieg, 68er Bewegung oder der Umbruch von 1989) auf die Auseinandersetzungen innerhalb des literarischen Feldes? Wie funktionieren und woran scheitern Austauschprozesse zwischen den Akteuren einzelner nationaler literarischer Felder?
37
V g l . zu den F o r m e n d e s intellektuellen E n g a g e m e n t s Pierre B o u r d i e u s den B e i t r a g von A n n a B o s c h e t t i in d i e s e m B a n d .
Prolog
17
Der Kampf um die Definition, Rolle und Funktion des Intellektuellen, der im Zentrum des ersten Teils des Bandes steht, ist an die Entstehung einer gesellschaftlichen Verantwortung des Schriftstellers oder Kulturproduzenten geknüpft. Am Anfang steht daher der Beitrag von Gisele Sapiro, die die Konstruktion eines kritischen Habitus und intellektuellen Ethos in Frankreich unter der Restauration entfaltet und zeigt, wie aus dem Stand der Hommes de Lettres der Typus eines Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit wahrnehmenden Schriftstellers entsteht, für den Kritik an der Macht zugleich zu einem Mittel wird, seine Unabhängigkeit von der Macht unter Beweis zu stellen. Die Konstruktion der Verantwortung des Schriftstellers ist an die Autonomisierung des literarischen Feldes geknüpft. Wie der Beitrag von Herve Serry am Beispiel der „katholischen Literaturrenaissance" in Frankreich darlegt, verlieh der sich im 19. Jahrhundert vollziehende Prozeß der Autonomisierung des literarischen Feldes 38 , der Freisetzung von ökonomischen, politischen und religiösen Mächten, auch denjenigen Schriftsteilem, die noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts angetreten waren, ihre Kunst in den Dienst der Religion zu stellen, eine Stellung relativer Unabhängigkeit, die sie in die Lage versetzte, Stellungnahmen zu artikulieren, die sich nicht zwangsläufig auf der Linie der Kirche bewegten. Gestützt auf ihre literarische Anerkennung, protestierten Autoren wie F r a n c i s Mauriac beispielsweise während des Spanischen Bürgerkrieges gegen die Unterstützung, welche die Katholische Kirche der Regierung General Francos zuteil werden ließ, und wurden damit zu Sprechern eines von der Institution Kirche sich unterscheidenden katholischen Denkens. Politische Stellungnahmen von Intellektuellen sind, wie die Formierung konkurrierender Gruppen im Verlauf der Dreyfus-Affäre demonstriert hat, keineswegs auf eine Kritik der Macht beschränkt, sondern können auch zur Verteidigung der Macht und Institutionenordnung eingebracht werden. Die Interventionen deutscher Schriftsteller ab August 1914 sind ein illustratives Beispiel dafür. Auch wenn sie in der Mehrzahl den Begriff ablehnten, nahmen sie, analytisch betrachtet, doch die Rolle des Intellektuellen wahr. Analog zur Polarisierung der Intellektuellen in der Dreyfus-Affäre schlossen sie sich nach 1916 mit Wissenschaftlern und Künstlern zu konkurrierenden Gruppierungen zusammen, die Einfluß auf die Debatte zur Neuordnung des Kaiserreiches zu nehmen versuchten. Am Beispiel der Brüder Heinrich und Thomas Mann zeigt der Beitrag von Steffen Bruendel zwei konkurrierende Strategien intellektueller Einmischung im Ersten Weltkrieg. Ausgehend von der Hypothese, daß ihre unterschiedlichen politischen Interventionen mehr waren als bloße Folgen eines notorischen Bruderzwistes, prüft Bruendel, ob eine Konkordanz bestand zwischen den Positionen von Heinrich und Thomas Mann im literarischen Feld, ihren Literaturkonzeptionen und ihren politischen Stellungnahmen. Die Abwehr, auf die der Begriff des Intellektuellen in Deutschland stieß39, hat lange Zeit verdeckt, daß es auch hier Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler gab, 38
Vgl. dazu Bourdieu, D i e Regeln der Kunst, 83ff.
39
Vgl. dazu Dietz Behring, D i e Intellektuellen. Geschichte eines S c h i m p f w o r t e s , Frankfurt a.M. 1982.
Ingrid
18
Gilcher-Holtey
die die Rolle des „allgemeinen Intellektuellen" wahrnahmen. 40 Weitgehend unbeachtet blieb Bertolt Brechts Engagement als Intellektueller in der Weimarer Republik. Bis zu seinem 50. Todestag wird er, obwohl nie Mitglied der Kommunistischen Partei, allgemein dem Kommunismus zu- und den Parteiintellektuellen untergeordnet. Dabei gerät aus dem Blick, daß er gemeinsam mit gleichgesinnten Linksintellektuellen am Ende der Weimarer Republik den Versuch unternahm, innerhalb der Intelligenz der Weimarer Republik die Kategorie der Verantwortung des Intellektuellen zu stärken. Er entfaltete darüber hinaus, wie der Beitrag von Ingrid Gilcher-Holtey zeigt, mit seiner Konzeption des „Eingreifenden Denkens" eine eigenständige und neue Definition der Möglichkeiten intellektuellen Engagements, die Elemente des „spezifischen Intellektuellen" (Foucault) und des „kollektiven Intellektuellen" (Bourdieu) vorwegnahm. Der Zweite Weltkrieg veranlaßte, wie schon der Erste Weltkrieg, Teile der Kulturschaffenden, ihre Haltung zum Krieg zu definieren und nach der Rolle zu fragen, die sie bei der Neuordnung der durch den Krieg aufgebrochenen politischen und sozialen Strukturen einnehmen wollten. Unter den schweizerischen Hommes de Pensee ragt mit seinen Stellungnahmen Denis de Rougemont heraus. Die Rolle einer „neutralen" Schweiz in Europa verteidigend, formulierte er zugleich eine Antwort auf die Frage nach der Rolle und Verantwortung von Intellektuellen. Der Beitrag von Kristina Schulz zeigt, wie Denis de Rougement mit seinem Konzept der „aktiven Neutralität" die scheinbare Ausschließlichkeit von „Neutralität" und „Engagement" zu überwinden versuchte. Vor dem Hintergrund der Analyse seiner Stellung im literarischen Feld Frankreichs und der Schweiz entfaltet die Verfasserin, die Stellungnahmen Rougements analysierend, seine Interventionsstrategie des „pensez en acte". Denken in Handeln zu überführen, schreibend zum Handeln anzuleiten, schwebte auch einer deutsch-italienisch-französischen Gruppe von Schriftstellern vor, die sich vor dem Hintergrund des Algerienkrieges zusammenfand. Im Zentrum ihrer Debatten stand das Projekt der Gründung einer Revue Internationale, einer in drei Sprachen verfaßten Zeitschrift, die für Schriftsteller und Schriftstellerinnen der drei Länder ein Forum zu schaffen suchte, das ihre Analysen und Kommentare des Zeitgeschehens sowie der Entwicklung der Nachkriegsgesellschaft bündelte und koordinierte. Die Euphorie in den Anfängen des Projekts sowie die Schwierigkeiten im Prozeß seiner Realisierung, insbesondere die internen Differenzen hinsichtlich der „Schreibweise" (Roland Barthes) und damit den Formen des intellektuellen Engagements, zeigt Henning Marmulla in seinem Beitrag auf. Die Einsicht, die die Initiatoren des Projekts einer Revue Internationale einte, daß Manifeste und Petitionen als klassische Medien des Intellektuellen nicht mehr zeitgemäß seien, zumal dann, wenn sie „nur" von nationalen Intellektuellengruppen vorgebracht wurden, führte ab den 1960er Jahren zur experimentellen Erprobung alternativer
40
Vgl. zu den Anlässen und Strategien Jutta Schlich, Intellektuelle im 20. Jahrhundert in Deutschland. Ein Forschungsreferat (Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Sonderheft 11), Tübingen 2 0 0 0 .
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19
Formen des intellektuellen Engagements. 4 ' Die Redefinition der Rolle und Aufgabe des Intellektuellen, die damit einsetzte, war an eine Redefinition des Machtbegriffs geknüpft. Der Beitrag von Anna Boschetti, in dessen Zentrum die Soziologie des Intellektuellen und Bourdieus Rolle als Intellektueller stehen, zeigt unter anderem, wie Bourdieu in Abgrenzung von Foucaults Macht-Konzeption sowie Typus des „spezifischen Intellektuellen" einerseits und Sartres Repräsentation der Rolle des „allgemeinen Intellektuellen" andererseits seine Konzeption des „kollektiven Intellektuellen" entwarf. Daß der „allgemeine Intellektuelle" nach dem Tod Sartres (1980) trotz konkurrierender Formen intellektuellen Engagements und anhaltender Kritik, die unter Berufung auf die Prämissen des postmodernen Paradigmas geübt wurde, nicht als „tot" betrachtet werden kann, veranschaulicht der Beitrag von Dorothee Liehr, die Adolf Muschgs Eingriffe in die sogenannte Fichen-Affäre in der Schweiz 1989/90 untersucht. Im Zentrum des zweites Teils des Bandes steht die Analyse von Transferprozessen, externen Konflikten und ihren Wirkungen auf das literarische Feld. Den Anfang macht Ioana Popa, die in ihrem Beitrag die Übermittlung osteuropäischer Literaturen nach Frankreich während des Kalten Krieges untersucht. Der Beitrag rekonstruiert die Strategien des Literaturexports osteuropäischer Schriftstellerverbände, entwickelt eine Typologie der Übersetzer und problematisiert am Beispiel eines kommunistischen Netzwerkes von Übersetzern das Verhältnis von politischem Engagement und literarischem Transfer. Dorothea Kraus greift die Problematik der Übermittlung aus einer anderen Perspektive auf: derjenigen der westdeutschen Theater. Ausgehend von ausgewählten Inszenierungen, in deren Zentrum Ende der sechziger Jahre die Problematik intellektuellen Engagements rückte (Marat/Sade, Toller, Torquato Tasso), fragt sie danach, wie sich die Regisseure zu den 68er Protestereignissen positionierten und die Akteure der Außerparlamentarischen Opposition (APO) auf die ihnen offerierten Deutungen reagierten. Ihre Untersuchung gibt Aufschluß über die Auswirkungen feldexterner Faktoren auf die Konkurrenz- und Definitionskämpfe im Theater, das Verhältnis von künstlerischer und politischer Sphäre in einer Phase hoher Politisierung sowie über den gescheiterten Schulterschluß zwischen Theateravantgarde und APO. Der Problematik der Wirkungen der 68er Bewegung auf das literarische Feld wendet sich auch der Beitrag von Claus Kröger zu, der, den Konflikt zwischen dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels und dem Leiter des Suhrkamp Verlages, Siegfried Unseld, in den Blick nehmend, nach den Effekten der Proteste anläßlich der Frankfurter Buchmesse 1967 auf diesen internen Konflikt fragt. Die konkurrierenden Logiken der Protagonisten des Buchmarktes konfrontierend, entfaltet sein Beitrag die Hintergründe für das Scheitern der Forderung nach „Demokratisierung der literarischen Produktionsverhältnisse", die von einer Gruppe von Lektoren und Buchhändlern erhoben wurde, die sich im Anschluß an die Buchmessenproteste formierte. Boris Gobille setzt die Reihe der
Vgl. dazu
Ingrid Gilcher-Holtey,
Das D i l e m m a des „revolutionären
Debray, in: dies., Eingreifendes Denken.
Intellektuellen":
Regis
Ingrid
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Gilcher-Holtey
Untersuchungen zu den Wirkungen der 68er Proteste auf das literarische Feld fort, indem er die französische literarische Bewegung des Surrealismus in der Krise des Mai 68 in Frankreich untersucht. Sein Beitrag skizziert die Geschichte des Surrealismus nach 1945, die internen Kämpfe nach dem Tod Andre Bretons und analysiert, wie und warum die Protestereignisse, welche die Surrealisten herbeigewünscht hatten, den Zerfall der surrealistischen Bewegung beschleunigten, ihr den „Gnadenstoß" versetzen konnten. Wie in der Bundesrepublik Deutschland, wo die 68er Bewegung in entscheidender Weise zum Zerfall der Gruppe 47 beitrug, die sich bis dahin als legitime außerparlamentarische Opposition gesehen hatte,42 führte auch in Frankreich die Mai-Bewegung mithin das Ende einer „alternden Avantgarde" (Gobille) herbei; ein Paradox, so der Verfasser, da die Mai-Bewegung sich auf die Surrealisten als Vordenker und Vorbild berufen hatte. Die nachfolgenden Beiträge des Bandes nehmen schließlich den Umbruch von 1989/90 und seine Wirkungen auf das literarische Feld in den Blick. Markus Joch untersucht den Literaturstreit, der sich 1990 an Christa Wolfs Erzählung „ Was bleibt" entzündete und sich zu einer Abrechung der Literaturchefs der ZEIT und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Ulrich Greiner und Frank Schirrmacher, mit Christa Wolf und Günter Grass entwickelte, die ihr literarisches Prestige in der jüngsten Vergangenheit immer wieder eingesetzt hatten, um sich in die Politik einzumischen. Der Beitrag problematisiert die Rolle der beiden Literaturkritiker, die unter Berufung auf das Autonomie-Postulat der Literatur der ostdeutschen Autorin ein Jahr nach dem Mauerfall Kompromißbereitschaft mit dem DDR-System vorwarfen, dem westdeutschen Autor mangelnde Parteiunabhängigkeit anlasteten und auf der Grundlage dieser Kritik zu einer pauschalisierenden Intellektuellenschelte - entsprechend des in den Feuilletons verbreiteten postmodernen Paradigmas 43 - übergingen. Franziska Schößler wendet sich den Transformationen im Theater der 1990er Jahre zu. Ihr Beitrag konfrontiert die Versuche einer neuen „jungen Generation" von Dramatikern und Dramatikerinnen, innerhalb der Stadt- und Staatstheater ein neues sozialpolitisches Theater zu etablieren, mit dem Unternehmen des Aktionskünstlers Christoph Schlingensief, der den Raum des Theaters verläßt, um politische und theatralische Diskurse außerhalb zu inszenieren, mithin „das Theater rettet, indem er es abschafft" (Carl Hegemann). Der Innovationsschub, der sich um 1995 in der Theaterszene vollzog und eine Repolitisierung des Theaters einleitete, war, wie die Verfasserin zeigt, nicht Folge der politischen Zäsur von 1989/90, sondern von Distinktionskämpfen und internen Konflikten innerhalb des literarischen Feldes und seines Subfeldes des Theaters. Mit anderen Worten: Nicht „kritische" Ereignisse (Bourdieu) und gesellschaftliche Entwicklungen führten zum Aufstieg einer neuen Theateravantgarde in den 1990er Jahren, sondern poetologische Konzepte, die den Blick für die soziale Wirklichkeit schärften, „Wirklichkeit" neu definierten und Vgl. dazu dies., Was kann Literatur und w o z u schreiben? D a s Ende der Gruppe 4 7 , in: Berliner Journal für S o z i o l o g i e I 4 . 2 0 0 4 / H . 2 , 2 0 7 - 2 3 2 . Vgl. dazu den Beitrag von Heribert T o m m e k in d i e s e m Band.
Prolog
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dergestalt über die Redefinition von Wahrnehmungs- und Deutungsschemata der sozialen Welt das Verhältnis von Theater und Wirklichkeit reprofilierten. Auch der Beitrag von Heribert Tommek zeigt, daß die politische Zäsur von 1989/90 für die Entwicklung des literarischen Feldes keinen entscheidenden Einschnitt markierte. Den Aufstieg der Pop-Literatur innerhalb der westdeutschen Nachkriegsliteratur, ihre Parallelität und ihr Spannungsverhältnis zur 68er Bewegung analysierend, macht der Verfasser im Strukturwandel der literarischen Öffentlichkeit in den siebziger Jahren die für die Entwikklung des literarischen Feldes in den neunziger Jahren entscheidende Grundlage fest. Die Beiträge dieses Bandes wurden vorgestellt und diskutiert auf einer Tagung, die unter dem Titel „Das literarische Feld - eine Welt für sich? Interdependenzen, Binnendifferenzen und Internationalisierung" vom 20. bis 22. Oktober 2005 im Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) in Bielefeld stattfand. Sie brachte Forscher und Forscherinnen des Projekts ESSE (Pour un Espace des Sciences Sociales Europeen) zusammen, das aus Mitteln des „Sechsten Rahmenprogramms" der EU finanziert wird. Die Debatten auf der Tagung fanden in französischer Sprache statt. Für die Übersetzungen der französischen Beiträge in diesem Band danke ich Bernd Schwibs und Achim Russer. Die Aufbereitung wissenschaftlicher Texte zur Drucklegung unter den Bedingungen des heutigen Verlagswesens erfordert erhebliche technische Kenntnisse und Arbeit. Claus Kröger und Henning Marmulla haben unter Mithilfe von Helmut Braun, Mareike Buba, Henning Damberg, Jürgen Piecha, Christian Schepsmeier, Christian Siepmann und Paul-Matthias Tyrell diesen Teil der redaktionellen Arbeit mit viel Engagement durchgeführt. Ihnen gilt mein besonderer Dank.
I.
Der Kampf um die Definition, Rolle und Funktion des Intellektuellen
GISELE SAPIRO
Vom Schriftsteller zum Intellektuellen: Die Konstruktion eines kritischen Habitus unter der Restauration1
„Bauen Sie Oden auf den Hochwohlgeborenen Superbus Fadus, Madrigale für seine Maltresse, widmen Sie seinem Türsteher ein geographisches Werk, und Sie werden gut aufgenommen; klären Sie die Menschen auf, und Sie werden vernichtet. Descartes muß sein Vaterland verlassen, Gassendi wird fälschlich angeklagt, Arnaud verbringt sein Leben im Exil; jeder Philosoph wird behandelt wie die Propheten bei den Juden."
Voltaire, Lettres, gens de lettres ou lettres „Aber das Denken ist verhaßt in ihren Salons. Es darf sich nicht über die Höhe eines Gassenhauers wagen, nur dann wird es belohnt. Ein Denkender jedoch, dessen Einfälle kraftvoll und neu sind, der gilt als Zyniker. Ist Courier nicht von einem ihrer Richter so bezeichnet worden? Sie haben ihn ins Gefängnis geworfen, ebenso Beranger. Alles, was bei ihnen geistig irgend etwas wert ist, überantworten die Pfaffen dem Staatsanwalt; und die gute Gesellschaft klatscht Beifall."
Stendhal, Le Rouge et le Noir „Woher hast Du diesen silbernen Napf, Woher hast Du diesen Napf? Hast Du beim Zar oder beim Regenten Den Hanswurst gespielt?"
Chanson, Verfasser vermutlich Armand Gouffe. Vgl. Anhang 2 Das erste Zitat ist dem Beitrag Gens de Lettres entnommen, den Voltaire für die Encyclopidie verfaßte; das zweite eine Äußerung des Grafen Altamira in Stendhals Le Rouge et le Noir. Zwei Modelle des Homme de Lettres stehen sich gegenüber: das des Kriechers und das des autonomen Denkers, der die Menschen aufklären will. Die beiden Modelle schließen ein unterschiedliches Ethos (Max Weber), einen unterschiedlichen Habitus (Pierre Bourdieu) ein. Während der erste Typus seine Feder gegen weltli-
Dieser Text stellt einen Auszug aus dem Werk La responsabilite de l'ecrivain tung des Schriftstellers) dar, das im Verlag Fayard (Paris) erscheinen wird.
(Die Verantwor-
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Gisele Sapiro
che Vergünstigungen in den Dienst der Macht stellt, läßt sich der zweite nur von seiner Mission lenken, die öffentliche Meinung aufzuklären und die Wahrheit zu verbreiten, was ihm oft genug die Verfolgung der Machthaber einträgt. Der erste Typus wird von dem Chanson aufgespießt, aus dem das dritte Zitat stammt und das auf den Chansonnier Desaugiers zielt, dem Ludwig XVIII. eine silberne Suppenschüssel geschenkt hatte. Dieses vermutlich von Armand Gouffe verfaßte Chanson läßt den Wandel in den Beziehungen zwischen Schriftstellern und Macht hervortreten: Indem es den Hofdichter verspottet, der gegen kümmerlichen Sold bei den Mächtigen den „Hanswurst" spielt, tritt es für Unabhängigkeit von den jeweils Herrschenden ein. Der Übergang zwischen diesen beiden Modellen kennzeichnet eine Phase im Prozeß der Autonomisierung, durch die ein intellektuelles Feld sich vom Macht-Feld ablöst.2 Die soziale Konstruktion eines intellektuellen Ethos, das der Kunst, den Machthabem zu gefallen, die Verantwortung des Schriftstellers gegenüber seinem Publikum entgegensetzt, vollzieht sich in den Kämpfen um die Ausdrucksfreiheit. Diese soziale Konstruktion der Gestalt des Schriftstellers als Intellektuellen avant la lettre - eine Konstruktion, die Vorläufercharakter hat - ist der Gegenstand meiner folgenden Ausführungen. Dieses im 18. Jahrhundert von den „Philosophen" ausgearbeitete intellektuelle Ethos ist zu Anfang des 19. Jahrhunderts mit der weiteren Ausdifferenzierung der geistigen Arbeitsteilung und der Professionalisierung von Wissenschaft und Philosophie auf die Schriftsteller übergegangen (I). Es hat sich unter der Restauration auf eine besondere Funktion fokussiert: die der Kritik an der Macht (II). Nach dem kurzen revolutionären Intermezzo, das die Pressefreiheit herbeigeführt hatte, wurde die in der Verfassung von 1814 kodifizierte Ausdrucksfreiheit unter der Restauration erprobt und erlernt. Das Recht, seine Meinung zu veröffentlichen und drucken zu lassen (Artikel 8), die Freiheit der philosophischen Diskussion (Artikel 5) und die freie Ausübung der Kritik an der Macht wurden als für ein parlamentarisches Regierungssystem erforderlich erachtet. Die politischen Prozesse sind einer der Orte, an denen um die Grenzen dieser Freiheit der Gesellschaftskritik gestritten wird. Für liberale Autoren, die ihre Stellung der Bekanntheit beim Publikum verdanken, ist, wie die Karrieren des Chansonniers Beranger und des Pamphletisten Paul-Louis Courier zeigen, die Kritik an der Macht ein Mittel, ihre Unabhängigkeit von den Machthabem unter Beweis zu stellen (II). Die gegen sie angestrengten Prozesse, die zu den ersten großen, öffentlichen Prozessen gegen Schriftsteller zählen, stellen die Gelegenheit dar, dieses neue intellektuelle Ethos zu formulie-
2
Pierre Bourdieu, „Habitus, Herrschaft und Freiheit". Wie die Kultur zum Bauern kommt. Über Bildung, Klassen und Erziehung, aus dem Franz. v. Jürgen Bolder, Hamburg 2001; Pierre Bourdieu, Die Wechselbeziehungen von eingeschränkter Produktion und Großproduktion, in: Christa Bürger/Peter Bürger/Jochen Schulte-Sasse Hg., Zur Dichotomisierung von hoher und niederer Literatur, aus dem Franz. v. Bemd Schwibs, Frankfurt a.M. 1982, 40-61; Christophe Charle, Vordenker der Moderne: die Intellektuellen im 19. Jahrhundert, aus dem Franz. v. Michael Bischoff, Frankfurt a.M. 1997.
Vom Schriftsteller zum Intellektuellen
27
ren und zu bekräftigen (III). Daß Graf Altamira in Stendhals Rot und Schwarz ihre Verurteilung erwähnt, zeugt von der zeitgenössischen Breitenwirkung dieser Vorgänge.
Vom Homme de Lettres zum Schriftsteller: Die Konstruktion der Verantwortung Partiell erklärt die Expansion des Buchmarkts das Aufkommen einer die Autonomisierung der Hommes de Lettres gegenüber dem Staat begünstigenden .Öffentlichkeit' im 18. Jahrhundert.3 Sie begründet die aufkommenden Forderungen nach Ausdehnung der Pressefreiheit. Freiheit der Meinungsbildung, Freiheit der philosophischen Diskussion: Diese aufklärerischen Grundsätze stehen der Tyrannei und dem Dogmatismus entgegen, die eine blinde Unterwerfung unter die Willkür der Institutionen fordern. Diese Grundsätze gehen von der Fähigkeit der Individuen aus, unabhängig zu denken und zu handeln, das heißt ihr Verhalten an einem Urteil auszurichten, das ihr freier Wille nach Prüfung entgegengesetzter Auffassungen fällt. Als Befürworter der Ausdrucksfreiheit und deren beispielhafte Vertreter machen die Hommes de Lettres sich die Diskussion von Lehrmeinungen und Prinzipien zur Aufgabe und geben sie das Ergebnis ihrer Überlegung der Nation bekannt. Damit tragen sie dazu bei, die Aufklärung zu verbreiten und das Volk zu erziehen. Sie beanspruchen, die Freiheit zu verkörpern und damit einen Auftrag zu erfüllen, der rückwirkend Verantwortung einschließt. Im Namen dieser neuen geistigen Macht erheben sie den Anspruch, den Lauf der weltlichen Dinge zu beeinflussen. Sich an die Stelle der alten Aristokratie setzend, bilden sie eine geistige Aristokratie: „[...] die Schriftsteller, die die Leitung der öffentlichen Meinung in die Hand nahmen, sahen sich eines Tages im Besitz der Stelle, die in freien Ländern gewöhnlich die Parteiführer einnehmen"; in einer Nation, „die damals die literarisch gebildetste und den schönen Wissenschaften ergebendste unter allen Nationen der Erde war", wurden die Schriftsteller „eine politische Macht und am Ende sogar die erste".4 Diese gegenüber den Korporationen des absolutistischen Staates behauptete individuelle, freie und oft uneigennützige Praxis der moralischen, sozialen und politischen Kritik, die ihre Macht weder aus der Tradition noch aus der gesetzlichen Ordnung bezieht, sondern einzig und allein aus dem Charisma, das ein Autor auf ein Leserpublikum ausübt, dessen Erwartungen er erfüllt, erlaubt es, seine Position in der sozialen Struktur mit der eines Propheten zu vergleichen. Dies um so mehr, als der Prozeß der Laizisierung und der Kampf der Aufklärung gegen die Vorurteile und den Dogmatis-
3
Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1990; Roger Chartier, Les Origines culturelles de la Revolution fran?aise, Paris 2 0 0 0 , 2 2 0 f f . ; Didier Masseau, L'Invention de l'intellectuel
dans
1'Europe du X V I I I e siecle, Paris 1994. 4
A l e x i s de T o c q u e v i l l e , Der alte Staat und die Revolution, aus d e m Franz. v. T h e o d o r Oelckers, Reinbek 1 9 6 9 , 1 2 6 / 1 2 9 .
28
Gisele Sapiro
mus seit der Mitte des 18. Jahrhunderts die Übertragung der Funktion des Heiligen von der Welt der Religion auf die der Literatur begünstigt. Gegen die etablierte Religion setzen die Hommes de Lettres einen neuen philosophischen, humanistischen, lediglich den Geboten der Vernunft gehorchenden Glauben.5 In einer Epoche, in der der Kult der Grands Hommes, der Großen Männer, sich entwickelt6, tritt der Homme de Lettres als profaner Heiliger auf den Plan7, sofern er sich nicht gar, wie Rousseau, zum Gesetzgeber aufwirft. Im Unterschied zum Priester oder Theologen, der im Auftrag einer Institution auftritt, ist der Schriftsteller wie der Prophet in Max Webers Untersuchung8 von niemandem beauftragt. Wenn er im Namen der Vernunft spricht, beruht sein Kredit und sein Recht, von ihr Gebrauch zu machen, einzig auf seinem Talent, der Quelle seines Charismas'. Es bringt aber auch neue Verpflichtungen und eine neue Verantwortung mit sich. Dem Durkheimschüler Paul Fauconnet9 zufolge schwanken die sozialen Definitionen der Verantwortung zwischen Objektivität und Subjektivität: Die reine objektive Verantwortung, in der die Beziehung zwischen dem Verbrecher und dem Verbrechen äußerlich ist, läßt sich durch die rituelle Sühne illustrieren, während die reine subjektive Verantwortung, wie sie von der religiösen Moral vertreten wird, bereits schuldhafte Gedanken und Absichten verurteilt. Die juristische Haftung ist ein Kompromiß zwischen diesen beiden entgegengesetzten Tendenzen. Das Aufkommen der subjektiven Verantwortung ist Ergebnis eines historischen Prozesses der Vergeistigung und Individualisierung der Verantwortung10, der dazu fuhrt, als Handlungsakte nur Vorgänge
5
Paul Benichou, Le Sacre de l'ecrivain 1750-1830. Essai sur l'avenement d ' u n pouvoir spirituel la'i'que dans la France moderne, Paris 1996, 45-48.
6
Jean-Claude Bonnet, Naissance du Pantheon. Essai sur le culte des grands hommes, Paris 1998. Ganz wie in den Lebensbeschreibungen von Heiligen steht im Zentrum der Biographien von Philosophen - ein Genre, das in dieser Epoche seinen Aufschwung nimmt - die Konversion, das heißt ein Ereignis, das eine Erleuchtung herbeiführt und die Wahrheit offenbart. Vgl. Dinah Ribard, Philosophe ou ecrivain? Probleme d e delimitation entre histoire litteraire et histoire de la philosophic en France, 1650-1850, in: Annales HSS 55.2000/H.3/4, 355-388 (bes. 372-380).
7
8
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen 1956, 346-355 (Kap.5, §4). Vgl. auch: Pierre Bourdieu, Eine Interpretation der Religion nach Max Weber, in: ders., Das religiöse Feld. Texte zur Ökonomie des Heilsgeschehens, aus dem Franz. v. Andreas Pfeuffer, Konstanz 2000, 11-37, sowie ders., Genese und Struktur des religiösen Feldes, in: ebd., 39-110. Zu der von Pierre Bourdieu angeregten Übertragung der Weberschen Analyse des Prophetentums auf das literarische Feld vgl. meinen Artikel Forms of politicization in the French literary field, in: Theory and Society 32.2003, 633-652.
9
Paul Fauconnet, La Responsabilite. Etude de sociologie, Paris 1920. Alois Hahn, Contribution ä la sociologie de la confession et autres formes institutionnalisees d ' a v e u , in: Actes de la recherche en sciences sociales 1986/H.62/63, 64-79. Der Artikel vertritt die Historisierung des Auftretens der Subjektivität im Z u s a m m e n h a n g mit Prozessen der sozialen Kontrolle; vermittelndes Glied spielt dabei die Beichte als Form institutionalisierten Bekenntnis-
10
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Intellektuellen
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anzusehen, die durch eine innere kausale Beziehung, das heißt durch eine Absicht, mit ihrem Urheber verknüpft sind, wobei diese Kausalität den Begriff des freien Willens voraussetzt, auf dem die subjektive Konzeption von Verantwortung beruht. Die Kantsche Moral ist eine säkularisierte Fassung des Prinzips des radikalen Subjektivismus. Indem sie den Diskurs an ein Individuum und nicht mehr an eine Institution oder Körperschaft binden, erhöhen die Vertreter jenes neuen Gerichtshofs des Gewissens ihre individuelle und subjektive Verantwortung. Sie setzen sich einem doppelten Urteilsspruch aus: Einerseits unterwerfen sie sich selbst dem Verdikt eines Gerichts, das aufzuklären sie beanspruchen: dem Publikum; andererseits nehmen sie die Gefahr auf sich, im Namen ebenjener Vorurteile verurteilt zu werden, die zu bekämpfen sie sich das Recht nehmen und die oft den Sockel der gesetzlich kodifizierten, offiziellen Moral bilden. Auf dem ersten Urteilsspruch beruht die moralische Verantwortung des modernen Schriftstellers, auf dem zweiten seine strafrechtliche. Von niemandem beauftragt, hat der Prophet sich ganz allein der gesellschaftlichen Sanktion zu stellen. Während die zutreffende Prophezeiung zu seiner Legitimierung genügt - die Verantwortung als Verdienst honorierende positive Sanktion schlechthin des Autors ist die Unsterblichkeit 11 kann die falsche Prophezeiung den Tod nach sich ziehen. Paul Fauconnet zufolge „macht der hohe moralische Wert der Repression den der Verantwortung aus, die ihr zugrunde liegt". 12 Die Erklärung des französischen Königs von 1757, die denjenigen mit der Todesstrafe bedroht, der Schriften verfaßt, in Auftrag gibt, druckt, verkauft oder vertreibt, die geeignet sind, die Religion zu schmähen, die Geister zu erregen, die Monarchie zu beleidigen und Ruhe und Ordnung des Staates zu erschüttern, stellt einen zuverlässigen Hinweis auf den der schriftstellerischen Verantwortung beigemessenen symbolischen Wert dar, mochte auch die Schärfe dieser Deklaration garantieren, daß sie nicht umgesetzt werden konnte. 13 Wie Michel Foucault erklärt hat 14 , ist die ,Autor-Funktion' der Diskurse - die Zuschreibung einer Reihe von Diskursen zu einem Verfassernamen - ein Klassifizie-
ses. 11
Entsprechend Dürkheims Kategorien, der den unterschiedlichen Typen strafrechtlicher Sanktionen die f o l g e n d e n positiven Sanktionen gegenüberstellt: Den repressiven Sanktionen, die d e m Strafrecht unterliegen und auf die strafrechtliche Verantwortung verweisen, entsprechen die Verantwortung als Verdienst honorierenden Sanktionen ( A u s z e i c h n u n g e n , p o s t u m e Ehrungen usw.); den restitutiven Sanktionen d e s Zivil- und Verwaltungsrechts, die sich auf die restitutive Verantwortung beziehen, entsprechen retributive Sanktionen und die retributorische Verantwortung. Vgl. auch Fauconnet, La r e s p o n s a b l e , 12-14.
12
Fauconnet, La responsabilite, 3 0 0 .
13
Vgl.
Roger Chartier,
Presentation,
in: Chretien-Guillaume de
Lamoignon
de
Malesherbes,
M e m o i r e s sur la librairie, M e m o i r e sur la liberte de la presse, Paris 1994, 18. 14
Michel Foucault, W a s ist ein Autor?, in: ders., Schriften zur Literatur, Frankfurt a.M. 2 0 0 3 , 2 3 4 270.
30
Gisele Sapiro
rungsprinzip, das sich dadurch kennzeichnet, daß es Gegenstand einer Aneignung ist. Historisch gesehen ging der Aneignung eines Werks durch seinen Autor jedoch ein anderer Typus von Zuschreibung oder Anrechnung der Urheberschaft voraus: der strafrechtliche. Die von der Staatsgewalt zur Kontrolle der Zirkulation der Diskurse durchgesetzte Zuschreibung der Urheberschaft wurde von den Hommes de Lettres übernommen und in ihrem Kampf um die Anerkennung des Eigentums an ihrem Werk und des Urheberrechts an ihm gegen den Staat gewandt. 15 Der Begriff der Verantwortung ist daher mit dem Auftauchen der Gestalt des modernen Schriftstellers untrennbar verbunden. Das Ereignis, das zur Definition dieser Verantwortung der Autoren wesentlich beiträgt, ist die Französische Revolution. Und zwar nicht nur deswegen, weil sie die Pressefreiheit in Frankreich eingeführt hat: In der Vorstellungswelt der Zeitgenossen und vor allem in der der Nachfahren scheint die Revolution ganz und gar der Macht der Worte entsprungen. „Mit Recht betrachtet man die Philosophie des 18. Jahrhunderts als eine der Hauptursachen der Revolution", schreibt Tocqueville. 16 Der von den Revolutionären gehegte Glaube, in Voltaire und Rousseau Vorläufer erblicken zu dürfen - ein Glaube, dessen Berechtigung auch ihre entschiedensten Gegner nicht in Abrede stellten hat eine Zählebigkeit entwickelt, die ihn noch heute zum Gegenstand hochgelehrter Debatten qualifiziert. 17 Es kann in unserem Zusammenhang nicht darum gehen, die Französische Revolution zu untersuchen. Ohne den ständigen, zentralen Bezug auf sie ist die Konstruktion der strafrechtlichen und urheberrechtlichen Verantwortung des Schriftstellers in Frankreich jedoch nicht zu verstehen. Der Glaube, daß den Hommes de Lettres eine Verantwortung für jene revolutionären Ereignisse zukommt, gehört gewiß zum eisernen Bestand der kollektiven Vorstellungswelt der Franzosen. Dieser von den Akteuren der Revolution mit Berufung auf Voltaire und Rousseau verkündete Glaube wurde im Rahmen der durch die politische Macht ab 1800 begünstigten geistigen Konterrevolution von ihren Gegnern übernommen. Louis de Bonald und Joseph de Maistre - um nur zwei der berühmtesten zu nennen - verbreiteten die Ansicht, daß die zum Regieren weder befugten noch befähigten Hommes de Lettres ihren in der Gesellschaft erworbenen Einfluß dazu mißbraucht hätten, sie zu zerstören. 1802 bemerkt ein Beobachter: „Unmerklich hat sich selbst unter aufgeklärten Personen eine Art Vorurteil gegen Gelehrte, Literaten und allgemein gegen Individuen, die mit Eifer die Wissenschaften und die Künste kultivieren oder beschützen, festgesetzt, sie hätten nichts anderes im Blick als die öffentliche
15
Vgl. Roger Chartier, Figures de l'auteur, in: ders., L'Ordre des livres. Lecteurs, auteurs, bibliotheques en Europe entre X l V e et XVIlIe siecle, Aix-en-Provence 1992, Kap.2.
16
Tocqueville, Der alte Staat und die Revolution, 18f. Chartier, Figures de l'auteur; Robert Darnton, Literaten im Untergrund: Lesen, Schreiben und Publizieren im vorrevolutionären Frankreich, München 1985.
17
Vom Schriftsteller zum Intellektuellen
31
Ordnung zu stören, indem sie unter den Klassen der Bürger einen Geist der Gärung wider die Sicherheit und die öffentliche Ruhe entfachen." 18 .
Die Vorstellung, der übertriebene Einfluß, den die Hommes de Lettres im 18. Jahrhundert gewonnen hätten, sei ein Zeichen von Dekadenz, wird im übrigen auch von gemäßigteren Denkern wie Guizot vertreten. 19 Diese Überzeugung liegt der konterrevolutionären Konzeption von den Beziehungen zwischen Literatur und Macht zugrunde. Ihr zufolge hat die Literatur sich in ihre Rolle zu fügen, die darin besteht, die Gesellschaft zu verschönern. Diese Rolle spielte sie im Zeitalter der französischen Klassik, in dem sie ihren Gipfel erreichte. Die Aufwertung des 17. Jahrhunderts ist ein Mittel zur Verunglimpfung des 18. Jahrhunderts. Die unter der katholischen Monarchie aufblühende Literatur erfuhr im folgenden Jahrhundert gemeinsam mit der Politik ihren Niedergang. Daraus folgt, daß der Homme de Lettres aus seiner Unabhängigkeit keinerlei Gewinn zieht. Was ihm frommt, ist die Zensur. Die Einführung der Pressefreiheit unter der Restauration verschaffte diesem Glauben Aktualität und erneuten Nachdruck. Im 18. Jahrhundert bezeichnet der Terminus „Schriftsteller" ebenso wie „Autor" oder „Publizist" all diejenigen, die das, was sie schreiben, veröffentlichen, ganz wie der Begriff „Literatur" philosophische, politische, ökonomische, populärwissenschaftliche Werke ebenso einschließt wie Produkte der Phantasie. In einem engeren Sinn wird der Terminus Homme de Lettres verwandt. Die Philosophen behalten ihn Autoren vor, die sich - insbesondere im Gegensatz zu Gelehrten - durch Originalität und Genie auszeichnen. Die Einschränkung verweist aber auch auf einen sozialen Rangunterschied: Die Stipendien, Ämter, offizielle Funktionen und Akademiesitze kumulierenden Hommes de Lettres bilden die .literarische Aristokratie' und stigmatisieren die auf ihre schriftstellerischen Arbeiten Angewiesenen als die „Canaille der Literatur" (die Bezeichnung stammt von Voltaire). 20 Seit Anfang des 19. Jahrhunderts tritt neben die Bezeichnung Homme de Lettres die unter dem Einfluß zunehmender geistiger Arbeitsteilung, eines aufkommenden politischen Feldes und sich liberalisierenden Buchmarkts neu definierte Bezeichnung Schriftsteller: Während die erste lediglich einen Stand bezeichnet, verweist die zweite auf ein Publikum und damit auf eine Mission. 21 Vor allem zeichnet sich mit dem beginnenden 19. Jahrhunderts eine Ausdifferenzierung von Philosophie, Wissenschaft, Politik und Literatur ab, ja eine vollständige
18
Ch.-Theodore Dalberg, De l'influence des sciences et des beaux-arts sur la tranquillite publique, Parme 1802, zit. n. Benichou, Le Sacre de l'ecrivain, 117.
19
Vgl. Benichou, Le Sacre de l'ecrivain, 118f.
20
Robert Darnton, Boheme litteraire et revolution. Le monde des livres au XVIIIe siecle, Paris 1983, Kap. 1.
21
Vgl. Benichou, Le Sacre de l'ecrivain, 207. Zur ersten Ausdifferenzierung der Schriftsteller im 17. Jahrhundert vgl. Alain Viala, Naissance de l'ecrivain, Paris 1985.
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Trennung zwischen ihnen. Der deutlichste Einschnitt vollzieht sich zunächst zwischen Philosophie und Wissenschaft einerseits, Literatur andererseits. Unter dem Druck des napoleonischen Regimes (das in dieser Hinsicht das Werk der Revolution fortsetzt) erfährt der namentlich durch spezifische Ausbildungsgänge (technische Ausbildung, Grandes Ecoles) sowie durch die Entstehung einer scientific community und die Entwicklung der empirischen Forschung für die Bedürfnisse der Industrialisierung und Modernisierung vorangetriebene Prozeß der Professionalisierung der Wissenschaften eine Beschleunigung, die dazu beiträgt, die Wissenschaften von dem abzusetzen, was man weiterhin mit dem Begriff „Literatur" bezeichnet. 22 Andererseits beginnt der „literarische Schriftsteller" sich durch seinen ästhetischen Stil und seine Originalität vom Wissenschaftler, Gelehrten und Künstler abzusetzen. 23 Das auf Stil und Form basierende Originalitätsprinzip bietet eine dreifache Antwort auf die neuen Bedingungen geistiger Konkurrenz. Zunächst einmal erlaubt die Originalität den Schriftstellern im Kontext der Säkularisierung und Verstaatlichung der Universität und der Herausbildung eines Schulbuchmarkts, sich von dem Gelehrtenpol des intellektuellen Feldes abzuheben, wobei die Opposition zwischen auctor und lector eine Reihe weiterer Antinomien im Gefolge hat: Erfindung vs. Wiederholung, Intuition vs. Verstand, Genie vs. Kompetenz, Begabung vs. Fleiß, Angeborenes vs. Erworbenes. 24 Darüber hinaus schützt die neue Gesetzgebung (lois Le Chapelier und Lakanal), die 1791 und 1793 das literarische Eigentum anerkennt, den Stil, nicht aber die Gedanken vor dem Plagiat. 25 Und schließlich wird das Originalitätsprinzip bald zur Antwort auf die Entwicklung jener nach Rezepten gefertigten, standardisierten Literatur, die Sainte-Beuve die i n dustrielle Literatur' nannte und der gegenüber dieses Prinzip Seltenheit in Anschlag bringt. Im Gegensatz zu den ganz von der Nachfrage bestimmten Industrieprodukten, die den sozialen Eigenschaften des jeweiligen Publikums zu entsprechen haben, eignen die Autoren sich durch Bekräftigung ihrer Eigenart und Originalität ihre vom Habitus ihres Schöpfers geprägten Werke neu an und heben die Identifikation von Autor und Produkt auf ihre höchste Stufe. Diese Vorstellung von der Originalität des schöpferischen Geistes verstärkt ihrerseits die Vorstellung vom individualistischen und freien Schriftsteller und damit die subjektive Konzeption seiner Verantwortung. Die Kategorie „Philosoph" wurde im 18. Jahrhundert immer unspezifischer einge-
22
Robert Fox/Georges Weisz, The Organization of Science and Technology in France 1808-1914, Cambridge 1980; Nicole Dhombres/Jean Dhombres, Naissance d'un nouveau pouvoir: sciences et savants en France, 1793-1824, Paris 1989.
23
Der Literatur-Schriftsteller, betrachtet innerhalb der anderen Arten von Schriftstellern (Stück gelesen auf der Sitzung der Academie franpaise am ersten Dienstag im Juni), in: La Minerve fran^aise, Bd.3, 1818, 64-72. Zum Aufkommen dieser neuen ästhetischen Kategorie im 18. Jahrhundert vgl. Roland Mortier, L'Originalite. Une nouvelle categorie esthetique au siecle des Lumieres, Paris 1982.
24
Vgl. Anna Boschetti, Sartre et „Les Temps Modernes", Paris 1985, 27. Chartier, L'Ordre des livres, 57f.
25
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setzt, was einer Strategie entsprach, mit deren Hilfe das Denken, gestützt auf die Expansion des Buchmarkts, sich der noch immer von der Kirche kontrollierten Institution Universität entzog. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts werden die Zuständigkeiten der „Philosophie" und der „Literatur" neu aufgeteilt. Da der Staat der Universität das Monopol an der Philosophie zuerteilt, zieht sie dieses Etikett wieder an sich. Sie entzieht der mißbräuchlichen Verwendung des Begriffs die Legitimation und entfernt die französischen Autoren des 18. Jahrhunderts zugunsten deutscher und schottischer Denker aus ihrem Kanon. Die „Philosophen" des 18. Jahrhunderts sehen sich in die Rubrik Literatur verwiesen - ihres Stils, nicht aber ihrer als gefährlich eingestuften Gedanken wegen geschätzt, können sie dem kulturellen Erbe als Schriftsteller zugeschlagen werden.26 Daß der Mißbrauch des Talents eher mit der Gestalt des Schriftstellers als mit der des Philosophen in Verbindung gebracht wird, rührt von dieser Neuverteilung der Sparten her. Sie wird vertieft durch den Graben, der sich nun zwischen dem stabilen Status des verbeamteten Intellektuellen im Staatsdienst und dem des freien Schriftstellers auftut, dessen Status ihn auch gegenüber dem Politiker zum Privatmann stempelt. Mit dem Aufkommen eines parlamentarischen Regimes unter der Restauration konstituiert sich ein offizieller, der politischen Debatte vorbehaltener Raum: das Parlament. Die Gesetzgebung über die Pressefreiheit unterscheidet zwischen einerseits dem in diesem Raum vorgetragenen, mündlichen Diskurs, dessen Urheber das für die Mitglieder beider Kammern geltende Privileg der Immunität genießt, und andererseits den gedruckten, nicht von dieser Tribüne herab vorgetragenen Diskursen, deren Verfasser, mag er auch Pair des Königreichs oder Abgeordneter sein, von keinerlei Status geschützt, sondern juristisch belangbar ist. Damit ist „der vollständigste Unterschied zwischen dem öffentlichen Charakter des Pair oder Abgeordneten und dem privaten Charakter des Publizisten oder Schriftstellers eingetreten. Nur die Tribüne des Parlaments macht Debatten zu gesetzgeberischen; außerhalb ihrer gibt es nur Privatmeinungen, deren Weisheit, Schicklichkeit und Mäßigung nichts gewährleisten", kommentiert ein zeitgenössischer Jurist.27 Für viele dieser Pairs und Mitglieder der Abgeordnetenkammer - letztere setzt sich am Ende der Restauration zu 13% aus Rechtsanwälten und Hommes de Lettres zusammen28 - schließt diese Unterscheidung eine innere Spaltung zwischen dem Schriftsteller und dem politischen Vertreter ein. Die Differenzierung zwischen Schriftsteller und Politiker steht jedoch erst an ihrem Beginn: 1820 haben 24% der Verfasser literarischer Werke diplomatische Stellen, Posten in der öffentlichen Verwaltung oder Ehrenämter inne; diese Zahl fällt auf 17% im Jahre 1827 und auf 10%
26
Ribard, Philosophe ou ecrivain? 380-388.
27
L. Raymond-Balthasard Maiseau, Manuel de la liberie de la presse. Analyse des discussions legislatives sur les trois lois relatives ä la presse et aux joumaux et ecrits periodiques, Paris 1819, 29f.
28
Guillaume de Bertier de Sauvigny, La Restauration, Paris 1999, 291.
34
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im Jahr 1834, bevor sie 1844 wieder auf 13% ansteigt.29 Der Anteil dieser Gruppe vertieft sich erst später, und zwar namentlich mit der Spezialisierung der höheren Beamtenlaufbahn unter dem Zweiten Kaiserreich und mit dem Auftauchen von Berufspolitikern unter der Dritten Republik, einer repräsentativen Demokratie.30 Autonomisierung der Literatur gegenüber Kirche und Staat, Liberalisierung des Buchmarkts, Beanspruchung einer erzieherischen Funktion im Namen von Vernunft und Urteilsfreiheit, Ausübung einer nichtreligiösen geistigen Macht im Namen des individuellen Charismas, Aneignung des Werks durch seinen Verfasser: All diese Faktoren begründen von der Mitte des 18. Jahrhunderts an die Autonomisierung der literarischen Tätigkeit, ihre Individualisierung und die Subjektivierung ihrer Verantwortung.31 Mit der Ausdifferenzierung der geistigen Tätigkeiten im 19. Jahrhundert geht eine zunehmende Liberalisierung und Industrialisierung der Buchproduktion einher. Diese neue Konfiguration verstärkt das von der Romantik gefeierte Bild des freien, einsamen Schriftstellers und damit auch seine subjektive Verantwortung. Die unter der Restauration erlassene neue Pressefreiheit bestimmt die Merkmale und die gesetzlichen Konturen der Verantwortung des Schriftstellers und eröffnet zugleich einen Raum, in dem unterschiedliche Konzeptionen seiner Mission und sozialen Rolle miteinander konkurrieren können.
29
Vgl. den Anhang von Roger Chartier, La generation romantique, in: ders./Henri-Jean Martin Hg., Histoire de l'edition franfaise, Bd.2, Paris 1991, 784; vgl. auch Robert Bied, La condition d'auteur, in: ebd., 773-799.
30
Das Auftauchen solcher Berufspolitiker hat namentlich Max Weber in seinem Vortrag Politik als Beruf (1919) untersucht. Zu ihrer Rolle im Politisierungsprozeß vgl. Bernard Lacroix, Ordre politique et ordre social, in: Madeleine Grawitz/Jean Leca Hg., Traite de science politique, B d . l : La Science politique, science sociale, l'ordre politique, Paris 1985, 469-565.
31
Zum Prozeß der Autonomisierung des literarischen Feldes vgl. Pierre Bourdieu, Der Markt der symbolischen Güter; in: ders., Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, aus dem Franz. v. Bernd Schwibs und Achim Russer, Frankfurt a.M. 1999; sowie Gisele Sapiro, Elemente einer Geschichte der Autonomisierung. Das Beispiel des französischen literarischen Feldes, in: Markus Joch/Norbert Wolf Hg., Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis, Tübingen 2005, 25-44.
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Kritik der Macht als literarische Praxis: Beranger und Paul-Louis Courier Die Gesetze, die 1819 den rechtlichen Rahmen der Pressefreiheit festlegen (lois Serres), schlagen die Vergehen, deren sich die Presse schuldig macht, dem gemeinen Recht zu; sie lassen die Meinungsfreiheit unberührt und stellen nur die Anstiftung zu Straftaten und Ähnliches unter Strafe. Der Zentralausschuß des Abgeordnetenhauses rechtfertigt diesen Grundsatz mit dem öffentlichen Interesse daran, daß in einem parlamentarischen Regime Meinungen frei geäußert und Kontroversen ausgetragen werden können: „Ein Volk, das von seiner Verfassung aufgerufen ist, durch die Wahl seiner Abgeordneten die Abschaffung von Mißbräuchen und die Herstellung von Gesetzen zu kontrollieren, muß sich über die Handlungen der Regierung und über die notwendigen gesetzlichen Veränderungen aufklären: diese Aufklärung sichert die Presse, und wenn man ihren Spielraum zu sehr einschränkt, läuft man Gefahr, ihre Tätigkeit zu beeinträchtigen. Das Ziel der aus Volksvertretern gebildeten Regierung besteht darin, die öffentliche Sicherheit auf der Berücksichtigung aller Interessen und Ansprüche zu begründen; die Öffentlichkeit ist der beste Hemmschuh der Ungerechtigkeit; sie ist mit einer gewissen Freiheit untrennbar verbunden." 32
Nach der Knebelung der Pressefreiheit im Kaiserreich bringt die Liberalisierung unter der Restauration eine Politisierung des literarischen Lebens mit sich. Für die Schriftsteller geht es jedoch nicht so sehr darum, sich selbst Machtpositionen zu verschaffen, als vielmehr um die freie Vertretung ihrer Positionen in schriftlicher wie mündlicher Form, in der Presse sowohl wie in Vereinen und Versammlungen. Von nun an gehört die Kritik an der Macht zur Berufsethik der Schriftsteller, die auf sich halten, und wer auf dieses schwer erkämpfte Recht verzichtet, ist nur ein billiger Spaßmacher, ein „Hanswurst", wie es in Gouffes Chanson heißt. Diese von der Aufklärung ererbte Berufsethik hatte die Revolution als im Naturrecht begründet anerkannt. Nun dient sie den Liberalen als Argument gegen die konterrevolutionäre Auffassung von der rein ornamentalen Rolle des Homme de Lettres in der Gesellschaft. Politische Ideen können sich in allen Gattungen äußern, angefangen von der geschichtlichen Darstellung über Komödie, Satire, Pamphlet bis hin zur Poesie. In der Verlagsproduktion der Restaurationszeit stellt die Belletristik etwa ein Drittel der veröffentlichten Titel und etwa ein Viertel der gedruckten Seiten. Die Produktion historischer Werke, die sich seit Napoleon verdoppelt und ein Fünftel der Veröffentlichungen erreicht hat, steigert ihren Anteil auf ein Drittel der Druckseiten.33 Nach Philarete Chasle steht die Geschichte im Jahre 1828 mit 736 Titeln sogar an erster Stelle, dicht gefolgt von der Religion (708). An dritter Stelle folgt die Poesie (463) vor
32 33
Maiseau, Manuel de la liberie de la presse, 19. Nach den Berechnungen von Pierre Daru, Notions statistiques sur la librairie pour servir a la discussion de la loi sur la presse, Paris 1827. Vgl. auch die Untersuchung von David Bellos, La conjoncture de la production, in: Chartier/Martin, Histoire de l'edition franpaise, Bd.2,733-735.
36
Gisele Sapiro
dem Schauspiel (308), der Jurisprudenz (286), den Romanen (267), der Politik und Verwaltung (264) und der Erziehung (260). Abgesehen von der Medizin (200) steuern die Einzeldisziplinen, zu denen jetzt auch die Philosophie gezählt wird, weniger als 100 Titel zur Buchproduktion bei. 34 Während die Poesie formalen Zwängen unterliegt, die sie als Gattung identifizierbar machen, grenzen die unterschiedlichen Formen von Prosaveröffentlichungen sich aus mehreren Gründen nicht so deutlich voneinander ab. Im Unterschied zu Naturwissenschaften und Philosophie - diese Disziplinen treten zu jener Zeit in einen Prozeß der Spezialisierung ein - stellen Geschichtsschreibung, Schilderung der Gesellschaft, Sittengemälde, psychologische Untersuchung noch keine klar abgegrenzten Fachgebiete dar und können, wie Balzacs Werk bezeugt, auch in Romanform behandelt werden. Wenn die Begeisterung für die Geschichte, die sich auch in einem Schwall historischer Romane ergießt, teilweise durch revolutionäre Ereignisse und Regimewechsel zu erklären ist, bleibt die Frage, wie die Geschichte der Nation zu schreiben ist, zugleich auch politisch ein umstrittenes Thema. Ihre Darstellung kann sich daher ganz wie die politischer Ideen oft nur getarnt und unter Mißachtung der Grenzen zwischen Fiktion und Nichtfiktion äußern. Seit eh und je haben Autoren die Zensur oder das Verbot durch literarische Verfahren wie zeitliche oder räumliche Verlagerung des Schauplatzes, Allegorie, Metonymie, Synekdoche, Metaphern usw. zu umgehen versucht, wobei sie einen für die Leser der jeweiligen Epoche aufschlüsselbaren Kode benutzten. So attackierte man unter der Restauration Minister statt des Königs, Priester statt der Religion; man verlegte den Rahmen einer Handlung in ein anderes Land oder in eine ferne Vergangenheit usw. Pamphletautoren schalteten Sätze ein, die der Hauptthese zu widersprechen schienen, aber nur vor Strafe sichern sollten. „Damit glauben sie sich vor den Gerichten hinreichend geschützt und sagen ihrem Publikum, das auf den Trick nicht hereinfällt, nichtsdestoweniger alles, was sie wollen", kommentierte der Abbe Mutin, ein Abteilungsleiter des Innenministeriums, der Neuveröffentlichungen auf ihre strafrechtliche Relevanz zu untersuchen hatte. 35 Mehrdeutigkeit ist ein Hauptmerkmal jener Texte, ihr literarischer Charakter baut darauf auf. Wie der Due de Broglie bei der Erörterung des Gesetzes von 1819 in der Pairskammer ausführte, läßt es die Unterscheidung zwischen direkter und indirekter Aufforderung zur Begehung strafbarer Handlungen außer acht und erkennt nur die in deutlichen Worten, „in sinnvoller, verständlicher, den Geist erregender Sprache" geäußerte Aufforderung als strafbar an, nicht aber die feinsinnige, hintergründige, mehrdeutige oder indirekte. 36 Daher stellen Formfragen - literarische Gattung, Stil, Ausdrucksformen, rhetorische Verfahren - vor Gericht einen Hauptstreitpunkt dar.
34
Philarete Chasles, Statistique litteraire et intellectuelle de la France, in: R e v u e de Paris 1829, zit. ebd., 7 3 9 f .
35
Bibliotheque historique, in: Gazette litteraire, 2 . 9 . 1 8 3 0 , 6 1 1 .
36
Maiseau, Manuel d e la liberie de la presse, 34.
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Während die Anklage sich im allgemeinen auf den Wortlaut eines Textes stützt, beruft sich die Verteidigung mit oft bemerkenswerter Schlitzohrigkeit auf dessen indirekte, metaphorische oder ironische Dimension. Beranger und Paul-Louis Courier - die beiden liberalen Autoren, um die es im folgenden gehen wird - haben sich in zwei für jene Zeit typischen Textsorten ausgezeichnet: dem Chanson und dem Pamphlet. Diese Gattungen bezeichneten damals diametral entgegengesetzte Pole der literarischen Tätigkeit: einerseits Unterhaltung, andererseits Politik, einerseits Leichtigkeit und die Welt der Bühne, andererseits Ernsthaftigkeit und wirkliche Welt. Über diese unterschiedlichen Formen hinweg teilen beide Autoren jedoch dieselbe Auffassung von der sozialen Rolle des Schriftstellers, der zufolge literarische Schriften eine kritische Funktion wahrzunehmen haben. Die Laufbahn des 1780 geborenen Pierre-Jean de Beranger ist aufschlußreich für die tiefgreifenden Veränderungen, die Revolution und Kaiserreich in der Welt der Literatur bewirkten. Daß dieser Sohn des Volkes, ein Autodidakt, am Ende seines Lebens offiziell zum „Nationaldichter" ernannt wurde37, bezeugt den Erfolg der seit Ende des 18. Jahrhunderts überall in Europa von den Mittelklassen gegen die kosmopolitische Aristokratie vorangetriebenen Herstellung nationaler Kulturen.38 Berangers sozialer Aufstieg setzt sich nicht um in eine gehobene gesellschaftliche Stellung, sondern in Bekanntheit oder, wie man es damals nannte, in Ruhm. Seine Autobiographie stellt eine idealisierte Rekonstruktion des Lebens eines Dichters dar, dessen Ethos sich Punkt für Punkt gegen den Habitus der alten Bildungseliten abhebt: Gegenüber der ihm fehlenden klassischen Bildung des honnete homme, des allseitig gebildeten Weltmanns (er kann kein Latein), gegenüber dem Kosmopolitismus der literarischen Aristokratie, die in seinen Augen Voltaire verkörperte, gegenüber der Wendigkeit machtergebener Literaten macht er aus der Not eine Tugend und nimmt für sich selbst Bescheidenheit, Uneigennützigkeit, Aufrichtigkeit und Beständigkeit in seinen republikanischen Überzeugungen wie in seinem patriotischen Glauben in Anspruch - Tugenden, die ihm das symbolische Kapital ersetzen. Diese Antinomie spricht auch aus seinen ästhetischen Entscheidungen: während sich in Frankreich die romantische Bewegung ausbreitet, setzt der Bewunderer Chateaubriands, der er geblieben ist, der Nachahmung der Alten, dem Klassizismus und dem Latein den modernen, französischen Geist der Neuerung entgegen. Sein schriftstellerisches Debüt folgte noch dem alten Modell: Beranger ließ sich von dem Senator Lucien Bonaparte protegieren, dem Bruder des Ersten Konsuls, dessen Machtergreifung der angehende Dichter lebhaft begrüßt hatte. Tatsächlich trugen die
37
„Frankreich verliert seinen Nationaldichter", verkündet der Polizeipräfekt Pietri anläßlich von Berangers T o d am 1 6 . 7 . 1 8 5 7 per Dekret (vgl. Alexandre Z e v a e s , Les Proces litteraires au X I X e siecle, Paris 1 9 2 4 , 2, Anm. 1).
38
Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Frankfurt a.M. 1977. V g l . auch Anne-Marie Thiesse, La creation d e s identites nationales. Europe X V I I I e s i e c l e - X X e siecle, Paris 1999.
38
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Abschaffung der ständischen Ordnung, die Durchsetzung des republikanischen Egalitarismus und die Förderung neuer Eliten unter dem Konsulat und dem Kaiserreich zum Abbau sozialer Barrieren und zu einer stärkeren Durchmischung unterschiedlicher Milieus bei. Das während des Kaiserreichs weiterverfolgte Projekt der Revolution, die Nation kulturell zu einen, sollte vor allem über die französische Sprache verwirklicht werden, die noch weit davon entfernt war, die Sprache aller Franzosen zu sein. Der Übergang von den alten zu den neuen Spielregeln zeigt sich in folgendem: Berangers Gönner hat ihn zwar in die Gesellschaft eingeführt und sichert ihm einen Teil seines Lebensunterhalts (er überweist ihm die Einkünfte, die er als Mitglied des Institut de France bezieht); aber seine Chansons verschaffen ihm eine Popularität, die ihn von den jeweiligen Machthabern unabhängig macht. Im Jahr 1813 beginnt sein Stern zu steigen. Einige seiner Lieder, die bisher nur vereinzelt im Druck erschienen sind, zirkulieren in Abschriften, unter ihnen .gewagte Refrains', von denen er ausdrücklich versichert, daß sie weder seinen eigenen Lebenswandel noch den der ihm befreundeten Adressaten schildern. Beranger unterscheidet somit die Moral des Werks von der des Autors: Er selbst sucht dem integren, asketischen Bild zu entsprechen, auf dem sein symbolisches Kapital aufbaut, und stellt sich zugleich - gegen die Heuchelei der Oberschichten - auf die Seite gesunder, freizügiger, volkstümlicher Lebensfreude, die es sich leisten kann, auch einmal verbal über die Stränge zu schlagen.39 Ein politischerer Tonfall kommt in Chansons wie Le Senateur, Les Gueux und vor allem Le Roi d'Yvetot auf, deren Verfasser polizeilich gesucht wird, weil in ihnen die kaiserliche Regierung, wenn auch maßvoll, kritisiert wird. Beranger stößt nun zu einer Vereinigung von Chiansondichtern und Literaten, die sich Le Caveau nennt, ihn einstimmig zum Mitglied wählt und dafür sorgt, daß sich sein Ruf als Chansonnier in der Hauptstadt und in ganz Frankreich ausbreitet. Das Ende des Kaiserreichs und die Episode der Hundert Tage (von der Rückkehr Napoleons von Elba bis zur Niederlage bei Waterloo) spalten die Gruppe; angewidert von royalistischen und unpatriotischen Einstellungen, die seinen republikanischen Gefühlen zuwiderlaufen, entfernt Beranger sich von ihr. So sehr er den napoleonischen Despotismus und seine Knebelung der Meinungsfreiheit kritisiert hat, so wenig begrüßt er die Wiederherstellung des Königtums. Die Legitimisten hatten aus dem Roi d'Yvetot die Stimme eines Opponenten herausgehört und dem Verfasser noch vor dem Untergang des Kaiserreiches Angebote gemacht und Belohnungen in Aussicht gestellt. „Mögen sie uns statt des Ruhms die Freiheit geben, mögen sie Frankreich glücklich machen, und ich werde sie umsonst besingen", soll Beranger geantwortet haben.40 In seiner Autobiographie bezieht diese Replik sich auf das eingangs zitierte Chanson, das den von Louis XVIII. mit einer silbernen Suppenschüssel bedachten Caveau-Vorsitzenden Desaugiers aufs Korn
39
Pierre-Jean de Beranger, Ma biographie, Paris 1868, 139.
40
Ebd., 191.
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39
nimmt. Dem Hofdichter, der seine Freiheit für weltliche Vergünstigungen hingibt, tritt damit der uneigennützige Dichter entgegen, der die Verteidiger der Freiheit besingt. Daß jenes Chanson zu Unrecht Beranger zugeschrieben wurde, ist bezeichnend. In seiner Autobiographie ergreift Beranger für ein Modell der Beziehung zwischen einem Schriftsteller und seinem Fürsten Partei, das er am Beispiel Benjamin Constants illustriert: Auch als er am Ende seines Lebens mittellos dastand, akzeptierte Constant die von Louis-Philippe angebotene Unterstützung nur unter Hinweis darauf, daß „Freiheitsliebe vor Dankbarkeit geht und er immer der erste sein wird, die Fehler der Regierung zu benennen", womit der Monarch sich einverstanden erklärt habe.41 Während der Hundert Tage hatte Beranger eine Zensorenstelle bei einer Zeitung zurückgewiesen, die ihm ein stattliches Einkommen gesichert hätte. Unter der Restauration wies er trotz Geldmangels Angebote zurück, für die Presse zu arbeiten. Ende 1815 veröffentlicht er jedoch aus materiellen Gründen eine erste Liedersammlung, die in einer Auflage von 2500 Exemplaren erscheint und den Titel Chansons morales et autres trägt. Zwar kann er sich rühmen, als einziger Dichter ohne die moderne Drucktechnik volkstümlich geworden zu sein, aber das Erscheinen seiner Chansons in einer Sammlung, die sie zum Rang von Dichtungen erhebt, trägt ihm doch Ansehen und sogar Aussicht auf Unsterblichkeit ein und eröffnet ihm zugleich Zugang zu einem neuen, breiteren Publikum. Seine Mitarbeit an der niveauvollen und prestigereichen literarischen Wochenzeitschrift La Minerve frangaise sichert endgültig seinen Status als Autor, der bei seinesgleichen Anerkennung findet. Louis XVIII., als Vertreter des Ancien Regime ein Liebhaber von Chansons, soll geäußert haben: „Dem Verfasser des Roi d'Yvetot muß man einiges nachsehen."42 Wenn Beranger auf allerhöchstes Wohlwollen zählen durfte und der Gedichtband seinen Posten an der Universität - er hatte die bescheidene Stelle eines Expeditionisten inne nicht unmittelbar gefährdete, so wurde er doch von dem zuständigen Minister darauf hingewiesen, daß weitere derartige Veröffentlichungen als Entlassungsgesuch angesehen würden. Seine Stelle wird dadurch noch unsicherer, daß der unter Napoleon emporgekommene Dramatiker Antoine-Vincent Arnault, dem er sie verdankt, im Januar 1816 aus Frankreich verbannt wird. Mit seiner Gedichtsammlung hat Beranger sich endgültig den Ruf eines Dichters der Opposition eingehandelt, mit deren Anführern er sich nun zunehmend liiert, vor allem mit Jacques-Antoine Manuel (einem der Wortführer der liberalen Opposition). Seine als anarchistisch geltenden Chansons singt er nichtsdestotrotz nicht nur vor seinen Freunden aus der Opposition, sondern auch in Anwesenheit der Regierung nahestehender Persönlichkeiten (Barante, Guizot, Mounier, der Polizeipräfekt Angles hören ihm zu) - also in den besten Kreisen, die seit dem Kaiserreich offener geworden sind und zu denen seine Bekanntheit ihm den Zugang er-
41
Ebd., 175.
42
Zit.n. ebd., 194.
40
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schließt. Während der ganzen Restaurationsepoche wird um die Pressefreiheit und ihre Einschränkung gerungen. Die 1819 verabschiedeten Gesetze über die Pressefreiheit stellen den Höhepunkt des liberalen Intermezzos dar, dem die Ermordung des Due du Berry, der als einziger die Thronfolge der Bourbonen hätte sichern können (sein Sohn, der Due de Bordeaux, wird erst Monate nach seinem Tod geboren), den Todesstoß versetzt. Die Affäre wird von der Ultrarechten ausgebeutet, die angesichts mangelnder Beweise für ein Komplott die liberale Presse bezichtigt, den Mörder Louvel, einen Arbeiter, angestiftet zu haben - er konnte nämlich lesen (leugnete aber, von antilegitimistischen Schriften beeinflußt worden zu sein).43 Eines der beiden auf dieses Attentat hin verabschiedeten Ausnahmegesetze (unter dem neuen Minister Richelieu) stellt am 31. März 1820 die Pressezensur wieder her und verschärft die Repressionsmaßnahmen. Auf Drängen der Ultras und der Sprecher der katholischen Kirche hin werden im März 1822 neue Vergehen wie die Beleidigung der Staatsreligion und ihrer Geistlichkeit faktisch gesetzlich sanktioniert. In dieser Periode der Reaktion leitet die Regierung Strafverfahren gegen zahlreiche liberale oder schlicht kritische Schriftsteller ein und sorgt damit in hohem Maße für Unruhe in den Pariser literarischen Milieus. „Das Schwurgericht scheint eine Filiale der Academie Frangaise geworden zu sein", ruft einer der Strafverteidiger aus.44 Vor dem Schwurgericht treten Dramatiker wie Charles-Guillaume Etienne in Erscheinung, der dem Kaiserreich als Zensor gedient hatte, durch sein Lustspiel Les Deux Gendres (1810) berühmt geworden war und im Folgejahr zum Abgeordneten gewählt wurde; Schriftsteller wie Nicolas Bergasse, ein Anwalt und Autor eines Essai sur la propriete („Abhandlung über das Eigentum"); Pierre-Louis de Lacretelle, genannt Lacretelle der Ältere, Anwalt auch er; Louis-Augustin Cauchois-Lemaire, ein liberaler Schriftsteller, dem seine Opuscules eine Verurteilung eintrugen. Der von Balzac in den Verlorenen Illusionen erwähnte Victor Ducange, ein Romanautor und Verfasser erfolgreicher Melodramen, der der kaiserlichen Verwaltung in mehreren Ämtern gedient hatte, bevor ihn die Restauration seiner liberalen Ideen wegen entließ, wird für seinen Roman Valentine, ou le Pasteur d 'Uzes, in dem er die Exzesse des weißen Terrors im Süden geißelt, zu sechs Monaten Haft und 500 Francs Geldstrafe verurteilt.45 Die wirklichen Motive für das gegen Ducange eingeleitete Verfahren sind politischer Natur, sein Rückgriff auf eine Fiktion jedoch, mit der er seinen liberalen Vorstellungen Gehör verschaffen will, zwingt die Anklage, auf dem Gebiet der Moral zu argumentieren oder zu Formalitäten
43 44
Francis Demier, La France du X I X e siecle ( 1 8 1 4 - 1 9 1 4 ) , Paris 2 0 0 0 , 90. Plädoyer d e s Rechtsanwalts Berville, in: Proces de Paul-Louis Courier ( 1 8 2 1 ) , zit. n. Paul-Louis Courier, CEuvres c o m p l e t e s , Paris 1964, 109.
45
V g l . Journal d e s Debats, 2 7 . 6 . 1 8 2 1 ; Daniel Couty, Victor D u c a n g e , in: Jean-Pierre de Beaumarchais/Daniel Couty/Alain R e y Hg., Dictionnaire des litteratures de langue franpaise, B d . l , Paris 1994, 7 3 0 .
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41
ihre Zuflucht zu nehmen. Die Überlagerung politischer und moralischer Aspekte ist überhaupt ein Grundzug jener Literaturprozesse. Die Presse der damaligen Zeit rubriziert im übrigen alle diese Fälle als „politischen Fall" oder „politisches Vergehen". Auf Verstoß gegen die öffentliche Moral lautet auch die gegen Paul-Louis Courier erhobene Anklage. Der Verfasser des Pamphlets Simple discours de Paul-Louis, vigneron de la Chavonniere, aux membres du conseil de la commune de Viretz, ä I 'occasion d'une souscription pour I 'acquisition de Chambord („Schlichte Rede des Winzers Paul-Louis vor den Mitgliedern des Gemeinderats von Veretz aus Anlaß einer Subskription für den Erwerb von Chambord") hat sich gemeinsam mit seinem Drucker Bobee am 28. August 1821 vor dem Schwurgericht des Departement Seine zu verantworten. Der Prozeß ist durchaus politischer Natur: Die inkriminierte Veröffentlichung geißelt die vom Innenministerium lancierte Subskription, die das Volk dazu bringen soll, das Schloß Chambord zu kaufen und dem Due de Bordeaux, dem wunderbarerweise neun Monate nach der Ermordung des Due de Berry geborenen Thronfolger, zu schenken. Ein Verstoß gegen die öffentliche Moral wird mit einer Haftstrafe geahndet, die zwischen einem Monat und einem Jahr betragen kann, während eine Anklage wegen Beleidigung des Königs oder Anstiftung dazu jedem der Angeklagten bis zu fünf Jahren Haft eintragen könnte. Diesen Anklagepunkt hatte die Staatsanwaltschaft jedoch fallenlassen müssen, denn der Autor hatte auf die damals geläufige Strategie zurückgegriffen, den Hofadel zu attackieren, der - wie er erklärt - einzig von dem Schloßkauf profitieren würde. Dies erlaubte dem Verfasser, nebenbei die galanten Sitten dekadenter Hofschranzen moralisch anzuprangern, die sich nur über Frauen bereicherten (wobei er die Nennung von Namen tunlichst vermied, um nicht wegen Beleidigung belangt zu werden): eine der vier Passagen, die ihm nun eine Anklage wegen Verstoßes gegen die öffentliche Moral eintrug. Dieser Prozeß, einer der ersten, der nach dem Gesetz von 1819 über die Pressefreiheit und der Verlagerung einschlägiger Verfahren vor die Schwurgerichte eröffnet wurde, zog eine beträchtliche Menschenmenge an, deren Neugier gewiß durch die Bekanntheit des Autors entzündet worden war. Courier entstammte einer wohlhabenden und gebildeten bürgerlichen Familie. Der seinerzeit als „Rabelais der Politik"46 bezeichnete ehemalige Armeeoffizier hatte einen Hang zur klassischen Philologie und war leidenschaftlicher Gräzist. Nachdem er unter der Restauration Weingüter in der Touraine erworben hat, veröffentlicht er 1816 kurz nach Verabschiedung der Verfassung des restaurierten Königreichs sein erstes Pamphlet, eine sechsseitige Broschüre gegen die royalistische Reaktion in einem Dorf in der Touraine, unter dem Titel Petition aux deux chambres. Aber erst nach dem Scheitern seiner Kandidatur um einen Sitz an der Academie des Inscriptions et des Belles-Lettres
46
Vgl. Armand Carrel, Essai sur la vie et les ecrits de Paul-Louis Courier, in: Courier, (Euvres completes (1829), nachgedruckt in ders., Pamphlets politiques et litteraires: textes complets, o.O. 1984, 30.
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(er hatte gehofft, die Nachfolge seines Schwiegervaters, des Gräzisten Ciavier, antreten zu können), beginnt er 1820 seine eigentliche Karriere als Pamphletist. Die Veröffentlichung der Lettres au redacteur du Censeur begründet seinen Ruf in der Öffentlichkeit. Zwei dieser „Briefe" beziehen sich auf die Pressefreiheit zum Zeitpunkt der Debatte über die Ausnahmegesetze. Der neunte - er datiert vom 10. März 1820 - beginnt mit einer ironischen Anspielung auf die Verantwortung, die der Presse an der Ermordung des Due de Berry zugeschoben wird: „Die Druckerei setzt der Welt böse zu. Die gegossene Letter macht, daß seit der Schöpfung gemordet wird [...]. Verflucht sei der Urheber dieser verdammenswerten Erfindung und mit ihm alle, die fortgesetzt davon Gebrauch gemacht haben oder die jemals die Menschen lehrten, einander ihre Gedanken mitzuteilen." 47
Da die Freiheit der Presse die Infragestellung von Privilegien, Renten und staatlichen Zuwendungen bedeutete, war es kein Wunder, daß die Regierenden nichts von ihr wissen wollten. In dem zehnten, vom 10. April (also nach der Verabschiedung des Ausnahmegesetzes und der Wiedereinrichtung der Zensur) datierten „Brief' höhnt Courier die parlamentarischen Anwälte dieser Freiheit, die wie Benjamin Constant die Naivität besäßen, sie durch die Mäßigung zu rechtfertigen, die die öffentliche Erörterung von Affären mit sich brächte, wo doch Altar und Thron gerade auf Verschwörung und Skandal angewiesen seien, um die Macht des Klerus und den Polizeistaat aufrechtzuerhalten.48 Der Simple discours hat beim Publikum „einen wahnsinnigen Erfolg" 49 . „Je mehr man mich verfolgen wird, um so mehr öffentliche Anerkennung wird mir zuteil", schreibt der Verfasser bei Beginn der Ermittlungen im Juni 1821 an seine Frau.50 Noch denkt er, daß er sich aus der Affäre ziehen wird. Das ist zumindest die Ansicht SaintAlbin Bervilles, seines Anwalts, der nicht zu sehen vermag, wie Geschworene einen Menschen, der die Verderbtheit höfischer Sitten anprangert, wegen Verstoßes gegen die guten Sitten verurteilen könnten. Er bewirkt, daß das Verfahren, das am 28. Juni abgeschlossen werden sollte, auf den Monat August verschoben wird. Der zu diesem Zeitpunkt nach Paris zurückkehrende Paul-Louis Courier erfährt indessen, daß die Geschworenenbank „scheußlich" zusammengesetzt ist und daß „wenig Hoffnung" besteht.51 Während der Verhandlung fragt der Vorsitzende Richter Dehaussy den Angeklagten, warum er die Ehrung des Due de Bordeaux durch die Franzosen als Thema gewählt und
47 48
Courier, CEuvres completes, 34. Ebd., 39.
49
Paul-Louis Courier an Madame Courier, Juni 1821; ebd., 897.
50
Ebd., 898 Ebd., 902.
51
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seinen Text mit „soviel Bissigkeit" verfaßt habe. Ob er nicht glaube, ebenfalls gegen die öffentliche Moral verstoßen zu haben, indem er „eine ganze Klasse von Individuen verächtlich zu machen gesucht" habe? Der Verfasser des Pamphlets weist die Behauptung zurück, die königliche Familie oder irgendein lebendes Individuum beleidigt zu haben. Beipflichtendes Gemurmel und Beifallsbezeugungen eines Teils der Anwesenden haben eine Verwarnung durch den Vorsitzenden Richter zur Folge. Der Königliche Staatsanwalt Jean de Broe hebt den „bösartigen Geist" des Verfassers in einer Weise hervor, die der Angeklagte, der über soviel Stillosigkeit bei einem Parteigänger des Grand Siecle überrascht zu sein vorgibt, als barbarisch qualifiziert.52 Die von dem Verfasser über die ehemaligen aristokratischen Sitten verbreiteten „Lügen" dienen, wie der Staatsanwalt erklärt, dazu, „den Haß gegen die Nachfahren aufzustacheln" und damit die Grundlagen der monarchischen Ordnung zu unterwühlen.53 Der Verteidiger erklärt sich eingangs erstaunt, dem Plädoyer des Staatsanwalts keine Argumente zur Stützung der Anklage wegen Verstoßes gegen die öffentliche Moral entnehmen zu können. Er habe sich, wie er behauptet, gefreut, keinen politischen Fall verteidigen zu müssen, und ,jetzt lehrt man uns politische Moral! Jetzt gibt man sich alle Mühe, in einem Fall, in dem die Politik nichts zu suchen hat, politische Leidenschaften aufzurühren!"54 Er bestreitet, daß eine bloße Meinung als Vergehen zu qualifizieren sei, und deutet an, der Irrtum rühre von einer unzureichenden Definition des Pressevergehens her, die schon berühmte Schriftsteller wie Etienne, Bergasse und Lacretelle vor das Schwurgericht gebracht habe; sein eigener Mandant habe sich als „strenger Moralist" geäußert. Chaix d'Estange, der Anwalt des Druckers, hat weniger Mühe mit der Verteidigung, da die Staatsanwaltschaft ihn schon von aller Mitverantwortung entlastet hat. Dieser wird daher freigesprochen, während Courier zu zwei Monaten Gefängnis und einer Geldbuße von 200 Francs verurteilt wird. Noch am Vorabend seiner Entlassung wird ein neues Verfahren gegen ihn eingeleitet. Die Petition pour des villageois qu 'on empeche de danser en rond („Petition für Dorfbewohner, die keinen Reigen tanzen dürfen") bringt ihm allerdings nur eine gerichtliche Verwarnung ein; die Broschüre jedoch wird eingezogen. Von nun an veröffentlicht Courier seine Pamphlete heimlich und anonym, auch ohne Angabe von Ort und Datum, in Brüssel. Die Zelle des Gefängnisses Sainte-Pelagie, in der Courier seine Haft verbüßt, bezieht nach seiner Entlassung niemand anders als der wegen seines 1821 erschienenen neuen Gedichtbandes Chansons verurteilte Beranger. Das Werk, das er auf eigene Kosten in zwei Duodezbänden und in einer Auflage von 10.000 Exemplaren bei Firmin-Didot hatte drucken lassen, trug ihm den Verlust seiner Universitätsstelle und 15.000 Francs Schulden sowie die Wahrscheinlichkeit eines Strafverfahrens ein. Der alle Erwartungen
52
Proces de P a u l - L o u i s Courier ( 1 8 2 1 ) , zit. n. ebd., 96.
51
Requisitoire de M. de Broe, in: Journal d e s debats, 2 9 . 8 . 1 8 2 1 .
54
Plaidoirie de Maitre Berville, in: Courier, CEuvres c o m p l e t e s , 107.
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übertreffende Absatz des Werkes machte jedoch die Schulden mehr als wett und ließ ihn auch den Verlust des Postens verkraften. In Balzacs Verlorenen Ilusionen reiht ihn der Buchhändler Dauriat neben Casimir Delavigne mit seinen vier Gedichtbänden, Lamartine, den Autor der soeben erschienenen Miditations poetiques, und den debütierenden Victor Hugo mit seinem ersten Band Odes et Poesies diverses (1822) unter die vier Dichter ein, die als einzige im Buchhandel zählen. In seinen Memoiren rekonstruiert Beranger die neue Veröffentlichung als wohlerwogene politische Strategie. Er behauptet, angesichts eines politischen Klimas, das die Rechte an die Macht zurückbrachte, seinen Prozeß gewollt zu haben, um „die öffentliche Meinung aufzuheizen". 55 Die Liberalen allerdings, die ihn zunächst dabei ermunterten, versuchten anschließend, ihn wieder davon abzubringen, und einige Subskribenten zogen sich zurück. Er kann jedoch auf die Unterstützung Manuels zählen, und auch politische Persönlichkeiten wie der Abgeordnete und nachmalige Premierminister Casimir Perier stehen auf seiner Seite. Von der Bekanntheit des Dichters zeugt auch die Menschenmenge, die sich am 8. Dezember 1821 schon um sieben Uhr morgens vor dem Pariser Schwurgericht drängt, um seinem Prozeß beizuwohnen. Wie das Journal des debats berichten wird, hat „seit Menschengedenken keine Gerichtsverhandlung einen so außerordentlichen Andrang von Interessenten verzeichnet". Die wachsende Menge der am Eingang zurückgewiesenen Schaulustigen dringt durch die Fenster ein und verursacht ein solches Durcheinander, daß die Geschworenen nur über einen weiten Umweg ihre Plätze gewinnen können und die Verhandlung verspätet anfängt. Der Angeklagte selbst kann sich erst nach einer Dreiviertelstunde einen Weg bahnen. Die zweihundert Personen, die in dem Gerichtssaal Platz gefunden haben, stellen ein erlesenes Publikum dar: hohe Beamte, bekannte Politiker (unter ihnen der Due de Broglie), Damen aus der besten Gesellschaft und eine große Zahl von Rechtsanwälten. Das übliche Publikum von Neugierigen, obschon gewöhnlich mehr von Mord- und Raubprozessen angezogen, hat sich ebenfalls eingestellt, aber keinen Einlaß gefunden. Die Anklage, das Plädoyer des Staatsanwalts und die inkriminierten Texte werden von der Presse ausgiebig publiziert, so daß Berangers Chansons eine bedeutend breitere Öffentlichkeit erreichen als durch die 10.000 Exemplare der Buchausgabe. Die Anklage umfaßt vier Punkte: Verstoß gegen die guten Sitten, Verstoß gegen die öffentliche und religiöse Moral, Beleidigung der Person des Königs und Anstiftung zum Mitfuhren einer verbotenen Losung. In der Hauptsache argumentiert Berangers Verteidiger Dupin, der Anwalt der liberalen Opposition, dahingehend, der wahre Beweggrund des Prozesses sei politisch: Es handele sich um eine ministerielle Rache, die darauf abziele, den von dem Regime anerkannten Rechten der Opposition und der Freiheit der Kritik Fesseln anzulegen. Nach der mehrmals vom Gelächter der Zuhörer un-
55
Beranger, M a biographie, 2 1 2 .
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terbrochenen Verhandlung erkennen die Geschworenen auf Verstoß gegen die öffentliche und religiöse Moral sowie Anstiftung zum Mitfuhren einer verbotenen Losung und weisen die Anklagepunkte des Verstoßes gegen die guten Sitten und der Beleidigung der Person des Königs zurück. Da die Anstiftung zum Mitfuhren einer verbotenen Losung weder ein Verbrechen noch ein Vergehen darstellt, wird die Anklage in diesem Punkt zurückgezogen und Beranger ausschließlich wegen Verstoßes gegen die öffentliche und religiöse Moral zur Mindeststrafe von drei Monaten Gefängnis und 500 Francs Geldbuße verurteilt. In Sainte-Pelagie befindet er sich in Gesellschaft des zu einem Jahr Haft verurteilten Cauchois-Lemaire. Die Sympathiebezeugungen und das Aufsehen, das Berangers Verurteilung auslöst, geben ihm selbst wie auch den Oppositionsführern „Aufschluß über den Einfluß, den seine Chansons ausüben konnten".56 Noch zwei weitere Male muß Beranger sich der Justiz stellen. Während der Haft hatte sein Anwalt unter dem Namen Beranger und zu dessen Vorteil Prozeßunterlagen veröffentlicht. In einem „An den unparteiischen Leser" gerichteten Vorwort begründete der Autor die Veröffentlichung damit, daß es den Zeitungen verboten worden sei, das Plädoyer der Verteidigung wiederzugeben, der Angeklagte also nicht in der Lage gewesen war, der Öffentlichkeit die fur ihn sprechenden Argumente mitzuteilen - eine Benachteiligung, die um so schwerer wog, als das Gericht der Verteidigung hinsichtlich drei der vier Anklagepunkte Recht geben mußte. Diese Veröffentlichung, die auch die Anklageschrift samt den inkriminierten Strophen einschließt, trägt Beranger ein neues Gerichtsverfahren ein. In ihm machen die Verteidiger, gestützt auf eine von 32 Rechtsanwälten unterzeichnete „Konsultation", die Öffentlichkeit des Verfahrens und das Recht auf Verteidigung geltend. Mit einer Mehrheit von einer einzigen Stimme erkennen die Geschworenen auf Freispruch, eine Entscheidung, die als Sieg der freien Meinungsäußerung über die von den Machthabern verhängten Einschränkungen gefeiert wird. Dabei läßt Beranger es nicht bewenden. Obwohl unter scharfer Überwachung, beteiligt er sich weiterhin an der liberalen Protestbewegung. Als französische Liberale bei der Entsendung von Truppen nach Spanien Soldaten zur Desertion auffordern, schreibt Beranger ein Lied mit dem Refrain: Braves soldats, demi-tour! („Tapfere Soldaten, kehrt um!") Zu der antireligiösen Agitation von 1825 steuert er vor allem das Chanson Sacre de Charles le Simple („Krönung Karls des Einfältigen") bei, in dem die zur Besiegelung des neuen Bündnisses zwischen Thron und Altar bestimmte Zeremonie lächerlich gemacht wird. Damit handelt er sich 1828 einen neuen Prozeß ein. Unter Berufung auf das Urteil von 1822 werden die inkriminierten Chansons zum Prozeßtermin in allen Abendzeitungen abgedruckt, sogar in den royalistischen. Nach zeitgenössischen Schätzungen werden Berangers Lieder damit innerhalb von zwei Wochen in mehreren Millionen Exemplaren verbreitet - der Gedichtband, der sie enthielt, hatte eine Auflage
56
Ebd., 217.
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von ,nur' 10.500 Exemplaren. Der noch berühmter gewordene Verfasser wird zu einer noch höheren Strafe verurteilt als im ersten Verfahren. Die Verurteilung zu neun Monaten Gefängnis und einer Geldstrafe von 10.000 Francs wird von dem Auditorium ausgebuht. Der Kampf um das Recht auf freie Meinungsäußerung bringt Schriftsteller verschiedenster politischer Tendenz miteinander in Kontakt. Unter der Restauration befreundet Beranger sich mit Benjamin Constant, dem Liberalen, dabei aber glühenden Anhänger der konstitutionellen Monarchie. Bei Erscheinen seines Gedichtbands von 1821 besucht Beranger Paul-Louis Courier im Gefängnis. Die beiden Männer bleiben einander verbunden, Courier nennt Beranger „mein lieber Dichter und Gefährte von SaintePelagie". 57 Während seiner eigenen Gefängnisaufenthalte empfängt Beranger den Besuch von Victor Hugo, Sainte-Beuve und Alexandre Dumas, was seiner Anerkennung 58
als ernstzunehmender Dichter zugute kommt.
Das Gericht als Arena politischer Kämpfe Die Herausbildung einer öffentlichen Sphäre im Verlauf des 18. Jahrhunderts hatte, wie Roger Chartier erklärt, „die von Descartes eingeführte Trennung zwischen den obligatorischen Anschauungen und Abhängigkeiten auf der einen Seite, den legitimerweise anzweifelbaren Meinungen auf der anderen Seite" verwischt. 59 Das Gesetz über die Pressefreiheit entzieht jedoch eine ganze Reihe von Dingen, insbesondere die öffentliche und religiöse Moral sowie die Legitimität des Thrones berührende Fragen, der öffentlichen Diskussion und weist ihnen einen sakrosankten Status zu. Bei den politischen Prozessen geht es um die Frage, ob die inkriminierten Stellen dem Bereich der in einem repräsentativen Regime legitimen Auseinandersetzung zuzuordnen sind oder ob sie sakrosankte Grundsätze verletzen. Diese Debatten offenbaren jedoch auch, daß die Prozesse jener Epoche eine Tribüne darstellen. Da die Verfassung des restaurierten Königreichs die freie Meinungsäußerung verkündet hatte, war die Anklage verpflichtet zu zeigen, daß die inkriminierten Schriften eine Bedrohung der Nation darstellten, indem sie die Bürger gegeneinander aufhetzten, den Geist der Revolte gegen Regierung und Thron verbreiteten und zum Aufstand aufriefen. Regelmäßig wurde dabei das Gespenst der Französischen Revolution beschworen. Alphonse de Martainville, der Chefredakteur der ultraroyalistischen Zeitung Le Drapeau blanc, verglich Berangers Lieder mit einer Waffe: Die Geschichte und insbesondere die Ereignisse der Französischen Revolution hätten gezeigt, daß die, wie es hieß, „durch Lieder gemäßigte" königliche Regierung den „gereimten Feindseligkeiten" 57
Paul-Louis Courier an Pierre-Jean de Beranger, 4.1.1823; in: Courier, CEuvres c o m p e t e s , 915.
58
Beranger, Ma biographie, 241. Chartier, Les Origines culturelles de la Revolution franfaise, 39.
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nicht hinreichend mißtraut und dieses „Attentat, dessen gefahrliche Folgen weder von den Beleidigten noch von den Beleidigern empfunden wurde", allzu milde bestraft habe. Seit der Restauration habe sich herausgestellt, daß „das Lied zu einer gegen Religion und Thron gezückten Waffe wurde".60 Die respektlose Kritik an den Sitten des Adels, die Paul-Louis Courier in seinem Pamphlet entwickelt hatte, wurde von dem Staatsanwalt de Broe als ebenso „gefährliches wie strafbares Lügengebäude" hingestellt. Sie war die „Waffe, deren die Aufrührer sich bedienen, um jenes System schimpflicher Verleumdung zu errichten, mit dessen Hilfe sie die erhabene Dynastie, die uns regiert, bis in ihre Grundlagen hinein anfeinden": „Indem sie den Geistern die Verachtung der Vorfahren einimpft", ziele sie darauf ab, „den Haß gegen die Nachfahren zu schüren". Diese Verstöße waren eine „Beleidigung der Nation selbst", dazu bestimmt, „Uneinigkeit, Zwietracht und Haß" zu säen.61 Nachdem der Anklagepunkt der Majestätsbeleidigung als unbegründet fallengelassen werden mußte und nur noch wegen Verletzung der öffentlichen Moral ermittelt wurde, führte der Staatsanwalt einer klassischen rhetorischen Strategie gemäß neue Anschuldigungen wie die Aufhetzung zum Haß oder die Anfechtung der Monarchie auf, um damit die Anklage erneut zu verschärfen.62 Da Courier wie Beranger sakrosankte Werte, nämlich Thron und Altar, lächerlich machten, wurden sie angeklagt, die Grundlagen der Gesellschaftsordnung zu untergraben und die Nation zu spalten. Wie der Staatsanwalt Marchangy ausführte, beförderten sie damit zugleich die Anarchie: „Beleidigende Refrains verhöhnten die Gegenstände unserer Verehrung, bald schon stachelten sie alle Exzesse der Anarchie an, und die Muse der Volkslieder wurde eine der Furien unserer Zwietracht." Und von der Anarchie zum Aufruhr ist es nicht weit: „Liegt es daran, daß das Chanson sie im Handumdrehen dem Gedächtnis eingräbt, daß es leicht erinnerbar ist? Liegt es daran, daß es Refrains zu liefern vermag, die wie geschaffen sind für die Orgien des Aufruhrs und die Aufstandsbewegungen? Daran, daß es, von allen Klassen gleichermaßen verstanden, in den Städten ebenso rasch zirkuliert wie in den entlegensten Weilern?" 63
Marchangy sah in dem Chanson Le vieux Drapeau („Die alte Fahne") ein Manifest, das nur einer „Zusammenrottung von Verschwörern" als „Signal zum Aufruhr" dienen
60
Alphonse de Martainville, Varietes. Chansons de M. Beranger, in: Le Drapeau blanc, 27.10.1821. Übrigens wurde das Verfahren gegen Beranger an demselben Tag eingeleitet, an dem dieser Artikel erschien.
61
Plädoyer des Staatsanwalts de Broe, in: Journal des debats, 29.8.1821.
62
Die Anfechtung des Erbrechts gehört zu den neuen Delikten des Gesetzentwurfs, den die Regierung zu diesem Zeitpunkt den beiden Kammern vorlegt und der im März 1822 verabschiedet wird.
63
Proces fait aux chansons de P.-J. Beranger, Paris 1828, 29f.
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konnte. 64 Wie der Staatsanwalt erklärte, war das ein Jahr zuvor klandestin gedruckte Lied „darauf berechnet, auf den Geist unserer Soldaten einzuwirken und strafbare Machenschaften zu fördern".65 Den Beweis dafür lieferte ein Brief des Polizeiministers, der darüber klagte, daß das Lied in den Kasernen verbreitet und gesungen wurde. 1828 beschuldigte der Staatsanwalt Champanhet Beranger noch expliziter, unter den Bürgern den Geist der Revolte verbreiten zu wollen. 66 Gegenüber dieser eingespielten Argumentation hinsichtlich der Verbreitung und schädlichen Wirkung der inkriminierten Schriften bestand die Strategie der Verteidigung darin, diese Wirkung zu leugnen und ihr den harmlosen, ja positiven Charakter der Texte entgegenzuhalten. Sie bezog sich damit auf die Debatte über das Gesetz von 1819, die, wie wir gesehen haben, Überinterpretationen zurückwies. „Was heißt ,zum Verbrechen verleiten'? Es heißt offen dazu auffordern, heißt sagen: nehmt, brecht auf, geht hin (prenez, partez, marchez)", erklärte Berangers Verteidiger Dupin. Allgemein bemühte sich die Verteidigung, den Argumentationsmechanismus der Anklage zu demontieren und zu zeigen, daß sie auf keinerlei materiellem, greifbarem Beweis beruhte. So verwarf Dupin den kausalen Zusammenhang, den Marchangy zwischen Berangers Liedern und Knallkörpern zu konstruieren suchte, die auf Priester geworfen worden waren - die einzige materielle Wirkung jener Lieder, die die Anklage hatte anführen können, und noch für diesen Zusammenhang mußte sie den Nachweis schuldig bleiben. 67 Die Verteidigung strebte danach, unterschwellige Beschuldigungen herauszuschälen, die sich auf andere Anklagepunkte bezogen als die, die Gegenstand des Verfahrens waren. Die Sprache, deren die Staatsanwaltschaft sich bediente, um ihr Plädoyer auszuschmücken und die Geschworenen zu beeindrucken, wurde in subtiler Weise entzaubert. Dafür wurde der positive Einfluß herausgestrichen, den der Verfasser auszuüben vermochte. Der Verteidiger Barthe zum Beispiel gab zu verstehen, daß Berangers Chansons Patriotismus und Kampfgeist einzuflößen vermöchten, wozu das Auditorium Beifall klatschte: „Aber was sage ich! In demselben Augenblick, indem er hier vor dem Zuchtpolizeigericht erscheint, in dem seine Freiheit bedroht ist, wiederholt vielleicht ein Wachtposten in den Festungen Moreas seinen Namen und seine Verse, um seine Waffengefährten zur Verteidigung einer derart guten Sache anzuspornen." 68
Die Autoren beteiligten sich an der Vorbereitung der Plädoyers ihrer Verteidiger, mußten sich daher den Argumenten der Vertreter der Anklage stellen und lernten dabei, ihre
64
Ebd., 40f.
65
Journal des debats, 10.12.1821. Gazette des tribunaux, 11.12.1828. Proces fait aux chansons de P.-J. Beranger, 99. Gazette des tribunaux, 11.12.1828.
66 67 68
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Gegenargumente zu schärfen. Die Anklagen erlaubten ihnen aber auch, ihren eigenen Einfluß zu ermessen. Diesen Einfluß nahmen sie, das Argument der Anklage umkehrend, nun ausdrücklich in Anspruch. Senancour schrieb 1806: „Die Bücher bewegen nicht die Welt, aber sie fuhren insgeheim ihre Geschicke. Gewalt hat zwar spürbare Folgen, aber wenig dauerhafte." Die Pressefreiheit begünstigte die Konfrontation und Verbreitung von Ideen und bot dem Schriftsteller Gelegenheit, seine Gedanken vor aller Welt auszubreiten. Franklins Amerika lieferte ein Vorbild: „Unter solchen Umständen wurde deutlich, was das geschriebene Wort in einem Land vermag, in dem jedermann liest - eine neue und ganz andere Macht als die Rednertribüne", schrieb John Bickerstaff (alias Jonathan Swift) an seinen Freund Courier. 69 Diese auf das Lesepublikum gestützte Macht stellte sich der der Machthaber entgegen, die an der Verbreitung der Wahrheit kein Interesse hatten. In einem von ihm selbst verfaßten, anonym veröffentlichten Kommentar seiner Schriften rechtfertigte Courier die Gattung des Pamphlets durch eben das, was seine . Richter ihr ankreideten, ihre Kürze nämlich: Erlaube sie es doch, sich an schwer arbeitende Menschen zu wenden, die nicht wie die „Müßiggänger der Salons" die Zeit haben, dicke Wälzer zu studieren.70 Womit die zentrale Frage nach der Definition der Verantwortung des Schriftstellers und seiner Berufsethik aufgeworfen ist. Sind im Verlauf des Untersuchungsverfahrens ausreichende Beweise zusammengetragen worden, dann kann die Verteidigung nur entweder deren Deutung in Frage stellen oder mildernde Umstände geltend machen. Die Anklage hingegen wird versuchen, die Verantwortung des Verfassers herauszustreichen. Bei dieser Konfrontation geht es um sein Talent, seine Moral, seine Aufrichtigkeit, um die Frage, ob er in gutem Glauben handelte, kurz: um die Beschaffenheit der Beweggründe, die sein Verhalten bestimmt haben können. Ferner spielen die unterschiedlichen gesellschaftlichen Vorstellungen von den Grundlagen der schriftstellerischen Verantwortung und die Auseinandersetzungen zwischen zwei konkurrierenden Auffassungen eine Rolle: eine heteronome, die den Schriftsteller vollends der konservativen Moral unterwirft, und eine autonome, die sich auf die der intellektuellen Welt eigenen Grundsätze und Werte beruft. Die Argumentationsweise der Anklage, die die soziale Bedeutung der Literatur und ihren Einfluß betont (während die Verteidigung beides zu minimalisieren versucht), bestärkt die Schriftsteller in dem Bewußtsein ihrer Macht - oder ruft, wie wir bei Beranger gesehen haben, ein solches Bewußtsein überhaupt erst hervor. Die gegen den „literarischen Schund" gerichteten Bannflüche, die Denunzierungen und die Auseinandersetzungen mit der Justiz zwingen die Angeklagten, Argumente zu ihrer Verteidigung zu schmieden, die zur Ausarbeitung einer wahren Deontologie des Schriftstellerberufs
69
Courier, CEuvres c o m p l e t e s , 2 1 6 .
70
Vgl. Carrel, Essai sur la vie et les ecrits de Paul-Louis Courier, 29.
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beitragen. Das literarische, künstlerische oder musikalische Talent findet oft die Gunst der Mächtigen, die bei ihm nicht nur Zerstreuung finden, sondern auch eine Art Verklärung und charismatische Legitimierung, die seiner herkömmlichen Fundierung eine gewisse Ausstrahlung hinzufugten. Daher die Nachsicht, die Louis XVIII. im Hinblick auf Beranger zugesprochen wird. Zu dieser charismatischen, Max Weber zufolge auf persönlichen Eigenschaften begründeten Herrschaft steht die auf unpersönlichen Regeln begründete, die Herrschaft des Gesetzes repräsentierende staatliche Verwaltung in strukturellem Gegensatz. Sie zeigt sich daher auch mißtrauischer: Zu Recht erinnert der Rechtsanwalt Barthe in dem 1828 stattfindenden Prozeß gegen Beranger an die „alten Verwaltungsantipathien gegen Unabhängigkeit und Talent".71 Die Entstehung einer der politischen Macht relativ autonom gegenüberstehenden Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert hat dem Talent ein soziales Ansehen und eine eigenständige Autorität eingetragen, die in der Anerkennung des Publikums ihren Ausdruck finden. Dieses von der Revolution sakralisierte Prestige wiederum strahlt auf die ganze Nation zurück, die dem „großen Mann" für die geleisteten Dienste durch weltliche (Urheberrecht, Subventionen) oder symbolische Gratifikationen (Erhebung in die Ehrenlegion, postume Würdigungen, Überführung ins Pantheon usw.) ihren Dank ausspricht.72 Während des Prozesses gegen Paul-Louis Courier stellt der Rechtsanwalt Berville der strafrechtlichen Verantwortung die des Verdienstes gegenüber und gibt sich erstaunt über die „seltsame Entlohnung der Männer, die den Ruhm ihres Landes bilden". Auf die Reihe von Prozessen anspielend, die in den Jahren 1820 und 1821 gegen Schriftsteller angestrengt wurden, fragt er: „Welch unfaßbare Fatalität bewirkt, daß die ehrenhaftesten Vertreter der französischen Literatur einer nach dem anderen auf die Anklagebank geladen werden?" In jenen „nicht gegen obskure Pamphletschreiber, sondern gegen die vornehmsten unserer Schriftsteller" erhobenen Anklagen, in diesem „dem aufgeklärtesten Teil der französischen Nation erklärten Krieg" sieht er „einen Grundirrtum der Anklagedoktrin" am Werk: daß nämlich als strafbar erachtet werde „nicht was das Gesetz zum Vergehen erklärt, sondern was den Organen der Anklage mißfällt", wobei diese nicht berücksichtigten, daß die Pressefreiheit just darin bestehe zu sagen, was ihnen mißfallen kann.73 Im übrigen war die Anerkennung der Talente in jener Periode der Monarchie auch ein politischer Zankapfel, da sie den Anspruch der „großen Geister" auf ein Wahlrecht begründete, das infolge des exorbitant hohen Wahlzensus ansonsten den Großgrundbesitzern und reichsten Fraktionen des Bürgertums vorbehalten war. Die Worte, mit denen Barthe 1828 sein Plädoyer für Beranger beendete, lösten ein „Gemurmel allgemeiner Zustimmung" unter den Zuhörern im Gerichts-
71
Gazette des tribunaux, 11.12.1828.
72
Vgl. Jean-Claude Bonnet, Naissance du Pantheon. Courier, (Euvres completes, 109.
73
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saal aus: „Sagen sie dem Dichter, um den die anderen Nationen uns beneiden, nicht, daß Frankreich für ihn nur ein Gefängnis übrig hat."74 Unter juristischem Gesichtspunkt stellen Beweggründe kriminelle Motive dar. Bei den Schriftstellern, denen allgemein rationales Handeln unterstellt wird, lassen sie sich in vier Motivklassen aufteilen: persönliche Überzeugung, Ruhmsucht, Käuflichkeit, böse Absicht. Je nach Ziel der Veröffentlichung lassen sich diese vier Sorten abstufen. Die persönliche Überzeugung kann insofern einen mildernden Umstand darstellen, als sie mit der Freiheit der Meinungsäußerung wie auch mit der Freiheit der philosophischen Debatte einhergeht oder auch den Regeln der Literatur (Autonomie) gehorcht, und wenn sie der Klassifizierung Max Webers entsprechend eine rationale Einstellung gegenüber Werten einnimmt: Der aus persönlicher Überzeugung handelnde und den Regeln seiner Kunst folgende Schriftsteller ist frei, sein eigenes Gedankensystem auszuarbeiten und zu veröffentlichen, und es wird vorausgesetzt, daß er guten Glaubens gehandelt hat, ohne böse Absicht und ohne die Folgen seines Handelns zu durchdenken. Aufrichtigkeit und guter Glaube sind mildernde Umstände. Sie sprechen dafür, daß der Angeklagte einen Irrtum begangen, daß er sich getäuscht hat. Dieser „Überzeugungsethik" halten die Verfolger der „Schundliteratur" eine „Verantwortungsethik" entgegen (um mit Max Weber zu sprechen). Außerdem bemühen sie sich nachzuweisen, daß die Veröffentlichung nicht allein von Werten, sondern auch und vor allem von weniger reinen Zielsetzungen bestimmt war. Ruhmsucht und Käuflichkeit hingegen stellen erschwerende Umstände dar, denn sie zeigen, daß der Verfasser aus persönlichem Interesse gehandelt hat, ohne die Folgen zu bedenken. Es wird üblich, ein solches Verhalten als „Prostitution" zu bezeichnen, womit der Verkauf der Feder zu der des Körpers in Analogie gesetzt wird, ein Verfahren, das die Personalisierung der Autorenschaft und die Identifizierung des Verfassers mit dem Werk voraussetzt. Die Ruhmsucht kann ehrgeizige Autoren dazu bringen, das Gesetz einzig mit dem Ziel zu übertreten, von sich reden zu machen und dergestalt berühmt zu werden. Das Begehren, sich beim Publikum einen Namen zu machen und einen sei es auch schlechten Ruf zu erwerben, gilt der sozialen Vorstellungswelt jener Zeit als eine der geläufigsten „Sünden" des ehrgeizigen Schriftstellers. Wenn dieser Ehrgeiz gerade jetzt als gefährlich für die Gesellschaft erscheint, so deswegen, weil der auf der Anerkennung des Publikums begründete Ruhm einen sozialen Aufstieg ermöglicht, der nicht zwangsläufig mit Unterwerfung unter die Herrschenden verbunden ist und daher gegen den der sozialen Hierarchie geschuldeten Respekt verstoßen kann. Dieser Weg kann aber ebenso auch Schriftstellern als verächtlich erscheinen, die den oberflächlichen Erfolg verurteilen und dem auf Skandal begründeten Ruf mißtrauen.
74
Gazette des tribunaux, 11.12.1828; vgl. auch die Varianten in Le Constitutionnel des Dibats.
und Le Journal
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Im Verlauf der Prozesse - so in den beiden ersten Verfahren gegen Beranger - besteht eine der Strategien zur Verschärfung der Anklage darin, dem Beschuldigten Käuflichkeit zu unterstellen. Berangers Veröffentlichung der Akten seines ersten Prozesses nutzt der Staatsanwalt Marchangy in dem Prozeß von 1822 zu der Attacke: „Hier offenbart sich das Geheimnis eines Mannes, der geschickt aus dem Skandal Gewinn schlägt." 75 In Erwiderung auf die Unterstellung, Beranger habe sich dieser Veröffentlichung, die auch die inkriminierten Chansons enthielt, „spekulativ" bedient, erinnert der Verteidiger Dupin mit den Versen Boileaus daran, „daß ein Autor, und namentlich einer, der Stelle und Rente eingebüßt hat, ,Ohne Schande und Vergehen/seinem Werk Gewinn entsprießen sehen'" 7 6 dürfe, und fuhrt Berangers Armut als Beweis seiner Moral und Unbestechlichkeit an. Und auch der Staatsanwalt de Broe, der Paul-Louis Courier vorwirft, als Hersteller und Vertreiber seiner diffamierenden Broschüren aus „Neid" und „Spekulation" publiziert zu haben, muß sich von dessen Verteidiger Berville das Porträt eines völlig uneigennützigen Menschen entgegenhalten lassen, der nicht nur alle ihm angebotenen Posten zurückgewiesen habe, um seine Unabhängigkeit zu bewahren, sondern darüber hinaus aus seinen Veröffentlichungen nie einen anderen als symbolischen Gewinn bezogen habe, nämlich „den Beifall der Öffentlichkeit und die Anerkennung aufgeklärter Richter". 77 Die Schriftsteller und ihre Verteidiger wenden somit das Argument der Anklage gegen sie und machen eine andere Art von Uneigennützigkeit geltend: die Weigerung, vor der Macht und den Machthabern der Stunde im Austausch gegen materielle und symbolische Gratifikationen zu katzbuckeln. Der Weltlust und dem kriecherischen Getue der Hofschranzen halten sie das Ethos der Askese, Redlichkeit und Arbeitsamkeit entgegen, auf dem das Ansehen des weitabgewandten, anspruchslosen, rechtschaffenen Geistesarbeiters bei der Leserschaft begründet sei. Als Symbol des Verzichts auf weltliche Macht ist die Askese ein Unterpfand nicht nur für die Uneigennützigkeit seiner rein geistigen Tätigkeit, sondern auch für seine Meisterung körperlichen Verlangens und leidenschaftlicher Regungen durch den Geist. Damit setzen die Hammes de lettres diese neuen, nichtreligiösen Propheten - ein Modell in Umlauf, das sich ebenso deutlich von den biblischen Propheten herschreibt wie von den Philosophen des Altertums, deren nüchterne Lebensführung Voltaire in der Encyclopedie in seinem Artikel Philosophe gepriesen hatte. 78 Paul-Louis Courier behauptete von sich, seine Autorität in Sachen moralischer Theorie beruhe auf dem Studium, von dem er sich nicht durch gesellschaftliche Vergnügungen ablenken lasse, und sein Ansehen in Sachen moralischer Praxis auf seinem „arbeitsamen, lernbegierigen und wie [in Gegensatz zum Adel] her-
75
Journal des Debats, 16.3.1822.
76
Proces fait aux chansons de P.-J. Beranger, 59. Proces de Paul-Louis Courier, in: Courier, (Euvres completes, 102, 108.
77 78
Voltaire, Philosophe, Dictionnaire philosophique, presentation de Beatrice Didier, Paris 1994, 390.
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vorzuheben ist: aktiven und gleichzeitig kontemplativen Leben, einem Leben auf dem Lande, frei von Leidenschaften, Intrigen, Vergnügungen, Eitelkeiten". 79 Daß Beranger während der Hundert Tage Napoleons eine Zensorenstelle ausgeschlagen und später seinen Universitätsposten für die Veröffentlichung seiner Werke geopfert hatte, hatte ihm den Ruf eines aufrichtigen, uneigennützigen Menschen eingetragen, der dazu beitrug, ihn zu dem Liedermacher schlechthin der Opposition werden zu lassen. Während des Prozesses von 1828 zirkulierte in Paris ein Beranger ά Themis betiteltes Chanson von Louis Reybaud, das dem Dichter, der sich nicht an die Macht verkauft hat, mit den Worten huldigt: „ M e i n e Stimme, niemals feig sich vordrängend Belästigte die V o r z i m m e r der H ö f e nicht Aber ich sang das Geschick der Geächteten Arm w i e sie - s o stand ich ihnen bei." 8 0
Solche Uneigennützigkeit ist das Unterpfand dafür, daß die vom Dichter formulierten Gefühle aufrichtig sind. Für Beranger ist die „Aufrichtigkeit der Gefühle" die gediegenste Stütze des „Talentes". 81 Freiheitsliebe, Gerechtigkeit, Wahrheit, Vaterland: Darauf laufen die aufrichtigen Gefühle hinaus, auf denen die Meinungen basieren, denen der Schriftsteller dienen will. Diese Gefühle stehen in den Schriften jener Autoren ebenso im Vordergrund wie in den Plädoyers ihrer Anwälte. Auf ihnen basiert die neue Sendung des Schriftstellers. Beranger - so erklärt sein Verteidiger Dupin - liebt die Freiheit. Er feiert gern „die Tapferkeit, den Ruhm, die dem Vaterland erwiesenen Dienste, die Freiheitsliebe...". 82 Der Patriotismus ist das Gefühl, das sie dem Kosmopolitismus des Adels entgegenstellen, den sie verdächtigen, seine eigenen Interessen über die der Nation zu stellen, und überhaupt dem Respekt vor der Obrigkeit. Beranger und Courier verfertigen ein Bild ihrer selbst, das sie als uneigennützige, einzig dem Wohl des Volkes dienende Patrioten erscheinen läßt. Dies macht auch der Verteidiger Barthe 1828 bei Berangers Prozeß geltend: „Aber noch eine weitere Eigenschaft empfiehlt ihn allen großherzigen M e n s c h e n . Unter allen Gefühlen, die eine Nation in ihren eigenen w i e auch in fremden A u g e n über alles ehrt, steht der Patriotismus, steht die Vaterlandsliebe, der Haß auf das Eindringen d e s Auslands, die Liebe zu Glanz und Herrlichkeit des Vaterlands an oberster Stelle. Darin, d i e s e s edle Gefühl hervorzubringen und zu nähren, zeichnet unser Dichter sich aus. Ja, die Liebe z u m Vaterland, die Liebe zu Frankreich in seinen Versen, das ist es, w a s im Trubel von Banketten w i e auch in den Träumereien der A b g e s c h i e d e n h e i t das Herz seiner Mitbürger höher schlagen ließ; das ist es, w a s seine ungeheure Volkstümlichkeit g e s c h a f f e n hat." 83
Courier, (Euvres c o m p l e t e s , 132f. 80
Le Corsaire, 1 1 . 1 2 . 1 8 2 8 ; vgl. A n h a n g 1.
81
Beranger, Ma biographie, 103.
82
Proces fait aux c h a n s o n s de P.-J. Beranger, 57.
83
Gazette des tribunaux, 1 1 . 1 2 . 1 8 2 8 .
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Gegen die offizielle, von der Staatsanwaltschaft vertretene Moral, in der sie nur den Schutz der Interessen der Herrschenden erblicken, arbeiten diese Schriftsteller eine andere Moral aus: eine, die die Unterdrückten vor der Willkür schützt. Der „öffentlichen Moral" mit ihrem Schutz der Höflinge und Aristokraten stellt Paul-Louis Courier die Volksmoral entgegen, wenn er in einer anonym erschienenen biographischen Notiz über sich selbst erklärt: „Der Simple Discours ist eines der besten Plädoyers, die jemals für die Moral gehalten wurden - nicht freilich für die öffentliche Moral, wie sie in unseren Gesetzen steht, aber für die echte Moral, an die das Volk glaubt und die sie anerkennt." 84 Die Rede, die er zu seiner Verteidigung vorbereitet hatte, folgt ganz dieser Argumentationsweise, wenn sie „das fleißige, gelehrte Frankreich" mit dem „galanten Frankreich von ehedem" vergleicht. 85 Sein Verteidiger hebt diese hochmoralische Dimension des Simple Discours hervor und erinnert daran, daß „zu allen Zeiten der Historiker, der Moralist, der satirische Schriftsteller über die Mittel geboten, die allgemeinen Laster zu tadeln, und vor allem die Laster der Höfe": „Dem Beispiel der strengsten Schriftsteller folgend, hat er den glänzenden Lastern der Höfe die Schlichtheit der ländlichen Tugenden entgegengestellt - und gegen ihn verteidigt man die Höfe; er hat sich über Ärgernisse empört - und man nimmt an seiner Empörung Ärgernis; er hat für die Sache der öffentlich beleidigten Moral gefochten - und man klagt ihn an, die öffentliche Moral beleidigt zu haben." 86
Die Prediger, die man der Justiz überantwortet, verstehen sich demnach als Rächer. Sie kritisieren Übergriffe, verteidigen Toleranz und Freiheit, warnen die Macht vor den Gefahren, die dem Vaterland drohen, und verteidigen die Sache der Unterdrückten. Berangers Verteidiger Barthe erklärt den Geschworenen: „Meine Herren, ich glaube nicht, daß der Zufall das Genie auf die Erde entsandt hat und daß ihm keine Bestimmung zukomme. Beranger hat die seine, er hat sie Ihnen genannt: ,lch bin Chansonnier'. Dem Übergriff, dem Laster, dem Hohn trotzen, die Liebe zur Toleranz, zur wahren Barmherzigkeit, zur Freiheit, zum Vaterland wecken, das ist seine Sendung."
Die Rolle, die Beranger für „die gegenwärtige Größe Frankreichs" und „die fortschreitende Vermehrung seiner Freiheiten" spielt, sucht sein Verteidiger folgendermaßen geltend zu machen: „Ist der Dichter des Dieu des bonnes gens, er, der die Intoleranz gegeißelt und alle Feinde der Freiheiten und dieser Kultur mit seinen rächenden Versen verfolgt hat, ist er denn an diesen Fortschritten der Kultur so unbeteiligt?" 87 Dem Beispiel folgend, das Voltaire durch sein Eintreten für Calas gab, sehen auch die Schriftsteller der Restauration nicht nur Freiheit und Gerechtigkeit, sondern auch die Justiz als ihre Domäne an. In seiner Petition aux deux chambres spielt Courier Ver-
84
Zit. n. Carrel, Essai sur la vie et les ecrits de Paul-Louis Courier, 27.
85
Courier, (Euvres completes, 131.
86
Ebd., 121, 106. Gazette des tribunaux, 11.12.1828.
87
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nunft gegen obrigkeitliche Willkür aus, wenn er gegen Prozesse aus der Zeit des Weißen Terrors protestiert, bei denen nicht mit der gleichen Elle gemessen wurde, sondern Verbrechen ungesühnt blieben, Unschuldige hingegen verfolgt und Recht und Gerechtigkeit mit Füßen getreten wurden. Und schließlich treten die Schriftsteller gegen die Moral ihrer Ankläger fur die Durchsetzung der Wahrheit ein, deren Begründung sie nicht aus moralischen Kategorien herleiten, sondern aus Vernunft, Wissenschaft und Geschichte. Im Hinblick auf den Vorwurf, Courier habe die dekadenten Sitten des Adels geschildert, entgegnet sein Anwalt: „Es ist dies, das muß gesagt werden, das erste Mal, daß ein Schriftsteller vor die Schranken des Gerichts geladen wird, weil er über Tatsachen berichtet hat, deren Echtheit niemand bestreitet! Es ist das erste Mal, daß die Anklage uns sagt: ,Das ist wahr, aber Sie durften es nicht sagen.' Wir haben mit angesehen, daß Lehrsätze beschuldigt, daß Meinungen verurteilt wurden; es blieb übrig, historische Erinnerungen angeklagt zu sehen; es fehlte nur noch, daß die Wahrheit sich vor dem Schwurgericht zu verantworten hatte!"88
Die Wahrheit zu sagen ist jedoch mehr als ein Recht, es ist eine Pflicht. Sie beseitigt den Aberglauben, entlarvt Heuchelei, bekämpft die Tyrannei. Sie soviel Menschen wie möglich zur Kenntnis zu bringen, ihr zum Sieg zu verhelfen, das ist die Sendung des Schriftstellers, wie John Bickerstaff alias Swift seinem Freund Courier aufträgt: „Es ist nicht ein Recht, es ist eine Pflicht, eine strikte Verpflichtung für jedermann, der einen Gedanken faßt, ihn vorzulegen und zu veröffentlichen, damit die Allgemeinheit daraus nutzen ziehe. Die ganze Wahrheit gehört allen. [ . . . ] Reden ist gut, Schreiben ist besser; Veröffentlichen ist ausgezeichnet. Ein in kurzen, klaren Worten dargelegter Gedanke, mit Beweisen, Dokumenten, Beispielen angereichert, wird, wenn er gedruckt erscheint, zum Pamphlet, und das ist die beste, oft mutige Tat, die ein Mensch auf dieser Erde vollbringen kann. Denn wenn Euer Gedanke gut ist, zieht man Nutzen aus ihm; wenn er schlecht ist, verbessert man ihn, und zieht abermals Nutzen aus ihm." 89
In seiner anonym veröffentlichten autobiographischen Notiz unterstreicht Courier „dieses Talent und diesen frischen Mut eines aufrichtigen Freundes des Landes, dessen über Vorurteile erhabener Geist überall die Wahrheit sieht, sie furchtlos ausspricht, und zwar so, daß sie allen zugänglich wird, gewöhnlich, und wenn man will, sogar trivial und dörflich"; alle, auch die des Lesens Unkundigen, sollten diese Stimme vernehmen kön90
nen. Gemeinsam mit Aufrichtigkeit und Uneigennützigkeit ist „Mut" eine der Haupteigenschaften des Schriftstellers. Indem er die Wahrheit sagt, nimmt er Gefahren auf sich. Er setzt sich der Verfolgung aus, die zu allen Zeiten das Los derer war, die wie er die Kühnheit besaßen, die Wahrheit an die Öffentlichkeit zu bringen. In seinem eingangs 88
Ebd., 119.
89
Ebd., 214.
90
Zit. n. Carrel, Essai sur la vie et les ecrits de Paul-Louis Courier, 25.
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zitierten Encyclopedie-Artikel erklärt Voltaire, die Verfolgung habe fast alle vereinzelten Gens de Lettres in Mitleidenschaft gezogen, die nicht Institutionen wie der Universität angehörten und sich vor der Welt „in ihr Gelehrtenstübchen zurückzogen", und dies, obwohl gerade sie „der kleinen Zahl Denkender in aller Welt den größten Dienst erwiesen" hätten. Obwohl die Gestalt des Schriftstellers sich - wie wir gesehen haben seither von der des Gelehrten abgelöst hat, bleibt das ganze 19. Jahrhundert über eine Analogie zwischen beiden im Schwange, die dazu dient, die Suche nach der Wahrheit zu veranschaulichen und das Engagement der Intellektuellen zu begründen. Sie taucht auch in einer anderen Strophe von Louis Reybauds Lied Beranger ä Themis auf, die den Dichter mit Galilei vergleicht: „Die Erde dreht sich, hatte Galilei gesagt: und auf ein Wort, das Rom verdammte, Schlug eine steife Versammlung plumper Gelehrter Ihn in Banden ... und die Erde drehte sich." 91
Verfolgungen befestigen die Autorität des Schriftstellers. John Bickerstaff alias Swift erklärt seinem Freund Courier im Pamphlet über die Pamphlete diesen Zusammenhang folgendermaßen: „Aber ebendies verleiht seinen Worten Glaubwürdigkeit: die Verfolgung. Keine Wahrheit setzt sich ohne Märtyrer durch, vom Euklidschen Lehrsatz einmal abgesehen. Nur der überzeugt, der für seine Auffassungen leidet - Paulus sagte: Glaubt mir, denn ich war oft im Gefängnis." Deswegen braucht Courier seinen Ankläger de Broe: „Steig auf die Dächer, predige den Völkern das Evangelium, und Du wirst Gehör finden, wenn man dich verfolgt sieht; denn diese Unterstützung ist notwendig und Du richtest ohne Herrn de Broe nichts aus. An Dir ist es zu sprechen, an ihm, durch seinen Strafantrag die Wahrheit deiner Worte zu beweisen." 92 Die Konstruktion dieses heroischen Modells vom mutigen, uneigennützig für die Wahrheit streitenden Schriftstellers orientiert sich negativ an der sozialen Rolle, auf die die Ideologen der Gegenrevolution den Homme de lettres reduzieren wollen. Der von dem effeminierten Schranzentum gepflegten Kunst, den Mächtigen zu gefallen - einer von Sir John Bickerstaff bei Courier entlehnten Idee zufolge soll sie kennzeichnend für den französischen Geist sein - tritt die virile Gestalt des mutigen Pamphletisten entgegen, der sich nicht scheut, dem Publikum die Wahrheit ins Gesicht zu sagen und fähig ist, seinen Gedanken zum Durchbruch zu verhelfen. Gegen den höfischen Dichter, den Hofnarren und feilen Spaßmacher, tritt der Schriftsteller auf den Plan, der seine Autonomie seinen Lesern verdankt, auf die sein Ansehen sich gründet. Von nun an gewinnt das Wort „Schriftsteller" gegenüber der Bezeichnung Homme de lettres die Oberhand. Senancour zufolge verweist letztere auf einen Stand, sie bezeichnet diejeni-
92
Louis Reybaud, Beranger an Themis, in: Le Corsaire, 1 1.12.1828; vgl. Anhang 1. Courier, CEuvres completes, 219f.
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gen, die „zur Zunft gehören". Der Schriftsteller hingegen spricht die Öffentlichkeit an und hat daher ein Amt, einen Auftrag: „Wenn in allem, w a s man tut, eine Art Autorität vonnöten ist, s o ist sie insbesondere d e m Schriftsteller unentbehrlich. D a s öffentliche A n s e h e n ist eines seiner mächtigsten Instrumente: o h n e dies ist er nur ein Stand; und dieser Stand wird ein niedriger, weil er ein großes Amt ersetzt." 9 3
Die Bestätigung durch die Leserschaft tritt in Gegensatz zur staatlichen. Sie begründet den Anspruch auf Autonomie, den der Schriftsteller gegenüber seinen Richtern geltend macht. Mit Berufung auf den fünfmal verurteilten Cato und den wegen Verstoßes gegen die Moral getöteten Sokrates spielt Courier den Beifall der Leserschaft gegen die Ansicht seiner Zensoren aus: „Das Übel, d a s man mir antun will, zeigt mir aber, daß mein Werk gut ist. Ich hätte j a niemanden verärgert, w e n n niemand mir Beifall gespendet hätte. [ . . . ] Unter all denen, die sie [i.e. die inkriminierte Schrift] g e l e s e n haben - Menschen j e d e n Alters, j e d e n Standes und, w i e ich hinz u f ü g e n möchte, sogar jeder Ü b e r z e u g u n g - habe ich niemanden angetroffen, der mir hinsichtlich ihrer Moral nicht befriedigt schien; und gottlob n e h m e ich eine Stellung ein, verfüge ich über ein V e r m ö g e n , die mich von Schmeichelei unabhängig machen. D a ß die Leser mir zustimmen, daß sie mich loben, ist folglich etwas ganz Sicheres, an d e m ich keinerlei Z w e i f e l hegen kann." 9 4
In letzter Instanz ist es das Urteil der Nachwelt, das die Verteidigung gegen die Richter von heute ins Feld führt. Der Verteidiger Berville unterscheidet zweierlei Urteil: die Urteile, die die öffentliche Meinung „bei der Geschichte denunziert", und diejenigen, die „den Gesellschaftskörper beruhigen". 95 Für die verurteilten Schriftsteller wird dieses Urteil zwischen Spott und Tadel schwanken. „Eines Tages wird diese Nachwelt auch danach fragen, wie Frankreich seinen Dichter behandelt hat, welche Ehren es dem Rivalen Anakreons erwiesen, welchen Lohn ihm beigemessen, welche Kränze für ihn gewunden hat. Wie wird da die Antwort lauten! ... Ah! Meine Herren Geschworenen, warum stehen wir eigentlich vor dem Schwurgericht?" 96 , fragt der Anwalt Berville. Der Schriftsteller hingegen, der die Wahrheit sagt, handelt Armand Carrel zufolge als Erlöser, denn er „entsühnt" seine Generation bei der Nachwelt für den Fall, daß diese ihr vorwirft, „beim Anblick all der Schmach, die Frankreich seit fünfzehn Jahren erfährt, stumm geblieben" zu sein.97 Er ist in Wahrheit der Prediger und Prophet der Moderne. Diese Auffassung von der prophetischen Rolle des Schriftstellers und Dichters bricht mit der Rolle, die die Denker der Gegenrevolution ihm zusprachen. Sie wird von der
93
Oberman zit. n. B e n i c h o u , Le Sacre de l'ecrivain, 2 0 7 .
94
Courier, CEuvres c o m p l e t e s , 133 f.
95
Ebd., 125.
96
Proces fait aux c h a n s o n s de P.-J. Beranger, 2 4 6 .
97
Carrel, Essai sur la v i e et les ecrits de Paul-Louis Courier, 33.
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jungen romantischen Generation übernommen, die, obgleich noch royalistisch gesinnt, sie zu ihrer vollen Blüte entwickelt 98 : Die Schriftsteller „werden niemals vor den Folgen, vor den Gefahren eines mutigen Wortes zurückschaudern, sondern sich daran erinnern, daß der Gott, der im Tempel von Delphi Orakel verkündete, dargestellt worden ist, wie er einem Kampf entsteigt", schrieb Alexandre Soumet 1824 in seiner Rezension der Nouvelles Odes Victor H u g o s . " Anhang 1 Louis Reybaud, Beranger an Themis, in: Le Corsaire, 11.12.1828. (in der Weise der Skythen) „Du, die Du von der Mitte des Himmelsgewölbes Über uns wachend, ein Schwert in den Händen In der erhabenen und feierlichen Waage Den Irrtum menschlicher Urteile wägst; Keusche Themis, Du weißt wohl, daß die Gier Bisweilen auf Erden die Tugend zermalmte; Du, die mich sieht, Du, die mein Leben kennt, Tochter des Himmels, verurteilst Du mich? Antworte mir, verurteilst Du mich? Die Erde dreht sich, hatte Galilei gesagt: Und auf ein Wort, das Rom verdammte, Schlug eine steife Versammlung plumper Gelehrter Ihn in Banden... und die Erde drehte sich. Für den Lorbeer gab Tasso seine Ketten preis Auf dem Kapitol verschied er erschlagen; Immer hat der Blitz die Eichen geschunden; Tochter des Himmels, verurteilst Du mich? Antworte mir, verurteilst Du mich?
98
Vgl. bes. Albert Cassagne, La Theorie de l'art pour l'art en France chez les derniers romantiques et les premiers realistes, Paris 1997.
99
Zit. n. Benichou, Le Sacre de l'ecrivain, 296.
Vom Schriftsteller zum Intellektuellen Nicht Heldengedichte habe ich angestimmt, Nie wurde ich als Sternkundiger gerühmt; Doch durch meine Lieder, die überall erklingen Lebt mein Name unter den Strohdächern fort. Den Stolz schlug ich, dem Leiden war ich treu Mit meinen Versen, meinen frohen Stegreifweisen Habe ich Frankreich bald zum Weinen, bald zum Lachen gebracht: Tochter des Himmels, verurteilst Du mich? Antworte mir, verurteilst Du mich? Meine Stimme, niemals feig sich vordrängend, Belästigte die Vorzimmer der Höfe nicht, Sondern sang das Geschick der Geächteten Arm wie sie, darin lag mein Beistand. Wenn selbst Loyolas Tugend Lügen zu strafen Die schelmische Lisette sich brüsten kann: Du, die von oben besser siehst als die Presse Tochter des Himmels, verurteilst Du mich? Antworte mir, verurteilst Du mich? Ein Mann war... , ο erhabener Wahn, Dessen Adlerauge den Erdball umfing, Dieser König der Könige vermochte nichts über meine Leier Doch seit er gestürzt ist, beklage ich sein Mißgeschick Unserer Krieger Ruhm besang ich nicht Als vor ihnen alles geschlagen sich beugte, Aber an die Ufer der Loire eilte ich hin. Tochter des Himmels, verurteilst Du mich? Antworte mir, verurteilst Du mich?" Louis Reybaud, Marseille
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Anhang 2 Ein Armand Gouffre zugesprochenes Lied (nach Beranger, Ma biographie) Seine Antwort lautete: „Wie talentiert und schwungvoll diese Strophen auch sein mögen, sie kommen aus einem bösen Herzen" „Hast Du beim Zar oder beim Regenten Den Hanswurst gespielt? Woher hast Du diesen silbernen Napf, Woher hast Du diesen Napf? Woher hast Du diesen silbernen Napf, Woher hast Du diesen Napf? Hat Regnaud beim Auszug aus Paris Sein Geschirr vergessen? Woher hast Du usw. Woher hast Du diesen silbernen Napf, Woher hast Du diesen Napf? Bonaparte, ein armseliger Sklave, Hat nichts mehr, Deinen Pflichteifer zu zahlen. Woher hast Du usw. Woher hast Du diesen silbernen Napf, Woher hast Du diesen Napf? Hat Arnault, seiner Freunde eingedenk, Ihn Dir aus Brüssel geschickt? Woher hast Du usw. - Ich habe ihn, diesen silbernen Napf, Ich habe ihn, diesen Napf Von einem zu guten, zu milden König, Der Lieder fur Pflichteifer hält. Ich habe ihn usw. - Man gebe ihm einen silbernen Napf, Man gebe ihm einen Napf, Sagt der Fürst, weil beim Essen Jedem sein Feuer funkelt. Man gebe ihm usw.
Vom Schriftsteller zum
Intellektuellen
Er hätte hundert silberne Näpfe, Er hätte hundert Näpfe, Gewönne man jedesmal einen beim Wechsel der Helden, der Freunde, der Schönen; Er hätte hundert silberne Näpfe, Er hätte hundert Näpfe."
Anhang 3 Beranger: Les infiniment petits ou la Gerontocratie (Chanson) „Ich glaube an Zauberei: Ein großer Zauberer neulich abends Zeigte mir unseres Vaterlands Ganze Zukunft in einem Spiegel. Welch hoffnungsloses Bild! Ich sehe Paris und seine Faubourgs Wir schreiben Neunzehnhundertdreißig Und die Graubärte regieren immer noch! Ein Volk von Zwergen ist statt unser da; Unsere Enkel sind so klein Daß ich sie in diesem Spiegel kaum sehe, Wie sie unter ihren Dächern kauern. Frankreich ist der Schatten des Gespenstes Des Frankreichs unserer guten Tage; Es ist nur ein ganz kleines Königreich: Aber die Graubärte regieren immer noch! Wieviel winzige Wesen, Kleine gallige Jesuiten, Tausende anderer kleiner Priester Die kleine Götter tragen, Von ihnen geweiht! Alles entartet: Für sie ist der älteste Hof Nur noch ein kleines Seminar; Aber die Graubärte regieren immer noch!
62 Alles ist klein, Paläste, Fabriken, Wissenschaften, Handel, Künste; Gute, kleine Hungersnöte Verheeren kleine Städtchen: An der schlecht gesicherten Grenze Marschiert, mit kleinen Trommeln lärmend, Eine arme, kleine Armee; Aber die Graubärte regieren immer noch! Schließlich zeigt der prophetische Spiegel, Diese traurige Zukunft vollendend, Mir einen häretischen Riesen, Den zu fassen eine Welt kaum genügt. Dem Pygmäenvolk nähert er sich, Und kleinen Reden zum Trotz Steckt er das Königreich in seine Tasche. Aber die Graubärte regieren immer noch!"
Aus dem Französischen von Achim Russer und Bernd Schwibs.
Gisele Sapiro
HERVE SERRY
Die Regeln des Glaubens. Formen und Logiken des Engagements katholischer Intellektueller in Frankreich (1880-1935)
Die sich im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts in Frankreich entwickelnde .katholische Literaturrenaissance' (renaissance litteraire catholique) ist die erste Bewegung von Schriftstellern, die ihre Kunst in den Dienst der Religion zu stellen beabsichtigen. Diese von der Kirche dominierte Bewegung hat sich nicht nur die Definition einer der Glaubenslehre entsprechenden katholischen Ästhetik zum Ziel gesetzt, sondern auch die Wiedereroberung der sozialen und politischen Macht. Sie wird von Schriftstellern getragen, die sich als eine im Dienst der Kirche stehende .katholische Armee der Feder' definieren, und versteht sich als eine .Gegen-Enzyklopädie', deren Ehrgeiz darin besteht, die als verhängnisvoll erachteten Folgen der Französischen Revolution rückgängig zu machen. Ausgangspunkte dieser Bewegung sind die Wissenschaftsgläubigkeit und der Positivismus der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts, die Enzykliken Pius' IX. gegen die Moderne und Leos XIII., der die Gläubigen zum sozialen Engagement aufruft, und schließlich die Dreyfus-Affäre, die Geburtsstunde der .Intellektuellen'.1 Die katholische Ästhetik, für die sich die Schriftsteller einsetzen, stellt in ihren Augen die Speerspitze einer religiösen Rückeroberung des Landes dar, das sich zu einem 1905 in dem Gesetz zur Trennung von Kirche und Staat gipfelnden .Laizismus' verstiegen hat. Das objektive Bündnis zwischen diesen Schriftstellern und der religiösen Institution beruht zum Teil auf der Ablehnung der Gestalt des kritischen Intellektuellen, der namentlich durch Emile Zola zu einer moralischen Instanz gewachsen war. Die Feindschaft der Katholiken gegenüber dem mit dem , anderen Lager' - dem des Erbes der Französischen Revolution, des Positivismus, des Laizismus, der Demokratie... - identifizierten Intellektuellen trägt dazu bei, daß die Schriftsteller der .Renaissance' die Aufmerksamkeit auf sich ziehen.2 Dem mit der zu bekämpfenden sozialen, politischen und kulturellen Moderne verbündeten Intellektuellen setzen sie das der klassischen Bildung verbundene Modell des .Schriftstellers' entgegen. 1 2
Christophe Charle, N a i s s a n c e d e s „intellectuels", 1 8 8 0 - 1 9 0 0 , Paris 1990. Etienne
Fouilloux,
„Intellectuels
catholiques"?
Reflexions
V i n g t i e m e siecle. R e v u e d'histoire 1 9 9 7 / H . 5 3 , 13-24.
sur
une
naissance
differee,
in:
64
Die Formen des Glaubens
Kunstwerke, Zeitschriften und Berufsverbände entstehen nun am Rande der kirchlichen Institution mit dem Ziel, im intellektuellen Milieu ein Gegenstück zu dem zu bilden, was die katholische Bewegung auf sozialem Gebiet leistet. Zu einer Zeit, da die Intellektuellen eine prophetische Macht ausüben, wird die Rückgewinnung der Orte des Denkens und also die Ausübung einer Form von Macht über die öffentliche Meinung zu einem Hauptanliegen der Kirche (wovon ihre Investitionen im Bereich der Presse zeugen). 3 In einer Konfiguration, in der die weltliche Macht der katholischen Kirche am Boden liegt und die Religion zur Privatangelegenheit geworden ist, finden Fraktionen der katholischen Kirche und der Ehrgeiz junger katholischer Anwärter auf eine Intellektuellenkarriere zueinander in dem gemeinsamen Ziel, die Aktualität des Katholizismus unter Beweis zu stellen. Die ,katholische Literaturrenaissance' entsteht aus der Vereinigung politischer und religiöser Bestrebungen, die sich sowohl mit den Anfechtungen einer jahrhundertealten Institution, der die Welt entgleitet, als auch mit den homologen Zweifeln von Geistlichen und Gläubigen verbindet, deren Existenzberechtigung die katholische Religion darstellt. Dieser Kampf für eine erhoffte .Renaissance' des Katholizismus, diese Bewegung zu seiner .Erneuerung', wie ihre Promotoren es auch nennen, ist Ausdruck des Wunsches nach einer Rückkehr zu jenem mythischen goldenen Zeitalter, da die Gesellschaft sich von der durch die Kirche verkörperten, angeblich zeitenthobenen Tradition lenken ließ.4 Paul Claudels Bekehrung zum Katholizismus im Jahr 1886, die nicht so sehr für den Beginn einer Wiederkehr der Religion bei den französischen Künstlern steht als vielmehr für den späteren Versuch, der katholischen .Erneuerung' eine historische Dimension zu verleihen, hat in einer berühmten Formel das tausendfach nachgebetete Schlagwort von „jenen traurigen achtziger Jahren" geprägt. Wie er 1913 auf Veranlassung eines Dominikanerpaters urteilte, war das 19. Jahrhundert „die Epoche der vollen Entfaltung der naturalistischen Literatur", die Zola paradigmatisch inkarnierte. „Niemals schien das Joch der Materie stärker befestigt. Alles, was in Kunst, Wissenschaft und Literatur Rang und Namen hatte, war areligiös. Alle (sogenannten) großen Männer jenes endenden Jahrhunderts hatten sich durch Kirchenfeindlichkeit ausgezeichnet." 5 1914 identifiziert der jüngst konvertierte Philosoph Jacques Maritain in seinen Überlegungen zum Projekt einer intellektuellen katholischen Zeitschrift „Naturalismus, Demokratismus, Szientismus usw." als die „Ursachen des Übels". Er beklagt, daß die Katholiken den übernatürlichen Dimensionen ihres Glaubens so wenig Aufmerksamkeit
3
Vgl. vor allem Jacqueline Godfrin/Philippe Godfrin, Une Centrale de presse catholique: la Maison de la Bonne Presse et ses publications, Paris 1965. Neben anderen Bereichen wurden nun auch die Sozialwissenschaften Gegenstand kirchlicher Investitionen: Vgl. Herve Serry, Saint Thomas sociologue? Les enjeux clericaux d'une sociologie catholique dans les annees 18801920, in: Actes de la recherche en sciences sociales 2004/H.153, 28-39.
4
Eric Hobsbawm/Terence Ranger Hg., The Invention of tradition, Cambridge 1983.
5
Paul Claudel, „Ma conversion", in: Conversations dans le Loir-et-Cher. Contacts et circonstances, in: (Euvres completes, Bd. 16, Paris 1959.
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schenken, und vermerkt, daß „wir alle eine politische Doktrin brauchen, und daß diese Doktrin nur antirevolutionär, antirepublikanisch, also antikonstitutionell und monarchisch sein kann". 6 Im 19. Jahrhundert gab der Schriftsteller Francis-Rene de Chateaubriand den Anstoß zu Reflexionen über eine katholische Kunst, stellte der Mönch Felicite de Lamennais sich die Frage nach der Vereinbarkeit von Wissenschaft und Religion, dachte der Journalist Louis Veuillot über die Bedingungen der Möglichkeit dessen nach, daß ein Laie im Namen von Katholizismus und Kirche sprechen könne - eine Funktion, die bislang Geistlichen vorbehalten war. Die im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts - also nach dem Gesetz über die Trennung von Kirche und Staat aus dem Jahr 1905 - aufkommende .katholische Literaturrenaissance' verklammert diese drei Dimensionen miteinander. Ihre Promotoren sind überwiegend in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts geboren, also zu einem Zeitpunkt sozialisiert worden, als die Auseinandersetzungen zwischen den .beiden Frankreich', dem laizistischen und dem republikanischen, ihren Höhepunkt erreichten. Für sie handelt es sich darum, Religion und Kunst und darüber hinaus Katholizismus und Intellektuelle zusammenzufuhren. Für Gaetan Bemoville, der als Herausgeber der Zeitschrift Les Lettres nach dem Ersten Weltkrieg zur zentralen Gestalt dieser Bewegung wird, sind die katholischen Schriftsteller Träger einer intellektuellen und politischen Sendung in eins: „Es ist auch nicht utopisch, davon auszugehen, daß der Zeitpunkt sehr nahe ist, zu dem eine Elite von Schriftstellern eine Regierung geistigen Wesens, also hoher Qualität, bilden wird, die, weit über der offiziellen Regierung der Nation stehend, diese allein durch den von intellektueller Überlegenheit und volkstümlichen Strömungen ausgeübten Druck dazu zwingen wird, ihre Richtlinien zu übernehmen und sich von ihrer Seele durchdringen zu lassen. Was die der Menge doch so fernstehenden Enzyklopädisten zum Schaden Frankreichs und zum größten Unheil des menschlichen Geistes gewesen sind, das werden die dem Herzen der Nation so eng verbundenen Schriftsteller von heute dadurch sein, daß sie die französische Größe stärken und die allzulang verkannten geistigen Kräfte rühmen." 7
Die Beispiele für solche Behauptungen - bisweilen sind sie als selffulfilling prophecy im Sinne Robert K. Mertons 8 zu verstehen - ließen sich häufen. Daß es in der katholischen Kunstszene gärt, spüren nicht nur ihre Anhänger. Auch der 1881 geborene, Andre Gides' Nouvelle revue frangaise nahestehende Roger Martin du Gard bezeugt es. Während der Arbeit an seinem Roman Roger Barois (von dem Albert Camus später sagen konnte, dies sei „der einzige große Roman des wissenschaftlichen Zeitalters, dessen Hoffnungen und Enttäuschungen er so gut ausdrückt" 9 ) kommentiert er die in
6
7 8
9
Jacques Maritain an Henri Massis, 3.4.1914 (Archiv Jacques und Ra'issa Maritain, Kolbsheim, Frankreich) [Hervorhebung i.O.]. Gaetan Bemoville, Les Lettres, 1.10.1919, 534. Robert K. Merton, La prediction creatrice. Elements de theorie et de methode sociologique, Paris 1965, 136-157. Albert Camus, Preface, in: Roger Martin du Gard, (Euvres completes, Bd. 1, Paris 1955, XVII.
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der Revue hebdomadaire erschienene Untersuchung über die Rückkehr mehrerer Vertreter der intellektuellen Jugend zum Katholizismus in einem Brief an einen Freund folgendermaßen: „Diesen Neokatholizismus, der mein Altersgenosse ist, habe ich schon lange bemerkt. Es gibt da eine Gruppe junger Leute unseres Alters, unter denen einige, wie [Francois] Mauriac, übrigens ein echtes und starkes Talent haben. Und mit Melancholie habe ich schon daran gedacht, daß diese Gruppe gleichzeitig mit uns ihren Weg machen wird, und daß wir notgedrungen unser ganzes Leben lang mit ihr in Berührung kommen werden: wie jene Reisegefährten im Zug, die nicht in Ihrem Wagen sitzen, aber die gleiche Reise machen wie Sie und auf die Sie an allen Stationen stoßen. Sei's drum. Es wäre ein Irrtum zu glauben, daß sie mehr als einen Bruchteil der Jugend darstellen, eine kleine Gruppe, die sich von der Skepsis der älteren Generation absetzt. Ich glaube, diese Reaktion ist partiell und räumlich begrenzt; aber wer will sich in den Launen des religiösen Gefühls schon auskennen?" 10
Daß im Frankreich des beginnenden 20. Jahrhunderts eine religiöse und zugleich künstlerische Bewegung ihre Ansprüche geltend macht, wirft die Frage danach auf, wie die den betreffenden sozialen Räumen, dem literarischen und dem religiösen Feld (oder genauer, dessen katholischem Unterfeld), spezifischen Funktionsweisen ineinander greifen. Ihre folgende Gegenüberstellung sucht die in diesen beiden Räumen anzutreffenden Affinitäten herauszuarbeiten: Zunächst zeigen wir den allgemeinen Rahmen dieser Affinitäten auf der Ebene der Individuen auf, dann untersuchen wir, wie sie auf der Stufenleiter des literarischen und des religiösen Feldes in Erscheinung treten. Die beiden Dimensionen werden wir hier nur soweit auseinanderhalten, wie die Analyse es erforderlich macht." Anschließend können wir uns der Tatsache zuwenden, daß die Bewegung für eine ,katholische Literaturrenaissance', das heißt für eine katholische Ästhetik sui generis, ihren Nährboden in dem Wandel der sozialen Stellung der Kirche und den von der Säkularisierung ausgelösten internen Erschütterungen findet. Ist damit der religiöse wie auch der literarische Raum der Möglichkeiten erst einmal abgesteckt, wird es an der Zeit sein, die Formen zu untersuchen, die dieses intellektuelle katholische Engagement für einige erklärte Vertreter des Katholizismus in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen annimmt. Die ,katholische Literaturrenaissance' scheitert an ihren beiden selbstgesteckten Zielen: Daran, den Katholizismus als herrschende Ästhetik durchzusetzen, wie auch daran, vermittels der intellektuellen Eliten ein christliches Frankreich wiederherzustellen. Allerdings erschließt diese Bewegung während ihrer gesamten Lebensdauer, die
10
Roger Martin du Gard an Pierre Rain, 22.4.1912, in: Roger Martin du Gard, Correspondance generale, Bd.l: 1896-1913, Paris 1980, 251 [Hervorhebung i.O.]. Er spielt an auf Francois Mauriac, L'enquete sur la jeunesse, in: La Revue hebdomadaire, vgl. .(L'enquete sur la jeunesse) Lajeunesse litteraire', Bd.4, April 1912, 59-72.
"
Vgl. Pierre Bourdieu, Methodenfragen, in: ders., Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, aus dem Franz. v. Bernd Schwibs/Achim Russer, Frankfurt a.M. 2001, 282339.
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sich über drei Jahrzehnte erstreckt und die wir hier nur sehr partiell beschreiben12, einen noch nicht dagewesenen Raum katholischer Expressivität. Die katholischen Proteste gegen die politische Haltung der Kirche in den dreißiger Jahren, die wir abschließend streifen werden, wurzeln in diesem Kontext. Denn um 1935 beginnt eine neue Periode, die das Ende der ,Literaturrenaissance' als einer fest umrissenen Bewegung bezeichnet. Von den katholischen Schriftstellern, die am Ende des 19. Jahrhunderts fur eine in ihren Augen durch die .moderne' Gefahr bedrohte Kirche kämpfen, führt eine direkte Linie zu den innerhalb ihres Milieus anerkannten Intellektuellen der dreißiger Jahre, die sich als katholisch bezeichnen. Mit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts kommt eine Infragestellung der Herrschaft des Szientismus und Positivismus - des „Jochs der Materie", von dem Claudel spricht - in Schwange, auf die die Parteigänger des Katholizismus im intellektuellen Feld sich bei dem Versuch stützen werden, das Augenmerk wieder auf sich zu lenken. Aber erst mit dem um die Jahrhundertwende ausbrechenden Konflikt zwischen Kirche und Republik gewinnt der Spiritualismus wirklich an Dynamik. Die dem Laizismus gelieferten Gefechte mobilisieren junge Anwärter auf eine Schriftstellerkarriere und verleihen der von der kirchlichen Hierarchie gepredigten .Gegengesellschaft' diskursives Gewicht. Gleichzeitig verschafft die .modernistische' Krise, das heißt der Kampf gegen das, was von den Opponenten als Versuch verstanden wird, die Kirche durch gewisse Konzessionen an .moderne Ideen' von innen her zu laizisieren (wir kommen später darauf zurück), den Schriftstellern einen neuen Ort, von dem aus sie der Religion im intellektuellen Feld öffentliche Geltung verschaffen können. Mit dem Abflauen der ,antimodernistischen' Attacken, der Abschwächung der kirchlichen Opposition gegenüber der Republik und dem wachsenden Ansehen, das die von der .katholischen Literaturrenaissance' ermöglichten Auseinandersetzungen und Debatten manchem Schriftsteller verschafft haben, gelangt diese Bewegung in den dreißiger Jahren an ihr Ende.
Logiken des Anschlusses an den Diskurs der katholischen Kirche: literarische und religiöse Berufung Die Dynamik verstehen, aus der die .katholische Literaturrenaissance' hervorgeht, heißt nachvollziehen, daß manche Erben sozial absteigender katholischer Bevölkerungsteile in der Verteidigung der Institution Kirche dadurch ein Mittel sozialer Selbstbehauptung finden, daß sie im Namen einer spezifisch katholischen Ästhetik im literarischen Feld Fuß zu fassen suchen. Sichtbarstes Merkmal der Vitalität des Katholizismus in literarischen und allgemeiner in intellektuellen Kreisen ist zwar eine förmliche Welle von 12
Vgl. dazu Herve Serry, Naissance de l'intellectuel catholique, Paris 2004. Eine gedrängte historische Übersicht bietet ders., Lieux et acteurs d'une rhetorique du .renouveau' au sein de la .renaissance litteraire catholique' de la premiere moitie du XX C siecle, in: Michael Einfalt/Joseph Jurt Hg., Le texte et le contexte. Analyses du champ litteraire franpais (XIX e et X X e siecle), Berlin 2002, 105-120.
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Konversionen, die im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts Dutzende von Künstlern erfaßt 13 ; die .katholische Literaturrenaissance' geht aber aus der Logik einer breiteren sozialen, politischen und intellektuellen Bewegung hervor. Für eine so bekehrungsfreudige Religion wie die katholische stellen die Konversionen Intellektueller - gleichviel, ob es sich um die Gewinnung neuer Anhänger handelt oder um die Rückkehr zum Glauben der Kindheit - ein wesentliches Argument für die Gültigkeit ihrer Botschaft dar. Die Zustimmung dieser Neukatholiken zur katholischen Botschaft ist Gegenstand einer aufmerksamen Inszenierung, die als Beweis der Rückkehr dieser Religion in den Vordergrund der intellektuellen, aber auch der politischen und sozialen Szene aufgebaut wird. Obwohl die Macht der Kirche nicht unangefochten ist, stellt sie im Hinblick auf ein öffentliches Engagement die einzige Bezugsgröße dar, die zur Definition der katholischen Tradition - zu diesem Zeitpunkt das Kernstück katholischer Identität - in der Lage ist. Als katholischer Schriftsteller kann sich im zweiten und dritten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts nur behaupten, wer die Autorität der Kirche anerkennt. Dies fällt den Schriftstellern, die sich entschieden haben, für die .Renaissance' zu kämpfen, um so leichter, als sie besonders enge Beziehungen zu ihrer Religion pflegen. Unter ihnen lassen sich nämlich nicht wenige ausmachen, die sich mit dem Wunsch getragen haben, die Karriere eines Klerikers einzuschlagen, oder sogar ein Priesterseminar besucht und erst dann darauf verzichtet haben; daneben auch zahlreiche Konvertierte und Gläubige, die in Dritte Orden eingetreten sind oder als Laien bestimmte Ordensregeln befolgen. Voraussetzungen, die im 19. Jahrhundert eine Karriere als Priester-und-Schriftsteller wahrscheinlich gemacht hätten, werden durch die Säkularisierung zu Auslösern einer Karriere als Schriftsteller-und-Priester. Die Überinvestition dieser Intellektuellen in den Dienst der Religion erlaubt ihnen die Verwertung der Bildung und der Kapitalien, die sie innehaben. Im übrigen ist die Anerkennung durch die konfessionell gebundene Presse eine unerläßliche Voraussetzung dafür, die katholische Leserschaft zu erreichen, die einen echten Markt darstellt. Eine Ideologie wie der Katholizismus und die ihn tragenden Instanzen wandeln sich nur langsam. Nichtsdestoweniger strömt ihr Diskurs zu jener Zeit über von der Vision einer idealen Welt, die nach und nach von den Fortschritten der Demokratie und des Kapitalismus verschlungen wird. Allerdings gehen die mit der laizistischen Republik ausgefochtenen Kämpfe mit brutalen und fundamentalen Umgestaltungen etwa im Hinblick auf Vermögensaufstellungen und die Kongregationsgesetzgebung einher, Eingriffe, die zu apokalyptischen Äußerungen veranlassen können. Für die wichtigsten Schriftsteller der .religiösen Erneuerung', die alle mit kulturellem Kapital und oft reich mit eben der .klassischen' Bildung ausgestattet sind, die eine Ära der Zahl und der Massen in Frage zu stellen tendiert, erfüllt die Verteidigung der Kirche die Rolle eines
13
Frederic Gugelot, La Conversion des intellectuels au catholicisme en France 1885-1935, Paris 1998.
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Identitätskatalysators.' 4 Die Institution fordert von demjenigen, der ihren Diskurs verkörpert und sich ihm überläßt, daß er sich selbst „aufgibt". Die Arbeit an den individuellen Karrieren stellt auch „eine Genealogie des .Innersten'" dar, die zeigt, daß es „von außen strukturiert ist, eine der Modalitäten der Verinnerlichung des Äußerlichen, der Subjektivierung des Objektiven". 15 Je nach Maßgabe ihrer ererbten Kapitalien, aber auch ihrer Fähigkeit, andere soziale Ressourcen (wie den literarischen Erfolg) für ihre Anerkennung als katholische Intellektuelle zu mobilisieren, reagieren die Individuen darauf in unterschiedlicher Weise. Die Identifizierung der jungen Anwärter mit der Kirche, für deren Verteidigung sie sich durch ihr literarisches Werk einsetzen, ist durch das Gefühl jedes einzelnen von ihnen vermittelt, daß eine Welt im Niedergang begriffen ist, deren Rückgrat die von ihnen getragene Religion darstellt. Das Ende der Notabein, die ökonomischen Transformationen und das von ihnen vorausgesetzte neue Wissen, die schulische Meritokratie und der Aufstieg religiöser Minderheiten nähren den Eindruck, einem angekündigten .sozialen Tod' beizuwohnen, und verleihen der Rede von einer ,Wiedergeburt' Durchschlagskraft. In der Dynamik einer .Erneuerung' oder .Wiedergeburt' schlägt sich die Idee der Rückkehr zu einer Gesellschaft nieder, in der die klassischen, natürlichen und vererbbaren Werte den durch Geburt definierten Eliten erlauben, ihre Positionen zu halten. Wie noch zu zeigen sein wird, stellt der das ganze 19. Jahrhundert über währende Konflikt des katholischen Kosmos mit dem Gedanken der Veränderung einen Schlüssel zum Verständnis der .modernistischen' Krise dar, die den genuin religiösen Rahmen der Konfrontation mit der Moderne bildet. Dieser katholische Kosmos ist ein ideales Auffangbecken für alle Kräfte, deren Haß gegen das Neue in ein konservatives oder auch reaktionäres Weltbild mündet. Die Kirche, die sich selbst als Hüterin der Wahrheit sieht (oder zu sehen vorgibt, denn diese Institution ist selbst Schauplatz interner Auseinandersetzungen) 16 , schart nicht nur benachteiligte Schichten um sich, son-
14
Herve Serry, Litteratures et identities, in: Societes contemporaines 2001/H.44.
15
Claude Pennetier/Bernard Pudal, For interieur et remise de soi dans l'autobiographie communiste d'institution (1931-1939): l'etude du cas de Paul Esnault, in: Le For interieur, Paris 1995, 325340; dies. Hg., Autobiographies, autocritiques, aveux dans le communisme, Paris 2002.
16
Es ist festzuhalten, daß der Katholizismus ebensowenig als solcher existiert wie andere Religionen. Der Katholizismus, in bezug auf den der katholische Intellektuelle sich definiert, ist nämlich ein Feld der Auseinandersetzungen um die Definition dessen, was die katholische Religion überhaupt zu sein hat, also darum, wie ihr Dogma, ihre Praxis, ihre Vertreter, ihre Philosophie, aber auch ihre Politik beschaffen zu sein haben. Die katholische Kirche als eine seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hierarchisch auf den Papst ausgerichtete Institution ist zum Teil das Ergebnis solcher Grenzziehungen und Definitionsversuche. Bei den Auseinandersetzungen um die entscheidenden Fragen, von denen die Debatten im Schoß der Kirche bestimmt werden, geht es um ihre soziale Rolle, ihre Rolle in der Gesellschaft, ihre Beziehungen zum Weltlichen. Die gegen Ende des 19. Jahrhunderts, also während des Säkularisierungsprozesses der französischen Gesellschaft auftauchende Gestalt des katholischen Intellektuellen wurzelt in dem Bedürfnis der Institution Kirche nach sozialer Existenz.
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dem auch soziale Gruppen, für die die Infragestellung sozialer Erbregelungen und der sozioökonomische Wandel des sozialen Raums eine neue Konkurrenz um hochwertige Positionen und um weltliche Macht überhaupt darstellen. Das Plädoyer der Kirche gegen den Wandel gibt den Bemühungen der Individuen Gewicht, die ihrer Zukunft einen Sinn zu verleihen suchen. Das ,Irregehen' der Welt und der Verfall der traditionellen Werte werden zu Ursachen sozialer Unangepaßtheit. Diese Rhetorik entspricht den Dispositionen der Anhänger der .Renaissance'-Bewegung um so besser, als sie durch den elitären Diskurs der kirchlichen Institution zementiert wird. Da er in einer Logik sozialer Indeterminiertheit verankert ist, erlaubt dieser religiöse Diskurs darüber hinaus, die von den realen Determinierungen ausgelösten Leiden zu kaschieren. Die im Namen der Tradition verteidigte katholische Identität integriert die Schicksale dieser Erben außer Kurs geratener Erbschaften in eine ideale Gemeinschaft. Anders gesagt: Daß die Konfrontation mit einer Welt, die ihre Werte nicht mehr anerkennt, manche Katholiken dazu bringt, sich persönlich für das Schicksal der Kirche, das heißt für die Verteidigung der Religion zu engagieren, liegt an der zwingenden Notwendigkeit, dem Gefühl eingetretener Anomie einen Sinn abzugewinnen. Diese Übereinstimmung zwischen dem Interesse der Kirche und dem einer Gruppe von Schriftstellern beruht aber auch auf der Affinität zwischen religiöser und literarischer Berufung. Die Berufung zum Geistlichen muß „als inneres Geschehen und als Akt absoluter Freiheit erscheinen". Denn „mit dem Priester steht es wie mit dem Künstler: eine .interessierte' oder .erzwungene' Berufung ist letztlich keine Berufung mehr".17 Diese .Freiheit' ist auch unentbehrlich dafür, daß der Schriftsteller sich für die Verteidigung des Katholizismus engagiert. Sie ist zwingend erforderlich, wenn religiöser Glaube und literarischer Glaube gut miteinander auskommen sollen und die unerläßliche Konformität des Schreibens mit katholischen Anforderungen - manchmal sogar der Bruch mit früheren Werken - nicht zu teuer bezahlt werden soll. Der „Konversionsproze^" ist im Fall der Berufung zum Geistlichen eine „Verkettung subjektiver Transformationen, die die Transformation des sozialen Status der Novizen begleiten und bedingen, ohne daß die Illusion der Freiheit schwindet".18 Der von den jungen Schriftstellern der .katholischen Erneuerung' begehrten Freiheit von sozialen Determinismen, mit der sie ihrer mangelnden sozialen Angepaßtheit begegnen wollen, entspricht das Jenseits des religiösen Glaubens, für den das Heil nicht in dieser Welt liegt, und der Raum der Unbestimmtheit, den es eröffnet. Religiöse und schriftstellerische Berufung bestärken sich gegenseitig, indem sie den angestrebten Erfolg und den Sinn des sozialen Schicksals ins Außerweltliche verlagern.
17 18
Charles Suaud, Conversion et reconversion des pretres ruraux, Paris 1978, 7f. Ebd., 10.
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Literarisches Feld und religiöses Feld Literatur wie Religion sind Gegenstände des Glaubens. Die als innere Notwendigkeit empfundene individuelle Investition in diese beiden Praktiken findet ihren Ursprung in dem kollektiven Glauben/der kollektiven Verkennung, deren Träger diese Gegenstände sind. Der Teleologie des Seelenhandels wie der des Kunsthandels wohnt eine vergleichbare Verleugnung der soziohistorischen Verwurzelung der Bedingungen ihrer Möglichkeiten inne. Die „Schöpfung" wie der „Schöpfer" werden einem unaussprechlichen, subjektiv als Offenbarung oder Inspiration empfundenen Jenseits zugeschrieben. Der vielfältige Austausch zwischen dem Vokabular der Kunst und dem der Sakramente bezeugt diese Homologie.19 Der Knotenpunkt der (sozialen) Existenz der Literatur wie auch der Religion besteht in der Fähigkeit dieser Praktiken, sich als transzendente Wirklichkeiten glaubhaft zu machen, das heißt als einer Logik entsprungen, die sich dem Bereich der Kausalität, des Erklärbaren, verschließt. Anders gesagt: die sich jeder ihr äußerlichen Rationalität entzieht. Die Beziehungen zwischen Religion und Literatur zu verstehen suchen heißt, die Soziogenese zweier Glaubenssysteme aufzeigen, die über eine gleichartige Macht zur Neuordnung der Welt verfugen. Diese beiden Universen unterliegen einer kollektiv produzierten, magischen Logik, die, in Institutionen verfestigt und zum Dogma erhoben, von den Individuen anerkannt wird, die an die Macht der Literatur bzw. der Religion glauben. Nicht zufällig sind dies auch die beiden Räume, die der Objektivierung durch die Sozialwissenschaften den hartnäckigsten Widerstand entgegensetzen. Wer diese beiden Welten der Verleugnung verstehen will, darf sich weder einer Sicht überlassen, die die Logiken dieser Räume ganz auf die Interessen der Akteure reduziert, noch den entgegengesetzten, ebenso reduktionistischen Standpunkt beziehen, der die Machtinteressen und die aus ihnen resultierenden Kämpfe für nichtig erklärt. In dieser Hinsicht erweist sich der von Pierre Bourdieu geprägte Begriff des .Feldes' und seine Definition als „Feld von Kräften, die sich auf all jene, die in es eintreten, und in unterschiedlicher Weise gemäß der von ihnen besetzten Stellung ausüben [...], und zur gleichen Zeit ein Feld der Konkurrenzkämpfe, die nach Veränderung [...] jenes Kräftefeldes streben"20, als besonders nützlich. Es geht darum, die besonderen Kausalitätslinien jedes Feldes herauszuarbeiten, von denen die Positionierungen der Akteure zum Teil abhängen, ohne indes zu vergessen, daß in dem als Raum von „Vermittlungen" der „auf die Literatur einwirkenden sozialen Determinismen" begriffenen literarischen Feld
19
Pierre Bourdieu, Le marche des biens symboliques, in: L'Annee sociologique 22.1971, 72.
20
Pierre Bourdieu, Das literarische Feld, in: Louis Pinto/Franz Schultheis Hg., Streifzüge durch das literarische Feld, aus dem Franz. v. Stephan Egger, Konstanz 1 9 9 7 , 3 4 . Diese relationale Konzeption des sozialen Raums relativiert die Auswirkungen der Diskurse der jeweiligen Akteure. Schon Emile Dürkheim äußerte: „Die Dinge der physischen Welt sind nicht so, wie der gewöhnliche Mensch sie sieht; so gibt es auch keinen Grund, warum die religiösen Dinge so sein sollten, wie der Gläubige sie sich vorstellt", in: ders., Textes, Bd.2, Paris 1975, 29.
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die Literatur „gemäß der Logik der diesem Raum eigenen Vermittlungen Gestalt annimmt". 21 Die durch die Feldtheorie ermöglichte relationale Vorstellung vom Sozialen macht subjektivistische wie objektivistische Sichtweisen vermeidbar. Sie fuhrt dazu, das Handeln der Individuen innerhalb der Dichte der kollektiven Geschichte zu situieren. Eine soziohistorische Perspektive, die ihr Augenmerk auf die spezifischen Logiken der jedem Feld zugehörigen Strategien sowie auf die Schnittpunkte dieser Logiken und den Austausch zwischen ihnen richtet, bleibt dem Reichtum jener kollektiven Geschichten auf der Spur, deren Produkte und Produzenten zugleich die Individuen sind. Schon 1904-1905 stellte Dürkheim in seinen Vorlesungen über Die Entwicklung der Pädagogik in Frankreich fest: „Denn in jedem von uns ist in verschiedenen Dosen der Mensch von gestern; und der Mensch von gestern ist durch die Macht der Dinge stärker in uns, weil die Gegenwart nur recht wenig ist im Vergleich mit der langen Vergangenheit, in der wir uns gebildet haben und aus der wir das Ergebnis sind." 22 Ebenso ist die Organisationsweise der Felder - die Beziehungen zwischen den Institutionen, aus denen sie sich zusammensetzen, wie auch die Kategorien, die in ihnen umkämpft und diskutiert werden - ein Produkt der Vergangenheit. Die Erinnerung daran, die dem Prinzip der Reflexivität des Feldes zugrunde liegt, überlebt in den das literarische Feld besetzenden Institutionen wie in den Vorstellungen der in ihnen eingebundenen Akteure. Dieses Funktionsgesetz gilt zwar für alle sozialen Felder, man wird jedoch die Behauptung wagen dürfen, daß die Berücksichtigung der Hysteresis vergangener Etappen für eine Institution wie die Kirche, deren Grundlage die Aufrechterhaltung der Tradition ist, fundamentalen Charakter hat. In dem Unterfeld der katholischen Religion existieren heißt fähig sein, Neuerungen einzubringen und zugleich der Tradition, wie sie in den heiligen Texten und ihren durch autorisierte Exegeten vorgenommenen Überarbeitungen festgeschrieben wurde, treu zu bleiben. Sind die Affinitäten zwischen dem literarischen Feld und dem religiösen Feld auch zahlreich, so stehen sie doch während des Untersuchungszeitraums in Konkurrenz zueinander. Die Autonomisierung des intellektuellen Feldes im allgemeinen und des literarischen im besonderen ist ein historischer Prozeß, in dessen Verlauf die Gemeinschaft der Angehörigen dieser Felder sich gegen politische, ökonomische und religiöse Instanzen zum Richter über die Qualität der kulturellen Produktion macht. Die ,Regeln der Kunst' gehen in die Hände der Künstler über. 23 Diese Autonomisierung ist stets relativ und Gegenstand ständiger Auseinandersetzungen, die jedem Feld seine spezifische Dynamik verleihen. Die katholische Hierarchie brachte den die Zirkulation der Ideen steuernden Modalitäten schon immer ein erhebliches Interesse entgegen. Die Macht eines institutionellen Apparats wie der Kirche beruht nämlich wesentlich auf der Entschlossenheit, die Welt auf seine Art zu formen und der Reproduktion seiner Autorität 21
Alain Viala, Effets de champ, effets de prisme, in: Litterature 1988/H.70, 65.
22
Emile Dürkheim, Die Entwicklung der Pädagogik. Zur Geschichte und Soziologie des gelehrten Unterrichts in Frankreich, aus dem Franz. v. Ludwig Schmidts, Weinheim 1977, 16. Bourdieu, Die Regeln der Kunst.
23
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dienstbar zu machen. In dieser Konfiguration macht der Zugang zur Literatur und allgemeiner der direkte Zugang zum Buch als unmittelbarem Vektor von Wissen und Kenntnissen eine besondere Kontrolle erforderlich. Mehrere einschneidende politische, technische und soziale Veränderungen, beispielweise die Zunahme von Druckereierzeugnissen und die langsame, aber sichere Ausdehnung der Schulpflicht, haben die Übermittlung des Wissens und den Zugang zu ihm modifiziert.24 Diese breitere Zirkulation der Ideen hat dazu beigetragen, das kulturelle Privileg zu mindern, das Priester vordem in Anspruch nehmen konnten; zumindest hat sie der intellektuellsten Fraktion der Geistlichkeit das Gefühl vermittelt, daß ihre Macht in Frage gestellt ist. Ihre Beziehung zur Romangattung konzentriert in besonderer Weise die mit der Kontrolle des Zugangs zu den Ideen verbundenen Probleme. Zwar gestattet der Index Librorum Prohibitorum - die Liste der im Namen der katholischen Lehre verbotenen Bücher - vor allem die Zensur der wissenschaftlichen Produktion und insbesondere die der Gelehrten oder Essayisten, die (wie Ernest Renan mit seiner Vie de Jesus von 1863) Lehrinhalte neu interpretieren; für die Kirchenmänner des 19. Jahrhunderts stellt jedoch auch der Roman eine Gefahr dar. Daß der Leser in andere Welten entweicht und durch den Schriftsteller ein anderes Weltbild entdeckt, wird in zahlreichen Hirtenbriefen, die vor den für die .neuen Leser' bestimmten .schlechten Büchern' warnen, als Gefahr angeprangert.25 Die von den Kirchenvertretern bei der Kontrolle einer immer stärker wachsenden literarischen Produktion angetroffenen Schwierigkeiten sind repräsentativ für die historische Entwicklung, die das heteronom ausgeübte Richteramt der Kirche zugunsten der relativ autonomen Beurteilung von Schriftstellern durch Schriftsteller schwächt.26 Dieser Autonomisierungsprozeß steht in unversöhnbarem Gegensatz zu der zentrifugalen Dynamik der Kirche, deren Macht in jener Epoche, in der sie sich als .Gegengesellschaft' versteht, erheischt, daß alle Tätigkeiten sich von der kirchlichen Lehre bevormunden lassen. Die Geschichte des literarischen Feldes, das heißt die Rekonstruktion der Kämpfe, die die Konstruktion spezifischer Interessen und Instanzen ermöglicht haben, die eine Autonomisierung gegenüber äußeren Mächten durchzufechten vermögen, ist zusammen mit der Rekonstruktion der diversen möglichen Positionen eine Voraussetzung zur Erschließung der Bedeutung, die die Werke annehmen können. Damit wird es auch möglich, die Formung der symbolischen Diskurse mit den entsprechenden Positionen zu verbinden und positiv zu erfassen sowie der Spezifizität der Praktiken der Akteure und der Instanzen des Feldes Rechnung zu tragen. Durch die Kämpfe gegen die politische 24
Frederic Barbier, Une production demultipliee,
in: Roger Chartier/Henri-Jean
Martin
Hg.,
Histoire de l'edition fran9aise, Bd.3, Paris 1990, 105-136. 25
Anne-Marie Chartier, Discours d'Eglise, in: dies./Jean Hebrard Hg., Discours sur la lecture ( 1 8 8 0 - 1 9 8 0 ) , Paris 2 0 0 0 , 20.
26
Und generell zugunsten der Beurteilung von Künstlern durch Künstler. D e m in j e d e m dieser Universen geltenden Gesetze entsprechend hält die .katholische Erneuerung' auch in der Musik und den Bildenden Künsten ihren Einzug.
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Macht27, gegen die Zensur und gegen die ökonomische Macht (mit den immer deutlicher definierten Autorenrechten)28, sowie gegen die religiöse Macht entwickelt sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts eine relativ autonome literarische Praxis. Obgleich zumal in Krisenzeiten immer wieder angefochten29, sichert dieser Kampf für die Autonomie der Literatur die Dynamik des Feldes, seine Entwicklung und seine Struktur. Die Parteigänger einer reinen, aller politischen oder moralischen Zwänge enthobenen Kunst geraten ständig mit den Verfechtern einer gesellschaftlichen Verantwortung des Schriftstellers aneinander, die die Form der Unterwerfung der Kunst unter diese oder jene Macht annehmen kann. Das von der Kirche an die Kunst herangetragene Ansinnen der Orthodoxie tritt mit dem Autonomieanspruch des literarischen Feldes in Konflikt. Dieser doppelte Druck - einerseits die Anforderungen der Regeln der Kunst, andererseits die der religiösen Lehrmeinung - schränkt die starke Affinität zwischen religiösem und künstlerischem Erleben und die Chancen einer Annäherung ein, die sich sonst zwischen manchen Anwärtern auf eine literarische Karriere und manchen dem intellektuellen Pol der Kirche nahestehenden Klerikern hätte eröffnen können. Gegenüber dem von der französischen Gesellschaft eingeschlagenen Weg zur .Modernität' sucht die Kirche nach Mitteln, auf die sich erneut die Macht stützen ließe, der sozialen Welt die Form zu verkünden, die sie anzunehmen hat. Die soziale und prophetische Macht der Literatur erscheint ihr dabei als Verbündete. Für die katholischen Schriftsteller ist die Spannung zwischen ästhetischer Praxis und religiösem Glauben eine doppelte. Einerseits haben sie sich der Doktrin zu unterwerfen, wenn sie die Rolle eines .katholischen' Schriftstellers bekleiden und ihren Glauben mit ihrer Kunst in Einklang bringen wollen; andererseits ist ihre Literatur, wenn sie als .katholische' anerkannt ist, zumindest verdächtig, nicht aus freier und autonomer Inspiration hervorgegangen zu sein. Die katholischen Schriftsteller empfinden diese Spannung zutiefst, da sie ihre Werke angeht und ihnen den Weg zur Anerkennung verlegen kann. Einige, Francis Mauriac zum Beispiel, setzen dieses Dilemma gekonnt in Szene, bei anderen, und zwar den meisten, verstärkt es das Mißtrauen gegenüber einer sich säkularisierenden Gesellschaft, in der religiöse Werte immer weniger gelten. Durch ihr Eintreten für die Autonomie des literarischen und darüber hinaus des intellektuellen Feldes kämpfen die Betreiber der .literarischen Renaissance' nach und nach den Raum fiir kritische Äußerungen gegenüber der Institution frei. Die Schriftsteller machen sich die Entwicklung der katholischen Sozialbewegung zunutze, die die Unterordnung der Laien unter den Klerus abbaut, um im Namen ihrer Religion sprechen zu können, ohne mit der Kirche identifiziert zu werden. Sie können sich ihr gegenüber kritisch äußern, wenn sie sich auf die im intellektuellen Feld erworbene Anerkennung stützen. Das Kapital, das 27
Alain Viala, N a i s s a n c e de l'ecrivain. S o c i o l o g i e de la litterature ä l'äge classique, Paris 1985; Christian Jouhaud, Les P o u v o i r s de la litterature. Histoire d'un paradoxe, Paris 2 0 0 0 .
28
Roger Chartier, Figures d e l'auteur, in: ders., Culture ecrite et societe. L'ordre d e s livres (XIV C X V I I I e siecle), Paris 1996, 4 5 - 8 0 .
29
Gisele Sapiro, La Guerre d e s ecrivains. 1 9 4 0 - 1 9 5 3 , Paris 1999.
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darin besteht, als Autor von seinesgleichen anerkannt zu sein, stellt eine unveräußerliche Ressource dar. Die Kosten einer immer noch erwägbaren Verurteilung (der Index wird erst 1966 abgeschafft)30 werden zu hoch für die kirchliche Institution, deren soziale Macht zerfällt.
Die Transformationen der kirchlichen Institution Nach dem Gesetz über die Trennung von Kirche und Staat (1905) bewahrt die katholische Religion zwar sozialen Einfluß, verliert aber die staatliche Protektion (die ihr das Konkordat von 1802 zuerkannt hatte). Die Gesetze über das geistliche Schulwesen entziehen der Institution Kirche einen ihrer mächtigsten sozialen Hebel. Nach diesem Höhepunkt des (erzwungenen) Rückzugs der katholischen Hierarchie und ihrer nichtgeistlichen Alliierten von der weltlichen Macht erschließen sich den aktiven Katholiken neue Wege. Die Frage nach der auf einer Partei aufzubauenden politischen Macht des Katholizismus tritt im offiziellen Diskurs zurück hinter das Problem der geistlichen Macht und des sozialen Handelns. Die von der Enzyklika Rerum Novarum (1891) angestoßene Strategie direkter katholischer Interventionen inspiriert die ersten Lebenszeichen der .katholischen Literaturrenaissance', die ihre Betreiber als .geistige Aktion' konzipieren, ein im literarischen Milieu angesiedeltes Gegenstück zu dem, was nach und nach unter der Bezeichnung .katholische Aktion' firmiert: der Aufbau von Jugendgruppen und anderen Zirkeln im Arbeitermilieu. Dem Einsatz aktiver Katholiken bei den von der Armut (also von den Auswirkungen der Industrialisierung) heimgesuchten Populationen soll eine Offensive im Bereich des Denkens entsprechen, das der um sich greifende Materialismus ebenso bedroht wie die modernen Wirtschaftsformen die traditionellen solidarischen Bindungen gefährden. Die Möglichkeit einer von nichtgeistlichen Schriftstellern getragenen .literarischen Renaissance' steht in einem neuen kirchlichen Kontext, der Laien einen noch nie dagewesenen Spielraum eröffnet. Mit sozialen, ökonomischen und kulturellen Umwälzungen konfrontiert, die ihre Herrschaft über die europäischen Gesellschaften in Frage stellen, gestaltet die Kirche ihr ekklesiologisches System (d.h. ihre theologisch fundierte Organisation) um. Die katholischen Entscheidungsinstanzen geraten immer mehr unter die direkte Autorität des Papstes und seiner Administration. Im Zentrum dieses Dispositivs steht die Absage an jeden Kompromiß mit der .Moderne' und ihr kanonischer Text, die Enzyklika Syllabus, deren Veröffentlichung im Jahr 1864 großes Aufsehen erregte.31 Die Verkündung der Unfehlbarkeit des Papstes von 1864 ist ein weiterer Meilenstein auf diesem Weg. Die verordnete Erhebung der Philosophie des Thomas von
30
Herve Serry, Comment condamner la litterature? Controle doctrinal catholique et creation litteraire au X X e siecle, in: Etudes de Lettres 2003/H.4, 89-109.
31
Claude Langlois, Lire le Syllabus, in: Alain Dierkens Hg., L'intelligentsia europeenne en mutation, 1850-1875. Darwin, Le Syllabus et leurs consequences, Brüssel 1998, 85-103.
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Aquin zum offiziellen Denkapparat der Kirche vervollständigt ein Dispositiv, das den Katholiken die begrifflichen Instrumente verschaffen soll, mit deren Hilfe sie die von der Kirche angestrebte Rolle der .Gegengesellschaft' zu unterstützen haben. 32 Im Sinne der Weberschen Analyse der Spannung zwischen dem der Religion eigenen Postulat einer ethischen Weltordnung und der empirisch-rationalen Weltbetrachtung ließe sich der Thomismus als eine Weise auffassen, „um das ausdrückliche Opfer des Intellekts und eine feste Grenze des rationalen Diskutierens zu erzwingen". 33 An der Wegscheide dieser Mutationen der Institution Kirche, deren Ziel es ist, ihre Macht in der Gesellschaft zu bewahren und zu bekräftigen, steht die .modernistische Krise'. Positivismus und Szientismus - das heißt die Wissenschaft, die der Religion das Recht bestreitet, „über die Dinge der Natur zu dogmatisieren" 34 , und genauer genommen der Fortschritt der historischen Wissenschaften - führten zu einer .modernistischen' Infragestellung des klerikalen Monopols am Diskurs über die Grundlagen der katholischen Tradition. Die von Laien wie von Geistlichen vorangetriebenen wissenschaftlichen Untersuchungen erneuern die Erforschung der Religionen und zeigen auf, daß die herkömmliche Interpretation der heiligen Texte in einige Sackgassen gefuhrt hat. Diese von positivistischen Wissenschaftsnormen ausgehenden, folglich von einer äußeren Autorität legitimierten kritischen Arbeiten - die berühmtesten stammen von dem Abbe Alfred Loisy veranlassen die Kirche, all diese sogenannten .modernistischen' Neuinterpretationen entschieden zu sanktionieren. 35 Die unwiderrufliche Verurteilung des Modernismus (Enzyklika Pascendi, 1907) trägt dazu bei, den Klerus (und vor allem seine .Intellektuellen') auf vollständigen Gehorsam gegenüber der römischen Zentralmacht einzuschwören, und hat dessen Rückzug aus den intellektuellen Debatten zur Folge. Dies eröffnet den katholischen Schriftstellern einen gewissen Spielraum. Im Vergleich zu anderen Fraktionen des intellektuellen Felds (den Philosophen zum Beispiel) verfugen sie über den Vorzug, mit nur geringem kritischem Potential gegenüber der Glaubenslehre ausgestattet und daher wenig geneigt zu sein, das kirchliche Lehramt in Frage zu stellen. Zugleich sichert ihre öffentliche Bedeutung dem Katholizismus eine gewisse Präsenz im intellektuellen Feld und stellt die Aktualität der Religion zu einem Zeitpunkt unter Beweis, zu dem die Dreyfus-Affäre den Intellektuellen einen neuen Status innerhalb der sozialen und politischen Auseinandersetzungen zuweist.
32
33 34
35
Pierre Thibault, Savoir et pouvoir. Philosophie thomiste et politique clericale au XIX e siecle, Quebec 1972. Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen 1989, 564. Emile Dürkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, aus dem Franz. v. Ludwig Schmidts, Frankfurt a.M. 1981, 575. Vgl. Harry W. Paul, The debate over the bankrupcy of science in 1895, in: French Historical Studies 11.1968/H.3, 299-327. Pierre Colin, L'audace et le soupfon. La Crise du modernisme dans le catholicisme franfais, 1893-1914, Paris 1997; Etienne Fouilloux, Une Eglise en quete de liberie. La pensee catholique fran9aise entre modernisme et Vatican II, 1914-1962, Paris 1998; F r a n c i s Laplanche, La crise des origines. La Science catholique des Evangiles et I'histoire au XX e siecle, Paris 2006.
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Die ,intellektuellen' Voraussetzungen des Engagements im Dienst einer katholischen Ästhetik Die Bewegung der .katholischen Literaturrenaissance' findet weitere Wurzeln in der mit der Dreyfus-Affare verknüpften Definition der Rolle der Intellektuellen. Für die in den achtziger Jahren geborenen Sprößlinge aus gutem Hause, die, Produkte und Vektoren einer elitären Sicht des Katholizismus, über soziale Ambitionen und literarischen Ehrgeiz verfugen, ist die .katholische Literaturrenaissance' das Mittel, in der Welt der Literatur Fuß zu fassen und ihr katholisches Wissen nutzbringend anzulegen - ein Wissen, das zumal für Erben eines erheblichen sozialen Kapitals in die nur noch wenig geschätzte Karriere eines Geistlichen nicht mehr leicht investiert werden kann. Überhaupt werden religiös gebundene soziale Kapitalien in einer sich säkularisierenden Gesellschaft schwer verwertbar. Die aktivsten unter den über 150 an der ,katholischen Literaturrenaissance' mitwirkenden Schriftstellern sind in den achtziger Jahren geboren. Ihre Sozialisation koinzidiert also mit dem Zeitpunkt, da der Zusammenstoß zwischen den .beiden Frankreich' (wie Francois Mauriac, einer von ihnen, es nannte) 36 , seinen Höhepunkt erreicht. Unter denen, die am stärksten fur die Kirche eintreten, ist eine religiöse Überqualifikation festzustellen: Sie haben ihre Schulausbildung in katholischen Lehranstalten erhalten, und mehrere ihrer Vordenker haben darüber hinaus die Anfänge einer Priesterausbildung absolviert, manche sie fast abgeschlossen. Robert Vallery-Radot und Gaetan Bernoville, die Anfuhrer der .katholischen Literaturrenaissance', wollten Priester werden, bevor sie ihre religiöse Berufung in eine literarische ummünzten. Aus der Rekonstruktion der Lebensläufe dieser Teilnehmer an der , Renaissance'Bewegung ergibt sich, daß die jungen Männer, die sich damals der katholischen Schriftstellerei zuwenden, in unterschiedlichem Grade und je nach spezifischem sozialen Kapital über einige Charakteristika und Kompetenzen verfugen, die im allgemeinen Geistlichen vorbehalten sind. Wären sie vor der Periode der Laizisierung (1880-1910) geboren, wären aus diesen Schriftstellern-und-Priestern wahrscheinlich Priester-undSchriftsteller geworden. 37 Diese Wende findet ihren Ursprung in der partiellen Obsoleszenz der katholischen Kultur und ihren Kitt in den Affinitäten, die zwischen klassischer Bildung, humanistischem Gymnasium und literarischer Bildung einerseits und der katholischen Religion andererseits bestehen. Den katholischen Sprößlingen, deren Familien mit der sinkenden sozialen Macht der Religion selbst in den Sog des sozialen Abstiegs geraten sind und denen diese Hinterlassenschaft zugleich politische und intellektuelle Ambitionen verliehen hat, bietet der Kampf für die Kirche in einer
36
Franfois Mauriac, (Euvres autobiographiques, Paris 1990, 181.
37
Wie etwa der Abbe Felicite de Lamennais und mehrere seiner Schüler, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Dienst der Kirche standen.
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sozialen Welt, die ihren ererbten Kapitalien immer weniger Anerkennung zollt, einen Ausweg aus ihren Identitätsschwierigkeiten.38 Das Ende der Notabein, die ökonomischen Transformationen und das von ihnen vorausgesetzte neue Wissen, die schulische Meritokratie und der Aufstieg religiöser Minderheiten nähren das Gefühl, daß die katholische Welt zerfällt. Um 1880 erreicht der Rückgang des Einflusses der traditionellen Notabilität seinen Höhepunkt. Die Erneuerung der hohen Beamtenschaft in den Jahren 1870-1880 und der auf das neue Schulsystem gestützte Wandel in der Rekrutierung der Mitglieder des Öffentlichen Dienstes ö/fnet dem Bürgertum und der protestantischen und jüdischen Minderheit die Tore zur Macht.39 Diese Entwicklung greift zwar nur langsam, aber der ,Mythos der Meritokratie' besitzt - vor allem unter den hohen Beamten - dadurch eine .symbolische Bedeutung', daß er die Möglichkeiten zeigt, die der staatlichen Neuorganisation zu Gebote stehen.40 Die neuen Bedingungen der Rekrutierung von Notabein - namentlich unter den ländlichen Eliten und unter der Einwirkung der Verstädterung41 - haben Anteil am Aufstieg der Republik.
Intellektueller mit und ohne katholische Kirche Über eine doppelte Klippe - entweder die Religion relativieren oder die Kunst einem heterogenen Zweck unterwerfen zu müssen - gelangen die kirchentreuesten unter den Verfechtern der .katholischen Literaturrenaissance' trotz einer Vielzahl von Debatten, Büchern, Artikeln zu dieser Frage nicht hinaus. Die drei großen historischen Etappen dieser Bewegung lassen jedoch erkennen, wie die katholischen Schriftsteller sich im Namen der Autonomie der Literatur nach und nach von der kirchlichen Bevormundung emanzipieren. Diese Etappen sind in wenigen Worten folgendermaßen zu umreißen: Eine erste, von den Folgen der Dreyfus-Affäre und der kirchlichen Verurteilung des .Modernismus' geprägte Periode ist durch eine starke Unterordnung gekennzeichnet, der die Schriftsteller sich nicht entziehen können. Mit Hilfe ihrer älteren, konvertierten Kollegen Paul Claudel und Francis Jammes gelingt es Robert Vallery-Radot, Francis Mauriac und Eusebe de Bremond d'Ars zwischen 1907 und 1916, mit der Zeitschrift
38
Für viele dieser Individuen haben Laizisierung und Säkularisierung j e nach ihren Karrieren und Kapitalien breit gefächerte, sehr differenzierte Auswirkungen, die zudem von der Kampfrhetorik (gegen die .Modernität') überdeterminiert werden, die die Kirche seit der Französischen Revolution entwickelt und verbreitet.
39
Christophe Charle, Les Elites de la Republique (1880-1890), Paris 1987, 27-73; Pierre Birnbaum, Les Fous de la Republique. Histoire politique des Juifs d'Etat de Gambetta ä Vichy, Paris 1992, 162f.; Andre Encreve, Les Protestants en France de 1800 ä nos jours. Histoire d'une reintegration, Paris 1985, 202f.
40
Christophe Charle, Les Hauts fonctionnaires en France au XIX e siecle, Paris 1980, 11-77, 29.
41
Eugen Weber, La Fin des terroirs. La modernisation de la France rurale (1870-1914), Paris 1983, 489-512, 494.
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Les Cahiers de l'Amitie de France eine katholische Tendenz auf der literarischen Szene zu etablieren. Sie bringen sich damit in Gegensatz beispielsweise zu der Nouvelle revue franqaise Andre Gides, der die Frage der künstlerischen Freiheit am Herzen liegt. Diesen Konvertierten gelingt es indes nicht, die Autorität des Klerus abzuschütteln, zumal nicht die der Dominikaner, die die Linie der Zeitschrift zunehmend beherrschen. Zwar findet Mauriac dank eines lobenden Artikels von Maurice Barres (der sein Erstlingswerk als das eines vielversprechenden Schriftstellers begrüßt) die Anerkennung literarischer Kreise und weitere Publikationsmöglichkeiten, Vallery-Radot jedoch aus verschiedenen Gründen nicht. 1916 bekennt er, der soviel in seine Zukunft als Schriftsteller investiert hat, in einem Brief an seinen Beichtvater, er sei nunmehr „konvertiert", das heißt er habe „das letzte Hindernis überwunden, das sich dem Durchbruch des vollen katholischen Lichts widersetzte; dieses Hindernis war meine Literatur". Vallery-Radot bezichtigt sich, er habe naiv „geglaubt", er könne „der modernen Literatur gesunden helfen", und räumt jetzt ein, daß er unrecht hatte: „Ich habe Ihnen in diesem Punkt guten Glaubens widerstanden, weil ich meinte, hier eine überzeugende berufliche Auffassung beibehalten zu können [...]." Er fugt hinzu: „ D i e Literatur, das w a s man heutzutage literarischen Geist nennt, ist nichts als geistige oder sonstige Wollust. Meinerseits habe ich damit abgeschlossen; ich habe b e s c h l o s s e n , v o n nun an keine Zeile mehr zu schreiben, die nicht Jesus Christus und seiner Kirche nützt. Ich w i d m e mich ganz und gar der Verteidigung katholischer Interessen. Ich verabschiede mich von meinem literarischen Ehrgeiz als Romancier und Dichter; dies alles gehört n o c h dieser Welt an." 4 2
Dieser Verzicht, der sich später in eine Karriere als Journalist und Pamphletist im Dienst der Kirche umsetzt, bedeutet das Ende für die Cahiers de l 'Amitie de France, auf deren Anfangserfolgen die von Dominikanern betriebene Revue des jeunes aufbauen wird. Eine weitere Periode eröffnet nach dem Ersten Weltkrieg die Zeitschrift Les Lettres, die es bis zum Beginn der dreißiger Jahre auf 200 Lieferungen bringen wird. Sie erscheint in einem Zeitraum, in dem die katholische Kirche sich der republikanischen Macht annähert und (wenn auch nicht unzweideutig) Distanz zu der Politik der von Charles Maurras geleiteten monarchistischen Bewegung L 'Action Franqaise signalisiert. Gaetan Bernoville, der Herausgeber der Lettres, ist ein Schriftsteller ohne Werk, der seine kreativen Bestrebungen ganz in den Dienst der .katholischen Literaturrenaissance' stellt. Als unermüdlicher Anreger schafft er einen Raum, in dem alle Fraktionen katholischer Intellektueller miteinander ins Gespräch kommen und sich austauschen, das heißt sich gegenüber der religiösen Hierarchie und den anderen Polen des intellektuellen Felds eine Existenz verschaffen können. Bernoville hatte jahrelang den Wunsch gehegt, Geistlicher zu werden, und ein Priesterseminar besucht. Es gelingt ihm, im Namen der ,Union der Katholiken', im Dienst der Kirche und also eines Frank-
42
Robert Vallery-Radot an den Pater Janvier, 2 7 . 9 . 1 9 1 4 (Archives d o m i n i c a i n e s de la Bibliotheque du Saulchoir, Paris, Frankreich) [Hervorhebungen i.O.].
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reich, das an seine religiösen Wurzeln anknüpfen soll, gegenüber klerikalen Weisungen zu lavieren und das Bestehen seiner Zeitschrift zu retten. Dies allerdings manchmal, wenn nicht meist, zum Schaden künstlerischer Experimente, die bei Jacques Maritain und seiner 1926 gegründeten Sammlung und Zeitschrift Le Roseau d'Or Zuflucht finden. Immerhin stellen Les Lettres, unterstützt von der Semaine des ecrivains catholiques - eine Art Jahreskongreß der ,Literaturrenaissance', der zwischen 1921 und 1928 in Paris stattfindet einen Raum für spezifisch katholische Debatten innerhalb des literarischen Feldes zur Verfügung. Nachdem die Kirche 1926 Charles Maurras verurteilt und damit scheinbar ihr Desinteresse an politischen Fragen bekundet hat, verlieren Les Lettres und die Semaine, bislang ein Ort der Zusammenkunft und Reflexion ohnegleichen, ihre Existenzberechtigung. Anfang der dreißiger Jahre stellt die Zeitschrift ihr Erscheinen ein. Eine dritte, ephemere Epoche bezeichnet das letzte Aufleben der Bewegung, die sich noch einmal um eine Zeitschrift, das 1930 gegründete Periodikum Vigile, sammelt. Getragen von einem Kreis um Jacques Maritain, Paul Claudel, F r a n c i s Mauriac (der nach seiner Entfernung vom Glauben 1928 zum Katholizismus zurückfindet), dem 1929 konvertierten Gabriel Marcel und dem Abbe Altermann, auch er ein Konvertit (seit 1918), versteht Vigile sich in den wenigen Lieferungen, die erscheinen werden, als gänzlich literarisches, von allen politischen Betrachtungen losgelöstes Organ. Redaktionssekretär ist der 1881 geborene Kritiker Charles Du Bos, ein ehemaliger Vertrauter Andre Gides, mit dem der unter Altermanns geistiger Anleitung Konvertierte 1927 bricht. Im Namen der Religion überwacht der Abbe sehr bald alle ästhetischen Dimensionen des Vigile. F r a n c i s Mauriac zufolge maßt er sich die Rolle eines „kirchlichen Zensors" an, der sich „faktisch zum absoluten Herrscher über die Veröffentlichung" aufwirft. 43 In seinem Journal bezeugt Charles Du Bos die unter künstlerischem Aspekt plumpe Intransigenz Altermanns, die die Probleme der Koexistenz zweier Logiken, der der künstlerischen Schöpfung und der des Respekts gegenüber der katholischen Doktrin, anschaulich vor Augen führt. Du Bos sieht sich selbst in Anlehnung an eine Formulierung Charles Baudelaires in der „Haltung des gelehrigen Märtyrers" und spricht von seiner „Folterpein" 44 angesichts der außerliterarischen Weisungen, von denen der Abbe sich bei der Herausgabe der Zeitschrift leiten läßt. Im Hinblick auf diese Konflikte bemerkt er ferner: „Von meinem persönlichen Gesichtspunkt aus" könne die Organisation des Vigile ihm nur „eine beträchtliche Gewissenserleichterung hinsichtlich meiner Aufgabe als katholischer Schriftsteller" bringen. 45 Allgemeiner resümiert er die ,Situation des katholischen Schriftstellers' wie folgt:
43
F r a n f o i s Mauriac an Paul Claudel, 2 8 . 4 . 1 9 3 2 , in: Paul Claudel/Franpois Mauriac, La V a g u e et le rocher. Correspondance 1 9 1 1 - 1 9 5 4 , hg. v. Michel Malicet/Marie-Chantal Praicheux, Paris 1988, 45.
44
Charles D u B o s , Journal V , 1929, Paris 1950, 2 2 8 .
45
Ebd., 1 1 . 5 . 1 9 2 9 , 107.
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„Die Gefahr, daß irgendeine Automatik in diese Sphäre eingreift, ist zweitrangig, denn schon jetzt sehen die Ungläubigen einen Halbautomaten in jedem Schriftsteller, wenn er nur Christ ist. Wiederholen [Andre] Gide und soundso viele andere nicht unaufhörlich: ,lhr seid von vornherein festgelegt: ihr könnt weder anders schreiben noch anders denken, vielleicht nicht einmal anders fühlen als ihr zu denken, zu fühlen und zu schreiben verpflichtet seid.'" 46
Charles Du Bos bringt hier zum Ausdruck, daß die religiösen Weisungen an die Künstler durch die Beziehung vermittelt sind, die jeder Künstler mit der Religion und ihren Vertretern unterhält, aber auch, daß diese Weisungen von der literarischen Öffentlichkeit vorausgesetzt werden. Vigile, eine Zeitschrift ohne Leser, stellt ihr Erscheinen 1933 ein. Angesichts der von Altermann ausgeübten Zensur geht F r a n c i s Mauriac, als Autor bei der Leserschaft, aber auch bei seinen Schriftstellerkollegen anerkannt (er hat Zugang zur Nouvelle revue franqaise gefunden), sehr rasch auf Abstand von der Zeitschrift, während Charles Du Bos, der nach seiner Konversion mit Andre Gide gebrochen hat und nicht über genügend literarische Legitimität verfugt, um sich dem Abbe widersetzen zu können, diese Emanzipierung versagt bleibt. Die .katholische Literaturrenaissance' verschwindet also als Bewegung, ohne daß es ihr gelungen wäre - aber war das überhaupt möglich? - zu definieren, was eine katholische Ästhetik sui generis zu sein hätte. Gleichwohl bringen diese Debatten und Polemiken zur Frage des Verhältnisses von Katholizismus und Kunst, von denen ich hier nur wenige Beispiele aufgeführt habe, und überhaupt die Reflexionen nichtgeistlicher, sich aber zum Katholizismus bekennender Intellektueller eine neue Gestalt hervor: die des katholischen Intellektuellen. Die Anerkennung im literarischen Feld, die Schriftsteller wie Francois Mauriac zu erwerben verstehen, wird einen Rückhalt darstellen, der es erlaubt, als Katholik Stellung zu beziehen, ohne sich zwangsläufig auf der Linie der Kirche zu bewegen. Anders gesagt: Die am besten mit symbolischem Kapital ausgestatteten, das heißt durch literarische Anerkennung gegen kirchliche Zensur geschützten Vertreter des literarischen Feldes verschaffen sich nach und nach eine relative Unabhängigkeit von der Kirche und ihren Zensurmaßnahmen. Gestützt auf ihre literarische Anerkennung nehmen Autoren seit den dreißiger Jahren ein kritisches Wort gegenüber der Kirche und ein unzensiertes katholisches Engagement für sich in Anspruch. Diese neue Gestalt des katholischen Intellektuellen verkörpern während des Spanischen Bürgerkriegs Jacques Maritain, Georges Bernanos 47 und F r a n c i s Mauriac. Da sie zu berühmt sind, um verurteilt werden zu 46 47
Ebd., 18.1.1929, 240f. Der katholische Schriftsteller Georges Bernanos hat eine singulare Position inne. An der .katholischen Literaturrenaissance' beteiligt er sich nicht unmittelbar; auch ist er kein Konvertit, und seine literarische Karriere setzt erst 1926 ein. Während des Spanischen Bürgerkriegs, den er zunächst unterstützt, schreibt er mehrere Artikel, in denen er die im Namen der Religion begangenen blutigen Ausschreitungen anprangert (diese Artikel gehen 1938 in den berühmten Essay Les Grands cimetieres sous la lune ein). Bernanos zufolge stellt Spaniens Kirche sich durch ihr Bündnis mit Franco (und also mit Hitler und Mussolini) hinter die Vorstellung von einem antibolschewistischen .Kreuzzug' und favorisiert somit eine nationalistische Revolution zugunsten
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können, werden sie zu Sprechern des katholischen Denkens, ohne völlig an die Institution Kirche gebunden zu sein. Im Namen ihrer Religionszugehörigkeit können sie namentlich gegen die objektive Unterstützung der Regierung des Generals Franco durch die Kirche protestieren. Daß sie sich dabei gerade als Katholiken engagieren, wird von den nichtkatholischen Fraktionen des intellektuellen Felds, die den spanischen Faschismus und seine Verbündeten bekämpfen, ausdrücklich anerkannt. Sie riskieren dabei ganz wie Vallery-Radot, als er gezwungen wird, zwischen der Kunst und dem Glauben zu wählen - den Konflikt mit entgegengesetzten Weisungen: So sieht Jacques Maritain, der mit der objektiven Unterstützung Mauriacs und Bernanos' Francos „Heiligen Krieg"48 anzuprangern beginnt, sich durch ein ihm aus Rom zugetragenes Gerücht bedroht. 1937 erzählt er von den gespannten Beziehungen zu dem .Berater', als welcher der thomistische Theologe Reginald Garrigou-Lagrange fungiert: „Der Pater ist sehr aufgebracht gegen mich, er wirft mir sogar vor, daß ich als Konvertierter ,uns, die wir seit dreihundert Jahren katholisch sind', Lektionen in christlichem Geist erteilen wolle. [ . . . ] Meinen hellen Zorn verberge ich nicht. [ . . . ] Der Pater Garrigou möchte mir verbieten, von Geschichtsphilosophie zu sprechen, Ereignisse zu beurteilen und in diesen Dingen auf die jungen Leute einzuwirken. (Ich weiß wohl, er ist nicht der einzige in Rom, der so denkt und der sich über den .politischen Maritain' entsetzt.) Einzig und allein Metaphysik! Aber er zögert nicht, sich fur Franco auszusprechen und den Bürgerkrieg in Spanien zu billigen." 49
Diese Elemente einer Analyse sollten Momente aufzeigen, die bei einer Überholung der Definition gläubiger Bindung (hier: der Zustimmung zum Diskurs der katholischen Kirche) eine besondere Rolle spielten - einer Überholung, die sowohl von den Regeln der Kirche als auch den Regeln der Kunst gesteuert, also auch nur zu analysieren ist, wenn beiden Rechnung getragen wird. Das Aushandeln dieser Neudefinition ermöglichen die strukturellen Logiken, die auf das religiöse Feld („modernistische Krise", Säkularisierung...) ebenso wie auf das literarische Feld (Autonomisierungsprozeß) einwirken. Es integriert sich in die Art und Weise, in der die Individuen als Träger von Interessen, die mit der doppelten Geschichte dieser Felder verbunden sind, nach Maßgabe ihrer Kapitalien diesen Mutationen Sinn verleihen und unter ihrem Zwang stehen können. Welche Form die den Glauben tragende Institution auch immer annehmen möge (die einer Kirche, einer Partei, weniger konsolidierte Werte...): Sie vermittelt die Interessen der Institution, ihrer Ideologie... mit den individuellen Dispositionen.50 Der vollständige oder fast vollständige Einsatz für die Geschicke einer Institution und der konformistischer Kreise, während sie die Christenheit verrät. Vgl. Joseph Jurt, Une parole prophetique dans le champ litteraire, in: Europe 1995/H.789/790, 75-88; ders., Les Attitudes politiques de Georges Bernanos jusqu'en 1931, Fribourg 1968. 48 49 50
So die Überschrift seines Artikels, in: La Nouvelle revue franfaise, 1.7.1937. Jacques Maritain, Carnet de notes, 24.12.1937, Paris 1965, 232. Die Institutionen sichern vor allem die Einverleibung der die Gläubigkeit leitenden Werte. Ihr körperliches Erlernen ermöglicht die Verinnerlichung der Normen und Werte. Vgl. Pierre Bourdieu, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, aus dem Franz. v. Günter Seibt, Frankfurt a.M. 1987, 107f.
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sie rechtfertigenden Vorstellungen verbindet sich notwendig mit dem Gefühl einer Identifikation, deren Wurzeln in die singulare Geschichte des jeweiligen Individuums zurückreichen. Der allmähliche Zerfall der sozialen Macht der Kirche ermöglicht es, die Konstruktion des Glaubens und die Beziehung zur geistlichen Institution mit der Tatsache zu verbinden, daß die Kirche manchen Fraktionen der katholischen Bevölkerung die zur Reproduktion ihrer Kapitalien benötigten (religiösen, kulturellen, ökonomischen, beruflichen oder sozialen) Räume nicht mehr zur Verfügung stellt. Die Fähigkeit jedes Einzelnen, eine solche Deklassierung zu verarbeiten51, ist eng an die Qualität der Kapitalien gebunden, über die er verfügt: Je mehr sie von der Religion abhängen, um so schwieriger ist die Neupositionierung zu bewerkstelligen. Durch das Ausmaß der (bisweilen, wie in den Lebensläufen mancher Konvertierter erkennbar, völlig distanzlosen) Verinnerlichung der institutionellen Logiken vermittelt, stellt jene empfundene Obsoleszenz der katholischen Werte den kognitiven Rahmen dar, innerhalb dessen die Beziehung zwischen .Treue' und .Subversivität' sich situiert. So macht die Analyse bestimmter Infragestellungen der Macht der Geistlichen über die Laien, das Begreifen der angesichts des .Konservativismus' der Hierarchie - ihrer Mutlosigkeit oder Blindheit gegenüber zeitgenössischen Problemen, .modernen' Realitäten - geäußerten Enttäuschungen, das Verstehen der von manchen Intellektuellen akzeptierten .Selbstaufgabe' die Untersuchung dessen erforderlich, wie Zerfall oder Wiederaufbau der religiösen Macht und der von ihnen generierte Wandel in den sozialen Investitionsmöglichkeiten sich in individuellen, für neue Arten und Weisen katholischer Existenz exemplarischen Lebensläufen niederschlagen können. Ein katholischer Intellektueller, der der religiösen Institution nicht ,per Vollmacht' das Handeln überläßt52, kann nur existieren, wenn er in seinem geistigen Kampf Ressourcen mobilisiert, auf die die Kirche nur teilweise Zugriff hat: die des literarischen Felds. Eine doppelte Positionierung53, die - importiert sie doch Werte und Profite des literarischen Felds ins religiöse und umgekehrt - die Mechanismen der Autonomie auf den Prüfstand stellt, die der Differenzierung der sozialen Felder zugrunde liegt. Wenn in den dreißiger Jahren unter dem Gesichtspunkt des intellektuellen Engagements von Katholiken eine neue Epoche heranbricht, so deswegen, weil die .katholische Literaturrenaissance' die Bedingungen der Möglichkeit einer größeren Autonomie des katholischen Intellektuellen herbeigeführt hat. Die Debatten und Auseinandersetzungen um die .Literaturrenaissance' haben dadurch, daß die in ihr engagierten Schrift-
51
Pierre Bourdieu, Classement, declassement, reclassement, in: Actes de la recherche en sciences sociales 1978/H.24, 2-22.
52
Jean Tavares, Le Centre catholique des intellectuels fran?ais. Le dialogue comme negociation symbolique, in: Actes de la recherche en sciences sociales 1981/H.38, 49-62. Vgl. auch ders., La ,synthese' chretienne: depassement vers l'au-dela '. in: Actes de la recherche en sciences sociales 1980/H.34,45-65.
53
Frederique Matonti, Intellectuels communistes. Essai sur l'obeissance politique. La Nouvelle ciritique (1967-1980), Paris 2005.
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steller literarische und religiöse Ressourcen miteinander verbinden, ermöglicht, daß eine neue Gestalt die Bühne betritt: der .katholische Intellektuelle' (der diese Bezeichnung jetzt noch nicht vollinhaltlich für sich in Anspruch nimmt). Autoren wie Mauriac, Maritain, Bernanos sind nicht nur geschützt durch ihr Werk und ihre Berühmtheit, ihnen kommt auch zugute, daß die Kirche (zumindest bis zum Kriegsausbruch) das politische Terrain partiell aufgibt und eine neue Generation katholischer Denker auftaucht. Wie Emmanuel Mounier, der Vordenker der Zeitschrift Esprit, sind sie im ersten oder auch zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts geboren und gesonnen, die .moderne Welt1 grundsätzlich in Frage zu stellen, ohne sich jedoch von einem systematisch negativen Diskurs einengen zu lassen, den sie als vorgestrig empfinden. 54 Für sie handelt es sich weniger darum, über eine .Erneuerung' oder .Renaissance' zu einer katholischen Gesellschaft zurückzufinden, als darum, eine Gesellschaft wiederherzustellen, die vom .Geistigen' beherrscht und auf die ,Person' ausgerichtet ist. Emmanuel Mounier und sein Kreis, aber auch die katholischen Fraktionen der damals auftauchenden .nonkonformistischen' Milieus 55 sind Erben der .katholischen Literaturrenaissance'. Diese Nachfolger haben die Attitüde systematischer Ablehnung von allem, was mittelbar oder unmittelbar mit Republik, Demokratie, Universität... zu tun hat, hinter sich gelassen und versuchen, ein katholisches Denken operativ zu machen, das sich weniger direkt der Kirche unterwirft, vor allem auf Handeln ausgerichtet ist und akzeptiert, sich von nichtkatholischen Werten inspirieren zu lassen. Die Heraufkunft des Front Populaire, der Volksfront, mit der die Zukunft der Arbeiterklasse zum zentralen Gegenstand der Debatten wird, die Aktualität der Reflexionen über die unseligen Auswirkungen von Kapitalismus und Liberalismus (namentlich auf den Konflikt der sozialen Klassen), die mit der Krise des Münchner Abkommens immer näher rückende Kriegsgefahr können diese Überzeugungen nur festigen. An die Stelle der Verteidigung der Kirche als Mittelpunkt einer die .Moderne' ablehnenden .Gegengesellschaft' tritt allmählich das Modell eines Engagements, dessen Kern eine das Handeln in der Gesellschaft bedingende katholische Spiritualität sein kann. Zwar strukturiert das Gegensatzpaar Materialismus versus Spiritualismus noch immer die Kämpfe, aber die Kirche ist nicht mehr einziger
54 55
Michel Winock, Esprit. D e s intellectuels dans la cite, 1930-1950, Paris 1996. Jean-Louis Loubet Del Bayle, Les Non-conformistes des annees 30. Une tentative de renouvellement de la pensee politique franpaise, Paris 1969; vgl. auch John Hellman, The Communitarian Third Way. Alexandre Marc's Ordre Nouveau 1930-2000, Montreal 2002.
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Garant des katholischen Diskurses. Dieses geistige Engagement kann sich immer noch an ihrer Seite vollziehen. Es ist aber ebensogut möglich, daß ein solches (katholisches, christliches, geistiges, sogar ethisches) Engagement ohne sie auskommt.
Aus dem Französischen von Achim Russer und Bernd Schwibs.
STEFFEN BRUENDEL
Zwei Strategien intellektueller Einmischung: Heinrich und Thomas Mann im Ersten Weltkrieg
Thomas Mann war empört, als er Anfang 1916 den neuesten Essay seines Bruders Heinrich las. Eine unpatriotische Stellungnahme, die konträr zu seinen Auffassungen lag, hatte er erwartet, aber es überraschte ihn, daß Zola , so der Titel des Essays, „mehr noch gegen mich als gegen Deutschland"2 gerichtet war. Falsch lag Thomas Mann mit seiner Interpretation nicht, konnte man den Zola-Essay doch auf mehreren Ebenen lesen. Vordergründig eine empathische biographische Skizze des berühmten französischen Schriftstellers und zugleich ein Porträt des Second Empire, handelte es sich zwischen den Zeilen um eine kriegskritische Schrift, ein Reformplädoyer und um eine umfassende Abrechnung mit dem Bruder. Insbesondere den Passus, in dem Heinrich Emile Zolas Bruch mit denjenigen beschrieb, die er einst als Freunde angesehen hatte, deutete Thomas zu Recht als Kampfansage gegen sich. Verärgert und von dem Wunsch nach Revanche beseelt, arbeitete er seine im Herbst 1915 begonnenen Betrachtungen eines Unpolitischen3 zu einer umfassenden Replik aus, die im November 1918 erscheinen sollte. Der publizistische Bruderkampf in Kriegszeiten markierte den Höhepunkt des Konkurrenzkampfes zweier Geschwister, die unterschiedlicher kaum sein konnten. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges und die entgegengesetzten Positionen, die Thomas und Heinrich kriegspolitisch bezogen, zerstörten ihre ohnehin nicht einfache Beziehung endgültig. Der 1914 begonnene Bruderkrieg wurde keineswegs nur auf der persönlichen Ebene ausgetragen, sondern auch auf der literarischen und politischen. Die Forschung konzentriert sich zumeist auf die Beziehungsaspekte der Bruderkämpfe (Markus Joch). So spricht Helmut Koopmann mit Blick auf Thomas Manns unpolitische Betrachtungen von einer „Brüderlichkeit, in der der Hass regiert", und notiert, daß „aus
'
Heinrich Mann, Zola, in: ders., Essays. Hamburg 1960, 154-240, 154.
2
Thomas Mann an Emst Bertram, 15.1.1916, zit. n. Klaus Harpprecht, Thomas Mann. Eine Biographie, Reinbek 1 9 9 5 , 4 0 1 . Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, Frankfurt a.M. 1993.
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dem Gegensatz zweier Brüder ein Weltgegensatz geworden" sei.4 Studien, welche die „persönlichen, literarischen und weltanschaulichen Beziehungen" beider Brüder thematisieren, sind selten.5 Eine systematische Analyse der politischen Stellungnahmen beider Brüder im Kontext der intellektuellen Neuordnungsdebatte, die zwischen 1914 und 1918 gefuhrt wurde, fehlt bis heute. Über die politische Einordnung Heinrich Manns besteht in der Forschung Einigkeit. Er ist der Repräsentant des anderen, nicht-nationalistischen Deutschlands.6 An Thomas Manns Haltung wird dagegen entweder .politisch korrekte' Kritik geübt oder sie wird vor dem Hintergrund späterer demokratischer .Bekehrung' vernachlässigt.7 Häufig findet sich auch eine Entpolitisierung seiner Stellungnahmen, stehen literaturwissenschaftliche Aspekte oder philosophische Gedankengänge im Mittelpunkt der Analysen. So konstatiert Jürgen Eder, die Betrachtungen seien zwar „das umfangreichste und langwierigste publizistische Werk" der Kriegsjahre, aber zum Krieg selbst sagten diese persönlichen Reflexionen „wenig bis nichts". Seine Stellungnahmen zu den politischen Fragen der Kriegszeit seien sogar „nicht viel mehr als Draperie".8 Schon Hanno Helbling hatte geschrieben, die Betrachtungen seien „kein Bekenntnis zur deutschen Politik".9 Selbst in Untersuchungen, die explizit das politische Wirken analysieren, wird Thomas Mann „politische Naivität" attestiert oder beiden Brüdern, Thomas und Heinrich, in Anlehnung an das Diktum Golo Manns bescheinigt, in politicis die „.unwissenden Magier'" zu sein.10 Anhand der politischen Interventionen beider Brüder soll im folgenden untersucht werden, wie Thomas und Heinrich Mann in der politischen Neuordnungsdebatte veror-
4
Helmut Koopmann, Thomas Mann - Heinrich Mann. Die ungleichen Brüder. München 2005, 270, 277, 279, 286.
5
Vgl. Alfred Kantorowicz, Heinrich und Thomas Mann. Die persönlichen, literarischen und weltanschaulichen Beziehungen der Brüder, Berlin 1956. Klaus Schumacher, Heinrich Mann. Der andere Repräsentant oder die Kritik des Krieges aus dem Geiste der Enthüllung, in: U w e Schneider/Andreas Schumann Hg., Krieg der Geister, Würzburg 2000, 121-136; Werner Herden, Zwischen humanistischem Bekenntnis und imperialistischer Wirklichkeit, in: ders., Geist und Macht. Heinrich Manns Weg an die Seite der Arbeiterklasse, Berlin 1977, 7-32.
6
7
Vgl. z.B. Harpprecht, Thomas Mann, 406ff., 429; Daniel Argeies, Thomas Manns Einstellung zur Demokratie. Der Fall eines „progressiven Konservativen", in: Manfred Gangl/Gerard Raulet Hg., Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik. Zur politischen Kultur einer Gemengelage, Frankfurt a.M. 1994, 221-231, Zitat 221; Eckhard Heftrich, V o m Verfall zur Apokalypse. Über Thomas Mann, Bd.2, Frankfurt a.M. 1982, 129, oder Manfred Görtemaker, Thomas Mann und die Politik, Frankfurt a.M. 2 0 0 5 , 4 1 , 235f.
8
Jürgen Eder, Die Geburt des „Zauberbergs" aus dem Geiste der Verwirrung. Thomas Mann und der Erste Weltkrieg, in: Uwe Schneider/Andreas Schumann Hg., Krieg der Geister: Erster Weltkrieg und literarische Moderne, Würzburg 2000, 171-187, 183.
9
Hanno Helbling, Vorwort, in: T. Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, I-XVIII, VII.
10
Görtemaker, Thomas Mann, 9, 238; Joachim Fest, Die unwissenden Magier. Über Thomas und Heinrich Mann, Berlin 1985, 14.
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tet werden können, die zwischen 1914 und 1918 zwischen Intellektuellen gefuhrt wurde. Ausgehend von der These, daß ihre politischen Interventionen mehr waren als bloße Folgen des notorischen Bruderzwistes, wird geprüft, ob eine Konkordanz besteht zwischen ihren Positionen im literarischen Feld, ihren Literaturkonzepten und ihren politischen Stellungnahmen. Indem die politisch-essayistische Publizistik der Brüder analysiert wird, sollen beide Schriftsteller aus ihrer Singularität gelöst und als zentrale literarische Personen ihrer Epoche betrachtet werden, um „grundlegende Strukturen des literarischen Feldes" und „zentrale Fragen von Autorschaft in der Moderne"11 zu erforschen. Den analytischen Bezugsrahmen dieser Untersuchung bietet Pierre Bourdieus Feldtheorie.
I. Analytischer Bezugsrahmen: Positionen und Positionsnahmen im literarischen Feld Bourdieu definiert das literarische Feld in seiner Literatursoziologie als Raum sozialer Beziehungen, der durch Klassen, Kapitalsorten und Habitus strukturiert wird. Das literarische als Teil des intellektuellen Feldes ist durch ein Kräfteverhältnis zwischen verschiedenen Autoren geprägt, die unterschiedlich positioniert sind und ihre Stellung durch Stellungnahmen wahren oder verändern. Objektive Relationen, nicht intersubjektive Beziehungen, kennzeichnen den sozialen Raum. Das literarische Feld ist relativ autonom, aber regelmäßig Eingriffen aus dem politischen und dem ökonomischen Feld ausgesetzt, wobei Literaten ihrerseits in andere Felder, z.B. das politische, intervenieren. Die Strategien der eingreifenden Akteure hängen von ihrer Position innerhalb des Feldes ab. Intellektuelle Debatten zu politischen Themen stellen immer auch ein Ringen um symbolische Macht im internen Konkurrenzkampf der Deutungsexperten dar.12 Gisele Sapiro hat Bourdieus Feldtheorie operationalisiert und am Beispiel des französischen literarischen Feldes zwei gegensätzliche Strukturprinzipien herausgearbeitet: Herrschende versus Beherrschte auf der einen und Autonomie versus Heteronomie auf der anderen Seite. Herrschende sind üblicherweise die arrivierten Schriftsteller, Beherrschte die jungen Kollegen oder unorthodoxe Minderheiten. Auf der vertikalen Achse der Herrschenden und Beherrschten lassen sich orthodoxe und heterodoxe Literaturkonzepte gegenüberstellen, wobei Nähe bzw. Abstand zur herrschenden Meinung den Grad der Politisierung bestimmen. Auf der horizontalen Achse, auf der sich Autonomie und Heteronomie gegenüberstehen, können Literaturkonzepte nach symbolischem oder temporellem Wert klassifiziert werden. Symbolisches Kapital basiert auf '1
Hans Wißkirchen, Zu einigen Tendenzen der Thomas Mann-Forschung 1955-2005, in: Das zweite Leben. Thomas Mann 1955-2005. Das Magazin zur Ausstellung, Lübeck 2005, 22-25, 25.
12
Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a.M. 2001, 288-295, 320ff., 328ff.; ders., Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt a.M. 1997, 19f., 76f.; ders., Homo academicus, Frankfurt a.M. 1988, 42-59, 84, 149ff., 163ff., 213ff.
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Prestige als ästhetisch-künstlerischer Wertschätzung, temporelles Kapital dagegen auf meßbarer Wertschätzung, die sich in Verkaufserfolgen, Literaturpreisen und Akademiemitgliedschaften der Schriftsteller ausdrückt. Autonomie bedeutet Eigengesetzlichkeit gemäß den feldimmanenten Regeln, wie zum Beispiel den Vorrang des Fachurteils von Kollegen und Literaturkritikern vor dem Urteil der allgemeinen Leserschaft. Heteronomie bezeichnet verschiedene Einflüsse, auch aus anderen Feldern, wie zum Beispiel die Wirtschaftlichkeitskriterien des ökonomischen Feldes.13 Die Dynamik des Feldes erwächst aus Konkurrenzkämpfen. Zwischen der Position im Feld und der Positionierung im Sinne von Stellungnahme besteht eine Homologie: Position und Positionierung entsprechen sich. Anhand der kreuzweise angeordneten Achsen lassen sich vier Idealtypen von Schriftstellern differenzieren: Arrivierte, Ästheten, Avantgardisten und Populärschriftsteller. Arrivierte sind die anerkannten und ausgezeichneten Schriftsteller. Sie verkörpern den „guten Geschmack". Ihre Soziabilitätsräume sind Akademien und Salons, und sie verkehren in exklusiven Zirkeln und den Kreisen der Macht. Das bedeutet, daß ihre Stellungnahmen politisch eher konservativ sind und ihre Werke häufig einen volkspädagogischen Impetus aufweisen. Sie beziehen in den großen Presseorganen Stellung oder nutzen den politischen Essay. Demgegenüber ist das bevorzugte Publikationsorgan der Ästheten die literarische Zeitschrift. Sie verkehren vornehmlich im Kreise Gleichgesinnter und an Orten geistigen Lebens. Gekennzeichnet durch intellektuellen Snobismus und grundsätzlich nonkonformistisch, gilt für sie nur das Wahre, Schöne, Gute: die Kunst, um der Kunst willen. Der reinen Wahrheit verpflichtet, engagieren sie sich politisch mittels Petitionen oder durch Mitgliedschaft in intellektuellen Zirkeln und Gruppen.14 Der Populärschriftsteller, das Gegenstück zum Arrivierten, veröffentlicht in der Boulevardpresse und wendet sich mit seinem Werk vor allem an die breite Masse. Anstatt an intellektuellen Debatten teilzunehmen, bevorzugt er die Sozialkritik mittels Satire und Pamphlet. Sensationalismus und journalistischer Stil kennzeichnen sein Werk. Er verkehrt nur mit seinesgleichen, mit denen er sich zusammenschließt. Völlig anders dagegen, wenngleich ebenfalls Beherrschter im Sinne der Klassifizierung Sapiros, ist der Avantgardist, der - marginalisiert im literarischen Feld - durch Widerspruchsstrategien und bewußte Überschreitungen des „guten Geschmacks" Skandale erregen will. Als Nonkonformist ist er offen für neue literarische Stile und macht als politisierter Intellektueller auf soziale Mißstände aufmerksam. Angehörige der Avantgarde sind zumeist jung und mittellos und pflegen das Leben der Boheme.15 Die vier Idealtypen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Soziabilität, ihrer Literaturkonzepte und ihres politischen Engagements. Mit Blick auf das hier gestellte Unter13
Gisele Sapiro, Das französische literarische Feld: Struktur, Dynamik und Formen der Politisierung, in: Berliner Journal für Soziologie 14.2004/H.2, 157-171.
14
Ebd., 160ff. Anstelle von Arrivierten spricht Sapiro von „Notablen". Da Akademien in Deutschland nicht die Bedeutung haben wie in Frankreich, wird hier der Begriff Arrivierte bevorzugt.
15
Ebd., 162ff.
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suchungsthema ergeben sich folgende erkenntnisleitende Fragen: Welche Position hatten Heinrich und Thomas Mann im literarischen Feld inne? In welcher Beziehung stehen ihre politischen Interventionen zu den im Kriege von Intellektuellen verkündeten politischen Visionen (Ideen von 1914)1 Besteht eine Homologie zwischen ihrer (literarischen) Position und ihrer (politischen) Intervention? Zur Beantwortung der Fragen wird die für Frankreich im Rahmen der Feldanalyse entwickelte Klassifizierung für das deutsche literarische Feld übernommen.
II. Gleiche Sozialisation, unterschiedliche Soziabilität und divergierende Literaturkonzepte: Avantgardist versus Ästhet Heinrich Mann kam 1871 als erstes Kind des Lübecker Kaufmanns und späteren Senators Thomas Johann Heinrich Mann und seiner deutsch-brasilianischen Ehefrau Julia Mann geborene da Silva-Bruhns auf die Welt. Ihm folgten 1875 sein Bruder Thomas und später die Schwestern Julia und Carla sowie der jüngste Bruder Viktor. Der Erstgeborene empfand Thomas als Rivalen, zumal der jüngere Bruder der erklärte Liebling der Mutter war. Die spätere Konkurrenz zwischen den Brüdern war somit bereits in ihrer Kindheit angelegt. Nähe und Abgrenzung charakterisieren die Beziehung der beiden, deren Temperamente verschieden waren, und die sich auch sonst stark unterschieden: groß und blond der eine, Heinrich; kleiner und dunkelhaarig der andere, Thomas; männlich und den Frauen zugeneigt der erste; zarter und dem eigenen Geschlecht zugetan der zweite. Der Lebensstil der Familie war großbürgerlich. Während der Vater ein eher puritanischer Geschäftsmann war, wird die Mutter als gutaussehend und sinnlich beschrieben, wobei sie in ihrer Lebensfreude zuweilen bis an die Grenzen des bürgerlichen Anstandes ging.16 Das künstlerische Talent hatten Heinrich und Thomas von der Mutter geerbt. Zwei Jahre nach dem Tod des Vaters 1891 übersiedelte die Familie nach München. Entgegen dem testamentarisch erklärten Willen des Vaters gestattete die Mutter Heinrich und Thomas, Schriftsteller zu werden. Schon in seiner Jugend hatte Heinrich begonnen, Gedichte und Geschichten zu schreiben, von denen einige sogar veröffentlicht wurden. Weder wollte er die väterliche Firma übernehmen noch Jura studieren. Statt dessen verließ er das Gymnasium in der Unterprima und begann 1889 eine Buchhändlerlehre in Dresden, die er aber schon ein Jahr später für eine Volontariatsstelle beim Berliner S.-Fischer-Verlag aufgab. Thomas, der noch in Lübeck geblieben war und die Schule mit dem „Einjährigen" verließ, arbeitete in München zunächst als Volontär bei einer Versicherung, bis er dem Bruder nacheiferte und ebenfalls freier Schriftsteller wurde. Getrieben von dem Bedürfnis, gegen den Älteren anzuschreiben, ihn zu übertrumpfen,
16
Klaus Schröter, Heinrich Mann, Reinbek 1990, 7-23; ders., Thomas Mann, Reinbek 1992, 7-26; Marianne Krüll, Im Netz der Zauberer. Eine andere Geschichte der Familie Mann, Frankfurt a.M. 1993,56-66.
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war es „gleichzeitig ein Schreiben in Nachfolge und ein Schreiben in Opposition zum Werk seines Bruders." 17 Die zahlreichen Veröffentlichungen Heinrichs lösten bei Thomas Neidgefühle aus, wenngleich er mit seinen 1901 erschienenen Buddenbrooks gegenüber dem Älteren „literarisch eine Art Erstgeburtsrecht reklamierte." 18 Zugleich aber entmutigte ihn der Maßstab, den er mit seinem erfolgreichen Jugendwerk gesetzt hatte. Gequält von Selbstzweifeln, geriet seine Produktivität in der ersten Dekade des neuen Jahrhunderts zeitweise ins Stocken. Leidend an der Überlegenheit des älteren Bruders, stand sein Schaffen zunächst ganz im Zeichen der Selbstbehauptung. Aber auch wenn Thomas sich quälte, wurde sein Werk, sobald es vollendet war, allgemein anerkannt. Infolgedessen blickte auch der ältere Bruder neidvoll auf den Jüngeren. „Niemand hat Thomas Manns Schreiben stärker beeinflußt als der Bruder, von niemandem war Heinrich innerlich stärker abhängig als von Thomas". 19 Zwar waren beide Meister der ironischen Zuspitzung, zumal die großbürgerliche Herkunft jedem den Blick von oben erlaubte, aber das war eine schmale künstlerische Schnittmenge. So dominierte das Bestreben, sich vom anderen abzugrenzen, auch weil „der eine der jeweils scharfsichtigste Kritiker des anderen war". 20 Die „Strategien prestigeträchtiger Unterscheidung" (Markus Joch) der Brüder manifestierten sich nicht nur literarisch, sondern auch habituell. Hatte der junge Thomas Mann noch gegen die Normen des Wilhelminismus aufbegehrt, pflegte er nach der Jahrhundertwende den Lebensstil des Großbürgers und loyalen Staatsbürgers. Trotz seiner Neigung zum eigenen Geschlecht ehelichte er 1905 Katharina (Katia) Pringsheim, eine Tochter aus großbürgerlicher Gelehrtenfamilie. Skeptisch verfolgte er den Lebenswandel Heinrichs, der sich mit Frauen und Freunden umgab, die fast alle der demi-monde des Theaters entstammten, und mißbilligte dessen lockeres Verhältnis zu der aus Brasilien stammenden Sängerin Ines (Nena) Schmied. Es war die Kritik des etablierten Bürgers am freien Bohemien. Thomas war eher der Konformist, Heinrich der Nonkonformist. 21 Geschwistersoziologisch lassen sich Sozialisation und Soziabilität der Brüder Mann gut erklären. Geschwisterbeziehungen sind immer komplementär und von Ambivalenz gekennzeichnet, das heißt vom gleichzeitigen Vorhandensein positiver und negativer Gefühle. Vergleichs- und Rivalitätsprozesse spielen sich insbesondere dann ab, wenn kein zu großer Altersunterschied zwischen den Geschwistern besteht, sie das gleiche Geschlecht haben und sich als ähnlich erleben. Die Kindheit und insbesondere die Be17 18
"
20 21
Koopmann, Thomas Mann, 88-91, Zitat 47. Vgl. auch Krüll, Zauberer, 70-88. Fest, Die unwissenden Magier, 87. Koopmann, Thomas Mann, 8f., Zitat 11, 13, 60. Vgl. auch Schröter, Thomas Mann, 62, 82; Hans Wysling, Zur Einfuhrung, in: Thomas Mann, Heinrich Mann. Briefwechsel 1900 bis 1949, hg. v. Hans Wysling, Frankfurt a.M. 1975, V-LXII, XIX. Gustav Seibt, Spitze Federn, spitze Zungen, in: Süddeutsche Zeitung, 29.7.2005. Schröter, Heinrich Mann, 79; ders., Thomas Mann, 29, 32; Wysling, Zur Einführung, XXXIf., XL; Koopmann, Thomas Mann, 10; Markus Joch, Bruderkämpfe. Zum Streit um den intellektuellen Habitus in den Fällen Heinrich Heine, Heinrich Mann und Hans Magnus Enzensberger, Heidelberg 2000, Zitat 1.
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ziehung zur Mutter spielt eine große Rolle. Die permanenten Vergleiche, die Geschwister aufeinander bezogen anstellen und die sie oft zu Konkurrenten machen, ergeben sich nicht nur zwangsläufig aufgrund konkreter Vergleichspunkte, wie zum Beispiel literarischer Ambitionen, sondern auch wegen zahlreicher Vergleichsanlässe, wie beispielsweise der Veröffentlichungen des jeweils anderen. Darüber hinaus spielt auch das gesellschaftliche Umfeld eine große Rolle, in dem Leistung zählt und Wettbewerb, das heißt der Vergleich mit anderen, allgegenwärtig ist.22 Als Konkurrenten mußten sich Heinrich und Thomas Mann zwangsläufig unterschiedlich entwickeln, um sowohl in der Familie als auch beruflich ihren Platz zu finden. Folgerichtig unterschieden sich ihre Literaturkonzepte, waren sie doch bestrebt, „innerhalb der logischen Integration (Bourdieu) des Feldes"23 divergierende Antworten zu geben. Thomas Manns Ideal war der Bildungsroman. Literarisch sah er sich als Schüler der russischen Realisten, insbesondere Tolstois. Von den Romanen des aristokratischen Schriftstellers übernahm er die Kompositionstechniken und das autobiographische Verfahren. Ganz im Sinne Nietzsches war er davon überzeugt, daß das Geistige und insbesondere der Künstler in der Gesellschaft isoliert seien. Er selbst litt an der Isolation und verlangte nach Repräsentanz. Dementsprechend suchte er Sujets oder Personen, in die er Autobiographisches einbringen konnte, wie beispielsweise in seine geplante Abhandlung über Friedrich den Großen oder in seine 1912 erschienene Novelle Der Tod in Venedig. Als Anhänger des Tolstoismus war es ihm unmöglich, die Balzacschen Übersteigerungen der Wirklichkeit im Werk seinen Bruders zu akzeptieren, geschweige denn gutzuheißen.24 Heinrich Mann orientierte sich - obwohl in jungen Jahren ebenfalls von Nietzsche beeinflußt - an Frankreich. Begeistert von den Werken Maupassants, Flauberts und Balzacs entwickelte er das Konzept des Gesellschaftsromans. Die Übernahme französischer Schreib- und Darstellungsmuster war für Heinrich jedoch mehr als eine formale Schulung; sie war auch „der Anschluß des Isolierten an eine nationale Kultur". Dies ermöglichte ihm, der deutschen Gegenwart ein moralisch-politisches Programm gegenüberzustellen und seine Sozialkritik zu entwickeln. Schon 1904 bekannte er sich öffentlich zu Frankreich und würdigte dessen demokratische Gesellschaftsform.25 Auch Zola, der „Verfasser skandalumwitterter Bestseller"26, prägte ihn. Nicht nur biographische Ähnlichkeiten - ihr unbürgerlicher Lebenswandel, der durch Zolas außereheliche Beziehung, aus der zwei Kinder hervorgegangen waren, und Heinrich Manns ungebundene Lebensform mit gelöster Verlobung und einer späteren Scheidung repräsentiert wurde - begründeten Heinrichs Sympathie für Zola, so daß von einer
22
Helmut Kasten, Geschwister. Vorbilder, Rivalen, Vertraute, München 2001 5 , 34ff., 47ff., 75ff., 90ff.
23
Joch, Bruderkämpfe, 158, Hervorhebung i.O.
24
Schröter, Thomas Mann, 64f., 68f., 82.
25
Ders., Heinrich Mann, 45, 59f., Zitat 60; Koopmann, Thomas Mann, 118.
26
Frederick W. J. Hemmings, Emile Zola. Chronist und Ankläger seiner Zeit, München 1979, 10.
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habituellen Übereinstimmung zwischen beiden gesprochen werden kann,27 sondern vor allem die Sozialkritik, die beider Werk kennzeichnete. Die unvereinbaren Literaturkonzepte der Brüder Mann waren aber nicht nur bewußte Distinktionsstrategien, sondern entwickelten sich analog zu ihrer Position im Feld. Während am Bildungsroman Thomas Manns deutlich wird, „daß mit der Vormachtstellung im Feld die Bereitschaft zum Konflikt mit der politischen Macht abnimmt"28, entsprach Heinrichs Engagement für die Dominierten in seinem Gesellschaftsroman seinem eigenen Dominiertsein im literarischen Feld. Aus der Feldlogik erklärt sich die Nähe der Brüder zu den Herrschenden bzw. Beherrschten. Heinrichs Werk ist gegen die wirtschaftliche und politische Elite des Kaiserreichs gerichtet und darauf angelegt, auf intellektueller Ebene Definitionsmacht über die Arrivierten zu erringen. Präzise hatte Heinrich die soziale Marginalisierung der literarischen Intelligenz als Entfremdung zwischen Geist und bürgerlichem Kapitalismus wahrgenommen, und so rief er nach einer Literatur, welche die bürgerlichen Wertvorstellungen hinterfragte. Seine Gesellschaftsromane waren kritische Spiegelbilder ihrer Zeit. Zola hatte in seinem Werk den Schwachen und Ausgestoßenen eine Stimme gegeben und deren Lebensumstände dargestellt. Betonte Antibürgerlichkeit hieß auch das Programm Heinrich Manns. Hatte er zunächst noch den Prinzipien eines monarchischen Ständestaates angehangen, wandte er sich in den 1890er Jahren unter dem Einfluß zweier Italienreisen sowie seiner Beschäftigung mit dem französischen Realismus gesellschaftskritisch-satirischen Erzählungen zu. Mit seinem Roman Im Schlaraffenland, erschienen 1900, begann seine sozialkritische Auseinandersetzung mit dem Kaiserreich.29 So verschiedenartig wie ihre Literaturkonzepte waren auch ihre Auffassungen von der gesellschaftlichen Rolle des Schriftstellers. In seinem überaus wirkungsvollen Essay Geist und Tat, der als ein Gründungsmanifest des Expressionismus gilt, hatte Heinrich Mann 1910 seine Forderung nach sozialer Verantwortung des Dichters wie der Literatur postuliert. In der kulturellen Tradition Frankreichs sah er sein Ideal des in die Politik eingreifenden Literaten verwirklicht. Französische Literaten, schrieb er, hätten das Volk zur Demokratie erzogen, indem sie „der bestehenden Macht entgegentraten".30 Damit spielte Heinrich auf Zolas persönlichen Einsatz in der Dreyfus-Affare an. Zolas Engagement für den zu Unrecht verurteilten Hauptmann hatte ihn beeindruckt und ihm die Notwendigkeit der intellektuellen Intervention vor Augen gefuhrt.31 Thomas Mann betrachtete sich dagegen als verantwortungsfreien Künstler. Nach dem Abschluß seines 27
Joch, Bruderkämpfe, 228f.
28
Ebd., 255.
29
Schröter, Heinrich Mann, 39ff., 51, 59, 6 0 f , 67; Joch, Bruderkämpfe, 149ff., 1 8 6 f f , 191ff., 216f„ 229.
30
Heinrich Mann, Geist und Tat, in: ders., Essays, 7-10, 9.
31
Schröter, Heinrich Mann, 39ff., 51, 59, 60f., 67; Joch, Bruderkämpfe, 216f.; Hemmings, Emile Zola, 10f., 123ff., 263. Zu Zolas intellektueller Intervention vgl. Ingrid Gilcher-Holtey, Menschenrechte oder Vaterland? Die Formierung der Intellektuellen in der Affäre Dreyfus, in: Berliner Journal fur Soziologie 7.1997, 61-70.
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Romans Königliche Hoheit entwarf er Anfang 1909 eine Antithese zu Heinrichs Geist und Tat: Er entwickelte eine antonyme Trennung von Geist und Kunst - so der Titel seines unveröffentlichten Essays - und stellte fest, daß der Geist sich in analytischer Literatur ausdrücke, während Kunst schöpferische Dichtung sei. Seit 1912 trat er immer stärker für eine spezifisch irrationale Kunst ein, die der intellektuellen Reflexion nicht bedürfe.32 Mit Blick auf Heinrich kontrastierte Thomas den versatilen, schnellschreibenden Literaten mit dem schöpferischen Dichter, der sich auf etwas Gegebenes, idealiter auf die Wirklichkeit stütze und diese kreativ gestalte. Beeinflußt von Nietzsche, entwickelte er eine Art kategorischen Ästhetizismus. Der Künstler müsse sich über gesellschaftliche Ordnungen erheben, um dem Geist absolute Freiheit zu lassen. So verstanden war der Künstler unpolitisch, losgelöst von sozialer Verantwortung. Gleichwohl empfand Thomas Mann, gerade auch im Vergleich zu seinem Bruder, einen Zwiespalt zwischen gesellschaftlicher Aufgabe und freiem, ungebundenem Schaffen. 33 Die Auseinandersetzung zwischen dem Rationalen und dem Wild-Schöpferischen, dem - in Nietzsches Terminologie - Apollinischen und Dionysischen, durchzieht sein Werk und insbesondere seine 1912 erschienene Novelle Der Tod in Venedig?4 Den unterschiedlichen Literaturkonzepten der Brüder entsprach ihre Verankerung in verschiedenen Verlagen. Sie lassen sich als Autoren zweier Zeitschriften im literarischen Feld verorten: Thomas Mann als Publizist der Neuen Rundschau und Heinrich als Essayist der Weißen Blätter. In der zwischen 1894 und 1922 von Oskar Bie herausgegebenen Neuen Rundschau, dem Forum für moderne Literatur und Essayistik, erschienen Beiträge anerkannter Literaten wie Hermann Bahr, Gerhart Hauptmann, Rainer Maria Rilke und Hugo von Hofmannsthal. Diese bei Fischer publizierte Zeitschrift galt als eines der wichtigsten literarischen Periodika der Moderne.35 Die Monatsschrift Die Weißen Blätter, die von 1913 bis 1920 existierte und zunächst von Erik-Emst Schwabach, seit 1915 dann von Rene Schickele redigiert wurde, war ein wichtiges Organ des Expressionismus und avancierte während des Weltkrieges zum Publikationsorgan der europäischen Kriegsgegner. Sie erschien von 1913 bis 1915 beim Leipziger Verlag der Weißen Bücher, aus Zensurgründen seit 1916 in der Schweiz. In diesem kritischpazifistischen Organ veröffentlichten außer Heinrich Mann auch Gottfried Benn, Her-
32
Barbara Beßlich, Wege in den „Kulturkrieg". Zivilisationskritik in Deutschland
1890-1914,
Darmstadt 2000, 146f.; Wysling, Zur Einführung, XLIII. Ein im eigentlichen Sinne sozialkritisches Buch hat Thomas Mann nie geschrieben. "
Schröter, Thomas Mann, 83f.; Wysling, Zur Einführung, XLIf., XLVf.
34
Thomas Mann, Der Tod in Venedig, Frankfurt a.M. 1991, 15f.
35
Wolfgang Grothe, Die Neue Rundschau des Verlags S. Fischer, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 4.1961/63, 809-995; Peter de Mendelssohn, Die Geschichte der „Neuen Rundschau". Aus Anlaß des achtzigjährigen Bestehens der Zeitschrift, in: Neue Rundschau 80.1969, 597-615.
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mann Hesse, Annette Kolb, Franz Werfel und Henri Barbusse. 36 Einige von Heinrich Manns Schriften erschienen auch beim expressionistischen Theodor-Wolff-Verlag in Leipzig. Trotz einiger Überschneidungen lassen sich die Autoren beider Zeitschriften als Vertreter zweier Gruppen auffassen, die sowohl literarisch als auch politisch verschiedene Ansichten vertraten. Deutlich zeichnen sich hier die antagonistischen Positionen der Brüder ab, welche sie im literarischen Feld einnahmen: Thomas Mann gesellschaftskonform auf seiten der Herrschenden, als arrivierter Schriftsteller und überzeugter Ästhet, und Heinrich als nonkonformer Avantgardist und populärer Schriftsteller auf seiten der Beherrschten. Diese entgegengesetzte Positionierung korrespondierte mit der Rezeption ihrer Werke. Als scharfer Kritiker wilhelminischer Zustände hat der politische Grundimpuls in Heinrich Manns Oeuvre bereits seine zeitgenössische Leserschaft gespalten. Zudem haben seine politischen Essays seinen Ruf als linker Intellektueller nachhaltig geprägt. Demgegenüber gehörte Thomas Manns Werk spätestens seit der Verleihung des Literatur-Nobelpreises für die Buddenbrooks im Jahre 1929 zum Kanon der deutschen Literatur, wenngleich auch er eine Vielzahl öffentlicher Kontroversen ausgelöst hat.37 Verstärkt wurde die Wahrnehmung der Brüder als Antipoden schließlich durch ihre öffentlich ausgetragene politische Auseinandersetzung im Ersten Weltkrieg.
III. Selbst- und Feindbilder: Kritischer Intellektueller versus unpolitischer Künstler Am 4. August 1914 stimmte der Reichstag mit den Stimmen der SPD für die Kriegskredite. Das war mehr als ein formaler Akt, symbolisierte der Beschluß in den Augen der Öffentlichkeit doch die Überwindung der Klassengegensätze in Zeiten nationaler Gefahr. „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche", hatte der Kaiser verkündet. Bürgerliche Intellektuelle und Gelehrte feierten den August 1914 als Geburtsstunde eines „neuen Geistes". 38 Deutschland habe, schrieb der Münsteraner 36
Paul Raabe/Heinz Ludwig Greve, Expressionismus. Literatur und Kunst 1910-1923. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach a.N. vom 8.5. bis 31.10.1960, Marbach 1960; Schröter, Heinrich Mann, 82.
37
Silke Schulenburg, „Feiern: ja - aber hinterfragen: das eher nicht". Zum 100. Geburtstag 1975: Thomas Mann zwischen Verklärung und Verachtung, in: Das zweite Leben, 26-31. Vgl. auch Thomas Göll, Die Deutschen und Thomas Mann. Die Rezeption des Dichters in Abhängigkeit von der Politischen Kultur Deutschlands 1898-1955, Baden-Baden 2000.
38
Gustav Roethe, Wir Deutschen und der Krieg, in: Deutsche Reden in schwerer Zeit, B d . l , Berlin 1914, 15-46, 18ff., 22; Hans Delbrück, Über den kriegerischen Charakter des deutschen Volkes, in: Deutsche Reden 1, 47-74, 69ff.; Otto von Gierke, Krieg und Kultur, in: Deutsche Reden 1, 75102, 97f.; Emst Rolffs, Der Geist von 1914, in: Preußische Jahrbücher 158.1914, 377-391, 378f., 383, 387; Johann Plenge, Der Krieg und die Volkswirtschaft, Münster 1915, 189; ders., 1789 und 1914. Die symbolischen Jahre in der Geschichte des politischen Geistes, Berlin 1916, 19, 63; Werner Sombart, Händler und Helden. Patriotische Besinnungen, München 1915, 53, 117; Alfred
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Staats Wissenschaftler Johann Plenge Anfang 1915, durch seine „geistige Wiedergeburt" bereits innerlich gesiegt. Während der Mobilmachung sei „unser neuer Geist geboren: der Geist der stärksten Zusammenfassung aller wirtschaftlichen und aller staatlichen Kräfte zu einem neuen Ganzen, in dem alle mit dem gleichen Anteil leben. Der neue deutsche Staat! Die Ideen von 1914!"39 So unterschiedliche Dichter wie Gerhart Hauptmann und Ernst Lissauer, Richard Dehmel und Heinrich Lersch, Rainer Maria Rilke und Julius Bab besangen das Vaterland und die deutschen Tugenden, den Aufbruch und die Pflicht. Künstler, Studenten und Professoren meldeten sich freiwillig zur Front, und Geistliche beider Konfessionen segneten die ausziehenden Soldaten.40 In dieser Atmosphäre aufwallenden Patriotismus war für Gesellschaftskritik kein Platz. Die Veröffentlichung von Heinrich Manns Untertan - nach Vorabdrucken einzelner Kapitel 1911/12 seit Januar 1914 als Fortsetzungsroman in der Münchener Zeitschrift Zeit im Bild erschienen - wurde am 13. August gestoppt. „Im gegenwärtigen Augenblick", so die Redaktion, „kann ein großes öffentliches Organ nicht in satirischer Form an deutschen Verhältnissen Kritik üben".41 Patriotische Literatur wurde gewünscht. Viele Schriftsteller reagierten auf diese Nachfrage, nicht zuletzt auch aus materiellem Interesse, weil sie als freischaffende Künstler um ihre Einkommen fürchteten.42 In Briefen an seinen Bruder drückte Thomas Mann seine Besorgnis aus, durch einen langen Krieg wirtschaftlich ruiniert zu werden, aber auch das Bewußtsein, etwas Außergewöhnliches mitzuerleben. Zwar bezeichnete er den Krieg als Heimsuchung, die Europa innerlich und äußerlich verändern werde, aber er fragte zugleich: „Muß man nicht dankbar sein für das vollkommen Unerwartete, so große Dinge erleben zu dürfen?" Sein vorherrschendes Gefühl sei „eine ungeheure Neugier" sowie „die tiefste Sympathie für [...] Deutschland".43 Geleitet von diesem Gefühl, begann er noch im selben Monat mit der Abfassung seiner Gedanken im Kriege, in denen er den Krieg als notwendige, reinigende Katastrophe beschrieb.44 Deutschland führe, schrieb er seinem Bruder am 18. September, einen
Weber, Gedanken zur deutschen Sendung, Berlin 1915, 31, 90, 104; Ernst Troeltsch, Die Ideen von 1914, in: Die Neue Rundschau 27.1916/Bd. 1, 605-624. Plenge, Krieg und die Volkswirtschaft, 189f. Helmut Fries, Die große Katharsis. Der Erste Weltkrieg in der Sicht deutscher Dichter und Gelehrter. Bd. I: Die Kriegsbegeisterung von 1914: Ursprünge - Denkweisen - Auflösung, Konstanz 1994, 153ff. Vgl. auch Thomas Anz/Joseph Vogl Hg., Die Dichter und der Krieg. Deutsche Lyrik 1914-1918, München 1982; Karl Hammer, Deutsche Kriegstheologie 1870-1918, München 1974. Zit. n. Klaus Schröter, Heinrich Mann, 79. Helmut Fries, Die große Katharsis. Der Erste Weltkrieg in der Sicht deutscher Dichter und Gelehrter. Bd.2: Euphorie - Entsetzen - Widerspruch: Die Schriftsteller 1914-1918, Konstanz 1995, 20, 26f. Thomas Mann an Heinrich Mann, 7.8.1914, zit. n. Briefwechsel, 107f. Vgl. auch Thomas Manns Brief vom 13.9.1914, zit. n. ebd., 108f. Thomas Mann, Gedanken im Kriege, in: ders., Essays, Bd.l: Frühlingssturm 1893-1918, hg. v. Hermann Kurzke und Stephan Stachorski, Frankfurt a.M. 1993, 188-205, 192.
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„großen, grundanständigen, ja feierlichen Volkskrieg"45. Heinrich, der frankophile Weltbürger, mußte solche Äußerungen auch als Angriff auf seine Überzeugungen auffassen.46 Wie um den Makel wettzumachen, nicht selbst als Soldat im Felde zu stehen, stilisierte sich Thomas Mann - er war im September als dienstuntauglich ausgemustert worden47 - in den Gedanken im Kriege zum Soldaten des Geistes nach dem Motto: „Soldatisch [...] leben, aber nicht als Soldat".48 Seine Kriegsgedanken erschöpften sich aber nicht in Selbstrechtfertigungen und waren mehr als bloß die „ausfuhrliche Variation"49 des Satzes vom „feierlichen Volkskrieg" im Brief an den Bruder. Wie andere Schriftsteller und Gelehrte stilisierte auch Thomas Mann den von der alliierten Propaganda als Synonym für deutsche Brutalität und Kriegslüsternheit verwendeten Begriff des Militarismus zur „Form und Erscheinung deutscher Moralität".50 Auch seine Vorwürfe englischer „Heuchelei" und französischer Dünkelhaftigkeit entsprachen herrschender Meinung über die Feinde. Der von ihm entfaltete Gegensatz zwischen Kultur und Zivilisation, erstere definiert als „Geschlossenheit, Stil, Form, Haltung, Geschmack", letztere verstanden als „Vernunft, Aufklärung, [...] Skeptisierung, Auflösung, - Geist",51 war zwar nicht neu, aber von Thomas kriegpolitisch pointiert zugespitzt. Nachdem Thomas Manns Gedanken im November 1914 in der Neuen Rundschau erschienen waren, erfolgte der endgültige Bruch der Brüder. Ihre vorerst letzte Begegnung beschrieb Agnes Speyer-Ulmann: „Erregteste politische Diskussion. Kriegsauseinandersetzung. Heinrich pro-französisch, mein Mann und Thomas pro-deutsch. Heftigste Bekämpfung der Meinungen - schließlich: Bruch mit seinem Bruder. Von diesem Tage an nie mehr gesprochen, nicht einmal auf der Straße gegrüßt".52 In seinem im November 1915 in den Weißen Blättern erschienenen Zola-Essay beschrieb Heinrich Mann „mit Zorn und mit Schmerz" die Trennung „von denen, die er trotz allem für seinesgleichen gehalten hatte."53 Was hier auf Zola bezogen war, veranschaulichte zugleich seine Trennung von Thomas. Der Essay ist zunächst ein Meisterwerk literarischer Porträtkunst, in wenige große Absätze unterteilt und mit Tempo geschrieben. Heinrich feierte den Wegbereiter des Naturalismus und Autor des aufsehenerregenden Artikels J'accuse als vorbildlichen intellektuellen Schriftsteller. Der Essay ist zugleich stark autobiographisch geprägt, streckenweise sogar eine „verhüllte Biographie" (Hans 45 46 47
48
49 50 51 52 53
Thomas Mann an Heinrich Mann, 18.9.1914, zit. n. Briefwechsel, 110. Koopmann, Thomas Mann, 271 f. Peter de Mendelssohn, Der Zauberer. Das Leben des deutschen Schriftstellers Thomas Mann, Bd.2: 1905 bis 1918, Frankfurt a.M. 1997, 1601f. Thomas Mann, Gute Feldpost, in: ders., Essays 1, 206-209, 207. Vgl. auch Koopmann, Thomas Mann, 272f. Koopmann, Thomas Mann, 274. T. Mann, Gedanken im Kriege, 198. Ebd., 188ff. Zit. in Koopmann, Thomas Mann, 329. Vgl. auch de Mendelssohn, Zauberer 2, 1591 f. H. Mann, Zola, 226.
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Wysling).54 Aber darüber hinaus präsentiert sich Heinrich Mann als „Virtuose der impliziten Kritik"55, indem er das Second Empire und das Deutsche Reich überblendete und auf diese Weise Obrigkeitsstaat und Untertanenmentalität, Mitläufertum und nationalistische Borniertheit - in Deutschland - geißelte. Der Essay war Heinrich Manns ,,J'accuse!" gegen eine ungerechte Gesellschaftsordnung, einen imperialistischen Krieg und eine nationalistische Intelligenz. Mit Zola wollte er im literarischen Feld eine Zola ähnliche Position einnehmen, und zwar mit Blick auf beides: soziale Stellung und intellektuelle Intervention.56 Auch deshalb enthielt sein Essay scharfe, gegen affirmative Intellektuelle wie Thomas gerichtete Angriffe auf die „Wortführer und Anwälte des Rückfalls", die „geistigen Mitläufer" und „falschen Geistigen".57 Zola beflügelte Thomas Mann bei der Niederschrift seiner Betrachtungen eines Unpolitischen. Üblicherweise werden drei Antriebe für diesen langen Essay genannt: zunächst Thomas' Drang, einen bleibenden geistigen Beitrag zum Kriege zu leisten, dann sein Verlangen nach Abrechnung mit dem Bruder und schließlich das Bedürfnis, den Zauberberg, an dem er arbeitete, intellektuell nicht zu überfrachten, indem er die Themen der Betrachtungen aus dem Roman heraushielt.58 Als Antwort auf Heinrich handelte es sich um eine Stellungnahme des verantwortungsfreien Künstlers gegen den kritischen Intellektuellen. Allerdings bezog Thomas keineswegs nur eine Defensivposition, wie er selbst oft behauptet hat. Er begann die Betrachtungen durchaus im Bewußtsein eigener Stärke und Überlegenheit. Nachdem sich nach Kriegsbeginn fast keiner der Arrivierten im literarischen Feld gegen den Krieg oder den verbreiteten Kriegsnationalismus gewandt hatte, Thomas Mann sich also auf Seiten der Mehrheit wähnte, bezog er mit mehreren Artikeln und den Betrachtungen öffentlich Position.59 Man mag darin den „Wunsch nach risikoloser Positionsmarkierung"60 erkennen, aber es gilt festzuhalten, daß viele seiner Äußerungen keineswegs neu waren. So hatte Thomas Mann seine Unterscheidung zwischen „Kultur" und „Zivilisation" teilweise wörtlich aus seinen Notizen zu Geist und Kunst von 1909 übernommen.61 Gleiches gilt für den von Werner Sombart polemisch zugespitzten Gegensatz zwischen „Händlern und Helden", der sich als Ablehnung der kapitalistischen Massengesellschaft bereits in seinen Werken der Vorkriegszeit findet,62 oder für Max Schelers Versuch, das schöpferische Wesen des
54
Koopmann, Thomas Mann, 281 f.; de Mendelssohn, Zauberer 2, 1706ff.; Wysling, Zur Einfuhrung, L.
55
Schumacher, Heinrich Mann, 134.
56
Joch, Bruderkämpfe, 218f., 227.
57
H. Mann, Zola, 226. Vgl. Wysling, Zur Einführung, IL.
58
Helbling, Vorwort, II-VII. Vgl. auch Eder, Die Geburt des „Zauberbergs", 171 ff. Joch, Bruderkämpfe, 253-256.
59 60 61 62
Ebd., 272. Beßlich, Kulturkrieg, 179f. Friedrich Lenger, Werner Sombart. Eine Biographie, München 1994, 246ff.
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Krieges zu erfassen, der eng mit seiner materialen Wertethik verflochten war.63 Die Verschränkung von Kriegsschrift und Werk zeigt sich sehr deutlich in Thomas Manns Zauberberg, einer Art „erzählerischer Synchronisation" zu dem, „was in den Betrachtungen oft schwerfällig und widersprüchlich behauptet wurde".64 Widersprüchlich sind die Betrachtungen stellenweise auch deshalb, weil sie als mit Leidenschaft geschriebene und tagebuchartigen Elementen versehene politische Schrift den in Deutschland ab Mitte 1916 einsetzenden allgemeinen Stimmungsumschwung widerspiegeln. Mit Zola und den Betrachtungen hatten sich beide Brüder im literarischen Feld endgültig entgegengesetzt positioniert. Als regelrechte Bekenntniswerke definierten beide Schriften das Mandat des Intellektuellen.65 Am Beispiel Zolas, eines Franzosen, der für einen Juden eintrat, dem Spionage für Deutschland vorgeworfen wurde, zeigte Heinrich Mann, was die gesellschaftliche Aufgabe der Literaten sei: sich notfalls gegen die Obrigkeit zu stellen und das politische Establishment herauszufordern, sich auf allgemeine Werte zu berufen und sein Renommee einzusetzen, um der Wahrheit Gehör zu verschaffen. Schon 1910 hatte er in Geist und Tat die in Deutschland verbreitete staatstragend-unpolitische Einstellung abgelehnt und postuliert: „Ein Intellektueller, der sich an die Herrenkaste heranmacht, begeht Verrat am Geist".66 1915 forderte er den politischen Einsatz der Denker. Indem der Intellektuelle die „Wahrheit des Geistes über den Staat" stelle und in das politische Geschehen eingreife, handele es sich um eine „notwendige Tat des Gewissens". Der Geist sei kein Selbstzweck, sondern müsse dazu dienen, Vernunft und Menschlichkeit zum Durchbruch zu verhelfen. Literatur und Politik, so Heinrich Mann, hätten denselben Gegenstand und dasselbe Ziel, denn „Geist ist Tat, die fur den Menschen geschieht".67 Thomas Mann widersprach, weil das Geistige zu wirken, nicht zu handeln habe. Er erinnerte an Goethes Diktum, daß ein gutes Kunstwerk zwar moralische Folgen haben könne, aber an den Künstler gerichtete moralische Forderungen dessen Werk beeinträchtigten.68 Politische Künstler bezeichnete Thomas Mann als „belles-lettresPolitiker", die in erster Linie eitel und profitorientiert seien, dies jedoch mit der Doktrin verbrämten, Kunst müsse politische Folgen haben. Das richtete sich direkt gegen die „Zivilisationsliteraten" oder „.Intellektuellen"', zu denen er seinen Bruder zählte. Er lehnte Heinrichs „politischen Ästhetizismus" ab, der moralisch verbrämt werde, und revanchierte sich damit bei Heinrich, der ihm ,,[l]iterarische[n] Ästhetizismus" vorgeworfen und diesen als Ausdruck politischer Selbstvergessenheit und sozialer Indifferenz
63
Kurt Flasch, D i e geistige M o b i l m a c h u n g . D i e deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg.
64
Eder, D i e Geburt d e s „Zauberbergs", 172.
Ein Versuch, Berlin 2 0 0 0 , 1 0 6 - 1 2 4 , insbes. 115ff. 65
Kantorowicz, Heinrich und T h o m a s Mann, 21.
66
H. Mann, Geist und Tat, 14.
67
Ders., Zola, 158, 183, 2 0 8 f . , 2 1 5 f . , Zitate 2 1 5 , 2 1 2 .
6?
T h o m a s Mann in einer N o t i z , vgl. Wysling, Zur Einführung, LI.
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bezeichnet hatte.69 Den intellektuellen Gleichschritt mit der Macht nannte Heinrich eitel, opportunistisch und - da Thomas wie andere „Drauf- und Durchgänger" die Zensur nicht fürchten müßte70 - eigennützig, weil er darauf angelegt sei, im literarischen Feld eine Monopolstellung zu erringen. Indem Heinrich seinem Bruder niedrige Beweggründe unterstellte und ihm keinerlei Überzeugung zubilligte, machte er es sich allerdings etwas zu einfach.71 Zu Recht hat Alfred Kantorowicz betont, daß man Thomas Mann das ehrliche Bemühen in seiner ,,qualvolle[n] Selbstauseinandersetzung" nicht absprechen dürfe. Keinesfalls gehörte er zu den „allzeit konformen Schreihälsen", sondern seine Betrachtungen legten Zeugnis ab von einer intensiven Gewissensprüc 72 fung. Heinrichs Vorwurf, den Geist zu verraten, indem Unrecht, welches das eigene Volk begehe, in Recht umgedeutet werde,73 konterte Thomas mit der Replik, daß Heinrich immer nur Deutschland kritisiere, nie aber das Ausland.74 Außerdem verbat er sich die einseitige Interpretation, intellektuelles Engagement müsse stets kritisch und dürfe nie affirmativ sein. Die politische Reife eines Volkes bemesse sich nicht danach, ob es sich schon einmal gegen die Doktrin des Staatswohls aufgelehnt habe. So sei die DreyfusAffäre lediglich eine intellektuelle Streiterei gewesen, die Deutschland nicht beträfe, weil der Staat als Garant sozialer Gerechtigkeit zu Recht Vertrauen genösse. Die Betonung des politischen wie sozialen Gewinns der Affäre für Frankreich bezeichnete er als hohle französische „Renommiergeste", zumal Dreyfus nicht freigesprochen, sondern mehrfach verurteilt worden sei.75 Damit kritisierte Thomas das französische Staats- und Rechtssystem, das keineswegs - wie vom Bruder behauptet - besser sei als das deutsche. Letztlich verklärte Heinrich Frankreich genauso kritiklos wie Thomas Deutschland. Dabei war die Idolisierung der französischen Republik durch Heinrich ebenso dem Wunsch nach „intellektueller Selbstermutigung" (Markus Joch) geschuldet wie die Verteidigung Deutschlands durch Thomas. Thomas Manns publizistisches Engagement für sein Vaterland illustriert, daß auch „unpolitische" Betrachtungen eminent politisch sein konnten. Sein Beispiel zeigt, daß die „Anti-Intellektuellen" im Ersten Weltkrieg entgegen ihren bisherigen Gewohnheiten ins Feld der Macht eingriffen und sich damit dem Interventionsideal der Intellektuellen anglichen, „mit denen sie den Antrieb teil[t]en, im gesellschaftlichen Kraftfeld eine bedeutsame Rolle wiederzuerlangen."76
69
T. Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, 535-539, Zitate 223, 537; H. Mann, Zola, 172, 2 l 2 f f . , Zitat 214.
70
H. Mann, Zola, 225.
71
So auch Joch, Bruderkämpfe, 25 8f. Kantorowicz, Heinrich und Thomas Mann, 22.
72 73 74
H. Mann, Zola, 225f. T. Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, 179, 345.
75
Ebd., 149, 170-173, Zitat 173. Vgl. dagegen H. Mann, Zola, 232-235.
76
Joch, Bruderkämpfe, 226, 275.
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IV. Antagonistische politische Interventionen: Demokrat versus Korporativist Aus diesem Antrieb heraus hatten Gelehrte, Schriftsteller und Dichter unmittelbar nach Kriegsbeginn damit begonnen, sich über Deutschlands Zukunft Gedanken zu machen. Seit Herbst 1914 entwickelte sich eine innenpolitische Reformdebatte, in der sich zwei Vorstellungen gegenüberstanden: Während eine Gruppe die Parlamentarisierung des Reiches - vor allem die parlamentarische Verantwortlichkeit des Reichskanzlers - sowie die Abschaffung des preußischen Dreiklassenwahlrechts forderte, mithin die Umwandlung der Klassengesellschaft in einen „Volksstaat" (Hugo Preuß), propagierte eine Mehrheit unter dem Schlagwort der „Ideen von 1914" (Johann Plenge) den Aufbau eines korporativen Staatswesens. Alle gesellschaftlichen Gruppen - insbesondere Arbeiter, Katholiken und Juden - sollten in eine „Volksgemeinschaft" integriert werden und über politische Fragen angemessen mitbestimmen dürfen. Zur maximalen Produktionssteigerung sollte die Wirtschaft unter dem Schlagwort der „Organisation" staatlich gelenkt und die Stellung des Arbeiters im Unternehmen durch die Einfuhrung eines betrieblichen Mitbestimmungssystems verbessert werden. Die wirtschaftspolitischen Vorstellungen changierten zwischen „nationalem Sozialismus" (Reinhold Seeberg) und „liberalem Sozialismus" (Franz Oppenheimer). Dieser deutsche Korporativismus stellte das Gegenmodell zur kapitalistischen westlichen Industriegesellschaft dar, wobei sich die Korporativisten als Avantgarde des Fortschritts verstanden. Zur Trägergruppe der Volksgemeinschaftsidee gehörten sowohl arrivierte Persönlichkeiten des intellektuellen Feldes, wie beispielsweise der Historiker Friedrich Meinecke, der Religionsphilosoph Ernst Troeltsch und der Jurist Otto von Gierke, als auch Außenseiter ihrer jeweiligen Profession wie der Münsteraner Staatswissenschaftler Johann Plenge, die Berliner Soziologen Franz Oppenheimer und Werner Sombart sowie katholische und jüdische Philosophen wie Max Scheler und Hermann Cohen. Die Diffusionschance der „Ideen von 1914" lag in ihrer Anschlußfähigkeit an verschiedene Ideologien und Vorstellungen, mithin darin, rechte Sozialdemokraten, Kathedersozialisten und konservative Antikapitalisten gleichermaßen zur Identifikation einzuladen.77 Wo positionierte sich Heinrich Mann in dieser Debatte? Nachdem er sich schon 1904 für die Demokratie nach westlichem Muster, für Pazifismus und Menschenrechte ausgesprochen hatte, wurde sein Zola-Essay von 1915 ein dezidiertes Plädoyer für innenpolitische Reformen in Deutschland und für Frieden. Der „Volksstaat" verkörpere Recht und Wahrheit, Partizipation und „Brüderlichkeit" sowie „das Leben und die Gesundheit" des Volkes.78 Die reaktionären Demokratiegegner seien „schuldiger als selbst die Machthaber, die Recht brechen". Damit kritisierte er nicht nur die Vertreter der „Ideen von 1914", sondern implizit auch die Politik der Reichsleitung und insbesondere
77
78
Steffen Bruendel, Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914" und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Berlin 2003, 104-140. H. Mann, Zola, 174, 202.
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den deutschen Einmarsch in Belgien, den er sogar als „Verbrechen" bezeichnete.79 Da die Zensur keine offene Kritik erlaubte, war die Projizierung von Kritik und Reformforderungen in das Frankreich Napoleons III. die einzige Möglichkeit, politisch Position zu beziehen. Unzweideutig lag Deutschlands Zukunft fur Heinrich Mann in der Einfuhrung der Republik, womit er über Forderungen der akademischen Volksstaatsanhänger hinausging. Demnach war Zola mehr als „ein Markstein linksbürgerlich-humanistischer Literatur". Es handelte sich um ein mutiges politisches Bekenntnis, das Heinrich in Lesungen 1915 und 1916 auch öffentlich vortrug.80 Wo positionierte sich Thomas Mann? Seine politischen Stellungnahmen zu den Hauptthemen der ideenpolitischen Debatte - Abkehr von „1789", Parlamentarisierung des Reiches, preußische Wahlrechtsreform, innerer Feind - stimmten zum Teil wortgetreu mit den Äußerungen der Korporativisten überein. Er las ihre Stellungnahmen, nahm ihre Gedanken in seine Kriegsschriften auf, präzisierte sie oder führte sie weiter.81 Wie die Vertreter der „Ideen von 1914" erblickte auch Thomas Mann im Krieg eine Revolutionierung des politischen und gesellschaftlichen Lebens, das neu gestaltet werden müsse. Seine Argumentation nahm - teils indirekt, teils direkt - auf Scheler, Oppenheimer, Plenge, Preuß und andere Bezug. Unter Berufung auf Paul Lenschs Büchlein Drei Jahre Weltrevolution,82 erschienen Ende 1917, deutete auch Thomas Mann den Weltkrieg als Vollendung des historischen Aufstiegs des Reiches seit dem 18. Jahrhundert.83 Die Französische Revolution von 1789 hatte er schon in seinen „Gedanken zum Kriege" als anarchisch und zerstörerisch abgelehnt. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit hätten sich überlebt, und Deutschlands „soziales Kaisertum" sei die „zukünftigere Staatsform" als „irgendein Advokaten-Parlamentarismus", der in Feierstimmung „noch immer das Stroh von 1789 drischt".84 Während Heinrich Freiheit, Gleichheit und vor allem Wahrheit nur in der Demokratie verortete, deren Sieg er wünschte,85 folgte Thomas exakt der Argumentation Plenges, von Harnacks, Troeltschs und anderer Korporativisten, die für die Abkehr von den .überwundenen' Werten von 1789 plädierten und der westlichen Freiheit die „Deutsche Freiheit" als freiwillige Eingliederung, der Gleichheit die „Kameradschaft" als gegenseitiges Treueverhältnis unter Wahrung aller Unterschiede und der demokratischen Brüderlichkeit eine nationale Gemeinschaftlichkeit, auch Sozialismus genannt, gegenüberstellten.86
79 80 81
Ebd., 226, 186. Volker Ebersbach, Heinrich Mann. Leben, Werk, Wirken, Leipzig 1982, 175f., Zitat 175. Frank Fechner, Thomas Mann und die Demokratie. Wandel und Kontinuität der demokratierelevanten Äußerungen des Schriftstellers, Berlin 1 9 9 0 , 4 2 ; Schröter, Thomas Mann, 85f.
82
Paul Lensch, Drei Jahre Weltrevolution, Berlin 1917, 221.
83
T. Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, 445ff.
84
Ders., Gedanken im Kriege, 197.
85
H. Mann, Zola, 190f.,200f. Bruendel, Volksgemeinschaft, 115ff.
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Freiheit im westlichen Sinne wurde von den Korporativisten mit Willkür und Zügellosigkeit gleichgesetzt, die zur Auflösung aller Ordnung führe. Der Berliner Theologe Ernst Troeltsch definierte die deutsche Freiheitsvorstellung als „Bejahung des überindividuellen Gemeingeistes" und als freiwillige „Verpflichtetheit für das Ganze", die vom Westen nicht verstanden werde. 87 Auch Thomas Mann schrieb, daß das Ausland den deutschen Gehorsam als „.Unfreiheit"' fehldeute, obwohl die freiwillige Einordnung in Verbindung mit patriarchaler Fürsorge Gerechtigkeit eher verbürge als der westliche Gesellschaftsvertrag. 88 Pflichterfüllung und „Organisation" lautete das Gebot der Stunde. Thomas Mann wollte „Sachlichkeit, Ordnung und Anstand" anstelle von Parteienstreit und zügellosem Individualismus. Das deutsche Prinzip der sozialen Verantwortung vertrage sich bestens mit dem „ethischen Sozialismus, den man Staatssozialismus nennt" und der sich vom ,,menschenrechtlerisch-marxistische[n]" sehr genau unterscheide. 89 Plenge hatte 1916 in seiner großen Abhandlung über 1789 und 1914 die „Brüderlichkeit des echten Sozialismus" beschworen. Sozialismus definierte er als Gemeinschaftsverpflichtung sowie als zentrale Wirtschaftslenkung in bestimmten Bereichen. 90 Thomas Mann folgte der Argumentation des Frankfurter Nationalökonomen Oppenheimer, der ebenfalls ein Autor der Neuen Rundschau war und das Konzept der „Gemeinwirtschaft" entwickelt hatte.91 Mann begrüßte, daß Oppenheimer „mit dem Großgrundbesitz gründlich aufräumen" wolle und überzeugt davon sei, daß in Deutschland schon jetzt mehr Freiheit herrsche als in den „sogenannten demokratischen" Ländern.92 Auch mit dem Begriff des „Volksstaats" setzte Thomas Mann sich auseinander. Hugo Preuß, seit 1906 Professor für öffentliches Recht an der Berliner Handelshochschule, hatte den Volksstaatsbegriff Mitte 1915 in die innenpolitische Reformdebatte eingeführt. Er wurde von Parlamentarisierungsbefürwortern und Demokraten, darunter auch Heinrich Mann, 93 aufgegriffen und sollte den Gedanken der Parlamentarisierung auch für dezidierte Antidemokraten annehmbar machen. Preuß' Argumentation vermied den Anschein, er wolle die deutsche Reichsverfassung verwestlichen. Er argumentierte, die
87
88
Troeltsch, Die Ideen von 1914, 617ff.; vgl. auch Adolf von Harnack, Was wir schon gewonnen haben und was wir noch gewinnen müssen, in: Deutsche Reden 1, 147-168, 156; Plenge, 1789 und 1914, 87, 90, 141. T. Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, 473-477.
89
Ebd., 271f., 253. Vgl. auch von Harnack, Was wir schon gewonnen haben, 156-161; Troeltsch, Die Ideen von 1914, 617ff.; Plenge, 1789 und 1914, 87-90, 89ff., 141f., 145; Roethe, Wir Deutschen, 34fF.
90
Bruendel, Volksgemeinschaft, 119f. Bernhard Vogt, Franz Oppenheimers Utopie des „liberalen Sozialismus" und der Forte-Kreis, in: Richard Faber/Christine Holste Hg., Der Potsdamer Forte-Kreis. Eine utopische Intellektuellenassoziation zur europäischen Friedenssicherung, Würzburg 2001, 145-155, 148f.
91
92
93
T. Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, 342. Mann berief sich auf Oppenheimer, allerdings ohne Nennung der Quelle. H. Mann, Zola, 202.
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Demokratisierung der Verfassung hinge mit der Politisierung des Volkes zusammen und sei gewissermaßen deren logische Konsequenz. Da sich das Volk durch seine vielfältigen kollektiven Anstrengungen im Kriege als wahres Staatsvolk, das heißt als ausreichend politisiert, erwiesen habe, sei eine verbesserte Partizipation an der politischen Führung vonnöten.94 Mit einem Volksstaat, der „weder ein Pöbelstaat noch ein Literatenstaat" wäre, hätte Thomas Mann sich unter Umständen anfreunden können. Schon der Begriff „Volksstaat", schrieb er, unterscheide sich angenehm vom Terminus Demokratie. Letztlich aber wandte er sich gegen einen solchen ,,patriotische[n] OpportunitätsDemokratismus", weil er befürchtete, daß die Verwirklichung des Volksstaats letztlich doch die Einfuhrung der Demokratie bedeute.95 Thomas Manns kompromißlose Ablehnung der Demokratie verfestigte sich in dem Maße, wie sich die innenpolitischen Fronten in der Reformdebatte verhärteten. Je länger der Krieg andauerte und substantielle Reformen ausblieben, desto mehr brachen die gesellschaftlichen Spannungen aller Integrationssemantik zum Trotz wieder auf. Das zeigte sich insbesondere an der Spaltung der SPD, welche sich mit der Bildung einer oppositionellen Gruppe von SPD-Abgeordneten im Frühjahr 1916 ankündigte und im April 1917 zur Gründung der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) führte. Die (Mehrheits-)Sozialdemokraten bildeten zusammen mit Zentrum und Liberalen seit dem Frühsommer 1917 die sogenannte Reichstagsmehrheit, welche die Parlamentarisierung sowie einen Verständigungsfrieden anstrebte. Die gesellschaftliche Polarisierung wirkte sich auch auf das intellektuelle Feld aus. Im Sommer 1916 bildeten sich zwei Gruppen prominenter Gelehrter und Literaten heraus, die sich in zwei Ausschüssen zusammenfanden und mit ihren divergierenden politischen Vorstellungen das akademische wie das literarische Feld spalteten. Trat der „Deutsche Nationalausschuß für einen ehrenvollen Frieden" fur eine Verständigung mit den Feinden und politische Reformen in Deutschland ein, agitierte der „Unabhängige Ausschuß fur einen Deutschen Frieden" gegen außenpolitische Kompromisse und jedwede Demokratisierung des Reiches.96 Aus dem Unabhängigen Ausschuß sollte gut ein Jahr später, im Herbst 1917, die „Deutsche Vaterlandspartei" hervorgehen. Sie vereinigte Strukturelemente der nationalkonservativen Verbände der Vorkriegszeit mit denen einer nationalen Volkspartei und wies bereits Züge einer Massenbewegung auf.97 Die unmittelbare Wirkung der Vaterlandspartei lag in der Vergiftung des politischen Klimas. Schon der anmaßende Parteiname verriet, daß Andersdenkende nicht als politischer Gegner, sondern als .innerer Feind' betrachtet und bekämpft wurden.
94 95 96 97
Hugo Preuß, Das deutsche Volk und die Politik, Jena 1915, insbes. 92ff., 173ff., 183-199. T. Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, 322, 237ff., 263f., 264. Bruendel, Volksgemeinschaft, 146ff. Heinz Hagenlücke, Deutsche Vaterlandspartei. Die nationale Rechte am Ende des Kaiserreichs, Düsseldorf 1997, 404, 408; Hans-Ulrich Wehler, Wilhelminischer Honoratiorenklüngel oder protofaschistische Massenbewegung: Die „Deutsche Vaterlandspartei" von 1917/18, in: ders., Politik in der Geschichte. Essays, München 1998, 172-177.
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Die Mitglieder und Anhänger der Vaterlandspartei deuteten die Volksgemeinschaftsidee zunehmend völkisch-exklusiv. Bisher schon marginalisierte Gruppen - Sozialdemokraten, Katholiken, Juden und Polen - galten ihnen als Reichsfeinde und sollten in ihren Rechten weiter eingeschränkt werden. Die Volksstaatsidee wurde vehement abgelehnt. Nicht ein Parteiregime, sondern nur eine unabhängige Beamtenregierung sicherte nach Meinung der radikalen Korporativisten eine Politik im Sinne des Gemeinwohls. Darin erblickten sie eine spezifisch deutsche Staatsform, wobei ihre Loyalität nicht primär der Krone galt, sondern der Nation.98 Heinrich Mann hatte diese Loyalitätsverlagerung im Prinzip schon 1915 erkannt, als er in seinem Zola-Essay geschrieben hatte, der Kaiser werde von der Armee bloß „wie ein unnütz kostbares Gepäckstück" mitgefühlt, während das Bürgertum die Monarchie nur solange stütze, wie diese „seine Geschäfte beförderte".99 Seine Aussage, die Demokratie sei das „Geschenk der Niederlage"100, weil es ohne den Sieg der Alliierten nicht zu einem Systemwechsel kommen werde, bestätigte die radikalen Korporativisten in ihrem Verdacht, die Reformforderungen sollten in Wahrheit einen deutschen Sieg verhindern. Deshalb griffen sie die Volksstaats-Anhänger scharf an und schlossen sie als .Verräter' aus der Volksgemeinschaft aus. Thomas Mann beteiligte sich an der semantischen Exklusion aller Andersdenkenden, indem er den Zivilisationsliteraten vorwarf, sie bekennten sich „mit Begeisterung zur Gegenseite, zur Welt des Westens, insbesondere Frankreichs". Der illoyale Literat - symbolisiert durch seinen Bruder Heinrich - sei „beinahe schon Franzose [...], und zwar klassischer Franzose, Revolutionsfranzose: denn aus dem Frankreich der Revolution empfängt der Literat seine großen Überlieferungen, dort liegt sein Paradies, sein goldenes Zeitalter, Frankreich ist sein Land, die Revolution seine große Zeit".101 Der „deutsche Westler", schrieb er, „wünscht die deutsche Niederlage", gewissermaßen als Ersatz für die Revolution, die er in der deutschen Geschichte vermisse. Solch ein ,,fuchtelnde[s] Revolutionsliteratentum" könne gar nicht deutsch sein.102 Indem er dem politischen Gegner kurzerhand das Deutschtum absprach, bewies Thomas Mann nicht nur sein „Talent zur eleganten Denunziation"103, sondern übernahm mit dem Vorwurf des Vaterlandsverrats auch die Exklusionssemantik der extremen Rechten, allerdings mit dem Unterschied, daß er den Ausschluß nicht völkisch, sondern politisch begründete und sich antisemitischer oder antipolnischer Polemiken enthielt. Zwar gab er sich siegesgewiß, denn die „demokratische Invasion" werde ausbleiben und der Zivilisationsliterat froh sein müssen, „wenn Deutschland nicht allzu
98
Hagenlücke, Deutsche Vaterlandspartei, 403; Bruendel, Volksgemeinschaft, 152, 277; Stefan Breuer, Anatomie der Konservativen Revolution, Darmstadt 1995 2 , 182, 195.
,9
H. Mann, Zola, 197, 195.
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101 ,o: I0
"
Ebd., 199. T. Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, 47f. Ebd., 224, 52, 545. Joch, Bruderkämpfe, 262.
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auffällig siegt"104, aber er sah in der Demokratisierungsdebatte einen „um sich fressende[n] Zersetzungsprozeß". Als Ausdruck der „deutschen Neigung zum Selbstverrat", so Thomas Mann, sei sie eine Gefahr für die innere Stabilität des Reiches. Deutschland drohe „geistig-seelisch zu kapitulieren, bevor es physisch kapituliert".105 In dieser Wortwahl und der Trennung zwischen tapferer Front und wankender, weil zerstrittener Heimat zeigt sich bereits die spätere „Dolchstoß"-These. So warnte zum Beispiel der Historiker Dietrich Schäfer, Mitglied des engeren Ausschusses der Vaterlandspartei, schon 1917, daß wer sich in der innenpolitischen Auseinandersetzung ausländische Argumente - das heißt Demokratisierungsziele - zu eigen mache, das Vaterland nolens volens verrate.106 Als Rechtsopposition lehnten die Korporativisten einen Institutionenwandel nach westlichem Muster ab, verlangten aber mit ihrer Forderung nach Reformen im Sinne einer deutschen Staatsauffassung durchaus Änderungen des Bismarckschen Systems.107 So gestand beispielsweise der Berliner Mediävist Georg von Below zu, daß das preußische Dreiklassenwahlrecht „verbesserungsfähig" und Änderungen „unausweichlich" seien.108 Thomas Mann sah das ähnlich. Unter Berufung auf Paul de Lagarde stellte er fest, eine deutsch-konservative Gesinnung bedeute keineswegs, alles Bestehende erhalten zu wollen. Es heiße vielmehr, „Deutschland deutsch erhalten zu wollen", also Änderungen zuzulassen, die diesem Ziel dienten. An anderer Stelle behauptete er mit Blick auf die geistige Aufbruchsstimmung des Jahres 1914, daß der deutsche seelische Konservatismus „etwas wahrhaft Revolutionäres" sei.109 Damit formulierte Thomas Mann bereits den Gedanken einer „Konservativen Revolution". Kurze Zeit später sollte er „der erste prominente Autor [sein], der das Schlagwort in die politische Debatte warf'. 110 Die „paradoxe Koppelung der beiden Wörter"111 in der Kriegszeit, welche die Verbindung des Wunsches nach Bewahrung mit der Einforderung von etwas grundsätzlich 104
T. Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, 53f.
105
Ebd., 345.
106
Dietrich Schäfer, Die Wahlrechtsreform und die Polenfrage, Berlin 1917, Iff. Vgl. auch Eduard Meyer, Der Seekrieg, die flandrische Küste und der Frieden, in: Süddeutsche Monatshefte 15.I918/H.2, 436-441, 436, 440; ders. V o m deutschen Militarismus, in: ebd. 15.1918/H.9, 428430, 428.
107
Bruendel, Volksgemeinschaft, 275-289.
108
Georg von Below, Die Reform des preußischen Landtagswahlrechts, in: ders., Kriegs- und Friedensfragen, Dresden 1917, 79-132, 81. Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, 254, 267, 344.
109 110
Stefan Breuer, Ein Mann der Rechten? Thomas Mann zwischen „konservativer Revolution", ästhetischem Fundamentalismus und neuem Nationalismus, in: Politisches Denken. Jahrbuch 1997, 119-140, 119.
"'
Armin Möhler, Die konservative Revolution in Deutschland 1918-1932. Ein Handbuch, Darmstadt 1989 3 , 1 1. Vgl. auch Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, München 1962 4 , 148ff.
Steffen Bruendel
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Neuem ausdrückte, ist in neuerer Zeit hinterfragt worden, weil es sich bei dem Phänomen um einen neuen, bürgerlichen Nationalismus handelte, dessen revolutionäre Zielrichtung gerade nicht konservativ war. Breuer hat am Beispiel der Vaterlandspartei belegt, daß man nicht von einer Übernahme nationalpopulistischer Themen durch einen sich modernisierenden Konservatismus sprechen kann. Vielmehr kam es zu einer „Neustrukturierung der Rechten", „in deren Verlauf genuin konservative Positionen mehr und mehr marginalisiert wurden".112 Zu den intellektuellen Wegbereitem dieses neuartigen Nationalismus zählten nicht nur die prominenten Anhänger der Vaterlandspartei wie Schäfer, von Below, von Gierke und Reinhold Seeberg,113 sondern auch Schriftsteller und Publizisten wie Hans Blüher, Oswald Spengler, Carl Schmitt und Arthur Moeller van den Bruck." 4 Ob und inwiefern Thomas Mann zu dieser Gruppe gezählt werden kann, ist umstritten. Tatsache ist, daß die Nationalkonservativen seine Betrachtungen intensiv rezipierten und in ihm zunächst einen geistigen Führer sahen.115 Hermann Kurzke bezeichnete Thomas Mann sogar als einen der wichtigsten Stichwortgeber der konservativen Revolutionäre.116 War er demnach, wie Breuer gefragt hat, ein „Mann der Rechten?" 117 Nach Thomas Manns Ansicht verfestigte der Krieg jede politische Gesinnung, „die konservativ-nationale nicht weniger als die demokratische", aber gerade die höheren und gebildeten Schichten seien politisch nach „.rechts"' gerückt. Dieser Tendenz entspreche der Zuspruch, den die Vaterlandspartei erhielte; er sei keineswegs nur auf ihren Propagandaaufwand zurückzuführen.118 Er nahm sich von dem bürgerlichen .Rechtsruck' nicht aus, zumal er die Demokratie als etwas „Undeutsches, Widerdeutsches" verwarf sowie „rechts" bzw. „konservativ" und „national" gleichsetzte. Ohne sich von der Vaterlandspartei zu distanzieren, wies er auf den Widerspruch hin zwischen dem Anspruch, sich aus der Politik herauszuhalten, und dem Faktum, eine politische - konservative - Partei zu sein.119 Eine Partei, die gegen den .herrschenden Parteigeist' kämpfen wollte, irritierte auch andere Zeitgenossen, und selbst ihre Anhänger wie der Historiker Erich Brandenburg fragten nach den Möglichkeiten einer Partei, die auf eine parlamentarische Vertretung verzichtete und nur für die Dauer der Kriegszeit gedacht
112
Breuer, Anatomie der Konservativen Revolution, 4f., 13, I88ff. Vgl. auch Hagenlücke, Deutsche Vaterlandspartei, 406.
113
Bruendel, Volksgemeinschaft, 275.
114
Möhler, Konservative Revolution, 208-211; Breuer, Anatomie der Konservativen Revolution, 3f., 25-48.
115
Göll, Die Deutschen und Thomas Mann, 391 f.
"6
Hermann Kurzke, Thomas Mann. Epoche - Werk - Wirkung, München 1985, 173ff. Vgl. auch ders., Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk. Eine Biographie, München 2001, 285f.
117
Vgl. Breuer, Ein Mann der Rechten, 119. T. Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, 115, 257f.
1,8 119
Ebd., 254. Einen vergleichbaren Widerspruch sah er übrigens in einer Demokratie, die zugleich demokratisch, also international, und national sein wolle.
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109
120
war. Sowohl Wortwahl als auch Inhalte von Thomas Manns politischen Stellungnahmen belegen, daß er den radikalen Demokratiegegnern nahestand. So schrieb zum Beispiel der rechtsnationale Straßburger Philosoph Max Wundt, daß es zwischen dem „deutschen" und dem „demokratischen" Gedanken keine Vermittlung und keinen Kompromiß geben könne.121 Als internationale Idee, so auch Thomas Mann, sei der Demokratiegedanke undeutsch bzw. der deutschen Eigenart nicht angemessen. Jede Angleichung an den Westen müsse strikt vermieden werden, weil ansonsten sämtliche Nationalkulturen nivelliert würden und die westliche Zivilisation den Sieg davontra122 geWenn statt der „über den Parteien" stehenden Regierung ein mehrheitsgebildetes „Parteiregiment" regierte, wäre das nach Gierke ein „unsühnbarer Frevel".123 Die akademischen Korporativisten deuteten Parlamentarismus als Gleichmacherei und die parlamentarische Regierung als sachfremde, populistische Massenherrschaft.124 Um die Einfuhrung des Reichstagswahlrechts in Preußen - eine wesentliche Forderung der Volksstaats-Anhänger - als Ausdruck der „radikalen Demokratie" (von Gierke) des Westens zu verhindern, schlugen die Korporativisten ein berufsständisches Wahlrecht vor. Es sollte die abstrakt-zahlenmäßige demokratische Stimmverteilung durch eine auf sachlichen Kriterien beruhende und damit vorgeblich objektivere Gewichtung der Stimmen ersetzen. Auf diese Weise glaubten sie Mitbestimmung zulassen, aber die westliche Partei- oder Parlamentsherrschaft verhindern zu können.125 Gemäßigte Korporativisten wie Friedrich Meinecke verlangten für die Einfuhrung des Pluralwahlrechts. Statt des .individualistischen' Stimmrechts sollte die Gewichtung der Stimmen nach bestimmten, .angemessenen' Kriterien erfolgen.126 Auch Thomas Mann plädierte mit Nachdruck für das Pluralwahlrecht, für „ein mit Weisheit geregeltes Mehrstimmenrecht, welches nach Verdienst, Alter, Bildungsgrad, geistigem Range fragte", 127 das ihm als gerechteres System erschien. Er zweifelte aber, ob es sich angesichts der politischen Entwicklung „ins immer Massengerecht-Primitivere, ins Radikal-Demokratische" durchsetzen lasse.128 Den Glauben, es mit politisch mündigen Massen zu tun zu haben, 120 121
Hagenlücke, Deutsche Vaterlandspartei, 404. T. Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, 47f., 234, 270, 254-259; Max Wundt, Deutsche Staatsauffassung, in: Deutschlands Erneuerung 2.1918/H.3, 199-202.
122
T. Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, 47f., 234, 270, 254-259.
123
Otto von Gierke, Unsere Friedensziele, Berlin 1917, 13. Vgl. auch von Below, Reform, 99. Johannes Unold, Deutscher Bürgerstaat, in: Deutschlands Erneuerung 2 . 1 9 1 8 / H . l , 49-55; Erich Jung, Parlamentarismus und Königtum, in: Deutschlands Erneuerung 1.1917/H.2, 159-171; ders., Parlamentarische Entartung der Staatsgewalt im alten deutschen Reich und ihre Aussichten bei uns, in: Deutschlands Erneuerung 2.1918/H.4, 239-254.
124
125
Bruendel, Volksgemeinschaft, 280f., Gierke-Zitat 280.
126
Friedrich Meinecke, Die Reform des preußischen Wahlrechts, in: ders., Politische Schriften und Reden, hg. v. Georg Kotowski, Darmstadt 1968 3 , 146-173, 150f., 168-172.
127
T. Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, 260.
128
Ebd., 257, 260f., 266f., Zitate 261.
110
Steffen Bruendel
bezeichnete Thomas Mann als kindische Träumerei, die Selbstregierung des Volkes als Schwindel und die westliche Staatsform entsprechend als „Humbug-Demokratie".129 Kategorisch verlangte er, die „radikale Republik, die Advokaten- und Literatenrepublik"130 zu verhindern. Entkleidet man diese Aussagen ihrer Polemik, werden konkrete staatsrechtliche und staatspolitische Überlegungen sichtbar. Thomas Mann bettete seine politischen Stellungnahmen in juristische, politische, soziologische und ethische Gedanken ein. Die Betrachtungen können mit Recht als seine umfassendste Stellungnahme zur demokratischen Staatsform bezeichnet werden. Seine Kritik an der Abhängigkeit bzw. Gefährdung der Demokratie durch Finanzinteressen und Populismus hatte durchaus ihre Berechtigung.131 Hinter Thomas Manns Zurückweisung des Demokratiegedankens stand auch, wie Reinhard Mehring herausgearbeitet hat, eine „Absage an einen staatsbezogenen Politikbegriff', wie sie später Carl Schmitt formulieren sollte. Mit Befremden hatte Thomas Mann die zunehmende Politisierung der Gesellschaft wahrgenommen. Wenn er die Entpolitisierung der Gesellschaft forderte, verstand er darunter die Monopolisierung der Politik durch den (Obrigkeits-)Staat. Insofern bedeutete „unpolitisch" für ihn nicht apolitisch oder antipolitisch, sondern die Begrenzung der Politik auf die zuständigen politischen Institutionen. Diese Forderung erklärt sich dadurch, daß die Demokratie für Thomas Mann Massenherrschaft symbolisierte und er die bürgerliche Abneigung gegen die „Masse" teilte.132 Im Grunde genommen ging es Thomas Mann um die Frage des , guten Regierens', um Macht und um Staatlichkeit im Wandel des Krieges. Nicht das Volk sollte die Politik bestimmen, sondern die Regierung. Unabhängig vom wechselnden Volkswillen, eingedenk der nationalen Traditionen und im steten Austausch mit deren Repräsentanten - den Künstlern! - sollte sie die Richtlinien der Politik vorgeben. Thomas Manns „moralphilosophisches Legitimationsmodell" forderte eine staatliche Politik, die dem „nationalen Ethos" bzw. der deutschen Identität entspreche.133 Auch wenn Thomas Manns Ansichten heute - im Gegensatz zu damals - nicht mehr überzeugen, kann man weder seine Demokratiekritik noch seine Verteidigung der Legitimität der deutschen Staatsform pauschal als abwegig bezeichnen. Staatstheoretisch sind nicht allein demokratisch verfaßte Herrschaftsgebilde handlungsfähig und herrschaftssoziologisch nicht nur Demokratien legitim.134 Schon in seinem 1915 veröffent129 130 131
Ebd., 3 5 8 , 4 8 5 . Ebd., 48, Zitat 224. Fechner, Thomas Mann, 42, 81, 355ff.
132
Reinhard Mehring, Thomas Mann. Künstler und Philosoph, München 2001, 170-172. Vgl. auch Eckart Koester, „Kultur" versus „Zivilisation": Thomas Manns Kriegspublizistik als weltanschaulich-ästhetische Standortsuche, in: Wolfgang J. Mommsen Hg., Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, München 1996, 249-258, 257f.
133
Mehring, Künstler und Philosoph, 180, Zitat 176; ders., Das „Problem der Humanität". Thomas Manns politische Philosophie, Paderborn 2003, 57f.
134
Ders., Künstler und Philosoph, 173, 175; ders., Humanität, 56.
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lichten Essay über Friedrich den Großen und den Siebenjährigen Krieg hatte Thomas Mann das politische Selbstbestimmungsrecht der Nationen verteidigt. Das Deutsche Reich, so seine Überzeugung, kämpfe für seine politische Existenz, die von der Entente in Frage gestellt werde.135 Vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb er in seinen Betrachtungen prononciert erklärte, daß der „vielverschrieene ,Obrigkeitsstaat'" die den Deutschen „angemessene" und von ihnen gewollte Staatsform sei.136 Thomas Manns Bekenntnis entsprach der Mehrheitsmeinung in Deutschland, welche die alliierte Forderung nach universaler Geltung der Demokratie als Einmischung empfand. Im Einklang mit prominenten Korporativisten137 protestierte Thomas Mann gegen die - seit 1917 vor allem amerikanische - Anmaßung, anderen Völkern eine Staatsform aufzwingen zu wollen. Wieland zitierend, fragte Thomas Mann, welcher nationalbewußte Deutsche „,den Gedanken ertragen [könne], daß ein auswärtiges Volk sich anmaße, uns einen [...] politischen Wahnglauben mit den Waffen in der Hand aufzudringen'" Thomas Manns Schriften zeigen, wie er im Kriege zu einem „engagierten politischen Philosophen"139 wurde, der wie sein Bruder ins politische Feld intervenierte. Durch seine Publikationen fand er Zugang zu staatspolitischen Fragestellungen und Gefallen am politisch-publizistischen Engagement.140 Die „terminologische Verunklärung seiner Position"141 in den Betrachtungen sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich um einen substantiellen Beitrag zur intellektuellen Neuordnungsdebatte handelte, an der sich fast alle deutschen Schriftsteller und Gelehrten von Rang beteiligten. Sie stehen, was ihre philosophische Durchdringung betrifft, in einer Reihe mit Schelers Genius des Krieges, Plenges 1789 und 1914 und anderen damals wirkungsmächtigen Kriegsschriften. Abwegig ist daher die Behauptung, die Betrachtungen würden zum Verständnis des Ersten Weltkrieges „wenig bis nichts" beitragen.142 Sie helfen beim Versuch einer genaueren politischen Positionsbestimmung Thomas Manns, die im Gegensatz zu der des Bruders bisher noch nicht eindeutig erfolgt ist. Die Interventionen der Brüder entsprachen ihrer jeweiligen Feldposition. Während Heinrich mit seinem impliziten Plädoyer für die Demokratie im Zola-Essay auch politisch eine Außenseiterposition einnahm, äußerte sich Thomas aus der Position sowie im Sinne der Herrschenden. So wie er aber literarisch eine Zwitterstellung zwischen Arrivierten und Ästheten einnahm, changierten seine politischen Stellungnahmen zwischen Konservatismus und einem nach Überwindung der bestehenden Ordnung strebenden radikalen Nationalismus. 135
Mehring, Künstler und Philosoph, 161.
136
T. Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, 22.
li7
Emst Troeltsch, Der Ansturm der westlichen Demokratie, in: Die deutsche Freiheit. Fünf Vorträge, Gotha 1917, 79-113, 81 f., 93; Adolf von Harnack, Wilsons Botschaft und die deutsche Freiheit, in: ebd., 1-13, 9, 4, 6f.; von Gierke, Friedensziele, 16, 25.
138
T. Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, 580f., Hervorh. i.O. Mehring, Künstler und Philosoph, 15.
139 140 141 142
Fechner, Thomas Mann, 81. Mehring, Künstler und Philosoph, 175. Eder, Die Geburt des „Zauberbergs", 187.
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112
Seine Vorstellungen zur politischen Neuordnung Deutschlands waren korporativistisch im Sinne der „Ideen von 1914", die keineswegs nur von Intellektuellen des rechten politischen Spektrums oder arrivierten Universitätsprofessoren propagiert wurden, sondern auch von .Kathedersozialisten' und Außenseitern des akademischen Feldes wie Plenge und Oppenheimer.143 Allerdings spiegeln Thomas Manns antidemokratische Äußerungen die politische Radikalisierung in der zweiten Kriegshälfte wider. Sie entsprachen in Wortwahl und Inhalt den radikalnationalistischen Modernitätsüberbietern. Mit Blick auf die Exklusionssemantik und die kategorische Ablehnung jeder Demokratisierung bei gleichzeitiger Beschwörung grundsätzlicher Neuerungen zeigen sich nicht nur „Sympathien und Affinitäten", sondern auch Übereinstimmungen mit der Konservativen Revolution.144 Ersatzbegriffe wie „liberale Restauration" (Stefan Breuer) oder „Reformkonservatismus" (Dieter Borchmeyer) helfen zur Positionsbestimmung nicht weiter. Der Begriff „konservative Revolution" ist durchaus geeignet, die „innere Paradoxie" eines Denkens auszudrücken, „das sich auf angeblich unvergängliche Werte stützt, diesen Werten aber erst durch einen radikalen Umsturz neue Geltung verschaffen" will.145 Thomas Mann ersehnte, wie er der schwedischen Zeitung Svenska Dagbladet schon 1915 schrieb, ein „Drittes Reich" als „Synthese von Macht und Geist".146 Moeller van den Bruck sollte das Bild vom „Dritten Reich" 1923 in seinem gleichnamigen Buch neu beleben. Dem universalistischen Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation und dem kleindeutschen Kaiserreich folgte eine Art Endreich, in dem die Gegensätze von Sozialismus und Nationalismus in einer höheren Synthese aufgehoben sein würden.147 Thomas Mann teilte die „utopischchiliastische" Auffassung der konservativen Revolutionäre, die deutsche Kultur könne die Kräfte der Moderne zu neuer, organischer Ganzheit fugen.148 Zwar ist zu Recht darauf hingewiesen worden, daß er in rechtskonservativvölkischen Kreisen wegen seines ostentativen Künstlertums, seines jüdischen Verlegers und seiner deutschjüdischen Frau abgelehnt wurde.149 Gleichwohl ist, auch wenn er selbst nicht deutsch-völkisch eingestellt war, eine dezidiert deutschnationale und das heißt .rechte' Orientierung unverkennbar. Er selbst zumindest verstand sich im Krieg wie in den ersten Nachkriegsjahren durchaus als „Mann der Rechten". Aus den Tagebüchern der Jahre 1918 bis 1921 geht hervor, daß Thomas Mann die Werke Hans Blü143 144
Bruendel, Volksgemeinschaft, 11 Of. Breuer, Mann der Rechten, Zitat 129. Vgl. auch Görtemaker, Thomas Mann, 41; Kurt Sontheimer, Thomas Mann und die Deutschen, München 1961, 47.
145
Richard Herzinger, Feldzeichen des Nichts. Die Gewaltphilosophie der Konservativen Revolution und der Chiliasmus der deutschen Übermoderne, in: Frauke Meyer-Gosau Hg., Gewalt - Faszination und Furcht (Jahrbuch für Literatur und Politik in Deutschland 1), Leipzig 1994, 72-95, 80.
146
Thomas Mann, Brief an die Zeitung „Svenska Dagbladet", Stockholm, wiederabgedr. in: ders., Essays 1 , 2 6 9 - 2 7 4 , 274.
147
Möhler, Konservative Revolution, 24f.
148
Herzinger, Feldzeichen, 85f. Göll, Die Deutschen und Thomas Mann, 392f.
149
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113
hers, Oswald Spenglers und Ernst Kriecks las und zumindest bis 1922 dem Kreis um Moeller van den Bruck nahestand. Zwar zeigen sich deutliche Differenzen zu deren Positionen,150 aber das relativiert seine Zuordnung zum rechten Spektrum insofern nicht, als die Schriftsteller und Intellektuellen der Konservativen Revolution „aus gemeinsamen Grundannahmen zum Teil extrem unterschiedliche politische Schlüsse zogen".151 Gleichwohl ist eine eindeutige politische Zuordnung möglich, denn wie die sogenannten konservativen Revolutionäre verkörperte auch Thomas Mann eine Rechtsopposition zum Kaiserreich und seiner Staatsordnung. Er positionierte sich damit diametral entgegengesetzt zu Heinrich, welcher der Linksopposition angehörte.
V. Schlußbetrachtung Das Verhältnis zwischen Heinrich und Thomas Mann war seit ihrer Kindheit von Rivalität und, seit sie zu schreiben begonnen hatten, von Konkurrenz geprägt. Beide strebten nach literarischem Erfolg, mußten den Markt durchdringen und sich im literarischen Feld behaupten. Das konnten sie nur, indem sie gesellschaftlich, literarisch und politisch zu Antipoden wurden. Dementsprechend stand der berühmte sorgfältige Stilist Thomas - gegen den erfolgreichen Schnellschreiber - Heinrich - , der Moralist gegen den Sinnlich-Sexuellen, der Bürgerliche gegen den Bohemien, der Homoerotiker gegen den Homme ä femmes und, besonders bedeutsam, der deutsche Patriot gegen den romanisch geprägten Internationalisten. Indem die auf Bourdieus Feldtheorie beruhenden Kategorien auf Deutschland übertragen wurden, konnte am Beispiel des Bruderkampfes im Ersten Weltkrieg belegt werden, daß es einen Zusammenhang gibt zwischen der Soziabilität, dem Literaturkonzept und der politischen Intervention. Erstens repräsentierten Heinrich Mann auf Seiten der Beherrschten und Thomas Mann als Vertreter der Herrschenden diametral entgegengesetzte Pole im deutschen literarischen Feld. Zweitens entsprachen ihre politischen Ansichten und Vorstellungen den beiden ideenpolitischen Hauptströmungen der intellektuellen Neuordnungsdebatte, so daß man drittens eine klare Homologie zwischen Position und Intervention erkennt. Die Frage nach einer politischen Positionsbestimmung der Brüder ist deshalb keineswegs „irrig".152 Bedenkt man, wie umkämpft die Frage der politischen Reformen im Ersten Weltkrieg war, waren es eben nicht primär persönliche oder literarische Differenzen, welche die Brüder trennten. Es handelte sich um fundamental entgegengesetzte politische Ansichten, zumal sowohl Heinrich als auch Thomas Mann ihre kriegspolitischen Stellungnahmen schon in der Vorkriegszeit vorgedacht hatten und sie während des Krieges zugespitzt reformulierten. Thomas Mann hat seine politische Positionierung
150
Breuer, Mann der Rechten, 119ff.
151
Herzinger, Feldzeichen, 80. Fest, Die unwissenden Magier, 26.
152
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Steffen Bruendel
deshalb auch nicht der „literarpolitischen Strategie untergeordnet" 153 , um seine dominante Stellung im Feld zu festigen. Wie seinem Bruder ging es auch ihm darum, sich in der ideenpolitischen Debatte zu positionieren. Heinrich Mann wurde schon 1915 als „Vater der deutschen intellektuellen Literatur"154 bezeichnet und von den Zeitgenossen im linken politischen Spektrum verortet. Seine Mitwirkung beim „Politischen Rat geistiger Arbeiter" im Zusammenhang mit der staatlichen Neuordnung 1918 und sein Eintreten für die ungeliebte Weimarer Republik haben das Bild eines konsequenten Intellektuellen verfestigt, der Anspruch auf geistig-moralische Führung erhob. 155 Demgegenüber definierte sich Thomas Mann primär als Künstler, leitete daraus aber den Anspruch ab, als .Träger' der Kultur in besonderer Weise zum Ratgeber in öffentlichen Angelegenheiten berufen zu sein. Nach seinem Bekenntnis zur Republik 1922 galt er den einen als Verräter und den anderen als .bekehrter' Intellektueller. Betrachtet man seine politischen Interventionen der zwanziger und insbesondere der dreißiger Jahre, so scheint seine „Liaison" (Markus Joch) mit konservativ-revolutionären Positionen zwischen 1914 und 1922 nur temporärer Natur gewesen und nicht repräsentativ zu sein für seine politischen Überzeugungen. Bedenkt man aber, daß er sich von seinen Betrachtungen nie distanziert hat, er sein Bekenntnis zur ,,deutschen"(!) Republik von 1922 sogar als Fortführung jener Gedanken deutete, so wird deutlich, daß es fundamentale Überzeugungen waren, die im Ersten Weltkrieg und danach seine politischen Interventionen leiteten. Seine antidemokratischen Auffassungen resultierten im wesentlichen aus geistig-kulturellen Anschauungen und Motiven. Thomas Mann setzte den Ästhetizismus der Politik entgegen und definierte ihn in Anlehnung an Nietzsches Gegenüberstellung von Staat und Kulturidealismus als Philosophie des deutschen Kulturstaates. Sein Weltbild, sein Wertekosmos, hatte sich nicht geändert, aber er zog, als sich die Rahmenbedingungen änderten, andere politische Schlüsse. Thomas Mann band die Legitimität der Staatsform an das Staatsziel des Kulturerhalts. Insofern war die Bejahung der Humanität und des deutschen Geistes staatsformunabhängig, und er erblickte konsequenterweise auch keinen Widerspruch zu den Betrachtungen,156 So konnte er 1922 wieder behaupten, „ein Konservativer" zu sein, der den Kern bewahren wolle, „an den das Neue anschließen" könne. 157 Ein grundsätzliches Mißverständnis der Rolle des Intellektuellen zeigt sich darin, daß auch in neuen Forschungen - möglicherweise ungewollt - die Annahme eines Dualis153
Joch, Bruderkämpfe, 275ff.
154
Otto Flake in der Neuen Rundschau, zit. n. Michael Stark Hg., Deutsche Intellektuelle 1910Ι 933. Aufrufe, Pamphlete, Betrachtungen, Heidelberg 1984, 79-92, 83.
155
Michael Stark, „Von der Cremokratie zur Demokratie". Heinrich Mann und das Zeitalter der Intellektuellen, in: Heinrich Mann-Jahrbuch 18.2000, 67-91. Göll, Die Deutschen und Thomas Mann, 35f.; Mehring, Künstler und Philosoph, 170f., 234ff.; ders., Humanität, 58; Koester, „Kultur" versus „Zivilisation", 258; Görtemaker, Thomas Mann, 5 Iff.
156
157
Thomas Mann, Von deutscher Republik, in: ders., Essays, Bd.2: Das neue Deutschland 19191925, Frankfurt a.M. 1993, 126-166, 143.
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mus von Geist und Macht fortgeschrieben wird, und zwar in Form von Wertungen, die als politische Äußerung nur solche anerkennen, die von Fachwissen getragen und somit fundiert sind.158 Wer Heinrich Mann „Dilettantismus"159 vorwirft oder Thomas Mann Unkenntnis und „Naivität"160 unterstellt, wer moniert, daß beiden die „eigentlich politischen Fragen der Macht und ihrer Mechanismen, des Zusammenspiels gesellschaftlicher Gruppen, der Bedeutung ökonomischer und sozialer Interessen [...] verschlossen" blieben und daher beide zu Unpolitischen stempelt,161 übersieht, daß es methodisch gerade die „Inkompetenz", d.h. die fehlende fachliche Expertise ist, welche verbunden mit der Berufung auf überzeitliche allgemeine Werte das eigentlich intellektuelle Engagement auszeichnet.162 Insofern ist der weltanschauliche Konflikt der Brüder nicht nur für die Biographie beider Schriftsteller aufschlußreich, sondern von ganz grundlegender Bedeutung für das Verständnis der geistigen Lage des deutschen Bürgertums zu Beginn des 20. Jahrhunderts und insbesondere im Ersten Weltkrieg. Heinrich Manns ZolaEssay und Thomas Manns Antworten in seinen Betrachtungen sind mehr als rein literaturgeschichtliche Dokumente. Es handelt sich um zentrale Quellentexte zur ideenpolitischen Auseinandersetzung innerhalb des deutschen Bürgertums.163
158
Vgl. Jürgen Habermas, Heinrich Heine und die Rolle der Intellektuellen in Deutschland, in: Merkur 40.1986, 453-468, insbes. 456ff.
159
Marcel Reich Ranicki, Thomas Mann und die Seinen, Stuttgart 1987, 178.
160
Görtemaker, Thomas Mann, 283.
161
Fest, Die unwissenden Magier, 11.
162
M. Rainer Lepsius, Kritik als Beruf. Zur Soziologie der Intellektuellen, in: ders., Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1990, 270-285.
163
Kantorowicz, Heinrich und Thomas Mann, 21f.
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Theater und Politik: Bertolt Brechts ,Eingreifendes Denken'
„Stripling: [...] Sind Sie jetzt oder sind Sie jemals Mitglied der Kommunistischen Partei irgendeines Landes gewesen? Brecht: Herr Vorsitzender, ich habe gehört, daß meine Kollegen diese Frage flir unangemessen gehalten haben. Aber ich bin Gast in diesem Lande und möchte nicht auf irgendwelche juristischen Streitfragen eingehen. Deshalb möchte ich Ihre Frage vollständig und so gut ich kann beantworten: Ich war und bin kein Mitglied irgendeiner Kommunistischen Partei. Stripling: Ihre Antwort ist also, daß Sie niemals Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen sind? Brecht: Ganz recht. Stripling: Sie waren nicht Mitglied der Kommunistischen Partei in Deutschland? Brecht: Nein. Stripling: Mr. Brecht, stimmt es, daß Sie eine Anzahl sehr revolutionärer Gedichte, Stücke und anderer Schriften verfaßt haben? Brecht: Ich habe im Kampf gegen Hitler eine Anzahl Gedichte und Lieder und Stücke geschrieben, und sie können aus diesem Grunde selbstverständlich als revolutionär begutachtet werden, weil ich selbstverständlich für den Sturz der Regierung war. Vorsitzender: Mr. Stripling, wir interessieren uns nicht für irgendwelche Werke, die er geschrieben haben könnte und in denen er für die Niederlage Deutschlands oder den Sturz der dortigen Regierung eintritt. Stripling: Ja. ich verstehe. Nun gut, auf Grund einer Durchsicht der Werke, die Mr. Brecht geschrieben hat, vor allem in Zusammenarbeit mit Hanns Eisler, scheint er flir die kommunistische revolutionäre Bewegung eine Person von internationaler Bedeutung zu sein." 1
Dieser Ausschnitt aus dem Verhör Bertolt Brechts vor dem HUAC, House UnAmerican Activities Committee, am 30. Oktober 1947 in New York, unterstreicht die Wahrnehmung Brechts als Symbolfigur der kommunistischen Bewegung trotz Nichtzu-
Dt. Übersetzung des Verhörprotokolls zit. n. Verhör vor dem Ausschuß zur Untersuchung unamerikanischer Tätigkeit, in: Werner Hecht Hg., Brecht im Gespräch. Diskussionen, Dialoge, Interviews, Frankfurt a.M. 1975, 57-78, 61f.
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gehörigkeit zur Kommunistischen Partei. Seit dem Kriegseintritt der USA, im Dezember 1941, als „feindlicher Ausländer" registriert, war Brecht ab 1943 einer verschärften Überwachung durch das FBI unterzogen worden. Sein Dossier wies am Ende des Zweiten Weltkrieges tausend Seiten aus, auf denen seine Reisen, seine Tätigkeiten und selbst noch seine Telefongespräche verzeichnet waren. Gemeinsam mit zehn anderen Hollywood-Regisseuren, darunter Walt Disney, wurde er vom HUAC der kommunistischen Unterwanderung der amerikanischen Filmwirtschaft angeklagt. Obwohl ihm Hollywood nur die Chance eines einzigen Filmprojekts (Hangmen Also Die) geboten hatte, sah er sich von einer Gefängnisstrafe von einem Jahr bedroht. Während die Mitangeklagten die Frage nach ihrer Zugehörigkeit zur Kommunistischen Partei zurückwiesen, gab Brecht bereitwillig eine klare Auskunft. Repräsentanten der Kommunistischen Partei legten ihm dies als Distanznahme aus. Indes, Brecht gab zu Protokoll, was seinen Standpunkt seit Ende der zwanziger Jahre charakterisierte. Er war ein marxistischer Autor, aber kein Parteiintellektueller. Intensiv hatte er sich mit dem Verhältnis von Intellektuellen und Proletariern auseinandergesetzt und früh Konsequenzen aus seinen Überlegungen gezogen im Sinne einer Parteinahme für die Sache der Arbeiter, aber gegen eine Parteimitgliedschaft. In Verteidigung seiner Autonomie als Autor sowie in Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Soziologie der Intelligenz entfaltete er das Modell eines spezifischen' Intellektuellen, der sich vom Intellektuellen in der Tradition Zolas ebenso unterschied wie vom marxistischen Intellektuellen in der Tradition Kautskys, Lenins oder Lukäcs. In seinem Aufsatz „Heinrich Heine und die Rolle des Intellektuellen in Deutschland" hat Jürgen Habermas eine Typologie der Intellektuellen in der Weimarer Republik erstellt. Habermas unterscheidet fünf Typen: den unpolitischen Intellektuellen, der die Politisierung des Geistes als Verrat an der schöpferischen und gebildeten Persönlichkeit ansieht, den realpolitischen Intellektuellen, der die Rationalität des politischen Betriebs durch das Eindringen von engagierten Schriftstellern (Gesinnungsethikem) gefährdet und in der Entdifferenzierung der Sphären von Geist und Macht die Gefahr des politischen Dilettantismus sieht; den Aktivisten, der einen rhetorischen Anspruch auf Intervention in die Politik erhebt, den parteigebundenen Intellektuellen oder Parteiintellektuellen, der den Übergang zum Berufsrevolutionär vollzieht, und schließlich den nationalen Intellektuellen oder Rechtsintellektuellen, der gegen die „Phrasen" von Freiheit und Kunst zu Felde zieht und die Geistigkeit „seines Volkes" zu repräsentieren sucht. 2 Keiner der deutschen Intellektuellen habe es gewagt, so Habermas, den Begriff des Intellektuellen in einem unverfänglich positiven Sinn zu verwenden. 3 Man habe es vorgezogen, vom „geistigen Menschen" zu sprechen, und damit einen Begriff verwandt, der die „elitären Herrschaftswünsche" der deutschen Akademiker deutlich anklingen lasse. Diese Wahrnehmung der Rolle des Intellektuellen in Deutschland sei :
Jürgen Habermas, Heinrich H e i n e und die Rolle der Intellektuellen in Deutschland, in: Merkur 40.1986, 453-468, 457f.
3
Ebd., 4 5 6 .
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durch zwei Mißverständnisse geprägt worden: erstens, durch die Vorstellung, daß öffentliches Engagement eine Verschmelzung mit der Politik zur Folge habe, und, zweitens, durch die Annahme, daß eine Einflußnahme auf die politische Öffentlichkeit die Eingliederung in den Betrieb der politischen Machtkämpfe bedeute. 4 Der Fall Brecht fügt sich nicht in die Typologie der Intellektuellen in der Weimarer Republik ein, die Habermas entwirft. Brecht hat den Begriff des Intellektuellen verwandt und dabei nicht nur negativ konnotiert. Sein Fall läßt sich vom unpolitischen Intellektuellen ebenso abgrenzen wie vom parteigebundenen oder realpolitischen, kommt dem Aktivisten nah, geht darin aber nicht auf. Es ist nicht der .tätige Geist', sondern die , geistige Aktion 1 , das Eingreifende Denken, das im Zentrum der Reflexionen Brechts steht. Mit seiner Aktualisierung und Redefinition des kritischen Potentials von Kunst und Literatur im allgemeinen sowie des Theaters im besonderen, ebnete Brecht einem Engagement die Bahn, das sich auf literarische, künstlerische, formale Mittel stützte und doch zugleich die Bühne, die literarische Welt zu überschreiten trachtete, um verändernd, strukturbrechend in die Gesellschaft einzugreifen. Mit anderen Worten: Die Grundlage des Mandats des Intellektuellen, das er definierte und in Praxis überführte, war ein rein literarisch-künstlerisches Engagement, das jedoch, ausgehend vom Theaterraum, verstanden als ein Mikrokosmos der sozialen Welt, die Wahrnehmungsstrukturen, den Blick auf die Welt, die Vorstellungen von der Welt, die Einstellungen zur Ordnung der Dinge in dieser Welt beeinflussen wollte. Unternommen werden sollte der Versuch, mittels „Theaterszenen", in denen „Straßenszenen" und damit Vorgänge der sozialen Welt sich verdichteten, Einsicht in gesellschaftliche Strukturen zu schaffen mit dem Ziel, das soziale Feld" besser in Erscheinung treten zu lassen, transparent und durchschaubar zu machen, so daß es als veränderbar erkannt und verändert werden konnte. 5 Die Konzeption des Eingreifenden Denkens und die theoretische Entfaltung des epischen Theaters erfolgen parallel und durchdringen sich. Die nachfolgende Analyse bezieht daher, soweit es zum Verständnis der politischen Interventionsstrategie Brechts erforderlich ist, Brechts Theaterkonzeption ein, konzentriert sich jedoch vor allem darauf, das Mandat des Intellektuellen aufzuzeigen, das Brecht beanspruchte. Ins Zentrum rücken Brechts selbstreflexive Analyse seines sozialen Standorts (I), sein Aufstieg innerhalb des literarischen Feldes, insbesondere des Subfeldes des Theaters der Weimarer Republik (II), sowie Konzeption und Praxis des Eingreifenden Denkens (III).
4
Ebd., 4 5 8 .
5
Bertolt Brecht, D i e Straßenszene. Grundmodell einer S z e n e d e s epischen Theaters ( 1 9 4 0 ) , in: Manfred Brauneck, Theater im 20. Jahrhundert. Programmschriften, Stilperioden, R e f o r m m o d e l le, Reinbek 2 0 0 1 2 7 7 - 2 8 6 , 2 8 1 .
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I. Ein potentieller Intellektueller: Herkunft, Bildungsweg, Weltkriegserfahrung, Revolutionswahmehmung. Brecht war ein Sohn des deutschen Bürgertums. Sein Vater war Direktor einer Papierfabrik in Augsburg. Geboren am 15. Februar 1898 in Augsburg, wuchs Brecht in gesicherten ökonomischen Verhältnissen auf. Rückblickend kommentierte er sein Herkunftsmilieu und den Bruch, den er mit diesem vollzog, mit den Worten: „Ich bin a u f g e w a c h s e n als Sohn Wohlhabender Leute. Meine Eltern haben mir Einen Kragen umgebunden und mich erzogen In den Gewohnheiten des Bedientwerdens Und unterrichtet in der Kunst des Befehlens. Aber A l s ich erwachsen war und mich sah, G e f i e l e n mir die Leute meiner Klasse nicht, N i c h t das Befehlen und nicht das Bedientwerden. Und ich verließ m e i n e Klasse und gesellte mich Zu den geringen Leuten."
Es war der Erste Weltkrieg, der entscheidend dazu beitrug, Brecht der Klasse, in die er hineingeboren war, zu entfremden. Bereits als Schüler hatte ihn seine Haltung zum Krieg in die Nähe eines Schulverweises gebracht, weil er in einem Schulaufsatz zum Thema „Dulce et decorum est pro patria mori" 1915 den Anspruch, daß es süß und ehrenvoll sei, für das Vaterland zu sterben, als Zweckpropaganda bezeichnet hatte. Lediglich der entschiedene Einspruch eines Lehrers („verwirrtes Schülerhirn") verhinderte seine Relegation, so daß Brecht 1917 ein kriegsbedingtes Notabitur ablegen konnte. Er wählte das Medizinstudium, nicht um den Beruf des Arztes zu ergreifen, sondern um den Dienst mit der Waffe im Weltkrieg zu vermeiden, dessen Grauen ihm sein Schuldfreund Caspar Neher, der als Freiwilliger 1914 eingerückt war, vermittelt hatte. Als Medizinstudent wurde Brecht, und darauf hatte er gesetzt, zwar zum Wehrdienst einberufen, aber zum Dienst im Lazarett abgestellt. „Ich hatte es, durch Glück begünstigt, verstanden", kommentierte er rückblickend, „meine militärische Ausbildung zu verhindern, nach einem halben Jahr beherrschte ich noch nicht einmal das Grüßen und war selbst für die damals schon gelockerten militärischen Verhältnisse zu schlapp. Ich verfugte dann aber auch sehr bald meine Entlassung. Kurz: Ich unterschied mich kaum von der überwältigenden Mehrheit der übrigen Soldaten, die selbstverständlich von dem Krieg genug hatten, aber nicht imstande waren, politisch zu denken. Ich denke also nicht besonders gern daran." 7
6
Bertolt Brecht, Verjagt mit gutem Grund, in: D i e Gedichte von Bertolt Brecht in e i n e m Band, Frankfurt a.M. 1997 9 , 721 f.
7
Zit. n. Hans Mayer, Bertolt Brecht und die Tradition, Pfullingen 1961, 24f.
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Brechts Selbstkritik, trotz Ablehnung des Krieges unfähig gewesen zu sein, „politisch zu denken", wird durch sein Eingeständnis ergänzt und erweitert, nur auf „dringendes Zureden weniger Freunde" 1918 Mitglied des Soldatenrats eines Augsburger Lazaretts geworden zu sein. Dennoch wirkten die Erfahrungen des Krieges und der Revolutionstage langfristig auf ihn und leiteten seine Politisierung ein. Er politisierte sich nicht im Sinne eines aktiven politischen Engagements im Rahmen politischer Organisationen, sondern infolge seiner kritischen Reflexion und Infragestellung von Verhaltensdispositionen, Wahrnehmungskriterien und Handlungsweisen. „Als junges Bürschchen wurde ich mobilisiert und blieb beim Lazarettdienst", erklärte er 1931 auf einem Spaziergang in Augsburg seinem russischen Übersetzer Tretjakow. „Ich habe Wunden verbunden und sie mit Jod bestrichen, ich habe Klistiere gegeben und Bluttransfusionen gemacht. Hätte mir ein Arzt gesagt, ,Brecht, amputieren sie ein Bein!', so hätte ich geantwortet: ,Zu Befehl, Herr Stabsarzt' und hätte das Bein abgeschnitten. Hätte man mir gesagt, ,Brecht, trepaniere!' ich hätte den Schädel geöffnet und im Gehirn herumgewühlt." 8 Brechts Selbstkritik im Jahre 1931 spiegelte die von ihm nicht zuletzt in Mann ist Mann zum Ausdruck gebrachte Kritik an der Bereitschaft des Individuums zur Selbstpreisgabe einer früheren Identität, an der Verwandlungsfähigkeit des Menschen, der unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen „wie ein Auto ummontiert" werden kann. 9 Das Stück Mann ist Mann, mit dessen Ausarbeitung Brecht 1919 begann, wurde, als es 1926 uraufgeführt wurde, als Antikriegsstück rezipiert, als Kritik des preußischen Militärsystems, das zur Köpfung des Charakterkopfs (Kerr) führe. Folgt man Brechts eigenen Kommentaren, war nicht nur die Kritik des Krieges sowie der Armee als „asozialer Gemeinschaft" sein Ziel, sondern die Kritik der Massengesellschaft überhaupt, die notwendigerweise zum Verlust von Identität führte. Wie ein Arzt, mit dem er den Beruf des Schriftstellers häufig verglich, auch nachdem er sein Medizinstudium 1921 aufgegeben hatte, interessierte sich Brecht für die Ursachen der von ihm kritisierten Verhaltensdispositionen und Handlungsweisen. „Um jemand gesund zu machen, braucht man", so seine Prämisse, „zuerst die richtige Diagnose. Und um die richtige Diagnose stellen zu können, braucht man nicht nur ein gründliches medizinisches Wissen, sondern auch wirkliches Interesse an der Heilung der Krankheit. Es genügt nicht, daß einer Arzt ist, er muß auch helfen können." Analog kam es beim Schriftsteller, der „von Krankheit und nur von Krankheit" (der Gesellschaft) rede, aus seiner Sicht, darauf an, „die genaue Ursache der Erkrankung" zu erkennen, damit er die Mittel bestimmen konnte, „um sie wirksam zu bekämpfen". 10 Indes, weder die Ursachen der Krankheit der Gesellschaft, noch die Mittel, diese erfolg-
8
Zit. n. der Erinnerung Sergej Tretjakows in: Hubert Witt Hg., Erinnerungen an Brecht, Leipzig
9
Bertolt Brecht, Mann ist Mann ( 1 9 2 6 ) , in: ders., Stücke 2, Große Kommentierte Berliner und
1964, 6 9 - 8 6 , 7 3 - 7 4 . Frankfurter A u s g a b e , hg. v. Werner Hecht u.a., Frankfurt a.M. 1988ff. (nachf. zit. G B A ) , 9 3 - 1 6 8 , 123. 10
Bertolt Brecht, Der Schriftsteller, in: ders., Über Politik und Kunst, Frankfurt a.M. 1972, 13f., 14.
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reich zu bekämpfen, erschlossen sich ihm sogleich. Man schrieb das Jahr 1926, als Brecht das Mittel erkannte, das es ihm erlaubte, eine Gesellschaftsdiagnose zu stellen: Das Kapital von Karl Marx." Hatte er sich bis dahin lediglich nach ,links' orientiert, begann er fortan systematisch, marxistische Kenntnisse auszubilden. 40 000 RM habe ihn, wie seine Biographin Marianne Kesting schreibt, sein Studium des Marxismus innerhalb von zehn Jahren gekostet.12 Der Erfolg der Dreigroschenoper (uraufgeführt 1928) ermöglichte es ihm, diese Summe zu investieren. Es waren professionelle Interessen, die Brecht anführte, seine Hinwendung zum Marxismus zu erklären. „Als ich schon jahrelang ein namhafter Schriftsteller war," schrieb er, „wußte ich noch nichts von Politik und hatte ich noch kein Buch und keinen Aufsatz von Marx zu Gesicht bekommen."13 Eine Änderung sei eingetreten, als er für ein Theaterstück den Hintergrund der Chicagoer Weizenbörse benötigt habe. „Niemand, w e d e r e i n i g e bekannte Wirtschaftsschriftsteller n o c h Geschäftsleute - e i n e m Makler, der an der Chicagoer Börse ein Leben lang gearbeitet hatte, reiste ich v o n Berlin bis Wien nach
niemand konnte mir die V o r g ä n g e an der W e i z e n b ö r s e hinreichend erklären. Ich ge-
wann den Eindruck, daß d i e s e V o r g ä n g e schlechthin unerklärlich, das heißt v o n der Vernunft nicht erfassbar, und das heißt wieder einfach unvernünftig waren. D i e Art, w i e das Getreide der Welt verteilt wurde, war schlechthin unbegreiflich. V o n j e d e m Standpunkt aus außer d e m j e n i g e n einer Handvoll Spekulanten war dieser Getreidemarkt ein einziger Sumpf. D a s geplante Drama wurde nicht geschrieben, statt dessen begann ich, Marx zu lesen, und da, jetzt erst, las ich Marx. Jetzt erst wurden meine eigenen zerstreuten praktischen Erfahrungen und Eindrücke richtig lebendig." 1 4
Gemeinsam mit Alfred Döblin begann Brecht, die „Marxistische Arbeiterschule" zu besuchen, wo Hermann Duncker, einer der führenden theoretischen Köpfe der deutschen Kommunistischen Partei, Vorlesungen hielt. Die Schule war eine Gründung der Kommunistischen Partei, aber keine Parteischule. 80% der Hörer waren keine Mitglieder der Partei. Die Vorlesungsgebühr betrug 30 Pfennig. Es waren nicht diese Gebühren, die die Kosten seines Marxismusstudiums in die Höhe trieben, sondern die Bücher, die Brecht parallel anschaffte, sowie die Zeitschriften, die er zu abonnieren und antiquarisch zu erwerben begann. So kaufte er alle Jahrgänge der einst von Karl Kautsky begründeten und herausgegebenen Neuen Zeit, die er als unentbehrliches Arbeitsmaterial schätzte und die später im dänischen Exil zur großen Attraktion seiner Bibliothek (in Svendborg) werden sollten.15 Er nutze den Mangel an Kriminalromanen, wie er in einem Brief aus Svendborg berichtete, um in der Neuen Zeit zu lesen, unter anderem die Kriegsdiskussion nachzulesen, die ihm die „eingreifenden Erkenntnisse des Proletari"
Vgl. Werner Mittenzwei, D a s Leben des Bertolt Brecht oder Der U m g a n g mit den Welträtseln, 2 Bde., Bd. 1, Frankfurt a.M. 1 9 8 7 , 4 0 4 .
12 13
Marianne Kesting, Bertolt Brecht, Hamburg 2 0 0 3 , 41. Bertolt Brecht, Der Lernende ist wichtiger als die Lehre, in: ders., Schriften zur Politik und G e sellschaft ( 1 9 1 9 - 1 9 5 6 ) , Frankfurt a.M. 1 9 7 4 , 4 6 .
14
Ders., Entwurf einer Vorrede für eine Lesung, in: ders., Schriften 2/1, G B A B d . 2 2 . 1 , 138f.
15
Klaus Völker, Bertolt Brecht. Eine Biographie, München 1978, 159.
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ats" erschloß. 16 „Die Arbeiterschaft" habe, so sein Urteil nach der Lektüre, „schwer sprechen gelernt und zum kleineren Teil." Ihrer Sprache müsse man sich jedoch bedienen sowie der Bilder und der Gleichnisse ihres (bewußten) Lebens. 17 Brecht, ein Mitglied der bürgerlichen Intelligenz, wandte sich ab Mitte der zwanziger Jahre der Arbeiterschaft zu, deren Kämpfen er 1918/19 nur wenig Interesse und Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Zeitgleich mit seiner durch die Rezeption des Marxismus bedingten Hinwendung zur Arbeiterklasse und der Inanspruchnahme eines politischen Mandats begann er, seiner Theaterproduktion einen neuen Namen und eine neue Ausrichtung zu geben. Was veranlaßte Brecht, der sich selbst einen ,Stückeschreiber' nannte, dazu, Literatur und Politik, literarisches und politisches Mandat zu verknüpfen? Wann und wie wurde der Kulturproduzent zum Intellektuellen? Wie übte er das Mandat des Intellektuellen aus? Der Intellektuelle ist, folgt man der Definition Bourdieus, ein „paradoxes Wesen, das sich als solches nicht begreifen läßt, wenn man es nur über die obligate Alternative von Autonomie und Engagement, reiner Kultur oder politischer Kultur zu fassen versucht." Zu Intellektuellen werden Schriftsteller, Künstler, Wissenschaftler nur, so Bourdieu, „wenn (und nur wenn)" sie „über eine spezifische Autorität" verfügen, die ihnen eine „autonome (das heißt von religiösen, politischen, wirtschaftlichen Mächten unabhängige) Welt verleiht," deren spezifische Gesetze sie respektieren, und „wenn (und nur wenn) sie diese spezifische Autorität in politischen Auseinandersetzungen" geltend machen. Die Wirksamkeit politischen Handelns, dessen Ziele und Instrumente, können, so Bourdieus Hypothese, in der „Logik der kulturellen Produktionsfelder eine Grundlage finden."18 Bourdieu bindet damit die Analyse der politischen Stellungnahme eines Autors an die Analyse seiner Position in der Konfiguration des literarischen Feldes. Wie vollzog sich der Aufstieg Brechts im literarischen Feld insbesondere im Subfeld des Theaters?
II. Der Kampf ums Theater: Die werkimmanente Methode und der sozialgeschichtliche Ansatz, das Werk eines Autors aus der gesellschaftlichen Konstellation abzuleiten, in der es entsteht, sind, folgt man der Literatursoziologie Bourdieus, gleichermaßen unzureichend, um die Innovation zu erklären, die ein Autor im Feld der kulturellen Produktion einleitet. Es kommt vielmehr darauf an, die Stellung und Stellungnahmen eines Autors in Relation zu anderen Autoren zu untersuchen, mithin die Abgrenzungen zu erfassen, die er vornimmt, das Kapital (ökonomische, kulturelle, symbolische), das er
16
Brecht an Korsch, Juni/Juli 1934, in: Brecht, Briefe 1, G B A B d . 2 8 , 4 2 2 f .
17
Ebd., 4 2 3 .
18
Pierre Bourdieu, D i e Regeln der Kunst. Genese und Struktur d e s literarischen Feldes, Frankfurt a.M. 1999, 5 2 4 f .
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erwirbt, sowie die Vermittlung und Konsekration seiner Werke durch Verleger und Kritiker. Es gilt, mit anderen Worten, die Konfiguration des Feldes zu betrachten als eines Ortes „von Kräfte- und nicht nur Sinnverhältnissen und von Kämpfen um die Veränderung dieser Verhältnisse". 19 Dies kann, da feldtheoretische Studien zur Entwicklung des literarischen Feldes sowie des Subfeldes des Theaters in den zwanziger Jahren fehlen, nachfolgend nur ansatzweise und skizzenhaft geschehen, orientiert an nur wenigen ausgewählten Kriterien des Ansatzes, den Bourdieu in seiner Studie Die Regeln der Kunst (1999) entfaltet. Ein Revolutionär: Seit Gerhard Hauptmann habe, wie Herbert Jhering 1959 schrieb, kein deutscher Dramatiker das Theater so beeinflußt wie Brecht. Jhering bekräftigte damit, was er bereits 1927, anläßlich der Drucklegung von Mann ist Mann und Im Dckicht der Städte gemeinsam mit Bertolt Brechts Hauspostille, mithin der Verknüpfung von Dramen mit Gedichten Brechts zu einem vom Ullstein-Verlag herausgegeben Band, konstatiert hatte: Brecht „ist ein Revolutionär". Brecht vereinte nicht nur die Rolle des Dramatikers und Lyrikers, sondern suchte und übernahm zugleich die Rolle des Regisseurs, der vor allem auch seine eigenen Texte inszenierte. Er unterschied sich dergestalt von anderen Dramatikern, insofern er nicht ausschließlich auf die Auslegung seiner Stücke durch die Regisseure des zeitgenössischen Theaters angewiesen war. Er grenzte sich von den Regisseuren seiner Zeit ab, insofern er nicht davon abhängig war, daß Dramatiker ihm den Stoff seiner Inszenierungen lieferten. Er ragte über die Dichter seiner Zeit hinaus, insofern seine Gedichte und Balladen nicht sein einziges Ausdrucksmittel waren, und er seine Lyrik nicht nur schrieb, sondern auch sang und mithin auch diese selbst inszenierte. Eine Differenz zwischen Brecht und anderen Dichtem und Dramatikern bestand, last but not least, darin, daß er Dramen, Balladen und Songs - in Kooperation mit Kurt Weill und Hanns Eisler - mit .Neuer Musik' verknüpfte, um gegen das ,Wagnersche Gesamtkunstwerk' und die Oper seiner Zeit aufzubegehren. Konnte Brecht mehr als andere und setzte er sich deshalb durch? Aufmerksam machte er auf sich durch Theaterkritiken, bevor die Theaterkritik ihn als Autor entdeckte. Fundamentalkritik an den Inszenierungstechniken seiner Zeit, an Regisseuren, Schauspielern und Theaterintendanten zeichnete seine Theaterkritiken aus, die er für die Augsburger Volksstimme schrieb. Die Schärfe, mit der er sich noch während der Aufführung des Stücks Persephone von Paul Gurk, eines 1921 mit dem Kleist-Preis ausgezeichneten Autors, äußerte, brachte ihm im Februar 1922 die Bekanntschaft mit Herbert Jhering ein, dem Theaterkritiker des Berliner Börsen-Couriers, einer vom gehobenen Bürgertum der Weimarer Republik gelesenen Zeitung. Das Gespräch, das Brecht, begleitet von Arnolt Bronnen, in der Pause mit Jhering über das Stück des preisgekrönten Dramatikers führte, veranlaßte Jhering, der, wie Bronnen berichtet, gelangweilt von den ersten Akten zu ihnen stieß, zu dem Satz, das werde in Zukunft anders, sei er es doch, der in diesem Jahr den Kleist-Preis vergebe. Bronnen
19
Vgl. Pierre Bourdieu/Loi'c J.D. Wacquant, Reflexive Anthropologie, Frankfurt a.M. 1996, 134f.
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nutzte den Augenblick, um, auf Brecht verweisend, zu kontern: „Na, dann haben sie hier gleich den, dem Sie ihn geben müssen." 20 Brecht hatte im Moment der ersten Begegnung mit Jhering bereits mehrere Theaterstücke (Baal, Trommeln in der Nacht, Im Dickicht der Städte) geschrieben und umgeschrieben, aber noch keines seiner Stücke war gedruckt, geschweige denn aufgeführt worden. Bereits 1918 hatte er sich mit der Bitte um Vermittlung an den in München lebenden renommierten Schriftsteller Lion Feuchtwanger gewandt, aber zunächst, trotz dessen Intervention, keinen Verlag gefunden, der bereit war, seine Dramen zu drucken. Auch die Zusicherung, daß die Haindelsche Papierfabrik, der sein Vater vorstand, das Papier für die Drucklegung kostenlos zur Verfügung stellen konnte, hatte die Verleger nicht umzustimmen vermocht. Nicht einmal der als Talententdecker bekannte Direktor der „Münchner Kammerspiele", Otto Falckenberg, hatte Brecht ins Visier genommen. Nach Brechts Begegnung mit Jhering trat eine Wende ein. Gemeinsam mit Lion Feuchtwanger 21 setzte sich Jhering dafür ein, daß Falckenberg Brechts Stück Trommeln in der Nacht in München auf den Spielplan setzte und selbst die Regie übernahm. Die Premiere fand am 29. September 1922 statt und wurde ein Erfolg. Jhering, der von Berlin nach München gereist war, um der Uraufführung beizuwohnen, und sogar einen zweiten Tag geblieben war, um Brecht als Schauspieler, Sänger und Ideengeber in Karl Valentins und Liesl Karstadts Kabarett zu sehen, attestierte Falckenberg, „mit der Uraufführung Bert Brechts mehr für das deutsche Drama getan zu haben, als in der letzten Zeit Berlin mit all seinen Theatern". Brecht, mittlerweile 24 Jahre alt, habe, bereits als Zwanzigjähriger, das einzige Revolutionsstück geschrieben, das „dichterisch" bleibe. 22 In einer zweiten, ausführlicheren Besprechung im Berliner Börsen-Courier, in die er auch Brechts andere Werke einbezog, ergänzte Jhering am 5. Oktober, Brecht habe „über Nacht das dichterische Antlitz Deutschlands verändert." 23 Er machte „Geniezeichen" im Werk Brechts fest und begründete sein Urteil damit, daß dessen Dramen „eine neue künstlerische Totalität [...] mit eigenen Gesetzen, mit eigener Dramaturgie" auswiesen. Diese Gesetze und Dramaturgie aufzuzeigen, blieb, wie Jhering konstatierte, einer eigenen Arbeit vorbehalten. Worin er sie zu erkennen glaubte, deutete er jedoch bereits mit den Worten an: „[D]er Raum steht drohend hinter den Menschen und überwächst sie." Brecht sehe, so Jhering, den Menschen, aber immer in seiner Wirkung auf andere Menschen. Trotz seiner Jugend habe er in „alle Tiefen" gesehen. Er vermöge, den „nackten Menschen reden" zu lassen „mit einer Sprachgewalt, die seit Jahren uner20
Mittenzwei, Bertolt Brecht, B d . l , 169.
21
Vgl. z u m Urteil Feuchtwangers über Brecht: Lion Feuchtwanger, Bertolt Brecht, in: Bertolt Brecht, Trommeln in der Nacht, hg. v. W o l f g a n g M. Schwiedrzik, Frankfurt a.M. 1999, 2 0 9 - 2 1 2 ; ders., Bertolt Brecht, dargestellt für Engländer, in: Brecht, Trommeln in der Nacht, 2 1 2 - 2 1 7 .
22
Herbert Jhering, Uraufführung von „Trommeln in der Nacht" in M ü n c h e n ( 2 . 1 0 . 1 9 2 2 ) , zit. n. ders., Bert Brecht hat das dichterische Antlitz Deutschlands verändert, hg. v. Klaus Völker, München 1980, 3.
23
Herbert Jhering, Der Dramatiker Brecht. Zu d e m theatergeschichtlichen Verdienst der „Münchner Kammerspiele" ( 5 . 1 0 . 1 9 2 2 ) , in: ders., Bert Brecht, 4 - 6 .
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hört" sei. Beim ersten Wort seiner Dramen wisse man: „Tragödie hat begonnen." 24 Ausgehend von der Prämisse, daß „das Grauen der letzten Jahre [...] nicht der Absturz einer Nation, sondern die Unfähigkeit, Elementares elementar zu erleben" gewesen sei, schrieb Jhering Brecht zu, „die Spannung zwischen dem Erlebnis einer Zeit und seinem Ausdruck" überwunden zu haben. 25 Ausdrücklich bezog er dabei in sein Urteil auch die Lieder und Gedichte Brechts ein, die man, von ihm selbst zur Klampfe vorgetragen, hören müsse, „um den aufpeitschenden Rhythmus" seiner Sätze zu fühlen. 26 Berlin, die Theatermetropole, zog nach. Indes, es waren nicht die dort ansässigen Regisseure, die Trommeln in der Nacht inszenierten, sondern es war erneut Falckenberg, der das Projekt mit Berliner Schauspielern in Angriff nahm. Die Berliner Auffuhrung setzte den Auftakt zu einer Kritiker-Fehde. Seit langem Konkurrenten auf dem Gebiet der Theaterkritik, lieferten sich Herbert Jhering und Alfred Kerr einen öffentlichen Schlagabtausch, in dem es um Brechts Stück ging, zudem aber um das Kompetenzmonopol, die Rolle des „wahren", „legitimen" Theaterkritikers gerungen wurde. Kerr habe, wie Jhering konstatierte, in seiner Kritik des Stücks von Brecht „weniger den Theaterabend als mich" besprochen. Es gehe jedoch nicht um private Meinungen, gefuhrt werde ein „ K a m p f um „die Möglichkeiten des Theaters überhaupt. 27 Eine Kritiker-Fehde: Die Divergenzen zwischen den beiden Kritikern betrafen zum einen die Sprache Brechts, zum anderen seinen Rang unter den zeitgenössischen Dramatikern und schließlich, drittens, die Definition dessen, was unter .expressionistischem Theater' zu verstehen war, sowie die Zuordnung Brechts zum Expressionismus. Hatte Jhering den „aufpeitschenden Rhythmus" der Sätze Brechts gelobt und in seiner Sprache das innovative Potential gesehen, welches „das dichterische Antlitz Deutschlands" veränderte, konstatierte Kerr lediglich einen „Rhythmusbluff', der dem Publikum zugemutet werde. Rhythmus heiße bei Brecht, so Kerr, offenbar „Leim". 28 Gespalten in der Beurteilung der sprachlichen Ausdruckskraft, wich das Urteil der Kritiker auch hinsichtlich der Plazierung Brechts im Kontext der Dramatiker seiner Zeit stark voneinander ab. Anders als Jhering unterstelle, sei Brecht, so das Urteil Kerrs, weit davon entfernt, über andere Dramatiker hinauszuragen. So sei Ernst Toller „zehnfach fortgeschrittener im Expressionismus als Brecht." Jhering widersprach: Tollers Sprache habe Anklänge an Leitartikel, Brechts Sprache hingegen eine „individuelle Melodie." Wenn Kerr Toller für einen Repräsentanten des Expressionismus halte, nehme er „gerade das deklamierende, redende Drama für expressionistisch, (was niemals
34 25 26 27 28
Ebd., 5. Ebd., 4. Ebd., 5. Herbert Jhering, „Trommeln in der Nacht" im Deutschen Theater Berlin, in: ders., Bert Brecht, 8. Alfred Kerr, Bertolt Brecht: „Trommeln in der Nacht". Deutsches Theater, in: ders., Mit Schleuder und Harfe. Theaterkritiken aus drei Jahrzehnten, hg. v. Hugo Fetting, Berlin 1982, 244-247, 245.
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gemeint war)." 29 Jhering warf damit Kerr vor, den Expressionismus zu verkennen und darüber hinaus Brecht mit einem falschen Maß zu messen, insofern dieser, aus seiner Sicht, mit dem Expressionismus „aufräumte". 30 Zwar räumte Jhering ein, daß dies mitunter durch die Berliner Aufführung, die „teils mit falschem Realismus die Sätze zergrölte, teils mit falscher Ekstase betonte" 31 , nicht immer deutlich hervorgetreten sei. Aber er hielt daran fest, daß die Schwächen der Aufführung nicht „aus dem Werk" resultierten, dem eine „ebenso gespannte wie elastische Sprache" eigen sei, sondern aus der Besetzung der Rollen, die dazu gefuhrt habe, daß das Stück im IV. Akt „in sinnloses Gebrüll" gemündet sei.32 Jhering verteidigte mithin in der Kontroverse mit Kerr sein nach der Münchener Uraufführung gebildetes Urteil und ging in der Wahrnehmung der Zeit sowie der Literaturgeschichte als „Sieger" aus der Kritiker-Fehde hervor. 33 Mit Jhering trat ein neuer Typus des Kritikers auf: „der Kritiker, der dem Autor als richtungsweisender Impulsgeber und .geistiger Gegenbruder zur Seite'" stand, der dem literarischen, impressionistischen Stil, wie Kerr ihn repräsentierte, eine sachlich nüchterne, tendenziell überprüfbare, objektive Kritik entgegensetzte und mithalf, Theater und Literatur in den Dienst der Gesellschaft zu stellen.34 Kann man daraus folgern, daß der Theaterkritiker Jhering Brecht zum Bühnenautor gemacht hat? Die Verleger: Die Aufführungen von Trommeln in der Nacht in München und Berlin, die die Kontroverse der Großkritiker über das Stück sowie schließlich die Verleihung des Kleist-Preises machten Brecht zu einem Autor, über den ,man' sprach. Die Verleger konkurrierten um den neuen, jungen Autor indes bereits seit Ende 1921/Anfang 1922, mithin vor Brechts erstem Bühnenerfolg. Brechts Verhandlungsgeschick und die Suche der Verleger der literarischen Avantgarde nach neuen Stücken hatten es möglich gemacht, daß er im Dezember 1921 und Januar 1922 mehrere Verlagsverträge unterzeichnen konnte. Als erstes hatte er über die Werke, die zwischen dem 1.1.1922 und dem 21.12.1924 entstehen würden, mit dem Erich Reiss Verlag einen Vertrag abgeschlossen, der ihm eine monatliche (Voraus)Zahlung von 750 RM garantierte. Der Vertrag enthielt eine Klausel, die Brecht zugestand, über das Verlags- und Vertriebsrecht frei zu verfügen, falls der Verlag den Druck eines Theaterstücks ablehnte, das von einer größeren Bühne zur Aufführung angenommen worden war. 35 Unmittelbar nach Vertragsabschluß berief Brecht sich auf diese Klausel und übergab sein Stück Baal dem Kiepenheuer-Verlag, der ihm 800 RM pro Monat anbot. Noch während der Verhandlungen mit Kiepenheuer, dem führenden Theaterverlag in der Weimarer 29
Jhering, „Trommeln in der Nacht" im Deutschen Theater in Berlin, 7.
30
Vgl. auch Herbert Jhering, Brecht und das Theater, Berlin 1959, 10.
31
Ders., „Trommeln in der Nacht" im Deutschen Theater in Berlin, 9.
32
Ebd.
33
Edith Krull, Herbert Jhering, Berlin 1964, 21; Lothar Schöne, N e u i g k e i t e n v o m Mittelpunkt der Welt. Der K a m p f ums Theater in der Weimarer Republik, Darmstadt 1995, 177.
34
Oliver Pfohlmann, Literaturkritik in der Weimarer Republik, in: T h o m a s Anz/Rainer Baasner
35
John Fuegi, Brecht & Co. Biographie, Hamburg 1997, 139.
Hg., Literaturkritik. Geschichte - Theorie - Praxis, München 2 0 0 4 , 1 1 4 - 1 2 7 , 115f., 121.
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Republik 36 , kontaktierte Brecht den Drei Masken Verlag und trieb dadurch Kiepenheuer auf 1000 RM. Er unterzeichnete schließlich einen Vertrag mit Kiepenheuer und ging zugleich eine Verbindung mit dem Drei Masken Verlag ein, einem der ältesten Theaterverlage Deutschlands. Von Kiepenheuer akzeptiert, dessen Interesse dem Gesamtwerk galt, räumte er dem Drei Masken Verlag die Rechte an den nächsten Stücken ein, unter anderem an Im Dickicht der Städte. Er habe, kommentierte Brecht seine Verhandlungen mit den Verlegern, „mit Händen und Füßen gerudert" und „ihnen Löcher in den Bauch geschwatzt." 37 Gustav Kiepenheuer, auf den vor allem sich Brechts Satz bezog, war bekannt dafür, jungen, hoffnungsvollen Autoren hohe Vorschüsse in Form einer monatlichen Rente einzuräumen, ebenso bekannt hingegen war auch seine gelegentliche Zahlungsunfähigkeit, die das Unternehmen permanent bedrohende Illiquidität, die den Verleger stets auf die Suche nach Geldgebern verwies, die bereit waren, in den Verlag zu investieren. 38 Als er glaubte, Anhaltspunkte dafür zu haben, daß einer dieser Geldgeber („reaktionäres Geld") Einfluß auf die Textgestaltung eines seiner Bücher zu nehmen versuchte, 39 verließ Brecht Kiepenheuer, um einen Vertrag bei Ullstein zu signieren. Im Vertrag mit Ullstein erwirkte Brecht einen Passus, der besagte, daß von den Vertragsverpflichtungen des Autors diejenigen Stücke auszunehmen seien, die mit anderen geschrieben wurden 40 ; ein Passus, auf den Brecht sich berief, als er die Dreigroschenoper abgeschlossen hatte. Brecht kommentierte sein Verhandlungsgeschick ironisch mit den Worten, „daß er wahrscheinlich einer der seltenen Fälle [sei], in denen Ullstein von einem Autor ausgebeutet wurde". 41 „Seine Verleger", so das Urteil Wieland Herzfeldes, „hatten es nicht leicht mit ihm", 42 doch hatten diese es ihm in den ersten vier Jahren seiner schriftstellerischen Tätigkeit auch nicht sehr leicht gemacht. Konsekration: Vom Druck und der bevorstehenden Übersendung des Stücks Trommeln in der Nacht (Drei Masken Verlag) informierte Brecht Jhering zeitgleich mit der 36
Alexandra Hildebrandt, „Zum Kapitel Kiepenheuer...". A u t o r - V e r l e g e r - B e z i e h u n g e n im Gustav Kiepenheuer Verlag ( 1 9 0 9 - 1 9 4 5 ) , in: Wolfenbütteler N o t i z e n zur B u c h g e s c h i c h t e 2 1 . 1 9 9 6 , 4 4 72, 50.
17
Bertolt Brecht, Tagebücher 1 9 2 0 - 1 9 2 2 , Autobiographische A u f z e i c h n u n g e n 1 9 2 0 - 1 9 5 4 , hg. v. Herta Ramthun, Frankfurt a.M. 1975, 185; vgl. auch Fuegi, Brecht & Co., 139f.
38
Ernst Fischer, Gustav Kiepenheuer als Unternehmerpersönlichkeit, in: Günther S c h u l z Hg., Geschäft mit Wort und Meinung. Medienunternehmer seit d e m 18. Jahrhundert, M ü n c h e n 1999, 5 7 76; Cornelia Caroline Funke, „Im Verleger verkörpert sich das Gesicht seiner Zeit". Unternehmensfuhrung und Programmgestaltung im Gustav Kiepenheuer Verlag 1 9 0 9 bis 1944, Leipzig 1999, 138ff.; vgl. ferner Hermann Kasack, Erinnerungen an G.K. 1 9 2 0 - 1 9 2 5 , in: Friedemann Berger Hg., Thema, Stil, Gestalt 1 9 1 7 - 1 9 3 2 . 15 Jahre Literatur und Kunst im Spiegel eines Verlages. Katalog zur A u s s t e l l u n g des 75jährigen Bestehens d e s Gustav Kiepenheuer Verlages, Leipz i g 1984, 5 0 2 - 5 0 4 .
39
Vgl. Siegfried Unseld, Bertolt Brecht und seine Verleger, in: ders., Der Autor und sein Verleger, Frankfurt a.M. 1978, 1 1 4 - 1 7 1 , 118.
40
Fuegi, Brecht & Co., 2 1 5 .
41
Fritz Sternberg, Der Dichter und die Ratio. Erinnerungen an Bertolt Brecht, Göttingen 1963, 20.
42
Zit. n. Unseld, Bertolt Brecht, 117.
Theater und Politik: Bertolt Brechts ,Eingreifendes
Denken'
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Einladung zur Münchener Uraufführung.43 Er hatte ihm zudem im Oktober 1922, wenige Wochen vor der Entscheidung über den Kleist-Preis, auch folgende Angaben zu seiner Person gesandt: „Ich habe das Licht der Welt im Jahre 1898 erblickt. Meine Eltern sind Schwarzwäldler. Die Volksschule langweilte mich 4 Jahre. Während meines 9jährigen Eingewecktseins an einem Augsburger Realgymasium gelang es mir nicht, meine Lehrer wesentlich zu fördern. Mein Sinn fur Muße und Unabhängigkeit wurde von ihnen unermüdlich hervorgehoben. Auf der Universität hörte ich Medizin und lernte das Gitarrenspielen. In der Gymnasiumszeit hatte ich mir durch allerlei Sport einen Herzschock geholt, der mich mit den Geheimnissen der Metaphysik bekannt machte. Während der Revolution war ich als Mediziner in einem Lazarett. Danach schrieb ich Theaterstücke, und im Frühjahr dieses Jahres wurde ich wegen Unterernährung in die Charite eingeliefert. Arnolt Bronnen konnte mir mit seinen Einkünften als Kommis nicht entscheidend unter die Armee greifen. Nach 24 Jahren Licht der Welt bin ich etwas mager geworden." 44
Brecht hatte diesem curriculum vitae hinzugefügt, daß, aus seiner Sicht, „die Brechthausse ebenso auf einem Mißverständnis" beruhe „wie die Brechtbaisse, die ihr folgen" werde, dem Kritiker zugleich aber die Übersendung der Lyriksammlung Die Hauspostille angekündigt, sobald es einen Abzug gebe. 45 Versucht man, bevor die weitere Laufbahn Brechts verfolgt wird, eine Zwischenbilanz zu ziehen, läßt sich konstatieren: Ein Netz von Verlagsbeziehungen, Rückhalt durch einen Literaturkritiker, der danach strebte, die Nummer eins unter den Theaterkritikern der Weimarer Republik zu werden, sowie ein sich abzeichnendes, äußerst vielfältiges - Gedichte, Lieder, Dramen und Erzählungen umfassendes - Oeuvre bildeten die Faktoren, die den Aufstieg Brechts im literarischen Feld möglich machten. Sie widerlegen die These John Fuegis - Brecht „sang und schlief sich in Berlin nach oben"46 - und lassen es kaum als Zufall erscheinen, daß Jhering im November 1922 Brecht und nicht Bronnen den Vorzug bei der Kleist-Preisvergabe gab. Überzeugt von der innovativen Kraft Brechts, schrieb Jhering: „Nicht das ist das künstlerische Ereignis, daß Brecht in seinem ersten Stück Trommeln in der Nacht Zeitereignisse gestaltet, die bisher beredet wurden. Das Ereignis ist, daß die Zeit als Hintergrund, als Atmosphäre auch in den Dramen ist, die jenseits aller stofflichen Aktualität sind. Brecht ist in seinen Nerven, in seinem Blut vom Grauen der Zeit durchdrungen. Brecht empfindet das Chaos und die Verwesung körperlich. Diese Sprache fühlt man auf der Zunge, am Gaumen, im Ohr, im Rückgrat. Sie läßt Zwischenglieder weg und reißt Perspektiven auf. Sie ist brutal sinnlich und melancholisch zart, Gemeinheit ist in ihr und abgründige Trauer. Grimmiger Witz und klagende Lyrik." 47
Aufführungen in München und Berlin, die Auszeichnung mit einem Literaturpreis sowie mehrere Verlagsverträge stabilisierten die Lebens- und Arbeitsgrundlage Brechts, 43 44 45 46 47
Brecht an Jhering, 22.9.1922, in: Brecht, Briefe 1, GBA Bd.28, 173. Brecht an Jhering, Oktober 1922, in: Brecht, Briefe 1, GBA Bd.28, 177-178. Ebd., 178. Fuegi, Brecht & Co., 140. Jhering, Zu dem theatergeschichtlichen Verdienst der „Münchner Kammerspiele", 5.
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sicherten ihm, folgt man dem Ansatz Bourdieus, ökonomisches Kapital und verliehen ihm symbolisches Kapital. Sie erklären aber noch nicht hinreichend seine Stellung im literarischen Feld. Denn die ökonomische Selbständigkeit zerrann in dem Maße, in dem die Inflation die Reichsmark und damit die monatliche Verlagsrente entwertete48, so daß Brecht auf die Unterstützung durch sein Elternhaus sowie auf die Suche nach anderen Verdienstmöglichkeiten angewiesen blieb. Was tat er in dieser Situation? Vermochte er die symbolische Anerkennung, die ihm zuteil geworden war, zu wahren und zu steigern? Wie positionierte er sich im literarischen Feld, um der „Brechtbaisse", die er als Möglichkeit antizipiert hatte, entgegenzuwirken? Abgrenzung von den Klassikern: Die Klassiker seien tot, hatte Jhering in seiner Schrift Reinhardt, Jessner, Piscator und der Klassikermord? (1929) konstatiert. In einem Rundfunkgespräch mit Jhering im Jahre 1929 griff Brecht diese These auf und hakte nach: ,,[W]enn sie nun gestorben sind, wann sind sie gestorben?" Ohne die Antwort Jherings abzuwarten, fuhr er fort: „Die Wahrheit ist: sie sind im Krieg gestorben. Sie gehören unter unsere Kriegsopfer. Wenn es wahr ist, daß Soldaten, die in den Krieg zogen, den ,Faust' im Tornister hatten - die aus dem Krieg zurückgekehrten, hatten ihn nicht mehr." An Jhering gewandt, stellte er fest: „Sie schrieben Ihr Buch nicht mehr gegen die Klassiker. Nicht durch Bücher werden oder vielmehr wurden die Klassiker getötet. Sie schrieben ihr Buch und wir reden über die Klassiker nicht, weil die Klassiker in einer Krise sind, sondern weil unser Theater in einer Krise ist." Jhering stimmte zu. Die Theaterdirektoren in Berlin und im Reich hätten bei der Zusammensetzung ihrer Spielpläne die größten Schwierigkeiten. Neue Stücke erwiesen sich vielfach als schnell abgenutzt, so daß die Theaterdirektoren auf die Klassiker immer wieder und häufiger zurückgreifen würden, wenn das Publikum noch ein Bedürfnis oder eine Beziehung zu ihnen hätte. Brecht spitzte zu. Er sah jedoch die Beziehung des Publikums zu den Klassikern in dem Maße als zerstört an, in dem im Bürgertum die „Lust am Denken, sogar am Mitdenken" verkümmerte und sich lediglich eine „kulinarische" Klassikerrezeption einstellte. Eine Mitschuld am „Tod der Klassiker" schrieb er den Regisseuren zu, deren „ehrerbietige Haltung" gegenüber den Klassikern zu deren Niedergang beigetragen hätten.49 Brechts scharfe Kritik an den Regisseuren war nicht neu. Seit Beginn seiner Laufbahn als Bühnenautor hatte er sich nicht nur um die Regie seiner eigenen Stücke, sondern auch um die Inszenierung von „klassischen" Stücken bemüht; bestrebt, andere Maßstäbe zu setzen. Der Regisseur: Brechts Regiefuhrung war, als er sie erstmals erprobte, wenig Erfolg beschieden, doch er steckte die Niederlage unbeeindruckt weg und hielt entschlossen fest an seinen Überzeugungen. Skandale, die seine Regieversuche provozierten, veran48
49
Brecht zog aus dieser Erfahrung die Konsequenz und bestand beim Abschluß seines Vertrages mit dem Verlag Felix Bloch Erben, in dem die Dreigroschenoper erschien, darauf, monatliche Zahlungen in Goldmark zu erhalten. Vgl. Fuegi, Brecht & Co., 336. Gespräch über Klassiker, in: Brecht im Gespräch. Diskussionen, Dialoge, Interviews, hg. v. Werner Hecht, Frankfurt a.M. 1975, 36-43, 36f.
Theater und Politik: Bertolt Brechts ,Eingreifendes Denken'
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laßten ihn nicht, sein Konzept zu ändern. So hatte Moritz Seeler, der Intendant der experimentellen „Jungen Bühne", ihn 1922 mit der Inszenierung von Bronnens Stück Vatermord betraut, das in Berlin uraufgeführt werden sollte, unter anderen mit Heinrich George in einer der Hauptrollen. Gewohnt daran, das Publikum mitzureißen, legte George in den Proben seine Rolle mit großem Pathos aus. Brecht intervenierte ständig und provozierte dadurch den Widerspruch Georges, der seine Macht als anerkannter Schauspieler gegen den jungen, noch unbekannten Regisseur ausspielte: „Lassen Sie mich ausreden, Sie Herr da unten", griff er Brecht an. Dieser antwortete: „Was wollen Sie ausreden. Sie können ja ohnehin ihre Rolle nicht." - „Ist ja auch noch acht Tage Zeit", entgegnete George und bekam als Antwort zu hören: „Wenn Sie so sprechen, werden Sie die Rolle auch in acht Jahren noch nicht können."50 George schmiß seinem Regisseur das Textbuch vor die Füße - die Inszenierung war geplatzt, Brechts Regiedebüt beendet, noch bevor es zur Auffuhrung kam. Seinem Freund Bronnen, dem Autor des expressionistischen Stücks, erklärte er lakonisch: „Ich gratuliere dir. Mit denen wäre es nie etwas geworden."51 Was er mit der Inszenierung von Bronnens Vatermord umzusetzen versucht hatte, setzte Brecht ein Jahr später mit der Inszenierung von Marlowes Edward II fort, einem klassischen Stück, das er gemeinsam mit Lion Feuchtwanger neu übersetzte hatte, bevor er sich an die Regiearbeit machte. Die Auffuhrung an den Münchner Kammerspielen, an denen Brecht nach seinem Erfolg als Autor vorübergehend einen Vertrag als Regisseur gefunden hatte, provozierte erneut einen Skandal, weil der offensichtlich unter Alkoholwirkung stehende Hauptdarsteller in der Premiere seinen Text vergessen hatte und der Souffleur so laut intervenieren mußte, daß man ihn bis in die hinteren Reihen des Parketts zu hören bekam. Indes, ein Lob für die Regie gab es trotz alledem. Was „bezwang", hieß es in einer Besprechung des Stücks, „war, daß Brecht als Regisseur an das Theater heranging, als ob es nie Regie gegeben hätte."52 Die Kunst Brechts bestand, aus der Sicht des Kritikers, darin, „das, was sich als Größe in die Schauspielkunst und in die Vorstellungswelt des Publikums eingeschlichen" - und trotz Hauptmann, Hofmannsthal und Reinhardt noch nicht entfernt hatte - zu entlarven.53 Mit anderen Worten: Seine „theatergeschichtliche Tat" lag, so der Kritiker, darin, daß er „Größe" durch „Distanz" ersetzte und dergestalt einen „Wendepunkt des klassischen Theaters" markierte. Konkret bedeutete dies: „Er nahm den Schauspielern die .Gemütlichkeit', die sich temperamentvoll anbiedert. Er forderte Rechenschaft über die Vorgänge. Er verlangte einfache Gesten. Er zwang zu klarem, kühlem Sprechen. Keine Gefuhlsmogelei
50
Zit. n. Mittenzwei, Bertolt Brecht, B d . l , 173.
51
Ebd. Herbert Jhering, Zur Uraufführung von Brechts „Leben Eduards des Zweiten von England" in
52
den Münchner Kammerspielen, in: ders., Bert Brecht, 24f. 53
Ders., Brecht und das Theater, 10.
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wurde geduldet."54 Der Kritiker, der die Auffuhrung trotz der Premierenpanne zu retten versuchte, war Jhering. Das Unternehmen Jhering: Kein Zweifel, in puncto Regiefuhrung und Inszenierungstechnik zogen Jhering und Brecht, Kritiker und Autor, ebenso an einem Strang wie in bezug auf die Notwendigkeit der Fortentwicklung des modernen Dramas über den Naturalismus und Expressionismus hinaus. Unter dem Titel Der Kampf ums Theater hatte Jhering 1922 ein Buch veröffentlicht, in dem er Stellung zu den neuesten Entwicklungstendenzen des Dramas sowie zu dessen Repräsentation auf der Bühne bezog. Mit der Wahl des Titels knüpfte er an seinen Großonkel, den Juristen Rudolf von Jhering an, der 1898 ein Buch mit dem Titel Der Kampf ums Recht publiziert hatte. Es ging ihm indes nicht nur um einen rhetorischen Coup. Was er erstrebte war vielmehr, eine neue Beziehung zwischen Wort und Gebärde durch eine andere Schauspielkunst zu schaffen, mithin Sprechen und Körpersprache zu reformieren, sowie das Drama und die Institution des Theaters überhaupt. „Der Kampf ums Theater", so Jherings These, „wird der Kampf um den künstlerischen Ausdruck der Zeit. Der Kampf ums Theater wird der Kampf ums Drama".55 Jherings Plädoyer mündete in die Forderung nach mehr „Sachlichkeit", richtete sich auf die Überwindung des Expressionismus ohne Rückfall in den Naturalismus.56 Sein Engagement für ein .anderes' Theater bezog auch die Veränderung der Rolle des Kritikers mit ein. Jhering schrieb dem Theaterkritiker eine „produktive" Rolle im Prozeß der Veränderung des Theaters und des Dramas zu. Produktiv konnte der Theaterkritiker jedoch, aus seiner Sicht, nur sein, wenn er mit den etablierten Formen der Theaterkritik brach: der „spielerischen", „feuilletonistischen", „kulinarischen" Kritik, der „critique pour la critique".57 Nur durch Selbstreflexion und Selbstkritik des Kritikers, mit anderen Worten, durch die Kritik der zeitgenössischen Theaterkritik, die, aus seiner Sicht, noch immer der Vorkriegszeit verhaftet war und „für ein Publikum der Vorkriegszeit" schrieb, war ein solcher Bruch herbeizufuhren. Ihn anzubahnen, setzte er sich im Rahmen des Feuilletons des Berliner Börsen-Couriers zum Ziel, das, aus seiner Sicht, einen „Staat im Staat" im Rahmen dieser Zeitung (mit einer Auflage von 40 000 Exemplaren58) bildete. Ein Ensemble Gleichgesinnter war, so Jherings Prämisse, die conditio sine qua non, um mittels Theaterkritik ein neues Theater durchzusetzen, ein Einzelkämpfer vermochte dies nicht. Als er zu Beginn der zwanziger Jahre gemeinsam mit Emil Faktor den 54
Ders., Brechts „Eduard II." als Wendepunkt des klassischen Theaters, in: ders., Bert Brecht, 5052,51.
55
Ders., Der Kampf ums Theater, in: ders., Der Kampf ums Theater und andere Schriften (19181933), Berlin 1974, 133-183, 165.
56
Ebd., 182. Ders., Die Aufgabe der Theaterkritik. Gespräch zwischen Herbert Jhering und Bernard Guillemin (1926), in: ders., Der Kampf ums Theater, 13-16.
57
58
Zum Vergleich: Die Vossische Zeitung erschien in 75 000 Exemplaren, das Berliner Tageblatt in 200 000 Exemplaren, die Berliner Morgenpost in 600 000 Exemplaren; vgl. dazu Pfohlmann, Literaturkritik in der Weimarer Republik, 125.
Theater und Politik: Bertolt Brechts Eingreifendes
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Kulturteil des Berliner Börsen-Couriers übernahm, hatte er damit begonnen, ein solches Ensemble aufzubauen; bestrebt, „durch den Zusammenklang verschiedener, selbständiger, sich ablösender, aber immer wieder sich ergänzender Solo-Instrumente" eine Art „Orchester der Mitarbeiter" zu schaffen.59 Die Mitarbeiter des Kulturteils des BörsenCouriers rezensierten alle Sparten des Theaters. Sie kommentierten zudem nicht nur die Premierenfassungen, sondern tauchten als kritische Prüfer immer wieder im Theater auf, auch nach zehn oder zwanzig Auffuhrungen, wenn häufig lediglich die , zweite Besetzung' spielte. Sie beschränkten sich zudem nicht auf die Theater in Berlin, sondern zogen durch das ganze Land, berichteten von Auffuhrungen in der Provinz.60 Jhering selbst ließ es sich nicht nehmen, in jede Stadt zu reisen, in der ein Brecht-Stück aufgeführt wurde; wissend, daß es mit herkömmlichen Mitteln nicht zu spielen war, um so neugieriger jedoch auf jeden neuen Versuch, ein Brecht-Stück auf die Bühne zu bringen.61 Jhering war mehr als nur ein Kritiker, Jhering war ein Unternehmen in Sachen Theaterkritik und -reform. Indem er sich und sein Unternehmen für Brecht, den Autor und Regisseur, einsetzte, ließ er Brecht vielstimmige und vielfältige Anerkennung zuteil werden und bot sich ihm zugleich als Bündnispartner an im Kampf um die Entwicklung des modernen Theaters.62 Abgrenzung vom politischen Theater Piscators: „Aufklärung, Wissen und Erkenntnis sollte es vermitteln" das neue Theater: nicht mehr allein gefühlsmäßig wirken, sondern sich ganz bewußt an die Vernunft wenden, so Erwin Piscator, der die ersten Versuche, die Berliner Theatersäle zu verändern, unternahm.63 1893 geboren und damit fünf Jahre älter als Brecht, gab Piscator den ersten Weltkrieg als entscheidende Wende in seinem Leben an. „Unsere Generation" schrieb er, dessen geistiges Geburtsdatum auf den 4. August 1914 datiert wird,64 „hat sich bewußt in Opposition gesetzt gegen die Überwertigkeit, die Überbewertung des Gefühls."65 Stimmte Brecht in dieser allgemeinen Zielorientierung mit Piscator überein, unterschieden sich beide jedoch in der Umsetzung der Ziele. Zwar anerkannte Brecht Piscators Wendung des Theaters zur Politik, grenzte aber sein Theater vom politischen Theater Piscators ab. Im Messingkauf (19391955) führte Brecht die Differenzen auf unterschiedliche Lebenswege und Erfahrungen zurück: „Der Piscator machte vor dem Stückeschreiber Theater. Er hatte am Krieg teilgenommen, der Stückeschreiber nicht. Die Umwälzung im Jahr 18, an der beide teilnahmen, hatte den Stückeschreiber enttäuscht und den Piscator zum Politiker gemacht. Erst später kam der Stückeschreiber durch Studium zur Politik."66 In der Tat war Pisca-
59
Zit. n. Krall, Herbert Jhering, 12.
60
Ebd., 13.
61
Ebd., 21.
62
Vgl. zu Jhering und der Theaterkritik der Weimarer Republik: Schöne, Neuigkeiten, 106ff. Erwin Piscator, Das politische Theater, Reinbek 1963, 49f.
63 64 65 66
Vgl. dazu Heinrich Goertz, Piscator, Reinbek 1995 3 , 18. Ebd., 85. Bertolt Brecht, Der Messingkauf, in: ders., Schriften 3, GBA Bd.22.2, 695-869, 753.
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tor nach der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in die Kommunistische Partei eingetreten 67 , hatte 1920/21 am Experiment eines Proletarischen Theaters, konzipiert als Propagandabühne der Arbeiter Groß-Berlins, mitgewirkt und im Auftrag der Kommunistischen Partei 1924/25 politische Revuen inszeniert. 68 In der Revue roter Rummel sowie in Trotz alledem hatte er versucht, Zeitgeschichte auf die Bühne zu bringen, „die Zeit selbst, das Schicksal der Massen", nicht das persönliche Schicksal einzelner zum Gegenstand einer neuen Dramatik zu machen. 69 Aus der Sicht Brechts hatte Piscator damit die „Stoffrage" gestellt, dem Theater neue Stoffe zugeführt. Er hatte ferner durch seine innovative Bühnentechnik das Theater „elektrifiziert" und damit auf den technisch neuesten Stand gehoben, den Bühnenboden durch die Einfügung eines „laufenden Bandes" beweglich gemacht und die Kulisse durch Einsatz des Films zum Mitspielen gebracht. 70 Das Theater hatte dadurch, so Brecht, „eine unbedingt notwendige Umstellung" erfahren, „revolutioniert" worden war die Theaterproduktion aber nicht.71 Denn Arbeiter und ihre kommunistisch inspirierten Ansichten auf die Bühne zu bringen oder revolutionären Geist durch Bühneneffekte zu übertragen, machte, aus der Sicht Brechts, noch nicht die Revolutionierung des Theaters aus. Im Gegenteil: „Die Revolutionierung des Theaters für Zwecke des Klassenkampfes" bot „eine Gefahr für die wirkliche Revolutionierung des Theaters". 72 Was aber war die „wirkliche" Revolutionierung des Theaters? Sie mußte eine neue Art von Drama ermöglichen, und eben dies tat die Piscatorbühne, nach Auffassung Brechts, nicht. Neue Stoffe reichten nicht aus, um ein neues Drama zu begründen, diese mußten vielmehr erst „alt" gemacht werden, um vom Drama erfaßt werden zu können. Piscators Versuche, Tageskämpfe zu dramatisieren, Auffuhrungen aus Reden, Zeitungsartikeln, Aufrufen und Flugblättern zu montieren, und den Zuschauer mit sozialen Problemen zu konfrontieren, um ihn zur direkten Aktion zu motivieren, blieben daher hinter Brechts Ansprüchen und Erwartungen an ein neues, revolutionäres Theater zurück, in dem die „Formfrage" vor der „Stofffrage" rangierte und Parabeln, Umschreibungen, Übersetzungen von Gegenwartsfragen an die Stelle von Losungen und praktischen Lösungen rückten. „Sobald ich Schauplätze habe, die nicht mit Wirklichkeit übereinstimmen", lautete seine Devise, „geht es mir gut." 73 Damit war die strikte Abgrenzung vom politischen Agitprop-Theater vollzogen, ohne daß ein Verzicht auf ein politisches Theater ausgesprochen war. Wie stellte Brecht sich dieses vor?
67
Goertz, Piscator, 26.
68
Ebd., 28f., 38 ff.
69
Ebd., 131.
70
Vgl. Bertolt Brecht, Der Piscatorsche Versuch sowie Primat des Apparats, in: Bertolt Brecht, Schriften zum Theater I (1918-1933), hg. von Werner Hecht, Frankfurt a.M. 1963, 188-192.
71
Vgl. ders., Piscatortheater, in: ebd., 195-196, 195.
72
Ders., Über eine neue Dramatik (1928), in: ebd., 196-205, 204. Zit. n. Fuegi, Brecht & Co., 294.
73
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Episches Theater ä la Brecht: „Als ich ,Das Kapital' von Marx las", notierte Brecht, „verstand ich meine Stücke. Man wird verstehen, daß ich eine ausgiebige Verbreitung dieses Buches wünsche. Ich entdeckte natürlich nicht, daß ich einen ganzen Haufen marxistischer Stücke geschrieben hatte, ohne eine Ahnung zu haben, aber dieser Marx war der einzige Zuschauer für meine Stücke, den ich je gesehen hatte; denn einen Mann mit solchen Interessen mußten gerade meine Stücke interessieren, nicht wegen ihrer Intelligenz, sondern wegen der seinigen; es war Anschauungsmaterial für ihn."74 Die Marxsche Methode, das war für Brecht der dialektische Materialismus. Dialektik als „Betrachtungsweise der Welt"75 sowie als „Denkmethode"76 rezipierend, erwarb er ein Instrumentarium, Widersprüche in der Gesellschaft aufzuzeigen und dadurch „über die bloße Zustandsschilderung" des naturalistischen und expressionistischen Dramas „hinaus zur Diskussion und Kritik des Gesamtzustandes überzugehen"77. Mehr noch: Seine Versuche, Dialektik auf die Bühne zu bringen, versetzten ihn in die Lage, „Zustände in Prozesse aufzulösen", die „Zusammenhänge der Handlungen" zu akzentuieren sowie alternative Handlungsweisen sichtbar zu machen.78 Brechts dialektisch konzipiertes episches Theater erteilte allen Formen von .Abbildung', das heißt bloßer Reproduktion von Wirklichkeit, eine Absage. Zwar versuchte auch er, wie er schrieb, „die heutige Welt, das heutige Zusammenleben der Menschen, in das Blickfeld des Theaters zu bekommen", aber beschreibbar war „die heutige Welt den heutigen Menschen" aus seiner Sicht „nur, wenn sie als eine veränderbare Welt beschrieben wird."79 Die Beschreibung der Veränderbarkeit der Welt mit den Mitteln des Theaters erforderte eine Veränderung des Theaters: eine neue Dramatik, ein neues Publikum, neue Darstellungsweisen auf der Bühne. Das ,neue' Theater ging aus Kritik und Negation des alten hervor; vier Antithesen, die für Brechts Definition der Rolle und Aufgabe des Intellektuellen wichtig sind, seien genannt: Erstens: Das nichtaristotelische Theater negierte die von Aristoteles als Zweck der Tragödie gesetzte .Katharsis', die Reinigung des Zuschauers durch einen psychischen Akt der Identifikation mit den handelnden Personen. Menschliche Schicksale waren, so Brechts Prämisse, nicht mehr in der alten Form des Dramas darzustellen, weil „die entscheidenden Vorgänge unseres Zeitalters" durch Einfühlung in das Schicksal von Einzelpersönlichkeiten nicht mehr begriffen werden konnten, ganz abgesehen davon, daß
74
Bertolt Brecht, Der einzige Zuschauer für meine Stücke (1928/29), in: ders., Schriften 1, GBA Bd.21, 256-257, 256.
75
Ders., Beschreibung des Denkens (1930/31), in: ebd., 424.
76
Ders., Dialektik (1931/32), in: ebd., 519.
77
Ders., Der soziologische Raum des bürgerlichen Theaters, in: ders., Schriften zum Theater I, 235238, 237.
78
Ders., Die Dialektische Dramatik (1930/31), in: ders., Schriften 1, GBA B d . 2 1 , 4 3 1 - 4 4 0 , 439.
79
Ders., Kann die heutige Welt durch Theater wiedergegeben werden? in: ders., Schriften zum Theater. Über eine nicht-aristotelische Dramatik, Frankfurt a.M. 1957, 7-9.
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sie durch Einzelpersönlichkeiten nicht mehr zu beeinflussen waren.80 Die Versuche (unter anderen Piscators), die Einfuhlungstechnik so umzugestalten, daß die Identifikation den Kollektiven (Klassen) galt, als „nicht aussichtsreich", „unrealistisch" und „vergröbernd" erachtend, setzte er an die Stelle von „Einfühlung" (Identifikation) „Erstaunlichkeit und Befremdlichkeit", mithin kritische Distanz. Dies hatte Folgen für das Verhältnis von Bühne und Publikum. Zweitens: Das nichtaristotelische Theater negierte das Theater als „Abendunterhaltung" und den Zuschauer als „Konsumenten". Das Theater sollte nicht länger „Feierstätte" sein, sondern „Denkstätte" werden, der Zuschauer eine aktive Rolle einnehmen, zum kritisch reflektierenden Betrachter des Bühnengeschehens werden. Dies setzte eine neue Form der Übermittlung des Kunstwerks an den Zuschauer voraus. Drittens: Eine „Dramatik neuer Art, die gesellschaftlich eingreifendes Verhalten der Zuschauer ermöglicht", mußte zur distanzierten Betrachtung des auf der Bühne Geschilderten, zur Erkenntnis sozialer Kausalkomplexe und somit zum Verständnis der „Vorgänge hinter den Vorgängen" anleiten.81 Die Nicht-Identifikation von Zuschauer und Bühne verlangt die „Verfremdung", das Fremdmachen, Entfremden gesellschaftlicher Phänomene82, aber auch eine Veränderung der Schauspielkunst, der Gestik, Mimik, Sprache des Schauspielers als Vermittler von Ereignissen und Verhaltensweisen. Viertens: Vom Schauspieler wurde gefordert, daß er das, was er zu zeigen hat, mit dem deutlichen Gestus des Zeigens versieht. Verhindert werden sollte dergestalt, daß er auf der Bühne sich restlos in die darzustellende Person verwandelt. Durch den VEffekt, der das Auge lenkte, sollte aus einem gewöhnlichen, bekannten Vorgang/Ding etwas Unerwartetes gemacht werden. Mit anderen Worten: Das Selbstverständliche sollte unverständlich gemacht werden, damit es um so verständlicher wurde.83 Die Redefinition dessen, was ein Drama ist und kann, die Veränderung des Theaterstils und die Antizipation eines neuen Theaterpublikums implizierten eine Revolutionierung des Theaters als Institution, die, aus Brechts Sicht, nicht in der Macht einzelner und sei es noch so begabter Theaterleiter oder Regisseure lag. Denn: Wenn Standard Oil, so seine Argumentation, zwar von Rockefeiler aufgebaut, aber nicht einfach zu einem gemeinnützigen Unternehmen umgebaut werden konnte, ohne ruiniert zu werden, war die Umwandlung des Theaters nicht bloß eine Sache der Theatermacher. Indes, Brecht fügte sich nicht der ökonomischen Logik, sondern begehrte gegen diese auf: „Der Schrei nach einem neuen Theater", konstatierte er, sei „der Schrei nach einer neuen Gesellschaftsordnung." Dies implizierte nicht, wie Klaus-Dieter Krabiel unterstellt,
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81
Bertolt Brecht, Thesen über die Aufgabe der Einfühlung in den theatralischen Künsten, in: ders., Schriften zum Theater III, hg. v. Werner Hecht, Frankfurt a.M. 1963, 28f. Ders., Die Vorgänge hinter den Vorgängen, in: ders., Schriften zum Theater III, 44-49.
82
Zur Problematik der Verfremdung vgl. Jörg Wilhelm Joost, Zum Theater, in: Jan Knopf Hg., Brecht Handbuch, Bd.4: Schriften, Journale, Briefe, Stuttgart 2003, 172-188.
83
Bertolt Brecht, Kurze Beschreibung einer neuen Technik der Schauspielkunst, die einen Verfremdungseffekt hervorbringt, in: ders., Schriften 2/2, GBA 22.2, 641-659, 655.
Theater und Politik: Bertolt Brechts ,Eingreifendes Denken'
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daß die Gesellschaftsveränderung der Veränderung des Theaters notwendigerweise vorausgehen mußte. Ergänzte Brecht doch: „Was die besten unter den heutigen Theaterleitern tun können, ist, sich immer wieder zu bemühen, Ausnahmen zu konstruieren, das heißt ausnahmsweise auf dem Theater geistige Betätigung zu ermöglichen."84 Den Versuch, diese Ausnahme zu realisieren und damit ein .anderes' Theater bereits unter den bestehenden gesellschaftlichen Bedingungen experimentell zu erproben, unternahm er selbst. Versucht man, bevor dieses Experiment skizziert werden soll, eine Zwischenbilanz zu ziehen, grenzte sich Brecht mit .seinem' epischen Theater nicht nur von der aristotelischen Dramatik ab, sondern auch und vor allem von seinem Konkurrenten im Feld des Theaters, Piscator. Während Piscator danach strebte, mittels des Theaters in die Politik zu intervenieren, mit den Mitteln des Theaters den Klassenkampf zu intensivieren und politische Entscheidungsprozesse zu forcieren, ging es Brecht darum, Klassifikationsund Wahrnehmungsschemata, Einstellungen und Haltungen zu „entscheidenden Vorgängen unseres Zeitalters" zu verändern und über die Veränderung der Verhaltensdispositionen das politische Handeln. Sein politisches Theater zielte nicht unmittelbar auf die Revolution, sondern auf die Revolutionierung der Köpfe. Anders und analytisch zuspitzend formuliert: Brecht intervenierte mittels des Theaters nicht in die Politik, sondern in den Raum des Politischen, der den politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen vorgelagert ist. Er versuchte, durch seine Theaterarbeit gleichsam ,νοη unten' Einsicht und Erkenntnis zu schaffen, Reflexion und Kommunikation einzuleiten über die Mächte, die den einzelnen sowie soziale Gruppen und die Gesellschaft überhaupt ihren Logiken unterwarfen, zugleich aber auch mit seinem Theater, verstanden als eine Art Gegeninstitution innerhalb der Theaterlandschaft, Phantasien, Energien, Interessen freizusetzen, die auf eine Veränderung bestehender Machtverhältnisse zielten. Experimentell, davon war er überzeugt, konnte das ,neue' Theater auch unter den Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise, die auf die Theaterproduktion wirkten, erprobt werden. Brecht war daher nicht bereit, das Theater aufzugeben und das Drama „zu liquidieren", wie der Soziologe Fritz Sternberg forderte, mit dem er im Frühjahr 1927 im Berliner Börsen-Courier eine öffentliche Kontroverse über den „Niedergang des Dramas austrug."85 Im Gegenteil, er plädierte dafür, die Versuche zur Schaffung des „großen epischen und dokumentarischen Theaters" - eines Theaters, das, aus seiner Sicht, der Gegenwart gemäß war86 - ständig zu erneuern, und ging von der „Verpflichtung und
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Ders., Über eine neue Dramatik, in: ders., Schriften zum Theater 1, Gesammelte Werke (GW) 15, Frankfurt a.M. 1967, 169-176, 172.
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Die Beiträge Sternbergs sind abgedruckt in: Sternberg, Dichter, 58ff.; Brechts Stellungnahme trug den Titel „Sollen wir nicht die Ästhetik liquidieren", vgl. Bertolt Brecht, Schriften zum Theater 1, GW 1 5 , 1 2 6 - 1 2 9 .
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Bertolt Brecht, Theatersituation 1917-1927, in: ders., Schriften zum Theater 1, GW 15, 125f.
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Möglichkeit" aus, „das Theater einem anderen Publikum zu erobern".87 Sternberg machte in seiner Replik Zweifel geltend: „Sie sagen: episches Theater, da werden zwei Fragen laut: ist es ein Zufall, daß gerade Sie vom epischen Theater sprechen - und haben Sie Wort gehalten: ist das, was Sie bisher gegeben haben, episches Theater, oder zumindest, weist es einen Weg zum epischen Theater? Die beiden Fragen hängen natürlich eng miteinander zusammen. Sie wissen, die Zahl derer, die Sie als Dramatiker ablehnen, ist nicht gering, und es sind unter ihnen manche, die Ihre Balladen lieben. Warum ist Brecht nicht bei seinen Liedern geblieben, warum wagt er sich - so hört man oft - auf Gebiete, für die sein Talent nicht ausreicht? Er ist ein Balladen-Dichter, und wenn er sich aufs stärkste intensiviert, so wird ihm vielleicht ein großes Epos glücken. Sprechen Sie nun das Wort .Episches Theater', so höre ich schon, wie die Meute kläfft: Aha, er hat aus der Not eine Tugend gemacht. Er ist ein Epiker, aber ein Epiker, der partout aufgeführt werden will, und so vermischt er Epik und Theater. Damit ist aber weder etwas für das Epos noch für das Theater gewonnen."88 Die Kontroverse wurde im Berliner Börsen-Courier nicht fortgeführt. Brecht handelte. Experimente: Der Durchbruch kam unverhofft. Eigentlich war es nur ein .Nebenwerk', das er fertigstellte, weil man ihn darum bat, nahezu drängte, und weil er im Vertragsabschluß eine Alimentierungschance sah. Beschäftigt war er mit anderen Werken {Fatzer und Joe Fleischhacker), für die er jedoch keine Theaterproduzenten zu interessieren vermochte, und so willigte er ein, vollendete und übergab: Die Dreigroschenoper. Man schrieb das Jahr 1928. Der Schauspieler Ernst Josef Aufricht, der 1923 gemeinsam mit dem Regisseur Berthold Viertel eine Schauspielgruppe, die „Truppe", gegründet hatte, die, das , Staatstheater' ablehnend, auf gemeinschaftlicher Basis, als Ensemble arbeitete, trat an Brecht heran. Mit dem kollektiven, ökonomische Konzessionen ablehnenden Unternehmen an der Inflation gescheitert, war er dabei, einen neuen Versuch auf dem Gebiet des Theaters zu machen, diesmal als Theaterbesitzer und -Produzent. Eine größere finanzielle Zuwendung seines Vaters, eines wohlhabenden jüdischen Unternehmers aus Oberschlesien, hatte ihn in die Lage versetzt, ein Theater, das „Theater am Schiffbauerdamm", zu kaufen. Zur Einweihung dieses Theaters und zur Distinktion von anderen Theatern suchte er ein „neues" Stück. Aufricht hatte bei vielen Dramatikern angefragt, bevor er mit Brecht abschloß. Der Erfolg überraschte beide. Das Stück, für das Kurt Weill die Musik komponierte, wurde zum Publikumserfolg, nicht nur in Deutschland. Die Songs, von der Schallplattenindustrie schnell reproduziert, avancierten zu Gassenschlagern. Brecht hatte, was er stets gesucht hatte, Erfolg. Doch manövrierte ihn dieser Erfolg, der sich nicht zuletzt in ökonomischem Kapital niederschlug (als erstes kaufte er sich ein Auto), gleichsam über Nacht, analytisch gesprochen, vom Pol der literarischen Avantgarde und mithin der „eingeschränkten Produktion" in die Position eines Erfolgsautors, der von einem Massenpublikum
87
Ders., Sollen wir nicht die Ästhetik liquidieren?, 129.
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Sternberg, Dichter, 68.
Theater und Politik: Bertolt Brechts ,Eingreifendes Denken'
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rezipiert wurde. „Einbruch in die Verbraucherindustrie"89 nennt Brechts Biograph Mittenzwei daher den Erfolg. John Fuegi berichtet, daß Brecht mit den Tantiemen der Dreigroschenoper sowie einem väterlichen Darlehen ein Landhaus am Ammersee (1932) erwarb und zitiert in diesem Zusammenhang Heiner Müllers Diktum: „Ohne Hitler wäre aus Brecht nicht Brecht geworden, sondern ein Erfolgsautor."90 Tatsache ist, daß Brecht den Erfolg der Dreigroschenoper fortzuschreiben suchte.91 Tatsache ist jedoch auch, daß er an seiner Vision eines ,neuen' Theaters festhielt. Er begann, an den Lehrstücken zu arbeiten, die ihm kaum etwas einbrachten, aber seine anhaltende Suche nach „aktuellen Produktionen für ein neues Publikum" dokumentierten.92 Die Schuloper Der Jasager wurde zum ersten Mal im Sommer 1930 im „Zentralinstitut fur Erziehung und Unterricht" aufgeführt. Eine Neufassung des Stücks übte Brecht selbst wenig später mit Lehrern und Schülern der Neuköllner Karl-Marx-Schule ein. Weitere Aufführungen in Schulen (Frankfurt und Höchst) folgten93, die, zumindest an der Peripherie, veranschaulichten, daß Formen des Theaters denkbar waren, in denen die Zuschauer nicht nur Anwesende, sondern Mitwirkende waren. Im Zentrum der Arbeit an den Lehrstücken stand für Brecht jedoch der Versuch, „neues" Theater und „neue Musik" in Verbindung zu setzen94, um mittels dieses „Experiments" den herrschenden Opembetrieb zu kritisieren. Ziel des Experiments war, eine „Umgestaltung der Apparate" einzuleiten sowie auszuprobieren, wie sich Klangkörper, Figuren und Rollenträger, die normalerweise getrennt waren (Solisten, Laienorchester, Blaskapellen, Clowns, Sprecher) zur kollektiven Kunstausübung zusammenführen ließen.95 Das Badener Lehrstück vom Einverständnis, auf dem Baden-Badener Kammermusikfest 1929 vorgestellt, löste einen derartigen Skandal aus, daß Brecht sich veranlaßt sah, seine rein „experimentalen Zwecke" herauszustreichen. Vergeblich. Die Festspielleitung forderte ihn und Paul Hindemith im nächsten Jahr auf, ihren Beitrag einem Programmausschuß zu Kontrolle vorzulegen, bevor er ins offizielle Programm aufgenommen wurde. Brecht wehrte sich gegen diese „Zensur" und zog seinen Beitrag zurück.96 Die Beispiele zeigen, die Lehrstücke provozierten selbst in den Kreisen, in denen an einer Erneuerung der Musikkultur gearbeitet wurde. Nicht nur die musikalische, sondern auch die politische Avantgarde ging auf Distanz zu Brecht. Als das Lehrstück Die Maßnahme, in dem das Verhalten von drei kommunistischen Agitatoren zur Diskussion gestellt wurde, im Dezember 1930 in Berlin uraufgeführt wurde, kritisierten die Vertre89 90
Mittenzwei, Bertolt Brecht, Bd. 1, 273f. Vgl. Fuegi, Brecht & Co., 392.
91
Mit „Happy End" - allerdings vergeblich, vgl. dazu Fuegi, Brecht & Co., 325ff.; Mittenzwei, Bertolt Brecht, Bd. 1, 294ff.
92
Klaus-Dieter Krabiel, Zu Lehrstück und „Theorie der Pädagogien", in: Knopf Hg., Handbuch, Bd.4, 65-89, 66.
93
Völker, Bertolt Brecht, 160; Fuegi, Brecht & Co., 350.
94
Krabiel, Zu Lehrstück und „Theorie der Pädagogien", 65.
95
Ebd., 72.
96
Fuegi, Brecht & Co., 347.
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ter der Kommunistischen Partei das Stück vehement. Bürgerliche Kritiker warfen ihm vor, die kommunistische Parteidisziplin zu propagieren, weil der Schlußchor am Ende Einverständnis mit den Agitatoren, die einen ihrer Genossen töteten, signalisierte, und verkannten dabei, daß Brechts Theater Distanz, nicht Einfühlung, sondern Infragestellung der Vorgänge auf der Bühne verlangte:. „Der Zuschauer des dramatischen Theaters sagt: Ja, das habe ich auch schon gefühlt. - So bin ich. Das ist nur natürlich. - Das wird immer so sein. [...] Der Zuschauer des epischen Theaters sagt: Das hätte ich nicht gedacht. - So darf man es nicht machen. - Das ist höchst auffallig. - Das muß aufhören."97 Kein Zweifel, Brecht geriet zwischen die Fronten. Er wurde von den einen als Kommunist apostrophiert und von den anderen als Handlanger der bürgerlichen Kampagne gegen den Kommunismus. Was tat er in dieser Situation? Brecht systematisierte die Grundlagen seiner ,Experimente' und entfaltete, unterstützt von Peter Suhrkamp, in den Anmerkungen zur Oper , Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny' die ersten systematischen Bausteine seiner Theorie des epischen Theaters. Die ästhetische Theoriearbeit wurde begleitet und flankiert von einem vertiefenden Studium des Marxismus, für das Brecht einen, .seinen' marxistischen .Lehrer' fand: Karl Korsch. Der Rechtswissenschaftler und Philosoph, der 1923 für die Kommunistische Partei das Amt des Justizministers in Thüringen wahrgenommen hatte, 1926 jedoch von der Partei ausgeschlossen worden war, hielt in der Wohnung Brechts seit 1929 regelmäßig Vorlesungen mit anschließenden Diskussionen, in deren Zentrum eine kritische Aneignung der marxistischen Theorie mit dem Ziel der Überwindung des als dogmatisch erstarrt angesehenen Marxismus der Arbeiterparteien stand. Es war diese theoretische Parallelaktion, die zur Entstehung des Konzepts des Eingreifenden Denkens führte, das Brecht auf der Bühne und mittels der Bühne über das Theater hinaus, zugleich aber auch durch die Gründung einer Zeitschrift Krisis und Kritik zu realisieren suchte. Die Stellungnahmen eines Autors werden, so die Hypothese Bourdieus, durch seine Stellung im Feld der kulturellen Produktion, dem intellektuellen Feld, geprägt. Was charakterisierte Brechts Position in diesem Feld? Versucht man ein Fazit seiner Arbeit in den Jahren 1928-1933 zu ziehen, läßt sich sagen: Brecht hielt trotz der Erfolge, die er mit der Dreigroschenoper und Mahagonny erzielte, trotz seiner partiellen Vorstöße in die Verbraucher- und Massenindustrie, an seinem Anspruch fest, Neuerer innerhalb des intellektuellen Feldes, mithin analytisch definiert, Vertreter einer Avantgarde zu sein, welche die Spielregeln und die Struktur des Feldes einschließlich seiner Institutionen (Apparate) grundsätzlich in Frage stellte. „Die Erfolgsaussichten von Bewahrungs- wie Umsturzstrategien hängen", folgt man Bourdieu, „immer auch von der Verstärkung ab, die das eine oder andere Lager bei externen Kräften finden kann."98 Subversive Ansichten werden, last but not least, ermöglicht bzw. verhindert durch den
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98
Bertolt Brecht, Vergnügungstheater oder Lehrtheater? (1935), in: ders., Schriften 2/1, G B A Bd.22.1, 106-116, 110. Bourdieu, Die Regeln der Kunst, 370.
Theater und Politik: Bertolt Brechts ,Eingreifendes Denken'
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Wandel zwischen dem intellektuellem Feld und dem Feld der Macht." Ausgehend von diesen Hypothesen, sollen nachfolgend die Möglichkeiten und Grenzen von Brechts Konzept des Eingreifenden Denkens entfaltet werden.
III. Das Mandat des Intellektuellen: Brecht sei, was den täglichen Kampf gegen den Faschismus angehe, so die These Fuegis, in den letzten Jahren der Weimarer Republik „nicht so aktiv" gewesen.100 Entweder habe er nicht erkannt, „wie schlimm" die Lage war, oder aber sich den sowjetischen Standpunkt zu eigen gemacht, daß Hitler, wenn er wirklich an die Macht käme, nur kurz an der Regierung sein würde.101 Mangelnde Einsicht und mangelndes politisches Engagement oder blinde Übernahme der Richtlinien der Kommunistischen Partei? Zwischen diesen Werturteilen schwankt die Wahrnehmung der Rolle Brechts am Ende der Weimarer Republik bei Fuegi, dem amerikanischen Brecht-Biographen schweizer Herkunft. Werner Mittenzwei, der ostdeutsche Brecht-Biograph, steht dem nicht nach. Brechts Haltung sei, ästhetisch wie politisch, lange Zeit durch Unsicherheit, Nicht-Entscheidung gekennzeichnet gewesen. Erst unter dem Druck der wachsenden politischen und ökonomisch-sozialen Spannungen seit dem .schwarzen Freitag' an der New Yorker Börse habe er sich seinen Weg gebahnt. Er habe erkannt, daß der Zeitpunkt gekommen sei, sich zu engagieren. Stücke wie Die Mutter zeigten, daß er sich als „Beauftragter der Partei der Arbeiterklasse" begriffen habe.102 Daraus folgt: War Brecht auch zeit seines Lebens kein Mitglied der Kommunistischen Partei, sah Mittenzwei, selbst Repräsentant der SED, ihn zumindest doch als von der Kommunistischen Partei .beauftragt' an. Der Maxime des demokratischen Zentralismus getreu, ordnete er Brecht der Parteilinie unter und distinguierte sich damit zugleich von seinem westdeutschen Konkurrenten auf dem Gebiet der Deutung des Lebens Brechts, Klaus Völker, der Brecht als „denkbar besten Lehrer" und „gelehrigen Schüler" der Kommunistischen Partei charakterisiert hatte; eine Wertung, die, weit davon entfernt, sozialgeschichtlich überprüft zu sein, ihre Grundlage in der werkimmanenten Methode Völkers findet, der eine Zeile aus einem Brecht-Gedicht zur Grundlage seiner Einordnung Brechts machte.103 Gleichviel, ob Brecht sich nun den Standpunkt der Kommunistischen Partei zu eigen machte, weil er angeblich selbst keinen hatte, von dieser mit einem Auftrag versehen wurde oder aber ihr Lehrer und Schüler war, alle drei Deutungen stellen eine enge Beziehung zur Kommunistischen Partei als das zentrale Charakteristikum Brechts am Ende der Weimarer Republik heraus und zeigen, aus-
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' 0I 102 103
Vgl. ebd. Fuegi, Brecht & Co., 398. Ebd., 393. Mittenzwei, Bertolt Brecht, Bd. 1 , 3 6 8 . Völker, Bertolt Brecht, 182.
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gehend von dieser Perspektive, für die Lebensphase 1928-1933 ein mehr oder weniger unzureichendes Engagement und abweichendes Verhalten auf. Zu fragen ist jedoch: Suchte Brecht tatsächlich Unterstützung/Orientierung fur seine Theatervision im Umkreis der Kommunistischen Partei? Eingreifendes Denken: Mit seinem Konzept des Eingreifenden Denkens, so die These, grenzte Brecht sich von der Kommunistischen Partei ebenso wie vom Typus des marxistischen Intellektuellen in der Tradition Kautskys und Lenins ab. Brecht trat nicht als ein theoretischer Vermittler mit dem Anspruch auf, ,νοη außen' Bewußtsein in die Arbeiterklasse hineinzutragen. Zwar ging es auch ihm um Aufklärung und Bewußtseinsbildung, aber er erhob keinen Anspruch auf Führung des Proletariats, trat nicht als marxistischer , Lehrer' mit Losungen und Lösungen auf, sondern als Künstler, der mit künstlerischen Mitteln einen Prozeß der Selbstaufklärung des Publikums herbeizuführen suchte. Sein Konzept des Eingreifenden Denkens beruhte auf der philosophischen Prämisse, daß Kultur nicht bloß Spiegel und Überbau der ökonomischen Entwicklung ist, sondern ein „selbst entwickelnder Faktor" und „Prozeß"104, der zur Revolutionierung der Gesellschaft beitragen kann. Brecht ging mithin von der subversiven, das Bestehende potentiell transzendierenden Kraft von Kunst und Kultur aus, und schrieb Schriftstellern und Künstlern, insbesondere den Theatermachern, die Möglichkeit zu, Strukturen der Gesellschaft grundlegend zu verändern. Denn „dialektische Kritik" auf dem Theater bot, davon war er überzeugt, die Chance, durch Aufdeckung der Anpassung an gesellschaftliche Strukturen, zu der, aus seiner Sicht, das Verhalten der Menschen tendierte, einzugreifen in den Prozeß der gesellschaftlichen Reproduktion von Strukturen und dadurch zu verhindern, daß „alle Dinge in .Einverleibbare'" sich verwandeln.105 Eine „neue Haltung" herbeizuführen, war, so Walter Benjamin, das, was Brecht anstrebte, und worin er die „einzige Chance" der Kunst im Prozeß der Veränderung der Welt sah.106 Gestützt auf Bourdieu könnte man argumentieren, daß im Zentrum der Transformationsstrategie Brechts zuletzt der Habitus stand, die .inkorporierte Geschichte' von Individuen und Gruppen, die er als sozialstrukturiert und zugleich als strukturierend zu erfassen versuchte. „Nicht wovon einer überzeugt ist, ist wichtig", argumentierte Benjamin unter Rückgriff auf Lichtenberg, um Brecht zu erklären. Und er fuhr fort, wichtig sei vielmehr das, „was seine Überzeugungen aus ihm machen."107 Daraus folgt: Es kam auch und vor allem darauf an zu zeigen, daß „Vorstellungen Folgen haben", sich in Praktiken niederschlagen, mit einem Wort: sozialrelevant sind. Um zu illustrieren, daß und in welcher Weise „Vorstellungen Folgen haben", setzte Brecht 104
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Bertolt Brecht, Thesen zur Theorie des Überbaus, in: ders., Schriften zur Politik und Gesellschaft (1919-1956), 76-78, 76. Ders., Dialektische Kritik, in: ders., Schriften zur Politik und Gesellschaft (1919-1956), 153f., 153. Walter Benjamin, Versuche über Brecht, Frankfurt a.M. 1971, 10. Ebd.
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auf der Ebene der Haltungen an, versuchte er, auf der Bühne sowie mit der Erfindung der Geschichten des Herrn Keuner „Gesten zitierbar", das heißt sieht- und durchschaubar zu machen. Das Konzept des Eingreifenden Denkens, zunächst auf der Bühne erprobt, war jedoch keineswegs auf das Theater beschränkt, sondern übertragbar auf alle wissenschaftlichen, politischen und künstlerischen Gebiete.108 Der kollektive Intellektuelle: Wer waren die Träger des Eingreifenden Denkens? Die Zielgruppe war die Intelligenz, waren die Intellektuellen. Das Konzept des Eingreifenden Denkens baute auf ihr Engagement, setzte jedoch einen Funktionswandel der Intellektuellen voraus, einen Bruch mit der Rolle, die sie bislang wahrgenommen hatten, wenn sie sich einmischten in die Politik; gleichviel, auf welcher Seite des politischen Kampfes, auf Seiten der Bourgeoisie oder des Proletariats. Nicht Stellungnahme im Interesse der herrschenden Klasse oder für den proletarischen Klassenkampf verlangte Brechts Konzeption von den Intellektuellen, sondern zunächst und vor allem eine Analyse der soziologischen Konstitution der Intelligenz, die Erfassung der materiellen Bedingungen, die diese soziale Gruppe prägten. Teil dieser Erfassung war, aus seiner Sicht, die Erkenntnis, daß sich der Intellektuelle in die Arbeiterklasse nicht integrieren könne, ein Untertauchen geradezu „konterrevolutionär" wäre. Was der Intellektuelle mit dem Proletarier verbinde, sei, so seine Argumentation, der Kampf gegen den alten Produktionsapparat sowie die Möglichkeit der Revolutionierung der Produktionsmittel.109 Vor allem in letzterem war, aus Brechts Sicht, der Beitrag der Intellektuellen zur Revolution zu suchen. Überzeugt, daß dieser Beitrag nur ein „intellektueller" sein konnte, unterschied er zwischen dem Typus des „intellektuellen Revolutionärs" und dem des „proletarischen Revolutionärs", für den ersterer stets „verdächtig" bleibe.110 Worauf es ankam, war daher, aus der Sicht Brechts, nicht Intellektuelle in die Arbeiterpartei zu führen, sondern die Intelligenz zu politisieren und zu organisieren, nicht die gesamte, aber einen Teil von ihr. „Notwendig" sei, so hieß es, „ihre Sprengung". 111 Gedacht wurde zunächst an die Gründung einer Organisation der Dialektiker, für die Brecht Fragmente einer Satzung entwarf. Ziel der Gesellschaft fur Dialektiker sollte die Verbreitung und Organisation des „eingreifenden Denkens auf allen wissenschaftlichen, politischen und künstlerischen Gebieten" sein.112 Die Mitglieder der Gesellschaft sollten sich verpflichten, die Lösung bestimmter theoretischer Aufgaben zu übernehmen, „Termine dafür aufzustellen und sie einzuhalten", sowie die „Thesen, die durch die G. ausgearbeitet und von der Mehrheit gutgeheißen" worden waren, „unter Aufgabe
108
Vgl. dazu Bertolt Brecht, Grundlinie für eine Gesellschaft für Dialektiker, in: ders., Schriften 1, GBABd.21,527.
109
Dieter Thiele, Brecht als Tui, in: Urs Bircher Hg., Brechts Tui-Kritik. Aufsätze, Rezensionen, Geschichten, Berlin 1976, 213-233, 218.
1,0
Bertolt Brecht, Typus des intellektuellen Revolutionärs, in: ders., Schriften 1, GBA Bd.21, 257.
111
Bertolt Brecht, Betreffend: eine Organisation der Dialektiker, in: ders., Schriften 1, GBA Bd.21, 526.
112
Ders., Grundlinie für eine Gesellschaft für Dialektiker, 527.
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jeder Kritik nach außen zu vertreten."113 Kein Zweifel, konzipiert war ein intellektuelles Kollektiv, oder, anders formuliert, ein „kollektiver Intellektueller" (Bourdieu). War doch das Denken des einzelnen, so Brecht, „interessenlos" und fast immer „wertlos" und wurde „wertvoll d.h. eingreifend" erst, „wenn mehrere Interessierte Argumente" herbeischafften. 114 Die Gesellschaft - auch Gesellschaft materialistischer Freunde der Hegeischen Dialektik (G.M.F.H.D.) genannt - sollte sich, wie es in einem Vorentwurf hieß, „außerhalb der kommunistischen Arbeiterpartei" konstituieren, „ihren Abschluß" aber in der „organisatorischen Vereinigung mit dieser" finden.115 Aufgenommen in den Satzungsentwurf wurde dieser Passus jedoch nicht, so daß offen bleibt, ob und inwiefern eine Annäherung an die Kommunistische Partei sich realisieren sollte. Vom B e rufsrevolutionär' in der Tradition Lenins oder Trotzkis, dies läßt sich indes konstatieren, grenzten sich die Mitglieder entschieden ab, indem sie sich verpflichteten, „ihren bürgerlichen Beruf und Wirkungskreis nicht aufzugeben".116 Das Projekt, überliefert allein durch fragmentarische Aufzeichnungen, blieb im Ansatz stecken. Eine Autorenzeitschrift·. Zeitgleich konzipiert, aber erheblich weiter gefuhrt wurde das Projekt einer Zeitschriftsgründung unter dem Titel Krisis und Kritik. Federführend an diesem Projekt beteiligt waren Brecht, Benjamin und Jhering. Benjamin charakterisierte das Unternehmen rückblickend mit den Worten: „Die Zeitschrift war geplant als ein Organ, in dem Fachmänner aus dem bürgerlichen Lager die Darstellung der Krise in Wissenschaft und Kunst unternehmen sollten. Das hatte zu geschehen in der Absicht, der bürgerlichen Intelligenz zu zeigen, daß die Methode des dialektischen Materialismus ihnen durch ihre eigenste Notwendigkeit - Notwendigkeit der geistigen Produktion und der Forschung, im weiteren auch Notwendigkeit der Existenz - diktiert sei. Die Zeitschrift sollte der Propaganda des dialektischen Materialismus durch dessen Anwendung auf Fragen dienen, die die bürgerliche Intelligenz als ihre eigensten anzuerkennen genötigt ist." 117
Kein Zweifel, Krisis und Kritik war der Versuch, Eingreifendes Denken zu praktizieren und zugleich zu institutionalisieren. Die Zeitschrift sollte die Praxis eines Konzepts darstellen, das darauf zielte, Denken praktisch und produktiv werden zu lassen. Die Umsetzung des Denkens begann mit der Konzipierung der Organisationsfrage. Die Zeitschrift wurde geplant als Autorenzeitschrift, die nicht von einem/mehreren Herausgebern), sondern von einer Gruppe geleitet werden sollte, unter deren Mitgliedern die verantwortlichen Herausgeber rotierten, das heißt die Herausgeberschaft von Heft zu Heft von jeweils wechselnden Redaktionsausschüssen wahrgenommen werden sollte.118 Im Inneren realisierte die Zeitschrift damit ein Prinzip, das Brecht und Jhering als zent1,3 114
Bertolt Brecht, Satzungen (der G.M.F.H.D.), in: ders., Schriften 1, GBA Bd.21, 528. Brecht zit. n. Erdmut Wizisla, Benjamin und Brecht. Die Geschichte einer Freundschaft, Frankfurt a.M. 2004, 139.
1,5
Bertolt Brecht, Betreffend: eine Organisation der Dialektiker, 526.
116
Ders., Satzungen (der G.M.F.H.D.), 528. Walter Benjamin an Bertolt Brecht, 5.2.1931, zit. n. Wizisla, Benjamin und Brecht, 129. Ebd., 149.
117 118
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rales Element der Erneuerung der kulturellen Produktion erkannt hatten: das Prinzip des Ensembles, des antihierarchisch und basisdemokratisch strukturierten Kollektivs - die Antithese zur Organisationsstruktur der Kommunistischen Partei. Die Außenabgrenzung der Gruppe korrespondierte der Binnenstruktur. Die Zeitschrift grenzte sich gleichermaßen vom Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller ab, der die bürgerlichen Schriftsteller aufforderte, sich in die proletarische Kampfarmee einzureihen, wie vom Kampfbund für deutsche Kultur (um Alfred Rosenberg, Heinrich Himmler, Gregor Strasser), der die künstlerische Avantgarde unter dem Kampfbegriff .Kulturbolschewismus' denunzierte und von der Literatur größere Nähe zum Volk forderte. Die Zeitschrift verstand sich weder als Parteiorgan noch als Propagandazeitschrift des dialektischen Marxismus, sondern als ein autonomes wissenschaftlich-künstlerisches Organ, das eine Brücke zwischen der auf Erneuerung von Kunst und Gesellschaft zielenden literarisch-künstlerischen Avantgarde und Teilen der bürgerlichen Intelligenz herzustellen suchte. Kritik der Kritik: Was erwartete die Gruppe um Krisis und Kritik von der Intelligenz und umgekehrt, was vermochte sie ihr als Ausweg aus der Krise, in die sie geraten war, anzubieten? Die Gruppe erwartete von der Intelligenz einen aktiven Beitrag zur Transformation der Gesellschaft. Dieser Beitrag war weder durch die Verschmelzung mit dem revolutionären Subjekt, der Arbeiterklasse, zu erbringen, noch durch die praktische Negation der Kapitalverhältnisse im politischen Kampf, sondern vielmehr durch einen spezifischen Einsatz ihres Bildungsprivilegs. Erwartet wurde von der Intelligenz: erstens, „die bürgerliche Ideologie zu durchlöchern", zweitens, die „Kräfte, die ,die Welt' bewegen", zu studieren, und, drittens, „die reine Theorie weiterzuentwickeln".119 Brecht akzentuierte, die Hefte von Krisis und Kritik planend, ferner die Notwendigkeit einer „Kritik der Kritik", um neue Maßstäbe einer Kritik zu schaffen und dergestalt die Krise, in welche die Gesellschaft geraten war, durch Kritik nicht nur zu erfassen, sondern auch anzufachen und in die allgemeine Krise zu überfuhren, die den Umschlag der Gesellschaft möglicht machte. Was bedeutete es, mittels Kritik der Kritik das Denken zu verändern? Übertragen auf die Intelligenz als potentiellen Träger von Kritik, könnte man folgern, Kritik der Kritik implizierte die Maxime: über Selbstreflexion und Selbstkritik zu einer neuen, .anderen' Selbstdefinition der eigenen Interessen, des eigenen Standorts, des eigenen Verhaltens zu kommen und dergestalt Denken als ein Verhalten zu begreifen. Die Zeit drängte. Der Faschismus war bereits dabei, so Brecht, Denken als ein Verhalten „zu behandeln" und es als eine Juristische, eventuell kriminelle Handlung" mit entsprechenden Maßnahmen zu beantworten.120 Sein Plädoyer für ein „reflektorisches Denken" läßt sich vor diesem Hintergrund nicht zuletzt als ein Plädoyer zur Wahrung und Verteidigung der Autonomie der Intelligenz deuten. Konnten und sollten Kritik der Kritik und Eingreifendes Denken über die Verteidigung der Autonomie im Feld der kulturellen Produktion hinaus einen Beitrag zur Ver119 120
Brecht, Schriften zur Politik und Gesellschaft (1919-1956), 54. Ders., Das Denken als ein Verhalten, in: ders., Schriften 1, GBA B d . 2 1 , 4 2 1 f .
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änderung der bestehenden Ordnung liefern, durften sie sich indes nicht darin erschöpfen. Eingreifendes Denken, verstanden als dialektische Denktechnik, Schloß stets die Veränderung der Veränderung ein. Diese dialektische Wendung kann sogar zum literarischen Gestaltungsprinzip in Brechts Stücken werden. So heißt es beispielsweise am Schluß des Badener Lehrstücks vom Einverständnis: „Einverstanden, daß alles verändert wird Die Welt und die Menschheit Vor allem die Unordnung Der Menschenklassen, weil es zweierlei Menschen gibt Ausbeutung und Unkenntnis [...] Habt ihr die Welt verbessert, so verbessert die verbesserte Welt, Gebt sie a u f [...] Habt ihr die Welt verbessernd die Wahrheit vervollständigt, so Vervollständigt die vervollständigte Wahrheit Gebt sie auf! [...] Habt ihr die Wahrheit vervollständigend die Menschheit verändert, so Verändert die veränderte Menschheit. Gebt sie auf!" 121
Das leitmotivische „Gebt sie auf!" die verbesserte Welt, die auf das Einverständnis mit der Verbesserung der Welt, der Wahrheit und der Menschheit folgt, entspricht dem Prinzip einer Negation der Negation, das für die literarische Avantgarde des 20. Jahrhunderts charakteristisch ist.122 Indem dieses Gestaltungsmittel das „Immer-weiterSuchen", das „Immer-weiter-Denken" 123 ästhetisch realisiert, unterstreicht es den reflexiven und dialektischen Charakter der angestrebten Veränderung, Verbesserung und Vervollständigung. Nicht das Endziel steht im Vordergrund, sondern die Prozeßhaftigkeit des Denkens wie des gesellschaftlichen Wandels. Somit unterläuft Brecht auch ästhetisch den dogmatischen Standpunkt der Kommunistischen Partei und die teleologische Ausrichtung der marxistischen Geschichtskonzeption. Geht man zudem davon aus, daß die spezifische Formgebung eines künstlerischen Werks zugleich als Positionierung im literarischen Feld sowie über dieses hinaus im Feld der Macht zu verstehen ist, so grenzt sich Brecht bereits durch seine spezifisch dialektische literarische Technik entschieden gegen eine Vereinnahmung als kommunistischer Autor ab. Faßt man zusammen, so läßt sich sagen: Als Vertreter einer literarischen Avantgarde, die eine grundlegende Umgestaltung des Kunst- und Kulturbetriebs erstrebte, schloß Brecht am Ende der Weimarer Republik eine Unterstützung der Kommunistischen Partei und durch die Kommunistische Partei, als politischer Opposition im politischen Feld und mithin externer Kraft, nicht aus. Ihn deshalb als kommunistischen Autor, Beauftragten oder Lehrer der Kommunistischen Partei zu klassifizieren, wird jedoch weder seinen literarischen, noch seinen politischen Stellungnahmen gerecht, klammert die 121
Ders., Das Badener Lehrstück vom Einverständnis, in: ders., Stücke 3, GBA Bd.3, 45f.
122
Vgl. dazu Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, Frankfurt a.M. 1980 2 . Vgl. dazu auch Kesting, Bertolt Brecht, 63.
123
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Kritik der Kommunistischen Partei an Brecht sowie die Ausgrenzung und Ausschaltung all derjenigen sowjetischen Theatermacher (wie Meyerhold, Tretjakow), mit denen Brechts Vision einer Umgestaltung des Theaters sich überschnitt, vollständig aus und läßt, last but not least, gänzlich Brechts Redefinition des Mandats des Intellektuellen außer acht. B.B. - der „spezifische" Intellektuelle: Das kollektive Projekt Krisis und Kritik - erwogen, debattiert und forciert über einen Zeitraum von fast drei Jahren - realisierte sich nicht. Sei es, weil dem Rowohlt Verlag, der die Zeitschrift herausbringen wollte, das Geld ausging, sei es, weil der Berliner Börsen-Courier und die Frankfurter Allgemeine Zeitung ihren jeweiligen Mitarbeitern, Jhering und Bernard von Brentano, den Eintritt in den Herausgeberzirkel untersagten, sei es, weil Walter Benjamin dem ersten Heft vorwarf, nicht auf der Höhe einer Kritik der Kritik zu sein, und sich daher aus dem Unternehmen zurückzog, oder sei es, weil es zu viele Gegensätze und Rivalitäten unter den Autoren des Autorenkollektivs gab, das ,Experiment' blieb im geistigen Experimentierstadium stecken. Dennoch war es ein herausragendes und einzigartiges Unternehmen der Selbstorganisation der Intelligenz am Ende der Weimarer Republik, zum Zwecke der intellektuellen Gegenmachtbildung und intellektuellen Intervention in die Politik. Dafür stehen nicht nur die Namen, die als potentielle Mitarbeiter genannt und zum Teil auch schon kontaktiert wurden: „die Schriftsteller Hermann Borchardt, Alfred Döblin, Albert Ehrenstein, Robert Musil, Hans Sahl und Peter Suhrkamp; die Theaterregisseure und Dramaturgen Slatan Dudow, Leo Lania, Erwin Piscator und Bernhard Reich, die Komponisten und Musiktheoretiker Theodor Wiesengrund-Adomo, Hanns Eisler, Paul Hindemith, Heinrich Strobel und Kurt Weill, die Kunst und Architekturtheoretiker Adolf Behne, Siegfried Giedion und Hanns Meyer sowie Georg Grosz, die Kritiker und Essayisten Erich Franzen, Armin Kesser, Ludwig Marcuse und Erik Reger, die Soziologen Karl August Wittvogel und Fritz Sternberg, die Historiker Herman Kantorowicz und Arthur Rosenberg, die Philosophen Karl Korsch und Hans Reichenbach, der Psychologe Wilhelm Reich". 124
Historisch herausragend an dem kollektiven Unternehmen ist, daß es eine neue Interventionsstrategie von Intellektuellen in die Politik markierte, nicht nur weil es in der Weimarer Republik keine Parallele fand,125 sondern vor allem weil es sich typologisch abgrenzte, zum einen vom Typus des vor allem durch französische Vorbilder geprägten ,allgemeinen Intellektuellen' in der Tradition Voltaires und Zolas, zum anderen vom Typus des vor allem durch die internationale Arbeiterbewegung geprägten .marxistischen Intellektuellen' in der Tradition von Kautsky und Lenin. Die Mitarbeiter von Krisis und Kritik waren keine parteigebundenen Intellektuellen, die aus dem Studium des Marxismus den Anspruch ableiteten, Vermittler von Bewußtsein und von Strategien im politischen Kampf der Arbeiterklasse zu sein, noch waren sie Intellektuelle, die an allgemeinen, universellen, abstrakten Werten orientiert, in einer Situation, in der die 124
Vgl. Wizisla, Benjamin und Brecht, 126.
125
Ebd., 162f.
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Wirtschaft und das politische Institutionensystem blockiert waren, die Öffentlichkeit aufrütteln und den Institutionen neue Wege der Entscheidung weisen, Losungen zur Lösung von Krisenphänomen offerieren wollten. Das Mandat, das sie erhoben, war bescheidener und anspruchsvoller zugleich. Das Eingreifende Denken, von Brecht begrifflich geprägt und theoretisch entfaltet, zielte darauf, Wahrnehmungsschemata, Einstellungen und Verhaltensdispositionen zu verändern durch die Schaffung von Szenen, neuen literarischen Techniken, neuen Formen der Literatur- oder Theaterkritik, neuen Sprach-, Musik- oder Architekturformen etc., die Einsicht und Reflexion freisetzten; Einsicht in Strukturzusammenhänge, Reflexion über Verhaltensweisen und -alternativen mit dem Ziel, dergestalt das Handeln von Individuen und Gruppen im Alltag, im Arbeits- und Berufsleben, sowie in der Arena der Politik zu reorientieren. Substantiell wurde das Ziel dieser Reorientierung nicht definiert; es blieb dem einzelnen überlassen, aus der Erkenntnis die Konsequenzen zu ziehen. Bindend für die Trägergruppe des Eingreifenden Denkens war jedoch: a) es konnte und sollte von den Kulturproduzenten ausgehen, b) die Produktionsbedingungen im kulturellen Bereich grundlegend verändern, c) die Elemente der anderen neuen Kultur experimentell entfalten und erproben, d) sie gegebenenfalls wieder aufgeben, um suchend von Neuem zu beginnen. Grundlegend war darüber hinaus, daß das Eingreifende Denken auf der Basis von Kompetenzen, spezifischem Wissen, Fachwissen, mithin nicht - wie das Mandat des allgemeinen Intellektuellen - außerhalb beruflicher Zuständigkeit, ausgeübt werden sollte. Das Eingreifende Denken nahm somit ein zentrales Element des Typus des „spezifischen Intellektuellen" vorweg, den Michel Foucault im Anschluß an die 68er Bewegung entfaltete. Wie Foucaults Definition der Rolle des Intellektuellen, richtete sich auch das Mandat des Intellektuellen, welches das Konzept des Eingreifenden Denkens zeichnete, nicht auf die Eroberung der Macht, sondern auf die Bildung von .Gegenmacht', oder mehr noch: auf die Schaffung von .Gegenmächten' im Bereich der Kultur. Als drittes Kriterium des Mandats des Intellektuellen, welches aus dem Konzept des Eingreifenden Denkens folgte, ist schließlich zu nennen, daß die Intervention nicht nur von einem einzelnen, sondern von einem Kollektiv ausgeübt werden sollte und, aus Sicht Brechts, nur so sinnvoll ausgeübt werden konnte. In der Forderung nach einem .Ensemble' oder .Kollektiv' spiegelte sich nicht die .Kader'Konzeption Lenins, sondern eine Grunderfahrung der Generation Brechts: der Erste Weltkrieg und die existentielle (Selbst)Erfahrung der Ohnmacht des Individuums sowie des Verlusts der individuellen Autonomie. Gleichviel, ob in der täglichen Werkstatt zuhause, im Theater am Schiffbauerdamm oder in Vorbereitung von Krisis und Kritik, Brecht arbeitete nicht allein, sondern im Kollektiv. Die kollektive Arbeitsweise war die Negation der individuellen bürgerlichen Kunstproduktion und als solche ein weiteres Merkmal der literarischen Avantgarde126, das Brecht in Praxis überführte. Ihn aufgrund dieser Arbeitsweise einen „literarischen Zuhälter" (Fuegi) zu nennen, heißt, die Ab-
126
Vgl. dazu Bürger, Theorie der Avantgarde, 65ff.
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grenzung zu verkennen, die Brecht mit seiner Entscheidung für eine kollektive literarische Produktionsweise vornahm, sowie den experimentellen Charakter der Arbeit im Kollektiv; es heißt zugleich aber auch, die Tatsache, daß keineswegs nur Frauen Teil des Kollektivs waren, außer acht zu lassen, sowie die Übertragung der kollektiven Praktik auf andere - die Literaturproduktion im engeren Sinn - überschreitende Projekte zu übersehen. Indem Brecht die Leitidee des intellektuellen Kollektivs in seine Definition des Mandats des Intellektuellen übertrug, nahm er ein Element des „kollektiven Intellektuellen" vorweg, den Bourdieu 1989 in (Ost)Berlin skizzierte.127 Brecht war revolutionär, so könnte man argumentieren, weil er bereits in einer anderen' Welt lebte oder doch zumindest Elemente dieser .anderen' Welt in seinem Lebensund Arbeitskontext permanent erprobte. Nach dem Scheitern des Projekts Krisis und Kritik konzentrierte er sich ganz auf das Theater, ohne das Konzept des Eingreifenden Denkens aufzugeben. Er begann, das Theater am Schiffbauerdamm, obgleich es ihm nicht gehörte, als seine Bühne, ,sein Haus' anzusehen, versammelte er doch dort,seine' Schauspieler, Bühnentechniker, Musiker, sein .Ensemble'; bestrebt, gegen die Zeit anzuschreiben und anzuspielen. Mit seinem Theater der Betrachtung, der Vernunft und Erkenntnis, das den Zuschauer nicht in Rausch und Erregung versetzen, sondern zu Distanz- und Stellungnahme anleiten sollte, opponierte er gleichermaßen gegen Deklamationen und Exaltationen auf dem Theater und in der Politik, machte er Front gegen das „Theater der Illusion und des Rausches" und gegen die Illusionierung der Massen, das heißt gegen „die Erregung und unkontrollierbaren Ekstasen", welche die nationalsozialistische Bewegung in der politischen Arena entfachte.128 Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit waren ihm bewußt: „Wer heute die Lüge und Unwissenheit bekämpfen und die Wahrheit schreiben will", habe, wie er schrieb, mit fünf Schwierigkeiten zu kämpfen: Er müsse den „Mut" haben, die Wahrheit zu schreiben, obwohl sie allenthalben unterdrückt werde; die „Klugheit", sie zu erkennen, obwohl sie allenthalben verhüllt werde; die „Kunst", sie handhabbar zu machen als eine Waffe; das „Urteil", jene auszuwählen, in deren Händen sie wirksam werde; die „List", sie unter diesen zu verbreiten.129 Brecht verfugte über Mut und Klugheit, hatte die Fähigkeit, Kunst handhabbar zu machen, besaß Urteilskraft, diejenigen auszuwählen, die sie wirksam machten, und die List, sie zu verbreiten. Indes, die fünf genannten Eigenschaften waren nicht genug. Seine Suche nach Wahrheit, sein Kampf um die Verbreitung des Eingreifenden Denkens wurde durch Prozesse im Bereich der Macht abrupt gebrochen, die zu verändern er angetreten war, indes mittels einer Strategie, die auf die Umgestaltung von Wahrnehmungsmustem und Verhaltensdispositionen, mithin auf die Veränderung des Habitus, die Revolutionierung von Mentalitätsstrukturen und das heißt: Strukturen langer Dauer setzte, die sich nur mittel- bis langfristig 127
Vgl. Bourdieu, Die Regeln der Kunst, 534.
128
Vgl. Herbert Jhering, Bert Brecht, in: ders., Bert Brecht, 86-92, 89.
129
Bertolt Brecht, Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit (1934/35), in: ders., Schriften 2, GBA B d . 2 2 . 1 , 7 4 - 8 9 .
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ändern ließen. Über diese Zeit verfugte er nicht. Selbstkritisch reflektierte er das abrupte Ende einer lange Suche in dem Gedicht: Ich habe lange die Wahrheit gesucht: „1 Ich habe lange die Wahrheit gesucht über das Leben der Menschen untereinander Dieses Leben ist sehr verwickelt und schwer verständlich Ich habe hart gearbeitet, um es zu verstehen, und dann Habe ich die Wahrheit gesagt, so wie ich sie gefunden hatte. 2 Als ich die Wahrheit gesagt hatte, die so schwer zu finden war Da war es eine allgemeine Wahrheit, die viele sagten (Und nicht alle so schwer finden).
3 Kurze Zeit d a r a u f k a m e n Leute her in großen Massen mit geschenkten Pistolen Und schössen blind um sich auf allem die keinen Hut aufhatten aus Armut Und alle, die die Wahrheit gesagt hatten über die und ihre Geldgeber Trieben sie aus dem Land im vierzehnten Jahre der halben Republik.
4 Mir nahmen sie mein kleines Haus und meinen Wagen Die ich schwer verdient hatte. (Meine Möbel konnte ich noch retten.)
5 Als ich über die Grenze fuhr, dachte ich: Mehr als mein H a u s brauche ich die Wahrheit. Aber ich brauche auch mein Haus. Und seitdem Ist die Wahrheit ftir mich wie ein Haus und ein Wagen. Und man hat sie genommen." 1 3 0
Mehr als die Hälfte der Produktion des Kiepenheuer Verlages, zu dem Brecht 1930 zurückgekehrt war, geriet auf die Schwarze Liste des nationalsozialistischen Regimes, darunter die Werke Brechts, die öffentlich dem Feuer übergeben wurden am Tag der
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Bertolt Brecht, Ich habe lange die Wahrheit gesucht, in: Gedichte von Brecht in einem Band, 4l4f.
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Bücherverbrennung; Herbert Jhering verlor seinen ,Staat im Staat', der Berliner Börsen-Courier stellte sein Erscheinen ein; die Mehrzahl der Mitglieder der Gruppe um Krisis und Kritik wurde aus Deutschland ausgegrenzt, verbannt und verfolgt.
KRISTINA SCHULZ
Neutralität und Engagement: Denis de Rougemont und das Konzept der „aktiven Neutralität"
Prolog Am 15. Juni 1940 marschieren die Truppen Hitlers in Paris ein. In der Gazette de Lausanne, neben dem Journal de Geneve eine der beiden größten meinungsbildenden Tageszeitungen der französischen Schweiz, erscheint in der nächstmöglichen Ausgabe, der des 17. Juni 1940, an exponierter Stelle ein Artikel des Schriftstellers, Journalisten und Frankreichkenners Denis de Rougemont. „A cette heure oü Paris [ . . . ] ' Zu dieser Stunde, wo Paris ausgeblutet das Gesicht verhüllt, möge seine Trauer die Trauer der Welt sein! Wir spüren mit Gewißheit, daß wir alle betroffen sind. Jemand hat einmal gesagt: Wenn Paris zerstört ist, werde ich die Lust verlieren, Europäer zu sein. Die Stadt der Aufklärung ist nicht zerstört; sie ist tot. Wüste aus hohen Steinen ohne Seele, Friedhof. Der Eroberer prophezeite [...], er werde in Paris einmarschieren. Er marschiert tatsächlich ein, aber es ist nicht mehr Paris. Und dies ist seine nicht wieder gutzumachende Niederlage vor dem Geist, vor dem, was den Wert des Lebens ausmacht. Ich denke an den Kriegshäuptling, der heute diese eindrücklichsten Straßen der Welt überquert; er wird sie niemals kennen lernen. Er sieht nur blinde Fassaden. Er hat sich selbst für die Ewigkeit ausgeschlossen von etwas, das nicht ersetzbar ist, von etwas, daß man töten, aber nicht mit Gewalt erobern kann und das unendlich viel mehr Wert ist als das, was die Diener der Panzerdivisionen auf der ganzen Welt jemals erobern könnten. Dieses undefinierbare Etwas nennen wir Paris. [...]
Denis de Rougemont, Α cette heure oü Paris [...], in: Gazette de Lausanne, 17.6.1940, 1. Der einleitende Satz ist übersetzt bei: Jean-Pierre Richardot, Die andere Schweiz. Eidgenössischer Widerstand 1940-1944, Berlin 2005, 59. Alle anderen Übersetzungen stammen, wo nicht anders gekennzeichnet, von mir.
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Man kann nicht mit Panzern die Geschenke der Seele und die Lebensgründe erobern. Sollen sie doch zehnmal die Reise um die Welt machen! Sie werden überall nur auf die Trümmer des mechanischen Nichts treffen. Bis zum Tag, der schlimmer sein wird als der Tag der schlimmsten Vergeltung, [der Tag,] an dem sie [...] verstehen werden, daß kein Triumph ihnen die menschliche Wirklichkeit einbringen kann, die sie getötet haben, [...] denn sie wissen nicht, was sie tun."
Rougemonts Artikel ist riskant. Mit der Besetzung Frankreichs durch die deutschen Truppen ist die Schweiz seit wenigen Tagen gänzlich von den Achsenmächten umgeben: An der südlichen Grenze stößt das Land an das faschistisch beherrschte Italien, im Osten an das dem „Dritten Reich" angegliederte Österreich, die nördliche Grenze teilt es mit dem Deutschen Reich und nun unterliegt auch Frankreich dem Einfluß der Nationalsozialisten, die den Norden besetzt halten und im Süden in General Petain einen Regierungschef sehen, der mit der deutschen Regierung zusammen arbeitet. In dieser Situation, in der die deutschen Truppen - so jedenfalls die Annahme vieler Zeitgenossen - jederzeit in die Schweiz einmarschieren und das kleine Land überrennen könnten, legen die politischen Autoritäten in der Schweiz jedes Wort auf die Goldwaage. Man will es vermeiden, den starken Nachbarn zu provozieren. Rougemont ist sich der Sprengkraft seines Artikels durchaus bewußt und verbringt den Vormittag des 17. Juni in Anspannung. Mittags erhält er einen Anruf, „il y aura des histoires", warnt man ihn vor. Um zwei Minuten vor sechs, Rougemont will gerade sein Büro verlassen, klingelt das Telefon erneut. Rougemont wird von seinem Vorgesetzten zur Ordnung gerufen. „Sie werden der Beleidigung eines ausländischen Staatschefs bezichtigt. Sie gefährden die Sicherheit der Schweiz. Das ist schlimm, das ist ... sehr schlimm!" teilt Oberst Roger Masson, Chef der Informationsabteilung des Generalstabs, ihm mit.2 Wenige Tage später wird Arrest für die Dauer von zwei Wochen verhängt, den Rougemont in seinem Haus in Gurten bei Bern absitzt. Doch hindert diese Sanktion ihn nicht daran, auch künftig zum Geschehen Stellung zu nehmen. Zwischen Mai und August 1940 ist Rougemont mehr denn je im öffentlichen Leben der Westschweiz präsent und ruft dazu auf, die Unabhängigkeit und Neutralität der Schweiz gegenüber Nazideutschland zu verteidigen. Der folgende Beitrag befaßt sich mit Denis de Rougemonts intellektuellen Interventionen zwischen 1939 und 1940. In seinen Stellungnahmen im Zweiten Weltkrieg definierte er die Rolle der „neutralen" Schweiz in Europa und gab damit zugleich eine Antwort auf die Frage nach der Rolle und der gesellschaftlichen Verantwortung von Intellektuellen. Diese Antwort war - so kosmopolitisch Denis de Rougemont auch war und so „europäisch" er auch dachte - eine im spezifisch schweizerischen Kontext verortete Antwort, und sie ist im folgenden auf die Möglichkeitsbedingungen ihrer Entstehung zu beziehen. Denn auch die schweizerischen hommes de pensee mußten sich, wenngleich in anderer Weise als die „Geistesarbeiter" in Italien, Deutschland, Frankreich, in den Denis de Rougemont, Journal des deux mondes, Lausanne 1946, 72f.
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Jahren der totalitären Herrschaft und des Krieges in den angrenzenden Staaten fragen, welche Rolle sie selbst bei der Neuordnung der durch den Krieg aufgebrochenen politischen und sozialen Strukturen einnehmen wollten. Zwar brauchten sie nicht, wie Kulturproduzenten in den vom Faschismus beherrschten Ländern, um Leib und Leben zu bangen, aber sie waren einem in dieser schwierigen Situation allgemein akzeptierten und einenden Wert verpflichtet, mit dem eine Konzeption des engagierten Intellektuellen augenscheinlich in Widerspruch geraten mußte, der „Neutralität". Diesen Widerspruch erlebten die Schriftsteller der französischen Schweiz um so stärker, da sie entgegen ihrem Anspruch auf eine genuin westschweizerische Literatur (litterature romande) - noch immer in starkem Maße an den Werten des französischen Feldes orientiert waren.3 Ihr Bezugsmodell war damit das von Zola und Voltaire verkörperte Ideal des engagierten Intellektuellen als jemand, der sich, auf der Basis seiner Anerkennung im literarischen Feld, in Kämpfen, die außerhalb des engen Bereichs des Literarischen stattfanden, im Namen höherer Werte auf die Seite der Unterdrückten und Verfolgten stellte. Im folgenden steht also die Frage im Zentrum, wie es Rougemont gelang, die scheinbare Ausschließlichkeit von „Neutralität" einerseits und „Engagement" andererseits zu überwinden. Es gilt zunächst, Rougemonts intellektuelle Interventionen zwischen Mai und August 1940 näher zu betrachten.
I. Denis de Rougemont: Stellung und Stellungnahme 1. Schokolade für die Frau, Zigaretten für den Herrn Der Artikel in der Gazette de Lausanne wurde, wie angedeutet, von deutscher Seite kritisiert.4 Der deutsche Botschafter in Bern verlangte, daß ein solcher Verstoß gegen die Regeln der Neutralität geahndet und dafür gesorgt würde, daß derartige „Entgleisungen" künftig nicht mehr vorkämen. Die politischen Autoritäten der Schweiz nahmen, wie ebenfalls oben angedeutet, die diplomatische Krise mit der deutschen Botschaft in Bern durchaus ernst. Doch zeigt die Reaktion Oberst Massons auch, daß Rougemont in der Armee und darüberhinaus nicht der einzige war, der den deutschen Einmarsch in Paris verurteilte. Rougemont notiert in seinem Tagebuch am 19. Juni Ausschnitte aus dem Gespräch mit dem Vorgesetzten, in dessen Büro er beordert wird:
3
Daniel Magetti, L'invention de la litterature romande, Paris 1998.
4
Ob Joseph Goebbels, der genau zu diesem Zeitpunkt eine Rede gegen die Presse der neutralen Staaten hielt, Rougemonts Artikel zum Anlaß nahm, ist denkbar, Belege waren mir allerdings nicht zugänglich.
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„ - Guten Tag, mein Lieber. Setzen Sie sich. (Ich sage mir: ,Ist es denn wirklich so schlimm?') - Ihr Artikel hat mir sehr gefallen... Aber die deutsche Gesandtschaft hat gestern Morgen protestiert. Ich habe den Befehl, Euch nach Hause bringen zu lassen und Arrest anzuordnen. Händigen Sie mir Ihre Pistole aus. [...] Was haben Sie zu Ihrer Verteidigung zu sagen? - Absolut nichts. Ich nehme an, daß Sie mit meinem Artikel einverstanden sind." 5
Zwei Tage später hält Rougemont, den der Gedanke an den Arrest als solches nicht zu stören scheint, da er den Armeedienst als verlorene Zeit empfand („Le service [militaire] anesthesie Γ intellect. On se glisse dans le quotidien le plus elementaire."6) in seinem Tagebuch fest: „Mein Oberst präsentiert sich an der Tür unseres kleinen Hauses in Gurten. Ich nehme Stellung ein. Er trägt in jeder Hand ein kleines Paket mit einer Schleife. - Dies, das ist Schokolade für Ihre Frau, das, das sind Zigaretten aus Paris [cigarettes parisiennes] fur Sie. Nun, hören Sie. Die Militärjustiz will von Ihrem Fall nichts hören. Es ist folglich der General selbst, der Euch zur Höchststrafe verurteilt: 15 Tage in der Festung von Sankt Mauritius, bei Wasser und Brot, ohne Besuch und Postempfang. Haben Sie gut verstanden? Sie sind ab jetzt in Sankt Mauritius. Alles was ich von Ihnen verlange, ist, daß Sie nicht jeden Abend in den Straßen von Bern ausgehen, mit einer kleinen Frau an jedem Arm. - Zu Befehl, mein Oberst. Ich war schon immer ein Befürworter des bezahlten Urlaubs. Ich danke Ihnen. - Rühren! Der Oberst war nicht abgeneigt, mit mir zum Abschluß dieser kleinen Zeremonie anzustoßen." 7
Obwohl die Sache glimpflich auszugehen schien, hatte der Artikel für Rougemont negative Folgen: Dem Schriftsteller galt künftig die besondere Aufmerksamkeit der Zensurbehörden, was Rougemonts Möglichkeiten, öffentlich Stellung zu nehmen, erheblich einschränkte.8 Da Sprache für Rougemont eines der wichtigsten Mittel war, um das Denken - und damit auf das Engste verbunden das Handeln - zu verändern, stellte eine Begrenzung der Meinungsfreiheit ihn in seiner gesellschaftlichen Funktion in Frage: als Geistesarbeiter, welcher der gesellschaftlichen Entwicklung kraft seiner intellektuellen Fähigkeiten durch Sinnverleihung eine Richtung geben sollte. Es ist, Rougemonts Biographen folgend, zu vermuten, daß die Situation in der Schweiz dem Schriftsteller unerträglich schien und er folglich im Sommer 1940 das Angebot der schweizerischen
Denis de Rougemont, Journal d'une epoque (1926-1946), Paris 1968, 426f. Denis de Rougemont an Albert Beguin, 3.11.1939, zit. n. Bruno Ackermann, Denis de Rougemont. Une biographie intellectuelle, Bd.l: De la revolte ä l'engagement. L'intellectuel responsable; Bd.2: Combats pour la liberte. Journal d'une epoque, Lausanne 1996, Bd.l, 584. Rougemont, Journal d'une epoque, 428. Ackermann, Rougemont, Bd.2, 666, Anm. 113 weist auf einen anonymen Artikel in Les cahiers protestants vom Juni 1940, 193-202 hin. Er war mit einer Fußnote versehen, die daraufhinwies, daß der Autor „se voit contraint par les circonstances ä ne pas signer ces pages."
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Autoritäten annahm, im Rahmen einer Vortragsreise in die Vereinigten Staaten für unbestimmte Zeit das Land zu verlassen. Ebenfalls ist anzunehmen, daß die Erfahrung des Äußerungsverbots Rougemonts Bemühungen verstärkte, neben dem Einsatz der Worte auch Möglichkeitsbedingungen für Taten zu schaffen. Betrachten wir Rougemonts Aktivitäten in den Kriegsmonaten vor seiner Abreise genauer. 2. Rougemonts Aktivitäten im Sommer 1940 Seit 1937 lebte Denis de Rougemont, der zuvor ein Jahr lang in Frankfurt gearbeitet hatte, in Paris, verbrachte aber regelmäßig die Sommermonate in seiner Heimat im Schweizer Jura. Am Vorabend des Einmarschs der deutschen Truppen im Sommer 1939 in Polen hielt sich der Schriftsteller in La Chaux-de-Fonds, einer Kleinstadt nahe der französischen Grenze, auf und wohnte den Proben zu seinem Stück Nicolas de Flue bei. Noch am Abend des ersten Septembers kam das schweizerische Parlament zu einer außerordentlichen Sitzung zusammen, erklärte den Ausnahmezustand, übertrug die politischen Vollmachten auf den Bundesrat und verkündete die Generalmobilmachung der auf dem Milizsystem basierenden schweizerischen Armee. Angesichts der dramatischen Zuspitzung der politischen Situation wurden die Proben für Nicolas de Flue aufgeschoben. Anstatt nach Paris zurückzukehren, rückte Rougemont als Leutnant ins Militär ein. Es gelang ihm, sich in die noch im September 1939 gegründete Propagandaabteilung Heer und Haus versetzen zu lassen.9 In den folgenden Monaten stellte er sich in den Dienst der Schaffung eines nationalen Bewußtseins und insbesondere der Propagierung des föderalistischen Gedankens. Innerhalb des Militärs war er für die Ermutigung der Truppen zuständig. Die Bedeutung der geistigen Führung der Armee unterstreichend, stellte er ein kleines Heft zur moralischen Stärkung der Soldaten zusammen,10 organisierte Konferenzen und hielt, vom Militärdienst immer wieder beurlaubt, zahlreiche Vorträge im In- und Ausland, in denen er für den nationalen Widerstand gegen Hitlerdeutschland eintrat." Parallel dachte er über weitere Interventionsmöglichkeiten nach. Als Anfang Juni 1940 die ersten Bombenabwürfe über Paris bekannt wurden, tauschte er sich mit dem Literaturprofessor an der Universität Zürich Theophil Spoerri und dem promovierten Wirtschaftsexperten Christian Gasser über die Möglichkeiten aus, in der Schweiz eine
Die Abteilung Heer und Haus wurde im September 1939 als militärischer Arm der Stiftung Pro Helvetia
gegründet und hatte zur Aufgabe, die Armee psychologisch zu unterstützen, vgl. Acker-
mann, Rougemont, Bd.2, 634. Zu Pro Helvetia s.u., Anm.69. N o s Libertes. Breviaire du Citoyen, Lausanne 1940. Im April 1940 erschien die Artikelsammlung Mission ou demission
de la Suisse, in der die bedeu-
tendsten Artikel und Vorträge der letzten Jahre - der älteste Beitrag stammte von 1937 - (wieder) abgedruckt waren.
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Widerstandsbewegung zu gründen. 12 Am 17. Juni 1940, dem Tag, an dem der Artikel in der Gazette de Lausanne erschien, notierte Rougemont in seinem Tagebuch: „Unser Vorhaben [...] nimmt Gestalt an. Ph. [gemeint ist wahrscheinlich Philippe Mottu, Mitarbeiter in der Sektion Heer und Haus] ist dabei, für den 22. Juni zehn Personen zusammen zu rufen, die wir in den letzten Tagen ,kontaktiert' haben. Bislang haben wir alles geheim gehalten." 13 An dem Treffen selbst konnte Rougemont aufgrund des verhängten Hausarrests nicht teilnehmen. Doch schrieb er im Anschluß an das erste Treffen gemeinsam mit Gasser und Spoerri das Manifest der Gotthard Liga, das in 74 schweizerischen Zeitungen erschien, 14 wenige Tage später gefolgt von zwei Appellen, die ebenfalls die Handschrift Denis de Rougemonts trugen. 15 Aufgerufen wurde darin zum nationalen, notfalls auch bewaffneten Widerstand und Zusammenhalt gegen die inneren und äußeren Gefahren. 16 Was erlaubte es Rougemont, sich - ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen - öffentlich gegen die deutsche Kriegspolitik zu wenden? Wieso war er sich so sicher, daß seine Worte Gewicht haben würden und was erklärt, daß Rougemont vor etwaigen Sanktionen scheinbar nicht zurückschreckte? 3. Das Gewicht des familialen Erbes und die Stellung im Feld Als Rougemont im Sommer 1940 das Wort ergriff, war er nicht irgendwer. Obwohl oder vielleicht auch gerade weil - er sich in den vergangenen Jahren und bis 1939 überwiegend in Paris aufgehalten hatte, galt er in der Schweiz nicht als ein den „kleinen Zeilenschreibern" aus dem Ausland vergleichbarer Autor, gegen die der Schweizerische Schriftstellerverband (SSV) in den schwierigen Zeiten zunehmenden Wettbewerbs unter den Schriftstellern durch zusammenbrechende Absatzmärkte und ausländische Konkurrenz Politik machte. 17 34jährig war er auf dem Weg, sich einen Namen unter den wichtigen Autoren der Westschweiz zu machen. Sein familiales soziales Kapital kam ihm dabei zugute. Denis de Rougemont kam 1906 in einer Pastorenfamilie in Couvet (Kanton Neuchätel) zur Welt. Väterlicherseits reichte die Tradition, in der Öffentlichkeit bedeutende
Tagebuchnotiz Christian Gasser, wiedergegeben in: Der Gotthard-Bund. Dokumente aus der Gründungszeit 1940/41 (Manuskript), Fundort: Archiv für Zeitgeschichte, Zürich, Bestand Gotthard-Bund, Signatur 64.4. 13 14
Rougemont, Journal des deux mondes, 73. Jacques Meurant, La Presse et l'opinion de la Suisse romande face ä l'Europe en guerre, 19291941, Neuchätel 1 9 7 6 , 3 8 8 .
15
Au peuple suisse, in: Gazette de Lausanne, 22.7.1940; Appel ä collaborer, in: Gazette de Lausanne, 27.7.1940. Die Appelle erschienen in mehreren großen Zeitungen der Westschweiz und auf deutsch in deutschschweizer Zeitungen.
16
Vgl. Ackermann, Rougemont, Bd.2, 651 f. SSV an die Fremdenpolizei, 25.5.1933, abgedr. in: Jeanne Lätt, Refuge et Ecriture. Les ecrivains allemands refugies en Suisse, 1933-1945 (Cahiers de l'Institut d'Histoire, 7), Neuchätel 2003, 242-244, 244.
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Ämter zu übernehmen, weit zurück. Vorfahren der Familie hatten bereits in der Reformationszeit öffentliche Ämter (Richter, Pfarrer) inne. Ein Mitglied der Familie, George de Rougemont, unterschrieb 1815 als Generalprocureur die Anschlußakte des Fürstentums Neuchätel an die Schweizer Konföderation. Rougemonts Vater, Georges-Arthur de Rougemont (1875-1947), war als Pfarrer kurze Zeit in Frankreich, danach in Couvet, später in einer Nachbargemeinde tätig. Er schrieb seine Arbeit als Pfarrer in die Bewegung des sozialen Christianismus (oder auch: christlicher Sozialismus) ein, wahrte enge Kontakte zur Abeiterwelt und engagierte sich im Kampf gegen den Alkoholmißbrauch im Blauen Kreuz. Sophie Alice Rougemont (1877-1973), Denis de Rougemonts Mutter, stammte in direkter Linie von den Bovets, einer der „großen Familien" des Fürstentums, später Kantons Neuchätel, ab. Auch ihre Familie war sozial tätig, vor allem in der Armenversorgung und der Mission des Protestantismus. Denis de Rougemont war so mit dem nötigen sozialen und auch ökonomischen (es scheint, die Familie habe finanzielle Sorgen kaum gekannt) Kapital ausgestattet, um erfolgreich sein Studium der lebenden lateinischen Sprachen, vor allem deutsche und französische Literatur, zu absolvieren. Dabei veröffentlichte er auch immer wieder kleinere Texte in - überwiegend unbedeutenden - Zeitschriften. Ab Ende der 1920er Jahre wandte sich Rougemont mehr und mehr nach Frankreich und hielt sich ab 1930 für einige Jahre in Paris auf. Diese Orientierung war weder zufällig noch beruhte sie auf rein individuellen Präferenzen: Obwohl in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Prozeß der Autonomisierung des literarischen Feldes der Romandie begonnen hatte, übte das Zentrum des literarischen Lebens in Paris auf das literarische und kulturelle Leben der Westschweiz auch in den 1920er Jahren noch eine große Ausstrahlung aus.18 Diese nach wie vor starken Feldeffekte führten dazu, daß ehrgeizige junge Schriftsteller und Schriftstellerinnen der Romandie zunächst die Anerkennung ihrer pairs in Frankreich suchten.19 Auch Rougemont zog das Pariser Intellektuellen-Dasein dem Leben in der province vor. Während dieses ersten Aufenthalts zwischen 1930 und 1933 gelang ihm bereits, in Paris ein enges Netz an sozialen Beziehungen aufzubauen. Aufgrund seiner Tätigkeit als Literaturkritiker der Revue de Geneve hatten schon vor seiner Ankunft in Paris Briefwechsel mit Autoren wie Henry de Montherland, Andre Malraux und Jean Cassou stattgefunden.20 Vermutlich war
18
Vgl. Maggetti, Invention; sowie ders., „Suisse", in: Paul Aron/Denis de Saint-Jacques/Alain Viala Hg., Le dictionnaire du littdraire, Paris 2002, 575f.
|Q
Ackermann betont die Enge des intellektuellen und kulturellen Milieus in der Westschweiz der 1920er und 1930er Jahre (Ackermann, Rougemont, B d . l , 159f.). Dieser die persönliche Entscheidung Rougemonts zur „Flucht vor der Enge" akzentuierenden Erklärung wäre eine strukturelle Begründung hinzuzufügen, die auf das Konzept des Feldes zurückgreift und die Anziehungskraft von Paris als „Feldeffekt" interpretiert.
20
Ackermann, Rougemont, Bd. 1, 161, Anm.24. Ackermann präzisiert, daß Rougemonts Korrespondenz bei der Redaktion der Biographie noch nicht hinreichend ausgewertet war, um weitere Schlüsse über das Beziehungsnetz zu ziehen, auf das Rougemont bereits bei seiner Ankunft
160
Kristina Schulz
seine Herkunft aus dem protestantischen Milieu hilfreich bei der Knüpfung von Kontakten; als junger, knapp 24jähriger Neuankömmling fand Rougemont eine Stelle als Sekretär des Anfang der 1930er Jahre gegründeten protestantischen Verlagshauses Je sers. Von hier aus näherte sich Rougemont mehreren intellektuellen Zirkeln an und verschaffte sich nach und nach einen Namen als Mitarbeiter der Cahiers de Foi, als Autor in La Nouvelle Revue Franqaise sowie als aktives Gründungsmitglied der Zeitschriften L 'Ordre Nouveau, Hie et Nunc und Esprit. In diesen ersten Jahren wohnte er auch Konferenzen bei und hielt Vorträge bei christlichen Organiationen wie der Union pour la Verite oder der Association des Etudiants chretiens. Alles spricht dafür, daß Rougemont sich - man möchte fast schon sagen .systematisch' - einen Platz im literarischen und intellektuellen Leben Frankreichs erarbeitete: Er fungierte als Literaturkritiker, Essayist, Gründer und Herausgeber von Zeitschriften und veröffentlichte 1932 schließlich - wenn auch in der Schweiz - seinen ersten Roman, Le paysan du Danube,21 Zudem wurde er in progressiven intellektuellen Kreisen mehr und mehr geschätzt für seine Gedanken zum Zusammenhang von intellektuellem Engagement, persönlicher Verantwortung und religiöser Überzeugung.22 Neben seinen literarischen Ambitionen schien hier der Anspruch durch, auch auf dem Gebiet der Philosophie etwas zu sagen zu haben, ein Vorhaben, dem sein Engagement in den Kreisen um L Ordre Nouveau, später Esprit, entsprach. 1933 meldete das Verlagshaus Je sers Konkurs an; Rougemont verlor seine Arbeit und entzog sich für einige Jahre dem Strudel des Pariser kulturellen und intellektuellen Lebens. Über den Zeitraum von zwei Jahren erwerbslos, verfaßte er ein „Tagebuch", das 1937 bei Albin Michel unter dem Titel Journal d'un intellectuel en chömage erschien. Dieses für ein Lesepublikum gedachte Tagebuch fuhrt eine Serie von Werken Rougemonts an, die er selbst als „Journal non-intime" bezeichnet hat.23 In der Form führte der Schriftsteller damit Neues ein: Er wandelte das im 19. Jahrhundert aufgekommene literarische Genre des „Journal intime" ab, indem er ihm Züge einer „chronique impersonelle" beifügte, in denen „das Ereignis mehr zählt als der
zurückgreifen konnte. Es wäre zu überprüfen, inwieweit die Inventarisierung des Nachlasses inzwischen fortgeschritten ist. 21
Für dieses Buch erhielt er 1934 den Schiller-Preis der schweizerischen Schiller-Stiftung. In Frankreich wurde das Buch allerdings kaum wahrgenommen. Interessant ist, daß Charles-Ferdinand Ramuz den Schiller-Preis vier Jahre nach Rougemont, fur seinen Roman La Garfon Savoyard, erhielt. Allerdings war Ramuz schon seit 1930 Träger des Prix Romand.
22
Rougemont legte seine Reflexionen zunächst in einzelnen Artikeln dar, z.B. Denis de Rougemont, Penser avec les mains (fragments), in: Presence 1.1932, 37-41. Auch die Zeitschrift Hic et Nunc, die Rougemont als verantwortlicher Redakteur herausgab, war von dem Gedankengut durchzogen. 1936 erschien Rougemonts personalistisches Hauptwerk Penser avec les mains in Paris bei Albin Michel, dem der Band Politique de la personne (1934) voraus ging.
23
Es folgten 1938 das Journal Journal d 'une epoque.
d'Allemagne,
1946 das Journal
des deux mondes
und 1968 das
Neutralität und Engagement
161
Mensch".24 Rougemont, der in der schlechten Konjunktur des Jahres 1933 in Paris zu furchten hatte, daß er als Ausländer trotz seiner Beziehungen schlechtere Chancen hatte als seine französischen Konkurrenten, wandte sich nicht nur konkret ab, indem er Paris verließ, sondern entwickelte auch eine spezifische literarische Form, die seiner „Andersartigkeit" als Ausländer in Paris entsprach. Daß diese Werke in Paris und nicht mehr in der Schweiz erschienen, macht die Ambivalenz von Rougemonts Position im literarischen Feld Frankreichs deutlich: Seine Bücher wurden mehr und mehr wahrgenommen und verschafften ihm Aufmerksamkeit und Anerkennung seiner französischen pairs. Gleichzeitig war die Struktur des französischen literarischen Feldes dergestalt, daß selbst für einen Ausländer, dessen Muttersprache Französisch war, die Anerkennung im Feld nur um den Preis der Akzentuierung der Andersartigkeit, des Exotischen, 25
zu erreichen war. Nach einem einjährigem Aufenthalt als Lektor an der Universität Frankfurt/Main, der sich an die Jahre der Arbeitslosigkeit anschloß,26 kehrte Rougemont 1937 in die „Hauptstadt der Literatur" zurück und konnte an zahlreiche Verbindungen wieder anknüpfen. Inzwischen Autor zweier in Frankreich gedruckter und im intellektuellen Milieu von Paris stark wahrgenommener Bücher,27 hatte er dennoch Schwierigkeiten, eine Tätigkeit zu finden, welche das Auskommen der Familie (Rougemont hatte 1933 in Genf Simonne Vion geheiratet und war Vater) sichern konnte. Schließlich arbeitete er eineinhalb Jahre als Chefredakteur der 1937 gegründeten Zeitschrift Les Nouveaux Cahiers28 und war mit Beginn des Jahres 1939 für den Figaro tätig.29 Ab 1937 stand Rougemont zudem unter Vertrag für mehrere Bücher bei Gallimard und erhielt vom Verlagshaus monatliche Zahlungen.30 Parallel zu diesen Aktivitäten zur Sicherung des Lebensunterhalts schrieb Rougemont an seinem wichtigsten Werk, L 'amour et I 'Occident, das, 1939 bei Gallimard in Paris erschienen, Rougemont große AnerkenAckermann, Rougemont, B d . l , 45. 25
Vgl. die Ausführungen zum „Exotismus" in: Jeröme Meizoz, „Ecrivain fran^ais!... s'il veut l'etre, qu'il apprenne notre langue!": litterature „periferique" et effets de champ en Suisse romande, in: Ecriture 42.1993, 270-278 sowie Kristina Schulz, La volonte de l'autonomie. Esquisse de l'etat des champs litteraires en Suisse ä l'epoque nazie ä travers les prises de position envers les ecrivains exiles en Suisse, in: Jeröme Meizoz Hg., La circulation internationale des litteratures (Etudes de lettres), Lausanne 2006, 99-112.
26
Die Stelle in Frankfurt war nicht auf ein Jahr begrenzt, doch kehrte Rougemont Deutschland nach einem Jahr den Rücken, da er, so sein Biograph, die Arbeitsbedingungen und die politischen Zustände, die diese hervorriefen, als unerträglich empfand.
27
Penser avec les mains (1936) (vgl. Anm.22) und Le Journal d'un intellectuel au chomage (1937). Innerhalb der einer Kollaboration mit Deutschland auf wirtschaftlicher Ebene nicht abgeneigten Gruppe um die Nouveaux Cahiers nahm Rougemont eine kritische Position ein. Er war v.a. verantwortlich für die Kolumne „Pouvoir des mots".
28
29
Der Figaro situierte sich in der Palette der französischen Zeitungen politisch rechts, aber in kritischer Distanz zu Nazi-Deutschland.
30
Ackermann, Rougemont, B d . l , 572f. Nicht nur, aber v.a. aufgrund der weltpolitischen Situation wurde keines der Projekte zum Abschluß gebracht.
162
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nung einbrachte und ihm nach Ende des Krieges eine „reputation mondiale" 3 ' verschaffte. Zahlreiche Indikatoren lassen darauf schließen, daß es Denis de Rougemont in den 1930er Jahren gelungen war, eine Position im literarischen Feld Frankreichs einzunehmen, die seiner Stimme im Sommer 1939 Gewicht verlieh. Ferner scheint es, als habe Rougemont durch seine Abwesenheit aus der Schweiz nicht an Legitimität verloren, sich zu vermeintlich „schweizerischen" Angelegenheiten zu äußern. Eine Begründung kann, zum ersten, in der Tatsache gesucht werden, daß Rougemont seine Kontakte zur Schweiz nie ganz aufgegeben hatte. Häufige Aufenthalte zu Vorträgen und Konferenzen, die Publikation des Paysan du Danube 1932 beim Verlagshaus Payot (Lausanne/Genf), die Autorschaft zahlreicher Artikel und Literaturbesprechungen im Journal der Geneve und in Presence sicherten ihm ein regelmäßiges Auftreten und die damit einhergehende Notorität in der Schweiz. Zum zweiten schrieb er 1939 ein Theaterstück über das Motiv des schweizerischen Nationalhelden Nicolaus von Flue, mit dem er anstrebte, den „esprit civique et spirituel" der Schweizer gegenüber der totalitären Bedrohung zu stärken, dem Grundsatz folgend „[qu'il] faut empecher l'annexion des esprits si l'on veut prevenir celle des territoires".32 Der Erfolg des Theaterstücks zeichnete Rougemont auch auf dem Gebiet der dramatischen Literatur als ernstzunehmenden Autor aus, zugleich war die Realisierung des Stücks bereits ein Beleg für die Anerkennung, die Rougemont in der Schweiz genoß: Rougemont hatte das Stück nicht aus freien Stücken geschrieben, sondern das Vorbereitungskomitee der schweizerischen Landesausstellung 1939 in Zürich (genannt: „Landi") war an Rougemont herangetreten. Zum dritten schließlich führte das strukturelle Verhältnis zwischen dem französischen literarischen Feld und dem Feld der Romandie dazu, daß Rougemonts Erfolge jenseits der Grenze auch die Anerkennung im eigenen Land sicherten. Die Mechanismen der Konsekration machten auch dann nicht an der Grenze halt, als die romanische Literatur (littirature romande) sich bereits einen eigenen autonomen Bereich geschaffen hatte. So konnte Rougemont bei seinen intellektuellen Interventionen in der Schweiz ein symbolisches Kapital geltend machen, das er überwiegend (wenn auch nicht gänzlich) im Ausland erworben hatte. Umgekehrt kehrte er in dem Augenblick Paris den Rücken (er hätte 1939 versuchen können, nach den Sommerferien zurück zu gehen), in dem er mit seiner schweizerischen Spezifizität in dem infolge der Kriegsituation nationalistisch gestimmten Frankreich als Ausländer an Beachtung verlor. Er kehrte in die Schweiz zurück (nicht zuletzt, indem er auf die Anfrage des Landi-Komitees zustimmend antwortete und seinen Nicolas de Flue auch tatsächlich fertig stellte, was längst nicht bei allen Aufträgen der Fall war), als in der Schweiz der Nationalismus ebenfalls Konjunktur hatte und er, als schweizerischer Schriftsteller, an Legitimität gewann. Es bleibt die Frage, wie es ihm gelang, sein 31 32
Ebd., 576. Interview έ J.-J. Chouet, Denis der Rougemont m'a dit, in: Jeunesse 1939/März, 34, zit. n. Ackermann, Rougemont, B d . l , 604.
Neutralität und Engagement
163
Plädoyer für ein aktives Eingreifen ins politische Feld mit dem Begriff der Neutralität zu verbinden, der zu diesem Zeitpunkt den politischen Diskurs der Schweiz und der Schweizer mehr denn je prägte.
II. Neutralite oblige: Die Schweiz und Europa „Que cette heure ait sonne pour la Suisse, qu'il soit temps de voir grand et d'oser, au sein d'un grand peril et d'un beau risque."33 Rougemont befaßte sich nicht erst seit Kriegsausbruch mit der Frage, wie und ob die Schweiz zu politischen Entwicklungen in Europa Stellung nehmen sollte bzw. welche Rolle die Schweiz in Europa zu übernehmen habe. Zentral fur die Rekonstruktion von Rougemonts Standpunkt ist ein Text, der im Oktober 1937 in der Zeitschrift Esprit erschien. Herausgeber des Heftes war Rougemont, der nach seiner Rückkehr aus Deutschland nach Paris die Zusammenarbeit mit der Zeitschrift und der Gruppe um Esprit wieder aufgenommen hatte. Auf Autoren aus der im Gefolge von Esprit auch in der Romandie aufblühenden personalistischen Bewegung zurückgreifend,34 gelang es Rougemont, eine dem Fall der Schweiz gewidmete Nummer mit dem Titel Le probleme suisse. Personne et Federalisme zusammenzustellen.35 Rougemont nahm darin in einem Artikel Stellung zu den helvetischen Instiutionen, dessen Titel bereits Programm war: „Neutralität verpflichtet".36 Welche Rolle schreibt Rougemont der Schweiz zu? Zwei komplementäre Konzepte charakterisieren aus seiner Sicht die äußere und die innere Verfassung der Schweiz und machen ihre „raison d'etre" 37 aus: Neutralität und Föderalismus. Die Neutralität der Schweiz, so Rougemont, sei Gegenstand zahlreicher Fehlinterpretationen. Sie würden sowohl durch Außenstehende geliefert, die Neutralität mit Übervorteilung, Egoismus und „ambitions mesquines"38 übersetzten, als auch von Schweizern selbst. Die Neutralität des Landes als Natur gegeben und selbstverständlich betrachtend, übersähen sie, daß die neutrale Position der Schweiz in der Welt ein Privileg sei, daß sich nur rechtfertige, wenn es immer wieder aktiv eingesetzt werde. In einer
Denis de Rougemont, Avertissement, in: ders., Mission ou demission de la Suisse, Neuchätel 1940, 7-9, 9. 34
Zu Esprit in der Schweiz vgl. Franfois Python, Maintenir l'ordre ou le faire?, in: Alain Clavien/ Bertrand Müller Hg., Le goüt de l'histoire, des idees et des hommes, Vevey 1996, 131-151.
35
Esprit 1937/H.61. Das Heft erscheint am 1.10.1937. Denis de Rougemont, Neutralite oblige, in: ebd., 22-35. Der Artikel wurde, mit kleinen Änderungen, wiederabgedr. in: Rougemont, Mission, 103-127. Folgende Zitatangaben beziehen sich auf diesen Wiederabdruck.
36
37 38
Ebd., 105. Ebd., 106.
164
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Zeit, in der das strategische ebenso wie das geistige Gleichgewicht Europas von Grund auf erschüttert würde, müsse die Schweiz ihren Platz neu definieren. An dieser Stelle fuhrt Rougemont den zweiten Schlüsselbegriff ein: Die große Herausforderung der Schweiz sei es, das föderale Bewußtsein zu fördern und es den „Mystikern", 39 die Europa beherrschten, entgegen zu stellen. Föderalismus bezeichnet für Rougemont einen Zustand des Gleichgewichts zwischen den Rechten der Person und den Rechten der Gemeinschaft. Die „wesentliche Mission der Schweiz" sei es, „eine Weltanschauung [deutsch und Hervorhebung i.O.] zu verteidigen, in der die Rechte des Einzelnen und die Pflichten gegenüber der Gemeinschaft sich gegenseitig befruchten." 4 0 Diese Weltanschauung bilde das Fundament der westlichen Kultur und es komme der Schweiz zu, dieses zentrale föderative Prinzip zu behüten. Einzig die Position als „Torhüterin" dieses Prinzips rechtfertige die Neutralität der Schweiz. Die Erfahrung des Föderalismus mache die Schweiz zur Vorreiterin eines föderierten Europas. Rougemont zeigt Konsequenzen dieser Feststellung in drei zentralen Bereichen auf und rückt zunächst die öffentliche Meinung ins Zentrum: Die von Journalisten verbreitete „opinion suisse" [Hervorhebung i.O.] stünde häufig im Widerspruch zur Neutralität. Rougemont kritisiert jene, die Stellung zu außenpolitischen Themen oder innenpolitischen Problemen andere Länder nehmen, ohne dies im Namen des föderalen Prinzips zu tun, das hervorzubringen die Aufgabe der Schweiz sei. Die Schweiz müsse, so das Plädoyer, im Namen der Zukunft Europas sprechen. Rougemont äußert sich zudem zum Thema Kultur. Dabei spielt er auf Ramuz' Auffassung der schweizer Kultur an, die - so Ramuz - als solche gar nicht existiere. 41 Rougemont sieht dagegen die Vielgestaltigkeit der Schweiz als Chance an. Allerdings gelte es, das föderale Bewußtsein - die „anerkannte Verschiedenheit" und ihre Ausdrucksformen ebenso wie Austausch, gegenseitige Bereicherung und die Fähigkeit zur Synthese - unaufhörlich zu stärken. „Unsere Einheit [unite] existiert", schreibt er auf Ramuz anspielend. „Es ist die einzigartige und vielleicht zukünftige und finale Vereinigung [unite] der Verschiedenheiten Europas, die durch unsere vier Sprachen symbolisiert wird, durch unsere zwei Religionen und unsere 25 Republiken." 42 Rougemont definiert Neutralität auf der Ebene der Kultur in Abgrenzung zu einem Diskurs der „Vermischung" und der „mittelmäßigen Imitation" als „einen andauernden, 39
Vgl. ebd., 109.
40
Ebd., 109f.
41
Charles-Ferdinand Ramuz ( 1 8 8 7 - 1 9 4 7 ) . R o u g e m o n t hatte den um v i e l e Jahre älteren und renommierten s c h w e i z e r i s c h e n Schriftsteller dazu gewinnen können, einen Beitrag für den T h e m e n schwerpunkt S c h w e i z in Esprit
zu verfassen. Er erschien in Form eines o f f e n e n Briefes. In s e i n e m
lettre argumentierte Ramuz, daß, kulturell gesehen, die S c h w e i z nicht existiere. Er formuliert u.a. die (in der Kritik vielfach aufgegriffenen) Worte: „Ici, en Suisse, il n ' y a q u e les boites aux lettres et l'uniforme de n o s m i l i c e s qui presentent quelque uniformite" (Charles Fedinand R a m u z , Lettre, in: Esprit 1 9 3 7 / H . 8 1 , 4 - 1 0 , 7). 42
R o u g e m o n t , Neutralite oblige, 116f.
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Engagement
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erhebenden [exaltant] Kampf, das Schlagen im Herzen Europas." 43 Es gehe nicht darum, eine schweizerische Kultur zu schaffen, sondern die eigene Kultur bereits als europäische Kultur zu begreifen. Auf Erasmus, Calvin und andere bedeutende Denker anspielend, zeichnet Rougemont seine Vision einer „pluralistischen kulturellen Schweiz mit ihren sukzessiven und manchmal sogar zeitgleichen Zentren, die den grands errants de I 'esprit [nicht übersetzbar, Anm. d. Verf.] [...] Asyl bietet." 44 Schließlich geht Rougemont auch auf die Armee ein. Er vertritt die Auffassung, daß das Militär nur ein Aspekt der Verteidigung des Föderalismus sei und es den restlichen Aspekten untergeordnet werden solle, sei „es doch gerade dieser ,Rest', der der Föderation Sinn verleiht." 45 Zwar sei die Bedeutung der Streitkräfte unbestritten. Aber bereits mit einem Bruchteil des Geldes könne man, so Rougemont, den Bereich des Kulturellen (Wissenschaftler, Schriftsteller, Künstler) stützen und damit dem Land ein internationales Prestige sichern, „das uns vielleicht mehr als eine Garantie der Autonomie verschaffen kann: die eine wirklich autonome Existenz." 46 Rougemont tritt für ein bedeutendes Kulturbudget ein („budget de la conscience federate"), da die eigentliche Existenzberechtigung der Schweiz ihre kulturelle und geistige Mission sei. Nicht die existierende politische Ordnung, sondern eine als Vorsicht mißverstandene Neutralität, eine allgemeine Schulausbildung, die auf einem engen Menschenbild fuße und eine uneingeschränkt kapitalistische Wirtschaftsordnung, seien, so Rougemont abschließend, die größten Feinde des Landes. Es gelte daher, nicht die existierende politische Ordnung umzuwälzen, sondern dieser „eine Bedeutung zu geben, die sie lebendig und rein („pure") hält" und die sie „gegen die Feinde des Inneren" 47 verteidigt, um sie nach außen hin stark zu machen. Zusammenfassend wird deutlich: Erstens: Rougemont schreibt der Schweiz eine besondere Aufgabe innerhalb Europas zu: Aufgrund ihrer Föderalismus-Erfahrung könne sie im entstehenden „Europa der Zukunft" eine Vorreiter-Rolle einnehmen. Zweitens: Rougemonts Stellungnahme schreibt sich in einen Diskurs über die Rolle der Schweiz in Europa ein, in dem zugleich auch um die Definition der legitimen politischen Organisation des Landes (Föderalismus oder Zentralismus) gerungen wird. In diesem im politischen und intellektuellen Feld ausgefochtenen Kampf tritt Rougemont für eine auf dem föderalistischen Prinzip basierende Neutralität ein. Die neutrale Position der Schweiz sei nur gerechtfertigt, wenn sie als „aktive Neutralität" verstanden werde: Das Land müsse die Aktualität seiner föderalen Traditionen und Institutionen innerhalb und für das neue Europa deutlich machen. 48
43 44
Ebd., 118. Ebd., 118f.
45
Ebd. 122.
46
Ebd., 122f.
47
Ebd., 125.
48
Der vorgestellte Artikel stellt Rougemonts erste Intervention in diesem Diskurs da, der - unter dem vielfältig gedeuteten Stichwort der „geistigen Landesverteidigung" - bereits seit Ende der
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Drittens: Rougemont definiert die Kultur der Schweiz in Abgrenzung zu CharlesFerdinand Ramuz gemäß dem Motiv der „Einheit in der Vielfalt". Damit positioniert er sich gegen einen Schriftsteller, mit dem er viel gemeinsam hat: die gemeinsame westschweizerische Herkunft, die Anfälligkeit für die Anziehungskraft der kulturellen Hauptstadt Paris (auch Ramuz hat seinen Namen in Paris gemacht) und die Nähe zur personalistischen Bewegung. Indes, beide nehmen unterschiedliche Positionen im literarischen Feld ein. Sie befinden sich in ihren biographischen Flugbahnen nicht am selben Punkt. Während der fast 20 Jahre ältere Ramuz in den 1930er Jahren bereits über eine große Reputation verfügte, Träger des Prix Romand (1930) und Verfasser weithin bekannter und berühmter Werke war, stand der zum Zeitpunkt der Redaktion des Artikels knapp 30jährige Rougemont noch am Anfang seiner Karriere. Das Verhältnis zwischen diesen beiden Schriftstellern wäre aus dieser Perspektive noch tiefer gehend zu untersuchen. Viertens: Rougemont weist dem Bereich des Kulturellen und des Geistigen eine besondere Bedeutung zu. Aktive Neutralität setzt Bewußtsein voraus und es ist nach Rougemont die Aufgabe der Kultur- und Geistesarbeiter, den Prozeß der Bewußtwerdung auszulösen und zu begleiten. Andere Aspekte der Neutralität haben dem gegenüber nur flankierende Funktion. Damit erklärt Rougemont die „Menschen des Geistes" (hommes de la pensee) zu einem entscheidenden Träger gesellschaftlichen Wandels. Welche Funktion weist er ihnen im Einzelnen zu und welches sind ihre Handlungsspielräume?
1920er Jahre in katholisch-konservativen und frontistischen Kreisen, ab 1933 vermehrt auch in Bezug auf die Kulturpolitik, geführt wurde. Vgl. zur Geistigen Landesverteidigung: Josef Mooser, Die „Geistige Landesverteidigung" in den 1930er Jahren. Profile und Kontexte eines vielschichtigen Phänomens der schweizerischen politischen Kultur in der Zwischenkriegszeit, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 47.1997, 685-708. Rougemont hat ab 1938/39 eine Fülle von Artikeln geschrieben und Vorträgen gehalten, die hier auch nicht annähernd vollständig genannt werden können. Darin erhob er den Föderalismus zum Gegenmodell des Totalitarismus. Vgl. stellvertretend für viele andere Texte: Denis de Rougemont, La vraie defense contre l'esprit totalitaire, in: Les cahiers protestants 7.1938, 411-425.
Neutralität und Engagement
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III. Die „Annektierung des Geistes" verhindern 1. Der Kampf der Kultur Bereits in dem Artikel Neutralite oblige (1937) - und sogar zuvor49 - betonte Rougemont die herausragende Rolle der Kultur, der andere Bereiche wie die Armee und die Wirtschaft neben- oder nachgeordnet seien. Im beinahe gleichen Atemzug konstatiert er aber auch, daß die Meinung der Schriftsteller „nirgends weniger Einfluß auf das politische Leben" hätte als in der Schweiz.50 Drei Jahre später und unter den Bedingungen einer politisch dramatisch zugespitzten Lage, ist Rougemonts Kritik an den politischen Autoritäten, welche die Arbeit der Kulturschaffenden und Sinnstifter gering schätzten, schärfer (und kaum angemessen übersetzbar): „Nous avons bien assez de techniciens, de specialistes et de .competences': leur travail est indispensable, mais il ne saurait etre utile que s'il est Oriente [Hervorhebung i.O.] d'emblee par une vision generale du monde, et du röle de la Suisse dans le monde. [...] L'epreuve des armes nous attend peut-etre; mais nous courons deja l'epreuve des ärnes." 5 '
Rougemont leitet sein Plädoyer für die „Seelenretter" und Ideengeber aus seiner spezifischen Auffassung der Kultur als Kampf zwischen geistigen und materiellen Werten her. Diese Interpretation stand im Zentrum eines Vortrags, den Rougemont am 15. Januar 1940 im Rathaus Zürich und danach mehrfach auf einer Reise durch Holland hielt: La Bataille de la Culture.52 Der Redner entwickelt seinen Kulturbegriff ausgehend von der Frage, was die Soldaten, die im selben Augenblick ihr Leben im Krieg lassen, gemeinsam haben mit den Menschen im Auditorium und ihm selbst, dem Redner. „Wozu nützt es, in einer Welt zu sprechen und zu theoretisieren, die in diesem Ausmaß fassungslos [stupefle] ist angesichts eines Krieges, den keiner wollte, und der gleichwohl stattfand?" (58) Wenn es zwischen einem Vortrag zur Kultur und der aktuellen Situation inmitten des Krieges keinen Zusammenhang gebe, so Rougemont, sei es angebracht zu schweigen. Wenn die Kultur hingegen „eine Sache des Einverständnisses" sei, ein „Ensemble friedlicher Besonderheiten [specialties paisibles], etwas Überflüssiges", dann gelte es, „den Mund zu halten, wenn die Situation ernst wird." Wenn aber „die Kultur Handeln ist, Schaffen und reale Schlacht [bataille reelle], dann ist davon zu sprechen, ist sie zu verteidigen und zu veranschaulichen gerade dann, wenn die Situation ernst wird." (59) Für Rouge4,)
Das Thema der Kluft zwischen Denken und Handeln und der Krise der abendländischen Kultur standen bereits im Zentrum des Buches Penser monts Plädoyer, „doit penser
avec les mains
(1936). ,^'homme",
so Rouge-
en acte." [kaum angemessen übersetzbar, Anm. d. V . ] Siehe: Bruno
Ackermann, D e n i s de Rougemont, in: Roger Franfillon Hg., Histoire de la litterature en Suisse romande, Bd.3: D e la second guerre aux annees 1970, Lausanne 1998, 5 0 5 - 5 1 8 , 509f. 50
Rougemont, Neutralite oblige, 120.
51
Rougemont, Avertissement, 8.
52
Denis de Rougemont, La bataille de la culture (Januar 1940), wiederabgedr. in: ders., Mission, 5 7 - 1 0 3 . Folgende Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf diesen Wiederabdruck.
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mont befindet sich das abendländische Denken in einer Krise, die sich darin äußert, daß die Kultur gegenüber Handeln, Krieg oder nationaler Verteidigung als zweitrangig angesehen wird, das Materielle den Sieg über das Geistige davon getragen habe. Er fuhrt die Krise auf zwei charakteristische Züge der modernen Zivilisation zurück und spart dabei nicht mit Kritik an seiner eigenen Zunft, den hommes de la pensie. Zum ersten diagnostiziert er eine große Disharmonie zwischen unterschiedlichen Aktivitäten der Menschen. Rougemont illustriert diesen Befund unter anderem am Beispiel eines Chemikers, der einen für die Industrie ausgesprochen profitablen Sprengstoff entwickelt und mit dem Gewinnüberschuß einen Preis stiftet, mit dem humanitäre, friedensstiftende Aktivitäten geehrt werden sollen. Die Menschen seien derzeit nicht mehr in der Lage, darin den Widerspruch zu erkennen, die „Grundsünde" der Gesellschaft und der Kultur sei derzeit „die gänzliche Abwesenheit eines vue d 'ensemble [kaum adäquat zu übersetzen, Anm. d. Verf.]." (65) Zum zweiten weist Rougement auf eine zunehmende Trennung zwischen Denken und Handeln hin und die damit einhergehende Unfähigkeit des Geistes, auf die Gesellschaft Einfluß zu nehmen: „Die Scheidung wurde ausgesprochen zwischen der Kultur und dem Handeln, zwischen dem Hirn und der Hand." (66) In Krisenzeiten gelte kulturelle Aktivität als „Luxus", werde es als normal angesehen, daß das Denken der Freiheit abschwört und sich den Bedürfnissen des Handelns unterwirft. Intellektuelle würden unter diesen Bedingungen als Menschen angesehen, die nichts zum Wohlergehen der Gesellschaft beitragen. Und dennoch, so Rougemont, könnten einzig die Werte des Denkens verhindern, daß die Gesellschaft in eine „Unordnung" gleite, deren letzte, unvermeidbare Äußerungsform der Krieg sei. Seinen Ausgangspunkt habe das Auseinanderdriften von Kultur und Handeln Anfang des 19. Jahrhunderts genommen, als Kultur und Denken mit der durch technische Errungenschaften verursachten „abrupten Zunahme der menschlichen Möglichkeiten" (68) im Handeln nicht mehr Schritt halten konnten. Im Rückblick sei es als Versagen zu betrachten, daß die hommes de la pensee nicht aufmerksamer für die negativen Folgen des „Fortschritts" gewesen seien und stattdessen mit Flucht und Rückzug in das, was sie „desinteressement [nicht übersetzbar, Anm. d. Verf.] des Denkens" (70) nannten, reagiert hätten. Bei den Philosophen und Denkern des vorhergehenden Jahrhunderts werde man zuallererst den Erzfeind der Kultur gewahr: „/ 'esprit de la demission [kaum adäquat übersetzbar, Anm. d. Verf.], der Nicht-Intervention, oder der demission de I 'esprit [s.o., Hervorhebung i.O.]." (71) Die Denker und Philosophen, so ein weiterer Vorwurf, hätten nicht nur versäumt, einzugreifen, sondern sie hätten ihr Nicht-Eingreifen auch noch philosophisch untermauert. Der Liberalismus habe sich, die Freiheit des Individuums betonend, auf eine Position zurückgezogen, in der die gesellschaftliche Entwicklung einzig den freien Kräften des Marktes gehorche und die Ebene des Denkens damit irrelevant sei; für den Marxismus herrschen die ökonomischen Gesetze (und schränken damit Freiheit ein), an denen der Geist nichts ändern könne. Damit habe man einem sinnentleerten Handeln
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das Feld überlassen; es fehle der heutigen Gesellschaft ein einigendes Handlungsprinzip, einzig Geld gelte noch als Maßstab für den Wert menschlichen Handelns. Der Verfall der Sprache sei ein anschauliches Beispiel für diese „culture en chömage." Die Zunahme an „unkontrolliertem verbalem Austausch" (Rougemont spielt auf Propaganda und Werbung an) habe dazu geführt, daß die Schriftsteller, „die über keine anderen Waffen als die Worte verfügen, sich jeglichen Mittels zum Handeln enteignet wieder finden." (80) Ohne ihre geistige Autorität werde es die „brutale Propaganda" sein, die den Sinn der Worte festlege. Die Kultur falle damit in eine Agonie, das soziale und politische Leben werde gleichsam unmöglich und die Massen wendeten sich, so die Schlußfolgerung, mehr und mehr den Führern der „großen kollektivistischen Bewegungen" (82) zu. Welches Gegenmittel schlägt Rougemont angesichts dieser düsteren Bilanz vor? Veränderung müsse, so sein Plädoyer, bei der Denkhaltung ansetzen. „Alles hängt, an erster Stelle [Hervorhebung i.O.], vom Zustand unseres Geistes" ab. Wenn er sich ändert, beginnt auch alles andere sich zu verändern. Wenn er sich nicht ändert, sind alle materiellen Reformen nutzlos und wenden sich ins Unglück." (85) Politiker wie Intellektuelle haben, so weiter, die Definition selbst des Menschen aus den Augen verloren. „In dieser Welt, die den Maßstab verloren hat", sei es die Aufgabe und die Pflicht der Intellektuellen, „den verlorenen Menschen zu suchen." (86) Es gelte, dem Geist des Fatalismus einen „esprit createur" entgegen zu setzen, die Gesetze des Fatalismus herrschten nur da, wo der Geist aufgebe, die totalitäten Lösungen seien nichts anderes als die „Lösungen intellektueller Faulheit, Lösungen der Misere, durchzogen von heroischer Rhetorik." (93) Doch welches sind nach Rougemont die Anweisungen für ein neues Handeln und wessen „kreativer Geist" schafft die Verbindlichkeiten, welche die Gesellschaft erhalten? Rougemont diskutiert zunächst die Bedeutung der Kirche. Sie müsse ihre Rolle als Richtungsgeber des Denkens und Handelns wieder finden. Er weist dann auf intellektuelle Bewegungen hin, die, ähnlich wie die Kirche, in kleinen Gemeinden organisiert seien, wie die personalistische Bewegung und der dort entstehende Gruppengeist. Der Weg in eine neue Gesellschaft verläuft für Rougemont über die Organisation in kleinen Einheiten. Nur diese könnten in gleicher Weise einen übertriebenen Individualismus und ein Verfallen an den Mythos des Kollektivs verhindern. Daraus folgt für Rougemont, daß die föderale Lösung, die das Vorhandensein kleiner, diversifizierter Gruppen voraussetzt, es am besten vermag, die Bedürfnisse individueller Freiheit mit den Verpflichtungen gegenüber der Gemeinschaft zu vereinen. Ohne „eine Welt und eine Kultur", die „auf der Grundlage der Diversität der Personen und ihrer Berufungen zu schaffen" sei, sei ein „dauerhafter Frieden" nicht möglich. (98) Der Vortrag endet in einigen politischen Schlußfolgerungen, in denen Rougemont noch einmal seine Auffassung über die Mission der Schweiz für Europa erläutert und die „föderale Wirklichkeit der Schweiz" zur „einzig möglichen Zukunft Europas" (99) erklärt. Damit „fordern [wir] nicht das Paradies auf Erden. Wir fordern einzig und allein
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eine menschliche Welt." (101) Faßt man zusammen, läßt sich konstatieren, daß Rougemont die Kultur als Herzstück der Gesellschaft betrachtet. Er geht dabei von einem weit gefaßten Kulturbegriff aus, der neben Sprache und Kunst auch und vor allem den Bereich der Sinnstiftung bezeichnet. Femer ist sein Kulturbegriff alles andere als statisch oder harmonistisch: Rougemont begreift Kultur als andauernden Kampf eines jeden selbst gegen „intellektuelle Faulheit" und gegen die Übermacht des Materiellen, ein Kampf, der nicht weniger schwierig zu gewinnen sei als der gegenwärtige Krieg, der aber verspreche, den ewigen Konflikten einen Sinn zu geben und „aus ihnen etwas Neues, Fruchtbringendes erwachen zu lassen." (102) Schließlich kommt den Geistesarbeitern, den Politikern und Intellektuellen, den Schriftstellern und Philosophen in Rougemonts Modell eine herausragende Rolle zu: Ihre sinnstiftende Aktivität allein könne die Ausbreitung des totalitaristischen Denkens verhindern. In seinem Vortrag leitet Rougemont die Misere der Gesellschaft aus einer Trennung zwischen Denken und Handeln her und fordert dazu auf, diese Kluft zu überwinden. Indes ruft er nicht zu konkreten Handlungen auf: Wenn auch direkt damit verbunden, bleibt für ihn die Aktion der Intellektuellen auf den Bereich der Sinnstiftung beschränkt, gelten sie als Spezialisten des Kulturellen. Kaum sechs Wochen später jedoch versieht er eine Aufsatzsammlung, in die auch La Bataille de la Culture aufgenommen wurde, mit einem Vorwort. „Ich gebe hier [mit dieser Textsammlung] nur einen allgemeinen Überblick und deute einige Denkrichtungen an. Das ist nicht ausreichend, aber das ist vordringlich. Es ist das, was wir am meisten brauchen." Er kündigt den Vortrag als eine „schnelle Synthese deijenigen sozialen, kulturellen und geistigen Elemente [an], die den derzeitigen Zustand Europas determinieren", ein Vortrag mit dem Ziel, „unser besonderes [particuliere] Handeln in eine generelle Entwicklung einzuschreiben."53 Von welchem Handeln ist die Rede? Geht es um die Schweizer insgesamt, um die hommes de la pensee ganz generell oder geht es (auch) um Rougemont selbst? In dem Moment, in dem Rougemont das Vorwort schreibt (es ist datiert auf den ersten März 1940), ist er bereits dabei, Kontakte zu Personen zu knüpfen, die wie er bereit sind, angesichts der drohenden Gefahr aus Deutschland und der „defätistischen" Haltung der schweizerischen Regierung vom Denken zum Handeln überzugehen. 2. 'heure est venue d'agir et de rialiser":54 Denis de Rougemont und die GotthardLiga Die Aktivitäten Rougemonts in der Gotthard-Liga beschränken sich auf die allerersten Anfänge dieser erst 1969 aufgelösten Organisation, genau genommen auf die Zeit zwischen frühen Gesprächen unter Gleichgesinnten ab Frühjahr 1940 und Rougemonts Abreise in die Vereinigten Staaten Mitte August 1940. R o u g e m o n t , Avertissement, 8. Ligue du Gothard, Appel ä collaborer (Faltblatt), u.a. in: Gazette de Lausanne, 2 7 . 7 . 1 9 4 0 .
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Die Gotthard-Liga war eine von vielen Gruppen, Bewegungen und Ligen, die Ende der 1930er und Anfang der 1940er in der Schweiz entstanden und die als Ausdruck einer Vertrauenskrise in die politischen Institutionen und herkömmlichen Parteien des Landes zu werten sind.55 Den konkreten Plänen zur Gründung der Gotthard-Liga gingen, glaubt man dem Bericht eines ehemaligen Mitglieds, Rene Leyvraz, Gespräche voraus, die im Mai 1939 im Umkreis des dem Patriotismus der Neuen Helvetischen Gesellschaft anhängenden und den Föderalismus verteidigenden Schriftstellers Gonzague de Reynold stattfanden. Diese ersten Kontaktnahmen zwischen Männern mit hohem Bildungskapital, die sowohl aus dem französischsprachigen als auch aus dem alemannischen Raum der Schweiz kamen und untereinander in lockerer Verbindung standen, waren „voller Freundschaft und Elan", aber dennoch „ziemlich enttäuschend": Zu groß schien die Kluft zwischen den Angehörigen der beiden Sprachgruppen zu Aspekten, „zu denen wir nicht mehr die gleiche Sprache sprachen." Über einen Punkt habe jedoch Einstimmigkeit geherrscht: „Wir wollen einen Ausweg aus der individualistischen Zerstreuung finden, ohne in einen erstickenden Etatismus zu versinken. Wir wollen eine helvetische Ordnung wieder herstellen, die auf Gott, der Person, der Familie, dem Beruf, der Gemeinschaft beruht."56 Hinter diesem Ziel gelang es tatsächlich, einen Kern von rund zehn Männern aus unterschiedlichen Kontexten (Militär, christliche Gewerkschaften, Theologieprofessor) zu vereinen, die gemeinsam als Gründer der GotthardLiga auftraten. Wie genau Rougemont im Verlauf des Jahres zu diesem lockeren Zirkel stieß, läßt sich auf der Grundlage der konsultierten Materialien nicht rekonstruieren. In seinem Tagebuch berichtet er erst im Juni 1940 von dem bereits erwähnten Austausch mit Theophil Spoerri, zu einem Zeitpunkt also, zu dem Vorbereitungen von anderer Seite schon eingeleitet waren. Phillipe Müller, ein ehemaliger „Obmann" der Liga, erinnert, daß neben Rougemont noch ein weiteres Mitglied der Zeitschrift Esprit und der personalistischen Bewegung nahe stand: Charles Ferdinand Ducommun. Ducommun war bei der Gründung der Gruppe im Kanton Neuchätel sehr engagiert, so daß sich vermuten läßt, daß die beiden in engerem Kontakt standen.57
Vgl. Ackermann, Rougemont, Bd.2, 648. Rene Leyvraz, Les origines de la Ligue du Gothard (undatiertes Manuskript), Fundort: Archiv fur Zeitgeschichte, Zürich, Bestand Gotthard-Bund, Signatur GB 11. Die Geschichte der GotthardLiga ist bislang nicht tiefgreifend rekonstruiert worden. Ehemalige Mitglieder haben darauf hin gearbeitet, besonders Christian Gasser. Er initierte 1977 eine Konferenz zur Gotthard-Liga, auf der einige Ehemalige sprachen, darunter auch Rene Leyvraz auf der Grundlage des zitierten Manuskripts. Teile des Kolloquiums wurden erst nach vielfältiger Kritik durch Verleger und Historiker und mehrfacher Überarbeitung publiziert (entsprechende Korrespondenz ist im Archiv Bestand des Gotthard-Bundes einzusehen) unter dem Titel: Christian Gasser, Der Gotthard-Bund. Eine schweizerische Widerstandsbewegung. Aus den Archiven 1940 bis 1948, Bern 1984. Nach Rougemonts Abreise übernahm Philippe Müller dessen Funktionen im Direktorium: Vortrag, gehalten in Zürich 1977, Fundort: Archiv für Zeitgeschichte, Zürich, Bestand GotthardBund, Signatur GB 63.3.
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Ab Juni 1940 profiliert sich die Gruppe, die Ereignisse verdichten sich. Zwar kann Rougemont weder an einem ersten Treffen am 22. Juni noch an der Gründungsversammlung am 30. Juni in Bern teilnehmen (er steht wegen seines Artikels in der Gazette de Lausanne noch immer unter Arrest (s. 1.1)), aber in der Nacht vom zweiten auf den dritten Juli arbeitet er mit Christian Gasser am Manifest der Liga, das, von elf „Eidgenossen" unterzeichnet, noch am selben Tag in den Druck geht.58 In diesem Manifest wird an die Einigkeit der Schweiz angesichts der Gefahren von außen appelliert und die Bundesregierung aufgefordert, Stärke zu zeigen. Zu einem Zeitpunkt, zu dem die schweizerische Regierung versucht ist, einen opportunistischen Kurs gegenüber Deutschland einzuschlagen, rufen die Unterzeichner zum Standhalten gegen „äußeren Druck und Härte des Schicksals"59 auf. Die Autoren formulieren als Voraussetzung für eine derartige Politik der starken Führung, daß neue, starke und unabhängige Persönlichkeiten in die Regierungsgeschäfte einbezogen werden; daß der „unter den Zeitumständen mögliche freie Raum fur Meinungsbildung"60 erhalten bleibe, erstarrte Parteiformen und -gegensätze (rechts-links) überwunden und wirtschaftliche Reformen eingeleitet werden, bei denen nicht Profit, sondern der Mensch im Mittelpunkt stehe. Schließlich erklären sie den Föderalismus zur Grundlage der „inneren Stärke" der Schweiz. Zwei weitere Dokumente des Sommers tragen die starke Handschrift Rougemonts, ein von neun der elf Unterzeichner des Manifests unterschriebenes Faltblatt, in dem die Prinzipien der Liga formuliert werden, sowie eine von ihm erarbeitete und signierte Broschüre mit dem Titel Qu 'est-ce que La Ligue du Gotthard?6' Etwas distanzierter zum Tagesgeschehen als das Manifest, machen sie noch deutlicher, worin für Rougemont und die Unterzeichner der rettende Ausweg aus der Gefahr der bedingungslosen Unterwerfung unter Nazi-Deutschland bestand. Es wird, erstens, erneut auf die Mission der Schweiz hingewiesen: Die Schweiz habe die historische Aufgabe, im ewigen Streit zwischen materiellen und geistigen Werten zu vermitteln. Angestrebt wird, zweitens, eine neue Organisationsstrategie: Die Ligue sollte organisiert sein, wie das Land, das zu verteidigen sie antrat, selbst: als Föderation von Lokal- und Regionalgruppen [iquipes de travail]. Damit wurde der Föderalismus erneut ins Zentrum gerückt: Es gelte, das Prinzip der Struktur autonomer föderierter Gruppen „um jeden Preis" zu schützen.62 Das Gebot der Stunde sei nicht die „Zentralisierung der
58
Tagebuch-Notiz Christian Gasser, wiedergegeben in: Der Gotthard-Bund. Dokumente aus der Gründungszeit. Die Zusammensetzung der Unterzeichner zeigt, daß die Mitglieder aus unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen kamen.
59
Manifest, 3.7.1940, Faltblatt, Fundort: Archiv für Zeitgeschichte, Zürich, Bestand GotthardBund, Signatur: GB 2, B l . l .
60
Ebd., BI.3.
61
Es gibt Hinweise, daß beide Texte (zumindest) in deutsch und französisch vorlagen. Ligue du Gothard, Principes, Faltblatt, Fundort: Archiv für Zeitgeschichte, Zürich, Bestand Gotthard-Bund, Signatur GB 3, Bl. 1.
62
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Institutionen sondern, das Gleichgewicht zwischen vitalen Interessen der Mitglieder"63 der Eidgenossenschaft zu sichern. Rougemont regt, drittens, eine Transformationsstrategie an, bei der der kulturelle Bereich (Ideen, Denken) im Zentrum steht. Die „kreativen Kräfte" des Landes seien zu versammeln, „alle jene, die den Mut haben, neue Methoden anzuwenden und schwierige Entscheidungen zu fällen."64 Das Denken insgesamt und besonders der Ideenaustausch mit den europäischen Denkströmungen müsse gefördert, sowie die kulturellen Beziehungen zu den drei Nachbarländern gepflegt werden. Damit erhält der Bereich des Denkens eine gänzlich andere Bestimmung als für viele, die an der Debatte über die „geistige Landesverteidigung" teilnahmen: Nicht Schließung und Rückbesinnung auf spezifisch Schweizerisches wird propagiert, sondern die Öffnung nach außen. Die Liga versteht sich als „Aktionskomitee",65 verfolgt damit, viertens, eine Aktionsstrategie, bei der nicht theoretische Erörterungen [traites theoriques] sondern die „action immediate"66 im Zentrum stehen sollte. Entsprechend tritt sie mit einem „Aktionsplan" an die Öffentlichkeit, in dem Maßnahmen in politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bereichen erwogen werden. Über konkrete Aktionen der Liga ist in diesen ersten Dokumenten allerdings wenig Konkretes zu erfahren, handelt es sich doch in diesem Stadium der Konstituierung der Liga um programmatische Texte und Willensbekundungen. Wie schon im Manifest des 3. Juli 1940 wird deutlich: das Mißtrauen in die politischen Autoritäten, verbunden mit der Aufforderung, „neue Männer" [Nouveaux hommes] in die Bundesinstitutionen einzuführen; die Bedeutung, die konstruktiver Kritik und der Freiheit des Glaubens und des Denkens zugeschrieben wird, sowie die Favorisierung einer auf kleinen Einheiten beruhenden Gesellschaftsform (politisch: föderal; wirtschaftlich: regional strukturierte Kooperationen; sozial: Bedeutung der „natürlichen sozialen Einheiten" wie Familie, Unternehmen, Kommune).67 Die Grundsätze (Principes) wurden am 24. Juli 1940 in der Neuen Zürcher Zeitung (Sonntagsausgabe) und in weiteren schweizerischen Zeitungen abgedruckt. Das Erscheinen von Rougemonts Broschüre Was ist die Gotthard-Liga? wurde in der ersten Ausgabe des in unregelmäßigen Abständen erscheinenden Gotthard-Briefs Ende August 1940 angekündigt, sie kam erst aus der Druckerpresse, als Rougemont das Land schon verlassen hatte. In der Gotthard-Liga verstärkten sich im Verlauf des Herbstes 1940 konservativ-nationalistische sowie rückwärts gewandte Tendenzen.68 Mit Rougemonts an die Verant-
63
Ebd., BI.2.
64
Ebd.
65
Denis de Rougemont, Qu'est-ce que La Ligue du Gothard, Neuchätel 1940, 3.
66
Ebd., 5.
67
Vgl. Ligue du Gothard, Principes, BI.3.
68
Siehe z.B. folgende Passage aus: Adolf Brunner, Neues Bürgertum. Gedanken zur Gründung des Gotthard-Bundes. Sonderdruck aus der Neuen Schweizer Rundschau, Dezember 1940, Fundort: Archiv für Zeitgeschichte, Zürich, Bestand Gotthard-Bund, Signatur 31.8:
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wortung jedes menschlichen Wesens appellierenden, anti-totalitären Haltung ließ sich diese Entwicklung kaum vereinbaren. Ob Rougemonts Abreise in die USA mit den ersten Zeichen eines solchen Wandels der Liga zusammenhängt, bleibt auf der Grundlage des konsultierten Materials eine Vermutung. Daß er aus dem Ausland her den Kontakt nicht mehr gesucht hat, mag als Hinweis ebenso gedeutet werden wie die Tatsache dieser überstürzten Ausreise selbst.69 Hoffnung auf schnellen Wandel durch ein wirkungsvolles Handeln der Gotthard-Liga schien er jedenfalls nicht mehr zu haben.
Pensez en acte: Zur Rolle und Aufgabe der Intellektuellen Anstatt der geplanten vier Monate blieb Denis de Rougemont mehr als fünf Jahre der Schweiz fern. An die Vortragsreise schloß sich eine längere Reise durch Argentinien an, sowie eine Tätigkeit an der New School for Social Research, einem der wichtigsten amerikanischen Zentren der antifaschistischen Emigration, und, 1943, beim amerikanischen Office of War Information. Über diese Zeit legte er Zeugnis ab in einem weiteren Journal, Le Journal des deux mondes, das 1946 erschien.70 Nach seiner Rückkehr nach Europa im Jahre 1946 trat Rougemont als vehementer Befürworter der europäischen Einigung im Sinne eines Europa der Föderationen (oder auch: „Europa der Regionen") ein, gründete 1950 in Genf das Centre Europeen de la Culture und engagierte sich in zahlreichen Initiativen zur Verteidigung der europäischen Kultur. Rougemont starb am 6. Dezember 1985 in Genf und hinterließ ein bedeutendes Werk, in dessen Zentrum
69
70
„[...] Das vergötterte Denken der Aufklärung, die entfesselte Technik und die freie Profitwirtschaft des 19. Jahrhunderts haben grosse Teile der von der abendländischen Zivilisation erfassten Menschheit nicht nur verflacht und entpersönlicht, sondern auch in unserem Sinne entbürgerlicht. [...] Ungesund aufblühende Grosstädte wurden zu verhängnisvollen Sammelbecken von Menschen, welche sich nicht mehr als lebendige Glieder einer Gemeinde fühlen wollen und darum nur noch als Masse politisch in Aktion treten". Auf Beschluß des Bundesrates vom 5.4.1939 gegründet, hatte die Stiftung Pro Helvetia zur Aufgabe, die Kultur der Schweiz „im Sinne der Verteidigung gemeinsamer geistiger Werte und vertiefter gegenseitiger Befruchtung" zu fördern (Botschaft zur schweizerischen Kulturwahrung und Kulturwerbung 1938, dazu: Ursula Amrein, „Los von Berlin". Die Literatur- und Theaterpolitik der Schweiz und das „Dritte Reich", Zürich 2004, 96.) Für diesen Zweck stellte sie Gelder zur Verfugung, mit denen schweizerische Professoren, Künstler, Schriftsteller etc. für einen begrenzten Zeitraum eine Vortragsreise ins Ausland unternehmen und die Kultur der Schweiz bekannt machen sollten. Rougemont erhielt die Einladung, in diesem Rahmen eine viermonatige Reise zu unternehmen. Zudem schien er eine Einladung des Sekretariats fur Auslandsschweizer erhalten zu haben (Ackermann, Rougemont, Bd.2, 662). Dies alles erklärt gleichwohl nicht, warum Rougemont Mitte August und ohne lange konkrete Vorbereitung abreiste. Fest steht für Ackermann, daß die helvetischen Autoritäten sehr erleichtert waren, die kritische Stimme Rougemonts innerhalb der Schweiz nicht mehr zu vernehmen (vgl. ebd., 676). Vgl. zur New Yorker Zeit: Jeffrey Mehlman, Denis de Rougemont, gnostique de New York, in: ders., Emigres ä New York. Les intellectuels franfais ä Manhattan, 1940-1944, Paris 2005, 83110.
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auch nach dem Zweiten Weltkrieg immer wieder die Frage nach der Verantwortung des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft stand. Dieser Ausblick soll nicht nahe legen, daß Rougemont seit den 1930er Jahren konsequent die gleichen Werte verteidigt und den Intellektuellen unverändert dieselbe Rolle innerhalb der Gesellschaft zugewiesen habe. Festhalten kann man jedoch, daß seine Aktivitäten auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Sicherung eines autonomen Bereichs der Kultur galten. Wie läßt sich bezieht man die Nachkriegszeit mit ein - Rougemonts Verständnis des Intellektuellen Ende der 1930er und Anfang der 1940er Jahre systematisch fassen? Intellektuelle sind vor allem in den 1990er Jahren ins Zentrum der sozial- und geschichtswissenschaftlichen Forschung gerückt.71 Doch hat die deutsche Kultursoziologie sich in der Auseinandersetzung mit Max Webers Schriften zum Zusammenhang von Interessen und Ideen schon Mitte der 1960er Jahre mit dem Thema befaßt und, in Abgrenzung des Begriffs der „Intelligenz", einen Typus des Intellektuellen herausgearbeitet, dem gemäß Angehörige der Intelligenz zu Intellektuellen werden, wenn sie öffentlich Kritik üben an Zuständen, Personen oder Institutionen, deren Beurteilung außerhalb ihres eigenen fachlichen Kompetenzbereichs liegt, und dies unter Berufung auf allgemeine Werte und Normen der Gesellschaft.72 Auch das von den intellektuellen Interventionen eines Voltaire, Zola oder Sartre verkörperte Selbstverständnis des Intellektuellen französischer Tradition als „Wissenschaftler, Künstler, Schriftsteller, die sich auf ihrem Gebiet eine spezifische Kompetenz erworben haben und die aufgrund dieser Autorität Stellung beziehen zu konkreten, oft aktuellen Problemen der Gesamtgesellschaft auf der Basis bestimmter Werte",73 rücken Werte ins Zentrum, in deren Namen Intellektuelle eingreifen. Es sind universelle Werte wie Freiheit, Gleichheit oder Gerechtigkeit. Von dieser Konzeptualisierung des „universellen Intellektuellen" hebt sich ein Verständnis des Intellektuellen ab, dessen Engagement darauf zielt, gesellschaftliche Bedingungen der intellektuellen Kritik zu schaffen beziehungsweise zu bewahren. Auf die Bildung eines „kollektiven Intellektuellen" drängend, ruft Bourdieu in seinem späteren Werk74 die Kulturschaffenden auf, angesichts des zunehmenden Einflusses wirtschaftlicher Kriterien auf die intellektuelle Produktion gemeinsam für die Autonomie des intellektuellen Feldes, verstanden als Oberbegriff für das universitäre, das literarische und das künstlerische Feld, einzutreten. Damit bilden nicht übergeordnete, allgemeine Wegweisend: Christophe Charte, Naissance des „intellectuels" (1880-1900), Paris 1990. M. Rainer Lepsius, Kritik als Beruf: Zur Soziologie der Intellektuellen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 16.1964, 75-91. Lepsius bezeichnet diese Kritik als „inkompetente, aber legitime Kritik" (ebd., 83). Joseph Jurt, Zur Geschichte der Intellektuellen in Frankreich, in: Internationales Archiv fur Sozialgeschichte der deutschen Literatur 24.1999, 134-152, 136. Pierre Bourdieu, Satz und Gegensatz. Über die Verantwortung des Intellektuellen, Berlin 1989. Wesentlich früher: ders., Champ intellectuel et projet createur, in: Les Temps Modernes 22.1966, 865-906; hier überwiegt die Definition des klassischen Intellektuellen als .jemand, der sich in etwas einmischt, das ihn nichts angeht."
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Werte den Bezug für die intellektuelle Aktion, sondern spezifische, also feldinterne Werte wie die Unabhängigkeit intellektueller und ästhetischer Kriterien von kommerziellen Interessen. In manchen Fällen und spezifischen historischen Situationen indes überschneiden sich die Wertbezüge des „universellen" und des „spezifischen Intellektuellen", so insbesondere in der Frage der Meinungsfreiheit. Im Anspruch auf freie und öffentliche Meinungsäußerung überlagern sich feldinterne Wertbezüge des intellektuellen Feldes mit allgemeinen, universellen Werten westlicher Demokratien. Vor diesem Hintergrund muß Rougemont intellektuelle Intervention in den Jahren des Krieges noch einmal betrachtet werden: Handelt es sich um einen universellen Intellektuellen in der Tradition Sartres oder Voltaires, oder um einen Intellektuellen im Bourdieuschen Verständnis, mithin um einen Literaten, der für die Autonomie des vom Totalitarismus bedrohten literarischen Feldes eintritt, indem er dem Übergriff des Materiellen in den Bereich des Geistigen den Kampf ansagt, die „Bataille de la Culture" für eröffnet erklärt? Zweifellos kann man Rougemonts ungebrochenen Einsatz für die Unabhängigkeit der Kultur im Sinne einer Verteidigung der Autonomie des Feldes deuten. Doch gehen Rougemonts Wertbezüge darüber hinaus. Ihm geht es nicht allein um intellektuelle Freiheit und das Recht auf Meinungsäußerung, es geht ihm um Sinnstiftung. Sein Anspruch auf freie Meinungsäußerung und seine Angst, diese durch Totalitarismus oder „Defätismus" eingeschränkt zu sehen, gehen auf Wertideen zurück, die über die Frage der Freiheit des Wortes hinaus gehen: Gott, die Person, die Gemeinschaft sowie die Kultur als Vermittlerin zwischen individuellen Bedürfnissen und Verantwortung der Gemeinschaft gegenüber. In dem Sinne steht Rougemonts Intervention in der Tradition des "universellen Intellektuellen". Vermutlich geht es aber im Fall Rougemont noch um etwas anderes. Die christlich sozialen Werte, die Rougemont sowohl von Seiten der Mutter wie auch von Seiten des Vaters von Kind auf begleitet haben, verschaffen ihm nicht nur eine kognitive Orientierung, sondern gestalten eine Handlungsdisposition mit, der gemäß es gilt, sich für Frieden, Freiheit und Persönlichkeitsrechte, kurz: fur das „Gute" auch in der Tat einzusetzen {„penser en acte"). Rougemont wurde in einem christlichen Umfeld groß, dessen weltlicher Standpunkt sich von der den „Retter" Jesus erwartenden pietistischen Auffassung, die in anderen Teilen der Schweiz (und Europa) herrschte, unterschied. „Du kannst Dir nur selber helfen!", lautete die protestantische Ethik, die den christlichen Sozialismus, dem der Vater anhing, aber auch die im Kanton Neuchätel vorherrschende Auslegung von Gottes Wort formte. Die im Protestantismus - und insbesondere im preußischen Protestantismus, der in Folge der Neuordnung Europas nach dem Wiener Kongreß in den Kanton Neuchätel „migrierte" 75 - angelegte Pflicht des Einzelnen zur „guten Tat" prägte den Habitus eines Intellektuellen, der angesichts der äußeren BedroMit den Beschlüssen des Wiener Kongresses wurde der Kanton Neuchätel 1815 der preußischen Monarchie unterstellt. 1848 tritt der Kanton der Schweizer Eidgenossenschaft bei und löst die Verbindung zu Preußen.
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hung das Wort ergreifen, ja zur Tat übergehen muß, der lutherischen Botschaft folgend „hier stehe ich und kann nicht anders." Damit nimmt Rougemont ein von der intellektuellen Neuen Linken der 1960er Jahre propagiertes Verständnis des Intellektuellen als „intellektuelle Avantgarde" vorweg, die Bewußtsein schaffen will durch Handeln, Aufklärung und Aktion. 76 Als universeller Intellektueller, der versucht einzugreifen, mußte Rougemont im historisch-politischen Kontext der Schweiz 1940 scheitern. Von seiner christlich-sozial geprägten inneren Berufung zum Handeln durch Wort und Tat gedrängt, wurde Rougemont durch die Aufforderung der Autoritäten zu schweigen in einen existentiellen Konflikt gestürzt. Seine handlungsleitende Idee, die er auf den Begriff der .aktiven Neutralität' brachte, ließ sich mit dem Aufruf zum Schweigen und zur Passivität nicht vereinbaren. Aus dieser aussichtslosen Lage blieb Rougemont nur die Flucht.
Vgl. Ingrid Gilcher-Holtey, W a s kann Literatur und w o z u schreiben? in: Berliner Journal für Soziologie 14.2004/H.2, 207-229, 227.
HENNING MARMULLA
Internationalisierung der Intellektuellen? Möglichkeiten und Grenzen einer „communaute internationale" nach dem Algerienkrieg
Seit einigen Jahren erleben die internationalen Geschichtswissenschaften einen Aufstieg des Transnationalen. 1 Merkwürdigerweise - aber vielleicht ist das auch ein Signum der neuen historischen Erzählweise -
sind auch diese Narrative stets mit
positiven Vorzeichen versehen. 2 Selten aber beleuchten Studien die Schwierigkeiten, die mit der Herstellung einer transnationalen Akteursgruppe oder gar Institution verbunden sind. Das liegt, so die Hypothese, daran, daß man sich dem Prozeß der Transnationalisierung nicht selten relativ undifferenziert nähert. W i e die Begriffe Demokratisierung, Internationalisierung oder Liberalisierung gewinnen aber auch die der Transnationalität und der Transnationalisierung 3 nur dann analytische Erklärungskraft, wenn sie hinreichend differenziert werden. Grob gesprochen sollen unter transnational verstanden werden „all diejenigen Interaktionen zwischen Individuen, Gruppen, Organisationen und Staaten [...], die über Grenzen hinweg agieren und dabei gewisse
2
3
Vgl. Gunilla Budde/Sebastian Conrad/Oliver Janz Hg., Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006; Michael Werner/B6n£dicte Zimmermann, Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der histoire croisie und die Herausforderung des Transnationalen, in: Geschichte und Gesellschaft 28.2002, 607-636, sowie das von dens. herausgegebene Themenheft De la comparaison ä l'histoire croisee der Zeitschrift Le Genre humain 2004/H.42; vgl. jetzt auch das Fachforum www.geschichte-transnational.clio-online.net. Als Beispiel nur einer Kritik an den unzähligen Erfolgs- und Gelingensgeschichten (hier in bezug auf die Bundesrepublik Deutschland) vgl. nur Klaus Naumann, Reden wir endlich vom Ende! Das Ancien regime der Zeitgeschichte bleibt von der Gegenwart ungerührt: Sie kennt nur den Erfolg der Bundesrepublik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.8.2001, 44. „Um transnationale Grenzüberschreitungen genauer erfassen zu können, sollte zwischen Transnationalisierung im Sinne sozialer und institutioneller Vernetzung und Transnationalität [Hervorhebungen i.O.], verstanden als semantische Konstruktion von gemeinsamen Sinnhorizonten und Zugehörigkeitsgefühlen" unterschieden werden: Hartmut Kaelble/Martin Kirsch/Alexander Schmidt-Gernig, Zur Entwicklung transnationaler Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert. Eine Einleitung, in: dies. Hg., Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2002, 7-33, 10.
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Henning Marmulla
über den Nationalstaat hinausgehende Strukturmuster ausbilden."4 Eine solch grobe Definition indes reicht nicht aus. Auch Transnationalisierungsprozesse kann man - folgt man dem Repräsentationsbegriff Roger Chartiers - analytisch auf drei Ebenen differenzieren. Für den Begriff der Repräsentation hat Chartier ausgeführt, daß sich „drei Modalitäten sozialen Weltbezugs in Verbindung bringen" lassen: „erstens jene Zerlegung und Klassenbildung, welche die vielfältigen intellektuellen Konfigurationen schafft, mit denen die jeweiligen Gruppen ihre - divergenten - Realitäten konstruieren; zweitens jene Praktiken, die eine gesellschaftliche Identität zur Geltung bringen, eine bestimmte Art des In-der-Welt-Seins vorführen, Status und Rang symbolisieren sollen; drittens die institutionalisierten und objektivierten Formen, mit deren Hilfe bestimmte .Repräsentanten' (kollektive Instanzen oder Einzelindividuen) in sichtbarer und beständiger Weise die Existenz der Gruppe, der Klasse oder der Gemeinschaft bekunden."5
Pointiert formuliert: Internationalisierungs- und Transnationalisierungsprozesse sollen auf den Ebenen der Wahrnehmungs- und Klassifikationsmuster, der Praktiken und der Objektivierungen untersucht werden. Dieser Beitrag möchte am Beispiel einer ausgewählten deutsch-italienisch-französischen Akteursgruppe die Möglichkeiten und Grenzen einer transnationalen Gemeinschaft in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts ausloten. Für einen kurzen Moment von zwei Jahren gab es die durchaus realistische Chance, das zu realisieren, was Bourdieu später den .kollektiven Intellektuellen' nennen sollte. Um zu verstehen, warum das Projekt einer Revue Internationale scheiterte, genügt es nicht, ihre Geschichte einfach nachzuerzählen. Abgesehen von unterschiedlichen literarischen Schreibweisen, divergierenden philosophischen Traditionen und persönlichen Animositäten, die ein Scheitern des Projekts begünstigten, liest sich der Versuch der Schaffung dieser „communaute internationale" nicht zuletzt als Kampf um die Definition der Rolle und Funktion des Intellektuellen. Die an dem Projekt beteiligten Akteure wollten auf bestimmte, aber unterschiedliche Weise das Mandat des Intellektuellen wahrnehmen und intervenieren. Die Interventionsangebote jedoch unterschieden sich je nach nationaler Gruppe stark voneinander. Um die Möglichkeiten und Grenzen dieser Gemeinschaft zu analysieren, sollen in einem ersten Schritt die Motive für die Gründung der Revue rekonstruiert werden. Was die Beteiligten einte, waren Wahrnehmungs- und Klassifikationsschemata der sozialen Welt, die sie zu ähnlichem Handeln anleiteten. Was sie unterschied, waren ihre verschiedenen Schreibweisen und Interventionsüberlegungen. Deshalb soll in einem zweiten Schritt - unter Rückgriff auf Bourdieus Intellektuellensoziologie und Elemente seiner Studien zum literarischen Feld - analytisch das vorbereitet werden, was abschließend einer Detailstudie unterzogen werden soll: das Scheitern der Revue Internationale. 4 5
Ebd., 9. Roger Chartier, Kulturgeschichte zwischen Repräsentation und Praktiken. Einleitung, in: ders., Die unvollendete Vergangenheit. Geschichte und die Macht der Weltauslegung, Berlin 1989, 720, 15.
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Motive für eine Revue Internationale Wer waren diejenigen, die das Projekt einer internationalen Zeitschrift anstießen und was war das Verbindende, das sie glauben ließ, die Chance zu haben, mit diesem Projekt eine gemeinsame Idee zu realisieren? Schließlich, gab es eine solche Idee überhaupt? Es waren - mal mehr, mal weniger - sieben zentrale Akteure für jedes der drei Länder, die sich an den Vorbereitungen zur Revue Internationale beteiligten. Für Deutschland arbeiteten in der Redaktion Uwe Johnson, Hans Magnus Enzensberger, Ingeborg Bachmann, Walter Boehlich, Günter Grass, Helmut Heißenbüttel, Martin Walser. Etwas später kam Peter Rühmkorf hinzu. Die italienische Redaktion bestand aus Elio Vittorini, Francesco Leonetti, Pier-Paolo Pasolini, Alberto Moravia und Italo Calvino. Für Frankreich waren an der Revue beteiligt Maurice Blanchot, Dionys Mascolo, Louis-Ren^ des Forets, Robert Antelme, Marguerite Duras, Roland Barthes, Maurice Nadeau, Michel Butor und Michel Leiris. Angedacht war, die Zeitschrift in den drei beteiligten Ländern in der jeweiligen Nationalsprache, aber mit identischem Inhalt herauszubringen. Die Italiener hatten mit Einaudi von Anfang an einen Verlag gefunden, der voll und ganz hinter dem Projekt stand und es bis zum Ende begleitete. In Frankreich und Deutschland gestaltete sich die Verlagsfrage etwas schwieriger. Zunächst sollte Gallimard das Projekt verlegen, doch es kam zu Problemen, so daß Julliard die Verantwortung übernahm. In Deutschland war es zunächst Fischer (unter maßgeblicher Beteiligung des damals noch als Lektor bei Fischer arbeitenden Klaus Wagenbach), doch auch gab es Schwierigkeiten, so daß die deutsche Redaktion im Frühjahr 1962 die verlegerische Arbeit dem gerade erst drei Jahre den Suhrkamp Verlag leitenden Siegfried Unseld anvertraute.6 Es gab außerdem Gespräche mit englischen (Iris Murdoch), polnischen (Leszek Kolakowski) und US-amerikanischen (Richard Seaver) Kollegen über Einbindung in oder Assoziation an die gemeinsame Arbeit. Lateinamerikanische und afrikanische Schriftsteller sollten ebenso zur Mitarbeit bewogen werden. Die Zeitschrift sollte alle zwei oder drei Monate erscheinen. Zur Vorbereitung entwickelte sich eine rege Korrespondenz7 zwischen den Beteiligten, vor allem zwischen den als Redakteuren bestimmten Akteuren. Die Herausgeberschaft sollte zwar kollektiv verantwortet werden, pragmatisch betrachtet entschieden sich die Schriftsteller jedoch dafür, jeweils einen von ihnen mit der Koordination zu betreuen. Es waren dies Elio Vittorini, Louis-Renä des Forets sowie Uwe Johnson. 6
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Zu Siegfried Unseld vgl. auch den Beitrag von Claus Kröger in diesem Band. Unseld bestätigte bereits Ende April 1962 gegenüber den Franzosen, daß Suhrkamp die Zeitschrift herausgeben werde. Er führte aber auch an, daß sich das Erscheinen um ein Jahr auf den September 1963 verzögern werde (darum hatte Johnson gebeten, um Französisch und Italienisch erlernen zu können). Vgl. Siegfried Unseld an Dionys Mascolo, 30.4.1962, abgedr. in: Uwe Johnson/Siegfried Unseld, Der Briefwechsel, hg. v. Eberhard Fahlke/Raimund Fellinger, Frankfurt a.M. 1999, 1098f. Die mit den Deutschen geführte Korrespondenz befindet sich im Uwe Johnson-Archiv, Frankfurt a.M. (UJA).
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Glaubt man Maurice Blanchot, dem französischen Ideengeber der Revue, so war es Elio Vittorini, der den Anstoß zur internationalen Zeitschrift gab.8 1961 angedacht, in Briefwechseln konzipiert, kam es im März 1962 zu einem ersten Treffen in Florenz. Was verband die Beteiligten? Es war, so die These, ein Set an geteilten Wahrnehmungsschemata, auf deren Basis Kommunikation möglich wurde und die Institutionalisierung einer Idee in Form einer gemeinsamen Zeitschrift machbar schien. Diese gemeinsame Sicht auf die soziale Welt, der die Einsicht in die Notwendigkeit einer internationalen und kollektiven Kritik folgte, mag zunächst erstaunen. Bourdieu hat oft auf die nationale Prägung des Habitus hingewiesen. „Der gemeine Menschenverstand ist weitgehend ein nationaler, weil die Mehrzahl der großen Ordnungsprinzipien bisher von Bildungseinrichtungen eingetrichtert oder verstärkt wird, deren Aufgabe es vor allem ist, die Nation als mit denselben .Kategorien', also mit demselben gemeinen Menschenverstand versehene Bevölkerung zu konstruieren."9 Wie Menschen ihre Welt wahrnehmen und wie ihre Praktiken an der Wahrnehmungsarbeit beteiligt sind, dieser reziproke Prozeß läßt sich mit Bourdieus Konzept des Habitus erklären. Denn Habitus, verstanden als ein „sozial konstituiertes System von strukturierten und strukturierenden Dispositionen, das durch Praxis erworben wird und konstant auf praktische Funktionen ausgerichtet ist", ermöglicht erst eine Sicht auf die soziale Welt. Habitus als dauerhafte und übertragbare Systeme der „Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsschemata" stellen die Bedingung der Möglichkeit von Wahrnehmung, Bewertung und Handlung dar.10 Über die Integrationsleistung des Habitus für Gruppen wurde viel gearbeitet. Im vorliegenden Fallbeispiel soll von Schriftstellern die Rede sein, die eine kritische Situation vereinte, indem sie den Anstoß zur Synchronisierung ihrer Wahrnehmungen gab. Es waren Schriftsteller, die Anfang der sechziger Jahre in ihren jeweiligen nationalen literarischen Feldern in ähnlichen Lagen waren. Strukturell homolog, nahmen die Beteiligten Positionen im Feld der Macht ein, die Bourdieu als beherrschte Herrschende beschreibt. Damit war ihr Kampf ein Zweifrontenkrieg: Zum einen waren sie involviert in die Kämpfe im Feld der Macht selbst, zum anderen in die „üblichen" Definitions- und Positionskämpfe in ihrem originären literarischen Feld. Diese Grundstruktur läßt sich in der Bundesrepublik, Italien und Frankreich beobachten, doch waren es bis Ende der fünfziger Jahre stark national geprägte Kämpfe. Es gab zwar bereits vorher Internationalisierungsprozesse sowie die Herausbildung eines internationalen literarischen Raumes11, die Pascale Casanova im 19. Jahrhundert ansetzt. Damit verbunden spricht sie sogar von einer Art häretischem symboli8
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So schreibt er in einem Dionys Mascolo gewidmeten autobiographischen Text, der 1993 erstmals auf französisch erschien: Maurice Blanchot, For Friendship, in: Oxford Literary Review 22.2000, 25-38, 32: „Who was the first to have the idea of an International Review? I think it was Vittorini, the most enthusiastic and most experienced among us." Pierre Bourdieu, Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt a.M. 2001, 124. Pierre Bourdieu/Loüc J.D. Wacquant, Reflexive Anthropologie, Frankfurt a.M. 1996,154, 160. Vgl. nur Pascale Casanova, La Röpublique mondiale des lettres, Paris 1999.
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sehen Kapital, das Waffe und Ziel im Kampf in diesem internationalen Raum darstellte. Doch die Beziehungen, die die Akteure in diesem Raum in Verbindung setzen, sind vor allem objektive Relationen zwischen Positionen. Die vorliegende Fallstudie fokussiert aber auch auf Interaktionen. Die Akteure traten in einen veritablen Kommunikationsund Interaktionszusammenhang. Der Grund dafür war ein Ereignis aus dem Jahre 1960: Ein Ereignis, das zunächst in einem nationalen Rahmen sich abspielte, dann aber auf seine universale Dimension hin zugespitzt und gedeutet wurde, so daß es die Handlungen von Schriftstellern aus verschiedenen Ländern koordinierte: der Algerienkrieg und der Widerstand von Schriftstellern und Intellektuellen gegen diesen. Bereits im Herbst 1955 wurde das Comite d'aetion des intellectuels contre la poursuite de la guerre en Algerie gegründet (von Andr6 Mandouze, Edgar Morin, Robert Antelme, Dionys Mascolo, später kamen Roger Martin du Gard, Francis Mauriac und Jean-Paul Sartre hinzu).12 Eine weitere institutionalisierte Zuspitzung intellektueller Kritik am Algerienkrieg und Ausdruck intellektueller Beunruhigung an der V. Republik de Gaulles wurde 1958 mit der Gründung der Zeitschrift Le 14 Juillet herbeigeführt, die von Jean Schuster und Dionys Mascolo herausgegeben wurde.13 Das Manifest der 121 schließlich, vielfach zitiert, dokumentiert und analysiert14, bildete den ersten Höhepunkt intellektueller Kritik am Algerienkrieg: nicht zuletzt aufgrund der ungemein harten Sanktionen vonseiten des französischen Staates gegen seine Unterzeichner. Es bildete, so die Hypothese, den Ausgangspunkt für einen Prozeß, den man als Internationalisierung und kollektive Koordinierung der Interventionsstrategien beschreiben könnte. Dieser Prozeß führte dann zur lancierten Revue Internationale. Er war Anstoß und gleichsam Ausdruck eines europäischen Synchronisierungsprozesses intellektueller Wahrnehmung. Sowohl die deutschen als auch die italienischen Schriftsteller begannen sich als Franzosen zu sehen. „Elio Vittorini, bei dem ich zur Zeit bin", schreibt Mascolo noch vor dem Manifest der 121, „hat mir zu unserem Brief gesagt, nach diesem Text hätte er Lust, Franzose zu sein."15 Erst recht nach den Sanktionen gegen die Unterzeichner internationalisierte sich der Protest. Allein im deutschsprachigen Raum entwickelte sich eine veritable Konkurrenzsituation um die legitime Solidaritätsresolution. So waren es
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Vgl. nur Annie Cohen-Solal, Sartre. 1905-1980, Reinbek 1988, 564. In eine Linie mit der Revue Internationale stellt die Gründung des Comitds Michel Surya, Präsentation du projet de revue internationale, in: Lignes 1990/H.ll, 161-166,163. Surya, Presentation, 163f. Le 14 Juillet wurde allerdings im Folgejahr nach nur drei Nummern wieder eingestellt. Michel Winock, Das Jahrhundert der Intellektuellen, Konstanz 2003, 679-694, v.a. 688ff.; JeanFranfois Sirinelli, Intellectuels et passions franijaises. Manifestes et petitions au XX e sifecle, Paris 1990,210-224; Cohen-Solal, Sartre, 632-665. Zit. n. Cohen-Solal, Sartre, 637.
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Max Frisch und Alfred Andersch16 auf der einen, Hans Werner Richter mit einem von Hans Magnus Enzensberger für die Gruppe 47 verfaßten Brief auf der anderen Seite, die sich an den internationalen Protesten beteiligten. Doch die Internationalisierung ging insofern weiter, als daß ein internationales Protestschreiben lanciert wurde. Alfred Andersch und Elio Vittorini bemühten sich bereits im Herbst 1960 um ein solches Manifest, das, verantwortet von Deutschen und Italienern, auf einem von Giangiacomo Feltrinelli organisierten Kongreß in Mailand verfaßt werden sollte:17 Kongreß und Petition scheiterten. Zeitgleich organisierten sich Schriftsteller aus Italien, Frankreich und Deutschland, um, angestoßen von den gleichen Motiven, eine internationale Zeitschrift zu gründen. Maurice Blanchot, geboren 1907 und geistiger Vater der französischen Gruppe der Revue Internationale, formuliert in einem Memorandum Uber die Rubrik cours des choses, die paradigmatisch für die französische Wunschvorstellung der Zeitschrift werden sollte, daß dort der Versuch unternommen werden solle, dem Schriftsteller eine neue Möglichkeit zu schaffen, „celle qui permettrait ä l'£crivain de dire le ,monde', et tout ce qui a lieu dans le monde, mais en tant qu'ecrivain et dans la perspective qui lui est propre, avec la responsabilite qu'il tient de sa seule verity d'ecrivain." 18 Ein politischer Kampf ohne originär politische Mittel, der Bezug zur Realität schaffen sollte, ohne Realität bloß abzubilden, steht von Anfang an im Zentrum des Projekts. So schreibt Blanchot Ende 1960 an Sartre, der nicht zu einer Mitarbeit aufgefordert werden sollte, „que la declaration [das Manifest der 121, Anm. d. Verf.] ne trouverait son vrai sens que si eile etait le commencement de quelque chose."19 In einem Konzeptionspapier zur Revue formuliert Blanchot vier Grundprinzipien, denen die Zeitschrift folgen solle: erstens, das Projekt wesentlich kollektiv und international auszurichten20; zweitens, aus der spezifischen Perspektive der Verantwortung des Schriftstellers immer wieder neu zu definieren, wofür sich die Revue interessieren solle; drittens, sich für Literatur nicht aus einem allgemeinen Kulturinteresse heraus zu interessieren, sondern aus dem Interesse für Wahrheit und Gerechtigkeit; viertens, Struktur und Ton der Zeitschrift an diesen Prinzipien zu orientieren, so daß ausgeschlossen werde, was nicht von unmittelbarem Interesse für Wahrheit, Gerechtigkeit und Realität sei.21 Diese sehr ab16
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Andersch hatte bereits 1958 ein Hörspiel gegen den Algerienkrieg geschrieben, das, zunächst verboten, später doch gesendet wurde: Stephan Reinhardt, Alfred Andersch. Eine Biographie, Zürich 1990, 312. Vgl. Alfred Andersch an Elio Vittorini, 8.11.1960, DLA Marbach (Deutsches Literatur-Archiv Marbach), A: Andersch/Algerien-Krieg, 78.6932/2; Elio Vittorini an Alfred Andersch, DLA Marbach, A: Andersch/Algerien-Krieg, 78.6939/2. Maurice Blanchot, Memorandum sur „Le cours de choses", abgedr. in: Lignes 1990/H.ll, 185186, 185. Maurice Blanchot an Jean-Paul Sartre, 2.12.1960, zit. n. Lignes 1990/H.l 1, 218-220, 219. Auch für Dionys Mascolo ist das die erste und wichtigste Maxime des Projekts. Vgl. Dionys Mascolo an Uwe Johnson, 18.4.1962, UJA, IZ II, 11. Maurice Blanchot, ohne Titel, in: Lignes 1990/H.ll, 179-184, 180f.
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strakt formulierten Prinzipien treffen auf offene Türen bei den anderen Akteuren aus den italienischen und deutschen Redaktionen. Auch Hans Magnus Enzensberger verfaßt ein Konzeptionspapier unter dem Titel Possibilite et necessite d'une nouvelle revue. Darin stellt er zunächst einen Zusammenhang der an der deutschen Redaktion beteiligten Schriftsteller her, die durch ihr Alter, ihre Lage, ihr Bewußtsein für diese Lage und vor allem ihre gemeinsame Schreibweise („leur maniere d'ecrire") verbunden seien. Nicht zuletzt ihre Reaktionen auf das Manifest der 121, den Algerienkrieg oder die Debatte über die Einführung eines zweiten deutschen Fernsehprogramms hätten bewiesen, so Enzensberger, daß sie nicht nur in ästhetischen, sondern auch in politischen Angelegenheiten kollektiv handlungsbereit seien. Was sie brauchten, sei eine gemeinsame Zeitschrift.22 Herausarbeitend, was Gegenstand dieser Zeitschrift sein soll, verdeutlicht er die Nähe zu Blanchot23: Die Nähe zu Blanchot ist deutlich. Teile der Realität, die nicht apriori definiert werden können, sollen durch eine spezifische Sicht- und Darstellungsweise in der Revue entfaltet werden. Aber nicht die Gegenstände, so Enzensberger, sondern die Schreibweise sei es, welche die Zeitschrift von allen anderen unterscheiden müsse.24 Auch Elio Vittorini hält sich in seinem Konzeptionspapier zur Revue bedeckt, was konkrete Gegenstände angeht, die es zu behandeln gelte. Deutlich stellt er nur heraus, daß zwar in der Zeit seit 1945 nach wie vor Ereignisse sich abspielten, die in einem Land passierten und gerahmt seien von nationalen Traditionen, daß aber all diese Einzelereignisse verwiesen auf ein generelles Problem („probleme general"). Eben das Allgemeine am Besonderen herauszuarbeiten, sei, so Vittorini, die vorrangige Aufgabe der Revue Internationale.25 Verbunden sind diese Vorstellungen der gemeinsamen Zeitschrift, hier exemplarisch an jeweils einem Redaktionsmitglied der drei Länderredaktionen entfaltet, durch die Wahrnehmung dessen, was fehlt. Bestrebt, eine positive Beschreibung der lancierten Zeitschrift zu liefern, grenzen sich alle drei von dem ab, was sie nicht wollen: rein nationale Probleme behandeln, den Gegenstand der Revue a priori definieren, eine ideologische Position wählen, nach der dann gehandelt wird. Sie sehen die Gemeinsamkeit in dem Wunsch, über nationale Grenzen hinweg gemeinsam an einer neuen Schreibweise (die Franzosen sprechen großenteils von „ecriture", Enzensberger beispielsweise von „maniere d'dcrire", wenn er deutsch schreibt, von „Schreibweise") zu arbeiten, über die ein neuer Zugang zur Realität gewonnen werden soll. Sich selbst als Schriftsteller schreiben sie dabei eine spezifische und prädestinierte Rolle zu: die
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Hans Magnus Enzensberger, Possibility et nöcessitd d'une nouvelle revue, in: Lignes 1990/H.ll, 192-195, 192. Dabei fällt deutlich auf, daß viele seiner Überlegungen später in das Editorial seiner Zeitschrift Kursbuch eingehen werden: Vgl. Ankündigung einer neuen Zeitschrift, abgedr. in: Kursbuch. Reprint der ersten 20 Ausgaben, Hamburg o.J., lf. Enzensberger, Possibility, 194. Elio Vittorini, Contribution ä un projet de prdface pour une revue internationale, in: Lignes 1990/H.ll, 204-208, 207.
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gängigen Sprachmechanismen als Spezialisten der Sprache analysieren, kritisieren und durch eine neue Sprache vermittelt über neue Schreibweisen ersetzen zu können. Diese sprachphilosophische intellektuelle Handlungsmaxime konnte in allen drei Ländern verstanden werden. Die deutsche Länderredaktion bestand zu einem Großteil aus Mitgliedern der Gruppe 47. Sprachkritik und die Kreation einer neuen, unverbrauchten, nicht vergifteten Sprache war die conditio sine qua non ihrer Gruppenidentität.26 Ziel der Tagungen der Gruppe 47 war dementsprechend die Suche nach einer neuen Sprache und, in der literarischen Umsetzung, nach neuen Schreibweisen. Auch in der französischen Nachkriegsphilosophie und -literatur gab es entsprechende Überlegungen. 1953 veröffentlichte Roland Barthes Am Nullpunkt der Literatur und führte damit die Differenzierung zwischen Sprache, Stil und Schreibweise ein. Nach Barthes liegen Sprache und Stil „vor aller Problematik der persönlichen Ausdrucksweise. Sprache und Stil sind das natürliche Produkt der Zeit und der biologischen Person. Die formale Identität des Schriftstellers entfaltet sich wirklich erst außerhalb der installierten grammatischen Normen und der Konstanten des Stils, dort, wo das Geschriebene, das zunächst in einer sprachlich völlig unschuldigen Form zusammengefaßt ist, endlich zu einem totalen Zeichen wird, zu der Wahl einer menschlichen Verhaltensweise, zur Affirmation eines bestimmten Gutes, den Schriftsteller engagierend, ein Glück oder ein Unbehagen evident zu machen oder zu kommunizieren und gleichzeitig die sowohl normale als auch einmalige Form seines Wortes an die weite Geschichte der anderen bindend."27
„In Barthes' räumlicher Anordnung steckt", so bringt es sein Biograph auf den Punkt, „die Sprache den Bereich des Möglichen als Horizont ab, während der Stil als Dimension einer .Notwendigkeit' die Vertikale dazu darstelle; .zwischen Sprache und Stil' gebe es aber Raum für eine andere Wirklichkeit der Form, die denture. Der neu geschaffene Raum des Schreibens ist nun für Barthes der Ort eines sozialen Engagements: [,..]".28 Daraus folgt: Über die Schreibweise kommt ein gesellschaftliches und politisches Moment in das Schreiben hinein, das über die Wahl der Schreibweise an die Literatur gebunden wird. Barthes geht weiter: Er historisiert die Systematik der Schreibweisen zu einer Geschichte der Schreibweisen. Historisch betrachtet markiert er dabei für die Entwicklung der ,6criture' eine Zäsur in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Bis dahin habe es eine einheitliche Schreibweise gegeben, die ,öcriture classique'. Um 1848 sei es dann zu einem Auseinanderbrechen dieser Schreibweise gekommen und zu einer Vervielfältigung von Schreibweisen. „Erst mit der Existenz verschiedener
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Vgl. dazu Ingrid Gilcher-Holtey, „Askese schreiben, schreib: Askese". Zur Rolle der Gruppe 47 in der politischen Kultur der Nachkriegszeit, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 25.2000/H.2, 134-167. Roland Barthes, Am Nullpunkt der Literatur, in: ders., Am Nullpunkt der Literatur. Objektive Literatur. Zwei Essays, Hamburg 1959, 8-81, 17. Ottmar Ette, Roland Barthes. Eine intellektuelle Biographie, Frankfurt a.M. 1998,64f.
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Schreibweisen aber ergab sich für den Schriftsteller die Möglichkeit der Wahl, der Entscheidung und damit des Engagements und der historischen Solidarität."29 Maurice Blanchot nimmt in Barthes' Geschichte der Schreibweisen einen besonderen Stellenwert ein, weil er dem letzten Stadium, dem der .neutralen Schreibweise', zugeordnet wird. Die Annahme, die seiner .neutralen Schreibweise', seiner .ecriture' zugrunde liegt, ist, daß jede Literatur, „that knows itself to be literature, Blanchot implies, is by that token no longer literature."30 Nur aus einer offenen und suchenden Schreibweise, nicht zuletzt aus einem .pluralen Sprechen' („parole plurielle") könne Kritik erwachsen:31 Dieses ,plurale Sprechen' affirmiert die Unterbrechung und plädiert für ein fragmentarisches, diskontinuierliches ,Schrift-Sprechen' („parole d'öcriture"). Genau darum soll es seiner Meinung nach auch in der Revue Internationale gehen. Bei Elio Vittorini, ein Jahr nach Blanchot geboren, 1908, wird die Suche nach der angemessenen, legitimen Schreibweise zum Lebensprojekt. Anna Boschetti hat unlängst herausgearbeitet, daß es bereits in seiner mit Franco Fortini gegründeten Zeitschrift II Politecnico, die sie von 1945 bis 1947 herausgaben, um das ging, was auch Sartre, dessen Les Temps Modernes nur wenige Tage nach der ersten Ausgabe des Politecnico erschien, anstrebte: die Entdeckung der .Verantwortung' des Schriftstellers32 und die Überzeugung, in einer Zeit, wo alles in Frage gestellt wird, auch die Kultur neu erdenken zu müssen.33 Die Suche nach der richtigen Schreibweise, das verbindet ihn mit Calvino34, schlage sich, so Manfred Hardt, in einem rasanten Wechsel verschiedener Schreibweisen nieder, der sich in seinen Romanen nachvollziehen lasse. Nach seiner Abkehr von den italienischen Faschisten nach 1936 und den darauf folgenden Versuchen, ein dem schriftstellerischen Engagement angemessenes Schreiben zu finden, lotet er die literarische Bandbreite von der realistischen bis zur experimentellen Schreibweise vollkommen aus.35 Sein literaturtheoretisches Werk endet schließlich mit einer Absage an die Möglichkeit von Literatur überhaupt. In der postum 1967 erschienenen Aufsatzsammlung Due tensioni stellt er heraus, daß die Literatur in vergangenen Zeiten einen Sinn gehabt habe, .„aber in dem Kontext immer präziserer Wissenschaften
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Ette, Barthes, 67. So Leslie Hill, Bataille, Klossowski, Blanchot. Writing at the Limit, New York 2001, 19. So spitzt Blanchot es noch einmal in einem 1969 erscheinenden Aufsatzband zu: Maurice Blanchot, L'entretien infini, Paris 1969. Vgl. dazu auch den Beitrag von Gisöle Sapiro in diesem Band. Anna Boschetti, Vom Engagement zum Experimentalismus. Bemerkungen zum italienischen literarischen Feld seit 1945 und seinem Verhältnis zum transnationalen Raum, in: Berliner Journal für Soziologie 14.2004/H.2,189-207. Zu Calvinos permanent erneuerten Schreibweisen vgl. v.a. Ulrich Schulz-Buschhaus, Zwischen ,resa' und .ostinazione'. Zu Kanon und Poetik Italo Calvinos, Tübingen 1998, 6ff. Manfred Hardt, Geschichte der italienischen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Frankfurt a.M. 2003, 719-726, 720.
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und immer effizienterer und determinierender Techniken ... ist dieses alte Spiel der Künste ... ein Spiel, das schließlich keinen Sinn mehr hat'." 36 Was die an der Revue Beteiligten einte, war nicht die Generation: Sie waren entweder zwischen 1905-1910 geboren oder aber sie gehörten der Kohorte der zwischen 1926 und 1930 Geborenen an. Die einen hatten eine - in ihrer Wahrnehmung - falsche Wahl getroffen, wie Blanchot oder Vittorini für die Faschisten, und bemühten sich zeit ihres Lebens, über das Engagement des Schriftstellers diese Schuld zu bearbeiten. Die anderen, dies gilt vor allem für die Deutschen, waren noch jung genug, um nicht in die Verbrechen der Nationalsozialisten verstrickt gewesen zu sein, jedoch alt genug, um den Schrecken des Krieges selbst erlebt zu haben. Insgesamt betrachtet waren die Revwe-Schriftsteller also weder eine national konstituierte, noch eine generationell identifizierte Gemeinschaft. Warum also, bedenkt man die Starrheit nationaler Denk- und damit realer Lebenskategorien, war eine Verständigung über die Nationalstaats- und Generationsgrenzen hinaus möglich?37 Es muß, so die Hypothese, ein gemeinsames Ziel gegeben haben, das diese Schriftsteller ihre generationelle und nationale Lage transzendieren ließ. Was war dieses Ziel? Alle suchten die richtige Schreibweise und fühlten sich in dieser Suche verbunden. In dieser Verbindung realisierte sich, wie noch zu zeigen sein wird, für Blanchot beispielsweise das, was er eine literarische Gemeinschaft („communaute litteraire"38) nannte: die Bedingung der Möglichkeit von Intimität im Verhältnis zwischen Autor und Leser. In seiner Vorstellung waren alle Autoren der Revue gleichsam Leser, die den Autor kommentieren und dadurch selbst zu Autoren werden sollten, die wiederum von den anderen Lesern, die auch als Autoren fungierten, kommentiert werden sollten. Blanchot wollte nicht nur suchen, sondern die neue kollektive Schreibweise auch finden, erproben, institutionalisieren. Indes, in puncto Schreibweisen gingen die Vorstellungen auseinander, konfligierten die Praktiken. Um die Grenzen und schließlich das Scheitern dieses internationalen Projektes zu erklären, reicht es allerdings nicht aus, die unterschiedlichen Schreibweisen zu beschreiben. Man muß erklären, was sich für die jeweiligen Autoren mit ihrem Schreiben verband. Dazu gilt es - analytisch - den Blick 36
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Zit. n. Hardt, Geschichte, 726. Ein Jahr später, im November 1968, formuliert dies ähnlich Hans Magnus Enzensberger, geboren 1929, und neben dem Redakteur Uwe Johnson das zentrale Mitglied der deutschen Redaktion der Revue Internationale: Für literarische Kunstwerke lasse sich „eine wesentliche gesellschaftliche Funktion in unserer Lage nicht angeben. [...] Wer Literatur als Kunst macht, ist damit nicht widerlegt, er kann aber auch nicht mehr gerechtfertigt werden." Hans Magnus Enzensberger, Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend, in: Kursbuch 1968/H.15,187-197, 195. Für Hans Magnus Enzensberger habe ich versucht nachzuweisen, daß man in seinem Fall von einem denationalisierten Habitus sprechen kann: vgl. Henning Marmulla, „Am I a German?" Hans Magnus Enzensberger et la question allemand, in: Joseph Jurt Hg., Champ littdraire et nation, Freiburg 2006 (im Erscheinen). Vgl. dazu die präzisen Ausführungen bei Anne-Lise Schulte-Nordholt, Maurice Blanchot. L'6criture comme expdrience du dehors, Genf 2005, 305-335.
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zu richten auf die mit dem Schreiben verbundenen Interventionsstrategien und - empirisch - fokussieren nicht nur auf die Ebene der (hier geteilten) Wahrnehmungsmuster, sondern auch auf die Praktiken und Objektivierungsbestrebungen. Für alle war Schreiben eine Form von Handeln und trug den Status einer Intervention. Nur welche Art von Intervention dem Schreiben beigemessen wurde, differierte erheblich.
Intervention und lnternationalisierung Ein analytischer Blick tut not. Was sind die Motive für eine intellektuelle Intervention, was sind die Mittel? Kann man von intellektueller Intervention sprechen, wenn Schriftsteller eine Zeitschrift planen, aber diese nicht realisieren? Die Kultursoziologie definiert den Intellektuellen in mannigfacher Weise. So wenig wie es die Kultursoziologie gibt, gibt es den Intellektuellen. Zu suchen ist also nach einer operationalisierbaren Konzeption des Intellektuellen, mit deren Hilfe sich analysieren läßt, was wie und warum im hier vorliegenden Fall geschehen ist. Der Intellektuelle war für Bourdieu lange Zeit ein zentrales Problem seiner Forschungen. Wenn man den Kerngedanken seiner Intellektuellensoziologie herausarbeiten möchte, dann ist es wohl dieser: „Der Intellektuelle ist ein bi-dimensionales [Hervorhebung i.O.] Wesen. Um den Namen Intellektueller zu verdienen, muß ein Kulturproduzent zwei Voraussetzungen erfüllen: zum einen muß er einer intellektuell autonomen, d.h. von religiösen, politischen, ökonomischen usf. Mächten unabhängigen Welt (einem Feld) angehören und deren besondere Gesetze respektieren; zum anderen muß er in eine politische Aktion, die in jedem Fall außerhalb des intellektuellen Feldes in engerem Sinn stattfindet, seine spezifische Kompetenz und Autorität einbringen, die er innerhalb des intellektuellen Feldes erworben hat."39
Ein Problem steht mit dieser Definition in einem unauflösbaren Zusammenhang: Was ist eine politische Aktion? Um diese Frage zu beantworten, sollte man sich in Erinnerung rufen, wie Bourdieu das politische Feld, wie das Politische konzipiert hat. Worum geht es im politischen Feld? Worum wird hier gekämpft? Die „symbolischen und politischen Kämpfe um den nomos" [Hervorhebung i.O.] im politischen Feld haben, so Bourdieu, „im wesentlichen die Formulierung und Durchsetzung der .guten' Sicht- und Teilungsprinzipien zum Inhalt".40 Mit der Akzentuierung fundamentaler „Leitideen", darauf hat Ingrid Gilcher-Holtey aufmerksam gemacht, lenke Bourdieu die Untersuchung auf die „Rekonstruktion von Sinnstrukturen" und beziehe damit neben mentalen Strukturen auch die „kognitive Struktur von Ideen in die Analyse" des politischen Fel-
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Pierre Bourdieu, Der Korporativismus des Universellen. Die Rolle des Intellektuellen in der modernen Welt, in: ders., Die Intellektuellen und die Macht, hg. v. Irene Dölling, Hamburg 1991, 41-65,42. Pierre Bourdieu, Das politische Feld, in: ders., Das politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft, Konstanz 2001,41-57, 51.
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des mit ein. 41 Pointiert formuliert: Es geht um die Formulierungen, Klassifikationen sowie Sicht- und Teilungskriterien, mit denen die Welt eingeteilt wird. Je nach dem, wie die soziale Welt dergestalt beschrieben wird, variieren die Kämpfe, die in ihr geführt werden. Sobald - und hier liegt der Nexus zum Politischen, das nicht nur im politischen Feld, sondern tendenziell in jedem Feld dynamisiert werden kann - Akteure jenseits des politischen Feldes die dort formulierten und über symbolische und sprachliche Prozesse in die Köpfe der Akteure inkorporierten Wahrnehmungsschemata in Frage stellen, liegt ein Kampf ums Politische vor. Um ein Beispiel zu nennen: Für eine breite Diskussion hat ein Artikel von Hans Magnus Enzensberger aus dem Jahr 1965 gesorgt. In Europäische Peripherie stellt er die Einteilung der Welt in Ost und West, Kapitalismus und Kommunismus, auch in Nord und Süd in Frage und ersetzt diese Klassifikation durch die in arm und reich. 42 Daß damit einer Vielzahl politischer Kämpfe die symbolische Grundlage entzogen gewesen wäre, hätte er diese Klassifikation in einer hinreichend großen Menge an Menschen zu verankern vermocht, muß nicht weiter ausgeführt werden. Auch der Versuch, mittels neuer Schreibweisen in der Revue die Wahrnehmungsschemata der sozialen Welt zu reformulieren, ist also eine Intervention in das politische Feld insofern, als Schriftsteller in ihrer Kompetenz als Schriftsteller versuchen, die Aufgabe, die dem politischen Feld obliegt, sich zu eigen zu machen und dabei eine Mischung der Rolle des .allgemeinen' und des .spezifischen Intellektuellen' verbinden. Sich auf allgemeine Werte (Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit) berufend 43 , intervenieren die an der Revue Beteiligten aufgrund ihrer spezifischen Kompetenz als Schriftsteller, ihrer Rolle als Sprachexperten, ihre „spezifische Stellung in der Ordnung des Wissens" 44 geltend machend, in das politische Feld. Mit ihrem Experiment nehmen sie eine Verbindung vorweg, gerade aufgrund ihrer internationalen Konstitution und ihrer kollektiven Arbeitsweise, die Bourdieu später den .kollektiven Intellektuellen' nennen soll. Sprache eine herausgehobene Macht bei der Konstruktion der sozialen Welt zuschreibend, eint sie strukturell also die Interventionsstrategie der „Politik der Wahrnehmung". Wie diese inhaltlich ausgebaut werden soll allerdings, entwickelt sich zu einem Konfliktpunkt erster Güte. Schreiben wird als conditio sine qua non im Kampf um die legitime Wahrnehmung der sozialen
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Ingrid Gilcher-Holtey, Gegen Strukturalismus, Pansymbolismus und Pansemiologie: Pierre Bourdieu und die Geschichtswissenschaft, in: Catherine Colliot-Th£14ne/Etienne Francis/Gunter Gebauer, Pierre Bourdieu: Deutsch-französische Perspektiven, Frankfurt a.M. 2005, 179-194, 189. Hans Magnus Enzensberger, Europäische Peripherie, in: Kursbuch 1965/H.2, 154-173. Vgl. Ingrid Gilcher-Holtey, Menschenrechte oder Vaterland? Die Formierung der Intellektuellen in der Dreyfus-Affäre, in: Berliner Journal für Soziologie 7.1997/H.l, 61-70. Michel Foucault, Die politische Funktion des Intellektuellen, in: ders., Schriften, hg. v. Daniel Defert u.a., Bd.3: 1976-1979, Frankfurt a.M., 145-152, 147. Vgl. zur Definition des allgemeinen und des spezifischen Intellektuellen auch den Prolog dieses Bandes.
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Welt betrachtet. ,Wie schreiben?' jedoch wird zur alles entscheidenden Frage: zur Frage mithin, an der der Zusammenhalt dieses kollektiven Intellektuellen zerbrechen soll.
Das Scheitern der Revue Internationale Auch wenn die Revue Internationale nie erscheint, so gibt es doch eine sogenannte Nullnummer. 1964 kommt diese Nullnummer in Italien als Heft 7 von Vittorinis und Calvinos II Menabo heraus. Neben den für das erste Heft lancierten Texten aus Deutschland, Frankreich und Italien erscheinen ein Vor- (Vittorini) und ein Nachwort (Francesco Leonetti), die jeweils, aus italienischer Perspektive, die Gründe für das Scheitern ausloten. Sehr detailliert bemüht sich Leonetti um eine Analyse der Gründe des Scheiterns. Ganz stark werden sprachliche Gründe ins Feld geführt.45 Nationalsprachen würden auf ihren eigenen kulturellen Inhalt verweisen und „taube Elemente" („elementi sordi") beinhalten, die für Nicht-Muttersprachler nur schwer oder gar nicht decodierbar seien.46 Leonetti hält die Situation der Beteiligten in einem Bild fest, das verdeutlicht, das ein Gespräch stattfand, möglich wurde, bis jeder letztendlich von seinem Traditionszusammenhang wieder verschluckt worden sei. Auf zwei Seiten eines Sofas sitzend, oder besser, an zwei Enden einer Telefonleitung sprechend, habe man sich verständigt, es habe geschneit, jeder habe gewußt, es sei der eigene Schnee, der von Paris, von Berlin, von Mailand, und gerade dieser Schnee habe letzten Endes das Gespräch, das begann, wieder verunmöglicht.47 Was bleibe, sei das Wissen, daß man sich um eine gemeinsame Redeweise bemüht habe. Verunmöglicht worden sei diese gemeinsame Rede- und Schreibweise durch drei unterschiedliche Vorstellungen dessen, wie die Zeitschrift hätte aussehen sollen. Während die Franzosen, so Leonettis Einschätzung, eine kollektive Schreibweise („6criture collective") etablieren wollten, habe es sich für die Deutschen um ein durch Individualitäten artikuliertes Ganzes gehandelt („un insieme variamente articolato d',individualitä'"). Die Italiener hätten eine Anerkennung der Gemeinsamkeiten unter den Verschiedenartigkeiten erzielen wollen.48 Wie die
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Vgl. auch die interessante Parallele zu den sprachlichen Problemen innerhalb der Gotthard-Liga, die Kristina Schulz in ihrem Beitrag zu diesem Band anspricht. Francesco Leonetti, Una rivista intemazionale. Osservazioni di Francesco Leonetti, in: II Menabö 1964/H.7, ix-xvi, x. Ebd., xi: „In una figura, il proposito della rivista έ questo: Β. ο Ε. ο Τ. sta all'altra parte del divano, o, per Ιο ρίύ, del telefono ο della cassetta postale. Ci sono sul tavolo di ciascuno, ο ci sono idealmente intorno a ciascuno, giornali diversi. Nevica. Anche le nevi sono diverse, tra Parigi e Berlino e Milano. Ε le nevi diverse sono presenti attorno alia testa di chi sente e dice. Tutto έ diverso. Ma conversiamo insieme, direttamente, prima che ciascuno di noi sia digerito, anzi prima che ciascuno di noi sia masticato, dal suo contesto di tradizione." Ebd.
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bisherige Forschung zur Revue49, so deutet auch Leonetti den Streit um eine spezielle Rubrik innerhalb der Zeitschrift als Hauptauseinandersetzungspunkt:50 Es ist der Streit um die Rubrik Cours des choses. Für die Franzosen war die eindeutig favorisierte Schreibweise die „6criture collective": eine „ecriture fragmentaire". Die fragmentarische Schreibweise, die kollektiv realisiert werden sollte, war gedacht als eine Art Dialog, fernab von der Idee eines harmonischen oder affirmativen Gesprächs, sondern als permanente und unabgeschlossene Auseinandersetzung: eine Art permanenter Kommentar.51 Den konkreten Modus dieser Schreibweise hat Vittorini in einem anschaulichen Bild zusammengefaßt: „[...] un fil italien s'entrecroise ä un fil fransais et ä un fil allemand, sur une trame sans cesse mutuelle et reciproque."52 Die Franzosen und Italiener konnten sich so eine Arbeitsweise gut vorstellen. Die Deutschen, in erster Linie Uwe Johnson, konnten das nicht. Es gebe in Deutschland, so Johnson, keine entsprechende stilistische Tradition, an die man sich anlehnen könne.53 Die Weigerung, sich darauf einzulassen, verband er mit dem Vorwurf, mit direktem Bezug auf die ersten der von den Franzosen eingereichten Texte, diese seien zu abstrakt. .Abstrakte' vs. .konkrete Schreibweisen' wurde auf der Redaktionskonferenz im April 1963 in Paris zu dem signifikanten Klassifikationsschema, an dem sich der Streit um die Ausrichtung der Zeitschrift erhitzen und das schließlich den Bruch herbeiführen sollte. Die „vorwiegend theoretische Spekulation in den französischen Texten", so Johnson, „ergebe einen in Deutschland gegenwärtig nicht aktuellen Stil des Essays. [...] Diese Schreibweise [...] sei für Deutschland erzkonservativ [...]. Ähnlich fremd scheine uns das Verhalten der französischen Schreibweise zu wirklichen Gegenständen, insbesondere zu solchen der Po-
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Diese ist allerdings sehr gering. In Deutschland gibt es keine Studien und auch keine nennenswerten Bezüge auf die Revue Internationale. In Biographien wird, wenn überhaupt, dann nur am Rande, lediglich beschreibend, nie analysierend oder erklärend auf sie verwiesen. Um nur vier Beispiele zu nennen: Michael Jürgs, Bürger Grass. Biografie eines deutschen Dichters, München 2002 und Jörg Lau, Hans Magnus Enzensberger. Ein öffentliches Leben, Berlin 1999 verzichten komplett auf die Revue. Nur gestreift und ohne signifikanten Erkenntnisgewinn wird die Revue angesprochen bei Jörg Magenau, Martin Walser. Eine Biographie, Reinbek 2005, 186-187 und Peter Michalzik, Unseld. Eine Biographie, München 2002, 142-143. Zwei erwähnenswerte Ausnahmen bilden, erstens, ein Anhang zum Briefwechsel zwischen Uwe Johnson und seinem Verleger Siegfried Unseld, in dem auf über 40 Seiten Briefe zur Revue abgedr. sind: Johnson/Unseld, Briefwechsel, 1094-1136, sowie zweitens, die Biographie zu Johnson von Bernd Neumann, Uwe Johnson, Hamburg 1994. In Italien ist es v.a. Anna Panicali, die sich um eine Aufarbeitung bemüht und die nach Studien zu Elio Vittorini nun eine erste italienische Dokumentensammlung vorgelegt hat. Vgl. Anna Panicali Hg., Gulliver. Progetto di una Rivista Intemazionale, Mailand 2003. In Frankreich ist die bereits erwähnte Sondernummer Lignes 1990/H.ll zu nennen, die Analysen und Dokumente zur Revue Internationale verbindet. Vgl. Anna Panicali, Une communautd impossible? in: Lignes 1990/H.l 1, 167-177. Vgl. ebd., 174. Elio Vittorini an Francesco Leonetti, 10.11.1965, zit. n. Panicali, communautö impossible? 175. Vgl. Leonetti, rivista, xiii.
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litik. Die Realität erscheine nur in sehr kleinen Bruchstücken, die benutzt würden als Startplatz für allgemein philosophische und gebildete Abstraktionen und Folgerungen. Der Kindesmord von Lüttich wie der Krieg in Algerien seien so indifferent, so indirekt dargeboten; von den deutschen Herausgebern sei aber unmittelbare, ausgesprochene Äusserung erwartet, damit auch von ihrer Zeitschrift."54
Francesco Leonetti schlägt vor, die ins Deutsche als Chronik der Zeit übersetzte Rubrik cours des choses durch den Titel Zeitgeist (Hegel!) zu ersetzen: Chronik der Zeit nämlich entspräche dem, was in Les Temps Modernes passiere, und das wolle man ja eben nicht: eine Rubrik von Mitteilungen über Aktualitäten. Es gehe vielmehr um eine Intellektualisierung des allgemeinen Lebens. Mit anderen Worten: nicht bloß Aktualitäten zu notieren, sondern deren hintergründige Funktionsmechanismen aufzudecken.55 Doch diese Art der Rubrik gefällt den Deutschen nicht. Das spüren die Italiener und Franzosen. „II nous semble", schreibt Leonetti an Johnson und des Forets, „d'abord que le groupe allemand r£duit l'importance du niveau internationale, parce qu'il reduit l'importance de la rubrique centrale qui definit ce niveau."56 Damit verbunden ist - und das schon von Anfang an - eine unterschiedliche Idee dessen, wie die für die Revue produzierten Texte entstehen sollen. Mascolo favorisiert Texte, die extra für die Zeitschrift produziert werden.57 Auch des Forets denkt an eine spezifisch transnationale Textproduktion. Er ist verwundert über den Vorschlag der Deutschen, fertige Texte zur geplanten Redaktionskonferenz im Dezember 1962 mitzubringen, deren Termin sich auf Mitte Januar des folgenden Jahres verschieben wird. Das Beispiel macht die divergierenden Vorstellungen der Textproduktion deutlich: Während die Deutschen an eine Addition von verschiedenen Texten denken, stellen sich die Franzosen eher eine Kollektivproduktion vor: Sie wollen im Gespräch Probleme definieren und, von diesen ausgehend, Texte produzieren. Transnational könnte man diese literarische Produktionsweise nennen, während die Deutschen eine nationale Vorgehensweise anstreben, die sich dann international verknüpfen sollte.58 Spätestens im Herbst 1962 nehmen die zweifelnden Stimmen innerhalb der deutschen Redaktion zu. Diese Zweifel werden stärker und eskalieren in einem Rundbrief von Johnson an die deutschen Teilnehmer vom 30. November 1962. In seinem Brief führt er noch einmal die Bedeutung an, die die Franzosen der Rubrik Cours des choses beimessen und verdeutlicht deren Forderung, daß diese „schon für die erste Nummer völlige Einigkeit der drei Gruppen über Geist, Wesen und Richtung von CHRONIK DER ZEIT [Hervorhebung i.O.]" verlangten, „wie sie von der französi54
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Uwe Johnson an Ingeborg Bachmann, Walter Boehlich, Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass, Helmut Heißenbüttel, Peter Rühmkorf, Martin Walser, Siegfried Unseld, 29.4.1963, abgedr. in: Johnson/Unseld, Briefwechsel, 1123-1136, 1123-1124. Vgl. Francesco Leonetti an Uwe Johnson, 24.10.1962, UJA, IZ II, 68. Francesco Leonetti an Uwe Johnson u. Louis-Ren6 des Forets, 21.11.1962, abgedr. in: Lignes 1990/H.l 1,261-263, 261f. Vgl. Dionys Mascolo an Siegfried Unseld, 18.5.1962, UJA, IZ, 22. Vgl. Louis-Ren6 des Forets an Uwe Johnson, 16.10.1962, UJA, IZ II, 66.
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sehen Gruppe verstanden" werde. Ferner zitiert er in diesem Rundbrief ein Schreiben von Claude Gallimard, der betone, daß ,,[j]e n'ai done pas prevu de me rendre ä Zurich en decembre ni meme de m'y faire representer."59 Johnson reißt die Hutschnur. Er stellt die deutschen Mitglieder vor eine Abstimmung. Es gilt, über einen Brief abzustimmen, in dem er Leonetti und des Forets mitzuteilen gedenkt, daß die deutschen Beteiligten „unter diesen Zuständen das Vertrauen in die Zukunft des Projektes nicht mehr aufbringen", sondern beschließen, auf ein internationales Treffen sowie die weitere Vorbereitung der geplanten Zeitschrift zu verzichten.60 Die Abstimmung fällt „durch Briefe, telefonische Gespräche, Schweigen"61 zugunsten der Absage an das internationale Projekt aus. Enzensberger hat Zweifel, weiß aber selbst, daß sein Brief zu spät kommen wird: Er befindet sich auf Tj0me 62 . Walter Boehlich ist gegen eine Aufkündigung. 63 In einem Schreiben vom 5. Dezember dann kündigt Mascolo an, daß Julliard bereit sei, als Verlag zu fungieren.64 Doch noch bevor der Brief ankommen kann, sendet Johnson mit zusätzlichem Schreiben vom 6. Dezember den von den Deutschen abgesegneten Brief ab, in dem die weitere Zusammenarbeit aufgekündigt wird.65 Indes, die internationalen Pläne sind nicht endgültig begraben. Die Information, daß Julliard übernehmen wolle, läßt Johnson noch eine letzte Chance zur internationalen Arbeit sehen.66 Doch die grundsätzlichen Problemlinien sind damit nicht aus der Welt geschafft. Zudem sitzt der Schock der deutschen Absage tief. Das Vertrauen ineinander befindet sich spätestens im Dezember 1962 in einer tiefen Krise. Dennoch stellt Johnson, nachdem hitzige Telefonate, Briefe und Telegramme zwischen und innerhalb der Länderredaktionen gewechselt wurden, die Teilnehmer vor eine neuerliche Entscheidung: „Würden Sie, würdet ihr zu einer internationalen Konferenz über die Zeitschrift kommen, wenn die Garantie aller drei Verlage unzweifelhaft existiert und, zum andern, alle Voraussetzungen erfüllt sind, mit denen man auf dieser Konferenz die
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Uwe Johnson an Ingeborg Bachmann, Walter Boehlich, Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass, Helmut Heißenbüttel, Martin Walser, 30.11.1962, abgedr. in: Johnson/Unseld, Briefwechsel, 1107-1111, 1109f. Uwe Johnson an Francesco Leonetti u. Louis-Ren6 des Forets, 30.11.1962, abgedr. in: Johnson/Unseld, Briefwechsel, 1106f„ 1107. So resümiert Johnson knapp zwei Wochen später das Abstimmungsverhalten: Uwe Johnson an Ingeborg Bachmann, Walter Boehlich, Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass, Helmut Heißenbüttel, Peter Rühmkorf, Martin Walser, Siegfried Unseld, 12.12.1962, abgedr. in: Johnson/Unseld, Briefwechsel, 1111-1115, 1112. Vgl. Hans Magnus Enzensberger an Uwe Johnson, 3.12.1962, UJA, IZ II, 80. Walter Boehlich an Uwe Johnson, 4.12.1962, UJA, IZ II, 83. Dionys Mascolo an Uwe Johnson, 5.12.1962, UJA, IZ II, 85. Uwe Johnson an Francesco Leonetti, 6.12.1962, UJA, IZ II, 86. Schon am 10.12.1962 telegraphiert er an Mascolo, Julliard zu einer Garantieerklärung gegenüber Suhrkamp und Einaudi zu veranlassen: Uwe Johnson an Dionys Mascolo, 10.12.1962, UJA, IZ II, 90.
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erste Nummer praktisch herstellen könnte?" 67 Zwar macht er im weiteren mehr als deutlich, daß von seiner Seite aus kein Interesse mehr besteht, die gemeinsame Arbeit weiter voranzutreiben, doch die Abstimmung fällt diesmal zugunsten der lancierten Konferenz aus. Christian Bourgois gibt die Garantieerklärung für Julliard ab68 und Maurice Nadeau kündigt die Aufgabe der Lettres Nouvelles an, um sich ganz auf die internationale Zeitschrift konzentrieren zu können.69 Am 19. und 20. Januar wird in Zürich über die Zeitschrift diskutiert, voraussichtlich soll sie Gulliver heißen70 und im September 1963 erstmals erscheinen. Als folgende Redaktionskonferenz wird ein Termin um Ostern in Paris vereinbart.71 Doch der Schein trügt: Das Hauptproblem bleibt bestehen. Bevor es sich in Paris explosionsartig entlädt, kündigt es sich in einem Schreiben von Maurice Blanchot bereits an: „J'insiste ä nouveau en particulier sur la necessit6 d'61aborer, pour cette revue, une forme, c'est-ä-dire d'en fixer l'architectonique." 72 Diese Architektur der Zeitschrift erläutert er in einem beigefügten Memorandum. In kruder Abgrenzung zu Sartres Konzept einer ,litterature engagde' betont Blanchot, die Literatur dürfe sich nicht direkt „ä la realite politique" interessieren. Er schlägt ein indirektes Interesse vor, das er am Beispiel der SpiegelAffäre erläutert: „l'affaire du Spiegel ne nous int6resse pas pour la crise gouvernementale qu'elle a provoqude, ni meme pour les interventions de l'autorit6 politique dans le judicaire, mais pour toutes les significations qui y sont sous-jacentes: mythe du secret militaire; n6cessit6 et exigence de tout [Hervorhebung i.O.] dire, sans tenir compte d'aucune opportunite; affirmation d'une autoriti et d'une responsabilit6 des icrivains, etc."73
Ferner führt er aus, die Form der Rubrik cours des choses bzw. die darin enthaltenen Texte sollten kurz, fragmentarisch, offen sein. Sie sollen nicht eine unter anderen, sondern die zentrale Rubrik sein und - durchnumeriert - das Grundgerüst der Zeitschrift darstellen. Unterbrochen werden können sie, nach Vorstellung der Franzosen, jedoch von unabhängigen Texten, die die Rubrik durchbrechen und nicht paginiert werden.
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Uwe Johnson an Ingeborg Bachmann, Walter Boehlich, Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass, Helmut Heißenbüttel, Peter Rühmkorf, Martin Walser, Siegfried Unseld, 12.12.1962, abgedr. in: Johnson/Unseld, Briefwechsel, 1111-1115, 1113. Christian Bourgois an Siegfried Unseld, 14.12.1962, UJA, IZ II, 100. Uwe Johnson an Ingeborg Bachmann, Walter Boehlich, Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass, Helmut Heißenbüttel, Martin Walser, 26.12.1962, abgedr. in: Johnson/Unseld, Briefwechsel, 1115f., 1116. Obwohl die Franzosen Bedenken anmelden aufgrund der Ähnlichkeit zur französischen Kinderzeitung Lilliput. Vgl. Maurice Nadeau an Uwe Johnson, 7.2.1963, UJA, IZ II, 134. Eine Zusammenfassung der Züricher Konferenz bei Uwe Johnson an Louis-Ren6 des Forets u. Francesco Leonetti, 27.1.1963, abgedr. in: Johnson/Unseld, Briefwechsel, 1116-1118. Der in Lignes veröffentlichte Brief, aus dem hier zitiert wird, ist dort als nicht datiert ausgewiesen. Dieser auch im Johnson-Archiv liegende Brief ist aber datiert auf den 28. Februar: Maurice Blanchot an Uwe Johnson, 28.2.1962, abgedr. in: Lignes 1990/H.ll, 283. Blanchot, Memorandum, 185.
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Die Texte für cours des choses sollen zwar von den Länderredaktionen vorbereitet, doch zusammengefügt werden erst in einer Art kollektivem Schaffensprozeß auf den gemeinsamen Konferenzen.74 Dieses dialogische Moment, das der Rubrik zukommt, die ein einziger gar nicht produzieren könnte, da ihr Konstituens per se dialogisch angelegt ist, verweist auf das, was Gerhard Poppenberg den „Kern" von Blanchots literarischem Verständnis nennt: „das Dialogische als Form, Inhalt und Gehalt des Denkens" überhaupt.75 Am 18., 19. und 20. April treffen sich Mitglieder der drei Länderredaktionen in Paris. Es kommt zum unabwendbaren Bruch. Nachdem Johnson am 14. April noch Martin Walser in Friedrichshafen76 und am 15. April Helmut Heißenbüttel in Stuttgart77 besucht hat, um letzte Gespräche mit ihnen über die Revue und die anstehende Pariser Konferenz zu führen, reist er mit Bachmann und Boehlich nach Paris, wo am 18. April um 16 Uhr die Konferenz beginnt78, auf der das Projekt einer Revue Internationale endgültig scheitert. Die Gründe sind eindeutig, sämtliche Quellen sprechen die gleiche Sprache. Sowohl die bereits erwähnten Nachbetrachtungen von Leonetti und Vittorini, wie auch die Briefe der Franzosen, wie der Rundbrief, den Uwe Johnson als Zusammenfassung der Pariser Konferenz verfaßt79: Der gemeinsame Wunsch nach einer internationalen und neuen Schreibweise wurde flankiert und zunichte gemacht durch die Unmöglichkeit, eben eine solche Schreibweise zu finden. „Nach der Eröffnung" der Konferenz, so Uwe Johnson in seinem Rundbrief, „erklärte ich, dass die Angehörigen der deutschsprachigen Gruppe sich nicht in der Lage sehen würden, den grössten Teil der französischen Texte vor dem deutschen Publikum herauszugeben [...]". Nach dieser Ouvertüre entbrennt eine dreitägige Debatte über die Zeitschrift und die Rubrik cours des choses, in der es nicht nur zum Streit zwischen den, sondern teilweise auch innerhalb der Länderredaktionen kommt. Nach drei Tagen ist allen klar: Die Vorstellungen über die Zeitschrift sind unvereinbar. Die cours des choses und die fragmentarische Schreibweise bleiben der große Konfliktpunkt der Zusammenarbeit. Helmut Heißen-
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Vgl. ebd., 185f. Vgl. auch Marianne Kirchner an Uwe Johnson, 21.3.1963, UJA, IZ II, 176. Marianne Kirchner, Übersetzerin und Assistentin von Siegfried Unseld, hält sich im März 1963 auf Wunsch von Unseld und Johnson in Paris auf, wo sie eine Art,Sondierungsgespräch' mit den Franzosen fuhren und damit die für Ostern lancierte Konferenz vorbereiten soll. Gerhard Poppenberg, Ins Ungebundene. Über Literatur nach Blanchot, Tübingen 1993, 73. Poppenberg hat mit seiner Studie nicht nur eine präzise und ausgezeichnete, sondern auch allererste deutschsprachige umfangreiche Untersuchung zu Maurice Blanchot vorgelegt. Vgl. Uwe Johnson, Aufzeichnung von Gespräch mit Martin Walser, 14.4.1963, UJA, IZ II, 187. Vgl. Uwe Johnson, Aufzeichnung von Gespräch mit Helmut Heißenbüttel, 15.4.1963, UJA, IZ II, 188. Von französischer Seite waren anwesend Antelme, Barthes, Blanchot, Mascolo, Nadeau und Bourgois; von italienischer Seite Calvino, Leonetti und Vittorini. Uwe Johnson an Ingeborg Bachmann, Walter Boehlich, Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass, Helmut Heißenbüttel, Peter Rühmkorf, Martin Walser, Siegfried Unseld, 29.4.1963, abgedr. in: Johnson/Unseld, Briefwechsel, 1123-1136.
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biittel hatte sich zwar noch zwei Monate vor der Pariser Konferenz bemüht, in einem Artikel über das Experimentelle eine Verbindung zum französischen Standpunkt herzustellen, doch die Ansichten, wie die ,£criture' der Zeitschrift beschaffen sein sollte, blieben zu unterschiedlich.80 Ohne eine Lösung vertagt man sich auf den Juli desselben Jahres. Johnson schreibt in seinem Rundbrief, wenn sich jemand fände, den Posten des Redakteurs an seiner Stelle zu übernehmen, „besteht weiterhin eine deutsche Gruppe für eine internationale Zeitschrift unter Wortführung dieser Person unter Ihnen und euch; ich wäre ein Mitglied dieser Gruppe. Im anderen Fall ist die bisherige Gruppe deutschsprachiger Herausgeber aufgelöst [...]"81. Die Auflösung war der Fall. Neben dieser Debatte um die Rubrik cours des choses und die damit verbundene Frage nach der richtigen Schreibweise gab es eine Vielzahl anderer Probleme.82 Uneinigkeit bestand in der Frage nach dem Namen für die lancierte Revue. Neben Gulliver, auf der Züricher Konferenz zwar angenommen, aber von den Franzosen weiterhin kritisiert, standen unter anderen zur Diskussion: rubrik/rubrique/rubbrica, discorsi/diskurs/discours, hefte der 21/cahiers des 21/quaderni die 21, work in progress, GUERNICA, POLONIUS, DELTA, JERICHOW, L'autre Revue, '60, International, Alea. Um all diese Namen wurde sowohl innerhalb der als auch zwischen den Länderredaktionen hitzig debattiert, verband sich doch mit dem Namen auch die Ausrichtung der Zeitschrift. Die war aber, wie oben gezeigt, ebenfalls nie geklärt. Nicht zu unterschlagen sind freilich auch infrastrukturelle Probleme, die sich bei einem Projekt dieser Größenordnung (und in einer Zeit, in der sogar um ein einziges Kopiergerät gekämpft werden mußte), ergaben. Die Frage nach der richtigen Organisation war eine, die die Revue von Anfang an begleitete und die nicht selten zu Unstimmigkeiten führte. Der Hauptpunkt des Scheiterns aber, so meine These, war der Streit um die Venture'. Auch die Deutschen wollten kollektiv arbeiten, verstanden aber etwas radikal anderes darunter als das französische Konzept der ,Venture collective' meinte. „Die deutsche Redaktion", so Johnson, „sollte kollektiv sein und arbeiten, da ich mir weder die Kompetenz noch die Lust zutraue allein Entscheidungen zu treffen, die uns alle angehen werden."83 Verstanden die Deutschen das Kollektive pragmatisch, so meinten es die Franzosen programmatisch. Das Programm der Deutschen basierte letztendlich auf einer insofern klassischen Schreibweise, als daß ein Autor seine Idee in seinen Text hineinschrieb. Blanchot wollte jedoch über das Schreiben erst die Idee entwickeln, damit diese von den anderen weiterentwickelt würde und im Dialog mit dem Leser
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Vgl. Helmut Heißenbüttel an Uwe Johnson, 1.2.1963, UJA, IZ II, 130. Uwe Johnson an Ingeborg Bachmann, Walter Boehlich, Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass, Helmut Heißenbüttel, Peter Rühmkorf, Martin Walser, Siegfried Unseld, 29.4.1963, 1135. Zu einer Detailstudie über die Revue vgl. die noch erscheinende Dissertation von Alexander Karasek, Europäisch, provinziell. Das europäische Zeitschriftenprojekt „Gulliver". Uwe Johnson an Helmut Heißenbüttel, 18.7.1962, abgedr. in: Johnson/Unseld, Briefwechsel, 1104f„ 1105.
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erneut sich verändere. Seine Idee einer „namenlos verschworenen Schriftstellergemeinschaft" 84 indes konnte nicht realisiert werden. Zumindest in Deutschland war der Autor noch nicht tot.
Fazit und Perspektiven Häufig sind Interventionen von Intellektuellen motiviert und angestoßen durch Abwehrversuche von Internationalisierungs- und nicht selten damit verbundenen Ökonomisierungsprozessen, durch die sie die Autonomien ihrer originären Felder in Gefahr gesetzt sehen. In diesen Fällen gilt der Kampf den aus dem ökonomischen, bürokratischen oder politischen Feld kommenden Logiken, die auf das intellektuelle Feld übertragen werden sollen. Im vorliegenden Fall ist es genau umgedreht: Die hier betrachteten Akteure versuchen über den Modus der Internationalisierung mit dem Ziel der Transnationalisierung ihre je eigene Feldautonomie zu stärken und gegenüber Einwirkungslogiken aus .feindlichen' Feldern zu bewahren. Es sind Versuche, symbolisches Kapital in einem internationalen Kontext mit dem Ziel einer universal geltend zu machenden Wertidee zu bündeln und gegen Interventionen von außen zu stärken. Pierre Bourdieu hat in einem Vortrag, den er am 25. Oktober 1989 an der Ost-Berliner Humboldt-Universität gehalten hat, auf eine solche Notwendigkeit hingewiesen: auf eine „Internationale der Intellektuellen".85 Das Konzept des Intellektuellen, das Bourdieu in diesem Vortrag entwickelt, zeichnet sich vor allem durch Internationalität und durch Kollektivität aus: durch eben die beiden Achsen, die das Grundgerüst der Revue Internationale darstellten. Geeint durch die Einsicht, daß das Verfassen von Petitionen durchaus nützlich, aber nicht ausreichend sei, suchten die an der Revue Beteiligten nach einem Engagement auf dem Gebiet, das ihr eigenes war: dem des Schreibens. In kruder Abgrenzung von JeanPaul Sartres Konzept der .engagierten Literatur' jedoch ging es ihnen um eine Literatur, die die Wahrnehmungsmuster und Deutungsschemata der Leser in eine Art produktive Unruhe bringen sollte. Daß Johnson, der mithin am stärksten gegen die ,6criture collective' der Franzosen polemisierte, freilich weit davon entfernt war, plakative Literatur zu lancieren, weiß jeder, der auch nur eine Zeile seiner Literatur gelesen hat. Auf sein subtiles Engagementkonzept hat unlängst die Dissertation von Uwe Neumann aufmerksam gemacht, in der er herausarbeitet, daß es Johnson poetologisch darum ging, den Leser mittels der Literatur lediglich anzuregen, selber zu denken und zu handeln.86 In Abgrenzung zu Sartre könnte man die Ausrichtung seines Literaturverständnis eher als 84
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Uwe Johnson an Ingeborg Bachmann, Walter Boehlich, Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass, Helmut Heißenbüttel, Peter RUhmkorf, Martin Walser, Siegfried Unseld, 29.4.1963, 1126. Bourdieu, Der Korporativismus des Universellen, 58. Uwe Neumann, Uwe Johnson und der nouveau roman. Komparatistische Untersuchungen zur Stellung von Uwe Johnsons Erzählwerk zur Theorie und Praxis des nouveau roman, Frankfurt a.M. 1992, v.a. 106-109, 396ff.
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„Eingreifendes Denken" 87 bezeichnen: Es ging ihm darum, mittels einer spezifischen Schreibweise eine produktive Unruhe beim Leser zu erwecken und damit einen Dialog anzuregen, der potentiell eine Veränderung der Wahrnehmung der Welt zur Folge haben sollte: Weltveränderang durch Veränderung der Wahrnehmung der Welt durch Sprachkritik: So könnte man das, was auch Bourdieu als Politik der Wahrnehmung bezeichnet, auf eine Formel bringen. Der Nexus zu Butor, ebenfalls an der Revue beteiliegt, liegt da auf der Hand: „Γaction sur le langage est Taction par excellence"88. Allein, die Gemeinsamkeit der Beteiligten, Wahrnehmungsmuster beim Leser verändern zu wollen, reichte nicht aus. Denn die Schreibweisen, über die solch eine Veränderung lanciert werden sollte, waren zu unterschiedlich. Auf der Ebene der Wahrnehmungsschemata teilten alle die Einsicht in die Notwendigkeit einer neuen Kritik und damit verbunden einer neuen Schreibweise. Lanciert wurde der Versuch, dies im kollektiven und internationalen Arbeitsprozeß zu realisieren, mit dem Ziel, eine transnationale Gegenöffentlichkeit zu schaffen. Die Praktiken jedoch, die konkreten Aushandlungen sowie die vorgelegten Texte fanden untereinander nur wenig Anklang. Die Ebene der Institutionalisierung konnte gar nicht erreicht werden. Mit Ausnahme einer Nullnummer sah die Welt nichts von der Revue Internationale. Eine transnationale Vereinigung kann also gerade nicht in dieser Gemeinschaft gesehen werden, die Hauptkonfliktlinie verlief dafür zu eindeutig an nationalstaatlich abgrenzbaren philosophischen und literarischen Grenzlinien. Doch in Gang gesetzt wurde ein Internationalisierungsprozeß, der sich im Laufe der sechziger Jahre weiterentwickelte. Lenkt man den Blick auf die internen deutschen Auseinandersetzungen, so wird deutlich, daß für den Fall einer gescheiterten internationalen Zeitschrift bereits seit 1962 Planungen unter einigen der beteiligten Schriftsteller bestanden, eine nationale Zeitschrift zu lancieren.89 Sowohl Rudolf Augstein als auch Siegfried Unseld waren interessiert daran, die an der Revue beteiligten Schriftsteller für die Herausgabe einer nationalen Version zu akkreditieren. Grass wiederum plädierte schon sehr früh für eine deutsch-italienische Variante, die bei Feltrinelli erscheinen und auch einige Franzosen mit einbeziehen solle.90 Was dann tatsächlich entstand, war das Kursbuch von Hans Magnus Enzensberger, das ab 1965 im Suhrkamp Verlag erschien.91 Hier arbeiteten 87 88 89 90
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Vgl. dazu den Beitrag von Ingrid Gilcher-Holtey in diesem Band. Zit. n. U. Neumann, Uwe Johnson, 400. Vgl. nur Johnson/Unseld, Briefwechsel, 235, Anm.3. Vgl. Uwe Johnson an Ingeborg Bachmann, Walter Boehlich, Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass, Helmut Heißenbüttel, Martin Walser, 5.10.1962, UJA, IZ II, 54; ders. an dies., Rudolf Augstein, Siegfried Unseld, 5.10.1962, UJA, IZ II, 55. Das italienische Interesse bestand ebenso: Enrico Filippini vom Verlag Feltrinelli wollte sehr gerne ein gemeinsames Projekt lancieren: vgl. Enrico Filippini an Günter Grass, o.D., Archiv der Akademie der Künste, Berlin (AdK), GrassKorr., 6155. Vgl. dazu auch meinen Beitrag, der das Scheitern der Revue Internationale und die Gründung des Kursbuchs in einen unmittelbaren Zusammenhang stellt: Henning Marmulla, Das Kursbuch. Nationale Zeitschrift, internationale Kommunikation, transnationale Öffentlichkeit, in: Martin
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zwar ein deutscher Herausgeber, Enzensberger, und sein deutscher Redakteur, Karl Markus Michel, an ihrer Zeitschrift, doch über die Wahl der Themen und einen regen Manuskriptaustausch mit internationalen Zeitschriften bemühten sich die beiden um Internationalität. Wollte man also eine Entwicklungsgeschichte, mithin ein Phasenmodell formulieren, müßte es für diesen Fall lauten: nationale Akteure, die sich um eine transnationale Gemeinschaft bemühten, scheiterten an national zu stark wirkenden Traditionszusammenhängen und begnügten sich zum Teil mit einer Internationalisierung ihrer Zusammenarbeit. Wollte man nun eine Lehre ziehen aus diesem Scheitern, und manch einer möchte auch heute noch Lehren aus der Geschichte ziehen, so ist Bourdieus Erklärung zur Zeitschrift Uber in Erinnerung zu rufen: „Indem man den Lesern verschiedener Länder die Möglichkeit verschafft, in ihrer Muttersprache Texte zu lesen, die auf Anekdotisches verzichten, von dem die Zeitungen und nationalen Zeitschriften überquellen, und statt dessen Informationen bietet, die in jenen nicht vorkommen, da sie für die Eingeweihten selbstverständlich sind, wollen wir geduldig und unermüdlich daran arbeiten, diese Informationen den Begrenztheiten ihrer nationalen Welten zu entreißen und eine Art von kollektivem Intellektuellen erschaffen, der von der Idolatrie der kulturellen Idiotien frei ist, die allzu häufig mit Kultur verwechselt werden."92
Diese programmatische Erklärung ist als Absichtserklärung dem Heft 25 der internationalen Zeitschrift Uber im Jahre 1995 beigefügt. 93 Bourdieu arbeitet zu diesem Zeitpunkt seit Jahren an der Überwindung nationalstaatlicher Begrenztheit und am internationalen intellektuellen Kampf gegen die globalen Mechanismen einer durch den Primat der Ökonomie bestimmten „neoliberalen Invasion" gegen die Vernunft.94 In einem Europa, in dem im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends nicht nur das ökonomische Kalkül die politischen Entscheidungsträger bestimmt (denkt man etwa an die aktuellen Diskussionen um die deutsche Gesundheitsreform), in dem in unserem Nachbarland Polen eine Regierung die Liebe zum Vaterland als Schulfach und den Haß auf das Andere (etwa die Homosexuellen) zum Regierungsprogramm erklärt, tut eine neuerliche Internationale der Intellektuellen nicht nur Not, sondern ist das höchste Gebot. Die Grabplatte, die über den Intellektuellen gelegt wurde, muß daher entfernt werden: Dieses Grabmal gehört umgestürzt!
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Klimke/Joachim Scharloth Hg., 1968. Ein Handbuch zur Kultur- und Mediengeschichte der Studentenbewegung, Köln 2006,47-62 (im Erscheinen). Pierre Bourdieu, Absichtserklärung zu Liber 1995/H.25, erneut abgedr. in: Pierre Bourdieu, Interventionen 1961-2001. Sozialwissenschaft und politisches Handeln, Bd.3/4, Hamburg 2004, 70. Vgl. zu Uber den Artikel von Anna Boschetti in diesem Band. Vgl. nur Pierre Bourdieu, Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion, Konstanz 1998.
A N N A BOSCHETTI
Sozialwissenschaft, Soziologie der Intellektuellen und Engagement. Die Position Pierre Bourdieus und deren soziale Bedingungen
Für jeden Forscher, der über die Sozialgeschichte von Kultur und Bildung und über die Beziehung zwischen Intellektuellen und Politik arbeitet, ist der Fall Pierre Bourdieu in mehrfacher Hinsicht von besonderem Interesse. Er war die historisch letzte jener Gestalten, die eine charakteristische Figur der französischen Geschichte verkörperten: den großen Intellektuellen als Kritiker der Macht. Sein Werk hat wohl mehr als jedes andere im Verlauf des 20. Jahrhunderts dazu beigetragen, die Kenntnis der intellektuellen Geschichte voranzubringen. Kein anderer Denker hat empirischen Arbeiten zu Kultur und Bildung und zu den Intellektuellen sowie zur Erarbeitung von Hypothesen, mit denen die Möglichkeit eines wissenschaftlichen Herangehens an jene Objekte konzipierbar war, denen eine höchst widerständige spiritualistische Tradition a priori einen privilegierten epistemologischen Status zuschreiben will, der sie den Kategorien des soziologischen Verstehens entziehen würde, einen solchen Wert beigemessen und dafür derartige Anstrengungen aufgewendet. Kein anderer Soziologe hat zudem so ausdrücklich sich selbst zur Aufgabe erhoben, über sein eigenes Denken und, allgemeiner, über seine spezifische Konzeption und Praxis intellektueller Arbeit Rechenschaft abzulegen: Während Marx, Weber und Dürkheim sich nicht methodisch nach den sozialen Bedingungen der Möglichkeit ihrer eigenen theoretischen und praktischen Stellungnahmen gefragt haben, hat Bourdieu den Versuch unternommen, eine soziologische Begründung zu liefern sowohl für seine wissenschaftliche und politische Arbeit als auch für die kritische Potenz, die er der Soziologie beimaß als jener Wissenschaft, die zur Enthüllung und dadurch zur „Entfatalisierung" der sozialen Determinismen beitragen kann. Er hat auf diese Weise präzisere und machtvollere Instrumente zur Analyse der intellektuellen Geschichte und dazu geschaffen, wie die von dieser Geschichte gestellten zentralen Fragen anzugehen sind. Gestützt auf diese Instrumente sowie auf die von Bourdieu selbst unablässig geleistete Selbst-Analyse und die zahllosen ihm gewidmeten Arbeiten, sucht mein Beitrag die Merkmale nachzuzeichnen, die Bourdieu zum exemplarischen Fall einer für die Sozialgeschichte der Intellektuellen unumgehbaren Gestalt werden lassen, wie auch die Fakto-
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ren auszumachen, die zur Erklärung seiner Position berücksichtigt werden müssen. Diese doppelte Rekonstitution erfordert eine vergleichende sozialgeschichtliche Arbeit (was hier nur skizziert werden kann), die die Besonderheit der strukturellen und konjunkturellen Bedingungen hervorheben müßte, die die von Bourdieu praktizierten Formen des Engagements und ebenso seine Soziologie der Intellektuellen, wie sie seinem Gesamtwerk zu entnehmen ist, mit ermöglicht haben.
Das Aktionsfeld: nationale Tradition und theoretischer Raum Unter den sozialen Bedingungen der Möglichkeit der Unterschiede zwischen Bourdieus Soziologie der Intellektuellen und jenen Positionen, die im Rahmen anderer nationaler Traditionen ihre Bestimmung erfahren haben, ist zunächst die Besonderheit der französischen Tradition im Hinblick auf das Verhältnis von Kultur und Macht in Betracht zu ziehen. Bourdieu hat die Bedeutung dieser historisch ausgebildeten Unterschiede stets unterstrichen. In seinem Buch über Heidegger zum Beispiel zeigt er, daß zur Erklärung dieses Paradoxes, der politischen Ausrichtung Heideggers im Verhältnis zur Figur des Intellektuellen, wie sie sich in Frankreich durchsetzte, die spezifischen Merkmale sowohl der Position der Universitätsangehörigen innerhalb der deutschen Gesellschaft jener Epoche, der Verfassung des philosophischen Feldes als auch der von Heidegger darin eingenommenen Position heranzuziehen sind.1 Die Objektivierung der die nationalen disziplinaren Traditionen kennzeichnenden Merkmale ist eine grundlegende Aufgabe innerhalb des von Bourdieu vorgelegten Programms der Sozialgeschichte von Kultur, Intellektuellen und Wissenschaft.2 Die Arbeiten Christoph Charles und anderer Forscher haben mehrere der historischen und sozialen Faktoren zutage gefördert, mit denen sich die Kluft zwischen der Intellektuellengeschichte Frankreichs und der anderer Länder, darunter Deutschland, erklären lassen.3 Die französische Gesellschaft war sicher der günstigste soziohistorische Kontext zur Autonomisierung der Kultur und zum Auftreten von Figuren des Intellektuellen, die die Rolle einer kritischen Gegenmacht in Anspruch nahmen.4 Ein Gesamt von Faktoren (darunter die frühzeitige nationale Vereinheitlichung, der Zentralismus, die der Kultur schon immer entgegengebrachte Anerkennung, die vom Hof und dem Pariser Adel 1
Pierre Bourdieu, Die politische Ontologie Martin Heideggers, aus dem Franz. v. Bernd Schwibs, Frankfurt a.Μ. 1988.
2
Pierre Bourdieu, Les conditions sociales de la circulation des idees, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte/Cahiers d'histoire des litteratures romanes (Heidelberg) 14.1990/H.1/2, 110.
3
Vgl. vor allem Christophe Charle, Vordenker der Moderne. Die Intellektuellen im 19. Jahrhundert, aus dem Franz. v. Michael Bischoff, Frankfurt a.M. 1997.
4
Für einen synthetischen Überblick über die Unterschiede zwischen dem Fall Frankreich und anderen nationalen intellektuellen Traditionen vgl. Anna Boschetti, Le mythe du grand intellectuel, Paris 2003, 313-317.
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praktizierten diversen Formen von Mäzenatentum) hat die Ausbildung einer außergewöhnlich reichhaltigen und prestigereichen kulturellen Tradition ebenso ermöglicht wie die Konzentration einer umfänglichen Population von Künstlern und Intellektuellen in Paris, die - dank der räumlichen Nähe, mit der wechselseitige Kenntnisnahme, Konfrontation, Austausch und Gruppenbildung erleichtert wurden - sich ihrer sozialen Bedeutung bewußt wurden und im Sinne einer regelrechten Gesellschaft in der Gesellschaft funktionieren konnten, die relativ autonom und durch einen spezifischen Lebensstil und entsprechende Werte charakterisiert war. Der Zentralismus hat darüber hinaus zum wachsenden Auftreten von Instanzen der Verbreitung und Konsekration beigetragen, die in der Lage waren, die materielle und intellektuelle Unabhängigkeit der Kulturproduzenten zu stützen: Akademien, Klubs, Salons, Gruppen, Zeitschriften, Verlage, periodische Presse. Die ab 1789 sich fortschreitend durchsetzenden demokratischlaizistischen republikanischen Prinzipien haben neben der Freiheit des Meinungsaustausche und der Entwicklung des öffentlichen Bildungswesens (insbesondere der Schaffung von Einrichtungen zur Reproduktion der intellektuellen Eliten wie der Ecole normale superieure) auch die Bildung eines Kulturmarktes auf nationaler Ebene gefördert, kurzum die Einrichtung einer Sozialordnung, die ihre Legitimation auf den Bezug zu Kultur und Bildung, zu den universalistischen Werten und zur meritokratischen Ideologie begründet. Damit erscheinen weder die von den Kulturproduzenten gegenüber der Nachfrage und den Interessen der Laien eingeklagte intellektuelle und moralische Autonomie5 noch der den Intellektuellen nachgesagte und von ihnen häufig auch eingeforderte soziale Einfluß 6 als bloße illusionäre Wahrnehmungen, vielmehr als Phänomene, deren Möglichkeit in der nationalen Geschichte mannigfach belegt ist. Wenn in diesem Land, und dies insbesondere seit der Dreyfus-Affäre, Fragen wie die nach der Position des Intellektuellen, dessen sozialer Funktion und Verantwortlichkeit immer wieder im Zentrum der politischen und intellektuellen Debatten gestanden haben, so deshalb, weil die Stellungnahmen der Intellektuellen tatsächlich eine nicht zu unterschätzende Rolle für den Ausgang der sozialen und politischen Kämpfe gespielt haben. In keinem anderen Land haben die Intellektuellen eine solche soziale Anerkennung und damit symbolische Macht gewonnen, sicherlich aus dem Grund, weil nirgends sonst die soziale Konfiguration dem Auftreten einer „laizistischen geistigen Macht"
5
Eric Walter, Les auteurs et le c h a m p litteraire, in: Roger Chartier/Henri-Jean Martin Hg., Histoire de Γ edition franfaise, Bd.2, Paris 1984, 3 8 2 - 3 9 9 , Pierre Bourdieu, D i e R e g e l n der Kunst. G e n e s e und Struktur d e s literarischen Feldes, aus d e m Franz. v. Bernd S c h w i b s und A c h i m Russer, Frankfurt a. Μ. 1999.
6
Konservatives D e n k e n hat häufig - z w e c k s Verurteilung - auf den Einfluß der Intellektuellen abgehoben; dies gilt für all j e n e Autoren, die, ausgehend von Burkes Betrachtungen über die Französische Revolution, von Cleridge bis Carlyle, von de Maistre bis Taine die P h i l o s o p h e n beschuldigten, durch Untergrabung der monarchischen Autorität in Frankreich die R e v o l u t i o n mit vorbereitet zu haben.
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derart günstig war. 7 Besonders in Deutschland, aber auch in Italien hat die geographische Streuung der kulturellen Zentren und universitären Institutionen zur Entwicklung und Reproduktion von Unterschieden und tiefgreifenden sozialen Differenzen zwischen den unterschiedlichen Fraktionen der Intellektuellenpopulation und innerhalb jeder einzelnen Kategorie beigetragen. Diese Spaltungen haben statt der Ausbildung einer autonomen Intellektuellengesellschaft, die sich in ihren Werten und ihrem Lebensstil von den anderen Fraktionen des Macht-Feldes absetzt, die Identifizierung der Intellektuellen mit den lokalen Führungseliten begünstigt. Die Dezentralisierung hat wiederum einer Vorstellung von Kultur und Bildung als .reiner', von Politik getrennter Tätigkeit Vorschub geleistet, was freilich nicht verhindert hat, daß diese faktisch häufig genug mit konservativen und nationalistischen Optionen verknüpft war. So haben diese Traditionen lange Zeit den Universalismus, ja selbst die demokratischen Prinzipien als fremd und unheilvoll verworfen, während sich innerhalb der französischen Tradition das Streben nach dem Universellen als konstitutives Merkmal der Berufung des Intellektuellen durchgesetzt hat.8 In Italien unter dem Faschismus wie in Deutschland unter dem Nazismus waren die Linksintellektuellen minoritär, wurden verfolgt oder waren gezwungen zu exilieren, und das Engagement war ein mit den Rechtsintellektuellen assoziierter Merkmalszug. Es bedurfte des Zweiten Weltkriegs, damit nationale Traditionen in dieser Hinsicht tiefgreifend in Frage gestellt wurden. Dem internationalen Ansehen Sartres nach dem Krieg ist mit zu verdanken, daß das Modell des engagierten Intellektuellen ä la fran9aise, wie er es verkörperte, auch in anderen Ländern Fuß fassen konnte. 9 Der nationale Rahmen, in dem Bourdieus Position sich entwickelte, ist sicher einer der Faktoren, der berücksichtigt werden muß, wenn es darum geht zu erklären, wie er Fragen angegangen ist, die im Zentrum der philosophischen und soziologischen Reflexion über die Intellektuellen standen, wie deren Position innerhalb der Gesellschaft, ihre Funktionen, ihr Einfluß, die Vielfalt ihrer Verhaltensweisen und ihrer Haltung gegenüber der ökonomischen und politischen Macht, die Möglichkeit wissenschaftlichen Fortschritts in der Geschichte und die eines .kritischen' Denkens. Tatsächlich stellt die intellektuelle Geschichte Frankreichs insofern einen exemplarischen Fall dar, als sie in besonders entwickelter und evidenter Weise Potentialitäten und Mechanismen aufzeigt, die in den anderen Ländern nicht dieselbe Dynamik und Anschaulichkeit gewonnen haben, wie gerade der hohe Grad an Autonomie des kulturellen Feldes, die sozialen Bedingungen der Möglichkeit der Autonomie, die Funktionsweise eines auto-
7
Paul Benichou, Le Sacre de l'ecrivain, 1750-1830. Essai sur l'avenement d'un pouvoir spirituel
8
Vgl. Louis Pinto, La vocation de l'universel. La formation de la representation de l'intellectuel
9
Zur Rolle des Sartreschen Modells fur die italienischen Intellektuellen bei der Befreiung s. Anna
la'i'que dans la France moderne, PariS(1973. vers 1900, in: Actes de la recherche en sciences sociales 1984/H.55, 2 3 - 3 2 . Boschetti, V o m Engagement z u m Experimentalismus. Bemerkungen z u m italienischen literarischen Feld seit 1945 und seinem Verhältnis zum transnationalen Raum, in: Berliner Journal fur S o z i o l o g i e 14.2004/H.2, 189-205.
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nomen Feldes, die spezifische symbolische Macht, die die anerkanntesten Intellektuellen innehaben, sowie der potentielle Antagonismus zwischen den Intellektuellen und den anderen Fraktionen der herrschenden Klasse. Um zu verstehen, wie die Theorie Bourdieus, die sich im Verhältnis zu diesem besonderen Fall ausgebildet hat, sich als generalisierbar und übertragbar erweisen kann, ist von der Hypothese auszugehen, wonach mit Modellen, die auf der Beobachtung von autonomsten und differenziertesten kulturellen Feldern begründet sind, α fortiori sich auch die Funktionsweisen der anderen erfassen lassen.10 Entsprechend diesem Prinzip beruhen die Aporien der klassischen Theoretisierungen hinsichtlich der Intellektuellen zum Teil darauf, daß sie auf der Grundlage von Beobachtungen weniger entwickelter und minder komplexer historischer Konfigurationen als den heutigen Gesellschaften erarbeitet wurden. So scheitert etwa die marxistische Tradition dadurch, daß sie sich auf die soziale Herkunft der Intellektuellen stützt und diese damit unter die allgemeine Kategorie der .Bürger' einordnet, an der Aufgabe, von Fakten wie dem historischen Antagonismus zwischen den Intellektuellen und den anderen herrschenden Fraktionen Aufschluß zu geben. Gramsci gelingt es nicht, die Grenzen dieser Sicht und der sie inspirierenden Geschichtsphilosophie zu überschreiten, obwohl er doch die Möglichkeit einer Position wie der eigenen mit dem Postulat zu erklären sucht, daß auch das Proletariat in seinem Kampf um die Hegemonie im Staat seine „organischen" Intellektuellen besitzt, die durch die Kommunistische Partei konstituierte revolutionäre Avantgarde.11 Und auch die Sackgassen, in die Weber bei seinen Versuchen geraten ist, die Position der Intellektuellen und seine eigene Perspektive auf die Intellektuellen im Deutschland seiner Zeit von seinen Arbeiten über die Religion her zu reflektieren, sind sicher zu einem Teil auf die Merkmale der damaligen deutschen Gesellschaft und auf die Position, die er darin einnahm, zurückzubeziehen.12 Zur Erklärung der spezifischen Beiträge Bourdieus im Vergleich zu den anderen Theoretisierungen ist auch die Singularität seines intellektuellen Werdegangs in Anschlag zu bringen, die ihn dazu gefuhrt hat, die Möglichkeit der Integration der theoreti10
Vgl. Pierre Bourdieu, Genese und Struktur des religiösen Feldes, in: ders., Das religiöse Feld. Texte zur Ökonomie des Heilsgeschehens, aus dem Franz. v. Andreas Pfeuffer, Konstanz 2000, 39-110. Bourdieu formuliert hier dieses Prinzip in bezug auf die Religionssoziologie, wobei er herausstreicht, daß die heuristische Überlegenheit der auf komplexe Fälle angewandten Analysen Webers im Verhältnis zu den Arbeiten Dürkheims (der die Wahrheit der komplexen Religionen in den primitiven Religionen zu finden hoffte) Marx' These bestätigt, wonach die komplexesten Formen des gesellschaftlichen Lebens das Prinzip ftir das Verständnis der elementarsten Formen beinhalten [Hinweis auf Marx in der dt. Fassung nicht enthalten; im Original: Revue franfaise de sociologie 12.1971/H.2, 307; Anm. d. Übers.].
"
Antonio Gramsci, Gefängnishefte, Hamburg 1995.
12
Siehe die weiter unten, im 4. Abschnitt, Wissenschaft und Engagement, angerissenen Analysen sowie Isabelle Kalinowski, ί ε ς ο η β weberiennes, in: Max Weber, La science, profession et vocation, traduit de l'allemand par Isabelle Kalinowski, Marseille 2005, bes. 260-262.
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sehen und methodologischen Errungenschaften von Traditionen ins Auge zu fassen, die gewöhnlich als höchst unterschiedliche, ja unvereinbare Denkweisen gelten, wie etwa, was die Philosophie anbelangt, der phänomenologische Ansatz, die von Bachelard inspirierte historische Epistemologie oder Wittgenstein und die analytische Philosophie; was die Anthropologie betrifft, die durch Mauss und Levi-Strauss verkörperte Tradition; was die Linguistik angeht, die Arbeiten von de Saussure und Chomsky; schließlich das von den Gründervätern der Soziologie, Marx, Weber und Dürkheim, erarbeitete theoretische und technische Instrumentarium. Verständlich wird damit auch, warum das von Bourdieu entwickelte Modell (gedacht, wie jede wissenschaftliche Theorie, als ein work in progress, die durch unaufhörliche Konfrontation, empirische Forschung, Systematisierung und Formalisierung immer wieder zu verifizieren und zu perfektionieren ist) sich als sehr viel stärker, präziser und heuristischer erweist als die von anderen zeitgenössischen französischen Autoren vorgelegten Reflexionen über die Intellektuellen. Sartre etwa hat sein Leben lang nach dem Platz und der Rolle des Intellektuellen in der Gesellschaft gefragt, letztlich aber nur eine höchst diffuse Vorstellung vorgelegt, die zwischen der marxistischen Auffassung des Intellektuellen als Renegat der Bourgeoisie und dem Bild einer Kategorie zwischen und/oder über den Klassen schwankt. Mit dem Begriff des ideologischen Staatsapparats bleibt Althusser wiederum völlig gefangen in der mechanistischen Sicht, die das Subjekt und die Kultur/Bildung zu bloßen Trägern der Struktur degradiert und die Möglichkeit eines nicht-ideologischen Denkens und der kritischen Gegenmacht, die er selbst auszuüben versuchte, zu erklären verhindert. 13 Und auch die Macht-Konzeption, die Foucault unter Rückgriff auf Metaphern wie „kapillarisches Netz" und „Dissemination" dieser monistischen Sicht entgegensetzt, ist nicht mit jenem von Bourdieu entwickelten systematischen Korpus von Hypothesen zu vergleichen, mit dem sich ein richtiggehendes kollektives Programm der Gegenstandskonstruktion und des Experimentierens begründen läßt.14
13
Louis Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, aus dem Franz. v. Rolf Löper, Hamburg 1977.
14
Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, aus dem Franz. v. Walter Seitter, Frankfurt a.M. 1976.
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Die dem Werk Bourdieus eingeschriebenen Prinzipien der Soziologie der Intellektuellen Bourdieu hat nie verhehlt, wie viel er seinen mannigfachen Vorgängern verdankt; allerdings sind diese Positionen für ihn lediglich Ausgangspunkte einer Synthese, die zugleich eine Überschreitung darstellt. So greift er in dem Modell, das er in den Feinen Unterschieden vorlegt, auf die „relationale Denkweise" zurück, in seinen Augen die zentrale Lektion des Strukturalismus (die soziale Struktur wird begriffen als ein System von Unterschieden zwischen den es konstituierenden Positionen), integriert und systematisiert zugleich aber zwei Beiträge Webers: zum einen berücksichtigt er die Akteure, die Handelnden; zum anderen erklärt er die Unterschiedlichkeit der Interessen und Strategien anhand der Arbeitsteilung, der Unterschiedlichkeit und Verteilung der Kapitalformen.15 Was die Intellektuellen anbetrifft, so lassen sich mittels der ersten Achse des Modells (dem Umfang des gesamten Kapitals) die beherrschten Fraktionen - wie die Grundschullehrer und unteren Beamten - von denjenigen unterscheiden, die eine beherrschende Position innehaben, wie die Universitätsangehörigen und die freien Berufe, und zum „Macht-Feld" gehören. Die zweite Achse, die Zusammensetzung des Kapitals, gibt Aufschluß über den strukturalen Gegensatz zwischen den zwei Polen des „MachtFeldes": dem temporell herrschenden Pol, an dem mehr ökonomisches und/oder politisches Kapital gebündelt ist, und dem Pol der Intellektuellen, die reich an kulturellem Kapital, aber temporell beherrscht sind. Mit dieser Position als „Beherrschte unter Herrschenden" wird auch erklärlich, warum sich die Intellektuellen geschichtlich sowohl mit den Herrschenden wie den Beherrschten identifizieren konnten; sie erlaubt auch den tendenziellen Antagonismus zu verstehen zwischen den autonomsten Intellektuellen und den anderen Fraktionen des „Macht-Feldes", zumal dann, wenn das intellektuelle Feld insgesamt einen sehr hohen Grad an Autonomie aufweist. Der Feld-Begriff ergänzt dieses Modell, indem er die spezifischen Interessen und Konditionierungen sichtbar macht, die für jeden Intellektuellen in der Tatsache begründet sind, daß er in Mikrokosmen situiert ist, die, hervorgegangen aus der Arbeitsteilung, relativ unabhängig und durch ihre je eigene Logik gekennzeichnet sind. Bourdieus zentrales Interesse fur die Funktionsweise des wissenschaftlichen Feldes erklärt sich aus dessen strategischer Bedeutung: Es geht darum zu zeigen, daß mittels des Feld-Begriffs die wissenschaftlichen Errungenschaften als historische und soziale 15
Bourdieu hat selbst nachgezeichnet, was das Feld-Konzept der Religionssoziologie Webers verdankt, zugleich aber auch die seiner Ansicht nach inhärenten Grenzen der Weberschen Analysen hervorgehoben. Denn sie entwerfen zwar einen strukturalen Ansatz, entgehen aber einer interaktionistischen Sichtweise und einem typologischen Verfahren deshalb nicht, weil es ihnen nicht gelingt, die Beziehungen zwischen den Akteuren als System zu denken. S. insbes. Pierre Bourdieu, Strukturalismus und soziologische Wissenschaftstheorie, in: ders., Zur Soziologie der symbolischen Formen, aus dem Franz. v. Wolf H. Fietkau, Frankfurt a.M. 1970, 7-41; ders., Eine Interpretation der Religion nach Max Weber, in: ders., Das religiöse Feld.
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Produkte erklärt werden können, ohne in kognitiven und ethischen Relativismus zu verfallen.16 Bourdieu unterstreicht nicht zuletzt die entscheidende Rolle, die historisch im Rahmen der Fortschritte, die durch die spezialisiertesten und am wenigsten nationalen Beschränkungen unterworfenen wissenschaftlichen Felder errungen wurden, der Etablierung einer transnationalen Konfrontation zwischen den Konkurrenten zukam, die begründet war auf wechselseitig geteilten Kriterien der Gültigkeit, die die Autonomie wie das Interesse an Wahrheit und Uneigennützigkeit begünstigten und dem Gewicht sozialer, mit den ebenso akademischen wie wirtschaftlichen und politischen nationalen Kräften verbundenen Faktoren entgegenzuwirken vermochten. Woraus die Überzeugung erwuchs, daß in jedem Feld der Universalisierungsprozeß um so mehr Aussichten auf Realisierung hat, je autonomer und internationaler ausgerichtet das Feld ist. Bourdieus Analysen anderer Felder wie des literarischen, künstlerischen oder bürokratischen Feldes bringt die Antriebskräfte zutage, mittels deren die Autonomisierung das Interesse am Universellen und an Universalisierungsstrategien befördert.17 Diese Funktionsweise, in Bourdieus Worten „eine List der historischen Vernunft", ermöglicht unter bestimmten Voraussetzungen ein Fortschreiten des Universellen. Als einen Ausdruck dieses Prozesses erklärt Bourdieu sowohl jene historischen Figuren, die in Frankreich das Recht des Intellektuellen auf Ausübung einer Art moralischer Autorität gegenüber der Gesellschaft einklagten, als auch jene Vorstellungen, die fortschreitend den Begriff der moralischen Verantwortung der Intellektuellen etablierten.18 Anhand des Begriffs des „Macht-Feldes" zeigt Bourdieu weitere historische Faktoren auf, mit denen sich die Möglichkeit politischen Wandels und die Infragestellung der herrschenden Ordnung erklären lassen. Durch die relative Autonomie der um die Macht im Staat konkurrierenden Felder wie auch die in ihnen ausgetragenen Kämpfe werden sowohl die Differenzierung der Positionen, Standpunkte und Interessen befördert als auch das Auftreten von Formen wechselseitiger Kontrolle, die die Befolgung der offi-
16
Der erste entsprechende Text geht auf das Jahr 1975 zurück (Pierre Bourdieu, La specificite du champ scientifique et les conditions sociales du progres de la raison, in: Sociologie et societes (Montreal), 7 . 1 9 7 5 / H . l , 91-118; Bourdieu widmet dem Thema seine letzte Vorlesung am College de France; in Buchform: Science de la science et reflexivite, Paris 2001.
17
Bourdieu, Die Regeln der Kunst; ders., Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, aus dem Franz. v. Hella Beister, Frankfurt a.M. 1998 (s. darin v.a. Staatsgeist. Genese und Struktur des bürokratischen Felds, 91-125; Ist interessefreies Handeln möglich?, 137-157; Über eine paradoxe Grundlage der Moral, 219-226; ders., Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, aus dem Franz. v. Achim Russer, Frankfurt a.M. 2001 (bes. Kap.3: Die historischen Grundlagen der Vernunft, 118-164).
18
S. Pierre Bourdieu, Postscriptum. Für einen Korporatismus des Universellen, in: Die Regeln der Kunst, 521-535. Hinsichtlich der Einfuhrung des Begriffs der sozialen und politischen Verantwortung der Intellektuellen s. Gisele Sapiro, Le principe de sincerite et l'ethique de la responsabilite de l'ecrivain, in: Eveline Pinto Hg., L'ecrivain, le savant et le philosophe, Paris 2003, 183201; dies., V o m Schriftsteller zum Intellektuellen: die Konstruktion eines kritischen Habitus unter der Restauration, in diesem Band.
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ziellen ethischen Prinzipien als vorteilhaft erscheinen lassen. Diese entschieden historizistische und realistische Sicht von Vernunft und Ethik steht in ausdrücklichem Gegensatz zu der von Denkern wie etwa Habermas, die die Möglichkeit der Ethik nicht erklären können, ohne daß sie zugleich die Möglichkeit von Kommunikations- und Handlungsbeziehungen postulieren müssen, die, durch universelle transzendentale Normen geregelt, keiner Herrschaftslogik unterworfen sind.19 Im Gegensatz aber auch, zumindest implizit, zum Pessimismus eines Weber, denn, so Bourdieu, „die Ernüchterung, die die soziologische Analyse des Interesses an der Interessenfreiheit hervorrufen kann, fuhrt nicht unausweichlich zu einem Moralismus der lauteren Absicht, der nur noch Augen für die angemaßte Universalität hat und dabei übersieht, daß das Interesse am Universellen und der Profit aus dem Universellen unbestreitbar die verläßlichste Triebkraft des Fortschritts zum Universellen sind". 20 Darüber hinaus bietet die Anthropologie Bourdieus wirksame Instrumente zur Erklärung jener spezifischen Machtformen, die den Intellektuellen zur Verfugung stehen, aufgrund ihrer Dispositionen, ihrer Kompetenzen und ihrer qua Status verliehenen Autorität als Professionellen der Produktion, Manipulation und Kodifizierung des Diskurses. Alle theoretischen Traditionen, die in der intellektuellen Entwicklung Bourdieus eine Rolle gespielt haben, messen den mentalen Kategorien und der Sprache in der Konstruktion der Wirklichkeit große Bedeutung bei. Daher war er von Anfang an gleichsam darauf eingestellt, der symbolischen Dimension der Funktionsweise des Sozialen besondere Aufmerksamkeit zu widmen, wobei er auf Anregungen seiner Vorgänger, zumal die Analysen Webers, zurückgriff, ohne dabei doch in Idealismus zu verfallen: Er verwarf nicht nur das anti-marxistische Bild Webers als Verfechters der absoluten Autonomie des Geistes als falsch, sprach der Religionssoziologie Webers vielmehr das Verdienst zu, „die marxistische Intention (im besten Sinne des Wortes) auf Gebieten verwirklicht [zu haben], auf denen Marx dies nicht gelungen ist. [...] er hat die materialistische Analyse des religiösen Faktums stark gemacht, ohne den genuin symbolischen Charakter des Phänomens zu zerstören". 21 Bourdieu ist immer einer entschieden realistischen Perspektive verhaftet geblieben: Die soziale Welt ist immer schon da, wenn die Akteure darin eintreten. Strukturiert, objektiviert und institutionalisiert durch alle Kämpfe und Auseinandersetzungen der Vergangenheit, existiert sie unabhängig von Wille und Vorstellung der Akteure. Doch die symbolische Tätigkeit der Akteure trägt dazu bei, ihr Gestalt zu geben, Sinn zu vermitteln - dies mittels der Prinzipien der Vision und Division, die sie ihr gegenüber anlegen und die gleichermaßen an der Reproduktion der Kräfteverhältnisse wie an deren Infragestellung oder gar Veränderung mitwirken. Worum es in den sozialen Auseinandersetzungen geht, hat stets und immer 19
Vgl. Bourdieu, Meditationen, 80-93. Vgl. Frank Poupeau, Reasons for domination, in: Bridget Fowler Hg., Reading Bourdieu on culture and society, Glasgow 1999.
20
Bourdieu, Über eine paradoxe Grundlage der Moral, 223 [Übers, leicht modifiziert, Anm. d. Übers.].
21
Bourdieu, Rede und Antwort, aus dem Franz. v. Bernd Schwibs, Frankfurt a.M. 1992, 52.
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wieder mit Wissen und Macht zu tun. Symbolische Macht besteht darin, kraft Durchsetzung von Prinzipien der Wahrnehmung und Klassifizierung sichtbar zu machen und glauben machen zu lassen.22 Von seinen frühen Arbeiten an hat Bourdieu den von dieser Anthropologie geforderten „bifokalen" Blick eingesetzt, der eine zirkuläre Beziehung zwischen Objektivem und Subjektivem, zwischen Welt und „Standpunkt" gegenüber der Welt postuliert. So sind seine Forschungen zum Bildungssystem ebenso auf strukturelle Ungleichheiten gerichtet wie auf den Bezug zur Sprache der Studenten und des Lehrpersonals, wobei sie die von der pädagogischen Rede tendenziell ausgeübte Reproduktions- und Legitimationsfunktion der Klassifikationsschemata und kulturellen Ungleichheiten offenbaren.23 In diesem Zusammenhang wird der Begriff der „symbolischen Gewalt" eingeführt und damit sichtbar gemacht, welche ausschlaggebende Rolle die mit Unterricht betrauten Intellektuellen unbeabsichtigt und unwillentlich bei der Bewahrung einer ungerechten sozialen Ordnung spielen können. Andere Forschungen, wie die zu Heidegger oder zur Rhetorik des Althusserschen Diskurses, fokussieren auf die Formen der durch die prestigereicheren Gruppen der auctores ausgeübten Macht und symbolischen Gewalt.24 Die Rolle der Intellektuellen als Professionelle der Repräsentation und der Repräsentationskämpfe - Repräsentation hier in ihrer umfassenden Bedeutung verstanden - steht im Zentrum der Texte, die sich seit Mitte der siebziger Jahre mit der Funktionsweise des politischen Feldes befassen.25 Viel Aufmerksamkeit widmet er sozialen Effekten des Geschriebenen, der Kodifizierung und der Juridifizierung, jenen Verfahren also, in denen sich die Macht der institutionalisierten Autorität, der Bürokratie, des Rechts und der Juristen zum Ausdruck bringt.26 Ausgehend von seinen ethnologischen Forschungen in Algerien und im Rahmen der Hinterfragung der Vorannahmen jenes Irrtums, den er Levi-Strauss vorwirft - des Objektivismus - , geht Bourdieu einen weiteren zentralen Punkt seiner Soziologie der Intel-
22
Pierre Bourdieu, Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches, aus dem Franz. v. Hella Beister, Wien, 1990, 11-17; ders., Sozialer Raum und symbolische Macht, in: ders., Rede und Antwort, 135-154; s. auch ders.: Langage et pouvoir symbolique, Paris 2001.
23
S. Pierre Bourdieu/Jean-Claude Passeron, Langage et rapport au langage dans la situation pedagogique, in: Pierre Bourdieu/Jean-Claude Passeron/Monique de Saint Martin Hg., Rapport pedagogique et communication (Cahiers du centre de sociologie europeenne 2), Paris 1965, 9-36.
24
Bourdieu, Die politische Ontotogie Martin Heideggers; ders., Der Wichtigkeitsdiskurs. Einige soziologische Betrachtungen über „Einige kritische Bemerkungen zu Das Kapital lesen", in: ders., Was heißt sprechen?, 146-168.
25
Pierre Bourdieu/Luc Boltanski, La production de l'ideologie dominante, in: Actes de la recherche en sciences sociales 1976/H.2/3, 3-73; Pierre Bourdieu, Die politische Repräsentation, in: Berlinerjournal für Soziologie 1.1991/H.4,489-515.
26
Pierre Bourdieu, Die Kodifizierung, in: ders., Rede und Antwort, 99-110; ders., La force du droit. Elements pour une sociologie du champ juridique, in: Actes de la recherche en sciences sociales 1986/H.64, 3-19. S. Remi Lenoir, Du droit au champ juridique, in: Louis Pinto/Gisele Sapiro/Patrick Champagne Hg., Pierre Bourdieu, sociologue, Paris 2004, 231-253.
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lektuellen an, die Analyse der gleichsam „professionellen" Irrtümer der Intellektuellen, die eng verknüpft sind mit den Bedingungen der Ausübung der intellektuellen Tätigkeit. Er bezeichnet diese Irrtümer als Formen des „Intellektualismus", wobei er sich explizit auf die Phänomenologie zumal Merleau-Pontys beruft, der eine Kritik des intellektualistischen Irrtums dahingehend skizziert, daß dieser alle Verhaltensweisen auf logische, abstrakte Prinzipien oder bewußte Entscheidungen zurückführt, ohne die praktische Logik des Handelns und dessen affektive, körperliche, spontane, vorreflexive, nicht thetische Dimensionen in Betracht zu ziehen. Eine weitere typische Illusion der Intellektuellen - insbesondere jener, die, da in der Ausübung ihrer Tätigkeit keinem Zwang und keiner Zensur unterworfen, sich total frei von jeglichem Bedingungsgefuge, „bindungs- und wurzellos" wähnen können - ist die Illusion der Undeterminiertheit, des unmittelbaren Zugriffs auf die Wahrheit, des absoluten, grenzenlosen Denkens. Diese Illusion (deren gleichsam idealtypische Formulierungen der von Mannheim eingeführte Begriff der „freischwebenden Intelligenz" 27 und Sartres Ontologie, die dem Bewußtsein eine radikale Freiheit bescheinigt, sind) stellt die Hauptform der besonderen Determinierung dar, die auf den Intellektuellen einwirkt.28 Bourdieus Soziologie gibt dem Forscher Instrumente epistemologischer Wachsamkeit an die Hand, gegen die Risiken der Usurpierung des Universellen, denen er als Intellektueller immer dann ausgesetzt ist, wenn er seinen partikularen Standpunkt als universellen nimmt, ohne die seine Sicht leitenden allgemeinen wie besonderen sozialen Faktoren zu analysieren. Es handelt sich um eine erweiterte Konzeption von Reflexivität, die dem erkennenden Subjekt mehr als alles andere die Objektivierung seiner eigenen Position abverlangt als der einzigen Waffe gegen das jedes Denken heimsuchende „Ungedachte": eine methodische Sozio-Analyse aller sozialen Determinierungen, die sich auf dessen intellektuelle Optionen auswirken (Disziplin, Gegenstand, Methoden usw.), insbesondere jene Konditionierungen, die die Intellektuellen, einschließlich der am meisten um Objektivität bemühten, am wenigsten in Betracht zu ziehen gedenken, das heißt die auf Feld- und Positionseffekte zurückgehenden. 29
27
Karl Mannheim, Ideologie und Utopie, Bonn 1929.
28
Siehe vor allem Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis, aus dem Franz. v. C. Pialoux u. Bernd Schwibs, Frankfurt a.M. 1976; ders., Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, aus dem Franz. v. Gustav Seibt, Frankfurt a.M. 1987; ders., Meditationen.
29
Siehe vor allem Pierre Bourdieu, Participant objectivation, in: The Journal of the Royal Anthropological Institute 2003/H.9, 281-294 (L'objectivation participante, in: Actes de la recherche en sciences sociales 2 0 0 3 / H . 1 5 0 , 4 3 - 5 7 ) .
212
Anna
Boschetti
Die sozialen Bedingungen der intellektuellen Haltung Bourdieus In Ein soziologischer Selbstversuch hebt Pierre Bourdieu hervor, daß sein Verhältnis zur intellektuellen Welt durch starke Ambivalenz geprägt ist, wohingegen die meisten Absolventen der Ecole normale superieure, die wie er aus der Provinz und aus bescheideneren Verhältnissen stammen, sich tendenziell mit der schulischen Institution, die sie auserwählt hat, und mit dem verklärten Bild von Kultur und Bildung identifizieren, das diese vorgibt. Seine widerspenstige Haltung erklärt Bourdieu mit einem Aspekt, der seinen Werdegang von anderen unterscheidet: Wie ein anderer berühmter „Normalien", in dem er sich wiedererkennt, Paul Nizan (so wie er aus der bemerkenswerten Rekonstruktion Sartres 30 hervorgeht), ist er „Sohn eines Überläufers und selbst Überläufer" und empfindet die Zustimmung zum prestigereichen sozialen Universum, in das einzutreten sein schulischer Erfolg ihm ermöglicht hat, als Verrat. „Ich war eigentlich nie ganz davon überzeugt, mit gutem Recht die Rolle eines Intellektuellen auszufüllen", schreibt er in Meditationen.31 Das Privileg, in diese Welt Zugang gefunden zu haben, kann nur abgebüßt werden durch intensive intellektuelle Arbeit: der Aufdeckung der Mechanismen des kulturellen Ausschlusses, die dieses vorgeblich allgemeine Gut, Kultur/Bildung, zu einem raren Kapital und einem Herrschaftsinstrument machen. Verstärkt wird dieses Gefühl einer Differenz durch die prekäre Situation dessen, der von der Grundschule an sich mit seinen bäuerlichen Familien entstammenden Klassenkameraden nicht identifizieren kann, von denen er durch seinen Schulerfolg wie den Beruf seines Vaters, dieses zum kleinen Beamten gewordenen Bauernsohns, getrennt ist, im Vergleich zu den Mitgliedern der großen Bauemfamilien zwar ärmer, aber zugleich gebildeter als die meisten von ihnen. Ebensowenig vermag er sich mit den diversen Fraktionen der gestandenen oder angehenden Intellektuellen zu identifizieren, unter denen sich sein weiterer schulischer Werdegang vollzieht," zunächst in Pau, dann in Paris in den Vorbereitungsklassen, schließlich an der Ecole normale. Von den Klassenkameraden, die wie er im Internat sind, ist er durch seinen Schulerfolg, von den Externen seiner Klasse, Städtern und Bourgeois, durch all das getrennt, was sich aus seiner sozialen Herkunft an Unterschieden ergibt. Die rohe, brutale „nächtliche" Welt des Internats bringt Risse in das idealisierte Bild von Kultur und Bildung und den menschlichen Beziehungen, das seine Lehrer in der „taghellen" Welt der Klasse verbreiten. Von daher, wie er unterstreicht, eine „ebenso zwiespältige und widersprüchliche Beziehung" zu sich selbst als Intellektuellem: „Als ob die Selbstsicherheit aufgrund der Tatsache, sich bestätigt zu fühlen, an der Wurzel schon angefressen wäre durch die radikalste Unsicherheit in bezug auf die Instanz dieser Bestätigung, einer Art oberflächlicher und
30
Jean-Paul Sartre, Vorwort, in: Paul Nizan, Aden. Die Wachhunde. Zwei Pamphlete, hg. und aus dem Franz. v. Traugott König, Reinbek 1969.
31
Bourdieu, Meditationen, 15.
Sozialwissenschaft,
Soziologie der Intellektuellen und Engagement
213
betrügerischer Rabenmutter." 32 Sicher hängt das Streben nach einer Form von epistemologisch fundierter Erkenntnis mit dem Anspruch zusammen, diese „Unsicherheit" hinsichtlich der Möglichkeit, einem „oberflächlichen und betrügerischen" Gebrauch der Kultur zu entkommen, zu überwinden. Methodisch richtig sind nun aber auch die Möglichkeiten nicht außer acht zu lassen, die sich dem jungen aufstrebenden Philosophen innerhalb des universitären Raums, in dem er situiert ist, eröffnen. Dieser Raum ist durch zwei gegensätzliche Pole strukturiert: einem auf Epistemologie und Wissenschaftsgeschichte hin ausgerichteten Pol, repräsentiert durch Gestalten wie Georges Canguilhem, der sich auf Bachelard beruft, und einem damals beherrschenden anti-objektivistischen und anti-wissenschaftlichen Pol, den Sartre verkörpert. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts zieht der Wissenschaftspol vor allem eine Population an, die Schulerfolg und Herkunft aus bescheidenen Verhältnissen und/oder aus der Provinz kombiniert und sich einer auf die Aufklärung verpflichteten Tradition einfugt, in der Wissenschaft, Vernunft und demokratischer Fortschritt verknüpft sind, während die Vertreter des anderen Pols häufiger aus Paris und aus gebildeten Fraktionen der höheren Klassen stammen.33 Verständlich, daß Bourdieu, geleitet von seinem Habitus und den damit einhergehenden intellektuellen Ansprüchen, sich Canguilhem näher fühlt als Sartre, über den er später sagen wird: „Das Unbehagen, das er zum Ausdruck bringt, ist Leiden daran, Intellektueller zu sein, nicht daran, in der intellektuellen Welt zu sein - denn da bewegt er sich, alles in allem, wie ein Fisch im Wasser." 34 Vielsagendes Beispiel: Während für Bourdieu die Zeit als Interner mit Erinnerungen an Leiden und dumpfer Revolte verknüpft ist, hat Sartre seine Jahre an der Ecole normale als „glückliche" apostrophiert. 35 In diesem Sinne fugen sich die philosophischen Präferenzen des jungen Bourdieu in die Traditionslinie des Rationalismus ein, der wissenschaftliche Strenge und Philosophie zu versöhnen sucht und sich nach den Voraussetzungen des Erkenntnisfortschritts fragt. Mit der epistemologischen Reflexion will er den gebieterischen Drang stillen, der ihn antreibt, „nicht nur die Grenzen des Denkens und der Macht des Denkens zu reflektieren, sondern auch seine Voraussetzungen". 36 Das bedeutet zunächst einmal, sich nach dem zu fragen, was für die meisten Intellektuellen selbstverständlich ist, das heißt nach den Möglichkeiten des erkennenden Subjekts, die verschwiegenen Annahmen zutage zu fordern, die es in seiner Praxis
32
Pierre Bourdieu, Ein soziologischer Selbstversuch, aus dem Franz. v. Stephan Egger, Frankfurt a.M. 2002, 113 [Übersetzung leicht modifiziert, Anm. d. Übers.: im Original: Esquisse pour une auto-analyse, Paris 2004, 128].
"
Louis Pinto, (Re)traductions. Phänomenologie et .philosophie allemande' dans les annees 1930, in: Actes de la recherche en sciences sociales 2002/H.145, 21-33.
34
Bourdieu, Die Regeln der Kunst, 339.
35
Sartre, Vorwort zu Paul Nizan.
36
Bourdieu, Meditationen, 9.
Anna
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Boschetti
unwissentlich einsetzt, und sie zu kontrollieren. Bourdieus gesamte Forschung zu den Intellektuellen belegt die Wahrhaftigkeit dieser Aussage aus den Meditationen-. „Der Privilegiertheit derer, die (nach Piatons Wort) imstande sind, .ernsthaft zu spielen', weil ihr Stand (oder heute: der Staat) ihnen die Mittel dazu an die Hand gibt, war ich mir stets bewußt, und damit sie mein Denken nicht lenken oder begrenzen kann, habe ich die am schärfsten objektivierenden Erkenntnisinstrumente, die mir zu Gebote standen, immer auch als Instrumente zur Erkenntnis meiner selbst eingesetzt, und vorab meiner selbst als .Erkenntnissubjekts'." 37
Dieser Imperativ ist so stark, daß er, als die Erfahrung Algeriens ihm Gelegenheit bietet, sich mit den Sozialwissenschaften auseinanderzusetzen, nicht zögert, auf den prestigereichen Status des Philosophen zu verzichten und zur Soziologie überzuwechseln, die zwar eine Paria-Disziplin ist, aber schärfere „objektivierende Erkenntnisinstrumente" an die Hand gibt als die Philosophie. Diese Option unterscheidet ihn von zwei anderen berühmten Zeitgenossen, die gleichermaßen Normaliens und Philosophen waren, nämlich Foucault und Derrida. Beide waren ihm dem Anschein nach in mehrfacher Hinsicht ähnlich, zumal in ihrem ambivalenten Verhältnis zur Welt der Kultur und in dem von ihnen empfundenen strukturellen Anspruch, sich als Neueintretende von den herrschenden Positionen abzusetzen, von der universitären Orthodoxie wie von Sartre. Aber wenn sie den Humanwissenschaften auch Instrumente entlehnt haben, so doch nie zur Analyse der sozialen Bedingungen der Möglichkeit ihres eigenen Diskurses; wie sie auch nie ihren Titel als Philosophen zur Disposition stellten: Der Anspruch auf Bruch, Einschnitt und der „Wille zum Wissen" gingen bei ihnen nie so weit, daß sie darauf verzichteten, vom Prestige und von der Triebfeder dessen zu profitieren, was den Charme und das Charisma der Philosophie ausmacht, nicht zuletzt das ästhetische Spiel mit literarischem Schreiben und den Texten der großen Autoren. 38 Wie Bourdieu selbst häufig unterstrichen hat, kann sein gesamtes Werk gelesen werden als eine gleichsam erweiterte Selbst-Analyse, darin bestehend, sowohl die verschiedenen sozialen Welten, durch die sein Werdegang führte, zu objektivieren, als auch sein Verhältnis zu diesen Welten, oder, um in seinem Sprachgebrauch zu bleiben, seinen „Standpunkt" und die ihn prägenden Determinierungen: „Es war ein Impuls. Ich wollte dieses Universum begreifen und mit diesem Begreifen zugleich mich selbst begreifen, und begreifen, warum ich diesen Drang hatte. [...] Die auf die intellektuelle Welt angewandte Soziologie ist ein sehr wirksames Gegengift gegen die Phantasmen des charismatischen Intellektuellen, des totalen Intellektuellen, dieser Art Autobefriedigung, die bei Sartre wie bei Aron zu finden war. Die Soziologie des Bildungswesens, die Soziologie der Grandes Ecoles, die Soziologie der Intellektuellen war letztlich das Gegengift. In jedem Augenblick war ich es, um den es ging, im allgemeinen wie im besonderen, und ich war verpflichtet, meine eigene Erfahrung zu objektivieren, zugleich aber auch deren Grenzen, zu
37
Ebd., II.
38
Louis Pinto, Volontes de savoir. Bourdieu, Derrida, Foucault, in: Pinto/Sapiro/Champagne Hg., Pierre Bourdieu, sociologue, 48.
Sozialwissenschaft,
Soziologie
der Intellektuellen
und
Engagement
215
sagen, ,das da, das ist die Sicht eines Provinzlers, der mit einem Akzent gekommen ist, der ihn verbessern mußte', usw." 39
39
Pierre Bourdieu, Der totale Intellektuelle. Ein Gespräch mit Franz Schultheis, in: Süddeutsche Zeitung, 15.4.2000; Passage in der deutschen Version nicht enthalten, sondern in der von Pierre Bourdieu durchgesehenen und ergänzten französischen Fassung, erschienen in: L'annee sartrienne, Bulletin du Groupe d'Etudes Sartriennes 2001/H.15, 194-203, 202. Tatsächlich hat Bourdieu umfängliche empirische Arbeiten zu allen zentralen sozialen Räumen vorgelegt, in denen sich sein Werdegang vollzog. Die Arbeiten zum Bildungssystem, von Les Heritiers (dt. Die Illusion der Chancengleichheit, aus dem Franz. v. B. u. R. Picht, Stuttgart 1971, und Grundlagen einer Theorie der symbolischen Gewalt, aus dem Franz. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt a.M. 1973; beide zusammen mit Jean-Claude Passeron) bis La Noblesse d'Etat (dt. Der Staatsadel, aus dem Franz. v. Franz Hector u. Jürgen Bolder, Konstanz 2004) liefern uns wesentliche Instrumente zum Verständnis der Bedingungen, unter denen sich Bourdieus intellektuelle Sozialisation vollzog, insbes. der sozialen Eigenschaften und Effekte von Institutionen wie den Vorbereitungsklassen und der Ecole normale superieure. Seine Arbeiten über Algerien analysieren die traumatischen Transformationen, denen die algerische Gesellschaft in den Jahren unterliegt, in denen Bourdieu dort seine Forschungen durchführt. La Distinction (dt. Die feinen Unterschiede, aus dem Franz. v. Achim Russer u. Bernd Schwibs, Frankfurt a.M. 1982) bietet eine Sozioanalyse der französischen Gesellschaft in den Jahren, in denen Bourdieu die Grundlagen seines wissenschaftlichtheoretischen Unternehmens legte. Die Welt, in die er hineingeboren wurde, ist Gegenstand seiner Forschung über den Ledigenstand der Bauern im Bearn, eine Art umgekehrte Traurige Tropen, wie Bourdieu selbst sagte, wobei er die Rolle dieser Arbeit bei der Blickveränderung hervorhob, mittels deren er die strukturalistische Anthropologie einer Kritik unterziehen konnte (Pierre Bourdieu, Le bal des celibataire. Crise de la societe paysanne en Bearn, Paris 2002). Homo academicus (dt. dass., aus dem Franz. v. Bernd Schwibs, Frankfurt a.M. 1988), eine Analyse der Hierarchien und strukturalen Gegensätze in der Welt des höheren Bildungssystems und der Forschung, läßt die Differenzen zwischen den Fakultäten und den Institutionen mit größerem Prestige und minderem akademischen Einfluß zutage treten, in denen sich Bourdieus Karriere vollzog: die Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales und das College de France. In Legon sur la Ιβςοη (dt. dass., aus dem Franz. v. Bernd Schwibs, Frankfurt a.M. 1985) nimmt er die sozialen Bedingungen und Funktionen des Akts zum Gegenstand, den er im Begriff ist zu begehen, d.h. die Inauguralvorlesung am College de France. Die zumal in Science de la science et reßexivite und in Esquisse pour une auto-analyse (dt. Ein soziologischer Selbstversuch) unternommene Selbstanalyse vervollständigt diese Objektivierungsarbeit, indem sie rekonstruiert, was Bourdieu in den Regeln der Kunst mit einem Wort Flauberts als Standpunkt des Autors bezeichnet, d.h. der Platz, den er in diesen Räumen einnahm, und die Art und Weise, in der er sie wahrnahm. Die Rolle der Wahrnehmung ist in der Theorie Bourdieus zentral, weil sie die Modalitäten der Beziehung mit ausrichtet und gestaltet, die das Subjekt zur sozialen Welt und zu den von ihr gebotenen Möglichkeiten unterhält. Im Gegensatz zu den meisten Theoretikern, die in der Regel wenig geneigt sind anzuerkennen, daß ihre Gedanken nicht die Frucht einer unbefleckten Empfängnis darstellen, vielmehr viel den Erfahrungen verdankt, mit denen sie konfrontiert waren, ist Bourdieu auch mehrfach auf den Raum der theoretischen Möglichkeiten zurückgekommen, in bezug auf die sein Denken sich ausgebildet hat, und zwar sowohl mit als auch gegen diese Möglichkeiten. Elemente dieser Rekonstitution sind in folgenden Werken zu finden: Esquisse d'une theorie de la pratique (dt. Entwurf einer Theorie der Praxis), Une interpretation de la theorie de la religion selon Max Weber (dt. Eine Interpretation der Religion nach Max Weber), dem Vorwort zu Sens pratique (dt. Sozialer Sinn), Reponses pour une anthropologie reflexive (dt. Pierre
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Nicht zuletzt geht es ihm darum, die zwei Formen von Glauben zu enthüllen, deren gewaltsame und betrügerische Seite aufzudecken ihm die Initiation in die intellektuelle Welt ermöglichte: die Ideologie des .Charisma', die ästhetischen Geschmack und ästhetische Einstellungen zu einer Naturbegabung und einem Zeichen von Auserwähltheit erhebt, und die meritokratische Ideologie, gegründet auf dem Mythos von der schulisch garantierten Chancengleichheit. Indem beide Ideologien die sozialen Bedingungen der Möglichkeit schulischen Erfolgs und künstlerischen Schaffens wie der Liebe zur Kunst verschleiern, tragen sie in starkem Maße bei zur Perpetuierung und Kaschierung der potentiell im Namen der Kultur ausgeübten Funktionen der Reproduktion und Legitimation des Ausschlusses. So erklären sich die beiden Orientierungen in den Arbeiten Bourdieus nach seiner Rückkehr aus Algerien: es geht um die Untersuchung der Produktions- und Transmissionsmodi von Kultur/Bildung und des Verhältnisses dazu, und dies sowohl im Bildungssystem wie in den literarischen und künstlerischen Produktionsfeldern. Verständlich wird, warum so starker Nachdruck auf die Analyse der Welt der Vorbereitungsklassen und der Ecole normale gelegt wird: gründet deren Aura doch auf diesen Ideologien, wie sie auch machtvoll an deren Reproduktion mitwirken. Diese Entmystifizierung erscheint ihm ganz besonders dringend im intellektuellen Kontext der sechziger Jahre, der gekennzeichnet war durch das Auftreten ungeduldiger Prätendenten, die unter Berufung auf die Linguistik faktisch erneuerte Formen der Sakralisierung von Kultur/Bildung vorlegten und das Wissenschaftslager dadurch schwächten, daß sie die Grenzen zwischen Wissenschaft und Glauben verwischten. 40 Es ist kein Zufall, wenn der Feld-Begriff aus einer Transposition und Systematisierung der Arbeiten Webers über die Religion hervorgeht: Für Bourdieu sind die intellektuellen Moden Glaubensüberzeugungen, die denselben Funktionsprinzipien gehorchen wie die religiösen Vorstellungen und gleichermaßen als „Opium fürs Volk" wirken. 41 Dieses Objektivierungsunternehmen hat nichts von einem ikonoklastischen Kampf. Die dem Zugang zu Kultur und Bildung entgegenwirkenden Mechanismen zu untersuchen, heißt für Bourdieu, im gleichen Zug die sozialen Bedingungen der Herstellung einer rationalen
Bourdieu/Lo'i'c J.D. Wacquant, Reflexive Anthropologie, aus dem Franz. v. Hella Beister, Frankfurt a.M. 1996), Les Regies de l'art (dt. Die Regeln der Kunst) sowie zahlreiche Interviews wie insbesondere Bezugspunkte in „Fieldwork in Philosophy" (in: Choses dites, dt. Rede und Antwort, 15-75). 40
Ähnlich erklärt sich die Vehemenz der Kritik, die Weber in seinem Vortrag über Wissenschaft als Beruf an die Adresse jener Gelehrten richtet, die Prophetie vom Katheder herab betreiben, also von ihrer universitären Stellung und ihrem Charisma profitieren, um ihre Glaubensvorstellungen durchzusetzen, nicht zuletzt durch den Anspruch, die Studenten vor dem damaligen Einfluß innerhalb der Universität von Gruppen zu warnen, in denen ein reaktionäres und antiwissenschaftliches Denken zum Ausdruck kam, wie den Schülern des Dichters Stefan George. Siehe dazu Kalinowski, Lemons weberiennes, Kap.3, 149-189.
41
Vgl. zu diesem Punkt Anna Boschetti, Sciences sociales et litterature: enjeux et acquis des travaux de Pierre Bourdieu sur le champ litteraire, in: Jacques Bouveresse/Daniel Roche Hg., La liberte par la connaissance. Pierre Bourdieu (1930-2002), Paris 2004, 236-240.
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Soziologie der Intellektuellen und Engagement
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Pädagogik zu erfassen, die in der Lage ist, wirksam gegen diese Mechanismen anzukämpfen. Die der wissenschaftlichen und politischen Reflexion Bourdieus zugrundeliegende Haltung beschwört unausweichlich die zweier großer Ahnen herauf, nämlich Marx und Weber, und beider Beiträge zu versöhnen gilt denn auch sein ausdrückliches Vorhaben. Haben beide doch die gebieterische Forderung verspürt, die Rolle von Kultur und Bildung bei der Perpetuierung und Legitimierung der sozialen Unterschiede zu objektivieren. Im Licht des von Talcott Parsons und anderen Popularisierern seines Denkens durchgesetzten Bildes von Weber mag die Vorstellung einer Nähe zu Marx befremden; aber dieses Bild ist schematisch und entstellend, wie es Interpretationen mit einer größeren Achtung für die Komplexität der Weberschen Position belegen, angefangen bei den ihm von Bourdieu selbst gewidmeten Analysen.42 Die soziale Laufbahn Webers, die wie jene Bourdieus nicht linear verlief (allerdings in entgegengesetzter Richtung, nämlich absteigend), erklärt auch dessen Gefühl einer Distanz zur intellektuellen Welt: Seine Position als Rentier, d.h. von eigenem Vermögen lebend, und die Tatsache, einer großbürgerlichen, mit allen Formen von Kapital ausgestatteten Familie zu entstammen, disponierte ihn dazu, die Grundlosigkeit, Willkürlichkeit seiner Wahlentscheidungen und die Gefahren des Dilettantismus wahrzunehmen, denen er ausgesetzt war. Und so suchte er der verklärenden Sicht intellektueller Arbeit als „Berufung" das Bild eines „Berufs" entgegenzusetzen, der einen hohen Grad an Spezialisierung und totalen Einsatz erheischt. Bei Bourdieu sind noch weitere Merkmalszüge Webers zu finden, so jene Form des „Aristokratismus" (der sicher in Verbindung steht mit dem hohe Anforderungen stellenden Ethos als Kennzeichen ihres Familienmilieus 43 ), der den hohen Anspruch ihrer wissenschaftlichen und ethischen Absichten ebenso erklärt wie ihre Verachtung des akademischen Karrierismus und mondänen Erfolgs.
Wissenschaft und Politik Bourdieu, der sich des „untrennbar wissenschaftlichen und politischen" Anspruchs bewußt war, der ihn die Soziologie wählen ließ, hat stets an die mögliche Versöhnung von Wissenschaft und Engagement geglaubt, ohne daß er doch zugleich vor den Gefahren und Schwierigkeiten einer solchen Herausforderung die Augen verschloß. Wie er in seiner wissenschaftlichen Arbeit und in seinen Interventionen das Engagement begreift und praktiziert, zeugt von einer ständigen reflexiven Anstrengung, basierend auf Kenntnissen und Instrumenten, die er sich durch seine Arbeiten zur intellektuellen Ge-
42
S. v.a. Bourdieu, Eine Interpretation der Religion nach Max Weber; K a l i n o w s k i , L e f o n s w e b e -
43
S. Bourdieu, Ein s o z i o l o g i s c h e r Selbstversuch, 115; und hinsichtlich W e b e r s Aristokratismus
riennes. Kalinowski, L e f o n s weberiennes, 1 0 6 - 1 0 8 .
Anna Boschetti
218
schichte erworben hat. Wie er selbst hervorhob, zog das Vorhaben, die Soziologie in den Status einer Wissenschaft zu erheben, paradoxerweise eine Selbstzensur der politischen Absicht nach sich, steht diese Disziplin doch aufgrund der Tatsache, daß in ihr die zentrale Rolle des Politischen (wie in jeder Erkenntnistätigkeit faktisch vorhanden) mehr als evident ist, immer unter Verdacht. 44 Zudem ist Bourdieu wie Dürkheim und Weber davon überzeugt, daß die Soziologie wirksame Instrumente zum Verständnis der sozialen Welt und zum Einwirken auf sie nur zu geben vermag, wenn sie sich bemüht, objektive und strenge Wissenschaft zu sein.45 So hat auch Bourdieu nachdrücklich die Forderung empfunden, die Differenz zwischen wissenschaftlicher Forschung und politischem Kampf zu reflektieren und zu kennzeichnen, nicht zuletzt dadurch, daß er alles daransetzte, die Bedingungen der Möglichkeit von Objektivität in den Sozialwissenschaften zu bestimmen, den esoterischen Charakter wissenschaftlicher Arbeit einzuklagen, seine wissenschaftliche Arbeit von Werturteilen, normativen Aussagen und genuin politischen Stellungnahmen freizuhalten sowie seine eigene Position der Objektivierung zu unterwerfen und die Voraussetzungen legitimen Eingreifens des Wissenschaftlers in die öffentliche Debatte zu präzisieren. Zugleich bestehen gravierende Unterschiede zwischen Bourdieus Position hinsichtlich des Verhältnisses von wissenschaftlicher Forschung und politischem Engagement und der von Dürkheim wie von Weber. Dürkheim, der ebenfalls den gesellschaftlichen Nutzen seiner Forschungen geltend machte 46 , glaubte an die Möglichkeit eines harmonischen Zusammengehens der Anforderungen des republikanischen Staates mit dem Fortschritt soziologischer Erkenntnis. Er verstand sich als Beamter des Staates, und sicher wollte sich Bourdieu von dieser Auffassung absetzen, als er die Intellektuellen unter Rückgriff auf eine Wendung Husserls - an deren „als bescheiden begreifbare Rolle als .Funktionäre der Menschheit'" erinnerte.47 Ihm zufolge kann die Sozialwis-
44
Pierre Bourdieu, Politische M o n o p o l i s i e r u n g und s y m b o l i s c h e R e v o l u t i o n e n , in: ders., D a s politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft, aus d e m Franz. v. R o s w i t h a S c h m i d , Konstanz 2001, 133-140.
45
Vgl. Webers Positionen in seiner ersten Schrift über die Börse, d i e an Arbeiter und sozialistische Aktivisten gerichtet war: „Nichts gefährdet aber eine Arbeiterbewegung w i e die, an w e l c h e sich d i e s e Zeilen j e nach der Titelaufschrift zunächst w e n d e n , schwerer, als unpraktische, in Unkenntnis tatsächlicher Verhältnisse gesteckte Ziele" (Max Weber, D i e B ö r s e ( 1 8 9 4 ) , in: ders., G e s a m melte Aufsätze zur S o z i o l o g i e und Sozialpolitik, Tübingen 1924, 2 5 6 ) . Und Bourdieu: „[...] die befreiende Kraft der S o z i a l w i s s e n s c h a f t ist um so größer, j e mehr an N o t w e n d i g k e i t sie wahrnimmt und j e besser sie die Gesetzmäßigkeiten der soziale Welt erkennt" ( D e r S o z i o l o g e auf d e m Prüfstand, in: ders., S o z i o l o g i s c h e Fragen, aus d e m Franz. v. Hella Beister u. Bernd S c h w i b s , Frankfurt a.M. 1 9 9 3 , 4 4 ) .
46
In der berühmten Formulierung, w o n a c h s o z i o l o g i s c h e Forschungen nicht der M ü h e wert wären, wenn sie nur spekulatives Interesse hätten ( E m i l e Dürkheim, Über soziale Arbeitsteilung, aus d e m Franz. v. L u d w i g Schmidts, Frankfurt a.M. 1977, 77).
47
Pierre Bourdieu, L'intellectuel dans la cite, Gespräch mit Florence Dutheil, in: Le M o n d e , 5 . 1 1 . 1 9 9 3 , 29; Husserl gemahnte die Philosophen an ihre R o l l e als Funktionäre der Menschheit
Sozialwissenschaft,
Soziologie der Intellektuellen und Engagement
219
senschaft nicht anders als kritisch wirken und die herrschende Ordnung in Zweifel ziehen, enthüllt sie doch, was niemand zu sehen wünscht. 48 Seiner Ansicht nach bildet die Fähigkeit zu stören einen aussagekräftigen Hinweis auf den Grad an Autonomie und Interessefreiheit soziologischer Forschung. 49 Es ist auffallend, daß sich dieselbe Überzeugung in einer Äußerung Webers wiederfinden läßt: „Ich bin ein Mitglied der bürgerlichen Klassen, fühle mich als solches und bin erzogen in ihren Anschauungen und Idealen. Allein es ist der Beruf gerade unserer Wissenschaft, zu sagen, was ungern gehört wird, - nach oben, nach unten, und auch der eigenen Klasse." 50 Allerdings legen die Analysen Webers eine zutiefst pessimistische Sicht nahe, in der die Vertreter der spirituellen, religiösen oder laizistischen Macht objektiv stets Komplizen der politischen und ökonomischen Macht sind, da sie unter dem Deckmantel relativer Unabhängigkeit dank der fortschreitenden Arbeitsteilung eine wesentliche Rolle bei der „Domestizierung der Beherrschten" und bei der Legitimation der Herrschenden spielen. Bourdieu war überzeugt, daß die soziologische Entschleierung Instrumente an die Hand geben kann, um gegen die Mechanismen der Herrschaft und Ausschließung anzukämpfen, nicht zuletzt gegen die symbolische Gewalt, die sich im Verkennen der Willkürlichkeit der sozialen Ordnung vollzieht. Tatsächlich liefert seine Theorie Hypothesen zur Erklärung von Veränderung und von der Möglichkeit eines objektiven Bündnisses zwischen den Beherrschten und bestimmten Fraktionen der herrschenden Klasse, insbesondere den Intellektuellen und Beamten. In den Augen Bourdieus stellte sein Engagement zudem die stimmige Übertragung seiner Position als Wissenschaftler dar, die von ihm entwickelte theoretische Perspektive, mit der sich anhand des Begriffs der relativen Autonomie der sozialen Felder die Kohärenz einer Haltung des engagierten Wissenschaftlers .begründen' ließ, für den Wissenschaft und Engagement insofern nicht Widersprüche sind, als er als Wissenschaftler und unter Rückgriff und Berufung auf seine wissenschaftlichen Einsichten zur Aktualität Stellung nimmt. Bei Weber dagegen bestand, eine Quelle fortwährender Spannung, eine Spaltung zwischen Wissenschaftler und Aktivisten: der eine entschlei-
in: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Den Haag 1962, 15. 48
In La Reproduction wird diese kritische Rolle der Wissenschaft bereits explizit eingefordert: Zwar gibt es nur Wissenschaft vom Verborgenen, doch ist die Wissenschaft von der Gesellschaft an sich kritisch, ohne daß der sich für die Wissenschaft Entscheidende Kritik j e zu wählen hätte: Das Verborgene ist in diesem Fall ein - wohlgehütetes - Geheimnis, selbst wenn niemand damit betraut ist, es zu hüten, da es zur Reproduktion einer auf der Verschleierung der wirksamsten Mechanismen ihrer Reproduktion begründeten .sozialen Ordnung' beiträgt und es damit den Interessen derer dient, die an der Wahrung dieser Ordnung interessiert sind (Pierre Bourdieu/JeanClaude Passeron, La Reproduction, Paris 1970, 250, Fußnote 35 [Anm. d. Übers.: nicht enthalten in der deutschen Teilübersetzung: Die Illusion der Chancengleichheit, 225]).
49
Pierre Bourdieu, Eine störende und verstörende Wissenschaft, in: ders., Soziologische Fragen, 19-35.
50
Max Weber, Werk und Person, hg. v. Eduard Baumgarten, Tübingen 1964, 326.
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erte schonungslos die Mechanismen der sozialen Herrschaft und ihre Gewalt, der andere bestimmte seine Wahlentscheidungen im Verhältnis zu den bestehenden Optionen des politischen Raums und blieb so gefangen in der Alternative von revolutionärer Avantgarde (den antimilitaristischen, sozialistischen oder anarchistischen Zirkeln, deren Kampf er nachvollziehen konnte, aber von denen ihn zu vieles trennte) und nationalistisch getöntem Liberalismus seiner Herkunftsklasse, der aufgeklärtesten Fraktion des Großbürgertums, deren Standpunkt sich wiederum nicht mit seiner Sicht als Wissenschaftler deckte.51 Diese objektive und subjektive Kluft verdankte sich sicher den Merkmalen des Raums, in dem er situiert war, und seiner sozialen Position - beides hinderte ihn, die Möglichkeit einer Versöhnung zu erkennen.
Das Engagement als soziologisches Experimentieren Bourdieu hat die Manifestationen seines Engagements mit Bedacht orchestriert, wobei er wie in seiner wissenschaftlichen Arbeit theoretische Reflexion und praktisches Experimentieren gleichzeitig betrieb, und zwar in Abhängigkeit von den Veränderungen, die zwischen Anfang der sechziger Jahre und den Anfangsjahren des 21. Jahrhunderts, den Eckdaten seines Werdegangs, eintraten und seine Position und den Raum, in dem er situiert war, in Mitleidenschaft zogen. Dieser bewußten, reflexiven Haltung war zu verdanken, daß er nicht den intellektuellen Konformismen anheimfiel, die vorschrieben, nacheinander Weggefährte mit Sartre zu sein, mit Althusser „das Kapital zu lesen", mit Foucault linksradikal zu sein, um am Ende beim Antimarxismus zu landen. In seinen Anfängen beschränkte sich Bourdieu nahezu ausschließlich auf die Form von Engagement, die in seinen Augen seine wissenschaftliche Arbeit darstellte, mit dem Gegensatz zwischen der „Gestalt des .totalen' und entschieden der Politik zugewandten Intellektuellen [...], wie sie Jean-Paul Sartre verkörperte", und dem durch Levi-Strauss gegebenen Vorbild, das „nicht wenig dazu beigetragen [hat], daß bei vielen angehenden Sozialwissenschaftlern der Ehrgeiz geweckt wurde, die Spaltung zwischen theoretischen und praktischen Intentionen, die so häufige Loslösung der wissenschaftlichen Berufung vom ethischen oder politischen Auftrag aufzuheben, indem diese ihre Aufgabe als Forscher als ein der reinen Wissenschaft und der exemplarischen Prophetie gleichermaßen fernes, sozusagen engagiertes Handwerk bescheidener und verantwortungsbewußter erfüllten".52 Seine Hinterfragung der epistemologischen Vorannahmen des Strukturalismus geht Hand in Hand mit einer „nahezu instinktiven Ablehnung der ethischen Haltung, die die strukturale Anthropologie implizierte, nämlich ein von gewisser Arroganz und Distanz geprägtes Verhalten des Wissenschaftlers zu seinem Gegenstand" 53 und der Kritik des von Levi-Strauss verfolgten Versuchs einer
S. dazu Kalinowski, Lemons weberiennes, Kap.4 (Un savant tres politique), 191-240. Bourdieu, Sozialer Sinn, 8. Bourdieu, Rede und Antwort, 34.
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Rehabilitierung des „wilden Denkens", einer Art „umgekehrten Ethnozentrismus', darin bestehend, allen Gesellschaften, selbst den primitivsten', Formen von kulturellem Kapital zuzuschreiben, die sich erst ab einem bestimmten Entwicklungsstand der Arbeitsteilung ausbilden können". 54 Auf den ersten Blick ist Bourdieus Haltung der Foucaults nahe, der ebenfalls sich von Sartre absetzt und der Figur des vorgeblich „universellen" Intellektuellen die des „spezifischen" Intellektuellen entgegensetzt, der sich darauf bescheidet, bei Fragen zu intervenieren, die im Umkreis seiner Kompetenz liegen. Tatsächlich aber erscheinen Bourdieus Entscheidungen weitaus kohärenter und methodischer, was sicher auf beider unterschiedliche Positionen zurückzuführen ist. Foucault hat sich der Instrumente der Sozialwissenschaften bedient, ohne auf den Status des Philosophen und eine Haltung des der Versuchung des Prophetentums den Weg ebnenden ästhetischen Radikalismus zu verzichten. 55 Seit seinem Eintritt ins intellektuelle Leben hat Bourdieu es sich nicht nehmen lassen, zur Aktualität Stellung zu beziehen, doch betrafen die meisten seiner Interventionen in der Öffentlichkeit Fragen, in die seine eigenen Forschungsarbeiten wissenschaftliches Licht gebracht hatten, so die 1961 und 1962 veröffentlichten Artikel über Algerien 56 , die implizit sowohl zu den durch den Krieg ausgelösten abstrakten Debatten im Gegensatz standen als auch zum unverantwortlichen Utopismus derer, die wie Sartre und Fanon die politische Revolution als magische Lösung der Probleme der algerischen Gesellschaft predigten. 57 Unter Berufung auf seine Arbeiten über das Bildungssystem nimmt das Centre de sociologie europeenne auf seine Art an den Mai-Ereignissen von 1968 teil: es lanciert einen „Aufruf zur Bildung von Generalständen in Unterricht und Forschung" sowie eine Reihe kollektiv verfaßter thematischer Materialienhefte mit Vorschlägen, wie den das Prinzip der Chancengleichheit zur Fiktion verurteilenden schulischen Mechanismen entgegenzuwirken wäre. Der 1971 erstmals gehaltene Vortrag „Die öffentliche Meinung gibt es nicht" 58 , eine Kritik der Meinungsumfragen und der manipulativen Funktionen der Politologen, fußt auf Bourdieus Überlegungen zur Problematik der soziologischen Erhebung, die auf seine frühen Arbeiten in Algerien zurückgehen. Selbst die Unterstützung der Kandidatur des Komikers Coluche bei der Präsidentenwahl von 1981 - auf den ersten Blick aus einer bloßen Laune heraus - gründet in einer spezifischen Reflexion des politischen Feldes im Zusammenhang mit den Analysen aus den
54
Pierre Bourdieu, Genese et structure du champ religieux, in: Revue franfaise de sociologie I2.197I/H.3, 306 (Passage in der deutschen Übersetzung: Genese und Struktur des religiösen Feldes nicht enthalten).
55
Man erinnere sich nur an die Begeisterung, mit der er 1979 den Staatsstreich Khomeinis aufnahm, ohne über die iranische Situation im mindesten aufgeklärt zu sein.
56
Revolution dans la revolution, in: Esprit 1961/H.l, 27-40; ders., Les sous-proletaires algeriens, in: Les Temps modernes 1962/H.199, 1030-1051.
57
Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, Reinbek 1969. Vorwort von Sartre.
58
In: Bourdieu, Soziologische Fragen, 212-223.
222
Anna Boschetti
Feinen Unterschieden und empirischen Arbeiten von Forschern des Centre.59 Mit der Unterstützung von Coluche prangert er auf seine Weise öffentlich die Kluft zwischen Laien und Professionellen der Politik an, die in jener Zeit innerhalb der Linksparteien besonders ausgeprägt ist, nicht zuletzt innerhalb der Kommunistischen Partei, deren Wählerbasis unter Gesichtspunkten von Kultur und Bildung am stärksten enteignet ist.60 Als Bourdieu sich Anfang der achtziger Jahre der Tatsache bewußt wird, daß er nun über das nötige symbolische Kapital verfügt, um seinen Initiativen Sichtbarkeit und Wirksamkeit zu verleihen (sein wissenschaftliches Ansehen wächst international, 1981 wird er ans College de France berufen), sinnt er auf direktere Formen der Intervention, die in seiner Sicht um so dringender sind, als die Front der sich für die Kritik der herrschenden Ordnung engagierenden Intellektuellen zwischenzeitlich erheblich geschwächt wurde. Der rapide Ansehensverlust des Kommunismus (infolge von Ereignissen wie den Enthüllungen über die Sowjetlager, die offizielle Verurteilung des Stalinismus ab dem 20. Kongreß der KPdSU, die gewaltsame Niederschlagung des Aufstands 1956 in Budapest und 1968 in Prag) eröffnet die Möglichkeit zum radikalen Schwenk der Intellektuellen, die sich vordem in Frankreich und anderswo zum Marxismus bekannt hatten. Die Zeitschrift Arguments (1956-1962), abgelöst durch Tel Quel (1960-1982), sowie die von den Medien, einschließlich dem Nouvel Observateur, unterstützte öffentliche Verbreitung und Rezeption der „Nouveaux Philosophes", der „Neuen Philosophen", sind Indikatoren und Wirkfaktoren dieser Kehrtwendung, die unter Mißbrauch der prophetischen Rolle beiträgt zur Diskreditierung des Engagements, zur Verschleierung des Gegensatzes zwischen rechts und links, zwischen den von ihresgleichen anerkannten autonomen Intellektuellen und den ,Gurus', die ihre Berühmtheit einzig Presse und Fernsehen verdanken. Eine neue Doxa setzt sich durch und verkündet den „Tod des Marxismus", die Nutzlosigkeit der Revolte gegen die Macht, die Legitimität des medialen Zugriffs auf das intellektuelle Leben.61 Das gesamte kritische Denken, identifiziert mit dem Marxismus, wird diskreditiert. Zudem war mit dem Ende des Algerienkrieges - wie von Bourdieu selbst in seinen Analysen zur Transformation des Macht-Feldes aufgewiesen - eine technokratische Ideologie siegreich auf
59
Vgl. insbes. Bourdieu, Die politische Repräsentation, 489-515; Jeannine Verdes-Leroux, Au service du Parti. Le parti communiste, les intellectuels et la culture (1944-1956), Paris 1983; Patrick Champagne, Faire l'opinion. Le nouveau jeu politique, Paris 1989.
60
Diese Analyse der kommunistischen Wählerschaft ist heute sicher überholt, und dies aufgrund der Veränderungen sowohl der sozialen Verwerfungen als auch der Systeme der politischen Repräsentanz; doch sind deren Hypothesen, mutatis mutandis, immer noch übertragbar auf die Untersuchung aller Fälle von auf bildungsmäßiger Enteignung basierender institutioneller Delegation.
61
S. Claude Grignon, Tristes tropiques, in: Actes de la recherche en sciences sociales, 1976/H.2, 32-42; s. Pierre Bourdieu, La fin des intellectuels?, in: Noroit 1980/H.253, 2-8, 17-23 u. 1980/H.254, 2-8, 17-19; Anna Boschetti, Intellettuali francesi e profetismo politico, in: il Mulino 1981/H.274, 273-297; Louis Pinto, L'Intelligence en action: Le Nouvel Observateur, Paris 1984; ders., Tel Quel. Au sujet des intellectuels de parodie, in: Actes de la recherche en sciences sociales 1991/H.89, 66-77.
Sozialwissenschaft, Soziologie der Intellektuellen und Engagement
223
den Plan getreten, die das „Ende der Ideologie" und den optimistischen Glauben an die Modernisierung predigte, die sich auf die Errungenschaften der „politischen Wissenschaft" im Sinne der Professoren des Institut d'Etudes Politiques und der ENA gründete.62 In diesem Kontext erwuchs für Bourdieu der Anspruch, seine Autorität und sein Wissen auszunutzen, um die Rolle eines öffentlichen Intellektuellen zu übernehmen und zugleich diese Rolle im Verhältnis zu deren traditionellen und durch den exzessiven und mißbräuchlichen Gebrauch geschwächten und ihres Glanzes beraubten Formen neu zu definieren. „Die Intellektuellen", erklärt er in einem Interview von 1981, „haben seit Zola kein einziges neues Aktionsmittel erfunden; sie leiden unter der Ineffizienz der Petition und dem damit einhergehenden Starkult."63 Die Suche hält sich zunächst an auf den ersten Blick traditionell anmutende Verfahren, wie seine Initiativen nach der militärischen Unterdrückung der Solidarnosc-Bewegung in Polen 1981: Veröffentlichung in Liberation von zwei kollektiven Aufrufen und einem Interview, in denen die sozialistische Regierung scharf kritisiert wird, die, aus Sorge, das gute Einvernehmen mit der Kommunistischen Partei Frankreichs nicht zu gefährden, nicht reagiert hat. Tatsächlich jedoch unterscheiden sich diese Texte von gewöhnlichen Petitionen zunächst einmal durch ihre Argumentation, die soziologisch den Protest legitimiert: Die Staatsbürger haben das Recht, eine wachsame Kritik gegenüber der Regierung auszuüben, die allein, „da es sich um eine Angelegenheit der Außenpolitik handelt, [...] für uns effizient sprechen und agieren (kann)". Die Intellektuellen wiederum verfugen über „das Privileg, dieses Recht [...] mit einer gewissen Effizienz ausüben zu können".64 Bourdieu bringt ein zweites neues Element ins Spiel, indem er das Bündnis mit den Gewerkschaften stark macht (tatsächlich ist die Confederation franfaise democratique du travail [CFDT] aus leicht nachvollziehbaren Gründen die einzige Gewerkschaft, die einem gemeinsamen Appell zustimmt) und argumentiert, daß bei einer sich auf den Sozialismus berufenden Regierung die einzige wirksame Gegenmacht in der Aktion der Gewerkschaften und der parteiunabhängigen Intellektuellen bestehe, wie es das Beispiel Polens zeige: „Die Macht, sich die Gesellschaft vorzustellen, die Gesellschaft zu ändern, läßt sich nicht delegieren, und vor allem nicht an einen Staat, der sich das Recht herausnimmt, für das Glück der Bürger ohne sie zu sorgen, wenn nicht sogar gegen sie."65 Drittes Element: er sucht diese Aktion durch wissenschaftliche Analysen abzustützen, indem er in seiner Zeitschrift Forscher zu Wort kommen läßt, die die polnische Situation untersucht haben.66
62
S. Bourdieu/Boltanski, La production de l'ideologie dominante.
63
Pierre Bourdieu, Die libertäre Tradition der Linken wiederfinden, in: ders., Interventionen 19612001, Bd.2, Hamburg 2003, 63.
64
Ebd., 59f.
65
Ebd., 61.
66
S. Actes de la recherche en sciences sociales 1986/H.61.
224
Anna Boschetti
Es mag widersprüchlich erscheinen, daß er wenig später die Mitarbeit an Regierungsinitiativen zum Bildungswesen akzeptiert. Tatsächlich gründet diese pragmatische Haltung in seiner Konzeption des Macht-Feldes als eines Ortes, an dem antagonistische Logiken aufeinandertreffen, insofern sie die Möglichkeit von konjunkturellen Konfrontationen postuliert, die mit den Interessen der Beherrschten übereinstimmende Universalisierungsstrategien begünstigen können. Dank der Autonomie des College de France gegenüber jeder Form der Einmischung durch externe Machtinstanzen in seine Reproduktion und seine Tätigkeiten können seine Mitglieder den Regierungsvertretern Vorschläge unterbreiten, ohne sich dabei aus ihrer wissenschaftlichen Unabhängigkeit zu begeben. Diese Autonomie unterscheidet denn auch nach Bourdieu jene Versuche von einer auf die Interessen der Auftraggeber ausgerichteten staatlichen ,Expertise'. In dieser Perspektive akzeptiert er, an der Abfassung des kollektiven Gutachtens „Vorschläge fur das Bildungswesen der Zukunft" mitzuarbeiten, das auf Ersuchen des Präsidenten F r a n c i s Mitterrand 1985 im Rahmen des College de France veröffentlicht wird. 1989 schließlich leitet er eine Kommission über die Inhalte des Bildungswesens, die vom damaligen Bildungsminister in der Regierung Rocard, Lionel Jospin, eingesetzt worden war. Bourdieus Vorschläge stehen insofern nicht in Widerspruch zu seinen Arbeiten (die faktisch die Möglichkeit einer wirklichen Demokratisierung des Bildungssystems ausschließen), als sie sich darauf beschränken, Maßnahmen vorzuschlagen, die helfen sollen, den durch die Schule wirksamen Mechanismen der symbolischen Verstärkung der Ungleichheiten entgegenzuwirken. Doch an dieser Front wie an vielen anderen (etwa der Politik gegenüber den Immigranten und der Außenpolitik) bestätigen die sozialistischen Regierungen in Bourdieus Augen nur einmal mehr, daß es vergeblich ist, eine „linke Politik" von einem System zu erwarten, das in einer „tiefen Krise der Repräsentation (in allen Bedeutungen des Begriffes) und der Delegation, Fundamenten der Demokratie", steckt. 67
Ein „rationaler Utopismus" Nach dem Tod Foucaults (1984), der seit Anfang der siebziger Jahre kämpferische soziale Vereinigungen zu den Themen Gefängnis, Frauen, Homosexuelle, Jugendliche, Unabhängigkeitsbewegungen mit auf die Beine gestellt und unterstützt hatte, fühlt sich Bourdieu zunehmend einsamer. 68 So konzipiert und lanciert er zunehmend Initiativen, die sich in erster Linie an die Intellektuellen wenden und von der Hypothese getragen sind, daß es möglich sei, den Funktionsmodus, der in den kulturellen Feldern, zumal
68
Pierre Bourdieu, Die gesunde Wut eines Soziologen, in: ders., Die verborgenen Mechanismen der Macht, aus dem Franz. v. Jürgen Bolder, Hamburg 1992, 168. Vgl. seine Aufsätze zu Foucault: Pierre Bourdieu, Über Michel Foucault, in: ders., Interventionen 1961-2001, Bd.2, Hamburg 2003, 74-78; ders. Non chiedetemi chi sono. Un profilo di Michel Foucault, in: L'indice 1.1984/H.l 0 , 4 - 5 .
Sozialwissenschaft,
Soziologie der Intellektuellen und Engagement
225
den autonomsten Sektoren, das „Fortschreiten des Universellen" insoweit ermöglichte, als er die Übereinstimmung mit den universellsten Werten als symbolisch (zuweilen sogar: materiell) vorteilhaft erwies, auf den politischen Kampf zu übertragen. Dabei geht es nicht um die Beschränkung auf isolierte und spontane Aktionen, vielmehr um den Aufbau organisierter Assoziationen, die auf zwei Antriebskräfte setzen: eine kollektive Arbeit der Akkumulation der zu wirksamem Handeln nötigen Sachkompetenz; die Bildung internationaler Netzwerke. Tatsächlich geht aus den Analysen Bourdieus zum wissenschaftlichen Feld hervor, daß Internationalisierung den besten „Schutz gegen die nationalen weltlichen Machtinstanzen, vor allem in Situationen schwach ausgebildeter Autonomie" 69 darstellt, da sie potentiell die Anerkennung von genuin wissenschaftlichen Hierarchisierungsprinzipien durchsetzt. 70 In diesem Sinne denkt er an eine „Realpolitik der Vernunft", die darin bestünde, alle soziale Macht Ausübenden (Politiker, hohe Beamte, Richter, Bankiers, Unternehmer, Manager, Technokraten, Forscher, Berater, Journalisten) einer organisierten Kontrolle zu unterwerfen, die mit dem allgemeinen Interesse übereinstimmende Verhaltensweisen befördern könnte. Gleichsam um die internationale Dimension der ins Auge gefaßten Aktion zu unterstreichen, stellt Bourdieu sie zunächst in Deutschland 71 , dann in weiteren Ländern vor72, schließlich als Postskriptum unter dem Titel „Für einen Korporatismus des Universellen" in den Regeln der Kunst. Insoweit sie aufzeigen, daß die Autonomisierung des intellektuellen Feldes in Frankreich gegenüber den weltlichen Mächten die Bedingung der Möglichkeit des Auftretens von Figuren war, die wie Zola den Mut aufbrachten, sich unter Berufung auf die Geltung universeller Werte gegen den Staat zu erheben, liegen die Analysen dieses Buches, so sieht Bourdieu es, seinem Versuch zugrunde, eine „Internationale der Intellektuellen" ins Leben zu rufen, die in der Lage ist, die autonomsten kulturellen Produzenten und Wissenschaftler gegen den Einfluß von Markt, Politik und Medien zu schützen. Uber, das europäische Büchermagazin, 1989 lanciert, ist das erste Ergebnis dieses Programms. Die Zeitschrift war der Versuch zur Wiederaneignung der Mittel zur Verbreitung des Denkens und der Kunst; ihr Ziel war die Verteidigung der Autonomie der Kultur durch Bekanntmachen von Forschungen in Literatur, Kunst und Wissenschaft, die es wert waren, gegen die kommerzielle Logik des globalisierten Marktes unterstützt zu werden. Zugleich war sie bestrebt, die wechselseitige Kenntnis, Konfrontation und den Austausch zwischen europäischen Intellek-
69
Pierre Bourdieu, S c i e n c e de la science et reflexivite, 150.
70
S i e h e dazu A n n a Boschetti, Interet ä ^international et interet ä l'universel, in: Michael Einfalt u.a. Hg., Intellektuelle Redlichkeit/Integrite intellectuelle. Literatur - G e s c h i c h t e - Kultur. Festschrift für Joseph Jurt, Heidelberg 2 0 0 5 , 5 1 5 - 5 2 2 .
71
Pierre Bourdieu, Für eine Realpolitik der Vernunft, in: Sebastian Müller-Rolli Hg., D a s Bild u n g s w e s e n der Zukunft, Stuttgart 1987, 2 2 9 - 2 3 4 .
72
Pierre Bourdieu, T h e Corporatism o f the Universal: the R o l e o f Intellectuals in the Modern World, in: T e l o s 1 9 8 9 / H . 8 I , 9 9 - 1 1 0 ; ders., Pour une Realpolitik d e la Raison, Gespräch mit W. Hiromatsu und H. Imamura, in: Gendai Shiso 1 9 9 0 / H . 3 , 1 8 2 - 2 0 3 .
Anna Boschetti
226
tuellen und Künstlern zu befördern, die durch politische Barrieren und Denkgewohnheiten getrennt waren. Sie stellte ein regelrechtes experimentelles Labor dar, mit dem sich Hypothesen über die Bedingungen der Möglichkeit eines methodischen Versuchs der Internationalisierung kultureller Werke testen ließen.73 Weitere Initiativen folgten, so das ARESER (Reflexionsgruppe über Hochschule und Forschung, 1992 gegründet), das CISIA (Unterstützungskomitee für die algerischen Intellektuellen) und das Internationale Schriftstellerparlament, 1993 ins Leben gerufen. Letztere Organisation gibt sich eine Charta, in der Aktionsformen und Verpflichtungen festgeschrieben sind, die das Bemühen dokumentieren, nicht in die Fehler des Prophetentums zu geraten, indem z.B. anonyme kollektive Beiträge festgesetzt werden. 74 Bourdieus Kampf für die Autonomie der Kultur und die ausschlaggebende Rolle, die er den Intellektuellen in seiner „Realpolitik der Vernunft" zuerkennt, stehen keineswegs im Widerspruch zur Objektivierung, der er die verzauberte Sicht der Kultur ebenso unterzieht wie die Bedingungsfaktoren, Illusionen und Irrtümer, denen die Intellektuellen er- und unterliegen. Wenn dieser Kampf überrascht, dann deshalb, weil Bourdieus Entscheidung, die sozialen Determinismen, den Kampf und die symbolische Gewalt im Kern der kulturellen Universa aufzudecken, als gleichsam schdanowistische und/oder ikonoklastische Denunziation, als vom Ressentiment angetriebene Aggression wahrgenommen wird: wenige Glaubensvorstellungen sind so weitgehend geteilt und so stark intemalisiert, zumal von den Intellektuellen, wie die .Sachen des Geistes'. Tatsächlich ist die besondere Aufmerksamkeit, die er der Kultur/Bildung und den Diskursproduzenten angedeihen ließ, auf die entscheidende Bedeutung zurückzufuhren, die er diesen innerhalb des Funktionsablaufs des sozialen Lebens zuerkannte. Bourdieu hat den Autonomisierungsprozeß der kulturellen Felder keineswegs bedauert, vielmehr darin sehr früh schon eine der historischen Bedingungen der Möglichkeit von Fortschritt im Bereich der Wissenschaft wie der Ethik und der Politik gesehen. Postuliert wird diese Hypothese bereits 1975 in einem Artikel mit dem vielsagenden Titel „Die Besonderheit des wissenschaftlichen Feldes und die sozialen Bedingungen für den Fortschritt der Vernunft". 75 Die Intellektuellen können bei der kollektiven Mobilisierung und der Infragestellung der herrschenden Ordnung eine wesentliche Rolle deshalb spielen, weil die „politische Auseinandersetzung ein kognitiver [...] Kampf um die Macht [ist], die legitime Sicht der sozialen Welt durchzusetzen". 76 Allerdings können sie auch daran 73
S. Pascale Casanova, La revue Liber. Reflexions sur quelques usages pratiques de la notion d'autonomie relative, in: Louis/Sapiro/Champagne Hg., Pierre Bourdieu, sociologue, 413-429.
74
Liber wird in Frankreich und anderen Ländern gleichzeitig veröffentlicht, zunächst als Beilage bekannter Zeitungen oder Zeitschriften, nämlich Le Monde, El Pais, Frankfurter Allgemeine Zeitung, The Times Literary Supplement, L'Indice (im September 1997 durch Reset abgelöst). Sie stellen in ihrer Gesamtheit ein Publikum von ungefähr zwei Millionen Lesern dar. Ab September 1991 wird Liber Beilage der Actes de la recherche en sciences sociales. Weitere Titel aus einem Dutzend europäischer Länder, von Norwegen bis zur Türkei, kommen hinzu.
75
Bourdieu, La specificite du champ scientifique, 91-118. Bourdieu, Meditationen, 238.
76
Sozialwissenschaft, Soziologie der Intellektuellen und Engagement
227
mitwirken, die Mechanismen von Herrschaft und Ausschluß zu verstärken. Die Definition des legitimen Intellektuellen ist der zentrale Gegenstand, um den es Bourdieu von Beginn an in seiner Auseinandersetzung mit den Essayisten/Journalisten geht, deren Interesse darin besteht, die autonomsten kulturellen Produzenten in den Hintergrund zu drängen und die Grenzen zwischen rigoroser Forschung und deren anmaßenden Mythologien zu verwischen, wie es für die von den Medien geschaffenen „fast thinkers" zutrifft, deren unheilvolle Macht er aufzudecken trachtet.77 La misere du monde/Das Elend der Welt (frz. 1993, dt. 1997) liegt auf der Linie dieser vorrangigen Beschäftigungen. Mit diesem Kollektivwerk erfindet und realisiert Bourdieu ein neues Modell von soziologischer Kommunikation, in der wissenschaftliche Strenge, Zugänglichkeit und Wirksamkeit so zu kombinieren versucht wird, daß selbst uneingeweihten Lesern ermöglicht wird, die sozialen Determinismen zu begreifen, die den sich darin äußernden Formen von Leid und Schmerz zugrunde liegen. Implizit prangert das Buch gleichermaßen die Konsequenzen der von den sozialistischen Regierungen seit 1983 mit eingeführten neoliberalen Politik an als auch den Effekt ihrer Verzerrung und Verschleierung durch Medien und Umfragen. In seinem Post-Scriptum beruft sich Bourdieu auf den „szientistischen" Glauben, wonach die Soziologie eine wertvolle „klinische" Rolle zu spielen vermag sowohl für die Leidenden wie für die Politiker, sofern diese bereit sind, sich der Diagnosen des Soziologen zu bedienen, um die jenes Leid und jene Leiden bewirkenden Mechanismen unter Kontrolle zu bringen. Angesichts der wachsenden Abschottung der politischen Welt, des Schweigens der Intellektuellen, der trügerischen Wissenschaft der „Doxosophen", der Diskurse all jener „,Halb-Gebildeten', die gestützt auf ihren Alltagsverstand und ihre Selbstüberschätzung in die Zeitungsspalten und vor die Kameras drängen, um kundzutun, wie es mit der Sozialwelt stehe, obwohl sie eigentlich über kein nennenswertes Mittel verfügen, letztere wirklich zu kennen und zu erkennen"78, angesichts all dessen ist die Sozialwissenschaft gehalten, „die kollektiv verdunkelte gesellschaftliche Bedingtheit des Elends in all seinen auch noch so intimen und noch so geheimen Formen zu Bewußtsein [zu bringen]" und „die einzigen rationalen Mittel bereitzustellen, um die der Freiheit, d.h. dem politischen Handeln verbliebenen Spielräume voll auszuschöpfen".79 Der außergewöhnliche Erfolg des Buches macht Bourdieu berühmt. Ermutigt durch diese Bekanntheit, die seinen Interventionen größere Sichtbarkeit verleihen, wie auch den Aufschwung der sozialen Kämpfe seit 1995, nimmt er sich ehrgeizigere Ziele vor als einen „Korporatismus" der Intellektuellen. Ausdrücklich beklagt er als eine „regelrechte Selbstverstümmelung" jene Konzeption von Wissenschaft, die ihn wie andere 77
Pierre Bourdieu, Über das Fernsehen, aus dem Franz. v. Achim Russer, Frankfurt a.M. 1998. S. Patrick Champagne, Sur la mediatisation du champ intellectuel. A propos de Sur la television de Pierre Bourdieu, in: Pinto/Sapiro/Champagne Hg., Pierre Bourdieu, sociologue, 431-458.
78
Pierre Bourdieu, Post-Sciptum, in: ders. Hg., Das Elend der Welt, aus dem Franz. v. Franz Schultheis, Konstanz 1997, 825.
79
Ebd., 826.
228
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Boschetti
Soziologen im Bemühen, „sich Wissenschaftler nennen zu dürfen", dazu verleitete, auf die utopische Funktion zu verzichten, „die die großen politischen Theoretiker jahrhundertelang innehatten, angefangen mit Brunetto Latini bis hin zu Rousseau, über Bude, Bodin und Macchiavelli", und die Versuche, „eine ideale und globale Vorstellung von der sozialen Welt zu präsentieren", weniger skrupulösen und weniger kompetenten Forschern oder Politikern und Journalisten überlassen. Wie er erklärt, „[ist] der Augenblick gekommen, wo die Wissenschaftler es sich schulden, ihre ganze Kompetenz in die Politik einzubringen, um auf Wahrheit und Vernunft gegründete Utopien durchzusetzen". 80 Über derartige punktuelle Erklärungen zur Unterstützung kämpferischer Initiativen hinaus, sucht er eine Rolle als Analytiker und Katalysator in einem zu spielen, setzt er seine Autorität und sein Wissen in Interventionen ein, die den Übergang von verstreuten Mobilisierungen zu organisierten Aktionsformen begünstigen, mit denen es, auf der Grundlage einschlägiger Informationen und auf internationaler Ebene koordiniert, möglich wird, sich wirksam von jenen neoliberalen Politiken abzusetzen, die unter Berufung auf einen wirtschaftlichen Fatalismus die sozialen Errungenschaften Europas, „die mit dem Sozialstaat verbundene Zivilisation" 81 in Frage stellen. In seinen Augen stellt die Vermehrung europäischer Vereinigungen in allen Sektoren des sozialen Lebens den zentralen Hebel dar, auf den ein auf „rationalem Utopismus" begründetes politisches Handeln, das „wissenschaftlich untermauert" und „in seinen Zielen mit objektiven Tendenzen vereinbar" ist, setzen muß. 82 „Der Widerstand gegen das Europa der Bankiers, überhaupt der Widerstand gegen ihre konservative Restauration kann nur auf europäischer Ebene organisiert werden. Er kann nur dann wahrhaft europäisch, also frei von nationalen und immer noch nationalistisch beeinflußten Interessen, Vorurteilen und Denkgewohnheiten sein, wenn er sich auf eine konzertierte Aktion von Intellektuellen in allen Ländern Europas stützt - und auch auf Gewerkschaften und Verbände aus allen Ländern Europas. Deshalb ist heute nicht die Erarbeitung gemeinsamer europäischer Programme am dringlichsten, sondern die Schaffung von Institutionen, in denen europäische Programme diskutiert und erarbeitet werden. Ich meine Parlamente, internationale Verbände, europäische Vereinigungen für Lastwagenfahrer, Verleger, Lehrer, aber auch Vereinigungen zum Schutz von Bäumen, Fischen, Pilzen, der Luft, der Kinder und so weiter und so fort." 83
So macht er sich zum Initiator eines kollektiven Aufrufs „Für Generalstände der sozialen Bewegung", die über die wechselseitige Auseinandersetzung zur Erarbeitung einer globalen Sicht der durch Globalisierung und globale Strategie vorgegebenen Herausforderungen kommen sollen. Er gründet Raisons d'agir, die Vereinigung von Forschem, die entsprechend seiner Konzeption des engagierten Intellektuellen „gemeinsam 80
Bourdieu, Politische Monopolisierung, 137f.
81
Pierre Bourdieu, Kapitalismus als konservative Revolution, Rede zur Verleihung des ErnstBloch-Preises 1997, in: Klaus Kufeid Hg., Zukunft gestalten. Reden und Beiträge zum ErnstBloch-Preis 1997, Heidelberg 1998, 351.
82
Ebd., 353. Ebd.
83
Sozialwissenschaft,
Soziologie der Intellektuellen und
Engagement
229
[...] an Analysen arbeiten, mit deren Hilfe realistische Projekte und Aktionen in Angriff genommen werden können, abgestimmt auf die Prozesse einer Ordnung, die sie verändern wollen". 84 Auch mit der Frage des Vertriebs der für diese Bewegungen dienlichen intellektuellen Instrumente beschäftigt sich Bourdieu und gründet dafür eine preiswerte Buchreihe, Liber-Raisons d'agir. Was die Hauptrichtungen dieser Anstrengungen anbelangt, so erscheinen ihm vier Bereiche als vorrangig: „der Sozialstaat und seine Aufgaben; die Vereinigung der Gewerkschaften; eine Angleichung und Modernisierung der Erziehungssysteme sowie die Verknüpfung von Wirtschafts- und Sozialpolitik". 85 Die zentrale Rolle, die in dieser Konzeption von Engagement den Soziologen aufgrund ihrer spezifischen Kompetenzen zuerkannt werden, könnte als szientistische Version des Mythos vom .Philosophenkönig' erscheinen. Tatsächlich ist Bourdieu zufolge in der zeitgenössischen Welt, in der die Herrschaftsmechanismen sich immer komplexer gestalten, allein die Sozialwissenschaft in der Lage, jene Mechanismen zu objektivieren und die zu ihrer Veränderung wirksam einsetzbaren Mittel zu erkennen. Der Begriff des „kollektiven Intellektuellen" impliziert im übrigen eine ganze Reihe von Gegengewichten gegen die Versuchungen und Risiken des Prophetentums, darunter nicht zuletzt die wechselseitige, interdisziplinäre und transnationale wissenschaftliche und ethische Kontrolle, die die Forscher ausüben sollen. So bilden die Bedingungen, unter denen ihre analytische Arbeit vonstatten gehen soll, an sich schon ein Gegenmittel gegen die Illusion, im Besitz der Wahrheit zu sein, und eine Garantie dafür, daß ihre auf die Vernunft sich berufende Anstrengung tatsächlich dem Fortschritt der Vernunft dient. Bourdieu stand nur wenig Zeit zur Verfügung, die Wirksamkeit dieses Interventionsmodus auf die Probe zu stellen, aber sicher ist, daß seine Initiativen Wirkungen gezeitigt haben, und sei es nur dadurch, daß sie die Bedingungen der Möglichkeit, die Ziele und Mittel einer Gegenmacht der Intellektuellen mit neudefiniert haben, wie sie auch diese Rolle in den Augen der Intellektuellen selbst und in den Augen der Aktivisten der Bewegungen rehabilitiert haben.
Aus dem Französischen
84 85
Ebd. Ebd., 354.
von Achim Russer und Bernd
Schwibs.
DOROTHEE LIEHR
Skandal und Intervention: Adolf Muschg und seine Eingriffe in die Fichen-Affäre 1989/90 - zur Rolle der Intellektuellen seit den 1990er Jahren
Prolog Am ersten Weihnachtstag 2005 strahlte das Deutschlandradio ein Gespräch aus, in dem der deutschschweizerische Schriftsteller und Literaturprofessor Adolf Muschg beschrieb, wie er sich die öffentliche Funktion der Berliner Akademie der Künste vorstellte. Nach zweieinhalbjährigem Vorsitz war er kurz zuvor überraschend als deren Präsident zurückgetreten, unter anderem aufgrund von Divergenzen darüber, wie die renommierte Kulturorganisation den ihr satzungsgemäß zugeschriebenen „Beratungsauftrag des Staates oder der Gesellschaft in kulturellen und kulturpolitischen Angelegenheiten" umsetzen sollte.1 Muschg betonte, daß die 300 Jahre alte Institution, abgesehen von ihrem Zweck der Förderung der Künste, auch einen gesellschaftspolitischen Auftrag habe. Allerdings bestehe die „wirkliche politische Komponente der Kultur" weniger in der Unterzeichnung von Aufrufen, als vielmehr in der Vermittlung des Bewußtseins von Mehrdeutigkeit sowie in einer Förderung der „Vorstellungskraft und damit auch der politischen Phantasie". Schließlich käme die Politik, bei aller Relevanz realpolitischer Sachverständigung, „ganz ohne Visionen" nicht aus, die durch den ideenreichen Fundus der Kunst angeregt werden könnten.2 Entsprechend der altherge-
'
Hierzu und zum folgenden vgl. Muschg: Akademie der Künste muß sich auf ihrem Auftrag besinnen. Jacqueline Boysen im Gespräch mit Adolf Muschg, Deutschlandradio, 25.12.2005; der Text als Internetquelle: http://www.dradio.de/dlf/sendungen/idw_dlC451155/, Zugriff vom 10.1.06, gedruckt ergeben sich 6 Seiten, hier: 1-6, lf.
2
Im folgenden wird nicht explizit zwischen ,Kunst' und .Literatur' unterschieden. Auch literarische Werke, verstanden als kreative Textschöpfungen origineller, schriftlich-ästhetischer Ausdruckstechniken, in denen inhaltlich über symbolische Formen „Bedeutungsgewebe" (Clifford Geertz) gesponnen werden, gilt es (ebenso wie Darstellungen anderer Gestaltungsmittel, z.B. Musik, Malerei, Plastik, Schauspielerei, Tanz etc.) unter dem Begriff der ,Kunst' zu fassen. Allerdings handelt es sich bezüglich des diesem Aufsatz zugrunde gelegten .Kultur'-Konzepts um ein erweitertes, d.h. es beinhaltet nicht nur künstlerische Erzeugnisse in einem normativen Sinn .höherer' Bildungsgüter. Vielmehr umfaßt der komplexe Terminus allgemein ein sowohl nach be-
Dorothee Liehr
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brachten Vorstellung des Hofnarren, der nicht nur als eine rein komische Figur aufzufassen sei, sondern insbesondere die „Schatten der Gesellschaft" verkörpere, könnten Regierungen, denen es generell schwerfalle „zuzugeben, daß sie Schatten" werfen würden, über die Kunst „Dimensionen des gesellschaftlichen [...] oder [...] geistigen Lebens" erfahren, die ihnen ansonsten verschlossen blieben.3 In der Vermittlung solcher Einsichten bestehe nach Muschg ein entscheidender Dienst, den die Aktivitäten der Akademie-Mitglieder der Politik erweisen könnten. Darüber hinaus habe die Geschichte insbesondere in Krisenzeiten, „wenn uns die Stützen von Wert und Glauben und alles Mögliche abhanden kommen", immer wieder einen großen Kunst- und Bildungshunger offenbar werden lassen, so daß Kunst für viele Menschen als eine Art geistiges „Lebensmittel" fungierte. Auch in Phasen wie der aktuellen, in denen die Bereitschaft abgenommen habe, sich mit Problemen des Gemeinwesens auseinanderzusetzen, in denen Verunsicherung und Unentschiedenheit vorherrschten, sei, gemäß Muschgs Beobachtung auf seinen Lesereisen, beim Publikum ein großes Bedürfnis nach mentalen Anregungen und Diskussionen vorhanden. Der so beschriebene gesellschaftliche Bedarf an politischer Phantasie untermauert das Anliegen Muschgs, Tätigkeiten der Akademie der Künste stärker in die Öffentlichkeit zu tragen. Dieses Plädoyer zuspitzend, läßt sich seinen Ausführungen eine weitere gesellschaftspolitische Funktion der in der Akademie vereinigten Mitglieder entnehmen. Insbesondere, weil die traditionsreiche Institution „Teil historischer Erdbeben gewesen" sei, habe sie nun, gemäß Muschg, eine seismographische Warnfunktion auszuüben.4 Künstlerinnen und Künstlern eine besondere soziokulturelle Sensibilität unterstellend, fordert er die in der Akademie vereinigten auf, das historische Gewicht ihrer Institution nutzbar zu machen und „Erschütterungen der Gesellschaft, auch die unterschlagenen Erschütterungen", anzumelden bzw. „einen Konflikt in der Gesellschaft zum Thema für die Gesellschaft" zu machen. Wie konstruktiv es darüber hinaus wäre, „wirkungsvoll geistige Themen" zu lancieren, veranschaulicht Muschg schließlich am Beispiel der facettenreichen Europa-Problematik, die als kultureller Gegenstand „bei den Politikern und erst recht bei der Wirtschaft nicht ausreichend aufgehoben" sei. Insbesondere die Behandlung von Fragen des multikulturellen Miteinanders, des Zu-
stimmten sozialen Geltungsbereichen als auch räumlich und zeitlich eingrenzbares Ensemble gemeinsamer materieller und ideeller menschlicher Erzeugnisse, verinnerlichter Werte und Einstellungen, geteilter sozialer Praktiken und Kommunikationsformen sowie institutionalisierter Lebensweisen (vgl. z.B. Hans Joachim Klein, Kultur, in: Bernhard Schäfers Hg., Grundbegriffe der Soziologie, Opladen 1995, 174-176; Martina Wagner-Egelhaaf, Kultur, in: Metzler Lexikon Gender Studies, Geschlechterforschung, hg. v. Renate Kroll, Stuttgart 2002, 218f.). Wenn Künstlerinnen und Künstler als .Kulturschaffende' bezeichnet werden, so wird davon ausgegangen, daß sie aufgrund der schöpferischen und technischen Fertigkeiten ihrer Professionen in der Lage sind, neue Entwürfe kultureller Ensembles zu kreieren und damit Beiträge zu einer Veränderung von Einstellungs- und Bewußtseinsformen menschlicher Gemeinschaften leisten können. 3
Hierzu und zum folgenden: Muschg im Gespräch mit Boysen, 2-5.
4
Hierzu und zum folgenden: ebd., 2f.
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sammenlebens verschiedener Völker und Staaten mit unterschiedlichen historischen Hintergründen und Brauchtümern entspreche geradezu mustergültig Aufgabenstellungen der Akademie, die Mitglieder aus den meisten europäischen Ländern aufweise. Ein derartig transnationaler Erfahrungs- und Wissenstausch unter Künstlerinnen und Künstlern fehle indes momentan „ganz ungemein", vor allem, so Muschg, weil es sich bei der Akademie weniger um eine „Nationalinstitution" als vielmehr um eine „kosmopolitische Institution" handle, die seit dem 18. Jahrhundert über die Grenzen eines Staates hinaus denke und gemäß der Kantschen Kosmopolis einen „Menschheitsauftrag" habe. Faßt man zusammen, dann argumentiert der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg gegen den nach der weltpolitischen Wende 1989/90 sowohl in der Bundesrepublik Deutschland als auch in der Deutschschweiz zu beobachtenden Rückzug von Intellektuellen aus der Öffentlichkeit5. Die intellektuelle Funktion, die er den in der Akademie der Künste vereinten Mitgliedern vor dem Hintergrund des historischen Gewichts der Institution zuerkennt, läßt sich als eine am Allgemeinwohl orientierte moralischkritische Fruchtbarmachung künstlerischer Fachkompetenzen beschreiben. Denn mittels ihres schöpferischen Ideenreichtums, ihrer darstellerischen Fertigkeiten sowie ihrer hohen Imaginationsfähigkeit kreieren die Mitglieder der Akademie in ihren Werken visionäre gesellschaftliche Zukunftsentwürfe, die sie gezielt der Öffentlichkeit zugänglich machen sollten. Mit dem Verweis auf das Bild des „Hofnarren", der den politischen Mandatsträgern kritisch den Spiegel vorhalte, sowie über die Metapher der seismographischen Warnfunktion, durch die „gesellschaftliche Erschütterungen" rechtzeitig anzuzeigen seien, verweist der Schriftsteller darüber hinaus auf eine kritische Kontrollfunktion des von ihm skizzierten visionären Künstlertums. Indem er betont, daß eine nuancierte und harmonische Umsetzung der Idee eines vereinten Europas bis in die Denkhaltungen der Menschen hinein nicht nur durch politische und wirtschaftliche Problemlösungskonzepte zu erreichen ist, sondern wesentliche Fragen des multikulturellen und transnationalen Zusammenlebens kultureller Analysen und Antworten bedürfen, veranschaulicht er den Aktualitätsbezug des gesellschaftlichen Engagements Kul-
5
Obgleich der Rückzug von Intellektuellen aus der Öffentlichkeit auch in anderen Ländern beobachtet wird, beziehen sich die Ausführungen dieses Aufsatzes vor allem auf die Situationen in der Bundesrepublik Deutschland bzw. insbesondere auf die Deutschschweiz. In bezug auf die Schweiz sind die soziokulturellen Gegebenheiten in den verschiedenen Sprachregionen zu unterscheiden (offizielle Viersprachigkeit: deutsche, französische, italienische und rätoromanische Schweiz), wobei sich der deutsche, der französische und der italienische Landesteil kulturell jeweils an den strukturellen Bedingungen des gleichsprachigen Auslandes orientieren. Eine Analyse intellektuellen Engagements in der Schweiz sollte die Umstände in den verschiedenen Landesteilen gesondert betrachten; zum einen, weil Intellektuelle ihre Funktion als Sinnproduzenten und Sinnvermittler über das Verständigungsmedium verbaler Sprache samt den ihnen jeweils eigenen semiotischen Codes ausüben; zum anderen, weil jeweils nicht nur eigene Presselandschaften, sondern auch separate öffentlich-rechtlich organisierte Radio- und Fernsehanstalten existieren, wobei die deutschschweizerische Rundfunkgesellschaft den Auftrag hat, auch die kommunikativen Bedürfnisse der rätoromanischen Sprachgruppe zu berücksichtigen.
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turschaffender. Insofern können die obigen Ausführungen als ein Versuch Muschgs gelesen werden, die gesellschaftspolitische Rolle der in einer angesehenen Institution vereinigten Künstlerinnen und Künstler auf aktuelle soziokulturelle Anliegen hin zu definieren. Dieser Vorstoß Muschgs, dessen eigene politische Handlungen im Laufe der Jahrzehnte seines Auftretens in der schweizerischen Öffentlichkeit überaus variantenreich anmuten, entspricht dem, was sich in der historischen Retrospektive zeigt. Das intellektuelle Selbstverständnis Kulturschaffender, aber auch von Hochschullehrerinnen und Hochschullehrern sowie Publizistinnen und Publizisten ist in demokratischen Verfassungsstaaten seit jeher disparat. Entsprechend unterliegen Auffassungen darüber, ob und auf welche Weise sie sich aufgrund ihrer professionellen Fähigkeiten einen gesellschaftspolitischen Auftrag zuschreiben, Aushandlungsprozessen. Diese sind bedingt durch komplexe zeitgenössische Gegebenheiten und Problemlagen einer Gesellschaft sowie durch deren Öffentlichkeitsstrukturen, etwa durch die massenmedialen Produktionsbedingungen. Hinsichtlich derartiger Deutungskämpfe um die gesellschaftspolitische Rolle der Intellektuellen könnten die Jahre 1989/90, in denen der folgende Beitrag zeitlich ansetzt, als eine Zäsur beschrieben werden, weil die Bereitschaft potentieller Intellektueller zur politischen Intervention sowohl in der Bundesrepublik Deutschland als auch in der Deutschschweiz ganz offensichtlich zurückgegangen ist. Heutzutage melden sich zu bestimmten Themen vermehrt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den unterschiedlichen Disziplinen öffentlich zu Wort, indem sie als Expertinnen und Experten möglichst wertneutral wissensbasierte, faktenorientierte Analysen im Sinne von Expertisen vornehmen. 6 Dagegen schlüpfen immer weniger, aus gegebenem Anlaß provoziert, zeitweise in die Rolle der Intellektuellen. Die gesellschaftspolitische Funktion von Intellektuellen unterscheidet sich vom öffentlichen Expertentum aber dadurch, daß die entsprechenden Personen, ihre geistigen und artikulatorischen Fähigkeiten nutzbar machend, die fachlichen Zuständigkeiten explizit verlassen und sich zugunsten universeller Belange öffentlich einmischen, indem sie ausdrücklich Partei ergreifen, Kritik üben, Werte einklagen und in ihren Zukunftsentwürfen ethische Grenzen aufzeigen. Dementsprechend hat der vorliegende Beitrag zum Ziel, die gesellschaftspolitische Rolle der Intellektuellen seit Ende der 1980er Jahre zu diskutieren und danach zu fragen, ob das Konzept des kritischen Intellektuellen, wie es in der französischen Dreyfus-
6
Dieser Aufsatz ist aus einem Vortragstext entstanden, den die Autorin während einer Tagung referiert hat, auf der das Thema „Die Intellektuellen auf dem Weg in die Wissensgesellschaft: Kulturelle Typisierungen und disziplinare Verschiebungen" zur Diskussion stand. Die Veranstaltung fand vom 19.-21.1.06 am Zentrum fur Interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld statt. Aus den Erörterungen der verschiedenen Beiträge hat die Autorin teilweise Anregungen für den vorliegenden Beitrag erhalten.
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Affäre am Ende des 19. Jahrhunderts mustergültig Anwendung fand, 7 im Kontext heutiger .Mediengesellschaften' tatsächlich überholt erscheint bzw. inwiefern es, abgestimmt auf aktuelle soziostrukturelle Bedingungen, noch immer Gültigkeit besitzen könnte. Am Beispiel kritischer Interventionen, mit denen Adolf Muschg, einer der namhaftesten Intellektuellen der Deutschschweiz, in einen Bespitzelungsskandal eingegriffen hat, der die Alpenrepublik im November 1989 erschütterte und als ,Fichen-Affäre' in die Geschichte eingegangen ist, gilt es, die Rolle eines kritischen Intellektuellen in einer empirischen Ereigniskonstellation am Ende des Kalten Krieges zu ergründen. Analytisch werden intellektuellen-soziologische Fragestellungen im Kontext eines politischen Skandals angesiedelt, wobei auch der Einfluß massenmedialer Berichterstattung zu reflektieren sein wird. Entsprechend sind die folgenden Ausführungen in vier Abschnitte unterteilt. Zunächst werden allgemein denkbare Gründe für den in den 1990er Jahren beobachteten Rückzug von Intellektuellen aus der Öffentlichkeit beschrieben. Danach gilt es, intellektuelles Engagement in der Deutschschweiz seit den 1950er Jahren im Hinblick auf den Bespitzelungsskandal in der politischen Kultur zu verorten. Es folgt die Analyse zweier politischer Stellungnahmen Adolf Muschgs zur Fichen-Affäre 1989/90, bevor schließlich bilanzierend die gesellschaftspolitische Bedeutung der Intellektuellen in der Gegenwart eruiert wird.
Zum Schweigen der Intellektuellen: 1989 als Zäsur in der Intellektuellengeschichte? Vielerorts heißt es: Sie schwiegen, sie scheuten die Debatte, sie dämmerten gar, seien entzaubert, gefallen und befänden sich in der Krise, denn die Legitimation ihrer Rolle stehe zur Disposition - in Feuilletonartikeln und Sammelbänden über kritische Intellektuelle im deutschsprachigen Raum wird seit der weltpolitischen Wende 1989/90 ihr Rückzug aus der politischen Öffentlichkeit beobachtet, kommentiert und beklagt. 8 Nun wird im deutschsprachigen Raum über die gesellschaftspolitische Rolle der Intellektuellen und über die Geltungschancen ihrer Interventionen seit Jahrzehnten viel gestritten.9 Sowohl in der Bundesrepublik Deutschland als auch in der Deutschschweiz
7
Vgl. Ingrid Gilcher-Holtey, Menschenrechte oder Vaterland? Die Formierung der Intellektuellen in der Affäre Dreyfus, in: Berliner Journal fur Soziologie 7 . 1 9 9 7 / H . l , 61-70.
8
Vgl. z.B. Jürg Altwegg, Stille herrscht, in: Tages-Anzeiger. Das Magazin 2003/H.9, 14-20; Hauke Brunkhorst, Der entzauberte Intellektuelle. Über die neue Beliebigkeit des Denkens, Hamburg 1990; Isolde Charim/Georg HofTmann-Ostenhof Hg., Der Fall des Intellektuellen, Wien 1996; Thomas Knellwolf, Schweizer Intellektuelle scheuen die Debatte, in: Tages-Anzeiger, 27.5.2004; Martin Meyer Hg., Intellektuellendämmerung? Beiträge zur neuesten Zeit des Geistes, München 1992.
9
Stellvertretend fur viele andere vgl. Dietz Bering, Die Intellektuellen. Geschichte eines Schimpfwortes, Frankfurt a.M. 1982; Arnold Gehlen, Das Engagement der Intellektuellen gegenüber dem
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hatte sich seit den ausgehenden 1950er Jahren unter zahlreichen Persönlichkeiten eine Art Intellektuellenkultur im Sinne einer kritisch-moralischen Einmischung in das Gemeinwohl betreffende Debatten etabliert.10 Aber nach der weltpolitischen Wende in den 1990er Jahren scheinen sich viele der einst aktiven Intellektuellen zurückgezogen zu haben, während sich potentielle Intellektuelle jüngerer Generationen erst gar nicht mehr mit kritischen Stellungnahmen zu Wort meldeten." Welche Erklärungen lassen sich für das wahrgenommene öffentliche Schweigen von Kulturschaffenden, Professorinnen und Professoren sowie Publizistinnen und Publizisten aus der Literatur entnehmen? Thomas Macho etwa zählt Intellektuelle, die zugunsten von Veränderungen, Umstürzen oder Paradigmenwechseln eingetreten sind, „zur Konkursmasse des .Ostblocks'".12 Schließlich seien mit dem welthistorischen Niedergang des Sozialismus auch die damit einhergehenden großen Ideologien und Feindbilder überholt gewesen, so daß von einem „Ende des Zeitalters der Utopien" gesprochen wird. Als ein weiteres Erklärungsmotiv fur die Enthaltsamkeit von Intellektuellen wirft Jürgen Habermas angesichts der enormen Ausdifferenzierung und Vernetzung massenmedialer Angebote seit den 1990er Jahren die Frage nach einem erneuten Strukturwandel der Öffentlichkeit auf, welcher der „klassischen Gestalt des Intellektuellen schlecht bekommt".13 So habe die Verlagerung des Wissensaustausches von Buchdruck und Presse auf Fernsehen und vor allem aufs Internet zu einer Fragmentierung, Entformalisierung und Dezentralisierung der Öffentlichkeit gefuhrt, in der „Intellektuelle die Staat, in: Merkur 195.1964, 401-413; Helmut Schelsky, Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen, Opladen 1975; Zusammenfassend vgl. Dorothee Liehr, Von der Aktion gegen den S P I E G E L zur SPIEGEL-Affäre. Zur gesellschaftspolitischen Rolle der Intellektuellen, Frankfurt a.M. 2002, 39-42. 10
Jürgen Habermas spricht in bezug auf die Bundesrepublik von einer sich E n d e der 1950er Jahre etabliert habenden „Intellektuellenschicht", die sich als solche akzeptiert und in der kritischen Tradition Heinrich Heines verstanden habe, vgl. Jürgen Habermas, Heinrich Heine und die Rolle des Intellektuellen in Deutschland, in: Merkur 40.1986, 4 5 3 - 4 6 8 , 4 6 5 f . In bezug auf die Schweiz vgl. exemplarisch: Michael Schwander, Schweizer Literaten: v o m Diskurs in der Enge zur Schweiz als Gefängnis, in: Die Erfindung der Schweiz 1848-1998. Bildentwürfe einer Nation. Katalog zur Sonderausstellung des Schweizerischen Landesmuseums, hg. v. Schweizerisches Landesmuseum Zürich/Schweizerisches Institut für Kunstwissenschaft Zürich, Zürich 1998, 486494; Sibylle Birrer u.a., Nachfragen und Vordenken. Intellektuelles Engagement bei Jean Rudolf von Salis, Golo Mann, Arnold Künzli und Nikiaus Meienberg, Zürich 2000.
"
Vgl. z.B. Johano Strasser, Intellektuellendämmerung? Die deutschen Intellektuellen nach 1989, in: Ulrich von Alemann u.a. Hg., Intellektuelle und Sozialdemokratie, Opladen 2000, 183-195; Jürg Altwegg, Stille herrscht; Thomas Knellwolf, Schweizer Intellektuelle scheuen die Debatte; „Abschied vom f r o m m e n Aberglauben". Die Schriftsteller Muschg, Hürlimann und Weber über Literatur und Politik, in: Tages-Anzeiger, 18.2.1994, 1-3.
12
Hierzu und zum folgenden: T h o m a s Macho, Geistesgegenwart. Notizen zur Lage der Intellektuellen, in: Meyer Hg., Intellektuellendämmerung?, 3 8 - 5 6 , 4 7 .
13
Hierzu und z u m folgenden: Jürgen Habermas, Der Intellektuelle (Auszüge aus der Preisrede zur Verleihung des Bruno-Kreisky-Preises 2005), in: Cicero. Magazin f u r politische Kultur 2006/H.4, 68f.
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Kraft, einen Fokus zu bilden" verloren hätten, mit dessen Inhalten sich Bürgerinnen und Bürger relativ zeitgleich gedanklich auseinandersetzen könnten. Auch erscheint es plausibel anzunehmen, daß die „Inflation gedruckter Schriften" bei potentiellen Intellektuellen den entmutigenden „Eindruck, nichts Neues mehr sagen zu können" hinterlassen habe. 14 Entsprechend sei, so Martin Meyer, in den 1990er Jahren eine „paradoxe Lage" entstanden. Denn dem „steigenden Bedürfnis nach Klärungen", das aus den abrupten weltpolitischen Veränderungen samt dem Zerfall gebräuchlicher ideologischer Konzepte resultierte, habe sich das „Unvermögen entgegengestellt], dieses Bedürfnis zu befriedigen". 15 Hinzu kommt, daß im Zuge von Privatisierung und Ökonomisierung massenmedialer Produktionsroutinen Darstellungen komplexer Sachverhalte in der Berichterstattung immer weniger öffentliches Terrain geboten wird, da der Konkurrenzdruck, etwa beim Fernsehen, einen stetig erbarmungsloser werdenden „QuotenZwang" ausgelöst hat. 16 Wie Andreas Dörner entfaltet, wurden audiovisuelle Gestaltungsmöglichkeiten von Politikvermittlung, gemäß dem verbreiteten Bedürfnis nach seichter Unterhaltung, in die analoge Spielart nach amerikanischem Vorbild transformiert: ins „Politainment". 17 Entsprechend stelle, wie Michael Schneider argumentiert, der „sogenannte Pluralismus des Programmangebotes, der durch eine Vielzahl neuer TV-Kanäle scheinbar beglaubigt" werde, „pure Augenwischerei" dar, weil anstelle von Vielheit tatsächlich eine „betäubende Einfalt" vorherrsche. 18 Dementsprechend führe der „multimediale Bildersalat als Folge einer durchgreifenden Kommerzialisierung von Informationen [...] zur Desinformation". Unter diesen Umständen seien es heute, so Jacques Le Rider, nicht mehr Intellektuelle, die sich der Medien bedienten, sondern die „Medien suchen sich ihre zur Verfugung stehenden Intellektuellen aus" 19 und dies, wie Ulrich Oevermann pointiert, entsprechend der „kulturindustriellen Logik des affirmativen Starwesens" 20 . Fazit: Intellektuelle, die regelmäßig die Öffentlichkeit suchen, geraten heutzutage rasch in den Ruf, von den Medienmächtigen als ,Medienintellektuelle' vereinnahmt zu werden. Sie deklassierten sich, so Regis Debray, bei zu häufiger Präsenz etwa in Talk-Shows vom Status des „intellectuel original" zu demjenigen des „in-
14
Macho, Geistesgegenwart, 48f.
15
Martin Meyer, Intellektuellendämmerung?, in: ders., Intellektuellendämmerung?, 7-12, 8.
16
Vgl. etwa Pierre Bourdieu, Über das Fernsehen, Frankfurt a.M. 1998.
17
Andreas Dörner, Politainment. Politik in der medialen Erlebnisgesellschaft, Frankfurt a.M. 2001. Hierzu und zum folgenden: Michael Schneider, Die Telekratie. Über Wert und Mehrwert des Stumpfsinns, in: Freitag 10, 27.2.04; http://www.freitag.de/2004/10/04100301.php, Zugriff vom 30.6.2006, gedruckt ergeben sich 4 Seiten, hier: 1-4, lf.
18
19
Jacques Le Rider, Der Intellektuelle in der mediengesteuerten Gesellschaft - Renaissance oder Dekadenz, in: Charim/Hoffmann-Ostenhof Hg., Der Fall des Intellektuellen, 150-154, 153.
20
Ulrich Oevermann, Der Intellektuelle - Soziologische Strukturbestimmung des Komplementär von Öffentlichkeit, in: Andreas Franzmann/Sascha Liebermann/Jörg Tykwer Hg., Die Macht des Geistes. Soziologische Fallanalysen zum Strukturtyp des Intellektuellen, Frankfurt a.M. 2001, 1375,73.
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tellectuel terminal" 21 , da sie, als Komplizen des kommerzialisierten Mediensystems aufgefaßt, keine Gegenmacht mehr darstellten, sondern lediglich ihre „geistigen und politischen Magazine im Rhythmus der Konjunktur auswechselten], um am Mainstream teilzuhaben". Sie werden so zum „Sprachrohr der Eliten in Politik und Wirtschaft" 22, was dem in der französischen Dreyfus-Affäre durch Emile Zola geprägten Leitbild eines zivilcouragierten Kritikers institutionalisierter Macht widerspricht. 23 Endet mithin dieses Intellektuellen-Konzept, entstanden an der Grenze zum 20. Jahrhundert, nach nunmehr hundertjähriger Geschichte zu Beginn des 21. Jahrhunderts? 24
„Vordenker" oder „Nestbeschmutzer"? Intellektuelle in der Deutschschweiz seit den 1950er Jahren Auch in der Deutschschweiz fühlen sich offenbar zahlreiche der „einst streitbaren Intellektuellen", sofern sie noch leben, seit geraumer Zeit wenig veranlaßt „zur Meinungsverkündung". 25 Während sich Anfang der 1990er Jahre Persönlichkeiten wie der angriffslustige Publizist und Historiker Nikiaus Meienberg passioniert einmischten, und beispielsweise auch die Rolle der Schweiz in Europa für Intellektuelle noch von öffentlichem Interesse war, verschaffen sich viele von ihnen seit längerem augenscheinlich kaum noch öffentliches Gehör. Als ein mögliches Motiv dafür konstatiert die Historikerin Brigitte Studer, daß die „politische Diskussion von Neokonservativen dominiert" werde, die beispielsweise Befürworter der Europa-Idee „sozusagen als landesverräterisch" degradierten. 26 Es handele sich, so der Historiker Hans Ulrich Jost in diesem Zusammenhang, um einen „einzigartigen Vorwurf der Weltoffenheit", da sich die Politik volkstümlich gebe und ebenso subtile wie rigorose „Delegitimierungsstrategien gegen jene Wissenschaftler, welche Debatten initiieren", betriebe. 27 Zudem werde, wie der Geschichtsprofessor Georg Kreis urteilt, die Bedeutung des „angeblichen Pragmatismus, die angebliche Realpolitik als Mass aller Dinge" überschätzt und die „Nachfrage nach Visionärem" entsprechend klein gehalten. Ähnlich wie Muschg beklagt er daher, daß etwa „die ideelle Seite des europäischen Projekts zu wenig gesehen" werde. 28 Erfolgten noch Einmischungen, dann, so die vielfache Beobachtung, zu Themen, welche keinen direkten Bezug mehr zur Schweiz aufwiesen, wie beispielsweise zur Folter
21
Vgl. Regis Debray, I.F., suite et fin, Paris 2000; wobei die Abbreviatur I.F. für „Intellectuels F r a n c i s " steht.
22
Schneider, Die Telekratie, 3.
23
Vgl. z.B. Vincent Duclert, Die Dreyfus-Affäre. Militärwahn, Republikfeindschaft, Judenhaß, Berlin 1994. Vgl. Jacques Le Rider, Der Intellektuelle in der mediengesteuerten Gesellschaft, 150.
24 25
Jürg Altwegg, Stille herrscht, 15.
26
Brigitte Studer, zit. n. Knellwolf, Schweizer Intellektuelle scheuen die Debatte.
27
Hans Ulrich Jost, zit. n. Knellwolf, Schweizer Intellektuelle scheuen die Debatte. Georg Kreis, zit. n. Knellwolf, Schweizer Intellektuelle scheuen die Debatte.
28
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in der Türkei oder zum Beitritt dieses Landes zur Europäischen Union. Selbst die Debatte über die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg, welche durch die Forschungsresultate der „Unabhängigen Experten-Kommission" (UEK) angestoßen worden war,29 entspricht, nach Einschätzung Thomas Knellwolfs, eher einem „verkappten Generationenkonflikt denn einer intellektuellen Auseinandersetzung".30 Eine Ausnahme in diesem Kontext bildete die Intervention Adolf Muschgs, als er im Januar 1997 mit seinem im Tages-Anzeiger publizierten Essay „Wenn Auschwitz in der Schweiz liegt" kritisch auf eine Äußerung des damaligen Schweizer Bundespräsidenten Jean-Pascal Delamuraz reagierte. Dieser hatte im Zusammenhang mit der Raub-GoldDebatte die Aussage gemacht, daß „Auschwitz nicht in der Schweiz" liege.31 In seinem leidenschaftlichen Plädoyer sowohl zugunsten einer kritisch-differenzierten Betrachtung der schweizerischen Kriegsgeschichte als auch für eine finanzielle Entschädigung der Opfer durch die offizielle Schweiz, metaphorisierte Muschg die topographische Lage des Ortes Auschwitz, indem er betonte, „das Grauen von Auschwitz beruht nicht darauf, daß es am unvorstellbaren Ende jeder Zivilisation liegt, sondern in der vorstellbar gewordenen Mitte einer jeden" 32 . Durch diese versinnbildlichte Zuspitzung seiner These einer Mitverantwortlichkeit der Schweiz an den Verbrechen der Nationalsozialisten, provozierte der damals bereits vielfach ausgezeichnete Schriftsteller massive Sanktionen33, etwa scharfe persönliche Verunglimpfungen durch das Mitglied der Schweizerischen Volkspartei und heutigen Bundesrat Christoph Blocher, oder Schmähschriften im privaten Briefkasten, aus denen teilweise der Dreck bereits aus den Umschlägen hervorgequollen sei.34 Doch auch zahlreiche Intellektuelle mischten sich kritisch in die
29
Vgl. etwa: Unabhängige Expertenkommission Schweiz - Zweiter Weltkrieg Hg., Die Schweiz, der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg. Schlussbericht, Zürich 2002 2 .
30
Knellwolf, Schweizer Intellektuelle scheuen die Debatte.
31
Adolf Muschg, Wenn Auschwitz in der Schweiz liegt, in: ders., Wenn Auschwitz in der Schweiz liegt. Fünf Reden eines Schweizers an seine und keine Nation, Frankfurt a.M. 1997, 7-18; vgl. Ulrike Tanzer, Ein unbequemer Eidgenosse. Adolf Muschg und die Vergangenheitsdebatte in der Schweiz, in: Joanna Jablkowska/Malgorzata Pölrola Hg., Engagement, Debatten, Skandale. Deutschsprachige Autoren als Zeitgenossen, Lodz 2 0 0 2 , 4 7 7 - 4 8 5 , 4 8 7 .
32
Muschg, Wenn Auschwitz in der Schweiz liegt, 9.
33
Zum Zeitpunkt seiner umstrittenen Intervention in die Entschädigungsdebatte waren Muschg bereits zahlreiche nationale und internationale Preise verliehen worden, was von einer hohen fachlichen Reputation des Schriftstellers zeugt, der darüber hinaus als Professor für Deutsche Sprache und Literatur an der Eidgenössisch Technischen Hochschule in Zürich tätig war. Das Ansehen Intellektueller ist in bezug auf das Verhältnis zwischen der Geltungschance und dem Sanktionsdruck ihrer Intervention von Bedeutung, wenn es um die Legitimation ihrer Kompetenz in der Beurteilung politischer Zusammenhänge und der öffentlichen Anerkennung ihrer Kritik an institutionalisiertem Handeln geht. Vgl. dazu Liehr, Von der Aktion gegen den SPIEGEL zur SPIEGEL-Affäre, 139-182.
34
Vgl. Christoph Blocher, Die Schweiz und der Eizenstat-Bericht, in: Adolf Muschg, Ο mein Heimatland! 150 Versuche mit dem berühmten Schweizer Echo, Frankfurt a.M. 1998, 334f; Rudolf Walther, Das Knatterhorn. Schweizer Politiker Christoph Blocher beschimpft Adolf Muschg, in:
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Debatte um den Muschg-Essay ein. 35 Der Historiker Jakob Tanner etwa, Spezialist auf dem Gebiet der schweizerischen Kriegswirtschaft und Mitglied der UEK, selber Opfer öffentlicher Anschuldigungen Blochers, verwies auf die Relevanz eines differenzierten Geschichtsbildes zugunsten eines neuen, partizipativen Selbstverständnisses der Schweiz, bei dem es sich nicht um eine „schlichte Umpolung der Geschichte von heroischem Widerstand auf profitsüchtige Anpassung" handle, sondern vielmehr um „das Eingeständnis einer Ambivalenz". 36 Indem Muschg „Auschwitz" als Chiffre lanciere, die als Stilmittel assoziativ facettenreiche Erinnerungscollagen verdichtet, erinnere er in einer Weise an die Opfer der nationalsozialistischen Massenverbrechen, durch die besonders gewahr werde, daß es nach 1945 nicht mehr möglich sei, „sich einer gesellschaftlichen Normalität zu versichern, ohne ein Bewußtsein zu haben von der inneren Brüchigkeit der Aufklärung". Muschg habe inspirierend gezeigt, daß „die ,Banalität des Bösen' (Hannah Arendt) sich an keine Grenze hält und in ihrer Grenzenlosigkeit eine dauernde Herausforderung darstellt". Exemplarisch zeigt die Intervention Adolf Muschgs am Ende der 1990er Jahre und die ebenso differenzierte wie teilweise hitzige Auseinandersetzung darüber, inwiefern um das Geschichtsbild der Schweiz in bezug auf das nationale Selbstverständnis bereits seit Jahrzehnten gerungen worden ist. Schon seit Mitte der 1950er Jahre entwickelte sich eine deutschschweizerische Schriftstellergemeinde, die, mit Max Frisch als Leitfigur, eine Entmythisierung nationaler Kommunikation und damit einen „kritischen Patriotismus" zum Programm erhob. 37 Doch die Politisierung der Literatur verlief keineswegs konfliktlos, wie der .Zürcher Literaturstreit' im Dezember 1966 zeigte, als der Literaturhistoriker Emil Staiger sich anläßlich einer Preisverleihung aus sogenannten ästhetischen Gründen von der sogenannten „Literatur der Gegenwart" distanzierte. 38 Zahlreiche Schriftstellerinnen und Schriftsteller reagierten, indem sie die gesellschaftspolitische Relevanz einer kritischen, realistischen Literatur betonten, welche Öffent-
Süddeutsche Zeitung, 27.6.1997; Marlene Schnieper, Worte, die auf Menschjagd zielen, in: Tages-Anzeiger, 5.7.1997. 35
Vgl. Einerseits liegt Auschwitz in der Schweiz, andererseits konnte man nicht anders. Über Schuld und Sühne, die Schweiz und den Holocaust. Schriftsteller, Historiker, Philosophen debattieren über Adolf Muschgs Essayband „Wenn Auschwitz in der Schweiz liegt", in: Die Weltwoche, 7.5.1997.
36
Hierzu und zum folgenden: Jakob Tanner, in: ebd. Peter von Matt, Die tintenblauen Eidgenossen. Über die literarische und politische Schweiz, München 2001, lOOf; vgl. Aleida Assmann, Die (De-)Konstruktion nationaler Mythen und die Rolle der Literatur, in: Corina Caduff/Reto Sorg Hg., Nationale Literaturen heute - Ein Fantom? Die Imagination und Tradition des Schweizerischen als Problem, München 2004, 75-83, 77f.
37
38
Hierzu und zum folgenden: Walter Höllerer Hg., Der Zürcher Literaturstreit. Eine Dokumentation, Stuttgart 1967; Robert Weninger, „Kloaken und Psychopathen": Der Zürcher Literaturstreit um eine Rede Emil Staigers, in: Robert Weninger, Streitbare Literaten: Kontroversen und Eklats in der deutschen Literatur von Adorno bis Walser, München 2004, 68-83.
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lichkeit herstellen solle. Wie läßt sich das soziokulturelle Klima skizzieren, gegen das diese kritischen Autorinnen und Autoren angeschrieben haben? Es ist, so die vielfach vertretene These, das spezifische Landschaftsprofil der Schweiz, das für das Verständnis des soziokulturellen Klimas der Deutschschweiz insbesondere in den beiden ersten Nachkriegsjahrzehnten von sinnstiftender Bedeutung war. Vor allem das Relief des imposant-kolossalen Alpenmassivs wurde traditionsgemäß zugunsten staatsideologischer Mythenbildung instrumentalisiert. Verstärkt wurde die Akzeptanz dieser mythischen Weltauslegung durch die Erinnerung an das sogenannte „Reduit National", eine vom Sommer 1940 befohlene militärische Verteidigungsstrategie, die den Rückzug der Schweizer Armee in die Alpenfestung vorsah, wobei das Mittelland, in dem der Großteil der zivilen Bevölkerung lebte und in dem fast die gesamte Industrie konzentriert war, geräumt worden wäre. 39 In einer langen Phase wirtschaftlichen Wachstums und technologischer Modernisierung wurden geschichtsmächtige nationale Einstellungsmuster, versinnbildlich in gebirgsweltlicher Tektonik, reaktiviert und neuartig lanciert.40 Die in diesem Zusammenhang zu piazierenden nationalen Kennworte hießen Neutralität, ,Geistige Landesverteidigung', Antikommunismus sowie Militarismus.41 Vor allem der Ost-West-Konflikt nährte verbreitete Ängste kommunistischer Übergriffe auf die Schweiz, so daß nicht nur die militärische Landesverteidigung bis hin zur Entfaltung von Plänen atomarer Aufrüstung 42 sowie die umfängliche Organisation eines Zivilverteidigungssystems vorangetrieben wurde. 43 Vielmehr kursierten mentale Denkhaltungen der sogenannten .Geistigen Landesverteidigung' 44 ,
39
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43
44
Vgl. u.a. Jakob Tanner, Militär und Gesellschaft in der Schweiz nach 1945, in: Ute Frevert Hg., Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1997, 314-341, 314f. Vgl. u.a. Jakob Tanner, Blockiert zwischen Vorgestern und Übermorgen. Die Schweiz in den fünfziger Jahren, in: Kulturmagazin 57.1986, 8-15. Vgl. u.a. Sonja Rüegg, „Ich hasse nicht die Schweiz, sondern die Verlogenheit". Das SchweizBild in Max Frischs Werken Graf Öderland, Stiller und achtung: die Schweiz und ihre zeitgenössische Kritik, Zürich 1998, 63-90. Vgl. u.a. Marco Jorio, Atomwaffen, in: Historisches Lexikon der Schweiz, 26.11.02: http://www.lexhist.ch/externe/protect/textes/d/D24625.html, Zugriff vom 28.2.2006. Hierzu und zum folgenden vgl. u.a. Peter Gilg/Peter Hablützel, Beschleunigter Wandel und neue Krisen (seit 1945), in: Hans Ulrich Jost u.a. Hg., Geschichte der Schweiz und der Schweizer III, Basel 1983, 191-313. Vgl. auch Albert Bachmann/Georges Grosjean, Zivilverteidigung, hg. v. Eidg. Justiz- und Polizeidepartement im Auftrag des Bundesrates, Aarau 1969; Peter Albrecht u.a., Schutzraum Schweiz. Mit dem Zivilschutz zur Notstandsgesellschaft, Bern 1988. Abgesehen von der staatspolitischen Reaktivierung alter Natur-Mythen sind in diesem Zusammenhang z.B. folgende Begriffskonzepte konstitutiv: die Maxime der „bewaffneten Neutralität", die Betonung und Bewahrung sogenannter nationaler Eigenarten, der „Sonderfall Schweiz", der „Inselkomplex", das „Igelsyndrom", die „Reduitmentalität". Vgl. u.a. Jakob Tanner, Zwischen „American Way of Life" und „Geistige Landesverteidigung". Gesellschaftliche Widersprüche in der Schweiz der fünfziger Jahre, in: Unsere Kunstdenkmäler 43.1992/H.3, 351-363; Igor Perrig, Geistige Landesverteidigung im Kalten Krieg. Der Schweizerische Aufklärungsdienst (SAD) und Heer und Haus 1945-1963, Freiburg (Schweiz) 1993.
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die sich in unterschiedlichen Spielarten seit den 1930er Jahren als innerhalb der Schweiz weitläufig vermittelte mentale Abwehrstrategien gegen Faschismus und Nationalsozialismus etabliert hatten 45 . Damit einhergehende Denkmuster wurden nach dem Zweiten Weltkrieg zum Zwecke nationaler Integration auf die potentielle Gefahr einer kommunistischen Weltherrschaft übertragen und entsprechende Feindbilder konstruiert, die jahrzehntelang auf jegliche außerparlamentarische Oppositionelle im eigenen Land angewendet wurden. 46 Die strukturellen Folgen der durch den Kalten Krieg forcierten militärischen und ,Geistigen Landesverteidigung' als fur die Entwicklung der Schweiz bedrohlich, einengend und destruktiv zurückweisend, mischten sich bereits seit den 1950er Jahren einzelne Intellektuelle, als „Nonkonformisten" gebrandmarkt, in öffentliche Debatten um zeitgenössische Problemfelder ein. 47 Das soziokulturelle Klima schien mehrere Jahrzehnte geprägt von einem verbreiteten wertideellen Konsens und von einer politisch-institutionellen Stabilität, fur die die sogenannte ,Zauberformel', nach der die Regierungsbeteiligung der damals vier größten Parteien seit 1959 geregelt wurde, zeugte. 48 Entsprechend galten die vom „Geist des Widerspruchs beseelten" Intellektuellen nicht nur in konservativen, sondern auch in sozialdemokratischen Kreisen teilweise als Gefahr, da ihr ideelles Abweichlertum eine „Verschiedenheit auf Kosten des Einigenden" in der als brisant empfundenen Zeit des Kalten Krieges provozierte. Indem sie neue gesellschaftspolitische Themen lancierten, versuchten sie, die „Erstarrung zu lösen" und Tabus zu brechen, weswegen sie immer wieder als „Nestbeschmutzer", „schlechte Patrioten" oder „Kryptokommunisten" degradiert wurden. 49 Dennoch formierten sich auch in der Deutschschweiz, seitdem 1958 die Schweizerische Bewegung gegen die Atomare Aufrüstung eine „Katalysatorfunktion" ausgeübt hatte, 50 vor allem ab Mitte der 1960er Jahre verschiedenartige „Abgrenzungsbewegungen gegenüber dem
45
46
Vgl. z.B. Josef Mooser, Die „Geistige Landesverteidigung" in den 1930er Jahren, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 47.1997/H. 4, 685-708. Brigitte Studer spricht in diesem Zusammenhang von einer „Praxis der Amalgamierung aller oppositionellen Haltungen", die „quasi präventiv kriminalisiert" worden seien, vgl. Brigitte Studer, Antikommunismus, in: Historisches Lexikon der Schweiz, 07.6.2002: http://www.lexhist.ch/externe/protect/textes/d/D27836.htmI, Zugriff v o m 28.02.2006.
47
Vgl. etwa Lucius Burckhardt/Max Frisch/Markus Kutter, achtung: die Schweiz. Ein Gespräch über unsere Lage und ein Vorschlag zur Tat, in: Basler politische Schriften 2 . 1 9 5 5 / H . l ; Max Imboden, Helvetisches Malaise, Zürich 1964; Paul Nizon, Diskurs in der Enge (1970), in: Paul Nizon, Diskurs in der Enge. Verweigerers Steckbrief, Frankfurt a.M. 1990, 137-226.
48
Hierzu und zum folgenden vgl. z.B. Birrer u.a., Nachfragen und Vordenken, 16f.
49
Urs Paul Engeler, Grosser Bruder Schweiz. Wie aus wilden Demokraten überwachte Bürger wurden. Die Geschichte der Politischen Polizei, Zürich 1990, 154f.
50
Gemäß Jakob Tanner habe die Bewegung gegen atomare Aufrüstung einen beträchtlichen Einfluß „im Übergang von der Totalkonformität der 50er zu Ansätzen einer neuen Konfliktkultur in den ausgehenden 60er Jahren" gehabt, weil sie erstmalig seit dem Zweiten Weltkrieg als autonome Bewegung mit einer authentischen Zielsetzung aufgetreten sei. Vgl. Tanner, Blockiert zwischen Vorgestern und Übermorgen, 14.
Skandal und Intervention
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bürgerlichen Staat".51 Zahlreiche Intellektuelle ergriffen im Lauf der Zeit Partei für Soziale Bewegungen, Bürgerinitiativen, marginalisierte Gruppen und Protestdemonstrationen, die vermehrt in den 1970er und 1980er Jahren das politische Geschehen mit52
prägten . Die eindrückliche Jugendbewegung Anfang der 1980er Jahre bietet hierfür ein ebensolches Beispiel wie die Kampagnenarbeit der „Gruppe Schweiz ohne Armee" (GSoA) im Rahmen der entsprechenden Volksinitiative vom November 1989. 53 Indes, konservative Gegenkräfte aus dem bürgerlichen Lager, in ideologisch stark polarisierenden Zeiten des Kalten Krieges an Denkhaltungen der .Geistigen Landesverteidigung' festhaltend, agitierten wachsam. Und so flog bereits 1976 das privat organisierte Archiv des Werbegrafikers und Politikers Ernst Cincera auf. 54 Dieser hatte seit Jahren in Eigeninitiative mit einem Netzwerk von Helferinnen und Helfern, der Informationsgruppe Schweiz, ein System der Bespitzelung Oppositioneller betrieben, mit dem Argument, den Staat vor einem angenommenen „inneren Feind" der „Subversion" schützen zu wollen. 55 Doch der öffentliche Groll, der sich nach den Enthüllungen der Machenschaften des „Subversiven-Jägers" und seines verästelten Netzes „unheimlicher
51
52
53
54
55
Birrer u.a., Nachfragen und Vordenken, 16; vgl. Urs Altermatt, Ausbruchsversuche aus dem Korsett der Konkordanz. Essay zur Schweizer Politik am Ende des 20. Jahrhundert, in: ders. u.a., Rechte und linke Fundamentalopposition: Studien zur Schweizer Politik 1965-1990, Frankfurt a.M. 1994,3-29. Vgl. Mario König u.a., Einleitung. Reformprojekte, soziale Bewegungen und neue Öffentlichkeit, in: ders. u.a. Hg., Dynamisierung und Umbau. Die Schweiz in den 60er und 70er Jahren, Zürich 1998, 11-20. Vgl. Hanspeter Kriesi, Die Zürcher Bewegung. Bilder, Interaktionen, Zusammenhänge, Frankfurt a.M. 1984; Andreas Gross u.a. Hg., Denkanstösse zu einer anstössigen Initiative. Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten für eine Schweiz ohne Armee, Zürich 1989; Tobias Kaestli, Selbstbezogenheit und Offenheit - Die Schweiz in der Welt des 20. Jahrhunderts. Zur politischen Geschichte eines Kleinstaats, Zürich 2005, 413-476. Vgl. Arbeitsgemeinschaft Demokratisches Manifest Hg., Dossier Cincera. Dokumente und Materialien, Zürich 1976 3 ; Emst Cincera, Unser Widerstand gegen die Subversion in der Schweiz, Zürich o.J. Bereits im so genannten Zivilverteidigungsbüchlein, das 1969 im Auftrag des Bundesrates übersetzt in die jeweiligen Sprachen an alle Haushalte verteilt wurde, war in bezug auf außerparlamentarische Opposition von einer „zweiten Form des Krieges" gesprochen worden. Vor allem Intellektuelle und Pazifisten wurden darin umstürzlerische Intentionen unterstellt, vgl. Bachmann/Grosjean, Zivilverteidigung, 225-272. Weil der damalige Präsident des Schweizerischen Schriftstellerverbandes (SSV), Maurice Zermatten an der französischen Ausgabe der Broschüre mitgearbeitet hatte, der eine besondere .Ideologisierung' vorgeworfen wurde, erklärten schließlich 22 Mitglieder, darunter Adolf Muschg, im Mai 1970 ihren Austritt aus dem SSV, um sich fortan als Gruppe Ölten zu organisieren. Vgl. Hans Mühlethaler, Die Gruppe Ölten. Das Erbe einer rebellierenden Schriftstellergeneration, Aarau 1989.
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Patrioten" entlud, 56 war nichts gegen den Sturm der Entrüstung, der sich im November 1989 über der Schweiz erhob.
Skandal und Intervention: Adolf Muschgs Eingriffe in die Fichen-Affäre 1989/90 Als Gegenständen massiver öffentlicher Empörung wird Skandalen innerhalb politischer Kulturen demokratischer Verfassungsstaaten eine wichtige Kontrollfunktion zuerkannt. Anders als in alltäglich geführten öffentlichen Konflikten, die Aushandlungsprozesse divergierender wertideeller Deutungsangebote darstellen, geht es bei Skandalen um mehr: um die Durchsetzung bereits anerkannter Normen. 57 Der Impetus kollektiver Entrüstung über die Verletzung allgemein akzeptierter Grundsätze des Gemeinwesens schärft „das Gefühl für deren Wichtigkeit und Richtigkeit", er emotionalisiert die betreffenden Sachverhalte und verschafft ihnen somit eine besondere Aufmerksamkeit und Anteilnahme. 58 Allerdings ist die öffentliche Anprangerung von soziokulturellen Mißständen ambivalent. Gilt es zum einen, im Sinne eines positiven Beitrags zur „Selbstreinigung einer Gesellschaft", genuin „akzeptierte Normen in Erinnerung zu rufen und ihre Geltung zu bekräftigen", besteht zum anderen die Gefahr, „das Vertrauen in die Institutionen und ihre Repräsentanten" zu destabilisieren. Insofern erscheint es relevant, den Einsatz des öffentlichen Instruments einer Skandalisierung inklusive ihrer Mittel je nach Ausmaß der Anprangerung abzuwägen. 59 Doch handelt es sich im Falle eklatanter öffentlicher Entrüstungen nicht lediglich um die Auseinandersetzung über eine Mißachtung rein sachlicher Regeln des Zusammenlebens. Vielmehr offenbaren Skandale jeweils einen gesellschaftsimmanenten .Konflikt der Moralen', einen Streit um das zwischenmenschliche Pflichtbewußtsein im Hinblick auf von der Gemeinschaft anerkannte Tugenden und Wertmaßstäbe. Wird die kommunikative Konstruktion eines Skandals, wie von Karl Otto Hondrich vorgeschlagen, in die vier Phasen 1. des Fehltritts, 2. der Enthüllung, 3. der Entrüstung sowie 4. der Genugtuung unterteilt, 60 dann erfüllen in den verschiedenen Etappen unterschiedliche Akteursgruppen spezielle Funktionen. Sind Fehltritte moralischer Grenzüberschreitungen, beispielsweise
56
Jürg Frischknecht u.a., Die unheimlichen Patrioten. Politische Reaktion in der S c h w e i z .
Ein
aktuelles Handbuch, Zürich 1979. Vgl. Max Schmid, Demokratie von Fall zu Fall. Repression in der S c h w e i z , Zürich 1976. 57
Vgl. Hans Mathias Kepplinger, Skandal, in: Otfried Jarren/Ulrich Sarcinelli/Ulrich Saxer Hg., Politische Kommunikation in der demokratischen Gesellschaft. Ein Handbuch mit Lexikonteil, Opladen 1 9 9 8 , 7 2 3 .
58
Vgl. Karl Otto Hondrich, Enthüllung und Entrüstung. Eine P h ä n o m e n o l o g i e d e s politischen
59
Vgl. Kepplinger, Skandale.
60
Hondrich, Enthüllung und Entrüstung, 15f.
Skandals, Frankfurt a.M. 2 0 0 2 , 18.
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von staatspolitischen Mandatsträgern, enthüllt, bedarf es im „Kampf um Werte" 61 bestimmter Akteure, die auf Basis ihrer Qualifikationen und ihres Status sozial anerkannte Handlungs- und Wertmaßstäbe zu formulieren vermögen. Im Rahmen solcher Ereigniskonstellationen können Kulturschaffende ebensowenig wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit in die Öffentlichkeit getragenem sachlichem Expertenwissen etwas ausrichten, um einen dramatisierenden Beitrag zur kollektiven Entrüstung zu leisten. Es gilt vielmehr, die in den jeweiligen Professionen erworbenen geistigen und artikulatorischen Fähigkeiten sowie das dort erlangte Sozialprestige nutzbar zu machen und die beruflichen Zuständigkeiten zu verlassen, um Kritik zu üben am institutionalisierten Verhalten und an den Tugendverstößen staatspolitischer Akteure - und dies zugunsten des Erhalts der auf der Kippe stehenden universellen Werte. Die so beschriebene Rolle der Intellektuellen, ihre Intervention ins Politische, wird lediglich zeitweise, aus aktuellem Anlaß eingenommen und obliegt aufgrund eines erhöhten Sanktionsdrucks nicht selten der Zivilcourage. 62 Hinsichtlich der öffentlichen Konstruktion politischer Skandale und der diesbezüglich angenommenen dramatisierenden Wirkung intellektueller Interventionen üben Massenmedien einen entscheidenden Einfluß aus. Davon ausgehend, daß Botschaften kommunikativer Akte nicht nur medial vermittelt, sondern immer auch medial konstituiert werden, gilt es, den komplex strukturierten massenmedialen Produktionsroutinen und den darin vielschichtig tätigen Akteuren in bezug auf die Schaffung öffentlicher Wahrnehmungs-, Vorstellungs- und Deutungsmuster ein realitätsgestaltendes Gewicht und damit große politische Relevanz beizumessen. Insofern ist von historischem Interesse, ob und inwiefern Massenmedien in der betrachteten Skandalkonstellation jeweils politische Kommunikation gesteuert und welchen Einfluß sie auf Inhalte und Praktiken der Auseinandersetzung ausgeübt haben. 63 Die hier skizzierten komplexen Zusammenhänge sollen im folgenden zumindest ansatzweise veranschaulicht werden.
61
Ebd., 20, 28.
62
Vgl. M. Rainer Lepsius, Kritik als Beruf. Zur Soziologie der Intellektuellen, in: ders., Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1990, 270-285; ebenso z.B. Pierre Bourdieu, Der Korporativismus des Universellen. Die Rolle des Intellektuellen in der modernen Welt, in: ders., Die Intellektuellen und die Macht, hg. v. Irene Dölling, Hamburg 1991, 41-65; ders., Satz und Gegensatz. Über die Verantwortung des Intellektuellen, Frankfurt a.M. 1993; weitere Titel zur Intellektuellen-Soziologie Bourdieus s. umfänglich im Literaturverzeichnis von Liehr, Von der Aktion gegen den SPIEGEL zur SPIEGEL-Affäre, 199.
63
Vgl. hierzu z.B. Frank Bösch, Historische Skandalforschung als Schnittstelle zwischen Medien-, Kommunikations- und Geschichtswissenschaft, in: Fabio Crivellari u.a. Hg., Die Medien der Geschichte. Historizität und Medialität in interdisziplinärer Perspektive, Konstanz 2004, 445-464; Ute Frevert, Politische Kommunikation und ihre Medien, in: dies./Wolfgang Braungart Hg., Sprachen des Politischen. Medien und Medialität in der Geschichte, Göttingen 2004, 7-19; Dorothee Liehr, Ereignisinszenierung im Medienformat. Proteststrategien und Öffentlichkeit - eine Typologie, in: Martin Klimke/Joachim Scharloth Hg., 1968. Ein Handbuch zur Kultur- und Mediengeschichte der Studentenbewegung, Köln (im Erscheinen).
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Am 3. März 1990 versammelten sich auf dem Berner Bundesplatz schätzungsweise bis zu 35.000 Protestierende zu einer Kundgebung unter dem Motto „Schluss mit dem Schnüffelstaat!". Sie verliehen ihrer Empörung über die jahrzehntelange, nun nicht mehr nur private, sondern offenkundig auch staatliche Bespitzelung zahlreicher Bürgerinnen und Bürger, Migrantinnen und Migranten sowie Mitglieder gesellschaftspolitischer Organisationen Ausdruck, die am 24. November 1989 durch den offiziellen Bericht einer Parlamentarischen Untersuchungskommission (PUK) ans Licht der Öffentlichkeit gebracht worden war.64 Eigentlich ausgezogen, um die Hintergründe einer ganz anderen Affäre, nämlich die um eine Amtsgeheimnisverletzung der Bundesrätin Elisabeth Kopp zu ergründen, waren die Kommissionsmitglieder der PUK während ihrer Recherchen in der Zentrale der Berner Bundespolizei (BuPo) auf ominöse Karteikästen gestoßen, in denen Dokumentationen von „hunderttausendfach gesammelten Belanglosigkeiten" unzähliger Schweizerinnen und Schweizer sowie Ausländerinnen und Ausländer niedergelegt waren. Um die 900.000 Fichen lagen vor und ließen das „Bild einer gigantischen Staatsschutzmaschinerie" offenbar werden,65 zu deren Legitimation der Jahrzehnte andauernde und just im Herbst desselben Jahres beendete Kalte Krieg heranzogen wurde.66 Die offizielle Bekanntgabe dieser umfassenden staatlich organisierten Observationspraktiken schlug in der Schweizer Öffentlichkeit ein wie eine Bombe und wurde sofort als „SchnüffelSkandal" gebrandmarkt.67 Die mangelnde Aufklärungsbereitschaft verantwortlicher Behörden und Beamter, vor allem aber der bereits nach wenigen Wochen von tausenden Einsichtssuchenden überforderten Bundespolizei, führte zu einer Verschärfung des Eklats, so daß bald von einer Staatskrise gesprochen wurde. Am 15. Dezember 1989 wurde von anfangs rund einem Dutzend Parlamentarierinnen und Parlamentariern das Komitee Schluss mit dem Schnüffelstaat initiiert, dem sich zahlreiche Parteien und Organisationen anschlossen und in dem sich auch Einzelpersonen engagierten. Es war dieses Komitee, das 1990 eine Volksinitiative zur Abschaffung der politischen Polizei lancierte, nachdem es im März bereits eine der bis dato größten Protestkundgebungen der schweizerischen Nachkriegsgeschichte organisiert hatte.68 Unter den tausenden Demonstrierenden in Bern ergriffen an jenem 3. März 1990 auch Kulturschaffende das Wort, mischten sich ein in die öffentliche Debatte, um die brisanten Machenschaften der politischen Polizei zu kritisieren, deren institutionelle Berechti64
Hierzu und zum folgenden: Gregor Sonderegger/Christian Dütschler, Ein PUK-Bericht erschüttert die Schweiz. Der Fichenskandal, in: Heinz Looser u.a. Hg., Die Schweiz und ihre Skandale, Zürich 1 9 9 5 , 2 0 9 - 2 1 8 .
65
Ebd., 212f.
66
Vgl. die vom Schweizerischen Bundesrat in Auftrag gegebene umfangreiche Untersuchung: Georg Kreis/Jean-Daniel Delley/Otto K. Kaufmann, Staatsschutz in der Schweiz. Die Entwicklung 1935-1990. Eine multidisziplinäre Untersuchung, Bern 1993.
67
Vgl. Komitee Schluss mit dem Schnüffelstaat Hg., Schnüffelstaat Schweiz. Hundert Jahre sind genug, Zürich 1990.
68
Vgl. Sonderegger/Dütschler, Der Fichenskandal, 214f.
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gung nicht wenige anzweifelten. Viele von ihnen verknüpften ihre Kritik an der als drastisch wahrgenommenen Einschränkung fundamentaler demokratisch-freiheitlicher Grundrechte mit einem Boykott-Aufruf hinsichtlich der Teilnahme an den umfänglich geplanten Festivitäten zur 700-Jahr-Feier der Schweizerischen Eidgenossenschaft 1991.69 Einer von ihnen war Adolf Muschg, an dessen Rede mit dem Titel Kaputtgeschützt sich ebenso wie an seinem Fernsehauftritt in der Tagesschau am Abend nach der Demonstration mustergültig intellektuelle Interventionsprinzipien festmachen lassen. Welche Merkmale sind es, die sich, gemäß der zugrunde gelegten Prämisse, für die Wirkungsmächtigkeit politischer Eingriffe Intellektueller als zentrale Kriterien festmachen lassen? Adolf Muschg schlüpfte, so die These, während seiner öffentlichen Auftritte gegen den ,Schnüffelstaat' in die Rolle des Intellektuellen. Provoziert aus aktuellem Anlaß verließ er, seine schriftstellerisch-expressiven Fähigkeiten nutzbar machend, sein eigentliches berufliches Terrain und mischte sich als Bürger, ohne eine politische Zuständigkeit, ohne ein Mandat zu haben, in die öffentliche Debatte ein. Er übte sowohl Kritik an der jahrzehntelangen Staatsschutzauffassung der Bundespolizei als auch an den daraus resultierenden Methoden der bürgerlichen Überwachung und Denunziation, die teilweise entscheidende Auswirkungen auf die Berufschancen der Bespitzelten hatten. In diesem Zusammenhang klagte er Wertprinzipien ein, für die er, entsprechend den in der schweizerischen Bundesverfassung fixierten ideellen Vorgaben, einen loyalen Umgang in der politischen Praxis einforderte. Wird unter einer Idee ganz allgemein ein zum Handeln anregender Gedanke verstanden, dann manifestiert sich ihre Sozialrelevanz aus kultursoziologischer Perspektive in ihrer „inneren Sinnkonstruktion". Diese verlangt ihren Adressaten hinsichtlich bestimmter Verhaltensweisen „eine stetige und systematische Pflicht [...] als Wert an sich" ab, sie ist auf bestimmte Trägergruppen beziehbar und von anderen Ethiken abgrenzbar.70 An wem also übte Muschg inwiefern Kritik? Welche Wertideen klagte er dabei ein? Und welche dementsprechenden Konsequenzen forderte er zugunsten einer staatlichen Schadensbegrenzung? Die grundlegende Kritik, die Muschg in seinen lebendigen, illustrativen Ausführungen übte, richtete sich vornehmlich an Trägergruppen oberster staatlicher Amtsinhaber, das heißt an die Mitglieder des Bundesrats sowie an verantwortliche Beamte der Bundespolizei. Er warf ihnen die Mißachtung eines unter Schweizer Bürgerinnen und Bürgern im Laufe der Zeit weit verbreiteten Demokratieverständnisses vor, indem er betonte, daß der „oberste Zweck eines liberalen Staates [...] die Garantie der Menschen- und Freiheitsrechte, einschließlich ihres Gebrauchs" sei, wobei „dieser Staat von der Orga69
Vgl. Fredi Lerch/Andreas Simmen Hg., Der leergeglaubte Staat. Kulturboykott: Gegen die 700Jahr-Feier der Schweiz. Dokumentation einer Debatte, Zürich 1991.
70
Hierzu und zum folgenden vgl. M. Rainer Lepsius, Interessen und Ideen. Die Zurechnungsproblematik bei Max Weber, in: ders., Interessen, Ideen und Institutionen, 31-43; zusammengefaßt in: Liehr, Von der Aktion gegen den SPIEGEL zur SPIEGEL-Affare, 50-52.
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nisation, die ihm Schutz besorgen sollte" betrogen worden sei.71 So hätten sich als Angelegenheiten des Staatsschutzes nicht brisante Machenschaften wie die „internationale Wirtschaftskriminalität und ihre schweizerischen Weißwaschanlagen" oder das „grenzüberschreitende Rauschgift-Geschäft" offenbart. Vielmehr seien in den Fichen Meldungen aus dem Privatleben der Menschen und zahlreiche ihrer keineswegs staatsgefährdenden Gewohnheiten vermerkt wie „.trinkt abends gern ein Bier' oder .schaut immer noch jungen Frauen nach'". Das Staatschutzverständnis der Bundespolizei habe, so Muschg, die Politik daran gehindert, „ihre nationale Pflicht zu tun: weiter zu sehen, weiter zu denken, die Gegenwart zu verstehen, um die Zukunft mitzugestalten, das Volk für die Mitarbeit an wirklichen - nicht eingebildeten, nicht drittrangigen - Problemen zu gewinnen", so daß die Fortentwicklung des Gemeinwesens „fast bis zum Stillstand" gelähmt worden sei. Insofern habe die Bundespolizei jahrzehntelang „ein wenig Landesverrat und ein wenig Hochverrat getrieben. Hochverrat an ihrem Souverän, den Bürgerinnen und Bürgern und ihren verfassungsmäßigen Rechten. Landesverrat an ihrem Staat, dessen Ressourcen und Energien sie verschwendet hat". Und auf die aktuelle weltpolitische Umbruchskonstellation der Auflösung des Ost-West-Konflikts inklusive des Zerfalls althergebrachter Feindbilder anspielend, hob Muschg metaphorisch hervor: „Hunderte von Beamte, im Kopf nichts als ein Weltbild aus der Steinzeit des Kalten Krieges, schnüffeln mündige Bürger danach ab, ob sie ins Häkelmuster eines Vor-Urteils passen, das jeder neue Tag überholt". Der Staat leiste sich einen „Exzess von Dilettantismus", während die „wirklichen Raubfische - aber auch die zukunftsträchtigen Ideen - unbeachtet an diesen Fichen-Netzlein vorbeischwimmen", so daß die Schweiz „aus der Geschichte Europas schon so gut wie abgemeldet"72 sei. Als Konsequenzen dieser Anklage des von ihm konstatierten Mißbrauchs bürgerlichdemokratischer Freiheitsrechte durch staatliche Mandatsträger forderte er die verantwortlichen Personen auf, „den Schaden, den ein verrückt spielendes Staatsorgan in zahllosen Existenzen angerichtet hat, [zu] vergüten". Indem er sich von der Staatsmoral der zur Rechenschaft zu ziehenden Beamten abgrenzte, forderte er eine „fundamentale Änderung der politischen Sitten" und „eine neue Ethik" für die Datenverwalter. Zudem benötige „niemand [...] mehr Kontrolle als die Kontrolleure" und damit die Bürgerin-
71
Von besagter Rede Muschgs liegen unterschiedliche Versionen vor, die sich in ihrem Wortlaut teilweise unterscheiden, was quellenkritisch für eine intellektuellen-soziologische Interpretation nicht unerheblich ist. Die Fernsehquellen über die Ereignisse in Bern offenbaren, daß es sich bei der Fassung aus der Pressemappe des Komitees gegen den Schnüffelstaat (im Sozialarchiv Zürich), welche auch in einigen Printmedien erschien, nicht um diejenige handelt, die Muschg auf der Demonstration tatsächlich vorgetragen hat. Wie im folgenden noch deutlich wird, muß es hierbei um eine sprachlich zugespitzte Variante gegangen sein. Die meiner Interpretation zugrunde gelegte Fassung kommt der referierten Rede, die mir im Original noch nicht vorliegt, entsprechend des Abgleichs mit den Fernsehausschnitten, am nächsten. Sie ist abgedruckt in: Adolf Muschg, Die Schweiz am Ende, am Ende die Schweiz. Erinnerungen an mein Land vor 1991, Frankfurt a.M. 1990, 145-150, 146f.
72
Hierzu und zum folgenden: ebd., 148f.
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nen und Bürger „ein verfassungsmässiges Recht auf Dateneinsicht". Die Fichen-Affäre, so Muschg zuspitzend, habe „eine unerträgliche Demokratieverspätung aufgedeckt". Muschg war zum Zeitpunkt der betrachteten Ereigniskonstellation im deutschsprachigen Raum bereits ein vielfach ausgezeichneter Schriftsteller und angesehener Hochschulprofessor, der seit langem immer wieder in die Rolle des Intellektuellen schlüpfte. Doch seinen Umgang mit der Politik gestaltete der Künstler und Wissenschaftler überaus vielseitig, so trat er 1975 als Zürcher Ständeratskandidat der Sozialdemokratischen Partei zugunsten eines politischen Mandats an bzw. nahm beratende Aufgaben wahr, etwa von 1974-77 als Mitglied der Kommission für die Vorbereitung einer Totalrevision der schweizerischen Bundesverfassung. 73 Insofern konnte er während der FichenAffäre sowohl sein professionelles Renommee als auch seinen in der Öffentlichkeit erlangten politischen Sachverstand zugunsten einer Geltungschance seiner Intervention und damit der Legitimation seiner Kritik nutzbar machen. Ein Umstand der wesentlich ist: zum einen, da öffentlich getätigte Stellungnahmen von Intellektuellen, in denen sie am institutionalisiertem Verhalten staatlicher Akteure Kritik üben, häufig einem massiven Sanktionsdruck unterliegen; zum anderen weil ein hohes öffentliches Ansehen für Intellektuelle geradezu unabdingbar ist, um die Aufmerksamkeit der Massenmedien zu erreichen. Entsprechend erhielt Muschg am Abend nach der Protestdemonstration die Chance, zur besten Sendezeit vor einem Millionenpublikum in der Tagesschau aufzutreten.74 In der insgesamt dreiminütigen Dauer seiner Sprechzeit erfolgte eine erneute Zuspitzung seiner Kritik, nun indes auch an der Fernsehberichterstattung über die Demonstration. Inwiefern? Die vor dem Interview mit Muschg ausgestrahlte, von der ragesscAaw-Redaktion des Schweizerischen Fernsehens der Deutschen und Rätoromanischen Schweiz (SF DRS) produzierte kurze Einspielung einer Zusammenfassung der Tagesereignisse in Bern fokussierte inhaltlich nicht nur auf eine Darstellung der zentralen Anliegen und kritischen Forderungen der Demonstrierenden. Vielmehr wurden darüber hinaus, verbal dramatisierend und von aufsehenerregendem audiovisuellen Material in insgesamt dreizehn Bildeinstellungen aufbereitet, Krawalle gezeigt, die sich nach Ansicht zahlreicher Veranstaltungsteilnehmender eher am Rande der größtenteils friedlichen Protestveranstaltung abgespielt hatten. 75 Von der Moderatorin Annet Gosztonyi nach seinem Eindruck von der Demonstration befragt, betonte Muschg, dieser sei „ganz anders" als die 7ages.se/iaw-Einspielung vermittele, in der „ein marginales Ereignis ins Zentrum der Berichterstattung gerückt" worden sei. Von der Substanz der Demonstration sei überaus wenig die Rede gewesen. Fernsehredakteure aber, so seine Kritik an dem sensationser73
Vgl. Adolf Muschg, Liebe, Literatur und Leidenschaft. Im Gespräch mit Meinhard SchmidtDegenhard, Zürich 1995, 93-127, biographische Zeittafel: 195f.
74
Hierzu und zum folgenden vgl.: Adolf Muschg im Gespräch mit Annet Gosztonyi, SF DRS, Tagesschau, 3.3.1990.
75
Vgl. etwa „Die Ausschreitungen gerieten in den Vordergrund", Leserbriefe, in: Tages-Anzeiger, 9.3.1990.
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heischenden Medienerzeugnis, wüßten nur allzu genau, „daß die Bilder brennender Autos länger haften als der volle Bundesplatz voll friedlicher Menschen, die ein sehr wichtiges Anliegen vorzubringen hatten". Darauf im Gespräch vor der Kamera lediglich entgegnend, diesbezüglich bereits zuvor gegenüber Muschg einiges relativiert zu haben, fuhr die Moderatorin mit einem gewichtigen Zitat aus der am Tag vorgetragenen Rede des Schriftstellers fort. Es handelte sich um eine radikale Zuspitzung seiner Kritik und der daraus zu ziehenden Konsequenzen. So hatte Muschg auf der Bühne vor den Demonstrierenden gefordert, die Schweiz müsse „ausstinken, bevor man darin wieder atmen kann! Die Verantwortlichen müssen Verantwortung übernehmen und das Undenkbare denken: Rücktritt!". 76 Mit der Bitte, das Zitat in der Tagesschau zu erläutern, erhielt Muschg die Chance, eine der radikalsten kritischen Forderungen, die Intellektuelle an staatspolitische Akteure richten können, vor einem Millionenpublikum am Fernsehschirm zu begründen - Muschg nahm die Herausforderung an. Er richtete das Rücktrittspostulat allgemein an einen oder zwei Bundesräte, die, auch ohne eine persönliche Verantwortung zu tragen, in ihrer Rolle als Volksrepräsentanten das Zeichen einer staatlichen Kurskorrektur zu setzen hätten. Weil seiner Ansicht nach „die polizeiliche Gewalt die politische Gewalt sehr weitgehend ersetzt" habe, handele es sich um einen nicht zu bagatellisierenden „Augenblick des Umdenkens", bei dem es um „nichts Geringeres" als die geistige nationale Selbstachtung der Schweiz gehe. Die Fichen-Affäre sei ein Warnzeichen, ein „Symptom" gewesen, hinsichtlich dem die Demonstration der 35.000 Personen „ein Signal" gesetzt hätte. „Der Bundesrat und die Regierung", so Muschg am Ende seines Appells, „müssen es hören!"
100 Jahre nach der Dreyfus-Affäre: Zur Rolle von Intellektuellen in der Gegenwart Wie eingangs beschrieben, hatte der vorliegende Beitrag zum Ziel, die gesellschaftspolitische Rolle der Intellektuellen seit den ausgehenden 1980er Jahren zu reflektieren. Es galt danach zu fragen, inwiefern das Konzept des kritischen Intellektuellen in Anlehnung an Emile Zolas berühmtes „J'accuse" während der Dreyfus-Affäre im postideologischen Zeitalter nach Auflösung der Ost-West-Konfrontation sowie unter den Bedingungen massenmedialer Übersättigung seit den 1990er Jahren noch Geltung genießt. Am Beispiel einer Intervention des deutschschweizerischen Schriftstellers Adolf Muschg, mit der dieser 1990 kritisch in eine eklatante politische Krise in der Schweiz eingegriffen hatte, wurde die gesellschaftspolitische Relevanz von Skandalen, verstanden als öffentliche Kontrollinstrumente zur Durchsetzung zentraler Wertmaßstäbe des In der von Muschg im angegebenen Sammelband publizierten Textversion ist, davon abweichend, nicht explizit von „Rücktritt" die Rede. Vielmehr heißt es dort: „Die Verantwortlichen müssen Verantwortung übernehmen. Politisch haften sie auch fur das, was sie persönlich nicht getan haben. Sie müssen sich bei den Bürgerinnen und Bürgerinnen, deren Vertrauen sie mit Mißtrauen behandelt haben, entschuldigen, und zwar durch die Tat." Muschg, Kaputtgeschützt, 148.
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Gemeinwesens, und die darin anzusiedelnde Rolle der Intellektuellen aufgezeigt. Der Schriftsteller und Hochschullehrer klagte nicht nur die aufgrund der staatlichen Bespitzelung vielfach als gefährdet angesehenen demokratisch-freiheitlichen Grund- und Menschenrechte ein, sondern dramatisierte auch die Brisanz der politisch-moralischen Fehltritte staatlicher Mandatsträger, indem er zwei Bundesräte im Fernsehen vor einer massenmedialen Öffentlichkeit zum Rücktritt aufforderte. Aufgefaßt als symbolische Geste einer staatspolitischen Kurskorrektur, offerierte Muschg mit seinem Rücktrittspostulat indes zugleich eine Option, das Vertrauen der angezweifelten Institutionen und ihrer Repräsentanten wiederzugewinnen. Darüber hinaus hob er mit seiner Kritik an der Demonstrationsberichterstattung der Jagersc/iaM-Redaktion hinsichtlich der , Macht der Bilder' prägnant hervor, inwiefern Erzeugnisse massenmedialer Produktion, insbesondere des Fernsehens, öffentliche Deutungen manipulieren können. Er unterstrich damit, was in den Medienwissenschaften und der Soziologie später als .Realitätseffekt' der Medien bezeichnet werden sollte. Vor allem, wie im besagten Fernsehbeitrag geschehen, wenn das Bild, das als „sinnliche Unterfütterung des Wortes" Gefühle, Assoziationen und Stimmungen erzeugt, durch die Sprache entsprechend präzisiert wird, 77 entstehe, so Pierre Bourdieu, dieser „effet du reel", der bewirke, „dass man glaubt, was man sieht" und insofern „sozial mobilisierende (oder demobilisierende) Folgen haben kann". 78 Die Intervention Muschgs, stellvertretend hervorgehoben für diejenigen, mit denen zahlreiche andere schweizerische Intellektuelle in die Fichen-Affäre eingegriffen haben, zeigt exemplarisch, so die These, daß die gesellschaftspolitische Rolle der Intellektuellen als Kritiker institutionalisierter Akteure sowie als moralisierende Sinnstifter in den Kämpfen um die Deutungsmacht in der politischen Kultur eines Verfassungsstaates noch immer von Relevanz ist. Denn, wie bereits Karl Jaspers ausführte, wenn in einer parlamentarischen Demokratie „ein Staat die Menschenrechte mit Füßen tritt, greift keine überstaatliche Instanz, greifen keine anderen Staaten ein zum Schutz der Menschen als Menschen gegen ihren eigenen Unrecht-Staat". Erst, wenn „ihre Verletzung öffentlich gebrandmarkt wird", prägten sich die Menschenrechte ins Gedächtnis der Menschen ein, dann werde ihre Mißachtung nicht vergessen, ihre „Wiedergutmachung unablässig gefordert" und ihre Verkündigung nicht zur bloßen Deklamation verkommen. 79 Zweifellos sind zahlreichen Intellektuellen im 20. Jahrhundert, indem sie sich der Verfechtung totalitärer Ideologien unterwarfen, massive moralische Verfehlungen vorzuwerfen. Doch geht es bei dem hier vertretenen Intellektuellen-Konzept um das Gegenteil, nämlich um eine intellektuelle Beteiligung an pluralistischen Deutungskämpfen einer demokratischen politischen Kultur zugunsten einer umfänglichen öffentlichen 77
Vgl. Knut Hickethier, Film- und Fernsehanalyse, Stuttgart 2001, 106f.
78
Bourdieu, Ober das Fernsehen, 27f.
79
Vgl. Karl Jaspers, Die Unzuverlässigkeit der Menschenrechte, in: ders., Hoffnung und Sorge. Schriften zur deutschen Politik 1945-1965, München 1965, 340-345.
252
Dorothee Liehr
Meinungsbildung einerseits, sowie um eine Kontrollfunktion staatlich-institutioneller Macht andererseits. Wie die Fichen-Affäre offenbarte, entstand insbesondere nach der Beendigung des Kalten Krieges und im Zuge des damit einhergehenden Zerfalls althergebrachter ideologischer Denk- und Bewertungsschemata ein Bedarf an neuer wertideeller Orientierung, zu der Intellektuelle Beiträge leisten können. In diesem Zusammenhang betont Johano Strasser, daß in heutigen multikulturellen Gesellschaften „konkurrierende kulturelle Entwürfe alle tradierten Werte und Lebensmuster in Frage stellen", weswegen die Notwendigkeit wachse, „sich seinen Lebenssinn und seine Wertorientierung gegen den Druck des Faktischen diskursiv zu erarbeiten". 80 Auch Politik in modernen, hochkomplexen Wissensgesellschaften, könne nicht nur auf Expertenfragen basieren, sondern bedürfe immer auch der „unvermeidlichen Wertentscheidungen". Schließlich gehe es auch darum, der „ökonomischen Logik" dieser Gesellschaften Grenzen zu setzen und die „Priorität jener Werte ein[zu]klagen, die nicht an der Börse gehandelt werden, von deren Geltung aber Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Zivilität abhängen". Indes, die seit Mitte der 1980er Jahre anhaltende massenmediale Überreizung mindert, wie eingangs ausgeführt, die Geltungschance intellektueller Interventionen. Insbesondere die Bedeutung des Fernsehens und der damit einhergehende „iconic turn", die Wende also vom Wort zum Bild als zentrales Kommunikationsmedium, schaffe, so Jürgen Habermas, vor allem ein „zuschauendes Publikum". 81 Bei intellektuellen Interventionen gehe es demgegenüber idealtypischerweise allerdings immer noch „um den Austausch von Gründen, nicht [aber] um die inszenierte Bündelung von Blicken". Zudem sei im Fernsehen eine „Vermischung von Diskurs und Selbstdarstellung" entstanden, welche zu einer „Entdifferenzierung und Angleichung von Rollen" etwa von Politikern, Journalisten, Experten und Intellektuellen geführt habe. Nichtsdestotrotz ist auch für Jürgen Habermas die gesellschaftspolitische Rolle der Intellektuellen noch immer von Relevanz. „Von klugen Journalisten", so führt er aus, „solle sich der Intellektuelle schließlich weniger durch die Form der Darstellung als durch das Privileg unterscheiden, sich nur nebenberuflich um die öffentlichen Dinge kümmern zu müssen. Er sollte nur dann, aber - als Frühwamsystem - dann auch rechtzeitig intervenieren, wenn das Tagesgeschehen entgleist." Ähnlich wie Muschg in bezug auf die Mitglieder der Akademie der Künste, fordert er ihnen einen „avantgardistischen Spürsinn für Relevanzen" ab. Zudem sollten sie sich „zu einem Zeitpunkt über kritische Entwicklungen aufregen können, wenn andere noch beim Business-as-usual sind". Dies erfordere, so Habermas, die folgenden „unheroischen Tugenden", die abschließend als Resümee geltend gemacht werden: „eine argwöhnische Sensibilität für Versehrungen der normativen Infrastruktur des Gemeinwesens, die ängstliche Antizipation von Gefahren, die der mentalen Ausstattung der gemeinsamen politischen Lebensform drohen, der Sinn für das, was
80
Hierzu und z u m folgenden: Strasser, Intellektuellendämmerung? I85f.
81
Hierzu und z u m folgenden: Habermas, Der Intellektuelle, 68f.
Skandal und Intervention
253
fehlt und .anders sein könnte', ein bißchen Phantasie für den Entwurf von Alternativen, und ein wenig Mut zur Polarisierung, zur anstößigen Äußerung, zum Pamphlet."
II. Transferprozesse, externe Konflikte und ihre Wirkungen auf das literarische Feld
ΙΟ AN A P O P A
Politisches Engagement und literarischer Transfer. Ein kommunistisches Netz von Übersetzern osteuropäischer Literaturen in Frankreich1
Vom Beginn der Nachkriegszeit bis zum Ende der kommunistischen Regime haben mehrere Generationen französischer Dichter in quantitativ sehr unterschiedlicher und auch unterschiedlich regelmäßiger Weise an der Einfuhr osteuropäischer Literaturen nach Frankreich mitgewirkt. 2 Ihre literarischen Horizonte und der Zeitpunkt ihrer eigenen Laufbahn, zu dem sie diese Tätigkeit ausüben, waren durchaus verschieden, aber ein Großteil von ihnen und vor allem von denen, die sich am intensivsten dieser Aufgabe widmeten, stand der Kommunistischen Partei Frankreichs nahe oder war sogar Mitglied dieser Partei. Im Hinblick auf die Information über die osteuropäischen Länder und eine gewisse Zirkulation von Personen und Ideen zwischen diesen Ländern und dem Westen spielten die gesellschaftlichen Beziehungen zwischen kommunistischen Dichtern tatsächlich eine wichtige Rolle. In einer Nachkriegszeit, in der „es nicht viele Orte gab, an denen Gedichte publiziert wurden" 3 , können diese Beziehungen auch die Möglichkeit erhöhen, manchmal schon durch schlichte Kooptierung zu einer Übersetzung zu gelangen. In der Gesamtpopulation der Übersetzer osteuropäischer Literaturen ist die von diesen Dichtem konstituierte Teilmenge daher doppelt spezifiziert: Einerseits ist ihr Einsatz für Länder, für die sie zu literarischen Vermittlern werden, an ein politisches Interesse am Kommunismus gebunden; andererseits haben diese Dichter-und-Übersetzer im Unterschied zu professionellen Übersetzern selbst eine Position innerhalb des literarischen Feldes inne, dem sie die von ihnen übersetzten Literaturen zufuhren. Es ist daher
1
All denen, die diese Untersuchung durch ihre Lebenszeugnisse ermöglicht haben, danke ich von Herzen.
2
Ioana Popa, La Politique exterieure de la litterature. Une sociologie de la traduction des Iitteratures de l'Europe de l'Est (1947-1989), Diss. Paris 2004. Die Untersuchung bezog sich auf die Übersetzungen von Texten tschechoslowakischer, polnischer, ungarischer, rumänischer und punktuell auch russischer Autoren.
3
Interview mit Pierre Gamarra (Herausgeber der Zeitschrift Europe und gelegentlicher Bearbeiter aus Osteuropa importierter Gedichte), 8.12.2000.
258
Ioana Popa
anzunehmen, daß ihre Position als Vermittler einer ausländischen Literatur auf politischen und literarischen Ressourcen zugleich aufbaut. Eine die spezifischen sozialen, politischen, literarischen und sprachlichen Eigenschaften berücksichtigende Analyse der Voraussetzungen, die diese Dichter zur Rolle von Vermittlern prädisponieren, muß sich indessen auch fragen, zu welchen symbolischen Gewinnen ihnen die Übersetzung ihrer ausländischen Kollegen verhilft. Wir haben uns daher nicht nur zu fragen, was der Dichter aus der Übersetzung macht, sondern auch, was die Übersetzung aus dem Dichter macht, anders gesagt: Wir haben zu untersuchen, wie der Erwerb einer spezifischen Kompetenz als Vermittler sich auf die literarische Position dieser Übersetzer als französische Dichter4 und auf ihr politisches Engagement als Kommunisten und compagnons de route, als literarische Parteigänger des Kommunismus, auswirkt. Unter den französischen Dichtern, die zu Übermittlern literarischer und meist poetischer Texte aus den osteuropäischen Literaturen werden, haben wir sechs ausgewählt: Jean Rousselot, Eugene Guillevic, Charles Dobzynski, Francis Kerel, Herni Deluy, Dominique Grandmont. Der Grund dieser Auswahl liegt in der großen Anzahl der von diesen Autoren angefertigten Übersetzungen und darin, daß diese nicht ausschließlich in Anthologien oder kollektiv übersetzten Sammelwerken erschienen sind. Ihre Zusammenarbeit mit der kommunistischen oder dem Kommunismus nahestehenden Presse führte sie dazu, auch Übersetzungen oder Präsentationen osteuropäischer Autoren in Periodika wie Europe, Les Lettres Frangaises, Action Poetique, L 'Humanite zu veröffentlichen. Auf Einladung der Schriftstellerverbände oder PEN-Clubs unternahmen diese Übersetzer schließlich auch mehr oder weniger häufige und ausgedehnte Reisen in die entsprechenden Länder. Zu Beginn ihrer Tätigkeit als Übersetzer sind jedoch weder ihre poetischen noch ihre politischen Positionen, noch ihre Konzeption von dem identisch, was eine Übersetzung zu leisten hat. Wir werden zunächst die soziale Herkunft der Dichter untersuchen und sie literarisch und politisch einordnen, bevor wir die von ihnen eingenommenen Positionen mit drei Übersetzungsmethoden in Verbindung bringen, bei denen die spezifischen Kompetenzen des Dichters und des Übersetzers in verschiedener Weise zu einem .Gleichgewicht' finden. Abschließend setzen wir diese Methoden zu den politischen Strategien des Literaturexports in Beziehung, die von den Schriftstellerverbänden der verschiedenen kommunistischen Länder jeweils verfolgt wurden. Am ungarischen und tschechischen Beispiel wird sich herausstellen, in welcher Weise die entsprechenden ,Angebotsauschreibungen' dieser literarischen Institutionen den französischen Dichtern ermöglichten, als Übersetzer tätig zu werden, und gleichzeitig die Logik ihrer Arbeit unterschiedlich lenkten.
4
Vgl. auch Isabelle Kalinowski, Traduction n'est pas mediation, Diss. Paris 2 0 0 4 .
Politisches Engagement und literarischer
Transfer
259
Laufbahneffekte: Soziale Rekrutierung und schulische Ressourcen Anders als die unter den exilierten Intellektuellen rekrutierten Vermittler 5 brauchten die kommunistischen Dichter-und-Übersetzer, die der Kultur des Landes der Zielsprache angehörten, ihr Kapital an schulischem Wissen und sozialen oder politischen Beziehungen nicht zu rekonvertieren und damit einer Abwertung auszusetzen. Die meisten von ihnen müssen jedoch mit einer gewissen Knappheit an sozialem und schulischem Kapital auskommen, wie sie bei kommunistischen Intellektuellen aufgrund ihrer sozialen Laufbahn gewöhnlich anzutreffen ist. Ein Blick auf die soziale Herkunft der sechs Dichter zeigt bei fünf von ihnen relativ verwandte Eigenschaften: Jean Rousselot, der Sohn eines bei Verdun gefallenen Schmiedes und Stellmachers, wuchs bei seinen Großeltern, einem Zimmermann und einer Plätterin, auf. Eugene Guillevic ist der älteste Sohn einer Näherin und eines ehemaligen Seemanns, der Gendarm wurde. Charles Dobzynski entstammt einer in Polen ansässigen jüdischen Familie - die Mutter war Näherin, der Vater ein kleiner Textilhandwerker - , gelangte aber schon in jungen Jahren nach Frankreich, wohin die Familie aus wirtschaftlichen Gründen emigrierte. Dominique Grandmont ist Sohn eines rumänischen Juden 6 , der in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen nach Frankreich emigrierte, wo er eine Bretonin bäuerlicher Herkunft heiratete. Francois Kerel hebt sich als einziger durch seine Herkunft von den anderen ab: Er entstammt einer dem intellektuellen Bürgertum angehörenden jüdischen Familie.7 Die Laufbahnen der sechs Autoren (die überwiegend in der französischen Provinz wohnen) zeichnen sich also durch die relative Frequenz von Wanderungsbewegungen aus, die bis zur Generation der Großeltern zurückreichen. 8 Nichtsdestoweniger vollzieht sich die Sozialisation derer, die aus dem Ausland stammen, häufig in streng .assimilatorischem' Geist, der zumal mit dem Verlust der in den Herkunftsfamilien gesprochenen Sprachen einhergeht: „Meine Eltern wollten, daß ich ein braver kleiner Franzose bin, der seine Lektionen gelernt hat. Mehr wollten sie nicht von mir" 9 , berichtet Dobzynski, der heute nicht mehr Polnisch spricht. Die Biographie Grandmonts, der seinerseits nicht mehr Rumänisch spricht, zeugt ebenfalls von der ,Last', von Immigranten abzustammen
5
lona Popa, Depasser l'exil. Degres de mediation et strategies de transfert litteraire chez les exiles de l'Europe de l'Est en France, in: Geneses 2000/H.38, 5-32.
6
Den Beruf seines Vaters wollte Dominique Grandmont bei dem mit ihm durchgeführten Interview nicht nennen.
7
Diese Familie stammt wahrscheinlich aus einem mitteleuropäischen Land. Francois Kerel - dessen wahrer Name Hirsch lautet - wollte diese von den von uns interviewten Übersetzern und Dichtern weitgehend geteilte Annahme indessen nicht bestätigen.
8
Erweitert man unser Spektrum der Dichter-und-Übersetzer osteuropäischer Literaturen
um
diejenigen, die sich mehr punktuell mit Übersetzungen befaßten, trifft man auf vergleichbare Wanderbewegungen: Bernard Vargaftig und Alain Bosquet sind russischer, Claude Sernet ist rumänischer, Pierre Gamarra spanischer Herkunft. 9
Interview mit Charles Dobzynski, 11.4.2000.
260
Ioana Popa
und zugleich ein sozialer .Überläufer' zu sein, dem aufgegeben ist, die Aufstiegshoffnungen des Vaters und seinen Wunsch nach Integration ins Gastland stellvertretend in Erfüllung gehen zu lassen: „Mein Vater hat nicht nur in meine Studien überinvestiert, er hat aus mir einen ,Überfranzosen' gemacht. Ich hatte eine hundertprozentig französische Erziehung!" 10 Die mit einer solchen sozialen Laufbahn verbundenen Schulkarrieren sind selbst dann, wenn sie unter relativ günstigen Auspizien einsetzen, durch materielle Hindernisse und zeitliche Verschiebungen gekennzeichnet. Dies schlägt sich häufig in unterbrochenen, verschobenen oder .umgeleiteten' Bildungswegen und demzufolge partiell autodidaktisch erworbenen Kompetenzen nieder." So verfügt Rousselot über ein Hauptschulabschlußzeugnis, Dobzynski hat die Hauptschule ohne Abschluß beendet und Guillevic seine Schulausbildung mit dem Abitur abgeschlossen. Indessen kann die Herkunftsfamilie den „Geschmack an der Bildung" 12 wecken: So wird Dobzynski durch seine Mutter, die zahlreiche russische, polnische und jiddische Gedichte auswendig kann, in die Welt der Dichtung eingeführt. Deluy und Grandmont können auf größere Ausbildungserfolge zurückblicken, obwohl ihr Bildungsgang für beide diskontinuierlich verlief. So erwarb Deluy im Alter von 39 Jahren an der Universität Vincennes eine literaturwissenschaftliche Licence. Daß er sich zur Wiederaufnahme seines Studiums entschloß, ist auf die Bekanntschaft mit Elisabeth Roudinesco zurückzuführen, die er als junge Studentin kennenlernte, als er im Mai 1968 als Mitglied des .Kommandos', aus dem die spätere Union des Ecrivains frangais hervorging, das Hotel de Massa, den Sitz der Societe des Gens de Lettres, besetzte. 13 Seine Partnerschaft mit einer zwar jüngeren, sozial und kulturell jedoch überlegenen Frau 14 zeugt von der Funktion informeller Beziehungen für den Bildungsweg sozialer Migranten. 15 Sein spätes Interesse an einem akademischen Abschluß erlaubt Deluy eine gewisse Konvertierung im literarischen Milieu bereits
10
"
Interview mit D o m i n i q u e Grandmont, 2 . 1 1 . 2 0 0 0 . Vgl. Richard Hoggart, Deracines et declasses, in: ders., La Culture du pauvre, Paris 1970, 3 4 7 3 7 6 ; Claude Poliak, La V o c a t i o n d'autodidacte, Paris 1992.
12
Interview mit Charles D o b z y n s k i , 1 1 . 4 . 2 0 0 0 .
11
Vgl. Boris Gobille, Crise politique et incertitude: regimes de problematisation et l o g i q u e s de mobilisation d e s ecrivains en mai 68, Diss. Paris 2 0 0 3 .
14
Die Mutter Elisabeth R o u d i n e s c o s , Gattin eines Arztes rumänischer Herkunft, war am Vorabend des Zweiten Weltkriegs eine der ersten Frauen, die den Titel „medecin d e s höpitaux" erwarben. D i e Fachärztin ftir Neuropsychiatrie und Leiterin einer Klinikabteilung stand später Jacques Lacan nahe.
15
„Privilegierte B e g e g n u n g e n " beeinflussen nämlich oft den W e r d e g a n g v o n Intellektuellen der „ersten Generation", für die sie die R o l l e einer „informellen p ä d a g o g i s c h e n B e z i e h u n g " erfüllen, auf die autodidaktische Dispositionen sich stützen können. Vgl. Bernard Pudal, D e s rencontres privilegiees, in: ders., Prendre Parti. Pour une s o c i o l o g i e historique du PCF, Paris 1989, 1 2 1 - 1 2 3 .
Politisches Engagement und literarischer
Transfer
261
akkumulierter Beziehungsressourcen in eigentliches Bildungskapital, das er jedoch selbst als „Abschluß für die Katz" verspottet. 16 Dominique Grandmont absolvierte die Pariser Elite-Gymnasien Montaigne und Louis-le-Grand sowie das Jesuitenkolleg Sainte-Genevieve. 17 Seine Eltern hatten für ihn ursprünglich ein Studium an der Ecole Normale Superieure ins Auge gefaßt, bevorzugten dann jedoch die Militärhochschule Saint-Cyr als das geeigneteste Instrument, eine „edle französische Identität" 18 zu erwerben und den sozialen Aufstieg und die Integration ins Gastland in idealer Weise miteinander zu verbinden. Dem künftigen Dichter kam die elterliche Entscheidung zunächst als ein „Abweg" vor, denn statt den intellektuellen Ambitionen freien Lauf lassen zu können, die eine glanzvoll absolvierte Schullaufbahn in ihm geweckt hatte, sah er sich verpflichtet, „anderem oder dem Gegenteil [seiner] Bestimmung" nachzukommen. 19 Die als Bruch mit der bisherigen Laufbahn erfahrene Unterwerfung unter diesen Zweig der „Herstellung eines Adels" 20 vermittelt ihm letztlich jedoch das Gefühl von „Bestätigung" und sozialer Erlesenheit: Wenn einer seiner Kommilitonen von Saint-Cyr eines Tages zu ihm sagen wird: „Du gehörst zu uns!", so ist dies in Grandmonts Augen „unendlich mehr wert als jede Bescheinigung einer Staatsbürgerschaft". 21 Der Ausbildungsgang F r a n c i s Kerels schließlich unterscheidet sich insofern von dem seiner Kollegen, als er über ein Diplom in der Sprache verfügt, aus der er übersetzt: dem Tschechischen. Sein Studium der tschechischen und der russischen Sprache, das er kurz nach Kriegsende an dem angesehenen Pariser Institut National des Langues et Civilisations Orientales begonnen hat, beendet er mit zehnjähriger Verspätung mit „irgendeiner Licence" (ein Jurastudium blieb ohne Abschluß). 22 Zur Begründung dieser Wahl führt Kerel nicht etwa irgendein bestimmtes Interesse oder eine politische Überzeugung an, sondern lediglich die Verwirrungen, in denen er als Achtzehnjähriger steckte. Im September 1947 kommt er in den Genuß eines Stipendiums, das ihm erlaubt, im Rahmen des letzten akademischen Austauschprogramms zwischen Frankreich und der Tschechoslowakei, das noch vor deren Proklamation der Volksdemokratie durchgeführt wurde, zehn Monate lang seine Tschechischkenntnisse in diesem Lande zu vervollkommnen. Bescheidene oder sogar sehr bescheidene soziale Herkunft, ein gestörter Ausbildungsgang mit schwachem Ertrag an Bildungskapital, teilweise oder ganz auf autodi16 17
18 19 20 21 22
Gespräch mit Herni Deluy, 18.11.2000. Das Kolleg Sainte-Genevieve bereitet auf die Aufnahmeprüfung zu den Grandes Ecoles vor: Durch „das materialisierte Idealbild einer asketischen Erziehung [und] die totale Vereinnahmung [...] [stellt das Kolleg] einen Grenzfall [dar]" (Pierre Bourdieu, Der Staatsadel, aus dem Franz. v. Franz Hector u. Jürgen Bolder, Konstanz 2004, 100.) Interview mit Dominique Grandmont, 2.11.2000. Ebd. Vgl. Bourdieu, Der Staatsadel, 93-124. Interview mit Dominique Grandmont, 2.11.2000. Interview mit Francois Kerel, 19.8.2000.
262
Ioana Popa
daktischer Grundlage erworbene Kenntnisse: das sind die Charakteristika dieser Untergruppe von Übersetzern. Sind sie für Angehörige des literarischen Feldes nicht ungewöhnlich, so sind sie jedoch, wie wir noch sehen werden, aufschlußreich für die gewählte Übersetzungsmethode. Gleichzeitig verfugen diese Dichter-und-Übersetzer allesamt über ein politisches Kapital, das sie in Funktion ihrer Generationszugehörigkeit zu unterschiedlichen Zeitpunkten ihrer persönlichen Entwicklung wie auch der geschichtlichen Entwicklung der Kommunistischen Partei Frankreichs erworben haben.
Generationseffekte: Der Zugang zu Literatur und Politik Hinsichtlich ihrer poetischen und politischen Sozialisation verweist die soziale Laufbahn der sechs Dichter-und-Übersetzer auf ihre Zugehörigkeit zu „Generationseinheiten" 23 , die sich anläßlich unterschiedlicher kollektiver Geschehnisse konstituierten. Rousselot und Guillevic, am Vorabend des Ersten Weltkriegs geboren (1913 bzw. 1907), sind Vertreter der ersten Dichtergeneration, die sich in bezug auf den Surrealismus zu situieren sucht, sei es auch nur, um gegen ihn Stellung zu beziehen. Diese jungen Dichter debütieren oft in kleinen Zeitschriften abseits des Pariser Milieus 24 , etwa in Jeunesse, einer in Bordeaux erscheinenden Publikation, als deren Mitherausgeber Jean Rousselot zeichnet. Rousselot und Guillevic gehören zu den literarischen Neulingen der dreißiger Jahre, in denen Louis Aragon, Andre Breton, Paul Eluard, Pierre Drieu la Rochelle, Louis-Ferdinand Celine und ihre Generation zu Ansehen gelangen und zugleich zur wachsenden Politisierung der literarischen Einsätze beitragen. 25 Im Kontext der Polarisierung der politischen Optionen am Vorabend des Zweiten Weltkriegs wenden unsere beiden Autoren sich in unterschiedlichem Ausmaß und auf unterschiedlichen Wegen der Kommunistischen Partei und bald darauf der Resistance zu. Rousselot, zunächst Mitglied der Jeunesse socialiste, dann Trotzkist, bleibt in der Rolle eines intellektuellen Parteigängers, während Guillevic, bis zum Alter von dreißig Jahren „mystisch und vom Kloster angezogen" 26 , 1942 dem PCF beitritt. Während der deutschen Besatzung schreiben Rousselot und Guillevic in Zeitschriften wie Fontaine, Poesie 40, Les Cahiers de l'Ecole de Rochefort. Mehrere Angehörige dieser (im Grunde sehr eklektischen) Ecole de Rochefort 27 , unter ihnen Jean Follain, Jean Cayrol, Michel Maroll, Michel Beallu, Edmond Humeau, zählen übrigens zu den späteren Ge-
23
Karl Mannheim, Das Problem der Generationen, in: Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie 1928, 1 5 7 - 1 8 5 , 3 0 9 - 3 3 0 .
24
Zu diesen Zeitschriften gehören Sagesse, Le Pain Blanc, Les Cahiers du Fleuve, Sang nouveau, Le Dernier Carre, La Hune. Hier publizieren u.a. Jean Follain, Jean Cayrol, Michel Manoll, Edmond Humeau und Gaetan Picon.
25
Gisele Sapiro, La Guerre des ecrivains (1940-1953), Paris 1999, 76-78. Eugene Guillevic, Choses parlees. Entretiens, Seyssel 1982, 38.
26 27
Vgl. Jean-Yves Debreuille, L'Ecole de Rochefort: theorie et pratique de la poesie, 1941-1961, Lyon 1987.
Politisches Engagement und literarischer
Transfer
263
legenheitsübersetzern osteuropäischer Dichter (sie gelangen aber auch über nichtkommunistische Kanäle zur Übersetzung). Am Ende des Kriegs sind sie Vertreter einer „bereits vom Krieg gehärteten" Generation28; oft gehören sie dem Comite National des ' 29 Ecnvains an. Charles Dobzynski (geboren 1930) und Francois Kerel (geboren 1928) gehören zu den sich um Aragon und Elsa Triolet scharenden jungen Dichtern, die bei den Samstagstreffen des Comite National des Ecrivains poetisch und politisch sozialisiert worden sind und sich der Literatur und der Kommunistischen Partei gleichzeitig zuwenden. 30 Diese jungen Dichter haben Eluards Poem Liberte und Aragons Kriegsdichtungen zum ersten Mal in Form von Manifesten gelesen und Aragon selbst zur emblematischen Gestalt erhoben: „Wir waren alle von diesem alten Rattenfänger hingerissen. Sie können sich nicht vorstellen, was für einen Einfluß er auf uns alle haben konnte! Er hat uns enorm beeinflußt, wahnsinnig! Sie können sich gar keinen Begriff davon machen! Ich war umnebelt von Aragon", erzählt Kerel.31 Louis Aragon, geboren 1897, hat sowohl im literarischen Feld als auch unter den Parteigängern des Kommunismus eine besondere Position inne. Mit Breton und Soupault gründet er 1919 die dem Dadaismus nahestehende Zeitschrift Litterature, 1924 beteiligt er sich an der Gründung der surrealistischen Bewegung, ab 1921 gehört er zu den Autoren der Editions de la NRF.n Schon 1921 hatte er versucht, Mitglied der Kommunistischen Partei zu werden, 1927 wird er als erster Surrealist dort aufgenommen. Mit seiner Begleiterin Elsa Triolet (deren Schwester Lili Brik die letzte Begleiterin Majakowskis war) besucht er 1930 zum ersten Mal die Sowjetunion, wo er an der Konferenz der Revolutionären Schriftsteller in Charkow teilnimmt. Nach einer Selbstkritik, in der er alles zurücknimmt, was im Zweiten Surrealistischen Manifest in Widerspruch zum dialektischen Materialismus stehen könnte, entfernt Aragon sich mehr und mehr von der Gruppe der Surrealisten. Anschließend ist er als Journalist in Moskau bei der Redaktion der französischen Ausgabe der Internationalen Literatur tätig (1932-1933), dann bei dem PCF-Organ L'Humaniti (1933-1934) und bei der Commune (der Zeitschrift der französischen „Vereinigung revolutionärer Schriftsteller und Künstler"), deren Leitung er 1937 übernimmt. Als Parteiintellektueller immer bedeutender geworden, übernimmt Aragon schließlich die Leitung der 1937 gegründeten kommunistischen Tageszeitung Ce soir. Gleichzeitig entwickelt er in seinem literarischen Werk (vor allem Die Glocken von Basel und Die schönen Viertel) einen Realismus, der eine französische Spielart des Sozialistischen Realismus sowjetischer Provenienz darstellen soll.
28 29
30
31 32
Interview mit Bernard Vargaftig, 28.12.2000. Im Februar 1943 gegründeter, ursprünglich gegen die deutsche Besetzung gerichteter Schriftstellerverband [Anm. d. 0.]. Guillevic bleibt bis in die siebziger Jahre hinein Schatzmeister des CNE. Vgl. dazu Sapiro, La Guerre des ecrivains. Wir möchten hervorheben, daß F r a n c i s Kerel sich bei dem mit ihm durchgeführten Interview von seinem vergangenen politischen Engagement radikal distanzierte. Interview mit F r a n c i s Kerel, 18.8.2000. Vgl. dazu Norbert Bandier, Sociologie du surrealisme 1924-1929, Paris 1999.
264
Ioana
Popa
Aragon schließt sich 1941 der Resistance an, beginnt ab 1942, im Untergrund zu veröffentlichen, und nimmt an der Gründung des Comite national des ecrivains teil (am Ende des Kriegs wird er Generalsekretär, ab 1957 Präsident dieses Schriftstellerverbandes). 33 Der Glorienschein, den ihm seine Rolle in der Resistance verleiht, büßt bei Kriegsende vor allem aufgrund seines kommunistischen Engagements und seines Eintretens für den Lyssenkismus an Glanz ein: Die Neuveröffentlichung der im Untergrund entstandenen Werke (u.a. La Diane Franfaise und Servitude et Grandeur des Frangais) in den Jahren 1944 und 1947 gleicht den Mißerfolg der Werke Aurelien und Le Nouveau Creve-Cceur (1944 bzw. 1948, Gallimard) nicht aus, und den Rückzug auf die kulturelle Sphäre des PCF zwischen 1947 und 1953 begleitet das Scheitern des Romans Les Communistes (den Aragon nicht beendet und für die Veröffentlichung im Rahmen der mit Elsa Triolet herausgegebenen CEuvres romanesques croisees völlig umschreibt). Zur gleichen Zeit akkumuliert Aragon innerhalb des PCF ein politisches Kapital, das weit über das hinausgeht, was einem Parteiintellektuellen normalerweise zugänglich ist: 1950 wird er zum stellvertretenden Mitglied des Zentralkomitees gewählt, 1954 auf dem Kongress von Ivry zum ordentlichen Mitglied (er bleibt es bis an sein Lebensende). Der ihm 1957 für Verdienste um den Frieden verliehene internationale Leninpreis krönt seinen offiziellen Status auf der Ebene des gesamten kommunistischen Blocks. Mit der Veröffentlichung von La Semaine Sainte (Gallimard 1958), die von der Literaturkritik und der Leserschaft positiv aufgenommen wird, kehrt Aragon ins literarische Feld zurück, und zwar sowohl ins Feld der eingeschränkten wie auch der dem breiten Publikum geltenden Produktion. Das verpflichtet ihn, der Logik des literarischen Feldes und der (partei-) politischen Welt gleichermaßen Rechnung zu tragen, wozu er sich verschiedener Strategien bedient, zum Beispiel der Trennung von Ort und Typus der jeweiligen literarischen oder politischen Intervention. 34 Gleichzeitig setzt Aragon sich innerhalb des PCF für die Linie des aggiornamento ein, die mit der Tagung des Zentralkomitees in Argenteuil 1966 (s.u.) einen ihrer Höhepunkte erlebt. Im selben Jahr bezieht er außerdem Position gegen die in Moskau gegen die Dissidenten Sinjawski und Daniel durchgeführten Prozesse, und 1968 verurteilt er die Intervention der zur Niederschlagung der Reformen des Prager Frühlings in die Tschechoslowakei einmarschierten Truppen des Warschauer Pakts. Nichtsdestoweniger nimmt er die Medaille der Oktoberrevolution an, die ihm anläßlich seines 75. Geburtstags verliehen wird. Von 1974 bis zu seinem Tod (1982) beschäftigt er sich namentlich mit der Veröffentlichung seines dichterischen Gesamtwerks. Kerels erster G e d i c h t b a n d erscheint 1 9 5 2 bei S e g h e r s unter d e m Titel Au croisement notre
amour
et des combats
de
( „ W o sich unsere Liebe mit den K ä m p f e n kreuzt") - ein
Titel, der das v o n i h m d a m a l s vertretene dichterische E n g a g e m e n t ausdrückt; übrigens meint er, g a n z K i n d seiner Zeit, daß die P o e s i e als literarische Gattung „ z u m E n g a g e ment prädisponiert". 3 5 D o b z y n s k i bestätigt d i e s e v o n d e n M i t g l i e d e r n der Generationseinheit, z u der er sich selbst zählt, w a h r g e n o m m e n e Einstellung: „Ich w a r M i t g l i e d der K o m m u n i s t i s c h e n Partei, für m i c h w a r e s eine E p o c h e , in der e s bei d e n j u n g e n Dichtern m e i n e r G e n e r a t i o n
33 34
'5
e i n e n W i l l e n gab, in Fortsetzung
der D i c h t u n g
der
Vgl. dazu Sapiro, La Guerre des ecrivains. Vgl. dazu Philippe Olivera, Le sens du jeu. Aragon entre litterature te politique (1958-1968), in: Actes de la recherche en sciences sociales 1996/H.l 11-112, 76-85. Ebd.
Politisches Engagement und literarischer
Transfer
265
Resistance weiter engagierte Gedichte zu schreiben [...], auch mit Versen in die Politik einzugreifen." 36 Die an Aragon orientierten Jungdichter verdanken ihr literarisches Debüt oder ihre Mitarbeit bei der Kommunistischen Presse oft seiner Unterstützung. Dies gilt auch fur Kerel, seit Beginn der fünfziger Jahre Mitarbeiter der Zeitschriften Les Lettres Frangaises und Europe, und für Dobzynski, der 1950 Mitglied der Redaktion von Ce soir wird und ab 1954 für die Lettres Frangaises Filme bespricht. 37 Alle diese jungen Dichter nehmen Rolle und Platz des Schriftstellers durch das heroische Prisma der Resistance wahr, die ihre politische Einstellung und ihre literarischen Ambitionen formt: „Sie können sich nicht vorstellen, was es am Ende des Krieges bedeutete, Schriftsteller zu sein: Es war das Größte. So hatte ich es erlebt, also wollte ich auch zu den Größten gehören", erzählte uns Bernard Vargaftig 38 - auch er damals ein junger Dichter, der 1955 bei den Lettres Frangaises und bei Gallimard debütierte (jeweils dank Aragon) und gelegentlich auch ungarische Gedichte übertrug. Der .Druck', den dieses Modell von Aktivismus und das Paradigma engagierter Literatur auf die Angehörigen dieser Generation ausübten, erwies sich in manchen Fällen als der politischen Tradition der Familie überlegen. Kerel unterscheidet sich dadurch einmal mehr von seinen Kollegen, daß sein Engagement auf keinerlei Einfluß von Seiten Verwandter zurückzuführen ist, im Gegenteil: Mütterlicherseits hat seine Familie immer für die Rechte gestimmt, nur sein Vater wählte das linke Zentrum, blieb aber, wie Kerel betont, stets Antikommunist. Er selbst war, wie er erklärt, dem Proletkult des PCF abgeneigt und hielt seine Intellektuellen (abgesehen von den Dichtern) für „töricht und immer sehr unsympathisch". 39 Als Beweggründe für seine Mitgliedschaft erwähnt er „die Anziehungskraft schmutziger Hände, das Fasziniertsein durch die einfachen Leute, die man dort traf, und durch eine Welt, die ich nicht kannte". 40 Diese soziale ,Exotik' wäre für sein Engagement vielleicht nicht ausschlaggebend gewesen, hätten das Erlebnis des Zweiten Weltkriegs und vor allem ein erster Aufenthalt in der Tschechoslowakei es nicht gestützt. Dort erfuhr Kerel im Februar 1948 die Machtergreifung der Kommunistischen Partei als „etwas Wundervolles" (heute beeilt er sich jedoch hinzuzufügen: „Das nenne ich die Verblendung jener Epoche"). 41 Diese Begeisterung ist weder überraschend noch außergewöhnlich, ist doch das studentische Milieu, das er damals frequentierte, sowohl von linken Vorstellungen geprägt als auch von den Werken einer ganzen Plejade großer Dichter: Vitezslav Nezval, Vladimir Holan, Frantisek Halas, Josef Hora... Mit dem Zugang zu dieser Poesie und zur
36
Interview von Philippe Olivera mit Charles Dobzynski, 2.5.1991. (Wir danken Philippe Olivera für die Überlassung dieses Interviews.)
37
Als die Lettres
Frangaises
1972 ihr Erscheinen beenden, wird er Mitarbeiter und später neben
dem Herausgeber Pierre Gamarra Chefredakteur der Zeitschrift Europe. 3S
Interview mit Bernard Vargaftig, 28.12.2000.
39
Interview mit F r a n c i s Kerel, 19.8.2000.
40
Ebd.
41
Ebd.
Ioana Popa
266
tschechischen Sprache erschloß Kerels Reise ihm zugleich und implizit einen Weg zur Politik: Sein politisches Engagement verdankt er eigenen Angaben zufolge gerade der tschechischen Poesie und vor allem Nezval, dessen bedeutendster Übersetzer er werden sollte.42 Während dieses Aufenthalts in Prag begegnet er zum ersten Mal auch Aragon (daß diese Begegnung .indirekt' verläuft - Kerel nimmt lediglich an einem Vortrag des französischen Schriftstellers teil macht sie um so mythischer). Kerels Politisierung ereignet sich also in einem Kontext, in dem Poesie, große Männer (Nezval, Aragon), große historische Ereignisse (die Erfahrung des Kriegs, der Prager Putsch) einander unentwirrbar durchdringen. Für andere Dichter und Übersetzer hingegen verstärkt die Anziehungskraft der Kommunistischen Partei einen Politisierungsprozeß, der bereits in der Familie begonnen hat. Dies gilt für Dobzynski, dessen Vater, zu Beginn der zwanziger Jahre ein linker Zionist, sich anschließend dem PCF annähert, ohne indessen Parteimitglied zu werden. Es gilt auch fur Deluy, dessen Familie, ansässig in einer Arbeitervorstadt von Marseille, in der „die jungen Leute entweder Kommunisten oder Gauner wurden"43, sich aktiv politisch betätigte. Daß er sich mit sechzehn Jahren der kommunistischen Jugendorganisation Jeunesse Communiste anschloß, ist für ihn „ein natürlicher Schritt".44 Obschon Deluy (geboren 1931) derselben Generationseinheit wie Kerel und Dobzynski angehört, unterscheidet seine Laufbahn sich sowohl in räumlicher wie in zeitlicher Hinsicht: Er tritt der Kommunistischen Partei etwas später bei (1951) und debütiert weitab vom Pariser literarischen Milieu in der Marseiller Zeitschrift Action Poetique (1954). Dieses vom Surrealismus und vom Marxismus gleichermaßen beeinflußte Organ wurde ein Jahr zuvor gegründet und ab 1958 von Deluy (als Chefredakteur) geleitet. Action Poetique wird von einer Gruppe mehrheitlich marxistischer Dichter gegründet, die sich 1950 zusammenfand. Die Zeitschrift hat von vornherein Berührungspunkte sowohl mit dem Surrealismus als auch mit dem Marxismus. Hauptsächlich wird sie zunächst von Gerard Neveu (einem ehemaligen Mitglied der Resistance) und Jean Mahieu gestaltet. Die 1958 umgestaltete Zeitschrift verspricht, weiterhin „Kampforgan einer Gruppe junger Dichter, Ausdrucksstätte und Sammelplatz der jungen Dichtung" zu bleiben. 45 Sie bekennt sich auch dazu, der Unkenntnis der französischen Leser hinsichtlich ausländischer Literaturen durch eine regelmäßig erscheinende Chronik abhelfen zu wollen. Die Mehrzahl ihrer Mitarbeiter sind damals zwar Mitglieder des PCF, aber die Zeitschrift, die nicht von der Partei finanziert wird, will nicht nur eine gewisse ökonomische, sondern auch politische und ästhetische Unabhängigkeit bewahren. Dabei helfen ihr die Entfernung vom Pariser Literaturbetrieb, aber
42
Nezval war der bedeutendste Vertreter des tschechischen Surrealismus. 1924 tritt er der Kommunistischen Partei bei. In der Frage der Moskauer Prozesse der dreißiger Jahre schließt er sich den Positionen der Partei an, was die Spaltung der surrealistischen Bewegung nach sich zieht.
43
Interview mit Henry Deluy, 18.11.2000. Ebd. Vgl. Henri Deluy, Action Poetique, nouvelle serie 1.1958.
44 45
Politisches Engagement und literarischer
Transfer
auch die noch geringe Anerkennung, deren sich die jungen Poeten der Action erfreuen. 46
267 Poetique
Stärker aber als durch diese leichten Unterschiede hebt Deluy sich von den anderen Dichtern und Übersetzern ab durch seine - nachträglich zum Gegensatz stilisierte Distanz gegenüber Aragon. Wenn er ihm während unseres Interviews nicht die (fast obligatorische) Anerkennung als „großer Schriftsteller" versagt, setzt er doch alles daran, sich von dem Surrealisten Aragon und von dem Vertreter der poesie nationale ebenso zu distanzieren wie von dem Mitglied des Zentralkomitees, das er heute als „typischen Stalinisten" bezeichnet. Den Widerspruch zwischen Aragons literarischen und politischen Positionen unterstreichend, befleißigt er sich, dessen „Doppelspiel" zu entlarven 47 und sich überhaupt in jedem Punkt von ihm abzuheben, selbst dann, wenn seine eigene politische Haltung sich mit der Aragons traf, etwa bei der Verurteilung des Einmarsches der Truppen der Warschauer Paktstaaten in die Tschechoslowakei im Jahr 1968 („Da war auch Aragon dagegen, aber ich noch viel mehr!"). 48 Gegen Aragon zu sein, wird fur ihn zum distinktiven Merkmal: Deluy meint, der einzige französische Dichter zu sein, der ein Buch Aragons mit einer Widmung erhalten hat wie dieser: Pour Henry Deluy, qui m 'oublie ä Paris („Für Henry Deluy, der mich in Paris vergißt"). 49 Als Aragon in den fünfziger Jahren die Rückkehr zum traditionellen Vers predigt, verweigert Deluy (anders als Guillevic) ihm die Gefolgschaft, bleibt jedoch innerhalb der Action Poetique ein entschlossener Vertreter der aus der Resistance hervorgegangenen Tradition engagierter und parteilicher Poesie. Seine neorealistische Position gerät sowohl innerhalb seiner eigenen Zeitschrift (wo diese Position mit [neo-]surrealistischen und vom Beginn der sechziger Jahre an auch mit formalistischen koexistiert) 50 wie auch allgemein innerhalb des literarischen Feldes (wo das Paradigma der engagierten Literatur vom Ende der fünfziger Jahre an verlischt)51 zunehmend ins Abseits. Bis zum Ausbruch der Krise im Mai 68 verweigert Deluy entschieden jede Öffnung gegenüber dem Formalismus oder dem literarischen Avantgardismus und verharrt in einer ästhetischen Rigidität, die im übrigen starke Spannungen innerhalb der Zeitschrift hervorruft. Da er sich auf politischem Gebiet ähnlich starr verhält, muß Deluy es sich ge46
Interview mit Henry Deluy, 18.11.2000. Eine offiziöse Geschichte der Action Poetique Boulanger vorgelegt: Une „Action Poetique" de 1950 ä aujourd'hui, Paris 1998.
47
Philippe Olivera, Le sens du jeu, 76-85. Interview mit Henry Deluy, 18.11.2000.
48
hat Pascal
49
Ebd.
50
Zur Koexistenz dieser drei Tendenzen und zur ästhetischen „Unbestimmtheit" der Action Poetique am Vorabend des Mai 68 vgl. Boris Gobille, La crise politique comme denouement d'une crise collective: le cas d'Action Poetique, in: ders., Crise politique et incertitude, 618-639. Diese ästhetische Unbestimmtheit erlaubt es jedoch, sich vielfältigen Tendenzen zu öffnen und die Mitarbeit von Dichtem zu gewinnen, die unterschiedliche Positionen im literarischen Feld besetzen: Was unseren Zusammenhang betrifft, so veröffentlichen Guillevic, Dobzynski und Kerel in dieser Zeitschrift; die beiden letzteren treten 1963 in die Redaktion ein.
51
Anna Boschetti, Sartre et „Les Temps Modernes", Paris 1985.
268
Ioana Popa
fallen lassen, als „Stalinist" taxiert zu werden. Er selbst hält sich im Rückblick für einen „damals sehr, sehr harten Kommunisten" und für denjenigen unter den Mitarbeitern der Action Poetique, „der am längsten widerstanden hat" 52 , da er trotz Krisen wie der Niederschlagung des Ungarnaufstands 1956 (den er „als relativ orthodoxer Kommunist mit Hintergedanken" erlebt) 53 die kommunistische Wirklichkeit verleugnete. Dominique Grandmont schließlich (geboren 1941), der jüngste der Dichter und Übersetzer, deren Werdegang hier untersucht wird, konnte wie Dobzynski und Kerel auf Befürwortung Aragons in den Lettres Franqaises debütieren (1964), die bis in die sechziger Jahre hinein ein Sprungbrett für poetische Talente blieben. 54 Auch für ihn ist Aragon der „Schriftsteller der Resistance", eine Art Schutzpatron und fast „ein Ersatzvater". 55 Allerdings ist die Beziehung zur Resistance (der Grandmonts Vater nahestand) für den während des Kriegs geborenen jungen Mann loser: Sie steht für literarische Leitfiguren (Aragon, Frenaud ...) und biographische Rekonstruktionen („es hat mich zutiefst geprägt, im Winter 1940/41 geboren zu sein") 56 , spielt aber für seine politische Sozialisation keine direkte Rolle. Diese Sozialisation ist stärker vom Konfrontationsklima des Kalten Kriegs geprägt, vollzieht sich also in einem anderen kontextuellen Rahmen als die der Älteren. Die „strenge" Erziehung 57 , die Grandmont ganz wie zahlreiche Angehörige seiner Generation erhalten zu haben meint, beeinflußt den Zeitpunkt, die Vektoren und den Stil seiner Politisierung, die er als diffus und sehr frühzeitig bezeichnet (denn sie vollendet sich fast schon während seiner Gymnasialjahre am Lycee Louis-le-Grand, einem „sehr starken politischen Resonanzkörper"). 58 Die Kolonialkriege tragen ebenfalls zur Ausbildung seiner politischen Einstellungen bei, aber erst als 1972 die Sozialistische und die Kommunistische Partei ein gemeinsames Programm unterzeichnen, tritt Grandmont dem PCF bei. Weiter unten werden wir sehen, in welchem Maße diese Entscheidung auch von der direkten Kenntnis eines sozialistischen Landes bestimmt wurde.
52 53 54 55 56 57 58
Interview mit Henry Deluy, 1 8 . 1 1 . 2 0 0 0 . Ebd. Philippe Olivera, Aragon et Les Lettres F r a n c i s e s ( 1 9 6 5 - 1 9 7 2 ; , Paris 1990, 6 8 - 7 0 . Interview mit D o m i n i q u e Grandmont, 2 . 1 1 . 2 0 0 0 . Ebd. Ebd. Ebd.
Politisches Engagement und literarischer
Transfer
269
Übersetzertypen Die Beziehung, die unsere Untergruppe von Vermittlern zur Übersetzung unterhält, ist von ihrer vorgängigen Zugehörigkeit zur Welt der Literatur überdeterminiert: Allesamt werden sie Übersetzer, weil sie in erster Linie Dichter sind. Die unterschiedliche Generationszugehörigkeit, ihre diversen poetischen Positionen und ihre mit unterschiedlichen sozialen Stellungen verbundenen kulturellen und sprachlichen Kapitale verbinden sich (aber decken sich nicht immer) mit unterschiedlichen Konzeptionen von Übersetzung. Die vorgängige Zugehörigkeit dieser Übersetzer zum literarischen Feld zieht ein weniger offenkundiges Merkmal nach sich: Die Verbindung von Übersetzertätigkeit und sprachlicher Kompetenz kann von der völligen (und auf den ersten Blick paradoxen) Abkopplung von der Fremdsprache reichen, die den Dichter-und-Bearbeiter kennzeichnet, bis hin zu der (weniger häufig festzustellenden) Priorität der tatsächlichen Sprachkenntnis. Mit anderen Worten: Das Gleichgewicht zwischen Dichter und Übersetzer ist instabil und die Waagschale neigt sich dem ersten Element dieser Verbindung zu, wodurch die Übersetzung - in manchen Fällen um den Preis einer völligen Unkenntnis der Ausgangssprache - derart „aufgewertet" wird, daß sie sich einer dichterischen Schöpfung anähnelt und damit den Rang eigenständiger „Autorschaft" gewinnt. 59 Der Dichter-und-Bearbeiter Am häufigsten ist in unserer Unterpopulation der Typus des Bearbeiters anzutreffen: Ein Dichter, der sich die Sprache, aus der er übersetzt, nicht angeeignet hat60, sondern Wort für Wort vorgeht und seine Kompetenz als Übersetzer aus seinem angeborenen dichterischen Talent und der ,Empathie' mit dem dergestalt übersetzten Poeten ableitet. Die schlichte sprachliche Kompetenz wird daher weder als unerläßlich noch auch nur als wichtig erachtet, im Gegenteil: „Die unseligsten Voraussetzungen für eine Übersetzung sind vereint, wenn der Übersetzer über keine poetischen Gaben verfügt, sondern aus seiner Beherrschung zweier Sprachen die Vollmacht ableitet, jeden beliebigen Dichter zu übersetzen", schreibt Elsa Triolet in ihrem Die Kunst des Übersetzens überschriebenen Vorwort zu einer 1965 erschienenen Anthologie russischer Dichtung.61 Hingegen sind, wie sie fortfährt, „die idealen Bedingungen [erreicht], wenn ein großer
59
Dominique Grandmont, Une fa?on d'etre, in: ders., Le Voyage de Traduire, Creil 1997, 127.
60
Dieses Modell ist in der Geschichte der dichterischen Übersetzungen ins Französische weder neu noch „regional" begrenzt. Vgl. Isabelle Kalinowski, Une histoire de la reception de Hölderlin en France, 1925-1967, Diss. Paris 1999.
61
An dieser Anthologie beteiligen sich als Übersetzer u.a.: Aragon (der dank Elsa Triolet seit 1933 als freier Übersetzer Majakowskis hervortreten konnte), Guillevic, Dobzynski und Kerel. Dobzynski indessen verfügt über eine gewisse und Kerel über eine gute Kenntnis des Russischen.
270
Ioana Popa
Dichter einen anderen großen Dichter übersetzt" und es ihm gelingt, durch „Kongenialität" und seelische Verwandtschaft „das Wunder von Zwillingsgedichten" hervorzurufen. 62 Setzt man solche Übersetzungsprinzipien in Verbindung zu dem Ausbildungsprofil ihrer Befürworter - Rousselot, Guillevic und ihr jüngerer Kollege Dobzynski - , so zeigt sich, daß die Inhaber des geringsten schulischen Kapitals am explizitesten für autodidaktische Praktiken plädieren. Wenn zwei von ihnen - Guillevic und Dobzynski - auch aus Sprachen übersetzen, die sie beherrschen, so verdanken sie diese Kenntnis großenteils ihrer primären Sozialisation, die sie ihnen auf .natürliche' Weise vermittelt hat: Guillevic wächst im Elsaß auf, wo das Deutsche noch immer Verkehrssprache ist, während Dobzynski, dessen Muttersprache Jiddisch ist, das Deutsche während des Kriegs durch seinen Vater erlernt. Besondere biographische Umstände bringen es mit sich, daß er mit Übertragungen aus dem Polnischen beauftragt wird, der Sprache seines Herkunftslandes, während die Migration seiner Familie und ihre Integrationsbemühungen das Erlernen des Polnischen bei ihm unterbrochen haben. Als Aragon ihm vorschlug, Adam Mickiewicz zu übersetzen, soll er dies vor allem mit Berufung auf seine Eigenschaft als Dichter getan haben: „Du als geborener Pole mußt unbedingt etwas machen. Du bist Dichter, übersetze uns Mickiewicz!" 63 Wort für Wort zusammenklaubend und dem Vorlesen des polnischen Textes durch seine Mutter lauschend („was mir eine Vorstellung von dem Rhythmus, dem Ton, dem Reim gegeben hat") 64 , nimmt Dobzynski sich der Verse des großen polnischen Klassikers an. Im Verlauf von Gesprächen haben mehrere der Dichter-und-Bearbeiter beschrieben, wie ihre Arbeitsmethode aussah, welche poetische Herausforderung diese Tätigkeit für sie darstellte und welche spezifischen Kompetenzen sie dabei einsetzten: Das Empfinden für den Klang statt der wirklichen Beherrschung des Sinns, die Fähigkeit, eine Fremdsprache zu hören statt sie zu verstehen, stellen eine Art Know-how dar, das sich in allen Stücken schulischem Lernen und .lehrerhaftem' Stil widersetzt. Die freie, bearbeitende Übersetzung wird übrigens manchmal ausdrücklich in Konkurrenz zu der verabscheuten Gestalt des Akademikers verstanden, der sich durch wissenschaftlich erworbene und durch Diplom ausgewiesene Sprachkenntnis definiert: „Es ist nicht einsichtig, warum und wie Universitätszeugnisse oder andere Titel irgendeine dichterische Begabung verleihen sollten", erklärt Guillevic. „Ein Gedicht übersetzen ist etwas ähnliches wie ein Gedicht schreiben. Dafür muß man Dichter sein." 65 Daher geht diese Kompetenz auch häufig mit einem gewissen Zögern in bezug auf die Benennung
62
Elsa Triolet, L'art de traduire, in: dies. Hg., La poesie russe, Paris 1965, 9-16.
63
Interview mit Charles Dobzynski, 11.4.2000.
64
Ebd. Eugene Guillevic, Preface ä la premiere edition, in: ders., Mes Poetes hongrois, Budapest 1967, 20f.,26f. Zum Gegensatz zwischen „schöpferischer" und „akademischer" Übersetzung vgl. Isabelle Kalinowski, La vocation au travail des traductions, in: Actes de la recherche en sciences sociales 2002/H. 1 4 4 , 4 7 - 5 4 .
65
Politisches Engagement und literarischer
Transfer
271
der Tätigkeit und ihres Ergebnisses einher: „Bearbeitung" oder „Übersetzung"? 66 Die Bearbeitung-und-Übersetzung kann auch rückwirkend die poetischen Kompetenzen der Bearbeiter befruchten: Für Guillevic ist die Übersetzung „eine ausgezeichnete Schreibschule, die uns in dem fördert, was in Sachen Dichtung wesentlich ist: Rhythmus und Melodie." 67 Dieser Übersetzungsansatz erlaubt den Dichtern-und-Bearbeitern, sich zwischen mehreren Sprachen und Literaturen hin und her zu bewegen, sind die geforderten Kompetenzen doch unbegrenzt übertragbar. Nach Maßgabe der Ausschreibungen' von seiten diverser Schriftstellerverbände kommunistischer Länder übersetzen sie abwechselnd ungarische, rumänische, polnische oder russische Gedichte. Was nämlich variiert (und damit die Distanz oder Nähe zu der einen oder anderen Literatur erklärt), sind vor allem die unterschiedlichen institutionellen Arrangements, die dem Dichter-und-Bearbeiter in den diversen kommunistischen Ländern zur Durchführung seiner Arbeit zur Verfugung gestellt werden. Auch unter den kommunistischen Dichtern-und-Bearbeitern herrschen unterschiedliche Beziehungen und .Affinitäten' gegenüber den osteuropäischen Ländern (dasselbe gilt fur die verlegerischen Aktivitäten der Kommunistischen Partei Frankreichs). Wenn die Übersetzer Ungarn besonders schätzen, so trägt dazu nicht nur das politische und geistige Klima des Landes viel bei, sondern auch insbesondere die von seinem Schriftstellerverband und seinem Pen-Club verfolgte Politik, in dieser Hinsicht eine der aktivsten aller osteuropäischen Länder. Indirekt erhöhen diese Institutionen den .Export' literarischer Werke in den Westen, indem sie die französischen Dichter zu Bearbeitungen von Werken anregen, die in einer als besonders schwierig geltenden Sprache verfaßt sind: Sie laden systematisch nach Ungarn ein und bieten sogar einen einheimischen Verlag für die fertiggestellten Übersetzungen (den ungarischen Corvino-Verlag, der fremdsprachige Bücher fur den Vertrieb in westlichen
66
Aus unserem Interview mit Jean Rousselot, 8.10.1999: „Das waren völlig unglaubliche Erfahrungen [...] Was mich angeht, ich habe eine bestimmte Arbeitsmethode. Und wenn man mir den Text aus einer Sprache, die ich nicht kenne, Wort für Wort übersetzt, akzeptiere ich nicht immer, ich bin ziemlich widerspenstig. Ich habe sehr viel Gespür für Klänge. Das Ungarische zum Beispiel, das glaube ich zu verstehen... (mehr will ich nicht sagen, zum Beispiel, daß ich es spreche). Ich habe Gespür für diese Sprache und verstehe, wie sie aufgebaut ist. Das ist schon viel. Es ist oft passiert, daß ich mir sagte: ,Nein, das da, das paßt gar nicht. Sie wollen mir einreden, daß er das sagen wollte. Gut, einverstanden, aber er hat es sicher viel besser gesagt... Das Wort, das er hier verwendet hat, finde ich anderswo wieder, er hat also Wert darauf gelegt, es gab eine Harmonie in seinem Geist, ein Gleichgewicht.' , Aber ja, Sie haben recht!' Was die Arbeiten, an denen ich teilnahm, immerhin verbesserte... Da sie meinten, daß ich ein guter Bearbeiter, ein guter Übersetzer bin, haben sie mich nachgefragt [auch in der Slowakei]. Also was man mir da als Übersetzung gab, war... ich weiß nicht was, lehrerhaft, da wollte ich die Originaltexte haben, ich wollte Wörterbücher, dann habe ich versucht, Slowakisch zu lernen... Ich verstand in Wirklichkeit nichts. Aber es hat mir doch immerhin erlaubt, die Wörter besser zu setzen, dahin, w o sie sein mußten."
67
Eugene Guillevic in: ders./Jacques Lardoux, Humour-Terraque. Entretiens-Lectures, Paris 1997, 75.
Ioana Popa
272
Ländern herausbringt). 68 Schließlich tragen auch manche Vermittler - im vorliegenden Fall ungarische - zum Aufbau dieser Netzwerke bei. Für die Kontakte mit Frankreich übernahm Gyula Illyes diese Rolle in exemplarischer Weise. Als junger Avantgardist hatte er sich bei seinem ersten Pariser Aufenthalt in den zwanziger Jahren den französischen Surrealisten angenähert, was ihm den Ruf eines frankophonen und frankophilen Dichters einbrachte. Die bei früherer Gelegenheit hergestellten Kontakte erneuert Illyes im veränderten politischen Kontext der Nachkriegszeit, was ihm sowohl intern (in Ungarn) wie extern (in Frankreich) zu literarischer und politischer Legitimation gereicht: Unter den Dichtern, die er nunmehr nach Ungarn holt, figurieren ehemalige Surrealisten, die jedoch wie Eluard zum Beispiel 69 - nunmehr für den Beitritt der französischen Intellektuellen zum PCF stehen. Vom Ende der vierziger Jahre an wird Illyes daher zu demjenigen, der in Hinsicht auf den literarischen Austausch „alles lenkt, was zwischen Frankreich und Ungarn geschieht". 70 Unvermeidlicherweise ist die Logik des literarischen Transfers von der Betreuung der Dichter-und-Bearbeiter durch die Schriftstellerverbände und Pen-Clubs einerseits, von ihrem durch völlige Unkenntnis der Landessprache begrenzten Spielraum andererseits bestimmt. In der Auswahl der zu übersetzenden Texte sind sie stark eingeschränkt - tatsächlich können sie nur innerhalb eines von ihren Gastgebern bereits zusammengestellten und vorübersetzten Textkorpus wählen. Die Übersetzungen der Dichter-undBearbeiter sind daher faktisch Bestellungen, die von den offiziellen Vertretern der .exportierenden' Literatur in Auftrag gegeben wurden. Um ihre passive Rolle bei dieser Vermittlertätigkeit zu rechtfertigen, fuhren manche schlicht ihre an Gleichgültigkeit grenzende , Außenposition' gegenüber der Literatur ins Feld, deren Botschafter sie sind: „Im allgemeinen haben sie mir vorgeschlagen: ,Da! Wenn Sie das machen könnten, das wäre interessant.' Ich hatte keine besonderen Vorlieben, ich war ja kein Ungar." 71 Der relativ institutionalisierte Charakter dieser Zusammenarbeit hindert die Dichter-undBearbeiter indessen nicht daran, informelle Beziehungen auch freundschaftlicher Art zu
68
Zum Exportnetz der osteuropäischen Literaturen vgl. Ioana Popa, Un transfert litteraire politise. Circuits de traduction des litteratures d'Europe de l'Est en France 1947-1989, in: Actes de la recherche en sciences sociales 2002/H.144, 55-69. Zu Corvina vgl. dies., La Politique exterieure de la litterature, 471-473.
69
Diese Betreuung der französischen Gäste konnte manchmal bis zur Inszenierung gehen. Über den Empfang, den Illyes gegen Ende der vierziger Jahre Eluard bereitete, zirkuliert eine Anekdote, der zufolge Eluard bei seinen Expeditionen in die ungarische Provinz, bei denen Illyes ihn begleitete, einzig Hirten antraf, die damit beschäftigt waren, seine Verse zu lesen - und zwar auf französisch. In Wirklichkeit handelte es sich um verkleidete Studenten, die Illyes ausgesandt hatte, um Eluard von der Popularität seiner Verse in der neuen Volksdemokratie zu überzeugen. (Interview mit Bernard Vargaftig, 28.12.2000).
70
Interview mit X., Juni 2000. französischsprachigen Dichter.) Interview mit Α., Oktober 1999.
71
(X.
stammt aus
Ungarn
und entwickelte
sich
zu
einem
Politisches Engagement und literarischer
Transfer
273
knüpfen. Diese Beziehungen werden oft in affektiver Weise beschrieben, wobei die Grenze zwischen dem Institutionellen und dem Freundschaftlichen sich manchmal verwischt, zumal wenn eine gewisse kulturelle und sprachliche Nähe - wie im Kontakt mit Illyes - auch zu diesem guten gegenseitigen Verständnis beiträgt. Den eigenen Bezeugungen der kommunistischen Dichter-und-Bearbeiter zufolge nährte ihr Ethos sich aus zwei Motivationsquellen: „Politik" und „Liebe". Affinitäten und politische Interessen, durch nach und nach geknüpfte persönliche Bande verstärkt, veranlassen die Übersetzer dazu, sich in die osteuropäischen Länder zu begeben, um das dort sich vollziehende soziokulturelle Experiment unmittelbar mitzuerleben. Sie fassen diese Arbeitsreisen ebenfalls als eine Form literarischer Unterstützung auf, die in manchen Fällen helfen kann, Schriftsteller (vor allem ungarische) zu relegitimieren, die in der kommunistischen Welt wegen ihrer häretischen Rolle bei dem Aufstand von 1956 angegriffen worden sind. Daß sie damit zugleich einen Beitrag zur Verbreitung wenig bekannter und von anderen Übersetzungswegen nahezu ausgeschlossener Literaturen leisten, begreifen die Übersetzer-und-Bearbeiter ebenfalls als Form selbstloser Unterstützung. Dispositionen wie Selbstlosigkeit, Großzügigkeit, Selbstverleugnung - Elemente des Ethos, das in den beiden Universen der Übersetzer, dem literarischen und dem politischen, gleichermaßen im Kurs steht - gehen jedoch mit Formen symbolischer, literarischer, politischer, ja materieller Vergütung einher, mit denen die Arbeit der Übersetzung-und-Bearbeitung entschädigt wird. An diesem Fall läßt sich zeigen, daß der bei Übersetzungen erzielbare Gewinn nicht nur ein mehrfacher, sondern auch ein gegenseitiger sein kann. Nicht nur die übersetzten Autoren profitieren von ihrem Transfer in eine Sprache und Literatur - in diesem Fall in eine dominierende - , sondern auch die Dichter-und-Übersetzer selbst. Anders gesagt: Der literarische Transfer ist keine Einbahnstraße, denn der Beitrag der Vermittler zum Import osteuropäischer Literaturen trägt auch zur symbolischen Ausbreitung ihres eigenen Werkes bei. Eine Art Gabentausch bewirkt, daß Gedichtbände französischer Poeten in Budapest übersetzt und veröffentlicht werden. Darüber hinaus tragen nicht nur die im sozialistischen Verlagssystem praktizierten sehr hohen Auflagen, sondern auch das Interesse der Leserschaft an Gedichten zu einer starken Verbreitung der Werke französischer Dichter bei. Einer von ihnen erzählt: „Ganze Bücher von mir sind auf ungarisch erschienen. Ich verkaufte meine Übersetzung in Ungarn besser als das Original in Frankreich. Es war unglaublich! [...] Deswegen ist Ungarn [für mich] eine Art Wahlheimat." 72 Die französischen Übersetzer werden selbst sehr oft ins Ungarische übersetzt, und zwar von jenen Partnern, die ihnen die Arbeit durch eine wortwörtliche Rohübersetzung ermöglicht hatten, wie auch von den Dichtern, die sie selbst ins Französische übersetzen. Dieser .Austausch' hat unter anderem zur Folge, daß der übersetzende und der übersetzte Autor einander gegenseitig ihre literarische Qualität verbürgen. Dies ist besonders zwischen Illyes und seinen Übersetzern der Fall. Wenn diese dazu beitragen,
72
Interview mit Α., Oktober 1999.
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Ioana Popa
die internationale Berühmtheit eines der meistübersetzten osteuropäischen Autoren weiter zu erhöhen, so fällt umgekehrt wiederum ein Abglanz seines einheimischen Ruhms auf ihre eigenen Veröffentlichungen in Ungarn. Ein französischer Dichter ungarischer Abstammung beschreibt diese gegenseitige Bespiegelung literarischer Zelebritäten fast grausam: „Ich nehme an, ein Eluard war nicht besonders ergriffen, wenn er neben lilies stand. Aber andere... Es gab Dichter, die nach Ungarn gegangen sind und sich viel christlicher vor Illyes, dem großen Poeten, hingekniet haben. Sie haben enorm viel übersetzt, sie haben alles übersetzt, was man sich vorstellen konnte, wenn es nur von Illyes war. Und Illyes, der seine Situation, seine Zweideutigkeiten, durchaus kultivierte, hat das wörtlich genommen: daß er ein großer Dichter ist, daß man ihn [in Frankreich] veröffentlicht. Und wer übersetzt ihn da? Die das tun, muß man ins Ungarische übersetzen, das sind gute französische Dichter, denn sonst hätte er seine Texte ja nicht von ihnen übersetzen lassen dürfen!" 73
Diese Form der Vergütung und des Transfers von Ansehen fallen um so mehr ins Gewicht, als die Ablösung der am Ende des Kriegs zu Ehren gekommenen Dichtergeneration manche Schriftsteller - zum Beispiel die Mitglieder der Ecole de Rochefort - nach und nach marginalisieren, während hingegen (wie einer der Dichter-und-Bearbeiter erklärt) „für die Ungarn die Ecole de Rochefort lebendig geblieben war".74 Durch Trägheitseffekte und zeitliche Verschiebungen zwischen dem französischen und dem ungarischen Literaturraum können französische Dichter, „deren Schreibweise gut eingeführt, unmittelbar verständlich und vertraut ist, die nicht stören"75, im ungarischen Raum dank der Übersetzung ,aktuell' bleiben und literarisch .überleben'. Übersetzer zu werden bietet für sie nicht nur eine Gelegenheit literarischer .Umschulung': Angesichts der Entwertung ihrer Positionen im literarischen Raum Frankreichs ist die Möglichkeit, in osteuropäischen Ländern übersetzt zu werden, ein Mittel, das eigene literarische und soziale Altern durch Akkumulation .delokalisierten' ästhetischen Ansehens zu begrenzen. Indes hält dieser Transfertypus - so einträglich er für die französischen Dichter und so nützlich er für einen literarischen Raum sein mag, der auf diesem Wege internationales literarisches Kapital akkumulieren kann76 - die strukturelle Ungleichheit und die zeitliche Verschiebung zwischen exportierendem (französischem) und importierendem (ungarischem) literarischen Raum zwangsläufig aufrecht, ohne letzterem zu erlauben, sich durch Kenntnis der avanciertesten literarischen Modernität auf den aktuellen Stand zu bringen. Aber das große Ansehen, dessen sich die französischen Dichter-und-Bearbeiter in einem Land wie Ungarn erfreuen, hat auch mit der Position der Poesie und mit dem sozi-
73
Interview mit X., Juni 2000. Als Dichter französischer Sprache steht X. ästhetisch Jacques Roubaud oder Denis Roche nahe.
74
Interview mit F., Dezember 2000. Ebd.
75 76
Vgl. Pascale Casanova, Consecration et accumulation de capital litteraire. La traduction comme echange inegale, in: Actes de la recherche en sciences sociales 2002/H.144, 7-20.
Politisches Engagement und literarischer Transfer
275
alen Status des Dichters zu tun, der ihren Auskünften nach stark mit den Verhältnissen in ihrem Heimatland kontrastiert. In Frankreich nämlich ist die Poesie trotz der Höhepunkte, die sie etwa mit dem Surrealismus und der Resistance erreichte, relativ marginal geblieben, und diese Position wird von den französischen Dichtern selbst mit einem gewissen Unbehagen empfunden. 77 Deswegen ist für sie der Kontakt mit Ländern, in denen das prophetische Modell des .Nationaldichters' noch sehr lebendig ist und das breite Publikum - und nicht nur wenige Eingeweihte - über eine echte poetische Bildung verfugt, einigermaßen bewegend. Die Erfahrung, von Unbekannten auf der Straße erkannt zu werden, wirkt auf sie fast als eine Art Initiation in die Bedeutung, die ein Schriftsteller haben kann, und übt damit eine geradezu kompensatorische Wirkung aus: „Ich war tief bewegt, denn zum ersten Mal in meinem Leben wurde ich als Schriftsteller 78
behandelt" , bezeugt einer von ihnen. Zu den symbolischen und literarischen Entschädigungen gesellen sich materielle. Von den Honoraren für eigene literarische Werke einmal abgesehen, wird die Übersetzung-und-Bearbeitung entweder von Fall zu Fall bezahlt oder durch eine pauschale Summe abgegolten, die die Aufenthaltsdauer in Ungarn deckt. In diesem Fall beziehen die (häufig zusammen mit ihren Frauen während der Sommerferien) eingeladenen Dichter-und-Bearbeiter (zumindest in den siebziger Jahren) den Lohn eines Facharbeiters - den höchsten Lohn, den eine sozialistische Wirtschaft kennt - und werden meist auch beherbergt; nur die Reisekosten müssen sie selbst tragen. Angesichts dieser Arbeitsbedingungen sprechen manche Dichter-und-Bearbeiter von ihren „Skrupeln", die sie sogar dazu brachten, während dieses Zeitraums nicht für sich selbst zu arbeiten, um sich ausschließlich dem zu widmen, wofür sie bezahlt wurden. 79 Andere Berichte vom Aufenthalt in Ungarn lassen die entspannte Stimmung erkennen, in der er sich abspielte. Man fährt auch nach Ungarn, um Ferien oder einen Genesungsaufenthalt zu verbringen. Begeisterte Berichte erwähnen die Infrastruktur, die den Schriftstellern in den osteuropäischen Ländern zugute kam (Erholungs- oder Arbeitsstätten), die Hotels und Restaurants, in die die Dichter-und-Bearbeiter von Literaturfunktionären eingeladen werden und wo, wie betont wird, „das Essen sehr teuer war". 80 Diese Formen sozialistischer Geselligkeit tragen zum positiven Image des ungarischen Regimes im Westen bei. Die dem PCF mehr oder weniger nahestehenden Dich77
Rousselot äußert sich folgendermaßen dazu: „Die Poesie interessiert in Frankreich nicht viele Leute. Wenige Leute. Ich sage es nicht gerne, denn es gereicht meinem Land nicht zur Ehre, aber es trifft zu: die Poesie wird in Frankreich von den Kritikern, die übrigens fast nie von ihr sprechen, wenig geschätzt. Und das breite Publikum? Dem ist die Dichtung vollständig egal, das können Sie mir glauben! ,Was machen Sie von Beruf?' ,Ich bin Dichter.' ,Ha, ha ha!' Verstehen Sie? Man lacht uns aus. Wir sind nicht normal, wir sind Kranke, Träumer. Ich übertreibe kaum, ich versichere es Ihnen, aber es ist ziemlich unangenehm." Interview mit Jean Rousselot, 8.10.1999.
78
Interview mit F., Dezember 2000.
79
Ebd. Ebd.
80
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276
ter-und-Bearbeiter bürgen symbolisch für ein Regime, das nach der Krise von 1956 international noch immer unter einem Legitimationsdefizit leidet. Auf allgemeinerer Ebene trägt dieser menschliche Austausch und der mit ihm einhergehende literarische Transfer zu der Aufrechterhaltung des .Glaubens' bei, daß die kommunistischen Regime sich trotz der seit ihrem Bestehen immer wieder eingetretenen Erschütterungen positiv entwickeln könnten. Der Sprachkenner Der zweite Übersetzertypus baut in Gegensatz zum ersten auf einer realen sprachlichen Kompetenz auf, was die dichterische Bearbeitung wortwörtlicher Rohübersetzungen überflüssig macht. Zu diesem Typus sind Henri Deluy und Dominique Grandmont zu zählen, die vor allem dank eines Sprachaufenthalts in der Tschechoslowakei bei dem Import der Literatur dieses Landes nach Frankreich eine wichtige Rolle spielen. Sie gehören daher zu den Dichtern, die eine zweifache, sowohl poetische als sprachliche, Kompetenz für sich in Anspruch nehmen. Dank dieser Doppelkompetenz ist die Übersetzung mehr als eine bloß technische Leistung, mehr als ein einfacher Übergang von der einen Sprache zur anderen, und auch mehr als eine jeder Sprachkenntnis entbehrende .Bearbeitung', sie ist eine indirekte Arbeit an der eigenen dichterischen Sprache. Auf der Grundlage des wirklichen Studiums einer fremden Sprache ,direkt' zu übersetzen schadet daher weder dem eigentlich sprachlichen Transfer noch der dichterischen Gestaltung. Indessen sahen sich diese Übersetzer stets in Konkurrenz zum Typus des universitären Übersetzers, diesem .Gelehrten' und ,Buchmenschen'; so Deluy, Kenner fremder Sprachen, aber vor allem Dichter, wenn er schreibt: „Wir hatten [als er selbst zu übersetzen begann, Anm. d. Verf.] wenig Übersetzungen in Frankreich, und wenn wir welche hatten, stammten sie von übersetzenden Professoren, nicht von Dichtern." 81 Deluy und Grandmont übersetzen aus mehreren Sprachen, die sie selbst beherrschen. Nicht immer sind diese Kenntnisse in der Schule erworben worden, manchmal verdanken sie sich auch biographischen Zufällen, autodidaktischem Erwerb oder politischem Engagement. So beherrscht Deluy das Italienische (seine Muttersprache), das Niederländische (die Sprache seiner ersten Frau) und das Russische, das er sich nicht nur aus literarischem und sprachlichem Interesse aneignet, sondern auch, weil es in seinen Augen zu seinem kommunistischen Engagement logisch hinzugehört. Grandmont wiederum beherrscht das Lateinische und das Griechische („Prestigesprachen und äußere Adelsattribute", wie er erklärt) 82 , deren frühzeitiger Erwerb mit dem Besuch eines Elitegymnasiums zusammenhängt. Indessen sieht auch Grandmont das Praktizieren von Fremdsprachen unter einem politischen Gesichtswinkel: Obwohl er sehr gut Englisch und Russisch kann, weigert er sich - eigenen Angaben zufolge - aus ideologischen Gründen, aus diesen Sprachen zu übersetzen, die für ihn „Blocksprachen" sind. Hinge81 82
Interview mit Henri Deluy, 18.11.2000. Interview mit D o m i n i q u e Grandmont, 2.11.2000.
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gen wünscht er die Sprachen von Ländern zu erlernen, „denen gegenüber wir eine Schuld auf uns geladen haben" 83 , für die er gewissermaßen aufkommen möchte, und wendet sich deren Kulturen zu. Er plant sogar eine Weile lang, als Französischlehrer nach Kambodscha zu gehen, und ergreift die Gelegenheit, Tschechisch zu lernen, als „politischen Zufall". 84 Indes erlauben ihm seine sozialen Dispositionen, im Erlernen des Tschechischen wiederzufinden, wonach seine ganze Familienerziehung ihn streben ließ und was seine Schullaufbahn ihm eingeimpft hat: den „aristokratischen" Geschmack an Distinktion. Unter allen slawischen Sprachen ist das Tschechische fur Grandmont die Sprache, „die es bis zum höchsten Grad der Verfeinerung, auch der Kompliziertheit gebracht hat, eine Sprache von hoher Kultur." 85 Verfugen diese beiden Übersetzer über bessere Ausbildungsvoraussetzungen als die Dichter-und-Bearbeiter, so verläuft doch auch ihr Bildungsgang, wie wir gesehen haben, diskontinuierlich. Die Übersetzung kann daher für Grandmont den Ersatz einer knapp verpaßten Hochschulkarriere darstellen, ja eine Art Ausgleich dafür: „Da die Armee für mich an die Stelle der Universität trat, war es, als ich meinen Abschied nahm, ein wenig spät. Ich sagte mir, eine Übersetzung sei wohl ein Diplom wert. [...] Ich bin ein Praktiker des Schreibens." 86 Diese .kompensatorische' Funktion zeigt sich im Fall Deluys in der großzügigen Aufzählung seiner breiten Fremdsprachenkenntnisse und vor allem im Herausstreichen der Leichtigkeit des Spracherwerbs (der, wie er behauptet, nur „ein bißchen Arbeit" verlangt) sowie dem praktischen (gegenüber dem akademischen) Charakter seiner Kompetenz, eine indirekte Leugnung seiner Zurückweisung durch das Bildungssystem. Dieser praktische Aspekt läßt ihn seine Investitionen in den Fremdsprachenerwerb als mit touristischen Reisen oder Liebeserlebnissen verbunden darstellen oder den Lernvorgang als einfachen Ansteckungsvorgang, bei dem die erlernten Sprachen die zu erlernende nach sich ziehen: „Ich konnte Italienisch, also lerne ich Spanisch als weitere lateinische Sprache... Das Rumänische kann ich mehr oder weniger lesen. [...] Sie wissen ja, wenn man erst drei oder vier Fremdsprachen kennt..." 87 Daß Deluy und Grandmont Tschechisch lernen, liegt daran, daß die Politik des tschechischen Schriftstellerverbandes ihnen diese Möglichkeit bietet. Allerdings investiert er auf andere Weise in Übersetzungen als der ungarische Schriftstellerverband 88 : Während der Liberalisierungsphase, die den Prager Frühling vorbereitet, beschließt er,
83
Ebd.
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Ebd.
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Ebd.
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Interview mit Henri D e l u y , 1 8 . 1 1 . 2 0 0 0 .
88
Zur A n a l y s e d e s Verhaltens des Rumänischen Schriftstellerverbands vgl. Lucia Dragomir, Les e c h a n g e s culturels d e l ' U n i o n des Ecrivains, in: dies., U n e Institution litteraire entre e x i g e n c e s artistiques
et
commande
politique.
L'Union
c o m m u n i s m e , Diss. Paris 2 0 0 5 , 1 1 3 - 1 2 7 .
des
Ecrivains
de
Roumanie
ä
l'epoque
du
Ioana Popa
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zwei französischen Dichtern bescheidene Stipendien auszusetzen („Das waren keine außerordentlichen Bedingungen! Gerade genug, um einen Übersetzer zu fabrizieren!", erklärt Grandmont) 89 , die ihnen ermöglichen sollen, zwei Jahre lang im Lande selbst die Sprache zu erlernen. Beide erfahren von diesem Angebot in einer Situation persönlicher Ungewißheit (Grandmont hat die Armee verlassen, Deluy eine Geliebte verloren). Die jungen Dichter werden beide auf Empfehlung Aragons 90 als Stipendiaten angenommen. Beiden macht das dort laufende politische Experiment den direkten Kontakt mit dem kommunistischen Europa attraktiv, aber trotz der völlig vergleichbaren Worte, in denen sie dieses Interesse beschreiben, bewirkt ihre unterschiedliche politische Biographie, daß sie leicht unterschiedliche Erfahrungen machen: Während beide den Aufenthalt in der Tschechoslowakei als eine Art Initiation erleben, sieht Grandmont sich als Entdecker, während Deluy seine politischen Ideen und Überzeugungen bestätigt sehen möchte. Grandmont erzählt: „Der eiserne Vorhang, die Übertretung des Verbots, das faszinierte. [ . . . ] Ich habe mir geschworen, d a ß ich nach Prag gehen werde, um mich umzusehen. Ich brauchte ein Land, das kommunistisch und slawisch war. Das waren meine beiden Wege. Ich wollte wirklich ein sozialistisches Land. Ich bin nicht aus Begeisterung hingegangen, sondern aus einer Art Schuldisziplin." 9 1
Wie ein Echo, aber mit dem besorgten Unterton eines politischen Anhängers, der furchtet, daß die Erfahrung seinen Glauben erschüttern könnte, klingt es bei Deluy: „[Ich hatte den] Willen, an Ort und Stelle nachzusehen, wie es in den sozialistischen Ländern zugeht. Denn schon seit mehreren Jahren stellte ich mir viele Fragen. Der Stalinismus, was war das eigentlich, so viele Dinge, die man sagte, die man nicht sagte, die der P C F nicht sagte, aber wir wußten, d a ß es sie g a b . . . Also habe ich Neugier, dahin zu gehen, und ich habe die Möglichkeit hinzugehen. [ . . . ] Ich wußte, daß politisch und kulturell in der Tschechslowakei interessante Dinge vorgingen. Mein Verlangen, nach Prag zu gehen, hat damit zu tun, daß ich aus der Nähe sehen wollte." 9 2
Tatsächlich spielt der Aufenthalt beider Dichter sich innerhalb einer besonderen politischen Konjunktur und eines besonderen kommunistischen Landes ab, zu einem Zeitpunkt nämlich, da die Tschechoslowakei am Vorabend des Prager Frühlings ein wahres Reformlaboratorium innerhalb der sozialistischen Welt und eine Stätte geistiger Gärung ist. Deluy ist von 1964 bis Januar 1968 in Prag, Grandmont von Herbst 1965 bis 1967, und beide begeistern sich für die Herausforderung, der die tschechoslowakische Gesellschaft sich damals stellte: einen anderen Sozialismus (einen „mit menschlichem Ant-
89
Interview mit Dominique Grandmont, 2.11.2000.
90
Während diese Empfehlung im Fall Grandmonts (der Aragon nahestand) plausibel ist, läßt sie sich im Fall Deluys nicht so gut erklären. (Ihm zufolge soll Aragon nach 1968 aufgrund der radikalen Positionen, die Deluy während der französischen und der tschechoslowakischen Krise bezogen hatte, j e d e Mitwirkung an der Ermöglichung seines Aufenthalts in Prag geleugnet haben.)
91
Interview mit Dominique Grandmont, 2.11.2000. Interview mit Henry Deluy, 18.11.2000.
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Politisches Engagement und literarischer
Transfer
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litz", wie die Formel lautete) aufzubauen. Sowohl aufgrund der verheißungsvollen Anfänge als auch des dramatischen Endes im August 1968 wirkt dieses Experiment sich bestimmend auf die weitere politische Entwicklung der beiden Übersetzer aus. Es bewegte Deluy dazu, seine politisch .orthodoxe' Haltung zu mäßigen, zumal die Kulturpolitik des PCF während seiner Abwesenheit von Frankreich in Sachen Entstalinisierung stark in Bewegung kam; dies vor allem bei der Tagung des Zentralkomitees in Argentueil (1966). 93 Tagung des Zentralkomitees in Argenteuil: Das im März 1966 in Argenteuil versammelte Zentralkomitee segnet den (1956 auf dem 14. Kongreß des PCF noch schüchtern begonnenen) Prozeß der Liberalisierung des Status kommunistischer Intellektueller ab: Auf künstlerischem Gebiet räumt es nunmehr offiziell umfassende Ausdrucks- und Schaffensfreiheit ein und sagt sich von den Shdanowschen Thesen über Literatur und Kunst los. Diese Autonomie schließt jedoch Philosophie und Sozialwissenschaften nicht ein: Auf diesen Gebieten wird die führende Rolle der Partei bestätigt. Die Schlußresolution, wesentlich von der unter anderen von Aragon geforderten Linie des aggiornamento geprägt, spiegelt nicht nur einen Kompromiß zwischen Intellektuellen und Führungsgruppe, sondern auch zwischen Intellektuellen unterschiedlicher Tendenz. Divergenzen zwischen ihnen zeigen sich vor allem im zweiten Teil der Diskussionen von Argenteuil, der „Debatte über den Humanismus". Dieses Thema spaltet die kommunistischen Philosophen in zwei Lager, die in Roger Garaudy und Louis Althusser ihre wichtigsten Protagonisten finden. Dabei geht es nicht nur um die Definition dessen, was legitimerweise marxistische Philosophie heißen darf, sondern auch um die Rolle der Philosophen in der Partei. Auch hier wird ein Kompromiß gefunden: die zwischen dem von Garaudy vertretenen „Humanismus" und dem „Antihumanismus" Althussers gelegene mittlere Position des „wissenschaftlichen Humanismus".
Darüber hinaus werden das Modell des tschechoslowakischen Schriftstellerverbands und seine besonders bedeutsame Rolle innerhalb des Reformprozesses für den künftigen Mitgründer der Union des Ecrivains frangais zu einer wichtigen Bezugsgröße, auf die Deluy sich bei der Besetzung des Gebäudes der Socidte des Gens de Lettres im Mai 68 ausdrücklich beruft. Die Zerschlagung des Prager Frühlings schließlich radikalisiert - wie seine heftige Verurteilung der Intervention der Truppen des Warschauer Pakts im August 1968 in den Seiten der Action Poetique zeigt - seine kritischen Stellungnahmen gegenüber der UdSSR und der „stalinistischen" Linie des PCF. 94 Dieser Vorgang verzögert Grandmonts Beitritt zum PCF, verhindert ihn jedoch am Ende nicht, weil diese Partei zu einem Zeitpunkt, zu dem sie zusammen mit der Sozialistischen Partei ein gemeinsames Regierungsprogramm entwirft, in Grandmonts Augen „fähig ist, etwas 93
Frederique Matonti, Intellectuels communistes. Essai sur l'obeissance politique. La Nouvelle Critique (1967-1980), Paris 2005, 92-106; Bernard Pudal/Philippe Olivera, Aragon au miroir du Comite d'Argenteuil, in: Annales de la Societe des amis de Louis Aragon et Elsa Triolet 2000/H.2, 257-272; Nicole Racine, Le PCF devant les problemes ideologiques et culturels, in: Le Communisme en France et en Italie, Bd.l, 1969, 4-6; Jeannine Verdes-Leroux, Le reveil des somnambules. Le Parti Communiste, les intellectuels et la culture (1956-1986), Paris 1987, 1 Π Ι 27.
94
Action Poetique 1968/H.38.
280
Ioana Popa
Ähnliches"95 zu verwirklichen wie die Prager Reformer. Die eingehende Kenntnis der kommunistischen Welt, die Mitglieder und Sympathisanten des PCF bei ihren Mittlertätigkeiten in den Ländern erwerben, die mit diesem System experimentieren, kommt ihnen zugute, wenn sie die französische Partei an den fortgeschrittensten politischen Experimenten im Osten messen. Dem Generationsunterschied zwischen Deluy und Grandmont und ihren unterschiedlichen Dispositionen entsprechend zieht die von ihnen fast gleichzeitig gemachte Erfahrung unterschiedliche literarische Nutzanwendungen und Folgerungen nach sich: Deluy macht sich daran, die ästhetische und politische Position seiner Zeitschrift Action Poetique dadurch neu zu definieren und zu legitimieren, daß er sie zur literarischen Avantgarde aufschließen läßt. Für Dominique Grandmont hingegen „gehören diese tschechischen Geschichten noch zur Lehrzeit"96, was sowohl die kreative literarische Arbeit wie auch das Übersetzen angeht. Daß Deluy die in Prag erworbene Kenntnis Osteuropas dazu nutzt, die Position der von ihm herausgegebenen Zeitschrift zu ändern, hat auch damit zu tun, daß sich das literarische Feld in Frankreich, vor allem aber sein avantgardistischer Pol, mit der Krise des Mai 68 umgestaltet.97 Die Vervielfachung der Instanzen, die sich selbst zur Avantgarde erklären - darunter Action Poetique, Change und Tel Quefs - , bringt eine erhöhte Konkurrenz mit sich und zwingt dazu, daß jeder dieser ,Mikrozirkel' eine spezifische Definition seiner selbst produziert.99 Tel Quel: Das erste Heft der Zeitschrift Tel Quel erscheint 1960 bei den Editions du Seuil. Ihre Redaktion besteht aus sechs Schriftstellern, von denen keiner über 25 Jahre zählt, unter ihnen Philippe Sollers, dessen erste Romane sowohl Aragon als auch Mauriac beifällig aufnahmen und der zur Triebfeder des Unternehmens wird. Tel Quel wendet sich sowohl gegen Sartres Zeitschrift Les Temps Modernes und die dort vertretenen Theorien vom Engagement als auch gegen die antisartresche junge Rechte. Ab 1963 erweitert sich die Redaktion, Jean Thibaudeau, Jean Ricardou, Jean-Louis Baudry, Fernand du Boisrouvray, Marcelin Pleynet, Denis Roche und Jean-Pierre Faye stoßen dazu. Im gleichen Jahr eröffnet Seuil eine gleichnamige Buchreihe, was die literarische Position der Gruppe und der Zeitschrift stärkt. Vor allem ab 1965 geht die Zeitschrift einerseits zur Formalisierung einer Literaturtheorie über, in der sie die „Widerspiegelungsliteratur" ablehnt und eine „ecriture textuelle" („Textuelles Schreiben") predigt, und orientiert sich andererseits auf eine Politisierung hin, die sich vor allem in der Annäherung an den PCF und ab 1971 in einer Hinwendung zum Maoismus niederschlägt.
95 96 97
98
99
Interview mit Dominique Grandmont, 2.11.2000. Ebd. Gobille, Crise politique et incertitude; ders., Les mobilisations de l'avant-garde litteraire franfaise en mai 1968. Capital politique, capital litteraire et conjoncture de crise, in: Actes de la recherche en sciences sociales 2005/H.158, 30-61. Eine fast „offizielle" Geschichte der Tel Quel-Gruppe findet sich bei Philippe Forest, Histoire de Tel Quel, 1960-1983, Paris 1995. Niilo Kauppi, Tel Quel: la constitution sociale d'une avant-garde, Helsinki 1990,209-215.
Politisches Engagement und literarischer Change:
Transfer
281
Die späteren Gründer der Zeitschrift Change (Jean-Pierre Faye, Maurice Roche,
Jacques Roubaud, Jean-Claude Montel, Yves Buin, Philippe Buyer und Leon Röbel) finden Ende 1967 zusammen. Ihr Anführer Jean-Pierre Faye scheidet nach Divergenzen mit Philippe Sollers im Herbst 1967 bei Tel Quel aus. Das erste Heft der Zeitschrift Change erscheint im Herbst 1968 im Verlag Seui! und positioniert sich von vornherein als direkter Konkurrent des im selben Verlag erscheinenden Titels Tel Quel. Change stellt sein Erscheinen 1982 ein.
Die Kenntnis .seltener' Fremdsprachen oder die Fähigkeit, Texte zu importieren, mit denen sich eine Avantgardeposition konsolidieren läßt, sind daher distinktive Eigenschaften, die bei dieser Umgestaltung besonderen Wert und Effizienz gewinnen. Deluys Sprachkompetenz, sein (neues) Interesse für die mitteleuropäischen Avantgarden und das Beziehungsnetz, das er dort knüpfen konnte, zeigen sich daher als wichtige Ressourcen einer auf Ziele innerhalb des literarischen Feldes Frankreichs gerichteten Strategie: Einer Strategie, die einerseits auf ästhetische und politische Distanzierung von Tel Quel abzielt (und ein Bündnis mit Change einschließt), andererseits einer Strategie der Distanzierung vom konservativen Flügel der Kommunistischen Partei, aber auch von deren literarischem Organ La Nouvelle Critiquem (die sich nunmehr der theoretischen und literarischen Moderne öffnet, aber im Bündnis mit Tel Quel). Und schließlich steht Action Poetique hinsichtlich der osteuropäischen Literaturen implizit in Konkurrenz zu Les Lettres Frangaises, und zwar nicht nur wegen der schlechten Beziehungen zwischen Deluy und Aragon, sondern vor allem, weil die Lettres Franqaises seit den sechziger Jahren ebenfalls auf jedes Anzeichen eines literarischen aggiornamento und politischer Liberalisierung in Osteuropa lauern. 101 Die Sondernummern, die Action Poetique und Change ab Ende der sechziger Jahre der russischen 102 , tschechischen und ungarischen Avantgarde des Beginns des 20. Jahrhunderts widmen, haben implizit die Funktion, die theoretischen und formalen Neuerungen zu relativieren, die Tel Quel zu verkörpern beansprucht, und sein Monopol in Sachen moderner Ästhetik anzufechten. Darüber hinaus haben die geistigen Objekte, die, an der Schnittstelle zwischen theoretischer Moderne und osteuropäischer Literatur gelegen, alle diese miteinander konkurrierenden Zirkel ansprechen, mit den geistigen Ursprüngen von Formalismus und Strukturalismus zu tun, dessen Paradigma das intellektuelle Leben Frankreichs in der Mitte der sechziger Jahre dominiert. Der Import dieser Gattung von kulturellen Gütern geht jedoch nicht in der bloßen Konkurrenz sich voneinander abheben wollender Pariser Avantgarden auf. Unabhängig davon füllt er im literarischen Feld Frankreichs eine Lücke, die fast ein halbes Jahrhundert lang klaffte. Im Unterschied zu Deluy gehört Grandmont nicht zu den intellektuellen Zirkeln, die einander das Monopol am Avantgardismus streitig machen (obwohl er sich z.B. an dem
100
Matonti, Intellectuels communistes.
101
Olivera, Aragon et Les Lettres Franijaises.
102
Parallel dazu beansprucht auch Aragon eine Vorläuferrolle bei der Einführung der russischen Avantgarde in Frankreich seit den dreißiger Jahren.
282
Ioana Popa
Heft beteiligt, das Change dem Prager Kreis widmet). Der spezifische Nutzen, den die beiden Dichter aus ihrer Erfahrung als Mittler ziehen, erklärt sich aus ihrer Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Generationen und unterschiedlichen literarischen und politischen Tendenzen. Während Deluy vor seinem Aufenthalt in Prag bereits Chefredakteur einer Zeitschrift für Poesie und Mitglied des PCF ist, ist der j u n g e ' Grandmont - er hat erst einen Roman und einige Gedichte veröffentlicht, die lediglich in Zeitschriften erschienen sind - institutionell und politisch noch nicht gebunden. Der tschechische Aufenthalt dient ihm dazu, sich „seine ersten literarischen Sporen zu verdienen". 103 Die beim Übersetzen tschechischer Literatur erworbene Erfahrung stellt für ihn ein „Sprungbrett" für seine wahre „Berufung" dar, denn bis dahin hatte er seinen „wahren Weg als Hellenist noch nicht gefunden". 104 Seine Prager Lehrzeit macht er sich alsbald in der Weise zunutze, daß er das Tschechische als Ausgangssprache seiner Übersetzungen gegen das Griechische austauscht, also auf ein anderes sprachliches und literarisches Gebiet überwechselt. Grandmont stellt auch in der Hinsicht einen Sonderfall dar, als die Beziehungen, die er als Übersetzer zur tschechischen Literatur unterhält, durch nur einen Autor und ein Werk vermittelt sind und er sich fast ganz darauf beschränkt. Er wendet seine Arbeit fast ausschließlich einem einzigen Dichter zu: Holan. Nachdem sein Werk unter dem Stalinregime lange verboten gewesen war, wird es 1967 zum ersten Mal übersetzt und kommt dank Grandmonts Arbeit zu internationaler Anerkennung. Ein erster Gedichtband Holans erscheint bei dem kleinen linksradikalen Verlag Oswald (der auch die Action Poetique herausbringt) als erster Band einer von Deluy herausgegebenen Reihe Dichtung sozialistischer Länder — eine Plazierung, die der Übersetzer nachträglich durch seinen schwach entwickelten Sinn für die literarischen Spielregeln und seinen Mangel an Erfahrung erklärt: „Weil der Herausgeber wußte, daß von meiner Seite - durchaus von meiner Seite! - ein Projekt praktisch angelaufen war, sagte er zu mir: ,Ich will es.' Ich sagte mir: warum nicht? Noch bevor ich fertig bin, interessiert man sich fur meine Arbeit... Weiter habe ich nicht gesehen! Übrigens bedaure ich es ein wenig. [ . . . ] Douleur hätte gleich bei Gallimard erscheinen können, ohne Problem. [ . . . ] Ich war nicht schüchtern, aber ich wußte nicht viel, ich nahm in mich auf, was geschah, aber ich urteilte nicht." 105
Daß das Werk des tschechischen Schriftstellers eine bessere Aufnahme im literarischen Raum Frankreichs verdient, als ein kleiner politischer Verlag sie ihm bereiten kann, merkt Grandmont, als er nach seiner Rückkehr aus Prag dank Aragon ein anderes Werk Holans bei Gallimard unterbringt. 106 Den zurückgelegten Weg rationalisierend, will Grandmont das Beipiel einer begrenzten Mittlertätigkeit verkörpern, aber auch seine Position als Übersetzer und als Dichter aus ein und derselben Substanz erklären. 103 104 105 106
Interview mit Dominique Grandmont, 2.11.2000. Ebd. Grandmont hat vor allem Yannis Ristos ins Französische übersetzt. Ebd. Die Politik bleibt aber präsent: Der 1968 erschienene Gedichtband wird von einem ebenso politischen wie literarischen Vorwort Aragons eingeleitet.
Politisches Engagement und literarischer
Transfer
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„[Meine Übersetzertätigkeit] ist keineswegs ausgedehnt, sie konzentriert sich vollständig auf die Dichtung eines einzigen. Das habe ich so gewollt. Als ich Holan übersetzte, habe ich ihn keineswegs in eine Nische gestellt, sondern mitten auf den Platz. Als französischer Dichter wollte ich ihn in den französischen Raum der Werke überfuhren, um [diesen] zu bereichern" 107
Da Grandmont im literarischen Feld als Novize auftritt, konstruiert er seine Position als Übersetzer und seine Position als Dichter fast gleichzeitig, so daß die Zirkularität der Ressourcen zwischen beiden Positionen hervortritt: Dieselben Verleger (Oswald und Gallimard) veröffentlichen nicht nur die Übersetzungen des jungen Mittlers Grandmont, sondern auch die Werke des jungen Poeten. Der professionelle Übersetzer Den letzten Typus des Dichters-und-Übersetzers, den des professionellen Übersetzers, verkörpert F r a n c i s Kerel, der Übersetzer tschechischer (und seltener auch russischer) Literatur. Bei ihm lassen sich mehrere Indizien der Professionalisierung ausmachen: Zunächst einmal die Ablösung der Dichtung als bevorzugter Gattung zugunsten der Prosa und parallel dazu ein Versiegen des eigenen dichterischen Werks. Während es darauf ankäme, beide Positionen gleichzeitig zu konstruieren, hat in diesem Fall „der Übersetzer den Dichter getötet." 108 Ferner ist Kerels Kompetenz als Übersetzer durch ein Diplom beglaubigt. Darüber hinaus verweisen die Anzahl seiner Übersetzungen (insgesamt 28) und die Dauer seiner Tätigkeit als Übersetzer (von 1950 bis Mitte der achtziger Jahre) auf eine sehr intensive und konstante Investition in diese Tätigkeit. Schließlich erlaubt seine Unabhängigkeit von institutionellen Bindungen (etwa an den Schriftstellerverband) es Kerel, auf eigene Faust zu übersetzen - und so gelingt es ihm auch, bislang unbekannte tschechische Schriftsteller zu entdecken und in Frankreich vorzustellen. Auch im Hinblick auf seine politische Karriere weist Kerels Fall eine Besonderheit auf: Anfang wie Ende seines Engagements sind unmittelbar an die Erfahrung des Landes gebunden, dessen literarischer Mittler er ist - der Tschechoslowakei. Er erlebt in Prag die Errichtung des kommunistischen Regimes mit und vollendet seine Annäherung an den PCF 1949 mit dem Beitritt zu dieser Partei. Eine weitere Reise in die Tschechoslowakei zu Beginn der sechziger Jahre hingegen hat - obwohl die Anzeichen einer politischen und kulturellen Erneuerung sich bereits hervorwagen - eine Distanzierung von der Partei zur Folge. Diese beiden Reaktionen (die man nachträglich als ,antizyklisch' bezeichnen könnte) sind die Eckdaten einer politischen Karriere, die früher endet als die der anderen Dichter-und-Übersetzer. Und endlich bietet die Laufbahn des Mittlers Kerel ein typisches Beispiel fur die schwierige Verbindung zwischen zwei Vertriebsformen literarischer Werke in osteuro107
Ebd.
108
Interview mit Pierre Gamarra, 8.12.2000.
284
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päischen Ländern: Der explizit politischen, die vom kommunistischen Verlagssystem gesteuert wird (über das er die erste Hälfte seiner Übersetzungen veröffentlicht), und der jeder politischen Konnotation enthobenen, dafür aber der heteronomen Logik des Buchmarkts unterworfenen (dem er die Aufnahme seiner späteren Übersetzungen verdankt). Die Verbindung zwischen beiden Vertriebsformen kommt erst ab 1968 zustande, als die Niederschlagung des Prager Frühlings den Raum des literarischen Transfers neu konfiguriert. Kerel beginnt seine Übersetzerlaufbahn 1951 unter gleichermaßen literarischen und politischen Auspizien. Soeben aus einer der neugebackenen Volksdemokratien zurückgekehrt, wirft sich das junge Parteimitglied auf die Verbreitung tschechischer Literatur in Frankreich. Kerel denkt vermutlich noch nicht daran, daraus eine sehr langfristige Tätigkeit zu entwickeln, zeigt jedoch bereits die Dispositionen eines literarischen Entdeckers, denn er behält sich sowohl die Auswahl des zu übersetzenden Textes wie auch des Publikationsortes vor. Die Wahl fällt auf einen Roman, den er als „Realismus ä la Zola" und als proletarische Literatur qualifiziert. Mit dem Profil des Buches, seines Verfassers und seines Übersetzers ist der Publikationsort absehbar: Aragon vermittelt den Kontakt zu den Editeurs Frar^ais Reunis, die sich auch der folgenden Übersetzungen annehmen. Aufgrund ideologischer Nähe wie auch mangels anderer Interessenten - denn diese Bücher, so gut sie auch geschrieben sein mochten, hätten, wie Kerel bezeugt, „keinen anderen Verleger interessiert" 109 - bleiben diese Übersetzungen dem mehr oder weniger geschlossenen kulturellen Vertriebssystem des PCF oder dem tschechischen Exportsystem (vertreten von dem Verlag Artia) vorbehalten. Zu dieser Zeit beginnt Kerel auch seine Übersetzungen, aber auch eigene Gedichte, ziemlich regelmäßig bei der Zeitschrift Europe zu veröffentlichen, deren Herausgeber Pierre Gamarra ihn „unter seine engen Freunde" zählt und hinzufügt: „In jenen Jahren des Dogmatismus und Stalinismus verdankt Europe viel Leuten wie ihm, die dazu beigetragen haben, daß die Zeitschrift qualitativ hochstehende Werke veröffentlicht hat." 110 Europe:
D i e 1923 gegründete, noch heute erscheinende Zeitschrift zeichnet sich vor allem
durch ihre Langlebigkeit aus. Zunächst wurde sie b e i m Verlagshaus Rieder von
Romain
Rolland nahestehenden Intellektuellen herausgegeben. Ausländischen Literaturen g e g e n ü b e r offen
und
politisch
links
orientiert,
vertrat
Europe
zunächst
pazifistische
Positionen,
engagierte sich von der Mitte der dreißiger Jahre an für den antifaschistischen K a m p f und geriet ab 1936 mehr und mehr unter kommunistischen Einfluß. D a s zeigt sich unter anderem in der Übernahme der Redaktionsleitung durch Jean Cassou, einen intellektuellen Parteigänger des PCF,
und die z u n e h m e n d e Anzahl parteinaher Intellektueller im
Redaktionskomitee
(Aragon - der übrigens C a s s o u in die Redaktion geholt hatte - , Pierre Abraham, Jean-Richard B l o c h , G e o r g e s Friedman, Andre Chamson). Europe
stellt 1939 das Erscheinen ein.
1946 wieder ins Leben gerufen, erscheint die
Zeitschrift, herausgegeben von Aragon, bei der Bibliotheque
109
Interview mit F r a n c i s Kerel, 1 9 . 8 . 2 0 0 0 .
110
Interview mit Pierre Gamarra, 8 . 1 2 . 2 0 0 0 .
Frangaise,
dann bei den
Editeurs
Politisches Engagement und literarischer frangais
Transfer
285
reunis, dem Verlagshaus des PCF. Jean Cassou bleibt zunächst Chefredakteur, die
innerhalb der Zeitschrift zwischen Weggefährten und Mitgliedern des PCF wachsenden Konflikte zwingen ihn jedoch 1949 zum Rücktritt. Die ersteren verlassen die Zeitschrift oder gehen auf Distanz zu ihr. Die Niederschlagung des Ungarnaufstands von 1956 löst eine Krise aus, die weitere Rücktritte (vor allem den von Louis de Villefosse) zur Folge hat. Von 1949 bis
1974 wird Europe
von Pierre Abraham als Herausgeber und Pierre Gamarra als
Chefredakteur (ab 1966) geleitet, beide sind PCF-Mitglieder. Nach Abrahams Tod rückt Gamarra zum Herausgeber auf, die Redaktionsleitung übernimmt Charles Dobzynski. 1 "
Kerel ist einer der Hauptübersetzer der Doppelnummer, die Europe 1958 der tschechischen und der slowakischen Literatur widmet. Kerel datiert seine ersten Zerwürfnisse mit der Partei auf das Jahr 1953 („Ich gehörte zu denen, die drin waren und nicht den Mut hatten auszutreten") 112 , die wirkliche Wende seiner politischen Entwicklung jedoch, die unmittelbar mit einer seiner Reisen nach Prag verbunden war, auf die frühen sechziger Jahre. Zwar ist diese Distanzierung vom kommunistischen Kulturapparat im Hinblick auf seine Übersetzungen nicht recht nachvollziehbar, da sie zwischen 1960 und 1966 in denselben Verlagen erscheinen wie zuvor. Diese objektive Kontinuität spricht jedoch nicht so sehr für die simple Trägheit, einem deutlich politisch geprägten Verlagskreislauf den Rücken zu kehren, als vielmehr für die Schwierigkeit, mangels einer günstigen Rezeptionskonjunktur (wie sie für die polnische und die ungarische Literatur nach 1956 bestand) alternative Veröffentlichungsmöglichkeiten ausfindig zu machen." 3 Indes wächst das .Angebot' an tschechischer Literatur im Verlauf der sechziger Jahre; in Francois Kerel trifft es auf einen findigen Vermittler, der ihm Absatzwege zu erschließen sucht. Ein weiterer Aufenthalt in der Tschechoslowakei (1963) ermöglicht ihm, den kulturellen Aufbruch, der den Prager Frühling vorbereitet, und vor allem auch die literarischen Anfänge von Milan Kundera, Bohumil Hrabal, Josef Skvorecky und Ludvik Vaculik kennenzulernen. Da „es einen Haufen Dinge gab, die das Übersetzen lohnten" 114 , kehrt Kerel mit den Manuskripten dieser ,neuen' tschechischen Schriftsteller (von denen einige nur neu wirken, weil sie eine Zeit lang zensiert oder verboten waren) nach Frankreich zurück. Aber er kann ihre Übersetzungen praktisch nirgendwo piazieren. Während diese Schriftsteller als „nicht orthodox genug für eine PC-Zeitschrift" 115 (mit Ausnahme der Lettres Franqaises) gelten und wegen der oppositionellen Positionen, die sie innerhalb des tschechoslowakischen Schriftstellerverbands beziehen, vom kommunistischen Verlagssystem abgelehnt werden, gelingt es
'"
Interview mit Pierre Gamarra, 8.12.2000. Vgl. auch Nicole Racine, Europe, in: Jacques Julliard/Michel Winnock, Dictionnaire des intellectuels franfais, Paris 1996, 457-459.
112
Interview mit F r a n c i s Kerel, 19.8.2000. Zu der Art und Weise, in der die Schlüsseldaten der Geschichte der Kommunistischen Partei die privaten Erinnerungen ihrer Mitglieder strukturieren, vgl. Marie-Claude Lavabre, Le Fil Rouge. Sociologie de la memoire communiste, Paris 1994.
113
Popa, La Politique exterieure de la littirature, 265-480.
114
Interview mit F r a n c i s Kerel, 19.8.2000.
115
Ebd.
286
Ioana Popa
Kerel bis 1968 ebensowenig, sie in einem nichtkommunistischen Verlagshaus unterzubringen: „1963-1964 interessierte das [noch] niemand [anderen]. Keiner kümmerte sich darum, was in Prag vor sich ging." 116 Diese Schwierigkeiten sind bezeichnend für die „Übergangszeit", die die Rezeption der tschechischen Literatur in Frankreich damals durchmachte: Während das Publikationsnetz der Kommunistischen Partei sich ihr gegenüber „zurückhaltend" zeigt (bevor es sich seinerseits deren reformistische Intention aneignet), sind alternative Rezeptionszonen noch schlicht inexistent. 117 Mit zunehmender Distanz von der Kommunistischen Partei läßt Kerel nach und nach auch die literarische Übersetzung hinter sich. Dafür scheinen berufliche Gründe ausschlaggebend zu sein: Kerel beginnt, für internationale Organisationen zu dolmetschen und verläßt Frankreich. Wenn er das Übersetzen tschechischer Literatur nicht ganz aufgibt, so zumindest indirekt aus politischen Gründen: „Das alles war Vorbereitung des Prager Frühlings. Es lohnte die Mühe, sich dafür Mühe zu geben." 118 So übersetzt Kerel zwei Romane von Josef Skvorecky (darunter seine erste französische Publikation überhaupt), während er zugleich in New York arbeitet. Er bietet dem Verlag Gallimard La legende EmökeU9 und L'escadron blinde. Chronique de la periode des cultes an; diese Werke erscheinen aber erst 1968 und 1969. Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings bringt Gallimard drei Titel von Milan Kundera, Bohumil Hrabal und Vaclav Havel in Kerels Übersetzung heraus, Autoren, die gerade (wieder) verboten wurden. Die erste Hrabal-Übersetzung gibt Kerel noch Gelegenheit, seinen Entdeckerstolz zu zeigen - „Ich bin der erste, der Hrabal übersetzt hat! Und ich habe ihn bei Gallimard untergebracht!" 120 - , während ihn seine erste Havel-Übersetzung einmal mehr ermessen läßt, wieviel Zeit bis zu dieser neuen politisch-literarischen Rezeptionskonjunktur verstrichen ist: Havels Stück gehörte zu den literarischen Entdeckungen, die er 1963 von seiner Reise mitbrachte, aber erst 1969 und nach mehrfachen Interventionen bei Dyonis Mascolo (dem Herausgeber der Reihe Du monde entier) durchsetzen konnte. Von nun an und bis zur Mitte der achtziger Jahre widmet Kerel sich (von zwei Ausnahmen abgesehen) ganz dem Werk eines einzigen tschechischen Schriftstellers: Milan Kundera. Zwar hat er dessen erste französische Buchveröffentlichung nicht übersetzt, da er ihn jedoch bereits 1964 den Lesern von Les Temps Modernes vorstellte, muß Kerel als der eigentliche französische Entdecker Kunderas gelten. Von nun an übersetzt er ausschließlich und abseits genehmigter Distributionswege für Gallimard. Dieser Verlag, der bis dahin keinerlei Übersetzung aus dem Tschechoslowakischen herausgebracht hat, wird nunmehr zum Hauptimporteur der Literatur dieses Landes. Durch seine Investitionen in eine in ihrem Heimatland inzwischen nur noch klandestin zirkulierende Literatur
116 117
118 119 120
Ebd. Vgl. Pierre Gremion, Paris-Prague. La gauche tchecoslovaques (1968-1978), Paris 1985. Interview mit Francois Kerel, 19.8.2000. Legende Emöke, München 1966. [Anm. d. Ü.] Interview mit Francois Kerel, 19.8.2000.
face
au
renouveau
et
ä
la
regression
Politisches Engagement und literarischer
Transfer
287
trifft dieser bisher jenseits aller politischer Parteinahme operierende Verlag eine Entscheidung, die nun doch eine Politisierung des Transfers und seiner Rezeption bedeutet. Somit illustriert der Fall Kerel auch den Punkt, an dem zwei Typen verlegerischer Rezeption der osteuropäischen Literaturen121, die kommunistische und die nichtkommunistische, aufeinander treffen. Er bringt damit auch die konjunkturellen Bedingungen zum Vorschein, denen die internationale Zirkulation dieser Werke unterlag, und zeugt von ihrer politischen Natur. Die vergleichende Analyse dreier Typen von Dichtern-und-Übersetzern hat gezeigt, daß die unterschiedlich ausgeprägte Abhängigkeit von den Schriftstellerverbänden die Logik ihrer literarischen Mittlertätigkeit unterschiedlich lenkt. So sind die Übersetzungen von Dichtern-und-Bearbeitern (deren Autonomie in bezug auf die Auswahl der Werke die niedrigste ist) meist auf Bestellung der Vertreter der .exportierenden' Literatur angefertigt worden. Übersetzungen von Dichtem hingegen, die die Ausgangssprache beherrschen, folgen einer Logik der Aneignung und Transposition, die von den im rezipierenden literarischen Feld herrschenden Einsätzen abhängt. Der Übersetzer schließlich, der sich am meisten professionalisiert, wird zugleich und auf recht exzeptionelle Weise zum echten literarischen Entdecker und Initiator von Übersetzungen. Die Analyse dieser spezifischen Mittlergruppe zeigt darüber hinaus, daß der von den kommunistischen Dichtern-und-Übersetzern bewerkstelligte Transfer aus den osteuropäischen Ländern bis zu dem Zeitpunkt, da eine Verbindung zwischen dem kommunistischen Verlagsnetz und anderen Verlagsnetzen möglich wird, sich meist in einem politisch geschlossenen Raum abspielt. Was den Austausch auf den ersten Blick zu erleichtem scheint - eine vor allem politische Solidarität mit den osteuropäischen Kollegen - , engt gleichzeitig die Zirkulation der importierten Werke ein, da sie, bisweilen unabhängig von ihrem Inhalt, als kommunistisch gebrandmarkt werden. Diese Stigmatisierung bezieht sich innerhalb des französischen literarischen Feldes auf kommunistische Schriftsteller als solche: Noch als die schlimmsten Zeiten des Kalten Kriegs überstanden sind, kann die kritische Rezeption außerhalb der Gemeinschaft der Parteigänger sich als schwierig erweisen. 122 Auch die Rezeption literarischer Werke, die solche Schriftsteller - diesmal als Mittler - nach Frankreich zu importieren suchen, wird zwangsläufig zum Politikum. Einer der Dichter-und-Übersetzer erzählt: „Deswegen haben wir es nicht geschafft, sie in Frankreich zu veröffentlichen. Weil sie aus einem osteuropäischen Land kamen! Weil alles, was kommunistisch war, als von dort aus gesteuert galt!" 123 Diese Tendenz verstärkt sich in den siebziger Jahren und trägt ebenso wie das gleichzeitige Aufkommen neuer Rezeptionsnischen und Vermittlungsinstanzen 121
Vgl. Ioana Popa, Politique des editeurs ou politiques editoriales? Logiques d'importation en France des litteratures d'Europe de l'Est ä partir des annees 70, in: Regards sociologiques 2006/H.32 (im Erscheinen).
122
Vgl. Frederique Matonti, „II faut observer la regle du jeu". Realisme socialiste et contrebande litteraire. La Place Rouge de Pierre Courtades, in: Societe et representations 2002/H.15, 293-306.
123
Interview mit Bernard Vargaftig, 28.12.2000.
288
Ioana Popa
dazu bei, den Einfluß kommunistischer Netzwerke in Frankreich auf den literarischen Transfer zu schwächen.
Aus dem Französischen
von Achim Russer und Bernd Schwibs.
DOROTHEA KRAUS
Zwischen Agitation und Resignation: Der Künstler als Intellektueller in westdeutschen Inszenierungen der sechziger Jahre
Im Januar 1968 beginnt der für seine dezidiert politische Theaterkonzeption bekannte Regisseur Hansgünther Heyme am Staatstheater Wiesbaden mit den Proben zu Georg Büchners Dantons Tod. Sein Assistent Michael Buselmeier (*1938), der dieses 1835 erschienene Stück über die Französische Revolution „fast auswendig" kennt, mißt der Produktion große Bedeutung bei. Er sieht in ihr vor allem „die Chance, meine ästhetischen und meine politischen Interessen einmal zusammenzuzwingen." Die .politischen Interessen' ergeben sich für Buselmeier aus seinen ganz konkreten Gegenwartserfahrungen: Nicht nur nimmt er regelmäßig an Protestveranstaltungen des Heidelberger Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) teil, sondern er fährt auch von Wiesbaden ins nahe Frankfurt, um mitzudemonstrieren gegen den Krieg der USAmerikaner in Vietnam. Unter dem Einfluß der Außerparlamentarischen Opposition (APO) und ihrer Aktionen entwickelt Buselmeier die Idee, Büchners Stück „vor einem riesigen Guevara-Porträt" zu inszenieren, so daß es „der Realität einer weltweiten Revolte"1 standhalten könne. Diese Vorstellungen bringen Buselmeier in Konflikt mit Heyme. Dessen Regiekonzept stellt mit der Erfahrung von „Hinfälligkeit und Verlust" vor allem „das die Geschichte ertragende, erleidende Subjekt"2 ins Zentrum. Es zeichnet Büchners antagonistische Revolutionsakteure Danton und Robespierre als einsame, in ihren revolutionären Ambitionen gescheiterte Menschen. Buselmeiers antiautoritär inspirierte Forderung, daß „Büchners resignative Erfahrungen mit der revolutionären Bewegung um 1830 durch unsere eigenen kulturrevolutionären Erlebnisse" korrigiert werden müßten, schlägt sich inszenatorisch nicht nieder. Nicht zuletzt deshalb erscheint Buselmeier Heymes szenische Interpretation „steif, einfältig, verzopft und devot gegen-über den
'
Alle Zitate: Michael Buselmeier, Leben in Heidelberg, in: Martin W. Lüdke H g . , N a c h d e m Protest. Literatur im Umbruch, Frankfurt a.M. 1979, 4 2 - 8 4 , 79.
2
A l l e Zitate: Peter Iden, D i e Revolution fällt aus d e r Z e i t , in: Frankfurter Rundschau, 1.3.1968.
290
Dorothea Kraus
Führern". Da die „auf Freiheit und Sozialismus zielende Bewegung, die ein-mal mit der Französischen Revolution eingeleitet worden war [,..] noch unsere linken Bemühungen" trage, dürfe sie nicht in dieser Weise „unhistorisch denunziert" 3 werden. Dieser Deutungskonflikt zwischen einer historisch-reflexiven und einer revolutionäragitatorischen Inszenierungskonzeption, der von den politischen Ereignissen außerhalb des Theaterfeldes nicht zu trennen ist, stellte im westdeutschen Berufstheater Ende der sechziger Jahre keine Ausnahme dar. Gerade zwischen den Akteuren der APO und des Berufstheaters kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen über die Interpretationsperspektiven und Darstellungsweisen, mit denen bestimmte Inszenierungen zu den gegenwärtigen Entwicklungen Position bezogen. Die folgende Argumentation geht von der Hypothese aus, daß Ende der sechziger Jahre viele Inszenierungen primär danach beurteilt wurden, ob der Regisseur und die von ihm in Szene gesetzten Figuren in der Lage waren, intellektuelle Qualität' nicht nur in bezug auf die gespielte, sondern auch auf die reale Welt zu entwickeln und damit in aktuelle Entwicklungen einzugreifen. So vehement wie zuletzt in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts rückten damit die gesellschaftliche Wirkung von Kunst bzw. Theater und die Rolle des engagierten Intellektuellen in das Zentrum der Debatte. Obwohl diese Deutungs- und Wertungsmuster bereits seit Beginn der sechziger Jahre wieder an Bedeutung gewonnen hatten, intensivierte und forcierte die feldexterne Herausforderung der Protestbewegung diesen Prozeß. Wenn es nach Pierre Bourdieu gerade Kennzeichen des Intellektuellen ist, den Gegensatz von „Autonomie und Engagement, reiner Kultur oder politischer Kultur" 4 unter Berufung auf höhere Werte zu überschreiten, dann betrafen die Auseinandersetzungen zwischen APO- und Theaterakteuren in dreifacher Hinsicht die angemessene Interventionsstrategie von Kunst und Künstlern im politischen Tageskampf: Erstens wurde die Frage aufgeworfen, in welchem Maße bereits eine Inszenierung als theatrale Repräsentation und Deutung von Wirklichkeit über ihren „globalen Diskurs" 5 eine Form der Intervention darstellt. Zweitens wurden auf der Ebene der Fabel die Figuren auf ihr intellektuelles Potential hin befragt. In beiden Fällen konnte, drittens, immer auch der Regisseur selber über Regiekonzeption und Figurengestaltung zur gesellschaftlichen Umbruchphase der ausgehenden sechziger Jahre Stellung beziehen und als Intellektueller auftreten. Produktion und Rezeption wirkten somit in der Deutung intellektuellen Engagements auf der und mit den Mitteln der Bühne zusammen. Unter diesen drei Gesichtspunkten werde ich vier Inszenierungen bzw. Auffuhrungen der ausgehenden sechziger Jahre genauer untersuchen, die das Verhältnis von politi3
Buselmeier, Leben in Heidelberg, 79f.
4
Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a.M. 2 0 0 1 , 5 2 4 .
5
Dieser von Pavis eingeführte Begriff zielt auf den übergreifenden Zusammenhang der Deutungsebenen, szenischen Elemente und ästhetischen Prinzipien einer Inszenierung: Patrice Pavis, Semiotik der Theaterrezeption, Tübingen 1988, 101.
Zwischen Agitation und Resignation
291
scher und künstlerischer Sphäre und damit die Problematik intellektuellen Engagements in besonderer Weise akzentuierten: Hans Neuenfels' Marat/Sade in Heidelberg (Premiere: 28.9.1968), Peter Palitzschs Toller (Premiere: 9.11.1968), Hansgünther Heymes Toller (Premiere: 4.1.1969) und Peter Steins Torquato Tasso (Premiere: 30.3.1969). Die Analyse wird von drei Hauptfragen geleitet: Auf welche Weise und mit welchen Mitteln stellten die Inszenierungen die Interventionsmöglichkeiten von Künstlern und Wissenschaftlern dar? Wie positionierten sich die Regisseure damit zu den Protestereignissen der Gegenwart? Unter welchen Bedingungen unterstützten die APO-Akteure diese Deutungen, wann reagierten sie mit Ablehnung und Kritik? Eine Antwort auf diese Fragen gibt erstens Aufschluß über die Auswirkungen feldexterner Faktoren auf die Konkurrenz- und Definitionskämpfe im Theaterfeld. Zweitens trägt sie zur Klärung des auffälligen Phänomens bei, daß auch die hochgradig politisierte Theateravantgarde um 1968 nie den Schulterschluß mit der APO suchte und ein gemeinsamer Protest von Bewegungsakteuren und Regisseuren, Bühnenbildnern, Dramaturgen und Schauspielern nicht zustande kam.
1. Die niedergeschossene Revolution: Marat/Sade Das engagiert-agitatorische Theaterverständnis vieler APO-Akteure, das in Buselmeiers Büchner-Deutung sichtbar geworden war, fand Ende der sechziger Jahre im Spielplan der westdeutschen Theater vor allem einen wichtigen Bezugspunkt, nämlich die Stücke, in denen die Französische Revolution und ihre Folgen thematisiert wurden. Obwohl aus streng historischer Perspektive die Hommes de /e«res-Figuren solcher Dramen nicht aus einem autonomen Feld heraus agierten und damit nicht als Intellektuelle im engeren Sinne auftraten,6 konnten sie im Theaterfeld der Nachkriegszeit durchaus als solche interpretiert werden. Dazu trug auch die spezifische Medialität des Theaters als Kunstform bei. Da eine Inszenierung den Theatertext nicht nur deutet, sondern in der öffentlichen Auffuhrung auch szenisch aktualisiert und damit als gegenwärtig erlebbar macht, stellt sie immer zugleich eine ästhetische und gegebenenfalls politische Stellungnahme dar. Dies galt umso mehr für ein Revolutionsdrama, das nicht wie Dantons Tod bereits im frühen 19. Jahrhundert erschienen war: 1964 griff Peter Weiss das Thema in seinem Drama Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade auf, für das sich international die Kurzbezeichnung Marat/Sade eingebürgert hat.
6
Die Autorität, die der Intellektuelle durch seine Zugehörigkeit zu einem autonomen kulturellen Produktionsfeld erworben hat, gehört nach Bourdieu zu den Voraussetzungen intellektueller Intervention. Diese Autonomie jedoch erlangte das Theaterfeld ebenso wie auch das literarische, künstlerische oder wissenschaftliche Feld erst im Laufe des 19. Jahrhunderts. Vgl. Bourdieu, Die Regeln der Kunst, 527.
292
Dorothea Kraus
Der in der Nähe von Berlin geborene Peter Weiss (1916-1982) war bürgerlichjüdischer Abstammung. Zusammen mit seiner Familie emigrierte er 1934 aus Deutschland und lebte ab 1939 in Schweden, wo er auch seine ersten Werke veröffentlichte. Er trat nicht nur als Schriftsteller, sondern auch als Maler, Graphiker, Drehbuchautor und Regisseur in Erscheinung. Ab Mitte der sechziger Jahre setzte sich Weiss offen für eine sozialistische Gesellschaftsordnung ein, was die Rezeption von Stücken wie Die Ermittlung (1965) und Gesang vom Lusitanischen Popanz (1967) in Westdeutschland nachhaltig beeinflußte. Marat/Sade allerdings bezieht politisch noch nicht eindeutig Position. Vielmehr konfrontiert das Thesenstück zwei ideologische Positionen, wobei es historische Fakten mit fiktiven Elementen verbindet. In Form eines Spiels im Spiel über die Ermordung Marats 1793, das der Marquis de Sade mit den geisteskranken Inhaftierten des Hospizes zu Charenton auffuhrt, wird das relativistisch-solipsistische Lebensgefuhl de Sades der Handlungsorientierung des politischen Revolutionärs Marat antithetisch gegenüber gestellt. 7 Diese in letzter Konsequenz ergebnisoffene Auseinandersetzung gestaltet Weiss in einer locker gefügten Szenenfolge, in der er unterschiedliche theatrale Formen und Traditionen zitiert. So greift er beispielsweise in den chorischen Passagen, die mit den ,vier Sängern' und anderen Nebenfiguren den vierten Stand zu Wort kommen lassen, auf Gesang sowie Elemente der antiken Tragödie und der Pantomime zurück. An surrealistische und absurde Traditionen etwa im Sinne Antonin Artauds oder Samuel Becketts schließt Weiss dagegen da an, wo der Irrsinn der Hospiz-Insassen im Vordergrund steht. Die Heidelberger Inszenierung von Hans Neuenfels (*1941) spitzte den revue- und collagehaften Charakter des Stückes noch einmal zu. Die Gegenwartsbezüge, die bereits im Drama durch ein dichtes Verweisungsgeflecht angelegt sind, wurden auf verschiedenen Ebenen verstärkt und explizit gemacht. An der Seite der ihrerseits sehr jungen Hauptdarsteller spielten Schauspielschüler und Gymnasiasten in Alltagskleidung den Chor der Hospiz-Insassen. Als eine „handelnde revolutionäre Jugend" waren diese Gefangenen zwar „unbequeme Schutzhäftlinge" 8 , die aber schon allein wegen des Zwangscharakters ihrer Alltagsumgebung keine Gitter oder Wärter mehr auf der Bühne brauchten. Auf einen realistischen Bühnenaufbau wurde deshalb ebenso verzichtet wie auf Requisiten oder historische Kostüme. Im Hintergrund begrenzten lediglich blauweiß-rote Stoffstreifen das Spielfeld, auf denen farbversetzt ,Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit' stand. Damit wurden die Werte, die von den Akteuren der Französischen Revolution als universell gültige in Anspruch genommen worden waren, unmittelbar
7
Vgl. einführend zum Stück: Martin Rector, Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade, in: ders./Christoph Weiß Hg., Peter Weiss' Dramen. Neue Interpretationen, Opladen 1999, 57-88.
8
Erhard Becker, Alarmsirenen und Kartätschenfeuer. Spielzeiteröffnung in Heidelberg mit ,Marat' von Peter Weiss, in: Stuttgarter Zeitung, 8.10.1968.
Zwischen Agitation und Resignation
293
auf die Gegenwart bezogen. Bereits die Wahl der Darsteller und die Bühnengestaltung trugen auf diese Weise dazu bei, daß die Inszenierung in der öffentlichen Wahrnehmung rasch zur Parabel für den gesellschaftlichen Veränderungswillen und die .revolutionäre Stimmung' der Jugend in der „unmittelbarsten, Revolutionsspiele probenden"9 Gegenwart avancierte. „Das im ,Marat' gefundene Thema", so Günther Rühle, „ist das, was die Pennäler und Studenten beschäftigt: das Warten, das Spielen mit [...], das Mitspielen in einer (fiktiven) Revolution"10. Verstärkt wurde diese Tendenz dadurch, daß die Inszenierung die beiden Hauptfiguren unterschiedlich gewichtete. Zwar vertraten de Sade und Marat gleichermaßen „die Perspektive der machtlosen Intellektuellen und historischen Verlierer"11: Der Marquis, Schriftsteller und Revolutionsanhänger, wird wegen der Anklage sexueller Ausschweifungen im Hospiz verwahrt; der Wissenschaftler und Publizist Marat fällt dem Messer Charlotte Cordays zum Opfer, deren Tat den Umschlag der Revolution in Terror und den Weg zurück zum Kaisertum einleitet. Dennoch behandelte Neuenfels den lust- und vergnügungsorientierten Marquis de Sade gegenüber Marat erkennbar „stiefmütterlich"12. Darin folgte er dem klaren Bekenntnis des Autors, er habe „das Prinzip Marats" immer „als das richtige und überlegene" angesehen: „Eine Inszenierung meines Stückes, in der am Ende nicht Marat als der moralische Sieger erscheint, wäre verfehlt."13 Diese Interpretationsrichtung trug zum Erfolg der Inszenierung gerade bei jüngeren Zuschauern bei, da sie den politisch aktiven Schülern und Studenten der sechziger Jahre Marat als Identifikationsfigur nahelegte. So trat Marat nicht als siecher Revolutionär auf, der wegen einer Hautkrankheit an die Badewanne gefesselt war. Als in seinen revo-
9
Ruprecht Skasa-Weiß, Hippies im Irrenhospiz. Der Heidelberger ,Marat' im Kleinen Haus der Staatstheater, in: Stuttgarter Zeitung, 3.2.1969.
10
Günther Rühle, Rückblick im Augenblick. Anläßlich des Heidelberger ,Marat', in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.12.1968. Dieser Einschätzung schließen sich Rezensenten und Forschung weitgehend an, vgl. Gunter Schäble, Hans Neuenfels inszeniert Weißens ,Marat/Sade', in: Theater heute 9 . 1 9 6 8 / H . l l , 44f.; Gert Kalow, Ein ,Marat' wie Rudi Dutschke. Beginn einer neuen Theatersaison in Heidelberg, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.10.1968; Jürgen Herwig, Die .Marat/Sade'-Rezeption im Spiegel der dramaturgischen Anlage(n) des Stücks, in: Jürgen Garbers/Jens-Christian Hagsphil/Sven Kramer u.a. Hg., Ästhetik - Revolte - Widerstand. Zum literarischen Werk von Peter Weiss, Jena 1990, 90-113, 106f.; Christine Frisch, ,Geniestreich', .Lehrstück', .Revolutionsgestammel'. Zur Rezeption des Dramas .Marat/Sade' von Peter Weiss in der Literaturwissenschaft und auf den Bühnen der Bundesrepublik Deutschland, der Deutschen Demokratischen Republik und Schwedens, Edsbruck 1992, 137-140; Sang-Myon Lee, Peter Weiss' ,Marat/Sade' und das Theater in der Zeit des .Kalten Krieges'. Eine theaterwissenschaft-liche Untersuchung anhand ausgewählter Inszenierungen der .Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade' 1964-1989/90, Berlin 1993, 187f.
11
Rector, Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, 71. Becker, Alarmsirenen und Kartätschenfeuer.
12 13
Gespräch mit Peter Weiss, in: Der Demokrat, 30.3.1965, zit. n. Karlheinz Braun Hg., Materialien zu Peter Weiss ,Marat/Sade', Frankfurt a.M. 1967, 101 f., 101.
294
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lutionären Ambitionen auch darstellerisch .Behinderter' saß er statt dessen im Rollstuhl, den er allerdings, von revolutionärer Energie getrieben, immer wieder verließ. Auch Weiss hatte Marat als einen politischen Idealisten konzipiert, der Geschichte grundsätzlich für gestaltbar hält und sich zur Rechtfertigung seines Handelns auf das von allen natürlichen und sozialen Bindungen freie Subjekt beruft.14 In der NeuenfelsInszenierung verband sich diese Deutung mit der agitatorischen Tendenz, die bei Weiss vor allem der .radikale Sozialist' Jacques Roux verkörpert. Marat wurde zum „Lefevre oder Dutschke des sozialen Veränderungswillens". Er agierte zugleich als Anführer der Volksmassen, die in ihrer ,,reißende[n] Motorik"15 zum eigentlichen Träger der Handlung wurden. In den Massenszenen mit ihrer expressiven stimmlichen und körperlichen Dynamik schienen „Marat und der Chor [...] das Parkett zu überrollen, pfeilförmig gefaltete Manuskriptblätter" flogen „gezielt bis in den ersten Rang"16. In diesen agitatorischen Zug fügte sich sogar die eher resignative Deutung des Schlusses ein. Keine leicht verwirrte Einzeltäterin, sondern die jugendliche Menge selbst ermordet Marat mit einem „roten Gänsekiel"17 und wendet damit die Waffe des Intellektuellen zuletzt gegen ihn selbst. Doch auch das Volk bricht kurz darauf unter aus dem Nichts kommenden Maschinengewehrsalven zusammen. Obgleich so nur „die hingemähte Zukunft, die erschossene junge Hoffnung"18 zurückblieb und der politische Sieg des Volkes gescheitert schien, war der globale Diskurs der Inszenierung von einem optimistischen Grundtenor geprägt. Dieser wurde getragen durch den Aufruf zur politischen Veränderung einer Welt, die gerade durch die bewegungsreiche Art der Darstellung auf der Bühne auch als veränderbar dargestellt wurde. Die anklagende Haltung des Volks, das sich von seinen Führern getäuscht und betrogen sieht, intensivierte diese Dynamik: „Marat/was ist aus unserer Revolution geworden/Marat/wir wolln nicht mehr warten bis morgen"19 wiederholen Sänger und Chor im Drama immer wieder. Bei Neuenfels fand das Volk selbst eine Lösung, indem es den Führer bestrafte, der es trotz seines Veränderungswillens am Erfolg der schmerzvoll erkämpften Revolution und ihrer Werte nicht teilhaben ließ. Auch wenn eine unsichtbare konterrevolutionäre Gewalt, deren Gegenwartsbezogenheit die Wahl der Waffe betonte, zu guter Letzt die Oberhand behielt, hatten sich die Massen damit wenigstens für einen kurzen Moment als Subjekt der Geschichte gezeigt. In der Rezeption konnten die Akteure der westdeut14
Vgl. dazu Peter Weiss, Marat/Sade, in: ders., Stücke, Berlin 1977, 153-240, 175: „Gegen das Schweigen der Natur/stelle ich eine Tätigkeit/In der großen Gleichgültigkeit/erfinde ich einen Sinn/Anstatt reglos zuzusehen/greife ich ein/und ernenne gewisse Dinge für falsch/und arbeite daran sie zu verändern und zu verbessern/Es kommt darauf an/sich am eigenen Haar in die Höhe zu ziehn".
15
Skasa-Weiß, Hippies im Irrenhospiz. Wolfgang Lefevre und Rudi Dutschke waren Mitglieder des SDS-Landesverbandes Berlin.
16
Becker, Alarmsirenen und Kartätschenfeuer.
17
Frisch, .Geniestreich', 138.
18
Rühle, Rückblick im Augenblick. Weiss, Marat/Sade, 163, 183 und 213.
19
Zwischen Agitation und Resignation
295
sehen 68er Bewegung, die im Herbst 1968 den Höhepunkt ihres Mobilisierungserfolgs bereits überschritten hatte, diese Deutungsperspektive angesichts der eigenen Erfahrungen agitatorisch wenden und als Aufruf zur Aktion verstehen. Die Inszenierung antwortete so auf das Scheitern des intellektuellen Engagements mit einer Handlungsaufforderung, die in der Rezeption zum dominierenden Deutungsmuster wurde. Dadurch verlagerte sich der politische Impuls der Inszenierung zugleich vom Text oder der Aussage in die Bühnenaktion selbst hinein. Obwohl sie auf eine eindeutige Botschaft verzichtete und gerade den Schluß mehrdeutig hielt, eröffnete die Inszenierung Interpretationsmöglichkeiten, die als kritischer Kommentar zu den Gegenwartsereignissen wahrgenommen werden konnten. In diesem Sinne war hier Theater als Kunstform gesellschaftlich relevant. Dem Regisseur wurde allerdings schon wenig später zum Vorwurf gemacht, daß er ein im engeren Sinne gesellschaftskritisches Engagement mit theatralen Mitteln - etwa im Sinne Bertolt Brechts - entschieden ablehnte. Als Neuenfels beispielsweise im September 1969 Büchners Dantons Tod als eine Folge von traumartig-halluzinatorischen Revolutionserinnerungen inszenierte, die immer wieder auf die „bloß debattierten und nicht ausbrechenden revolutionären Tendenzen"20 der Gegenwart anspielten, störten APO-Akteure mit „Schmiere"-Rufen die Aufführung. Neuenfels' öffentliche Äußerungen waren daran nicht ganz unschuldig. Schon in einem Interview vom Februar 1969 hatte er betont, daß er das Theater nicht für das geeignete Medium politischer Arbeit halte, und hinzugefugt: „Auf die Frage: haben Sie ein politisches, gesellschaftliches Bewußtsein, würde ich kategorisch sagen: ,Nein'!" 21 Darin, daß er sein im Feld künstlerischer Produktion erworbenes symbolisches Kapital nicht zur politischen Stellungnahme einsetzen wollte, unterschied sich Neuenfels grundlegend von Peter Weiss. Daß die Marat/Sade-Inszenierung von Teilen des Publikums gleichwohl als politische Intervention verstanden wurde, war auf die implizite Positionierung zurückzufuhren, die aus der agitatorischen Gestalt der Inszenierung resultierte. Die sich ab Herbst 1968 verschärfende Kritik von APO-Akteuren am Theater als Medium sowie an bestimmten Inszenierungen traf jedoch auch Dramatiker und Regisseure, die Theater ausdrücklich als kritisches Forum definierten und politisches Engagement als Teil ihres Selbstverständnisses betrachteten. Exemplarisch läßt sich dies an den Inszenierungen von Tankred Dorsts Toller durch Peter Palitzsch (1918-2004) und Hansgünther Heyme (*1935) zeigen.
20
Botho Strauß, Bad trip. ,Dantons Tod' in Heidelberg, in: Theater heute 10.1969/H.l 1, 22.
21
Karl-Günter Simon, Do you know your medium, Hans Neuenfels? in: Der Monat 21.1969/H.245, 107ff., 108. Vgl. auch Neuenfels' ausweichende Antwort in einer Umfrage: Wie wird man Regisseur, was will man als Regisseur? Dreizehn Fragen an zehn junge Theaterleute, in: Theater heute 10.1969/H.2, 31-40, 38.
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2. Die verspielte Revolution: Toller Toller ist eine politische Revue über die Ereignisse der Münchner Räteregierung von 1919, deren erster Vorsitzender der expressionistische Dichter Ernst Toller war. In der Figur Tollers problematisiert das Stück das aktive politische Engagement des Intellektuellen in einer revolutionären Situation, die zunehmend theaterhafte Züge annimmt und auch durch das Eingreifen kommunistischer Parteipolitiker nicht mehr zu retten ist.22 Am 9.11.1968 - zum 50. Jahrestag der deutschen Revolution - wurde das Drama in der Inszenierung von Peter Palitzsch am Staatstheater Stuttgart uraufgeführt. In diesem Zusammenhang erhielt es seinen Untertitel Szenen aus einer deutschen Revolution, der noch einmal unterstreicht, daß im Mittelpunkt des dramatischen Geschehens weniger die Person Toller, als vielmehr die Rolle des Intellektuellen im geschichtlichen Prozeß steht.23 Toller ist als Szenenfolge angelegt, die auf eine geschlossene Handlung verzichtet. Durch die offene Form wird der Zuschauer aufgefordert, eine reflexive Distanz zur Räterevolution und zur fragwürdigen Rolle Tollers einzunehmen, da das Scheitern des Individuums nicht von vornherein bewertet und gedeutet, sondern in seinem Spannungsverhältnis zum Geschichtsprozeß vorgeführt und gezeigt wird. Dieser Abstand wird dadurch verstärkt, daß die Figur des idealistischen Dichters Toller erst durch den Kontrast zu seinem Gegenspieler, dem politischen Funktionär Levine, Gestalt annimmt. Zu Tollers Selbstverständnis gehört es, für die Revolution zu leben, die er in seinen Augen mit „gemacht" hat. Demgegenüber bezweifeln Levine und die Kommunistische Partei aus pragmatischen Erwägungen, ob der Zeitpunkt zur Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse tatsächlich schon gekommen ist. Allerdings ist Toller vor allem an der Revolution als Befreiungsakt an sich, nicht an der konkreten Realisierung einer neuen Gesellschaft interessiert: „Vielleicht", so äußert er seiner Geliebten Olga gegenüber, „gibt es nur einen einzigen Augenblick, in dem wir frei sind wenn die alte Ordnung zerschlagen ist und eine neue sich noch nicht etabliert hat." 24 Sogar für die universelle Idee eines pazifistischen Humanismus setzt Toller sich letztlich nur auf ästhetischer Ebene in Bildern und gebundener Rede ein: „Wer für den Staat gemordet,/nennt ihr Henker ./Wer für die Menschheit mordet,/den bekränzt ihr", formuliert er pathetisch in einem Manuskript. Zwar leitet er auf diese Weise die spezifische Autorität seines Engagements aus der relativen Autonomie des literarischen Feldes ab und wird auch im Volk vor allem deswegen zum „Symbol für diese neuen Ideen" 25 , weil er kein Politiker ist. Levine gegenüber bekennt er sogar, er habe „gar nicht den
22
Vgl. zum Stück: Frank Trommler, Ein Schauspieler der Revolution. Tankred Dorsts .Toller', in: Walter Hinck Hg., Geschichte als Schauspiel. Deutsche Geschichtsdramen. Interpretationen, Frankfurt a.M. 1 9 8 1 , 3 5 5 - 3 7 0 .
23
So auch eine Stellungnahme des Autors: Tankred Dorst, Dialog. Etwas über das Schreiben von Theaterstücken (1983), in: Günther Erken Hg., Tankred Dorst, Frankfurt a.M. 1989, 17-45, 22.
24
Tankred Dorst, Toller, Frankfurt a.M. 1968, 22f. Ebd., 18.
25
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Ehrgeiz, Berufspolitiker zu sein"26. Dennoch vermag er nicht anzuerkennen, daß seine Berufung auf Freiheit, „Frieden und Menschenliebe" gerade durch die .Inkompetenz' seiner als legitim anerkannten Kritik Wirkung entfaltet.27 So will Toller etwa vor Gericht ebenso behandelt werden wie ein Berufspolitiker oder ein revolutionärer Arbeiter: „Ich gehöre zu diesen Toten, die für ihre Träume gefallen sind," ruft er theatralisch und agiert damit, wie ein Beobachter ihm vorwirft, noch im Moment der Niederlage als 28
„Schauspieler" . Da der Künstler die Revolution nur als ein ästhetisches Projekt und als selbstzweckhaftes Schauspiel betrachtet, trägt er somit eine Mitschuld an ihrem Scheitern. Diese bereits im Drama angelegte Deutungsperspektive erklärt, weshalb sich das bereits Mitte der sechziger Jahre begonnene Stück bei seiner Uraufführung im November 1968 nach den Worten des Autors „ohne mein Zutun [...] mit Aktualität aufgeladen"29 hatte. Sozialen Wandel herbeizuführen, gegebenenfalls auch mit revolutionären Mitteln, gehörte zu den Zielen und zum Selbstverständnis der westdeutschen 68er Bewegung. Gleichwohl hatte der innere Zerfall der Bewegung in antiautoritäre Kleingruppen und Basisprojekte bzw. zentralistisch-bürokratisch organisierte K-Gruppen maoistischer, leninistischer und anderer Prägung bereits eingesetzt und die Frage nach dem Erfolg des Protests virulent werden lassen. Von diesen konkreten Erfahrungen war auch die Wahrnehmung der 7o//er-Inszenierungen geprägt. Peter Palitzsch, der von 1949 bis 1961 am Berliner Ensemble inszeniert und bis 1956 eng mit Bertolt Brecht zusammengearbeitet hatte, blieb in der Uraufführung seinem gesellschaftskritischen Anspruch und seinem intellektuell-moralischen Theaterverständnis treu.30 Er inszenierte das Stück, dessen offener Form entsprechend, auf einem zweistöckigen Spielgerüst, das von einem flachen Podest umgeben war, auf das neben einer Drehscheibe und fahrbaren Podesten auch Projektionsflächen, Prospekte und Schrifttafeln montiert waren. Zum Zentrum des .globalen Diskurses' machte Palitzsch die „Gefährdungen der Utopie" und die „blutigen Folgen der Konfrontation von reaktionärer und idealistisch-revolutionärer Gewalt"31. Position bezog die Inszenierung allerdings weder gegenüber der Revolution noch gegenüber dem Handeln einzelner Figuren. Vielmehr nahm sie die schon bei Dorst angelegte Folgenlosigkeit ideologischer Auseinandersetzungen ernst. Der Kritiker Botho Strauß, der mit dem politischen Protest der APO sympathisierte, beurteilte diese „empfindsame Neutralität" der Inszenierung allerdings ebenso kritisch wie das „Klischee vom verstiegenen Intellektuellen". Das Theater, 26 27
Ebd., 4 7 . Ebd., 57. V g l . z u m Konzept der .inkompetenten', aber legitimen Kritik des Intellektuellen, der sich auf höhere Werte beruft: M. Rainer Lepsius, Kritik als Beruf. Zur S o z i o l o g i e der Intellektuellen, in: ders., Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1990, 2 7 0 - 2 8 5 .
28
Dorst, Toller, 105.
29
Ders., Dialog, 22.
30
Vgl. zu Leben und Werk Palitzschs auch: Rainer Mennicken, Peter Palitzsch, Frankfurt a.M.
31
Ebd., 20.
1993.
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so seine Position, könne sich die nur noch neutrale Abwägung von Richtungen, „zumal heute, [...] nicht länger zum obersten Ziel erwählen." 32 „Nach dem Weissschen ,Marat' ist dies der wichtigste Abend des aktuellen Theaters" 33 , urteilte dagegen der Kritiker Günther Rühle nach der Uraufführung. Das Interesse der Stuttgarter APO an Toller schien diese Einschätzung zu bestätigen. Schüler und Studenten verteilten vor der Uraufführung Flugblätter, die einerseits den exklusiven Charakter der Premiere und ihren bildungsbürgerlichen Rahmen, andererseits die ihrer Meinung nach falsche Annahme von Stück und Inszenierung kritisierten, „die Revolution sei eine romantisch-intellektuelle Schwärmerei" 34 . Zwei Monate später setzte sich dieser Protest in einem Go-in fort, das sich gegen die geringe Anzahl freiverkäuflicher Theaterkarten und die hohen Eintrittspreise richtete, die in den Augen der Demonstranten weiten Teilen der Bevölkerung den Zugang zum Theater versperrten. Gefordert wurde nicht nur eine tiefgreifende Änderung des Kartenverkaufsystems, sondern sogar freier Eintritt für alle. Seinem demokratischen Selbstverständnis folgend öffnete Palitzsch das Theater immer wieder für Diskussionen über diese Forderungen und Kritikpunkte. 35 Die Angriffe auf die Stuttgarter Toller-Inszenierung setzten sich bei einem Gastspiel während des Berliner Theatertreffens im Juni 1969 fort. Vor allem Mitglieder der SDSGruppe , Kultur und Revolution' protestierten gegen die Darstellung des Volkes als „unartikulierter Chor", in der es ihnen „unterbewertet, unterbelichtet" 36 erschien. In der Tat verfolgte Palitzsch kein Konzept, das wie in Neuenfels' Marai/Saife-Inszenierung dem Volk bzw. dem .Proletariat' noch im Scheitern seines Freiheitskampfes eine aktive, gestaltende Funktion zugewiesen hätte. Auch deswegen blieb die Inszenierung vielen Kritikern im Grundgestus zu unentschlossen. Obwohl nach Einschätzung des Kritikers Henning Rischbieter „die Volks- und Arbeiter-Szenen suggerieren, daß da vielleicht doch eine Massenbasis gewesen ist,"37 hatten die Auffuhrungen in diesem Sinne weder Appell- noch Agitationscharakter. Zu unentschlossen und zu uneindeutig war in den Augen der Gruppe .Kultur und Revolution' auch die Darstellung der Revolution insgesamt. In einem Flugblatt kritisierte sie, daß Palitzsch die Revolution zum „pathologischen Phänomen" degradiere, „das in der Weltgeschichte herumspukt als Inbegriff von subjektiven Bedürfhissen einzelner intellektueller Schwärmer", anstatt im politisch-ökonomischen Kontext der Münchner Räterepublik konkretisiert zu werden. Deshalb sei es nur konsequent, daß 32
Botho Strauß, Geschichte ist nicht, was geschah, in: Theater heute, Jahrbuch 1 9 6 9 , 4 2 - 4 4 , 4 4 .
33
Günther Rühle, Literatur, Abenteuer 11.11.1968. Mennicken, Peter Palitzsch, 20.
34
und
Republik,
in: Frankfurter Allgemeine
Zeitung,
35
Vgl. dazu Bruno Hitz, .Toller' fordert Studenten heraus. Demonstrationen in Stuttgart, in: Die Deutsche Bühne 40.1969/H.2, 27f.; sowie Studenten fordern Toller heraus. Die Regieassistenten B. Hitz und H. Postel über Publikumsreaktionen, in: Theater heute, Jahrbuch 1969, 38.
36
Hellmuth Karasek, .Toller' spiegelt ein Stück deutsche Geschichte, in: ebd., 4 0 - 4 2 , 4 0 . Henning Rischbieter, Fragmente einer Revolution, in: Theater heute 9.1968/H.12, 10.
37
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auch das Volk nur „Statisterie" sei, das nicht in seinen „objektiven Bedürfnisse[n]", sondern nur in seiner ,,bewußte[n] Gefolgschaft hinter einzelnen Führern"38 gezeigt werde. Diese Argumente bildeten auch die Grundlage für die Diskussion, die im Anschluß an die zweite Berliner 7o//er-Auffiihrung stattfand und an der neben Palitzsch, Dorst und den Schauspielern etwa 400 Leute teilnahmen. Palitzschs Darstellung des Intellektuellen Toller stieß vor allem wegen ihrer Folgen fur die Deutung der Revolution auf Widerstand. Sie „zeichne einseitig nur das Bild eines pathologischen Individualisten und gebe damit den Revolutionär dem allgemeinen Gelächter preis"39. Mit diesem Argument forderten die APO-Akteure gegen die Intention von Autor und Regisseur einseitig eine Interpretation, in der die Revolution im Zentrum der literarischen und szenischen Deutung stand. Toller interessierte sie nicht in seinem zweifelhaften Ringen um das Mandat des Intellektuellen, nicht in seinem Spagat zwischen autonomer literarischer und politischer Sphäre, sondern lediglich in seiner Tauglichkeit als professioneller Revolutionär und Politiker. Zugleich vermißten sie die tragende Rolle des Proletariats als dem ihrer Ansicht nach eigentlichen Subjekt der Geschichte, das die Revolution jenseits pathologischer Schwärmerei voranzutreiben imstande sein müsse. Diese Perspektive auf die Inszenierung ist nicht unproblematisch: Zum ersten verweigerte sie tendenziell dem intellektuellen Engagement, das gerade nicht das des Berufsrevolutionärs ist und sein kann, die Legitimation. Wie Palitzschs Regieassistenten zu Recht hervorhoben, zementierte die Kritik so „den scheinbaren Gegensatz: Politik Ästhetik". Zum zweiten gingen die APO-Akteure sogar noch einen Schritt weiter, indem sie grundsätzlich „die ästhetische Abbildung historischer Ereignisse an ihrer Sicht von Geschichte"40 maßen. Nur die Darstellung und Analyse der Bedingungen, unter denen eine Revolution gelingen kann, interessierte. Rischbieter unterstellte den Kritikern aus diesem Grund, sie hätten „anscheinend auf der Bühne sehen wollen, wie die Räterepublik doch siegt."41 Neben der Funktion des Intellektuellen wurde damit zugleich die Legitimität von Literatur und Theater als Kunstformen problematisiert. Für die APO-Diskutanten war die Produktion von Kunst, an der politischen Realität und der revolutionären Aktion gemessen, kein erstrebenswertes Ziel und kein wirksames Ausdrucksmittel mehr. Auf diese Weise stellte ihre Kritik, zum dritten, die Existenz des Theaterfeldes als Ganzes in Frage. Unausgesprochen problematisierte sie die ,illu-sio', d.h. die inhärente Sinnhaftigkeit des Handelns im Feld und „den Glauben an den Wert
38
19
Flugblatt der SDS-Gruppe .Kultur und Revolution', zit. n. Studenten fordern Toller heraus; sowie Mennicken, Peter Palitzsch, 19f. Studenten fordern Toller heraus, 38.
40
Ebd.
41
Henning Rischbieter, Was mich animierte, was mich ärgerte. Marginalien zum Theatertreffen 1969, in: Theater heute 10.1969/H.7, 30f., 30.
300
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dessen, was in diesem Feld auf dem Spiel steht" 42 , das Ge- oder Befangensein im Spiel. Diese stillschweigende Übereinkunft, die selbstverständlich und unhinterfragt jedem Definitions- und Konkurrenzkampf im Feld zugrunde liegt, stand selbst für die politisch engagiertesten Akteure des Theaterfeldes nie zur Debatte. Für die APO konnten theatrale Formen jedoch Sinn lediglich dort gewinnen, wo sie sich als Agitprop instrumentalisieren ließen oder aber so in der politischen Aktion aufgingen, daß ein im engeren Sinne künstlerischer Anspruch nicht mehr erkennbar war. Die Frage nach dem Verhältnis von Revolution und Kunst stand auch im Zentrum der zweiten Inszenierung nach der Uraufführung. Am 4.1.1969 brachte Hansgünther Heyme Dorsts Stück in Köln auf die Bühne. Heyme war Schüler Erwin Piscators gewesen, der sich in den zwanziger Jahren mit dem Konzept des .Proletarischen Theaters' gezielt an ein Arbeiterpublikum gewandt und zu diesem Zweck ein agitatorisch-gesellschaftskritisches Theaterkonzept entwickelt hatte. Auch Heyme verstand Theater konsequent politisch im Sinne einer „subventioniertefn] Opposition" 43 . Seine Stücke wählte er deshalb meist nach dem Kriterium aus, „ob hinreichend provokante Momente darin sind, die direkt oder in übertragenem Sinn auf unsere heutige Gesellschaft zielen". So bezeichnete er etwa seine Toller-Inszenierung als „Antwort auf 68er-Träume" 44 : Eine üppige Jugendstil-Fassade bildete den Rahmen für eine Vielzahl von choreographierten und stilisierten Massenarrangements, die Heyme gegenüber den Individualszenen besonders hervorhob. Dagegen fand die zentrale politische Auseinandersetzung von Dorsts Stück, „die Debatte zwischen dem in die Politik verschlagenen Dichter, Träumer, Knaben, Mimen Toller und dem erfahrenen Berufsrevolutionär Levine, diese so aktuelle Auseinandersetzung über Revolution und Gewalt, über Ideale und reale Praxis, [...] eigentlich nicht statt." 45 Obwohl Rischbieter die Aufführung auch als „emotional und appellativ" empfand, dominierte der skeptisch-resignative Grundton. Palitzschs Inszenierung, so urteilte Heyme selber, habe noch den „Brandgeruch der Revolution" in sich getragen; er jedoch zeige nur noch „Bilder von hilflosem Verhalten kunstinteressierter, die Revolution nicht schaffender Intellektueller von hoher Kultur" 46 . Deshalb interpretierte er das Stück als Beispiel für die „Untauglichkeit der deutschen Vorliebe
42
Pierre Bourdieu, Über einige Eigenschaften von Feldern, in: ders., Soziologische Fragen, Frankfurt a.M. 1993, 107-114, 109. Vgl. auch ders., Die Regeln der Kunst, 360-365; sowie ders./Loic J.D. Wacquant, Reflexive Anthropologie, Frankfurt a.M. 1996, 148.
43
Rudolf Krämer-Badoni, „Die heiligen Texte entstauben". Theater zwischen Pop und Klassik: Interview mit dem Regisseur Hansgünther Heyme, in: Die Welt, 17.1.1968.
44
Hansgünther Heyme, Gespräch mit Günther Erken, in: Günther Erken, Hansgünther Heyme, Frankfurt a.M. 1 9 8 9 , 4 5 - 9 2 , 66, 83.
45
Henning Rischbieter, Wege und Irrwege des politischen Theaters, in: Theater heute 10.1969/H.2, 14-17, 16.
46
Heyme, Gespräch mit Günther Erken, 83.
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für eine bürgerliche Revolution von oben, ausgehend von Intellektuellen ohne Massenbasis."47 Da diese Darstellung des Intellektuellen wie schon bei Palitzsch eine eher pessimistische Deutung revolutionären Handelns implizierte, setzte hier wieder die Kritik an. Heyme ließ sich zusammen mit Dorst auf zwei öffentliche Diskussionen über das Stück ein, an denen vor allem ein jüngeres Publikum beteiligt war. Die erste fand im Jugendclub .Kritisches Theater', die andere auf Aufforderung der Sozialistischen Deutschen Arbeiteijugend' (SDAJ) mit Arbeitern und Studierenden im Schauspielhaus statt. Die kritischen Fragen und Anmerkungen, die aus dem APO-Umfeld kamen, ähnelten den Stuttgarter und Berliner Argumenten. Ob das Scheitern Tollers und Levines einen Kommentar zu den Erfolgsaussichten der Gegenwartsereignisse darstelle, bildete das erste zentrale Thema der Diskussionen. Das zweite gab die Revolution selber vor: In einem Flugblatt forderten Arbeiter und Studierende, „das Theater zu einem Instrument des demokratischen Kampfes und der Befreiung der besten Kräfte des Volkes, der Arbeiterklasse,"48 zu machen. In der Rezeption durch die APO wurde das Theater als Kunstform und Institution somit allein an seiner direkten politischen Wirkung gemessen und ausschließlich funktionalistisch legitimiert. Auch auf der Produktionsseite glichen sich die Positionsbestimmungen: Ähnlich wie Palitzsch nahm Heyme in seiner Inszenierung Stellung zu den .revolutionären' Tendenzen der Gegenwart. Ähnlich wie Palitzsch unterstützte er dabei grundsätzlich die auf der Bühne verhandelte Gesellschaftsanalyse und trat öffentlich für die Wertideen ein, die Dorst ins Zentrum seines Dramas gestellt hatte. Ähnlich wie Palitzsch beurteilte er jedoch den revolutionären Impetus der APO, den er rückblickend das „kurze Aufbruchserlebnis von 1968"49 nannte, bereits 1969 eher vorsichtig-skeptisch. Viel offensiver bekannte sich dagegen der Regisseur Peter Stein (*1937) zu den politischen Leitideen der 68er Bewegung, die vor allem in seine Tasso-Inszenierung am Bremer Theater eingingen.
3. Der Künstler als .Emotionalclown': Torquato Tasso Die Frage nach seinem künstlerischen und politischen Selbstverständnis, so betonte Stein Anfang der siebziger Jahre, sei „gar nicht zu beantworten ohne den Hinweis auf die Studentenbewegung und das, was 1966, 1967 und 1968 in der Bundesrepublik in diesem Zusammenhang vorgegangen ist."50 Nach Ansicht des Schauspielers Bruno Ganz war Stein, der als Industriellensohn aus großbürgerlichen Verhältnissen stammte, 47
Werner Schulze-Reimpell, Gescholten viel und viel bewundert. Die Heyme-Zeit, in: Volker Canaris/Rita Gaehme/Jürgen Pullem Hg., Theaterstadt Köln, Köln 1986, 112-118, 113.
48
Zit. n. Kölner Stadt-Anzeiger, 30.1.1969, in: Kurt Holl/Claudia Glunz Hg., Satisfaction und ruhender Verkehr. 1968 am Rhein, Köln 1998, 244.
49
Heyme, Gespräch mit Günther Erken, 82.
50
Peter Stein im Gespräch mit Jack Zipes, in: Brecht h e u t e - B r e c h t today 3.1973/74, 210-220, 212.
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sogar „erst durch die Studentenunruhen richtig aufgewacht" 51 . Bereits bei Peter Weiss' Viet Nam Diskurs, den Stein im Juli 1968 zusammen mit Wolfgang Schwiedrzik an den Münchner Kammerspielen inszeniert hatte, waren die rhythmischen Ho-Chi-Minh-Rufe der Straßendemonstrationen auch auf die Bühne übertragen worden. Integraler Bestandteil der Auffuhrungen war eine Geldsammlung für die vietnamesische Befreiungsbewegung, mit der Stein und Schwiedrzik ihren Anspruch bekräftigten, die Grenze zwischen Theater und politischer Wirklichkeit durchlässig werden zu lassen und mit den Mitteln des Theaters in die Ereignisse einzugreifen. An dieser Geldsammlung entzündete sich zudem ein Konflikt mit der Theaterleitung. Indem er seine Machtposition gegenüber den Regisseuren ausnutzte, setzte Intendant August Everding die Inszenierung nach nur drei Aufführungen vom Spielplan ab. Als Begründung führte er unter anderem an, daß ein aus öffentlichen Geldern finanziertes Theater nicht politisch Position beziehen dürfe, sondern im Gegenteil gerade die Vielfalt von Stücken und Meinungen fördern, also demokratisch im Sinne von pluralistisch sein müsse. 52 Ein völlig anderes Verständnis von .Demokratisierung des Theaters' prägte neun Monate später Steins Inszenierung von Johann Wolfgang von Goethes zuerst 1790 erschienenem Torquato Tasso. Stein aktualisierte und konkretisierte das problematische Verhältnis des Künstlers zur Gesellschaft, das mit der Figur des italienischen Spätrenaissance-Dichters Torquato Tasso (1544-1595) im Zentrum des Dramas steht. Den äußeren Gang der Handlung behielt die Inszenierung bei:53 Tasso überreicht seinem Gönner Alfons, dem Herzog von Ferrara, das Manuskript seines Epos' Gerusalemme liberata. Dafür wird er von Alfons, dessen Schwester Prinzessin Leonore und ihrer Freundin Leonore Sanvitale mit einem Lorbeerkranz gekrönt, was Tasso emphatisch als Erneuerung der antiken Einheit von ,Held und Dichter' interpretiert. In einem intimen Dialog verpflichtet die Prinzessin, die Tasso als seine Muse betrachtet, ihn zu verzichtbereiter Liebe, wobei sie sich auf die sittliche Norm beruft. Auf ihre Bitte hin nähert sich Tasso dem gerade eingetroffenen Staatssekretär Antonio Montecatino, von dessen gesellschaftlicher Klugheit und Weltgewandtheit er sich zugleich angezogen und abgestoßen fühlt. Das Gespräch eskaliert: Antonio, der auf Tassos leidenschaftliches Freundschaftsangebot mit kühl-reflektierter Distanz reagiert, kränkt den Dichter so, daß dieser zum Degen greift. Zur Strafe für diesen Verstoß gegen alle gesellschaftlichen Regeln verbannt ihn Alfons auf sein Zimmer. Tassos Mißtrauen gegenüber anderen Menschen steigert sich daraufhin im Selbstgespräch zum Verfolgungswahn, weswegen er den Entschluß faßt, eine längere Reise anzutreten. Der Herzog und die beiden Frauen entlassen ihn nur ungern. Bei seinem emotionalen Abschied von der Prinzessin durchbricht der Dichter jedoch die Grenze, die von ihr selbst und zugleich von den gesell-
51
Bruno Ganz, Auffassungen zur Theaterarbeit. Gespräch mit Christoph Kuhn und Peter Meier, in: Karlheinz Braun/Klaus Völker Hg., Spielplatz 1. Jahrbuch für Theater 1971/72, 52-57, 53.
52
Vgl. dazu August Everding, Demokratie ist Diskussion, in: Theater heute 9.1968/H.9, lf.
53
Einführend zu Goethes Text: Walter Hinderer, Torquato Tasso, in: ders., Goethes Dramen. Interpretationen, Stuttgart 1993, 199-253.
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schaftlichen Regeln gesetzt worden ist, durch eine leidenschaftliche Umarmung. Die Hofgesellschaft reist daraufhin überstürzt ab, Tasso bleibt allein mit Antonio zurück. Anders als Goethe stellte Stein nicht den Konflikt zwischen Kunst und Leben, zwischen dem schwärmerisch-impulsiven Tasso und dem bedächtig-rationalen Realpolitiker Antonio in den Vordergrund. Er fragte vielmehr konkret nach den sozialen Bedingungen künstlerischer Produktion und nach dem gesellschaftlichen Status des Dichters. Auf das Ergebnis dieser Befragung wies ein von Stein und Yaak Karsunke verfaßter Beitrag im Programmheft hin: „Goethes .Torquato Tasso' ist das Drama von dem überflüssigen (das heißt luxuriösen) Zuckerguß der Hohen Kunst, mit dem das unnötige Elend überzogen wird, um es genießbar zu machen", so der .globale Diskurs' der Inszenierung in der Selbstdeutung des Regisseurs. Diese Interpretationsperspektive wurde im Anschluß weiter präzisiert: „Hergestellt wird diese Konditorware von einem Produzenten, den man für frei Kost und Logis engagiert hat, und dem in der konventionell formalisierten Feudalgesellschaft die Rolle des Emotionalclowns zufällt. Seine Spezialbegabung sichert dem Tasso die materielle Existenz - der Preis dafür ist in Anpassung zu entrichten."54 Schon in der Anfangsszene übt sich Tasso in Posen, die dem Bild entsprechen sollen, das die Hofgesellschaft und der Herzog von Ferrara als Geldgeber von ihm haben. In seiner Kritik hat Volker Canaris diese Pantomime beschrieben: Tasso, in einem Kostüm der Goethezeit, streckt sich beispielsweise mit in den Nacken geworfenem Kopf dem „Kuß der Muse" entgegen, greift, die Feder in der Hand, mit „delikatem Schwung" nach dem Papier, mustert „stirnrunzelnd sein Poem" und hüllt „mit weihevoller Gestik den weiten Mantel des Hohen Priesters aller Poesie um sich"55. Wenn die Inszenierung 54
Peter Stein/Yaak Karsunke, Stein's Tasso, in: Programmheft Nr. 14 des Theaters der Freien Hansestadt Bremen (Spielzeit 1968/69). Auf die kontroversen Debatten über diese äußerst erfolgreiche Inszenierung sowie auf ihre ausfuhrlichen Beschreibungen und Analysen sei an dieser Stelle nur kurz verwiesen: Vgl. v.a. Volker Canaris Hg., Torquato Tasso. Regiebuch der Bremer Inszenierung, Frankfurt a.M. 1972; Theater heute, Jahrbuch 1969, 20-31 (mit Beiträge von Joachim Kaiser, Hellmuth Karasek, Siegfried Melchinger und Ivan Nagel); Peter Iden, Theater - verloren und gewonnen, in: Frankfurter Rundschau, 2.4.1969; Jost Nolte, Verhunzter Aristophanes, übertrumpfter Goethe. Zwiefache Bremer Revolution: Kollektivregie statt Regietheater? in: Die Welt, 1.4.1969; Wilhelm Herrmann, Fünf Komiker suchen den Autor, in: Weser-Kurier, 1.4.1969; Günther Rühle, Der arme Hund Tasso im goldenen Käfig, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.4.1969; Urs Jenny, Fachidioten und ihre Kunststücke, in: Süddeutsche Zeitung, 1.4.1969; Botho Strauß, Das schöne Umsonst, in: Theater heute 10.1969/H.5, 12-16; Peter Handke, Der Dramaturgie zweiter Teil. Die .experimenta 3' der Deutschen Akademie der darstellenden Künste in Frankfurt, in: Die Zeit, 13.6.1969; Joachim Kaiser, Räuber: dumm, Philoktet: schlecht, SDS: denkfaul, Handke: was? in: Die Zeit, 20.6.1969; Donald H. Crosby, Goethes ,'Tasso' in der Inszenierung von Peter Stein, in: Wolfgang Wittkowski Hg., Goethe im Kontext. Kunst und Humanität, Naturwissenschaft und Politik von der Aufklärung bis zur Restauration. Ein Symposium, Tübingen 1984, 136-147; Guido Hiß, Der theatralische Blick. Einführung in die Aufführungsanalyse, Berlin 1993, 155-286.
55
Volker Canaris, Bruno Ganz spielt Tasso und analysiert Tasso, in: Theater Jahrbuch 1969, 58.
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als Ganze diese klischeehaften Erwartungen an Kunst und Künstler in ihrer Leere und Brüchigkeit szenisch durchschaubar machte, so legte schon Tassos erster Auftritt diese Deutungsrichtung nahe. In dem Moment, in dem Tasso, „den Umhang zusammenraffend, feierlich Platz auf dem Thron des Dichterfürsten" nehmen will, setzt er sich, „würdevoll ins Weite blickend - daneben" 56 . Die Leere und Falschheit seiner Gesten wurde durch diesen mißglückten Abschluß offensichtlich. Gleichwohl erfolgte das Mißgeschick nicht in parodistischer Absicht, sondern war auf eine demonstrierende Wirkung angelegt. Allein über die expressive Körpersprache führte die Szene vor, wie abhängig und gleichzeitig überfordert Tasso ist. Eine in ähnlicher Absicht entlarvende Funktion hatten auch die anderen Elemente der Inszenierung. Bereits das Bühnenbild evozierte mit einem grünen Plüschrasen und hohen Plexiglaswänden einen abgeschlossenen und künstlichen Raum. Artifiziell wirkte auch die „äußerste Akkuratheit" 57 der zwar überdeutlich artikulierten, jedoch stilisierend-verschleiernden „Sentenzensprache", die Stein „in ihrer allgemeinsten Funktion als einhegenden Selbstschutz der Herrschenden" 58 kritisch durchleuchtete. Obwohl die Figuren diese Sprechweise jeweils zu anderen Zwecken einsetzten, strich die Sprache die negativen Eigenschaften der Charaktere überdeutlich heraus. In gleicher Weise zielten die Streichungen und Verschiebungen im Text darauf, das „Morsche" 59 an den Figuren und ihren Beziehungen erkennbar werden zu lassen. Beispielsweise fällt der für den ,globalen Diskurs' von Steins Inszenierung zentrale Satz des Herzogs: „Gefunden hab ich Tasso und gewählt/Ich bin auf ihn als meinen Diener stolz" 60 bei Goethe erst in der 1. Szene des 5. Aktes in einem Zwiegespräch zwischen Alfons und Antonio. Die Bearbeitung verlegte ihn jedoch in ein an die Bekränzungsszene anschließendes Zwischenspiel, das die Haltung aller Figuren zu Tasso und seiner Kunst anhand von collagehaft montierten Dialogstellen exemplarisch vorstellt. Damit wurde Alfons gleich zu Beginn der Auffuhrung als generöser, aber eitler Adliger eingeführt, der an der Dichtung nur als Besitz Freude haben kann. Tassos Abhängigkeit ließ Bruno Ganz auch in seiner Darstellung durchschaubar werden. Er zitierte den , Emotionalclown' eher, als daß er ihn verkörperte. 61 Zugleich blieb hinter dem Zitat immer der Schauspieler sichtbar. Dadurch konnte Ganz „die Ana-
56 57 58
59
Ebd. Rühle, Der arme Hund Tasso. Ivan Nagel, Epitaph und Apologie auf Steins ,Tasso', in: Theater heute, Jahrbuch 1969, 27-31, 29. Crosby, Goethes Tasso in der Inszenierung von Peter Stein, 139.
60
Im Original: „Gefunden hab ich diesen und gewählt,/ Ich bin auf ihn als meinen Diener stolz"; Johann Wolfgang von Goethe, Torquato Tasso, V. Aufzug, 1. Auftritt, Vers 2850f.
61
Vgl. zu den einzelnen Aspekten des in Steins Inszenierung entworfenen Künstler-Bildes: Siemke Böhnisch, Das Künstler-Bild in der .Tasso'-Inszenierung von Peter Stein (Bremen 1969), in: Hajo Kurzenberger Hg., Praktische Theaterwissenschaft. Spiel - Inszenierung - Text, Hildesheim 1998, 105-131.
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lyse der historischen Figur gegen sich selbst, den gegenwärtigen Darsteller" 62 wen-den und den aktuellen Anspruch der Inszenierung deutlich machen. Gerade durch die fehlende Identifikation des Schauspielers mit seiner Rolle wurde Tasso in den Augen des Ensembles zum Modellfall auch für die Situation des Theaters in der Gesellschaft der sechziger Jahre: „Wir wissen," so Stein, „daß wir mit unserer Inszenierung [...] Erwartungen befriedigen: wir verhalten uns dabei wie Goethes Tasso und wie Goethe selbst." 63 In der Auseinandersetzung mit dem Klassiker reflektierten die Schauspieler folglich gleichzeitig ihre persönliche Situation. Ähnlich wie Tasso, so etwa Edith Clever, werde sie als Schauspielerin „nie zu selbständigem Denken gezwungen oder angeregt". Stattdessen sei sie ständig dem existentiellen Zwang ausgesetzt, den Intendanten und Regisseure ausübten. Durch die 7a.sso-Arbeit aber habe sie begriffen, „daß diese Zustände veränderbar sind". 64 Bruno Ganz gestand, daß ihn besonders die Szene persönlich angesprochen habe, in der Tasso vom Herzog den Lorbeerkranz erhält. Sie habe ihn daran erinnert, „wie ich auf Lob von Publikum, Intendanten, Regisseuren reagiere. Dadurch konnte ich [...] sehen, daß Tassos Abhängigkeit vom Duodezfürsten Alfons, und meine vom Intendanten [...], sich höchstens formal unterscheiden" 65 . Indem die Inszenierung das Ohnmachtsgefühl der Kunstschaffenden im Produktionsprozeß szenisch vergegenwärtigte, formulierte sie zugleich eine auf die Institution und auf die Gesellschaftsordnung als Ganze bezogene Autoritätskritik. Dieser Deutungsaspekt wurde in den Aufführungen dadurch verstärkt, daß als außerkünstlerisches Mittel der Verdeutlichung eine zusätzliche Pausenveranstaltung vorbereitet wurde. Schauspieler, Regisseur und Regieassistent betraten bei Pausenanfang die Bühne und begannen eine Diskussion mit dem Publikum. Noch einmal präzisierten sie in diesem Kontext den aktuellen Anspruch der 7asso-Inszenierung. Indem sie zu ihrer eigenen Arbeitssituation am Theater Stellung bezogen, betonten sie nicht nur die Abhängigkeiten der Künstler, sondern wiesen auch auf die vielfältigen gesellschaftlichen Zwänge hin, unter denen auch das Publikum stehe. Auf konkrete Forderungen oder Änderungsvorschläge verzichteten sie dagegen. 66 Steins Tasso nahm so auf mehreren Ebenen selbstreflexive Züge an, die den autoritätskritisch-emanzipatorischen Impuls im ,globalen Diskurs' der Inszenierung verstärkten. Dadurch machte die Inszenierung deutlich, daß „weder solche geistige Artikulation, noch solcher intellektuelle und artistische Reichtum des Spiels je hätten entstehen können, hätten sich die Anstrengungen des Regisseurs und der Spieler nicht auch gegen das
62
Canaris, Bruno Ganz.
63
Stein/Karsunke, Tasso.
64
Erich Emigholz, 30 Fragen an den Bremer,Tasso' (Antwort von Edith Clever auf die Frage nach dem Verhältnis von Inszenierung und kritischem Bewußtsein), in: Programmheft. Clever spielte in der Inszenierung die Gräfin Leonore Sanvitale.
65
Ebd. (Antwort von Bruno Ganz auf die Frage nach seinem persönlichen Interesse an dem Stoff).
66
Vgl. dazu die Stellungnahmen der Theaterakteure, in: Canaris Hg., Torquato Tasso. Regiebuch, 121-126.
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Dorothea Kraus
Spiel, auf agitatorische Mitteilung gerichtet."67 Sowohl durch die Art der Darstellung auf der Bühne als auch durch die Begleitveranstaltung wurde die Grenze zwischen Wirklichkeits- und Kunstraum immer wieder überschritten. Deswegen nahmen bereits die Zeitgenossen Tasso wie kaum eine andere Inszenierung der späten sechziger Jahre als Symbol und szenischen Ausdruck aktueller gesellschaftspolitischer Entwicklungen wahr. Kritisch fragte sich zum Beispiel Ivan Nagel, ob Steins Theaterarbeit nicht so offensichtlich von der „geistig-politischen Krise dieser Tage" 68 beeinflußt sei, daß die Dominanz des Weltanschaulichen die ästhetische Modellfunktion seiner Inszenierung unterlaufe. „Auf dem Höhepunkt der Studenten-Bewegung" habe Stein die „Aktualität gerade dieses Stückes" 69 erkannt, lautete 1983 auch das rückblickende Urteil von Rolf Michaelis. Günther Rühle stellte einen noch direkteren Bezug zwischen Steins Inszenierung und den beiden zentralen Leitideen der 68er Bewegung - Bewußtseinsveränderung und Demokratisierung - her. Gerade das „aufsässig-rebellisch-emanzipatorische Fragen ins Stück" hinein, so sein Fazit, sei „von der damaligen Situation in der Gesellschaft stimuliert" 70 worden. In der Tat hatte Stein selbst seine Inszenierung als kritischen Kommentar zu den gesellschaftlichen Zwängen und sozialen Hierarchien nicht nur des Theaters, sondern auch der Bundesrepublik konzipiert. Daß er dabei auf die Leitideen der Protestbewegung Bezug nahm, läßt seine enge Zusammenarbeit mit dem APO-Aktivisten Yaak Karsunke vermuten, den er bereits aus München kannte. Drei Jahre älter als Stein, hatte sich der Schriftsteller und Publizist Karsunke seit 1964 in der APO engagiert und war 1968 Sprecher der Ostermarsch-Kampagne für Demokratie und Abrüstung. 71 Die Figur des Tasso bot Stein und seinen Schauspielern vor allem deswegen eine Projektions- und Interpretationsfläche, weil sie soziale Abhängigkeiten nicht nur als abstrakten Zwang erkennbar werden ließ. Vielmehr verkörperte sie paradigmatisch die Problematik intellektuellen Engagements: „Man verlangt von ihm," so die Schauspielerin Edith Clever in ihrem Beitrag zur ,Pausenveranstaltung' über Tasso, „daß er Kunst macht und sich benimmt, wie sich's ziemt." Natürlich wolle Tasso primär Kunst schaffen, doch habe er
67
Nagel, Epitaph und Apologie, 28. Wie problematisch es sein kann, diese für Stein und seine Schauspieler fast schon existentielle historische Deutungsebene zu vernachlässigen, zeigt sich an Crosbys kritischem ex post Vergleich zwischen Originaltext und Steins Inszenierung, der die Eingriffe in den Text nicht in ihrer Funktion fur die Inszenierung, sondern vor allem als sinnentstellende Goethe-Verfremdung betrachtet; vgl. Crosby, Goethes ,'Tasso'.
68
Nagel, Epitaph und Apologie, 31. Rolf Michaelis, Von den Barrikaden in den Elfenbeinturm. Aufbruch, Leerlauf, Stillstand: Die undeutlichen Jahre. Schauspiel in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1967 und 1982, in: Manfred Linke Hg., Theater. Theatre. 1967-1982, Berlin 1983, 7-24, 13. Vgl. auch Hiß, Der theatralische Blick, 287-301.
69
70
Günther Rühle, Die Suche nach der Kunst. Elf Jahre Theaterarbeit in Bremen (1962-73), in: ders., Theater in unserer Zeit, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1976, 186-205, 193.
71
Karsunkes 1969 geschriebenes und Bruno Ganz gewidmetes .simples sonett auf Torquato Tasso' entstand direkt unter dem Einfluß von Steins Inszenierung.
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„darüber hinaus das Bedürfnis, in der Gesellschaft auch eine andere Rolle zu spielen. Wenn er sich jedoch aus der ihm zugewiesenen Rolle als Hofdichter herausbegeben will, wird ihm dies sofort von der Gesellschaft untersagt." In dieser Beziehung wolle die Inszenierung auch deutlich machen, „daß wir hier oben" - gemeint sind die Schauspieler auf der Bühne - „nämlich alle eine Art Tasso sind."72 Zielte der .globale Diskurs' von Steins Inszenierung somit ganz allgemein auf die Unterdrückung intellektuellen Engagements durch gesellschaftliche Zwänge, so konkretisierten ihn die Schauspieler noch einmal in bezug auf ihre eigene Situation. Während der .Pausenveranstaltung' forderten sie explizit mehr „Mitbestimmungsmöglichkeiten"73 gegenüber Intendanten und Regisseuren ein. Diese Interpretation wurde selbst von den kritischen Zuschauern aus APO-Kreisen akzeptiert - jedenfalls scheint es weder in Bremen noch an der Schaubühne am Halleschen Ufer Berlin, wo Stein die Auffuhrung wieder aufnahm, zu Protesten gekommen zu sein. Mochte die Inszenierung auch das Recht auf selbstbestimmte Entfaltung des Individuums und eine Ausweitung von Partizipationschancen nur ex negativo fordern, so fand sich die APO offenbar in der Deutung bestärkt, intellektuelle Ohnmacht unmittelbar auf gesellschaftliche Zwänge zurückzuführen. Denn obwohl Tasso ein mindestens ebenso großer Schwärmer ist wie Dorsts Toller, obwohl er die realen Verhältnisse mindestens ebenso verkennt wie Weiss' Marat, obwohl er gegen die äußeren Zwänge mit noch weniger Erfolg revoltiert, wurde sein Scheitern nicht als persönliches, sondern als gesellschaftliches Versagen gedeutet. In der Verbindung von agitatorischer Mitteilung und formal strengen Kunstmitteln bekannte sich die Inszenierung zu der Forderung, die in den Gesellschaftsanalysen und Aktionsstrategien der APO bereits vorweggenommen worden war: Daß eine wichtige Voraussetzung sozialen Wandels darin bestehen müsse, Bewußtsein zu schaffen für die unterdrückten Bedürfnisse der Menschen und für die Fremdbestimmtheit in Freizeit und Beruf. In drei Hauptthesen lassen sich die Ergebnisse der Argumentation abschließend noch einmal zusammenfassen: 1. Wie sich im Kontext der Protestbewegung Ende der sechziger Jahre exemplarisch zeigt, ist das Feld des Theaters keine ,Welt für sich'. Während die APO ihre Kritik an szenischen Interpretationen, Darstellungsformen und institutionellen Rahmenbedingungen in die Auffuhrungen hineintrug, waren auch Dramen wie Dorsts Toller und Inszenierungen wie Neuenfels' Marat/Sade und Steins Tasso erkennbar von den Protestereignissen geprägt. Allerdings zeitigten die äußeren Einflüsse keine direkten Folgen im Feld. Die Feststellung Bourdieus, daß sich externe Faktoren „stets nur über die spezifischen Kräfte und Formen des Feldes" auswirken und zunächst „in einer Weise umstrukturiert wurden, die um so tiefer greift, je autonomer das Feld ist, je fähiger es ist, seine spezifische Logik zur Geltung zu bringen"74, gilt auch für das Theater. Zwar ist die 72
Edith Clever, Beitrag zur Pausenveranstaltung, in: Canaris Hg., Torquato Tasso., 123f.
73
Bruno Ganz, Beitrag zur Pausenveranstaltung, in: ebd., 124f., 124.
74
Bourdieu, Die R e g e l n der Kunst, 3 6 7 .
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Autonomie des Theaterfeldes in der Bundesrepublik begrenzt, insofern es sich historisch in enger Beziehung zum literarischen, politischen und ökonomischen Feld entwickelt hat. Dennoch stellten selbst die politisch aktiven Theaterakteure der sechziger Jahre zu keinem Zeitpunkt die illusio des Feldes in Frage. Natürlich konkurrierte die politische Theaterkonzeption von Palitzsch, Heyme oder Stein mit dem dominierenden unpolitischen Theaterverständnis, das sie zugleich herausforderte. Trotzdem setzten sich auch diese Regisseure für eine Erneuerung des Theaters ein, welche die grundsätzliche Sinnhaftigkeit von Medium und Institution nicht anzweifelte. Indem sie in ihren Inszenierungen zu den Ereignissen Stellung bezogen und teils sogar Elemente des Protests ästhetisch integrierten, überschritten sie temporär die Grenze zwischen Kunst und Politik. Für irrelevant erklärt oder gar aufgehoben wurde sie jedoch keineswegs. 2. Die A P O dagegen zielte mit ihrem Protest gegen einzelne Inszenierungen und Aufführungen darauf, Theater als politisches Mittel grundsätzlich zu entlegitimieren. Anlaß boten ihr dabei vor allem die szenischen Deutungen von Intellektuellen-Figuren. Zum einen galt den Akteuren dieses Scheitern zugleich als Scheitern der im scheinbar ,bloß Theatralen' verbleibenden politischen Stellungnahme des Regisseurs. Zum anderen wurde es aber auch generell als Beweis für die relative Wirkungslosigkeit intellektuellen Engagements gegenüber der ,reinen' Politik interpretiert. In der Tat blieben die künstlerischen Positionsbestimmungen auf der Bühne als der Feldlogik eigene „Instrumente" 75 des politischen Engagements eher indirekt. Zurückzuführen ist dies auf die Heteronomie des Theaterfeldes: Erstens konnten die literarische Texte, die den Inszenierungen zugrunde lagen, nur bis zu einem gewissen Grad verändert und an bestimmte Deutungsabsichten des Regisseurs angepaßt werden. Dies galt um so mehr, wenn zeitgenössische Autoren wie Peter Weiss und Tankred Dorst in den Inszenierungsprozeß einbezogen wurden. Zweitens mußten die bundesdeutschen Regisseure ebenso wie die Intendanten ihre künstlerischen Produkte im staatlich subventionierten System des öffentlichen Theaters gegenüber den Geldgebern legitimieren. Wer - wie Stein und Schwiedzrik mit ihrem Münchner Viet Nam Diskurs - zu eindeutig Stellung bezog, riskierte die Entlassung. Theatrale Agitation im eigentlichen Sinne des Wortes war deshalb nur außerhalb des subventionierten Theatersystems möglich. Die Konsequenz aus dieser Erkenntnis zogen nach 1968 auch einige APO-Akteure, indem sie Straßentheatergruppen oder Theaterkommunen gründeten. Viele dieser Laiengruppen hatten in den siebziger Jahren im Bereich des Zielgruppentheaters (Kindertheater, Lehrlingstheater etc.) großen Erfolg. Dagegen setzte im Berufstheater ein „Prozeß der Ernüchterung, des Abschieds von der Revolte" 76 ein. Er wurde vorbereitet durch die Resignation, mit der viele politisch engagierte Regisseure bereits ab 1968 in ihren Inszenierungen auf die ausbleibenden gesamtgesellschaftlichen Veränderungen reagierten. 75 76
Ebd., 525. Günther Rühle, Theater - Die Bewährung und die Wende, in: Hilmar Hoffmann/Heinrich Klotz Hg., Die Kultur unseres Jahrhunderts, Bd.6: 1970-1990, Düsseldorf 1990, 107-131, 113.
Zwischen Agitation und Resignation
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3. Die Selbstreflexivität, mit der die Regisseure in den späten sechziger Jahren ihren politischen und künstlerischen Standort suchten, kennzeichnete zunehmend auch die Haltung der Schauspieler zu ihrer Arbeit. Während der Diskussionen um Tasso beispielsweise zeigte sich: Gerade die Jüngeren unter ihnen verstanden Engagement zwar zum einen als Aufklärung der Zuschauer, zum anderen aber als aktive Veränderung des eigenen Bewußtseins. Gemeint war damit ein Bewußtsein sowohl für die spezifische berufliche Tätigkeit des Schauspielers als auch für die von außen vorgegebenen Arbeitsbedingungen. Mit einem so verstandenen Engagement wurde ab 1968 die politische Forderung nach einer Demokratisierung des Theaters als Organisationsform verbunden. Dabei stand zunächst die Forderung nach Se/ösibestimmung in der künstlerischen und betrieblichen Arbeit im Vordergrund. Realisiert werden konnte dieser Anspruch aber faktisch nur in Form einer begrenzten MYsprache und Mitbestimmung. An einigen Theatern - etwa der Schaubühne am Halleschen Ufer in Berlin oder den Städtischen Bühnen Frankfurt - wurde die Mitbestimmung sogar offiziell in der Betriebsverfassung verankert. Die meisten Mitsprache- und Mitbestimmungsmodelle erwiesen sich jedoch in der ersten Hälfte der siebziger Jahre der alltäglichen Praxis des Theaterschaffens nicht gewachsen. Dennoch setzte der Kampf um die Mitbestimmung ein Zeichen gegen die bereits früh einsetzende Resignation auf der Bühne: Die politische Aufbruchstimmung, die künstlerisch nicht mehr zu vertreten war, verlagerte sich in den Versuch einer aktiven Mitgestaltung von Arbeitsbedingungen und Betriebsformen.
CLAUS KRÖGER
„Establishment und Avantgarde zugleich"?1 Siegfried Unseld und der Börsenverein des Deutschen Buchhandels 1967/68
Buchverleger als Intellektuelle? Gewiß, ganz unbestritten ist, daß auch Verleger zeitweise in die Rolle des Intellektuellen schlüpfen können - wenn sie sich beispielsweise für verfolgte Autoren einsetzen, das Recht auf freie Meinungsäußerung einfordern und sich damit für die Durchsetzung eines verbrieften Menschenrechtes engagieren. Aber lassen sich Buchverleger generell oder auch nur ein bestimmter Verlegertypus gleichsam qua Beruf als Intellektuelle begreifen? Ganz abwegig ist die Frage keineswegs. Gangolf Hübinger zumindest hat vor einiger Zeit mit Nachdruck den Blick auf die Bedeutung gelenkt, die der , Kulturverleger' Eugen Diederichs mit seinem Verlag als „Versammlungsort moderner Geister" zu Beginn des 20. Jahrhunderts für die Kommunikation und Selbstdarstellung zahlreicher intellektueller Zirkel und Bünde gehabt hat.2 Er habe als Propagandist von „zivilisationskritischen Wertideen einer neuen nachkapitalistischen Gemeinschaft" sowie als Organisator einer diese Werte debattierenden bürgerlich-kulturkritischen Öffentlichkeit gewirkt.3 Im Anschluß daran haben Justus H. Ulbricht und Meike G. Werner zudem nahegelegt, Diederichs selbst könne daher als Intellektueller angesprochen werden und auch Helen Müller hat unlängst betont, zahlreiche der um 1900 neu in die europäischen literarischen Felder eintretenden Verleger
2
3
Mit dieser Formel „Establishment und Avantgarde zugleich" hatte die Verlegerin Inge Feltrinelli die Vermittlungsversuche Siegfried Unselds während der Proteste auf der Frankfurter Buchmesse 1968 bezeichnet. Ich vertrete im folgenden die Auffassung, daß sich mit dieser Formel auch Unselds Agieren während der Debatte um die Reform des Börsenvereins treffend charakterisieren läßt. [Siegfried Unseld], Chronik eines Konflikts, Siegfried Unseld Archiv, Frankfurt a.M., Zitat 8. Bei der Chronik handelt es sich um maschinenschriftliche Aufzeichnungen, die Unseld im Kontext des sogenannten ,Lektorenaufstandes' im Suhrkamp Verlag angefertigt hat. Vgl. Gangolf Hübinger Hg., Versammlungsort moderner Geister. Der Eugen Diederichs Verlag Aufbruch ins Jahrhundert der Extreme, München 1996. Ders., Einleitung. Verlagsgeschichte als Kulturgeschichte, in: ders. Hg., Versammlungsort, 9-23, Zitat 11.
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Claus Kröger
hätten sich selbst als Intellektuelle wahrgenommen.4 Aus wissenschaftlicher Perspektive ergibt sich ein solches Verständnis folgerichtig aus einem Intellektuellen-Begriff, der idealtypisch formuliert, Intellektuelle stellten sich „in den Dienst eines Ideals, weltdeutend und sinnvermittelnd", sie leiteten „aus diesem Ideal Kulturwerte ab" und kämpften „um deren Verbindlichkeit bei der rationalen Gestaltung der sozialen Ordnung und bei der Systematisierung persönlicher Lebensführung", hierbei verfügten sie „über die Macht des gesprochenen und geschriebenen Wortes", ohne jedoch „die politische Verantwortlichkeit für das daraus resultierende praktische Handeln übernehmen zu müssen."5 Folgt man dieser weitgefaßten Definition, so lassen sich auch noch andere Buchverleger als Intellektuelle begreifen. Um nur zwei zu nennen: Samuel Fischer etwa, der einmal formuliert hat, es sei „die wichtigste und schönste Mission des Verlegers", ,,[d]em Publikum neue Werte aufzudrängen, die es nicht will" oder auch, Jahrzehnte später, der Frankfurter Verleger Siegfried Unseld, der sich auf dieses Diktum Fischers zur Beschreibung der eigenen Berufsauffassung berief und der noch dazu betonte, vom Buch müßten „Impulse für die moralische Verantwortung ausgehen".6 Leicht ließe sich die Reihe solcher Selbstcharakterisierungen fortsetzen und man sollte derlei nicht vorschnell als billige Selbststilisierung abtun. Denn auch aus der Außenperspektive wurde und wird einigen Buchverlegern nachgesagt, sie seien intellektuell einflußreich gewesen und hätten Kultur und Öffentlichkeit mitgeprägt. Noch einmal: Gibt es einen Verlegertypus, dessen Vertreter per se als Intellektuelle gelten können? Ein leichtes Unbehagen bleibt. Dies beruht nicht zuletzt auf dem doppeldeutigen Schaffen des Buchverlegers, das, dem zweifachen Charakter des Buches - Ware und Kulturgut zugleich - entsprechend, im Regelfall zwischen den Sphären der Kultur und der Ökonomie eine fragile Balance finden muß. Oder, etwas deutlicher formuliert: Werden die ehernen Gesetze des Marktes zu lange ignoriert, droht, in Anlehnung an Max Weber gesprochen, ,die Strafe des ökonomischen Untergangs' und damit auch das Ende jeglicher kulturellen oder kulturpolitischen Ambition. Nun läßt sich das Unbehagen ein wenig konkretisieren: Sollte man Akteure als Intellektuelle begreifen, die sich zwar einerseits für Ideale
4
5
6
Vgl. Justus H. Ulbricht/Meike G. Werner, Romantik, Revolution und Reform. Der Eugen Diederichs Verlag im Epochenkontext 1900-1949. Eine Vorbemerkung, in: dies. Hg., Romantik, Revolution und Reform. Der Eugen Diederichs Verlag im Epochenkontext 1900-1949, Göttingen 1999, 7-18, v.a. 9; Helen Müller, Verlagswesen und europäische Massenkommunikationsgesellschaft um 1900, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 27.2002/H.l, 170-197. Gangolf Hübinger, Die europäischen Intellektuellen 1890-1930, in: Neue Politische Literatur 39.1994, 34-54, Zitat 34f. Peter de Mendelssohn, S. Fischer und sein Verlag, Frankfurt a.M. 1986, 5; Niveau zahlt sich aus. Ein Haus des Geistes und der Literatur: Der Suhrkamp Verlag wird 50. Verleger Siegfried Unseld im Gespräch, in: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr.52, 30.6.2000, 7-11; Peter Michalzik, Unseld. Eine Biographie, München 2002, 166.
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einsetzen mögen und die Wertideen zu verbreiten trachten, dabei aber andererseits ihre eigenen ökonomischen Interessen nicht aus den Augen verlieren dürfen? Auch von einer theoretischen Warte aus lassen sich die Zweifel unterfüttern. Denn hinzu tritt, daß eine solche Definition des Intellektuellen, wie sie Hübinger vertritt, alles andere als unumstritten ist: Lepsius etwa betont eher das ephemere Moment des intellektuellen Engagements, nach seinem Verständnis ist man Intellektueller nur auf Zeit, nur dann, wenn man „inkompetente Kritik" übt.7 Bourdieu knüpft daran an und erhebt das Charakteristikum der Autonomie zum zentralen Merkmal des Intellektuellen: „Um den Namen Intellektueller zu verdienen, muß ein Kulturproduzent zwei Voraussetzungen erfüllen: zum einen muß er einer intellektuell autonomen, d.h. von religiösen, politischen, ökonomischen usf. Mächten unabhängigen Welt (einem Feld) angehören und deren besondere Gesetze respektieren; zum anderen muß er in eine politische Aktion, die in jedem Fall außerhalb des intellektuellen Feldes in engerem Sinne stattfindet, seine spezifische Kompetenz und Autorität einbringen, die er innerhalb des intellektuellen Feldes erworben hat."8
Hält man sich in analytischer Perspektive an Lepsius und Bourdieu, ist es ganz klar: Intellektueller ist man nie qua Beruf, sondern nur fallweise, auch wenn eine berufliche Tätigkeit im Kulturbereich, von ökonomischen oder anderen Zwängen möglichst enthoben, zu den Voraussetzungen eines potentiellen intellektuellen Engagements zu zählen ist. Im Anschluß daran noch eine letzte Überlegung: Vielleicht ist es ja geboten, gelegentlich die Relation von Ökonomie und Kultur im Verlagswesen aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Keine Frage, die Klagen über Konzentrationsprozesse im Buchverlagswesen und im Sortimentsbuchhandel sind alles andere als grundlos.9 Aber muß man daher .Kommerz' gegen .Kultur' ausspielen und als miteinander grundsätzlich unvereinbar betrachten? Über aller berechtigten Kritik an aktuellen Entwicklungen sollte doch nicht vergessen werden, daß Literatur ohne Distribution über Märkte - vulgo: ohne Kommerzialisierung - in nicht-autoritär verfaßten Gesellschaften nicht zu haben ist. Der Kölner Verleger Joseph Caspar Witsch hat daran bereits 1958 mit Nachdruck erinnert: „Der Buchhandel insgesamt kommt leicht in den Verdacht, [...] er benutze die Kultur und seine Tätigkeit im Dienste der Literatur [...] als eine immer gut wirkende Phrase zur Verdeckung oder zur Tarnung oder zur rhetorischen Reduzierung seines prächtig entwickelten Geschäftssinns. Die Kommerzialisierung der Literatur ist die notwendige Bedingung ihrer Freiheit. Nur wenn Literatur frei gehandelt wird, so wie Kühlschränke, wie Autos, Pfeffer und Salz gehan-
8
9
Vgl. M. Rainer Lepsius, Kritik als Beruf. Zur Soziologie der Intellektuellen, in: ders., Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1990, 270-285, v.a. 281ff. Pierre Bourdieu, Der Korporativismus des Universellen. Die Rolle des Intellektuellen in der modernen Welt, in: ders., Die Intellektuellen und die Macht, hg. v. Irene Dölling, Berlin 1991,4165, 42. Vgl. nur die aktuelle Ze/i-Umfrage unter deutschen Verlegern: Wie geht's? in: Die Zeit Literatur, März 2006, 33-38.
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delt werden, bleibt sie frei. In dem Augenblick in dem sie aus einem Gegenstand des Geschäfts verwandelt wird in ein Objekt der Fürsorge des Staates, verliert sie ihre Unabhängigkeit und mit ihrer Unabhängigkeit Wahrheit und Schönheit."10
Auch dem Frankfurter Verleger Siegfried Unseld war die janusköpfige Tätigkeit des Buch Verlegers nur allzu vertraut. Das Brechtsche Diktum von der .geheiligten Ware Buch' aufnehmend, formulierte Unseld, der Buchverleger müsse „nun einmal Geschäft mit Geist verbinden": Der Verleger „will Literatur realisieren und braucht für die Realisierung von Literatur ein ökonomisch ausgerichtetes Unternehmen." 11 Damit nicht genug, hebt Unseld noch einen dritten Aspekt verlegerischer Existenz hervor: Die Möglichkeit, gewollt oder ungewollt, „aktiv in den politischen Tagesstreit" verwickelt zu werden. 12 Nimmt man dies zum Ausgangspunkt und betrachtet die berufliche Tätigkeit des Buchverlegers nicht per se als diejenige eines Intellektuellen, wohl aber als eine, die sich vielfach an der Schnittstelle zwischen den verschiedenen Wertsphären des Kulturellen, Ökonomischen und Politischen bewegt, so scheint es gleichwohl interessant, den Buchverleger unter den Bedingungen der Massenkommunikationsgesellschaft der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einmal etwas genauer in den Blick zu nehmen. Der vorliegende Beitrag befaßt sich daher weder mit einem oder mehreren Intellektuellen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch mit einer spezifischen intellektuellen Intervention, vielmehr widmet er sich anhand eines Fallbeispiels den Relationen zwischen Ökonomie, Kultur und Politik im Kontext des westdeutschen Buchmarktes der 1960er Jahre. Er konzentriert sich damit auf einen Zeitraum, der in der historischen Forschung als „Scharnierjahrzehnt" sowie als „Zeit der gesellschaftlichen Unruhe und der politischen Verunsicherung" charakterisiert und als „Phase der Gärung, in der sich eine Fülle von Veränderungsimpulsen wechselseitig verstärkten", gedeutet wird. 13 Meine Überlegungen nehmen eine Konfliktkonstellation ganz besonderer Art in den Blick: diejenige zwischen dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels auf der einen und dem Leiter des Suhrkamp Verlages, Siegfried Unseld, auf der anderen Seite. Hierbei ging es um die Frage, ob und, wenn ja, wie der Börsenverein zu reformieren sei. Auf den ersten Blick mag es aussehen, als gäbe es kaum etwas Uninteressanteres als die Geschichte von 10
11
12 13
So der Kölner Verleger auf der Pressekonferenz zur Frankfurter Buchmesse 1958, Joseph C. Witsch, Zehn Jahre Frankfurter Buchmesse, in: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr.78, 30.9.1958, hier zit. n. Peter Weidhaas, Zur Geschichte der Frankfurter Buchmesse, Frankfurt a.M. 2003, 221. Siegfried Unseld, Die Aufgaben des literarischen Verlegers, in: ders., Der Autor und sein Verleger. Vorlesungen in Mainz und Austin, Frankfurt a.M. 1978, 9-64, Zitate 14,15. Ebd., 19. In der Reihenfolge der Zitate: Axel Schildt/Detlef Siegfried/Karl Christian Lammers, Einleitung, in: dies. Hg., Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, 11-20, Zitat 13; Klaus Schönhoven, Aufbruch in die sozialliberale Ära. Zur Bedeutung der 60er Jahre in der Geschichte der Bundesrepublik, in: Geschichte und Gesellschaft 25.1999, 123-145, Zitate 131,128.
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zugleich"?
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Wirtschaftsverbänden und blickt man in einige ältere Veröffentlichungen14, scheint der altehrwürdige Börsenverein des Deutschen Buchhandels da keine Ausnahme zu machen. Und doch gilt: Wer über den Börsenverein des Deutschen Buchhandels nicht reden will, kann vom Buchmarkt und dessen institutioneller Entwicklung - zumal in den 1960er Jahren - nur schweigen. Denn als intermediäre Instanz und wichtigster Fachverband des herstellenden wie auch des vertreibenden Buchhandels repräsentiert der Börsenverein damals wie heute die Unternehmen des Buchmarkts gegenüber Politik, Wirtschaft und Kultur und organisiert eine der weltweit bedeutendsten Buchmessen. Mit einigem Recht kann der Börsenverein zudem zu den „effizientesten Standesorganisationen Deutschlands" gezählt werden.15 Die folgenden Ausführungen gliedern sich in fünf Abschnitte. Zunächst sollen Struktur, Aufgaben und Bedeutung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels etwas genauer in den Blick genommen werden. Sodann steht Siegfried Unseld im Mittelpunkt des Interesses. Skizziert wird der Werdegang einer der zentralen Verlegerpersönlichkeiten der Bundesrepublik Deutschland. In den zwei darauf folgenden Abschnitten werden die beiden vorigen Stränge der Analyse und Darstellung an den Beispielen der öffentlichen Diskussion über die Reformbedürftigkeit des Börsenvereins, der Proteste auf der Frankfurter Buchmesse 1967 sowie der eskalierenden Debatte innerhalb des Börsenvereins zusammengeführt. Abschließend wird eine Antwort auf die Frage gesucht, wie der Konflikt zwischen dem Börsenverein und Unseld sowie die Rolle des Frankfurter Verlegers darin einzuordnen und zu bewerten ist. Inwieweit kann davon gesprochen werden, Siegfried Unseld sei bei seinen öffentlichen Auftritten „Establishment und Avantgarde zugleich" gewesen?
Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels nach 194516 „Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels e.V. hat den Zweck, das Wohl des Gesamtbuchhandels und die Erfüllung seiner kulturellen Aufgaben zu sichern und zu fördern" - so stand es im ersten Paragraphen der Satzung des Börsenvereins zu lesen.17 14
15
16
17
Vgl. Andreas Werner, Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels nach 1945, München 1971; ders., Grundzüge und Hauptprobleme der Entwicklung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels 1945-1966, in: Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie 15.1968/H.2, 79-99. Dazu unten mehr. Reinhard Wittmann, Geschichte des deutschen Buchhandels, München 1999 2 , Zitat 413. In der Forschung zu Interessenverbänden findet der Börsenverein indes kaum Berücksichtigung, vgl. Hans-Peter Ullmann, Interessenverbände in Deutschland, Frankfurt a.M. 1998. Zum Börsenverein vgl. Volkhard Bode, Börsenverein des Deutschen Buchhandels, in: Erhard Schütz u.a. Hg., Das BuchMarktBuch. Der Literaturbetrieb in Grundbegriffen, Reinbek 2005, 6063; Stephan Füssel u.a. Hg., Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels 1825-2000. Ein geschichtlicher Aufriß, Frankfurt a.M. 2000; hieraus v.a. Monika Estermann, Der Börsenverein in den Westzonen und in der Bundesrepublik Deutschland, in: ebd., 161-191. Satzung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels e.V., Frankfurt am Main, [Frankfurt a.M.] 1955 Neudruck 1964, § 1. Bei allen Satzungsänderungen blieb dieser Passus bis in die 1970er
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Anders als andere vergleichbare Verbände war der Börsenverein des Deutschen Buchhandels eine Organisation, die alle Produktions- und Handelsstufen eines Wirtschaftszweiges unter einem Dach vereinte - die Buchverlage ebenso wie den Zwischenbuchhandel und schließlich den Einzelhandel, den sogenannten Sortimentsbuchhandel. Zunächst war der Börsenverein ein Verband der Landesverbände gewesen, das heißt die Landesverbände waren die Mitglieder des Börsenvereins - die Verbandsorganisation folgte also dem föderativen Aufbau der Bundesrepublik Deutschland. Nach längeren verbandsinternen Diskussionen änderte sich dies 1955: Zwar blieben die Landesverbände bestehen, der Börsenverein des Deutschen Buchhandels baute aber nunmehr auf der Mitgliedschaft von Einzelpersonen auf. Kurzum, der Verband der Verbände verwandelte sich in einen Unternehmerverband. Nach § 5 der neuen Satzung konnten solche Personen Mitglieder werden, „die für eigene Rechnung oder als Verantwortliche von Geschäftsbetrieben gewerbsmäßig Gegenstände des Buchhandels [...] herstellen, verbreiten oder vermitteln."18 Der Börsenverein stand gleichsam an der Schnittstelle von politischem, ökonomischem und kulturellem Feld.19 Er vertrat Verlage und Buchhandel auf der politischparlamentarischen Bühne ebenso wie in der publizistischen Öffentlichkeit und bot nach innen zahlreiche Serviceleistungen für die beteiligten Unternehmen. In der Außendarstellung neigte der Verband dazu, seine kulturellen Aufgaben in den Vordergrund zu stellen - sehr erfolgreich und mit kaum zu übertreffender gesellschaftlicher Ausstrahlung beispielsweise durch die alljährliche Verleihung des Friedenspreises des Deut20
sehen Buchhandels. Eine hartnäckige Lobbyarbeit in wirtschaftlichen Fragen war damit aber keineswegs ausgeschlossen. Bestimmende Themen der Verbandsarbeit in den ersten anderthalb Nachkriegsdekaden waren vor allem die Buchpreisbindung, die Ausbildung des buchhändlerischen Nachwuchses sowie die Etablierung der Frankfurter Buchmesse. Besonders in der Frage des festen Ladenpreises verfolgte der Börsenverein des Deutschen Buchhandels das Ziel, eine Heteronomisierung des Buchhandels durch die Wettbewerbs- und kartellrechtlichen Überlegungen der Akteure des politischen Fel-
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Jahre hinein unverändert, vgl. nur Satzung des Börsenvereins [Frankfurt a.M.] 1967, § 1; Satzung des Börsenvereins, Frankfurt a.M. 1972, § 1. Die derzeit gültige Satzung spricht indes nicht mehr von „Wohl" und „kulturellen Aufgaben", sondern von „Interessen" der „Mitglieder": Satzung des Börsenvereins, o.O. 2003, § 1 (3). Satzung des Börsenvereins, [Frankfurt a.M.] 1955 Neudruck 1964, § 5. Um als „Verantwortliche[r] von Geschäftsbetrieben" im Sinne der Satzung zu gelten, mußte man als Verlagsangestellter im Regelfall die Prokura erteilt bekommen haben. Aufgrund dieser Regelung war es möglich, daß ein Unternehmen mehrere Mitglieder des Börsenvereins stellte; vgl. Estermann, Börsenverein, 180. Wie man in Anlehnung an Pierre Bourdieus Feldtheorie formulieren kann. Siehe dazu Britta Scheideier, Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, in: Füssel u.a. Hg., Börsenverein, 309-316; dies., Von Konsens zu Kritik: Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, in: Stephan Füssel Hg., 50 Jahre Frankfurter Buchmesse, Frankfurt a.M. 1999,46-88.
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des abzuwenden. Im Gegensatz zu den Repräsentanten der meisten anderen Wirtschaftsbranchen war der Börsenverein in dieser Frage sehr erfolgreich. Das 1957 durch den Bundestag verabschiedete „Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen" erlaubte in § 16 die Buchpreisbindung.22 Ein Erfolg von kaum zu überschätzender - auch symbolischer - Bedeutung. Denn in der Buchpreisbindung fand die Selbstbeschreibung der Branche, das Buch sei Ware und Kulturgut zugleich, gleichsam ihren materiellen Niederschlag. Über die weitgehende Ausschaltung der Preispolitik als Wettbewerbsinstrument des Sortimentsbuchhandels verwandelte die vertikale Preisbindung den Buchmarkt bis heute fortdauernd in einen hochregulierten Markt, auf dem - zumindest partiell - Zielsetzungen ökonomischer Rentabilität hinter dem kulturpolitischen Bestreben einer möglichst flächendeckenden Versorgung mit dem .Kulturgut' Buch zurücktreten mußten. In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre waren es nach innen vor allem zwei Probleme, die den Börsenverein und seine Gremien immer wieder beschäftigten. Das erste lag in der Organisationsstruktur des Verbandes begründet: In der Abgeordnetenversammlung des Börsenvereins standen den Verlegern durchweg etwa die doppelte Anzahl von Vertretern des Groß- und Einzelbuchhandels gegenüber. Bei den Verlegern, gerade auch bei denen, die sich eher als kulturelle denn als ökonomische Akteure verstanden, sorgte dies für ein stetes Murren - man verstand den Börsenverein im Kern als Verlegerverband und fühlte sich in eine Minderheitenposition gedrängt. Daneben sorgte aber vor allem die Frage, wie mit der DDR umzugehen sei, für zunehmende Unruhe und Konflikte unter den Mitgliedern des Börsenvereins. Das lag ganz wesentlich daran, daß der Börsenverein einerseits Verleger organisierte, die DDRAutoren verlegten oder zu DDR-Verlagen Geschäftsbeziehungen unterhielten, wie zum Beispiel Siegfried Unseld oder auch Eduard Reifferscheid vom Luchterhand Verlag, andererseits aber auch solche Verleger als Mitglieder hatte, deren Verlage in der SBZ und der DDR enteignet worden waren - wie Insel, Reclam, Gustav Fischer und Brockhaus beispielsweise - und die ihre Unternehmen in der Bundesrepublik neu gegründet hatten. Wollten sich die ersteren ihre Geschäftskontakte durch deutschlandpolitische Erwägungen nach Möglichkeit nicht belasten lassen, drängten die letzteren auf eine harte Haltung und bestritten die staatliche Legitimität der DDR überhaupt. Sie hatten ihre Verlage teils mühsam durch die NS-Zeit gebracht und sahen sich - noch im Wiederaufbau - durch Sowjets und die SED beraubt. Lange Zeit hatten diese zumeist schon älteren Verleger eine starke Position innerhalb des Börsenvereins inne. Infolgedessen lehnte das Verbandsorgan Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel die Bezeichnung 21
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Vgl. dazu nur die Beiträge in Pierre Bourdieu, Das politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft, Konstanz 2001 sowie ders., Das ökonomische Feld, in: ders. u.a., Der Einzige und sein Eigenheim, Hamburg 2002, 185-222. Vgl. Estermann, Börsenverein, 176. Zur Bedeutung der vertikalen Preisbindung siehe Hubertus Schenkel, Buchpreisbindung, in: Schütz u.a. Hg., Das BuchMarktBuch, 88-91; Klaus Gerhard Saur, Preispolitik, in: ebd., 301-305; Sabine Rehm, Sammelrevers, in: ebd., 327-328.
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,DDR' ab und gestattete auch keine Anzeigen mit diesem Terminus. Die enteigneten Verleger verfügten auch im Hinblick auf die Frankfurter Buchmesse über eine Sperrminorität. Wollten namensgleiche Verlage aus der DDR an der Frankfurter Buchmesse teilnehmen, konnten ihre bundesrepublikanischen Pendants ein Veto einlegen. Dies war nicht nur den betreffenden DDR-Verlagen, sondern auch der DDR-Führung ein Dorn im Auge und führte immer wieder zu kulturpolitischen Spannungen. 23 Der Bau der Mauer 1961 vereinfachte die Situation nicht eben. Die bereits unter den Kanzlern Erhard und Kiesinger allmählich beginnende Neuorientierung der bundesdeutschen Ostpolitik gab jedoch auch denjenigen Börsenvereinsmitgliedern Auftrieb, die in diesem Punkt auf eine liberalere Praxis drängten. Beide Probleme wurden durch den sich in den 1960er Jahren beschleunigenden Generationswechsel unter den Mitgliedern noch verschärft. 24 In den Jahren 1965 bis 1968 stand dem Börsenverein der 1917 geborene Friedrich Georgi vor, der Leiter des Berliner Verlages Paul Parey war, eines traditionsreichen Fachverlages für Landwirtschaft, Biologie und Veterinärmedizin. 25 Georgi, der während der NS-Zeit zum erweiterten Umfeld des militärischen Widerstandes gehört hatte und in die Pläne des 20. Juli 1944 eingeweiht gewesen war, blieb auch nach 1945 seinen konservativen Überzeugungen verhaftet. Er war ein Verleger der alten Schule, der sich von der (hoch-)kulturellen Bedeutung des Buchhandels zutiefst überzeugt zeigte. In der DDR-Frage agierte er als Hardliner und verfolgte eine rigide Politik der Nichtanerkennung. Auf den Slogan „Opas Buchhandel ist tot!", 26 der 1967 auf einer Tagung der Evangelischen Akademie in Bad Boll geprägt worden war, reagierte der strukturkonservative Friedrich Georgi mit einigem Unverständnis. Ebenso geißelte er die Protestaktionen auf den Frankfurter Buchmessen 1967 und 1968 als Mißbrauch von Freiheitsrechten, dem man entschieden entgegentreten müsse. 27 Vor der Buchmesse 1968 versandte 23
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Vgl. dazu die Ausführungen des damaligen Messedirektors: Sigfred Taubert, Mit Büchem die Welt erlebt, Stuttgart 1992,96-99. Siehe dazu Estermann, Börsenverein, 178. Vgl. nur Paul Parey - Verlag für Landwirtschaft, Veterinärmedizin, Gartenbau, Biologie, Verhaltensforschung, Pflanzen- und Umweltschutz, Forstwesen, Jagd, Fischerei, Pferdesport, 1848-1972 Gesamtkatalog, Berlin 1972. Hier zit. n. Estermann, Börsenverein, 178; vgl. auch noch dies., Die Situation des Buchhandels, in: dies./Edgar Lersch Hg., Buch, Buchhandel und Rundfunk. 1968 und die Folgen, Wiesbaden 2003, 46-64, v.a. 49f. Auch dieser Slogan war weniger ein Ruf nach mehr Demokratie in den internen (Macht-)Strukturen des Buchhandels, sondern vielmehr eine Forderung nach Veränderung in den Kundenbeziehungen: Mehr Konsumentenfreiheit war gefragt! Estermann schreibt, der Slogan „Opas Buchhandel ist tot!" habe sich in erster Linie gegen „den Sortimentsbuchhandel mit den festen Ladengeschäften" gerichtet: „Die junge Generation wollte nicht mehr von einem betulich-beratenden, bildungsbürgerlich geprägten Buchhändler bevormundet werden. Erwünscht war das kaufhausähnliche, liberale breite Bücherangebot aktueller Literatur, wie es etwa bei Montanus zu finden war." Alle Zitate ebd., 49. Vgl. Weidhaas, Frankfurter Buchmesse, 232; Verlage. Ja, ja, ja, in: Der Spiegel, Nr.38, 16.9.1968, 171.
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Georgi ein Rundschreiben, in d e m er mahnte, die Kollegen möchten doch „die Grenzen des Taktes und der guten Sitten [...] respektieren" und Abstinenz von „politischen Auseinandersetzungen irgendwelcher Art" ebenso üben wie auf Verlagsempfängen „eine unserem Berufsstand wohl anstehende Zurückhaltung i m Angebot von Speisen und Getränken". 28
Siegfried Unseld 29 Siegfried Unseld, Jahrgang 1924, trat nach Buchhändlerlehre und Studium 1952 in den Suhrkamp Verlag ein und arbeitete sich dort rasch nach oben. Seit Anfang 1958 war er neben d e m Verlagsgründer Peter Suhrkamp gleichberechtigter Gesellschafter und nach d e m Tode Suhrkamps fungierte Unseld als alleiniger Leiter des Suhrkamp Verlages. Über mehr als vier Jahrzehnte hinweg führte Siegfried Unseld die Geschicke des Verlages - bis zu seinem Tode im Oktober 2002. Unter der Leitung Peter Suhrkamps 3 0 befand sich der 1950 3 1 gegründete Suhrkamp Verlag in den ersten Jahren seiner Existenz nahezu permanent in einer sehr prekären finanziellen Situation. D a die Ertragslage Jahr für Jahr schlecht blieb, war der Verlag immer wieder auf Zuschüsse und Bürgschaften der Schweizer Industriellen-Familie Reinhart angewiesen, die - vermittelt durch Hermann Hesse - bald nach der Gründung das entscheidende Kapital beigesteuert hatte. 32 28 29
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Ein eher hilfloser Versuch der Einflußnahme, wie sich bald zeigen sollte. Alle Zitate ebd. Zu Siegfried Unseld vgl. die Broschüre Siegfried Unseld. Der Verleger. Eine Ausstellung des Suhrkamp Verlags im Holzhausenschlößchen Frankfurt am Main 29. September - 19. Dezember 2004, Frankfurt a.M. 2004; Helmut Schanze, Samuel Fischer - Peter Suhrkamp - Siegfried Unseld. Vortiberlegungen zu einer Verlegertypologie im 20. Jahrhundert, in: Günther Schulz Hg., Geschäft mit Wort und Meinung. Medienunternehmer seit dem 18. Jahrhundert, München 1999, 147-163; Michalzik, Unseld; eine wissenschaftliche Biographie zu Unseld bleibt ein Desiderat. Zu Peter Suhrkamp vgl. Siegfried Unseld, Peter Suhrkamp. Zur Biographie eines Verlegers in Daten, Dokumenten und Bildern, Frankfurt a.M. 1991; sowie das interessante Porträt bei Carl Zuckmayer, Geheimreport, hg. v. Gunther Nickel/Johanna Schrön, Göttingen 2002, 20ff. Das ist freilich eine eigentlich unzulässige Verkürzung: Denn auch wenn der Suhrkamp Verlag am 1. Juli 1950 ins Frankfurter Handelsregister eingetragen wurde, so wurde die Grundlage für diesen Rechtsakt doch seit 1936 gelegt, als sich Peter Suhrkamp auf die Bitte von Gottfried Bermann Fischer hin entschloß, den S. Fischer Verlag kommissarisch weiterzuführen. Vgl. Gottfried Bermann Fischer, Bedroht - Bewahrt. Weg eines Verlegers, Frankfurt a.M. 1967, v.a. 318-325; Volker Michels, Ohne Hermann Hesse gäbe es keinen Suhrkamp Verlag. Hermann Hesses Weg von Samuel Fischer zu Peter Suhrkamp, in: Regina Bucher Hg., „Im Dienste der gemeinsamen Sache" - Hermann Hesse und der Suhrkamp Verlag, Montagnola o.J. [2005], 11-28, v.a. 25f. Vgl. Siegfried Unseld. Der Verleger, 23. Im Frühjahr 1951 stellte die der Reinhart-Familie gehörende Volkart GmbH Bremen Suhrkamp ein Darlehen von 50.000 DM zur Verfügung, seit Ende Dezember des Folgejahres war die Volkart GmbH Bremen alleinige Kommanditistin der neugegründeten Suhrkamp Verlag KG und seit 1962 traten Peter Reinhart und Balthasar Reinhart als persönliche Kommanditisten in die KG ein, siehe Siegfried Unseld, Gebrüder Volkart und der Suhrkamp Verlag, in: Walter H. Rambousek/Armin Vogt/Hans R. Volkart, Volkart. Die Geschichte einer Welthandelsfirma, Frankfurt a.M. 1990,189-196.
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Erst 1957 konnte das erste zufriedenstellende Geschäftsergebnis verbucht werden33 - zu einem Zeitpunkt, zu dem der Suhrkamp Verlag bereits als einer der angesehensten literarischen Verlage der Bundesrepublik Deutschland galt. Dem persönlich asketisch lebenden Verleger Peter Suhrkamp waren Renditeziele und überhaupt Gewinnorientierung sehr nachrangige Maßstäbe seiner Tätigkeit. Vielmehr folgte er einem verlegerischen Ethos, das sich hohe Qualitätsmaßstäbe setzte und den Adressatenkreis des Verlagsprogramms dadurch sehenden Auges klein hielt. Anders formuliert: Peter Suhrkamp huldigte einem „mitunter dogmatischem Elitebegriff'. 34 Im Hinblick auf die Zielgruppe der Bibliothek Suhrkamp formulierte der Verleger etwa, diese Reihe sei „dem wahren Bücherfreunde zugedacht, jener Leser-Elite, der anzugehören das Bedürfnis aller ist, denen das gute oder erlesene Buch ein unentbehrliches Lebensgut geworden ist."35 Als Siegfried Unseld in den Suhrkamp Verlag eintrat, beschäftigte das Unternehmen mit ihm insgesamt sieben Personen und erwirtschaftete einen recht bescheidenen Jahresumsatz. „Vertrieb, Werbung, Herstellung und gelegentlich Lektorat" - so wurde sein Aufgabenbereich umrissen.36 Unseld selbst sprach einmal rückblickend davon, in den ersten Jahren seiner Tätigkeit bei Suhrkamp sei er eine Art .Mädchen für alles' gewesen.37 Wie auch immer: Augenscheinlich hielt Peter Suhrkamp rasch große Stücke auf seinen neuesten Mitarbeiter. Denn Siegfried Unseld war noch kein dreiviertel Jahr im Verlag, da wurde er von Peter Suhrkamp insgeheim bereits als potentieller Nachfolger gehandelt. In einem Brief an ein Mitglied der Reinhart-Familie schrieb Suhrkamp bereits im Sommer 1952: „Sie wissen, diese Nachfolge war und ist für mich ein Hauptproblem. Ich sehe es etwas ruhiger an, seit ich einen jüngeren Mitarbeiter gewonnen habe, der nicht nur die erforderliche literarische Vorbildung und buchherstellerische und verlegerische Ausbildung hat, sondern, wenn er noch Zeit behält, sich zu entwikkeln, auch sonst Anlagen mitbringt, die ihn befähigen könnten, einem Verlag vorzustehen." .Offiziell' war die Nachfolgefrage indes innerhalb des Verlages noch etliche Jahre lang kein zulässiges Thema. Daß Unseld als Verleger eigene Akzente setzen würde, deutete sich schon frühzeitig an: Bereits im Frühjahr 1953 schlug Unseld seinem Chef Peter Suhrkamp vor, Titel aus der ,backlist' des Verlages als ,Volksausgaben' in hoher Auflage auf den Markt zu 33 34
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Regina Bucher, Chronik 1903-2005, in: dies. Hg., Hesse und der Suhrkamp Verlag, 51-97, 73. Wolfgang Schöpf, Geleitwort, in: ebd., 7-9, Zitat 9; vgl. auch noch Bermann Fischer, Bedroht Bewahrt, 319, der über Peter Suhrkamp schreibt: „Seine Vorstellung vom Verlegen war die des .Elite Verlages'". So stand es auf dem Leporello zur ersten Serie der Bibliothek Suhrkamp zu lesen, hier zit. n. Raimund Fellinger Red., Kleine Geschichte der edition suhrkamp, Frankfurt a.M. 2003,10. Hier zit. n. Siegfried Unseld. Der Verleger, 11. Vgl. Michalzik, Unseld, 82. Vgl. Peter Suhrkamp an Peter Reinhart, 12.8.1952, hier zit. n. Harry Joelson-Strohbach, Georg Reinharts Freundschaft mit Hermann Hesse: eine Vorgeschichte zur Rolle Winterthurs bei der Gründung des Suhrkamp Verlages, in: Bucher Hg., Hesse und der Suhrkamp Verlag, 31-48, 45.
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bringen. Laut Unseld habe sich Suhrkamp geradezu entsetzt gezeigt: „Alles Denken in großen Auflagen sei falsch, und dies verböte sich geradezu bei dem Charakter jener Autoren, die er an seinen Verlag gebunden habe", sei Suhrkamps Reaktion gewesen.39 An dieser tendenziell elitären verlegerischen Linie änderte sich unter der Ägide Peter Suhrkamps nur wenig, auch wenn seit 1955 die Reihe Suhrkamp Hausbücher erschien, die höhere Auflagenziffern und relativ niedrige Preise mit guter Ausstattung verband.40 Mit der Produktion von Taschenbüchern und dem damit verbundenen Eintritt in einen gerade neu entstehenden Massenmarkt41 aber konnte sich Peter Suhrkamp zeit seines Lebens nicht mehr anfreunden, auch wenn er dem Taschenbuch nicht grundsätzlich die Existenzberechtigung absprach.42 Kurz und gut - und mit Pierre Bourdieu gesprochen:43 Peter Suhrkamp folgte einer autonomen Orientierung und arbeitete sehr daran, seinen Verlag am Pol der eingeschränkten Produktion zu positionieren. Dabei mangelte es Peter Suhrkamp offenbar durchaus nicht an kaufmännischem Geschick. Ansonsten hätte er es kaum vermocht, den mehrfach von finanziellem Ruin bedrohten S. Fischer Verlag durch die NS-Zeit zu bringen. Die von Suhrkamp konzipierte und 1940 erschienene Anthologie Deutscher Geist war jedenfalls auch ökonomisch ein voller Erfolg.44 Dennoch bleibt festzuhalten: Der eigene Verlag galt Peter Suhrkamp ganz überwiegend als kulturelle, tendenziell antiökonomische Institution, deren eingeschränkter Produktion er über die Akkumulation symbolischen Kapitals ein Forum und eine Nachfrage schaffen wollte. Als Siegfried Unseld nach dem Tode Peter Suhrkamps im Frühjahr 1959 die Verlagsgeschäfte übernahm, stand er vor einer schwierigen Herausforderung. Einerseits fühlte sich auch Unseld dem Ethos und der programmatischen Linie Peter Suhrkamps verpflichtet, andererseits war ihm bereits früh bewußt geworden, daß sich das Erbe Suhrkamps allein aufgrund der ökonomischen Zwänge nur bewahren lassen würde, wenn man vor verlegerischer Innovation und kaufmännischer Expansion nicht zurückschreckte 45 Siegfried Unseld schlug damit einen Weg ein, dem Peter Suhrkamp sicherlich nicht gefolgt wäre. 39
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So Unselds Wiedergabe von Suhrkamps Reaktion in Siegfried Unseld, Begegnungen mit Hermann Hesse, Frankfurt a.M. 1975, 130. Vgl. Bucher, Chronik, v.a. 72. Siehe dazu Gunter E. Grimm, Zwischen Anpassung und Protest. Buchmarkt, Bestseller und Belletristik in den sechziger Jahren, in: Werner Faulstich Hg., Die Kultur der 60er Jahre, München 2003, 95-113, v.a. 97f. Vgl. dazu noch Fellinger Red., Kleine Geschichte der edition suhrkamp, 10f.; Michels, Ohne Hermann Hesse gäbe es keinen Suhrkamp Verlag, v.a. 28. Vgl. dazu Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a.M. 2001; ders., Künstlerische Konzeption und intellektuelles Kräftefeld, in: ders., Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt a.M. 1974, ND 2003, 75-124. Vgl. Michalzik, Unseld, 75. Siehe Schöpf, Geleitwort, 9; Schanze, Samuel Fischer - Peter Suhrkamp - Siegfried Unseld, 161ff.; Siegfried Unseld. Der Verleger, 13; Fellinger Red., Kleine Geschichte der edition suhrkamp, 11-16.
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Ganz entscheidend für die Neuausrichtung des Suhrkamp Verlages war Unselds „erweiterter Literaturbegriff', 46 der vor allem die kritischen Sozialwissenschaften mit einschloß und dem Suhrkamp Verlag seit den 1960er Jahren ein programmatisch politischeres Profil gab. Seither verfolgte der Suhrkamp Verlag gleichsam eine doppelte Publikationsstrategie: Sowohl die deutschsprachige und internationale Literatur des 20. Jahrhunderts als auch die Geisteswissenschaften bildeten programmatische Schwerpunkte. Beispielhaft zeigte sich diese „Modernisierung in kritisch-aufklärerischer Absicht",47 die Unseld teils gegen den Widerstand von Mitarbeitern und Autoren durchsetzte, in der edition suhrkamp, der legendären Taschenbuchreihe, die seit 1963 erschien. In gewissem Sinne stand die edition suhrkamp dem Selbstverständnis des Suhrkamp Verlages, ein .Autoren-Verlag' zu sein, entgegen, wurden hier doch nicht einzelne Autoren, sondern eben eine Buchreihe gepflegt und vermarktet. Als eine Art von Markenartikel stand die Reihe indes rasch für Qualität und die dort erschienenen Autoren profitierten von deren symbolischem Kapital. Letzteres galt auch umgekehrt: Prominente Autoren mehrten das symbolische Kapital der Reihe 48 Im Ankündigungsprospekt war damals zu lesen: „Die .edition suhrkamp', die die ganze Arbeit des Suhrkamp Verlages spiegelt, folgt dem Hauptprogramm auf den Gebieten des Dramatischen, Epischen, Lyrischen und der Essayistik. Die Reihe wird auch neue Aspekte bringen, wobei der essayistische, philosophische, philologische, soziologische, geschichtliche und politische Teil im Hinblick auf die jüngeren und studierenden Leser erweitert wird."49 Aufgrund der hohen Absatzzahlen - bis zum Stichtag 30. Juni 1974 betrug die Gesamtauflage der edition mehr als 15 Millionen Exemplare!50 - wurde die edition suhrkamp bald auch ökonomisch ein voller Erfolg. Indes: Als die edition suhrkamp auf den achthundertsten Titel zulief und Unseld dieser Bestand in kaufmännischer Perspektive als zu umfangreich erschien, begann der Suhrkamp Verlag als erster deutscher Verlag überhaupt einen Ausverkauf von Taschenbüchern: 185 Titel der edition suhrkamp wurden nicht mehr neu aufgelegt und über den Sortimentsbuchhandel verramscht. Um die edition nicht allzusehr zu beschädigen, lief der Ausverkauf über den etablierten Sortimentsbuchhandel und wurde von Unseld per Brief gegenüber den Buchhändlern
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Schanze, Samuel Fischer - Peter Suhrkamp - Siegfried Unseld, 162. Siegfried Unseld. Der Verleger, Zitat 13. Zur edition suhrkamp vgl. Fellinger Red., Kleine Geschichte der edition suhrkamp. Zum Selbstverständnis des Suhrkamp Verlages, ein .Autoren-Verlag' zu sein, siehe nur Schanze, Samuel Fischer - Peter Suhrkamp - Siegfried Unseld, 162. Zit. n. Fellinger Red., Kleine Geschichte der edition suhrkamp, 28f. Einen Überblick über die Bände 1 bis 1000 der Reihe bietet Gisela Mörler Red., edition suhrkamp. Band 1 bis Band 1000. Bibliographie 1963 bis 1980, Frankfurt a.M. 1980. Vgl. Fellinger Red., Kleine Geschichte der edition suhrkamp, 56. Weitere fünf Jahre später, im September 1979, belief sich die Gesamtauflage dann auf mehr als 22,5 Millionen Exemplare, siehe ebd., 58.
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begründet.51 Ökonomisches schlägt symbolisches Kapital - auf diese Formel ließe sich die Verlagspolitik zur edition suhrkamp auch bringen. Primär ökonomischen Motiven folgten auch andere Entscheidungen Siegfried Unselds: Der Ausbau der lukrativen Theaterabteilung des Suhrkamp Verlages und schließlich deren Umwandlung in einen eigenen Theaterverlag, der Erwerb des Insel Verlages sowie die Übernahme des August Lutzeyer Verlages mit angeschlossener Druckerei all dies zielte in den 1960er Jahren darauf, dem Suhrkamp Verlag durch Expansion ein solides wirtschaftliches Fundament zu schaffen. Ganz fraglos ging diese Strategie auf. Wurden 1959 1,8 Millionen DM umgesetzt, betrug der Jahresumsatz 1969, zehn Jahre nach dem Tod Peter Suhrkamps, bereits 12 Millionen DM.52 Ohne in allzu große Hagiographie verfallen zu wollen: Eine beeindruckende Leistung Siegfried Unselds bestand sicherlich darin, in seiner verlegerischen Tätigkeit auf den ersten Blick Unvereinbares miteinander zu verknüpfen: Unter seiner Leitung gelang es dem Suhrkamp Verlag, über Jahrzehnte hinweg sowohl ökonomisches als auch symbolisches Kapital im Gleichschritt zu akkumulieren.53 Als sehr hilfreich erwies sich sicherlich auch, daß die Programmatik des Suhrkamp Verlages unter Unselds Leitung zahlreiche Anschlußmöglichkeiten für eine massenmediale Zweitverwertung in Presse, Rundfunk und schließlich auch im Fernsehen aufwies.54 Auch Siegfried Unseld selbst war zweifelsohne ein Verleger, der den öffentlichen Auftritt durchaus zum Nutzen des Verlages zu gestalten wußte. Auch in dieser Hinsicht zeigte sich die Sonderstellung der vielbeschworenen .suhrkamp culture'. 55
„Ist der Frankfurter Börsenverein reformbedürftig?"56 Ob der Börsenverein reformbedürftig sei, dies beschäftigte 1967 nicht mehr nur die Fachöffentlichkeit der Buchverleger und -händler, vielmehr wurde diese Frage im Herbst des Jahres - pünktlich zur Frankfurter Buchmesse - recht unvermittelt vor einem 51 52 53
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Siehe ebd., 56ff. Siehe dazu Michels, Ohne Hermann Hesse gäbe es keinen Suhrkamp Verlag, 28. Zur Gesamtproduktion des Suhrkamp Verlages vgl. Die Bibliographie des Suhrkamp Verlages 1950-2000 (PDF-Ausgabe), Frankfurt a.M. 2002. Vgl. Schanze, Samuel Fischer - Peter Suhrkamp - Siegfried Unseld, 162. Der Begriff .suhrkamp culture' wurde 1973 von George Steiner in einem Beitrag für das Times Literary Supplement geprägt. George Steiner, Adorno: love and cognition, in: Times Literary Supplement, 9.3.1973, 25-26. Die PR-Abteilung des Suhrkamp Verlages nutzte diese Formel, die man schöner nicht hätte erfinden können, bald für ihre eigenen Zwecke, so daß die .SuhrkampKultur' schnell in vieler Munde war. Umfrage: Ist der Frankfurter Börsenverein reformbedürftig? in: Die Zeit, 13.10.1967, XI-XII. Auf die drei Fragen der Ze/r-Redaktion antworteten neben den Verlegern Siegfried Unseld, LotharGünther Buchheim, Ivo Frenzel, Reinhard Mohn und Klaus Wagenbach auch die Buchhändler Hans-Otto Mayer und Kurt Meurer. Die Antwort Siegfried Unselds fiel nicht nur am umfangreichsten aus, sondern erschien zudem an erster Stelle.
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breiteren Publikum in der Wochenzeitung Die Zeit erörtert. Am Freitag, den 13. Oktober 1967 - es war der zweite Tag der Frankfurter Buchmesse57 - erschien Die Zeit mit den Ergebnissen einer Umfrage unter ausgewählten Buchhändlern und Verlegern, unter ihnen auch Siegfried Unseld. Die Ze/i-Redaktion hatte ihnen die folgenden drei Fragen vorgelegt: „1. Ist der Börsenverein auf wichtigen Gebieten (wie der Buchmarktforschung, der Öffentlich-' keitsarbeit, der Beschäftigung mit neuen Publikationsmethoden, der buchhändlerischen Ausbildung) heute zu unbeweglich? 2. Was müßte geschehen, damit er seinen Aufgaben besser gerecht werden kann als bisher? 3. Hat sich der Börsenverein in seinen Beziehungen zur DDR richtig verhalten? Was sollte er in Zukunft tun und lassen?"58
Unter der Überschrift „Ist der Börsenverein reformbedürftig?" waren die teils umfangreichen Antworten nun auf zwei Seiten abgedruckt. Zwar gab es durchaus auch Lob für die Arbeit des Börsenvereins, er sei in jüngster Zeit „beweglicher und entscheidungsfreudiger geworden"59, war etwa zu lesen; und auch kritische Leute wie der Berliner Verleger Klaus Wagenbach lobten die Informationspolitik des Börsenvereins und räumten ein, daß die Arbeit des Verbandes gänzlich unzeitgemäß nicht sei. Alles in allem überwogen jedoch die kritischen Töne ganz deutlich, so daß der interessierte, aber womöglich mit Struktur und Entwicklung des Fachverbandes doch nicht im Detail vertraute Zeit-Leser bei der Lektüre wohl den Eindruck gewinnen mochte, eigentlich sei dieser Verein gar nicht mehr zu retten: Auch wenn man den Börsenverein nicht als unbeweglich bezeichnen wolle, sei er doch „stark gehbehindert", was nicht verwunderlich sei angesichts einer „unmäßigen Bürde Ehrwürdigkeit und einem dicken nachschleifenden Traditionszopf' (Lothar-Günther Buchheim); die „derzeitige Konzeption des Börsenvereins" entspreche „nicht mehr unserer Zeit und den gestellten Anforderungen", auch seien die dem Börsenverein zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel „völlig unzureichend" (Reinhard Mohn).60 Schließlich wurde auch die DDR-Politik des Börsenvereins mehrheitlich für stark verbesserungswürdig gehalten.
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Zur Frankfurter Buchmesse 1967 vgl. Ute Schneider, Literarische und politische Gegenöffentlichkeit. Die Frankfurter Buchmesse in den Jahren 1967 bis 1969, in: Füssel Hg., 50 Jahre Frankfurter Buchmesse, 89-114; Ulrich Ott, Messen, in: ders./Friedrich Pfäfflin Hg., Protest! Literatur um 1968, Tübingen 1998, 293-312; Weidhaas, Frankfurter Buchmesse, 230f.; sowie aus der zeitgenössischen Berichterstattung Petra Kipphoff/Rudolf Walter Leonhardt/Dieter E. Zimmer, Kein Frieden in Frankfurt. Bericht über die Buchmesse, in: Die Zeit, 20.10.1967, 16; Aufregung zu guter Letzt. Das „Braunbuch" auf der Buchmesse beschlagnahmt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.10.1967, 2; Christian Ferber, Kein Beifall, viel Schulterzucken, Empörung. AntiSpringer-Aktionen des SDS ließen das Publikum der Buchmesse weitgehend unbeteiligt, in: Die Welt, 16.10.1967, 1. Umfrage: Ist der Frankfurter Börsenverein reformbedürftig? XI. Ebd., XII. Ebd.
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Am ausführlichsten und tiefgreifendsten fiel indes die Kritik von Siegfried Unseld aus. Unseld skizzierte zunächst die „neuen Aufgaben", denen sich der Börsenverein stellen müsse: In der „industriell fortgeschrittenen Gesellschaft" sei der Buchhandel „Teil und Partner der Volkswirtschaft", es gelte, sich mit deren Gesetzen zu befassen. Der Verleger sei „sozialtechnischen Steuerungsprozessen ausgesetzt, denen er nicht mehr mit bloßem Geschmack und Gespür, sondern nur durch theoretische Einsicht, durch Kenntnisse von Fakten und Vorgängen und sicher ermittelte Daten seiner Arbeitsergebnisse" begegnen könne.61 Anschließend ging Unseld näher auf die drei gestellten Fragen ein. Buchmarktforschung, Öffentlichkeitsarbeit und interne Fortbildung seien sehr verbesserungsfähig, das Fachorgan Börsenblatt sei an „Langeweile und Unaktualität" nicht zu überbieten.62 Kritisiert werden müsse auch, daß eine „unkluge Politik des Börsenvereins wie des Verlegervorstandes" dazu geführt habe, die schöngeistigen Verleger zu einer Arbeitsgemeinschaft außerhalb des Börsenvereins zu drängen.63 Wie lauteten nun Unselds Vorschläge? Um die unbefriedigende Situation entscheidend zu verbessern, regte Unseld eine strukturelle Änderung in der Leitungsebene an: Dem ehrenamtlichen Vorsteher solle zur Entlastung ein hauptamtlicher „Generaldirektor des deutschen Buchhandels" zur Seite gestellt werden. Was schließlich die Frage nach den Beziehungen des Börsenvereins zur DDR anbetraf, geriet hier in erster Linie der derzeitige Vorsteher, Friedrich Georgi, in den Fokus von Siegfried Unselds Kritik. Zwar sei dieser „ein im Persönlichen vollkommen integrer Mann", so Unseld, aber daß die DDR infolge der Sprachregelung des Börsenvereinsvorstehers nur als ,SBZ' bezeichnet werden dürfe, sei nicht hinnehmbar.64 Noch weitaus schlimmer sei in diesem Zusammenhang aber das Verbot, die Bezeichnung ,DDR' im Börsenblatt zu verwenden. Diese Regelung habe „nicht nur mit großem Recht unter den Verlagen der DDR und unter den in der DDR lebenden, in der Bundesrepublik aber publizierenden Autoren und Herausgebern, sondern auch in unserer Öffentlichkeit Ärger und Entrüstung hervorgerufen", es sei daher „höchste Zeit, daß wir Mitglieder sie abschaffen". 65 Diese an Deutlichkeit nicht mehr zu überbietende Forderung Unselds konnte Vorsteher Friedrich Georgi nur als Affront verstehen. Kurzum: Daß der Frankfurter Börsenverein in den Augen der Befragten reformbedürftig war, daran konnte kein Zweifel mehr bestehen. Brisanz gewann die Kritik auch durch den Umstand, daß sie nicht von irgendwelchen Buchhändlern und Verlegern vorgebracht wurde, sondern von Mitgliedern des Börsenvereins, die zudem noch teils hohe Ehrenämter innerhalb des Verbandes bzw. in eng mit ihm verbundenen Organisa61 62 63 64 65
Alle Zitate ebd., XI. Zitat ebd. Zitate ebd. Zitat ebd., XII. Zitat ebd. Auch wenn der Springer-Konzern im Mittelpunkt der studentischen Aktionen auf der Messe stand, soll doch nicht unterschlagen werden, daß es ebenso zu Protesten an den Messeständen von Griechenland, Südafrika und Spanien kam.
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tionen innehatten. Siegfried Unseld etwa war seit 1962 Mitglied des Stiftungsrates des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels und gehörte seit 1965 dem Aufsichtsrat der Ausstellungs- und Messe GmbH des Börsenvereins an.66 Die Antwort der gescholtenen Verbandsführung ließ nicht lange auf sich warten. Da sich der Börsenverein des Deutschen Buchhandels nach der erstmals sehr turbulent verlaufenen Buchmesse unter Druck sah, fiel die Reaktion um so schärfer aus.
Die Eskalation: Siegfried Unseld in der Kritik
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„Es wird vieles sein wie jedes Jahr", schrieb Karl Korn in seinem FAZ-Kommentar anläßlich des ersten Tages der Frankfurter Buchmesse 1967.68 Schon bald zeigte sich, daß dies ganz und gar nicht so sein sollte. Nicht nur die studentischen Anti-SpringerDemonstrationen mit ihren Aktionen gegen die zum Springer-Konzern gehörenden Verlage Ullstein und Welt der Literatur hatten 1967 eine bislang nicht gekannte Unruhe auf die Frankfurter Buchmesse getragen. Denn bereits einige Tage vor der Buchmesse war die Gruppe 47 mit einer Resolution an die Öffentlichkeit getreten, in der „alle Schriftsteller, Publizisten, Kritiker und Wissenschaftler" aufgefordert wurden zu prüfen, „ob sie eine weitere Zusammenarbeit mit dem Springer-Konzern noch verantworten können."69 Renommierte deutsche und ausländische Verlage solidarisierten sich, unter ihnen Suhrkamp, Luchterhand, Wagenbach ebenso wie Feltrinelli und Penguin. In den Ohren derjenigen westdeutschen Verleger, deren Stammhäuser nun .volkseigene Betriebe' in der DDR geworden waren, klangen die Rufe „Enteignet Springer!" sehr bedrohlich und sie reagierten fassungslos und feindselig auf die studentischen Proteste wie auf die Solidarisierung einiger Verleger mit der Resolution der Gruppe 47. Zum Eklat kam es jedoch erst am letzten Tag der Frankfurter Buchmesse:70 Auslöser war das sogenannte Braunbuch über Kriegs- und Naziverbrecher in der Bundesrepublik, das, zur Produktion des DDR-Staatsverlages gehörend, schwere Angriffe gegen den Bundespräsidenten Heinrich Lübke enthielt. Bereits am zweiten Tag der Buchmesse, am 13. Oktober, hatte daraufhin das Bundespräsidialamt bei der Messeleitung ange-
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Siegfried Unseld. Der Verleger, 20. Zur Debatte vgl. in chronologischer Reihenfolge 13. Hauptversammlung des Börsenvereins am 14. Oktober 1967, in: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr.90, 10.11.1967, 2536-2544; Siegfried Unseld, Über Aufgaben des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, in: ebd., Nr. 100, 15.12.1967, 2943-2945; Friedrich Georgi, Zur öffentlichen Kritik am Börsenverein, in: ebd., Nr.7, 23.1.1968, 150-161; Joachim Mansch, Die Krise der Verbandsführung im Buchhandel, in: ebd., Nr.27, 3.4.1970, 815-818. Karl Korn, Buchmesse 1967, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.10.1967, 1. Hier zit. n. Schneider, Literarische und politische Gegenöffentlichkeit, 95. Vgl. Schneider, Literarische und politische Gegenöffentlichkeit, 94; Ott, Messen, 293; Weidhaas, Frankfurter Buchmesse, 192f.; Aufregung zu guter Letzt, 2; Braunbuch. Was möglich ist, in: Der Spiegel, Nr.44, 26.10.1967, 76.
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fragt, wie diese sich zu verhalten gedenke. Die Messeleitung unter dem Direktor Sigfred Taubert verwies auf den Rechtsweg, da die Messestatuten keine Grundlage für ein Eingreifen böten. Der Vorsteher des Börsenvereins, Friedrich Georgi, drängte auch in dieser Sache auf ein rigoroses Vorgehen: Das Braunbuch sei ein Fall für den Staatsanwalt. Zunächst sah die Staatsanwaltschaft dies in Gestalt des hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer jedoch ganz anders und lehnte es ab, hier tätig zu werden. Erst am letzten Tag wurde das Braunbuch durch den Frankfurter Amtsgerichtsrat Pawlik beschlagnahmt. Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten: Sogleich reichten 33 inund ausländische Verleger eine Protestresolution ein, in welcher sie scharfe Kritik an einem solchen Vorgehen übten. Als Mitglied des Aufsichtsrats der Buchmesse GmbH hielt Siegfried Unseld fest, die Messeleitung habe eine Beschlagnahmung des Braunbuchs nicht gefordert, um gleich daran anschließend, gleichsam in fliegendem Rollenwechsel, als Verleger des Suhrkamp Verlages zu betonen, diese Aktion erfülle ihn und viele andere Kollegen mit großer Sorge: Offenbar wolle man die DDR-Verlage am Ausstellen hindern.71 In dieser bereits vor der Konfiszierung des Braunbuchs recht aufgeheizten Atmosphäre fand am 14. Oktober, dem Messe-Samstag, die Hauptversammlung des Börsenvereins statt.72 Hinter verschlossenen Türen prallten die divergierenden Positionen noch unversöhnlicher aufeinander. Gleich zu Beginn verwahrte sich Vorsteher Georgi gegen die Vorwürfe. Zwar betonte er einerseits, daß Kritik am Börsenverein nicht nur statthaft, sondern auch notwendig sei, „um daraus zu lernen und dasjenige besser zu machen, was falsch gemacht wurde."73 Noch deutlicher hob er aber hervor: „Die gegen uns [...] erhobenen Vorwürfe treffen uns nicht. Sie sind unrichtig und - wie ich befürchten muß - z.T. wider besseres Wissen erhoben worden."74 Vor allem Siegfried Unseld und Klaus Wagenbach wurden von ihren konservativeren Kollegen im Börsenverein scharf attackiert, Wagenbach gar als vermeintlicher ,Maoist' gebrandmarkt.75 In der Hauptsache waren es Unselds und Wagenbachs unverblümte Worte in der Zeit - und damit in einer breiteren Öffentlichkeit - , gerade auch zur DDR-Frage, die nicht nur Friedrich Georgi, sondern zahlreichen Börsenvereins-M\t$\e&tm sauer aufgestoßen waren. Auch daß Unseld geschäftlichen Erfolg mit Verbands- und allgemeinpolitischem Engagement durchaus virtuos zu kombinieren verstand, machte ihn in den Augen anderer Verleger eher suspekt. Anläßlich der Anti-Springer-Proteste auf der 1967er Buchmesse hatte 71 72
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Vgl. ebd. Vgl. 13. Hauptversammlung des Börsenvereins. Der Börsenblatt-Artikel gliedert sich in drei Abschnitte: Auf die „Ansprache des Vorstehers" (I) folgt der „Bericht über den Verlauf der Versammlung" (II), sodann das „Beschlußprotokoll" (III). Der „Bericht über den Verlauf der Versammlung" fällt leider äußerst knapp aus, vermittelt aber doch einen Eindruck davon, wie sehr die Versammlungsmehrheit gerade Unseld als Objekt der Kritik wählte. Ebd., 2539. Ebd. Klaus Wagenbach an Siegfried Unseld, 20.10.1967, Siegfried Unseld Archiv, Frankfurt a.M., Ordner Börsenverein 1967/1968.
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Unseld zum Entsetzen des ßdrsenveran-Establishments die Notwendigkeit einer außerparlamentarischen Opposition erklärt.76 Der Börsenverein verstand sich jedoch als unpolitisch. Der damalige Vorsitzende, Arthur Georgi, formulierte im Jahre 1954: „Der Börsenverein Deutscher Verleger- und Buchhändler Verbände in Frankfurt/M. ist keine politische Institution, sondern ein freiwilliger und unabhängiger Zusammenschluß."77 Er sei ein Verleger, „der sich einen roten Mantel verdienen" wolle, wurde Unseld in Anspielung auf den Verkaufserfolg der 20-bändigen Brecht-Ausgabe in der Hauptver78
Sammlung entgegengehalten. Kritik am Vorstand des Börsenvereins wurde hingegen nicht geübt, vielmehr konnte sich gerade der Vorsteher Georgi in seiner Verbandsfiihrung in allen Punkten - auch seiner rigiden Haltung in der DDR-Frage - eindrucksvoll bestätigt fühlen; selbst wenn die Frage offen bleiben muß, für wie repräsentativ diese Hauptversammlung im Hinblick auf die Stimmung der Gesamtheit der BörsenvereinsMitglieder anzusehen ist. Denn lediglich 203 von etwa gut 4.300 Mitgliedern waren am 14. Oktober persönlich zugegen, weitere 25 hatten sich bei den Abstimmungen vertreten lassen. An der Hauptversammlung nahmen also nur etwa 5% der Mitglieder des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels teil.79 Daß Siegfried Unseld selbst der Versammlung ferngeblieben war, fiel den Diskutanten in all der Erregung lange Zeit gar nicht auf. Der Börsenblatt-Artikel zur Hauptversammlung vermerkte nüchtern: „Erst zum Schluß der Diskussion stellte sich auf mehrere Anfragen aus der Versammlung heraus, daß Dr. Unseld nicht anwesend war."80 Lediglich Klaus Wagenbach hatte für einige Zeit an der Hauptversammlung teilgenommen, war aber vor deren Ende gegangen.81 In den folgenden Wochen und Monaten waren beide Seiten bemüht, die Wogen wieder zu glätten. Die Debatte wurde nun, mehr oder minder frei von Unterstellungen und persönlichen Anwürfen, vornehmlich in der verbandsinternen Öffentlichkeit des Bör76 77
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Siegfried Unseld an Karin Röhrbein, 13.12.1967, ebd. Hier zit. n. Estermann, Börsenverein, 174. Im Bourdieuschen Sinne bildete das Credo des ,Unpolitisch-Seins' sozusagen die .illusio' des Börsenvereins. Siehe nur Pierre Bourdieu, Habitus, illusio, Rationalität. Gespräch mit Loi'c J.D. Wacquant, in: ders./Loi'c J.D. Wacquant, Reflexive Anthropologie, Frankfurt a.M. 1996, 147-174, v.a. 148f. Hier zit. n. Siegfried Unseld. Der Verleger, 20. Zu den Mitgliedszahlen vgl. nur Estermann, Börsenverein, 177, 180; Hermann Staub, Dokumentation, in: Füssel u.a. Hg., Börsenverein, 357-393, v.a. 393. Demnach schwankte der Mitgliederstand im Zeitraum von 1955 bis 1977 zwischen 3.903 und 4.640 und betrug zum Stichtag 31. Dezember 1967 4.342. Die Zahl aller Verlage und Buchhandlungen in Westdeutschland lag jedoch mehr als doppelt so hoch. 1967/68 gab es lt. Adreßbuch des deutschsprachigen Buchhandels knapp 9.800 buchhändlerische Unternehmungen in der Bundesrepublik Deutschland, darunter 2.555 Verlagsunternehmen und 7.238 Unternehmen des sogenannten .verbreitenden Buchhandels'. Vgl. Buch und Buchhandel in Zahlen Ausgabe 1968, hg. v. Börsenverein des Deutschen Buchhandels, Frankfurt a.M. 1968, 41. 13. Hauptversammlung des Börsenvereins, 2541. Vgl. Wagenbach an Unseld, 20.10.67.
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senblatts fortgeführt. Daß auch er durchaus vermitteln konnte, zeigte Friedrich Georgi in seiner Ansprache vor der außerordentlichen Hauptversammlung des Norddeutschen Verleger- und Buchhändler-Verbandes am 17. Januar 1968 in Hamburg, in der er im Rückblick auf die vorangegangenen Monate festhielt, „Kritisierte und Kritiker" hätten doch eines „sicherlich gemeinsam: sie wollen einen leistungsfähigen, angesehenen, tatkräftigen, die richtigen und wesentlichen Aufgaben erkennenden und im Rahmen des Möglichen erfüllenden, die Interessen der Mitglieder wirkungsvoll vertretenden, jedoch dabei dem Gemeinwohl unseres Volkes verpflichteten Börsenverein des Deutschen Buchhandels."83 Auch Siegfried Unseld selbst hatte bereits im Vormonat versöhnlichere Töne angeschlagen. In einem Börsenblatt-Beitrag, der unter anderem Titel auch in der Zeit erschien, hielt Unseld seinen Kritikern entgegenkommend fest, nun stellten sich für ihn manche Probleme des Börsenvereins anders dar als noch im Oktober. In seinem Vorschlag, die ehrenamtliche Arbeit zu entlasten, sehe er sich aber bestätigt.84 Dieser Burgfrieden konnte indes nicht darüber hinwegtäuschen, daß es keineswegs gelang, die strukturellen Ursachen der Spannungen zu beseitigen. Und so brachte die Buchmesse im darauffolgenden Jahr - als ,Polizeimesse' bekannt geworden - schließlich eine noch größere Zerreißprobe für den Börsenverein des Deutschen Buchhandels.85
Schlußbemerkung Wie läßt sich nun der Konflikt zusammenfassend charakterisieren und inwiefern kann mit Recht davon gesprochen werden, Siegfried Unseld sei in dieser Kontroverse „Establishment und Avantgarde zugleich" gewesen? Hierzu einige noch sehr thesenhafte Antworten: 1. Nicht ,Mehr Demokratie wagen', sondern ,Mehr Modernität und Professionalität wagen' - unter dieses Motto lassen sich die Forderungen Siegfried Unselds an den Börsenverein des Deutschen Buchhandels stellen. Die Kritik Siegfried Unselds galt weniger den vermeintlich .undemokratischen' Strukturen des Börsenvereins als vielmehr dessen mangelnder Professionalität als ökonomischer Interessenverband und dessen politischer Inflexibilität in der Frage, wie mit der DDR und den DDR-Verlagen umzugehen sei. 2. .Avantgarde' war Unseld einerseits insoweit, als er früher als andere begriff, daß sich ein buchhändlerischer Fach verband unter den .spätkapitalistischen' Rahmenbedingungen des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts nicht in erster Linie als Wahrer und 82 83 84
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Vgl. dazu nur die in Anm.67 aufgeführten Artikel. Georgi, Zur öffentlichen Kritik am Börsenverein, 150. Unseld, Über Aufgaben des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, 2943ff.; ders., Eine komplizierte Organisation, in: Die Zeit, 15.12.1967,23-24. Schneider, Literarische und politische Gegenöffentlichkeit, 89-114; Ott, Messen, 293-312; Weidhaas, Frankfurter Buchmesse, 230-242. Zwar gab es seit 1969 keine derartigen Proteste auf der Frankfurter Buchmesse mehr wie in den Jahren 1967 und 1968, die Debatte um den Börsenverein war jedoch noch nicht vorbei.
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Hüter kultureller Werte gerieren könne, sondern sich vielmehr verstärkt als Wirtschaftsverband aufstellen müsse, der auf Fort- und Weiterbildung der im Buchhandel Beschäftigten ebenso wie auf Marktforschung setzt und dadurch dazu beitragen will, die Ware Buch auch in einer sich durch den Aufstieg des Fernsehens rasant verändernden medialen Konkurrenzsituation zu behaupten.86 Pointiert formuliert: „It's the economy, stupid"87 - ohne es derart deutlich ausgesprochen zu haben, war dies doch ein deutlich spürbarer Subtext in Unselds Kritik am Börsenverein. Und da Siegfried Unseld die kapitalistische Struktur des Buchmarktes ausdrücklich nicht kritisierte, blieb er in diesem Punkte ohne jeden Zweifel .Establishment'. Hier stand Unseld denjenigen Verlegern und Buchhändlern, die ihn hart kritisierten und sich von ihm unfair attackiert fühlten, ungeachtet aller Meinungsdifferenzen deutlich näher als etwa der Gruppe Literaturproduzenten, die - in einem marxistischen Sinne - „die Buchproduktion in einen materialistischen Zusammenhang"88 stellen und den Buchmarkt grundlegend transformieren wollte. 3. Es blieb der Gruppe Literaturproduzenten, die sich nach den Auseinandersetzungen auf der Frankfurter Buchmesse 1968 gründete und unter anderen den LuchterhandLektor Frank Benseier, den ehemaligen Suhrkamp-Lektor Walter Boehlich, den Buchhändler und Verleger Hannes Schwenger und den ehemaligen SDS-Bundesvorsitzenden KD Wolff zu ihren Protagonisten zählte, vorbehalten, die „Demokratisierung von Börsenverein, Buchhandel und Verlagswesen", kurz: „der literarischen Produktionsverhältnisse" zu fordern.89 In der Folgezeit tat sich einiges: Genossenschaftliche Buchhandlungen und kooperative Verlage wurden neu gegründet,90 im Luchterhand Verlag wurde
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Siehe dazu die knappen Hinweise bei Weidhaas, Frankfurter Buchmesse, 217; auch noch Estermann, Börsenverein, 184: Estermann schreibt, in „der sich wandelnden Gesellschaft wandelte sich auch der soziale Stellenwert des Buches vom Bildungsgut zum Gebrauchsgut, eine Wertverschiebung, die schon durch die 1950 einsetzende .Taschenbuchrevolution' vorbereitet worden war." Ebd. Ob der soziale Stellenwert des Buches sich erst in den 1950er und 1960er Jahren gewandelt hat, scheint mir zumindest fraglich. Daß der Ullstein Verlag 1910 seine roten UllsteinBücher für eine Mark verkaufte und Einzeltitel in eine Reihe eingliederte, ließe sich ja möglicherweise ebenso als Indikator für einen Wandel im Hinblick auf die Bedeutung von Büchern interpretieren. Siehe nur 50 Jahre Ullstein. 1877-1927, Berlin 1927. Das wäre freilich eine eigene Untersuchung wert und kann hier nicht näher diskutiert werden. „It's the economy, stupid", lautete Bill Clintons Motto für den Präsidentschaftswahlkampf 1992. Frank Benseier, Über literarische Produktionsverhältnisse, in: ad lectores 8. luchterhand, Neuwied 1969, 61-87, Zitat 72. Die Zitate sind dem Flugblatt „Aufruf - Autoren, Angestellte und Unternehmer im Verlags- und Sortimentsbuchhandel: Literaturproduzenten" entnommen. Das Flugblatt ist abgedruckt bei Ott, Messen, in: ders./Pfäfflin Hg., Protest! Literatur um 1968, 293-312, Zitate 31 lf. Zu den Literaturproduzenten vgl. Gunther Nickel/Ulrich Ott, Literaturproduzenten, in: ebd., 313-332; Hannes Schwenger, Literaturproduktion. Zwischen Selbstverwirklichung und Vergesellschaftung, Stuttgart 1979. Vgl. dazu nur Nickel/Ott, Literaturproduzenten, v.a. 322-329; Peter Urban Red., Das Buch vom Verlag der Autoren 1969-1989. Beschreibung eines Modells und seiner Entwicklung, Frankfurt
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und Avantgarde
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schließlich nach langwierigen Auseinandersetzungen
ein Autorenbeirat
etabliert. 91
Auch im Suhrkamp Verlag kam es im Herbst 1968 zum sogenannten .Aufstand der Lektoren', die mit ihrer Forderung nach erweiterter Partizipation an Publikationsentscheidungen dem Verleger Unseld eine zweite Front der Auseinandersetzung schufen. 9 2 D e n Börsenverein
des Deutschen
Buchhandels
focht all dies nur wenig an, auch wenn
er sich im Oktober 1971 eine neue Satzung gab. 9 3 Deren entscheidende Neuerung bestand indes in der Einführung der Firmenmitgliedschaft anstelle der traditionellen Mitgliedschaft von Einzelpersonen. Mitglieder des Börsenvereins ternehmen
des
Buchhandels,
nicht
mehr
die
Angestellten wie seit vielen Generationen zuvor.
94
waren nunmehr die Un-
Unternehmer Der Börsenverein
als Wirtschaftsverband, eine Umgestaltung i m Sinne der Gruppe
und
die
leitenden
modernisierte sich Literaturproduzenten
stand dagegen zu keinem Zeitpunkt ernstlich zur Diskussion.
a.M. 1989; KD Wolff Hg., 15 Jahre. Almanach aufs Jahr 1986, Frankfurt a.M. 1985; Albrecht Götz von Olenhusen, „Die freie Assoziation der Produzenten". Autoren- und Kollektivverlage 1919-1973, in: Leipziger Jahrbuch für Buchgeschichte 1999, 303-331. Frank J. Heinemann, Der Eisbrecher Günter Grass. Modell Luchterhand: Autoren wollen in Verlagen mitbestimmen, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 9.6.1976, 9; Gunther Nickel, Der Luchterhand Verlag, in: Estermann/Lersch Hg., Buch, Buchhandel und Rundfunk, 166-185; Ingrid GilcherHoltey, Transformation durch Partizipation? Die 68er Bewegung und die Demokratisierung der literarischen Produktionsverhältnisse, in: dies./Dorothea Kraus/Franziska Schößler Hg., Politisches Theater nach 1968. Regie, Dramatik und Organisation, Frankfurt a.M. 2006, 205-233, v.a. 217-223. Vgl. Ute Schneider, Der unsichtbare Zweite. Die Berufsgeschichte des Lektors im literarischen Verlag, Göttingen 2005, 266-271; Gilcher-Holtey, Transformation durch Partizipation? 208-215. Vgl. Satzung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels e.V. Frankfurt am Main, Frankfurt a.M. 1972, v.a. 3, „§ 5 Von den Mitgliedern im allgemeinen". Denn auch wenn der bundesdeutsche Börsenverein - wie oben beschrieben - ein Verband der Verbände war, fußten die Landesverbände doch wieder auf der Mitgliedschaft von Einzelpersonen. Vor 1945 war der Verband sehr zentralistisch strukturiert und seine Mitglieder waren die Unternehmer des Buchhandels und Verlagswesens, nicht die Unternehmen.
BORIS GOBILLE
Die verlorenen Söhne Andre Bretons. Die französische surrealistische Bewegung auf dem Prüfstand des Mai 68 oder das Paradox der eingetretenen Prophetien
Der Prophetismus, der den Kern der Erfindungsarbeit jeder intellektuellen Avantgardeposition ausmacht, hat seit den Anfängen der surrealistischen Bewegung in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts nicht zuletzt darin bestanden, die Umwertung der ästhetischen Wertetafel mit einem Aufruf zur politischen Revolution zu verbinden. Der literarische Prophetismus, dieser „typisch häretische Protest gegen die kulturellen Hierarchien und Parolen der Apparatschiks" 1 , der „die Zukunft zu öffnen" sucht gegen den „Diskurs der Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung" 2 , stellt einen komplex zu analysierenden Gegenstand dar, insofern er zum einen nicht zu trennen ist von der Struktur des literarischen Feldes und dem, worum es darin geht, zum anderen eine zwingende Beziehung zur politischen Konjunktur unterhält. Dieser doppelte Bezug ist darüber hinaus historisch variabel. Davon zeugen die komplizierten Beziehungen des Vorkriegs-Surrealismus, dann des Existentialismus nach der Befreiung 3 , schließlich der Zeitschrift Tel Quel am Vorabend des Mai 68 4 mit der Kommunistischen Partei Frankreichs. Davon zeugen ebenfalls, wenn auch auf andere Weise, der besondere Fall des literarischen Widerstands 5 und die spezifische Position des Nouveau Roman, der die politische Frage des Werks auf den Autor und darüber hinaus auf den Verlag bzw. Verleger verschiebt, die Editions de Minuit. 6 Welche Rolle spielt innerhalb dieses Kontextes nun die Krise des Mai 68 für die Zukunft des literarischen Prophetismus der 1
Pierre Bourdieu, H o m o academicus, aus dem Franz. v. Bernd Schwibs, Frankfurt a.M. 1988, 279.
2
Ders., Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, aus dem Franz. v. Achim Russer,
3
Anna Boschetti, Sartre et les "Temps Modernes", Paris 1985.
4
Niilo Kauppi, Tel Quel: la constitution sociale d'une avant-garde, Helsinki
Frankfurt a.M. 2 0 0 1 , 302f. 1990,
115-126;
Frederique Matonti, Intellectuels communistes. Essai sur l'obeissance politique. La Nouvelle Critique ( 1 9 6 7 - 1 9 8 0 ) , Paris 2 0 0 5 , 176-188. 5
Gisele Sapiro, La guerre des ecrivains, 1940-1953, Paris 1999.
6
Anne Simonin, La litterature saisie par l'histoire. Nouveau Roman et guerre d'Algerie aux Editions de Minuit, in: Actes de la Recherche en Sciences sociales 1996/H.l 11/112, 59-75; dies., Les Editions de Minuit, 1942-1955. Le devoir d'insoumission, Paris 1994.
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Boris Gobille
Avantgarden? In diesem Beitrag wollen wir uns mit der französischen literarischen Bewegung des Surrealismus befassen, stellt sie doch das einzigartige Beispiel eines Prophetismus dar, der sich zwar durch die Konjunktur vom Mai 68 erfüllt, dennoch aber ein Jahr später zur Auflösung der Gruppe fuhrt. Das Paradox einer zum Zusammenbruch fuhrenden erfolgreichen „Prophetie" kehrt tatsächlich die Frage um, die Festinger und sein Team in einer sozialpsychologisch-kognitiven Perspektive untersuchten, als sie sich nach der Zukunft von Sekten fragten, die das Ende der Welt vorhersagten, aber durch die Fakten klar widerlegt wurden.7 Wie läßt sich nun im Fall des Surrealismus, hier beschränkt auf die .offizielle', um die Zeitschrift L 'Archibras gruppierte literarische surrealistische Bewegung, erklären, daß der Glaube an die Bedeutung, den Reiz des Spiels in einem Moment zusammenbricht, als die Realität für den Zeitraum einer gewiß sehr kurzen, aber doch massiven und unerwarteten Krise dessen Wohlbegründetheit gleichsam unter Beweis stellt? Untersucht werden soll zunächst, wie der Mai 68 für die Surrealisten eine Art wiedergefundene Eintracht mit dem Wirklichen darstellt; wie dann diese Eintracht nicht in der Lage ist, die interne Krise zu lösen, die anläßlich des Todes 1966 des Gründungsvaters, Andre Breton, ausgebrochen war, tatsächlich aber zuvor schon unter seinen .Söhnen' geschwelt hatte; wie schließlich der den Surrealisten durch Mai 68 dargebotene prophetische Gnadenerweis nicht nur diese Krise nicht löst, vielmehr sich ihnen gegenüber als ein regelrechter Gnadenstoß erweist.
Die Surrealisten im Mai 68: Die wiedergefundene Eintracht mit dem Realen Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Geschichte des französischen literarischen Surrealismus nach Ansicht einiger Kommentatoren, zumal der Bewegung nahestehender wie Maurice Nadeau, an ihr Ende gekommen. In dem im November 1957 seiner 1944 geschriebenen Geschichte des Surrealismus angehängten Nachwort erklärt Nadeau den Surrealismus zwar zum Vorläufer der Philosophie des Absurden und des existentialistischen Engagements, bedauert aber, daß die Surrealisten augenscheinlich „den Anschluß an das Heute verpaßt", „in einem gewissen Maß ihren geschichtlichen Auftrag erfüllt" hätten.8 Er präzisiert: „Im Grunde genommen war eben die Situation nach dem Zweiten Weltkrieg ihrem Fühlen und Empfinden nach und moralisch und geistig dem Anspruch des Surrealismus nicht gewachsen. Zunächst suchte Breton Kontakt, und als sein Versuch fehlschlug, ließ er davon ab. Er lenkte die Bewegung in jene eine Richtung, in die es die Bewegung schon immer unwiderstehlich gezogen hatte: die Erforschung der Triebkräfte des dichterischen Schaffens, die Bestandsaufnahme seiner Mittel und Verfahrensweisen, das Aufsuchen der metaphysischen Grundlagen dieser eigentümlichen Erkenntnisweise. Er erinnerte daran, daß es eine .Tradition der Einwei-
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Leon Festinger/Henry Riecken/Stanley Schachter, When prophecy fails, Minneapolis 1956. Maurice Nadeau, Geschichte des Surrealismus, aus dem Franz. v. Karl Heinz Laier, Reinbek 1965,215.
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hung ins Geheimwissen' gebe, von der im Laufe der Geschichte alle großen Erleuchteten gezehrt hätten: Alchimisten, Okkultisten, Magier und einige Dichter, die dem Mysterium am nächsten gekommen seien. Es erschien Breton von größter Wichtigkeit, wieder in den Besitz des .Schlüssels zur Entzifferung der Hieroglyphen und Chiffren der Welt zu gelangen, den jede hohe Dichtung schon immer, mehr oder weniger bewußt, besitze', sodann ,die Wege jener inneren Revolution zu beschreiten, deren vollkommene Verwirklichung sehr wohl eins sein könnte mit dem Opus magnum der Alchimisten'." 9
Für Maurice Nadeau klingen dieser „Rückzug und die Selbstbeschränkung des Surrealismus auf bloße Dichtung und darin auf eine spärlichste Produktion und sein Sichwandeln zu einer Schule der Esoterik" wie „das Eingeständnis eines Scheiterns".10 Und so unterzeichnet er gleichsam den Totenschein für die Ambitionen der Surrealisten zur Veränderung der Welt und des Verstehens der Menschen untereinander, wenn er schreibt: „Man mag sich fragen, ob der Surrealismus heutzutage nicht versucht sei, mitten in unserer hyperlogischen Welt, die gerade kraft der Fortschritte eines um der nackten .Nützlichkeit' willen errungenen Wissens ihrer Selbstzerstörung entgegentaumelt, eine den Menschen dieser Zeit angemessene magische Welt zu erschaffen [...]. Die Parteigänger des Surrealismus müßten dann aber nach dem Vorbild der Gnostikersekten, der pythagoreischen Schulen oder gar des Saint-Simonismus mit allen Mitteln (vom Geheimbund bis zur politischen Partei) danach trachten, die Herrschaft über die Menschen und die Dinge direkt zu beeinflussen, damit man ihnen die Fähigkeit zutraute, Gelehrte, Philosophen, Männer der Tat oder gar ideologische Mitstreiter heranzubilden. Einstweilen muß man sich damit abfinden, daß der Surrealismus eben nur als eine literarische Schule betrachtet werden kann.""
In einem Nachtrag vom Dezember 1963 und unter Bezug auf Jean-Louis Bedouins Buch Vingt ans de surrealisme, 1939-1959, kommt Nadeau nochmals auf seine kritische Einschätzung zurück: „Mit lobenswertem Eifer bemüht sich der Verfasser aufzuzeigen, daß der Surrealismus .weitermacht'. Den Beweis dafür erblickt er in der nichtabreißenden Kette von inneren Erschütterungen, die die Gruppe auszustehen hatte, und in einem Wust von Verwarnungen, Ausschließungen, huldvollen Wiederaufnahmen, Beschuldigungen bald gegen die einen, bald gegen andere, und ohne daß es - Gott sei's geklagt - um etwas wirklich Belangvolles gegangen zu sein scheint. Bedouin bestätigt damit nur, wie wirklichkeitsfremd und einflußlos der Surrealismus heute ist und wie wenig Bedeutung unsere Zeitgenossen dem beigemessen haben, was ihnen als pure Wirbelmache erschien. Wider Bedouins Willen und trotz seiner durchweg positiven Bewertungen geht aus seinem Buch eben doch hervor, daß eine geschichtliche Entwicklung, wenn sie sich selbst überlebt, unvermeidlich ins bloß noch Anekdotische absackt." 12
Nachträglich erkennen tragende Figuren der surrealistischen Bewegung wie Vincent Bounoure selbst an, daß „die Nachkriegszeit für den Surrealismus eine Art gesell9 10 11 12
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
215f. 216. 217f. 218.
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schaftlichen Erfolg markiert, der einhergeht mit einem verdoppelten Verlust hinsichtlich seiner Mittel wie seiner Ziele".13 Als eine etablierte Avantgarde, die ein höheres politisches Kapital akkumulieren konnte, aber Mühe hat, ein neues Zukunftsprojekt zu begründen, ist die literarische surrealistische Bewegung in Frankreich mit der Perspektive ihres gesellschaftlichen Veraltens konfrontiert: Das Auftreten neuer Avantgarden zwischen 1950 und 1960 - der Existentialismus Sartres, dann der Nouveau Roman, schließlich der Formalismus um die Zeitschrift Tel Quel - hat für sie eine für soziale Prozesse der Erneuerung im Feld der Avantgarden typische symbolische Abwertung zur Folge.14 Der Tod zweier ihrer historischen Gründer, Benjamin Peret 1959 und vor allem Andre Breton 1966, schwächt sie weiter. Ihre Entkräftung ist aber auch politischer Natur, wie Vincent Bounoure unter Hinweis auf die Krise des Surrealismus zwischen 1945 und 1968 in Erinnerung ruft: „Was die eigentlichen Ziele des Surrealismus anbelangt, so scheinen sie in dem Maße immer weiter im Unwahrscheinlichen sich zu verlieren, wie sie von der Idee der Revolution überdeckt werden. Prag 48, Budapest 56 sind die aufeinanderfolgenden Sinnbilder der Niederschlagung der Freiheiten, die sich damals zeigen wollten."15 So daß der Surrealismus am Vorabend des Mai 68 ein wenig verzweifelt auf ein revolutionäres Ereignis wartet, das ihm seine Daseinsberechtigung zurückgeben könnte. Im März 1968 veröffentlicht Vincent Bounoure einen bilanzierenden Text, dem die Verwirrung eingeschrieben ist: „Während langer Jahre an der Idee der Revolution verzweifelnd, [...] hat der Surrealismus unaufhörlich den Widerlegungen, die ihm die Geschichte zufügte, wie den düsteren Possen, die sie immer wieder spielt, die Gewißheit von Möglichkeiten entgegengestellt, die heute erstickt zu werden drohen. Nicht immer kommt das Ganze zur Sprache. Doch diesen Willen ganz zu bewahren und in sich aus eigenem Antrieb diese Chance zu nähren, ging nicht, ohne d a ß dabei eine immer wieder aufs Spiel gesetzte, unablässig enttäuschte Spontaneität zu Schaden kam, auf der der tagtägliche Hohn der Zeitungen lag, den diese von ihren Schlagzeilen niederprasseln ließen. Das Mindeste, was man sagen kann, ist, daß wir nicht oft den Wind in den Segeln hatten [...]. Die Idee der Revolution war fur den surrealistischen Willen in einem Maße konstitutiv, d a ß die Mißgeschicke, die jener widerfuhren, diesen dazu verleitete, sich in einer Lauerstellung zu verbeißen, innerlich aufs höchste gespannt und auf Demonstration in der Öffentlichkeit um so gieriger, j e mehr es dort von Betrügern und Fälschern wimmelte. [...] Weit davon entfernt, in Kunst oder Literatur ein Refugium zu finden, n a h m der Surrealismus vielmehr j e d e der düsteren Nachrichten, mit denen die Geschichte seinen H o f f n u n g e n einen weiteren Dämpfer versetzte, wie eine Flut von Dreck und Blut auf, die nach und nach, vielleicht aber doch unausweichlich, die Quelle verstopfte, aus der er seit seinem Ursprung schöpfte."' 6
13
Vincent Bounoure, Moments du surrealisme, Paris 1999, 21.
14
Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst, aus dem Franz. v. Bernd Schwibs u. Achim Russer, Frankfurt a.M. 1999, 404f.
1f
Bounoure, Moments du surrealisme, 21 -22.
16
Ders., L ' e v e n e m e n t surrealiste (Text vom 31.12.1967), in: L'Archibras 1968/H.3.
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337
Die Unsicherheit hinsichtlich des eigenen Überlebens, die dergestalt auf der surrealistischen Bewegung lastet, läßt sie auf schmerzlich-aufdringliche Weise die Gründungsformel bekräftigen, die ihrer symbolischen Herrschaft und dem von ihr ausgelösten Glauben zugrunde lag: psychische, ästhetische und politische Revolution in einem. 17 Die Surrealisten sehen sich im Gegensatz sowohl zu den „Priestern des L'art pour 18
l'art" als auch zu der aus dem Sartreschen Existentialismus hervorgehenden engagierten Literatur und dem Agitprop, der die Geltung eines Werks seiner politischen Wirksamkeit unterstellt. Die von Tel Quel theoretisch unterfütterte „textuelle Praxis", in der sie lediglich einen Ersatzheroismus für Literaten erkennen, prangern sie gleichermaßen an19, und in der gemeinsam mit tschechischen Mitarbeitern der Zeitschrift Aura zwischen dem 5. und dem 18. April 1968 verfaßten Prager Plattform bekräftigen sie noch einmal: „Beim gegenwärtigen Stand einer Realität, von der die Menschen nur eine fragmentierte und entfremdete Wahrnehmung haben, darf Kunst, will sie revolutionär sein, ihr Wohl nur auf unbekanntem Terrain suchen, wesentlich in den dunkelsten Zonen der seelischen Wirklichkeit. [...] Die einzige revolutionäre Ideologie, die künstlerisches Schaffen einbeziehen könnte [...], würde den Künstlern abverlangen, daß sie ihre besondere Funktion erfüllen: die im Unbewußten zum Stillstand gebrachten Mächte und Wünsche zu befreien". 20 Dem „poetischen Denken" die Aufgabe zuweisend, „dem Menschen die Macht der Prophetie zu schenken", die Fähigkeit, das Imaginäre in Reales zu verwandeln 21 , beklagen sie im übrigen, daß „vom Subjektivismus" der Gruppe 47 in Deutschland über Ponges Parteinahme fiir die Dinge bis hin zum strukturalistischen
17
Vgl.
insbesondere
Nadeau,
Geschichte
des
Surrealismus, 214:
„Auf
eine
gemäß
ihren
Eigentümlichkeiten leicht variierte Art wurden die Surrealisten Marxisten und Freudianer und legten dabei allen Nachdruck auf den Doppelaspekt der zu leistenden Revolution: ,Die Welt umgestalten', ,das Leben ändern'. Sie glaubten, sie könnten das durch umfassendes schöpferisches Tun erreichen, das Menschen voraussetzt, die selbst als umfassende Ganzheiten gedacht waren, und mittels eines Instruments, nämlich der Dichtung, die mit der geistigen Tätigkeit schlechthin in eins verschmelze. Dieser pausenlose Einsatz, dieser Tag- und Nachtdienst der Produktivität sollte in bedingungsloser Freiheit des Fühlens und Handelns geleistet werden, hoch über aller pedantischen Fachaufteilung des Lebens und der Kunst, und mit dem Willen, dem Menschen wieder zu seiner ursprünglichen Ganzheit zu verhelfen." 18
Plateforme de Prague, veröffentlicht in L'Archibras 1968/H.5 (Sonderausgabe „Le surrealisme le 30 septembre 1968", erschienen am 21.8.1968), 14. Die Plattform unterschreiben: Philippe Audouin, Jean-Louis Bedouin, Robert Benayoun, Micheline und Vincent Bounoure,
Guy
Cabanel, Claude Courtot, Adrien Dax, Guy Flandre, Louis Gleize, Jean-Michel Goutier, Charles Jameux, Alain Joubert, Robert Lagarde, Annie Le Brun, Jean-Pierre Le Goff, Gerard Legrand, Francois Nebout, Nicole und Jose Pierre, Huguette und Jean Schuster, Georges Sebbag, Marijo und Jean-Claude Silbermann, Franpois-Rene Simon, Elisabeth und Jean Terrossian. 19
Jean Schuster, A l'ordre de la nuit Au desordre du jour, in: L'Archibras 1967/H.l Surrealisme en avril 1967").
20
Plateforme de Prague.
21
Ebd.
(„Le
338
Boris
Gobille
Formalismus von Tel Quel die Literatur alle vorgängige Beschäftigung mit der Geschichte eskamotiert.22 Wider diese doppelte „geistige Sackgasse" fordert Bounoure auf zu einer „neuen Reflexion über die Geschichte und die Rolle, die der Geist darin spielt". Das Ziel bleibt „die revolutionäre Situation, in der der öffentliche Geist die vereinzelten Willen in sich aufnimmt, [...] in der sich aus den Ereignissen des privaten Lebens ein einmütiger Wille herausschält und im geschichtlichen Ereignis mit der objektiven Zeitlichkeit zusammenfällt".23 Mit Breton „die essentielle Zeitlosigkeit des prophetischen Registers" konstatierend, bekräftigt er noch einmal, wenige Wochen vor dem Mai 68, die Notwendigkeit, sich für das in der Zukunft plötzlich Eintretende bereit zu halten, und dann, so schreibt er weiter, „wird der Katalog der Ereignisse folgen".24 Tatsächlich folgte der Katalog der Ereignisse. Vielfach ist hervorgehoben worden, daß die Losungen der surrealistischen Bewegung im Mai-Juni 1968 eine beispiellose soziale Zirkulation und Verbreitung erfahren haben. In zahllosen Texten der Aktionskomitees sind sie ebenso zu finden wie auf den Wänden von Paris.25 Für die Mitglieder der offiziellen surrealistischen Bewegung erwächst daraus das Gefühl, endlich in der Faktizität die Lösung des Konflikts zwischen „innerer Welt" und „äußerer Welt" zu erleben, eine Art „urplötzliche Kristallisierung des Mythos in der Zeitlichkeit"26, ein Ausrichten des Realen am Imaginären, eine profane Epiphanie gleichsam, die die erwartete „Koinzidenz" von „Zeit der Subjektivität und geschichtlicher Ebene" herbeifuhrt.27 Im Mai 68 sehen sie jenes surrealistisches Ereignis, das sie so verzweifelt herbeigewünscht hatten28 und den „praktischen Beweis" dafür, daß sie in der Tat „Schamanen des Geistes" waren29: „Anhand einer Vielzahl von Merkmalen bestätigte der Mai 68 die surrealistischen Analysen. [...] die Illustration, die die surrealistischen Perspektiven auf der Straße fanden, brachte uns zwei Monate lang in Paris eine ununterbrochene Folge explosiver Gefühle ein [...]. Dieses Spiel, dieses Fest, diese Freude: da war der .Genius der Jugend', von dem Breton spricht. Die Desakralisierung der Arbeit, das der Phantasie, der Imagination eingeräumte Privileg, das zur Rückeroberung seiner Domänen voll zum Tragen kommende Lustprinzip zu Ungunsten eines kastrierenden Realitätsprinzips, der glückliche Triumph eines seine essentielle Nicht-Schuld proklamierenden Ödipus: damit war zu einem Teil der Surrealismus in die Tat umgesetzt, ohne
Bounoure, L'evenement surrealiste. 23 24
Ebd. Ebd.
25
Vgl. Julien Besanpon Hg., Les murs ont la parole: journal mural mai 1968, Paris 1968; Michel Piquemal u.a. Hg., Paroles de Mai, Paris 1998; Boris Gobille, Crise politique et incertitude: regimes de problematisation et logiques de mobilisation des ecrivains en mai 68, Diss. Paris 2003, Kap.5.
26
Bounoure, Moments du surrealisme, 49. Ders., L'evenement surrealiste. Ders., Moments du surrealisme, 24. Alain Joubert, Le mouvement des surrealistes, ou le fin mot de l'histoire. Mort d'un groupe naissance d'un mythe, Paris 2001, 306.
27 28 29
Die verlorenen Söhne Andre Bretons
339
daß wir irgend etwas persönlich ausgelöst hätten, es sei denn aus der Entfernung, durch Personen und Ideologien, also auf vermittelnde Weise." 30
Für sie ist der Realismus „zum Tode verurteilt"31, praktischer Beweis dessen, was sie ihrem Empfinden nach früher immer schon vergeblich gepredigt hatten: den Kampf gegen „die bedingungslose Zustimmung zu den überkommenen Vorstellungen", gegen „das Ersticken des Ausdrucks" und „das Wort unter strikter Bedingung der Selbstzensur" als einziges Mittel, die Hoffnung wieder neu zu beleben, „den Lauf der Geschichte umzukehren".32 Und obwohl bereits Ende Juni sich die Normalisierung wieder abzeichnet, bleiben sie überzeugt, daß Mai 68 „die Gesellschaft der Zukunft präfiguriert".33 Aber bereits diese zweite Jugend, diese wiedergefundene Eintracht mit dem Realen zwingt in ihren Augen den Surrealismus, über sich zu reflektieren: „April 1968 war einmal. Der Bruch ist unübersehbar, absolut. [...] Der Surrealismus ist ein anderer [...]. Der Surrealismus - aufgelöst in der anonymen Revolution."34 Und sie haben guten Grund, diese gleichsam stumme Unruhe hinsichtlich ihrer Zukunft zu nähren. Vorher: Der Tod Andre Bretons und die Verdrängung der Frage nach der internen Legitimität Die Selbstauflösung der offiziellen surrealistischen Gruppe von Paris 1969 wirft indirekt das Problem der Bedingungen der Möglichkeit (hier: Unmöglichkeit) der Veralltäglichung des Charismas und der damit verbundenen Legitimität auf. Andre Bretons Legitimität war historisch, gebunden an jene fundamentale zeitliche Priorität, die die Stellung des Gründers verleiht, inspiriert, gebunden an die Aszendenz, die gleichermaßen sein dichterisches und theoretisches Werk wie sein alltägliches Wort auf Schüler ausüben, deren Leben und Weltsicht davon verwandelt und die dadurch zum Surrealismus konvertiert wurden, und prophetisch, gebunden an die ihm zuerkannte Fähigkeit, kraft gerade auch der beiden anderen Komponenten, neue Fronten zu eröffnen, der Bewegung richtungsweisende Impulse zu geben, der surrealistischen Idee dadurch .Leben einzuhauchen', daß er sie bis in jene historischen Momente hineintrug, in der ihre Zeit eigentlich vorüber war, wie nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Tod von Andre Breton im September 1966, der auf den Benjamin Perets 1959 folgt, beraubt die surrealistische Bewegung ihrer historischen Gründerköpfe35 und 30
Bounoure, Moments du surrealisme, 24f.
31
L'Archibras 1968/H.4 (Sonderausgabe zu Mai 68 „Le SurTealisme le 18 juin 1968", Text datiert vom 8.6.1968).
32
Bounoure, L'evenement surrealiste.
33
„Discordance = Harmonie", anonymer Text, datiert vom 8.6.1968, in: L'Archibras 1968/H.4).
34
Ebd.
35
Aragon kann gegenüber der surrealistischen Bewegung diese Legitimität nicht mehr geltend machen, durch seinen Beitritt zur Kommunistischen Partei war er endgültig geächtet.
340
Boris
Gobille
stürzt sie in Unsicherheit und äußerste Verwirrung: „Der Tod Bretons im September 1966 ließ uns ohne moralische Unterstützung zurück. Er war der Spiegel, lesbarer als jeder andere, dem wir je begegnet waren, in dem wir lesen konnten, was wir wert waren, erkennen konnten, wohin unsere Wege führten."36 Er läßt die Gruppenmitglieder im Zustand einer Gemeinschaft von Gleichen zurück und beraubt sie jener Möglichkeiten zur internen Regelung von Konflikten, die Bretons Legitimität noch geboten hatte. Die Nachfolgefrage ist eröffnet. Sie ist für die Mitglieder der Gruppe um so entscheidender, als ihr literarisches Überleben selbst weitgehend von ihrer Existenz als Gruppe mit dem Label „surrealistisch" abhängt. Tatsächlich sind es nur wenige, die ein eigenes, jenseits der Zirkel und Verlage im Dunstkreis des Surrealismus verbreitetes ,Werk' aufzuweisen haben. Die Nachfolgefrage ist allerdings noch entscheidender geworden dadurch, daß es nicht mehr ,nur' um ihre Karriere als Poeten geht, sondern um ihren Daseinsgrund. In erster Linie Ethos, dann erst Ästhetik, Haltung gegenüber dem Leben mehr als .literarische' Bewegung, ist der Surrealismus von seinen Protagonisten häufig als eine ihre ganze Existenz verwandelnde Begegnung beschrieben worden. 37 Mit dem Tod Andre Bretons, so schreibt Jean Schuster, eines der
37
Bounoure, Moments du surrealisme, 22. Siehe etwa das Zeugnis des .dissidenten' Surrealisten Alain Jouffroy von seiner zufälligen Begegnung mit Breton 1946: Sie löst eine persönliche Krise aus, bringt ihn dazu, mit seiner Familie und der Perspektive eines Hochschulbesuchs zu brechen, um sich gänzlich seiner dichterischen „Berufung" hinzugeben; vgl. Alain Jouffroy, Le roman vecu, Paris 1978. Auch Alain Joubert schildert das Gründungsereignis, das die Begegnung mit Breton darstellt, als er gerade 19 Jahre alt ist, sein „Geblendetsein", als trete er aus tiefer Finsternis: „Im September 1955, gezogen von der freundschaftlichen Beharrlichkeit Gerard Legrands - wir kannten uns seit 2 Jahren getrieben von einer inneren Kraft, in der Auflehnung und Anspruch gleichermaßen eine entscheidende Rolle spielen, entschließe ich mich schließlich, mit Andre Breton Kontakt aufzunehmen, und stelle mich eines Abends im Cafe Le Musset (hinter der Metrostation Pyramides) ein, dem Treffpunkt der Surrealisten zu dieser Zeit. [...] Natürlich beeindruckt mich Andre Breton. Dem Erfinder des Surrealismus gegenüberzustehen und festzustellen, daß die ausgesuchte Höflichkeit, deren er sich mir gegenüber befleißigt, keineswegs gespielt ist, daß die Aufmerksamkeit, die er mir entgegenbringt, und das Interesse, mit dem er mein Verhalten betrachtet oder meinen ersten Worten lauscht, lediglich äußere Zeichen einer unstillbaren Neugier sind, nicht Folge einer Pose, alles das durchfährt mich wie ein Blitz, erschlägt meine Ängste, Befürchtungen und Vorbehalte, um mich im selben Augenblick in der Haut eines Vollmitglieds der Surrealisten zu neuem Leben zu erwecken, nach einem Schicksal lechzend, das ich aus der Tiefe meiner inneren Nacht undeutlich erahne" (Joubert, Le mouvement des surrealistes, 189-190). Diese vom Surrealismus vollzogene Totalisierung des Ethos bestätigt auch Dionys Mascolo in seinem Artikel „Surrealisme, Morale, Musique", Dossier „Andre Breton et le Surr6alisme", in: La Quinzaine Litteraire, 15.-31.3.1971: „Die ihm eigene Macht, alles zu umgreifen, die Verschmelzung, der er jeden Menschen unterzieht, das genau vervielfacht seine Fähigkeit zum initialen Bruch. [...] Daraus folgt insbesondere, daß für jeden von nun an Schluß ist damit, schadlos zwei, drei Leben nebeneinander zu leben: intellektuelles Leben, bürgerliches Leben, privates Leben - letzteres selbst noch getrennt in: gesellschaftliches Leben, affektives Leben - letzteres seinerseits geschieden in weitere gleichermaßen nicht miteinander kommunizierende: gelebte Leben, geträumte Leben ..."
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Mitglieder, in der ersten Nummer von L 'Archibras im April 1967, „ist der Surrealismus in seinem ganzen Sein getroffen und ist die Frage gestellt, ob es mit ihm weitergeht oder nicht".38 Nur eine eindeutige Weitergabe des in der Person Bretons niedergelegten Charismas hätte dieses Klima der Erbenlosigkeit verhindern können. Aber keine der von Max Weber untersuchten Weitergabemodalitäten charismatischer Herrschaft ist in der surrealistischen Nachfolge möglich39: Die Ersetzung des Gründers durch einen neuen „Charisma-Träger" ist bei Fehlen eines Nachfolgers, der Bretons charismatische Eigenschaften besitzt, nicht denkbar; ein Mechanismus der „Offenbarung": Orakel, Los, Gottesurteil oder andere Techniken der Auslese, existiert nicht, sein eminent religiöser Charakter würde der Funktionsweise der Gruppe widersprechen, wie noch mehr „die Vorstellung, daß das Charisma eine Qualität des Blutes sei und also an der Sippe, insbesondere den Nächstversippten, des Trägers hafte". Zwei andere Modalitäten sind im äußersten Fall denkbar: „Nachfolgedesignation seitens des bisherigen Charisma-Trägers und Anerkennung seitens der Gemeinde", sowie „Nachfolgedesignation seitens des charismatisch qualifizierten Verwaltungsstabs und Anerkennung durch die Gemeinde". Nun konnte aber keiner dieser Weitergabemodi charismatischer Legitimität wirksam werden. Vor seinem Tod hatte Andre Breton keinen .geistigen' Erben bestimmt. Beim ersten Treffen der Bewegung nach seinem Ableben liest seine Frau die Passage aus dem Testament vor, in der er Jean Schuster die Aufgabe überträgt, über die „Verwaltung der Archive des Surrealismus" zu wachen.40 Die ihm damit übertragene Legitimität ist partiell und hinsichtlich ihrer eigentlichen Beschaffenheit unbestimmt. Sicher ist er eines der ältesten Mitglieder, da er 1947 zur Gruppe stieß; aber andere können sich ebenfalls auf eine solche Anciennität berufen, wie etwa Jehan Mayoux, und er ist auf jeden Fall kein historischer Gründer. Auch übt er keine genuin künstlerische Aszendenz aus, da er bis dato noch kein einziges Gedicht veröffentlicht hat.41 Wohl hatte Breton 1922 vorgebracht, daß die Dichtung „mehr aus dem Leben der Menschen, Schriftsteller oder nicht, erwachse als aus dem, was sie geschrieben haben oder was ihnen unterstellt wird, sie könnten es schreiben".42 Die Modalitäten der surrealistischen Rekrutierung und die Antriebskräfte der internen Legitimität waren übrigens, wie Alain Joubert in Erinnerung bringt, von dieser Verneinung des Werks geprägt: „Die Frage der Personen war fur ihn [Andre Breton] und seine Freunde nie ein Problem, da die Kooptationskriterien nicht der für den Rest der Welt typischen Norm entsprangen - und
38 39
40 41
42
Schuster, A l'ordre de la nuit Au desordre du jour. Die nachstehenden Modalitäten entlehne ich Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Studienausgabe, 1. Halbband, Köln 1964, 183f. Zit. in Joubert, Le mouvement des surrealistes, 72. Sein dichterisches Schaffen offenbart er tatsächlich erst ab 1979, mit der Publikation von Moutons (hg. v. J.-M. Goutier), dann mit Les Fruits de la passion (1988) und Τ'as vu ςα d'la f'nitre (1990). Zit. n. Joubert, Le mouvement des surrealistes, 78.
342
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vor allem nicht der der literarischen oder künstlerischen .Avantgarden'! Ein neu Hinzukommender wurde nicht nach seinen .Talenten' noch nach seinen .Werken' beurteilt, sondern nach seiner .Allüre', jener .dichterischen Allüre', die Jacques Baron eines Tages zum Titel eines seiner Bücher machte. ,In der Theorie, ich sage wohlweislich in der Theorie, ist schon der bloße Begriff des Werks unvereinbar mit dem surrealistischen Projekt', wird Philippe Audouin in seinem Buch präzisieren. Wenn ein Surrealist etwas kreierte, schuf, dann wurde seine Geste tatsächlich nicht an der Elle der traditionellen künstlerischen Kriterien gemessen, sondern nach Maßgabe des Beitrags, den dies für das gemeinsame Projekt bildete - oder nicht. Das Werk durfte kein Selbstzweck sein." 43
Ungeachtet dessen unterband fehlendes literarisches Kapital, daß Jean Schuster die von Breton einst besetzte Stellung als .Erwecker' einnahm. Und die Legitimität, die ihm Breton in seinem Testament zukommen läßt, nämlich die Archive zu verwalten, ist weder die eines die Fortdauer der messianischen Botschaft verbürgenden Apostels noch die eines über eine Kirche regierenden Papstes, noch die eines Priesters, dem eine Kirchengemeinde überantwortet ist. Sie ist allenfalls, wollte man in der religiösen Analogie bleiben, die eines Vikars, der die Intendanz einer auf sich selbst gestellten, geschrumpften kleinen Kirche aufrechterhalten muß und der sich lediglich auf eine in Archiven objektivierte Tradition berufen kann. Indem es keinen geistigen Erben designiert, gleichwohl aber einen prozeduralen Erben benennt, schürt das Testament Bretons in all seiner Ambiguität die kommende Krise. In der auf Bretons Tod folgenden Vakanz und angesichts seiner Befürchtung, daß der Untergang der Bewegung ihn selbst mitzieht, geht Schuster aufgrund der bloßen Tatsache, daß er vom Meister benannt wurde, implizit vom Status des Nachlaßverwalters zu dem des Führers über: „Die Sätze, die Worte dieses kurzen Auszugs [aus dem Testament] glitten wie Nebel in die Köpfe der Anwesenden; allein der Name von Schuster tauchte daraus auf, eine Art beruhigende Boje, an die sie sich klammerten. [...] die Tatsache, daß ein Name zitiert worden war, wenn auch in bezug auf etwas anderes, wurde von den meisten als Einladung zu absolutem Vertrauen der genannten Person gegenüber wahrgenommen, wie eine Art .Machtübertragung' in Form des Nichtausgesprochenen." 44
Kaum offen, ist die Nachfolge über ein Nichtausgesprochenes, ein Einverständnis im Mißverständnis, auch schon wieder geschlossen und dem Schutz der Routinen anheimgegeben. Davon zeugt im nachhinein Bounoure: „Wer waren wir und was tun? Das Bedürfnis, das Dahinscheiden dessen wieder rückgängig zu machen, der uns, wie wir dachten, seine Freundschaft geschenkt hatte, stürzte uns in eine sublime Selbsttäuschung: tun wir so, als ob, handeln wir, obwohl, gehen wir weiter unter dem Zeichen des trotz allem. Ein gefährliches Unternehmen, umgab es sich doch zunächst mit der Aureole von Bretons Wille, der durchaus der Ansicht war, der Surrealismus überlebe ihn, um sich dann aber über das schonungslose Urteil hinwegzusetzen, das wir über unsere Mittel oder unsere Art und Weise, daraus Kapital zu schlagen, um den Umständen zu trotzen, fällten. [...]
43 44
Ebd. Ebd., 72.
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Das Leben mußte Sieger bleiben. [...] Die erste Nummer von L'Archibras erschien im April 1967. An den Gewohnheiten wurde nichts geändert. Dennoch war die Unsicherheit extrem hoch, fühlte sich jeder einzelne als ein Wohlfahrtsausschuß, was zu einer noch radikaleren Unterschiedenheit der einzelnen und gleichzeitig zu noch leidenschaftlicherer Aktivität führte, wovon Schlag auf Schlag die Ausstellung in Sao Paulo, die dank unserer tschechoslowakischen Freunde im April 1968 in Prag eröffnete Ausstellung und die Sammlung von L'Archibras zeugen. Doch eine derartige Fülle rasch aufeinanderfolgender Reaktionen verwandelte umgekehrt die Existenz des Surrealismus in eine sandige Abfolge abstrakter Entscheidungen, in der unbestritten der Sinn für Muse sich verdunkelte, die Gesten in eine mechanische Ungelenkheit verfielen, die Ungezwungenheit der Freundschaften verlorenging und der Stand der Unschuld sich immer seltener einstellte." 45
Schuster ist also in die zwiespältige Position eines Bewahrers der Tradition versetzt, und dies in einem Augenblick, da die Bewegung wie nie zuvor eine Zukunft für sich sucht. Im Grunde beruht seine Autorität darauf, daß er seit Ende der fünfziger Jahre immer häufiger Sitzungen der Gruppe hatte leiten müssen46, und daß Breton ihm diese Aufgabe anvertraut hatte, lag nicht zuletzt an der Rolle, die er sehr früh schon beim Aufbrechen der politischen Isolierung des Surrealismus gespielt hatte. Aber gerade diese politische Legitimität ist innerhalb der Gruppe nicht unangefochten. Um den Krieg um Führerschaft, der nach Bretons Tod entbrennt, in seinen Wurzeln offenzulegen, müssen wir auf den politischen Weg der Surrealisten seit der Befreiung zurückkommen.
Noch weiter zurück: Die Wiederkehr des politischen Verdrängten Nach dem Zweiten Weltkrieg kommt die surrealistische Bewegung nicht nur mit ihrem inneren Projekt nicht weiter, sie ist auch politisch isoliert. Die aus der Befreiung erwachsenden revolutionären Hoffnungen sind bald erstickt. Wie Carole Reynaud Paligot analysiert: „[...] das erste Flugblatt, das die Surrealisten nach dem Krieg veröffentlichen, Liberte est un mot vietnamien (Freiheit ist ein vietnamesisches Wort), verweist auf ihre Desillusionierung hinsichtlich des neuen Regimes. Die Freiheit, die Frankreich sich gegen die Nazi-Unterdrückung hatte erheben lassen, ist rasch vergangen, die .Finanzbourgeoisie' hat erneut eine .traditionelle imperialistische' Politik ergriffen. Doch diese Verwirrung fuhrt bei den Surrealisten nicht zu einer Aufgabe des Willens, die Welt zu verändern: ,Aus der Mitte der grauenhaften physischen und moralischen Misere dieser Zeit warten wir, ohne darüber schon zu verzweifeln, daß gegen jede Domestizierung aufbegehrende Energien an Ort und Stelle die Aufgabe der Emanzipation des Menschen übernehmen.' Trotz des Scheiterns ihres kommunistischen Engagements halten sie (auch in der Zukunft) bis zum Ende an ihrem revolutionären Willen fest. 1949, in Rupture inaugurate, erinnern sie an ihr .unvergängliches Festhalten' an der Tradition der Arbeiterbewegung, einer Tradition, von der der PCF (Kom4 46
Bounoure, Moments du surrealisme, 23. So ist er seit 1957 Chefredakteur der Zeitschrift Le Surrealisme wird.
meme, die von Breton geleitet
344
Boris Gobille
munistische Partei Frankreichs) von Tag zu Tag mehr abrückt, und ihre Verbundenheit mit der .proletarischen Revolution'. Bei der Befreiung hat der Stalinismus die Erfahrung der Surrealisten mit dem Kommunismus definitiv zum Abschluß gebracht. Zu einem Zeitpunkt, da der Kommunismus nahezu die gesamte französische Intelligenzija verfuhrt, findet sich der Surrealismus politisch isoliert, erdrückt, wie Breton ausfuhrt, .zwischen einer Bourgeoisie, die sie wegstieß - ich würde hier hinzufugen, was Daniel Guerin sagt: wenn es ihr nicht gelang, sie durch Phagozytose zu überwältigen - , und einer kommunistischen Orthodoxie, die sie mit Beleidigungen überschüttete'. Erneut bekräftigend, daß die Veränderung der Welt dringender denn je sei, sprechen die Surrealisten dem Kommunismus alles Recht ab, diese in die Hand zu nehmen, und fordern, daß sie von Grund auf neu zu überdenken sei." 47
Obwohl Alain Joubert erst Mitte der fünfziger Jahre zur surrealistischen Gruppe stößt, macht er sich nachträglich zum Echo dieser politischen Distanzierung gegenüber dem Zugriff sowohl Sartres als auch der Kommunistischen Partei auf das intellektuelle Feld, wobei die Ausrichtung an der Kommunistischen Partei ihnen um so unannehmbarer erscheint, als jene auf frühere Brüche innerhalb der surrealistischen Bewegung verweist, nämlich auf Aragon und Eluard, die die Reihen der Partei verstärkt hatten: „1947 müssen die Surrealisten einer regelrechten Erpressung die Stirn bieten, die die Intellektuellen zwingen will, entweder sich unter das Banner der Kommunistischen Partei - buchstäblich - einzuordnen oder aber schamerfiillt sei's ihre Ohnmacht, sei's ihre .Klassenzugehörigkeit, sei's beides einzugestehen! Kein Heil ohne Stalin! jaulen Aragon und Eluard, die nur einen Kopf sehen wollen! natürlich leer! - , während Sartre das Engagement zur Schlüsselbedingungen jeden intellektuellen Vorhabens erhebt. Breton und seine Freunde beschließen, eine wohlgezielte Erklärung zu veröffentlichen, um ihre diesbezügliche geistige Einstellung kenntlich zu machen; dies wird Rupture inaugurate sein, mit dem Datum vom 21. Juni 1947 und etwa 50 Namen als Unterschrift." 48
Jean Schuster wird, neben den .historischen' Größen, Peret, dann Breton, einer der Hauptinitiatoren der politischen Repositionierung der Bewegung sein. Die Gruppe nähert sich der anarchistischen Bewegung um Liberiaire an, noch zögerlich-schüchtern in „Rupture inaugurale" 1947, wo Trotzkisten und Anarchisten als Verteidiger der .proletarischen Revolution' seit dem spanischen Bürgerkrieg hingestellt werden, enger dann, insbesondere unter dem Einfluß von Benjamin Peret, wenn dieser sich ihr auch wesentlich als Privatmann annähert, aber auch Breton, der für einen libertären Kommunismus eintritt.49 Doch erst Mitte der fünfziger Jahre durchbrechen die Surrealisten wirklich ihre politische Isolierung innerhalb des intellektuellen Feldes in Frankreich. Die Enthüllungen über die Verbrechen Stalins und die sowjetische Unterdrückung des Ungarnaufstands 1956 bringt eine Reihe von Intellektuellen, „oppositionellen Kommunisten" dazu, sich von der Kommunistischen Partei zu lösen und zur Erneuerung des unortho-
47
48 49
Carole Reynaud Paligot, Parcours politique des surrealistes, 1919-1969, Paris 2001, 141-142. Über die surrealistischen Positionen nach der Befreiung: 140-159. Joubert, Le mouvement des surrealistes, 191. Zur Annäherung und zum Zusammengehen von surrealistischer Bewegung und anarchistischer Bewegung, vgl. Reynaud Paligot, Parcours politique des surrealistes, 160-176, 192-202.
Die verlorenen Söhne Andre Bretons
345
doxen Marxismus beizutragen, wie sie sich vor allem um die 1956 gegründete und bei Editions de Minuit erscheinende Zeitschrift Arguments vollzieht, die die marxistische Vulgata unter Rückgriff auf importierte Theorien der Frankfurter Schule, des Freudianismus und der Humanwissenschaften dekonstruiert, aber auch im Umkreis von antibürokratischen Strömungen, die die Arbeiterselbstverwaltung propagieren und zu jener Zeit durch Zeitschriften wie Socialisme ou Barbarie50 und Autogestion et Socialisme von Jean Duvignaud und Daniel Guerin verkörpert werden. Die Lockerung des Einflusses der Kommunistischen Partei auf das intellektuelle Feld in Frankreich eröffnet den Surrealisten die Möglichkeit neuer Allianzen. Teilweise auf Initiative Jean Schusters konkretisiert sich denn auch ein solches Bündnis mit den unorthodoxen Marxisten. Die Surrealisten schließen sich dem „Appel en faveur d'un Cercle international des intellectuels revolutionnaires" (CUR) („Aufruf zugunsten eines Internationalen Zirkels revolutionärer Intellektueller") an, der im Dezember 1956 vor allem von Robert Antelme, Dionys Mascolo, Jean Duvignaud, Edgar Morin, Marguerite Duras und Andre Breton lanciert worden war und dessen Ziel es war, die UdSSR und die Kommunistische Partei Frankreichs an den Pranger zu stellen und zugleich die ausschlaggebende Rolle der Intellektuellen bei der „Befreiung des revolutionären Denkens" und der „Demokratisierung des sozialistischen Denkens" zur Geltung zu bringen. 51 Die surrealistische Bewegung hat damit wieder einen zentralen Platz innerhalb der intellektuellen Netzwerke inne, die sich dem Kampf gegen Stalinismus und Kolonialismus verschrieben haben, beides Phänomene, die sie schon länger und als eine der ersten angeprangert hatte. Zu den Glanzzeiten dieser politischen Repositionierung der Surrealisten gehört ihre aktive Teilnahme bei der Initiierung und Abfassung der Declaration sur le droit ä l'insoumission dans la Guerre d'Algerie („Erklärung zum Recht auf Nichtbefolgung des Einberufungsbefehls im Algerienkrieg") 52 , das sogenannte „Manifest der 121", das im September 1960 großes Aufsehen erregt und ihre Verankerung in einer kritischen intellektuellen Konstellation bestätigt, einer Konstellation, die aus früheren Überläufern der Kommunistischen Partei, dem Netzwerk der Editions de Minuit und des Nouveau Roman, der Temps Modernes von Sartre sowie der Zeitschrift Arguments besteht und die einige Jahre später zu den ersten Unterstützern der Studentenbewegung von 1968 gehören wird. Die politische Autorität Schusters innerhalb der surrealistischen Bewegung geht gestärkt aus dieser Epoche hervor, bleibt aber immer noch fragil, zumindest nicht unangefochten. Ab 1961 starten Alain Joubert, Joyce Mansour, Marianne Van Hirtum und Gerard Legrand sowie ehemalige Mitglieder wie Louis Janover eine Zeitschrift, Sddition (Aufstand/Aufruhr). Die erste Nummer eröffnen sie mit einer Kritik nicht des 50
Philippe Gottraux, "Socialisme ou Barbarie". Un engagement politique et intellectuel dans la France de l'apres-guerre, Lausanne 1997.
51
Aufruf des CUR, November-Dezember 1956, publiziert in Les Leltres Nouvelles Nadeau im Mai 1957 (und wiederveröffentlicht in Lignes 1998/H.33, 74).
52
Zu dieser Teilnahme, vgl. Reynaud Paligot, Parcours politique des surrealistes, 180-181.
von Maurice
346
Boris Gobille
„Manifests der 121" als solchem, das sie mitgetragen hatten, wohl aber seines angeblichen Einsatzes durch Sartre zur Unterstützung des Nationalismus der algerischen FLN 53 ; darin einen Geburtshelfer der Revolution zu sehen, weigern sich die , Aufständler'. 54 Alain Joubert zufolge soll Jean Schuster, Mitverfasser des „Manifests" und einer der Surrealisten, der dem Netzwerk Sartres am nächsten stand, diese Attacke als persönliche Infragestellung aufgefaßt haben. 55 Die internen Auseinandersetzungen um die politische Position der Bewegung weiten sich aus.56 Es bedarf der ganzen Autorität Bretons und seines Geschicks, zwischen den einen und den anderen zu schlichten und sie abwechselnd auf den Schild zu heben 57 , um zu verhindern, daß der Konflikt ausartet. Doch nach seinem Tod treten die Trennlinien wieder scharf hervor. Anlaß dazu bietet bereits Ende 1966 die Bildung des Redaktionsausschusses der im Entstehen begriffenen neuen Zeitschrift L 'Archibras. Was auf dem Spiel steht, ist in doppelter Hinsicht entscheidend. Zum einen stellt die Zeitschriftenform ein zentrales Element zur Akkumulation symbolischen Kapitals im literarischen Feld Frankreichs zumindest seit den zwanziger Jahren dar, und ganz besonders im Subfeld der Dichtung. Zum anderen war es dem Surrealismus gerade dank der von ihm entwickelten und unters Publikum gebrachten Zeitschriften gelungen, sich in seiner Anfangsphase durchzusetzen und in der Nachkriegszeit sich seinem Niedergang entgegenzustemmen. 58 Aufgrund dieses strukturellen Zwangs und dieser besonderen Identität wird die Definition des L 'Archibras zu einem Moment der Spannung für die surrealistische Gruppe, und dies um so mehr, als es dieses Mal um nichts mehr und nichts weniger geht als darum, die Mittel zum Überleben nach dem Hinscheiden der Gründerväter zu finden, und L 'Archibras, noch zu Lebzeiten Bretons im Entstehen, eine Form von Nachfolge-Legitimität in sich zu tragen scheint. Während einige noch für einen rein technischen Aus-
53
FLN = Front de Liberation National: 1954 gegründete algerische Befreiungsbewegung. [Anm. d. 0.]
54
Joubert, Le mouvement des surrealistes, 198. Das Redaktionskomitee von Sedition besteht aus Claude Citron, Marc Gauthier, Pierre Gobert, Louis Janover, Guy Lecrot, Bernard Pecheur. Joubert, Le mouvement des surrealistes, 198-202. In seinen Archiven setzt Schuster die Zeitschrift Sedition auf den Rang von „insignifiances", „Belanglosigkeiten", herab, s. Fonds Jean Schuster, in: Mappe „Politique. Annees 60 + autres: Groupuscules politiques ou litteraires", Unterakte „Sedition, Spartacus, Front Noir, et autres insignifiances" [Hervorhebung d. Verf.] im Institut Memoire de l'Edition Contemporaine.
55
56
Joubert, Le mouvement des surrealistes, 198-202.
57
Während er Schuster eine entscheidende Rolle bei der Animation der Gruppe zuweist, greift er auf Joubert und Nicole Espagnol zurück, damit sie ihn am 21.12.1961 bei einem Treffen in der Maison de l'Europe vertreten, wo eine „Kommission für die Wahrheit über die Verbrechen Stalins" gebildet werden soll, an der „Persönlichkeiten" wie Maurice Nadeau, Pierre Naville, Germaine Tillon, David Rousset teilnehmen; vgl. Joubert, Le mouvement des surrealistes, 204.
58
Zur Bedeutung der poetischen Zeitschriften bei der Akkumulation symbolischen Kapitals in den zwanziger Jahren und zumal für den Surrealismus, vgl. Norbert Nandier, Sociologie du Surrealisme, 1924-1929, Paris 1 9 9 9 , 4 5 - 5 9 .
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schuß und breiteste herausgeberische Kollegialität eintreten59, gelingt es den früheren engsten Mitarbeitern Bretons, Vincent Bounoure, Gerard Legrand, Jose Pierre, Jean Schuster, Robert Benayoun und Joyce Mansour60, die Kontrolle über die Zeitschrift zu übernehmen, so wie sie zuvor schon das Redaktionskomitee von La Breche, die vorhergehende surrealistische Publikation, die im November 1965 eingestellt worden war, unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Unter der Federführung von Vincent Bounoure61 verfassen sie im Frühjahr 1967 eine interne Erklärung mit dem Titel Pour un demain joueur („Für ein spielerisches Morgen") und dem Untertitel resolution interieure destinee ä enrayer la formation des poncifs et ä interdire la formation des dogmes dans le surrealisme („interne Resolution mit dem Ziel, die Bildung von Klischees zu unterbinden und die Bildung von Dogmen im Surrealismus zu verhindern"). Sie ruft auf zur historischen Kontinuität, aber ohne „Traditionalismus", „Wiederholung" und „Faulheit"62, und bekräftig aufs neue die Notwendigkeit totalen Engagements in der Gruppe, insbesondere durch eifrigen Besuch des Cafes, in dem die Surrealisten sich gewohnheitsmäßig treffen, dem Promenade de Venus. In politischer Hinsicht wird in der Erklärung bedauert, daß die surrealistischen Interventionen „seit drei Jahren nahezu null" seien, und eine gewisse „hochmütige Enthaltung" beklagt, „ein Kult der Machtlosigkeit, den die revolutionäre Phraseologie nicht kaschieren kann". Dann wird der Ton schärfer: „Für wen halten wir uns, daß wir im Namen unserer moralischen Reinheit über die Rechtmäßigkeit des Kampfes der peruanischen Guerilleros oder der Partisanen des Vietkong, die einen wie die anderen systematisch von der amerikanischen Regierung und deren Komplizen unterdrückt, urteilen? Wer sind wir, daß wir schweigend dem Bombenregen über Haiphong oder den Schießereien in Santo-Domingo beiwohnen? Welche Wahrheit ermächtigt uns, den Polizisten der GPU und den Aktivisten des Vietkong, den maoistischen Bürokraten und den Widerstandskämpfer in Südamerika in denselben Sack zu stecken? Im Moment der ungarischen Revolution hatten wir keine Angst, als Komplizen Amerikas zu gelten. Und doch, wer unter uns wußte nicht, daß der Sieg des Aufstands von Budapest in bestimmter Hinsicht den westlichen Block begünstigen würde? Will der Surrealismus weiter auf politischer Ebene intervenieren, gibt es auf internationaler Ebene nur die eine Haltung einzunehmen: In alldem, was von ihm abhängt, alle Bewegungen unterstützen, die sich den drei Mächten entgegenstemmen, die sich die Welt aufteilen: der amerikanischen Macht, der russischen Macht und der chinesischen Macht. In unseren Augen ist der Feind derselbe, er wechselt lediglich je nach geographischer Zone, in der er seine Herrschaft ausübt, den Namen." 63
Gedacht als ein regelrechter Aufruf zur Parteinahme für die revolutionären Guerillas der ,Dritten Welt', will dieser Text den internen Debatten ein Ende bereiten, die die 59 60
61
62
63
Joubert, Le mouvement des surrealistes, 65. Für die surrealistischen Zeitschriften sei verwiesen auf Adam Biro/Rene Passeron Hg., Dictionnaire general du surrealisme et de ses environs, Freiburg (Schweiz) 1982. Philippe Audouin, Elisa Breton, Claude Courtot, Gerard Legrand, Joyce Mansour, Jose Pierre, Jean Schuster, Jean-Claude Silbermann, Francois-Rene Simon. Vgl. L'Archibras 1967/H.l. Pour un demain joueur, 10.5.1967, wiederabgedruckt in Joubert, Le mouvement des surrealistes, 354. Ebd., 351-356.
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Bewegung zumindest seit der Episode der Zeitschrift Sedition in Aufruhr versetzt hatten und die übrigens auch nicht ohne Kehrtwendungen abgegangen waren, wie etwa bei Gerard Leblanc, einem der Ideengeber von Pour un demain joueur, der gleichwohl einige Jahre zuvor bei Sedition mitgemacht hatte und zu dieser Zeit, will man Alain Joubert glauben, die Meinung äußerte: „Ich stelle den revolutionären Charakter aller Bewegungen in den Ländern, die als .Dritte Welt' bezeichnet werden, radikal in Zweifel. [...] Ich meine im besonderen, daß die revolutionäre Hoffnung in die Länder der Dritten Welt zu setzen einen Akt des Glaubens und nicht des Verstandes darstellt, oder wenn man will: eine Wette. Diese Wette kann ich ehrlicherweise nicht annehmen." 64
Worum es bei der Erklärung Pour un demain joueur von 1967 geht, ist die Durchsetzung der von Jean Schuster gepredigten Linie, das heißt aber auch seines eigenen politischen Kapitals, das eng mit den politischen Annäherungen verknüpft ist, die seit einem Dutzend Jahren innerhalb des intellektuellen Feldes realisiert worden waren, insbesondere mit den Anhängern Sartres. Diesbezüglich ist die Erklärung ganz klar: „Es erscheint uns wünschenswert, unsere Standpunkte mit denen anderer Intellektueller zu konfrontieren, um so auch die Grenzen unseres Einverständnisses mit ihnen zu kennzeichnen. Was unsere möglichen extremen Positionen angeht, steht es uns frei, uns in der Zeitschrift oder auf Flugblättern zu äußern; aber dem widerspricht nicht, für eine minimale Aktion unsere Stimme mit anderen zu vereinen." 65
Vom Inhalt eher politisch denn künstlerisch, nennt die Erklärung doch eine Reihe von Regeln, in denen im Zusammenhang mit der Reflexion über die Zukunft der Gruppe das Primat der kollektiven Funktionsweise über die individuellen Initiativen zur Geltung gebracht wird. Wird betont, daß es nicht darum gehe, von den „Minoritären" zu verlangen, daß sie - sei es im Politischen oder im Künstlerischen - ihren Standpunkt aufgeben oder sich einer „Selbstkritik" unterziehen, fordert Pour un demain joueur doch gleichzeitig explizit, „daß diejenigen, die sich nach freier Debatte über ein bestimmtes Thema in einer ,minoritären Position' wiederfinden, davon absehen, die Generallinie zu konterkarieren oder zu bremsen, insbesondere durch Neueröffnung bereits abgeschlossener Diskussionen". Die „endgültige Zustimmung" zum Text wird „durch Unterschrift [...] all denjenigen abverlangt, die den gegenwärtigen Bedingungen der kollektiven Aktivität zustimmen wollen". 66 Dieser Gewaltstreich zieht den Austritt von Jehan Mayoux nach sich, der eine „Aufforderung" brandmarkt, die „vor die Alternative (stellt): unterzeichne oder mach die Tür hinter dir zu". 67 Mayoux ist sicher um so weniger bereit, sich sein Verhalten diktieren zu lassen, als er einer der ältesten Mitglieder der Gruppe ist und einer der surrealistischen Unterzeichner des „Manifests der 121", der aufgrund seines
64
Zit. n. Joubert, Le mouvement des surrealistes, 199-200.
65
Pour un demain joueur, 355.
66
Ebd., 356. Zit. n. Joubert, Le mouvement des surrealistes, 227.
67
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Beamtenstatus am stärksten von administrativen Sanktionsmaßnahmen betroffen ist.68 Aus Angst vor Ausschluß unterzeichnen die anderen Minoritären und reihen sich dem Schein nach ein. In diesem Jahr 1967 geht der Streit um die politischen Positionen der Bewegung nicht zuletzt um die Unterstützung des Castro-Regimes. Gegen den Philo-Castrismus der Herausgeber von L 'Archibras opponieren die Gegner der Schuster-Linie dadurch, daß sie Anfang 1967 beim täglichen Treffen der Gruppe „eine Liste verschwundener, eingesperrter, gefolterter Kubaner: Rebellen der ersten Stunde, Libertäre, Trotzkisten und andere Homosexuelle" herumgehen lassen.69 Pour un demain joueur ist damit auch eine Antwort auf diese internen Protestakte. Eine weitere unmittelbare Funktion der Erklärung ist aber auch, die Annahme jener Einladung zu dem im folgenden Juni stattfindenden „Mai-Salon" zu legitimieren, die durch die kubanische Regierung an Jean Schuster, Jose Pierre, Camacho und Michel Zimbacca ergangen war; diese Einladung ging zurück auf den Maler Wifredo Lam, einen engen Vertrauten Castros, der während eines Frankreich-Aufenthalts in den dreißiger Jahren an den surrealistischen Aktivitäten teilgenommen hatte.70 Jean Schuster und Jose Pierre begeben sich ungeachtet aller kritischen Stimmen im Juli 1967 nach Havanna. Die Erklärung, die Schuster bei diesem Anlaß abgibt und deren Entwurf sich in seinem Archiv befindet, zeugt von seinem Willen, den Philo-Castrismus als Fortsetzung des politischen Wegs der surrealistischen Bewegung seit ihren Anfängen auszuweisen.71 Zurück in Paris, berufen die nach Kuba Eingeladenen zu einer Sitzung für den 8. Oktober ein; in der vorgängigen Tagesordnung betrifft der erste Punkt „Kuba und der Surrealismus": „Die Surrealisten, die einen Monat in Kuba verbracht haben, hoffen, ihre Hoffnung in die kubanische Revolution mit der Mehrheit ihrer Kameraden teilen und in diesem Fall den Einfluß bestimmen zu können, den sie auf die künftigen surrealistischen Positionen haben kann."72 Die „Konvention", die der Tagesordnung vorausgeht, bindet den Surrealismus an sein Engagement in der „äußeren Lage", die angeblich seiner „außergewöhnlichen inneren Lage" zugute kommen soll: „Uns erscheint die Behauptung nicht übertrieben, daß der Surrealismus seit dem Ableben Andre Bretons sich einer außergewöhnlichen inneren Lage gegenübergestellt sah. Letztlich mußte er und müßte er noch immer einen ontologischen Blick auf sich selbst richten. Doch zur gleichen Zeit stellt sich auch die äußere Lage, sofern man nur willens ist, sie aufmerksam zu betrachten, und bei ihrer Analyse eine surrealistische Methode angewandt wird, als bemerkenswert neuartig dar."73
68
Vgl. Reynaud Paligot, Parcours politique des surrealistes, 180-181.
69
Joubert, Le mouvement des surrealistes, 223.
70
Reynaud Paligot, Parcours politique des surrealistes, 201.
71
Fonds Jean Schuster.
72
Zit. n. Joubert, Le mouvement des surrealistes, 243.
73
Ebd., 242-243.
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Die Tagesordnung erinnert schließlich an die in der Erklärung Pour un demain joueur sechs Monate zuvor bekräftige Autoritätslogik: „Schließlich kann es nicht darum gehen, die durch die im vergangenen Frühling angenommene Resolution Pour un demain joueur abgeschlossenen Debatten nochmals zu eröffnen." 74 So daß es, wie im Fall von Pour un demain joueur, vermutlich die Angst vor Ausschluß ist, die gewährleistet, daß die Opponenten sich anschließen. So erhält der nach der Sitzung verfaßte Text, betitelt Pour Cuba, „Für Kuba", datiert vom 14. November 196775, erneut die Unterschrift der Frondeure, wie etwa die Alain Jouberts, und vereinigt insgesamt 43 Unterschriften, das ist fast die gesamte surrealistische Gruppe.76 Im Januar 1968 folgt ihm ein Text Jean Schusters, Flamboyant de Cuba, arbre de la liberie („Durch Kuba lodernd, Baum der Freiheit").77 Die Fokussierung auf die politischen Stellungnahmen kommt allerdings einem Vermeiden der wirklichen Frage gleich, die sich der Bewegung stellt, nämlich die nach ihrem Zukunftsprojekt. Vincent Bounoure höchstpersönlich, obwohl Hauptverfasser der Erklärung vom Frühjahr 1967, mit der die Legitimität auf den Redaktionsausschuß von L'Archibras konzentriert worden war, macht aus seinen Zweifeln hinsichtlich des Grundprojekts der Surrealisten in L 'evenement surrealiste („Das surrealistische Ereignis") keinen Hehl, einem Text, der, datiert vom 31. Dezember 1967, erst in der MärzNummer der Zeitschrift 1968 erscheint.78
74
Ebd., 243.
75
Vgl. L'Archibras 1968/H.3.
76
Was nach außen hin den trügerischen Eindruck einer Einheitsfront der Surrealisten zugunsten des Castro-Regimes vermittelt, vgl. Reynaud Paligot, Parcours politique des surrealistes, 201: „Nach ihrer Rückkehr erscheint ein Text, Pour Cuba: die Surrealisten bestätigen ihre Unterstützung des kubanischen Regimes."
77
Ebd. Bounoure schreibt in L'evenement surrealiste: „So läßt die Geschichte der Ideen, angesichts des Kalenders vom vergangenen Jahr, die Frage nach der Zukunft des Surrealismus unbestimmt offen. [...] Wir haben von der Entscheidung Aufschluß zu geben, die nach Breton in der Fortdauer einer surrealistischen Gemeinschaft liegt, haben die damit einhergehenden Grenzen zu erklären, die heute im Gebrauch des surrealistischen Etiketts und selbst des surrealistischen Vokabulars liegen."
78
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Der Gnadenstoß des Mai 68 In diesen Kontext innerer Unruhe und Ungewißheit platzen zwei Monate später die Ereignisse vom Mai-Juni 1968 herein. Trotz des Gefühls, das so lange erhoffte Surrealistische Ereignis zu erleben, eine wirkliche „Emanzipationsbewegung des inneren Verdrängten"79, läßt der kritische Moment es nicht zu, daß die Gruppe wieder zur Einheit findet, im Gegenteil: er beschleunigt noch deren Verfall. Kollektiv nimmt die surrealistische Gruppe nur zweimal Stellung, ganz am Anfang der Krise, am 5. Mai, mit der Verteilung eines Flugblatts zur Unterstützung der Studenten, betitelt Pas de pasteurs pour cette rage („Keine Hirten für diese Tollwut"), und am Ende, am 18. Juni 1968, mit der Herausgabe einer Sondernummer von L 'Archibras, die bereits ab dem 25. Mai erarbeitet worden war.80 Zum Teil ist dies als Folge der aufgrund der spezifischen Situation ausgesetzten täglichen Treffen der Gruppe zu sehen. So sind die Surrealisten wesentlich als Einzelpersonen in die Ereignisse verstrickt. Diese Aktivitäten sind noch wenig erforscht.81 Jean Schuster und Jose Pierre beteiligen sich an den Arbeiten des Comite d'Action Etudiants-Ecrivains (Aktionskomitee Studenten-Schriftsteller), das am 18. Mai 1968 um Duras, Blanchot und Mascolo herum gebildet worden war. Jean-Claude Silbermann, der zunächst in einem Komitee „Künstler/Studenten" an der Ecole des Beaux-Arts mitarbeitet, stößt zu Alain Joubert und Nicole Espagnol beim „Mouvement du 22 mars", der Bewegung des 22. März, und beteiligt sich dort an Aktivitäten einer Kommission der Gruppe, die spielerische Aktionsmodi untersuchen und ein „riesiges Fest" organisieren soll.82 Andere stoßen zur trotzkistischen Jeunesse Communiste Revolutionnaire. Nach außen hin scheinen die internen politischen Querelen durch die Ereignisse vom Mai/Juni 1968 etwas abgeklungen zu sein, urteilt man nach der kollektiven Feier der Bewegung des 22. März in den Spalten der dem kritischen Moment gewidmeten Nummer von L 'Archibras·. „Wie generös sie manchmal auch waren, so haben die revolutionären Ideen doch praktisch immer einen imperialen, kategorischen, schneidenden, nicht den kleinsten Widerspruch dul-
79
L' Archibras 1968/H.5, 1.
80
Dieser Nummer versucht die Polizei habhaft zu werden - was nur verhindert werden kann durch eiligste Auslagerung des Zeitschriftenbestands beim Drucker in die Keller des Kinos Le Ranelagh, das von einem Mitglied der Gruppe betrieben wurde. Vgl. Joubert, Le mouvement des surrealistes, 256; der Staatsanwalt des Departement Seine leitet drei Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt ein wegen Beleidigung des Präsidenten der Republik, wegen Verherrlichung eines Verbrechens und wegen Diffamierung der Polizei; der Untersuchungsrichter wird „beauftragt, die Identität der führenden Personen der kleinen vertraulichen Zeitschrift ,L'Archibras\ deren 4. Nummer diese bissigen Artikel enthält, ausfindig zu machen" (Le Figaro, 12.9.1968).
81
Es ist bezeichnend, daß Carole Reynaud Paligot, Parcours politique des surrealistes, 202, ihnen nur wenige und dazu noch ausweichende Zeilen widmet, in einem Werk, das doch ausdrücklich dem politischen Weg der Surrealisten gewidmet ist.
82
Joubert, Le mouvement des surrealistes, 257.
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denden Ton angeschlagen. [...] Einer der Hauptverdienste der Bewegung des 22. März hängt mit dieser Diskordanz zusammen. [...] Und mir scheint, diese Diskordanz hat sich weitgehend bewährt, nicht nur innerhalb der Bewegung des 22. März, sondern innerhalb der gesamten Studentenbewegung. Natürlich impliziert dies, daß diese Diskordanz nicht nur ihrer diskordanten Akzente wegen gesucht wird, sondern als ein Mittel, das freie dialektische Spiel von Denken und Sprechen wiedereinzuführen und darüber zu einer gemeinsamen Entscheidung, einer kollektiven Aktion zu gelangen. Indem sie die Unruhestifter angreifen, haben die Staatsmacht und ihre Verteidiger, vom Polizeipräfekten bis zum Generalsekretär der CGT, hinlänglich gezeigt, wes Geistes Kind sie sind, als sie sahen, wie eine hierarchisierte Disziplin durch diese unkontrollierbare Diskordanz ersetzt wurde. [...] Wie Fidel Castro wider den marxistischen Kode die Heraufkunft des Kommunismus dadurch beschleunigt eintreten lassen will, ohne darauf zu warten, bis die sozialistische Ära vollendet ist, d a ß er das Geld und dessen unheilvolle Macht vernichtet, so nimmt auch die Bewegung des 22. März dadurch, d a ß sie die Ausübung des Denkens und die Entscheidung zur Aktion auf die Diskordanz gründet, die Gesellschaft der Z u k u n f t vorweg." 8 3
Signalisiert der aufrechterhaltene Verweis auf die revolutionäre Legitimität des CastroRegimes auch noch den Einfluß des Redaktionskomitees von L 'Archibras auf die Definition der politischen Positionen der Bewegung, so scheint doch das dicke Lob für die Bewegung des 22. März, in der bestimmten Opponenten der Schuster-Linie, wie Alain Joubert und seine Lebensgefährtin Nicole Espagnol, aber auch Mitglieder des Redaktionskomitees der Zeitschrift, wie Jean-Claude Silbermann, aktiv mitarbeiten, die Grundlagen einer Übereinkunft zu liefern. Die schwarze Fahne wird gefeiert. CohnBendit wird als „auflösender Ariel" dargestellt, begabt „mit der Brillanz von Märchenhelden", der mit seiner Schelmenhafitigkeit den „falschen Ernst der politischen Kämpfe" und den Konservatismus der Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF) enthüllt: der „empörend junge Mann hat die Verteilung der Bauern auf dem politischen Schachbrett klar gemacht: Kommunistische Partei Frankreichs und [gaullistische] U.D. Cinquieme 84 kläffen unisono von derselben Seite."85 Und als der wieder sich verengende politische Spielraum die Bewegung zum baldigen Scheitern zu verurteilen scheint, beruft sich L 'Archibras auf Worte des Studentenführers, um am Glauben an die Möglichkeit weiterer revolutionärer Momente festzuhalten: „Cohn-Bendit: ,Das Wichtige ist nicht, eine Reform der kapitalistischen Gesellschaft zu erarbeiten; das Wichtigste ist, eine Erfahrung in völligem Bruch mit dieser Gesellschaft in Gang zu setzen, eine Erfahrung, die nicht andauern wird, aber die eine Möglichkeit erahnen läßt: etwas wird flüchtig w a h r g e n o m m e n , und dann ist es weg. Aber das genügt, um zu beweisen, d a ß dieses Etwas existieren kann.' Eine dichterische Erfahrung. Das Intermittierende der Dichtung ist das Flüchtige des visionären Geistes. Das Flüchtige der revolutionären Situationen läßt zu, daß nach ihnen die Stadien der Gerechtigkeit sich öffnen." 8 6
84
„Discordance = Harmonie", 14-15. UD V e = Union des democrates pour la cinquieme Republique [gaullistische Sammlungsbewegung, Anm. d. Ü.].
85
L'Archibras 1968/H.4, 2.
86
De la rage pour demain, ebd., 8-9.
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Im Dezember 1968 bestätigt die Gruppe ihre Annäherung an die anarchistische Bewegung und ihr Abrücken vom Trotzkismus, und dies insbesondere auf der Grundlage einer Kritik des Organisationsprinzips. L'Archibras verteidigt das Buch der Brüder Cohn-Bendit, Linksradikalismus, Gewaltkur gegen die Alterskrankheit des Kommunismus, indem sie geltend macht, eine seiner zahlreichen Qualitäten „wird darin bestanden haben, sehr schnell den neo-bürokratischen Charakter bestimmter aus der Mai-Bewegung hervorgegangener revolutionärer Gruppen offen dargelegt zu haben. Diesbezüglich ist die Nummer 3 von .Rouge', die dem betreffenden Buch die Schuld zuschiebt, in mehrfacher Hinsicht aufschlußreich. Hauptsächlich verfaßt von ehemaligen Mitgliedern der JCR [Jeunesse Communiste Revolutionnaire] und des PCI [Parti Communiste Internationaliste], plaudert dieses Periodikum seine Ziele ganz offen aus: es geht darum, ,eine neue Partei der Avantgarde' zu gründen, von ,großer theoretischer Einheitlichkeit', von .großem politischen Zusammenhalt' und von .großer organisatorischer Strenge' dadurch, daß sie sich stützt auf ,die leninistischen Organisationsprinzipien, die als einzige in der Lage sind, eine diesen Kriterien entsprechende Partei hervorzubringen'". 87
Dagegen setzt L 'Archibras, daß es „genau diese Spontaneität [ist, die] ermöglichte, daß diese Bewegung stattfand, während die Jahre der Organisation nur dazu gedient hatten, die Mehrzahl der politischen Kämpfer zu langweilen, ohne daß sich daraus irgendeine soziale Erschütterung ergeben hätte. [...] Die Aktionskomitees, die Basiskomitees, die Doppelmacht auf gewerkschaftlicher Ebene, die ständige Möglichkeit der Abberufung der Verantwortlichen, die freie Zirkulation der Ideen und der Kampf gegen alle Formen der Hierarchie - patronaler wie bürokratischer Art - werden für die Emanzipation der Arbeiter mehr tun als alle revolutionären Katechismen zusammen. [...] Kommen wir, bevor wir damit Schluß machen, nochmals a u f , R o u g e ' zurück und auf die kaum kaschierte Verachtung, mit der diese Publikation der Kreativität der Massen begegnet: .Überlassen wir die Idealisierung der Massen den mit Schuldgefühlen belasteten Kleinbürgern'. Stellen wir die hier gebrauchte typisch stalinistische Sprache fest und überlassen wir es Rosa Luxemburg, - für uns - jenem Satz zu widersprechen: ,Wenn das spontane Element in den Massenstreiks in Rußland eine so vorherrschende Rolle gespielt hat, dann nicht, weil das russische Proletariat ungenügend .ausgebildet' ist, sondern weil Revolutionen sich nicht wie durch einen Lehrer leiten lassen.' (Generalstreik, Partei und Gewerkschaft)." 88
Doch eine solche Zelebrierung des organisatorisch Fließenden, Flüssigen, des Rechts auf das Wort und des offenen und anti-hierarchischen Funktionierens der Aktionskomitees von Mai-Juni 1968 konfrontiert die surrealistische Gruppe mit einem noch größeren Tabu als vorher hinsichtlich der Frage der internen Autorität. Will es nicht gegen den derart gepriesenen ,Mai-Geist' verstoßen, kann das Redaktionskomitee von L 'Archibras nicht mehr verhindern, daß .abgeschlossene Diskussionen' wieder eröffnet werden, und dies um so weniger, als es gezwungen wird, den von ihm gepriesenen Philo-Castrismus zu revidieren, als Fidel Castro in seiner Rede vom 23. August 1968 die Niederschlagung des Prager Frühlings durch die Truppen des Warschauer Pakts 87
88
Rubrik „Le fond de l'air", in: L'Archibras 1968/H.6 („ Le surrealisme en decembre 1968"), 4548. Ebd.
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rechtfertigt. So hält es an seiner mit der weltweiten Studentenbewegung in Zusammenhang gebrachten Unterstützung für die diversen revolutionären Guerillas überall in der Welt fest89, schließt sich gleichzeitig aber „voll und ganz" der Anprangerung der Position Castros an, die Mascolo, Duras, Antelme und Blanchot am 7. September 1968 publik machen. Diese Abkehr von der politischen Linie, die Jean Schuster und seine Nächsten noch im Mai 68 vertraten, wird höchst geschickt ins Werk gesetzt: Indem auf die Linie derer umgeschwenkt wird, die noch zu den zentralen Initiatoren des am 18. Mai ins Leben gerufenen Aktionskomitees Studenten-Schriftsteller gehören, an dem auch noch immer Jose Pierre und Jean Schuster teilnehmen90, wird vermieden, daß die Kehrtwendung als kleinlaute Kapitulation vor jenen Mitgliedern der Gruppe erscheint, die seit mehr als zwei Jahren die Unterstützung Kubas durch das Redaktionskomitee der Zeitschrift kritisieren. Dessen ungeachtet ist die interne politische Autorität Schusters damit geschwächt. In diesem Kontext erheben sich Stimmen innerhalb der Gruppe, die die Annäherung an die Themen der Situationisten fordern, die innerhalb der Studentenbewegung von Mai-Juni 1968 ebenfalls breitere Resonanz gefunden hatten. Bereits im Winter zuvor hatte die deutsche Surrealistin Elisabeth Lenk, eine Schülerin Adornos, während einer Sitzung der Gruppe auf den Anklang hingewiesen, den die Bulletins der Situationistischen Internationale im studentischen Milieu fanden. Jean Schuster hatte jeder Annäherung an die Situationisten eine strikte Absage erteilt; ebenfalls aus dem Surrealismus hervorgegangen, hatten die Situationisten aber zwischen 1952 und 1958 keine Gelegenheit ausgelassen, um gegen Breton und dessen Gefährten Front zu beziehen und sich als theoretische Avantgarde zu positionieren.91 Kaum ins Auge gefaßt, mißlingt die Annäherung auch schon aufgrund dieser .historischen Schuldmasse'. Weitaus entscheidender aber ist das Tabu, das nunmehr seit Mai 68 auf jeder Form interner hierarchischer Steuerung lastet. Das Problem stellt sich um so schärfer, als die Surrealisten mit anonymen Neuankömmlingen konfrontiert sind, die durch das Echo angelockt worden waren, das der Surrealismus im kritischen Moment gewonnen hatte. Nur um den Preis, gegen den .Geist von 68' zu verstoßen, ist es der Gruppe noch möglich, Schranken zu errichten und ihre innere Kohärenz durch das in der Vergangenheit 89
L'Archibras 1968/H.5 erklärt auf der ersten Seite seine Solidarität mit dem deutschen SDS, dem Black Power, dem Vietcong, den amerikanischen und afrikanischen Guerilleros, den Enragierten von Nanterre, den Arbeitern von Fl ins, dem tschechoslowakischem Volk.
90
L'Archibras 1968/H.5. Die Verflechtung, via Schuster und Pierre, der surrealistischen Gruppe mit dem Aktionskomitees Studenten-Schriftsteller (CAEE) wird übrigens bestätigt durch die Beteiligung Marguerite Duras' an derselben Nummer von L 'Archibras.
91
Dieser Vatermord der Situationisten schimmert bereits in der ersten Nummer des Bulletins der Situationistischenen Internationale durch: s. Amere victoire du surrealisme, in: Internationale Situationniste, bulletin central edite par les sections de l'internationale situationniste 1958/H.l, 34, wiederaufgenommen in: Internationale Situationniste, 1958-69, Paris 1975; jetzt auch in: Internationale Situationniste, Paris 1997. Siehe auch Reynaud Paligot, Parcours politique des surrealistes, 192-194; Pascal Dumontier, Les situationnistes et Mai 68. Theorie et pratiques de la revolution (1966-1972), Paris 1995, 27-39; Joubert, Le mouvement des surrealistes, 307.
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reichlich praktizierte Mittel von Ausschluß und Exkommunikation zu gewährleisten. Die Neuangekommenen mit unsicherem Status können um so weniger von den Debatten und Entscheidungen ferngehalten werden, als sie, da jünger, den zu seiner Zeit von Andre Breton gerühmten „Genius der Jugend" symbolisieren92, dessen unerwartete Verkörperung Vincent Bounoure in der Bewegung vom Mai 68 erblickt. Aber angesichts der eher halbherzigen Einsatzfreude dieser Neugierigen und Spätbekehrten ist es für die Gruppe ebenso unmöglich geworden, weiterhin wie ein ausgewählter Zirkel zu funktionieren, der von seinen Mitgliedern ein Übersoll an Einsatz ins kollektive Leben und die Konversion zu einem umfassenden Ethos verlangt. Nun geht es auch darum, die Neueintretenden auf seine Seite zu bekommen, und die Opponenten der Schuster-Linie, wie Alain Joubert, Jean Terrossian, Nicole Espagnol, nehmen denn auch Kontakt mit ihnen auf. Für die Bewegung, eingezwängt zwischen ihrer traditionellen Identität umfassendes Ethos, auserwählte Gruppe, Rekrutierung durch Kooptation, charismatische Steuerung durch einen Vater - und dem, was Mai 68 aus ihr macht - eine urplötzlich erweiterte Gruppe, ohne mögliche hierarchische Steuerung - , stellen die Neuankömmlinge entschieden das potentiell explosive Gesicht der realisierten Prophetien dar.
Letzter Akt: Spaltung und Selbstauflösung ,Unregierbar' geworden, bricht die surrealistische Bewegung sehr rasch auseinander. Anläßlich der Vorbereitung einer Nummer von L'Archibras, Ende Januar 1969, stößt Schuster erneut auf den Widerstand seiner Opponenten. Wichtiger noch: Er verliert einen gewichtigen Verbündeten in Person von Vincent Bounoure, der damit, daß er sich von ihm desolidarisiert, nur ein Abrücken bestätigt, das bereits bei der Veröffentlichung seines Textes L'evenement surrealiste im April 1968 begann, in dessen Folge er „sich beschuldigt fühlte, [...] Jean Schuster verdrängen zu wollen".93 Schuster brandmarkt daraufhin die Paralyse der Gruppe und erscheint nicht mehr auf deren Sitzungen.94 Ihm folgen wenige Tage später Claude Courtot, Philippe Audoin, Gerard Legrand, Jose Pierre, Jean-Claude Silberman. Sie erklären, eine „Leitung der Bewegung" sei notwendig, und protestieren gegen die Idee einer „direkten Demokratie, in der die Mediokren eine Kompensation für ihre intellektuelle Nullheit finden könnten".95 Sie verfassen einen Text, Aux grands oublieurs salut!, der in der letzten Nummer von L 'Archibras 92 93
Joubert, Le mouvement des surrealistes, 306. Vincent Bounoure an Vratislav Effenberger („Telephone Paris-Prague n°3"), 3.8.1969, wiederabgedruckt in Vincent Bounoure, L'Evenement surrealiste, Paris 2004, 78.
94
Zu dieser und den folgenden Episoden, siehe Joubert, Le mouvement des surrealistes, 19ff. Die Analysen Alain Jouberts sind, da selbst dem Kern des Konflikts entstammend, natürlich nur mit Vorsicht zu übernehmen. Hier sind nur Fakten berücksichtigt, die er berichtet, und Dokumente, die er zur Abstützung mitliefert, verglichen mit der Interpretation Schusters selbst, und der eines Dritten, Bounoure.
95
Brief von Claude Courtot, in: Joubert, Le mouvement des surrealistes, 25.
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erscheint, datiert mit März 1969, tatsächlich aber erst einen Monat später vorliegt. Als sie von diesem Text Wind bekommen und dahinter ein Manöver wittern, mit dem sie stillschweigend ausgeschlossen werden sollen, beschließen die Opponenten 96 , die Selbstauflösung voranzutreiben, um so zu verhindern, daß die kleine Gruppe um Jean Schuster sich des Labels Surrealismus bemächtigt und es zu ihren eigenen Gunsten ausschlachtet. Diese Gefahr ist in der Tat real, insofern der mit Mascolo, Duras und Blanchot liierte Schuster auf wichtige Mittler im intellektuellen Feld bauen kann. So verfassen die 23 Opponenten am 23. März 1969 einen SAS betitelten Text, der, am 8. April 1969 im Combat veröffentlicht, jeder Beschlagnahme des Labels Surrealismus vorbeugen soll: „Nach dem Entschluß einiger unter ihnen, nicht mehr an den kollektiven Aktivitäten der Bewegung teilzunehmen - aus Gründen, die nicht immer dieselben waren sind die Surrealisten dazu gefuhrt worden, ab dem 8. Februar 1969 die gesamten entsprechenden Aktivitäten einzustellen. Daraus folgt: Der gegenwärtig verbreitete Text mit dem Titel ,Au grands oublieurs, salut!' muß als äußeres Zeichen des von seinen fünf Unterzeichnern vollzogenen Rückzugs betrachtet werden. [...] Niemand kann gegenwärtig voraussehen, worin die surrealistische Aktivität bestehen wird, deren unabdingbare Erneuerung von jedem erwartet wird. Solange sie nicht neue spezifische Ansprüche hat auftreten lassen [...], gilt selbstredend, daß öffentliche Manifestationen von diesem oder jenem nicht als repräsentativ fur die Aktivität der Surrealistischen Bewegung gelten können."97
Wird der Kampf um das eingetragene .Warenzeichen' „surrealistisch" derart hitzig geführt, dann auch deshalb, weil zahlreiche Mitglieder der Gruppe dem künstlerischen Feld lediglich vermittels ihrer Zugehörigkeit zur historisch von Breton ererbten surrealistischen Bewegung angehören und zumindest einige von ihnen kein persönliches künstlerisches oder literarisches Werk vorweisen können, das ihnen ermöglichte, auch nach dem Zusammenbruch des Kollektivlabels zu überleben. Unter diesen Umständen ist es für die einen wie die anderen ganz entscheidend, daß sie von ihrem Stammverleger, Eric Losfeld, die Zusicherung erhalten, daß er für niemanden Partei ergreift - was in der Tat der Fall ist.98 Im Mai 1969 geht Jean Schuster zum Gegenangriff über und kündigt die Schaffung einer neuen Zeitschrift an, Coupure, die, wie er schreibt, um „der Diplomatie und den Intrigen" ein Ende zu bereiten, ausschließlich von Gerard Legrand,
96
97 98
Margarita und Jorge Camacho, Jean BenoTt, Anne und Jean-Louis Bedouin, Nicole Espagnol, Guy Flandre, Henri Ginet, Louis Gleize, Georges Goldfayn, Radovan Ivsic, Charles Jameux, Alain Joubert, Annie Le Brun, Jean-Pierre Le Goff, Francois Nebout, Mimi Parent, Bernard Roger, Georges Sebbag, Jean Terrossian, Toyen, Marianne Van Hirtum, Michel Zimbacca. Joubert, Le mouvement des surrealistes, 39. Allerdings gibt es Überläufer zwischen den zwei Gruppen: Goldfayn etwa, Freund von Joubert und Unterzeichner des Flugblatts SAS, stößt gleich danach wieder zur Gruppe Schuster (ebd., 44). Zit. n. Joubert, Le mouvement des surrdalistes, 40. Ebd., 41.
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Jose Pierre und ihm selber geleitet wird." Der aus dem Mai 68 hervorgegangene antihierarchische und anti-autoritäre Funktionsmodus wird explizit aufgegeben: „Die Leitung wird wie die der meisten Zeitschriften funktionieren: Sie wird aus eigener Befugnis darüber entscheiden, was veröffentlicht wird uns was nicht, und in keiner Weise gehalten sein, Erklärungen zu liefern hinsichtlich der Ablehnung eines Textes, einer Zeichnung, eines Gemäldes oder irgendeines anderen Vorschlags. Sie wird, ohne irgend jemand die Sache unterbreiten zu müssen, darüber entscheiden, ob auf die Zusammenarbeit mit jemandem von außerhalb zurückgegriffen, dieses oder jenes Dokument veröffentlicht werden und, allgemeiner, wie der Aufbau jeder Nummer sein soll. [...] Schließlich schlage ich die Wiederaufnahme der Treffen im Cafe vor - allerdings in wöchentlichem Rhythmus. Zu diesen Treffen werden alle Empfänger des vorliegenden Briefes eingeladen, die mir ihr prinzipielles Einverständnis mitgeteilt haben - und sie allein. Jeder wird sich verpflichten, keine Einladungen auszusprechen (außer in Ausnahmefällen und nach Zustimmung). Ich erwarte mir vieles von diesen Treffen. Zumindest werden die zeitlichen Zwischenräume zwischen ihnen es ermöglichen, die sinistren Leerläufe der La Promenade de Venus zu vermeiden. Doch es geht um mehr. Wenn die von mir gerade beschriebenen Modalitäten dem, der nicht weiß, daß Prinzipien Wahrheit nur im Ringen mit den Umständen eignet, als jede Spontaneität brechende Rigidität erscheinen, dann versichere ich ihm, daß darin ein schwerwiegendes Verkennen des auf allen minoritären Gruppen lastenden Fluchs liegt und daß die sicherste Art, ihn nicht aufzuheben, darin besteht, ihn zu leugnen mit dem einzigen Ziel, die Sofortmaßnahmen abzulehnen." 100
Explizit schließt Jean Schuster vom neuen Projekt die Opponenten aus sowie die seit Mai 68 Neuhinzugekommenen, von denen er vermutet, sie seien nur dagewesen, um „wieder das Wort zu ergreifen, dessen sie nach der Auflösung des 22. März und seiner Generalversammlungen beraubt worden waren".101 Er äußert seine Absicht, „keinen .intellektuellen' Austausch mehr" mit den Opponenten zu betreiben, und kündigt an, „um jeden Prozeß um Rechtmäßigkeit zu unterbinden", daß „die künftige Aktivität sich nicht mit dem Etikett .surrealistisch' schmücken wird".102 In den Augen der Opponenten mutet das Ganze wie ein stalinistisches Unternehmen an.103 Vincent Bounoure geht zwar auf Distanz zu diesen, geißelt aber in einem Brief vom 3. August an Vratislav Effenberger, den Impulsgeber der Prager surrealistischen Gruppe, nicht minder den Gewaltstreich Jean Schusters, eine „regelrechte Flucht im Windschatten", die es 99
100 ,CI 102 103
Brief Jean Schusters vom 19.5.1969, in: Dossier „Documents sur le surrealisme. 7, 6/7", Mappe „autodissolution" im Institut Memoire de l'Edition Contemporaine. Ebd. Ebd. Ebd. Robert Lagarde an Alain Joubert, 29.5.1968, zit. n. Joubert, Le mouvement des surrealistes, 61: „So bereitet man uns also eine neue Kapelle vor, ohne Tür noch Fenster, aber mit einem Hausmeister! Lächerlich, oder? [...] Man muß glauben, das Leben setze uns stärker zu, als man dachte, sind doch unter uns eine Sprache und Manieren befördert worden, die lediglich in Unternehmen noch gang und gäbe sind, wo der PATRON glaubt, sich alles erlauben zu können [...]. Was die Anmaßung angeht, die potentiellen Mitarbeiter in Ketten legen zu können, so sind das Sitten aus einem anderen Zeitalter oder die nur noch in Ländern gelten, in denen immer noch der Stalinismus wütet."
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Schuster erlaubt, „sich die erwünschten Ausschlüsse zu ersparen, die er auf sich hätte nehmen müssen, hätte er sich weiterhin Surrealist genannt".104 Wenig später sieht er darin „eine vulgäre Beschlagnahme", die „allzusehr an einen betrügerischen Bankrott gemahnt, als daß sie einhellige Zustimmung finden könnte".105 Ihm zufolge stehen „eine gute Hälfte der Surrealisten in Frankreich, die gesamte tschechoslowakische Gruppe und eine bestimmte Anzahl ausländischer Kameraden" in Opposition dazu.106 Tatsächlich geht Schuster in seinem Archiv selbst darauf ein, daß es seinem Brief vom 19. Mai 1969, in dem er Coupure ankündigt, nicht gelingt, die Stimmen einer bestimmten Anzahl von Surrealisten, wie Camacho, Kral und Zimbacca, auf seine Seite zu ziehen.107 Da er mit seinem Anspruch auf alleinigen Gebrauch des Labels „surrealistisch" nicht durchkommt, bleibt Schuster keine andere Wahl, als seinerseits die endgültige Auflösung der surrealistischen Bewegung zu formulieren. In einem von Le Monde am 4. Oktober 1969 veröffentlichten Text mit dem Titel Le quatrieme chant, der zur offiziellen' Version des Endes der surrealistischen Bewegung wird108, unterscheidet er den nunmehr abgeschlossenen „historischen" Surrealismus vom „ewigen" Surrealismus, einer „ontologischen Komponente des Menschengeistes".109 In einem Brief vom 30. September 1969 sieht der Prager Effenberger in diesem Text „eine Rückkehr zur surrealistischen Tradition", eine Versteinerung, und er wünscht Schuster „für [seine] Kreuzfahrt guten Wind".110 Die surrealistische Bewegung in Frankreich ist nunmehr in mehrere minder sichtbare .Kapellen' aufgesplittert. Das Auseinanderfallen der .offiziellen' Gruppe, das Verbot
104 105 106 107 108
109 110
Vincent Bounoure an Vratislav Effenberger, 3.8.1969. Bounoure, Moments du surrealisme, 25-26. Ebd. Brief Jean Schusters vom 19.5.1969. Dank insbesondere der Vermittler, die Schuster im intellektuellen Feld findet, ζ. B. in Person von Dionys Mascolo. In seinem Artikel Surrealisme, Morale, Musique, der dem Dossier Andre Breton et le Surrealisme der La Quinzaine Litteraire, 15.-31.3.1971 beigefugt ist, bekräftigt dieser, „der Surrealismus, mit dessen Ansprüche sich meine, wie ich weiß, im wesentlichen decken", habe sich in seiner nominellen Bedeutung darauf reduziert, „eine .kulturelle' Oberfläche zu bezeichnen, einen Stil, Ton, Tic, eine Mode, Epoche, Schule, ein Museum ... Er wird ästhetischer Bezugspunkt, literarisches Epitheton, und als solches ein evasives, leeres und entleerendes Wort", weit unterhalb der „Potenz an Unbekannten", das er befreit hat. Mascolo spricht von der „quasi Nullbedeutung des Worts", was in seinen Augen „die jüngste Entscheidung der surrealistischen Gruppe [rechtfertigt, Anm. d. Verf.], sich sine die selbst zu untersagen, diesen Namen zu tragen und damit die von ihr verfolgten Aktivitäten zu kennzeichnen. Das heißt, dem Surrealismus seine Wahrheit als Projekt wiederzugeben, das Etikett dem überlassend, was sicher noch Surrealismus ist, aber das dadurch, das es sich fixiert hat, schon fast nichts mehr ist (und dennoch ,zum Gut aller' geworden ist, freilich nur im Sinne einer kümmerlichen dekorativen Bereicherung - mag der Dekor auch revolutionär gewesen sein: In dieser Hinsicht trug Mai 68 - der Surrealismus auf der Straße - oder an den Mauern? - sein Teil an Mißverständnis bei)." Reynaud Paligot, Parcours politique des surrealistes, 202. Brief an Jean Schuster, zit. n. Joubert, Le mouvement des surrealistes, 123-124.
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bzw. Tabu, das auf dem Gebrauch des Etiketts „surrealistisch" lastet, das Öffentlichmachen des Endes des .historischen Surrealismus': das alles läßt die Aktivitäten der Bewegung auseinanderbrechen und Versuche der Kontinuität prekär werden. Da des Kollektivlabels „surrealistisch" beraubt, finden sich diese auch ohne das mit ihm assoziierte symbolische Kapital. Die Zeitschrift Coupure überlebt nur eineinhalb Jahre, bis zum April 1971, die letzte, .postume' Nummer erscheint Januar 1972. Ihr Profil ist manchmal eher politisch denn ästhetisch, so veröffentlicht sie 1970 Artikel aus der La Cause du Peuple, dem Organ der maoistischen Gauche Prol0tarienne.u1 Vincent Bounoure wiederum startet am 20. Oktober eine Umfrage bei den etwa hundert Personen, die „der Ansicht sind, der Surrealismus durfte 1966", nach dem Tod Bretons, „nicht aufhören". Betitelt Rien ou quoi? („Nichts oder was?"), läßt dieser Text, dessen Ziel es ist, Zustandsbeschreibungen des Surrealismus im Herbst 1969 von seiten der Angesprochenen zu sammeln, die Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich dessen, was aus dem Surrealismus werden soll, in all ihrer Breite sichtbar werden. Bounoure setzt sich darin „der Verdinglichung des Surrealismus, die sich sehr heimtückisch [...] der besten Geister bemächtigt hat", entgegen." 2 Mit der Umfrage ist die Absicht verbunden, die Bedingungen der Möglichkeit eines neuen Aufbruchs zu postulieren, der begründet ist auf der expliziten Problematisierung eines Loslösens von jeder Fixierung des Surrealismus in seinen historisch erprobten Formen. 45 Personen antworten, und Bounoure gründet, zusammen mit Jean-Louis Bedouin, Jean Benoit, Joyce Mansour, Jorge Camacho, Michel Zimbacca, das Bulletin de liaison surrealiste, das sich zwischen 1970 und 1976 zur Aufgabe macht, die Konzeptionen der neuen Formen, die der Surrealismus annehmen soll, in Dialog zu bringen. Trotz dieses Unternehmens und seiner Weiterfuhrungen findet die .offizielle' oder .historische' surrealistische Bewegung in diesem Erbstreit 1969 ihr Ende. Der Surrealismus wird Geschichtsobjekt, jeder Versuch, ihn in Bericht zu verwandeln, in eine Erzählung, tritt mit dem Anspruch auf, offizielle Version zu sein, und löst sich dann doch in archivarisches Verwalten auf, wie es das Dossier Andre Breton et le Surrealisme der La Quinzaine Litteraire 1971 und die Januar-Nummer von Politique-Hebdo 1971 belegen." 3
"'
Joubert, Le mouvement des surrealistes, 155-157.
112
Vincent Bounoure, Rien ou quoi?, interne Umfrage, Herbst 1969, wiederabgedruckt in: Bounoure, Moments du surrealisme, 44. Bounoure fährt fort: „Erstrangige philosophische Regression, die gemäß der Logik des Aristoteles', auf die sie sich gründet, den Surrealismus in einen seiner Momente und in den Formen, in denen er sichtbar wurde, erstarren läßt, ihm damit jede Möglichkeit historischer Entwicklung verweigert, ihn in die Welt der Essenzen verweist oder ihn auf eine Art Emblem reduziert, das man egal wohin verschicken und hinbringen kann, je nach Laune, Wind und Ausgang der Schlachten" (ebd.).
113
Andre Breton et le Surrealisme. Das Dossier verweist auf die Vielzahl von Werken zum Surrealismus, die in den Verlagen erscheinen. Politique-Hebdo 1971/H.16, geht mit der Stimme von Raymond Jean ebenfalls darauf ein. Es handelt sich, so Frederick Tristan in eben dieser Nummer von Politique-Hebdo, eher um Neuauflagen und Studien als um Neuheiten: „Die Wiederkehr der Medien. Der Surrealismus der Zwanzigerjahre ist nicht tot. Immer mehr Wiederauflagen und Stu-
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Der Tod der surrealistischen Bewegung ein Jahr nach der Konsekration durch den Mai 68 erscheint auf den ersten Blick paradox. Doch bei näherer Analyse erweist sich dieser a priori sonderbare Fall einer sich ins Debakel kehrenden prophetischen Erfüllung als völlig kohärent. Kraft einer der Geschichte nur allzu eigenen Ironie entbietet der Mai 68 den Surrealisten den Todeskuß. Eben weil sie den kritischen Moment als das so lang erwartete Surrealistische Ereignis erleben, sind sie gehalten, sich seiner würdig zu erweisen, indem sie die Frage von Führung und Organisation unausgesprochen lassen. Dies wäre wohl auch so zerstörerisch nicht gewesen, wäre die surrealistische Bewegung von einer aufsteigenden Dynamik im literarischen Feld und der Perspektive einer symbolischen Herrschaft über die Avantgarde getragen worden. Statt dessen gerät sie wie alle ins Alter kommenden Avantgarden außer Atem, wird von Neueintretenden in den Hintergrund gedrängt und müht sich, Projekte neu zu bestimmen, die mehr sind als bloße Verwaltung des Errungenen. Zerstörerisch ist der Mai 68 aber auch aufgrund des inneren Lebens der Gruppe, und besonders dieser Punkt wurde hier hervorgehoben, um die offizielle Version der Auflösung zu dekonstruieren, die sich argumentativ auf die Verdinglichung des Kollektivs stützt. Sicher fehlt es an einer wirklichen Soziographie der letzten surrealistischen Gruppe, die wegen der schwachen Bekanntheit ihrer Mitglieder und fehlender biographischer Quellen schwer zu realisieren ist. Aber veröffentlichte Zeugenschaften und Archive erlauben jetzt schon zu zeigen, daß von dem Augenblick an, wo das interne Leben der Gruppe in Augenschein genommen wird, die tote Last des abwesenden Propheten, Andre Bretons, zum Vorschein kommt. Dieser Tod überläßt die Söhne sich selbst, beraubt sie des Vaters, des .charismatischen Erweckers', der allein noch am Glauben festhalten ließ und die Einheit gewährleistete. Aufgrund fehlender kollektiv anerkannter Mechanismen der Weitergabe, Routinisierung und Nachfolgeregelung verschwindet sein symbolisches Kapital mit ihm und finden sich seine Söhne wie erstarrt, dann streitsüchtig wieder, durch die Aussicht ihres symbolischen Todes zu gelähmt, um noch in der Lage zu sein, wie es
dien, mit denen diese wesentliche Bewegung des zeitgenössischen Denkens besser kennengelernt werden kann." Genannt werden: die Wiederauflage von Manifestes du Surrealisme, Werke von Andre Breton wie Nadja, Arcane 17, Les Pas Perdus, Point du Jour, in der Taschenbuchreihe Poesie NRF bei Gallimard, L 'histoire du Surrealisme von Maurice Nadeau, die als Taschenbuch bei Seuil erscheint, Breton von Philippe Audouin, La Poesie surrealiste von Bedouin bei Seghers; aber auch Positions politiques du surrealisme in den Editions Belibaste; die Zeitschrift Opus von Jouffroy, die eine Zwischenbilanz der gegenwärtigen surrealistischen Bewegung zieht; bei den Editions Losfeld erscheint die Reihe Le Desordre unter der Herausgeberschaft von Jean Schuster, der beim selben Verlag als Autor auftritt der Archives 57-68 (Batailles pour le Surrealisme); schließlich die Zeitschrift Change von Faye, die eine Nummer, Le Groupe la Rupture, dem Surrealismus widmet.
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Effenberger in seinem Brief an Jean Schuster am 30. September 1969 schreibt, „sich vom Gesichtsfeld allzu faszinierender Augen zu lösen", und fähig zu sein, wie er weiter schreibt, sich vom „bitteren Los" der „Söhne berühmter Väter" loszureißen.
Aus dem Französischen von Achim Russer und Bernd Schwibs.
M A R K U S JOCH
Zwei Staaten, zwei Räume, ein Feld. Die Positionsnahmen im deutsch-deutschen Literaturstreit
Wie den meisten wohl noch erinnerlich, entzündete sich der heftigste Literaturstreit der deutschen Nachkriegsgeschichte an Was bleibt. Ulrich Greiner und Frank Schirrmacher, die Literaturchefs der Zeit und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), skandalisierten am 1. und 2. Juni 1990 die soeben erschienene Erzählung von Christa Wolf auf zwei Ebenen. Zum einen stießen sie sich am Timing: Die Schilderung einer StasiÜberwachung vom Ende der siebziger Jahre wäre bei einer Publikation vor dem 9. November 1989 sensationell gewesen, danach sei sie nur peinlich, das unrühmliche Beispiel für eine „apokryphe", also unechte „Widerstandshandlung". 1 Doch auch die selbstkritischen Zwischentöne der Erzählerin ließ man nicht gelten, vielmehr stempelte man sie als Verlogenheit der subtileren Art ab. Etwa dadurch, daß man die scheinbar respektablen, weil die Anpassung an die realsozialistische Diktatur einräumenden Stellen mithilfe rhetorischer Fragen entwertete: „Wie weit kann folgenlose Selbstbezichtigung gehen? ,Wir, angstvoll doch auch, dazu noch ungläubig, traten immer gegen uns selber an, denn es log und katzbuckelte und geiferte und verleumdete aus uns heraus, und es gierte nach Unterwerfung und Genuß. Nur: die einen wußten es, und die anderen wußten es nicht'. ,Was bleibt' ist ein Buch des schlechten Gewissens."
Nur drei Monate später, das dürfte heute weniger geläufig sein, erhielt Wolf in Paris die Ernennung zum ,Officier des Arts et des Lettres'. Der Laudator, kein Geringerer als der französische Kulturminister Jack Lang, bedachte die schmale Erzählung mit einer Eloge („ein sehr schönes Werk der Erinnerung, des Schmerzes und der Ironie"), nicht ohne den westdeutschen Verächtern eine unerträgliche Selbstgerechtigkeit vorzuhalten: 1
Vgl. Frank Schirrmacher, „Dem Druck des härteren, strengeren Lebens standhalten". Auch eine Studie über den autoritären Charakter: Christa Wolfs Aufsätze, Reden und ihre jüngste Erzählung „Was bleibt". Zit. n. Thomas Anz Hg., „Es geht nicht um Christa Wolf." Der Literaturstreit im vereinten Deutschland, München 1995, 77. Sämtliche Zitate zum Streit werden, wenn nicht anders ausgewiesen, nach dieser Sammlung unter der Sigle Α zitiert.
2
Ebd., 87f.
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„diese Neunmalklugen, was wissen sie von der täglichen Wirklichkeit im realen Sozialismus, was wissen sie von der Schwierigkeit zu schreiben, was wissen sie von der Gefahr, die in den Worten liegt?" 3 Auch hier also eine rhetorische Frage, allerdings eine mit genau gegenläufiger Stoßrichtung. Daß ein und derselbe Text von den beiden westdeutschen Lesern harsch, von dem französischen achtungsvoll aufgenommen wurde, ist erwähnenswert, da diese Konstellation durchaus typisch war. Zwar gab es auch in Deutschland Verteidigungen und im westlichen Ausland Angriffe, unterm Strich aber erfuhr Wolf 1990 außerhalb deutscher Landesgrenzen deutlich mehr Zuspruch als innerhalb. 4 Wie ist dieses Gefalle zu erklären? Das Urteil des Auslands, bemerkte Pierre Bourdieu einmal in anderem Zusammenhang, „[wirkt] ein wenig wie das Urteil der Nachwelt. Wenn die Nachwelt im Allgemeinen besser urteilt, dann liegt das daran, dass die Zeitgenossen Konkurrenten sind und dass sie ein uneingestandenes Interesse daran haben, nicht zu verstehen oder das Verstehen zu verhindern." 5 Der Befund läßt sich variieren und auf die hier verhandelte Kontroverse beziehen. Die ausländischen Beobachter dürften auch deshalb positiver geurteilt und damit die Position der im Inland geschmähten Autorin verstärkt haben, weil ihnen aufgrund der räumlichen Distanz jener Antrieb fehlte, der für die Herausforderer innerhalb des deutschen literarischen Feldes charakteristisch war: die Aussicht, daß vom immensen Prestige der Angegriffenen kraft des Angriffs ein Teil auf die Angreifer übergeht. Wenn der Versuch des Gespanns Greiner/Schirrmacher, eine negative Sicht der Rolle Wolfs durchzusetzen, im Ausland wenig Unterstützung fand, ist das ein Indiz dafür, daß der Kampf um die Verteilung symbolischen Kapitals sich in erster Linie gemäß der Eigenlogik nationaler Felder abspielt. Beim Fall von 1990 handelte es sich indes nicht um ein beliebiges der zahllosen Scharmützel, die sich innerhalb nationaler Rahmen zwischen Großfeuilleton und Großschriftsteller(inne)n abzuspielen pflegen. Hinzu kam ein Generationskonflikt. Über eine in Ost und West vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin des Jahrgangs 1929 mokierten sich ein relativ junger Kritiker (Greiner, Jg. 1945) und ein ganz junger (Schirrmacher, 1959), wobei beide einen extrem moralisierenden Zungenschlag wählten. Der eine sprach von einem „Mangel [...] an Aufrichtigkeit", 6 der andere, Schirrmacher, gar vom „zweiten totalitären Sündenfall im zwanzigsten Jahrhundert", 7 Wolf und andere bejahrte Linksintellektuelle (nicht nur) des Ostens unumwunden auf eine Stufe mit den literarischen Mitläufern des NS stellend.
3
Zit. η. A, 2 2 8 f .
4
Vgl. ebd., 217fF.
5
Pierre Bourdieu, D i e gesellschaftlichen B e d i n g u n g e n der internationalen Zirkulation der Ideen, in: ders., Forschen und Handeln. Recherche et Action. Vorträge am Frankreich-Zentrum der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, hg. v. Joseph Jurt, Freiburg 2 0 0 4 , 38.
6
Ulrich Greiner, Mangel an Feingefühl. Zit. η. A, 70.
7
Schirrmacher, „ D e m Druck d e s härteren, strengeren Lebens standhalten", 89.
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Diese Geste eines entrüsteten Bruchs mit etablierten Autoren war es wohl, die 1999 eine ausgewiesene Kennerin der Feldtheorie dazu bewogen hat, die jungen' Positionsnahmen des Jahres 1990 mit zwei älteren, aber ähnlich spektakulären Abgrenzungsakten zu assoziieren. Sabine Cofalla zieht eine Parallele sowohl zu den Absagen der frühen Gruppe 47 an die Innere Emigration wie auch zu Peter Handkes Auftritt 1966 in Princeton, also zur Tirade am Vorabend der Studentenrevolte gegen die nun ihrerseits gealterte Gruppe 47, um die Gemeinsamkeit wie folgt zu bestimmen: „,Alte Schlacken' waren zu ,reinigen', der ,Muff unter den Talaren' zu lüften, ein als überkommen verstandener Autorenhabitus wurde abqualifiziert." 8 Die Parallelisierung leuchtet insoweit ein, als in allen drei Fällen jüngere, nachrückende Akteure mit älteren, kanonisierten Produzenten heftig konfligierten. Mir scheint es jedoch an der Zeit zu betonen, daß aus Sicht der Feldtheorie auch ein gravierender Unterschied zwischen den Distinktionsakten von 1990 einer-, denen von 1966 und um 1947 andererseits besteht. Die jungen ,47er' und später Handke waren zum Zeitpunkt ihres Aufbegehrens gegen .Kalligraphie' bzw. ,Beschreibungsliteratur' noch machtlose Außenseiter, die sich gegen dominante Autoren durchzusetzen suchten, deren Macht nicht zuletzt auf institutioneller Verstärkung beruhte: die Innere Emigration wurde durch weite Teile der Nachkriegsgermanistik und -kritik unterstützt, 1966 wiederum hatte sich die Gruppe 47 selbst zur Institution im Sinn einer potenten Legitimationsinstanz entwickelt. Man kann daher schließen, daß die jungen Autoren in diesen beiden Fällen dem Typus des Propheten im Sinne Bourdieus entsprechen. Das war bei den Jungfeuilletonisten von 1990 nicht der Fall. Bourdieu bezeichnet mit der an Max Webers Religionssoziologie (Kapitel V aus Wirtschaft und Gesellschaft) gewonnenen Typologie von Propheten und Priestern die für die soziale Welt grundlegende Spannung zwischen neuen und alten Lehren, noch machtlosen Neuankömmlingen und mächtigen Etablierten. In zwei Aufsätzen von 1971,9 die sich mit der Ausübung religiösen Handelns befassen, heißt es, daß „der Prophet den Gegenpol zur Priesterschaft [bildet] wie das Vorübergehende und Unregelmäßige (Diskontinuierliche) zum Dauerhaften und Regelmäßigen (Kontinuierlichen), das Außergewöhnliche zum Gewöhnlichen, das Außeralltägliche zum Alltäglichen". 10 Hervorgehoben werden des weiteren die konkurrierenden Arten der Legitimation: „Während die Autorität des Propheten, eines auctor, dessen auctoritas ständig zu erringen oder wiederzuerringen ist, von dem Verhältnis abhängt, das zu jedem Augenblick zwischen dem Angebot an religiösen Dienstleistungen und der religösen Nachfrage des Publikums be-
8
9
10
Vgl. Sabine Cofalla, Elitewechsel im literarischen Feld nach 1945. Eine soziologische Verortung der Gruppe 47, in: Stuart Parkes/John J. White Hg., The Gruppe 47 fifty years on a re-appraisal of its literary and political significance, Amsterdam 1999, 245-262, 246. „Eine Interpretation der Religion nach Max Weber" und „Genese und Struktur des religiösen Feldes" erschienen 2000 auf deutsch. Vgl. Pierre Bourdieu, Das religiöse Feld. Texte zur Ökonomie des Heilsgeschehens, Konstanz 2000, 11-37, 39-110. Ebd., 24.
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steht, verfügt der Priester
über eine Amtsautorität,
die ihn der Bürde enthebt, seine Autorität
ständig erringen und bekräftigen zu müssen [...].""
Das Fehlen von Amtsautorität kann der Prophet kompensieren, indem er eine starke Nachfrage der Laien erahnt und befriedigt. Seine Macht „basiert auf der Stärke der Gruppe, die er zu mobilisieren vermag", und er realisiert seine potentielle Stärke immer dann, wenn es ihm gelingt, „die Vorstellungen, Gefühle und Wünsche, die schon vor ihm, allerdings in implizitem, halbbewußten oder unbewußtem Zustand existierten, auf die sprachliche Ebene oder die des exemplarischen Verhaltens" zu heben. 12 Der Konflikt zwischen amtlicher Lehre und prophetischer Häresie, im Regelfall gleichbedeutend mit einem Kampf zwischen alt und jung, weil die Prophetie von heute zur priesterlichen Orthodoxie von morgen gerinnen kann, beschränkt sich freilich nicht auf das religiöse Feld allein. Wie Bourdieu bereits in einem Aufsatz von 1966 unterstrichen hat, 13 besteht eine Analogie zum kulturellen Kräftefeld, in dem die Position des einzelnen bestimmt ist durch „seine Stellung gegenüber kulturell anerkannten Instanzen, von deren Macht die Organisation des Kräftefelds abhängt: Kulturelle Äußerungen verweisen daher immer implizit auf die Orthodoxie". 14 Zu den Hüterinnen letzterer zählen, in Analogie zur Kirche, 15 „verschiedene Instanzen der Bestätigung, deren Legitimationsgewalt teils verbrieft ist, teils nur beansprucht wird, wie Akademien, Gelehrtengesellschaften, literarische Vereinigungen [...]". 16 Geht man nun davon aus, daß das Feuilleton der FAZ zu den zentralen Legitimationsinstanzen im literarischen Feld der Bundesrepublik gehört, ergibt sich, daß auf einen Autor wie Schirrmacher bei aller Jugend die Kategorie des Propheten nicht recht zutrifft, obwohl es den Anschein haben mag. Er und Greiner griffen 1990 mit Wolf und Grass Schriftsteller an, die zur literarischen Priesterschaft zählten, weil ihr Rang institutionell kodifiziert war, etwa durch den Erhalt des Georg-Büchner-Preises. Daher eignete den Denkmalsstürzen zweifellos der Touch des Außergewöhnlich-Diskontinuierlichen. Auch ist schwerlich zu leugnen, daß die Texte der Jungfeuilletonisten einer verbreiteten Stimmung gleichaltriger Leser zumindest punktuell eine Stimme verliehen. Die griffige Basal-These, Wolf und Grass hätten Ästhetik durch Gesinnung ersetzt, sprach all den Autoren, Kritikern und Lesern aus dem Herzen, denen die Priester schon durch ihre drei Jahrzehnte währende Präsenz, die von ihnen absorbierte Aufmerksamkeit, zuvorderst aber durch den Habitus der Mahner und Warner auf die Nerven gingen (Warnung vorm Atomkrieg, vor der ökologischen Katastrophe etc.). Dies freilich war die Argumentationslinie vom Herbst 1990.
"
Ebd., 26.
12
Ebd., 28f.
13
„Champ intellectuel et projet createur" wird im folgenden nach der deutschen Übersetzung zitiert: Pierre Bourdieu, Künstlerische Konzeption und intellektuelles Kräftefeld, in: ders., Zur S o z i o l o gie der s y m b o l i s c h e n Formen, Frankfurt a.M. 1974, 7 5 - 1 2 4 .
14
Ebd., 110.
15
Vgl. ebd., I I I .
16
Ebd., 110.
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Nur Abschied von der Literatur der Bundesrepublik bzw. Die deutsche Gesinnungsästhetik (2. Oktober, 16. November), das heißt die beiden Artikel, die zuviel Moral und Belehrung in der deutschen Literatur beanstandeten, brachten ein Generationsunbehagen zur Sprache, wie es schon zuvor von anderen Nachwuchsautoren artikuliert worden war, in der DDR vom .Prenzlauer Berg', 17 in Westdeutschland etwa durch Peter Glaser.18 Anders stand es um die oben erwähnte Linie vom Sommer, zu wenig oder verlogene Moral zu monieren. Sie entsprach nicht den halbbewußten „Vorstellungen, Gefühlen und Wünschen" eines jungen Publikums, sondern der von der Spitze des F^Z-Feuilletons seit Jahrzehnten gepflegten Norm, wonach linke Positionierungen in der Literatur als dubios-gratismutig zu betrachten sind. Bedenkt man, daß Greiner vor seinem Wechsel zur Zeit unter Reich-Ranicki, also für die FAZ gearbeitet hatte, und weiter, daß Schirrmacher der direkte Nachfolger Reich-Ranickis war, kann bei ihnen von der für Propheten typischen institutionellen Unabhängigkeit 19 keine Rede sein, umso mehr freilich davon, daß sie sich dem Priester der deutschen Literaturkritik attachierten. Schirrmachers Versuch, die ostdeutschen Schriftsteller als kritische Mitmacher der zweiten deutschen Diktatur zu erledigen, lief klarer noch als bei Greiner auf eine Simulation der Prophetenrolle hinaus, die die institutionelle Rückbindung vergessen zu machen suchte. Wenn im folgenden der Prophetenbegriff verwendet wird, sind also stets einfache Anführungszeichen mitzudenken. Was aber verlieh der Simulation eine solche Durchschlagskraft, daß sie eine uferlose Anschlußkommunikation nach sich zog? Der diskursive Impact hat sich, auch das soll näher begründet werden, zwei zusammenspielenden Faktoren verdankt: 1. Auf das Gebot strikter literarischer Autonomie gegenüber einem diktatorischen Staat konnte sich vor 1989 die linksliberale Intelligenz berufen, wenn sie die Anpassung der Inneren Emigranten im Nationalsozialismus kritisierte. Nach 1989 bot sich dem rechtsliberalen Feuilleton eine hervorragende Gelegenheit, dieselbe Norm gegen die in der DDR gebliebenen Autoren zu wenden. Die Chance, für einen politischen Vorzeichenwechsel des Autonomiepostulats Zustimmung zu finden, war niemals größer als im Jahr nach dem Mauerfall, da sich die Kräfteverhältnisse im literarischen Feld dieser Phase von denen davor und danach erheblich unterschieden.
17
Vgl. zur wolfkritischen Position des .Prenzlauer Bergs' York-Gothart Mix, Des Kaisers nackte Kleider oder die Negation der Literaturvermittlung. Zur Praxis, Rezeption und Kritik inoffiziellen Schreibens in der DDR (1979-1989), in: Euphorion 9 6 . 2 0 0 2 / H . l , 27-45.
18
Vgl. zu Grass Glasers Rezension der Rättin, in: Konkret 1986/H.3, 6f., 7: „Auch ich hatte [...] einen Traum: ich sah Günter Grass in Schutz genommen von Greenpeace, wegen seiner vom Aussterben bedrohten Inspiration und wegen der Umweltfreundlichkeit seines neuen Buchs, zu dem sich der schwerkranke Wald bedanken möchte, weil es so langweilig ist und mangelnden Umsatzes wegen möglicherweise weniger Bäume zu Papier zermahlen werden, und wegen seiner, Grass, in manchen Zügen so freundlich walroßhaften Physiognomie."
"
Vgl. Bourdieu, Künstlerische Konzeption, 112.
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2.
Bezeichnend für die Abrechnung mit einer halbloyalen Autorin der DDR war, daß ihr die Abwertung eines Repräsentanten der Gruppe 47 folgte. Die Kombination der Attacken verdankte sich der Absicht, eine grundlegende Differenz innerhalb der sogenannten Gesinnungsästhetik zu bagatellisieren, den Unterschied zwischen den ostdeutschen Reformsozialisten ä la Wolf, die gegenüber der Staatsführung Kompromisse gemacht hatten, und der westdeutschen, von Günter Grass und anderen vorexerzierten Praxis, auf der Basis von Parteiunabhängigkeit und ebenso unbedingtem Autonomiestreben in aestheticis im Feld der Macht unzweideutig mitzusprechen20. Die nachholende Institutionalisierung einer so verstandenen Intellektuellenrolle in Deutschland war ein Merkmal der Gruppe 47 im allgemeinen, wie Ingrid Gilcher-Holtey gezeigt hat.21 Den Gegnern war die Rolle seit je zuwider, da sich auf Autonomie zu stützen und dadurch auf legitime Weise zu intervenieren heißt, mit einer rechtsliberalen Denkgewohnheit zu brechen, der ,,obligate[n] Alternative von Autonomie und Engagement, reiner Kultur oder politischer Kultur".22 Die mögliche Synthese, das heißt den historischen Verdienst und den Eigensinn eines autonomen Engagementtyps, 23 auf originelle Weise kleingeredet zu haben, um die konservative Doxa als symbolische Revolution verkaufen zu können, darf als Schirrmachers Hauptleistung gelten.
20
Inwieweit Grass' Geständnis vom 12. August 2006, als Jugendlicher der Waffen-SS angehört zu haben, ein neues Licht auf seine Interpretation der Intellektuellenrolle wirft, konnte im vorliegenden Beitrag leider nicht mehr diskutiert werden. Vgl. dazu die im kommenden Jahr erscheinende Habilitationsschrift des Verfassers. - Zur Frage der Parteiunabhängiskeit: Grass' jahrzehntelange Unterstützung der Sozialdemokratie unterschied ihn von Andersch und Boll, ohne ein stichhaltiges Gegenargument zu sein. Grass hatte sein ursprüngliches symbolisches Kapital als Schriftsteller mit der Blechtrommel (1959) bereits erworben, bevor er sich 1961 Willy Brandt als Wahlkampfhelfer zur Verfugung stellte. Einer Verstärkung aus dem politischen Feld hat er nie bedurft. Der Unabhängigkeit im Sinn des Nicht-Angewiesenseins ist es zuzuschreiben, daß das Verhältnis zur SPD bei aller Affinität souverän geblieben ist. Davon zeugt der antizyklische Umgang mit der Mitgliedschaft: Grass trat erst 1982 ein, zu einem Zeitpunkt, da die Sozialdemokratie ihre vorübergehende Hegemonie wieder verlor, und 1992 aus, als .seine' Partei im Einklang mit der deutschen Bevölkerungsmehrheit das Asylrecht aushöhlte.
21
Vgl. Ingrid Gilcher-Holtey, „Askese schreiben: schreib Askese". Zur Rolle der Gruppe 47 in der politischen Kultur der Nachkriegszeit, in: IASL 25.2000/H.2, 134-167. Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a.M. 1999,524. Vgl. ders., Die Intellektuellen und die Macht, Hamburg 1991, 42: „Der Intellektuelle ist ein bidimensionales Wesen. Um den Namen Intellektueller zu verdienen, muß ein Kulturproduzent zwei Voraussetzungen erfüllen: zum einen muß er einer intellektuell autonomen, d.h. von religiösen, politischen, ökonomischen usf. Mächten unabhängigen Welt (einem Feld) angehören und deren besondere Gesetze respektieren; zum anderen muß er in eine politische Aktion, die in jedem Fall außerhalb des intellektuellen Feldes im engeren Sinn stattfindet, seine spezifische Kompetenz und Autorität einbringen, die er innerhalb des intellektuellen Feldes erworben hat."
22
23
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I. Wie sehr sich der Zustand des deutschen literarischen Feldes im Juni 1990 von dem der Voijahre abhob, ist daran erkennbar, daß der grundlegende Vorwurf gegen Wolf skandalös vernebelte Nähe zum SED-Staat - nicht neu war, nun aber erstmals Widerhall fand. Schon 1987 hatte Reich-Ranicki Wolf einen Mangel an „Mut und Charakterfestigkeit" nachgesagt, 24 ohne nennenswerte Resonanz zu finden. An fehlendem Gewicht des Sprechenden kann es kaum gelegen haben, handelte es sich doch, wie gesagt, um den Leiter des Bereichs „Literarisches Leben" der FAZ. Der aber drang 1987 noch nicht durch, da vor dem Mauerfall in der Literaturkritik der Bundesrepublik eine für Wolf vorteilhafte Taxonomie der DDR-Literatur dominierte, die Wahrnehmung einer Differenz. Man sah der ostdeutschen Autorin die SED-Mitgliedschaft mehrheitlich nach, da sich ihre Position von der der wirklichen Hardliner unter den parteigebundenen Autoren der DDR erkennbar unterschied: allen voran von Hermann Kant, der 1976 für die Ausbürgerung Wolf Biermanns mitverantwortlich gewesen war und 1979 als Vorsitzender des DDR-Schriftstellerverbands (DSV) für den Ausschluß einer Reihe mißliebiger Autoren gesorgt hatte; doch auch von Stephan Hermlin, der den schließlich ausgereisten Autoren den Flüchtlingsstatus abgesprochen hatte, mit der Begründung, sie seien „auf ihre eigene Veranlassung [!] und oft mit freundlicher Verabschiedung" 25 gegangen. Derlei Hohn hatte sich Wolf nicht angeschlossen; vor allem aber hielt man ihr im Westen zugute, den Protest ostdeutscher Künstler gegen die Abschiebung Biermanns unterschrieben und anders als Hermlin nicht zurückgezogen zu haben. Als ,Staatsdichterin der DDR', wie es später hieß, wurde sie umso weniger eingestuft, als ihre literarischen Werke in den achtziger Jahren für eine systemübergreifende Patriarchats- und Wachstumskritik standen {Kassandra/Störfall). Wolf kam eine Taxonomie entgegen, die statt der relativen Nähe die relative Feme zur politischen Orthodoxie registrierte und aus dem gleichen Grund auch Autoren wie Volker Braun und Stefan Heym als die besseren Sozialisten der DDR klassifizierte. Kein Zufall, daß es gerade diese Gruppe war, für die Wolf 1990 exemplarisch abgestraft wurde, denn sie spielte vor 1989 und überhaupt in der deutschen Literaturgeschichte eine Sonderrolle. Die letzten beiden der von Gisele Sapiro hervorgehobenen Elemente der Autonomisierung - Arbeitsteilung, ein Korps von Spezialisten, unabhängige Konsekrationsinstanzen, Markt 26 - trafen auf die staatlich ausgezeichnete und distribuierte Literatur der DDR nicht zu. Insofern läßt sich hier nicht von einem literarischen Feld im strengeren
24
Marcel Reich-Ranicki, Macht V e r f o l g u n g kreativ? P o l e m i s c h e B e m e r k u n g e n aus aktuellem Anlaß: Christa W o l f und T h o m a s Brasch. Zit. η. A, 35.
25
Zit. n. Renate Chotjewitz-Häfner/Carsten Gansei Hg., Verfeindete Einzelgänger. Schriftsteller
26
Gisele Sapiro, D a s französische literarische Feld. Struktur, D y n a m i k und Formen der Politisie-
streiten über Politik und Moral, Berlin 1997, 281. rung, in: Berliner Journal für S o z i o l o g i e 1 4 . 2 0 0 4 / H . 2 , 157ff., 170.
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Sinn sprechen. Es gab jedoch einen handfesten Unterschied zur heteronomen Literaturproduktion im Nationalsozialismus. Autoren wie Wolf und Braun stand mit der Bundesrepublik ein zweiter deutscher Staat als Publikationsort offen, was die ostdeutschen Behörden unter einen begrenzten Konzessionsdruck setzte. Die literarisch halbdurchlässige Grenze der gegensätzlich verfaßten politischen Räume ermöglichte es diesen Schriftstellern, sowohl von den Lesern in der DDR als auch vom linksliberalen Milieu der Bundesrepublik für Signale begrenzter Dissidenz geschätzt zu werden. Das so angehäufte symbolische Kapital, verstärkt durch die Publikation in den angesehensten Literaturverlagen Westdeutschlands (Luchterhand/Suhrkamp) und bestätigt durch autonome Konsekrationen (Georg-Büchner-Preis/Bremer Literaturpreis u.a.), ließ Wolf und Braun zu Mitherrschenden im literarischen Feld der Bundesrepublik werden. Sie entwickelten auch im Westen die Aura von Priestern, die zu entzaubern für die Propheten nach dem Mauerfall reizvoll war, während ein Apparatschik wie Kant keine Aura entwickelt hatte, die man hätte zerstören können. Daß der Vorsitzende des DDR-Schriftstellerverbands im Vergleich zur nur halbloyalen Wolf nach der Wende im rechtsliberalen Feuilleton glimpflich davonkam, hat Wolfs Verteidiger empört und Kant selbst erstaunt, 27 ist aber wenig rätselhaft. Der eine war literarpolitisch erledigt, die andere zeichnete immer noch eine enorme Fallhöhe aus. Die Chance, Wolfs Stellung zu schwächen, war im Juni 1990 gestiegen, da die .besseren Sozialisten' zu diesem Zeitpunkt aufgrund einer feldexternen Entwicklung an Renommee eingebüßt hatten. Während der Großdemonstration am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz konnten sie sich noch der Illusion hingeben, die aufbegehrende Bevölkerung wolle wie die Redner Wolf und Heym eine reformierte DDR. Spätestens seit der ersten freien Wahl zur Volkskammer (März 1990) hatte sich jedoch herausgestellt, daß die Mehrheit der angeblich Vertretenen keinen besseren Sozialismus anstrebte, sondern den Anschluß an die Bundesrepublik und damit an die D-Mark. Binnen weniger Monate war das Rollenmodell des gesellschaftlichen Vorsprechers kollabiert. In dieser Situation schien sich FAZ-geschulten Jungkritikern die Möglichkeit zu bieten, endlich eine Sicht der DDR-Literatur zum .common sense' werden zu lassen, nach der die relative Nähe zur Partei bedeutsamer ist als die relative Distanz. Die Verrisse von Christa Wolfs Erzählung sind ein umso passenderes Beispiel für die Absicht, „eine neue Vorstellung (vision) und eine neue Gliederung (division) der sozialen Welt durchzusetzen, [...] eine neue Grenze festzuschreiben", 28 als es sich zugleich um eine Kraftprobe unter den Akteuren des Westens handelte. Sowohl das rechts- als auch das linksliberale Feuilleton sah in der D D R eine Diktatur. Uneins waren die beiden Fraktionen jedoch in der Frage, welche Leistungsarithmetik einer Literatur unter heteronomen Bedingungen angemessen ist: Sollte man den Autonomiegrad von Wolfs Stellungnahmen absolut bemessen (Defizienz)? Oder relativ, an den Kräften, die
27 28
V g l . A , 108f. Pierre Bourdieu, Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches, Wien 1990, 98.
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sie in der Diktatur zu überwinden hatten (Verdienst)? Wie in der sozialen Welt generell ist auch in der literarischen umstritten, ob bei Leistungsbeurteilungen negative Größen29 einzubeziehen sind. Der springende Punkt ist freilich, daß Wolf nicht nur von linksliberalen Feuilletonisten verteidigt wurde, sondern auch vom berühmtesten Autor Westdeutschlands, und dies im wohlverstandenen Eigeninteresse. Konzentrieren wir uns auf Bedingungen und Strategien der Stellungnahmen von Schirrmacher und Grass, denn zwischen dem Kritiker und dem Schriftsteller bestand nicht nur eine Deutungskonkurrenz, was das Werk der ostdeutschen Priesterin betraf. Schirrmachers Angriff auf Wolf war zugleich ein verdeckter Versuch, das symbolische Kapital von Grass mitzumindern, was diesem nicht entgangen ist und seine Verteidigungslinie beeinflußt hat. Abschließend sei an eine dritte, französische Positionsnahme erinnert, nun aber an die eines Wissenschaftlers: Wie hat Bourdieu die ostdeutschen Intellektuellen gesehen?
II. Zum Zeitpunkt seines Angriffs befand sich Schirrmacher in einer günstigen Lage, weil die ostdeutschen Autoren nicht nur politisch in der Defensive waren. Im Frühjahr 1990 existierten zwei deutsche Staaten, von denen sich der eine in Auflösung befand, und mittlerweile wieder ein einheitliches Feld, da die externen Störfaktoren der DDR (Zensur und Publikationsbeschränkungen) weggefallen waren. In dieser Situation, in der die feldinternen Machtverhältnisse instabil schienen, zeichnete sich der Fortbestand zweier Kommunikationsräume ab, deren Grenze sich mit der der Staaten deckte. Während westdeutsche Kritiker und Autoren über den Typus Wolf berieten, schauten die ostdeutschen Akteure, die Autoren wie ihre Leser, ohnmächtig zu. Ihrer Empörung konnten sie nur in ostdeutschen Zeitungen Luft machen, 30 die im Westen keiner zur Kenntnis nahm. Die einen vermochten zu agieren, ohne auf die anderen reagieren zu müssen. Eine erklärbare Asymmetrie: Blätter wie der Sonntag oder das Neue Deutschland galten aus guten Gründen als diskreditiert, ihre Kraft zur Legitimation ging gegen null. Schirrmachers zweiter Vorteil bestand darin, daß sein Lehrer Reich-Ranicki zwischenzeitlich mit dem Literarischen Quartett eine neue Machtinstanz im Feld geschaffen und bereits drei Wochen nach dem Mauerfall in der Fernsehsendung den Druck auf die Reformsozialisten erhöht hatte. Wolf und andere erklärte Reich-Ranicki fur feiger 29
Vgl. Bourdieus Rekurs auf eine philosophische Überlegung ehrwürdigen Alters, ebd., 7: „In seinem Versuch, die negativen Größen in die Weltweisheit einzußihren stellt sich Kant einen Menschen von zehn Graden Geiz vor, der zu zwölf Graden nach Nächstenliebe strebt, während ein anderer, Geiziger von drei Graden und eines solchen Strebens zu sieben Graden fähig, eine großmütige Handlung von vier Graden zustandebringt; um zu schließen, der erste sei dem zweiten moralisch überlegen, obwohl er, gemessen am Tun - zwei Grade gegen vier - unbestreitbar der Unterlegene sei."
30
Vgl. A, 51.
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als die Inneren Emigranten des NS, mit der Begründung, sie hätten in der DDR einen ungleich größeren Spielraum genossen, ohne ihn ausreichend genutzt zu haben. 31 Das Gewicht dieses Urteils hatte sich mit dem Gewicht des Sprechenden erhöht. Durch die neue Reihe war es Reich-Ranicki gelungen, das Ansehen eines langjährigen Feuilletonchefs mit der Reichweite eines Fernsehjournalisten zu verbinden, dem es die öffentliche Sichtbarkeit erlaubte, einem Millionenpublikum die eigene Optik aufzunötigen. 32 Sein junger Nachfolger bei der FAZ hatte also starken Rückenwind, doch warf das auch ein Problem auf. Schirrmacher befand sich an einem sensiblen Punkt seiner Laufbahn, in der Phase der ursprünglichen Akkumulation symbolischen Kapitals. Er mußte sich als würdiger Nachfolger des Lehrers beweisen, das heißt dessen Linie fortfuhren, ohne als bloßer Epigone wahrgenommen werden. Tatsächlich zeigt die Argumentation des Positionsinhabers, wie tief er die Denkmuster des Lehrers verinnerlicht hat, daß er aber zugleich versucht, auf risikofreie Weise eigenes Profil zu entwickeln. Reich-Ranicki, der Priester der Frankfurter Glaubensgemeinschaft, hatte Ende November 1989 gepredigt, daß die Kompromißbereitschaft der DDR-Autoren seit der Biermann-Affäre kein Verständnis mehr verdiene. 33 Ein Credo, das sich Schirrmacher zu eigen macht, wie sich das für einen ambitionierten Ministranten gehört. Doch wählt der Nachfolger eine neuartige Semantik. Er bezeichnet Christa Wolf schon im Titel als „autoritären Charakter", 34 das heißt er verwendet ein der Kritischen Theorie entstammendes, mithin als links codiertes Diskurselement zu dem Zweck, eine linke Ikone zu entsorgen. Auf die Idee war der Lehrer nicht gekommen. Als bloßer Nachbeter kann der Sprechende daher nicht gelten, der geschickte Schachzug ermöglicht eine Selbstinszenierung als Prophet. Dabei sind es zwei grundverschiedene Mittel, mit denen Schirrmacher den „autoritären Charakter" glauben zu machen sucht. Das simplere besteht darin, Fakten zu übergehen, die gegen seinen Befund sprechen. Mit Nachdenken über Christa T. etwa, dem Roman von 1968, hatte Wolf sich von der Literaturdoktrin des ,Bitterfelder Wegs' (optimistische Figuren in typischen Situationen der sozialistischen Arbeitswelt) so weit entfernt, daß ihr symbolisches Kapital im begrenzten Feld der Bundesrepublik rapide anwuchs, was wiederum der damaligen Fürsprache Reich-Ranickis zu verdanken war. 35 Also wird diese Erzählung vom Adepten Schirrmacher sicherheitshalber mit keiner Zeile erwähnt. Die zweite, weniger plumpe Technik besteht darin, Wolf die „folgenlose Selbstbezichtigung" nachzusagen. 36 Schirrmacher erkennt, daß ein Versuch, die Priesterin des fehlenden Muts zu überführen, ins Leere geht. Sie selbst hatte schließlich
31
Vgl. ebd., 50.
12
Vgl. zu ähnlichen Verstärkereffekten im kulturellen Kräftefeld Frankreichs Pierre Bourdieu, Über das Fernsehen, Frankfurt a.M. 1998, 66f.
"
Vgl. A, 4 9 .
•'4
Vgl. A, 77, g l e i c h s i n n i g 86.
35
Vgl. Marcel Reich-Ranicki, Christa W o l f s unruhige Energie, in: D i e Zeit, 2 3 . 5 . 1 9 6 9 .
36
Schirrmacher, „ D e m Druck des härteren, strengeren Lebens standhalten", 83.
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1987 eingeräumt, daß den Angehörigen ihrer Generation ein „Hang zur Ein- und Unterordnung" eigen sei.37 Mehr noch, die eingestandene Konfliktscheu bildete ein Leitmotiv ihrer Erzählungen. Schon in Kindheitsmuster, 1976 veröffentlicht, sprach sie von der Furcht, mit einer Erwähnung der stalinistischen Gräuel ein „Tabu" der DDR zu verletzen.38 An diesem Punkt setzt die konkrete Deutungskonkurrenz in der westdeutschen Literaturkritik ein. Die linksliberale Fraktion neigte in den siebziger und achtziger Jahren zu einem milden Klassifikationsprinzip. Sie hielt Wolf zugute, den ideologischen Anpassungsdruck zumindest anzusprechen; das erklärte „Verschweigen der gewußten Wahrheit" mache den Unterschied zum „Sagen der gewußten Unwahrheit", zum Modell Hermann Kant.39 Ein Distinktionsmerkmal, das sich zwar nur innerhalb eines heteronomen Raums vorteilhaft abhebe, aber immerhin. Schirrmachers Rede von der „folgen/ose« Selbstbezichtigung" dagegen [Hervorhebung d. Verf.] mißt Wolf implizit an einer folgenreichen Funktionärsbeschimpfung, an Biermanns Kölner Auftritt vom November 1976. Diese Strategie, in der westdeutschen Literaturkritik die Deutungshoheit zu gewinnen, war zunächst erfolgreich, weil es dem Jungkritiker im Sommer 1990 gelang, denjenigen, in dessen Namen er unausgesprochen sprach, auf seine Seite zu ziehen. Biermann lobte die Propheten, deren Position er kraft seiner spezifischen moralischen Autorität, gleichsam als Kronzeuge, beträchtlich verstärkte („sie haben einen Streit angefacht, der fällig ist").40 Was für den kurzfristigen Erfolg sorgte, war freilich auch Ursache fur dessen Grenze. Die nachrückenden westdeutschen Kritiker, die sich von der „Machetenrhetorik" (Gustav Seibt) der Wendezeit distanziert haben, um eine Position vor Schirrmacher aufzubauen - wie zum Beweis, daß auch die Literaturkritik ein Subfeld bildet, das der Logik der Distinktion unterliegt hatten vergleichsweise leichtes Spiel. Die Suggestion Schirrmachers, Wolf habe die Pflicht gehabt, nach Art Biermanns auf Konfrontationskurs zu gehen, ließ sich, zumal weil mit religiöser Metaphorik versehen („totalitärer Sündenfall"), als wohlfeile Verständnislosigkeit gegenüber lebenspraktischen Kompromissen verwerfen. Aber war es denn nicht angebracht, den halben Mut der .besseren Sozialisten' zu problematisieren? Es kommt ganz darauf an, wer spricht. Biermann war zur Kritik legitimiert, denn er hatte 1976 einiges riskiert und war schon in der DDR durch eine halsbrecherische Offenherzigkeit aufgefallen, die ihm ein langjähriges Auftrittsverbot eingebracht hatte. Bei Schirrmacher hingegen, dem Freiheitskämpfer zu Frankfurt am Main, ist Skepsis angebracht, denn er bekennt sich seit Jahr und Tag zu Großvätern im konservativen Geiste, unter anderem zu Friedrich Sieburg, dem Literaturchef der FAZ
17
Zit. n. ebd., 86.
18
Christa Wolf, Kindheitsmuster [1976], Darmstadt 1979, 139.
40
So pars pro toto Hans Mayer, Der Mut zur Unaufrichtigkeit, in: Der Spiegel, Nr. 16, 11.4.1977, 190. Wolf Biermann, Nur wer sich ändert, bleibt sich treu. Zit. η. A, 155.
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in den fünfziger Jahren. 41 Eben dieser Sieburg ist mit den allenfalls halbmutigen Schriftstellern des .Dritten Reichs', den Inneren Emigranten, die in den fünfziger Jahren zu Priestern avancierten (Carossa, Benn etc.), sehr nachsichtig umgegangen. Wie auch anders, er selbst war durch den N S politisch belastet. Während der Besetzung Frankreichs zog Sieburg als Redner der französisch-deutschen Propagandagruppe Collaboration durchs Land, um sich als „Kämpfer und Nationalsozialisten" zu präsentieren. 42 So drängt sich der Eindruck auf, daß Schirrmachers Abrechnung mit dem halben Mut der DDR-Intellektuellen die hauseigene Verklärung der Inneren Emigranten nachträglich kompensiert, der Positionsinhaber sich einer redaktionellen Tradition unterworfen hat. Also, um es erneut zu betonen: kein wirklicher Prophet. Dies umso weniger, als seine Kritik der ostdeutschen Priester nur ein Vehikel für pauschalisierende Intellektuellenschelte war. Schirrmacher setzt 1990 die Haltung Christa Wolfs mit der ihrer bundesdeutschen Kollegen gleich, genauer: mit der der „gleichen Generation" im Westen. 43 Eine Anspielung auf Grass, den fast Gleichaltrigen. Der Fall Wolf sei nur ein Exempel dafür, daß „der Intellektuelle" 44 - man achte auf den Kollektivsingular - nach dem Nationalsozialismus keineswegs zu einer stabil kritischen, antiautoritären Haltung gefunden habe. Eine so flotte wie absurde These. Widerlegt wird sie durch die Praxis desjenigen, der für Wolfs Konfliktscheu haftbar gemacht werden soll, wenn auch nur im Modus der Allusion. Wie Wolf den Bund deutscher Mädchen hat Grass die Hitler-Jugend durchlaufen. Auch er entstammt dem Kleinbürgertum, auch sein Vater war NSDAP-Mitglied. Das hat ihn weder daran gehindert, nach dem Krieg eine .stabil kritische Gesinnung' auszubilden, noch dazu disponiert, sich den Kommunisten anzubiedern. So nutzte er das symbolische Kapital, das er 1959 mit der Blechtrommel gewonnen hatte, in den sechziger Jahren zu Interventionen in West- wie Ostdeutschland. Im Westen setzte er sich für den Kanzlerkandidaten Willy Brandt ein, den Remigranten, den Adenauer für seine uneheliche Herkunft verhöhnen durfte, ohne daß sich die bundesdeutsche Öffentlichkeit entrüstet hätte. Noch couragierter indes der Auftritt beim 5. Deutschen Schriftstellerkongreß in Ostberlin. Die Genossen schockte Grass im Mai 1961 mit der Mitteilung, in der Bundesrepublik sei die Freiheit des Wortes zwar bedroht, in der D D R jedoch gar nicht vorhanden. Zum Beweis zählte er die Zensurinstanzen auf, die Uwe Johnson in den Westen getrieben hatten. Auf eine rhetorische Frage des DDR-
41
Vgl. zur Person: Günter Gaus im Gespräch mit FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher, SAT 1, News & Stories, 1.9.2002: Munter wurde Schirrmacher erst, als er bekannte, der Vätergeneration (neben Grass und Boll auch Walter Jens) die Großväter vorzuziehen. Das sind neben Sieburg (Feuilletonist von Rang und Welt) Ernst Jünger (großer, kaltblütiger Erzähler) und Carl Schmitt (kühner Staatsrechtler).
42
Vgl. dazu zuletzt Lothar Baier, Ist Gott ein Nazi?, in: Freitag, 7.6.2002; Ijoma Mangold, Asphalt Cowboy, in: Süddeutsche Zeitung, 20.1.2003. Schirrmacher, „Dem Druck des härteren, strengeren Lebens standhalten", 83. Ebd., 89.
41 44
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Kulturministers („Wer könnte uns das Wasser reichen?"), nannte er Namen, „die in der Lage sind, Ihnen das Wasser zu reichen", darunter die der verfemten Modernisten Kafka und Musil. 45 Die Abneigung auch gegen die politische Orthodoxie des Ostens kennzeichnete die Gruppe 47 generell. Noch nach ihrem Zerfall 1967 lebte die Haltung fort, und in der literarischen Linken Westdeutschlands markierte sie eine entscheidende Binnendistinktion. Nur ein Beispiel: Als 1982 der Vorsitzende des westdeutschen Verbands deutscher Schrifsteller (VS), Bernt Engelmann, gegen das Verbot des polnischen Schriftstellerverbands durch die Militärregierung Jaruzelski „windelweich" zu protestieren gedachte, war es die Fraktion der .Antikommunisten' Grass und Boll, die eine schärfere Gangart forderte - auch auf die Gefahr hin, daß sich der VS spaltet.46
III. Wenn Grass sich aber von Schirrmachers Seitenhieben nicht getroffen fühlen mußte, weil er seit Jahr und Tag für das Rollenmodell des autonomen Linksintellektuellen stand, warum verteidigte er dann 1990 eine deutlich weniger konfrontationsbereite Autorin? Hier spielten mehrere Faktoren zusammen. 1. Beide, Grass und Wolf, waren ohnmächtige Gegner der Wiedervereinigung. Die ähnliche Positionsnahme im nun wieder einheitlichen Feld der Macht überlagerte die literarpolitische Differenz. 2. Grass witterte, daß er selbst ins Fadenkreuz rückte. Bezeichnend, daß er am 16. Juni 1990 die Angriffe auf Wolf als „Hinrichtungsvorbereitungen" einstufte. 47 Eine vorderhand unsinnige Formulierung - hatte die Hinrichtung nicht schon 14 Tage zuvor, mit dem Doppelverriß stattgefunden? - , die jedoch Sinn macht, wenn der Beobachter eine zweite, seine eigene Exekution erwartete. Diese, oder doch zumindest einen frontalen und nunmehr direkten Angriff auf die eigene Person sollte er dann ja tatsächlich im Oktober 1990 erleben (Abschied von der Literatur der Bundesrepublik). 3. Grass verklärte Wolf nicht, er schlug lediglich eine differenzierte Sicht vor. Schwierigkeiten mit dem Harmoniebedürfnis der Kollegin einräumend, bedauerte er ausdrücklich, daß sie so lange gebraucht habe, sich von der SED zu lösen. 48 Allerdings hielt er ihr zugute, anders als er selbst nach dem NS keine Möglichkeit zur grundlegenden Umorientierung gehabt zu haben, von einer Diktatur in die nächste geraten zu sein.49 Umso höher schätzte er ihre dezenten Dissidenzsignale, womit er argumentativ lediglich an die alte Verdienstarithmetik anknüpfte, literarpolitische Stellungnahmen an den zu überwindenden Widerständen zu 45 46
Zit. n. Claudia Mayer-Iswandy, Günter Grass, München 2 0 0 2 , 98. Vgl. Ralph S c h o c k u.a. Hg., Ein D i a l o g z w i s c h e n Blinden und Taubstummen. Der Kongreß d e s Verbands deutscher Schriftsteller in Saarbrücken. Eine Dokumentation, Blieskastel 1995, GrassZitat 27.
47
A, 92.
48
Vgl. ebd., 9 3 , 133.
49
Vgl. ebd., 124.
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messen. 4. Der uneigennützige, wenn auch moralisch prämierbare Einsatz (^Gerechtigkeit für W o l f ) war untrennbar mit eigenen Interessen verbunden. Die Bemerkung, Reich-Ranicki habe „mit der Schärfe und Unbarmherzigkeit des Konvertiten das Signal zur Attacke gegen Christa W o l f gegeben, 50 galt nicht nicht nur dem Ex-Kommunisten, sondern auch genau dem Kritiker, der Grass' Roman zur sogenannten ökologischen Apokalypse, Die Rättin von 1986, erbarmungslos verrissen hatte.51 Doch selbst ohne diese Bemerkung liegt das eigennützige Moment auf der Hand. Schon die Annahme, uneigennütziger enjeu und selbstlegitimatorische Motive ließen sich säuberlich trennen, ist abwegig. Wenn Grass sein Ansehen zugunsten der angeschlagenen Autorin einsetzte, sprach er nolens volens auch für sich selbst, denn zwischen ihr und ihm bestand eine objektive Beziehung. 52 Beide waren in der Position von Priestern, die im begrenzten Feld (für literarische Insider) jahrzehntelang dominiert hatten und nun unter Legitimationsdruck gerieten, weil der gegnerische Priester, vor allem aber die rechtsliberalen Propheten von der spezifischen Situation des Vereinigungsjahres profitierten. Die historische Sekunde von 1990 erleichterte es Schirrmacher und Greiner, einen Gleichschritt von politisch-historischem und literarischem Epochenbruch glauben zu machen, und das heißt: den Glauben durchzusetzen, daß es auf den Unterschied zwischen parteigebundener und -unabhängiger Linksintellektualität gar nicht mehr ankomme, daß beide in den Orkus gehören. Mir scheint, diese objektive Beziehung, die Tatsache, selbst Subjekt wie Objekt des Spiels zu sein, hat Grass dazu bewogen, eine Idee zu konziliant mit Wolf umzugehen. Ein Anhaltspunkt dafür ist die Positionsnahme Bourdieus. Dessen intellektuelle Normen deckten sich mit denen des namhaftesten deutschen Gegenwartsautors: linkes Engagement ja, doch nur auf Basis strikter Autonomie des eigenen Produktionsfelds. 53 Insoweit können die beiden ohne Übertreibung als Brüder im Geiste gelten. Der französische Soziologe jedoch hat die ostdeutsche Autorenelite kritischer gesehen, wozu die räumliche Distanz wie auch die Zugehörigkeit zu einem anderen, eben dem wissenschaftlichen Feld beigetragen hat. Die Tatsache, daß die Reformsozialisten um Wolf und Braun die Stimmungslage in der DDR-Bevölkerung Ende 1989 grundfalsch einschätzten, führte Bourdieu in dankenswerter Klarsicht auf eine symptomatische Selbsttäuschung zurück: Naivere Intellektuelle unterschätzen, daß ihren aus den spezifischen Prämierungen des Kulturbereichs resultierenden Antimaterialismus Welten vom Konsumbedürfnis der Mehrheit trennen. 54 Das Verhalten der ostdeutschen Intelligenz vor
50
Ebd., 125.
51
Vgl. Marcel Reich-Ranicki, Günter Grass, Zürich 1992, 13 Iff.
52
Vgl. Bourdieu, Die Regeln der Kunst, 2 9 1 .
53
Vgl. ders., D i e Intellektuellen, 4 2 f f .
54
Vgl. ders., R e v o l u t i o n e n , Volk und intellektuelle Hybris, in: Freibeuter 1 9 9 1 / H . 4 9 , 2 7 - 3 4 , 29f.: „[...] zunächst einmal beruht ihre [der Intellektuellen, Anm. d. Verf.] B e z i e h u n g zur Welt auf einer N e g a t i o n d e s Materiellen, der weltlichen Interessen. Nicht anders als vorkapitalistische Gesellschaften schließt der Kulturbereich unserer Gesellschaften den o f f e n anvisierten
öko-
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der Wende hat er, ohne Namen zu nennen, auf einen strengen Begriff gebracht, den der „korrumpierten Priester", bereit, sich zu „Günstlingen des Parteiapparats" zu machen. Allerdings schränkte Bourdieu ein, daß einige wenige Intellektuelle durch eine Rückkehr zum ,reinen Sozialismus' ihren Glauben zu retten versucht hätten. 55 Beachtenswert ist die Kombination der Aussagen. Wer ihren Standpunkt teilt, kann das Verhalten Wolfs differenziert bewerten: Anders als die FAZ und wie Grass die Hoffnung auf den ,reinen' Sozialismus achten und den Ende der siebziger Jahren angetretenen Rückzug aus dem DSV honorieren, ohne zu ignorieren, wie problematisch Wolfs Bereitschaft war, noch 1987 mit dem Nationalpreis, einer Auszeichnung aus den Händen der Staatsfuhrung, eine kompromittierende Konsekration anzunehmen. Schriftsteller sehen sich, und oder sahen sich bis 1989, der magnetischen Anziehungskraft entgegengesetzter Pole ausgesetzt: dem diskreten Charme der Bourgeoisie 56 und der ebenso subtilen Kontrolle durch die kommunistische Partei etwa in Form von Preisverleihungen. Intellektuelle nach den Maßstäben Bourdieus tun gut daran, beiden Versuchungen zu widerstehen. Gewiß, wenn Bourdieu unter Intellektuellen jene Kulturproduzenten verstand, die „sich nicht damit zufrieden [geben], den Zwecken von Kommerz und Lohnarbeit innerhalb ihrer verkehrten Welt eine Absage zu erteilen", sondern „ihre Anti-Werte im normalen Leben selbst", etwa „auf dem Gebiet der Politik behaupten", so beabsichtigte er vorrangig eine Provokation der Anhänger bürgerlicher Gesellschaftsordnung, die in derlei Ambitionen eine unzulässige Übertretung sehen. 57 Darüber sollte man jedoch nicht vergessen, daß Bourdieu auch für diejenigen, die glaubten, sich aus Ekel an der Bourgeoisie kommunistischer Heteronomie beugen zu müssen, deutliche, letztlich unnachsichtige Worte gefunden hat: „Es gibt einen Ausspruch von Pascal, der sagte: Wenn ihr gläubig werden wollt, dann müßt ihr euch verdummen. Und viele gingen so auch in die KP. Man trat in einen Glauben ein, indem man sich dümmer machte." 58 So offensichtlich sich das Urteil in erster Linie auf die westeuropäischen, insbesondere die französischen Parteigänger bezog, es läßt sich auch auf Christa Wolf münzen. So darf man zu dem Schluß kommen, daß Bourdieu ihre und anderer Restloyalität zum realsozialistischen Projekt äußerst zwiespältig wahrgenommen hat. Zur Achtung vor dem Restglauben gesellte sich dessen Verachtung. nomischen Profit aus, verlangt in d i e s e m Sinne eine interesselose Haltung. W a s natürlich nicht heißt, daß nicht auch hier ein zählbarer Profit möglich
ist, allerdings nur mittelbar
über
künstlerisches, literarisches etc. R e n o m m e e [...]. Kritisieren Intellektuelle den Materialismus d e s e i n f a c h e n ' V o l k e s , universalisieren sie, ohne sich dessen wirklich bewußt zu sein, die s p e z i f i s c h e Eigenart ihrer .materiellen' Lebensbedingungen, w i e Marx sagen würde." V o n der D i a g n o s e darf sich vor allem Stefan
H e y m angesprochen
fühlen, der sich darüber ereiferte, daß es
die
Ostdeutschen nach d e m Mauerfall nicht z u m .Dritten W e g ' sondern in die Kaufhäuser d e s Westens zog. 55
Ebd., 28.
56
Vgl. ders., D i e Regeln der Kunst, 89.
57
Ders., Die Intellektuellen, 45.
58
Ebd., 19f.
F R A N Z I S K A SCHÖBLER
Avantgarde nach dem Ende der Avantgarde: Soziales Engagement und Aktionskunst nach 1995
Seit Mitte der neunziger Jahre ist in der deutschsprachigen Theaterlandschaft vielfach von einer Repolitisierung die Rede, weil in den aktuellen Stücken im Zuge eines .neuen Realismus' virulente gesellschaftliche Probleme wie Arbeitslosigkeit, Globalisierung, aber auch Familiendesaster als verkleinertes Modell von gesellschaftlichen Makroprozessen verhandelt werden.1 Der Kampf um Arbeit,2 der insbesondere in der heißen Phase der New Economy die deutsche Gesellschaft prägt, wird zum neuen Tragödiensujet und der Top Dog (Urs Widmer), anders als in der Sozialdramatik der siebziger und achtziger Jahre, zum beliebten Protagonisten. Die Stücke sezieren die Effekte neoliberaler Entwicklungen - die Globalisierung und den flexiblen Kapitalismus (Richard Sennett) - sowie ihre Konsequenzen für Lebensentwürfe; Flexibilität tritt an die Stelle von Kontinuität, Patchwork-Biographien an die Stelle von Tradition. Bemerkenswert ist, daß dieser neue Impuls auf der Bühne, die grundsätzlich als äußerst schnellebiges seismographisches Medium gilt, erst zur Mitte der Dekade hin faßbar wird, während die eigentliche historische Zäsur, die Wende 1989, kaum ästhetische Innovationen mit sich bringt - so sieht es jedenfalls die Forschung. Hans-Thies Lehmann beispielsweise stellt in seinem Beitrag zu dem Sammelband Transformationen. Theater der neunziger Jahre von Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch und Christel Weiler die Frage, „ob die Theaterereignisse dieser Dekade überhaupt eine dpoche, einen Einschnitt markieren? War es nicht eine Zeit des manchmal eher ratlos tastenden Sich-Umsehens nach dem, was gewesen war, nach dem, was .blieb', und dem, was ein neuer Anfang sein könnte? Am Beginn fanden eine Reihe von bedeutungsvollen Abschiedsvorstellungen statt: zumal der Tod Samuel
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Vgl. Franziska Schößler, Augen-Blicke. Erinnerung, Zeit und Geschichte in Dramen der neunziger Jahre, Tübingen 2004, 288f. Vgl. u.a. Oskar Negt, Arbeit und menschliche Würde, Göttingen 2001.
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Becketts am 22. Dezember 1989. Die Wende brachte für die Theater Strukturdebatten, Finanz·, Orientierungs- und Funktionsprobleme." 3
Lehmann dementiert mithin 1989 als ästhetische Zäsur und hält apodiktisch fest: „Erst recht ist das Fehlurteil zu meiden, die Theaterphänomene der neunziger Jahre wären etwa direkt oder indirekt von der politischen Umwälzung um 1989, der .Wende', hervorgerufen worden." 4 Die Stücke, die die Wende unmittelbar thematisieren, haben es entsprechend kaum vermocht, die Bühnen nachhaltig zu erobern - zu diesen Stücken zählen unter anderen Christoph Heins desillusionistische Bestandsaufnahme Die Ritter der Tafelrunde, Herbert Achtembuschs Auf verlorenem Posten, Klaus Pohls Heimkehrerstück Karate-Billi kehrt zurück,5 Rolf Hochhuths Abrechnung mit der Treuhandanstalt Wessis in Weimar,6 Manfred Karges MauerStücke, Elfriede Müllers Goldener Oktober, zudem Botho Strauß' Geschichtsdramen Schlußchor und Das Gleichgewicht. Wird 1989 also nicht als Zäsur im .literarischen System' wahrgenommen, fuhren die politischen Transformationen nicht unmittelbar zu ästhetischen Impulsen, so vollzieht sich gleichwohl um 1995 innerhalb der Theaterszene ein Innovationsschub, wie ihn das politische Ereignis erwarten ließ. Dieser Schub ist allerdings nicht primär bzw. ausschließlich durch die Auseinandersetzung mit sozial-politischen Geschehnissen motiviert, sondern ergibt sich aus der Orientierung an neuen britischen Stücken sowie aus der Konfrontation mit denjenigen sprachexperimentellen Dramen, die zu Beginn der neunziger Jahre die Bühnen dominierten, mithin aus Distinktionskämpfen innerhalb der Theaterszene selbst. Es sind nicht an erster Stelle .kritische' Ereignisse oder gesellschaftliche Entwicklungen, die die neue Theateravantgarde auf den Plan rufen, sondern Konflikte innerhalb des literarischen Feldes, Konflikte zwischen poetologischen Konzepten, die beispielsweise die neue Signatur einer sozialen Dramatik entstehen lassen und den Blick für .Wirklichkeiten' schärfen, genauer: Wirklichkeit neu definieren. Die soziale Dramatik, die sich um 1995 etabliert und inzwischen international zur Kenntnis genommen wird, profiliert sich dadurch, daß sie bestimmte Wahrnehmungs- und Deutungsschemata der sozialen Welt vorgibt und definiert, in welchem Verhältnis Theater und Wirklichkeit stehen. Gegen die experimentellen Sprachspiele, die insbesondere Elfriede Jelineks Stücke kennzeichnen7 und die als selbstreferentielle autonome Artistik ohne Realitätsbezüge 3
Hans-Thies Lehmann, Die Gegenwart des Theaters, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/Christel Weiler Hg., Transformationen. Theater der neunziger Jahre, Berlin 1999, 13-26, 15. Zu den Konsequenzen der .Wende' fur den ostdeutschen Theaterbetrieb vgl. Frank Thomas Grub, „Wende" und „Einheit" im Spiegel der deutschsprachigen Literatur. Ein Handbuch. Bd. 1: Untersuchungen, Berlin 2 0 0 3 , 4 6 7 f .
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Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater. Essay, Frankfurt a.M. 1999, 33. Vgl. dazu ebd., 69f.
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Vgl. zu diesen Stücken insbesondere Grub, „Wende" und „Einheit", 466f. Thomas Jonigk, der dieser sprachexperimentellen Richtung zugeordnet werden kann, nennt weitere einschlägige Dramen: „Zu den wichtigen Texten [der neunziger Jahre] gehört meines Erachtens Elfriede Jelineks Wolken.Heim in der Inszenierung von Jossi Wieler. Dann Werner Schwabs
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kritisiert werden, setzen die Autoren und Theatermacher im Anschluß an die englischen .Brutalists' wie Sarah Kane8 und Mark Ravenhill9 .Geschichten' über desaströse Familienbeziehungen und Arbeitslosigkeit, also Themen, wie sie die Dramatik der siebziger Jahre ebenfalls bevorzugt hatte. Entsprechend greifen die jungen Dramatikerinnen und Dramatiker10 auf traditionsreiche Gattungen wie das soziale Drama und das Volksstück zurück, allerdings um sie zu transformieren - unter anderem durch die Überlagerung von komischen und tragischen Elementen, mithin durch die Hybridisierung von Genres. Auch Gerda Poschmann hält fest, daß das kritische Volksstück in den neunziger Jahren mit spürbaren Veränderungen fortlebt, die einen deutlichen Abstand zum sogenannten ,Wohnkuchldrama' der sechziger und siebziger Jahre erkennbar werden lassen." Die soziale Realität wird phantastisch oder grotesk überformt, das Genre Volksstück mit anderen Genres überlagert, zum Beispiel mit der Tragödie oder der Komödie. Umgekehrt werden aus Tragödien Grotesken, aus geläufigen tragischen Inhalten komödiantische Formen; derbe volkstümliche Töne werden mit sakralen Inhalten und Lyrismen versetzt. Die neue soziale Dramatik ist also von Beginn an mit dem Problem konfronDramen Volksvernichtung und Antiklimax, vor allem aber Die Präsidentinnen, ein Stück, das meinem eigenen Schreiben einen wesentlichen Impuls gegeben hat. Nachdem ich meine ersten beiden Stücke geschrieben hatte, habe ich Die Präsidentinnen in einer der letzten Vorstellungen am Schiller-Theater gesehen, eine Auffuhrung, die mich ungeheuer begeistert hat. So muss Theater sein, dachte ich; diese Art von Humor verbunden mit Sprachreflexionen und Formalismen. Darüber hinaus halte ich New York. New York, und Waikiki-Beach. von Marlene Streeruwitz sowie Rainald Goetz' Jeff Koons fur zentrale Texte. Goetz ist interessanterweise selten im Kontext dieser sprachorientierten Dramatik rezipiert worden. [...] Doch an sich lassen sich seine Texte, die an Brisanz nichts verloren haben, dieser sprachexperimentellen Tendenz der Dramatik zuordnen." Zit. n. Schößler, Augen-Blicke, 325. 8
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Für Lehmann ist Kane die prototypische Autorin eines politischen Theaters und Dramas, deren Sprengkraft in der Unterbrechung gesellschaftlicher Regelsysteme besteht; Hans-Thies Lehmann, Das Politische Schreiben. Essays zu Theatertexten, Berlin 2002, 20f. Vgl. dazu Nils Tabert Hg., Playspotting. Die Londoner Theaterszene der 90er. Marina Carr, Martin Crimp, Sarah Kane, Mark Ravenhill, Reinbek 1998. Der zweite Band enthält Stücke von Sibylle Berg, John von Düffel, David Gieselmann und Tim Staffel; Nils Tabert Hg., Playspotting 2. Neue deutsche Stücke, Reinbek 2002. Vgl. dazu u.a. Theater der Stadt Heidelberg Hg., Heidelberger Stückemarkt. Fünf Jahre Forum junger Autoren (1996-2000). Eine Dokumentation, Heidelberg 2000. Ebenso die Bände Theater Theater. Aktuelle Stücke, die im Fischer Verlag erscheinen. Oder auch den Band Frankfurter Positionen 2001. Sechs Theaterstücke von Gesine Danckwart, Dirk Dobbrow, Thea Dom, Ludwig Fels, Roland Schimmelpfennig, Robert Wolf, Frankfurt a.M. 2002. Gerda Poschmann, Der nicht mehr dramatische Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturgische Analyse, Tübingen 1997, 74f. Sie spricht nicht mehr von Drama, sondern von Theatertext, da sich zeitgenössische Dramen v.a. in ihrem komplexen Verhältnis zu tradierten Dramenkategorien beschreiben lassen, die sie vielfach aufheben, bspw. durch Selbstreferenz, durch die (kritische) Reflexion auf dramatische Formen und die Dominanz der Sprache. Poschmann hält fest, daß diese neuartigen Theatertexte, die die traditionellen Kategorien wie Figur, Fabel etc. auflösen, gleichwohl eine immanente Theatralität entwickeln, die sie als Theatertexte ausweisen und von anderen Gattungen abgrenzen.
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tiert, daß sie einerseits Realitätsnähe proklamiert, die Fusion von Wirklichkeit und Theater fordert, sich andererseits aber von der Sozialdramatik der siebziger und achtziger Jahre zumindest partiell absetzen muß, um als innovative Spielart eines engagierten Theaters zu erscheinen. Im folgenden sollen zwei der zentralen Distinktionskämpfe der letzten Dekade vorgestellt werden, zunächst deijenige einer jungen Generation' mit sozialem Anliegen, die der Marginalisierung des Theaters durch ,Wirklichkeitsnähe' zu begegnen versucht - zu dieser Gruppe gehören beispielsweise Moritz Rinke, Oliver Bukowski, Gesine Danckwart, Kathrin Röggla, Lukas Bärfuss, Marius von Mayenburg und Dea Loher. Diese junge Generation' - eine homogenisierende Kategorie, die mit den Lebensdaten nicht unbedingt übereinstimmt - etabliert sich vor allem, wie angedeutet, in Abgrenzung von denjenigen Dramatikerinnen und Dramatikern, die zu Beginn der neunziger Jahre mit ihren Sprachexperimenten brillierten, mit Stücken, die im Sinne der Wiener Gruppe Sprachkritik übten. Gegen die Versuche, ein neues sozialpolitisches Theater zu etablieren, und zwar innerhalb der elitären Institution des Stadt- und Staatstheaters, wendet sich, ebenfalls in den neunziger Jahren, der Aktionskünstler Christoph Schlingensief, der, wie sein Dramaturg Carl Hegemann formuliert, das Theater rettet, indem er es abschafft, 12 indem er den Raum der ebenso autonomen wie machtlosen Kunst - so Peter Bürger 13 - verläßt und in politischen Aktionen wie der Parteigründung Chance 2000 (1998) oder dem Container-Projekt bei den Wiener Festwochen (2000) politische und theatralische Diskurse fusioniert, also Kunst und , Leben' verbindet und auf diese Weise die Theatralität politischer oder wirtschaftlicher Praktiken ausstellt, ebenso die Selektionsverfahren innerhalb der kulturellen wie politischen Sphäre. Schlingensief ist vor allem an der Sichtbarkeit von Ausgeschlossenen, von Asylbewerbern, Arbeitslosen und Behinderten gelegen, allerdings nicht im Zuge eines monolithischen sozialkritischen Engagements, wie es die neuen Realisten zuweilen an den Tag legen, sondern der Aktionskünstler arbeitet mit dem Selbstwiderspruch, mit der Selbstprovokation, mit Subversion durch Affirmation, die die Zuschauer zu aktivieren versucht.
I. Die Repolitisierung des Theaters und die Fusion mit der Wirklichkeit John von Düffel zieht in einem rückblickenden Interview eine klare Linie zwischen zwei Dramenformen der neunziger Jahre. Er selbst ist Dramaturg am Thalia Theater in Hamburg, betreut mithin Uraufführungen vieler der jungen Autorinnen und Autoren und konnte selbst mit seinem Stück Elite 1.1 nach längerer Pause wieder an die aktuel-
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Carl Hegemann, Das Theater retten, indem man es abschafft? Oder: Die Signifikanz des Theaters, in: Martina Leeker Hg., Maschinen, Medien, Performances. Theater an der Schnittstelle zu digitalen Welten, Berlin 2001, 638-649.
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Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, Frankfurt a.M. 1974, 29.
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len dramatischen Tendenzen anschließen.14 Von Düffel hält über die Entwicklung auf den deutschsprachigen Bühnen fest - es folgt ein längeres Zitat: „Zu Anfang der 90er Jahre waren sicherlich Autorinnen wie Elfriede Jelinek, Marlene Streeruwitz und dann auch Werner Schwab sehr einflußreich. Man hat versucht, so scheint mir, das alte Medium Theater durch eine bestimmte Sprache, durch eine Form von Diskurs zu erschüttern, der für den gängigen Theaterapparat zum Teil richtig widerständig war. [...] Es entstand in dieser Zeit eine Art von Sprachfront, die den Eindruck vermittelte, daß jeder, der fur das Theater eine eigene Sprache findet, am Theater auch einen Ort findet. [...] Danach kam es zu einer Phase, die stark durch die Stücke aus England bestimmt wurde, durch die englischen Autoren Mark Ravenhill und Sarah Kane, die deutlich gemacht haben, daß man auf eine gewisse Weise wieder Wirklichkeit erzählen kann, daß es nicht nur um Sprache geht, nicht nur um eine Form, die zu finden ist. Was ihre Stücke verdeutlichen, war - vereinfachend gesprochen - die Botschaft, daß man auch realistische Geschichten erzählen kann, beispielsweise die Probleme von Strichern; man kann wie in Filmplots von Gewalt erzählen, von Themen, die einen größeren Wirklichkeitsgehalt haben und in Form von Geschichten präsentiert werden, die Drehbücher sein könnten. [...] Diese englischen Stücke haben ein Tor für neue Autoren auch in Deutschland aufgestoßen, haben vielen deutschen Dramatikern überhaupt erst Chancen eröffnet. Spürbar wurde, daß es nicht reicht, Sprachhorizonte zu eröffnen oder mithilfe des Regietheaters die bekannten Stücke neu zu inszenieren, sondern gebraucht wurden Leute, die eine Nabelschnur zur Wirklichkeit legen, und das waren die Autoren. Diese Botschaft wirkte wie eine Art Urknall, der eine große Zahl junger Talente auf den Weg brachte, jeden auf seinen eigenen. Doch die Aufgabe bestand darin, Themen der Wirklichkeit aufzugreifen." 15
Was also gegeneinander ausgespielt und im Sinne einer Generationenfolge stilisiert wird, sind die sprachexperimentellen Stücke auf der einen Seite, wie sie insbesondere in Österreich entstanden sind - insofern besitzt die ästhetische Grenzziehung auch einen nationalen Index - , und auf der anderen Seite die sozialen, die durch die .British Brutalists' initiiert und internationalisiert werden. Das neue Programm lautet, so von Düffel, sozialer Realismus, soziales Engagement, das heißt .Wirklichkeit', wie sie auch fur die Avantgarde zur Herausforderung wurde, um die Machtlosigkeit der autonomen bürgerlichen Kunst zu überwinden. Die ästhetische Form wird dabei in von Düffels Positionierung auf Kosten des Inhalts fur beiläufig erklärt; es sind die großen Themen, die sozialen Stoffe, die die Brisanz der Stücke garantieren. Es sind die Geschichten, die das Theater an die Wirklichkeit anschließen, weil diese selbst Geschichten .schreibt'. Das Programm unterschlägt mithin die ästhetische Form als unhintergehbare Differenz zwischen Artefakt und Wirklichkeit, um das Bühnengeschehen der Realität möglichst bis zur Deckungsgleichheit anzunähern. Zugleich wird Wirklichkeit als Problemfeld definiert, als Feld sozialer Krisen, wie sie vor allem die grassierende Arbeitslosigkeit und die sozialen Deklassierungen im Zuge der Globalisierung mit sich bringen, aber auch die privaten Lebensformen. Noch 2002 eröffnet eine Präsentation neuerer Stücke (unter anderem von Fritz Kater und Gesine Danckwart) mit folgendem Fragenkatalog:
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John von Düffel, Elite 1.1, in: Tabert Hg., Playspotting 2, 265-300. Zit. n. Schößler, Augen-Blicke, 315f.
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„Wie leben wir eigentlich? Ist die Familie wirklich so tot, wie das gesellschaftliche Spektakel um den Individualisten es suggeriert? Hat die Single-Potenz tatsächlich dem Gemeinschaftsgefühl die Beine gelähmt? Führt die Lösung von Bindungen in der seriellen Monogamie - dem Standardmodell heutiger Beziehungen - zu neuen stabilen Strukturen, die auf Selbstbewusstsein und Freiwilligkeit beruhen? Oder schafft das freie Vertragswesen der Gefühle nicht vielleicht doch den nagenden Rost von Misstrauen und Aggression? Und was ist mit Treue, Vertrauen, Verlässlichkeit und Fürsorge - nur noch Wechselkurse an der Börse der persönlichen Bequemlichkeit?" 16
Diese Stoffe, Familie und Arbeit, scheinen ausreichend, um die Brisanz der Stücke zu garantieren, die Marginalisierung des Theaters aufzuheben - die ästhetische Vermittlung, die jedes Kunstwerk notgedrungen leisten muß, wird zur quantite negligeable, ja zum Hindernis einer engagierten Dramatik, die dem Theater den Weg zur Wirklichkeit zu weisen versucht. Sind es also die Stoffe, die die politisch-soziale Relevanz des Theaters garantieren, so werden der zeitgenössische Autor gegen den Regisseur und die beliebten Klassiker zur zentralen Instanz erhoben; er ist der Wirklichkeitsgarant, ist das Medium, das Kunst und Wirklichkeit verbindet, so daß ein neues (altes) Autorbild entsteht. Der Autor wird - man fühlt sich an Emile Zolas Konzept des Experimentalautors erinnert - zum Empiriker und Sammler dokumentarischer Informationen. Diese Tendenz zeigt sich bereits in Urs Widmers traditionsbildendem Drama Top Dogs, einem „Königsdrama" der Wirtschaft 17 und, so Martin Halter, einem ,,zukunfitsweisende[n] Modell politischen Theaters" 18 - das Projekt des Neumarkt Theaters Zürich erhielt 1997 den Mühlheimer Theaterpreis und stürmte die deutschsprachigen Bühnen geradezu, 19 wohl auch aufgrund des neuartigen Figurenensembles: Nicht die Underdogs stellen das Personal, sondern die hohen ,Tiere', die Manager und Unternehmer, die in Folge der Globalisierung zunehmend selbst von der Arbeitslosigkeit betroffen sind; 20 Gerhard Jörder überschreibt seine Laudatio mit Die Globalisierung frißt ihre Kinder2\ Die Täter werden zu Opfern, die Subjekte zu Objekten „in einem System, dessen einziger Imperativ .Produzieren' lautet" 22 . Den abgehalfterten Managern sollen Outplacement-Agenturen, so der
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Till Briegleb, Prüfungen des Lebens und der Liebe. Neue Stücke von Fritz Kater, Gesine Danckwart, Anne-Kathrin Schulz und Wassilij Sigarew in Hamburg, in: Theater heute 43.2002/H.12, 42-45, 43.
17
Clemens Kammler, Das Theater der Gegenwart in didaktischer Perspektive, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 48.2001/H.3, 372-393, 387.
18
Martin Halter, Warte uff de Godot. Feuerwehrmann der Utopie: Urs Widmer als Theaterautor, in: Text und Kritik 1998/H.140: Urs Widmer, 30-39,39.
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1997/98 wurde das Stück an acht Theatern gespielt und insgesamt über 200 mal aufgeführt; vgl. Kammler, Theater der Gegenwart, 387, Anm. 42.
20
Urs Widmer, Top Dogs, in: Theater heute 38.1997/H.2, 42-50; ders., Top Dogs, Frankfurt a.M.
20025. 21
Gerhard Jörder, Die Globalisierung frißt ihre Kinder. Preisrede auf Top Dogs beim Berliner Theatertreffen, in: Theater heute, Jahrbuch 1997, 113-116,114.
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Kammler, Theater der Gegenwart, 391.
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Plot von Top Dogs, zu neuen Jobs verhelfen, indem sie eine spezielle Form von Therapie sowie Hilfestellungen zur Wiedereingliederung anbieten. Die Funktionsweise schweizerischer Outplacement-Unternehmen wird dabei, und auf diesen Aspekt kommt es hier an, in nahezu dokumentarischer Manier erläutert. Das Stück basiert auf genauen Recherchen im Firmenbereich, die Widmer ausdrücklich als ethnologische Studien beschreibt: „Volker Hesse und ich begannen eine Art Feldforschung im Lande des Managements. Wir wollten, um unsere Vermutungen empirisch abzustützen, mit möglichst vielen entlassenen Machtausübenden sprechen. Wir hatten einige private Kontakte, noch mehr halfen uns ein paar Zufälle und Empfehlungen, am meisten aber unterstützten uns zwei Outplacement-Firmen in Zürich. Wir begannen unsere Expedition in der Annahme, eine uns durchaus nahe Welt noch etwas genauer kennenlernen zu wollen, und wir beendeten sie mit dem Gefühl, einen unbekannten Kontinent bereist zu haben. Ganz eigene Länder mit fremdartigen Sitten und Gebräuchen. Wir hatten uns mit einer neue Sprache vertraut gemacht [...]. Ja, wir wurden zu staunenden Ethnologen in einer Welt, die ganz in unsrer Nähe lag, die die unsre oft überlagerte und von der wir dennoch nichts gewußt haben." 23
Das Theater begibt sich in fremde außerliterarische Zusammenhänge, die dem ästhetischen Kanon nicht bereits einverleibt sind und dokumentarisch erfaßt werden. Auf diese Weise wird dem ästhetischen Feld eine neue Spezialsprache vermittelt, die der Ökonomie, die zum innovativen Tragödiensujet wird und das Theater in gewissem Sinne an die Wirklichkeit anschließt. Allerdings läßt sich nicht - und das gilt für die meisten Stücke dieser Couleur - von Dokumentartheater sprechen, denn Urs Widmer spielt in Top Dogs virtuos auf der Klaviatur dramatischer Möglichkeiten, die vom Chorischen bis zum Komödiantischen reichen. Tragik kommt eher selten auf; das Stück tendiert vielmehr zur Komödie, auch um jegliche Mitleidsdramaturgie zu unterbinden. Unter den Figuren, die vielfach als Chor agieren, bricht wiederholt Heiterkeit aus und ihre Obsessionen, ihre Automatismen, wirken im Sinne von Bergsons Le rire meist komisch. Das realistische Glacis des Stückes wird endgültig aufgebrochen, als es zur , Schlacht der Wörter' kommt. Die Figuren reihen litaneihaft Firmennamen an Firmennamen, eine Art Tanz ums goldene Kalb, eine Anbetung, die die Funktion des Geldes in heutigen Zeiten plastisch zum Ausdruck bringt und jeglichen Bühnenrealismus hinter sich läßt. Ähnlich wie Widmer recherchiert auch Kathrin Röggla für ihr Drama draußen tobt die dunkelziffer, ursprünglich ein Prosatext, in der Börsenszene. Auch sie arbeitet mit dokumentarischem Material, ohne jedoch Dokumentartheater machen zu wollen, ja sie steht jeglichem Realismusanspruch kritisch gegenüber. In einem Interview erklärt sie auf die Frage, ob sie dokumentarisches Theater mache: „Ich arbeite mit dokumentarischen Mitteln. Aber wir bewegen uns auf einem ästhetischen Feld. Man versteht unter dokumentarisch ja oft 1:1, und das ist eben nicht der Fall. Da gefällt
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Volker Hesse/Stephan Müller Hg., Top Dogs. Entstehung. Hintergründe. Materialien, Zürich 1997, 48.
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mir ein Text von Alexander Kluge sehr gut: ,Die schärfste Ideologie: daß sich die Realität auf ihren realistischen Charakter beruft.' [ . . . ] Ich weiß gar nicht, ob ich mich als Realistin bezeichnen wollte, als strategische Geste wäre es vielleicht brauchbar. Was ich produziere, hat Rhythmus, hat Bildlichkeit, hat Gestik, ist immer Zuspitzung und Antwort auf das, was ich wahrnehme." 24
Entsprechend versteht sie ihre Kurzszenen aus draußen tobt die dunkelzijfer als beliebig kombinierbar und erteilt einer linearen Konstruktion als dramatischer Urform, die brisanterweise mit einem moralischen Anspruch gekoppelt wird, dezidiert eine Absage: „das stück funktioniert wie ein außer rand und band geratener wunderwürfel. die szenen stehen in einem Zusammenhang, das ganze darf aber durchaus zerlegt, auseinandergenommen und neu zusammengesetzt werden, in einem schwung gespielt, unterbrochen, nur in teilen zusammengesetzt, solange nicht versucht wird, eine exemplarische erzählung herzustellen, eine metaerzählung, die alles hübsch in einem pädagogisch-moralischen sinn ordnet, immer wird dabei etwas wegfallen, wie im richtigen leben." 25
Moritz Rincke, um einen letzten dokumentarisch arbeitenden Autor zu nennen, verbringt seine Zeit mit arbeitslosen Akademikern auf dem Arbeitsamt, die dann sein Drama Cafe Umberto bevölkern. 26 Der proklamierte Bezug zur sozialen Wirklichkeit bringt es also mit sich, daß für das Theater neue Themen, neue .Sprachen' entdeckt werden, allen voran die der Börse, des Arbeitsamtes und der arbeitslosen Top Dogs. Diese Sujets zusammen mit den eher postdramatischen Formen sind es, die eine Abgrenzung von der sozialen Dramatik der siebziger und achtziger Jahre zulassen, also auch vom Mitleidsethos, wie es vor allem Franz Xaver Kroetz' Stücke kennzeichnet. Unterstrichen wird wiederholt - zum Beispiel von Thomas Ostermeier - der in den Stücken geleistete Verzicht auf sozialpsychologische Ursachenerklärung, auf Motivation, auf sozialpädagogische Anleitungen und moralische Urteile. Die sozialen Dramatikerinnen und Dramatiker verabschieden den psychologischen und sozialpädagogischen Diskurs, um die Innovationen des neuen sozialen Programms zu profilieren, das tatsächlich neue Wirklichkeitsbereiche, wie sie sich im Zuge globaler Wirtschaftsprozesse formieren, in den Blick nimmt und dem Theater zugänglich macht. Was John von Düffel über die innovativen Tendenzen auf der Bühne in seinem Interview retrospektiv beschreibt, wurde zu Beginn der Dekade wesentlich von Thomas Ostermeier vorangetrieben, der erfolgreich an der Baracke des Deutschen Theaters und an der Schaubühne Berlin arbeitete und in seinen Manifesten ein neues soziales Theater forderte: „Jede wesentliche Bewegung der Theatererneuerer des 20. Jahrhunderts war
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Kathrin Röggla/Eva Behrendt, „Ich will niemanden abhalten, Schulden zu machen". Die Autorin Kathrin Röggla über ihr neues Stück draußen tobt die dunkelziffer, über gewollte Verschuldung, „Heuschreckenkapitalismus" und dokumentarische Mittel als ästhetische Instrumente, in: Theater heute 46.2005/H.7, 40-43, 42.
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Kathrin Röggla, draußen tobt die dunkelziffer, in: ebd., 4 4 - 5 7 , 4 4 . Moritz Rinke, Cafe Umberto, in: Theater heute 46.2005/H.8/9, 71-81.
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ein Versuch, eine Nabelschnur zwischen Theater und Wirklichkeit zu reaktivieren. Meistens taten sie dies durch den unkorrumpierten, realitätsnahen Blick der Autoren. Im Grunde war jeder Kampf, der geführt wurde, einer für einen neuen Realismus auf der Bühne."27 An etwas späterer Stelle fuhrt er aus: „Die Haltung des Realismus versucht die Welt zu vermitteln wie sie ist, nicht wie sie aussieht. Sie versucht, Wirklichkeiten zu begreifen und sie zu refigurieren, ihnen Gestalt zu geben."28 Auch Ostermeier grenzt sich in seinem Programm, ähnlich wie von Düffel, von den „Sprachspielern" ab, kritisiert die „eitle [...] Sprachverliebtheit" und die „intellektuelle [...] Selbstreflexion", die die Bühne zum Elfenbeinturm werden lasse.29 Der neue Realismus hingegen verspreche die Marginalisierung des Theaters, die sich aufgrund der lange Zeit dominierenden „Regietitanen" und ihrem Fokus auf Klassik eingestellt habe, aufzuheben und inthronisiert den zeitgenössischen Dramatiker. Ostermeier distanziert sich also vornehmlich von den despotischen Regiegrößen (und auch Intendanten), die bis zu Beginn der neunziger Jahre die wichtigen Theater fest in ihrer Hand hatten;30 erst danach wird der Weg frei für neue Autorinnen und Regisseurinnen, die vielfach aus der off-Szene kommen, und auch für neue Intendantinnen.31 Das topische Bild der Nabelschnur, das Ostermeier aufruft, beschwört dabei die Fusion von Theater und Wirklichkeit: Kunst solle sich an das Leben anschließen, solle sozialen Sprengstoff aufgreifen und so in die Realität eingreifen, verschleierte Mißstände sichtbar machen, Bekanntes verfremden Ostermeier setzt sich dezidiert mit Brecht auseinander32 - und die eigentliche Wirklichkeit hinter der Fassade ,Wirklichkeit' sichtbar machen. Dieses Argumentationsmuster hatte bereits der bürgerliche Realismus im 19. Jahrhundert bemüht, der auch die Aporien jeglichen Realismuskonzeptes deutlich werden ließ: Kunst will Realität sein, bedarf aber einer spezifischen Differenz vom Leben, um überhaupt als Kunst erscheinen zu können; deshalb fokussiert sie die .wirkliche Wirklichkeit', ihr Wesen. Allerdings wird Ostermeier, der seine frühere Arbeit an der Baracke unter ein dezidiert antiinstitutionelles Vorzeichen stellte, recht schnell von der traditionsreichen Institution Schaubühne eingeholt. Und er bringt soziale Themen zwar auf die Bühne - er inszeniert Sarah Kane, Marius von Mayenburg, Lars Noren etc. - , tastet die Institution Theater selbst jedoch nicht an, sprengt nicht die Grenzen des autonomen Kunstraums. Setzt die neue soziale Dramatik also auf brisante Inhalte, so wurde gegen dieses ,Realismuskonzept' aus unterschiedlichen Richtungen Einspruch erhoben. Thomas Ostermeier bestimme als die Aufgabe zeitgenössischer Dramatik, so kommentiert Franz Wille polemisch, „eine krude soziale Realität auf die Bühne zu bringen, dabei nachvoll27
Thomas Ostermeier, Das Theater im Zeitalter seiner Beschleunigung, in: Harald Müller/Jürgen Schitthelm Hg., 40 Jahre Schaubühne Berlin, Berlin 2002, 6-13, 6.
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Ebd., 9.
29
Ebd.
30
Ebd., 7.
31
Vgl. dazu das Interview mit Oliver Held, in: Schößler, Augen-Blicke, 332-337, 333f.
32
Ostermeier, Theater im Zeitalter, 6.
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ziehbare Geschichten zu erzählen und die Unbilden des entfesselten GlobalKapitalismus in seinen schwärzesten Farben zu malen"33. Auch Theresia Walser kritisiert Ostermeiers scheinbar recht planen Realismusbegriff, der ganz auf Inhalt setzt, und hält es für verlogen, „so zu tun, als gäbe es eine soziale Realität auf der Bühne" 34 . In ihrem Stück King Kongs Töchter läßt sie zwar die Einsamkeit und Verwahrlosung in Altersheimen aufscheinen, nicht ohne jedoch dem artistischen Spiel mit Fernsehikonen Raum zu geben, das das Stück als Artefakt, reflexiv als Bühnengeschehen, ausweist.35 Tatsächlich weisen die sozialen Stücke, die unter anderem an der Schaubühne gezeigt werden - anders als es das Programm will häufig ein hohes Formbewußtsein auf; sie sind trotz ihrer sozialen Sujets, und darin gleichen sie den sprachexperimentellen Dramen, postdramatisch angelegt, das heißt die Einheiten Fabel, Figur, Raum und Zeit werden zerstört, diverse Ausdrucksformen stehen gleichberechtigt nebeneinander, der Körper tritt auf Kosten der Sprache in den Vordergrund und diese wird tendenziell rhythmisiert.36 Insofern widerspricht die Theaterpraxis dem Programm Ostermeiers. Von Mayenburg zum Beispiel, Hausautor der Schaubühne, schaltet in dem preisgekrönten Stück Feuergesicht, ähnlich wie in seinem Drama Kaltes Kind, Kurzszenen ohne klare räumliche Zuordnung hintereinander, spart Ereignisse aus, die analytisch rekonstruiert werden, arbeitet mit Monologen und Leitmotiven. Er legt mit Feuergesicht eine Art Frühlings Erwachen der neunziger Jahre vor: Der Kampf zwischen Erwachsenen und Heranwachsenden, der bei von Mayenburg ohne äußeren Anlaß in Gang gesetzt wird - der endogene Gewaltprozeß entspricht dem proklamierten Verzicht auf
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Franz Wille, Illusionen von Glück und Theater. Volker Hesse führt in Zürich King Kongs Töchter, das neue Stück von Theresia Walser, zum Erfolg und rettet das Theater vor der Wirklichkeit, in: Theater heute 39.1998/H.l 1, 76-79, 76.
34
Zit. n. ebd., 78.
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Theresia Walser, King Kongs Töchter, in: Theater heute 39.1998/H. 11, 80-89. Der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann entwickelt das Konzept des Postdramatischen vornehmlich für das Regietheater der siebziger und achtziger Jahre, läßt es jedoch auch für die neunziger Jahre gelten und fuhrt das Programm, das insbesondere die Vormachtstellung des Wortes suspendiert, bis auf die Avantgarde-Bewegung um 1900 zurück. Ein wesentliches Merkmal des postdramatischen Theaters ist, daß kohärenzbildende Makrostrukturen aufgebrochen werden, daß die „Ganzheiten" und „Geschlossenheiten" einer klassischen Ästhetik, also vornehmlich das „Dreigestirn [...] von Drama, Handlung und Nachahmung", verabschiedet werden; Lehmann, Postdramatisches Theater, 55. Die Fabel zerbricht, der Text wird zu einem Element unter vielen innerhalb eines plurimedialen Ensembles, das noch dazu dissoziativ und widersprüchlich organisiert sein kann. Ziel der Zersplitterung und Überlagerung von Eindrücken ist meist Bedeutungsverdichtung und Intensität. Nicht Illusion, nicht die Mimese von außertheatralischen Vorgängen wird angestrebt, sondern die Epiphanie des Augenblicks, auf die bspw. auch Botho Strauß' Dramatik zuläuft. Die theatralen Mittel werden parataktisch organisiert, enthierarchisiert und simultan eingesetzt, so daß das Ausschnitthafte, der selektive Charakter der Wahrnehmung erfahrbar wird.
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sozialpsychologische Erklärungen37 hat sich zugespitzt und wird zu existenziellen Bildern überhöht. Das Stück setzt zum einen regressive Verschmelzungsphantasien in Szene, entfaltet zum anderen - die Kehrseite - das Panorama eines destruktiven Narzißmus.38 Das rekurrente Motiv des Feuers, das für Verschwendung und Exzeß jenseits der Familienökonomie steht, wird in Feuergesicht zudem philosophisch überhöht; wiederholt arbeitet von Mayenburg Zitate aus der Kosmogonie von Heraklit ein, der die Genese der Welt auf das Feuer zurückfuhrt. Ähnlich wie die Figuren in Wedekinds Frühlings Erwachen über die Kontingenz der eigenen Existenz räsonieren, überdenken auch die Figuren von Mayenburgs die existenzielle Erfahrung des Geborenwerdens. Geburt wird mit Ekel verbunden, Kindheit mit Demütigung und Mangel. Das Stück, das die Familie als geschlossenen Raum immanent erzeugter Gewalt vorfuhrt, kennt zwar noch psychologisch organisierte Figuren, tendiert jedoch durch die Suspension des Raums, durch die monologische Struktur, durch die Traumsequenzen und die Zitate zu postdramatischen Strukturen, so daß sich der soziale Inhalt in einer komplexen formalen Struktur präsentiert. Ähnliches ließe sich für Dea Lohers Drama Tätowierung zeigen, das den Inzest als Kulminationspunkt familialer Abhängigkeits- und Unterwerfungsverhältnisse vorführt, zugleich jedoch - anders als die Inzestdramen von Kroetz - Tragödie und Komödie fusioniert und das Geschehen stark reduziert, ja mit Aussparungen arbeitet. Insbesondere die Dramen der Engländerin Sarah Kane, die Ostermeier an der Schaubühne vielfach uraufführt, können als postdramatische beschrieben werden. Zum Schluß von Blasted, ihrem ersten aufsehenerregenden Drama, das häufig in die Nähe von Edward Bond gerückt wurde, erscheint die Figur Ian zwischen radikalen Blacks in Momentaufnahmen. Das Geschehen wird jenseits der Chronologie und konkreten Topographie fragmentarisiert, wobei die Wahrnehmungszerrüttung, die der Schmerz mit sich bringt, auch formal umgesetzt und auf den Rezipienten als Zerstörung seiner Wahrnehmungszusammenhänge übertragen wird. Es entsteht ein surrealer Raum jenseits der Sprache, jenseits eines Realismus, ähnlich wie Kane selbst in ihren 37
Von Mayenburg hält fest: „Was mir auf jeden Fall wichtig ist: daß die Figuren im Konflikt mit sich selbst liegen und daß daraus der Grundkonflikt entsteht. Daß nicht äußere Konstellationen zum Konflikt führen, sondern innere Widersprüche." Zit. n. Sandra Umathum, Die Hölle sind immer die anderen, in: Harald Müller/Christel Weiler Hg., Neue deutschsprachige Dramatik. Stück-Werk 3. Arbeitsbuch, Berlin 2001, 106-108, 106.
38
Der Sohn Kurt versucht sich ganz in sich selbst zu verkapseln; sein Leitsatz lautet: „Einzeln werden, sich rausklappen aus den Verbindungen und alles dicht machen, alles dicht und eng gepackt"; Marius von Mayenburg, Feuergesicht, in: ders., Feuergesicht. Parasiten. Zwei Stücke, Frankfurt a.M. 2000, 7-69. Dieses Bild verklammert von Mayenburg mit dem Motiv des Feuers und der Explosion; auch eine gute Bombe zeichne sich dadurch aus, daß sie „eng gepackt" sei, so Kurt. Zu dieser (narzißtischen) Verweigerung an die anderen, an die Ökonomie der symbolischen Ordnung gehört auch der Inzest, der ebenfalls mit Feuer und Explosion assoziiert wird. Olga erklärt: „Ich will schlafen. Kurt: Schlafen gibts nicht mehr. Wir müssen jetzt wach sein. Wir schmelzen uns zusammen und detonieren hier über den Matratzenrand. Olga: Wirst du nie satt? Kurt: Satt gibts auch nicht mehr. Wir müssen brennen und uns verschleudern. Ich will mich an dir zerpulvern"; ebd., 20.
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eigenen Regiearbeiten um abstrakte Bühnenlösungen bemüht war.39 Die Dramen, die dem Programm des neuen Realismus zu entsprechen scheinen, sind also durchaus nicht primär inhaltlich angelegt (das ist in einem ästhetischen CEuvre schlicht nicht möglich), sondern arbeiten in formaler Hinsicht vielfach experimentell. Der Realismus, wie ihn Ostermeier und von Düffel fordern, verkürzt mithin den ästhetischen Prozeß, um an Distinktionskraft zu gewinnen, um das Ethos eines sozialpolitischen Engagements und damit den Anspruch auf Wirklichkeitsnähe zu stützen. Die so entstehende klare Distinktion übersieht jedoch, daß die Opposition von Sprache und Sozialem eine künstliche ist, daß auch die sprachexperimentellen Stücke - zum Beispiel von Elfriede Jelinek und Marlene Streeruwitz - in hohem Maße soziale Themen verhandeln, insbesondere die marginalisierte Rolle der Frau und der Fremden sowie die Erinnerungslosigkeit einer zur Makrokriminalität bereiten Gesellschaft. Ein Theatermacher der neunziger Jahre, der eindeutig auf die avantgardistische Tradition bezogen werden kann, ist Christoph Schlingensief, der, anders als der Intendant und Regisseur Ostermeier, die Institution Theater verläßt. Das Stück Rosebud, ein Drama, das die geläufige Theaterpraxis historisiert und der avantgardistischen Vorliebe fur die Montage entsprechend aus Zitaten besteht, kann entsprechend als groß angelegtes Distinktionsprojekt beschrieben werden: Schlingensief distanziert sich von jeglipher ästhetischer Position, die innerhalb des Theaters entwickelt wird - von dem .kunstgewerblichen' Ästhetizismus Robert Wilsons, von Peter Zadek, von der Tragödiensuche Einar Schleefs und auch von dem Veränderungswillen sozialkritischer Fafon, wie er an der Schaubühne herrscht. Schlingensief läßt diese Haltung als eine Spielart der abgelebten Revolutions- und Provokationsdiskurse erscheinen, und zwar deshalb, weil sie in den autonomen Bezirk des Stadttheaters eingeschlossen bleibt und in die Falle fixierter Programme geht. Rosmer, der Zeitungsmagnat auf den Spuren von Orson Welles Citizen Kane, brüllt in Rosebud: „Ich will die Welt verändern! Wir bespielen die Dächer unserer Häuser. Wir liefern Sozialkritik, wo wir nur können. Aber im Grunde sind wir Astronauten, die man auf einem Schlitten zum Mond geschossen hat, damit wir schwerelos werden".40 Im kommentierenden Nebentext, der auch das Manifest der Schaubühne abdruckt, heißt es: „Es wäre schön, wenn man hier an die Schaubühne denken würde. Ein Ort, hochgelobt und dann wie eine heiße Kartoffel fallen gelassen. Dabei haben sie es doch nur ehrlich gemeint. Sie 39
In ihrem Stück Crave gibt es keine identifizierbaren Figuren mehr, keine klar erkennbaren Handlungszusammenhänge, nurmehr Dialogsplitter zwischen inneren Stimmen. Im Sinne eines therapeutischen Diskurses werden Dialogfragmente zwischen liebes-, rausch- und todessüchtigen Figuren montiert. Es heißt zum Beispiel: „B: Ich würde alles aufgeben für dich, D: Ins Licht, A: Wie es war im Anfang, C: Jenseits der Finsternis, M: Und soll auf ewig sein, B: Ins Licht, A: Am Ende vom Tag kommt es wieder zurück auf mich, [...] Es kommt wieder zurück auf das hier, F: Fett und glänzend und tot tot tot heiter". Sarah Kane, Gier (Crave), aus dem Engl. v. Marius von Mayenburg (Fassung Stand Dezember 1999), Reinbek 1999, 25. Von Mayenburgs Stücke, vor allem Parasiten, wurden wiederholt mit denen der Engländerin verglichen; Umathum, Hölle, 108.
40
Christoph Schlingensief, Rosebud. Das Original, Köln 2002, 72.
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wollten wirklich die Gesellschaft verändern, indem sie sich erst einmal selbst verändert haben. Doch die Ansprüche waren zu hoch. Man kann nichts verändern, wenn man sich selber verändert. So etwas wird immer nur als Lüge empfunden. Besser ist es, zu dem zu stehen, was man ist: ein Fehler!" 41
Schlingensief setzt dem sozialen Programm, das als in sich homogene Forderung auftritt, den Selbstwiderspruch und die Selbstnegation entgegen. Seine Aktionen, wie das Container-Projekt der Wiener Festwochen und die Parteigründung Chance 2000, lehnen dezidiert jedes bündelnde Ziel ab und werden als .Selbstprovokation' begriffen, die die Widersprüche der Rezipienten wie Produzenten - Schlingensiefs Projekte nivellieren auch diese Differenz, wie sie die autonome Kunst etabliert hatte - an die Oberfläche treibt und jede Fixierung einer Position (auch durch die Negation der Negation) unterläuft. Schlingensief propagiert den Fehler, das Unperfekte, um die (unkontrollierbare) Prozessualität des ästhetischen Vorgangs zu garantieren. Ziel ist die Aktivierung der Beteiligten, die Entdeckung ihres produktiven Potentials, das insbesondere durch Körperarbeit freigesetzt wird. Anders als die neue soziale Dramatik, die die etablierten Grenzen der Kunst nicht antastet, auch wenn eine Fusion mit der Wirklichkeit imaginiert und diese dokumentarisch erfaßt wird, sprengt Schlingensief die Institution Theater, reflektiert die institutionellen Bedingungen der Kunst, überwindet die Grenze zwischen Rezipienten und Produzenten, hebt den Werkbegriff auf und knüpft so an die totgesagte Avantgarde an. Das soziale Programm, das er vielfach vertritt (und in Frage stellt), wird in einen offenen Aktionismus überführt, der sich konkreten Zielen verweigert.
II. Die Überwindung der Institution Theater und das ,soziale' Programm Schlingensiefs Peter Bürger betont in seiner Theorie der Avantgarde bekanntlich das Scheitern des avantgardistischen Projekts, weil der Protest als künstlerisches Produkt goutierbar geworden sei.42 Auch Hans Magnus Enzensberger ist der Auffassung, daß jede heutige Avantgarde unter den historischen Bedingungen Selbstbetrug sei.43 Robin Detje44 und
41
Ebd.
42
„Da inzwischen der Protest der historischen Avantgarde gegen die Institution Kunst als Kunst rezipierbar geworden ist, verfällt die Protestgeste der Neoavantgarde der Inauthentizität. Ihr Anspruch Protest zu sein, ist nicht mehr aufrechtzuerhalten, nachdem er sich als nicht einlösbar erwiesen hat. Daher rührt der Eindruck des Kunstgewerblichen, den neoavantgardistische Werke nicht selten hervorrufen." Bürger, Theorie, 71.
43
Hans Magnus Enzensberger, Die Aporien der Avantgarde, in: ders., Einzelheiten II. Poesie und Politik, Frankfurt a.M. 1964, 50-80, 79.
44
Schlingensief sei „der größte und wichtigste Vertreter einer Avantgarde, die nie wirklich tot gewesen sein kann, wenn sie sich so erfolgreich wiederbeleben lässt. Ihre Leichen leben jedenfalls noch." Robin Detje, Wie er tut, was wir nicht lassen können. Christoph Schlingensief trifft
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Peter Sloterdijk jedoch bezeichnen den Aktionskünstler Christoph Schlingensief ausdrücklich als Avantgardisten nach dem Ende der Avantgarde. „Die Epoche, in der eine Avantgarde mit Überraschungen oder Direktangriffen auf ein unvorbereitetes Nervensystem arbeiten konnte, ist vorbei. Immunologisch gesehen, befindet sich unsere Gesellschaft in einem Zustand, den es so noch nicht gegeben hat: Wir sind durchgeimpft. Das Interessante an der Arbeit von Christoph Schlingensief war, daß er die Realität als etwas benutzte, wogegen es letzten Endes doch keine Impfung gibt." 45
Denn ähnlich wie die Avantgarde, beispielsweise die Dadaisten und Surrealisten, verläßt Schlingensief dezidiert das Stadttheater (bis auf einige Ausnahmen, die einer Historisierung des Theaters dienen),46 spielt Straßentheater oder unsichtbares Theater - bei Interviews, bei Kaufhausbesuchen etc. - und gibt damit, ähnlich wie die seriellen Produkte der Avantgardisten, die Remakes Duchamps, den Werkbegriff im engeren Sinne auf. ' Effekt seiner Interventionen ist, daß das Theatralische der Machtordnungen (der Politik, der Wirtschaft etc.) sowie die Arbitrarität ihrer Regeln in Erscheinung treten. Und ähnlich wie die Surrealisten, die den Sprachkonventionen mißtrauen, hoch besetzte Ismen in ihren Manifesten destruieren und die normalisierende Sprache mit automatisch generierten Bildwelten konfrontieren, ähnlich auch wie die Wiener Aktionisten und die sprachexperimentellen Autorinnen und Autoren, beispielsweise Elfriede Jelinek,48 geht Schlingensief von der Unbeweglichkeit ideologischer Ordnungen aus, davon, daß die Bilder und Begriffe, die zur Verfugung stehen, falsch sind, weil sie die hegemoniale Macht verschleiern. Allein das (sprachliche) Experiment, wie es die Avantgardekünstler
45
46
47 48
im Wiener Burgtheater flüchtig Elfriede Jelineks Bambiland und rettet wieder einmal die Avantgarde, in: Theater heute 45.2004/H.2, 12-14, 13. Der Theatervirus. Peter Sloterdijk im Gespräch mit Christoph Schlingensief, in: Theater heute 41.2000/H.8/9, 1-2, 1. Bei seinem Η am let-Projekt in Zürich überrascht Schlingensief, nachdem seine Aktionen rund um die aussteigewilligen Neonazis wie der feierliche Empfang am Bahnhof für großes Aufsehen gesorgt hatten, mit einer recht konventionellen, retrospektiven Inszenierung, die Hamlet als Nachspiel zeigt, als Wiederholung der Gründgens-Inszenierung von 1963, die ihrerseits auf eine Aufführung während des Nationalsozialismus zurückgeht. Schlingensief inszeniert also das Zitat eines Zitats, verwandelt die Inszenierung in toto zu einem Gespenst. Nicht nur der Vater Hamlets ist ein Geist, sondern die Inszenierung selbst die Wiederholung einer Wiederholung, so daß die unhintergehbare Macht des Vaters/der Geschichte anschaulich wird, wie sie in den Neonazis geradezu personifiziert wiederkehrt. Das Theater selbst wird zum Gespenst, zu einer untergegangenen Ausdrucksform, die als untote gleichwohl präsent bleibt. Vgl. dazu Bürger, Theorie, 70f. Jelinek führt über die Wiener Aktion entsprechend aus, daß das „Vorhandene nur verstanden werden kann, indem man die Täuschung, die Fiktion, die Verfehlung, das Aufgeben von Boden und das Erschaffen von Künstlichkeiten aller Art zu seiner eigentlichen Basis macht, gerade WEIL es um Reales geht"; Elfriede Jelinek, Der Raum im Raum, in: Christoph Schlingensief, Ausländer raus. Bitte liebt Österreich. Dokumentation von Matthias Lilienthal und Claus Philipp, Franfurta.M. 2000, 159-162, 161.
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49
einsetzen, vermag die ideologisch verfestigten Wirklichkeitsbilder zu demontieren; allein Sprachtransformationen kommen den unsichtbaren Ideologien auf die Schliche. Damit sind Schlingensiefs Performances in hohem Maße politisch, denn sie zielen auf die Veränderung von Wahrnehmung. 50 Im Zusammenhang mit Chance 2000, seiner Parteigründung, die im folgenden im Vordergrund stehen wird, entwickelt Schlingensief eine Art Systemtheorie, in der das verbindliche System 1 im Sinne der Bartheschen Mythen des Alltags als Simulation fungiert: „Die Öffentlichkeit ist besetzt von Gewerkschaften, Kirchen, Medien und Parteien, die eine Realität eigener Art, fern der wirklichen Wirklichkeit schaffen, kurz: dem System 1; alles, was wirklich ist, die wirklichen Menschen, zum Beispiel die Arbeitslosen oder die Behinderten oder du und ich, das System 2 also, kommen in ihr nicht vor. Die Frage ist nun: Wie können sie wieder sichtbar werden, ohne daß das System 1 sie schluckt?" 51
Gesucht wird nach Verfahren - ebenfalls im Namen einer ,wirklichen Wirklichkeit' - , die die glatten Oberflächen der eingespielten Diskurse perforieren und die Ordnungen als sprachliche und damit performative, veränderbare, enthüllen. In Chance 2000 fusioniert Schlingensief entsprechend Politik und Theater, indem er ein Sprichwort, nämlich die stehende Wendung ,Zirkus um etwas machen' verbuchstäblicht: Er richtet einen Wahlzirkus ein, in dem auch die politische Agitation zu den vorgeführten Kunststückchen gehört und der ,den Seiltanz politischer Entscheidungen' buchstäblich demonstriert. Die abstrakten Regeln (der Konkurrenz, des Kampfes) werden entsprechend zu physischen Prozeduren, indem beispielsweise Entscheidungen durch sportliche Übungen wie Tauziehen herbeigeführt werden. In einem der gewissenhaft geführten Protokolle heißt es, daß der Sprecher der PLC (Partei letzte Chance) fordere, „die Landesliste solle durch Tauziehen ermittelt werden" 52 . Was aus der Politikerrede als Metapher bekannt ist - ,das Tauziehen um eine Angelegenheit' wird mithin verbuchstäblicht, die Abstraktion der Sprache durch körperliche Aktionen rückgängig gemacht. Auch die Wiener Aktion setzt in diesem Sinne auf ,Verkörperung', versucht die Formeln der politischen Rede, hier die aggressive Forderung der FPÖ „Ausländer raus", ,mit Leben', das heißt mit Tod zu füllen, sie veranschaulichend an Leibern zu vollziehen. Schlingensief hält in einem Interview fest: „Wir haben hier ein Filmdorf errichtet. Wir produzieren Bilder, die Jörg Haider und seine Parolen einfach einmal beim Wort nehmen. Wir haben diese Parolen jetzt als sinnlos entlarvt. Letztendlich hätten sie ja nur
49
Wehle betont, das Experiment sei der Wesenszug der Avantgarde; Winfried Wehle, Avantgarde: Ein historisch-systematisches Paradigma „moderner" Literatur und Kunst, in: ders./Rainer Warning Hg., Lyrik und Malerei der Avantgarde, München 1982, 9-40, 14.
50
Vgl. zur Definition .politischen Handelns' Pierre Bourdieu, Sozialer Raum und ,Klassen', in: ders., Sozialer Raum und .Klassen'. Leson sur la le?on. Zwei Vorlesungen, Frankfurt a.M. 1985, 7-46, 18f.; ders., Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches, Wien 1990, 104.
51
Christoph Schlingensief/Carl Hegemann, Chance 2000. Wähle Dich selbst, Köln 1998, 48.
52
Ebd., 75.
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einen Sinn, wenn sie auch verwirklicht werden. Jetzt werden sie verwirklicht; Europa sieht, was wäre wenn ,..". 53 Politik und ihre Konsequenzen werden in körperliche Prozesse, in Bewegungen überfuhrt; Bindeglied ist die Sprache, sind ihre konkretisierenden Redewendungen, die Spielanweisungen vorgeben. 54 Schlingensiefs Aktionen zeichnen sich vor allem dadurch aus, daß zwischen Kunst und Wirklichkeit nicht klar unterschieden werden kann. So berücksichtigt sein Projekt Chance 2000 das politische Procedere der Parteigründung ziemlich genau - es entstehen Manifeste, Protokolle und Wahlprogramme - , und formuliert wird ein durchaus ernstes Anliegen: die Repräsentation von Arbeitslosen, wie sie auch zum Gegenstand der zahlreichen sozialen Dramen nach 1995 geworden sind, bei Kathrin Röggla, Dea Loher, Albert Ostermaier, John von Düffel ebenso wie bei Moritz Rinke. In dem Parteiprogramm Schlingensiefs heißt es - und dieses Ethos entspricht der neuen sozialen Dramatik der neunziger Jahre ziemlich genau: „Die mit der wachsenden Arbeitslosigkeit sich vertiefenden Risse im sozialen Geftige sowie der mit den rasant wachsenden gesellschaftlichen Ausgrenzungen einhergehende Verlust an menschlicher Würde fordert zu politischen, gesellschaftlichen und alltagspraktischen Neuorientierungen heraus, zu denen die Parteien, die sich bisher an der politischen Gestaltung beteiligt haben, aus eigener Kraft keine Impulse geben können." 55
Ziel ist, auch „den arbeitslosen oder sonstwie ausgegrenzten Menschen wieder zum Menschenrecht der Würde zu verhelfen", dem ,ganzen Volk wieder die strukturelle Gewalt zurückzugeben, die ihm das Grundgesetz unverbrüchlich verliehen hatte". 56 Dieses Anliegen hat die Dignität sozialreformerischer Utopien und kann nicht als Komödie gelesen werden. Gleichwohl theatralisiert und ironisiert Schlingensief das politische System, die Parteigründung, beispielsweise durch die Verbuchstäblichung zum Wahlzirkus. Und sein Projekt fuhrt die repräsentative Demokratie, ja selbst die plebiszitäre Demokratie durch die Art der Partei (der Slogan lautet „Wähle dich selbst") ad absurdum. Denn politische Entscheidungen bedürfen der Bündelung von Alternativen und Interessen, lassen eine vollständige Pluralisierung der Optionen nicht zu. Schlingensief imitiert also Politik, um sie mit ihren eigenen Mitteln zu schlagen. Chance 2000 läßt auf diese Weise kenntlich werden, daß die Gesellschaft ganze Gruppen (wie die Arbeitslosen) aus ihren politischen und kulturellen Repräsentationssystemen aus53 54
Ebd. Zudem werden die beiden Systeme, Zirkus und Politik, unter dem Vorzeichen des Dilettantismus angenähert - das Unvermögen, das Versagen, das Unperfekte lanciert bei Schlingensief, ähnlich wie bei Jelinek der Kalauer, einen Angriff auf Erhabenheit, auf scheinbar unangreifbare Pathosformeln und fixierte Konzepte. Die Politiker (hier Schauspieler und Laien) sind keine guten Akrobaten - als solche treten sie auf - und keine guten Redner, wie auch die Zirkusinhaber keine glänzende Performance bieten. Schlingensief setzt den Dilettantismus konsequent als wirksame Invektive gegen den schönen Schein ein, wahrt gleichwohl die Unentscheidbarkeit von Ernst und Spiel.
55
Schlingensief/Hegemann, Chance 2000, 76f.
56
Ebd., 77.
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schließt, indem beispielsweise die Politik .schwer repräsentierbare' Interessen (wie die von Behinderten) ignoriert. Die Aktion Schlingensiefs nimmt Repräsentation beim Wort, indem das Experiment Minoritäten sichtbar macht, und hebt sie auf, indem jeder sich selbst wählen kann. Es findet eine Wahl statt, die im politischen Sinne keine ist, doch die Defizite des Politischen, den Ausschluß von .schwer repräsentierbaren' Interessen, markiert. Daß es Schlingensief auf Prozesse, nicht auf Ergebnisse ankommt, zeigt sich, wenn seine Partei, anders als die Manifeste der Schaubühne, die Etablierung eines politischen Ziels bewußt vermeidet. Es heißt im Klappentext des Bandes, der die Manifeste und Programme versammelt (alphabetisch geordnet, also enthierarchisiert): „Machen Sie mal was! Was ist egal. Hauptsache, Sie können es vor sich selbst vertreten. Natürlich wird es eine Pleite werden, wenn Sie selbst was machen. Aber eine Pleite, die von Herzen kommt, ist besser als eine Million, an der Scheiße hängt. [...] Freiheit ist, grundlos etwas zu tun."57 Es geht also um Aktionen - auch Breton propagiere einen „blinden Aktionismus", wie Enzensberger kritisiert um Aktionen, die diejenigen Normierungen, Homogenisierungen und Selektionen aufbrechen, die politische Ziele per se mit sich bringen; Schlingensief zitiert wiederholt das Bonmot Heiner Müllers, daß der Weg nicht zu Ende sei, wenn das Ziel explodiert ist. Schlingensief ist an Bewegung und an der Beschleunigung von Prozessen gelegen, wobei die Veränderung selbst zentraler ist als ihre inhaltliche Ausrichtung - das Schaubühnen-Programm hatte hingegen ganz auf Inhalte (auf Kosten der Form) gesetzt. Entsprechend durchziehen Termini der Beschleunigung und des Tempos Schlingensiefs Äußerungen, und zwar im Sinne von Selbstaufhebung, von Selbstüberschreitung. Ein anderer Ausdruck für diese Dynamisierung ist in Chance 2000 „Akausalität", ein Begriff von Alfred Edel, mit dem sich die 58
Absage an „diskursive Begründungen" verbindet. Anders als der neue Realismus, der programmatisch auf soziale Inhalte setzt, dynamisiert Schlingensief das soziale Engagement durch seine physisch ausgerichteten Aktionen jenseits des Theaterraums, die sich gleichwohl theatralischer Mittel bedienen. Was die Partei PLC fordert, ist, um mit Stephen Greenblatt zu sprechen, „selffashioning", Selbstdarstellung,59 wie sie vornehmlich das Theater ermöglicht und die hier im Sinne .politischer' Selbstbestimmung genutzt wird. Unter der Überschrift Selbstverantwortung heißt es: „PLC will das ganze Volk, insbesondere alle ausgegrenzten Minderheiten, ermutigen, sich selbst darzustellen, um wieder wer sein zu können. Statt der bisher auch parteipolitisch gepflogenen Ausgrenzung initiiert PLC die Kultivierung und Politisierung der Vielfalt. Jedem muß es vergönnt sein, die ihm gemäße Rolle zu spielen. Jeder ist die kleinste Einheit von Volk (1 Volk). Jeder hat Teil an selbstgestalteter Volksbelustigung: an Straßenfesten, Kamevalssitzungen, Vereinsaktivitäten und Musikveranstaltungen, welche häufig genug zumindest den ei-
57
Vgl. dazu den Klappentext, in: ebd.
58
Ebd., 97. Stephen Greenblatt, Renaissance Self-fashioning. From More to Shakespeare, Chicago 1980.
59
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genen körperlichen Einsatz fordern. PLC möchte helfen, das Bewußtsein des eigenen Körpers und seiner Bedürfnisse auf die Bewußtseinsebene des eigenen Selbst zu heben und für die Artikulationsmöglichkeiten des eigenen politischen Selbstbewußtseins zu sensibilisieren." 60
Der Körper wird zum Medium politischen Selbstbewußtseins erhoben, ähnlich wie Bertolt Brecht mit dem (veränderbaren) Habitus arbeitet, der soziale Dispositionen inkorporiert. 61 Das Theater als Köiperspiel, als Medium, das im Sinne von Joseph Beuys .soziale Plastiken' entstehen läßt,62 wird zum politischen Instrumentarium, das brisanterweise das Politische, das System 1 als Hort bündelnder und normalisierender Programme ebenso zu sprengen versucht wie die engen Grenzen autonomer Kunst.
III. Schluß Der neue Realismus will also Kunst und Wirklichkeit in Kontakt bringen, um die Isolation des Theaters aufzuheben und eine neue politische Theaterbewegung zu initiieren. Ab 1995 wird soziales Engagement zum gemeinsamen Nenner einer jungen deutschsprachigen Generation', die sich gegen die etablierten Autorinnen und Autoren sprachexperimenteller Dramen abgrenzt. Entwickelt wird ein stark inhaltlich orientiertes Programm, das neue Wirklichkeitsbereiche für das Theater erschließt - vor allem diejenigen einer globalisierten Wirtschaft - , jedoch auf die Institution Theater beschränkt bleibt, auch wenn die Autorinnen und Autoren vielfach Recherchen vor Ort, in Firmen, auf Arbeitsämtern etc., anstellen. Christoph Schlingensief hat ebenfalls ein soziales Anliegen, partizipiert an der auch theoretisch geführten Minoritätendebatte, interessiert sich für Außenseiter wie Behinderte, Asylanten und Arbeitslose, die am wirtschaftlichen Fortschritt und an kultureller Repräsentation nicht teilhaben. Doch der Aktionskünstler destruiert systematisch jedes inhaltliche Ziel - in ausdrücklicher Abgrenzung vom sozialen Engagement der Schaubühne - , dekonstruiert politische wie ästhetische Programme und dynamisiert auf diese Weise die Systeme, die ihre Aporien und Defizite selbst freilegen. Schlingensief verläßt das Theater, theatralisiert fremde Räume - Politik, Wirtschaft und Medien - und reintegriert schlecht repräsentierbare Interessen zumindest in das kulturelle Ausdruckssystem. Er setzt sich entsprechend von jedem ästhetischen Stil ab, der sich auf die Bühne beschränkt, und auch von jeder sozialen Programmatik, die durch homogenisierende Ziele die Aktivierung von Rezipienten verspielt und die hermetische Grenzziehung zwischen Kunst und Wirklichkeit nicht antastet.
60
Schlingensief/Hegemann, Chance 2000, 80.
61
Vgl. dazu den Beitrag von Ingrid Gilcher-Holtey in diesem Band. Vgl. ferner Ingo Scheller, Wir machen unsere Inszenierung selber (I). Szenische Interpretation von Dramentexten, Oldenburg 1993, u.a. 27. Er greift Brechts Habitus-Konzept auf und legt es seiner produktiven Dramendidaktik zugrunde.
62
Vgl. zum Begriff der ,sozialen Schmutzplastik' Schlingensief, Ausländer raus, 145.
HERIBERT TOMMEK
Das deutsche literarische Feld der Gegenwart, eine Welt für sich? Skizzen einer strukturellen Entwicklung, in das Beispiel der (westdeutschen) „Tristesse-Royale"Popliteraten mündend Der folgende Beitrag versucht, die jüngere Strukturentwicklung des deutschen literarischen Feldes zu skizzieren. Es wird zu zeigen sein, warum die politische Zäsur von 1989/90 für die spezifische literarische Evolution nicht für wesentlich gehalten wird, sondern vielmehr davon auszugehen ist, daß die für die literarische Entwicklung entscheidende Zäsur sich bereits in den siebziger Jahren vollzog. Die Untersuchung und Einordnung der westdeutschen sogenannten „Popliteraten" der neunziger Jahre rund um die „Tristesse Royale", in die der Beitrag übergeht, hat einen exemplarischen Charakter, um einen ersten Aufschluß über die Strukturen des deutschen literarischen Feldes der Gegenwart (d.h. seit den 1990er Jahren) zu erhalten. Entwicklungen und Parallelen der DDR- bzw. der ostdeutschen Literatur müssen in diesem Rahmen leider völlig unberücksichtigt bleiben.
Die Rahmenthese: Die für das literarische Feld entscheidenden sozialen Strukturänderungen liegen nicht im Jahr 1989, sondern in den siebziger Jahren (Bogdal) Die Hauptthesen, die Klaus Michael Bogdal in seinem Aufsatz Klimawechsel. Eine kleine Meteorologie der Gegenwartsliteratur1 formulierte, bilden den Ausgang und stecken den Rahmen der Überlegungen ab: Bogdal stellt eine eklatante Diskrepanz zwischen der historisch-politischen Bedeutung der deutschen Vereinigung und ihrer kulturellen Verarbeitung, insbesondere der literarischen, fest. Seine Ausgangsthese lautet, daß ohne die deutsche Vereinigung nahezu die gleichen Texte geschrieben worden wären, die wir heute zu lesen bekommen. Die Grundlage dafür liegt für ihn in dem fundamentalen Strukturwandel des sozialen Raums in Westdeutschland in den 1970er Jahren, der sich - mit Verzögerung und bestimmten Eigenheiten - auch in Ostdeutsch-
Klaus-Michael Bogdal, Klimawechsel. Eine kleine Meteorologie der Gegenwartsliteratur, in: Andreas Erb Hg., Baustelle Gegenwartsliteratur, Opladen 1998, 9-31.
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land vollzogen habe. Bogdal kann sich vor allem auf Michael Vester beziehen, der mit einem Forscherkollektiv den Strukturwandel der sozialen Milieus in Deutschland untersucht hatte.2 Die enormen lebensweltlichen Veränderungen zwischen 1960 und 1980 wurden in der Sozialraumforschung sowie bei Vester u.a. als „horizontale Differenzierung der postindustriellen Wissensgesellschaft" beschrieben.3 Gemeint ist „die enorme Zunahme der arbeitsteiligen Spezialisierung und damit des Bildungskapitals der qualifizierten Facharbeit und der neuen Technologien".4 Dieser radikale und dynamische Bedeutungszuwachs der technologischen und medialen Bereiche und der ihr zugehörigen „Kompetenzen", der mit Bildungsreformen, dem Wandel von Alltagskulturen und mit einer wachsenden Bedeutung von Lebensstilen einhergeht, habe das kulturelle Kapital nicht nur bei der akademischen Elite, sondern auf allen vertikalen Stufen der Arbeitswelt vermehrt, wodurch grundsätzlich die Bedeutung von Eigenverantwortung, Selbst- und Mitbestimmung im Beruf gestiegen sei.5 Die „Individualisierung" der gesellschaftlichen Kohäsionen verstehen Vester u.a. jedoch nicht als völlige Neuschaffung, sondern - mit Bourdieu6 - als Umstellung („reconversion"), als einen relativen Umbau der Mentalitäten und Milieus.7 Die Differenzierung bzw. Mobilität der Milieus erfolgte hauptsächlich auf der horizontalen Achse der Arbeitsteilung, die - was die Mentalitäten angeht - Vester u.a. zwischen den Polen „avantgardistisch" bzw. „eigenverantwortlich" und „autoritär" einordnen.8 Die „Öffnung des sozialen Raums"9 mit erweiterten Lebensmöglichkeiten in den sechziger Jahren und die „Kompetenzrevolution" in den siebziger Jahren, das heißt die Vermehrung von Lernanforderungen und die gestiegene Bedeutung kulturellen Kapitals spiegelte sich vor allem in Bewegungen auf der gesellschaftlichen Horizontalen in Richtung mehr „Eigenverantwortung" wider, weniger jedoch in der Vertikalen der sozialen Herrschaft. Die mit dem Strukturwandel (mit der verstärkten Dependenz zwischen Schultitel und besetzten Posten) korrespondierenden Umstellungen der Dispositionen dienten vor allem dem Erhalt der sozialen Stellung. Bourdieu hat diese neue Beziehung zwischen
2
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Michael Vester u.a., Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Zwischen Integration und Ausgrenzung, Frankfurt a.M. 2001. Vgl. ebd., 74-77. Ebd., 74. Allerdings halten Vester u.a. auch fest, daß die wissenschaftliche Intelligenz „nach wie vor dem ökonomischen Kapital untergeordnet" sei und die sozialen Spannungen zwischen Kapital und Arbeit wüchsen (ebd., 76). Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M. 1999, 227ff., 71 lf. Vester u.a., Soziale Milieus, 78. Ebd., Abb.7b, 49. Begriff nach Maurice Merleau-Ponty, vgl. ebd., 205f.
Das deutsche literarische Feld der Gegenwart, eine Welt für sich?
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Titel und Stelle als eine „Dialektik von Entwertung und Aufholjagd" beschrieben.10 Vester u.a. stellen jedoch in kleineren Milieus auch eine Ausnahme jener vertikaler Aufsteiger fest, die den Zusammenhang mit den Milieus ihrer Vergangenheit aufgaben und in andere Milieukulturen überwechselten.11 Hierbei handelt es sich vor allem um das hedonistische Milieu der jugendkulturellen Abgrenzung,12 jenes Milieu, in dem distinktive Lebensstile eine besondere Rolle spielen und in dem einige der hier noch zu untersuchenden Popliteraten zu verorten sind.
Literarische Autonomie und sozialer Raum: Plädoyer für die Untersuchung des Strukturwandels der literarischen Öffentlichkeit Wie kommt nun Bogdal dazu, den sozialstrukturellen Veränderungen so viel Bedeutung einzuräumen? Ist das literarische Feld nicht eine Welt für sich? Spricht nicht Bourdieu mit gutem Recht von seiner relativen Autonomie? Erinnert sei daran, daß die innerliterarische Logik und Dynamik für Bourdieu über das Homologiepostulat eben im Kern eine soziale, wenn auch eine spezifisch soziale ist (charakterisiert vor allem durch die Umkehrung der ökonomischen Logik).13 Zudem ist der Autonomisierungsprozeß untrennbar mit einem Prozeß der Legitimierung verbunden. Dieser scheint dialektischer Art: Die Legitimierung erfolgt einerseits durch gesellschaftliche Ausdifferenzierung und durch eine feldspezifische Selbstlegitimierung.14 Andererseits erfolgt die Legitimierung - wenn es um Fragen der Universalisierbarkeit geht - durch Rückbindung an eine gesellschaftliche Allgemeinheit, eben an eine breitere, potentiell allgemeine Öffentlichkeit.15 Die im historischen Prozeß sich entwickelnde, relative Autonomie der Literatur legitimiert sich qua literarischer Selbstlegitimierung insbesondere reflexiv-formaler Art. Andererseits legitimiert sie sich über ihre Universalisierbarkeit, die - zumindest in ihren historischen Anfängen - nicht ohne eine literarische Öffentlichkeit auskommt, 10 11 12 13
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Bourdieu, Die feinen Unterschiede, 227. Vester u.a., Soziale Milieus, 80; vgl. Bourdieu, Die feinen Unterschiede, 529. Vgl. Vester u.a., Soziale Milieus, 521f. Vgl. Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a.M. 1999,228-235. Im literarischen Feld erfolgt die Selbstlegitimierung durch eine genuin ästhetische Logik, die im Wesentlichen mit einer literarischen Moderne, d. h. mit formaler (Selbst-)Reflexivität und mit ihrer Internationalisierung zu tun hat. Vgl. hierzu z.B. die Arbeit von Pascale Casanova, La R6publique mondiale des lettres, Paris 1999. Joseph Jurt hat in seinem Aufsatz über Bourdieus Konzept des literarischen Feldes dessen Einbettung in eine Sozialwissenschaft mit universalem Anspruch betont (vgl. Joseph Jurt, Bourdieus Analyse des literarischen Feldes oder der Universalitätsanspruch des sozialwissenschaftlichen Ansatzes, in: IASL 22.1997/H.2, 152-180). Mit ihr korrespondiert Bourdieus Konzept eines kollektiven Intellektuellen sowie einer „intellektuellen Internationalen" in der Tradition der europäischen Aufklärung (vgl. das Postscriptum von Bourdieu, Die Regeln der Kunst, 523-535).
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wenn man Habermas' Untersuchung der strukturellen Genese folgt: Die literarische Öffentlichkeit ist zunächst, ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die Sphäre der Gemeinschaft räsonierender Privatleute, die sich durch die allgemeine Idee des Menschseins über Erfahrungen ihrer Subjektivität verständigen16: „Als Privatmann ist der Bürgerliche beides in einem: Eigentümer über Güter und Personen sowie Mensch unter Menschen, bourgeois und homme. [...] Sobald sich die Privatleute nicht nur qua Menschen Uber ihre Subjektivität verständigen, sondern qua Eigentümer die öffentliche Gewalt in ihrem gemeinsamen Interesse bestimmen möchten, dient die Humanität der literarischen Öffentlichkeit der Effektivität der politischen zur Vermittlung. Die entfaltete bürgerliche Öffentlichkeit beruht auf der fiktiven Identität der zum Publikum versammelten Privatleute in ihren beiden Rollen als Eigentümer und als Menschen schlechthin."11
Aus dem publikumsbezogenen literarischen Räsonnement versicherte sich also das Bürgertum universalisierbarer Formen der Subjektivität und des Menschseins. Sie bilden den Kern einer politisch-emanzipativen, kritischen Öffentlichkeit, die humanistische Werte und das allein von der Vernunft erkannte Naturrecht verhandelt und beansprucht. Publizität gilt - ausgehend von Kant - als „Prinzip der Vermittlung von Politik und Moral".18 Die Autonomisierung der Literatur schafft sich - wie jedes andere Feld - ihre eigene, spezifische Kommunikationslogik und „Öffentlichkeit": die der eingeschränkten Produktion und Rezeption im Gegensatz zur Massenproduktion und -rezeption. Sie bilden die beiden Subfelder in Bourdieus Schema des literarischen Feldes.19 Damit verbunden ist ein dialektisches Wechselspiel zwischen verschiedenen Legitimationssphären, die Bourdieu in Zur Soziologie der symbolischen Formen unterschieden hat: a) die „Legitimationssphäre mit Anspruch auf universelle Anerkennung" (die durch den Staat legitimierten Legitimationsinstanzen, woraus die Zugehörigkeit des literarischen Feldes zum Feld der Macht abzulesen ist), b) eine konkurrierende „Sphäre potentieller Legitimation" (z.B. Kritiker, literarische Gruppierungen etc.: die feldinternen Instanzen der Subfelder der eingeschränkten und der Massenproduktion), c) die in der Alltagskultur situierte „Sphäre willkürlicher Bevorzugungen in Beziehung zur Legitimität" der „nicht legitimierten Legitimationsinstanzen" (die segmentarische Legitimität, die hauptsächlich im Sozialraum der Lebensstile und massenmedialen Öffentlichkeiten angesiedelt ist).20
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Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied 1976, 74, 195: „Der bürgerliche Idealtypus sah vor, daß sich aus der wohlbegründeten Intimsphäre der publikumsbezogenen Subjektivität eine literarische Öffentlichkeit herausbildete". Ebd., 74, Hervorhebung i.O. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, 127-143. Vgl. das Schema in: Bourdieu, Die Regeln der Kunst, 203. Vgl. Pierre Bourdieu, Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt a.M. 1970, 109.
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Anhand der Frage nach der Entwicklung der hegemonialen Gewichtung dieser Legitimationssphären sowie ihrer Verhältnisse untereinander läßt sich meines Erachtens der Prozeß der relativen Autonomisierung des literarischen Feldes insbesondere nach 1945, das heißt konkret: der (Wieder-)Anschluß der deutschen Literatur an die internationale literarische Moderne näher bestimmen. Aufgrund der skizzierten Überlegungen plädiere ich also für eine nähere Untersuchung des dialektischen Verhältnisses zwischen der Autonomisierung des literarischen Feldes und der Entwicklung einer literarischen Öffentlichkeit. Die Autonomisierung des literarischen Feldes ist - so die These - zu unterscheiden von einer Professionalisierung, die - im Zuge der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung - ohne Rückbindung an den öffentlichen Interdiskurs des sozialen Raums erfolgen kann (d.i. das, was man den literarischen Betrieb nennt).21
Die Grundlagen der Gegenwartsliteratur: Sozialer Strukturwandel und Verlust der literarischen Öffentlichkeit Folgt man meinem Plädoyer im Anschluß an Habermas, Bourdieu und Bogdal, so sollte das Verstehen der Gegenwartsliteratur auf der Grundlage eines Auflösungsprozesses des Bildungsbürgertums und einer weitgehend verloren gegangenen oder „ausgehöhlten" (s.u.) literarischen Öffentlichkeit erfolgen. Dieser Auflösungsprozeß ist mit Habermas seit Mitte des 19. Jahrhunderts zu beobachten und hängt unter anderem zusammen mit der „Ankunft" des Bürgertums im Feld der Macht, mit dem Erstarken eines Massenmediums (zunächst des Zeitungswesens), schließlich mit einer zunehmenden Ökonomisierung aller Lebensbereiche, die sich mit Habermas als Wechsel „vom kulturräsonierenden zum kulturkonsumierenden Publikum" verstehen läßt.22 Was nun die jüngere deutsche Geschichte seit den siebziger Jahren angeht, so gab es nach Bogdal in der Nachkriegszeit bis in die frühen siebziger Jahre hinein ein relativ homogenes soziales Feld, in dessen Grenzen Literatur geschrieben, distribuiert und 21
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Die Professionalisierung hängt eng mit einer Profanisierung des Dichters als einzigartiger Schöpfer' zusammen. Ihr zugrunde liegt die Erfahrung und Erkenntnis, daß die Verteilung der (schöpferischen, charismatischen, auratischen etc.) literarischen Gabe, der ungleiche Zugang zur literarischen Legitimität, auch das historische Produkt von (im Kern) sozialen Konflikten und Ungleichheiten ist. Daß die allgemeine Rehabilitierung des Profanen, Unterlegenen, des Materiellen und Flüchtigen etc. in der Folge des „kritischen Moments" '68 zu einer sozialen Professionalisierung (Gründung einer Schriftstellervereinigung und einer Reform der Sozialversicherung für Autoren etc.) beitrug, betont Boris Gobille, Les mobilisations de l'avant-garde littdraire franfaise en mai 1968, in: Actes de la Recherche en Sciences Sociales 158.2005, 30-53 (vgl. auch seinen Beitrag wie auch den von Gis&le Sapiro in diesem Band). Habermas skizziert den sozialen Strukturwandel der Öffentlichkeit als „tendenzielle Verschränkung der öffentlichen Sphäre mit dem privaten Bereich" (§ 16), als „Polarisierung von Sozialund Intimsphäre" (§ 17) und schließlich als Wandel „vom kulturräsonierenden zum kulturkonsumierenden Publikum" (§ 19); vgl. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, 172-216.
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rezipiert wurde. Ein Zentrum bildete dabei das Zeitungsdreieck zwischen der Frankfurter Allgemeinen Zeiung, der Zeit und der Frankfurter Rundschau, wo so etwas wie eine kulturelle Hegemonie (im Sinne Gramscis) für die Bundesrepublik hergestellt und eine weitgehend funktionierende literarische Öffentlichkeit aufrechterhalten wurde.23 Kennzeichnend für den hegemonialen Status der Literatur war laut Bogdal, daß sie auch in jenen Schichten (z.B. bei Arbeitern) nicht in Frage gestellt wurde, in denen sie faktisch im Lebensalltag keine Rolle spielte. „Auch in diesen Schichten war es plausibel und konsensfähig, dass die Grundorientierungen über den engeren soziokulturellen Herkunftsbereich der Bildungselite hinaus universalisierbar und gesamtgesellschaftlich repräsentativ sind".24 Diese Restformen einer publikumsbezogenen literarischen (Gesamt-)Öffentlichkeit und eines hegemonialen literarischen Diskurses lassen sich in der BRD bis Mitte der 1970er Jahre beobachten. In dieser Zeit und daraufhin verändern sich die bildungsbürgerlichen Milieus und das literarische Produktions- sowie Rezeptionsverhalten.25 Die horizontale Auffächerung der kulturellen Lebensstile schlagen sich in einer horizontalen Vielfalt literarischer Produktions- und Rezeptionsweisen nieder. Literatur wird - so lautet die Hauptthese von Bogdal - seit den siebziger Jahren zunehmend „milieuförmig" geschrieben und rezipiert.26 Daraus ergeben sich neue Zwänge bzw. Anforderungen für die Schriftsteller: Sie schreiben nach bestimmten Symbolisierungen und ästhetischen Standards entsprechend ihres (milieu-förmigen) literarischen Wissens, Geschmacks und Jargons. Innerliterarische, der autonomen Logik des Feldes und seiner Tradition geschuldete, Innovationen oder Konfrontationen verlieren in einer solcherart .geöffneten' literarischen Kommunikationssituation allmählich an Wert. So zerfiel zunehmend eine hegemoniale literarische Öffentlichkeit, was in der Forschung als „langer Abschied von der Nachkriegsliteratur" beschrieben worden ist.27 An ihre Stelle treten milieuspezifische Öffentlichkeiten, Autoren und Werke, die sich - laut Bogdal - nun-
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27
Vgl. Bogdal, Klimawechsel, 11. Ebd. [Hervorhebungen i.O.]. Zwar hat sich „die Zahl der Buchleser seit der flächendeckenden Alphabetisierung durch die Volksschule im 19. Jahrhundert trotz medialer Konkurrenz nicht mehr dramatisch bewegt [...]. In den letzten fünfzig Jahren haben sich jedoch die Bildungsvoraussetzungen deutlich verbessert, ohne sich noch in Präferenzen für die .Schöne Literatur' niederzuschlagen" (ebd., 13). Reste der sozialen Basis der hegemonialen Kultur der ersten Nachkriegsjahrzehnte finden sich im konservativen sowie im modern-liberalen und alternativ-nonkonformistischen Bildungsbürgertum. Zwei Gruppen, die noch relativ hohe Bildungsvoraussetzungen für die Lektüre mitbringen, und wo die Literatur immerhin eine gewisse Rolle für den Lebensstil spielt, stellen das „hedonistische" (11%) und das „liberal-intellektuelle Milieu" (10%) dar (vgl. ebd., 13). Jochen Vogt, Langer Abschied von der Nachkriegsliteratur. Aus Anlaß der letzten westdeutschen und ersten gesamtdeutschen Literaturdebatte, in: Weimarer Beiträge 37.1991/H.3, 452-461 (vgl. auch: ders., Langer Abschied von der Nachkriegsliteratur? Ein Kommentar zum letzten westdeutschen Literaturstreit, in: ders., Erinnerung ist unsere Aufgabe. Über Literatur, Moral und Politik 1945-1990, Opladen 1991, 173-187).
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mehr über ihre diskursive Position und über ihren Lebensstil definieren. Zwar tritt weiterhin auch massenhafte, schichtenübergreifende Akzeptanz bestimmter kultureller Produkte auf - aus ihr entwickelt sich jedoch kein universalisierbares Kulturverständnis28: literarisches Räsonnement, kritische Auseinandersetzung im Sinne von Habermas findet nur noch rudimentär und in segmentalen sozialen Bereichen statt. Wenn ein Autor breiten Erfolg hat, so liegt dem weniger die anhaltende Rezeption einer Gesamtöffentlichkeit, als ein Erfolg zugrunde, der aus einem bestimmten Milieu stammt, mit seinem jeweiligen Lebensstil korrespondiert und zeitweilig auf andere, angrenzende Milieus übertritt. Man spricht dann von einem „Kultautor" und von Erfolgsbüchern.29 Angesichts dieser Erkenntnisse versuchte Bogdal nun 1998 die gesamtliterarische Situation anhand der Metapher verschiedener „Klimagänge" einer „Klimamaschine" im Gegensatz zu einem gesamtgesellschaftlichen, hegemonialen Klima zu charakterisieren: So bildet den „1. Klimagang" jene literarische Sphäre der im Gestus der Universalisierbarkeit schreibenden Autoren (Grass, Walser, Wolf, Braun etc.). Diese Autoren verbleiben letztlich in einem „Klimagang" und können (strukturell gesehen) seit den siebziger Jahren nur eine eingeschränkte Öffentlichkeit erreichen.30 Es handelt sich quasi um die (alten und allmählich aussterbenden) Vertreter der Nachkriegsliteratur (BRD) bzw. einer Literatur eines „utopisch-kritischen Sozialismus" (DDR),31 also einer kritischen und „engagierten" Literatur im Subfeld der eingeschränkten Produktion ohne gesamtgesellschaftliche literarische Öffentlichkeit. Deren unterschiedliche Entwicklungen in den letzten fünfzehn Jahren wären allerdings noch genauer zu bestimmen. Die Autoren, die sich im dritten32 „Klimagang" bewegen, haben ein starkes, reflexives Bewußtsein ihrer relativen Position im Bereich der möglichen ästhetisch-literarischen Positionen. Sie sind sich darüber im klaren, daß das Milieu, dem sie entstammen und der Lebensstil, dem sie in einer „Ethnographie des Alltags" (Iris Radisch) zuarbeiten, nicht mehr universalisierbar sind. Die Besonderheit dieses „Klimagangs" bestehe darin, „dass er potentiell sämtliche Milieus erreicht, jedoch nicht mehr im Sinne der kritisch-aufklärerischen Öffentlichkeit kulturell verbindet. [...] Aus sozialhistorischer Perspektive entsteht in diesem Gang die für die achtziger und neunziger Jahre zeittypi28 29 30
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Vgl. Bogdal, Klimawechsel, 12. Diese liegen mit 30-80.000 Käufern unterhalb der Bestsellerkategorie, vgl. ebd., 13. Vgl. Vogt, Langer Abschied, 459, wo vom „Einzelkämpfer Grass" und vom „zeitweiligefn] Verstummen von Christa Wolf und Christoph Hein" die Rede ist. Vgl. Jochen Vogt, Orientierungsverlust oder neue Offenheit? Deutsche Literatur in Ost und West vor und nach 1989, in: ders., Knapp vorbei. Zur Literatur des letzten Jahrhunderts, München 2004, 137-155, 142f. Der „zweite Klimagang" weist das Muster der Erregung öffentlicher Aufmerksamkeit durch Tabubrüche und „Enthüllungen" auf. „Das Ziel ist hier weder Aufklärung noch Kritik, sondern die Beschämung austauschbarer Einzelner oder Gruppen, die eben nicht als Repräsentanten konkreter sozialer Schichten oder Machteliten wahrgenommen bzw. identifiziert werden", Bogdal, Klimawechsel, 20.
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sehe Literatur: ein neuer Realismus in einer neuen Gründerzeit".33 Während sich eine bildungsbürgerliche literarische Öffentlichkeit wesentlich über Kanons und Gegenkanons, über die Auseinandersetzung um Traditionslinien und ihre Brüche sowie über konkurrierende Wertungskriterien definierte, stehen die hier produzierten und rezipierten Kultur- und Lebensformen nicht mehr für eine „Aufbewahrung" literarischer Werke über eine längere Dauer.34 In diesen „Klimagang" der ephemer produzierten Positionen und Öffentlichkeiten gehören zweifelsohne auch die Popliteraten der neunziger Jahre, wobei sie - nicht zuletzt über das Konzept des „Pop" - eine spezifische Variante einer potentiell (aber stets nur kurzweilig) mehrere Milieus erreichenden Literatur darstellen. Mit Vester und Bogdal sind produktive Ansätze gegeben, das literarische Feld und sein Verhältnis zum sozialen Raum im gesellschaftlichen Strukturwandel Deutschlands analytisch zu bestimmen. Wenn man Bogdal konsequent folgt, so bedeutet dies, daß Bourdieus Modell eines autonomen literarischen Subfeldes in dieser konsistenten Form für die deutschen Verhältnisse der letzten dreißig Jahre nicht mehr gegeben ist: Es wäre von einem Auflösungs- oder zumindest einem Wandlungsprozeß der verschiedenen Konsekrationsebenen sowie ihres Verhältnisses untereinander auszugehen. Dies betrifft insbesondere - mit dem „langen Abschied von der Nachkriegsliteratur", der auch einen Abschied einer literarischen (Gesamt-)Öffentlichkeit bedeutet - die legitimierten Legitimationsinstanzen (Universität, Akademien, offizielle Preise) sowie die konkurrierenden Legitimationsinstanzen (Kritiker35, literarische Gruppen etc.). Auch die feldinterne, autonome, das heißt selbstreflexive, ästhetisch-dominante Legitimation der Literatur verliert an Bedeutung. Schließlich ist daran zu erinnern, daß der biologische Generationswechsel längst stattgefunden hat.36 Es gibt also verschiedene Gründe dafür, Bourdieus Modell eines (autonomen) Subfeldes der eingeschränkten literarischen 33
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Ebd., 21-23, Zitat 23. Es folgen bei Bogdal die tendenziellen Beschreibungen eines vierten (Erzeugung von partiellen Genüssen) und fünften (Gewaltinszenierung) „Klimakanals" (ebd., 24f.). Vgl. Jochen Vogts Aufsatzsammlung: Erinnerung ist unsere Aufgabe. Über Literatur, Moral und Politik 1945-1990, Opladen 1991. Exemplarisch ist hier der Wechsel der führenden literarischen Sendung im Fernsehen: ReichRanickis Literarisches Quartett läßt sich als letzte Schwundstufe einer literarischen Öffentlichkeit verstehen. Die neue Literatursendung Lesen von Elke Heidenreich stellt dagegen ein Vertragsmodell zwischen dem Schriftsteller und dem Leser dar: Der Autor liefert die Literatur (vor allem Romane), aus denen sich der Leser ein angenehmes Erlebnis (Unterhaltung) schafft (vgl. Klaus-Michael Bogdal, Deutschland sucht den Super-Autor. Über die Chancen der Gegenwartsliteratur in der Mediengesellschaft, in: Clemens Kammler/Torsten Pflugmacher Hg., Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989, Bd.2: Zwischenbilanzen - Analysen Vermittlungsperspektiven, Heidelberg 2004, 85-96,92). Vgl. Peter Rühmkorfs 1987 geschriebenes, aber auf das Jahr 2000 vorgreifendes Gedicht Noch (zit. bei Jochen Vogt, Orientierungsverlust oder neue Offenheit?, 149). Parallel dazu ist auch die Generation der tonangebenden Kritiker, die die Gruppe 47 begleitet haben, verstorben oder hat sich weitgehend zurückgezogen: Hans Mayer, Marcel Reich-Ranicki, Walter Jens, Fritz J. Raddatz, Joachim Kaiser, Reinhard Baumgart etc. (vgl. ebd.).
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Produktion anhand der Entwicklung der jüngeren deutschen Gegenwartsliteratur zu überprüfen. Mein Ansatz, der am konkreten Material weiter zu überprüfen und zu modifizieren wäre, ist folgender: Ich gehe nach wie vor mit Bourdieu von einem autonomen Subfeld aus, das sich aber immer weniger als eine autonom-dynamische Realität, sondern vielmehr als eine historisch .festgefahrene', gleichsam .geronnene' gesellschaftliche Form einer Institution wie auch eines unbestimmten ideellen oder ästhetischen .Versprechens' zeigt. Mit Bogdal behaupte ich, daß dieses verfestigte und ästhetisch überformte autonome Subfeld - was die Gegenwartsliteratur angeht - im wesentlichen eine Leerstelle darstellt, wofür man historische und sozialstrukturelle Gründe angeben kann. Der Befund einer milieuförmigen Literatur scheint mir grundsätzlich richtig, insbesondere was den „ersten Klimagang" betrifft. Freilich, die institutionellen Konsekrationsformen existieren noch, jedoch lassen sich Verschiebungen feststellen: Eine hegemoniale Legitimitätssphäre mit Anspruch auf universelle Anerkennung (= Subfeld der autonomen literarischen Produktion und Rezeption) besteht zunehmend aus einer entleerten, historisch gewordenen Form, die zum Beispiel vom Kanon bzw. den Kanondebatten stellvertretend flankiert und gleichermaßen als vages Versprechen offengehalten wird. Die Sphäre potentieller Legitimation, in der konkurrierende Legitimationsinstanzen mit Anspruch auf Legitimität auftreten, die sich in Bourdieus Schema im Übergangsbereich zwischen dem Subfeld der eingeschränkten und der Massenproduktion befindet, hat ihren Einfluß zunehmend auf die Leerstelle der autonomen Produktion und Rezeption ausgeweitet. Die popkulturellen Phänomene der siebziger, achtziger und neunziger Jahre haben insbesondere die „Sphäre willkürlicher Bevorzugungen in Beziehung zur Legitimität", das ist die Sphäre der nicht legitimierten Legitimationsinstanzen oder der segmentarischen Legitimität, zunehmend „universalisiert". Programmatisch für diese Bewegung war Leslie Fiedlers Aufruf zur Überquerung der Grenze, zur Schließung des Grabens zwischen hoher und niedriger, zwischen ernster und unterhaltender Kultur bzw. Literatur im Pop37; ebenso die Bestimmung des Poptheoretikers Diedrich Diederichsen, daß die vermeintlich oberflächige und wirklichkeits-, insbesondere konsumaffirmative Haltung der Popkultur sich auch als kritischer „Geheimcode" lesen lasse, der aber zugleich „für alle zugänglich" sei.38 Die Zugangsmöglichkeiten zum literarischen Feld haben sich also nicht zuletzt durch diese „Doppelcodierung" sowohl für Eingeweihte als auch für ein Massenpublikum grundsätzlich erweitert, wie sich anhand der Popliteraten der „Tristesse Royale" zeigen läßt. Diese neuen Akteure kommen alle aus den so genannten „Neuen (Medien-)Berufen" und bewegen sich im literarischen Feld vor allem im 37
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Leslie Α. Fiedler, Überquert die Grenze, schließt den Graben! Über die Postmodeme, in: Wolfgang Welsch Hg., Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmodeme-Diskussion, Weinheim 1988, 57-74. Diedrich Diederichsen, Pop - deskriptiv, normativ, emphatisch, in: Marcel Hartges u.a. Hg., Pop, Technik, Poesie. Die nächste Generation, Reinbek 1999, 36-44, 39f.
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Habitus der „gleitenden" Distinktion, der (konstruierten) Naivität und der ironischen Distanz.
Das literarische Feld der Gegenwartsliteratur der BRD: Ein literaturgeschichtlicher Abriß Die Nachkriegsliteratur in Deutschland konnte den historischen Auflösungsprozeß einer Literatur als gesellschaftskritische Institution, die es vermag, eine allgemeine Öffentlichkeit herzustellen, nochmals auffangen oder zumindest abdämpfen. Dies gelang ihr aufgrund der kollektiv geteilten traumatischen Erfahrung der nationalsozialistischen Zeit, des Krieges und des Holocausts.39 Auf dieser Grundlage hatte die westdeutsche, „nonkonformistische" (Vogt) Nachkriegsliteratur, das ist insbesondere die Gruppe 47, eine moralische und kritische Funktion für die Entwicklung des Staates und der Gesellschaft der Bundesrepublik.40 Einen Höhe- und Wendepunkt der Herstellung einer kritischen Gesamtöffentlichkeit läßt sich dann in der 68er-Bewegung sehen, in der die Auseinandersetzung mit der faschistischen Geschichte und die Frage nach der Legitimierung der bestehenden Gesellschaftsordnung sowie ihrer herrschenden Wahrnehmungs- und Wertungsweisen grundlegend diskutiert wurden. So durchzog zum Beispiel die grundsätzliche Infragestellung autoritärer Verhältnisse quasi alle sozialen Bereiche. Hier fand - so wäre die These - nochmals und bislang letztmalig so etwas wie ein publikums- das heißt „öffentlichkeitsbezogenes Räsonnement der Privatleute" (Habermas) statt. Zugleich wurde von Seiten der Studentenbewegung die im kapitalistischen System .etablierte' Literatur (so vor allem der Gruppe 47) als unzureichende Form der gesellschaftlichen Kritik abgelehnt und das „Ende der Literatur" proklamiert.41 Die westdeutsche Literatur nach '68 läßt sich daher als Anfang vom Ende der Nachkriegsliteratur verstehen, die seit den fünfziger Jahren den spektakulären wie den alltäglichen Faschismus in der Gesellschaft maßgeblich thematisiert hatte. In dieser Zeit verliert Literatur endgültig das Monopol des moralisierenden Protests.42 Heinrich Boll, die Gegenfigur zu Konrad Adenauer (antiautoritär - autoritär), verkörpert in dieser Hinsicht den letzten universalen und
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42
Vgl. Vogt, Langer Abschied, 456. Vgl. ebd. Vgl. dazu Karl Markus Michel, Ein Kranz für die Literatur. Fünf Variationen über eine These, in Kursbuch 1968/H.15, 169-186 und Hans Magnus Enzensberger, Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend, in: ebd., 187-197; vgl. auch Jochen Vogt, Gestörte Beziehung. Berührungen und Berührungsängste zwischen Literatur und Studentenbewegung, in: ders., Erinnerung ist unsere Aufgabe, 71-87; sowie: Ingrid Gilcher-Holtey, Was kann Literatur und wozu schreiben? Das Ende der Gruppe 47, in: Berliner Journal für Soziologie 14.2004, 207-232. Vgl. Vogt, Langer Abschied, 456.
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intervenierenden Intellektuellen in Westdeutschland.43 Die Vorabveröffentlichung des Romans Die verlorene Ehre der Katharina Blum in Fortsetzungen im Spiegel 1974 läßt sich als ein letztes Ereignis einer literarisch-kritischen Gesamtöffentlichkeit in Deutschland begreifen. 44 Nicht nur von außerliterarischer, politischer, sondern auch von innerliterarischer Seite gerät die „nonkonformistische" Nachkriegsliteratur in die Kritik. Denn '68 gilt auch als eine Zeit, in der sich die deutschsprachige Pop-Literatur durchsetzt 45 die mit Rolf Dieter Brinkmann dezidiert gegen jede Form engagierter und .hoher' Literatur auftrat. In den siebziger und achtziger Jahren setzt sich in Deutschland die an der amerikanisch-britischen underground- und beai-Bewegungen orientierte Popkultur als Absetzung gegen die 68er Protest- und Diskussionskultur, als „Gegengegenkultur" durch (Diedrich Diederichsen).46 Der Protest in der Popbewegung (wie auch im Punk etc.) zielte dabei auf eine Steigerung und zugleich Überwindung der orthodoxen Protestkultur. Er richtete sich inhaltlich und habituell gegen eine „Betroffenheitskultur", gegen eine „Gesinnungsliteratur", gegen eine „Literatur des Tiefsinns", schließlich gegen eine moralische Orientierung überhaupt.47 In formaler Hinsicht opponierte der popkulturelle Protest gegen die „Last" des Kanons, gegen die Zwänge der etablierten, „hohen" Formensprache48 oder gegen die herkömmlichen Grenzen der Gattungen und Künste.
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1972 wurde ihm der Nobelpreis verliehen und er wurde vom Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion Karl Carstens als Propagandist der Gewalt geschmäht. 1977 wurde er von Karl Carstens, nunmehr in der Funktion des Bundestagspräsidenten, geehrt und von Bild wie auch FAZ als Komplize des Terrors beschimpft (vgl. Vogt, ebd., 455). Vgl. Bogdal, Klimawechsel, 19. Drei Publikationen waren dafür wegweisend: Rolf Dieter Brinkmanns Beziehungsroman Keiner weiß mehr, Hubert Fichtes Szenewerk Die Palette sowie Peter O. Chotjewitz' Die Insel (vgl. Kathrin Ackermann/Stefan Greif, Pop im Literaturbetrieb. Von den sechziger Jahren bis heute, in: Ludwig Arnold Hg., Popliteratur (text + kritik Sonderheft), München 2003, 55-68, 55). Süddeutsche Zeitung, 24.2.2001; vgl. dazu Frank, Nachfahren der „Gegengegenkultur". Die Geburt der Tristesse Royale aus dem Geiste der achtziger Jahre, in: Arnold Hg., Popliteratur, 218-233. Vgl. ebd., 219f. In der Lyrik opponierte ζ. B. Brinkmann gegen das „Gewichtige der Form" etwa bei Celan (vgl. Jörgen Schäfer, Mit dem Vorhandenen etwas anderes als das Intendierte machen. Rolf Dieter Brinkmanns poetologische Überlegungen zur Pop-Literatur, in: Arnold Hg., Popliteratur, 69-80). Vgl. auch Brinkmanns Vorwort zu seinem Gedichtband Die Piloten (Köln 1968, 6): „Da sitzen sie [die „hohen", etablierten Lyriker, Anm. d. Verf.], irgendwo unsichtbar, und haben mal irgendwas von sich gegeben, jetzt halten sie die Kulturellen Wörter besetzt, anstatt herumzugehen und sich vieles einmal anzusehen, lebende Tote, die natürlich schwerer zu beseitigen sind als die sogenannten großen, alten Vorbilder in den Regalen moderner Antiquariate. [...] Formale Probleme haben mich bisher nie so stark interessiert, wie das noch immer die Konvention ist. Sie können von mir aus auch ruhig weiterhin den berufsmäßigen Ästheten und Dichterprofis, die ihre persönlichen Skrupel angesichts der Materialfülle in feinziseliertem Hokuspokus sublimieren, als Beschäftigungsgegenstand bleiben. Die Toten bewundern die Toten! Gibt es etwas, das gespenstischer wäre als dieser deutsche Kulturbetrieb mit dem fortwährenden Ruf nach Stil etc.?"
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Institutionell schließlich wandte er sich gegen das Elitäre der „hohen Literatur" und deren Abgrenzung von der „unterhaltenden Literatur". Die „Gegengegenkultur" äußerte sich u. a. in Zerstörungsphantasien performativen Charakters. Gegen die zu zerstörenden „hohen" Stile wurden „populäre" Stile und Einflüsse aufgewertet, so vor allem die der Popmusik mit ihren Lyrics, aber auch anderer Populargenres (Comic, Science fiction, pornographische Literatur, Reportagen, Werbung etc.). Grundlegend war dabei der Wechsel des Gegenstands der Kunst, die Archivierung und Stilisierung bzw. das „Recyclen" des alltäglich „abfallenden" Materials - ein Produktionsprinzip, das besonders Rainald Goetz und später auch von Stuckrad-Barre verfolgen. 49 Die Popliteratur unterlief also die traditionelle Logik der literarischen Ablösung, 50 indem sie die literarische Tradition radikal entwertete oder bewußt ignorierte und an ihre Stelle einen erweiterten Literaturbegriff setzte, der sich grundsätzlich für alle von der Gesellschaft produzierten Materialien und medialen Formen öffnet. Mit dieser Mischung aus „Zerstörung", Erweiterung und „Ersatz" legitimer kultureller Ausdrucksformen verweigerte sich die Popkultur der siebziger und achtziger Jahre in gewisser Weise der Kommunikation mit der Vorgängergeneration, die Kritik und Aufklärung institutionalisiert hatten. 51 Dabei erfolgte die Verwendung von popkulturellen Zeichen der Etabliertheit, der Empathie und Abgeklärtheit („No-future-generation") wesentlich aus einer Position des Noch-nicht-etabliert-Seins homolog zu den strukturellen Veränderungen, das heißt zur Öffnung des sozialen Raums, die Vester u.a. aufgezeigt haben. Aus der simplen Bejahung des Bestehenden in den achtziger Jahren entstand dann eine permanente Pose des Als-ob, die auch noch - in verschiedenen Formen der Ironie - für die Popkulturen der 1990er Jahre charakteristisch sein sollte.52 49
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Vgl. Brinkmanns Vorwort zu Piloten, ebd.: „Ich bin keineswegs der gängigen Ansicht, daß das Gedicht heute nur noch ein Abfallprodukt sein kann, wenn es auch meiner Ansicht nach nur das an Material aufnehmen kann, was wirklich alltäglich abfällt." Das Konzept des „Recyclings" von alltäglich produziertem kulturellem „Abfall" der Gesellschaft wird vor allem von Rainald Goetz verfolgt (vgl. Rainald Goetz, Abfall für alle. Roman eines Jahres, Frankfurt a.M. 1999). Vgl. Eckhard Schumacher, „Das Populäre. Was heißt denn das?" Rainald Goetz' „Abfall für alle", in: Amold Hg., Popliteratur, 158-171. Zu Stuckrad-Barre in dieser Hinsicht siehe: Markus Tillmann/Jan Forth, Der Pop-Literat als „Pappstar". Selbstbeschreibungen und Selbstinszenierungen bei Benjamin von Stuckrad-Barre, in: Ralph Köhnen Hg., Selbstpoetik 1800-2000. Ich-Identität als literarisches Zeichenrecycling, Frankfurt a.M. 2001, 271-283; zur „Archivierung" als Produktionsprinzip der neuen Popliteraten siehe die grundlegende Arbeit von Moritz Baßler, Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten, München 2002. Vgl. Bourdieu, Die Regeln der Kunst: Zwei Modi des Altems (235-249), Epoche machen (249257), Die Logik des Wandels (257-259). Vgl. Frank, Nachfahren der „Gegengegenkultur", 219. Den „Punk" der achtziger Jahre versteht Frank vornehmlich als Ironie, als ironische Überaffirmation: „Ironie, die für die Populärkultur der neunziger Jahre so zentrale Grundhaltung, steht hier als Subtext der gegen die Werte der 68er gerichteten Attacken" (ebd., 220). Dahinter darf man eine strukturelle Schließung des kulturellen und darüber hinaus auch des sozialen Raums annehmen, schließlich eine „Abbremsung" der kapitalistischen Dynamik bzw. der auf
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Gegenüber dem Vorwurf der bloß konsumistischen Affirmation des Gegebenen, der häufig den alten, aber besonders auch den neuen Popliteraten gemacht wird, gilt es mit Frank zu betonen, daß die Affirmation des Gegebenen, der scheinbar unpolitische Pragmatismus im Kern noch immer eine politische Abgrenzung von der orthodoxen Protestkultur bedeutet: „68" ist unterschwellig - und umso mehr nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus - noch immer eine negative diskursive Bezugsgröße einer sich als „postmodern" oder „zweitmodern" (Ulrich Beck) verstehenden Kultur.
Literarische Leerstelle, deutsch-deutsche Debatten und der „Wille" zum Neuanfang Von 1989 bis 1995 wird das Vakuum, die Leerstelle einer hegemonialen Literatur, vollends deutlich. In dieser Zeitspanne wird diese vor allem durch Debatten gefüllt, an deren Anfang der deutsch-deutsche Literaturstreit steht, der sich an der Person und am Werk Christa Wolfs entfachte.53 Die harsche Kritik von Frank Schirrmacher {FAT) und Ulrich Greiner {Zeit), die in Christa Wolf und in der Erzählung Was bleibt den mißlungenen Versuch einer Staatsdichterin der DDR und Propagandistin des sozialistischen Systems sahen, sich nachträglich als Opfer des Regimes zu stilisieren, spitzte sich auf den Hauptvorwurf einer „Gesinnungsästhetik" (Greiner) zu. Dieser weitete sich in der Folge erst auf Wolfs bis dahin geschätztes Gesamtwerk, dann auf die gesamte DDRLiteratur und schließlich auf weite Bereiche der gesellschaftskritischen westdeutschen Literatur in der Folge der Gruppe 47 aus. Aus dem konkreten Konfliktfall resultierte also eine umfassende Kritik der „linken", kritischen Intellektuellen einer Aufklärungstradition, insbesondere seit 1968.54 Schirrmacher, der die Debatte angestoßen hatte,55
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einen gesamtgesellschaftlichen Ausgleich gerichteten Teilhabe am Profit. Die historische Entwicklung der Wirtschafts- und Erwerbsstruktur läßt sich mit Vester u.a. folgendermaßen zusammenfassen: In den fünfziger Jahren erfolgte der Übergang zum fordistischen Modell, in den sechziger die Öffnung des sozialen Raums, in den siebziger die Bildungsreformen und in den achtziger Jahren die sozialen Schließungen mit dem Resultat einer „geprellten Generation" (Vester u.a., Soziale Milieus, 390-407). Vgl. Markus Joch, Prophet und Priesterin. Die Logik des Angriffs auf Christa Wolf, in: Ute Wölfel Hg., Literarisches Feld DDR. Bedingungen und Formen literarischer Produktion in der DDR, Würzburg 2005, 223-232; vgl. auch Jochs Beitrag in diesem Band. Vgl. Lothar Bluhm, Standortbestimmungen. Anmerkungen zu den Literaturstreits der 1990er Jahre in Deutschland - eine kulturwissenschaftliche Skizze, in: Clemens Kammler/Torsten Pflugmacher Hg., Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989, 64, 67. Frank Schirrmacher (geb. 1959) studierte in Heidelberg und Cambridge. Er ist promoviert. Seit 1994 ist er Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Er gilt als .Macher' und , Alleinverantwortlicher' für viele Neuerungen in der FAZ, angefangen bei den Berliner Seiten über den Schwenk vom politischen zum wissenschaftlichen Feuilleton im Hauptblatt bis zur Kreierung des Feuilletons der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Von ihm stammt u.a. das Buch Das
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schrieb der westdeutschen Nachkriegsliteratur eine staatskonforme Funktion zu und warf ihr einen historischen Immobilismus vor. Er sah mit 1989 den „Einbruch der Geschichte" gekommen, der die Literatur prägen werde. Ihm entging jedoch dabei, daß die Position „Literatur als stellvertretendes Gewissen der Gesellschaft", die er als zu überwindendes Feindbild darstellte, bereits mit der Nachkriegsliteratur in den siebziger und achtziger Jahren im wesentlichen im Untergang begriffen war und 1989 als solche gar nicht mehr gegeben war.56 Hinter der Verabschiedung der kritisch-utopischen, aber systemtreuen DDR-Literatur, für die exemplarisch Christa Wolf steht, findet sich nach Vogt das Bestreben, der Möglichkeit vorzubeugen, daß einer gesamtdeutschen Literatur nach der vermeintlichen zweiten „Stunde Null" eine ähnliche Rolle zufallen könnte wie sie die kritisch-systemtreue Literatur in der DDR und die westdeutschen Nonkonformisten der Nachkriegsliteratur unter sehr verschiedenen Bedingungen, aber beide während des Ausfalls oder der relativen Schwäche von politischer Opposition und kritischer Öffentlichkeit, gespielt haben.57 Auf der anderen Seite läßt sich bei Schirrmacher, dessen diskursive Position sich ebenfalls exemplarisch verstehen läßt, der Wille zu einer „neuen deutschen Literatur" erkennen, analog zum politischen Willen eines .neuen', .normalen' Deutschlands, das sich nicht mehr über das Jahr '45, sondern über '89 definiere.58 Dieser „Wille zum Neuanfang" läßt sich erstmals etwa an Schirrmachers Forderung nach dem neuen großen Berlin-Roman (schon am 10. Oktober 1989 geäußert) festmachen,59 dann an der oben schon angeführten Attacke, daß die Nachkriegsliteratur in der Zeit stehen geblieben sei und nun „die Geschichte" in die Literatur „hereinbreche". Später, 1999, wird Schirrmacher die FAZ-Beilage Berliner Seiten ins Leben rufen. Diese Berliner Seiten stellten gleichsam ein institutionalisiertes und Anspruch auf Legitimität stellendes Forum für die neuen Popliteraten dar. Sie präsentierten sich als neue, ästhetizistisch-mondäne Form eines literarischen Feuilletonismus für die neue Hauptstadt Berlin im Gestus des literarischen Salons aus dem 19. Jahrhundert sowie der zwanziger Jahre und ihres „Kaffeehausjournalismus". Mit der Mischung vielfältiger
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Methusalem-Komplott (München 2004). Zu seiner Position und zur Logik seiner Attacke gegen Wolf s. Joch, Prophet und Priesterin. Vgl. Vogt, Langer Abschied, 457, 459. Teile der DDR-Literatur wollten und konnten dagegen diese Funktion der Kritik und des moralischen Gewissens der Gesellschaft aufgrund der fehlenden freien Öffentlichkeit bis zum Zusammenbruch des Staats aufrechterhalten. Vgl. ebd., 458. Vgl. dazu die „Walser-Bubis-Debatte" (dokumentiert von Frank Schirrmacher, Frankfurt am Main 1999) und den Konflikt zwischen Günter Grass und Martin Walser Uber die kulturelle Identität des vereinigten Deutschlands. Frank Schirrmacher, Idyllen in der Wüste oder Das Versagen vor der Metropole. Überlebenstechniken der jungen deutschen Literatur am Ende der achtziger Jahre, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.10.1989 (wiederabgedruckt in: Andrea Köhler/Rainer Moritz Hg., Maulhelden und Königskinder. Zur Debatte über die deutschsprachige Gegenwartsliteratur, Leipzig 1998,15-27); vgl. Vogt, Langer Abschied, 458.
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journalistischer Formen (Reportagen, Montagen, Essays, Prominentenbeiträgen, Tagebüchern, Stadt-Feuilletons, Klatsch und Tratsch, Glossen, Chroniken und Rubriken wie etwa dem Personenregister auf der letzen Seite) wendeten sie sich demonstrativ gegen das politische, kritisch-universal argumentierende Feuilleton der alten BRD. 60 Diese journalistische Innovation war erfolgreich und wurde in der Folge auch von der Süddeutschen Zeitung und der Zeit nachgeahmt, dann jedoch - und dies ist symptomatisch - bereits im Juni 2000, mit dem Ende der euphorischen New Economy-Zeit, eingestellt.61 Schließlich wird der diskursive „Wille zur Absetzung" der alten und zur „Plazierung" einer neuen Literatur an jenem Spiegel-Titelbild aus dem Jahr 1999 sinnfällig, das unter der Überschrift „Die Enkel von Grass & Co." verschiedene „neue Jungautoren" mit einer Blechtrommel zeigt (von denen allerdings nur noch Thomas Brussig heute eine Rolle spielt).62 Daß man im gleichen Jahr Günter Grass in Stockholm den Literatur-Nobelpreis verlieh, hat eine ganz eigene Pointe, die deutlich zeigt, daß die internationale, oberste Legitimationsinstanz des Nobelpreises in einem anderen Zeitrhythmus verläuft und - im Vergleich zum schneller gewordenen Zeitrhythmus des nationalen literarischen Feldes - verspätet einen Dichter und sein Werk ehrte, die auf der Ebene der potentiellen Legitimation, das heißt auf der Ebene der konkurrierenden Legitimationsinstanzen mit Anspruch auf Legitimität (hier vor allem sowohl die wissenschaftliche als auch die feuilletonistische Literaturkritik) schon in die Geschichte verabschiedet worden waren. Die Nobelpreisverleihung an Grass hat in dieser Hinsicht gewissermaßen nochmals die strukturelle Leerstelle gefüllt und die historisch überlebte oder zumindest in Auflösung begriffene Institution einer hegemonialen Literatur bzw. eines autonomen literarischen Subfeldes in Deutschland international konsekriert. In den letzten Jahren gab es immer wieder erfolgreiche Versuche, die Leerstelle für eine begrenzte Zeit zu besetzen. Einer der auffälligsten Versuche, die „neue deutsche Literatur" zu proklamieren, stand im Zusammenhang mit dem Auftreten der so genannten neuen Popliteraten. Deren Eintritt in die Lücke des literarischen Feldes läßt sich auf 1995 datieren, das Jahr, in dem Christian Krachts Roman Faserland erschien, an dem der Beginn der zweiten popliterarischen Bewegung in Deutschland festgemacht wird.
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Dieser ,neue' journalistische Schreibstil ahmte übrigens das Feuilleton der taz nach, das Mitte der achtziger Jahre bis Mitte der neunziger Jahre in dieser Hinsicht einzigartig und kreativ war. Benjamin von Stuckrad-Barre, der später für die Berliner Seiten schrieb, dürfte zu dieser Übernahme des Schreibstils auch beigetragen haben. 1994 war er Praktikant beim Hamburger Lokal-Teil der taz, für die er noch bis 1998 schrieb. In gewisser Weise setzt nun das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung die Stilrichtung der Berliner Seiten fort. Neben Brussig sind abgebildet: Karen Duwe, Jenny Erpenbeck, Benjamin Lebert, Thomas Lehr und Elke Naters.
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Das popkulturelle Quintett Die erfolgreiche Durchsetzung der Position der deutschen Popliteratur in den sechziger Jahren ist vor allem mit dem Lyriker Rolf Dieter Brinkmann und der sich um ihn gruppierenden Kölner Schule verbunden, deren Werke beim Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen.63 Von diesem Verlag nimmt dann auch die zweite popliterarische Generation rund um Kracht und Stuckrad-Barre ihren Ausgang. Sie ist zu unterscheiden von den Vertretern der so genannten „Suhrkamp-Popliteratur": Thomas Meinecke, Andreas Neumeister und Rainald Goetz, die wiederum inhaltlich und formal in einer größeren Nähe zur ersten Generation um Brinkmann stehen.64. Die neuen Popliteraten präsentierten sich 1999, vier Jahre nach Faserland, als eine Gruppe, als so genanntes „popkulturelles Quintett". Der Umstand, daß nun einmal wieder Dichter demonstrativ als eine Gruppe auftraten, was es in Westdeutschland quasi seit der Gruppe 47 und in Ostdeutschland seit den Dichtern vom Prenzlauer Berg nicht mehr gegeben hatte, war für die feuilletonistische Literaturkritik ein willkommener und für die diskursive Einordnung im Raum der literarischen Produkte ein sehr förderlicher performativer Akt. Die fünf Autoren zeigten ihren ausgesprochenen Sinn für die medial vermittelte Sichtbarmachung einer neuen, distinktiven Position, als sie gemeinsam mit dem Band Tristesse Royale auftraten, der sich als stilisiertes Manifest der neuen Popliteratur präsentierte. Bei den fünf Literaten handelt es sich um Joachim Bessing (den Herausgeber des Bandes), Christian Kracht, Eckhart Nickel, Alexander von Schönburg 63
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Brinkmann wurde vom Lektor und Autor Dieter Wellershoff entdeckt und publizierte bis Ende der sechziger Jahre beim Verlag Kiepenheuer & Witsch, wo auch ζ. B. Nicolas Born und Günter Herburger publizierten. Die Kölner Schule ist auch als stilbildender Ausgangspunkt für die so genannte Neue Subjektivität der siebziger Jahre und, in ihrer Öffnung für das Alltägliche und Autobiographische, bereits ab Mitte der sechziger Jahre für eine spätere kritische Dokumentarliteratur eines Rolf Hochhuth, Heinar Kipphardt und Günter Wallraff bedeutsam (vgl. Thomas Jung, Vom Pop international zur Tristesse Royal [sie]. Die Popliteratur, der Kommerz und die postmoderne Beliebigkeit, in: ders. Hg., Alles nur Pop? Anmerkungen zur populären und Pop-Literatur seit 1990, Frankfurt a.M. 2002, 29-53, Anm. 20, 36; vgl. auch ebd., 32-34, und Kathrin Ackermann/Stefan Greif, Pop im Literaturbetrieb. Von den sechziger Jahren bis heute, in: Arnold Hg., Popliteratur, 55-68, 60, sowie Carsten Gansei/Andreas Neumeister, Pop bleibt subversiv. Ein Gespräch, ebd., 183-196, 185). Meinecke, Neumeister und Goetz sind in den fünfziger Jahren geboren, sie leben in Bayern und sind akademisch gebildet (vgl. Charis Goer, Cross the Border - Face the Gap. Ästhetik der Grenzerfahrung bei Thomas Meinecke und Andreas Neumeister, in: Arnold Hg., Popliteratur, 172-182, 173, und Baßler, Der deutsche Pop-Roman, 143). Als Autoren des Suhrkamp-Verlages repräsentieren sie eine legitimierte Subversion bzw. eine „arrivierte Häresie" innerhalb des literarischen Feldes. Textproduktion und -strukturen sowie Autorverständnis sind bei ihnen durch die enge Verbindung zur (Rock-, Pop- oder Techno-)Musik und die ihr eigenen Verfahrensweisen gekennzeichnet (sampeln, recyclen, cut-ups, Autor als Diskjockey bzw. „Text-Jockey"; vgl. Johannes Ullmaier, Cut-Up. Über ein Gegenrinnsal unterhalb des Popstroms, in: Arnold Hg., Popliteratur, 133-148). Damit einher geht ihre Ablehnung traditioneller narrativer Figuren und Verfahren, wie man sie bei den neuen Popliteraten, so bei Bessing oder Kracht, beobachten kann.
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und Benjamin von Stuckrad-Barre. Im folgenden konzentriere ich mich auf Kracht und auf von Stuckrad-Barre mit einem Seitenblick auf von Schönburg, da sich aus ihnen wie ich meine - für die 1990er Jahre paradigmatische soziale und literarische Typen herausarbeiten lassen. Diese Akteure traten und treten zeitweilig im Inneren oder zumindest in der Übergangszone des journalistischen Feldes hin zum literarischen Feld auf (literarische Sachbücher, Ratgeber, Reiseliteratur, Kolumnen, Reportagen etc.). Christian Kracht, geboren 1966 in Gstaad in der Schweiz, stammt aus einer sehr reichen Familie. Sein Vater, der Industrielle Christian Kracht senior, war lange Generalbevollmächtigter beim Axel Springer Verlag.65 Kracht besuchte mehrere (Elite-)Internate, unter anderem das internationale Internat Schloß Salem am Bodensee. Er betrachtet sich nicht als Schweizer, sondern als Kosmopolit. Er wuchs in den USA, in Kanada und Frankreich auf. Auch in Deutschland lebte er zeitweilig, wo er als Journalist für die Berliner Boulevardzeitung BZ, für das lifestyle-Magazin Tempo und für den Spiegel (zeitweilig auch als Korrespondent in Indien) tätig war. Mit von Stuckrad-Barre ließ er sich einst für eine Werbebroschüre eines Herrenmode-Ausstatters ablichten. Auch trat er einmal in der Harald-Schmidt-Show auf, wodurch er einem größeren Fernsehpublikum bekannt wurde. Bekannt war er für provokative Äußerungen zum Zeitgeschehen, jedoch unterscheidet er sich von anderen Akteuren (etwa von von Stuckrad-Barre) durch Strategien der Exklusivität und der ,Nicht-Greifbarkeit': So zog er sich zunehmend aus der Medienöffentlichkeit zurück und gibt heutzutage nur selten Interviews. Kracht lebte dann längere Zeit in Bangkok, wie es heißt, im Gebäude der ehemaligen Botschaft Jugoslawiens. Mal heißt es, er lebe nun in Zürich und in Kathmandu, mal, er sei nach Berlin umgezogen und arbeite an einem neuen Roman, der angeblich in einer ehemaligen Kolonie Deutschlands in Afrika spielen soll. Mit seinem Roman Faserland (1995), der in mehrere Sprachen übersetzt wurde, gilt Kracht als Begründer der neuen popliterarischen Bewegung in Deutschland. Diese Stellung unterstrich er 1999 als Herausgeber einer Anthologie verschiedener popliterarischer Texte unter dem Titel Mesopotamia. Ein Avant-Pop-Reader. Seit Herbst 2004 gibt er beim Axel-Springer-Verlag die literarische Zeitschrift Der Freund heraus, die sich ostentativ als internationalisiertes l'art pour l'art-Werk präsentiert (mit Redakti65
Der Vater Kracht interessiert hier im Zusammenhang der (paradigmatischen) Auseinandersetzung Axel Springer vs. Rudi Dutschke (vgl. Hans Mayer, Die unerwünschte Literatur. Deutsche Schriftsteller und Bücher. 1968-1985, Berlin 1989, 15-31: Springer und Dutschke). Über Christian Kracht senior finden sich (im Internet) keine Informationen. Sein Sohn Christian widmet seinem Vater allerdings auf seiner Homepage unter der Rubrik: „Die schöne, melancholische Welt meines Vaters" Bilder von seinem paradiesischem Domizil auf Mustique, einer Insel der Grenadinen im Privatbesitz von einer shareholder-company, auf der Luxusvillen angeboten werden. Dazu schrieb Kracht junior: „Seit vielen Jahren schickt mir mein Vater Fotos von Gärten, Ausblicken, Blumen. Auf der Rückseite der Bilder steht oft nur ein einziger Satz, dem sanfte Traurigkeit innewohnt: die leise Kunstfertigkeit dieser Fotografien dient mir als Erinnerung, dass wir alle einmal sterben müssen." (www.christiankracht.com/mainsite.htm, Rubrik: „Haus und Garten"; Stand: Oktober 2005)
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onssitz in einem Hotel in Kathmandu). Vorweg auf acht Folgen beschränkt und ohne Werbung, handelt es sich also um ein reines Prestigeprojekt des Verlages. Signifikant ist, daß sich hier ein l'art pour Ζ'art-Popprodukt der distributiven Möglichkeiten eines paradigmatisch gegen '68 stehenden Großverlages bedient und so heute praktisch in jedem größeren Zeitschriftengeschäft - zumindest in Berlin - sieht- und greifbar ist. Hier gibt Kracht den befreundeten neuen deutschen, aber auch ausländischen Popliteraten die Möglichkeit, ihre Texte zu publizieren. In dieser Hinsicht übernimmt Der Freund eine Teilfunktion der Berliner Seiten. Christian Krachts soziale Herkunft liegt also in einem kosmopolitischen, globalisierten Besitzbürgertum. Er läßt sich gewissermaßen als ein .Händler des Internationalen' beschreiben. Es handelt sich meines Erachtens um jene Art kosmopolitischer Erben, die sich auf dem internationalen Markt der Ideen, der symbolischen ,1m- und Exporte' selbstbewußt bewegen und von dieser internationalen Zirkulation der Ideen (hier: Formen der literarischen Popkultur) im Gewand einer Universalisierung (hier: .universale Formen einer postmodernen Kultur') hinsichtlich ihrer Stellung im nationalen Feld (hier: Krachts Stellung im deutschsprachigen literarischen Feld) profitieren.66 Benjamin von Stuckrad-Barre wurde als vierter Sohn eines protestantischen Pfarrers 1975 in Bremen geboren. Schon ein Jahr vor dem Abitur begann er, als freier Autor zu schreiben. Es folgten diverse Praktika (taz, NDR) und der kurze Versuch eines Studiums der Germanistik in Hamburg. Danach arbeitete er als Redakteur und Produktmanager für Musikzeitschriften. 1997 zog er nach Köln um, arbeitete zunächst in der Redaktion der ARD-Sendung Privatfernsehen, bis er schließlich Co-Autor für die tägliche Comedyshow von Harald Schmidt wurde - jene Show, die von lilies als maßgeblich und symptomatisch für die „Generation Golf bezeichnet wurde. Während dieser Zeit schrieb er den Roman Soloalbum, der 1998 erschien und später (2003) verfilmt in die Kinos kam. Mit diesem Roman begann eine Reihe öffentlicher Lesungen. Diese performativen Lesereisen, die von Stuckrad-Barre im folgenden Jahr mit seiner Erzählband Livealbum in Form einer „Deutschlandtournee" fortsetzte, bestehen aus einer Mischung zwischen herkömmlicher Lesung, Stand-Up-Comedy und Musikelementen. Kennzeichnend für seine eigene Lese-Performanz ist, daß sie den Akt der (Selbst-Inszenierung selbst dekonstruiert. Zwischendurch, von 1999 bis 2000, war er Redakteur der Berliner Seiten der FAZ. Ende 2001 erhielt von Stuckrad-Barre sogar für drei Monate den Moderationsposten einer Literatursendung auf dem Musiksender MTV. Es
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Die Romane von Kracht (Faserland und 1979) sind in mehr als zehn Sprachen übersetzt. Kracht wird - mit anderen - in den verschiedenen internationalen Goethe-Instituten wie auch DAADLektoraten gerne als ein Repräsentant der „neuen deutschen Literatur" gehandelt. Sein Roman Faserland eignet sich dazu besonders, da er in gewisser Weise die deutsche Tradition des Bildungsromans, die zur Entwicklung der .Weltliteratur' beitrug, aufnimmt und in eine .postmoderne' Zeit transformiert (s.u.). Sein Roman 1979 (Köln 2001) wird gerne im Kontext des „clash of civilizations" (Samuel P. Huntington), des Aufeinanderprallens eines dekadenten Kapitalismus und eines religiösen Fundamentalismus, gelesen.
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folgten mehrere Projekte neben dem regelmäßigen Kolumnenschreiben (u. a. Weltwoche): eine Klassik-CD (ßvS-B trifft Johannes Brahms), Hörbücher (Deutsches Theater, Poesiealbum Udo Lindenberg u. a.), ein Dokumentarfilm (Ich war hier) etc. Schließlich wurde seine Bulimie und Drogensucht ebenso wie die Versuche, diese zu bewältigen, in der breiten Medienöffentlichkeit bekannt und ausgetragen. Von seinem Erfolg und seiner tiefen Krise handelt der Porträtfilm Ruhm und Rausch (von Herlinde Koelbl, WDR 2004). Ich verstehe Benjamin von Stuckrad-Barre typologisch und von seiner sozialen Herkunft her in der Nachfolge des Bildungsbürgers. Das norddeutsche, protestantische Pfarrhaus stellte bekanntlich einen der wichtigsten sozialen Herkunftsorte der deutschen Intellektuellen bzw. Dichter dar. Dieses angehäufte, traditionelle Bildungskapital hat von Stuckrad-Barre in eine multiple Autorschaft transformiert, die er in den verschiedenen kulturellen Produktionsfeldern bzw. Medien mit ihren gleitenden Legitimationsgraden ausübt. Er agiert quasi als , Handlungsreisender' oder ,PR-Arbeiter' in eigener Sache, der seine Live-Auftritte auf der Bühne und im Fernsehen für mediale Rückkopplungseffekte nutzt. Das Bildungskapital zeigt sich bei ihm als enttraditionalisiert, das heißt in einer transformierten Form vielfältiger, durch die verschiedenen kulturellen Legitimationssphären .gleitender' Dispositionen und diskursiver Positionsnahmen. Ich schlage also (vorläufig) vor, diesen kulturellen Akteur mit der soziologischen Kategorie einer .Enttraditionalisierung' zu charakterisieren, die jedoch hier in aktiver, offensiv-aggressiver und (selbst-)reflexiver Form erfolgt. Im Gegensatz zu Kracht gründet sich von Stuckrad-Barres Habitus der ,Nicht-Greifbarkeit' - wie noch zu zeigen sein wird - auf einer permanenten, performativen und im Kern mühsamen Arbeit am Diskurs. Bei dem 1969 in Somalia geborenen Alexander von Schönburg handelt es sich um den jüngeren Bruder der Fürstin Gloria von Thum und Taxis. Den von Schönburgs gehörte bis ins 18. Jahrhundert die Region um Chemnitz. Die Enteignung 1945 bedeutete den Abstieg vom kleinen, aber unabhängigen Herrscherhaus. Von Schönburg wuchs daher - laut Selbstbeschreibung - in eher „bescheidenen" Verhältnissen auf. Jedoch blieb sein Leben unter aristokratischem Einfluß.67 Von Schönburg studierte in London und schrieb für verschiedene renommierte Zeitungen vor allem in Kolumnen über Fragen des exklusiven lifestyles und der .besseren Lebensführung' (z.B. stammt von ihm ein Ratgeber Uber die Vorzüge des Nichtrauchens). Schließlich schrieb er wie von Stuckrad-Barre und lilies für Schirrmachers Berliner Seiten der FAZ. Von Schönburg verkörpert also einen (kultur-)aristokratischen Typ. Es wird sich zeigen, daß er seinen - angeblichen oder tatsächlichen - sozialen und finanziellen Abstieg zur kulturellen, .inneren' Nobilitierung umwertet und (erfolgreich) in der Öffentlichkeit die Position des .wahren, inneren Aristokratismus' vertritt: einen Aristokratismus der 67
So heiratete er Irina, Prinzessin von Hessen, die Großnichte der englischen Queen. Zur Hochzeit war die spanische Königin zu Gast und der Papst schickte ein Glück wunschfax.
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Haltung, des Stils, der inneren Werte, der Spiritualität und Romantik als Versicherung gegen die .äußere' Gefahr des sozialen Abstiegs. Alle drei Akteure sind zunächst als Literaten oder Journalisten einzuordnen, da sie vor allem aus dem journalistischen Feld bzw. aus dem Feld der Massenmedien und der so genannten „Neuen Berufe" stammen und von hier aus - zeitweilig, in unterschiedlicher Weise und im unterschiedlichen Maße - ins literarische Feld .eintreten'. Wie kommt es aber, daß (entfernte) Erben des Besitz- und Bildungsbürgertums sowie des Adels unter dem Namen „popkulturelles Quintett" zusammenfanden? Welche gemeinsamen Kennzeichen und welche Unterschiede lassen sich erkennen? Daß sie als Gruppe und als einzelne Autoren den Schritt in das Subfeld der eingeschränkten literarischen Produktion tatsächlich vollziehen konnten, führe ich - wie dargelegt - erstens auf das strukturelle, personelle und inhaltliche Vakuum und zweitens auf den (kultur-politischen) ,Willen' zurück, dem ,neuen' Deutschland auch zu einer neuen, .unbelasteten' Literatur zu verhelfen. Was nun den Habitus der Literaten selbst angeht, so sehe ich neben ihrem sicheren Sinn für mediale Präsenz und Distinktion - Stildispositionen einer halb inszenierten und halb realen Naivität. Bourdieu hatte in den Regeln der Kunst diesen Stil, diese Möglichkeit des Eintrittes in ein komplex entwickeltes Feld, das normalerweise die Ignoranz seiner Geschichte, das heißt der feldspezifischen Logik des ästhetischen Alterns und der spezifischen Abfolge ausschließt, anhand des Phänomens des Malers „Zöllner Rousseau" und seiner paradigmatischen Komplementärposition im Feld, der Position Marcel Duchamps verdeutlicht.68 Die popkulturelle Ästhetik betreibt nun meines Erachtens eine vergleichbare Inszenierung, wobei sie sich weitgehend von der objektivierenden Kritik konsekrierender Legitimationsinstanzen (Universitäten, Akademien, professionelle Literaturkritik etc.) emanzipiert hat. Bei den Popliteraten läßt sich - so die These - eine Überlagerung des „naiven" („Zöllner Rousseau") wie auch des „radikal reflexiven" (Duchamp) Habitus feststellen. Ihre Stil-Dispositionen sind zunächst gekennzeichnet durch eine selektive
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Der „Zöllner Rousseau" wurde - mit seiner gänzlich feldfremden Biographie und seiner unbewußt die Geschichte und die feinen Unterschiede der Formensprache und Wertungen des Feldes ignorierenden Malerei - zur legitimen differentiellen Position der „natürlichen Kunst", der „art brut" als äußerste Form der „l'art pour l'art" einzig und allein vom Feld selbst gemacht. Die Faszination dieser Position einer „natürlichen Kunst" für die feldinternen Legitimationsinstanzen bestand darin, daß sie alle Beziehungen zum Feld bzw. die notwendigen Dispositionen der Kunstfertigkeit verdeckt, verneint oder vergessen macht. Die komplementäre Gegenposition Marcel Duchamps zu dieser „naiven Position" verdankt sich ebenfalls der Logik des Feldes, jedoch einem reflexiven Umgang mit ihr. Duchamp vertritt erstmals die Kunst, sich als Künstler zu inszenieren, indem die Interpretationsmöglichkeiten des „Kunstwerks" antizipiert und zugleich vereitelt werden. Er spielt wissentlich und gewollt mit der Ambiguität und Polysemie des Werkes, das allein durch den magischen Konsekrationsakt des Feldes zu einem „einzigartigen" Kunstwerk wird. Kurz: Die „Schöpfung des ungeschöpften Schöpfers" durch das Feld selbst, die im Falle des „Zöllners Rousseau" einen Höhepunkt erreichte, wird von Duchamp offen gelegt und zugleich antizipiert. Vgl. Bourdieu, Die Regeln der Kunst, 384-395.
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Ignoranz der traditionellen doxa, der .Hohen Literatur', wie sie auch schon für die Popliteratur Ende der sechziger Jahre programmatisch war. Dazu gehören die Ablehnung sprachlicher und literarischer Emphase und eine geradezu empathische Charakterisierung nach Oberflächen, Auflistungen und flexiblen Normalisierungen, wie noch zu zeigen sein wird. Hinzu tritt die demonstrative Ablehnung einer Erkenntnisaufgabe und emanzipatorischen Ausrichtung der Literatur, was - wie angedeutet - als bewußt-unbewußt ablehnender Affekt gegen die kritisch-moralische Literatur der Gruppe 47 und der politisierten Literatur in der Folge von '68 verstanden werden kann. Der Zutritt zum literarischen Feld über die Haltung der inszenierten Naivität,69 die im Kern eine halb inszenierte, halb reale und unkontrollierte Ignoranz der Feldgeschichte und ihrer internen Logik, der literarischen Tradition und ihrer Brüche darstellt, kennzeichnet die Popliteraten in ihrer primären Herkunft aus dem journalistischen Feld bzw. dem Feld der neuen (Massen-)Medien. In der Verschiebung der Machtverhältnisse zwischen den verschiedenen Legitimationssphären (hier: autonomes Subfeld vs. Feld der Massenproduktion bzw. massenmediales Feld) sehe ich den Hauptunterschied zu den von Bourdieu beschriebenen Fällen eines Rousseau und Duchamp. So sind einige Popliteraten dem naiven Produzenten, etwa dem Romane und Erzählungen schreibenden Amateur vergleichbar, dessen Position weit mehr von journalistisch-ökonomischem als von genuin kulturellem Kapital geprägt ist. Andererseits ist diese Naivität inszeniert, da sie einen treffsicheren Sinn für den (zumindest kurzweiligen) Eintritt in das literarische Feld aufweisen. Einerseits wird die doxa der .Hohen Literatur' durch Anleihen aus der anglo-amerikanischen Popliteratur70 sowie durch Koppelung mit anderen Medien wie vor allem der Popmusik, des Films und des Internets unterlaufen. Andererseits übernehmen die neuen Popliteraten konventionelle Partikel, narrative und motivische Anleihen aus dem (Oberstufen-)Kanon der (deutschen) klassischen Moderne bürgerlicher Prosa (so vor allem von Thomas Mann, Herman Hesse, Max Frisch und Thomas Bernhard).
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Vgl. hierzu: Tanja Nause, Inszenierung von Naivität. Tendenzen und Ausprägungen einer Erzählstrategie der Nachwendeliteratur, Leipzig 2002. Vgl. Mathias Mertens, Robbery, assault, and battery. Christian Kracht, Benjamin von StuckradBarre und ihre mutmaßlichen Vorbilder Bret Easton Ellis und Nick Hornby, in: Arnold Hg., Popliteratur, 201-217.
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Krachts Faserland und Stuckrad-Barres Soloalbum: „Gegengegenkultur" und Traditionalismus Zunächst sei auf Christian Krachts Roman Faserland71 eingegangen, an dem - wie bereits erwähnt - der Beginn der neuen deutschen Popliteratur festgemacht wird. Dirk Frank hat diesen Roman auf den Begriff der „Flucht vor der Eindeutigkeit" gebracht.72 Das Handlungsgerüst - eine Reise des Protagonisten von Norddeutschland gen Süden bis schließlich nach Zürich als vermeintliche Idylle, wo er erst vergeblich das Grab von Thomas Mann sucht und sich dann auf den Zürichsee hinausrudern läßt - signalisiert einerseits die Tradition des Bildungsromans. Die Reise durch einen kalten, beziehungsund kommunikationslosen ,postmodernen' Raum namens Deutschland erweist sich als eine zum Scheitern verurteilte Suche nach Identität.73 So steht das klare erzählerische Telos im Gegensatz zu einer sich nur schemenhaft abzeichnenden Hauptfigur, die keinerlei geistige Entwicklung (im Sinne des Bildungsromans) durchläuft. Auffällig ist die Mischung aus Aggressivität gegen seine soziale Umwelt (darunter eine ausgeprägte Homophobie), Unentschlossenheit und Lethargie auf der einen Seite, andererseits eine Sehnsucht nach einem ,Aufgehobensein' in sinnhaften Momenten, in einfachen, lebensfernen Lebensgemeinschaften, die sich besonders an Kindheitserinnerungen, Textzeilen aus (Pop-, Rock-)Songs und Film-Figuren festmachen. Ein zentrales Movens der Reise durch das als fremd empfundene „Vaterland" („Faserland" konnotiert engl, „fatherland", aber auch ein „zerfasertes Land", im Sinne von „künstlich" und „zerrissen")74 ist der Ennui des Helden: eine Haltung, die in Tristesse Royale von allen fünf Popliteraten geteilt wird, allerdings mit jeweils unterschiedlicher Ausrichtung. Der Ennui des Anti-Helden in Faserland zitiert die literarisch tradierte Haltung des großbürgerlich-aristokratischen Dandys, des Rentiers, der sich in Müßiggang und Weltekel ergeht. Neben anderen Vorbildern wie Baudelaire oder Oscar Wilde lassen Kracht wie auch von Schönburg in Tristesse Royale mehr oder weniger deutlich Züge des jungen Thomas Mann erkennen, wie sie sich in seinen frühen Erzählungen75 und in den Bekenntnissen eines Unpolitischen niederschlagen. Allen, den fiktiven, 71 72 73
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Christian Kracht, Faserland, Köln 19951; zit. n. München 2004 5 . Vgl. Frank, Nachfahren der „Gegengegenkultur", 224ff. Vgl. Fabian Lettow, Der postmoderne Dandy - die Figur Christian Kracht zwischen ästhetischer Selbststilisierung und aufklärerischem Sendungsbewusstsein, in: Ralph Köhnen Hg., Selbstpoetik 1800-2000, 271-305. Vgl. Kracht in einem Interview, Berliner Zeitung, 19.7.1995 („Die legendärste Party aller Zeiten"). So spielt ζ. B. Krachts Erzählung Der Gesang des Zauberers (erschienen in der von ihm herausgegebenen Anthologie Mesopotamia) recht eindeutig auf Thomas Manns Erzählung Mario und der Zauberer an. Die Grundkonstellation von Tod in Venedig - Verreisen, Festsitzen an einem verfänglichen, Tod bringenden Ort, die Erotik des langsamen Zerfalls von Ordnung und Identität etc. - wird von den Popliteraten immer wieder aufgenommen und variiert; vgl. z.B. Eckhart Nickels Kurzgeschichte Die Wahrheit über Lello, in: Christian Kracht Hg., Mesopotamia. Ein Avant-Pop-Reader, München 2004, 241-258.
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inszenierten wie auch den realen Haltungen der Schriftsteller, liegt eine kulturelle, privilegierte Distinktion qua Verneinung materieller und gesellschaftlicher Zwänge zugrunde, die im Falle Krachts jedoch auf einer tatsächlichen ökonomischen Unabhängigkeit beruht.76 Krachts Haltung des großbürgerlichen Ennui unterscheidet sich von der wertkonservativen des aristokratischen, wenn auch verarmten von Schönburg dadurch, daß sie vor allem von einer .Ortslosigkeit', das heißt ,Nicht-Greifbarkeit' geprägt ist. So ist auch der Antiheld in Faserland nirgends wirklich zuhause, nicht .greifbar', und seine Haltung des ,Über-den-Dingen-Stehens' leitet sich von seiner kosmopolitischen Ungebundenheit und libertinären Geisteshaltung her. Daraus wird sich dann bei Kracht die einerseits bewußt inszenierte, provokative kolonialistische Haltung und Ästhetik entwickeln, die andererseits Kracht auch tatsächlich leben kann. Im deutschen Faserland richten sich Aggression und kosmopolitisch- bzw. kolonialbesitzbürgerlicher Ennui im Kern gegen jeden Vertreter einer Gegenkultur. Exemplarisch dafür ist jene Umkehrung des Faschismus-Vorwurf der 68er-Generation gegen ihre Eltern zur rein rhetorischen, provokativen Wendung gegen political correctness: So fühlt sich die Hauptfigur in Faserland umgeben von „SPD-Nazis".77 Deutlich ist hier die provokative Abgrenzung von den Vertretern des Andersseins, die lediglich als Wiederholung ihrer Protest-Eltern wahrgenommen werden. So wird die Frontstellung der achtziger Jahre (Pop, Punk und New Wave vs. orthodoxe Protestkultur) auf die neunziger appliziert. Jedoch kann das Abgrenzungsbegehren wegen der Ausdifferenzierung der subkulturellen Zeichenpraxis seit den achtziger Jahren nicht wirklich befriedigt werden. Die Distinktion strebt daher eine auf Dauer gestellte Verweigerung der Lesbarkeit des Lebensstils an, wie auch die seiner Negationen.78 Hierin läßt sich mit Frank ein Bewegungsgesetz der Erzählung ausmachen: Der Held zieht damit das .Verschwinden' einem wie auch immer gearteten Dagegen- oder Dafürsein vor, wie die Schlußszene, das Hinausrudern auf den Zürichsee als Endpunkt der Identitätssuche, verbildlicht und wie es sich dann ganz deutlich im folgenden Roman 1979 im Motiv des , Verschwindens', der (Selbst-),Auflösung', zeigt. Wenn sich Krachts Faserland als .Flucht vor der Eindeutigkeit' deuten läßt, so hat Frank Stuckrad-Barres Pop-Polemiken auf die Formel gebracht: „Auf Augenhöhe mit dem Diskurs des Andersseins".79 Soloalbum80 hat - wie so häufig in der Popliteratur ein bilanzierendes, Ich-zentriertes Thema und besteht letztlich aus einem einzigen inneren Monolog des von seiner Freundin verlassenen Protagonisten: einem typischen Antihelden der Popliteratur, der - wie einst sein Autor - als freier Journalist in einem Musikverlag arbeitet. Er ist ein Produkt und Teil der Musik- und Medienbranche, von 76
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Von Schönburg wird später mit der relativen Verarmung des Aristokraten kokettieren; siehe den „Sachbuch-Bestseller": Die Kunst des stilvollen Verarmens, Berlin 2005. Siehe Kracht, Faserland, 53, und Frank, Nachfahren der „Gegengegenkultur", 225. So Frank, Nachfahren der „Gegengegenkultur", 225f. Vgl. ebd., 226-228. Zit. n. der Taschenbuchausgabe des Goldmann Verlags, o. O., 2002.
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der er sich zugleich distanziert. Entfremdung und Zynismus kennzeichnen seine Beziehung zur Arbeit ebenso wie sein allgemeines Verhältnis zur Gesellschaft. Anders als Faserland stellt sich Soloalbum jedoch nicht in die (wie auch immer verfremdete) Tradition eines Entwicklungsromans. Es gibt kein erzählerisches Telos einer Selbstfmdung (oder -verirrung). Das zynische Verhältnis des Ich-Erzählers zur Umwelt unterliegt keinem erkennbaren Entwicklungsmuster. Der Roman endet nicht etwa mit einem Wiedersehen der Ex-Freundin oder mit einem neuen Lebensinhalt, sondern mit einer kurzzeitigen idealen (Männer-)Gemeinschaft im geteilten Glückserlebnis während eines Rockkonzerts, dessen Reproduzierbarkeit innerhalb einer allumfassenden Kulturindustrie noch im flüchtigen Erlebnis selbst reflektiert wird.81 Die narrative Großstruktur imitiert die Strukturprinzipien der Popmusik- und Medienwelt, worin Stuckrad-Barre nicht zuletzt dem von ihm verehrten englischen Schriftsteller Nick Hornby folgt, der versuchte, einen Roman nach Art einer Musik-CD zu erzählen.82 Einen für die neue Popliteratur allgemein und für Soloalbum besonders charakteristischen Narrationstyp hat Rolf Parr auf der Grundlage des „Normalismus"-Konzepts (Jürgen Link) herausgearbeitet:83 Bei der konsequent distanzierten, im Präsens und selbstbilanzierend-biographisch verfaßten Erzählhaltung fällt die Häufigkeit von Listen, Aufzählungen, Rankings und quasi-statistischer Darstellungsformen auf. Mit ihnen kommen laut Parr Bandbreiten von Positionen zwischen einer mittleren Normalzone und solchen „oberer" bzw. „unterer" Abweichungen narrativ zur Darstellung, wie sie aus den Infografiken der Illustrierten und des Fernsehens bekannt sind.84 Im Gegensatz zur traditionellen Funktion der Literatur eines auf gelungene Individualisierung abzie81
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Vgl. Stuckrad-Barre, Soloalbum, 241-243, und Joachim Bessing Hg., Tristesse Royale. Das popkulturelle Quintett mit Joachim Bessing, Christian Kracht, Eckhart Nickel, Alexander von Schönburg und Benjamin von Stuckrad-Barre, Berlin 1999 (zit. n. München 2002 2 ); „Der Rock handelt ja vor allem von der Reproduzierbarkeit des glücklichen Moments" - (Stuckrad-Barre, Soloalbum, 146). Entsprechend ist Soloalbum in eine „A"- und eine „B"-Seite eingeteilt, die jeweiligen Kapitelüberschriften bilden Songtitel der Britpop-Gruppe Oasis und die Seitenangaben sind mit den Piktogrammen für .Vorwärts-, und .Rückwärtsspulen' versehen. Aus der Popmusik stammen ebenfalls die Metaphern für zwischenmenschliche Beziehungen: eine „Band" steht in Soloalbum für eine Beziehung - für deren Auflösung steht das „Soloalbum" oder Soloprojekt, das in den meisten Fällen weit unter das musikalische Ergebnis der „Band", der .ursprünglichen Gemeinschaft', zurückfällt. So bildet die Klage über die Trennung von der Freundin ein Leitmotiv im musikalischen Sinne der Wiederholung und Variation. Rolf Parr, Literatur als literarisches (Medien-)Leben. Biographisches Erzählen in der neuen deutschen Pop-Literatur, in: Clemens Kammler/Torsten Pflugmacher Hg., Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989, 183-200. Zu diesem modernen, „normalistischen" Narrationstyp siehe: Ute Gerhard u.a. Hg., (Nicht) normale Fahrten. Faszinationen eines modernen Narrationstyps (Diskursivitäten, Bd.6), Heidelberg 2003. Vgl. hierzu: Ute Gerhard/Jürgen Link/Ernst Schulte-Holtey Hg., Infografiken, Medien, Normalisierung. Zur Kartografie politisch-sozialer Landschaften (Diskursivitäten, Bd.l), Heidelberg 2001.
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lenden Bildungs- und Sozialisationsprogramms, dessen Ziel eine Form der Identitätsfindung war, bietet die narrative Struktur der Popliteratur und insbesondere von Soloalbum (Identitäts-)„Angebot[e] innerhalb des Rahmens eines übergreifenden Generationskonstrukts erzählter Matrizen, Tabellen und Rankinglisten mit Spektren von möglichen Positionen für Subjekte".85 Das Aufzeigen von Spektren mit wechselnd differenten, aber stets aufeinander bezogenen Positionen bildet also eine narrative Matrix, durch die sich die Generierung von .Generationseffekten' der Popliteratur, die zeitweilig mehrere Milieus übergreifen, erklären läßt. Bei Stuckrad-Barre ist diese Funktion von Pop - die Konstruktion und das Angebot einer differentiellen Matrix und darin spielerisch eingenommener Positionen, die identifikatorische Aus- und Re-Differenzierungen ermöglichen - deutlicher als bei anderen als zentrales Generierungsprinzip seiner multimedialen Produktion zu erkennen. Ihm geht es im Unterschied zu Kracht nicht darum, einen archimedischen Punkt außerhalb der Welt der allgemein verbreiteten Lebensstile zu beziehen. Stattdessen sind seine Beobachtungen, Einordnungen und Wertungen in den verschiedenen lebensweltlichen Milieus und Medien auf permanenter Augenhöhe mit den Diskursen des .Andersseins'. Von Stuckrad-Barre perfektioniert in dieser Hinsicht die auf Abgrenzung von der sich abgrenzenden Welt zielende popliterarische Methode. Das .Systemkonforme' des medialisierten und ganz und gar gesellschaftsfähig gewordenen Schein-Residuums einer utopisch-authentischen Lebensform macht er dabei aber nicht an einer Kommerzialisierung der Kunst fest, die er im übrigen bejaht, 86 sondern an einer zirkulären Bewegung, die er auf den Begriff des „Re-Modeling" bringt, wodurch die Figur des .authentischen', .genialischen' und .mondänen' Individualisten immer wieder aufs Neue inszeniert werden kann. Komplementär zur .Entlarvung' der Inszenierung von .Anderssein' (in der Folge von '68) werden also flexible .Normalcharaktere' nach dem narrativen Verfahren des rankings, der Charakterisierung durch hierarchisierte Auflistungen entworfen.87 Diese „diskursiven Fahrten" markieren laut Parr flexible Bereiche des „Normalen", das heißt eines akzeptierten bzw. abgelehnten Lebensstils. Umgekehrt lautet die implizite narrative .Botschaft' daher bei von Stuckrad-Barre, daß sich reale Erfahrungen von Protest und Subversion in der massenmedialen Öffentlichkeit nicht mehr machen lassen.88 Da diese Position auf einer genauen Kenntnis und praktischen Erfahrung der Spielregeln und Grenzen der massenmedial vermittelten Diskurse und Inszenierungen fußt,
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Rolf Parr, Literatur als literarisches (Medien-)Leben, 189, 192f. „Die Kunst muß vielleicht ganz streng kapitalistischen Prinzipien unterworfen werden. Genauso wie diese Wurstbude vor dem Hotel streng kapitalistisch funktioniert. Es gibt keinen Grund dafür, warum der Künstler für seine Arbeit Subventionen bekommen sollte. Es gibt dafür kein Argument." (Bessing Hg., Tristesse Royale, 78) Vgl. Stuckrad-Barre, Soloalbum, ζ. B. 23f. (Liste von Frauentypen als mögliche Beziehungsalternativen für den verlassenen Protagonisten) oder 40-43 (mögliche Angaben zur Konstruktion einer Biographie: Namen, Berufe, Alter, Hobbys etc.). Vgl. Frank, Nachfahren der „Gegengegenkultur", 228.
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läßt sie sich als Zynismus auf Augenhöhe der Diskurse verstehen. Der Mehrwert dieser Position ist die „gleitende Omnipräsenz" im Feld der kulturellen Massenproduktion bis hin zu temporären Aufenthalten im autonomen Subfeld. Der Preis der „souverän" auftretenden, flexiblen Haltung der „Nicht-Greifbarkeit" ist hier jedoch - im Unterschied zur Haltung des besitzbürgerlichen Kosmopoliten und der des Aristokraten - eine permanente Arbeit an den feinen und flüchtigen Unterschieden des Diskurses, die als distinktive Position auf dem Markt immer wieder aufs Neue erkennbar und profitabel werden muß. Denn Stuckrad-Barre lebt von seiner multiplen und generativ-flüchtigen Autorschaft, was er auch immer wieder thematisiert. Auf dem Hintergrund der ökonomischen Zwänge verstehe ich diese permanente Arbeit am Flüchtigen, die multimediale normal-range-Einoidnung in Spektren bzw. Positionsfelder des vorübergehend diskursiv Möglichen, in einer (wenn auch gebrochenen) Nachfolge der mühevollen Kulturaneignung bzw. -arbeit des Bildungsbürgers. Die permanente integrative Selbstdeutung und -verortung Stuckrad-Barres im Narrationsprinzip des ex- und impliziten rankings sowie in seinen Lesungen und Re-Inszenierungen lassen sich schließlich mit Parr als „postmoderne" Erneuerungsform der alten, nicht zuletzt bildungsbürgerlich-protestantischen didaktischen, selbstvergewissernden Gattung verstehen.89
„Tristesse Royale": Diskursive Überschneidungen und soziale Unterschiede Der Band Tristesse Royale stellt eine Selbstinszenierung der Popliteraten dar. Den äußeren Rahmen bildet ein Treffen im April 1999 der von verschiedenen Orten angereisten fünf Literaten in der Executive Lounge im Berliner Luxushotel Adlon mit Blick auf das Brandenburger Tor. Hier schließen sie sich für drei Tage ein - unterbrochen nur von einem kurzen Spaziergang ums Hotel, wo sie auf eine Demonstration treffen - , um „ein Sittenbild unserer Generation zu modellieren", wie es im Vorwort heißt.90 Der Band besteht aus drei Teilen: 1.: „Das Bild der Gesellschaft" mit einem Motto von Thomas Bernhard: „Ersatzdenken ermöglicht unsere Existenz"; 2. „Im Spiegel der Medien" und 3. „Die Spirale". Tristesse Royale inszeniert sich als fin-de-sihcle-Produkt, als ein Stück reflexiver Dekadenzdichtung, die zeitweilig empathisch, zeitweilig melancholisch den kulturellen, ,postmodernen' Zerfall am Ende des Jahrtausends zur Sprache bringt. Sie ist zugleich ein Artefakt, das mediale Erwartungshaltungen antizipiert und Rückkopplungseffekte einplant. Inszeniert wird das mediale Rollenspiel „Talkshow", um es dann noch einmal als halb dokumentarisches, halb stilisiertes Gesprächsprotokoll, das die Beteiligten selbst als „Rollenprosa" (56)91 verstanden wissen wollen, zu verschriftlichen.92 Provo89 90 91 92
Vgl. Parr, Literatur als (Medien-)Leben, 187. Bessing Hg., Tristesse Royale, 11. Im folgenden werden Seiten verweise auf Tristesse Roy ale im Fließtext angegeben. Vgl. Parr, Literatur als (Medien-)Leben, 191.
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kant ist zunächst der sich im Untertitel ausdrückende Anspruch, für die Generation Pop zu sprechen.93 Der Band, auf dessen Cover sich die fünf als arrogante Pop-Dandys in Maßanzügen präsentierten, löste heftige Kritik im Feuilleton aus. Sie richtete sich zum einen auf die Zurschaustellung von Reichtum, .Besserwissertum' und Zynismus, zum anderen auf den performativen Umgang mit der Werbeästhetik, dem Massenkonsum und dem allgemeinen Werteverfall. Die ironische Haltung, das paradoxe Zusammenspiel von Behauptung und Selbstdementi, wurde als unmögliche gesellschaftliche Position wie auch als ästhetisch unbefriedigender Ausweg abgelehnt, wobei diese Ablehnung schon in der „Rollenprosa" selbst antizipiert ist.94 Der Band ist zunächst gewollter und zugleich ungewollter Ausdruck einer gemeinsamen Identität der fünf Akteure, die dem Alter nach in etwa einer Generation angehören. Gemeinsam (jedoch in unterschiedlichem Maße) ist ihnen die Grunderfahrung einer Wohlstandsgesellschaft als Selbstverständlichkeit. Sie teilen gemeinsame Erfahrung des Konsums, der Warenästhetik, der Ausdifferenzierung und der Zirkularität (der Austauschbarkeit) der Lebensstile und Distinktionen sowie der Logik ihrer Abfolge in einem massenmedial allgegenwärtigen und gesetzgebenden Kapitalismus. Insbesondere ihr Arbeitsfeld, die so genannten Neuen Berufe in den Massenmedien und MultimediaFirmen, und hier besonders das journalistische Schreiben, verbindet sie. Wollte man sie in Vesters Milieu-Landkarte eintragen, so gehörten sie in den oberen Bereich des so genannten „hedonistischen" bzw. „postmodernen Milieus" mit seinen „freien Berufen" (Habitusschemata aus der Mitte, aufstrebend: Stuckrad-Barre) wie auch des „konservativ-technokratischen Milieus" (bzw. des „großbürgerlichen, konservativen Milieus"; Habitusschemata von oben, aus der Traditionslinie von Macht und Besitz: Kracht, von Schönburg). Eine gemeinsame Grundbestimmung läßt sich auf den ästhetischen Sinn als Sinn der „Distinktion" bringen - jenen Kernbegriff, der bei Bourdieu und Vester u.a. die Habitusformen der Oberschichten kennzeichnet.95 Schaut man sich aber die Redebeiträge in der „Rollenprosa" genauer an, so lassen sich - über die Inszenierung hinaus - einige deutliche, sozial bedingte Unterschiede bei den Positionsnahmen erkennen. Grundsätzlich fällt auf, daß Christian Kracht während des Hauptteils weitgehend konturlos bleibt, was seiner auch sonst eingenommenen Rolle des introvertierten und unberechenbaren Dichters sowie seiner ästhetischen und sozialen Position des ,Nicht-Greifbaren' bzw. .Verschwindens' entspricht. Krachts
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Dies sozusagen in Steigerung des Stell vertreteranspruchs in lilies Generation Golf und Hensels Zonenkinder (2002). Jana Hensels Verwendung der „Wir"-Form hat den größten Stein des Anstoßes in der kontroversen Debatte um Zonenkinder dargestellt, wohingegen lilies Allgemeinheitsanspruch in Generation Golf völlig gleichgültig aufgenommen worden war (vgl. die Beiträge in: Tom Kraushaar Hg., Die Zonenkinder. Die Geschichte eines Phänomens. Mit einem Nachwort von Moritz Baßler, Reinbek 2004). Vgl. Baßler, Der deutsche Pop-Roman, 124f., und Frank, Nachfahren der „Gegengegenkultur", 229. Vgl. Bourdieu, Die feinen Unterschiede, 405-499.
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Profil tritt umso vehementer hervor im angehängten Teil, der von seiner Reise mit Joachim Bessing nach Phnom Penh in Kambodscha handelt, jenem „Zentrum des Verschwindens. Interpol vermutet eintausend der meistgesuchten Schwerverbrecher dort", wie es im Übergang zum 3. Teil, „die Spirale", heißt (165): das Profil eines Kolonialherren und seiner spezifischen Macht der Vereinnahmung qua Distanz und Ästhetisierung. So besuchen Kracht und Bessing das ehemalige Gefängnis und Folterzentrum der Roten Khmer, wo sie unzählige Fotos der Inhaftierten und Gefolterten an „Installationen von Christian Boltanski" erinnern. In anderen Räumen betrachten sie „Volkskunst": „Bonbonfarbene Gemälde im naiven Stil", auf denen die Roten KhmerKämpfer und ihre Gräueltaten abgebildet sind (173). Der koloniale Ästhetizismus besteht gerade in der zynischen Einberechnung der .empörten' Leserreaktion: Kracht weiß, daß der Leser, um den es ihm geht, weiß, daß es sich hier um eine .politisch nicht korrekte' Ästhetisierung und Inszenierung handelt. Was als direkte politisch-moralische Haltung nicht existieren darf, passiert die Zensur durch die (selbst-)reflexive Inszenierung des Wissens darum. Die Inszenierung des ,Darum-Wissens' präsentiert sich als provokative Ästhetisierung. Die symbolisch-kolonialistische Gewalt liegt meines Erachtens darin, daß Realitäten der kruden Gewalt und Machtausübung zum beliebig austauschbaren Objekt gemacht und damit der eigenen symbolischen Herrschaft verfügbar werden. 96 Stets werden die Gegenstände letztlich ihrer historischen und kulturellen Besonderheit, ihres „Eigensinns" (Kluge) oder .Widerstands' enthoben, als .unabänderliche' präsentiert und oft mystifiziert in einer konfusen, allumfassenden apokalyptischen Vision. Die Erzählformen der Reiseliteratur, der short story oder der Novelle kommen dabei dem Generierungsprinzip der Austauschbarkeit der ,Skandal'-Objekte und ihrer ästhetisch-pointierten Vereinnahmung entgegen. Die Hauptspannungen im Quintett der Tristesse Royale lassen sich indes zwischen von Stuckrad-Barre, dem „enttraditionalisierten" Bildungsbürger, und von Schönburg, dem verarmten Aristokraten, feststellen. Von Stuckrad-Barre präsentiert sich als zynisch-abgeklärter Meister der Desillusionierung und als Provokateur „ohne Programm dahinter" (vgl. 157). Er ist in der Runde derjenige, der sich am deutlichsten offensiv und affirmativ innerhalb der .postmodernen' Popkultur sieht und bewegt. Von ihm 96
Dieses symbolisch vereinnahmende Generierungsprinzip ist seriell beliebig fortsetzbar: Genau wie einst die Benetton-Werbung, die serienmäßig verschiedene konkrete Abbildungen von Opfern für sich instrumentalisierte (die blutverschmierte Uniform eines serbischen Soldaten, ein HIV-Infizierter etc.), kann Kracht die auf seinen realen und imaginären Reisen vereinnahmten Objekte beliebig austauschen: auf das Gefängnis in Phnom Penh kann so die islamistische Revolution im Iran im Roman 1979 und darauf die Reise in das verstrahlte Gebiet von Tschernobyl etc. folgen. Vgl. Christian Kracht/Eckhart Nickel, Der Name des Sterns ist Wermut. Eine Demutsreise in sieben Siegeln mit der Eisenbahn nach Tschernobyl, dem Ort der größten Atomkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts, diesem immer noch glühenden und leeren Herz Europas, in dem alle Hoffnung der Moderne fahren ging. Unterwegs lernen die Autoren auch noch die Ukraine kennen, in: Der Freund 5.2005, 34-42.
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stammt die Definition von Pop als einem Wechselspiel zwischen Distinktion und zeitweiliger Kohäsion.97 Er bezeichnet sich bewußt widersprüchlich als ein „wertkonservativer Popkonsument" (35). Zudem betont er seinen Stolz, von dem leben zu können, was er sich erarbeitet hat. Damit einher geht seine Affirmation der Verbindung von Kunst und Markt. Kunst müsse bei den Menschen ankommen, also sich verkaufen, ansonsten könne sie ruhig absterben (wie etwa das Theater, das für ihn nur noch künstlich, durch staatliche Subventionen, erhalten wird).98 Bei Stuckrad-Barre finden sich provokative Äußerungen hinsichtlich der vertikalen gesellschaftlichen Hierarchie: Als Pfarrerssohn habe er eine strenge, autoritäre Erziehung erfahren, die ihm „gut getan" habe (vgl. 121). Vergleichbar mit Krachts provokativem Ausdruck des „SPD-Nazis" kommt von Stuckrad-Barre von der „gut tuenden" autoritären Erziehung im Elternhaus auf die für ihn eigentliche „Gewalt", die der Hippielehrer in der Schule, die den Schülern direkt ihr „Du" anbieten. Dies sei eine Verkehrung der Tatsache, daß Gesellschaft nur über Hierarchien und Sanktionen funktioniere (vgl. 122). Die Zielrichtung dieser Äußerungen sehe ich allerdings weniger in einer vertikalen als in einer horizontalen Distinktion, permanenter und performativer Art: Stuckrad-Barre ist (wie etwa Christoph Schlingensief und Harald Schmidt, dessen vorbildlicher politischer Witz darin bestehe, wie Stuckrad-Barre meint, die herrschenden Diskurse nicht zu kommentieren, sondern sie lediglich in einer bestimmten, ironisch-zynischen Art abzubilden) (vgl. 108), ständig auf Augenhöhe mit den verschiedenen dominanten Diskursen, seien sie .politisch-korrekter', .kulturelitärer', .populärer' oder .popkultureller' Art.99 So erklärt er zum Beispiel, daß er die BZ lese, „weil es mich nicht interessiert, wie es geschieht, sondern wie es aussieht; wie es bei den Menschen landet" (101). Die Abwahl Kohls 1998 etwa war für ihn verbunden mit einer Freude über die „Simulation einer Bewegung", daß „vielleicht etwas geschehen könnte". Hier reagiert er auf die Aussage von Schönburgs, daß Kohl für ihn ein wohltuendes „Kontinuum" bedeutete. Gewählt habe Stuckrad-Barre natürlich nicht (104f.). Alexander von Schönburg steht dagegen für einen .aufrichtig-ritterlichen' Diskurs eines (inneren) Aristokraten angesichts des äußeren und inneren-moralischen Zerfalls der Gesellschaft. Die Stoßrichtung seiner Distinktion ist zunächst eine vertikale: Wenn er etwa in seinen Kolumnen über Lebensstilfragen schreibt, so bedauert er eigentlich,
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,.Pop basiert gleichzeitig auf dem Prinzip des Ausschließens und des Konsenses. Pop entsteht aus der Verschachtelung, aus dem Segmentieren und in einer Gegenbewegung, die dann wiederum vielen einleuchtet" (Bessing Hg., Tristesse Royale, 27). Christoph Schlingensief hat in von Stuckrad-Barres Augen das Verdienst, das Theater aus den toten Theaterhäusern herausgeholt zu haben (vgl. hierzu den Beitrag von Franziska Schößler in diesem Band). So hat Stuckrad-Barre etwa auch des öfteren Rainald Goetz' Schreibverfahren, denen er ja selbst sehr nahe steht, ironisiert. Ironisiert wird auch Schönburgs Kunst des stilvollen Verarmens in folgender Veranstaltungsankündigung: „Benjamin von Stuckrad-Barre (Zürich) legt Bestseller auf. .Stillos versacken. Keine Kunst. €-Beats"' (www.stuckrad-barre.de, Sept. 2005).
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daß er die „Geheimcodes" des exklusiven Lebensstils verrät (29). Andererseits betont er, daß sich die sozialen Aufsteiger der New-Economy-Zeit einer Illusion des Eintritts in die Oberklasse hingeben, denn die wahrhaft aristokratische Haltung, so weiß er, braucht seine Zeit zur Verinnerlichung - sie braucht die „magische Macht" der „Naturalisierung" des Gesellschaftlichen der über mehrere Generationen reichenden sozialen Vererbung („Adel verpflichtet"). Die Abgrenzung ist darum bemüht, den Abstand zu den rasant aufgestiegenen und in Zeiten der New Economy sich wie Aristokraten gebarenden (klein-)bürgerlichen Eliten aus Politik, Wirtschaft und Showbusiness aufrechtzuerhalten. Schon in der Jugend in politischen Parteien aktiv (Junge Union, Jungliberale; vgl. 99, 110), versteht von Schönburg das Ende des Jahrhunderts als „postideologisches Zeitalter", in der es keine „Res publica" mehr gebe (100). In der „Einbürgerung der Rebellen und ihrer Rebellion" (er nennt als Beispiel Joschka Fischer) sieht er einen „Sieg der Bourgeoisie" (120). Das Scheingefühl des jugendlich „Mondänen", wie es die Werbung vermittelt und wie auch sie - die Popliteraten - es widerspiegeln, stößt ihn im Kern ab (41) - ebenso die allumfassende Macht des Marktes, der er innere, „ewige" Werte im Sinne einer Romantik entgegenhält. Von Schönburg steht also in mehreren Hinsichten im deutlichen Gegensatz zu von Stuckrad-Barre: Er tritt einerseits für (zeitliche) politische Interessenvertretung und andererseits für innere, „zeitlose" Werte ein, die den „privilegierten" Stand eines Menschen kenntlich machen und verteidigen sollen. Er vertritt eine regionale Verbundenheit, so die katholisch-rheinische Lebenskultur, die seine romantische Haltung ergänzt (vgl. I I I , 118), und schließlich die standesgemäße Ehe: Die Ehe unter „seinesgleichen", wie er betont, das heißt die völlig homogene Ehe „aus dynastischen Gründen", woraufhin von Stuckrad-Barre prompt diese Position als „Rebellion gegen die Rebellion" und als reaktionären Akt dechiffriert (47f.). Die auffälligste und provokanteste distinktive Position betrifft aber von Schönburgs pathetisch in Szene gesetzte Haltung zur Gewalt. Diese ist auf dem Hintergrund des von ihm vertretenen und ihm als (verarmter) Aristokrat traditionell gesellschaftlich .zustehenden' Grundgefühls des allumfassenden Ennui zu sehen. Er sieht die Langeweile als Hauptfeind seiner Generation, weil sie damit aufgewachsen sei, verwöhnt und von Reizen überflutet. 100 Dieses Grundgefühl des melancholischen Ennui, der empfundenen inneren Leere einer Kultur, wird im Verlauf des Bandes mit dem Symbol der „Spirale" (= Titel des 3. Teils) und schließlich mit dem Begriff des „Re-Modeling" als allumfassendes kulturelles Generierungsprinzip benannt. Das literarische Ennui-Zitat, das in wertkonservativer, aristokratisch-romantischer Weise „Wir sehnen uns nach der Unterbrechung der Langeweile. [...] Wir sind nichts als Produkte einer postmateriellen Generation, die nur noch mit der Langeweile zu kämpfen haben. [...] Deshalb gibt es für uns auch keine Spur eines Existenzkampfes mehr. Wir kennen auch den Statuskampf der vorherigen Generationen nicht mehr. [...] Wir schauen über die Quadriga und das häßliche Berlin dort unten hinweg und befinden uns ebenfalls am Fin de si£cle einer perfekten Kultur, die offensichtlich in ihrer höchsten Endform äußerst langweilig ist." (Bessing Hg, Tristesse Royale, 33).
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von Schönburg eingeführt und von Kracht in einer ästhetizistisch-eskapistischen Variante geteilt wird, verlagert sich bei von Stuckrad-Barre zum Symbol der absoluten Immanenz und Zirkularität, der „Spirale", schließlich zum , postmodern kapitalistischen Produktionsprinzip schlechthin des (selbst-)ironischen „ReModelings", der permanenten Metamorphose, die weder als Verrat noch als Anpassung, noch als Avantgardeleistung der Künstler, sondern als permanente Arbeit an der „Gegenwärtigkeit" (contemporary) verstanden wird (vgl. 129f.), Dieser gleitende, symbolische Übergang (stilisiertes Lebensgefühl des Ennui, Symbol der „Spirale" und popkultureller terminus technicus des „Re-Modeling") ermöglicht eine Kohäsion diskursiver Positionsnahmen, die jedoch von verschiedenen sozialen Positionen ihren Ausgang nehmen, wie es sich am deutlichsten am Beispiel von Schönburgs und Stuckrad-Barres zeigt. Neben der Assoziation oder Koppelung verschiedener (diskursiver und sozialer) Positionen ermöglicht dieses „Gleiten der Signifikanten" (Barthes) auch die (diskursive und soziale) Abgrenzung von dem Prinzip der Masse sowie der mittelmäßigen, nivellierenden Immanenz, die von Schönburg als „monströse Kollektivierung des Individualismus" bezeichnet wird (163). Entsprechend der unterschiedlichen sozialen Positionen differieren auch die Abgrenzungs- und Auswegsvisionen: So vertritt Kracht eine eskapistische Spiritualität ferner, dem Abendland entgegen gesetzter Länder und Religionen ohne kirchliche Institution (so den Hinduismus oder Buddhismus, vgl. 162). Von Schönburg strebt dagegen eine christliche, genauer: katholisch-romantische Religiosität an, während von Stuckrad-Barre den Ausweg aus der Gleichförmigkeit überhaupt nicht in der Spiritualität sucht, die für ihn nur eine „Nebenspirale" darstellt, in der das „Glück der Unfreiheit" herrscht und der Glaube von der „Restriktion" lebt (161).101 Tristesse Royale vereinigt also unterschiedliche selbstreflexive Strategien, ästhetische Identitäten wie auch schließlich unterschiedliche soziale Positionen: Von Stuckrad-Barres zynisch-immanente Diskurskritik trifft auf Krachts gleitendes Mehrdeutigkeitskalkül und Attitüde des kosmopolitischen, l'art pour /'arf-kolonialistischen ,Dandys', der sich tendenziell alles zum austauschbaren Objekt macht. Hinzu stößt von Schönburgs aristokratisch-romantisch-dekadente Attitüde, die in sich Ansätze zu 101
Einen anderen „Ausweg" stellt die Gewalt dar: So nennt Bessing das Prinzip der immanenten Gewalt, des gegen die eigene Gesellschaft gerichteten Terrors (vgl. Bessing Hg., Tristesse Royale, 156). Bei Kracht findet sich eine ebenfalls gegen sich selbst, jedoch als spirituelles Individuum gerichtete Gewalt (so vor allem dann in seinem Roman 1979), während von Schönburg aristokratisch-heroische Gewaltphantasien zitiert, wie sie als Muster etwa aus Thomas Manns Zauberberg oder seinen Betrachtungen eines Unpolitischen bekannt sind: „Unsere Langeweile bringt den Tod. Langsam komme ich zur Überzeugung, daß wir uns in einer ähnlichen Geistesverfassung befinden wie die jungen Briten, die im Herbst 1914 enthusiastisch die Rugby-Felder von Eton und Harrow, die Klassenzimmer von Oxford und Cambridge verließen, um lachend in den Krieg gegen Deutschland zu ziehen. England war damals ebenfalls - wie heute Europa - am Ende einer Phase des Wohlstands und der Stabilität angekommen. Junge Menschen sehnten sich nach Aufregung, nach Heldentum, ja, Heldentod letztendlich." (ebd., 137f.)
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Phantasmen einer konservativen Revolution trägt. Den in der „Rollenprosa" vertretenen Stimmen gemeinsam ist die Demonstration der Spät-Neunziger-Variante des „gegengegenkulturellen" Affekts (gegen '68). 102
Das literarische Feld, eine Welt für sich? Es seien abschließend nochmals einige Hauptthesen oder -problembereiche dieses Beitrags zusammengefaßt: die Bestimmung des Autonomisierungsprozesses des literarischen Feldes in Deutschland der letzten dreißig Jahre sollte sich auf einer Bestimmung des Verhältnisses zwischen literarischer Autonomisierung und literarischer Öffentlichkeit gründen; die entscheidenden strukturellen Veränderungen des deutschen literarischen Feldes liegen (bislang) nicht in der Vereinigung von '89 begründet, sondern vielmehr in den sozialstrukturellen Auffächerungen und in den Ausdifferenzierungen der Lebensstile (die gleichwohl in einer Kontinuität zu traditionellen Schichten, Milieus und ihren Lebensstilen stehen) ab den späten sechziger Jahren, schließlich in dem Einfluß neuer Medien und der von ihnen produzierten Massenöffentlichkeiten. Diese Einflüsse lassen sich anhand der Verschiebungen der Verhältnisse zwischen den verschiedenen Legitimationssphären, die Bourdieu in Zur Soziologie der symbolischen Formen unterschieden hat, näher bestimmen; -
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als Folge des Zerfalls einer homogenen literarischen Öffentlichkeit und mit dem „langen Abschied von der Nachkriegsliteratur" (Vogt) ist eine „Leerstelle" entstanden (Bogdal), das heißt es „entleerte" sich auch strukturell das autonome Subfeld der eingeschränkten Literaturproduktion und -rezeption. Die zunehmende, strukturelle „Leerung" wird durch Kanondebatten, diskursive Positionen (ζ. B. des Feuilletons), durch Institutionen (Schule, Universität, Preise) und nicht zuletzt durch die Dichter des „1. Klimagangs" mit gesamtgesellschaftlichem Anspruch (Bogdal) verschleiert; die Leerstelle einer repräsentativen Dichterposition in Deutschland kann zeitweilig und immer wieder aufs Neue besetzt werden, wodurch sie der ökonomischen Logik des kurzfristigen Wechsels entgegenkommt. Ich verstehe die zeitweilige und iterative .Füllung' der Leerstelle als jene „Trojanische Pferde", von denen Bourdieu spricht. 103 Nach der Vereinigung gab und gibt es - homolog zum Streben nach
Diese findet stellvertretend in der Begegnung mit einer Demonstration vor dem Brandenburger Tor statt, also vor der „Haustür" des Adlon-Hotels. Vgl. Bourdieu, Die Regeln der Kunst, 533-535. Die „Trojanischen Pferde" erweisen sich hier in einer strukturellen Logik: Die ökonomische Ökonomie hält verschleiert und permanent aufs neue Einzug in die strukturell und diskursiv offen gehaltene Leerstelle des autonomen Feldes, das sich über seine spezifische, nicht-ökonomische Ökonomie definiert.
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politischer und moralischer Normalität Deutschlands - einen „Willen" zu einer neuen deutschen Gegenwartliteratur (Schirrmacher in der FAZ, Spiegel: „die Erben von Grass"). Die letzten Jahrzehnte und insbesondere das nach '89 sind geprägt von einigen erfolgreichen Bemühungen, die Leerstelle für eine begrenzte Zeit iterativ zu besetzen; zwischen 1995 und ca. 2000, also in der Zeit der New Economy und des Schröder/Blair-Papiers über die Neue Mitte wurde nun unter anderem, zeitweilig und teilweise die Leerstelle mit der neuen, zweiten deutschen Popliteratengeneration rund um Christian Kracht und seinem Roman Faserland, von Stuckrad-Barres Soloalbum, Florians lilies literarisierter Generationskonstruktion Generation Golf, den Berliner Seiten der FAZ, dem popliterarischen .Manifest' Tristesse Royale etc. gefüllt; das popliterarische Quintett spiegelt eine zeitspezifische Kohäsion von sozialen und diskursiven Positionen wider (eine Verbindung zwischen internationalisierten, kosmopolitischen Großbürgern, klein- und bildungsbürgerlichen Aufsteigern und aristokratischen „Absteigern"). Zweifellos läßt sich eine Korrelation zwischen „hedonistischem" Jugendmilieu bzw. „postmodernem" Milieu (Vester u.a.), ästhetischer Programmatik der „Überwindung der Gräben" (Fiedler), der Koppelung von Medien sowie dem popliterarischen Narrationsverfahren der flexiblen normalrange-Matrixen und ihren flexiblen Identifikationsangeboten feststellen (Parr). Bei genauerem Hinsehen lassen sich jedoch noch deutlich .Brechungsfaktoren' des sozialen Erbes der jeweiligen Akteure erkennen. Der Habitus der Distinktion der in den neunziger Jahren privilegierten kulturellen Akteure, die in der Massenöffentlichkeit auftreten, weist jeweils signifikante Eigenheiten auf. Es gibt Unterschiede zwischen der souveränen Haltung der ,Nicht-Greifbarkeit' und kolonialistischen l'art pour 1'art-Ästhetik des im Zuge der Globalisierung wie .selbstverständlich' symbolisch dominant auftretenden kosmopolitischen Besitzbürgers (Christian Kracht), der Haltung des zwar angeblich verarmten, aber aufgrund des Mythos der .Aristokratie der inneren Haltung' selbstbewußt auftretenden und konservative Werte wie selbstverständlich, als ,natur- und gottgegebene' (Romantik und Katholizismus) setzenden Aristokraten (von Schönburg), der permanenten, performativdiskursiven Reinszinierungsarbeit als unendlich antizipierende, nie abgeschlossene Selbstdeutung des .enttraditionalisierten' (,postmodernen') Bildungsbürgers (von Stuckrad-Barre); beobachten lassen sich verschiedene Versuche, aus der „Spirale" herauszutreten, die überwiegend einen autoritären und neokonservativen Kern mit unterschiedlicher Gewichtung erkennen lassen. Poetologisch wird - analog zur Wiedereinführung moralischer und universaler Werte - ein Ende der Ironie104, die
Schon Tristesse Royale wurde in verschiedenen Rezensionen als „Abgesang auf die Popliteratur" und Krachts Roman 1979 als ,3eerdigung der Popliteratur" durch ihren Begründer gewertet. Der
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Heribert Tommek Wiederentdeckung des Narrativen, der Geschichte und überhaupt des .Ernstes' etc. angestrebt. Die .Auswege' verbleiben jedoch letztlich im popliterarischen Habitus. Brüche mit und Wiederanschlüsse an verloren gegangene bürgerlich-literarische Traditionen erfolgen weiterhin im Modus einer halb tatsächlich gegebenen (d. h. nicht reflexiv kontrollierten), halb inszenierten Naivität. Signifikant und näher zu untersuchen ist der iterative (teil-)gesellschaftliche Erfolg dieser im strukturell gewandelten literarischen Feld produzierten, spezifischen .Heilsangebote'.
von Kracht herausgegebene Band Mesopotamia. Ein Avant-Pop-Reader (2001) wurde schließlich in der Literaturkritik unter dem Stichwort „Ende der Ironie?" verhandelt (s. Klappentext). Die Ironie der Popliteraten wäre noch genauer im Vergleich zu anderen Ironie-Konzepten (besonders Thomas Manns) zu bestimmen.
Autorinnen und Autoren
Dr. Anna Boschetti ist Professorin für Französische Literatur an der Universität Venedig. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Intellektuellen, Beziehungen zwischen nationalen und internationalen Literaturräumen. Ausgewählte Veröffentlichungen: Sartre et „Les Temps Modernes", Paris 1985; La Poesie partout. Apollinaire, „homme-epoque" (1898-1918), Paris 2001; La Rivoluzione simbolica di Pierre Bourdieu, Venedig 2003; Vom Engagement zum Experimentalismus. Bemerkungen zum italienischen literarischen Feld seit 1945 und seinem Verhältnis zum transnationalen Raum, in: Berliner Journal für Soziologie 14.2004/H.2, 189-205. Dr. Steffen Bruendel ist Bereichsleiter Internationale Zusammenarbeit, Kultur- und Wissenschaftsförderung der E.ON Ruhrgas AG in Essen und zugleich Lehrbeauftragter der Fakultät fur Geschichtswissenschaften, Philosophie und Theologie der Universität Bielefeld. Forschungsschwerpunkte: Der Erste Weltkrieg und die europäische Nachkriegsordnung, „1968" in Großbritannien, Herrschaft und Gesellschaft in Spanien unter Franco. Ausgewählte Veröffentlichung: Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914" und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Berlin 2003. Dr. Ingrid Gilcher-Holtey ist Professorin für Allgemeine Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte an der Universität Bielefeld. Forschungsschwerpunkte: Geschichte und Soziologie der Intellektuellen, Intellectual History - Neue Ideengeschichte, Vergleichende Analyse der 68er Bewegungen in Europa und den USA, Literatur und Politik im 20. Jahrhundert, Bertolt Brecht. Ausgewählte Veröffentlichungen: Das Mandat des Intellektuellen. Karl Kautsky und die Sozialdemokratie, Berlin 1986; „Die Phantasie an die Macht": Mai 68 in Frankreich, Frankfurt a.M. 20012; Die 68er Bewegung. Deutschland - Westeuropa - USA, München 20053; gemeinsam mit Dorothea Kraus und Franziska Schößler Hg., Politisches Theater nach 1968. Regie, Dramatik und Organisation (Historische Politikforschung, Bd.8), Frankfurt a.M. 2006.
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Autorinnen und Autoren
Dr. Boris Gobille ist Lehrbeauftrager für Politikwissenschaft an der Ecole Normale Superieure Lettres et Sciences Humaines in Lyon und Mitarbeiter des Centre National de la Recherche Scientifique (Laboratoire Triangle - Action, Discours, Pensee politique et economique). Forschungsschwerpunkte: Literatursoziologie, Soziologie der Intellektuellen und der politischen Krisen, Soziale Bewegungen. Ausgewählte Veröffentlichungen: Literarisches Feld und politische Krise. Mobilisierungen französischer Schriftsteller im Mai 68 und Verzeitlichungslogiken des Feldes, in: Berliner Journal fiir Soziologie 14.2004/H.2, 173-188-, gemeinsam mit Gisele Sapiro, Proprietaire ou travailleur intellectuel? Les ecrivains frangais en quete de Statut, in: Le Mouvement social 2006/H.l, 113-139. Dr. Markus Joch ist Mitarbeiter des Instituts für deutsche Literatur der Humboldt-Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Deutsche Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Cultural Studies, Feldtheorie. Ausgewählte Veröffentlichungen: Bruderkämpfe. Zum Streit um den intellektuellen Habitus in den Fällen Heinrich Heine, Heinrich Mann und Hans Magnus Enzensberger, Heidelberg 2000; gemeinsam mit Norbert Christian Wolf Hg., Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis, Tübingen 2005. Dr. Dorothea Kraus arbeitet im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn. Forschungsschwerpunkte: Europäische Kultur- und Sozialgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, neuzeitliche Mediengeschichte und -theorie, Sprachphilosophie. Ausgewählte Veröffentlichungen: gemeinsam mit Ingrid Gilcher-Holtey und Franziska Schößler Hg., Politisches Theater nach 1968. Regie, Dramatik und Organisation (Historische Politikforschung, Bd. 8), Frankfurt a.M. 2006; Theater und Protest in Westdeutschland. Deutungen und Umdeutungen des Politischen, Frankfurt a.M. 2007 (im Erscheinen). Claus Kröger ist Mitarbeiter des SFB 584 Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte an der Universität Bielefeld. Forschungsschwerpunkt ist ein Dissertationsprojekt zum Thema Verlagspolitik und Protestkultur: Der Buchmarkt und die Außerparlamentarische Opposition. Dorothee Liehr ist Assistentin und Lehrbeauftragte an der Forschungsstelle für Schweizerische Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Universität Zürich. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Intellektuellen, Sozial- und Kulturgeschichte, Geschlechtergeschichte. Veröffentlichungen: Von der Aktion gegen den SPIEGEL zur SPIEGELAffare. Zur gesellschaftspolitischen Rolle der Intellektuellen, Frankfurt a.M. 2002; Ereignisinszenierung im Medienformat. Proteststrategien und Öffentlichkeit - eine Typologie, in: Martin Klimke/Joachim Scharloth Hg., 1968. Ein Handbuch zur Kulturund Mediengeschichte der Studentenbewegung, Köln 2006.
Autorinnen und Autoren
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Henning Marmulla ist Mitarbeiter des SFB 584 Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte an der Universität Bielefeld. Forschungsschwerpunkt ist ein Dissertationsprojekt zum Thema Literatur und Protest. Hans Magnus Enzensberger und das Projekt einer transnationalen politisch-literarischen Öffentlichkeit. Dr. Ioana Popa arbeitet am Centre National de la Recherche Scientifique (Institut des Sciences Sociales du Politique) in Paris. Forschungsschwerpunkte: Soziologie der Intellektuellen und des internationalen kulturellen und wissenschaftlichen Austauschs, Politische Soziologie des Kommunismus und Postkommunismus. Ausgewählte Veröffentlichungen: „L'impurete" consentie. Entre esthetique et politique: critiques litteraires ά Radio Free Europe, in: Societes et representations 200J/H.I1, Politique des editeurs ou politiques editoriales? Logiques d'importation en France des litteratures d'Europe de l'Est ä partir des annees 70, in: Regards sociologiques 2006/H.32. Dr. Gisele Sapiro ist Forschungsdirektorin des Centre National de la Recherche Scientifique (Centre de Sociologie Europeenne) und lehrt an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales (EHESS) in Paris. Forschungsschwerpunkte: das literarische Feld in Frankreich, Verhältnis von Schriftstellern und politischem Engagement sowie von Literatur und Politik. Ausgewählte Veröffentlichungen: La Guerre des ecrivains, 1940-1953, Paris 1999; Elemente einer Geschichte der Autonomisierung. Das Beispiel des französischen literarischen Feldes, in: Markus Joch/Norbert Wolf Hg., Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis, Tübingen 2005, 25-44; Das französische literarische Feld: Struktur, Dynamik und Formen der Politisierung, in: Berliner Journal für Soziologie 14.2004/H.2, 157-172. Dr. Franziska Schößler ist Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Trier. Forschungsschwerpunkte: Drama und Theater der Gegenwart, bürgerliche Moderne, kulturwissenschaftliche Theoriebildung und Lektüren, Gender Studies. Ausgewählte Veröffentlichungen: Einfuhrung in das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama, Darmstadt 2003; Augen-Blicke. Erinnerung, Zeit und Geschichte in Dramen der neunziger Jahre, Tübingen 2004; Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. Eine Einführung, Tübingen 2006.
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Autorinnen und Autoren
Dr. Kristina Schulz ist wissenschaftliche Oberassistentin am Institut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Universität Lausanne. Forschungsschwerpunkte: Literatursoziologie, Soziale Bewegungen, Geschichte des Feminismus. Ausgewählte Veröffentlichungen: Der lange Atem der Provokation. Die Frauenbewegung in der Bundesrepublik und in Frankreich 1968-1976, Frankfurt a.M. 2002; gemeinsam mit Franz Schultheis Hg., Gesellschaft mit begrenzter Haftung. Zumutungen und Leiden im deutschen Alltag, Konstanz 2005; La volonte de l'autonomie. L'etat des champs litteraires en Suisse ä l'epoque nazie ä travers les prises de position envers les ecrivains exilis en Suisse, in: Jeröme Meizoz Hg., La circulation internationale des litteratures (Etudes de Lettres), Lausanne 2006,99-112. Dr. Herve Serry arbeitet am Centre National de la Recherche Scientifique (Laboratoire Cultures et Societes Urbaines - Universite de Paris 8). Forschungsschwerpunkte: Soziologie der Intellektuellen, Strukturveränderungen im französischen Verlagswesen seit 1950, Soziologie des Katholizismus. Ausgewählte Veröffentlichungen: Naissance de l'intellectuel catholique, Paris 2004; Symbolisches Kapital und intellektuelle Affinität im Feld der Verlage. Der Fall „Editions du Seuil" (1935-1975), in: Markus Joch/Norbert Christian Wolf Hg., Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis, Tübingen 2005, 277-290. Dr. Heribert Tommek arbeitet zur Zeit an einer DFG-gefÖrderten wissenschaftlichen Edition der Moskauer Schriften von J.M.R. Lenz. Weitere Forschungsschwerpunkte: Literaturtheorie und Literatursoziologie, germanistisch sowie literaturgeschichtlich orientierte Komparatistik, struktureller Wandel des deutschen literarischen Feldes seit ,68'. Ausgewählte Veröffentlichungen: J. M. R. Lenz. Sozioanalyse einer literarischen Laufbahn, Heidelberg 2003; Trennung der Räume und Kompetenzen. Der Glaube an die Gelehrtenrepublik: Klopstock, Goethe, Lenz (1774-1776), in: Markus Joch/Norbert Christian Wolf Hg., Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis, Tübingen 2005, 89-108; A sa place. Essai de comparaison: les trajectoires de J.-J. Rousseau et de J.M.R. Lenz, in: Jeröme Meizoz Hg., La circulation internationale des litteratures (Etudes de Lettres), Lausanne 2006, 37-59.