Zwischen Räumen und Fronten: Algerische Migranten im lothringischen Grenzgebiet, 1945–1962 9783110644012, 9783110640076

The study examines the living conditions of Algerian immigrants in the Saarland-Lorraine border region from the end of W

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German Pages 512 Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
Dank
Einleitung
I. Leben zwischen den Räumen. Algerische Migranten im lothringischen Grenzgebiet, 1945–1954
1. Die soziale Situation algerischer Migranten
2. Politisierung und Mobilisierung algerischer Migranten
3. Medien und antialgerische Stimmung in Lothringen vor 1954
II. Drei Kriegsparteien, ein Ziel. Algerische Migranten zwischen Polizei, FLN und MNA, 1955–1957
1. Vom Aufbau eines Polizeistaats
2. Niedergang der Messalisten im lothringischen Grenzgebiet
3. Die Anfänge des FLN in Lothringen
4. Die politische Mobilisierung algerischer Migranten in Lothringen und ihre Folgen
III. Leben zwischen den Fronten. Algerische Migranten und der Kolonialkrieg in Lothringen, 1958–1962
1. Polizei, Gendarmerie und Armee im Umgang mit Algeriern in Lothringen
2. Der Überlebenskampf des MNA im lothringischen Grenzgebiet
3. Schwacher Staat oder starke Untergrundorganisation? Der FLN in Lothringen
4. Alltag und »agency« algerischer Migranten in Lothringen
Epilog: Der Krieg ist zu Ende. Es lebe der Krieg?
Resümee
Abbildungsnachweise
Abkürzungen
Quellen
Literatur
Interviewte Zeitzeugen
Register
Recommend Papers

Zwischen Räumen und Fronten: Algerische Migranten im lothringischen Grenzgebiet, 1945–1962
 9783110644012, 9783110640076

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Lucas Hardt: Zwischen Räumen und Fronten — 2019/9/20 — page 1 — le-tex

Lucas Hardt Zwischen Räumen und Fronten

Lucas Hardt: Zwischen Räumen und Fronten — 2019/9/20 — page 2 — le-tex

Pariser Historische Studien Herausgegeben vom Deutschen Historischen Institut Paris

Band 114

Lucas Hardt: Zwischen Räumen und Fronten — 2019/9/20 — page 3 — le-tex

Lucas Hardt

Zwischen Räumen und Fronten Algerische Migranten im lothringischen Grenzgebiet, 1945–1962

Lucas Hardt: Zwischen Räumen und Fronten — 2019/9/20 — page 4 — le-tex

Pariser Historische Studien Herausgeber: Prof. Dr. Thomas Maissen Redaktionsleitung: Dr. Stefan Martens Redaktion: Veronika Vollmer Anschrift: Deutsches Historisches Institut (Institut historique allemand) Hôtel Duret-de-Chevry, 8, rue du Parc-Royal, F-75003 Paris

Zugl. überarbeitete Fassung von: Lucas Hardt, Zwischen Räumen und Fronten. Algerische Migranten im lothringischen Grenzgebiet, 1945–1962. Trier/Paris 1, Univ., Diss., 2016

Library of Congress Control Number: 2019945017 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: le-tex publishing services GmbH, Leipzig Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck Lektorat: Dr. Ulrike Voigt, Stuttgart Umschlagabbildung: Aufnahme eines Algeriers in eine polizeiliche Kartei in Jarville (bei Nancy), 5. Sep. 1955, AdM&M 950 W 80. www.degruyter.com ISBN 978-3-11-064007-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-064401-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-064019-9 ISSN 0479-5997

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Inhalt Dank

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Einleitung

13

I. Leben zwischen den Räumen Algerische Migranten im lothringischen Grenzgebiet, 1945–1954 1. Die soziale Situation algerischer Migranten . . . . . . . . . . . 1.1.

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38 38

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52

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59 59 62 67 69

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74 76 82 85 87 87 90

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94

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97

2. Politisierung und Mobilisierung algerischer Migranten . . . .

101

1.2.

1.3.

1.4.

2.1.

Wie aus Algeriern Migranten werden . . . . . . . . . 1.1.1 Regulierungsversuche einer Fluchtbewegung . 1.1.2 Hintergründe, Motive und Grenzen sozialer Interventionen für »Nordafrikaner« . . . . . . 1.1.3 Strategien und Herkunftsorte algerischer Migranten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Algerier als »Reservearmee« für den lothringischen Arbeitsmarkt . . . . . . . . . . 1.2.1 In der Selektionsmaschinerie . . . . . . . . . . 1.2.2 »Instabil« und unqualifiziert . . . . . . . . . . 1.2.3 Expansion prekärer Arbeit . . . . . . . . . . . 1.2.4 Ohne Erwerb im Exil . . . . . . . . . . . . . . Die Wohnorte algerischer Migranten im Departement Moselle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Anzahl und räumliche Verteilung der Algerier in Moselle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Wenn der Chef der Vermieter ist . . . . . . . . 1.3.3 Die algerischen Herbergen in Metz . . . . . . 1.3.4 Das Risiko der Obdachlosigkeit . . . . . . . . Algerische Migranten im Saarland . . . . . . . . . . . 1.4.1 Ein französisches Protektorat an der Saar . . . 1.4.2 Elemente einer Sozialstruktur . . . . . . . . . 1.4.3 »Nordafrikaner« als Sicherheitsund Gesundheitsrisiko . . . . . . . . . . . . . 1.4.4 Die soziale Unterstützung für Algerier im Saarland seit 1953 . . . . . . .

37

Zur Vorgeschichte des MTLD . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Die Erfindung Messali Hadjs als Spiritus Rector der Nation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6

Inhalt

2.2.

2.3.

2.4.

2.1.2 Grundprobleme des MTLD . . . . . . . . . . . Die schwierigen Anfänge des MTLD . . . . . . . . . . 2.2.1 Organisationsprinzipien und erste Schritte des MTLD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Algerische Nationalisten im Fokus der lothringischen Polizei . . . . . . . 2.2.3 Interne Konflikte, eine flüchtige Anhängerschaft und die Konkurrenten der UDMA . . . . . . . . 2.2.4 Annäherung des MTLD und der CGT in der Region Longwy . . . . . . . . . . . . . . 2.2.5 Ein Architekt des MTLD: Mourad Terbouche in Nancy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die kurze Blütezeit des MTLD . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Koloniale Repression als Nährboden des Antikolonialismus . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Mitgliedergewinne und erhöhte Einnahmen . . 2.3.3 UDMA und Ulema als politische Konkurrenten des MTLD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4 Der moderate Kurs des MTLD . . . . . . . . . . 2.3.5 Trauern mit dem »zaim«. Die Beerdigung von Madame Messali . . . . . . . . . . . . . . . Spaltung und Ende des MTLD . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 »Mit Messali in den Kampf« . . . . . . . . . . . 2.4.2 Die ersten Abweichler von Messali . . . . . . . . 2.4.3 Die MTLD-Propaganda in Zeiten der Krise 1954 2.4.4 Die Auflösung des MTLD . . . . . . . . . . . .

3. Medien und antialgerische Stimmung in Lothringen vor 1954 . 3.1. 3.2. 3.3. 3.4.

Über die Entstehung von Bedrohungsszenarien im kolonialen Algerien . . . . . . . . . . . . . . . . . »Kolonialistisches Denken« und antialgerische Stimmung zwischen den Weltkriegen . . . . . . . . . Panikstimmung in Réhon . . . . . . . . . . . . . . . Mediale Reflexe nach einem Kindesmord in Hayange

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155

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II. Drei Kriegsparteien, ein Ziel Algerische Migranten zwischen Polizei, FLN und MNA, 1955–1957 1. Vom Aufbau eines Polizeistaats . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. 1.2.

Institutionalisierung eines Generalverdachts . . . . . . Die Gendarmerie als Ziel von Attentaten? . . . . . . . .

179 180 185

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Inhalt

1.3. 1.4. 1.5. 1.6.

Vom Generalverdacht zur Generalschikane . . . . . . . Staatliche Anleitung zu einem (kaum) verhohlenen Rassismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Genese eines Systems der permanenten Einschüchterung »Pouvoirs spéciaux« und Algerienkrieg in der Metropole

2. Niedergang der Messalisten im lothringischen Grenzgebiet . . 2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5. 2.6. 2.7.

Algerische Migranten als Adressaten von Verhaltensregeln, Drohungen und Geldforderungen Mobilisierung und Disziplinierung im Zeichen ausufernder Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Anschlag auf das Café La Ville d’Oran in Metz und seine Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der offene Konflikt mit den französischen Kommunisten Die Kundgebung der USTA am 12. Mai 1957 in Metz . Von den Risiken einer legalistischen Strategie im Kolonialkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Formen und Folgen der Verlagerung von MNA-Aktivitäten auf das Saarland . . . . . . . . .

3. Die Anfänge des FLN in Lothringen . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. 3.2. 3.3. 3.4. 3.5.

Entstehung und erste Schritte des FLN in Algerien und in der Metropole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die vielen Wege in den FLN . . . . . . . . . . . . . . . Strategische Vorteile des FLN gegenüber den Messalisten Grenzüberschreitende Aktivitäten des FLN . . . . . . . Die anonyme Etablierung des FLN . . . . . . . . . . . . 3.5.1 Die Kontrolle des urbanen Raums im Becken von Nancy . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.2 Kampf um die Lager und Arbeiterwohnheime der Region Thionville . . . . . . . . . . . . . . .

4. Die politische Mobilisierung algerischer Migranten in Lothringen und ihre Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. 4.2.

Erste Reaktionen auf den Algerienkrieg . . . . . . . . . Algerische Migranten aus der Perspektive lothringischer Arbeitgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Integrationskonzepte für »nordafrikanische Arbeiter« als koloniale Propaganda . . . . . . . 4.2.2 Sondermaßnahmen zur betrieblichen Integration

7 188 193 197 201 211 211 216 223 225 230 235 239 249 249 255 258 263 265 267 270 277 277 283 283 287

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8

Inhalt

4.3. 4.4.

Heimreisen, ein neues Migrationsregime und Entlassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Streik des FLN im Januar 1957 und die Folgen . . .

295 302

III. Leben zwischen den Fronten Algerische Migranten und der Kolonialkrieg in Lothringen, 1958–1962 1. Polizei, Gendarmerie und Armee im Umgang mit Algeriern in Lothringen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 1.1. 1.2.

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315

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323

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327 327

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337

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342

2. Der Überlebenskampf des MNA im lothringischen Grenzgebiet

355

1.3.

2.1.

Schikane als Standardmaßnahme . . . . . . . . . . . Grenzen polizeilicher Repressionen im »Antiterrorkampf« . . . . . . . . . . . . . . . . . Vogelfreie Franzosen? Algerier als Opfer willkürlicher Gewaltmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Die Folter und das Ansehen der Gendarmerie 1.3.2 Polizeiliche Deutungs- und Handlungsmöglichkeiten im (kolonialen) Ausnahmezustand . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3 Die Menschenjagd des ersten Fallschirmjägerregiments . . . . . .

Der Wiederaufstieg von MNA und USTA im Windschatten des »Antiterrorkampfs« . . . . . . . Die Krise des MNA im Winter 1958–1959 . . . . . . Ein Mord in Saarbrücken und die Saarland-Strategie des MNA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die kurzfristigen Erfolge der saarländischen MNA-Schocktruppe . . . . . . . . Mittel und Wege für ein positives Bild des MNA im Saarland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der MNA im industriellen Becken von Longwy . . .

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355 361

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364

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367

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372 377

3. Schwacher Staat oder starke Untergrundorganisation? Der FLN in Lothringen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

383

2.2. 2.3. 2.4. 2.5. 2.6.

3.1. 3.2. 3.3. 3.4.

Struktur, Erfolgsrezept und Grenzen der Macht des FLN Die negativen Konsequenzen der »opération orage« . . Ein Industriegebiet wird zum Kriegsgebiet . . . . . . . Die Organisation der Gewalt des FLN . . . . . . . . . .

384 393 401 413

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Inhalt

9

Algerische »Kollekten« und Strafen im Saarland . . . . Die Demonstrationen algerischer Frauen im Oktober 1961 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

419 425

4. Alltag und »agency« algerischer Migranten in Lothringen . . .

431

3.5. 3.6.

4.1.

Die wachsende Zahl algerischer Migranten und der Wandel der Sozialstruktur . . . . . . . . . Sozialarbeit für »Nordafrikaner« . . . . . . . . . . . Eigensinn und Unabhängigkeitskrieg. Dimensionen der »agency« algerischer Migranten . 4.3.1 Handlungsspielräume eines »zonal« des FLN 4.3.2 Die Politik der Gastronomen und Arbeiter . 4.3.3 Eine Frau im Krieg um die Frauen . . . . . .

. . . .

431 441

. . . .

. . . .

448 449 453 458

Epilog: Der Krieg ist zu Ende. Es lebe der Krieg? . . . . . . . . . . . .

465

Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

473

Abbildungsnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

481

Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

483

Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

485

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

494

Interviewte Zeitzeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

508

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

511

4.2. 4.3.

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Dank Dieses Buch ist die gekürzte Fassung meiner Dissertation, die im Dezember 2016 von der école doctorale der Universität Paris 1 und dem Fachbereich Neuere und Neueste Geschichte der Universität Trier angenommen wurde. Dass der Name des Autors auf dem Buchdeckel steht, soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele Menschen an der Entstehung dieser Arbeit einen wichtigen Anteil hatten. An erster Stelle danke ich meinen beiden Betreuern, Lutz Raphael und Raphaëlle Branche, die mir nicht nur viele Tore geöffnet, sondern mich auch stets weiter angespornt haben. Das Centre Marc-Bloch hat meine Forschung während der längsten Zeit meiner Promotion finanziert und mir mit Daniel Schönpflug und Teresa Koloma Beck zwei exzellente Ansprechpartner zur Seite gestellt. Ferner danke ich Steffen Prauser und Stephan Geifes für ihren Rat und ihre Förderung während meiner Zeit als Stipendiat und Resident Fellow am Deutschen Historischen Institut Paris (DHIP). In Lothringen waren mir insbesondere Mouloud Boussaid und Anne-Marie Cornaert bei der Suche nach algerischen Zeitzeugen sehr behilflich. Die vor allem dadurch zustande gekommenen Interviews wurden zu einem großen Anteil von meiner Mutter, Hélène Lenoir, transkribiert. Axel Habermehl, Cornelia Schendzielorz, Teresa Koloma Beck, Daniel Schönpflug, Marcel Thiel, Eva-Maria Klos, Malte König, Kerstin Stubenvoll, Sabine Hoscislawski, Axel Dröber, Mathilde von Bülow, Niklas Alt und Arndt Neumann haben jeweils einzelne Teile der Arbeit gelesen und es mir so ermöglicht, zahlreiche Präzisierungen vorzunehmen. Ulrike Voigt und Veronika Vollmer möchte ich für das gründliche Lektorat danken und dem DHIP für die Aufnahme in die Reihe der Pariser Historische Studien. Meine Familie und meine Freunde, insbesondere Demian Jancsó und Mark Praznik, haben mir während der Endphase der Dissertation entscheidend den Rücken gestärkt. Diese Arbeit ist meiner Tochter Malika gewidmet. Berlin, im Frühjahr 2019

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Lucas Hardt

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Einleitung Aktuelle Bezüge und Relevanz der Arbeit Während der Fertigstellung dieser Arbeit beherrschten drei Themenblöcke die politische Agenda in Europa: Krieg, Terrorismus und Zuwanderung. Der 2011 durch Proteste gegen die Assad-Regierung ausgelöste Krieg in Syrien entwickelte sich zu einem Krisenherd mit globaler Reichweite, in den sich auch die beiden Großmächte Russland und USA aktiv einschalteten. Angesichts der Flüchtlingswelle des Sommers 2015 und der von Syrien aus in Auftrag gegebenen Anschläge in Frankreich und Belgien entstand zuweilen der Eindruck, als könnten Themen der Innen-, Außen-, Sicherheits- und Migrationspolitik nicht mehr getrennt voneinander diskutiert werden. Während die aktuelle Entwicklung in den meisten europäischen Ländern als ein historisches Novum erlebt wird, fühlen sich einige Beobachter in Frankreich an die Jahre des Algerienkrieges (1954–1962) erinnert. Dazu trugen nicht nur die Anwendung der Bestimmungen des 1955 eingeführten Gesetzes über den Ausnahmezustand und Forderungen hochrangiger Politiker nach einer Wiedereinführung von Internierungslagern für Terrorismusverdächtige bei. Auch die bereits seit Jahren andauernden, nun aber mehr denn je aufgeheizten Auseinandersetzungen um das Thema Islam werfen ein Schlaglicht auf den längsten und opferreichsten Kolonialkrieg der französischen Geschichte. Zu Beginn des Algerienkrieges verstand sich Frankreich nach den Worten des damaligen Innenministers François Mitterrand im Dezember 1954 noch als »zweitgrößte muslimische Nation« nach Pakistan1 . Nachdem die algerische Bevölkerung dann 1962 per Referendum für die Unabhängigkeit von Frankreich votierte, wurde das von den Regierungen in Paris lange gepriesene Propagandamotiv einer angestrebten Versöhnung zwischen der Republik und der muslimischen Bevölkerung fallen gelassen. Stattdessen etablierte sich innerhalb des politischen Diskurses die Einschätzung, der Islam sei mit republikanischen Werten unvereinbar2 . Als entscheidender Antreiber und Taktgeber dieser Entwicklung fungiert bis heute der Front national bzw. Rassemblement national. Die von Anhängern der »Algérie française« zu 1

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Todd Shepard, Thinking between Metropole and Colony. The French Republic, »Exceptional Promotion«, and the »Integration« of Algerians, 1955–1962, in: Martin Thomas (Hg.), The French Colonial Mind, Lincoln 2011, S. 298–323, hier S. 302. Siehe dazu Yvan Gastaut, Français et immigrés à l’épreuve de la crise (1973–1995), in: Vingtième siècle. Revue d’histoire 84 (2004), S. 107–118; Benjamin Stora, Alexis Jenni, Les mémoires dangereuses. Suivi d’une nouvelle édition de »Transfert d’une mémoire«, Paris 2016.

https://doi.org/10.1515/9783110644012-001

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Einleitung

Beginn der 1970er Jahre gegründete und entscheidend geprägte Partei profitiert von der gegenwärtig durch die Trias Krieg, Zuwanderung, Terrorismus angeheizten Krisenstimmung enorm und hat ernsthafte Chancen, die stärkste politische Kraft in Frankreich zu werden. Die Erfolge des Front bzw. Rassemblement national, die Präsenz und die Lebensumstände einer großen Anzahl von Muslimen in Frankreich, aber auch die spezifisch französische Semantik von Krieg, Terror und Islam sind nur vor dem Hintergrund des Algerienkriegs zu verstehen. Dessen historische Aufarbeitung hat seit der Entscheidung der Nationalversammlung aus dem Jahr 1999, die bis dahin als »Ereignisse« titulierten Vorgänge in Algerien zwischen 1954 und 1962 als Krieg zu bezeichnen3 , eine bedeutende Entwicklung durchgemacht4 . Dennoch wird das Thema insbesondere von der politischen Rechten nach wie vor erfolgreich zur Polarisierung und Mobilisierung instrumentalisiert. Noch 2011 bezeichnete Benjamin Stora den Algerienkrieg als »den gordischen Knoten« im nach wie vor andauernden »Krieg der Erinnerungen« an die französische Kolonialvergangenheit5 . Mit diesem Buch soll vor allem ein Beitrag zur Aufarbeitung der Geschichte der algerischen Zuwanderung nach Frankreich und Deutschland sowie des französischen Kolonialismus und des Algerienkrieges in Europa geleistet werden. Angesichts der skizzierten politischen Entwicklung in Frankreich und Europa erscheint dem Autor eine differenzierte Auseinandersetzung mit diesen Themen dringlicher denn je. Die Geschichte der algerischen Migranten im lothringischen Grenzgebiet zwischen 1945 und 1962 eignet sich dazu in besonderer Weise, da sie aus einer an Alltagsbedingungen und -veränderungen interessierten Mikroperspektive heraus auch den Blick für die internationale Dimension öffnet.

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4 5

Dabei muss betont werden, dass die Initiative von ehemaligen Soldaten der französischen Armee stammte, die eine stärkere politische und gesellschaftliche Anerkennung ihres Einsatzes anstrebten. Eine Reflexion über die ehemaligen Feinde fand nicht statt. Die »Operationen zur Aufrechterhaltung der Ordnung« wurden zwar als Krieg, nicht aber in ihrer Besonderheit als Kolonialkrieg anerkannt, vgl. Raphaëlle Branche, La guerre d’Algérie. Une histoire apaisée?, Paris 2005, S. 42f. Vgl. Aïssa Kadri, Introduction, in: Dies., Moula Bouaziz, Tramor Quemeneur (Hg.), La guerre d’Algérie revisitée. Nouvelles générations, nouveaux regards, Paris 2015, S. 5–24. Benjamin Stora, Thierry Leclère, La guerre des mémoires. La France face à son passé colonial, La Tour d’Aigues 2011, S. 49–55. Inwiefern diese martialische Wortwahl hilfreich sein kann, ist aus der Sicht des Autors fraglich. Sylvie Thénault hat davor gewarnt, dass die Vorstellung eines »Kriegs der Erinnerungen« dazu verleiten könnte, homogenisierende Vorstellungen über die Gruppen der daran beteiligten Akteure zu transportieren und den Wandel des Gedenkens an den Algerienkrieg auszublenden: Sylvie Thénault, La guerre d’indépendance algérienne. Mémoires françaises, in: Historiens & géographes (2014), S. 75–90, hier S. 88.

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Begriffe

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Begriffe Diese Arbeit kommt aufgrund ihres Forschungsgegenstandes nicht umhin, sich mit politisch umkämpften Begriffen auseinanderzusetzen. Pierre Bourdieu bezeichnete als ein grundlegendes Problem wissenschaftlichen Schreibens, daß die zeitgenössischen Begriffe, die wir dem Gegenstand, den wir studieren, entlehnen, fast immer Einsätze in sozialen Kämpfen sind. Das ist zum Beispiel der Fall bei Wörtern, die Gruppen bezeichnen und die häufig in Konflikten um die Grenzen dieser Gruppen, also um die Bedingungen von Zugehörigkeit und Ausschluß verwendet werden6 .

Es gilt, den Leser dafür zu sensibilisieren, dass bereits lange vor dem gewählten Untersuchungszeitraum weder in Lothringen noch in Algerien Konsens darüber bestand, wer als Algerier oder Patriot und was als Frankreich, Kolonialismus, Gewalt7 oder Krieg zu gelten hatte8 . Der entscheidende Grund dafür lag darin, dass die Autorität des französischen Staates zwischen 1870 und 1945 außerhalb der von seinen Vertretern als Kolonien bezeichneten Gebiete nirgends sonst so brüchig und umkämpft war wie in Algerien, Lothringen und im Elsass. Während in Algerien mehrere offene Revolten gegen die französischen Besatzer ausbrachen9 , wechselten das Gebiet des späteren loth6

7

8

9

Pierre Bourdieu, Über die Beziehungen zwischen Geschichte und Soziologie in Frankreich und Deutschland. Interview mit Lutz Raphael, in: Geschichte und Gesellschaft 22/1 (1996), S. 62–89, hier S. 77f. Die Definition von Gewalt ist immer auch eine politische Frage. Dies wird im Französischen besonders anhand der Unterscheidung zwischen force und violence deutlich. Während force in der Regel zur Beschreibung eines als legitim erachteten Einsatzes von Gewalt verwendet wird, zielt der Begriff violence meist auf eine als unrechtmäßig bewertete Gewaltanwendung. In dieser Arbeit liegt der Verwendung des Gewaltbegriffs die Definition von Heinrich Popitz zu Grunde: »Gewalt meint eine Machtaktion, die zur absichtlichen körperlichen Verletzung anderer führt, gleichgültig, ob sie für den Agierenden ihren Sinn im Vollzug selbst hat (als bloße Aktionsmacht) oder, in Drohungen umgesetzt, zu einer dauerhaften Unterwerfung (als bindende Aktionsmacht) führen soll«, Heinrich Popitz, Phänomene der Macht, Tübingen 2 1992, S. 48. An dieser Stelle ist die regionalgeschichtliche Besonderheit Lothringens zu betonen; einer Region, in der die Konsolidierung staatlicher und damit begriffsdefinierender Macht besonders instabil war. Nach der Eroberung Lothringens durch die Truppen des Deutschen Kaiserreichs 1870/1871 bezeichneten sich viele der dort lebenden Franzosen in Abgrenzung zur Besatzungsmacht als »Indigene« und klagten die »koloniale Situation« an, in der sie sich befänden: François Roth, Alsace-Lorraine. Histoire d’un »pays perdu«: de 1870 à nos jours, Nancy 2010, S. 43.118. Raymond Mondon, der Bürgermeister von Metz von 1947 bis 1970, wurde am 8. Juni 1944 von der Gestapo als »Terrorist« verhaftet, vgl. Gaëtan Avanzato, Raymond Mondon. Le donjon de Metz, Metz 2011, S. 44. Nachdem 1871 ein Aufstand gegen Frankreich in der Kabylei unter der Führung Mohamed el-Mokranis nach wenigen Monaten niedergeschlagen worden war, kam es zwischen 1881 und 1883 auch zu mehreren Gefechten mit einzelnen aufständischen Gruppen im algerisch-marokkanischen Grenzgebiet: Jean-Pierre Peyroulou, Ounassa Siari Tengour, Sylvie Thénault, 1830–1880: la conquête coloniale et la résistance des Algériens,

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ringischen Departements Moselle und das Elsass im Zuge von drei Kriegen viermal ihre territorialstaatliche Zugehörigkeit10 . Mit der Fragilität der politischen Ordnung ging einher, dass an die Autorität des Staates gebundene Begriffe an Schärfe verloren11 . Auch zwischen 1945 und 1962 waren die Hegemonie und das Gewaltmonopol des französischen Staates weder in Algerien noch in Lothringen konsolidiert. Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, eher von »Staatlichkeit« als von dem Staat im Sinne einer Universalie zu sprechen. Michel Foucault schlug vor, Staat als »Korrelat einer bestimmten Weise zu regieren« zu fassen und führte dazu den Begriff »Gouvernementalität« ein12 . Klaus Schlichte wollte »Staat« als Ergebnis der Praktiken staatlicher und nichtstaatlicher Akteure verstanden wissen, die ein global verbreitetes Ideal des Staates als Gewaltmonopolist, überlegene Instanz, räumliche Einheit und bürokratischer Apparat zu realisieren versuchen13 . Für den Ansatz der vorliegenden Studie eröffnen diese Abstraktionen des Staatsbegriffs wichtige Vergleichsperspektiven, insbesondere zwischen der Praxis und der Terminologie von Polizisten und Aktivisten algerischer Untergrundorganisationen. Es soll explizit vermieden werden, bei der Analyse von Legitimitätskonflikten auf begrifflicher Ebene eine einseitige Perspektive zu suggerieren. Stattdessen sollen die Auswirkungen der Auseinandersetzungen verschiedener, auch um einen legitimen Sprachgebrauch miteinander konkurrierender Agenten von Staatlichkeit sowohl im Einzelnen als auch in ihrer gemeinsamen Wirkung auf Algerier verständlich gemacht werden. Wenn »Staat« jedoch zunächst nichts weiter als ein Wort ist14 , müssen auch andere für diese Arbeit zentrale Begriffe a priori hinterfragt werden, die sich entweder auf das Konzept des Staates im Allgemeinen oder auf den französischen Staat im Besonderen beziehen. Letzteres betrifft in erster Linie die zentralen Akteure dieser Studie: Algerier beziehungsweise algerische Migranten, die während des Untersuchungszeitraums in schriftlichen Quellen gewöhnlich als »Indigene«, »muslimische Algerier«, »muslimische Franzosen Algeriens«, »Franzosen nordafrikanischer Abstammung« oder »Nordafrikaner« bezeichnet wurden. Eine begriffliche Klärung ist hier umso dringender erforderlich, als große Teile der rechtlich privilegierten in: Abderrahmane Bouchène u. a. (Hg.), Histoire de l’Algérie à la période coloniale, 1830–1962, Paris, Algier 2012, S. 19–44, hier S. 41–44. 10 Vgl. als Überblick: Roth, Alsace-Lorraine. Histoire d’un pays. 11 Vgl. bezüglich der Verschränkung von Staat und legitimer Sprache Pierre Bourdieu, Ce que parler veut dire. L’économie des échanges linguistiques, Paris 1989, S. 23–34. 12 Michel Foucault, Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II, Vorlesung am Collège de France 1978–1979, Frankfurt a. M. 2 2009, S. 19. 13 Klaus Schlichte, Der Staat in der Weltgesellschaft. Politische Herrschaft in Asien, Afrika und Lateinamerika, Frankfurt a. M. 2005, S. 64. 14 So Paul Veyne, Der Eisberg der Geschichte. Foucault revolutioniert die Historie, Berlin 1981, S. 34f.

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französischen Minderheit in Algerien sich selbst zur Untermauerung ihrer territorialen Machtansprüche und als Abgrenzung gegenüber der Metropole als Algerier bezeichneten. Diesbezüglich plädierte der Historiker Guy Pervillé für eine Beibehaltung der kolonialen Bezeichnungen unter Hinzuziehung von Anführungszeichen und ergänzenden Adjektiven. Als entscheidende Gründe führte er die politisch umstrittene Definition einer algerischen Nation durch die erste algerische Nationalversammlung im Jahr 1963 an; außerdem sein Bestreben, ein Vokabular zu verwenden, das nicht konträr zu dem historischer Quellen steht sowie das Abgleiten in eine teleologische Geschichtsschreibung zu vermeiden15 . Von Pervillés Vorschlag wird hier aus drei zentralen Gründen abgesehen: Erstens waren rechtsetzende und durch die damit einhergehende Herstellung von Hierarchien zugleich abwertende Gruppenbezeichnungen ein charakteristisches Merkmal kolonialer Herrschaft, deren Mechanismen und Inhalte die Geschichtswissenschaft dekonstruieren und nicht perpetuieren sollte16 . Ferner ist darauf hinzuweisen, dass Pervillés zweites Argument in anderen Themenfeldern die groteske Konsequenz mit sich bringen würde, dass Historiker Personen aufgrund deren Etikettierung in den Quellen etwa als »Affen« oder »Untermenschen« bezeichnen müssten17 . Entscheidend ist jedoch drittens, dass sich die historischen Akteure, von denen hier die Rede sein soll, in der Regel selbst als Algerier bezeichneten. Die genannten kolonialistischen Zuschreibungen wurden, wenn überhaupt, nur von einer kleinen Minderheit angenommen, die das Regime des französischen Staates in Algerien nicht als das einer illegitimen Besatzungsmacht ansah18 . Insofern werden im Folgenden alle Personen, die nach französischem Gesetz bis 1962 als »muslimische Franzosen Algeriens« zu gelten hatten, als Algerier bezeichnet19 . Sofern die15 16 17

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Guy Pervillé, Comment appeller les habitants de l’Algérie avant la définition légale d’une nationalité algérienne?, in: Cahiers de la Méditerranée (1996), S. 55–60. Vgl. Frederick Cooper, Kolonialismus denken. Konzepte und Theorien in kritischer Perspektive, Frankfurt a. M. 2008, S. 117. Siehe dazu die Ausführungen zur so genannten Valladolid-Debatte im 16. Jahrhundert zwischen Juan Ginés de Sepúlveda und Bartolomé de las Casas um die Frage, inwiefern die in den spanischen Kolonien lebende Bevölkerung als menschlich anzusehen sei, in: Maria do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Frankfurt a. M. 2015, S. 25f. Gilbert Meynier, Histoire intérieure du FLN, 1954–1962, Paris 2002, S. 41. Die Frage nach der korrekten Bezeichnung von Algeriern wird im Rahmen öffentlicher Veranstaltungen über die koloniale Vergangenheit Frankreichs bis heute immer wieder aufgeworfen. Dessen ungeachtet hat sich die vom Autor dieser Studie gewählte Vorgehensweise in der international anerkannten Forschung über den Algerienkrieg zum aktuellen Zeitpunkt weitgehend durchgesetzt, vgl. Emmanuel Blanchard, La police parisienne et les Algériens. 1945–1962, Paris 2011; Jan C. Jansen, Erobern und Erinnern. Symbolpolitik, öffentlicher Raum und französischer Kolonialismus in Algerien 1830– 1950, München 2013; Jim House, Neil MacMaster, Paris 1961. Les Algériens, la terreur d’État et la mémoire, Paris 2008; Bouchène u. a. (Hg.), Histoire de l’Algérie à la période coloniale; Branche, La guerre d’Algérie, S. 354f.

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Einleitung

se Gruppenbezeichnung zur Anwendung kommt, ohne auch Frauen einzuschließen, wird dies explizit kenntlich gemacht. Auf die an Genderkriterien orientierte Schreibweise wird hier aus Gründen der besseren Lesbarkeit verzichtet. Besonders häufig wurden Algerier als »Nordafrikaner« bezeichnet. Diese auch auf Marokkaner und Tunesier angewandte Betitelung wird hier aus drei Gründen ausschließlich unter Verwendung von Anführungszeichen übernommen. Erstens stellte sie eine implizite Negation der politischen und sozialen Rechte dar, die Algerier zumindest auf dem Papier etwa im Unterschied zu Tunesiern oder Marokkanern hatten. Dennoch konnte nicht immer festgestellt werden, ob es sich bei Personen, die als »Nordafrikaner« bezeichnet wurden, um Algerier handelte. Daher erschien es zweitens opportun, die Bezeichnung in Form eines Zitats zu übernehmen. Drittens war der Begriff schon zur damaligen Zeit stark negativ aufgeladen und transportierte für viele außer einer Information über die Herkunft auch ein Bild des Elends. So war im August 1955 etwa in der Zeitschrift »Paris Match« zu lesen: »Das Wort [Nordafrikaner] hat fast seinen ethnischen oder geografischen Bedeutungsgehalt eingebüßt, so sehr wird es mit Armut, Arbeitslosigkeit und der Schande assoziiert. Der ›Nord-Af‹, das ist alles, was lebt, ohne zu leben, alles, was ohne Arbeit arbeitet, und alles, was ist, ohne zu sein«20 . Um die soziale Situation der Algerier in Lothringen genauer zu fassen, werden sie in dieser Arbeit häufig als Migranten beschrieben. Freilich sind (als Universalien imaginierte) Staaten an der Entwicklung von Vorstellungen über Migration in der Regel maßgeblich beteiligt21 , sodass Definitionen von Migration ohne direkte Bezugnahme auf Attribute eines Staates notwendig vage bleiben müssen. In Abhängigkeit vom jeweiligen Untersuchungsgegenstand können sie dennoch zu einer wichtigen Steigerung des Erkenntniswerts beitragen. Mit Alexander Schunka ist Migration »nicht über die Länge des Weges, den Wandernde zurücklegten [zu definieren], sondern über einen Wechsel des Ortes in Relation zu den jeweiligen familiären Bindungen, die hinterfragt, abgebrochen oder neu ausgehandelt werden mussten«22 . Jochen Oltmer zufolge verweist der Begriff »Migration« »auf räumliche Bewegungen von Menschen. Er [der Begriff] meint jene Muster regionaler Mobilität, die weitreichende Konsequenzen für die Lebensverläufe der Wandernden hatten und aus denen Veränderungen sozialer Institutionen resultieren«23 . 20 21

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Zit. n. Blanchard, La police parisienne et les Algériens, S. 187. Der algerische Soziologe Abdelmalek Sayad brachte dies mit der Formel »Penser l’immigration (ou l’émigration), c’est penser l’État« auf den Punkt: Abdelmalek Sayad, L’immigration ou les paradoxes de l’altérité, Bd. 1: L’illusion du provisoire, Paris 2006, S. 161. Alexander Schunka, Konfession und Migrationsregime in der Frühen Neuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft 35 (2009), S. 28–63, hier S. 29. Jochen Oltmer, Einleitung: Staat im Prozess der Aushandlung von Migration, in: Ders.

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Keine der beiden Definitionen leistet eine trennscharfe Unterscheidung von Migranten und Nicht-Migranten. Es ist jedoch fraglich, inwiefern eine solche objektivierende Unterscheidung aus wissenschaftlicher beziehungsweise nichtstaatlicher Perspektive überhaupt notwendig oder wünschenswert ist. Die beiden genannten Definitionen lenken im Sinne der modernen Migrationsforschung den Blick auf die für Migranten charakteristische soziale Eingebundenheit in mindestens zwei räumlich voneinander getrennten sozialen Feldern24 , die der algerische Soziologe Abdelmalek Sayad mit der Formel der »doppelten Abwesenheit« zu umschreiben versuchte25 . Diese stellt in Rechnung, dass die Geschichte der zwischen 1945 und 1962 in Lothringen lebenden Algerier nicht hinreichend verstanden werden könnte, wenn die hohe Relevanz, die die Zustände in ihren algerischen Herkunftsgebieten für sie hatten, ausgeblendet würde. Daher wird in dieser Arbeit die Eigenschaft der Algerier als Migranten nicht nur begrifflich hervorgehoben, sondern gilt auch als Ausgangspunkt für Fragen nach Transfers, Parallelentwicklungen und Unterschieden zwischen dem lothringischen Grenzgebiet und Algerien. Um eine pointierte Beschreibung der Herrschaftsverhältnisse leisten zu können, unter denen algerische Migranten in Lothringen lebten, muss auch der Begriff »Kolonialismus« geklärt werden, auf den mehrfach zurückzukommen sein wird. Dabei ist zunächst auf die Besonderheit zu verweisen, dass es sich bei Algerien um eine Kolonie des französischen Staates handelte, »die sich darüber zu definieren hatte, ihren kolonialen Charakter zu negieren«26 . Der Zweck der häufig bemühten Propagandaformel »L’Algérie, c’est la France« war letztendlich nur darauf angelegt, den Erhalt des dortigen Status quo unangreifbar zu machen27 . Dass die in Algerien herrschenden Zustände faktisch denen einer Kolonie entsprachen, war um 1945 den meis-

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(Hg.), Handbuch Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert, Berlin, Boston 2015, S. 1–42, hier S. 7. Lutz Raphael, La théorie du champ social et le fait migratoire, in: Clelia Caruso, Jenny Pleinen, Lutz Raphael (Hg.), Postwar Mediterranean Migration to Western Europe. Legal and Political Frameworks, Sociability and Memory Cultures [= La migration méditerranéenne en Europe occidentale après 1945], Frankfurt a. M. 2008, S. 37–50. Abdelmalek Sayad, La double absence. Des illusions de l’émigré aux souffrances de l’immigré, Paris 1999. Jansen, Erobern und Erinnern, S. 467f. Die faktische koloniale Situation Algeriens lässt sich insbesondere anhand zahlreicher ausschließlich für Algerien geltender Sondergesetze, der privilegierten Position der franko-algerischen Minderheit sowie den ausschließlich für das algerische Territorium zuständigen Institutionen illustrieren. Zudem differenzierte die Regierung in Paris in Bezug auf Algerien bis zum Ausbruch des Unabhängigkeitskrieges selbst unter wirtschaftspolitischen Aspekten kaum zwischen den beiden nordafrikanischen Protektoraten Tunesien und Marokko sowie anderen Kolonien der Union française, vgl. Valentin Katzer, »L’Algerie, c’est la France«. Die französische Nordafrikapolitik zwischen Anspruch und Realität (1946–1962), Stuttgart 2016, S. 55–74.

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ten Zeitgenossen und allen politischen Entscheidungsträgern bewusst28 . Daher und dem in der Forschung anerkannten Usus entsprechend wird der Algerienkrieg beziehungsweise der algerische Unabhängigkeitskrieg29 auch als Kolonialkrieg und das europäische Gebiet des französischen Staates bis 1962 als Metropole bezeichnet30 . Mit Jürgen Osterhammel ist Kolonialismus als eine Herrschaftsbeziehung zwischen Kollektiven [zu definieren], bei welcher die fundamentalen Entscheidungen über die Lebensführung der Kolonisierten durch eine kulturell andersartige und kaum anpassungswillige Minderheit von Kolonialherren unter vorrangiger Berücksichtigung externer Interessen getroffen und tatsächlich durchgesetzt werden. Damit verbinden sich in der Neuzeit in der Regel sendungsideologische Rechtfertigungsdoktrinen, die auf der Überzeugung der Kolonialherren von ihrer eigenen kulturellen Höherwertigkeit beruhen31 .

Beide von Osterhammel genannten Kriterien treffen für Algerien zwischen 1830 und 1962 eindeutig zu. Das letztere ist für die vorliegende Studie jedoch von besonderer Relevanz, da zahlreiche Elemente des kolonialen Diskurses32 und Vorstellungen bezüglich einer den Kolonialismus womög28

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Auf den verschiedenen Kolonialausstellungen, die in Frankreich während der Zwischenkriegszeit stattfanden, nahm Algerien stets eine zentrale Bedeutung ein, vgl. auch die Beiträge in: Pascal Blanchard, Sandrine Lemaire, Didier Daeninckx (Hg.), Culture impériale, 1931–1961. Les colonies au cœur de la République, Paris 2011. »Algerischer Unabhängigkeitskrieg« steht für eine algerische Perspektive, während »Algerienkrieg« eine eher französische Sichtweise auf den Konflikt nahelegt. Aus stilistischen Gründen werden jedoch hier beide Bezeichnungen für die bewaffneten Auseinandersetzungen um die Frage nach der politischen Zukunft des algerischen Territoriums und der politischen Zugehörigkeit der Algerier weitgehend als Synonyme verwendet, vgl. Raphaëlle Branche, Sylvie Thénault, La France en guerre (1945–1962)?, in: Dies. (Hg.), La France en guerre, 1954–1962. Expériences métropolitaines de la guerre d’indépendance algérienne, Paris 2008, S. 5–17; Sylvie Thénault, Histoire de la guerre d’indépendance algérienne, Paris 2005, S. 14–16. Der Begriff bezeichnet das territoriale Machtzentrum bzw. das »Mutterland« innerhalb einer kolonialen Herrschaftsbeziehung. Jürgen Osterhammel, Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen, München 1995, S. 21. Dieser auch von Andreas Eckert übernommenen Definition ist der im gleichen Zusammenhang von Osterhammel gemachte Hinweis hinzuzufügen, Kolonisation sei »ein Phänomen von kolossaler Uneindeutigkeit«, ibid., S. 8. Der daher absolut berechtigten Forderung Sebastian Conrads, »von Kolonialismen im Plural [zu] sprechen« (Sebastian Conrad, Deutsche Kolonialgeschichte, München 2008, S. 14f.), wird an dieser Stelle nicht entsprochen, da das Anliegen hier nicht in einer Typologisierung, sondern in einer grundsätzlichen Klärung über die Verwendung eines für dieser Arbeit zentralen Begriffs besteht. Siehe Andreas Eckert, Kolonialismus. Globalisierung und Kolonialismus, der amerikanische Doppelkontinent und die Karibik, Asien, der Nahe Osten und Afrika, die Prozesse der Dekolonisation, Frankfurt a. M. 2006, S. 3. Bei der Verwendung dieses Begriffs folgt der Autor Homi K. Bhabha. Dieser bezeichnet als kolonialen Diskurs ein sowohl paradoxes als auch instabiles Repräsentationssystem, das darauf angelegt ist, eine Differenz zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten festzuschreiben. Dabei wirkt der koloniale Diskurs stets an der Destabilisierung der von ihm selbst hergestellten Ordnungen und Hierarchien mit. Dies geschieht einerseits durch

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lich rechtfertigenden französischen Zivilisierungsmission33 während des Untersuchungszeitraums in Ostfrankreich weit verbreitet waren. So wird etwa anhand von kolonialistischen Stigmatisierungen bis hin zu Hetzkampagnen gegen Algerier, aber auch am Beispiel spezifisch auf »Nordafrikaner« ausgerichteter Sozialarbeit gezeigt, dass der Kolonialismus seine vielfältigen Wirkungen auch außerhalb der Kolonie entfaltete34 . Abschließend ist noch darauf hinzuweisen, dass der Begriff »lothringisches Grenzgebiet« nicht auf eine feststehende territoriale Einheit, sondern vielmehr auf einen sozialen und daher dynamischen Raum im Sinne Pierre Bourdieus zielt35 , den sich Algerier zwischen 1945 und 1962 in verschiedenen Formen aneigneten. Aufgrund dieser Ausrichtung des Untersuchungsgebiets auf die Aufenthaltsorte und Bewegungen der zentralen Akteure liegt der Schwerpunkt der Untersuchung auf den beiden lothringischen Departements Moselle und Meurthe-et-Moselle. Jenseits davon erstreckt sich das Forschungsgebiet im Norden von Longwy über Luxemburg bis Trier sowie im Osten über Forbach und Saarbrücken bis Kaiserslautern und Landau. Auf eine exakte Definition des hier behandelten Grenzraums wurde verzichtet, weil dessen Wahrnehmung in Abhängigkeit von Akteuren, Ort- und Zeitpunkt stark variierte36 .

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die Anrufung unvereinbarer Stereotype wie etwa des kindlichen und lernbegierigen Kolonisierten und des zu Brutalität und sexuellen Ausschweifungen neigenden Wilden. Andererseits entfaltet auch der Versuch der Kolonisatoren, sich selbst in Abgrenzung, also in Relation, zu den Kolonisierenden zu beschreiben, eine entsprechende Wirkung, vgl. Homi K. Bhabha, The Location of Culture, London, New York 2004, S. 94–97; do Mar Castro Varela, Dhawan, Postkoloniale Theorie, S. 225. Ann Laura Stoler und Frederick Cooper haben darauf hingewiesen, dass die grundlegende Spannung innerhalb eines kolonialen Imperiums darin gelegen habe, »dass die otherness einer kolonialisierten Person weder inhärent noch stabil war, und dass seine oder ihre Differenz definiert und aufrechterhalten werden musste«, Ann Laura Stoler, Frederick Cooper, Zwischen Metropole und Kolonie: ein Forschungsprogramm neu denken, in: Claudia Kraft, Alf Lüdtke, Jürgen Martschukat (Hg.), Kolonialgeschichten. Regionale Perspektiven auf ein globales Phänomen, Frankfurt a. M. 2010, S. 26–66, hier S. 35. Die französische Zivilisierungsmission kann als »sendungsideologische Rechtfertigungsdoktrin« bezeichnet werden, die Jürgen Osterhammel in seiner oben angeführten Definition von Kolonialismus anspricht. Ihr Grundgedanke bestand darin, Frankreich habe nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, europäische Werte und Inhalte der Aufklärung in die Welt zu tragen, um sie vermeintlich rückständigen Bevölkerungsgruppen in Übersee zugutekommen zu lassen. Grundlegend für die Auseinandersetzung mit der französischen Zivilisierungsmission und deren Genese ist die Studie von Alice L. Conklin, A Mission to Civilize. The Republican Idea of Empire in France and West Africa, 1895–1930, Stanford, CA 1997. Siehe diesbezüglich do Mar Castro Varela, Dhawan, Postkoloniale Theorie, S. 21. Pierre Bourdieu, Ortseffekte, in: Ders. (Hg.), Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, Konstanz 1997, S. 117–123; Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt a. M. 2009, S. 179–183. Vgl. Lutz Raphael, Christof Dipper, »Raum« in der europäischen Geschichte. Einleitung, in: Journal of Modern European History 9 (2001), S. 27–41, hier S. 33.

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Einleitung

Gegenstand der Arbeit Im Zentrum der Untersuchung stehen Algerier, die sich während der Jahre 1945 bis 1962 in den beiden französischen Departements Moselle und Meurthe-et-Moselle sowie dem Saarland aufhielten. Bis weit in die 1950er Jahre hinein handelte es sich dabei zu einem überwiegenden Anteil um Männer zwischen 20 und 40 Jahren. In der Regel ohne Berufsausbildung und oft nur mit spärlichen französischen Sprachkenntnissen ausgestattet, hatten sie das Mittelmeer meist mit dem Vorhaben überquert, für eine begrenzte Zeit in der französischen Metropole zu arbeiten, ihre Familien in Algerien finanziell zu unterstützen und dann möglichst bald wieder zurückzukehren37 . Neben dem Großraum Paris, den Departements Rhône, Nord und Pasde-Calais gehörten Moselle und Meurthe-et-Moselle nach 1945 zu den wichtigsten Anlaufgebieten algerischer Migranten. Der ausschlaggebende Faktor dafür waren die Erwerbsmöglichkeiten. Diese boten für Algerier in Lothringen insbesondere die Eisen- und Stahlindustrie, die an der Grenze zum Saarland gelegenen Kohlegruben sowie zahlreiche Unternehmen des Bausektors. Aufgrund deren hoher Nachfrage nach ungelernten Arbeitskräften und der grassierenden Armut in Algerien hatten sich bereits während der Zwischenkriegszeit immer mehr Algerier in den Osten der Metropole orientiert. Infolge der Liberalisierung des Grenzverkehrs zwischen Algerien und der Metropole nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entwickelte sich eine von der Nachfrage des Arbeitsmarkts losgelöste Eigendynamik der Migration. Auch aufgrund regionaler Faktoren stellte sich ein Wandel der sozialen Struktur der algerischen Migration in Lothringen ein: Die Anzahl der Frauen, Kinder und der Arbeitslosen unter den Algeriern nahm zu. Der Einfluss der Migrationsnetzwerke zwischen lothringischen Industriezentren und algerischen Dörfern auf Einzelne ging zurück. Das von der übrigen Bevölkerung zunächst weitgehend abgeschottet lebende algerische Milieu wurde in seiner sozialen und geografischen Zusammensetzung heterogener. Parallel zu diesen Entwicklungen wurden die Migranten vor allem durch Aktivitäten algerischer Nationalisten in Lothringen immer wieder mit der Frage der algerischen Unabhängigkeit konfrontiert. Die zwischen 1945 und 1962 in zunehmendem Maße umkämpfte politische Gefolgschaft der Algerier machte diese zu einer bevorzugten Zielscheibe von Gewalt, Stigmatisierung und patriotischen Anrufungen seitens unterschiedlicher Akteure. Während des Unabhängigkeitskriegs gerieten algerische Migranten sowohl in Lothringen als auch im Saarland zwischen die Fronten der einander bekämpfenden 37

Abdelmalek Sayad, Les trois »âges« de l’émigration algérienne en France, in: Actes de la recherche en sciences sociales 15 (1977), S. 59–79; Benjamin Stora, Ils venaient d’Algérie. L’immigration algérienne en France (1912–1992), Paris 1992.

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Fragestellung und Methoden

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algerischen Untergrundorganisationen Front de libération nationale (FLN) und Mouvement national algérien (MNA), die jeweils einen Anspruch auf exklusive Gefolgschaft an sie stellten und alle »Verräter« mit Geld- oder Züchtigungsstrafen bis hin zum Mord bedrohten. Aufgrund des schnell etablierten Generalverdachts, einer der beiden Organisationen anzugehören, wurden die Migranten verstärkt zum Gegenstand ausgiebiger Polizeikontrollen und Repressionen sowie einer stigmatisierenden Medienberichterstattung. In Gestalt von kolonialer und antikolonialer Propaganda, Mordanschlägen und Folter, massenhaften Polizeikontrollen und Deportationen in Internierungslager war der Kolonialkrieg im lothringischen Grenzgebiet deutlich präsent. Durch den Konflikt veränderten sich die Migrationsbedingungen zwischen Algerien und der Metropole grundlegend. Darüber hinaus beförderte der Algerienkrieg die Verbreitung eines negativen Bildes algerischer Migranten beziehungsweise von »Nordafrikanern« bis über die französischen Grenzen hinaus und führte zu einer tiefgehenden Zerrüttung der inneralgerischen Solidarität. Aber aufgrund des hohen Mobilisierungspotentials der algerischen Frage eröffneten die vielfältigen Auseinandersetzungen manchen Migranten auch neue Handlungsoptionen. Dies betraf insbesondere die Anhänger von FLN und MNA, in der französischen Armee dienende algerische Soldaten, aber auch nichtpolitisierte Migranten, die es verstanden, sich etwa die ambivalente Haltung der deutschen Bundesregierung während des Krieges zu Nutze zu machen38 .

Fragestellung und Methoden Um die Geschichte der algerischen Migranten im lothringischen Grenzgebiet nachvollziehen und einordnen zu können, sind mehrere Fragen zu beantworten. Zunächst ist zu klären, wie die soziale Struktur der Migration zwischen 1945 und 1962 beschaffen war, welchen Veränderungsprozessen sie unterlag und welche Faktoren diesen Wandel bestimmten. Es geht darum festzustellen, wofür die Chiffre algerische Migranten im lothringischen Grenzgebiet zu einem bestimmten Zeitpunkt stand. Dafür stehen insbesondere die Fragen: Wie viele Migranten waren es und wo kamen sie her? Wo lebten und unter welchen Bedingungen arbeiteten sie? Wie hoch war der Anteil der Frauen und Kinder innerhalb dieses Kollektivs? Welche Faktoren führten diesbezüglich einen Wandel herbei? Mit Blick auf die Algerienkriegsforschung ist die Frage zu stellen, in welchen Organisationen und zu welchem Anteil sich Algerier wie und mit 38

Vgl. hierzu Lucas Hardt, Flüchtlinge, Terroristen, Freiheitskämpfer? Algerische Migranten und die Bundesrepublik Deutschland 1954 bis 1962, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 3 (2019), S. 377–408.

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Einleitung

welchem Erfolg politisch organisierten. Welche Inhalte versuchten politisch aktive Algerier durchzusetzen und wie gingen sie dabei vor? Inwiefern beruhte die Mobilisierung von Algeriern oder deren anderweitige Unterstützung einer politischen Gruppierung auf Gruppendynamik, Überzeugung, Feindbildern, Zwang, Gewalt oder anderen Motiven? Dazu muss wiederum geklärt werden, welche Hürden sich Algeriern im Falle einer als politisch erachteten Betätigung in den Weg stellten und von wem sie dagegen in welcher Art und Weise Unterstützung erhielten. Algerier waren über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg mit einer Vielfalt von Deutungs- oder Kontrollansprüchen über sie konfrontiert. Diese wurden in Formen von negativer, aber auch positiver Stigmatisierung sowie mittels direkter Ausübung oder Zurschaustellung von Zwang und Gewalt an die Migranten herangetragen. Im Anschluss an postkoloniale Forschungen und die Alltagsgeschichte wirft dies die Frage nach der agency der Migranten auf: Welche Handlungsspielräume standen den Migranten auf individueller Ebene zur Verfügung oder wurden von ihnen selbst eröffnet39 ? Dabei geht es nicht etwa darum, ein vermeintlich pathetisches Bild algerischer Unbeugsamkeit innerhalb eines eindimensionalen Herrschaftsverhältnisses zu zeichnen40 . »Widerstand ist weder unbedingt oppositionell noch zwangsläufig eine intentionale Praxis«41 . Anhand der Frage der agency soll vielmehr erörtert werden, welches Durchsetzungsvermögen insbesondere die verschiedenen politischen Akteure gegenüber Algeriern geltend machen konnten42 . Darüber hinaus geht es aber auch explizit darum, einen Perspektivwechsel zu vollziehen, nämlich anhand der Frage, wie sich Algerier angesichts oftmals prekärer Lebensbedingungen und eines Bündels an sie herangetragenenen, häufig konträren Forderungen verhielten und wie sie diese Forderungen wahrnahmen. Räume und Fronten sollen nicht als Universalien reproduziert, sondern durch einen akteurszentrierten Ansatz als historisch variable Konstruktionsleistungen und fluide Ordnungsmuster nachvollziehbar werden. Mit Blick auf die angedeutete Vielschichtigkeit des Themas und die genannte Forschungsfrage bedient sich diese Arbeit dreier methodischer Zugänge. Zunächst wird nach dem Ansatz der »neuen Politikgeschichte« ein breites Verständnis des Politikbegriffs vertreten, der eine differenzierte Analyse von In39 40 41 42

Vgl. Eckert, Kolonialismus, S. 5; Cooper, Kolonialismus denken, S. 38. Siehe zu dieser Kritik Claudia Kraft, Alf Lüdtke, Jürgen Martschukat, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Kolonialgeschichten, S. 9–25, hier S. 12. Do Mar Castro Varela, Dhawan, Postkoloniale Theorie, S. 238. In Bezug auf Ranajit Guhas Unterscheidung zwischen »elite politics« und »politics of the people« im Rahmen der indischen Unabhängigkeitsbewegung wird auch das Durchsetzungsvermögen der Machtansprüche der algerischen Unabhängigkeitsorganisationen gegenüber Algeriern hinterfragt: Ranajit Guha, On Some Aspects of the Historiography of Colonial India, in: Ders., Gayatri Chakravorty Spivak (Hg.), Selected Subaltern Studies, New York 1988, S. 37–43.

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Fragestellung und Methoden

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und Exklusionsprozessen politischer Partizipation ermöglicht43 . Die Gliederung des Untersuchungszeitraums in drei Zeitabschnitte – 1945 bis 1954, 1954 bis 1958 und 1958 bis 1962 – erfolgt im Hinblick auf vier politikgeschichtliche Zäsuren, die für die Geschichte der algerischen Migranten im lothringischen Grenzgebiet eine hohe Relevanz hatten: Das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa, der Beginn des algerischen Unabhängigkeitskriegs, die Gründung der V. französischen Republik und die Unabhängigkeit Algeriens. Jedes dieser Ereignisse hatte weitreichende Auswirkungen auf die Anzahl und die inhaltliche Position der politischen Akteure, die versuchten, auf algerische Migranten im lothringischen Grenzgebiet Einfluss auszuüben. Zudem brachten die genannten Zäsuren für Algerier in der Metropole kurz- oder mittelfristig auch eine Veränderung ihrer Rechtslage mit sich. Die Geschichte algerischer Migranten im lothringischen Grenzgebiet kann mittels der unterschiedlichen Versuche, politischen Einfluss auf sie auszuüben, weder hinreichend beschrieben noch verstanden werden. Die nach politischen Kriterien vorgenommene Gliederung des Untersuchungszeitraums soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass die für die Migranten ebenfalls unmittelbar relevante Entwicklung des lothringischen Arbeitsmarkts einer gänzlich anderen Chronologie folgte. Die relevanten Zäsuren aufeinanderfolgender Aufwärts- und Abwärtsentwicklungen der Anzahl algerischer Migranten in Lothringen fielen auf die Jahre 1947, 1956, 1959 und 1962/1963. Politische Ereignisse standen damit nur teilweise in einem Zusammenhang. Die Auseinandersetzung mit einer derartigen »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« (Ernst Bloch) gehört zu den grundlegenden Anliegen der Sozialgeschichte44 , deren Methodik für den Ansatz dieser Arbeit einen zweiten wichtigen Bezugspunkt darstellt45 . Die Ausarbeitung und Ana43

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Vertreter der »neuen Politikgeschichte« stehen für einen entgrenzten Politikbegriff, der in die Analyse von Politik auch Gruppen einbezieht, die aufgrund ihres mangelnden Organisationsgrads oder aus anderen Gründen zuweilen nicht als politisch bezeichnet werden. Zentral ist dabei der Gedanke, dass gerade die Frage der Grenzziehung zwischen politischen und unpolitischen Themen ein zentrales Handlungsfeld politischer Akteure darstellt: Ute Frevert, Einleitung, in: Dies., Heinz-Gerhard Haupt (Hg.), Neue Politikgeschichte, Frankfurt a. M. 2005, S. 7–26. Hans Ulrich Wehler, Geschichte als historische Sozialwissenschaft, Frankfurt a. M. 1973, S. 19. Die maßgeblich von der »Annales«-Schule in Auseinandersetzung mit der primär politikgeschichtlich ausgerichteten Geschichtswissenschaft der Zwischenkriegszeit geprägte Sozialgeschichte zielt im Wesentlichen darauf, gesellschaftliche Veränderungsprozesse materieller, aber auch kultureller Art nachzuzeichnen. Unter dem Einfluss der empirischen Sozialwissenschaften, aber auch des Marxismus und des Strukturalismus konnte sich bis heute ein methodischer Zugang international etablieren, der sozialstrukturelle Beharrungskräfte insbesondere durch die quantifizierende Auswertung serieller Quellen herauszustellen und die vermeintlich einschneidende Wirkung politikgeschichtlicher Zäsuren auf die Gesellschaft zu relativieren vermag: Lutz Raphael, Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur

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Einleitung

lyse umfassender Statistiken etwa über die Herkunft sowie Wohn- und Arbeitsbedingungen der Migranten dient vornehmlich dem Zweck, die unterschiedlichen Ebenen der historischen Lebensbedingungen der Migranten zu erfassen. Zugleich soll mittels quantitativ gesättigter Angaben auch die Frage nach dem Ausmaß der Wechselwirkungen zwischen Politik- und Sozialgeschichte der algerischen Migranten geklärt werden46 . Aus der Auseinandersetzung mit Politikgeschichte und sozialen Strukturen können nur bedingt Eindrücke über die subjektive Wahrnehmung historischer Akteure und deren Gestaltungsmacht über ihre Lebensumstände gewonnen werden. Da dies jedoch einen wichtigen Teil der Fragestellung dieser Arbeit berührt, werden schließlich auch Methoden der Alltags- und Mikrogeschichte zur Anwendung gebracht47 . So wenden sich einzelne Kapitel etwa detailliert dem Ablauf eines Streiks innerhalb eines Unternehmens zu, einer umfassenden Kontrollaktion der Polizei innerhalb eines Orts oder einer über mehrere Monate währenden Anschlagserie innerhalb einer Industrieregion. Die Abläufe werden nach Möglichkeit aus verschiedenen Perspektiven detailliert beleuchtet. Darüber hinaus wird insbesondere mittels der Auswertung halbstrukturierter Zeitzeugeninterviews48 die Frage nach der agency der Akteure, also nach dem »Zusammenhang von Unterdrückungserfahrung und Handlungsmöglichkeiten«49 , erörtert. Um diese unter aktiver Beihilfe

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Gegenwart, München 2003, S. 96–112; Jürgen Kocka, Art. »Sozialgeschichte«, in: Stefan Jordan (Hg.), Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2003, S. 265–269. Eine gute Einführung in moderne Methoden der Sozialgeschichte bieten Claire Lemercier, Claire Zalc, Méthodes quantitatives pour l’historien, Paris 7 2010. Ein wegweisendes Beispiel für einen solchen methodischen Ansatz haben Nicolas Mariot und Claire Zalc mit ihrer Studie vorgelegt, die sich mit dem Schicksal der 991 Juden befasst, die zum Zeitpunkt der deutschen Besatzung Frankreichs während des Zweiten Weltkriegs im nordfranzösischen Lens lebten: Nicolas Mariot, Claire Zalc, Face à la persécution. 991 juifs dans la guerre, Paris 2010. Erklärtes Anliegen der Mikro- und Alltagsgeschichte ist es, durch die Fokussierung auf vergleichsweise kleine Sozial- oder Gebietseinheiten eine »qualitative Erweiterung der historischen Erkenntnismöglichkeiten« zu erreichen, vgl. Hans Medick, Art. »Mikrohistorie«, in: Jordan (Hg.), Lexikon Geschichtswissenschaft, S. 215–218, hier S. 217. Dabei geht es explizit nicht darum, einen Gegensatz zur sogenannten Makrogeschichte herzustellen, sondern eher, deren Thesen durch die Rekonstruktion einzelner subjektiver Perspektiven zu überprüfen, zu ergänzen oder gegebenenfalls zu korrigieren, vgl. Paul-André Rosenthal, Construire le »macro« par le »micro«. Fredrik Barth et la microstoria, in: Jacques Revel (Hg.), Jeux d’échelles. La micro-analyse à l’expérience, Paris 1996, S. 141–159, hier S. 141f.; Ute Daniel, Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt a. M. 2001, S. 303–306. Vgl. zur Einordnung Christel Hopf, Qualitative Interviews. Ein Überblick, in: Uwe Flick, Ernst von Kardorff, Ines Steinke (Hg.), Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Reinbek bei Hamburg 10 2013, S. 349–360. Hans Medick, »Missionare im Ruderboot«? Ethnologische Erkentnisweisen als Herausfoderungen an die Sozialgeschichte, in: Alf Lüdtke (Hg.), Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt a. M. 1989, S. 48–84, hier S. 56f.

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Forschungsstand

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des Autors entstandenen Quellen so weit wie möglich offenzulegen, wird mehrfach ausführlich und auf Deutsch aus den Interviews zitiert50 .

Forschungsstand Die vorliegende Forschungsliteratur zur Geschichte algerischer Migranten in Frankreich zwischen 1945 und 1962 ist insofern besonders umfangreich, als sie sich mit mehreren anderen Themenfeldern überschneidet. An erster Stelle sind jene Arbeiten zu nennen, die ihren Fokus explizit auf den algerischen Unabhängigkeitskrieg richten. Sie sind in ihrer Anzahl kaum noch zu überblicken und in ihrer wissenschaftlichen Qualität äußerst heterogen51 . Bis heute sind viele Aspekte der Geschichte des Unabhängigkeitskriegs auch unter Historikern umstritten52 . So werden nach wie vor etwa Euphemismen oder gar Rechtfertigungen bezüglich der französischen Repression in Algerien im Rahmen wissenschaftlicher Veranstaltungen und Editionen in Frankreich verbreitet53 . Dennoch können sich aktuelle Forschungen bei der Ausleuchtung der vielen nach wie vor dunklen Flecken der Geschichte 50

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Siehe die Übersicht der Interviews im Anhang. Auf Bitte mehrerer Zeitzeugen wurden die Namen der Interviewpartner anonymisiert. Die Seitenzahlen in den einzelnen Nachweisen beziehen sich auf die Bände mit den vollständigen Transkriptionen aller Interviews im Besitz des Autors. Die Übersetzung besorgte der Autor. Gedankenstriche zeigen Sprechpausen an. An dieser Stelle einen Überblick über die sogenannte graue Literatur zu geben, die den Algerienkrieg aus mehr oder weniger explizit geäußerten politischen Motiven beleuchtet, wäre nicht zielführend. Zu ihren Autoren sind allerdings neben ehemaligen französischen Militärs wie etwa Jacques Massu und Maurice Faivre auch Historiker wie Jean-Paul Brunet oder Gregor Mathias zu zählen. Bestrebungen, das Vorgehen der französischen Regierung, der Polizei und der Soldaten der französischen Armee während des Algerienkrieges im Nachhinein zu legitimieren, lassen sich insbesondere an der sorglosen Verwendung zentraler Begriffe der französischen Kriegs- bzw. Kolonial-Propaganda wie etwa »Pazifizierung« oder »nordafrikanischer Terrorismus« illustrieren. Vgl. Branche, La guerre d’Algérie; Frank Renken, Frankreich im Schatten des Algerienkrieges. Die Fünfte Republik und die Erinnerung an den letzten großen Kolonialkonflikt, Göttingen 2006; Christiane Kohser-Spohn, Frank Renken (Hg.), Trauma Algerienkrieg. Zur Geschichte und Aufarbeitung eines tabuisierten Konflikts, Frankfurt a. M. 2006; Étienne François, Die späte Debatte um das Vichy-Regime und den Algerienkrieg in Frankreich, in: Martin Sabrow u. a. (Hg.), Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen nach 1945, München 2003, S. 264–287; Sylvie Thénault, Travailler sur la guerre d’indépendance algérienne. Bilan d’une experience historienne, in: Afrique & histoire 2 (2004), S. 193–209; Dies., La guerre d’indépendance algérienne; Dies., L’Algérie au cœur de l’actualité et de l’histoire, in: Vingtième siècle. Revue d’histoire 52 (1996), S. 125f. Siehe etwa Gregor Mathias, Survivre à l’indépendance algérienne: itinéraires de Moghaznis en 1962–1963, in: Vincent Joly, Patrick Harismendy (Hg.), Algérie: sortie(s) de guerre. 1962–1965, Rennes 2014, S. 27–42.

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Einleitung

dieses Kolonialkriegs auf mehrere Grundlagenwerke stützen, die auf der Basis kritischer Fragestellungen und umfassender Recherchen in französischen und algerischen Archiven sowie unter Rückgriff auf Zeitzeugeninterviews entstanden sind und auf der Höhe internationaler Standards der Zeitgeschichtsschreibung argumentieren54 . Darüber hinaus wurde die Historiographie der algerischen Migration auch von Autoren bereichert, die sich mit der Geschichte der Zuwanderung nach Frankreich im 20. Jahrhundert befasst haben. Häufig wurde Algeriern dabei aufgrund ihres gewichtigen Anteils unter den Migranten und ihrer ebenso komplizierten wie auch instabilen Rechtslage hohe Beachtung zuteil, sodass für spezialisierte Forschungen in diesem Bereich Vergleichsmöglichkeiten sowohl in der Breite als auch in der Tiefe eröffnet wurden55 . Ferner kommen Historiker der algerischen Migration nicht umhin, sich der ebenfalls umfangreichen Literatur über die Eigenheiten des französischen Kolonialismus sowie den postkolonialen Begebenheiten in Frankreich zuzuwenden. Um das Zustandekommen der Migration an sich, die Lebensbedingungen algerischer Migranten in Frankreich und die über sie kursierenden Deutungsmuster zu verstehen, ist eine Auseinandersetzung mit den Wurzeln, der rechtlichen, politischen und gesellschaftlichen Reichweite sowie den Nach- und Breitenwirkungen des französischen Kolonialismus im 19. und 20. Jahrhundert unabdingbar. Auch dazu wurden bereits zahlreiche einschlägige Untersuchungen vorgelegt56 . Die drei genannten Forschungsfelder stellen für die vorliegende Arbeit 54

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Siehe insbes. die Monografien von Sylvie Thénault, Une drôle de justice. Les magistrats dans la guerre d’Algérie, Paris 2 2004; Raphaëlle Branche, La torture et l’armée pendant la guerre d’Algérie. 1954–1962, Paris 2001; Meynier, Histoire intérieure du FLN; Blanchard, La police parisienne et les Algériens; House, MacMaster, Paris 1961; Neil MacMaster, Burning the Veil. The Algerian War and the »Emancipation« of Muslim women, 1954–62, Manchester, New York 2009; Olivier Dard, Voyage au cœur de l’OAS, Paris 2011; Claire Mauss-Copeaux, Algérie, 20 août 1955. Insurrection, répression, massacres, Paris 2011. Siehe bes. Gérard Noiriel, Le creuset français. Histoire de l’immigration, XIXe –XXe siècle, Paris 2006; Patrick Weil, La France et ses étrangers. L’aventure d’une politique de l’immigration de 1938 à nos jours, Paris 1995; Vincent Viet, La France immigrée. Construction d’une politique, 1914–1997, Paris 1998; Alexis Spire, Étrangers à la carte. L’administration de l’immigration en France (1945–1975), Paris 2005; Imke Sturm-Martin, Zuwanderungspolitik in Großbritannien und Frankreich. Ein historischer Vergleich 1945–1962, Frankfurt a. M. 2001; Naomi Davidson, Only Muslim. Embodying Islam in Twentieth-Century France, Ithaca, London 2012. Vgl. bspw. Thomas (Hg.), The French Colonial Mind; Achille Mbembe, Frankreich provinzialisieren?, in: Sebastian Conrad, Shalini Randeira, Regina Römhild (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2 2011, S. 224–263; Blanchard, Lemaire, Daeninckx (Hg.), Culture impériale; Pascal Blanchard, Sandrine Lemaire (Hg.), Culture coloniale, 1871–1931. La France conquise par son empire, Paris 2011; Stoler, Cooper, Zwischen Metropole und Kolonie; Cooper, Kolonialismus denken; Davidson, Only Muslim.

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Forschungsstand

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unverzichtbare Bezugspunkte dar. In erster Linie jedoch schließt sie an jene Studien an, deren Fokus explizit auf der Geschichte der algerischen Migration nach Frankreich und insbesondere nach Ostfrankreich liegt. Als ein Grundlagenwerk dieser Forschungen gilt bis heute die 1968 publizierte Studie Charles-Robert Agerons57 . Ungeachtet der hohen Qualität dieser Pionierarbeit generierten erst die zahlreichen Anschläge auf Algerier in Frankreich während der 1970er Jahre58 sowie der Aufstieg des rechtsextremen Front national und die großen Antirassismus-Protestmärsche in Frankreich Mitte der 1980er Jahre59 eine neue Qualität des politischen und gesellschaftlichen Interesses an der Geschichte der algerischen Migration. In diesem Kontext entstanden mehrere Überblicksdarstellungen, die sich der Thematik meist in einem nationalen Maßstab zuwandten60 und der Forschung bis in die Gegenwart als Orientierungshilfen dienen61 . Insbesondere aufgrund eines äußerst beschränkten Zugangs zu den einschlägigen Archivbeständen konnten die Autoren der bis in die 1990er Jahre hinein entstandenen Überblicksdarstellungen der algerischen Migration nach Frankreich Einzelaspekte wie etwa die staatlichen Regulierungsversuche der Migration oder regionale Besonderheiten nicht vertiefend analysieren62 . Wegen der allgemeinen Sperrfristen und der besonders restriktiven Zugangsregelungen der französischen Archive bezüglich ihrer Bestände über den Algerienkrieg bis weit in die 2000er Jahre hinein blieben viele Aspekte der Geschichte algerischer Migranten in Frankreich seit 1945 notgedrungen im Dunkeln63 . Insofern erscheint es nur folgerichtig, dass auf diesem Feld agierende Historiker seit der Jahrtausendwende keinen weiteren Versuch unternah57 58

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Charles Robert Ageron, Les Algériens musulmans et la France (1871–1919), Paris 1968. Der Journalist René Backmann hat die Zahl der algerischen Todesopfer von Anschlägen zwischen Dezember 1971 und Dezember 1977 auf 77 beziffert, vgl. Stora, Jenni, Les mémoires dangereuses, S. 161. Abdellali Hajjat, La marche pour l’égalité et contre le racisme, Paris 2013. Neil MacMaster, Colonial Migrants and Racism. Algerians in France, 1900–62, Basingstoke 1997; Stora, Ils venaient d’Algérie; Larbi Talha, Le salariat immigré dans la crise. La main-d’œuvre maghrébine en France (1921–1987), Paris 1989; Jacqueline CostaLascoux, Émile Témime, Les Algériens en France. Genèse et devenir d’une migration, Paris 1985; Timm Voss, Die algerisch-französische Arbeitsmigration. Ein Beispiel einer organisierten Rückwanderung, Königstein/Ts. 1981. Siehe dazu die Ausführungen von Aïssa Kadri über die Forschungsschwerpunkte einer neuen Generation von Historikern, die sich dem Algerienkrieg zuwenden: Kadri, Introduction, S. 5–8. Diese Mängel treffen explizit nicht für die 1995 erschienene Arbeit Geneviève MassardGuilbauds zu, die ihre wegweisende Analyse für eine Erforschung der Geschichte algerischer Migranten in der Metropole aus einer regionalen Perspektive jedoch auf die Zwischenkriegszeit beschränkte, vgl. Geneviève Massard-Guilbaud, Des Algériens à Lyon. De la Grande Guerre au Front populaire, Paris 1995. Vgl. Anne-Marie Pathé, Une approche pionnière des sources locales, in: Branche, Thénault (Hg.), La France en guerre, S. 18–29.

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Einleitung

men, eine neue Synthese vorzulegen64 ; stattdessen erschien eine Reihe von Einzelstudien, die sich der Phase nach dem Zweiten Weltkrieg mittels einer Fokussierung auf eine bestimmte Region oder Institution zuwandten. Aus ihnen konnte die vorliegende Studie insbesondere durch Vergleichsmöglichkeiten großen Gewinn ziehen65 . Direkte Anknüpfungspunkte lieferten vor allem die wenigen Arbeiten, die sich explizit mit Algeriern in Lothringen nach 1945 befasst haben; sie lieferten der vorliegenden Studie auch direkte Anknüpfungspunkte66 . Unter diesen ist die Arbeit von Sarah Vanessa Losego über nordafrikanische »Gastarbeiter« im Industrierevier von Longwy hervorzuheben. Darin legte die Historikerin umfassende Erkenntnisse über Inhalte und institutionelle Hintergründe kolonialistisch inspirierter Sozialarbeit für »Nordafrikaner« vor, die während des Algerienkriegs in Lothringen praktiziert wurde67 . Die vorliegende Studie profitierte von dieser Forschungsarbeit in vielerlei Hinsicht, etwa, indem sie Vergleiche zwischen Longwy und 64

Die einzige Ausnahme stellt die bis dato nicht veröffentlichte Dissertation von Marion Abssi über die Geschichte des algerischen Nationalismus in Frankreich zwischen 1945 und 1965 dar. Diese unter Rückgriff auf diverse regionale Archivbestände angefertigte Arbeit konnte jedoch mehrere bedeutende Mängel einiger älterer Synthesen nicht überwinden. Ungeachtet des Anspruchs der Autorin, eine »Geschichte von unten« schreiben zu wollen, wurden von ihr etwa Begriffe wie »le terrorisme algérien« verwendet, ohne diese zu problematisieren; über mehrere Seiten hinweg wurden die Angaben von Quellennachweisen versäumt und regionale Besonderheiten zugunsten einer weitgehend einheitlichen Erzählung zurückgestellt: Marion Abssi, Le nationalisme algérien et ses diverses expressions dans l’immigration en France métropolitaine entre 1945 et 1965. Diss. Univ. Metz und Lüttich (2013). 65 An dieser Stelle möchte ich folgende Arbeiten hervorheben: Blanchard, La police parisienne et les Algériens; Jean-René Genty, L’immigration algérienne dans le Nord-Pas-de-Calais, 1909–1962, Paris 1999; Paul-Marie Atger, Le Mouvement national algérien à Lyon. Vie, mort et renaissance pendant la guerre d’Algérie, in: Vingtième siècle. Revue d’histoire 104 (2009), S. 107–122; Laure Pitti, Renault, la »forteresse ouvrière« à l’épreuve de la guerre d’Algérie, in: Vingtième siècle. Revue d’histoire 83 (2004), S. 131–143; Hugo Mulonière, Les ouvriers »nord-africains« aux usines de Biache-SaintVaast (Pas-de-Calais), de 1947 à 1962. Masterarbeit, Univ. Paris 1 (2012); Guillaume D’Hoop, Les Algériens, acteurs de faits divers pendant la guerre d’Algérie 2004, http: //barthes.ens.fr/clio/revues/AHI/articles/volumes/dhoop.html (Zugriff 20.6.2019); Marc André, Des Algériennes à Lyon 1947–1974. Diss. Univ. Paris 4 (2014). 66 Sarah Vanessa Losego, Fern von Afrika. Die Geschichte der nordafrikanischen »Gastarbeiter« im französischen Industrierevier von Longwy (1945–1990), Köln 2009; Tamara Pascutto u. a., Mineurs algériens et marocains. Une autre mémoire du charbon lorrain, Paris 2011; Michel Andrée, L’immigration Algérienne en Moselle, in: Annales de géographie 65 (1956), S. 341–361; Zahra Tared, Interprétations et répercussions de la guerre d’Algérie en Lorraine, Diss. Univ. Metz (1987). Die Dissertation von Zarah Tared ist nur in der Uni Metz einsehbar. Die Studie Gérard Noiriels über »Migranten und Proletarier« in Longwy zwischen 1880 und 1980 geht zwar nur vereinzelt auf Algerier ein, liefert dafür aber wichtige Analysen über langfristige Integrationsprozesse innerhalb des Arbeitermilieus und die Machtentwicklung lothringischer Arbeitgeber der Eisen- und Stahlindustrie: Gérard Noiriel, Longwy. Immigrés et prolétaires 1880–1980, Paris 1984. 67 Losego, Fern von Afrika.

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Quellen

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Metz im Bereich der Sozialarbeit und hinsichtlich der Wohnbedingungen algerischer Migranten ermöglichte.

Quellen Bei der Analyse der Quellen spielten neben der Frage ihrer Provenienz und Überlieferungsgeschichte vier Aspekte inhaltlicher Kritik eine zentrale Rolle. Erstens wurden die Quellen stets hinsichtlich der sozialen und politischen Position beziehungsweise vor dem Hintergrund der institutionellen Einbindung ihrer jeweiligen Autoren bewertet. Dass dies für die Einordnung der Inhalte eine zentrale Rolle spielte, lässt sich etwa daran zeigen, dass der Chef der Gendarmerie in Moselle die gesteigerten Ängste vor Anschlägen während des algerischen Unabhängigkeitskriegs zu nutzen versuchte, um seine eigene Machtstellung auch gegenüber der Polizei innerhalb des Departements aufzuwerten. Derartige Informationen über die Produzenten der Quellen schärfen den Blick für die Analyse und können den Historiker vor leichtfertigen Schlüssen bewahren. Dies gilt zweitens auch für die Auseinandersetzung mit explizit oder implizit geäußerten kolonialen Stereotypen, von denen sowohl französische als auch deutsche Quellen häufig durchzogen waren. Mit John Pocock werden diese Stereotype als zentrale Bausteine einer »political language« verstanden, deren bewusst oder unbewusst zur Anwendung gebrachte Prämissen, Wertungen und Regeln den Machtinteressen einer herrschenden Klasse dienten beziehungsweise auf den Erhalt einer politischen Ordnung zielten68 – in diesem Fall der französischen Kolonialherrschaft in Algerien. Befürworter der »Algérie française« hatten stets versucht, die verschiedenen Diskriminierungen von Algeriern insbesondere hinsichtlich einer angeblichen zivilisatorischen Rückständigkeit der indigenen Bevölkerung zu legitimieren. Die in den Quellen häufig suggerierte Devianz oder kriminelle Neigung algerischer Migranten im lothringischen Grenzgebiet wurde bei der Analyse somit stets auch daraufhin geprüft, inwiefern sie auf damals typischen Vorurteilen beruhte69 . Als Beispiel sind die von Arbeitgebern, Sozialarbeitern, Journalisten, Polizisten oder Gendarmen skizzierten Erklärungsmuster für bestimmte Verhaltensweisen algerischer Migranten zu nennen, wie etwa die Unterstellung von Minderwertigkeitskomplexen70 , die Zurückführung separatistischer Bestrebungen auf soziale Missstände oder die Begründung 68 69

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John G. A. Pocock, The Reconstruction of Discourse: Towards the Historiography of Political Thought, in: Modern Language Notes, 96/5 (1981), S. 959–980. Cavit S. Cooley, The Interactionist School, in: Imogene L. Moyer (Hg.), Criminological theories. Traditional and Non-Traditional Voices and Themes, Thousand Oaks, CA 2001, S. 159–189. Piero D. Galloro und Ahmed Boubeker haben eine solche Unterstellung unkommentiert

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Einleitung

inneralgerischer Konflikte im Hinblick auf kulturelle Differenzen zwischen Arabern und Kabylen71 . Ein weiterer zentraler Aspekt bei der Analyse schriftlicher Quellen über Algerier im lothringischen Grenzgebiet war die grundlegende Skepsis gegenüber ihren quantitativen Angaben. Die in dieser Arbeit zitierten Zahlen über Algerier konnten aufgrund des angespannten politischen Kontexts durchaus als politisches Instrument fungieren und sind daher mit Vorsicht zu bewerten. Mit Blick auf einige Fälle, in denen die Gendarmerie und die Renseignements généraux (RG) offensichtlich falsche Zahlen über Algerier in Lothringen und in der Bundesrepublik weitergaben72 , stehen solche Angaben immer unter dem Verdacht, unpräzise zu sein. Da jedoch keine Hinweise für eine bewusste oder gar systematische Fälschung der Zahlenangaben der genannten Stellen vorliegen, wurde von der Möglichkeit, gänzlich auf sie zu verzichten, abgesehen. Aufgrund ihres hohen Potenzials der Erkenntnissteigerung wurden quantitative Angaben über Algerier verwendet, wenn sie dem Autor nach einer Abwägung ihres Wahrheitsgehalts hinsichtlich ihrer Produzenten, der Einbettung in die historische Entwicklung sowie – nach Möglichkeit – dem Abgleich mit anderen Quellen plausibel erschienen. Nicht zuletzt weisen die schriftlichen Quellen das Problem auf, dass es sich dabei fast ausschließlich um Berichte über Algerier handelt, die nicht von Algeriern selbst verfasst wurden. Darüber hinwegzusehen hätte das Anliegen der Arbeit, eine Geschichte über Algerier und nicht nur eine Geschichte deutsch-französischer Perspektiven auf Algerier zu schreiben, in Frage gestellt. Es wurden daher mehrere Zeitzeugeninterviews mit algerischen Männern und Frauen geführt, welche die Außenperspektive der schriftlichen Quellen zumindest punktuell durch eine »Innenansicht«73 der Historie al-

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übernommen, siehe Piero-D. Galloro, Ahmed Boubeker, Histoires et mémoires des immigrations en Lorraine, Nancy 2013, S. 298. Patricia M. E. Lorcin, Imperial Identities. Stereotyping, Prejudice and Race in Colonial Algeria, London, New York 1999, S. 241–244. 1961 entlarvte der Chef der Gendarmerie in Moselle die von den einzelnen Kompanien an ihn weitergereichten Zahlenangaben über separatistische Algerier 1961 selbst als offensichtlich falsch: Le lieutenant-colonel Laporterie, commandant le groupement de gendarmerie de la Moselle, note de service aux commandants de compagnie: statistiques des activités séparatistes, 6. Dez. 1961, SHAT 2007 ZM 1/135 738. Ebenfalls im Jahr 1961 gaben französische Gendarmen in Rheinland-Pfalz die Gesamtzahl der im Kreis Landau und Germersheim lebenden Algerier mit 26 an, obwohl ihrem Bericht zufolge 25 im Kreis Landau und zwei im Kreis Germersheim lebten: 2e legion de gendarmerie des FFA, escadron prévôtal no 5, groupe de S.J. et S.P., rapport de l’adjudant Parayre, commandant le poste de Landau sur l’activité des Français de souche nord-africaine (période du 16 octobre au 15 novembre 1961), 16. Nov. 1961, SHAT 2007 ZM 1/209 148. Die RG von Nancy gaben die Mitgliederzahlen der messalistischen Gewerkschaft USTA in Meurtheet-Moselle in dem gleichen Bericht an einer Stelle mit 530 und an einer anderen Stelle mit 600 an, ohne dazu eine Erläuterung zu geben: RG de Nancy, l population musulmane en Meurthe-et-Moselle, 4. Jan. 1961, AdM&M 950 W 14. Dieses Anliegen wurde in der Bundesrepublik neben den Vertretern der Oral History

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Quellen

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gerischer Migranten im lothringischen Grenzramum ergänzen sollten. Über Anfragen bei der FLN-nahen Amicale des Algériens en France (Adaf) in Forbach und Metz, einer Anzeige in der Regionalzeitung »Le Républicain lorrain« sowie selbstständig durchgeführte Recherchen nach algerischen Personen, die etwa in Polizeiberichten erwähnt wurden, konnten mehrere Personen erreicht werden, die zwischen 1945 und 1962 im lothringischen Grenzgebiet gelebt hatten und sich zu Interviews mit dem Autor bereiterklärten. Wie bei jeder Quelle, sei sie schriftlich oder mündlich, sind sowohl die Fragen des Autors an die Zeitzeugen wie auch deren Antworten selektiv und perspektivgebunden74 . Nach dem Vorbild einiger wegweisender Arbeiten der Oral History75 wurden die Angaben von Zeitzeugen nach Möglichkeit mit schriftlichen Quellen abgeglichen und stets unter Beachtung der ebenso vielseitigen wie turbulenten Erinnerungsgeschichte des Algerienkriegs76 ausgewertet. Die überwiegende Zahl der Quellenzitate wurde vom Autor ins Deutsche übersetzt.

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insbesondere von der Alltagsgeschichte eingefordert und von Hans Medick in einem programmatischen Aufsatz bereits 1989 auf den Punkt gebracht: »[Das] Ziel [der Alltagsgeschichte] ist vielmehr die Rekonstruktion der ›Innenseite‹ gesamtgesellschaftlicher Veränderungs- und Transformationsprozesse, die von einer zentristischen Geschichtsperspektive zumeist nur von außen dargestellt und als objektive Ablaufsnotwendigkeit behauptet werden kann«, Medick, Missionare im Ruderboot?, S. 64. Daniel, Kompendium Kulturgeschichte, S. 306f. Sowohl was die Theorie als auch die Methodik der Oral History angeht, orientierte sich der Autor insbesondere an den Arbeiten Lutz Niethammers, vgl. Lutz Niethammer (Hg.), »Die Jahre weiss man nicht, wo man die heute hinsetzen soll«. Faschismuserfahrungen im Ruhrgebiet, Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet, Bd. 1, Berlin 2 1986; Ders., Einleitung, in: ibid., S. 7–29; Utz Jeggle, »Bei den Deutschen weiß man, wo man dran ist«. Feldforschungsprobleme bei einer Untersuchung ehemaliger griechischer Fremdarbeiter im Laucherthal, in: Lutz Niethammer, Alexander von Plato (Hg.), »Wir kriegen jetzt andere Zeiten«. Auf der Suche nach der Erfahrung des Volkes in nachfaschistischen Ländern. Lebengeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930–1960, Bd. 3, Berlin, Bonn 1985, S. 369–391; Lutz Niethammer, Einführung, in: Ders. (Hg.), Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der »Oral History«, Frankfurt a. M. 1985, S. 7–33. Als Orientierung bei der Interviewführung diente dem Autor ferner die unnachgiebige und ständig auf explizite Bestätigung von Aussagen angelegte Art der Fragestellung von Claude Lanzmann in seinem Dokumentarfilm »Shoah«. Wertvolle Hinweise für die Interviewführung lieferte schließlich auch Megan Hutching, die sich explizit mit der wissenschaftlichen Auseinandersetzung von Erinnerungen an Krieg und Gewalt befasst hat, vgl. Megan Hutching, After Action. Oral History and War, in: Donald A. Ritchie (Hg.), The Oxford Handbook of Oral History, Oxford 2011, S. 233–243. House, MacMaster, Paris 1961, S. 38; Branche, La guerre d’Algérie, S. 219–250; Gilles Manceron, Hassan Remaoun, D’une rive à l’autre. La guerre d’Algérie de la mémoire à l’histoire, Paris 1993, S. 23–87. Siehe diesbezüglich auch die Arbeiten von Benjamin Stora: Stora, Leclère, La guerre des mémoires; Stora, La guerre d’Algérie. La mémoire par le cinéma, in: Pascal Blanchard, Marc Ferro, Isabelle Veyrat-Masson (Hg.), Les guerres de mémoires dans le monde, Paris 2008, S. 262–272; Stora, La gangrène et l’oubli. La mémoire de la guerre d’Algérie, Paris 1992.

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I. Leben zwischen den Räumen Algerische Migranten im lothringischen Grenzgebiet, 1945–1954

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1. Die soziale Situation algerischer Migranten Zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Beginn des algerischen Unabhängigkeitskriegs wurde die algerische Migration nach Frankreich besonders von der sozialen Notlage in Nordafrika und der Nachfrage nach Arbeitskräften in den Sektoren Kohle, Stahl und Bau in Frankreich beeinflusst. Sie folgte insofern dem vorherrschenden Muster der Arbeitsmigration im Westeuropa der Nachkriegszeit1 . Darüber hinaus wies sie jedoch zwei zentrale Besonderheiten auf. Erstens handelte es sich um eine innerstaatliche Migration, da Algerien einen integralen Teil des französischen Staatsgebiets darstellte und der Personenverkehr über das Mittelmeer hinweg 1946 liberalisiert worden war2 . Zweitens waren die Bedingungen, unter denen Algerier in die Metropole reisten und sich dort aufhielten, in hohem Maße von einem kolonialen Machtverhältnis geprägt. Anders als etwa im Fall der Polen und Italiener setzte sich keine ausländische Regierung für die Rechte der Migranten in Frankreich ein. Stattdessen waren Algerier zwischen 1945 und 1954 auch in der Metropole in vielerlei Hinsicht mit einem kolonialistisch inspirierten Rassismus konfrontiert, der Gleichheit predigte, aber Ungleichheit festschrieb und sein Fundament auf die Staatsdoktrin »L’Algérie, c’est la France« stützte. Im folgenden Kapitel werden grundlegende Aspekte der Sozialgeschichte algerischer Migranten im lothringischen Grenzgebiet untersucht, die ein breites Verständnis ihrer Lebensumstände und deren historischer Entwicklung vermitteln sollen.

1

2

Frank Carstecker, Eric Vanhaute, Zuwanderung von Arbeitskräften in die Industriestaaten Westeuropas. Eine vergleichende Analyse der Muster von Arbeitsmarktintegration und Rückkehr 1945–1960, in: Jochen Oltmer, Axel Kreienbrink, Carlos Sanz Díaz (Hg.), Das »Gastarbeiter«-System. Arbeitsmigration und ihre Folgen in der Bundesrepublik Deutschland und Westeuropa, München 2012, S. 39–52. Im Hinblick auf den politischen Status Algeriens unterstrich der französische Präsident Vincent Auriol 1949, dass es sich bei der Einwanderung aus den algerischen Departements in die Metropole eben nicht um eine Immigration im eigentlichen Wortsinne, sondern um eine interne Migrationsbewegung handele, vgl. Sturm-Martin, Zuwanderungspolitik in Großbritannien und Frankreich, S. 195.

https://doi.org/10.1515/9783110644012-002

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I. Algerische Migranten im lothringischen Grenzgebiet

1.1. Wie aus Algeriern Migranten werden 1.1.1 Regulierungsversuche einer Fluchtbewegung Auch wenn in der Metropole bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts Algerier registriert wurden, handelte es sich dabei noch um ein absolutes Randphänomen3 . Der seit 1830 mit äußerster Brutalität geführte Eroberungskrieg Frankreichs hatte in Algerien zwar eine größere Welle der Emigration ausgelöst; die vor der französischen Armee und dem ausgreifenden Kolonialstaat zurückweichenden Flüchtlinge steuerten in dieser Phase aber fast ausschließlich die Nachbarländer Marokko, Tunesien sowie den Mittleren Osten an4 . Eine Reise in die Metropole stellte für sie keine günstige Option dar. Die Gründe für die Migration waren vor allem politischer Art und beruhten auf der Furcht vor (weiteren) Repressionen und Massakern durch die französische Armee. Abgesehen davon, dass sich Algerier mit einer Reise in die Metropole am Ende einer aufwändigen Überfahrt in einen völlig fremden Kulturkreis begeben hätten, benötigten sie bis 1913 eine offizielle Sondererlaubnis zur Einreise. Ihre Zahl blieb somit zunächst verschwindend gering. 1912 wurde sie auf lediglich 5000 geschätzt5 . Zu einem Massenphänomen wurde die algerische Migration erst nach dem Ersten Weltkrieg. Die kriegsbedingten Rekrutierungen von etwa 300 000 Algeriern als Soldaten und Arbeiter für den Dienst in der Metropole beziehungsweise auf den Schlachtfeldern Europas6 hatten für Algerien zwei zentrale gesellschaftliche Konsequenzen: Erstens brachte der Mangel an Arbeitskräften und Familienmitgliedern die sozialen und wirtschaftlichen Strukturen aus dem Gleichgewicht. Zweitens wurde für viele Algerier ein Arbeitsaufenthalt in der Metropole nach den dort gesammelten Erfahrungen7 zur naheliegenden Option, um ihrer Armutssituation entgegenzuwirken. Während der großen Dürre des Jahres 1920 wurde die Emigration für viele Algerier sogar zur einzigen Möglichkeit, dem Hungertod zu entkommen8 . 3 4 5 6 7

8

Karina Slimani-Direche, Histoire de l’émigration kabyle en France au XXe siècle. Réalités culturelles et politiques et réappropriations identitaires, Paris 1997, S. 1. Kamel Kateb, Européens, »indigènes« et juifs en Algérie. Représentations et réalités des populations, Paris 2001, S. 49–58. Sie verteilten sich auf die Städte Paris und Marseille sowie die Industriezentren in Nordfrankreich, vgl. ibid., S. 258f. MacMaster, Colonial Migrants and Racism, S. 58. Dazu gehörten neben der Erfahrung des Lohnerwerbs auch eine ausgedehnte Überwachung mit kolonialen Methoden sowie verschiedene Formen der Diskriminierung. Dessen ungeachtet konnten viele Algerier zumindest unter wirtschaftlichen Aspekten auch noch in der Zeit unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkriegs von einem erheblichen Mangel an Arbeitskräften profitieren, vgl. Gilbert Meynier, L’Algérie révélée. La guerre de 1914–1918 et le premier quart du XXe siècle, Saint-Denis 2015, S. 450–475. MacMaster, Colonial Migrants and Racism, S. 68–70.

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1. Die soziale Situation algerischer Migranten

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Die Migration zwischen Algerien und der Metropole wurde in der Zwischenkriegszeit vor allem dadurch gehemmt, dass ihre rechtlichen Rahmenbedingungen äußerst instabil waren. Algerier galten lediglich als sujets und nicht als citoyens français, sodass sie über keine politischen Rechte und lediglich über stark eingeschränkte Bürgerrechte verfügten9 . Es wurde bereits gezeigt, dass der ambivalente Rechtstatus dieser »citoyens intermédiaires«10 letztendlich dazu führen konnte, dass sie in der Praxis als Ausländer behandelt wurden11 . Die Positionen der verschiedenen Regierungen gegenüber algerischen Migranten gingen während der Zwischenkriegszeit zum Teil weit auseinander. Dies führte dazu, dass die rechtlichen Bestimmungen für Personentransfers zwischen Algerien und der Metropole allein zwischen 1919 und 1937 fünfmal verändert wurden12 . 1924 erwirkten einflussreiche Interessenvertreter der Algerienfranzosen in Paris eine restriktivere Reglementierung der Migration, die einerseits dem Ziel dienen sollte, die billigen Arbeitskräfte möglichst in Algerien zu halten. Andererseits trug die Begrenzung der Migrationsbewegungen der Befürchtung vieler Algerienfranzosen Rechnung, algerische Migranten würden durch den Kontakt zu Gewerkschaftern und Kommunisten in der Metropole politisiert und könnten so mittel- oder langfristig die Machtverhältnisse innerhalb der Kolonie ins Wanken bringen13 . Derartige Sorgen trugen dazu bei, dass ein spezielles administratives Netzwerk von Behörden entstand, die ausschließlich mit der kolonialistisch inspirierten sozialen und polizeilichen Kontrolle »muslimischer Franzosen« befasst waren. Eine entscheidende und koordinierende Rolle spielte dabei der Service de surveillance, protection et assistance des indigènes nord-africains (Saina), der 1925 in Paris gegründet wurde und drei Jahre später seine Aktivitäten auch über die französische Hauptstadt hinaus ausdehnte14 . 9

10 11

12 13 14

Alexis Spire, Semblables et pourtant différents. La citoyenneté paradoxale des »Français musulmans d’Algérie« en métropole, in: Genèses 53 (2003), S. 48–68; Laure Blévis, Droit colonial algérien de la citoyenneté conciliation illusoire entre des principes républicains et une logique d’occupation coloniale (1865–1947), in: La guerre d’Algérie au miroir des décolonisations françaises. En l’honneur de Charles-Robert Ageron, hg. von Société française d’histoire d’outre-mer (SFHOM), Paris 2000, S. 87–103; Laure Blévis, Quelle citoyenneté pour les Algériens?, in: Bouchène u. a. (Hg.), Histoire de l’Algérie à la période coloniale, S. 352–358. Blanchard, La police parisienne et les Algériens, S. 14. Françoise de Barros, Les municipalités face aux Algériens. Méconnaissances et usages des catégories coloniales en métropole avant et après la Seconde Guerre mondiale, in: Genèses 53 (2003), S. 69–92, hier S. 72. Viet, La France immigrée, S. 167. MacMaster, Colonial Migrants and Racism, S. 137–147; Kateb, Européens, indigènes et juifs, S. 260. Die Beamten des Saina hatten in der Regel über einen längeren Zeitraum in Nordafrika gearbeitet. Sie waren ein entscheidender Faktor für den Transfer kolonialer Praktiken, Stereotype und Diskurse von Algerien in die Metropole, vgl. Barros, Les municipalités

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I. Algerische Migranten im lothringischen Grenzgebiet

Seit ihren Anfängen wurde die algerische Migration in der Metropole vonseiten der französischen Behörden als ein politisch-gesellschaftlicher Risikofaktor betrachtet. Dass sie nicht unterbunden wurde und zunächst die Form einer Pendelmigration annehmen konnte, war insbesondere der hohen Nachfrage nach Arbeitskräften infolge des Ersten Weltkrieges geschuldet. Den Zahlen Kamel Katebs zufolge bildete sich im Verhältnis der Zahl der Algerier, die in die Metropole reisten, und der Rückkehrer zwischen 1914 und dem Ende des Zweiten Weltkriegs kein eindeutiger Trend heraus. In diesem Zeitraum dominierte in einigen Jahresbilanzen die Anzahl der algerischen Zuwanderer diejenige der Abreisenden. In anderen Jahresbilanzen war sie rückläufig (siehe Grafik 1). Grafik 1: Algerische Migration zwischen Algerien und der Metropole, 1914–1954 250000 200000 150000 100000 50000

Abreisen aus Algerien

Rückkehr nach Algerien

1954

1944

1934

1924

1914

0

Bilanz

Das vorherrschende Muster der Migration bestand in dieser Phase in einem mittelfristigen Arbeitsaufenthalt einzelner Männer in der Metropole, deren Ziel darin lag, die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse in der Heimat aufrecht zu erhalten. In der Regel strebten Algerier nicht danach, dort sesshaft zu werden und kehrten meist nach mehreren Monaten wieder nach Algerien zurück15 . Allgemein wurde die Entscheidung zur Migration vor allem durch das wachsende Elend in Algerien angeregt. Das enorme Bevölkerungswachstum16 , die niedergehende kleine Landwirtschaft, Hungersnöte, steigen-

15 16

face aux Algériens, S. 76; ausführlich dazu MacMaster, Colonial Migrants and Racism, S. 153–171. Sayad, Les trois »âges« de l’émigration, S. 61f.; siehe auch MacMaster, Colonial Migrants and Racism, S. 67. Allein zwischen 1927 und 1954 wuchs die Zahl der algerischen Bevölkerung ohne die Algerienfranzosen von etwa 5 Millionen auf über 8 Millionen, vgl. Fabian Klose, Menschenrechte im Schatten kolonialer Gewalt. Die Dekolonisierungskriege in Kenia und Algerien 1945–1962, München 2009, S. 104. Einen guten Überblick über das Bevölke-

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1. Die soziale Situation algerischer Migranten

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de Landflucht und eine wachsende Arbeitslosigkeit sorgten dafür, dass der Migrationsstrom auch während der Weltwirtschaftskrise nicht abriss17 . Der Zweite Weltkrieg stellt einen entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte der algerischen Migration dar. Nach der kriegsbedingten Unterbrechung des Verkehrs zwischen Algerien und der Metropole zwischen November 1942 und Oktober 194418 trat der Pendelcharakter der Migration zunehmend in den Hintergrund19 . Während des Krieges war es zu einer ebenso schlagartigen wie dramatischen Verschlechterung der Lebensbedingungen in Algerien gekommen, weil einerseits die Emigration in die Metropole plötzlich unmöglich geworden war und 1945 die Ernteerträge einbrachen – es war die schlechteste Ernte in Algerien seit 1856. Etwa eine halbe Million landloser algerischer Familien war 1946 völlig von staatlichen Maßnahmen sozialer Fürsorge abhängig20 . Die Emigration aus Algerien in die Metropole erreichte ein bis dahin ungekanntes Ausmaß und ließ die Zahl der dort lebenden Algerier stark ansteigen. Die algerische Migration in die Metropole nach 1945 wies vier zentrale Neuerungen im Vergleich zur Zwischenkriegszeit auf: Erstens wurde die Herkunft der Migranten vielfältiger. Auch wenn die Mehrheit der Migranten noch immer aus der Kabylei stammte, kamen immer mehr aus den Departements von Oran und Constantine21 . Zweitens wuchs der Anteil der Mittellosen unter den Migranten, da immer mehr aufgrund einer akuten Notsituation in die Metropole kamen, häufig ohne Erfahrungen mit Migration, geschweige denn mit Französischkenntnissen22 . Drittens entschieden sich immer mehr Migranten dazu, Algerien dauerhaft den Rücken zu kehren. Dies wird auch daran deutlich, dass erstmals eine Emigration algerischer Familien beobachtet wurde: Frauen und Kinder nahmen einen signifikanten Anteil unter den in der Metropole lebenden Algeriern ein23 .

17 18

19 20 21 22

23

rungswachstum in den algerischen Departements geben Guy Pervillé, Cécile Marin, Atlas de la guerre d’Algérie. De la conquête à l’indépendance, Paris 2003, S. 14. Voss, Die algerisch-französische Arbeitsmigration, S. 61f.; siehe ergänzend auch Talha, Le salariat immigré dans la crise, S. 89. Dieser Druck hatte sich während des Krieges noch zusätzlich dadurch erhöht, dass der Verkehr zwischen Frankreich und Algerien seit der Landung der Alliierten in Nordafrika im November 1942 bis zum Oktober 1944 vollständig zum Erliegen gekommen war: Temime, Les Algériens à Marseille pendant la guerre d’indépendance, S. 458. Talha, Le salariat immigré dans la crise, S. 114–117. MacMaster, Colonial Migrants and Racism, S. 179–181. 1938 betrug der Anteil der Kabylen unter den algerischen Migranten in der Metropole 75 %. Zu Beginn der 1950er Jahre waren es noch 60 %, vgl. ibid., S. 34. Zumindest die Pioniere der algerischen Migration waren nicht völlig verarmt, sondern stammten eher aus der Mittelklasse. Schließlich mussten Algerier, die in die Metropole reisen wollten, über ausreichend Geld verfügen, um wenigstens ihre Überfahrt bezahlen zu können. Sehr viele mussten zugleich gewährleisten, dass der wirtschaftliche Schaden, der der Familie durch die Abwesenheit eines jungen Mannes entstand, abgefedert wurde, vgl. ibid., S. 71. Ibid., S. 181f.

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I. Algerische Migranten im lothringischen Grenzgebiet

Ein weiteres Novum bestand viertens in der Motivation vieler Migranten. Abgesehen von der Migration als Mission des Einzelnen im Dienste der Gemeinschaft beruhte eine Reise in die Metropole nach 1945 auch zunehmend auf der individuellen Entscheidung, dem Elend in Algerien zu entfliehen oder sich von der Gemeinschaft und ihren Zwängen zu emanzipieren24 . Emmanuel Blanchard hat davor gewarnt, sich die algerische Migration zwischen 1945 und 1954 als die einer homogenen Masse isolierter und völlig verarmter Menschen vorzustellen25 . Dies kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass vor allem die Erschütterungen traditioneller sozialer Strukturen sowie die wachsende Armut in Algerien die mit Abstand wichtigsten Impulse für die Migration lieferten26 . In einigen Orten brachte diese eine Entwicklung mit sich, die wie eine Massenflucht anmutete27 . Ebenso wie Neil MacMaster hat Kamel Kateb betont, dass die Migration erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg für einen bedeutenden Teil der algerischen Bevölkerung zu einer Überlebensfrage geworden war28 . Dies drückte sich in einem enormen Anstieg der Zahl der Migranten insgesamt aus. Anders als in den Jahren zuvor zeichnete sich in der Bilanz ein klares Übergewicht der algerischen Auswanderer gegenüber den Rückkehrern ab29 ; die Gesamtzahl der Algerier nahm bis zum Beginn des algerischen Unabhängigkeitskrieges massiv zu: Während 1947 noch weniger als 50 000 Algerier in der Metropole gelebt hatten, waren es Mitte der 1950er Jahre bereits etwa 300 00030 . Mit der Kontrolle dieser Migration ohnehin überfordert31 , liberalisierte der französische Staat 1946 den Verkehr zwischen Algerien und der Metropole. Diese Entscheidung folgte mehreren Motiven. Sie war zunächst die Konsequenz eines Versprechens, das Charles de Gaulle während des Krieges gemacht hatte, um die algerische Bevölkerung für sich zu gewinnen. In einer Rede in Constantine hatte der General im Dezember 1943 allen Algeriern die vollwertige französische Staatsbürgerschaft mit allen bürgerlichen Rechten 24 25 26 27

28 29 30 31

Sayad, Les trois »âges« de l’émigration, S. 66. Siehe dazu Emmanuel Blanchard, Un »deuxième âge« de l’émigration en France?, in: Bouchène u. a. (Hg.), Histoire de l’Algérie à la période coloniale, S. 589–595. Losego, Fern von Afrika, S. 19f. Im Jahr 1946 wanderten zum Beispiel in Fort National 9,5 % der Gesamtbevölkerung aus, insgesamt 7940 von 82 533 Bewohnern, vgl. Slimani-Direche, Histoire de l’émigration kabyle, S. 38. Kateb, Européens, indigènes et juifs, S. 263. Stora, Ils venaient d’Algérie, S. 94. Blanchard, Un »deuxième âge« de l’émigration, S. 594. Mit diesem Kontrolldefizit stand Frankreich bei weitem nicht allein. Auch die übrigen westeuropäischen Staaten konnten die Prozesse der Migration in ihrem Gebiet trotz erheblicher Anstrengungen nicht unter Kontrolle bekommen. Diese Einsicht fand jedoch erst seit dem Ende der 1960er Jahre allmählich Verbreitung, vgl. Clelia Caruso, Inclusion Opportunities and Exclusion Risks. Mediterranean Labour Migration and European Migration Policies, in: Dies., Pleinen, Raphael (Hg.), Postwar Mediterranean Migration to Western Europe, S. 10–35, hier S. 13.

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1. Die soziale Situation algerischer Migranten

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in Aussicht gestellt. Dies wurde durch die Dienstanweisung des 7. März 1944 mit mehreren Einschränkungen umgesetzt32 . Die Regierung in Paris konnte es sich allein schon aufgrund der wichtigen Rolle algerischer Soldaten in der französischen Befreiungsarmee und den zahlreichen Spannungen innerhalb des französischen Kolonialreichs nicht leisten, nach Kriegsende von diesen Versprechen völlig abzurücken33 . Seit dem 20. September 1947 galten Algerier als vollwertige Staatsbürger34 . In Algerien blieben sie aufgrund ihres offiziellen Status als Muslime verschiedenen rechtlichen Diskriminierungen gegenüber Algerienfranzosen unterworfen. In der Metropole herrschte dagegen offiziell Rechtsgleichheit35 . Zum anderen war die Entscheidung für die erneute Liberalisierung des Verkehrs zwischen Algerien und der Metropole auch von der Erfahrung der Aufstände von Sétif und Guelma36 geprägt. Aufgrund der Vorstellung, politischen Unruhen durch eine Verbesserung der sozialen Situation entgegenwirken zu können, sollte die Migration auch als Ventil für die sozialen Missstände in Algerien wirken und damit den kolonialen Status stabilisieren. Die algerische Rebellion des 8. Mai 1945 und ihre Folgen hatten die in den 1920er Jahren innerhalb des Staatsapparats dominierende Auffassung damit auf den Kopf gestellt. Nicht zuletzt ist die Liberalisierung des Reiseverkehrs zwischen Metropole und Algerien nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auch als Reaktion auf 32 33 34 35

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Odile Rudelle, Le vote du statut de l’Algérie, in: Serge Berstein, Pierre Milza (Hg.), L’année 1947, Paris 2000, S. 310–325, hier S. 311. Jean-Pierre Peyroulou, Guelma, 1945. Une subversion française dans l’Algérie coloniale, Paris 2009, S. 38. Weil, La France et ses étrangers, S. 93. Algerier, die ihren Wohnsitz in der Metropole hatten, waren damit nicht mehr der Unterscheidung von »Zivität« und Nationalität unterworfen. Maxim Silverman hat den deutschen Begriff »Zivität« zur Übersetzung des französischen Begriffs »citoyenneté« gewählt. Es handelte sich dabei um einen an den Geburtsort gekoppelten rechtlichen Status, der sich nicht einfach aus dem der »nationalité« ergab, vgl. Maxim Silverman, Rassismus und Nation. Einwanderung und Krise des Nationalstaats in Frankreich, Hamburg 1994, S. 16. Das französische Kolonialrecht hatte bis dahin sowohl in der Metropole als auch in Übersee zwischen sujets francais und citoyens francais unterschieden. Der minderwertige Rechtsstatus der sujets wurde damit begründet, dass gläubige Muslime sich angeblich nicht den Bestimmungen des code civil unterordnen könnten, der in Widerspruch mit bestimmten Traditionen stehe. In Algerien bestand der erste Schritt zur Erlangung aller Bürgerrechte deshalb darin, den Personenstatus »Muslim« per Deklaration abzulegen, was fast die gesamte algerische Bevölkerung ablehnte, vgl. Blévis, Droit colonial algérien; Dies., Quelle citoyenneté pour les Algériens. Wie viele Algerier der brutalen Niederschlagung der spontanen Aufstände von Sétif und Guelma am 8. Mai 1945 zum Opfer fielen, ist bis heute ungeklärt. In seinem Standardwerk zu den Massakern hat Jean-Pierre Peyroulou die Schätzung Charles-André Juliens übernommen, es seien insgesamt zwischen 6000 und 8000 Menschen getötet worden. Dem wird von algerischer Seite bis heute energisch widersprochen. Bei den Feierlichkeiten zum Gedenken an die Massaker kursieren Zahlen von 45 000 bis 80 000 Opfern, vgl. Peyroulou, Guelma, 1945.

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I. Algerische Migranten im lothringischen Grenzgebiet

die wirtschaftliche Situation in der Metropole zu sehen37 . Zwar gab es bis zuletzt vor allem seitens des Bevölkerungsministeriums große Bedenken gegen eine unbegrenzte Immigration aus Algerien38 . Diese Vorbehalte verloren jedoch schnell an Rückhalt, vor allem, da die von allen Parteien favorisierte Immigration aus den nördlichen Nachbarstaaten die Erwartungen keineswegs erfüllte39 und 1947 auch noch die Rekrutierung italienischer Arbeitskräfte ins Stocken geriet40 . Angesichts der schleppend verlaufenden demografischen Entwicklung41 und des akuten Mangels an Arbeitskräften42 setzte sich innerhalb des französischen Planungskommissariats die Strategie durch, die immense Arbeitslosigkeit in den algerischen Departements zu nutzen, um vor allem die hohe Nachfrage nach wenig spezialisierten, flexiblen Arbeitskräften in den Bereichen der Energieversorgung und der Schwerindustrie zu befriedigen43 . 1.1.2 Hintergründe, Motive und Grenzen sozialer Interventionen für »Nordafrikaner« Ungeachtet der Liberalisierung des Grenzverkehrs zwischen Algerien und der Metropole versuchte die französische Regierung, die Entwicklung der algerischen Migration auch während der ersten Dekade nach dem Ende des Zweitens Weltkriegs auf verschiedene Weise zu beeinflussen. Dabei verfolgte sie vor allem das Ziel, den Pendelcharakter der Migration beizubehalten und den Nachzug von Familien so gering wie möglich zu halten44 . Dazu sollte die Migration zwischen Algerien und der Metropole überwacht werden. Zu diesem Zweck wurde zunächst der Versuch unternommen, die Zuwanderung 37 38 39 40 41

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Talha, Le salariat immigré dans la crise, S. 89. Sturm-Martin, Zuwanderungspolitik in Großbritannien und Frankreich, S. 158. Ibid., S. 89. Ibid., S. 158. Im Jahr 1946 war die Anzahl der Franzosen mit 40,5 Millionen nicht einmal auf dem Stand von 1901. Nach Spanien war das Gebiet der Metropole das durchschnittlich am wenigsten bevölkerte Gebiet des okzidentalen Europas und wies zudem im Vergleich zu seinen Nachbarstaaten einen besonders hohen Altersdurchschnitt auf: André Armengaud, Livre I, 1945–1947. Le renouveau démographique?, in: Fernand Braudel, Ernest Labrousse (Hg.): Histoire économique et sociale de la France, Bd. IV/3, S. 983–1007, hier S. 983. Dieser Mangel drohte sich angesichts der bevorstehenden Abwanderung tausender polnischer Arbeiter und der halben Million deutscher Kriegsgefangener noch auszuweiten: Sturm-Martin, Zuwanderungspolitik, S. 55. Ibid., S. 53; siehe auch Jim Miller, Planing Modernization in the Departement of the Moselle. Lodging Algerian Immigration in the Heart of Frances Eur-Africain Sphere, 1945–1962, Chicago (2007), S. 198. Die wichtigsten Akteure der französischen Immigrationspolitik in der Nachkriegszeit präferierten bezüglich der dauerhaften Zuwanderung Bewohner aus den nordeuropäischen Nachbarländern, vgl. Sturm-Martin, Zuwanderungspolitik, S. 160.

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1. Die soziale Situation algerischer Migranten

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aus Algerien mit der Errichtung von Anwerbe- beziehungsweise Transitzentren auf beiden Seiten des Mittelmeers zu drosseln. Aufgabe jener Zentren war es, neben der medizinischen Untersuchung der Migranten, diese auf ihre Eignung für den Arbeitsmarkt in der Metropole hin zu prüfen und ihnen gegebenenfalls von der Durchführung ihres Migrationsvorhabens abzuraten45 . Die große Mehrheit der algerischen Migranten umging jedoch diese Transitzentren und trat die Reise über das Mittelmeer an, ohne sich einer der freiwilligen Kontrollmaßnahmen zu unterziehen. Die Versuche der Regierung, die algerische Migration in ihrem Ausmaß und ihrer sozialen Struktur zu beeinflussen, mussten somit vor allem in der Metropole ansetzen. Die dort anberaumten Maßnahmen zur Kontrolle algerischer Migranten zwischen 1945 und 1954 waren breit gestreut. Sechs verschiedene Ministerien46 brachten in diesem Zeitraum gesonderte Initiativen und Gesetze auf den Weg, die speziell für Algerier Anwendung finden sollten47 . Die dabei dominierende Instanz war anfangs noch das Arbeitsministerium. Zu dessen Ungunsten weitete jedoch das Innenministerium bis zum Beginn der 1950er Jahre seinen Kompetenzbereich sukzessive aus und nahm eine immer zentralere Rolle ein. Dies führte letztendlich dazu, dass die wichtigsten Weichen bezüglich der sozialen Intervention für Algerier und deren polizeiliche Überwachung von dem gleichen Ressort aus angeleitet wurden und in ihren Zielen immer stärker miteinander verschmolzen. Anders als in der Zwischenkriegszeit durften »muslimische Franzosen« aufgrund ihres neuen Rechtsstatus in der Metropole nicht mehr offen diskriminiert werden. Daher wurden unter dem Vorwand des Schutzes und der Fürsorge der Migranten eingeführte Maßnahmen zum zentralen Instrument ihrer Kontrolle und Überwachung48 . Ein für die algerische Migration in Lothringen unmittelbar relevanter Aspekt der neuen Politik der Regierung gegenüber Algeriern nach 1945 war die Einführung der Stelle eines »Spezialisten für Nordafrikaner«, der die ihnen gegenüber getroffenen Maßnahmen auf regionaler Ebene im Sinne der Regierung koordinieren sollte. Zwischen 1946 und 1949 hatte zunächst das Arbeitsministerium mit den contrôleurs sociaux de la main d’œuvre nord-africaine (CSMONA) einen solchen Posten eingeführt. Diese wurden in Departements mit einer besonders hohen Zahl algerischer Migranten der jeweiligen Direktion für Arbeitsfragen gewissermaßen als Experten für alle Fragen, die »Nordafrikaner« betrafen, zur Seite gestellt. Ihre zentrale Aufgabe lag darin, »die Probleme, die sich durch die Einstellung nordafrikanischer

45 46

47 48

Amelia H. Lyons, Invisible Immigrants. Algerian Families and the French Welfare State in the Era of Decolonization (1947–1974), Diss. Univ. Irvine, CA (2004), S. 108–110. Dazu gehörten neben dem Arbeits- und dem Innen- auch das Gesundheits- und das Landwirtschaftsministerium, das Ministerium für öffentliche Bauarbeiten sowie das Bildungsministerium. Viet, La France immigrée, S. 177f. Ibid., S. 169.

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I. Algerische Migranten im lothringischen Grenzgebiet

Arbeitskräfte stellen, zu ermessen und alle geeigneten Maßnahmen zu unterstützen, um die Existenzbedingungen der Lohnempfänger dieser Kategorie zu verbessern«49 . Das Innenministerium griff diese Initiative auf und kündigte am 1. Februar 1952 an, den Inspektoren der Militärregionen, sogenannte inspecteurs généraux de l’administration en mission extraordinaire (IGAME), jeweils einen contrôleur technique aux affaires musulmanes (CTAM)50 als Berater zuzuteilen, sofern in der jeweiligen Region zahlreiche Algerier lebten. Den Protesten des Arbeitsministeriums zum Trotz hatten diese neuen Beamten prinzipiell die gleichen Aufgaben wie die CSMONA, wobei der Mitarbeiterstab der CTAM, ihr Zuständigkeitsbereich und damit auch ihr Einfluss ungleich größer waren51 . Letztendlich stellten die CSMONA ihre Aktivitäten ein und überließen den Beamten des Innenministeriums das Feld. In Lothringen lieferte der für die 6. Militärregion ernannte CTAM Nesmes dem Innenministerium seit 1952 ausgiebige Auskünfte über die Situation der algerischen Migranten vor Ort52 . Im Sinne einer Verbesserung der Lebensumstände der »muslimischen Franzosen« und der Akkumulation möglichst zahlreicher Informationen über sie versuchte er, die Zusammenarbeit zwischen den für sie zuständigen Stellen zu koordinieren und zu optimieren. Darüber hinaus schaltete sich der CTAM aber auch in akute Auseinandersetzungen ein. Dass er dabei der Verbreitung kolonialer Stereotype in Lothringen aktiv Vorschub leistete, kann beispielhaft anhand seiner Intervention in einen Konflikt zwischen mehreren algerischen Patienten und der Leitung eines Sanatoriums in Sarrebourg gezeigt werden. Dort hatten sich im März 1954 elf algerische Patienten in einem Brief an den Präfekten von Moselle gewandt. Sie empörten sich über eine Krankenpflegerin, die einem unter Fieber leidenden algerischen Patienten anstelle von Mineralwasser bloßes Leitungswasser hatte verabreichen wollen. Die Algerier schrieben, sie seien »wie Sklaven behandelt worden«53 . Der CTAM wandte sich an den behandelnden Arzt und 49 50

51 52

53

Ibid., S. 170. Sie wurden zunächst als administrateurs des services civils de l’Algérie angekündigt, da das algerische Generalgouvernement sie auswählte und bezahlte. Sie wurden jeweils in die 2., 6., 8. und 9. Militärregion entsandt: Le ministre de l’Intérieur à MM. les inspecteurs généraux de l’administration en mission extraordinaire pour les 2e , 6e , 8e et 9e régions – pour information à MM. les préfets de Meurthe-et-Moselle, 1. Feb. 1952, AdM&M 950 W 28. Viet, La France immigrée, S. 180. Im August 1952 beauftragte das Innenministerium Nesmes etwa damit, in Erfahrung zu bringen, inwiefern die algerischen Migranten in Lothringen dazu bereit waren, im Winter nach Algerien zurückzukehren: Le ministre de l’Intérieur à monsieur l’inspecteur général de l’administration en mission extraordinaire dans la 6e région, 27. Aug. 1952, AdM 297 W 18. Handschriftlicher Brief von Meziane, Hamdouche, Zahi, Serrar, Rekia, Allafi, Aluli, Zidoum, Benchilla und zwei weiteren Personen, deren Unterschrift nicht entziffert werden kann, an den Präfekten des Departement Moselle, den 19. März 1954, AdM 297 W 66.

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warb ihm gegenüber für Verständnis gegenüber den Algeriern, die dieser als leicht erregbare »große Kinder« ansehen müsse: Ich kann mir gut vorstellen, wie bedrückend eine derart zum Ausdruck gebrachte Undankbarkeit sein kann, gerade wenn man so sehr auf das Wohl der kranken Muslime bedacht ist, wie Sie es sind. Ich glaube jedoch, dass man diesen großen und leicht errregbaren Kindern nicht böse sein sollte, da sie unwichtigen Details zuweilen eine derart hohe Bedeutung zurechnen, dass sie die entscheidenden Dinge vergessen. Dies trifft auch für die lächerliche Geschichte der Flasche mit »Eau de Vichy« zu, über die mir Frau Berthelot54 letzte Woche berichtet hat55 .

Sophia Lamri zufolge stellten Algerier in der Dekade nach dem Zweiten Weltkrieg die wichtigste Zielgruppe der organisierten sozialen Intervention in Frankreich dar56 . Abgesehen von staatlichen Initiativen in diesem Bereich wurden in allen wichtigen Anlaufzentren algerischer Migranten in der Metropole auch halbstaatliche und private karitative Organisationen gegründet, deren Aktionen ausschließlich auf Algerier beziehungsweise »Nordafrikaner« zielten. Die meisten dieser Organisationen hingen von finanziellen Zuwendungen des Bevölkerungs- oder Arbeitsministeriums ab. Allein in Paris waren es 1953 bereits ein Dutzend57 , die ihre jeweiligen Maßnahmen nicht nur politisch, sondern in zunehmendem Maße auch wissenschaftlich zu rechtfertigten versuchten. So entstand in dieser Phase eine wahre Fülle soziologisch, ethnologisch und vor allem psychologisch inspirierter Publikationen, die »Nordafrikaner« nicht nur als rückständig, sondern grundsätzlich als problembelastet darstellten und daher den Umgang mit ihnen als eine Angelegenheit präsentierten, die des Einsatzes von Experten bedurfte58 . 54 55

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Der Vorname dieser Sozialarbeiterin konnte nicht ermittelt werden. J. de Nesmes, adminsitrateur des services civils de l’Algérie, chargé de mission pour la 6e région, préfecture de Metz, à monsieur le docteur Bouche, directeur du sanatorium de Sarrebourg, 26. März 1954, AdM 297 W 66. Sophia Lamri, »Algériennes« et mères françaises exemplaires (1945–1962), in: Le Mouvement social (2002), S. 61–81, hier S. 74. Amelia H. Lyons, The Civilizing Mission in the Metropole. Algerian Immigrants in France and the Politics of Adaptation during Decolonization, in: Geschichte und Gesellschaft 32 (2006), S. 489–516, hier S. 502f. Das wichtigste Periodikum, dessen erklärtes Ziel es war, vermeintlich gesicherte Erkenntnisse über soziale, geschichtliche und psychologische Besonderheiten von »Nordafrikanern« zu verbreiten, war die seit 1950 von der Organisation Assistance morale aux Nord-Africains herausgegebene Zeitschrift »Cahiers nord-africains« bzw. »Études sociales nord-africaines« (ESNA). Mit ihrer wissenschaftlich inspirierten Darstellungsweise wandte sie sich insbesondere an ein Publikum aus politischen Entscheidungsträgern, Sozialarbeitern, Polizisten, Arbeitgebern und leitenden Angestellten der Metropole, die im Alltag mit »Nordafrikanern« in Kontakt waren. Die alle zwei Monate erscheinenden »Cahiers« wurden von der französischen Regierung subventioniert und standen allgemein für eine staatstreue, profranzösische Linie, die zur Erklärung der vermeintlichen Probleme algerischer Migranten vor allem mit deren kultureller oder soziale Rückständigkeit bzw. Minderwertigkeit argumentierte: Angéline Escafré-Dublet, Aid, Activism, and the State in Post-War France. AMANA, a Charity Organisation for Colonial

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I. Algerische Migranten im lothringischen Grenzgebiet

Ein wichtiger Ausgangspunkt jener pseudowissenschaftlichen Literatur über Algerier beziehungsweise »Nordafrikaner« bestand darin, dass sie die in Algerien herrschende Notlage und die widrigen Lebensumstände algerischer Migranten nicht mit dem kolonialen System in Verbindung brachte, obwohl einige zeitgenössische Forscher dies bereits getan hatten59 . Vielmehr machten sie die kolonisierte Bevölkerung zum Gegenstand ihrer Problemanalysen. Dabei fiel die Problematisierung von Algeriern entsprechend der zivilisatorisch-religiös begründeten Trennlinie kolonialer Herrschaft in Algerien häufig mit einer Problematisierung von Muslimen beziehungsweise des Islams zusammen60 . Das auf diese Weise produzierte ›Wissen‹ fiel in der Metropole angesichts der nach 1945 weit verbreiteten Ansicht, die algerische Zuwanderung stelle eine große Herausforderung beziehungsweise Überforderung für Staat und Gesellschaft dar, an vielen Stellen auf fruchtbaren Boden. Auch in Lothringen wurden schon frühzeitig Bemühungen zur sozialen Unterstützung vermeintlich bedürftiger »Nordafrikaner« unternommen. Für das Departement Meurthe-et-Moselle hat dies bereits Sarah Vanessa Losego am industriellen Becken von Longwy gezeigt. Dort zeichnete der Subpräfekt von Briey im April 1949 mit Blick auf die etwa 1000 arbeitslosen und ca. 500 vagabundierenden Algerier in seinem Arrondissement ein äußerst düsteres Bild der lokalen Situation61 . Als Reaktion auf diese Umstände trieb Subpräfekt Lucien Ferré die Gründung einer karitativen Organisation voran, die sich ausschließlich mit der Unterstützung von »Nordafrikanern« befassen sollte. So wurde im Februar 1950 in Briey unter dem Vorsitz des Subpräfekten die Association des amis des Nord-Africains en Lorraine (AANAL) gegründet, welche es sich zur Aufgabe machte, gegenüber »Nordafrikanern« staatliches Engagement bezüglich der Elendsbekämpfung und der Durchsetzung des Gleichstellungsprinzips zwischen Algeriern und Franzosen zu demonstrieren. Obwohl offiziell als private karitative Organisation deklariert, standen die Aktivitäten dieses Vereins und seiner Nachfolger von Beginn an unter dem starken Einfluss seiner wichtigsten Geldgeber: des französischen Staates

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Migrants, 1945–1962, in: Journal of Modern European History 12 (2014), S. 247– 260. Vgl. insbesondere Georges Balandier, La situation coloniale: approche théorique, in: Cahiers internationaux de sociologie 11 (1951), S. 44–79. Naomi Davidson glaubt diesbezüglich gar eine bereits seit dem Ersten Weltkrieg begonnene, kolonialistisch begründete »Rassifizierung« von Muslimen zu erkennen. Eine zentrale Ursache liege darin, dass die Bedrohung der Herrschaftsverhältnisse in Algerien durch Algerier sich aufgrund des besonderen französischen kolonialen Diskurses und des zentralen Begriffs der Zivilisierungsmission nicht offen in Form von nationalen oder rassischen Stereotypen habe ausdrücken lassen. Aus diesem Grund sei es zu einer Fixierung auf die religiöse Differenz der »Indigenen« gekommen, die die Entstehung eines »French Islam« mit entsprechenden Institutionen wie unter anderem der Pariser Moschee nach sich gezogen habe: Davidson, Only Muslim, S. 70–72. Losego, Fern von Afrika, S. 252.

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1. Die soziale Situation algerischer Migranten

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und der regionalen Arbeitgeber aus der Eisen- und Stahlindustrie. Letztere bestimmten durch ihre Kontrolle über die bereits bestehenden Aufsichtsund Betreuungsstrukturen die Gestaltung der Kultur- und Sozialpolitik im Pays-Haut62 fast allein. Die staatliche Intervention war minimal. Dementsprechend eindeutig waren auch die Aktivitäten der AANAL auf die Interessen der Arbeitgeber ausgerichtet. Im Einklang mit den eigenen Statuten und den Vorgaben der Behörden verfolgte diese in erster Linie das Ziel, »den Unternehmen relativ stabile, relativ gesunde, mit minimalen Sprach- und beruflichen Kenntnissen ausgestattete, loyale algerische Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen«63 . Sie konzentrierte ihre Aktivitäten daher auf rein praktische Aspekte der Sozialarbeit wie die Verköstigung, Unterbringung und medizinische Versorgung nordafrikanischer Arbeiter. Andere Aufgaben wie etwa die Auseinandersetzung mit kulturellen Problemen, die Familienbetreuung und Freizeitgestaltung wurden hingegen stark vernachlässigt64 . Seit Januar 1951 betrieb die AANAL in Longwy-Haut ein Wohn- und Aufnahmezentrum für »Nordafrikaner« mit zunächst 50 und später 100 Betten, dessen Bau fast vollständig durch das Innenministerium und zu Teilen auch durch das algerische Generalgouvernement finanziert worden war. 20 Betten waren für Arbeitslose vorgesehen und 80 weitere Betten für Arbeiter oder Auszubildende. Letztere mussten pro Nacht eine Grundpauschale von 60 Franc entrichten. Für Arbeitslose war die Übernachtung nach der Vorlage einer fünf Tage gültigen Bescheinigung kostenlos65 . Die Nachfrage der algerischen Migranten in Longwy nach einer Unterkunft war derart hoch, dass das Wohnheim der AANAL häufig überbelegt war. Im Juni 1951 waren dort rund 200 Bewohner registriert. Im April 1952 waren es 130. Da einige Bewohner immer wieder unbemerkt Bekannte in das Wohnheim einschleusten, zeigte sich letztendlich, dass die AANAL weder die Anzahl der Bewohner noch die Eintreibung der Mieten oder gar die Einhaltung der Hausordnung effektiv kontrollieren konnte. Aus Protest gegen diese Zustände reichte der Leiter des Wohnheims im November 1953 seine Kündigung ein66 . Die Überforderung der AANAL in Longwy wurde spätestens 1953 offensichtlich und zog nicht nur die Aufmerksamkeit und Kritik regionaler Behörden nach sich. Im Juli 1953 versuchte ein Bündnis aus Gewerkschaftsvertretern, Lehrern, Priestern und Ärzten der Region, in einem alarmierenden Brief auf die dringend nötige Verbesserung der widrigen Lebensumstände insbesondere arbeitsloser Algerier in der Region hinzuwirken67 . Schließ62 63 64 65 66 67

Als »Pays-Haut« wird bis heute das industrielle Becken von Longwy bezeichnet. Ibid., S. 291. Ibid., S. 288–292. Ibid. Es handelt sich dabei um anciens francs. Ibid., S. 309–315. Ibid., S. 327–329.

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I. Algerische Migranten im lothringischen Grenzgebiet

lich nahm 1953 auch eine weitere Organisation, die sich ausschließlich mit der sozialen Unterstützung nordafrikanischer Migranten befasste, in Longwy ihre Arbeit auf. Das 1952 gegründete Comité lorrain d’études et d’action nord-africaine (Cleana) hatte sich die »Analyse der Probleme, die sich aufgrund der Präsenz der Nordafrikaner in Lothringen und vor allem in Meurthe-et-Moselle stellen«, zur Aufgabe gemacht68 . In Longwy gründete das Cleana 1953 zunächst eine erste Sektion. Im März 1955 eröffnete es dort ein eigenes Büro, das Algeriern als Sozial- und Rechtsberatung, aber auch als Vermittlungsstelle zu Behörden und Arbeitgebern dienen sollte69 . Letztendlich konnten diese Maßnahmen angesichts der steigenden Anzahl algerischer Arbeitsloser in der Region Longwy keine spürbare Verbesserung der Gesamtsituation herbeiführen. Im benachbarten Departement Moselle zeigte sich ein ähnliches Bild wie in Meurthe-et-Moselle. Dort existierte seit 1951 eine Organisation, die sich ausschließlich der sozialen Unterstützung von »Nordafrikanern« widmete70 . Sie nannte sich Comité d’entente franco-nord-africaine71. Ihr erklärtes Ziel bestand darin, eine Lösung für alle humanitären, professionellen, rechtlichen oder sozialen Probleme von »Nordafrikanern« in Moselle zu finden72 . Dazu eröffnete das Komitee mit der Unterstützung der Stadt Metz 1952 in der Hausnummer 75 der Rue des Arènes einen für »Nordafrikaner« spezialisierten Sozialdienst, der diese in allen praktischen Fragen des Alltags beraten sollte73 . Auf eine Initiative der Präfektur hin wurde im gleichen Jahr in Metz auch das erste Nachtasyl für »Nordafrikaner« in Moselle in der ehemaligen Kaserne Krien eröffnet. Ähnlich wie im Fall des Wohnheims Ifriqiya in Longwy waren die vom conseil général von Moselle und dem Innenministerium finanzierten 20 Schlafplätze darin angesichts der zahlreichen Obdachlosen innerhalb des Departements jedoch völlig unzureichend74 . 68 69 70

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Seit 1954 betrieb das Komitee auch ein Nachtasyl für obdachlose Nordafrikaner, das sich bei Nancy in Jarville-la-Malgrange befand, siehe ibid., S. 336. Ibid., S. 327f., 338. Eine Nebenrolle spielte die Association patriotique et culturelle des musulmans français, protégés et anciens combattants nord-africains de la région de l’Est de la France. 1951 zählte sie 300 Mitglieder. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatten ihr drei Algerier vorgestanden. Die inneren Abläufe der Organisation schienen 1951 jedoch aufgrund interner Streitigkeiten paralysiert; die Direktion für Arbeitsfragen in Moselle sprach sich gegen eine finanzielle Unterstützung durch die öffentliche Hand aus: Directeur départemental du travail et de la main d’œuvre à monsieur le préfet de la Moselle [Nov. 1951], S. 3, AdM 297 W 18. Das Komitee war am 3. März 1951 auf die Initiative des 1902 geborenen Richters Bengel am tribunal de première instance von Metz gegründet worden. Sein Vorname konnte nicht ausfindig gemacht werden. Directeur départemental du travail et de la main d’œuvre à monsieur le préfet de la Moselle [Nov. 1951], AdM 297 W 18. Le préfet de la Moselle au ministre de l’Intérieur, 30. Okt. 1954, S. 5, AdM 297 W 65. Notes du sous-préfet de Thionville, M. Carel, de la tournée du 28 mai 1954, S. 5, ibid.

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1. Die soziale Situation algerischer Migranten

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Es zeigte sich somit auch in Moselle, dass die verschiedenen Initiativen zur sozialen Unterstützung algerischer Migranten trotz der finanziellen Unterstützung durch Ministerien und Kommunen nur wenig effektiv waren. Nachdem die wachsende Zahl algerischer Obdachloser beziehungsweise die katastrophalen Bedingungen in vielen Herbergen in Metz bereits 1950 für Aufsehen gesorgt hatten75 , dauerte es noch mehr als drei Jahre, bis ein speziell für »Nordafrikaner« vorgesehenes Wohnheim der öffentlichen Hand in Saint-Julien-lès-Metz fertiggestellt war76 . Nach der Eröffnung musste der Präfekt von Moselle jedoch schon im Dezember 1954 feststellen, dass durch die angebotenen 200 Schlafplätze des Wohnheims keine entscheidende Verbesserung der Gesamtsituation herbeigeführt worden war77 . Die speziell auf Algerier zugeschnittenen sozialpolitischen Maßnahmen in Lothringen erwiesen sich allein schon aufgrund der enormen Anzahl der Migranten als ungenügend. Darüber hinaus waren ihre Initiatoren mit der Schwierigkeit konfrontiert, in Lothringen eine Akzeptanz gegenüber Algeriern und dem Bau von Unterkünften für diese zu schaffen. Als etwa die Subpräfektur von Briey im November 1952 versuchte, den Bau eines Wohnheims für »Nordafrikaner« in Auboué durchzusetzen, stellte sich die Direktion des Unternehmens Sidelor mit der Begründung dagegen, dass es in diesem Ort bislang keine »Nordafrikaner« gebe und es nicht angezeigt sei, eine »neue Rasse« in eine Region zu importieren, in der die soziale Situation ohnehin bereits angespannt sei78 . Der Widerstand des Unternehmens erwies sich letztendlich als erfolgreich. In einem anderen Fall hatten einige Zollbeamte 1950 in Ludelange den Bau eines Wohnheims für obdachlose »Nordafrikaner« neben ihrer Kaserne verhindert79 . Die Geschichte der auf »Nordafrikaner« spezialisierten sozialen Intervention in Lothringen vermag vor allem zu zeigen, in welchem Ausmaß algerische Migranten sowohl bei staatlichen wie auch nichtstaatlichen Akteuren als problembelastet galten. Auch wenn zu vermuten ist, dass sich viele der Sozialarbeiter durchaus aus humanitären Gründen etwa für eine Verbesserung der Lebensbedingungen von obdach- oder arbeitslosen Algeriern engagierten, leisteten die Organisationen, für die sie arbeiteten, der Verbreitung des Stereotyps des hilfsbedürftigen und desorientierten »Nordafrikaners« Vorschub. Letztendlich legitimierten sich die exklusiven Zuwendungen für »muslimische Franzosen« stets in Bezug auf den kolonialen Status quo in Algerien und wurden von staatlicher Seite auch nur deshalb so ausgiebig mit75 76 77 78 79

Le réfet de la Moselle au ministre de l’Intérieur, service de l’Algérie et des départements d’outre-mer, 25. Aug. 1950, S. 3, AdM 297 W 18. Le préfet de la Moselle au ministre de l’Intérieur, 30. Okt. 1954, S. 6, AdM 297 W 65. Ibid. Sidelor, direction des mines, note de monsieur Vallet pour monsieur Leger, 25. Nov. 1952, AAM EA 420/741. Le préfet de la Moselle au ministre de l’Intérieur, service de l’Algérie et des départements d’outre-mer, 25. Aug. 1950, S. 4, AdM 297 W 18.

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I. Algerische Migranten im lothringischen Grenzgebiet

finanziert, weil sie dazu beitragen sollten, eben diesen Status zu stabilisieren. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass nur eine Minderheit der Migranten tatsächlich jener Maßnahmen bedurfte. Die große Mehrheit der Algerier in Lothringen war bei der Durchführung ihres Vorhabens, sich nach ihrer Anreise aus Algerien in Lothringen eine Arbeit und eine Unterkunft zu beschaffen, durchaus erfolgreich. 1.1.3 Strategien und Herkunftsorte algerischer Migranten Die typische Route algerischer Migranten nach Lothringen führte zunächst über eine Hafenstadt, entweder Philippeville (Skikda), Algier oder Oran (Wahren). Dort setzten sie meist mit dem Schiff nach Marseille über und nahmen dann den Zug bis nach Nancy oder Metz. Anschließend konnten sie mit Bussen zu ihrem eigentlichen Zielort weiterfahren. Wohin sich die Migranten jeweils orientierten, hing zu einem hohen Maß von der Anwesenheit oder zumindest den Empfehlungen einzelner Familienmitglieder oder Bekannter ab. Dieses für Migrationsnetzwerke typische Phänomen wird in der französischen Forschungsliteratur als regroupement bezeichnet80 . In einer Erhebung von Juni 1950 zeigte der Soziologe Jean-Jacques Rager die Bedeutung des algerischen regroupement in verschiedenen Orten der Metropole auf, darunter auch den beiden Departements Moselle und Meurthe-et-Moselle81 . Nach seinen Angaben über diese beiden Departements stammten die dort nach ihrer Herkunft erfassten Algerier lediglich aus neun verschiedenen Arrondissements in Algerien, nämlich Aumale, Batna, Bougie, Constantine, Mostaganem, Sétif, Orléansville, Tizi-Ouzou und Tlemcen. Einerseits verweist dies auf die Vielfalt der Herkunft der algerischen Migranten in Lothringen, andererseits wird deutlich, dass nur in ganz bestimmten Regionen Migrationsnetzwerke zwischen den algerischen Übersee-Departements und der Metropole aufgebaut wurden, während andere Gebiete Algeriens davon weitgehend ausgeschlossen blieben. Bezüglich Meurthe-et-Moselle ist zu konstatieren, dass die große Mehrheit der dort erfassten Migranten aus der Großen Kabylei stammte, was sich in einzelnen Orten wie etwa Longwy, Nancy oder Frouard besonders deutlich zeigte. 80

81

Im Deutschen spricht man von Kettenmigration. Beide Begriffe beschreiben einen Prozess, in dem die Migration eines Einzelnen oder einer kleinen Gruppe weitere Personen aus dem jeweiligen Herkunftsort dazu bewegt, an den gleichen Zielort zu reisen, sodass sich letztendlich eine in Auflösung begriffene Gemeinschaft an einem anderen Ort zumindest teilweise neu konstituieren kann. Dabei kann es sich um Familienmitglieder oder Bekannte handeln, aber auch um Personen, die aus Mangel an Informationen über alternative Migrationsziele den gleichen Ort wählen, vgl. Sonja Haug, Soziales Kapital und Kettenmigration. Italienische Migranten in Deutschland, Opladen 2000. Alle diesbezüglichen Angaben stammen aus dem Aufsatz: Alain Girard, Joseph Leriche, L’immigration nord-africaine. Problèmes sociaux, in: ESNA 43–44 (1955), S. 87–156, hier S. 101–105.

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1. Die soziale Situation algerischer Migranten

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Dies ist ein wesentlicher Unterschied im Vergleich zum benachbarten Departement Moselle, wo fast 1000 Migranten erfasst wurden, die aus dem Arrondissement Tlemcen stammten. Die algerische Migration nach Lothringen bildete sich in Abhängigkeit von jeweils sehr unterschiedlichen lokalen Konstellationen heraus. Zwischen den sogenannten muslimischen Franzosen in Lothringen existierten teilweise beträchtliche soziale Unterschiede, die nicht nur vom Gegensatz zwischen Stadt und Land geprägt waren, sondern auch eine wichtige kulturelle Dimension hatten. Besonders deutlich illustriert dies das Beispiel der Stadt Metz. Unter den 988 dort um 1950 lebenden Algeriern dominierten vor allem zwei Gruppen: 400 ehemalige Bewohner des westalgerischen douar Souahlia82 und 184 Algerier aus den kabylischen Arrondissements Tizi-Ouzou und Bougie. Die Mitglieder der ersten Gruppe waren in der unmittelbaren Nähe der Kleinstadt Nédroma geboren. Bauern und Kleinhändler aus Souahlia besuchten dort regelmäßig den wöchentlichen Markt, der die Menschen aus dem gesamten Umland anzog. Bereits vor der französischen Besatzung und über das Jahr 1962 hinaus existierte dort wie in den meisten anderen Regionen Algeriens ein ausgeprägter Gegensatz zwischen Stadt- und Landbewohnern. In der Kommune von Nédroma zeigte sich dies nicht nur in der besonderen Verbreitung andalusischer Musik, sondern auch an dem eigenen arabischen Dialekt, durch den ein Nédromi sich von einem Bewohner der ländlichen Umgebung unterschied83 . Im Umkreis von Nédroma hatten vor allem die massive Ungleichverteilung von Land84 und das Bevölkerungswachstum zur Folge, dass die Zuwanderung in die Stadt zum Ende der 1940er Jahre stark zunahm. Aufgrund des Mangels an Wohnraum entstanden schnell wachsende Vororte, die von großer Armut geprägt waren. Während des Unabhängigkeitskriegs setzte sich diese Tendenz auch aufgrund der militärischen Repressionen und Vertreibungen, die vor allem auf dem Land stattfanden, weiter fort85 . Die sozialen Strukturen in der unmittelbaren Umgebung Nédromas waren nach 1945 vor allem durch die zahlreichen Enteignungen erschüttert worden. Darüber hinaus hatte die koloniale Administration an der Spitze einiger »Stämme« ortsfremde algerische 82

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Ein douar war eine administrative Einheit, die mehrere Tausend Personen umfassen konnte. Sie stellte eine Art Dorf dar, dessen Grenzen von der französischen Administration festgelegt worden waren, vgl. MacMaster, Colonial Migrants and Racism, S. 95f. Gilbert Grandguillaume, Nédroma. L’evolution d’une médina, Leiden 1976, S. 57. Grandguillaume hat gezeigt, wie in Nédroma eine massive Ausweitung des kolonialen Besitzes in der Zwischenkriegszeit mit der Enteignung Tausender algerischer Bauern einherging. 1952 besaßen 134 algerische Familien zusammengenommen rund 900 Hektar Land, während lediglich neun französische Familien 550 Hektar besaßen. Dagegen hatte der europäische Landbesitz im Jahr 1917 nur 309 Hektar ausgemacht, vgl. ibid. Zwischen 1954 und 1960 wuchs die Bevölkerung der Stadt Nédroma von 7000 auf 12 000. Am Tag der algerischen Unabhängigkeit war rund die Hälfte der Bewohner der Stadt ländlicher Herkunft, siehe ibid., S. 7–10.40f.

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I. Algerische Migranten im lothringischen Grenzgebiet

Beamte (caïds) mit beinahe diktatorischen Vollmachten eingesetzt. Diese Entwicklung hatte außer der Abwanderung vom Umland in die Stadt Nédroma auch zur Folge, dass die Bereitschaft zur Emigration nach Frankreich schnell wuchs86 . Das soziale Umfeld der Migranten aus der etwa 700 Kilometer von Nédroma entfernten Kabylei war von gänzlich anderen Umständen geprägt87 . Dort war die Migration in die Metropole zunächst nicht primär aufgrund des Schocks der Kolonisierung und deren Nachwirkungen angeschoben worden. Vielmehr bildete sie sich in Anknüpfung an ein präkoloniales Migrationssystem heraus, das sich vor allem über Nordafrika, aber auch über das Mittelmeer hinaus erstreckt hatte88 . Daher waren die sozioökonomischen Strukturen in dieser Region, die stark von Handel und Handwerk anstatt von Landwirtschaft geprägt war, besser auf längere Abwesenheiten einzelner Mitglieder der Gemeinschaft eingestellt89 . Auch in der Kabylei befanden sich die gesellschaftlichen Strukturen aufgrund der kolonialen Expansion während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Umbruch. Eine Besonderheit bestand jedoch darin, dass etwa die dauerhafte Präsenz zahlreicher Soldaten in diesem für Aufstände berüchtigten Gebiet der Bevölkerung vor Ort neue Erwerbsmöglichkeiten schuf. Ferner machte die überdurchschnittliche Zahl der Schulen in der Region eine Anpassung an das koloniale System tendenziell leichter umsetzbar90 . Die Migration aus der Kabylei wurde nicht allein in Folge von sozialer Not, sondern auch aufgrund besonderer Anpassungsleistungen bereits nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zu einem Massenphänomen. 1923 stammten 84 Prozent aller algerischen Migranten in der Metropole aus der Kabylei91 . Spätestens zu Beginn des Zweiten Weltkriegs war die Pendelmigration dort zu einem festen Bestandteil des lokalen Wirtschaftskreislaufs geworden. Ihre Wiederaufnahme nach 1945 wirkte somit im Gegensatz zu der Region um Nédroma für die soziale Situation vor Ort zunächst eher stabilisierend als zerstörerisch92 . Dieser kurze Überblick über die sozialen Bedingungen in den Herkunftsregionen der beiden wichtigsten algerischen Migrantengruppen in Metz macht klar, dass keineswegs von einer homogenen Gruppe der Migranten in Lothringen ausgegangen werden kann. In Anbetracht der unterschiedlichen Herkunftsorte der algerischen Migranten in Lothringen – und insbesondere des hohen Anteils der Kabylen darunter – wird deutlich, dass innerhalb der oftmals einheitlich vorgestellten 86 87 88 89 90 91 92

Ibid., S. 39. Kateb, Européens, indigènes et juifs, S. 264. MacMaster, Colonial Migrants and Racism, S. 38–41. Ibid., S. 42–44. Omar Carlier, Entre nation et jihad. Histoire sociale des radicalismes algériens, Paris 1995, S. 247–252. MacMaster, Colonial Migrants and Racism, S. 34. Ibid., S. 172–175.

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1. Die soziale Situation algerischer Migranten

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Gruppe der sogenannten Français musulmans d’Algérie auch Sprachprobleme eine wichtige Rolle spielten. In einem Gespräch mit dem Autor erinnerten sich mehrere aus der Kabylei stammende Algerier, die zwischen 1950 und 1955 nach Lothringen gekommen waren, jeweils daran, dass sie nach dem Verlassen ihrer Heimat entweder in Algerien oder erst in der Metropole Arabisch lernten, um mit anderen Algeriern kommunizieren zu können: M. Asmun: Als ich aus Algerien kam und Erdarbeiten machte, lernte ich Arabisch mit den Oranais93 . Weil die Oranais nicht Kabylisch sprachen – sie sprachen nicht Berberisch und da habe ich durch sie Arabisch gelernt. Ich habe mit ihnen Erdarbeiten für ein Unternehmen gemacht –. M. Bougherra: Aber wir alle sprachen kein Arabisch, ich bin gekommen und sprach kein Wort Arabisch, ich habe es hier vor Ort gelernt94 .

Was in Lothringen von der Presse, der Präfektur und vielen Arbeitgebern häufig als »das algerische Milieu« bezeichnet wurde, war im Grunde eine äußerst heterogene Ansammlung von Menschen mit unterschiedlichen sozialen und kulturellen Hintergründen. In entlegeneren Orten wie etwa Longwy oder Frouard stellte sich die Situation völlig anders dar als zum Beispiel in Metz. Den entscheidenden sozialen Referenzrahmen der algerischen Migranten bildete ihre jeweilige Familien-, Dorf- oder Stadtgemeinschaft. Die Idee einer – wie auch immer gearteten – algerischen Nation spielte für die meisten von ihnen, wenn überhaupt, nur eine nachgeordnete Rolle; von der französischen Nation ganz zu schweigen. Die Relevanz der Verbindung der Migranten zu anderen Menschen aus ihrer Herkunftsregion zeigte sich in Lothringen unmittelbar vor Ort. 1950 war es in Moselle der Regelfall, dass im nächsten Umfeld eines Migranten eine größere Anzahl von Personen lebte, die aus dem gleichen Herkunftsgebiet stammten wie er selbst. Neben Metz ist auch das Beispiel Moyeuvre-Grande bemerkenswert: 1950 wohnte dort lediglich einer von insgesamt 141 Algeriern, der nicht aus dem douar Illilten stammte. Nach Jean-Jacques Ragers Erhebungen stellten Algerier, die mit weniger als neun Personen aus ihrem Herkunfts-douar in einem Ort des Departements Moselle lebten, mit rund 17 Prozent eindeutig eine Minderheit dar95 . Nimmt man die gleichen Werte aus Meurthe-et-Moselle hinzu, ist außerdem festzustellen, dass kein Herkunfts-douar 1950 für beide Departements eine ähnliche Bedeutung hatte. Im Gegenteil: Die Schnittmenge der douars, die in beiden von Rager durchgeführten Erhebungen genannt werden, ist verschwindend gering. Unter den 230 von Rager insgesamt erfassten douar tauchen allein sechs sowohl in der Liste zu Moselle als auch in der zu Meurthe-et-Moselle auf96 . Dies ist ein weiterer Hinweis dafür, dass die Migration von Algerien 93 94 95

Bewohner der algerischen Stadt Oran. Interview LH–Djaout, Bougherra, Asmun und Yattuy, 2014, S. 25. Rager gab in seinen Angaben den Herkunfts-douar nur an, wenn er für mindestens zehn Algerier zutraf. Dies war allein bei 979 von 5743 in Moselle erfassten Algeriern nicht der Fall: Girard, Leriche, L’immigration nord-africaine.

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I. Algerische Migranten im lothringischen Grenzgebiet

aus in dieser Phase häufig einem genauen Plan folgte. Der Weg aus einem douar führte in der Regel in eine ganz bestimmte Kommune in der Metropole, wo die Migranten Bekannte, Freunde oder Verwandte zu treffen hofften97 . Die algerische Migration nach Lothringen war somit in einem hohen Maße strategisch angelegt und stark von der Rolle lokaler Gemeinschaften geprägt. Vor der Abreise nach Frankreich verschaffte man sich zunächst Informationen über die Lage auf dem regionalen Arbeitsmarkt und die Möglichkeiten einer Unterkunft. Dieses Vorgehen und die hohe Abhängigkeit insbesondere unerfahrener Migranten von der Gemeinschaft illustrieren die Erinnerungen von Herrn Badis an seine erste Fahrt von Algerien nach Lothringen im Herbst 1953: Badis: Und so kamen wir in Marseille an. Von Marseille aus nahmen wir den Zug nach Metz. Wir sind in Metz angekommen, aber im Zug hörte ich, dass meine Kumpels, meine Gefährten, unter sich sprachen. Sie sagten, es gibt an jenem und an jenem Ort Arbeit, in Forbach oder in Sarreguemines, ich weiß es nicht mehr, in der Nähe Deutschlands, naja, fahren wir dorthin. [. . . ] Sie haben uns am Bahnhof von Metz zurückgelassen und haben den Zug genommen. Sie haben uns gesagt: So, nehmt den Bus, er kommt hier an und dann fahrt ihr nach Sérémange – [. . . ]. Ich hatte nicht die Adresse meiner Cousins, denn ich hatte Cousins in Thionville, in Florange, aber das Wichtigste war, dass mein Vater diesen Männern, die uns bis zu meinen Cousins bringen sollten, vertraut hatte. Aber sie haben mich in Metz zurückgelassen. Ich suchte also mit diesem Typen einen Bus, aber es gab nicht nur einen Bus. Es gab viele! Ich hatte noch nie so viele Busse gesehen und welchen Bus sollten wir nehmen? Pouh! Wir wussten es nicht, also liefen wir herum. Dann sah ich einen Araber –. LH: Sprachen Sie Französisch damals? Badis: Nein, gar nicht! Ich konnte nicht einmal guten Tag oder guten Abend sagen. Ich sprach also den Araber an und sagte ihm, hör zu, wir wollen nach Sérémange, aber wir wissen nicht, wo das liegt. [. . . ] Da hat der Araber gelacht und gesagt, warte – dann hat er mir gesagt, ein Bus wird kommen. Dann kam ein Bus und er sagte, der ist es. Er sprach mit dem Busfahrer und sagte zu ihm, sie sprechen kein Französisch und kennen die Region nicht, wenn sie in Sérémange ankommen, müssen Sie ihnen sagen, dass sie aussteigen sollen. Pouh!98

Nicht alle Algerier, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nach Lothringen kamen, betraten damit – wie etwa Badis – unbekanntes Gebiet. Besonders bezüglich der Eisen- und Stahlfabriken zwischen Metz und Thionville an den Flüssen Mosel und Orne und auch die Eisenminen im Arrondissement MetzCampagne beobachtete die Polizei, dass mehrere Algerier, die bereits in der 96 97

98

Béni-Mellikeuche (93), Cheddi (28), Chellata (98), M’Chedallah (104), Ouzellaguen (277) und Tlets (39). Die Untersuchungen Robert Montaignes zwischen 1952 und 1954 zeigen, dass dies ein Muster war, das ganz Algerien betraf. Montaigne hatte in seiner zwei Jahre dauernden Untersuchung die Emigration in 15 communes mixtes in Algerien mit ihren sozialen Effekten vor Ort und in der Metropole untersucht und sich dabei insbesondere auf die erst ein Jahr zuvor angefertigten Namenslisten jedes einzelnen douar in Algerien gestützt, siehe Rapport provisoire sur l’émigration des musulmans d’Algérie en France (aspects algériens du problème), Aug. 1954, AdM 297 W 65. Interview LH–Badis, 2015, S. 16.

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Zwischenkriegszeit dort gearbeitet hatten, nun zurückgekehrt waren99 . Neben diesen Rückkehrern gab es auch Migranten, die aus anderen Regionen der Metropole angereist waren und andernorts bereits Erfahrungen mit dem Leben außerhalb der Kolonie gesammelt hatten. Nach Einschätzung der Präfektur in Metz waren lediglich zwei Drittel der zwischen 1949 und Oktober 1951 in das Departement Moselle immigrierten Algerier direkt aus Nordafrika gekommen, während ungefähr ein Drittel von einem anderen Ort der Metropole aus eingetroffen war100 . Wie auch in den übrigen Teilen Frankreichs machten Frauen zwischen 1945 und 1954 nur einen geringen Anteil unter den algerischen Migranten in Lothringen aus. Im Vergleich mit anderen Migrantengruppen tat sich hier ein besonders starker Kontrast auf. Piero D. Galloro und Ahmed Boubeker zufolge lag das Verhältnis zwischen italienischen Männern und Frauen in Lothringen 1946 bei 1 zu 1,3, bei Portugiesen 1 zu 2,3 und bei den Spaniern 1 zu 2,8. Demgegenüber kam eine algerische Frau auf 46 algerische Männer101 . Sieben Jahre später schätzten die französischen Behörden die Zahl der algerischen Frauen in der gesamten Metropole 1953 auf lediglich 5000. Damit machten Frauen nur etwas mehr als zwei Prozent des Anteils der algerischen Migranten insgesamt aus102 . Generell wurde der Trend vermerkt, dass man auf immer weniger algerische Familien traf, je mehr man sich vom Mittelmeer entfernte. Dementsprechend war der Anteil der Frauen in Ostfrankreich mit 0,7 Prozent am geringsten und in den Bouches-du-Rhône mit 6 Prozent am höchsten103 . In Moselle entsprach die räumliche Verteilung der dort lebenden algerischen Frauen weitgehend auch jener der männlichen Migranten. Zu ihrer Erfassung ist erstens anzumerken, dass sie in ihrer Funktion als Mütter, d. h. in Kombination mit algerischen Kindern und somit als Teil einer klassischen algerischen Familie, registriert wurden. Zweitens fällt auf, dass sie primär als Muslimas kategorisiert wurden, was in den Begrifflichkeiten der auf »Nordafrikaner« spezialisierten Sozialarbeit auf ein unterstelltes Handicap hinwies104 . Dies sind jedoch die einzigen zur Verfügung stehenden Quel-

99 100 101

102

103

104

Le chef des RG de Metz au préfet de la Moselle, 6. Sep. 1947, S. 7, AdM 297 W 18. Préfecture de la Moselle: problème des Nord-Africains en Moselle 1951, o. D., S. 1, ibid. Diese von den Autoren auf »Maghrébins« bezogene Angabe wurde hier auf Algerier übertragen: Galloro, Boubeker, Histoire et mémoires des immigrations, S. 218. Die Autoren geben zu den hier dargelegten Angaben keinen Quellennachweis. Nach Kamel Kateb lag der Anteil der Frauen und Kinder unter den algerischen Migranten in der Metropole 1954 bei weniger als 7 %: Kateb, Européens, indigènes et juifs, S. 262. Direction des services de l’Algérie et des departements d’outre-mer: recensement numérique des Français musulmans originaires d’Algérie en résidence dans la métropole [Anf. Sep. 1953], S. 5, AdM 297 W 65. Lamri, Algériennes et mères françaises, S. 74.

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len, die es ermöglichen, sich ein annäherndes Bild von der Anzahl und der räumlichen Verteilung algerischer Frauen in Moselle zu machen. 1953 lebten die meisten algerischen Frauen in Moselle innerhalb des Arrondissements Forbach. In diesem Jahr erfasste die dortige Subpräfektur 58 muslimische Frauen und 133 muslimische Kinder. Dagegen waren es in Boulay nur sechs Frauen und 21 muslimische Kinder. Metz-Campagne zählte drei muslimische Frauen und drei muslimische Kinder, während in Sarreguimes nur eine muslimische Frau und zwei muslimische Kinder lebten. Schließlich gab die Subpräfektur von Château-Salins die Zahl der auf ihrem Gebiet lebenden muslimischen Frauen mit fünf und die der Kinder mit acht an, während im Arrondissement von Sarrebourg weder muslimische Frauen noch muslimische Kinder registriert worden waren. Diesen Angaben von insgesamt 73 algerischen Frauen und 167 algerischen Kindern in Moselle im September 1953 wären noch die Zahlen der Städte Metz und Thionville hinzuzufügen, die ungeachtet ihres entscheidenden Anteils an der algerischen Bevölkerung in dieser Erhebung jedoch nicht erwähnt wurden105 . Die Zahlen der Commission d’aide aux Nord-Africains dans la métropole (Canam), die 1953 unter den in Moselle lebenden Algeriern insgesamt 125 Frauen und etwa 300 Kinder erfasst hatte, scheinen nur bedingt realistisch106 , da die Departement-Direktion für Gesundheitsfragen im letzten Quartal des Jahres 1952 die Zahl der algerischen Familien innerhalb des Departements mit 250 angegeben hatte107 . 1954 ging die Präfektur in Metz von rund 300 algerischen Familien innerhalb des Departements aus, die insgesamt etwa 1000 Frauen und Kinder zählten108 . Dies weist darauf hin, dass algerische Frauen und Kinder nur einen sehr geringen Anteil der algerischen Migration in Lothringen ausmachten. Ihre Geschichte kann aufgrund des Quellenmangels in dieser Studie nur gelegentlich gestreift werden. Es wäre lohnenswert, diesbezüglich für Lothringen eine eigene Untersuchung etwa nach dem Vorbild Marc Andrés zu unternehmen109 . Die deutlichen Varianzen bezüglich der Herkunft, der Sprachkenntnisse und der sozialen Vernetzung algerischer Migranten in Lothringen öffnen den Blick für die enorme soziale und kulturelle Vielfalt, die dieses Milieu in Lothringen ungeachtet aller homogenisierenden Zuschreibungen in der Phase 105 106 107

108 109

Siehe die Angaben der entsprechenden Berichte der Subpräfekturen des Departements Moselle an die Präfektur von Sep. und Okt. 1953, AdM 297 W 65. Action et techniques sociales au service des familles nord-africaines en France, in: ESNA 50 (1956), S. 38. Wie eine algerische Familie definiert wurde, wurde nicht erläutert. Alles deutet jedoch darauf hin, dass das entscheidende Kriterium für eine algerische Familie die Präsenz einer algerischen Frau war: Direction départementale de la santé de la Moselle: rapport concernant l’état sanitaire des travailleurs Nord-Africains en séjour en Moselle pendant le 4e trimestre 1952, 22. Apr. 1953, S. 5, AdM 297 W 66. Le préfet de la Moselle au ministre de l’Intérieur, 30. Okt. 1954, S. 1, AdM 297 W 65. André, Des Algériennes à Lyon.

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zwischen 1945 und 1954 kennzeichnete. Um die Geschichte der Migranten verstehen zu können, müssen außer den Fragen nach ihren Herkunftsorten und Strategien auch die nach ihren Aussichten auf dem lothringischen Arbeitsmarkt und ihren Arbeitsbedingungen gestellt werden. Einmal am Ziel angekommen, waren die Möglichkeiten des Gelderwerbs für den Fortgang des Migrationsprojekts in der Regel von entscheidender Bedeutung.

1.2. Algerier als »Reservearmee« für den lothringischen Arbeitsmarkt 1.2.1 In der Selektionsmaschinerie Eine Arbeit zu finden, war während der ersten Dekade nach dem Zweiten Weltkrieg das zentrale Anliegen algerischer Migranten in der Metropole. In Lothringen waren sie beinahe ausschließlich in den Minen, der Eisen- und Stahlindustrie und im Baugewerbe beschäftigt. Diese drei Arbeitssektoren expandierten in Lothringen mit einigen Schwankungen vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Beginn der 1960er Jahre110 . Somit bestand stets eine gewisse Nachfrage an Arbeitskräften, die jedoch saisonal und insbesondere bezüglich ungelernter Arbeiter häufig starken Schwankungen unterlag. Der schnellste und direkteste Weg für Algerier, in Lothringen Arbeit zu finden, war die Einstellung infolge einer direkten Anwerbung in Algerien. Mit diesem Verfahren hatten lothringische Arbeitgeber bereits 1936 gezielt auf die Ansiedlung von Algeriern in Ostfrankreich hingewirkt, um diese bei möglichen Arbeitskämpfen als Streikbrecher einsetzen zu können111 . Diese Anwerbungen setzten sich auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs fort112 . Nach Erkenntnissen von Andrée Michel blieb diese aufwändige Praxis der Rekrutierung zwar die Ausnahme; sie erlebte jedoch seit 1952 einen kleinen Aufschwung, da mehrere Arbeitgeber den Auswahlverfahren in Algerien mehr Vertrauen schenkten, obgleich es in Moselle zu diesem Zeitpunkt etwa 1000 arbeitslose Algerier gab113 . Medjani, der 1953 nach Lothringen gekommen war, erinnerte sich in einem Gespräch mit dem Autor an ein Auswahlverfahren, das im Auftrag der Houillères du bassin de Lorraine (HBL) in seinem Heimatort durchgeführt wurde114 . Die große Mehrheit der Algerier, die seit 1945 nach Lothringen kamen, 110 111 112 113 114

Galloro, Boubeker, Histoire et mémoires des immigrations, S. 127–131. Andrée Michel, Les travailleurs algériens en France, Paris 1956, S. 142–143. Pascutto u. a., Mineurs algériens et marocains, S. 20–24; Carstecker, Vanhaute, Zuwanderung von Arbeitskräften, S. 43. Michel, Les travailleurs algériens en France, S. 57. Interview LH–Medjani, 2014, S. 8f.

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fand dort unabhängig von den Auswahlverfahren in Algerien eine Arbeit. Viele setzten dabei auf die Vermittlung durch Freunde oder Familienmitglieder entweder im Voraus oder nach ihrer Ankunft. Aus der Sicht der Arbeitgeber brachte eine solche Einstellung aufgrund der Empfehlung anderer Algerier durchaus Vorteile mit sich: So konnte man etwa interethnischen Konflikten vorbeugen, Kontakte mit französischen Arbeiterorganisationen erschweren und das allgemeine Wohlbefinden der Arbeiter anheben115 . Die lothringischen Unternehmen verfolgten diesbezüglich jedoch unterschiedliche Strategien. Während die Vermittlung von Arbeitsplätzen durch Algerier etwa bei dem Unternehmen Union des consommateurs de produits métallurgiques et industrie (UCPMI) in Hagondange rege praktiziert wurde, war sie bei den Hauts Fourneaux de La Chiers in Longwy grundsätzlich ausgeschlossen116 . Ein anderer Weg für Algerier, in Lothringen eine Arbeit zu finden, bestand in der Vermittlung einer Stelle durch die bei der Präfektur angesiedelte Direktion für Arbeitsfragen. Dies setzte jedoch voraus, dass sich die Migranten dort zuvor als arbeitssuchend gemeldet hatten, was für viele nicht zutraf, nicht zuletzt, weil sie diese Möglichkeit gar nicht kannten. Schließlich suchten viele Algerier auch direkt die Einstellungsbüros einzelner Betriebe auf, um sich dort um eine Arbeit zu bewerben. Diesbezüglich notierte ein Bericht des Centre d’information et d’études d’économie humaine en Lorraine (Ciedehl), während des Sommers 1954 hätten fast täglich etwa 60 »Nordafrikaner« vor dem Einstellungsbüro der UCPMI gewartet, in der Hoffnung, dort eine Stelle zu bekommen117 . Bevor es zu einer Einstellung kam, mussten sich Algerier häufig einer medizinischen Untersuchung unterziehen. Dabei handelte es sich nicht um eine Routinemaßnahme. Es existierte durchaus die Möglichkeit, aufgrund eines ärztlichen Befunds abgelehnt zu werden. 1954 berichtete der Betriebsarzt der Aciéries de Longwy in Thionville, viele »Nordafrikaner«, die sich zu den medizinischen Tests meldeten, seien in einer sehr schlechten körperlichen Verfassung und völlig erschöpft, da sie zuvor häufig über längere Zeit wenig gegessen und im Freien geschlafen hätten118 . Eine weitere Hürde vor der Aufnahme einer Arbeit waren in vielen Fällen Einstellungstests. Diese umfassten häufig eine Evaluation der Reaktion, der Aufmerksamkeit beziehungsweise Konzentration sowie der Geschicklichkeit und der Intelligenz der Bewerber119 . Je nach Zielsetzung des jeweiligen Unternehmens konnte sowohl eine zu niedrige als auch eine zu hohe Leistung der Testpersonen ein Ausschlusskriterium darstellen. Andrée Michel konsta115 116 117 118 119

MacMaster, Colonial Migrants and Racism, S. 79f. Ciedehl: Main d’œuvre nord-africaine en Lorraine (projet 1), Juli–Aug. 1954, S. 10, AdM 39 J 114. Ibid. Ibid., S. 20. Ibid., S. 12.

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tierte, dass es in Moselle, aber auch andernorts gängige Praxis gewesen sei, Algerier, die lesen und schreiben konnten, abzulehnen, da befürchtet wurde, sie könnten aufgrund ihres überdurchschnittlichen Bildungsgrads für Unruhe sorgen120 . Insbesondere in Unternehmen der Eisen- und Stahlindustrie mussten sich Anwärter auf einen Arbeitsplatz neben einer medizinischen Untersuchung auch sogenannten psychotechnischen Tests unterziehen. Solche wurden auch von den HBL durchgeführt121 . Sie spiegelten einerseits die damals besonders in Frankreich weit verbreiten sozialfordistischen Konzepte zur Optimierung von Arbeitsprozessen wider122 . Speziell in Bezug auf Algerier drückten sie andererseits häufig auch die weit verbreiteten Vorurteile bezüglich einer angeblich minderwertigen körperlichen und psychischen Verfassung aus. Die in den verschiedenen Branchen und Betrieben unterschiedlich stark verbreiteten Ressentiments gegenüber Algeriern123 stellten für diese eine wichtige Hürde im Einstellungsverfahren dar. Ein zentrales Argument, das von Arbeitgeberseite immer wieder gegen die Einstellung von »Nordafrikanern« angeführt wurde, war etwa das Vorurteil, sie seien besonders anfällig für Arbeitsunfälle. Dieses Vorurteil tauchte auch in einer Studie auf, die 1952 vom Arbeitgeberverband der lothringischen Eisen- und Stahlindustrie und der Minen in Auftrag gegeben worden war, um auf eine allgemeine Verbesserung des Arbeitsklimas und der Effizienz von Arbeitsabläufen hinzuwirken. Der 239 Seiten lange Bericht empfahl den Arbeitgebern neben höheren Löhnen, mehr Transparenz und individuellen Anreizen auch eine erhöhte Sorgfalt bei der Selektion ihrer Arbeiter. Diesbezüglich wurden »Nordafrikaner« neben Italienern, Polen, Grenzgängern und Franzosen als einheitliche Gruppe mit bestimmten Eigenschaften beschrieben. Die Autoren nannten »Nordafrikaner« neben der Gruppe der besonders jungen Arbeiter beziehungsweise Berufsanfänger als anfälligste Gruppe für Arbeitsunfälle. Dass diese beiden Gruppen in den meisten Betrieben zu einem hohen Anteil deckungsgleich waren, wurde nicht erwähnt. Stattdessen verwies die Studie auf das besondere »nordafrikanische Wesen« als Begründung für dieses Defizit. Demnach hätten »Nordafrikaner« langsamere Reflexe, Angst vor 120 121

122

123

Michel, Les travailleurs algériens en France, S. 64. UCPMI, SMK, Sollac und Lorraine-Escaut führten psychotechnische Tests mit »Nordafrikanern« durch: Ciedehl: Main d’œuvre nord-africaine en Lorraine (projet 1), Juli–Aug. 1954, S. 11, AdM 39 J 114. Adelheid von Saldern, »Alles ist möglich«. Fordismus – ein visionäres Ordnungsmodell des 20. Jahrhunderts, in: Lutz Raphael (Hg.), Theorien und Experimente der Moderne. Europas Gesellschaften im 20. Jahrhundert, Köln, Weimar, Wien 2012, S. 155– 192. Neil MacMaster hat diesbezüglich von einem »elitären Rassismus« gesprochen, der in Frankreich während der Zwischenkriegszeit entstand. In tayloristisch inspirierten Tabellen wurde eine Hierarchie der Rassen suggeriert, deren jeweilige Qualitäten mit Hilfe eines Punktesystems dargestellt wurden. Araber stellten in der Regel die unterste Kategorie, siehe MacMaster, Colonial Migrants and Racism, S. 151f.

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Feuer, Schwierigkeiten, sich dem Arbeitsrhythmus anzupassen und seien nicht zuletzt einem spezifisch muslimischen Fatalismus anhängig124 . Eine ähnliche Position vertrat auch der Direktor des Ausbildungszentrums des Unternehmens Hauts Fournaux de La Chiers in Longwy, Duron. Im Rahmen eines Vortrags hob dieser im Januar 1952 zwar hervor, dass die Anfälligkeit für Arbeitsunfälle bei allen Arbeitergruppen in einem engen Zusammenhang mit ihrer Berufserfahrung stehe. Bezüglich der hohen Anfälligkeit algerischer Migranten für Arbeitsunfälle schien ihm jedoch die Ursache dafür zum Teil auch mit »dem Wesen des Nordafrikaners« sowie mit einer im Islam begründeten resignativen Haltung zusammenzuhängen. Daher empfahl Duron Arbeitgebern eine sorgfältige, psychotechnisch informierte Selektion insbesondere bei »nordafrikanischen Arbeitern«125 . Sowohl in den Minen als auch in der Eisen- und Stahlindustrie waren Einstellungstests für Algerier die Regel. Nur im Bausektor verzichteten die Arbeitgeber meist auf jedwede Überprüfung der Arbeitswilligen126 . Hier konnten Algerier oftmals sofort mit der Arbeit beginnen, mussten jedoch spätestens nach Abschluss eines Auftrags damit rechnen, ihre Kündigung zu erhalten. In den anderen Sektoren erhielten die Arbeiter meist eine längerfristige Anstellung, jedoch erst nach dem Verstreichen einer bestimmten Probezeit. Diese betrug bei den HBL sechs Monate, bei der Société lorraine de laminage continu (Sollac) drei Monate und bei den Hauts Fourneaux de la Chiers lediglich vier Tage127 . 1.2.2 »Instabil« und unqualifiziert Die Grundbedingungen der Arbeitssituation algerischer Migranten waren in Lothringen wie auch in der übrigen Metropole meist prekär. Sie hatten in der Regel schlecht bezahlte und anstrengende beziehungsweise gefährliche Posten, die insbesondere im Bausektor oft auf kurze Zeit befristet waren. In Lothringen kam die Besonderheit hinzu, dass viele Algerier in großen Einzelunternehmen arbeiteten, die nicht nur die Arbeitsbedingungen, sondern auch die Wohnverhältnisse ihrer Arbeiter direkt kontrollierten. Die Position der meisten Algerier innerhalb der Betriebe war die eines ungelernten Hilfsarbeiters (manœuvre). Dieser Status definierte sich im Wesentlichen durch 124

125 126 127

Jean Giraudet, G. Decrulle: Rapport de la Sedre. Enquête sur les problèmes humains de la sidérurgie de Lorraine [1952], S. 120, ANMT H 6084-109 AQ 316. Die Untersuchungen waren in Fabriken von Thionville, Rombas, La Chiers, Micheville und Mont-Saint-Martin durch die Société d’études pour le développement et la rationalisation des entreprises (Sedre) durchgeführt worden. La main d’œuvre nord-africaine et son emploi dans les industries de métaux 2, hg. von UIMM, Paris 1952, S. 1–10, Archives UIMM, c. 14, b. 46. Ciedehl: Main d’œuvre nord-africaine en Lorraine, Juli–Aug. 1954, S. 8f., AdM 39 J 114. Ibid., S. 14.

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1. Die soziale Situation algerischer Migranten

die Bewältigung von Arbeiten, die keinerlei Ausbildung oder Vorkenntnisse erforderten. Dies waren entweder Tätigkeiten außerhalb des Produktionszyklus, wie z. B. Feger, Wächter und Putzpersonal (manœuvre ordinaire)128 oder besonders penible und kraftaufwändige Aufgaben innerhalb der Produktion, die meist eine hohe Resistenz gegenüber Hitze, Gas und Staub erforderten (manœuvre de force)129 . Auf der innerbetrieblichen Lohnskala bildeten Hilfsarbeiter in der Regel die unterste Stufe130 . Einem Bericht der Ciedehl zufolge arbeiteten in den großen Unternehmen der lothringischen Eisen- und Stahlindustrie 1954 meist weit über die Hälfte der Algerier als manœuvres (siehe Tabelle 1). Tabelle 1: Qualifizierung der »nordafrikanischen« Arbeiter in lothringischen Unternehmen, 1954 Unternehmen

Hauts Fourneaux de la Chiers Lorraine-Escaut (Longwy) Sollac SMK UCPMI

Manœuvres (%)

Ouvriers spécialisés (%)

Professionnels (%)

Gesamt

77,17 53,75 50 80,64 52,94

19,56 37,5 50 19,36 46,08

1,08 8,75 – – 0,98

460 800 k.A. 620 k.A.

Diesen Befund der Ciedehl bestätigt auch die Studie des Historikers Gérard Noiriel über Longwy. Seinen Angaben zufolge waren dort 1952 22,7 Prozent der gesamten Arbeiterschaft als Hilfsarbeiter tätig. Unter den algerischen Migranten waren es hingegen 60 Prozent131 . Diese überall zu konstatierende Häufung algerischer Migranten auf den untersten Rängen der Betriebshierarchien ist zunächst mit deren mangelnder Qualifikation und oft auch mangelhaften Sprachkenntnissen zu erklären. Das enorme Ausmaß dieses Problems illustriert eine Erhebung Andrée Michels aus dem Jahr 1956. In einer großen Fabrik in Moselle mit über 1000 algerischen Arbeitern132 konnten demnach lediglich vier Prozent davon Französisch lesen und schreiben. Sieben Prozent waren in der Lage, etwas in Französisch zu lesen, aber nicht zu schreiben. 50 Prozent der algerischen Arbeiter konnten Französisch 128 129 130 131 132

Kollektive Konvention der Eisen- und Stahlindustrie des Departements Meurthe-etMoselle, 1. Juli 1954, Nachtrag, Art. 2.1. AdM&M 51 J 586. Ibid., Art. 2.2. Ibid., Art. 6.1. Noiriel, Longwy, S. 372. Der Name des Unternehmens wurde nicht genannt. Es handelte sich nach Einschätzung des Autors jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit um die Sollac, da sonst kein anderes lothringisches Unternehmen der Eisen- und Stahlindustrie bekannt ist, das eine derart hohe Zahl algerischer Arbeiter beschäftigte.

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weder lesen noch schreiben, sich aber verständlich machen; 39 Prozent hatten gar keine Französischkenntnisse133 . Im Vergleich zu anderen Arbeitern gestaltete sich der berufliche Aufstieg der Algerier auch besonders schwierig, da sie von vielen Arbeitgebern nicht gefördert wurden. Im Jahr 1953 hatten lediglich 3000 Algerier in der gesamten Metropole eine Berufsausbildung134 . Die Arbeitgeber beklagten häufig die angebliche Instabilität der »Nordafrikaner«, womit die relativ kurze Dauer ihres Aufenthalts an einem Arbeitsplatz gemeint war. Tatsächlich hing die hohe Mobilität der Algerier in den ersten Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nur sekundär mit der weit verbreiteten Strategie zusammen, für eine begrenzte Zeit in Frankreich zu arbeiten, um anschließend wieder nach Algerien zurückzukehren. Mehrere Studien, die eine ähnlich hohe »Instabilität« bei Franzosen und Ausländern mit der gleichen Qualifikation nachwiesen, konnten zeigen, dass der entscheidende Faktor für die »Instabilität« vielmehr die Unzufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen war135 . Die weit verbreitete Unterstellung, algerische Migranten seien besonders »instabil«, erschwerte deren Aufstieg innerhalb der Betriebshierarchien im Vergleich zu anderen Arbeitern. Allgemein schienen lothringische Arbeitgeber nur selten gewillt zu sein, in die Ausbildung ihres algerischen Personals Zeit und Geld zu investieren. Im Februar 1949 konstatierte etwa ein Bericht der RG in Metz, dass kaum ein Arbeitgeber der Region einem Algerier den Sprung vom manœuvre zum manœuvre spécialisé zutraute136 . Der angeführte geringe Anteil der Algerier, die eine Berufsausbildung machten, zeigt, dass dies keine regionale Besonderheit war. Die tatsächliche und die unterstellte Mobilität algerischer Arbeiter war ein deutliches Handicap für deren berufliche Weiterbildung. Ihre mangelhafte Berufsausbildung verschlechterte widerum ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt im Vergleich zu anderen Migrantengruppen. In Lothringen zeigte sich dies im Zuge der Expansions- und Modernisierungsbestrebungen vor allem in der Eisen- und Stahlindustrie in den ersten Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Durch sie entstand eine erhöhte Nachfrage nach spezialisierten Arbeitern beziehungsweise nach Hilfsarbeitern, deren Ausbildung als dauerhafte Investition in den Aufstieg des Unternehmens fungieren sollte. Um 1950

133 134 135

136

Andrée Michel, L’immigration algérienne en Moselle, in: Annales de géographie 65 (1956), S. 341–361, hier S. 352. Ders., Les travailleurs algériens en France, S. 80f. Siehe dazu die Ausführungen Durons, in: La main d’œuvre nord-africaine et son emploi dans les industries de métaux 2, hg. von UIMM, Paris 1952, S. 1–10, Archives UIMM, c. 14, b. 46. Annexe à la lettre du chef des RG de Metz au directeur des RG à Paris, 3. Feb. 1949, exposé sur la situation de la colonie nord-africaine dans le département de la Moselle [1948], S. 7, AdM 297 W 18.

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war die Nachfrage nach ungelernten Hilfsarbeitern in Lothringen weitgehend zum Erliegen gekommen137 . Exemplarisch kann die Bevorzugung ausländischer Arbeiter gegenüber Algeriern am Beispiel der Société métallurgique von Knutange (SMK) gezeigt werden. Nachdem die Zahl der algerischen Arbeiter des Unternehmens 1949 noch bei rund 150 gelegen hatte, betrug sie 1952 bereits 730 und stellte mit 17 Prozent den mit Abstand größten Anteil innerhalb des industriellen Beckens südlich von Thionville dar. Anstatt diesen Trend jedoch weiter fortzusetzen, beantragte die SMK im April 1952 bei der Präfektur eine Arbeitserlaubnis für insgesamt 300 italienische Arbeiter mit der Begründung, man könne sich bei der anvisierten Expansion des Unternehmens nicht auf die »nordafrikanische Belegschaft« verlassen. Die SMK gab an, dass durchschnittlich über 80 Prozent der Algerier bis dahin jedes Jahr ihren Arbeitsplatz verlassen hätten, was knapp der Hälfte (45 Prozent) der jährlich abwandernden Belegschaft insgesamt entspreche. Das Unternehmen aus Knutange konstatierte, dass die mit der Einstellung der Algerier einhergehende Steigerung der Zahl der Hilfsarbeiter in der Fabrik und die erheblichen Fortschritte im Bereich der Mechanisierung insgesamt nur zu einer leichten Steigerung der Produktion geführt hätten138 . Die Arbeitsgenehmigungen für die im Vergleich zu den Algeriern als deutlich stabiler und lernfähiger geltenden Italiener waren vor allem wegen der Expansionsstrategie des Unternehmens beantragt worden. Aufgrund des schleppenden Abbaus in den Minen musste die SMK nach eigenen Angaben trotz der Bodenschätze vor Ort bereits Eisenerz von außerhalb ankaufen, um die Hochöfen ausreichend zu versorgen. Dabei sollte der Bedarf weiter ansteigen, da man für das Jahr 1952 plante, einen weiteren Hochofen und im Jahr darauf auch ein neues Walzwerk in Betrieb zu nehmen. Unabdingbar schien der Direktion dafür jedoch ein stabiler Grundstock neuer Arbeiter, die man in Knutange für eine spezialisierte Tätigkeit ausbilden und auf deren anschließenden Verbleib man sich verlassen konnte139 . Dass dies mit den meisten Algeriern nicht machbar sei, bestätigte selbst die Direktion für Arbeitsfragen des Departements und befürwortete daher auch die beantragten Arbeitsgenehmigungen für die Italiener140 . Jener Vorgang stellte einen deutlichen Bruch mit der noch in der Zwischenkriegszeit verfolgten Politik zum »Schutz der nationalen Arbeitskräfte« gegenüber der Konkurrenz durch Ausländer dar141 . 137 138 139 140 141

Le préfet de la Moselle au député-maire de Metz Raymond Mondon, 10. Aug. 1950, S. 2, ibid. Direction générale de la Société métallurgique de Knutange au directeur départemental du travail et de la main d’œuvre à Metz, 2. Apr. 1952, S. 2, AdM 297 W 65. Ibid., S. 4. Le directeur départemental du travail et de la main d’œuvre au préfet de la Moselle, 7. Apr. 1952, AdM 297 W 65. Viet, La France immigrée, S. 41–44.

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I. Algerische Migranten im lothringischen Grenzgebiet

Die Diskriminierung der »muslimischen Franzosen Algeriens« auf dem Arbeitsmarkt zeigte sich nicht allein bei der (Nicht-)Förderung ihrer Berufsausbildung und im Bereich der Arbeitsvermittlung. In Form von speziellen Regelungen für Familienzuzahlungen existierte sie auch bei den Löhnen. Drei Gesetze von 1942, 1945 und 1946 eröffneten Arbeitern, die in der Metropole tätig waren und eine Familie in Algerien hatten, das Recht, Familienzuzahlungen (allocations familiales) zu beziehen142 . Obwohl sie denselben Betrag in die Sozialkassen einzahlten, bekamen Migranten mit einer Familie in Algerien nur etwa ein Drittel der Familienzuzahlungen, welche die Arbeiter mit einer Familie in der Metropole bezogen143 . Hinzu kam, dass Familien in Algerien bis zur erstmaligen Auszahlung nach der Antragstellung in der Regel sechs Monate warten mussten144 . Dann bekamen sie das Geld lediglich alle drei Monate überwiesen, während die Familien in Europa ihre Überweisung jeden Monat erhielten145 . Dabei ist zu beachten, dass die Gesetze von 1946, 1948 und 1949 festschrieben, dass europäische Ausländer bis auf die gesonderten Zuzahlungen unmittelbar nach der Geburt eines Kindes (allocations de maternité) alle Zuzahlungen für ihre Familien bekommen sollten, die Franzosen auch bekamen146 . Somit waren Algerier auf diesem Gebiet nicht nur gegenüber Franzosen unmittelbar benachteiligt, sondern auch gegenüber europäischen Arbeitsmigranten. Diese Benachteiligung war vielen algerischen Arbeitern durchaus bewusst. Die Aussicht auf volle Bezüge bei den Familienzuzahlungen war Neil MacMaster zufolge für viele algerische Familien nach dem Zweiten Weltkrieg ein wichtiger Grund für die Emigration in die Metropole147 . Darüber hinaus ist die algerienspezifische Regelung der Zuzahlungen ein wichtiger Erklärungsfaktor dafür, dass kaum Algerier in der Landwirtschaft arbeiteten: 1949 waren es laut einer Statistik des Innenministeriums in der gesamten Metropole lediglich 0,4 Prozent aller Migranten148 . Dies lag einerseits an den weitgehend isolierten Lebensumständen auf dem Land, die für die an der Gemeinschaft orientierte algerische Migration kaum Anschlussmöglichkeiten mit sich brachte. Andererseits waren in Algerien lebende Familien von den Familienzuzahlungen für Landarbeiter in Frankreich bis 1955 vollständig 142 143

144 145 146

147 148

Spire, Semblables et pourtant différents, S. 62. Michel, Les travailleurs algériens en France, S. 144f. Amelia H. Lyons zufolge bekamen algerische Familien aufgrund dieser Ungleichbehandlung bei der Auszahlung der Familienzuzahlungen zwischen 1946 und 1965 über 60 Millionen Franc zu wenig ausgezahlt, vgl. Lyons, The Civilizing Mission, S. 499. Michel, Les travailleurs algériens en France, S. 149. Ibid., S. 146. Ibid., S. 147. Die Regelungen für die Bezüge der Familien ausländischer Arbeiter wurden für Belgien und Italien 1948 beschlossen, für Luxemburg 1949 und für die BRD 1950, vgl. ibid., S. 149f. MacMaster, Colonial Migrants and Racism, S. 181f. Kateb, Européens, indigènes et juifs, S. 263.

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ausgeschlossen, sodass der erste Wirtschaftssektor speziell für algerische Männer mit Familien noch größere Lohnnachteile aufwies als der zweite Wirtschaftssektor149 . Algerier waren im Vergleich zu anderen Arbeitern besonders häufig mit prekären Wohn- und Arbeitsbedingungen und willkürlichen, aber auch arbeitsrechtlichen Diskriminierungen konfrontiert. Ein hoher Anteil von ihnen hatte wenig oder gar keine Französischkenntnisse. Nach ihrer Ankunft in Lothringen waren die meisten von ihnen bei der Auswahl ihres Arbeitsplatzes und der Gestaltung ihrer Arbeitsbedingungen extrem eingeschränkt, sofern sie dazu überhaupt eine Gelegenheit hatten. Der Regelfall war, dass sie sich zumindest kurzfristig mit der jeweiligen Angebotslage auf dem Arbeitsmarkt arrangierten und ständig für einen Wechsel bereithielten. Ein großer Anteil hatte diesbezüglich auch keine Wahl. Dies illustrieren die Zahlen der Arbeitslosen, vor allem aber der enorme Anstieg der Anzahl algerischer Arbeiter in Lothringen, die zwischen 1945 und 1954 im Bausektor einer ebenso unsicheren wie schlecht bezahlten Arbeit nachgingen. 1.2.3 Expansion prekärer Arbeit Zu Beginn der 1950er Jahre machten die Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt für Algerier in Lothringen einen signifikanten Wandel durch. In Moselle hatten die Minen schon 1952 ihre Rolle als wichtigste Erwerbsquelle für dort lebende Algerier eingebüßt. Den Angaben der Direktion für Arbeitsfragen der Präfektur zufolge beschäftigten sie in jenem Jahr mit 1700 nur noch halb so viele »Nordafrikaner« wie die Eisen- und Stahlindustrie des Departements. Neben der kleinen Kohlekrise hatten insbesondere die umfassenden Modernisierungsmaßnahmen in den lothringischen Kohleminen zu einem massiven Personalabbau geführt150 . Zu dieser Entwicklung kamen die andauernde Expansion der Eisen- und Stahlindustrie sowie ein Aufschwung des Bausektors hinzu, der ab 1952 zum wichtigsten Beschäftigungsbereich für algerische Migranten in Moselle wurde. Innerhalb von nur drei Jahren hatte sich die Anzahl der dort beschäftigten »Nordafrikaner« fast verdreifacht und wurde von der Präfektur auf 5000 geschätzt151 . Die zunehmende Konzentration von Algeriern im lothringischen Bausektor spiegelt auch die prekäre Lage eines wachsenden Anteils unter den 149 150

151

Galloro, Boubeker, Histoire et mémoires des immigrations, S. 225; Ciedehl: Main d’œuvre nord-africaine en Lorraine, Juli–Aug. 1954, S. 3, AdM 39 J 114. Zwischen 1947 und 1954 fiel die Anzahl der Arbeiter in den lothringischen Kohleminen den Angaben René Bours zufolge von 47 000 auf 34 000: René Bour, Le charbon et les autres sources d’énergie, in: Ders. (Hg.), Encyclopédie de la Lorraine. L’épopée industrielle, Nancy 1995, S. 3–40, hier S. 14. Directeur départemental du travail et de la main d’œuvre à monsieur le préfet de la Moselle, 5. Mai 1952, S. 7, AdM 297 W 18.

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Migranten wider. Die Arbeitsverträge in den Bauunternehmen waren in der Regel befristet, und zwar nur für kurze Zeit. Hatte man einmal eine Anstellung bekommen, hing die tatsächliche Zahl der Arbeitstage und damit die Höhe des Lohns von der Dauer eines Auftrags, aber auch vom Wetter ab. Oftmals waren einzelne Projekte schon vor dem Ende der Saison fertiggestellt, sodass die Migranten entweder früher als geplant nach Hause fuhren oder sich erneut auf die Suche nach Arbeit machten. Der Bausektor war geprägt von geringen Löhnen, hoher körperlicher Belastung und relativ kurzfristigen Beschäftigungsverhältnissen. Zu der meist knappen Befristung kam für die im Bausektor beschäftigten Algerier erschwerend hinzu, dass die während der 1950er Jahre in Lothringen aktiven Bauunternehmen im Gegensatz zur Schwerindustrie und den HBL kaum Unterkünfte für ihre Arbeiter zur Verfügung stellten. Die Folgen beschrieb der Präfekt von Meurthe-et-Moselle im Oktober 1954 als katastrophal. Trotz zahlreicher Interventionen der Präfektur bei den Bauunternehmen lag die Zahl der schlecht oder gar nicht untergebrachten Algerier innerhalb des Departements den Angaben nach bei über 3000. Vor allem in den Städten Nancy, Toul und Longwy sammelten sich dem Präfekten zufolge Dutzende Algerier in leer stehenden Häusern oder Kasernen, um dort zu nächtigen152 . Auch in einer Untersuchung für das Departement Moselle galten die Wohnbedingungen der im Bausektor beschäftigten Algerier als die schlechtesten aller Arbeiter. Im Oktober 1954 waren in diesem Sektor in Moselle etwa 7000 Algerier beschäftigt153 . Sie verteilten sich auf eine hohe Anzahl oftmals kleiner Unternehmen154 . Während die HBL nahezu allen algerischen Arbeitern eine Unterkunft zur Verfügung stellten und die Eisen- und Stahlindustrie etwa vier Fünfteln von ihnen eine Bleibe für die Nacht besorgte, traute sich die Präfektur bezüglich des Bausektors keine Angabe zu. Im Gegensatz zu den riesigen Fabriken der Eisen- und Stahlindustrie rutschten die vielen kleinen Unternehmen des Bausektors faktisch durch jegliche Kontrolle. Die Behörden konnten lediglich bei einigen größeren Unternehmen einigermaßen erfolgreich Druck ausüben, damit diese ihren algerischen Arbeitern eine Unterbringung besorgten155 . Dies geschah vor allem dann, wenn die aus dem Mangel an Wohnraum entstehenden Missstände allzu 152

153 154

155

Annexe à la lettre du préfet de Meurthe-et-Moselle à l’inspecteur général de l’administration, préfet de la Moselle, 28. Okt. 1954, S. 2, AdM 297 W 65. Bereits im Dezember 1952 hatten die RG von Nancy über mehrere Hundert algerische Arbeiter in Meurtheet-Moselle berichtet, die nach dem Ende eines Bauauftrags mit einem Schlag arbeitslos geworden waren und von denen viele in leer stehenden Häusern oder Kasernen übernachteten: RG de Nancy, note de renseignement, 10. Dez. 1952, AdM&M 950 W 34. Le préfet de la Moselle au ministre de l’Intérieur, 30. Okt. 1954, S. 2, AdM 297 W 65. 1951 ging man davon aus, dass sich die rund 4200 im Bausektor tätigen Algierer auf 187 Unternehmen verteilten: Compte rendu de mission effectué par monsieur Correard dans le département de la Moselle du 19 au 25 novembre 1951, S. 4, ibid. Situation de la main d’œuvre nord-africaine dans la 6e région [Feb. 1953], S. 3f., ibid.

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offensichtlich wurden oder gar zu einer Gefahr für die öffentliche Gesundheit zu werden schienen. In Knutange intervenierten 1953 erst der Bürgermeister und dann die Polizei mehrfach bei dem Bauunternehmen Entreprise de travaux industriels et publics Hayange. Ihr Anliegen war, dass das Unternehmen eine Unterkunft für seine etwa 250 algerischen Arbeiter stellte, die in mehreren leer stehenden Gebäuden der Stadt lebten. Einem Bericht nach schliefen sie dort in Schichten abwechselnd auf ärmlichen Matratzen. Der Witterung trotzten sie, indem sie Feuer in alten Metallfässern machten, was ein ständiges Brand- und, aufgrund der mangelnden Lüftungsmöglichkeiten, auch ein Erstickungsrisiko darstellte. Zugang zu fließendem Wasser gab es ebenso wenig wie zu sanitären Anlagen, was zu katastrophalen hygienischen Verhältnissen führte156 . Nach einer kurzen Phase des Booms ging die Nachfrage nach algerischen Arbeitskräften im Bausektor von Moselle Anfang 1954 erstmals deutlich zurück. Im April 1953 arbeiteten hier 7800 Algerier. Im Juni und Juli waren es gar 8600. Im April 1954 fiel die Anzahl im Vergleich zum Vorjahr jedoch um rund 1100. Dieser deutliche Einbruch ergab sich aus der Fertigstellung mehrerer Großbaustellen wie den Infrastrukturprojekten für die beiden Flughäfen in Sarrebourg und Frescaty und dem Rückgang der Regierungsinvestitionen in öffentliche Bauarbeiten. Ungeachtet dessen waren viele Migranten, die den Winter in Algerien verbracht hatten, in der Hoffnung wieder zurück nach Moselle gereist, erneut eine Arbeit im Bausektor zu finden157 . Allerdings wurden viele von ihnen aufgrund der weiter andauernden erheblichen Schwankungen in dieser Branche enttäuscht und waren nicht selten zumindest für eine kurze Zeit mit Arbeitslosigkeit konfrontiert. 1.2.4 Ohne Erwerb im Exil Während der ersten Dekade nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren Algerier von allen Arbeitnehmern in Frankreich am stärksten von Arbeitslosigkeit betroffen. 1955 lag der Anteil der Arbeitslosen unter ihnen bei 8 Prozent, während er bei Franzosen lediglich 1,7 Prozent betrug158 . Im Hinblick auf ihre häufig kurz befristeten Arbeitsverträge und den Unwillen vieler Migranten, sich mit den französischen Behörden in Kontakt zu setzen, ist davon auszugehen, dass der tatsächliche Anteil der Arbeitslosen unter den 156

157 158

M. Gigleux, directeur départemental du travail et de la main d’œuvre au préfet de la Moselle, 12. März 1953, ibid.; M. Ramel, maire de Knutange à l’Entreprise des travaux industriels et publics à Hayange, monsieur Cominassi, 3. März 1953, ibid.; Le directeur départemental de la police au préfet de la Moselle, 19. Feb. 1953, ibid.; Le secrétaire de police Barbe Pierre à monsieur le commissaire de police de Knutange-Nilvange, 14. Feb. 1953, ibid. Demandeurs d’emploi nord-africains. Situation à fin avril 1954, 30. Apr. 1954, S. 2, ibid. Michel, Les travailleurs algériens en France, S. 48.

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Algeriern in der Metropole deutlich höher war, als die offiziellen Zahlen es nahelegten. Für Lothringen liegen bezüglich des Anteils der Arbeitslosen unter den Algeriern in dieser Phase lediglich punktuelle Schätzungen vor. In der Agglomeration von Longwy wurde die Zahl der arbeitslosen Algerier 1949 auf 1000 bis 2000 geschätzt159 . 1952 beantragten in Moselle allein vom 21. April bis zum 17. Mai 1449 »Nordafrikaner« einen Arbeitsplatz160 . Im Oktober des gleichen Jahres verzeichnete die Präfektur in Metz 1430 Bewohner des Departements als arbeitslos, 999 davon waren »Nordafrikaner«161 . Bezüglich dieser letzten Zahl ist darauf hinzuweisen, dass die tatsächliche Zahl der arbeitslosen Algerier auch in Lothringen mit Sicherheit deutlich höher lag. Die Soziologin Andrée Michel ging sogar davon aus, dass sich die Mehrheit der arbeitslosen Algerier nicht als arbeitslos registrieren ließ162 . Dafür spricht, dass Algerier bei der Arbeitssuche eher auf persönliche Kontakte und Eigeninitiative zählten als auf Vermittlungen durch die französische Verwaltung. Von dieser Stelle hatten die meisten auch keine Hilfe zu erwarten. 1955 bezogen allein 32 Prozent der registrierten algerischen Arbeitslosen eine staatliche Unterstützung. Diese konnte jedoch nur beziehen, wer mindestens ein Jahr am gleichen Ort gelebt und mindestens sechs der letzten zwölf Monate im gleichen Betrieb gearbeitet hatte163 . Einerseits konnten viele Migranten diese beiden zentralen Bedingungen nicht erfüllen. Andererseits waren viele allein schon aufgrund ihrer mangelhaften Französischkenntnisse mit dem Ausfüllen eines Antrags auf staatliche Unterstützung überfordert. Arbeitslose Algerier galten den französischen Behörden insofern als ein besonderes Problem, als sie mit einer allgemeinen Ausbreitung sozialer Missstände assoziiert wurden. Dies wiederum ging mit der Befürchtung einher, einen Nährboden für den Einfluss von Kommunisten und algerischen Separatisten zu schaffen. Aus diesen Gründen versuchte der Service de travail et de la main d’œuvre von Moselle bereits im Sommer 1950, Algerier davon abzubringen, in der Heimat für die Migration nach Lothringen zu werben. Zugleich hatte auch das französische Arbeitsministerium in Algerien und vor allem in den communes mixtes164 der Kabylei, woher die große Mehrheit der 159 160 161 162

163 164

Losego, Fern von Afrika, S. 275. Le préfet de la Moselle au ministre de l’Intérieur, 23. Mai 1952, S. 2, AdM 297 W 18. Le directeur départemental du travail et de la main-d’œuvre au préfet de la Moselle, 3. Nov. 1952, S. 1, ibid. Nach offiziellen Zahlen der französischen Regierung gab es 1955 unter allen Algeriern in der Metropole 13 720 Arbeitslose, von denen 7515 als arbeitssuchend gemeldet waren: Michel, Les travailleurs algériens en France, S. 48. Ibid., S. 50. Als communes mixtes wurden im kolonialen Algerien territoriale Einheite bezeichnet, in denen Algerier die Mehrheit der Bevölkerung stellten. Der entscheidende Unterschied zu den von Algerienfranzosen zahlenmäßig dominierten communes de plein exercice bestand darin, dass die Administration nicht gewählt, sondern ausschließlich

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Migranten kam, eine Kampagne gestartet, die dortige Auswanderungswillige von ihrem Vorhaben abbringen sollte165 . Im August 1952 erreichte die Präfektur von Moselle beim Innenministerium, dass von dort die Bürgermeister der wichtigsten Herkunftsorte der Algerier in Moselle kontaktiert wurden. Diese sollten bezüglich der schwierigen Lage algerischer Migranten in Moselle »Aufklärungsarbeit« vor Ort leisten und das Migrationsprojekt desavouieren166 . Um die Zahl der arbeitslosen Algerier vor Ort zu verringern, intervenierte die Präfektur im August 1950 auch bei mehreren Unternehmen in der Region, um für deren Einstellung zu werben167 . Da dies jedoch nicht die gewünschten Erfolge brachte und ungelernte Hilfsarbeiter zu diesem Zeitpunkt zumindest in den Minen sowie in der Eisen- und Stahlindustrie kaum nachgefragt wurden168 , fühlten sich einige Kommunen in dieser Situation genötigt, selbst Arbeitsplätze für Algerier zu schaffen. So beschloss 1950 etwa der Stadtrat von Longwy im Hinblick auf das angeblich hohe politische und moralische Risiko, das die 350 dort lebenden arbeitslosen Algerier darstellten, ein umfassendes Bauprojekt in Angriff zu nehmen, das möglichst viele Arbeiter und wenig Material beanspruchen sollte. Als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für die arbeitslosen Algerier in Longwy entschieden sich die Abgeordneten des Stadtrats letztendlich für die Nivellierung des teilweise zerstörten ehemaligen Schutzwalls Longwys und erhielten dazu auch eine Subvention der Regierung169 . Eine Reduzierung der Anzahl arbeitsloser Algerier in Lothringen wurde nicht durch strukturelle Maßnahmen, sondern vielmehr durch einzelne Großprojekte erreicht. Als 1952 etwa die neue Fabrik Sollac ihren Betrieb aufnahm, stellte das Unternehmen auf einen Schlag etwa 1000 Algerier ein170 . Darüber hinaus erwiesen sich die steigenden Aufnahmekapazitäten des Bausektors zunehmend als wichtiges Ventil, das den Druck der algerischen Arbeitslosigkeit abfedern konnte. Anfang 1952 plante die Direktion für Arbeitsfragen von Moselle spezielle Bauarbeiter-Lehrgänge für Algerier und konnte allein im April 1118 »Nordafrikanern« im Bausektor eine Arbeit vermitteln, während es in

165 166 167 168 169

170

vom Generalgouvernement eingesetzt wurde, siehe Raphaëlle Branche, L’embuscade de Palestro. Algérie 1956, Paris 2010, S. 233. Le préfet de la Moselle au député-maire de Metz Raymond Mondon, 10. Aug. 1950, S. 2, AdM 297 W 18. Le ministre de l’Intérieur au préfet de la Moselle, 25. Aug. 1952, ibid. Le préfet de la Moselle au ministre de l’Intérieur, service de l’Algérie et des départements d’outre-mer, 25. Aug. 1950, S. 5, ibid. Le préfet de la Moselle au député-maire de Metz Raymond Mondon, 10. Aug. 1950, S. 2, ibid. Ville de Longwy: Extrait du procès-verbal des délibérations du conseil municipal dans sa séance du 27 avril 1950, AdM&M 950 W 34; Le ministre de l’Intérieur à monsieur le préfet de Meurthe-et-Moselle, 29. Sep. 1950, ibid. Michel, L’immigration algérienne en Moselle, S. 356.

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der Eisenindustrie und in den Minen insgesamt lediglich 205 Vermittelte waren171 . Insgesamt scheint es, als sei es in den zehn Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs für Algerier in Lothringen zunehmend schwieriger geworden, eine Arbeit zu finden. Dies konstatierte 1953 zumindest ein Bericht für die Präfektur von Moselle und stellte einen Zusammenhang mit einer regressiven Einstellungspolitik der Eisen- und Stahlindustrie sowie dem Rückgang der Anzahl von Bauprojekten her. Die wachsende soziale Not unter den Migranten bildete sich demnach nicht nur an den steigenden Zahlen von Obdachlosen ab, sondern auch an den Anträgen auf eine Repatriierung nach Algerien. 1952 beantragten in Metz 123 Algerier eine kostenlose Rückreise aufgrund von Armut oder gesundheitlichen Problemen. Allein während der ersten fünf Monate des darauffolgenden Jahres waren es in der gleichen Stadt 352172 . Die Unterstützung von Arbeitslosen vollzog sich vielfach unabhängig vom Staat, als solidarische Leistung von Einzelnen oder der Gemeinschaft. Dies wurde einerseits durch das regroupement und die Kontakte zu Verwandten oder Personen aus der gleichen Herkunftsregion möglich, wie ein algerischer Zeitzeuge dem Autor berichtete: Medjani: 90 Prozent, vielleicht sogar –. Auf jeden Fall bin ich sicher, dass 85 Prozent aus der gleichen Region kamen und ich sage Ihnen, so war es damals. Sie kamen immer –. Diejenigen, die zum ersten Mal kamen, kamen in die Stadt oder die Region, wo Leute aus ihrer Region lebten, denn, wenn sie ankamen, wenn sie ankamen, hatten sie nichts! Sie hatten kein Geld [. . . ], in den ersten Tagen nach ihrer Ankunft hatten sie nichts! LH: Und Sie wurden von Ihren Cousins aufgenommen? Medjani: Ja, von meinen Cousins. Sie haben mich aufgenommen. [. . . ] Sie lebten zu viert, aber da ich nicht lange geblieben bin, stellte das kein Problem dar. Aber damals, selbst wenn sie keine direkten Verwandten hattten, die Leute aus dem Dorf kümmerten sich aus Solidarität um die Neuangekommenen. Sie kümmerten sich mindestens einen Monat lang um sie173 .

Andererseits gingen einige der Migranten dazu über, sich unabhängig von politischen Anschauungen und auch von ihrer Herkunft formal zu organisieren, um dem Risiko der Armut als Gemeinschaft zu begegnen. So berichteten etwa die RG über die Gründung eines algerischen Solidaritätskomitees in Toul im März 1954. Dort hatten über 100 Algerier an der Gründungsveranstaltung teilgenommen, die weder von der Partei der algerischen Unabhängigkeitsbewegung Mouvement pour le triomphe des libertés démocratiques (MTLD) noch von der kommunistischen Gewerkschaft Confédération générale du travail (CGT) oder der kommunistischen Partei, dem Parti communiste français 171 172 173

Directeur départemental du travail et de la main d’œuvre à monsieur le préfet de la Moselle, 5. Mai 1952, S. 4–6, AdM 297 W 18. Situation de la main d’œuvre nord-africaine dans la 6e région, 23. Juni 1953, S. 1f., AdM 297 W 65. Interview LH–Medjani 2014, S. 9f.

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(PCF), organisiert worden war. Die Anwesenden wählten drei Algerier als Vorstand ihres comité d’entraide. Diese stammten jeweils aus Jemmapes, der commune mixte von Ain Millia und Molières. Der Zweck des Komitees, so der Polizeibericht, bestand demnach allein in der finanziellen Unterstützung der beinahe 200 arbeitslosen Algerier in der Region und ihrer Familien in Algerien, die aufgrund von bürokratischen Hemmnissen keinerlei Familienzuzahlungen beziehen konnten174 . Die Bedingungen für Algerier auf dem lothringischen Arbeitsmarkt zu Beginn der 1950er Jahre waren, obgleich schwierig, im Vergleich mit der übrigen Metropole noch relativ günstig. Nach den offiziellen Zahlen der jeweiligen Präfekturen befanden sich 1953 auf dem Gebiet der 6. Militärregion rund 33 000 Algerier, von denen allein 17 000 in Moselle und 9000 in Meurthe-etMoselle lebten. Neun Prozent von ihnen waren arbeitslos. Dies war im Vergleich zu den anderen wichtigen Anlaufstellen algerischer Migranten ein eher geringer Anteil. In der 1. Militärregion, die die Île-de-France umfasste, waren 20 Prozent der Algerier arbeitslos. In der 2. Region mit dem Nord-Pas-deCalais waren es 17 Prozent und in der 9. Region (Bouches-du-Rhône, Gard) 15 Prozent175 . Nur in der 8. Militärregion, die u. a. die Departements Rhône, Isère und Haute-Savoie umfasste, wurde eine ähnliche Beschäftigungsrate wie in Lothringen erreicht. Jeder zehnte von rund 28 000 Algeriern war dort ohne Arbeit176 . Der Vergleich mit den Arbeitslosenzahlen algerischer Migranten in anderen Regionen der Metropole macht verständlich, warum deren Zustrom auch angesichts der sozialen Missstände und den prekären Beschäftigungsbedingungen vieler Algerier in Lothringen nicht abriss. Die Aussichten, dort als Algerier eine Arbeit zu finden, waren zu Beginn der 1950er Jahre im Vergleich zu den anderen zentralen Anlaufregionen der Migranten überdurchschnittlich hoch. Der Blick auf die jeweiligen Bedingungen der Arbeit zeigt jedoch, dass es verfehlt wäre, in dieser Phase von einem Eldorado für Algerier in Lothringen zu sprechen, wie es ein algerischer Zeitzeuge gegenüber dem Autor dieser Studie formulierte177 . Der größte Anteil der algerischen Arbeiter in Lothringen füllte die untersten Etagen der Betriebshierarchien, hatte kaum Aussichten auf sozialen Aufstieg und war stattdessen besonders bedroht von dem Risiko, in die Arbeitslosigkeit abzurutschen. Dies illustriert, dass der Spielraum, der ihnen bei der Gestaltung ihrer wirtschaftlichen Situation zur Verfügung stand, 174 175

176 177

RG de Nancy, note de renseignements, 24. März 1954, AdM&M 950 W 34. Direction des services de l’Algérie et des départements d’outre-mer: Recensement numérique des Français musulmans originaires d’Algérie en résidence dans la métropole [Anf. Sep. 1953], S. 3f., AdM 297 W 65. Ibid. In einem ersten Gespräch mit dem algerischen Hotel- und Restaurantbesitzer Amenzu aus Metz (3. Aug. 2013) führte dieser aus: »Es gab hier so viel zu tun seit 1950. Es war fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Also gab es viel zu tun. Der Bausektor war wirklich das Eldorado der Region. Alles lief: die Kohle, der Bau«.

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I. Algerische Migranten im lothringischen Grenzgebiet

äußerst begrenzt und in einem hohen Maß von der wirtschaftlichen Entwicklung und der Haltung der Arbeitgeber ihnen gegenüber abhängig war. Nicht zuletzt war die Autonomie algerischer Migranten in Lothringen auch deshalb stark eingeschränkt, da ihre Wohnsituation stark von ihrem jeweiligen Arbeitsverhältnis abhing.

1.3. Die Wohnorte algerischer Migranten im Departement Moselle 1.3.1 Anzahl und räumliche Verteilung der Algerier in Moselle Die Entwicklung der algerischen Zuwanderung wurde in Lothringen von den örtlichen Behörden schon früh genau beobachtet. Seit 1947 erfassten die RG monatlich die Zahl der zugewanderten Algerier in jedem Arrondissement. Wie auch anderswo in der Metropole wurde dabei nicht in erster Linie der Pendelcharakter, sondern allein das enorme Ansteigen der algerischen Zuwanderung deutlich. Am stärksten war in der Anfangsphase das Kohlebecken von Forbach betroffen. Allein im Juni 1947 kamen dort mehr als 400 Algerier an178 . Für das gesamte Departement Moselle registrierten die RG zwischen 1. Februar und 1. September 1947 einen Zuwachs von 2660 »Nordafrikanern« auf rund 4700. Davon lebten 2380, also rund die Hälfte, im Arrondissement Forbach179 . Zum Ende des Jahres 1948 schätzten die RG die Zahl der »nordafrikanischen Arbeiter« im Departement Moselle auf insgesamt 7250. Davon waren 3100 in Kohlebergwerken angestellt, 2100 in der Eisen- und Stahlindustrie, 500 im Bausektor, 1550 gingen anderweitigen Beschäftigungen nach180 . Nimmt man noch arbeitslose Männer und in der Regel ebenfalls erwerbslose algerische Frauen sowie die algerischen Kinder hinzu, kann ihre Zahl auf 8000 bis 9500 geschätzt werden. Dieser Wert nahm weiterhin zu. Im Mai 1953 ging die Präfektur von Moselle davon aus, dass sich bereits 16 600 algerische Arbeiter auf dem Territorium des Departements befanden. Bei insgesamt rund 200 000 Erwerbstätigen stellten die Algerier demnach 8,3 Prozent aller Beschäftigten181 . Ein Jahr später wurde die Gesamtzahl der Algerier des Departements auf 18 270 beziffert. Vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis 178 179 180

181

Le chef des RG de Metz au préfet de la Moselle, 6. Sep. 1947, S. 5, AdM 297 W 18. Ibid. S. 6. Annexe à la lettre du chef des RG de Metz au directeur des RG à Paris, 3. Feb. 1949, exposé sur la situation de la colonie nord-africaine dans le département de la Moselle [1948], S. 1, AdM 297 W 18. Le préfet de la Moselle, inspecteur général de l’administration à monsieur le ministre de l’Intérieur, 20. Mai 1953, AdM 297 W 65.

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1. Die soziale Situation algerischer Migranten

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zum Beginn des Algerienkriegs stieg die Anzahl der Algerier in Moselle ununterbrochen an (siehe Grafik 2), 1954 war sie etwa doppelt so hoch wie im benachbarten Departement Meurthe-et-Moselle (siehe Tabelle 2). Am Vorabend des Algerienkriegs lebten damit im Departement Moselle beinahe so viele Algerier wie Italiener, deren Anzahl die Ciedehl auf rund 20 000 schätzte und die damit die größte Migrantengruppe darstellten182 . Zu Beginn der 1950er Jahre machten Algerier in Moselle zwischen fünf und neun Prozent der arbeitenden Bevölkerung aus. In Meurthe-et-Moselle waren es zwischen dreieinhalb und fünf Prozent183 . Grafik 2: Anzahl der »Nordafrikaner« in Moselle, 1948–1954 20000 18000 18500

16000 17000 14000

16000

12000 10000

12000

8000 6000

8000

9000

4000 2000 0 1948

1950

1951

1952

1953

1954

Tabelle 2: Soziale Struktur der 1954 in Moselle und Meurthe-et-Moselle registrierten »Nordafrikaner«

»Nordafrikaner« in Moselle »Nordafrikaner« in Meurthe-etMoselle 182 183

Frauen Kinder

Davon im Krankenhaus, Sanatorium oder Gefängnis

Davon Tunesier

Davon Marokkaner

17 000

575

38

275

150

545

9000

120

250

40

100

225

Registrierte Männer mit Arbeit

Ciedehl: Main d’œuvre nord-africaine en Lorraine, Juli–Aug. 1954, S. 2, AdM 39 J 114. Introduction générale, in: La main d’œuvre nord-africaine et son emploi dans les industries des métaux 2, hg. von UIMM, Paris 1952, S. I–VII, hier S. IV–V, Archives UIMM, c. 14, b. 46.

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I. Algerische Migranten im lothringischen Grenzgebiet

Die Wohnorte der Algerier in Lothringen waren mit den Standorten der Unternehmen ihrer wichtigsten Beschäftigungssektoren weitgehend deckungsgleich. 1948 arbeiteten die meisten Algerier in den Kohleminen in der Region Forbach und Sarreguemines. Dementsprechend hoch war auch die Zahl der »nordafrikanischen Arbeiter« im Arrondissement Forbach. Die RG schätzten sie auf rund 3000. Demgegenüber zählten die von der Eisen- und Stahlindustrie geprägten Arrondissements Thionville und Metz-Campagne lediglich 1300 beziehungsweise 1000 erwerbstätige »Nordafrikaner«184 , was sich auch in einer deutlich niedrigeren Zahl von Algeriern widerspiegelte, die in jenem Sektor in Moselle beschäftigt waren. In der Departement-Hauptstadt Metz lebten 1948 den RG zufolge 750 »Nordafrikaner«. Im Arrondissement Boulay hatten 930 »Nordafrikaner« ihren Wohnort, 430 von ihnen waren aber in den Gruben von Merlebach, also im Arrondissement Forbach, beschäftigt. Allein 60 »Nordafrikaner« wohnten in den beiden südlicheren Arrondissements, Château-Salins und Sarrebourg185 . Dieses starke Nord-Süd-Gefälle in der Verteilung der algerischen Migranten in Moselle ist vor allem mit den Arbeitsmöglichkeiten im 2. Wirtschaftssektor zu erklären. Die große Mehrheit der Migranten arbeitete in diesem Sektor und lebte in unmittelbarer Nähe der jeweiligen Arbeitsstätten. Die mit Abstand wichtigste Art der Unterbringung algerischer Migranten in dieser Phase waren Arbeiterwohnheime. 1.3.2 Wenn der Chef der Vermieter ist Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren in Lothringen paternalistische Strukturen, mit denen Arbeitgeber das soziale Umfeld ihrer Arbeiterschaft – unabhängig von deren Herkunft oder Nationalität – weitgehend kontrollierten, noch sehr verbreitet186 . Infolge der großen Streiks von 1905 hatten die Arbeitgeber dort ihren »liberalen Paternalismus« zugunsten einer möglichst umfassenden Kontrolle ihrer Arbeiter fallen lassen. Anstatt diesen ein Eigenheim in Aussicht zu stellen, wie es häufig zuvor der Fall gewesen war, sollten sie insbesondere durch die Unterbringung in unternehmenseigenen Unterkünften in einem Abhängigkeitsverhältnis gehalten werden, das es den Arbeitgebern erlaubte, einen enormen sozialen Druck auf ihre Arbeiterschaft auszuüben und sie gleichzeitig zu überwachen187 . Es war also kein Zufall, dass 184

185 186

187

Annexe à la lettre du chef des RG de Metz au directeur des RG à Paris, 3. Feb. 1949, exposé sur la situation de la colonie nord-africaine dans le département de la Moselle [1948], S. 1, AdM 297 W 18. Ibid. Losego, Fern von Afrika, S. 237. Siehe auch die zeitgenössischen Beobachtungen in Émile Rideau, Essor et problèmes d’une région française. Houillères et sidérurgie de Moselle, Paris 1956, S. 196–201. Noiriel, Longwy, S. 92.

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die große Mehrheit der algerischen Arbeiter in Moselle während der ersten Hälfte der 1950er Jahre in einem Arbeiterwohnheim untergebracht war (siehe Grafik 3). 1956 konstatierte die Soziologin Andrée Michel, dass in jenem Departement allein in den Städten Metz und Thionville eine Mehrheit der Algerier nicht in einer Unterkunft ihres Arbeitgebers lebte (siehe Tabelle 3). Grafik 3: Anzahl und Wohnsituation »nordafrikanischer Arbeiter« in Moselle, 1950–1954 16000 14000 12000 10000 8000 6000 4000 2000

Ja

nM Ap rz 5 r-J 0 u Ju n 5 l-S 0 Ok ep t-D 50 Ja ez 5 nM 0 Ap rz 5 r-J 1 u Ju n 5 l-S 1 Ok ep t-D 51 Ja ez 5 nM 1 Ap rz 5 r-J 2 u Ju n 5 l-S 2 Ok ep t-D 52 Ja ez 5 nM 2 Ap rz 5 r-J 3 u Ju n 5 l-S 3 Ok ep t-D 53 Ja ez 5 nM 3 Ap rz 5 r-J 4 u Ju n 5 l-S 4 Ok ep t-D 54 ez 54

0

Anzahl der arbeitenden Nordafrikaner in Moselle Nordafrikaner, die in einem Wohnheim mit mehr als 19 anderen Nordafrikanern wohnen Anteil der Algerier Nordafrikaner, die in einem Wohnheim mit weniger als 19 anderen Nordafrikanern wohnen

Tabelle 3: Wohnbedingungen der Algerier an einigen Orten in Moselle, 1956

Hayange (Fensch-Tal) Thionville Metz Hagondange Region Forbach

Algerier

In einem Wohnheim untergebrachte Algerier

Anteil der im Wohnheim lebenden Algerier (%)

3300 1113 1604 855 2258

3265 392 330 601 2250

97 35 20 70 99

Der Wohnkomfort in den Arbeiterwohnheimen in Lothringen variierte zum Teil sehr. In der Regel war die Privatsphäre insofern stark eingeschränkt, als die Bewohner entweder in größeren Schlafsälen oder in Mehrbettzimmern übernachteten. Dies war etwa im industriellen Becken von Longwy der Fall, wo es 1952 drei Wohnheime für »nordafrikanische Arbeitsmigranten« gab, die durch Mauern oder Stacheldraht abgeriegelt waren und deren Schlafsäle 16 bis 50 Betten umfassten188 . Im Industriegebiet zwischen Metz und Thionville war es Andrée Michel zufolge der Regelfall, dass die Bewohner von Ar188

Losego, Fern von Afrika, S. 281f.

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I. Algerische Migranten im lothringischen Grenzgebiet

beiterwohnheimen in Schlafsälen mit 40 bis 50 Betten nächtigten189 . Auch die Anzahl sanitärer Anlagen und der Zugang dazu fielen je nach Wohnheim sehr unterschiedlich aus. Schließlich galt in den meisten Wohnheimen eine rigide Hausordnung, die den Zugang zum Heim und die Aktivitäten der Bewohner darin streng reglementierte190 . Dies veranschaulicht die Hausordnung eines Wohnheims der UCPMI von 1956. Das 1951 eröffnete Wohnheim für ledige Arbeiter der UCPMI in Hagondange bot seinen algerischen und französischen Bewohnern insofern einigen Komfort, als es ausschließlich über Zweibettzimmer verfügte. Es galt daher mehreren zeitgenössischen Beobachtern als vorbildlich191 . Dass die Privatsphäre und die Entfaltungsmöglichkeiten der Bewohner dennoch stark eingeschränkt waren, vermag ein Blick in die Hausordnung zu zeigen. Demnach waren neben Alkoholgenuss, Glücksspiel und Frauenbesuchen auch Versammlungen politischen, gewerkschaftlichen oder konfessionellen Charakters grundsätzlich verboten. Ab 22 Uhr galt absolute Nachtruhe. Personen, die weder im Wohnheim lebten noch bei der UCPMI angestellt waren, durften von den Bewohnern nur am Vormittag von 9 bis 11 Uhr und nachmittags von 15 bis 17 Uhr empfangen werden, nachdem sie sich zuvor am Empfang vorgestellt hatten. In den Zimmern war es untersagt, Bilder aufzuhängen, zu kochen, zu waschen, Wäsche aufzuhängen oder mit dreckiger Kleidung auf den Betten zu liegen. Schließlich unterstrich die Hausordnung, dass in keinem Fall Streitgespräche zwischen Bewohnern und einem Angestellten des Wohnheims in den Gemeinschaftsräumen toleriert würden192 . Das Reglement des Arbeiterwohnheims der UCPMI ist ein typisches Beispiel dafür, wie Arbeitgeber in Lothringen versuchten, ihre Arbeiterschaft möglichst umfassend zu kontrollieren und insbesondere deren politische Mobilisierung zu erschweren. Davon waren zwar keineswegs nur algerische Arbeiter betroffen. Allerdings war ihr Anteil an denen, die in Lothringen zwischen 1950 und 1954 eine Unterbringung durch einen Arbeitgeber in Anspruch nahmen, besonders hoch. Dass sich die hohe Abhängigkeit algerischer Migranten von einer Unterbringung in den Arbeiterwohnheimen negativ auf deren Lebensqualität aus189 190 191

192

Michel, L’immigration algérienne en Moselle, S. 359. Losego, Fern von Afrika, S. 281f. Émile Rideau hob neben den Zweibettzimmern auch die kulturelle Heterogenität in dem Wohnheim als positiv hervor. Seinen Angaben aus dem Jahr 1956 zufolge waren in dem Wohnheim 19 verschiedene Nationalitäten vertreten. Von insgesamt 474 Bewohnern waren 130 »Nordafrikaner«: Rideau, Essor et problèmes d’une région française, S. 194. Auch die Ciedehl äußerte sich positiv über das Arbeiterwohnheim der UCPMI und bemängelte lediglich, dass das Unternehmen den 14 algerischen Arbeitern, die mit ihren Familien vor Ort lebten, keine Unterkunft zur Verfügung stellte: Ciedehl: Main d’œuvre nord-africaine en Lorraine (projet 1), Juli–Aug. 1954, S. 24f., AdM 39 J 114. UCPMI Usines d’Hagondange: Règlement des centres d’hébergement ouvriers de l’UCPMI émanant de la direction de l’UCPMI, 15. Feb. 1956, AdM 297 W 44.

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wirkte, war den lothringischen Behörden durchaus bewusst. Ein Bericht der Direktion für Arbeitsfragen von Moselle ging 1953 davon aus, dass insgesamt 16 000 »nordafrikanische Arbeiter« innerhalb des Departements lebten, von denen rund 11 000 in einem Wohnheim ihrer Arbeitgeber oder der öffentlichen Hand untergebracht waren. In 9000 Fällen wurden die dortigen Lebensumstände als unzureichend bewertet193 . Die Schlafplätze in unternehmenseigenen Wohnheimen waren ausschließlich Arbeitern des Unternehmens vorbehalten. Für die Migranten bedeutete dies, dass eine Kündigung des Arbeitsverhältnisses automatisch auch den Verlust ihrer Unterkunft bedeutete194 . 1951 schätzte die Direktion für Arbeitsfragen von Moselle, dass nur etwa 1500 von etwa 10 000 Algeriern in Moselle nicht mit einer Unterbringung durch einen Arbeitgeber rechnen konnten und gezwungen waren, sich selbst eine Bleibe zu organisieren195 . Der Vergleich mit anderen Regionen der Metropole von 1956 zeigt, dass diese enorme Abhängigkeit der algerischen Migranten von ihren Arbeitgebern in Lothringen besonders weit verbreitet war (siehe Grafik 4). Grafik 4: Anteil der algerischen Arbeiter in einem Departement der Metropole, die 1956 in einer Unterkunft ihres Arbeitgebers untergebracht sind (in %) 70 60 50 40 30 20 10 0

193

194 195

Welche Kriterien für diese Einschätzung herangezogen wurden, wurde in dem Bericht nicht deutlich gemacht: Gigleux, directeur départemental de la main d’œuvre et du travail à M. le préfet de la Moselle, 2. Juni 1953, ibid.; Situation de la main d’œuvre nordafricaine dans la 6e région, 22. Juli 1953, S. 2, AdM 297 W 65. Michel, L’immigration algérienne en Moselle, S. 357. Directeur départemental du travail et de la main d’œuvre à monsieur le préfet de la Moselle [Nov. 1951], S. 3, AdM 297 W 18.

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Drei zentrale Faktoren machten die große Mehrheit der algerischen Migranten in Lothringen von der Bereitstellung einer Unterkunft durch ihren Arbeitgeber in einem hohen Maße abhängig. Erstens, weil Wohnraum insbesondere wegen der in der Endphase des Zweiten Weltkriegs in der Region angerichteten Zerstörungen nur begrenzt zur Verfügung stand. Zweitens wegen der Mittellosigkeit der meisten Migranten sowie drittens wegen deren Vorhaben, sich nur für eine kurze Zeit in Ostfrankreich aufzuhalten, um bald darauf wieder nach Algerien zurückzukehren. Dass vor allem viele Großunternehmen in der Region durchaus die Absicht verfolgten, möglichst viele ihrer Arbeiter durch die Bereitstellung einer Unterkunft in einem starken Abhängigkeitsverhältnis zu halten, bedeutete jedoch nicht, dass sie die enorme Nachfrage vonseiten der algerischen Migranten auch stets bedienen konnten. So berichteten die RG von Metz 1948, dass die Einstellung von »Nordafrikanern« in der Region zuletzt unter anderem wegen des Problems ihrer Unterbringung verlangsamt worden sei196 . Einige Arbeitgeber stellten die begrenzte Zahl an zur Verfügung stehenden Schlafplätzen bevorzugt Europäern zu Verfügung. Ein Bericht für die Präfektur von Moselle aus dem Jahr 1953 konstatierte etwa, dass in vielen Fällen Franzosen, die neu eingestellt wurden, sofort eine Unterkunft zugeteilt bekamen, während »Nordafrikanern« dies, obwohl sie teilweise seit Jahren in einem Betrieb beschäftigt waren, häufig verwehrt wurde197 . Für algerische Arbeiter war ein Platz in einem Wohnheim des Betriebes, in dem sie arbeiteten, somit keineswegs selbstverständlich. Sofern sie mit ihren Familien in Lothringen waren, hatten sie diesbezüglich so gut wie keine Chancen. Dass die HBL 190 algerischen Familien 1956 eine Unterkunft stellten, war eine absolute Ausnahme in der Region. Von wenigen Einzelfällen abgesehen, waren die von den Arbeitgebern gestellten Familienunterkünfte allein für französische Familien vorgesehen oder auch für die Familien europäischer Arbeitsmigranten198 . Die Wohnbedingungen der meisten Algerier waren somit keineswegs dazu geeignet, ihre dauerhafte Ansiedlung in Lothringen, geschweige denn den Familiennachzug, zu begünstigen, im Gegenteil. Die Wohnheime waren als Massenunterkünfte allein lebender Männer lediglich dazu geeignet, ihre als Provisorium angelegte Lebenslage zu perpetuieren199 . Abgesehen von Wohnheimen waren viele algerische Arbeiter in Lothringen auch in notdürftig angelegten Wohnsiedlungen aus einfachen Holz- oder Me196

197 198 199

Annexe à la lettre du chef des RG de Metz au directeur des RG à Paris, 3. Feb. 1949, exposé sur la situation de la colonie nord-africaine dans le département de la Moselle [1948], S. 2, ibid. Situation de la main d’œuvre nord-africaine dans la 6e région, 22. Sep. 1953, S. 4, AdM 297 W 65. Michel, L’immigration algérienne en Moselle, S. 349 Der algerische Soziologe Abdelmalek Sayad sprach diesbezüglich von der »Illusion des Provisorischen«, die es den algerischen Migranten überhaupt erst ermöglicht habe, ihre

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tallhäusern untergebracht. Diese von den Zeitgenossen entweder als Baracken oder cantines bezeichneten Unterkünfte waren teilweise so beschaffen, dass sie etwa auf Lastwagen transportiert werden konnten, was insbesondere innerhalb des Bausektors beispielsweise für die Eröffnung einer neuen Baustelle genutzt wurde. Diese Form der Unterbringung brachte für die Migranten auf der einen Seite den Vorteil mit sich, dass das dort herrschende Reglement weitaus weniger streng war als in den Wohnheimen. Auf der anderen Seite waren die Baracken jedoch häufig nur schlecht gegen Kälte isoliert und noch abgelegener als die Arbeiterwohnheime. Besonders zahlreich waren die Barackenlager im industriellen Becken von Longwy. 1952 brachten dort in Mont-Saint-Martin allein die Aciéries de Longwy 368 ihrer 667 algerischen Arbeiter in sieben solcher cantines unter. Mit Abstand die meisten von ihnen, insgesamt 273, lebten in dem Lager Les Quatre Cantines in Longlaville200 . Die größte Konzentration algerischer Migranten in lothringischen Barackensiedlungen gab es jedoch im Kohlebecken von Forbach. Insgesamt brachten die HBL dort in den ersten Jahren nach dem Krieg in drei ehemaligen Militärlagern 2649 Algerier unter. Das größte dieser Lager war Rosselmont201 . Nachdem dort unter deutscher Besatzung noch Kriegsgefangene inhaftiert gewesen waren, funktionierten die HBL das Lager nach 1945 zu einer Wohnsiedlung um, in der vor allem Algerier wohnten, die entweder in den Minen oder in Subunternehmen der HBL arbeiteten202 . Ein Bericht für die Präfektur von Moselle bezifferte die Zahl der Bewohner dieses Lagers im November 1951 auf rund 1200203 . Innerhalb der Baracken teilten sich die Migranten wie auch in den Wohnheimen in der Regel zu mehreren ein Zimmer. Die meist abgelegene Lage der Unterkünfte ihrer Arbeiter kompensierten die jeweiligen Unternehmen damit, dass sie diese zu Schichtbeginn dort mit Bussen abholen ließen204 . Algerische Minenarbeiter, die häufig in derartigen Siedlungen lebten, hatten den Vorteil, dass sie gar keine oder nur eine sehr geringe Miete zahlen mussten und die Heizkohle umsonst gestellt bekamen205 . Ungeachtet dessen brachten die Barackenlager ebenso wie die Wohnheime in der Regel das Problem einer schlechten Ausstattung mit sich. Allein bezüglich der Öfen illustriert dies der Erstickungstod mehrerer Algerier im Lager Rosselmont während des Winters

200 201 202 203 204 205

widrigen und de facto auf Dauer gestellten Lebensumstände in der Metropole zu akzeptieren, vgl. Abdelmalek Sayad, L’immigration ou les paradoxes de l’altérité, Bd. 3: La fabrication des identités culturelles, Paris 2014, S. 54–58. Losego, Fern von Afrika, S. 277f. MacMaster, Colonial Migrants and Racism, S. 88. Pascutto u. a., Mineurs algériens et marocains, S. 104. Compte rendu de mission effectué par monsieur Correard dans le département de la Moselle du 19 au 25 novembre 1951, S. 3, AdM 297 W 65. Le préfet de la Moselle au député-maire de Metz Raymond Mondon, 10. Aug. 1950, S. 3, AdM 297 W 18. Interview LH– T. Amenzu, 2013, S. 2.

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1954–1955206 . Zudem gab es innerhalb der Baracken kein fließendes Wasser oder sanitäre Anlagen207 . Die Wohnbedingungen algerischer Arbeiter in den Unterkünften ihrer Arbeitgeber differierten zwar je nach Sektor und Unternehmen. Drei zentrale Aspekte waren ihnen jedoch mit wenigen Ausnahmen gemeinsam: Durch die Abschottung oder die Abgelegenheit der Unterkünfte leisteten diese einer rassistisch inspirierten Segregation unter den Arbeitern stark Vorschub. Darüber hinaus waren weder die Baracken noch die Arbeiterwohnheime darauf ausgelegt, eine auf Dauer angelegte Ansiedlung der Migranten zu befördern, geschweige denn dafür, ihnen ein Familienleben zu ermöglichen. Schließlich hielten die von den Arbeitgebern zur Verfügung gestellten Unterbringungen Tausende Algerier in einem umfassenden Abhängigkeits- und Aufsichtsverhältnis gegenüber ihren jeweiligen Chefs. Die Wohnbedingungen der großen Mehrheit der zwischen 1945 und 1954 in Lothringen lebenden Algerier standen somit ganz und gar im Zeichen ihres Migrationsprojekts beziehungsweise des nur als Provisorium geplanten Aufenthalts. 1.3.3 Die algerischen Herbergen in Metz Sofern sich die algerischen Migranten nicht mit den Wohnbedingungen abfinden wollten, die sie in den lothringischen Wohnheimen erwarteten, hatten sie auch die Möglichkeit, sich eine Privatwohnung zu suchen oder in einer privat betriebenen Herberge unterzukommen. Dass solche Unterkünfte in den Jahren zwischen 1945 und 1954 eine von Algeriern in Lothringen besonders häufig genutzte Alternative darstellten, hatte mehrere Gründe. Im Vergleich zu einer Privatwohnung waren die Mietpreise meist deutlich niedriger; man war nicht mit den Vorbehalten einiger Wohnungsbesitzer gegenüber »Nordafrikanern« konfrontiert, und nicht zuletzt erhielten sich die Migranten mit der Anmietung eines Schlafplatzes in einer Herberge eine hohe Flexibilität bei der weiteren Gestaltung ihres Aufenthalts in der Metropole. Auch diese Form der Unterbringung spiegelte das Bestreben vieler Migranten wider, ihre Situation in Lothringen als provisorischen Übergangszustand zu gestalten und nicht auf Dauer anzulegen. Die Möglichkeit der günstigen Anmietung eines Schlafplatzes in einer Herberge gab es während der Nachkriegszeit und zu Beginn der 1950er Jahre in Lothringen insbesondere in den größeren Städten abseits der Industriezentren. Wie auch in den anderen Zuwanderungsregionen zogen algerische Migranten dabei jene Herbergen vor, deren Besitzer ebenfalls Algerier waren. Diese kombinierten den Betrieb ihrer Herbergen häufig mit einem Restaurant oder einer Kneipe und hofften damit auch auf die Kundschaft von Franzosen. 206 207

Michel, L’immigration algérienne en Moselle, S. 348. 2. Interview LH–Tidar, 2014, S. 14–21.

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Besonders viele dieser algerischen Hotel-Restaurants gab es zum damaligen Zeitpunkt in Metz. Nach den Angaben der allgemeinen Zensuserhebung von 1954 lag die Anzahl der »Nordafrikaner«, die auf dem Territorium der Kommune von Metz wohnten, im Jahr 1954 bei 1874, was knapp zwei Prozent der Bevölkerung der Departement-Hauptstadt entsprach208 . Die große Mehrheit der Algerier in Metz wohnte in den nördlichen Vierteln der Altstadt, vor allem im Bezirk der Place Chambière, dem Viertel Pontiffory, der Rue du Champey sowie der Rue Boucherie-Saint-Georges. Zudem hatten sich die Rue Mazelle und die Rue Haute-Seille zu beliebten Wohnorten der Migranten entwickelt. Über ein Viertel der in Metz lebenden Algerier wohnte zur Miete in einer Herberge eines algerischen Wirts. Im Oktober 1954 legte ein Bericht der Präfektur von Moselle dar, wie algerische Herbergenbesitzer die angebliche Orientierungslosigkeit und Mittellosigkeit neu ankommender Landsleute ausnutzten. Demnach würden Algerier, die in Metz ankamen, oft schon am Bahnhof von »Emissären« der Wirte in Empfang genommen, die ihnen eine Unterkunft und oft auch eine Arbeit in Aussicht stellten und anschließend kleinere Gruppen von Migranten in die Straßen Boucherie-Saint-Georges oder Pontiffroy führten209 . Von dort aus pendelten viele täglich vor allem in das nördlich gelegene Industriebecken. Die örtliche Polizei schätzte im Mai 1953, dass etwa 600 Algerier, die in der Stadt lebten, in Unternehmen arbeiten, die außerhalb von Metz lagen; dazu mussten sie teilweise bis ins industrielle Becken von Longwy fahren210 . Dass so viele Algerier weiterhin in Metz wohnen blieben, obwohl ihr Arbeitsplatz außerhalb der Stadt lag, weist darauf hin, dass die Stadt für Algerier eine gewisse Attraktivität besaß. Abgesehen davon, dass das soziale Umfeld in einer Stadt insgesamt für viele Migranten vermutlich interessanter war als das eines entlegenen Arbeiterwohnheims, gab es in Metz auch ein vergleichsweise breit entwickeltes algerisches Milieu. Den Angaben der Präfektur von Moselle im Dezember 1953 zufolge gab es dort 19 »nordafrikanische« Hoteliers, deren 571 Mieter ebenfalls fast ausschließlich »Nordafrikaner« waren211 . Die Möglichkeiten einer sozialen Entfaltung, neue Kontakte zu knüpfen und Momente der Geselligkeit zu verbringen waren für Algerier in Metz somit sehr viel eher 208

209

210 211

Die einzelnen Listen der Erhebungen des Zensus von 1954 für die Stadt Metz sind heute weder im Departement- noch im Stadtarchiv verfügbar. Der ehemalige Journalist und Lokalhistoriker René Bour bezifferte die Gesamtzahl der Bewohner von Metz für das Jahr 1954 auf etwa 86 000, vgl. René Bour, Histoire de Metz, Metz 1989, S. 276. Préfecture de la Moselle, cabinet du préfet: Logement des travailleurs nord-africains dans la commune de Metz. Clientèle des hôtels. Rapport, 30. Okt. 1954, S. 1f., AdM 297 W 65. Le Commissaire divisionnaire, commissaire central au préfet de la Moselle, 12. Mai 1953, ibid. Préfecture de la Moselle, cabinet du préfet: Logement des travailleurs nord-africains dans la commune de Metz. Clientèle des hôtels. Rapport, 30. Okt. 1954, S. 1f., ibid.

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gegeben als unter den oben dargestellten Bedingungen abgelegener Arbeiterwohnheime und Barackensiedlungen. Dennoch waren die Wohnbedingungen auch innerhalb der Arbeiterherbergen häufig sehr schlecht. Sarah Vanessa Losego hat in ihrer Dissertation den Bericht eines Arztes zitiert, der die im November 1948 herrschenden Wohnbedingungen in einer Arbeiterherberge im industriellen Becken von Longwy als katastrophal beschrieb212 . Dem bereits zitierten Bericht der Präfektur von Moselle zufolge standen den Bewohnern solcher Arbeiterherbergen in Metz sanitäre Anlagen entweder gar nicht oder nur sehr eingeschränkt zur Verfügung. Der Bericht hielt außerdem fest, dass der Mietpreis im Vergleich zu den 2500 Franc, die ein durchschnittlicher Platz in einem Wohnheim des Arbeitsministeriums im Monat kostete, maßlos überhöht sei. Den Angaben zufolge müsse für ein Bett in einem Mehrbettzimmer einer Herberge zwischen 2000 und 3500 Franc im Monat gezahlt werden, während in Einzelfällen auch Schlafplätze in Kellern mit einer Matte und einer Decke für monatlich 1200 Franc vermietet worden seien213 . Diese Preise als Wucher zu bezeichnen, wie der Bericht es tat, erscheint insofern übertrieben, als algerische Arbeiter in Moselle durchschnittlich etwa 1000 Franc pro Arbeitstag verdienten214 und in den Herbergen bei einem vergleichbaren Preis über deutlich mehr persönliche Freiheiten verfügten als in den Wohnheimen. Auch wenn der Bericht der Präfektur dieses régime, das die jeweiligen Hotelbesitzer zu wahren caïds gemacht habe, offen anklagte215 , musste er gleichzeitig einräumen, dass die Schließung eines solchen Hotels die Stadt vor die schier unlösbare Aufgabe stellen würde, für sämtliche Mieter eine alternative Unterkunft zu suchen. Die ungenutzten Kapazitäten der Kaserne Krien216 212 213

214

215

216

Losego, Fern von Afrika, S. 282f. Préfecture de la Moselle, cabinet du Préfet: Logement des travailleurs nord-africains dans la commune de Metz. Clientèle des hôtels. Rapport, 30. Okt. 1954, S. 1f., AdM 297 W 65. Andrée Michel führte diesbezüglich Angaben aus Thionville an, denen zufolge algerische Arbeiter durchschnittlich 1095 Franc am Tag verdienten: Michel, Les travailleurs algériens en France, S. 140. Der »Spiegel« ging im Dezember 1955 davon aus, dass etwa 105 Franc der Kaufkraft einer D-Mark entsprachen. Da die französische Währung weiter unter Druck geriet, fand 1960 eine Währungsreform statt, die 100 anciens francs durch einen nouveau franc ersetzte: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-31971869. html (Zugriff 4.3.2019). Dass ein französischer Beamter solche Worte wählte, birgt eine gewisse Ironie, denn bei caïds handelte es sich um algerische Bevollmächtigte der Kolonialbehörden, die – ausgestattet mit weitreichenden Vollmachten – die Aufgabe hatten, in den ihnen zugewiesenen Territorien die koloniale Ordnung aufrecht zu erhalten, vgl. Benjamin Stora, Les mots de la guerre d’Algérie, Toulouse 2005, S. 28. Die Leitung der Kaserne Krien hatte M. Renault, contrôleur social de la main d’œuvre nord-africaine en Moselle, der an die direction départementale du travail angegliedert war: Notes du sous-préfet de Thionville, M. Carel de la tournée du 28 mai 1954, S. 5, AdM 297 W 65.

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und die Unterkünfte der Heilsarmee waren dafür vollkommen unzureichend. Hoffnungsvoll wurde lediglich auf die für Dezember 1954 geplante Eröffnung des Wohnheims in Saint-Julien verwiesen, wo 200 Schlafplätze für »Nordafrikaner« entstehen sollten. Dass sich dieses Wohnheim jedoch auf einem steilen Berg abseits der Innenstadt befand und für viele Migranten somit kaum attraktiv sein konnte, blieb unerwähnt217 . Insbesondere für jene Algerier, die unmittelbar nach ihrer Ankunft in Lothringen weder Arbeit noch soziale Kontakte hatten, stellten die algerischen Herbergen eine der letzten Optionen dar, um der Obdachlosigkeit zu entgehen. 1.3.4 Das Risiko der Obdachlosigkeit Die große Mehrheit der zwischen 1945 und 1954 in Moselle lebenden Algerier war mit äußerst prekären Wohnbedingungen konfrontiert, sei es in Wohnheimen, Herbergen oder in Barackensiedlungen. Nur eine kleine Minderheit von ihnen verfügte über eine Miet- oder gar eine Eigentumswohnung. Émile Rideau ging 1954 davon aus, dass von etwa 14 000 innerhalb des Departements lebenden »Nordafrikanern« wenigstens 5800 in »beklagenswerten Zuständen« lebten. Damit waren insbesondere jene Algerier gemeint, die in Kellern, Speichern, von Ungeziefer befallenen Zimmern und überfüllten Wohnheimen nächtigen mussten218 . Rideau erwähnte dabei nicht, dass darüber hinaus auch eine bedeutende Zahl der algerischen Migranten in Lothringen von Obdachlosigkeit betroffen war. Allein schon deshalb, weil die meisten Obdachlosen versuchten, ihre Situation und ihre Schlafplätze gegenüber den Behörden möglichst geheim zu halten, konnte keine Stelle dazu genau Angaben machen. Eine Annäherung kann nur eine Schätzung der Direktion für Arbeitsfragen in Moselle liefern, der zufolge im Juni 1953 rund 3000 Algerier in Moselle keinen festen Wohnsitz hatten219 . Algerier, die in Lothringen keine Arbeit finden konnten, waren häufig darauf angewiesen, dass ihnen Freunde oder Verwandte einen Schlafplatz in ihrer Unterkunft freimachten, sofern sie nicht im Freien übernachten wollten. Es waren jedoch keineswegs nur arbeitslose Algerier von Obdachlosigkeit betroffen. Im Juni 1953 waren in Thionville etwa 300 algerische Arbeiter ohne Wohnung. In Hayange beziehungsweise Knutange waren von 500 arbeitenden Nordafrikanern nur 120 von ihren Arbeitgebern untergebracht, während in

217 218 219

Préfecture de la Moselle, cabinet du préfet: Logement des travailleurs nord-africains dans la commune de Metz. Clientèle des hôtels. Rapport, 30. Okt. 1954, S. 4, ibid. Rideau, Essor et problèmes d’une région française, S. 203. M. Gigleux, directeur départemental de la main d’œuvre et du travail à M. le préfet de la Moselle, 2. Juni 1953, AdM 297 W 44; Situation de la main d’œuvre nord-africaine dans la 6e région, 22. Juli 1953, S. 2, AdM 297 W 65.

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Sarreguemines 70 »Nordafrikaner« unter »prekären Bedingungen« im Anbau einer ehemaligen Kaserne schliefen220 . Angesichts des großen Mangels an bezahlbarem Wohnraum in der Region sahen sich viele Algerier dazu gezwungen, illegale Schlafplätze zu suchen. Einige fanden nichts Besseres als leer stehende Rohbauten. Andere kamen unbemerkt in einem der vielen Wohnheime unter. Dort schliefen sie dann entweder zu mehreren in einem Bett221 oder wechselten sich bei der Nutzung des Betts ab222 . In einem Fall wurde auch darüber berichtet, dass eine Gruppe von obdachlosen Algeriern den Raum eines Wohnheims einfach für sich in Beschlag genommen habe223 . Aufgrund des relativ rauen Klimas in Lothringen stellte sich die Lage jener Migranten, die dort keine feste Unterkunft hatten, als besonders misslich dar. Wenn sie in einer illegalen Unterbringung der Kälte einmal entkommen waren, liefen sie Gefahr, dort von Polizei oder Gendarmerie aufgegriffen und verhaftet zu werden. Im Mai 1953 berichteten die Gendarmeriebrigaden von Florange, Hayange und Thionville über eine hohe Zahl obdachloser Algerier in ihrer Region, mit der sich die Gendarmen völlig überfordert sahen. Unter anderem wurde bemängelt, dass die meisten Algerier nicht wegen Vagabundentums angeklagt werden konnten, da sie dafür meist zu viel Geld bei sich trugen224 . Die Wohnsituation der algerischen Migranten in Lothringen entsprach einem notdürftig und provisorisch eingerichteten Lebenszustand. Sie waren in ihrer Wahl des Wohnorts aufgrund der örtlichen Bedingungen und ihren mangelnden Geldmitteln stark eingeschränkt. Weder in den Wohnheimen noch in den Barackenlagern oder in den Arbeiterherbergen konnten sie sich auf einen dauerhaften Aufenthalt einstellen. Diesen Eindruck bestätigt auch ein Bericht der Ciedehl von 1954 über die Lebensbedingungen algerischer Migranten in Lothringen. Darin wurden die Algerier in drei Gruppen eingeteilt: Erstens die etwa 40 Prozent, die in den Minen und in der Eisenund Stahlindustrie arbeiteten. Sie verfügten über relativ stabile Wohn- und Arbeitsbedingungen und bekamen in der Regel von ihren Arbeitgebern eine Unterkunft gestellt. Zweitens jene rund 50 Prozent, die im Bausektor 220 221 222

223

224

Le directeur départemental du travail et de la main d’œuvre au préfet de la Moselle, 2. Juni 1953, ibid. Interview LH–Bougherra, Asmun und Yattuy, 2014, S. 13f. Die Praxis, dass sich drei Arbeiter ein Bett teilten, sodass innerhalb eines Tages jeder acht Stunden darin schlafen konnte, war in Lothringen zur damaligen Zeit weit verbreitet und wurde »drei, acht« genannt: Michel, L’immigration algérienne en Moselle, S. 348. Während einer Kontrolle in den Wohnheimen der Sollac in Ébange griff die Gendarmerie in der Nacht vom 4. auf den 5. Mai 1953 über 300 Algerier auf, die sich dort illegal aufhielten: Rapport de l’adjudant Lambert, commandant de la brigade de Florange, sur la présence de nord-africains susceptibles de porter atteinte à la sécurité publique, 9. Mai 1953, AdM 297 W 65. Le capitaine Aumaitre, commandant de la SG de Thionville à monsieur le procureur de la République à Thionville, 15. Mai 1953, ibid.

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1. Die soziale Situation algerischer Migranten

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angestellt waren. Sie hatten mittelfristig keinerlei feste Zukunftsperspektive und mussten sich oftmals selbst um ihre Unterkunft kümmern. Die dritte Gruppe umfasste die übrigen zehn Prozent der Migranten, die fast permanent arbeitslos waren und sich meist auf der Suche nach einer Wohnung befanden225 . Diese Dreiteilung kann wiederum nur eine Orientierung und keine verlässlichen Zahlenangaben liefern. Sie bestätigt jedoch die Einschätzung, dass die Wohnsituation der Algerier in Lothringen in einem hohen Maße von ihrer Arbeitssituation abhängig war. Wie bereits in der Zwischenkriegszeit handelte es sich bei ihnen auch während der Dekade nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der großen Mehrheit um Arbeitsmigranten. Sie kamen nach Lothringen mit dem Ziel, möglichst schnell eine Arbeit und eine provisorische Unterkunft zu finden, um sich bald darauf wieder dauerhaft in Algerien einrichten zu können. Die Perspektive beziehungsweise Hoffnung auf die Rückkehr war für die Gestaltung ihres Aufenthalts in Lothringen maßgeblich. Dass sich die meisten von ihnen in Lothringen auf Dauer in einem provisorischen Zustand einrichteten, war somit nicht nur eine Konsequenz des sozialen und politischen Rahmens, in dem sie sich bewegten, sondern auch ihrer eigenen Absichten. Weder die lothringischen Arbeitgeber, noch die lokalen Politiker, die französische Regierung und auch nicht die Mehrheit der Algerier selbst waren zwischen 1945 und 1954 an einer dauerhaften Ansiedlung der Migranten in der Metropole interessiert. Stattdessen teilten sie die Illusion, deren Aufenthalt lasse sich als Provisorium gestalten226 .

1.4. Algerische Migranten im Saarland 1.4.1 Ein französisches Protektorat an der Saar Während des gesamten Untersuchungszeitraums stand das an Lothingen unmittelbar angrenzende Saarland unter starkem politischem, wirtschaftlichem und kulturellem Einfluss Frankreichs. Bereits in der Phase zwischen 1945 und 1954 hatte dies nachhaltige Folgen für Algerier, die sich dafür entschieden, die ostfranzösische Grenze zu überqueren, um im Saarland zu leben oder dort eine Arbeit zu suchen. In diesem Kapitel wird der politische Sonderstatus des Saarlands nach dem Zweiten Weltkrieg in seinem historischen Entstehungsprozess und seiner Relevanz für algerische Arbeitsmigranten umrissen, danach werden einzelne Aspekte der Geschichte der dort lebenden Algerier beleuchtet.

225 226

Ciedehl: Main d’œuvre nord-africaine en Lorraine, Juli–Aug. 1954, S. 2f., AdM 39 J 114. Siehe dazu insbes. Sayad, L’illusion du provisoire, S. 131–192.

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I. Algerische Migranten im lothringischen Grenzgebiet

Nachdem Frankreich bereits infolge des Ersten Weltkriegs einen beträchtlichen Einfluss auf das damalige Saargebiet ausgeübt hatte227 , arbeitete die Regierung in Paris in Anbetracht eines nahenden Sieges der Alliierten während des Zweiten Weltkriegs konkrete Pläne für eine staatliche Eingliederung des Saarlands aus. Der zentrale Auslöser dieser Bestrebungen war die saarländische Kohle228 , wobei nach den Kriegserfahrungen auch der geopolitische Faktor eines direkten Zugriffs auf die linksrheinischen Gebiete Deutschlands eine wichtige Rolle spielte229 . Auch wenn die Annexion des Saarlands mit den Prinzipien der Atlantikcharta unvereinbar war230 , strebte eine Mehrheit der französischen Politiker nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine Übernahme des Saarlands an. Aufgrund des Widerstands der anderen Alliierten in dieser Frage musste Paris jedoch einlenken. Der neue Kurs der französischen Politik in dieser Frage wurde erstmals öffentlich gemacht, als der Leiter der Wirtschaftsabteilung des französischen Außenministeriums im November 1945 in Washington verkündete, dass man bezüglich des Saarlands keine Annexion, sondern eine Sonderregelung anstrebe. Demnach sollte das Saarland eine eigenständige Regierung bekommen, die Minen sollten in französischen Besitz übergehen und eine Wirtschaftsund Währungsunion des Saarlands mit Frankreich geschaffen werden231 . Die Regierungen in Washington und London stimmten diesem Plan im Oktober 1946 weitgehend zu232 . Die Sowjetunion lehnte das französische Saarmemorandum auf der Moskauer Außenministerkonferenz im März 1947 jedoch ab233 und stellte damit die politische Legitimation des Plans, das Saarland auf Dauer in eine gesonderte französische Einflusszone umzuwandeln, in Frage. Trotz des Widerstands aus Moskau schuf Paris in dieser Frage schnell erste Tatsachen: Bereits im Juni 1947 wurde die Saarmark eingeführt, die den Übergang von der Reichsmark zum französischen Franc einläutete234 . Nach dem 20. November wurde das Saarland dann in die Franc-Zone eingegliedert. Zum 1. April 1948 erfolgte der Anschluss an den französischen Zollraum, sodass die zuvor am Rande des Departement Moselle gelegene Zollgrenze nach Osten an das erst kurz zuvor gegründete Rheinland-Pfalz heranrückte. Preise, 227 228

229 230 231 232 233 234

Nicolas Beaupré, Occuper l’Allemagne après 1918, in: Revue historique des armées (2009), S. 9–19. Silvie Lefèvre, Das Saarland und die Wirtschaftsunion mit Frankreich, in: Rainer Hudemann, Burkhard Jellonnek, Bernd Rauls (Hg.), Grenz-Fall. Das Saarland zwischen Frankreich und Deutschland 1945–1960, St. Ingbert 1997, S. 427–443. Rémi Badoui, Französische Wiederaufbaupolitik an der Saar, oder: Funktionalismus als politische Doktrin, in: ibid., S. 279–291. Wilfried Loth, Der saarländische Sonderweg im Licht der neueren Forschung, in: ibid., S. 81–95. Ibid., S. 82f. Lefèvre, Das Saarland und die Wirtschaftsunion, S. 428. Johannes Schäfer, Das autonome Saarland. Demokratie im Saarstaat 1945–1957, St. Ingbert 2012, S. 57. Ibid., S. 58.

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1. Die soziale Situation algerischer Migranten

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Löhne und Sozialabgaben im Saarland wurden an die französischen Standards weitgehend angeglichen235 . Selbst die Bestimmungen des Postwegs zwischen der Metropole, Korsika, Marokko, Algerien, Tunesien und dem Saarland wurden vereinheitlicht236 . Rein formal erhielt das Saarland eine unabhängige Regierung, die tatsächlich jedoch unter der Aufsicht Frankreichs stand. Die in ihren zentralen Punkten von Paris aus diktierte Verfassung des Saarlands sah unter anderem vor, dass Frankreich die Außenbeziehungen und die Verteidigung im Kriegsfall übernahm und sich das Stationierungsrecht seiner Truppen sicherte237 . Faktisch nahm das Saarland damit den Charakter eines französischen Protektorats an. Dies illustrieren neben der Verfassung und der Innen- und Kulturpolitik der Regierung des von 1947 bis 1955 amtierenden Ministerpräsidenten Johannes Hoffmann vor allem die Präsenz und der starke Einfluss eines Hohen Kommissars der französischen Regierung und dessen Stab238 . Die Kontrollen der französisch-saarländischen Grenze waren äußerst lax und um das Jahr 1950 über weite Strecken sogar inexistent239 . Seit 1948 mussten Angehörige beider Länder weder unternehmerische noch private Transporte von Gütern oder Personen zwischen Frankreich und dem Saarland anmelden oder genehmigen lassen240 . Damit erschien die Grenze als geradezu bedeutungslos. Die fast ausschließliche Konzentration sowohl französischen als auch saarländischen Grenzpersonals an den Grenzen zu Luxemburg und zur Bundesrepublik ging so weit, dass eine Trennung zwischen Frankreich und dem Saarland zeitweise aufgehoben zu sein schien. Der Hohe Kommissar Gilbert Grandval kritisierte, dass in dieser Lage bei den Alliierten Zweifel bezüglich der Eigenständigkeit des Saarlands aufkommen könnten. Dem Ärger Grandvals zum Trotz stellte das französische Innenministerium im September 1949 jedoch lediglich 47 Inspektoren der RG 235 236

237

238 239

240

Isabelle Lavinia-Munerez, La frontière et ses effets dans l’espace Lorraine-Sarre. Diss. Univ. Metz (1991), S. 118. Abkommen der Regierung des Saarlandes und der Regierung der Französischen Republik über die Durchführung des Post-, Telegraphen- und Fernsprechdienstes, 4. Okt. 1948, Titel 1 A, Art. 1, LAS, Mf W 786. Rainer Möhler, Bevölkerungspolitik und Ausweisungen nach 1945 an der Saar, in: Hudemann, Jellonnek, Rauls (Hg.), Grenz-Fall, S. 379–400, hier S. 383–386; siehe auch Schäfer, Das autonome Saarland, S. 64f. Vgl. ausführlich dazu ibid.; Armin Heinen, Saarjahre. Politik und Wirtschaft im Saarland, 1945–1955, Stuttgart 1996. Zur Geschichte der saarländisch-französischen Grenze siehe die beiden Überblicksstudien: Lavinia-Munerez, La frontière et ses effets; Christian Wille, Grenzgänger und Räume der Grenze. Raumkonstruktionen in der Großregion SaarLorLux, Frankfurt a. M. 2012. Abkommen der Regierung des Saarlandes und der Regierung der Französischen Republik über die Regelung der französisch-saarländischen Straßentransporte, 4. Okt. 1948, Kap. II, Art. 3, LAS, Mf W 786.

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I. Algerische Migranten im lothringischen Grenzgebiet

zur Überwachung des französisch-saarländischen Grenzstreifens bereit241 . Währenddessen beriet die Regierung in Saarbrücken darüber, ihrerseits den Grenzverkehr mit einem Kontingent von 50 Gendarmen zu kontrollieren242 . 1950 wurden allein die Grenzübergänge bei Forbach und Sarreguemines von der saarländischen Gendarmerie kontinuierlich überwacht. Jenseits davon konnte die Grenze entweder zu Fuß oder mit einem anderen Transportmittel nach Belieben überquert werden243 . Die Durchlässigkeit der Grenze und die Einbindung des Saarlands in den französischen Wirtschaftsraum machten sich zahlreiche Arbeitsmigranten zu Nutze. In der Kontinuität eines Trends, der sich bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts abgezeichnet hatte, pendelten bis in die 1960er Jahre hinein vor allem Saarländer regelmäßig zur Arbeitssuche in das Departement Moselle244 . Gleichzeitig begaben sich in den Jahren unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg auch französische Staatsbürger zur Arbeitssuche ins Saarland; darunter waren auch Algerier. 1.4.2 Elemente einer Sozialstruktur Der neue Status des Saarlands ging einher mit einem starken Zuwachs der französischen Präsenz vor Ort. Während am Ende des Zweiten Weltkriegs lediglich 3228 Franzosen im Saarland registriert waren, betrug ihre Zahl im Juni 241 242 243 244

Le ministre des Affaires étrangères à monsieur le ministre des Finances, direction du budget, 2e Bureau, 20. Okt. 1949, AMAE, Z Europe, Série 27–3–3. Procès-verbal de la conférence du 15 septembre 1949 tenue au cabinet de monsieur le directeur des services du contrôle, S. 7, ibid. Gilbert Grandval, haut commissaire de la République française en Sarre à monsieur le président du gouvernement de la Sarre, 5. Apr. 1950, S. 3, ibid. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verliefen die Ströme der Grenzarbeiter vor allem aus dem Saarland in Richtung Lothringen, wo die Gruben von Petite-Roselle zahlreiche Arbeitsplätze schufen. Dieser Trend verstärkte sich noch nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, so dass 1921 in Lothringen 5600 saarländische Grenzarbeiter registriert wurden. In den Jahren 1935–1938 brachen die Zahlen ein und zogen erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs langsam wieder an. Bis 1958 pendelte die Zahl der saarländischen Grenzarbeiter in Lothringen zwischen 2500 und 4000. Die Krise der lothringischen Kohleindustrie 1958/1959 markierte erneut einen deutlichen Rückgang der saarländischen Grenzarbeiter um 30 %. Die Bedeutung der saarländischen Pendler wurde auch in dem deutsch-französischen Abkommen über das Saarland von 1957 berücksichtigt. Eine Klausel sah vor, dass Saarländer, die vor dem 1. Januar 1957 in Moselle eine feste Anstellung hatten, eine lebenslange Genehmigung für den regelmäßigen Grenzübergang bekommen konnten. Gleiches galt auch für die Franzosen in jenem Grenzgebiet. Allerdings beantragten lediglich 91 Mosellaner eine solche Genehmigung gegenüber 2349 Saarländern. Das Übergewicht der saarländischen Tagespendler, die in Moselle arbeiteten, verschob sich zu Beginn der 1960er Jahre allmählich zugunsten der französischen Seite, als die saarländische Wirtschaft einen bedeutenden Aufschwung erlebte und als Arbeitsmarkt zunehmend attraktiv wurde: Lavinia-Munerez, La frontière et ses effets, S. 396–399.

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1. Die soziale Situation algerischer Migranten

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1950 bereits 12 285245 . Wie hoch der Anteil der Algerier darunter war, ist ungewiss. Aufgrund ihrer Eigenschaft als französische Staatsbürger wurden sie in den Statistiken der zuständigen Behörden nicht separat aufgeführt. Abgesehen von vereinzelten Hinweisen, die die Anwesenheit algerischer Migranten im Saarland der Nachkriegszeit spätestens ab dem Jahr 1946 belegen246 , sind die »muslimischen Franzosen Algeriens« im Saarland aufgrund der Quellenlage auch für den Historiker weitgehend unsichtbar. Schätzungen zu ihrer Zahl wurden erst angestellt, nachdem Algerier von der saarländischen Polizei als Gruppe mit besonderem Hang zur Kriminalität identifiziert wurden und als eine französische Wohlfahrtsorganisation für »Nordafrikaner« ihre Aktivitäten auch auf das Saarland ausweiten wollte. Die Zahl algerischer Migranten im Saarland zwischen 1945 und dem Ende des Jahres 1954 kann aufgrund der Quellenlage nur grob geschätzt werden. Hierzu liegen drei Hinweise vor: Im März 1953 trat die Veteranenorganisation Comité des amitiés africaines (CAA) mit der Bitte an das französische Außenministerium heran, ihre Integrationsmaßnahmen für »Nordafrikaner« in der Metropole auch den etwa 300 im Saarland lebenden »Nordafrikanern« anbieten zu dürfen247 . Diese Schätzung kommt den Angaben der später vor Ort tätigen Sozialarbeiterin Berthelot relativ nahe. Diese ging 1955 davon aus, dass im Saarland rund 400 »Nordafrikaner« ansässig seien. Hinzu kamen noch etwa 100 arbeits- und obdachlose »Nordafrikaner« sowie 300, die ihren Wohnsitz in Lothringen hatten und täglich ins Saarland zur Arbeit pendelten248 . Auch der französische Botschafter und ehemalige Hohe Kommissar im Saarland Gilbert Grandval vermutete, dass ein hoher Anteil der Algerier, die sich im Saarland aufhielten, Pendler mit Wohnsitz in Frankreich waren. Während das saarländische Innenministerium im März 1953 lediglich fünf Algerier offiziell registriert hatte, schätzte dagegen Grandval, dass etwa 2000 »Nordafrikaner« im Saarland arbeiteten249 .

245

246

247 248 249

Davon waren 4208 Beamte oder in staatlichen Unternehmen Angestellte: Consul de France à Sarrebruck à son Excellence monsieur le ministre des Affaires étrangères, direction de l’Europe, sous-direction de la Sarre, 29. Juni 1950, AMAE, Z Europe, Sarre, Série 27–15–1. Der früheste Nachweis algerischer Präsenz an der Saar, der hier angeführt werden kann, ist die Verhaftung von zwei Algeriern in Hemmersdorf am 30. April 1946, die den zuständigen Gendarmen aber keinen Anlass zu besonderen Ausführungen gab: L’adjudant Verrière, commandant de la brigade de Saarlouis, au lieutenant commandant la section de Saarelouis, 29. Mai 1946, SHAT 2007 ZM 1/209 684. Le ministre des Affaires étrangères à monsieur l’ambassadeur, chef de la mission diplomatique en Sarre, 19. März 1953, AMAE, Z Europe, Sarre, Série 27–15–1. S. Berthelot, Travailleurs nord-africains en Sarre et action sociale, in: ESNA 48 (1955), S. 1–4. Gilbert Grandval, ambassadeur de France, chef de la mission diplomatique française en Sarre à Son Excellence M. le ministre des Affaires étrangères, direction de l’Europe, sous-direction de la Sarre, 31. März 1953, AMAE, Z Europe, Sarre, Série 27–15–1.

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I. Algerische Migranten im lothringischen Grenzgebiet

Die zwischen 1953 und 1955 geäußerten Schätzungen des CAA, Berthelots und Grandvals über die Menge der Algerier im Saarland lassen aufgrund ihrer Differenzen keine genauen Aussagen über deren Sozialstruktur zu. Dennoch liefern sie diesbezüglich zumindest ein paar Elemente: Die von Grandval angeführten Zahl von 2000 »Nordafrikanern«, die sich 1953 täglich im Saarland aufhalten würden, erscheint nicht nur im Hinblick auf die beiden anderen Schätzungen als übertrieben. Die Angabe ist auch insofern als eher unrealistisch einzustufen, als sie im Verhältnis zur Gesamtzahl der im Saarland erfassten Franzosen außerordentlich hoch erscheint. Angenommen, bei der oben zitierten Erhebung von 1950 unter den von den saarländischen Behörden erfassten Franzosen wäre kein einziger Algerier gewesen und der Wert hätte sich bis 1953 nicht drastisch verändert: Die Anzahl der »muslimischen Franzosen« gegenüber den »europäischen Franzosen« im Saarland stünde in einem Verhältnis von etwa 1 zu 6. Dieser enorme Wert erscheint nicht unmöglich, aber doch sehr unwahrscheinlich. Mit Blick auf ihre intensive Beschäftigung mit Algeriern vor Ort muten die Angaben der Sozialarbeiterin Berthelot am realistischsten an. Somit ist davon auszugehen, dass die Zahl der im Saarland lebenden und arbeitenden Algerier um 1955 knapp unter 1000 gelegen hat. Es kann außerdem mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass Algerier im Saarland eine hohe Mobilität an den Tag legten. Dies legen nicht nur die Befunde Grandvals und Berthelots, sondern auch das allgemeine Wanderungsverhalten der algerischen Migration im ersten Jahrzehnt der Nachkriegszeit nahe. Die drei zeitgenössischen Schätzungen lassen darauf schließen, dass trotz der hohen Durchlässigkeit der Grenze sehr viel weniger Algerier im Saarland lebten und arbeiteten als im unmittelbar angrenzenden Departement Moselle. Es liegt nahe, diese Differenz mit eventuellen Sprachproblemen der Migranten250 und der strukturierenden Wirkung der Kettenmigration zu erklären. Darüber hinaus dürften aber auch einige besondere rechtliche Regelungen des Saarstaats eine Bedeutung gehabt haben. Französische Staatsangehörige, die im Saarland unselbstständig berufstätig werden wollten, mussten zwar keinerlei Aufenthalts- oder Arbeitserlaubnis beantragen251 . Sie waren seit 1950 jedoch dazu verpflichtet, sich einen Immatrikulationsausweis des fran-

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Dieser Faktor ist insofern zu relativieren, als viele Saarländer in dieser Zeit noch sehr von Frankreich geprägt waren und die französische Sprache beherrschten. Ferner ist zu beachten, dass die Konfrontation mit einer unbekannten Sprache für einen hohen Anteil der Algerier in dieser Zeit bereits mit der Ankunft in Frankreich begann. So konnten einige der Algerier, die zu Beginn der 1950er Jahre im Saarland lebten, zwar Deutsch, aber kein Französisch sprechen: Berthelot, Travailleurs nord-africains. Siehe Titel V, Art. 33 der Saarkonvention, 3. März 1950, http://www.cvce.eu/de/obj/die_ saarkonventionen_paris_3_marz_1950-de-45a9f16d-8f25-4511-b474-03d79579b7ca. html (Zugriff 20.6.2019).

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1. Die soziale Situation algerischer Migranten

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zösischen Konsulats im Saarland als Ausweispapier zu verschaffen252 . Für französische Staatsbürger sollte diese Vorschrift auch nach dem sogenannten Gesetz zum Schutz des saarländischen Arbeitsmarkts von 1951 weiterhin Bestand haben. Diese neue Regelung war in erster Linie eine Maßnahme der Hoffmann-Regierung, die in Form einer Demonstration der Eigenständigkeit gegenüber Frankreich die dauerhafte Trennung des Saarstaats von der Bundesrepublik zementieren sollte253 . Für algerische Migranten, die den Kontakt zu staatlichen Behörden in der Regel vermieden, stellte diese Vorschrift durchaus ein Hemmnis für die Reise ins Saarland dar. Eine weitere Schwierigkeit für Algerier im Saarland konnte sich aus der Vorgabe ergeben, dass französische Arbeiter dort nur dann Anspruch auf Familienzuzahlungen hatten, wenn auch ihre Familien im Saarland lebten254 . In der Metropole sah das geltende Arbeitsrecht reduzierte Zuzahlungen für Arbeiter vor, deren Familien in Algerien lebten. Legal beschäftige Algerier mit Familie in Algerien waren daher mit der Situation konfrontiert, in jedem Fall den vollen Beitragssatz an die Sozialkassen leisten zu müssen. Während sie auf dem Territorium der Metropole nur einen Teil der daraus finanzierten Leistungen beziehen konnten, waren sie im Saarland davon vollständig ausgeschlossen. Ein anderer Grund für die relativ geringe Präsenz algerischer Migranten im Saarland war zweifellos die Angebotslage auf dem Arbeitsmarkt. Nach den Beobachtungen Berthelots waren Algerier an der Saar im Vergleich zum Departement Moselle nicht nur zu einem großen Anteil, sondern fast ausschließlich im Bausektor tätig255 . Dabei konkurrierten sie um diese oft prekären Arbeitsstellen wie auch in Frankreich insbesondere mit italienischen Arbeitsmigranten, die im Saarland anders als in Frankreich gegenüber Algeriern rechtlich meist besser gestellt waren. Seit dem italienisch-saarländischen Migrationsabkommen von 1949 vermittelten französische Rekrutierungsstellen in Italien auch Arbeiter ins Saarland. Die Situation der italienischen Arbeiter war insofern privilegiert, als sie die gleichen Sozialleistungen wie Saarländer bezogen; die Verluste, die ihnen beim Umtausch ihres Lohns in Lira entstanden, wurden ausgeglichen256 . Anders als Algerier zählten italienische Arbeiter im Saarland um 1950 zu den tendenziell erwünschten

252 253

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Siehe Anlage IV, Liste der Unterlagen über den Nachweis des Aufenthalts gemäß Art. 4 der Saarkonvention, 3. März 1950, ibid. Herbert Elzer, Die deutsche Wiedervereinigung an der Saar. Das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen und das Netzwerk der prodeutschen Opposition 1949 bis 1955, St. Ingbert 2007, S. 763f. Berthelot, Travailleurs nord-africains. Ibid. Auch das LKA des Saarlands konstatierte 1953, dass algerische Migranten vor allem auf Großbaustellen arbeiteten: Polizeiliche Kriminalstatistik 1953, S. 44f., LAS, LKA 10. Accord entre la Sarre et l’Italie relatif à l’immigration en Sarre de travailleurs italiens, signé à Paris, 18. Mai 1949, AMAE, Z Europe, Sarre, Série 27–15–2.

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I. Algerische Migranten im lothringischen Grenzgebiet

Migranten257 , die vorwiegend für jene Arbeitsplätze im Bausektor rekrutiert wurden, um die auch die Algerier sich bewarben258 . Der hohe Bedarf an Arbeitskräften im Saarland, die enorme Verbreitung von Schwarzarbeit und die Durchlässigkeit der Grenze zu Frankreich hätten den saarländischen Arbeitsmarkt für Algerier um 1950 auf den ersten Blick als verlockende Alternative zu Frankreich erscheinen lassen können. Tatsächlich war die Bandbreite der möglichen Beschäftigungen für Algerier an der Saar jedoch deutlich geringer als in Lothringen und beinahe ausschließlich auf die meist prekäre Arbeit im Bausektor beschränkt. Zudem mussten sich algerische Migranten, die im Saarland auf Arbeitssuche gingen, beim französischen Konsulat immatrikulieren. Wie Gilbert Grandval berichtete, mieden Algerier jedoch den Kontakt zu Behörden und lebten sehr zurückgezogen, unter anderem aus Furcht, abgeschoben zu werden259 . Dass derartige Befürchtungen durchaus berechtigt waren, zeigen die Aktivitäten der saarländischen Polizei gegenüber Algeriern. 1.4.3 »Nordafrikaner« als Sicherheitsund Gesundheitsrisiko Am 23. Oktober 1955 votierte eine Mehrheit der saarländischen Stimmberechtigten in einem Referendum gegen das Vorhaben der Regierung Hoffmann, dem Saarland einen neuen politischen Status zu geben. Für alle Beobachter war der Ausgang der Abstimmung ein klarer Erfolg der Anhänger einer Anbindung des Saarlands an die Bundesrepublik, der dann auch eine entsprechende politische Entwicklung einleitete. Vor jenem Referendum waren die starke Bindung an Frankreich, die Abgrenzung gegenüber der Bundesrepublik sowie die politische Unterdrückung der prodeutschen Opposition essenzielle Markenzeichen des Saarstaats gewesen.

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Das Migrationsabkommen zwischen dem Saarland und Italien war vor allem aufgrund des besonderen Bestrebens in Saarbrücken zustande gekommen, den Bedarf an Arbeitskräften im Bausektor möglichst unabhängig von bundesdeutschen Arbeitern zu decken: Le ministre des Affaires étrangères à monsieur le ministre du Travail et de la Sécurité sociale, 5. Okt. 1949, ibid. Nachdem die algerische Migration Berthelot zufolge im Laufe des Jahres 1951 erstmals deutlich zugenommen hatte, warb die saarländische Regierung zum Ende des gleichen Jahres 30 000 italienische Arbeiter an, die ausschließlich im Bausektor eingesetzt werden sollten: Berthelot, Travailleurs nord-africains; Ministère des Affaires étrangères, direction générale des affaires politiques, Europe, sous-direction d’Europe centrale, 5. Jan. 1952: Mise en vigueur d’une loi d’exception sarroise dirigée contre les allemands, AMAE, Z Europe, Sarre, Série 27–15–2. Gilbert Grandval, ambassadeur de France, chef de la mission diplomatique française en Sarre à Son Excellence M. le ministre des Affaires étrangères, direction de l’Europe, sous-direction de la Sarre, 31. März 1953, ibid.

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1. Die soziale Situation algerischer Migranten

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Die Politik der zunehmenden Distanzierung gegenüber der Bundesrepublik traf im Saarland vielfach auf Widerstand, woraus insbesondere dem von Edgar Hector geleiteten Innenministerium eine beachtliche Machtfülle erwuchs260 . Immer wieder wurden Demonstrationen aufgelöst, Regimegegner und Journalisten wurden ausgewiesen, Flugblätter beschlagnahmt, Druckereien geschlossen und Hausdurchsuchungen durchgeführt261 . Der fünfte Paragraph des Gesetzes über den Aufenthalt im Saarland vom 29. Juli 1948 gab den Behörden bei der Abschiebung von Ausländern einen großen Handlungsspielraum. Sie konnten Aufenthaltsverbote schon aufgrund eines nicht weiter präzisierten Sachverhalts verhängen, »wenn öffentliche Belange es erfordern«262 . Die Wahrnehmung einer Bedrohung durch prodeutsche Aktivisten, die Präsenz einiger Tausend Pendler aus der Pfalz, der Sonderstatus französischer Staatsbürger sowie die Existenz zweier verschiedener saarländischer Ausweise gaben Fragen nationaler Zugehörigkeit im Saarland eine besondere Brisanz. Dennoch zeigt die Geschichte der Algerier im Saarland, dass das politisch sensible Raster nationaler Zugehörigkeiten bereits vor dem Referendum 1955 von den Fremdwahrnehmungen saarländischer Behörden einfach durchbrochen werden konnte. In vielen Fällen wurden Algerier dem Kollektiv »Nordafrikaner« zugeordnet und erschienen somit nicht als Franzosen, sondern als gewöhnliche Ausländer. Bereits seit 1950 fanden sich in der saarländischen Presse mehrfach Artikel, die die Präsenz von Algeriern beziehungsweise »Nordafrikanern« im Saarland beklagten und dabei sowohl rassistische als auch antifranzösische Töne anschlugen263 . Als die Anzahl der Algerier an der Saar in den beiden folgenden Jahren weiter zunahm264 , gerieten diese schnell in den Fokus der saarländischen Polizei, die in ihnen eine Gruppe mit besonderem Hang zur 260

261 262 263 264

Alexis Andres, Edgar Hector und die Saarfrage 1947–1957, in: Hudemann, Jellonnek, Rauls (Hg.), Grenz-Fall, S. 163–176. Eine vertiefende Studie über die Geschichte des saarländischen Innenministeriums zwischen 1947 und 1955 wurde bis heute nicht vorgelegt. Eine solche Arbeit wäre allein schon im Hinblick auf die nach wie vor umstrittene politische Bewertung der Regierungszeit Johannes Hoffmanns im Saarland wünschenswert. Ein umfassender Nachlass Edgar Hectors wurde durch den Historiker Wilfried Busemann abfotografiert und mitsamt eines Verfilmungsprotokolls in über 80 Archivkartons im LAS hinterlegt. Hinsichtlich der Geschichte der Algerier im Saarland ließe sich durch eine detaillierte Auswertung dieses Bestands evtl. die Frage klären, inwiefern und über welche Kanäle koloniales Wissen über Algerier von Frankreich aus an die Saar transferiert wurde. Dass dies der Fall war, legt allein schon die häufig wiederkehrende diskriminierende Bezeichnung »Nordafrikaner« nahe. [O. V.], Bezahlt ist bezahlt, in: Der Spiegel, 26. Nov. 1952. Möhler, Bevölkerungspolitik und Ausweisungen nach 1945, S. 386. Wilfried Busemann, Den eigenen Weg gehen. Die Selbstfindung der Sozialdemokratie an der Saar 1945 bis 1968, St. Ingbert 2013, S. 392. Die Sozialarbeiterin Berthelot ging davon aus, dass der erste signifikante Anstieg der Präsenz von Algeriern im Saarland auf das Jahr 1951 zu datieren sei: Berthelot, Travailleurs nord-africains.

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I. Algerische Migranten im lothringischen Grenzgebiet

Kriminalität zu erkennen glaubte265 . Als einzige Gruppe unter den kriminell gewordenen Nicht-Saarländern hob der Jahresbericht des saarländischen Landeskriminalamts von 1953 explizit »Nordafrikaner« hervor und zählte diese zu den am häufigsten straffällig gewordenen Ausländern im Saarland. Besonders mit Blick auf die mehrfachen Einbrüche von »Nordafrikanern« in Baubuden gingen die Behörden davon aus, »daß für eine große Anzahl der im Jahre 1953 begangenen einfachen und schweren Diebstähle Nordafrikaner in Frage kommen«266 . Auch der darauffolgende Jahresbericht des Landeskriminalamts wies außer auf die Delikte italienischer Migranten auf die besonders häufige Straffälligkeit von »Nordafrikanern« im Saarland hin, die vor allem durch Diebstahl und Körperverletzungsdelikte auffielen267 . Der Bericht des Landeskriminalamts, in dem die vage Kollektivbezeichnung »Nordafrikaner« nicht weiter aufgeschlüsselt wurde, liefert bereits einen ersten Hinweis bezüglich der Missachtung der Rechte der Algerier auf höchster Polizeiebene im Saarland. Dass es sich zumindest bei einem Teil der als »Nordafrikaner« etikettierten Personen um Algerier handelte, die die Saarkonvention von 1950 explizit als »französische Staatsangehörige und Gleichgestellte« bezeichnete268 , wurde weder in den Statistiken des Landeskriminalamts beachtet noch in der Praxis der saarländischen Polizei. Letzteres wird vor allem anhand mehrerer Abschiebungen von Algeriern nach Frankreich deutlich. Die in Saarlouis stationierten französischen Gendarmen, die derartige Fälle dokumentierten, empörten sich zwar über Ausweisungen von Algeriern, die sie als Nachweis für den Fremdenhass der örtlichen Behörden darstellten269 , allerdings zeigten auch sie den illegalen Charakter dieser Ausweisungen nicht an. Bis 1955 besaß allein die französische Vertretung an der Saar die Befugnis, französische Staatsbürger aus dem Saarland auszuweisen270 .

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270

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden im Saarland ab 1951 Jahresberichte über begangene Strafdelikte erstellt. Der Bericht für das Jahr 1952 fehlt im LAS. Polizeiliche Kriminalstatistik 1953, S. 44f., LAS, LKA 10. Ibid. 1954, LAS, LKA 11. Siehe dazu: Anlage II der Saarkonvention, 3. März 1950, http://www.cvce.eu/de/obj/die_ saarkonventionen_paris_3_marz_1950-de-45a9f16d-8f25-4511-b474-03d79579b7ca. html (Zugriff 20.6.2019). Siehe etwa den Fall der drei Algerier Abdelli Mohand Arezki, Sekrion Mohand Ouamar und Hidjar Achour, die am 9. April 1952 nach Frankreich abgeschoben wurden: Rapport du maréchal des logis-chef Henriet, commandant de la brigade de gendarmerie de Sarrelouis sur l’état d’esprit de la population, 30. Apr. 1952, SHAT 2007 ZM 1/209 684. Ein weiteres Beispiel ist die Ausweisung von Ourahmoune Saadi und Benrabah Mohamed: ibid., 30. Juni 1952. Möhler, Bevölkerungspolitik und Ausweisungen nach 1945, S. 391 mit Anm. 44. Die Paragrafen 12 und 13 des Gesetzes über den Aufenthalt im Saarland legten eine Ausnahmeregelung für Franzosen fest. In der Frage der Aufenthaltsgenehmigung galten sie im Saarland nicht als Ausländer, siehe ibid., S. 386 mit Anm. 28.

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1. Die soziale Situation algerischer Migranten

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Im Zusammenhang mit ihren oftmals prekären Existenzbedingungen – und vermutlich auch als Folge kolonialer Stigmatisierung – galten Algerier im Saarland einigen Behörden nicht nur als Bedrohung der Sicherheit, sondern auch als akutes Gesundheitsrisiko. Dies verdeutlicht eine Anordnung des saarländischen Innenministers vom 30. Oktober 1953. Darin wurden alle Polizeistellen und die Gendarmerie auf die »unhaltbaren Zustände in den Gemeinschaftsunterkünften der Fremdarbeiter im Stadtgebiet« aufmerksam gemacht, deren Kontrollen massiv ausgeweitet werden sollten. Als besonders alarmierend galt dem Innenministerium nicht nur, dass angeblich »mindestens 95 Prozent aller hier beschäftigten Afrikaner (Marokkaner, Algerier, Tunesier) nicht im Besitze der Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis für das Saarland« waren, sondern auch, dass das Gesundheitsamt Saarbrücken-Stadt mehrere dieser Arbeiter positiv auf Syphilis getestet hatte271 . Angesichts derartiger Anordnungen vonseiten des Innenministeriums muss die im Vergleich zu Moselle deutlich geringere Präsenz von Algeriern im Saarland auch vor dem Hintergrund teilweise illegaler Diskriminierungen durch die saarländischen Behörden gesehen werden. Das unbeschränkte Arbeits- und Aufenthaltsrecht, das sie als französische Staatsbürger im Saarland nach der damaligen Rechtslage offiziell hatten, wurde systematisch in Frage gestellt beziehungsweise unterschlagen. Spätestens seit 1953 standen Algerier unter besonderer polizeilicher Beobachtung, die durch die saarländischen Behörden mit einer besonderen Anfälligkeit für Kriminalität und Krankheiten gerechtfertigt wurde. 1.4.4 Die soziale Unterstützung für Algerier im Saarland seit 1953 Auf der Grundlage des aktuellen Kenntnisstands über die Geschichte der saarländischen Polizei scheint es, als habe diese in ihrer Alltagspraxis zwischen Algeriern und anderen Migrantengruppen keinen signifikanten Unterschied gemacht. »Nordafrikaner« wurden ebenso wie Italiener vonseiten der Behörden, aber auch der Presse als Problemfaktoren wahrgenommen und in ihren jeweiligen Berichten entsprechend dargestellt272 . Ein spezifisch kolonial inspiriertes Labeling algerischer Migranten im Saarland der Nachkriegszeit fällt erst mit Blick auf die Durchführung einer explizit für »Nordafrikaner« konzipierten Sozialarbeit ins Auge. Schon bevor das CAA im März 1953 271

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Regierung des Saarlandes, Ministerium des Innern an das Kommando der Landespolizei, Kommando der Gendarmerie, Landeskriminalpolizei, den 30. Oktober 1953, LAS, LKA 112. Judith Hayer, Die Wahrnehmung der italienischen »Gastarbeiter« in der saarländischen Presse von den 1950ern bis in die 1970er Jahre, in: Clemens Zimmermann (Hg.), Medienlandschaft Saar von 1945 bis in die Gegenwart, Bd. 3. Mediale Inhalte, Programme und Region (1955–2005), München 2010, S. 273–296.

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I. Algerische Migranten im lothringischen Grenzgebiet

beantragte, soziale Unterstützung für im Saarland lebende Veteranen aus Nordafrika leisten zu dürfen273 , hatte Gilbert Grandval bereits eine ähnliche Initiative auf den Weg gebracht. In Absprache mit der Präfektur von Moselle hatte der französische Botschafter bereits eine Repräsentantin der Canam damit beauftragt, die Lebensumstände und die Probleme der »Nordafrikaner« im Saarland zu erfassen, um eine adäquate soziale Unterstützung vorzubereiten274 . Die Canam und das CAA kooperierten zu diesem Zeitpunkt bereits in mehreren Departements der Metropole, sodass die französische Regierung auch hier eine Kooperation vorschlug und den Vorstoß der Veteranenorganisation einhellig begrüßte275 . Das Vorhaben wurde in Kooperation mit der Präfektur von Moselle weiter vorangetrieben und nahm mit der Finanzierung durch das französische Innenministerium schließlich die Form einer Ausdehnung der bereits in Lothringen existierenden Unterstützungsleistungen für »Nordafrikaner« an276 . Dem stimmten im Juli 1953 auch das saarländische Innen- und das Arbeitsministerium zu277 . In der Folge begab sich die in Metz tätige Sozialarbeiterin der Canam, Berthelot, in regelmäßigen Abständen nach Saarbrücken und bot in den Räumlichkeiten des Comité des œuvres de la mission diplomatique en Sarre »Nordafrikanern« bei der Beantragung von Arbeits- und Aufenthaltserlaubnissen und vor allem der Arbeitssuche ihre Unterstützung an. Zu diesem Zweck nahm Berthelot bis 1955 mit 35 saarländischen Arbeitgebern Kontakt auf. Dabei versuchte die Vertreterin der Canam nach eigenen Angaben einerseits, Interesse für »nordafrikanisches Personal« zu wecken. Andererseits wies sie auch auf die Besonderheiten der »nordafrikanischen Psychologie« und Bräuche hin278 . Angesichts des allgemeinen Wohnraummangels und der widrigen Arbeitsund Wohnbedingungen vieler Hilfsarbeiter im Saarbrücker Raum279 konn273 274

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Le ministre des Affaires étrangères à monsieur l’ambassadeur, chef de la mission diplomatique en Sarre, 19. März 1953, AMAE, Z Europe, Sarre, Série 27–15–1. Gilbert Grandval, ambassadeur de France, chef de la mission diplomatique française en Sarre à Son Excellence M. le ministre de Affaires étrangères, direction d’Europe, sousdirection de la Sarre, 31. März 1953, ibid. Am 9. April 1953 unterrichtete das französische Außenministerium den Präsidenten der CAA, dass es die Gründung eines Wohnheims für ehemalige »nordafrikanische Soldaten« im Saarland befürwortete: Ministère des Affaires étrangères, signé S. Maillard, au général Perier, président du Comité des amitiés africaines, 9. Apr. 1953, ibid. Le ministre de l’Intérieur à monsieur le ministre des Affaires étrangères, direction des affaires administratives & aociales, Service des conventions administratives & sociales, 30. Apr. 1953, ibid. Gilbert Grandval, ambassadeur de France, chef de la mission diplomatique française en Sarre à Son Excellence M. le ministre des Affaires étrangères, direction d’Europe, sousdirection de la Sarre, 30. Juli 1953, ibid. Berthelot, Travailleurs nord-africains. Viele Arbeiter waren in behelfsmäßigen Baracken untergebracht, die schlecht isoliert waren, der Wind pfiff durch, und neben einem Strohsack als Nachtlager gab es keinerlei Möglichkeit zum Aufbewahren von Kleidungsstücken und Lebensmitteln, so wie in

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1. Die soziale Situation algerischer Migranten

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ten die Unterstützungsangebote französischer Sozialarbeiter im Saarland einigen Algeriern durchaus zugutekommen. Die Kehrseite dieses Engagements lag jedoch in der Verbreitung einer kolonialistisch geprägten Kategorisierung von »Nordafrikanern« über die französische Grenze hinweg. Dies zeigen außer dem Bericht Berthelots über ihre eigenen Aktivitäten im Saarland auch die Ziele der beiden wichtigsten Träger dieser Aktion. Das unter der Patronage des algerischen Generalgouverneurs und der beiden Generalresidenten in Marokko und Tunesien stehende CAA war der französischen Herrschaft über Nordafrika fest verpflichtet280 . Sie verfolgte offiziell das Ziel, »nordafrikanischen Soldaten« nach deren treuen Diensten für das Mutterland bei ihrer Integration zu helfen und leistete dabei der Verbreitung des Stereotyps des desorientierten und rückständigen Arabers Vorschub281 . Die Canam nahm eine ähnliche politische beziehungsweise kolonialistische Position ein wie die CAA und war zwei grundlegenden Zielen verpflichtet: der Unterstützung der Integration »nordafrikanischer Migranten« in der Metropole und dem Erhalt des kolonialen Status quo. Jede Form politischer oder religiöser Diskussion innerhalb der Organisation war prinzipiell untersagt282 , sodass weder die Ziele oder die Motive der Canam und auch nicht die anleitenden Personen selbst in Frage gestellt werden konnten. Die Satzung offenbart, dass die Canam im Grunde eine verdeckte Regierungsorganisation war. Mindestens ein Drittel des Aufsichtsrats musste mit Ministern besetzt sein. Den Jahreshaushalt von rund 21 Millionen Franc stellten fast ausschließlich das Innenministerium und das Generalgouvernement in Algerien283 . Ohne die Unterstützung der französischen Regierung war die Canam de facto handlungsunfähig. Der staatliche Umgang mit algerischen Migranten im Saarland vor 1954 weist zwei deutliche Parallelen zu Frankreich auf. Erstens: Es gab überdurch-

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einer Baracke der Firma Helmedag & Becker in Güdingen, in der italienische Hilfsarbeiter untergebracht waren. Bericht des staatlichen Gesundheitsamts Saarbrücken-Land, 9. Dez. 1953, LAS, LKA 112. Das Logo der Organisation war ein Fahnenmast, der über eine Landkarte ragte. Sie stellte Frankreich und den als Einheit mit weißen Strichen umrahmten Maghreb dar. An der Spitze des Mastes war die französische Flagge abgebildet. Etwa auf halber Höhe wehten die marokkanische und die tunesische Flagge. Mit einem Jahresbudget von über 100 Millionen Franc war das Komitee an 73 Standorten in Algerien, 41 in Tunesien, 31 in Marokko und 14 in der Metropole aktiv: Comité des amitiés africaines, AMAE, Z Europe, Sarre, Série 27–15–1. »Alle, die sie [ehemalige nordafrikanische Soldaten] in ihren Werkstätten oder auf ihren Baustellen arbeiten lassen, sollen wissen, dass wir existieren und uns dieser neuen Arbeiter moralisch, sozial und materiell annehmen können, da diese fernab ihrer Heimat häufig auf vielerlei Probleme stoßen«, Comité des amitiés africaines, monsieur Armand Guillon, président du conseil d’administration, o. D., ibid. Canam (comité Louis-Morard): Assemblée générale du mercredi, 7. Juli 1954, S. 25, Bibliothèque de l’université de la Nouvelle-Calédonie L 576. Ibid. S. 4–5.

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schnittlich viele polizeiliche Kontrollen und Diskriminierungen von Algeriern. Diese erfolgten nicht im Auftrag von Paris, sondern wurden teilweise unter Missachtung der Abkommen mit Frankreich auf saarländische Initiativen hin durchgeführt. Zweitens: Die Annahme, dass »Nordafrikaner« einer besonderen sozialen Zuwendung bedürften, war im Saarland spätestens seit 1953 in institutionalisierter Form angekommen. Auch wenn diese kolonialistische Auffassung von der saarländischen Regierung mitgetragen wurde, ging sie mitsamt der damit begründeten Sozialarbeit für Algerier an der Saar allein auf das Betreiben französischer Behörden und karitativer Organisationen zurück. Dieser Umstand lässt den Charakter des Saarlands vor 1957 als französisches Protektorat in einer Weise hervortreten, die von der Forschung bislang nicht beachtet wurde. Dass zwischen 1945 und 1954 so viele Algerier nach Lothringen kamen und dort nach den Italienern rasch zur zweitwichtigsten Migrantengruppe wurden, ist nicht ohne die erhebliche Ungleichverteilung von Land sowie unterschiedlichen Zugang zu Bildung und Wohlstand in Algerien zu erklären. Auch die Bedingungen des Aufenthalts der algerischen Migranten in Lothringen waren stark von den Auswirkungen des französischen Kolonialismus geprägt. Außer in der Form besonderer Stigmatisierungen und einem erschwerten Zugang zum Arbeitsmarkt manifestierte sich dies auch durch die staatlich finanzierten Sozialmaßnahmen für »Nordafrikaner«, die im Zeichen der französischen Zivilisierungsmission standen. Dies kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die algerischen Migranten an der Gestaltung ihrer Lebensumstände im lothringischen Grenzgebiet einen großen Anteil hatten.

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2. Politisierung und Mobilisierung algerischer Migranten Zwischen 1945 und 1954 war die Entwicklung der sozialen Situation algerischer Migranten im lothringischen Grenzgebiet in erheblicher Weise durch den französischen Kolonialismus geprägt. In Form von wirkungsmächtigen Stereotypen, institutionellen Benachteiligungen und einer speziell ausgerichteten Sozialarbeit traten mehrere zentrale Aspekte der »kolonialen Situation«1 in Lothringen und teilweise auch im Saarland offen zu Tage. Viele der algerischen Migranten waren sich darüber im Klaren und hatten oftmals bereits in Algerien durch eigene Erfahrungen oder Erzählungen von Familienangehörigen ein Bewusstsein darüber entwickelt, dass sie unter der Herrschaft eines Regimes lebten, das sie gegenüber Franzosen systematisch diskriminierte. Dies wirft die dem folgenden Kapitel zu Grunde liegende Frage auf, welche Bestrebungen nach politischer Emanzipation es unter den Algeriern in Lothringen gab beziehungsweise welchen Einfluss die algerische Unabhängigkeitsbewegung dort hatte.

2.1. Zur Vorgeschichte des MTLD 2.1.1 Die Erfindung Messali Hadjs als Spiritus Rector der Nation Die Geschichte der algerischen Unabhängigkeitsbewegung ist weitgehend deckungsgleich mit der Entstehung des algerischen Nationalismus. Diese ist vor allem den Bestrebungen der Kritiker der Kolonialherrschaft geschuldet, eine möglichst breite Mobilisierung der betroffenen Bevölkerung zu erreichen. Dass das konfliktträchtige Zusammenfallen von Antikolonialismus und Nationalismus in Algerien in der Geschichte der Dekolonisierung des 20. Jahrhunderts keineswegs einen Sonderfall darstellt, lässt sich etwa unter Verweis auf Nikita Dhawan und Maria do Mar Castro Varela, aber auch auf Jan C. Jansen und Jürgen Osterhammel zeigen2 . Wie bei vielen anderen antikolonialen Bewegungen spielte auch im algerischen Fall neben Nationalismus eine Identifikationsfigur eine zentrale Rolle, deren politisches Bewusstsein in der Metropole entscheidend geprägt worden war. Dennoch lässt sich die Geschichte der algerischen Unabhängigkeitsbewegung nur schwerlich in 1 2

Balandier, La situation coloniale. Do Mar Castro Varela, Dhawan, Postkoloniale Theorie, S. 45; Jürgen Osterhammel, Jan C. Jansen, Dekolonisation. Geschichte, Formen, Folgen, München 2013, S. 32–39.

https://doi.org/10.1515/9783110644012-003

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I. Algerische Migranten im lothringischen Grenzgebiet

ein allgemeines Muster einfügen. Um deren Spezifizität und vor allem ihre Geschichte in Lothringen verständlich zu machen, werden im Folgenden einige ihrer Entwicklungslinien zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Beginn des algerischen Unabhängigkeitskrieges diskutiert. Aufgrund der umfassenden Mobilisierung algerischer Arbeiter und Soldaten während des Ersten Weltkriegs nahm die Anzahl der Algerier in der Metropole bereits im Verlauf des Krieges und nach dessen Ende massiv zu. Die Migranten bewegten sich dort in einem Spannungsfeld zwischen mehreren Akteuren, die versuchten, sie zu disziplinieren oder auf ihre politische Linie zu bringen. Insbesondere die Sozialisten und bald darauf auch der PCF warben bereits zu Beginn der 1920er Jahre mit gezielten Kampagnen gegen Imperialismus und rassistische Diskriminierung um die politische Unterstützung der Algerier3 . Mit der unter Anleitung des PCF erfolgten Gründung der Partei Étoile nord-africaine (ENA) in Paris 1926 erhielt der algerische Nationalismus seine erste institutionelle Form. Dennoch lässt sich seine Geschichte keinesfalls auf eine Nachahmung oder Übernahme eines europäischen Modells reduzieren4 . Sie kann nicht als Einheit, sondern bestenfalls als ein Zopf aus unterschiedlichen, miteinander verflochtenen Strängen gedacht werden. Das Ideal einer von Frankreich unabhängigen, eigenständigen algerischen Nation stand erstens in einem direkten Zusammenhang mit der von den meisten Algeriern als illegitim erachteten französischen Landnahme und dem ebenso diskriminierenden wie repressiven Charakter der Kolonialherrschaft. Der Gedanke des Widerstands gegen die französische Fremdherrschaft war seit dem 1830 begonnenen und brutal geführten Eroberungskrieg5 in allen sozialen Schichten der algerischen Bevölkerung weit verbreitet. Dies galt insbesondere für die beiden Regionen Kabylei und Constantinois, wo das numerische Ungleichgewicht zwischen algerischer und europäischer Bevölkerung besonders groß war und mehrere offene Revolten gegen die Besatzer in massive Repressionen der französischen Armee mündeten6 . Die damit verbundenen kollektiven Erfahrungen und Erinnerungen bildeten gewissermaßen den Ausgangspunkt des Bestrebens, eine nationale algerische Zusammengehörigkeit zu schaffen, die sich in wandelnden Formen des antikolonialen Widerstands konstituierte7 . Zweitens bildete sich die Vorstellungen einer eigenständigen algerischen Nation auch unter dem Eindruck starker äußere Impulse heraus. Dazu gehör-

3 4 5 6 7

Stora, Ils venaient d’Algérie, S. 23–73. Dazu in einem größeren Kontext do Mar Castro Varela, Dhawan, Postkoloniale Theorie, S. 42–53. Jennifer E. Sessions, By Sword and Plow. France and the Conquest of Algeria, Ithaca, New York 2011. Peyroulou, Guelma, 1945, S. 29–34. Jansen, Erobern und Erinnern.

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2. Politisierung und Mobilisierung algerischer Migranten

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ten neben dem europäischen Nationalismus des späten 19. Jahrhunderts auch die Bewegung der Jungtürken im Osmanischen Reich und die verschiedenen Dekolonisierungsbestrebungen infolge der beiden Weltkriege, insbesondere in Ägypten. Die Bewegung der »Jeunes Algériens« beschränkte sich jedoch nicht allein darauf, die Motive aus dem Ausland zu übernehmen, sondern entwickelte (notgedrungen) auch eigene Ziele und Protestformen8 . Drittens ist die Entstehung des algerischen Nationalismus eng mit der Geschichte der algerischen Migration in die Metropole verbunden. Die Pendelbewegungen Hunderttausender Algerier über das Mittelmeer wirkten einerseits als stabilisierendes Ventil, das den aus den politisch-sozialen Verwerfungen in Algerien resultierenden politischen Druck zeitweise mindern konnte. Andererseits gefährdete die Migration das koloniale Projekt aber auch insofern, als zahlreiche Algerier während ihres Aufenthalts in Europa mit einer liberaleren Gesellschaft und potenziell revolutionären politischen Ideen und Akteuren in Berührung kamen. Letzteres betraf insbesondere französische Kommunisten und Gewerkschafter. Abgesehen von den verschiedenen strukturellen Bedingungen, die die Entwicklung des algerischen Nationalismus beeinflussten, muss dieser auch als Werk bestimmter Akteure verstanden werden. Diesbezüglich sind für die untersuchte Periode vor allem zwei Personen hervorzuheben: Ferhat Abbas (1899–1985)9 und Ahmed Mesli (1898–1974), der sich Messali Hadj nannte10 . Letzterer war innerhalb der Periode von 1945 und 1954 die zentrale und weitgehend alleinige Identifikationsfigur algerischer Nationalisten in Lothringen. Um dies auch in einem breiteren historischen Kontext einordnen zu können, müssen einige zentrale Aspekte des politischen Werdegangs Messali Hadjs beleuchtet werden. Messali Hadj wuchs in einer Bauern- und Handwerkerfamilie im westalgerischen Tlemcen auf. In den letzten Monaten des Ersten Weltkriegs rekrutierte ihn die französische Armee für den Militärdienst und sandte ihn nach Bordeaux. Dort entwickelte Messali vor allem unter den Eindrücken seines neuen sozialen Umfelds, angesichts des Zusammenbruchs des Osmanischen Reichs sowie des Rifkriegs (1921–1926) ein wachsendes Interesse an politischen Fragen. Als Autodidakt eignete er sich ein politisches Grundwissen an und trat 8

9 10

Julien Fromage, L’expérience des »Jeunes Algériens« et l’émergence du militantisme moderne en Algérie (1880–1919), in: Bouchène u. a. (Hg.), Histoire de l’Algérie à la période coloniale, S. 238–244; Omar Carlier, Messali et son look. Du »jeune Turc« citadin au za’im rural, un corps physique et politique construit à rebours?, in: Ders., Raphaëlle Nollez-Goldbach (Hg.), Le corps du leader. Construction et représentation dans les pays du Sud, Paris 2008, S. 263–299; Mohammed Harbi, L’Algérie en perspectives, in: Ders., Benjamin Stora (Hg.), La guerre d’Algérie 1954–2004. La fin de l’amnésie, Paris 2004, S. 27–45. Benjamin Stora, Zakya Daoud, Ferhat Abbas, une utopie algérienne, Paris 1995. In Anlehnung an die in der französischen Historiografie übliche Benennung Ahmed Meslis wird dieser im Folgenden als Messali Hadj oder einfach nur als Messali bezeichnet.

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I. Algerische Migranten im lothringischen Grenzgebiet

1925 dem PCF bei. Als dieser im folgenden Jahr auf Beschluss der Komintern in Paris die ENA gründete11 , übernahm Messali das Amt des Generalsekretärs. In dieser Funktion distanzierte er sich zunehmend von den Lenkungsansprüchen des PCF, der die ENA ursprünglich als einen politischen Ableger in Nordafrika konzipiert hatte12 . Bereits 1927 setzte Messali diesbezüglich einen ersten Meilenstein, indem er den moderaten Vorgaben der kommunistischen Mutterpartei zum Trotz als erster Politiker überhaupt die Unabhängigkeit Algeriens von Frankreich forderte. Dies wurde zwar weder in Algerien noch in Frankreich besonders beachtet. Dennoch hatte Messali damit ein Symbol geschaffen, das bei seiner späteren Selbstinszenierung als »Vater der algerischen Nation« eine zentrale Rolle spielte. Bis zum Jahr 1933 waren die Differenzen zwischen dem Generalsekretär der ENA und den französischen Kommunisten derart weit gediehen, dass Messali den Bruch mit dem PCF in den Statuten der ENA festschreiben ließ. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Messali bereits als unumstrittener Anführer der Bewegung etabliert13 , die nach anfänglichen Schwierigkeiten nun auch in Algerien, aber vor allem in der Metropole wachsende Mitglieder- und Sympathisantenzahlen verzeichnete. Die französischen Kommunisten reagierten darauf 1935 mit der Gründung eines neuen Ablegers ihrer Partei in Algerien, dem Parti communiste algérien (PCA). Der PCA trat mit einem ähnlichen Diskurs wie die stark durch den PCF geprägte ENA vor allem für die Interessen der algerischen Arbeiterklasse ein. Im Unterschied zu den Anhängern Messali Hadjs zielte der PCA jedoch auf Reformen innerhalb des Rahmens der französischen Institutionen und nicht auf die nationale Unabhängigkeit. Den weiteren Machtgewinn der Organisation um Messali Hadj konnte die neue Partei nicht beeinträchtigen14 . Der Einfluss der ENA und ihrer Nachfolgeorganisationen war also zunächst in der Metropole und in den algerischen Städten groß. Dabei profitierte die Bewegung besonders von dem politischen Geschick und der Redegewandtheit ihres Generalsekretärs. Spätestens Mitte der 1930er Jahre war die gesamte Organisation ganz und gar auf die Person Messali Hadjs ausgerichtet, sodass er den französischen Behörden zunehmend als ernsthafte Bedrohung des kolonialen Status quo in Algerien erschien. In der Folge wurde die ENA 1937 verboten, woraufhin Messali eine Nachfolgeorganisation gründete, die er Parti du peuple algérien (PPA) nannte. Seine anschließende Verhaftung wegen Neugründung einer illegalen Organisation markierte für Messali Hadj den Beginn einer langen Serie von Gefängnisaufenthalten und Hausarrest-Strafen. Dies schränkte seine politische Handlungsfähigkeit stark 11 12 13 14

Jacques Simon, Le MTLD (le Mouvement pour le triomphe des libertés démocratiques), 1947–1954, Paris 2003, S. 7. Benjamin Stora, Messali Hadj (1898–1974), Paris 2004, S. 29–78. Carlier, Messali et son look, S. 276. Meynier, Histoire intérieure du FLN, S. 54f.

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2. Politisierung und Mobilisierung algerischer Migranten

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ein, vergrößerte jedoch sein Prestige innerhalb der Unabhängigkeitsbewegung enorm. Aufgrund der Inhaftierung Messalis, der zuvor keinen Nachfolger oder Vertreter benannt hatte, agierte der PPA während des Zweiten Weltkriegs führerlos und im Untergrund15 . Trotz der öffentlich kommunizierten Ablehnung der Parteiikone des PPA, das Deutsche Reich zu unterstützen, schlugen sich einige PPA-Aktivisten aufgrund von politischen Versprechungen der Hitlerregierung auf die deutsche Seite16 . Einige Einzelfälle, aber vor allem der Verdacht algerischer Kollaboration mit dem Naziregime wurden in der unmittelbaren Nachkriegszeit insbesondere durch die französischen Kommunisten aufgegriffen, um den als MTLD neu gegründeten PPA zu desavouieren17 . Auch wenn der MTLD rein formal als neue Partei die politische Bühne betrat, wurde das Profil der Organisation bereits in der Zwischenkriegszeit entscheidend geprägt. Dabei waren neben den Auseinandersetzungen mit der Kolonialmacht und dem PCF auch die Interaktionen mit anderen algerischen Organisationen von Bedeutung. In religiös-kultureller Hinsicht spielte die 1931 gegründete islamische Reformbewegung der Ulema (oulémas) für die Entwicklung des algerischen Nationalismus eine zentrale Rolle18 . Aufgrund ihres öffentlichen Eintretens für eine Religionsausübung frei von staatlichen Einflüssen lieferte die Ulema nicht nur eine theologische Basis für Kritik an kolonialer Diskriminierung, wie sie sich etwa in den Ausnahmeregelungen des französischen Laizitätsgesetzes von 1905 manifestierte19 . Darüber hinaus propagierte sie in ihren zahlreichen Privatschulen ein ganzheitliches Referenzsystem einer als arabisch und muslimisch verstandenen algerischen Kultur, deren Fundament sie in einer spezifisch algerischen Geschichte, Reli-

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Stora, Messali Hadj, S. 176–191. Siehe dazu Mahfoud Kaddache, Itinéraire d’un militant nationaliste: Ouamara Mohamed, dit »Rachid«, in: Jean-Charles Jauffret, Maurice Vaïsse (Hg.), Militaires et guérilla durant la guerre d’Algérie, Brüssel 2001, S. 503–515; Stora, Messali Hadj, S. 184. Noch Ende Mai 1945 bezeichnete die Parteizeitung des PCF »L’Humanité« die Unruhen im Norden des Constantinois als Konsequenz eines »complot hitlérien«, zit. n. Peyroulou, Guelma, 1945, S. 18. Raberh Achi, Les apories d’une projection républicaine en situation coloniale. La dépolitisation et la séparation du culte musulman et de l’état en Algérie, in: Pierre-Jean Luizard (Hg.), Le choc colonial et l’Islam, Paris 2006, S. 237–252. Art. 43 des Gesetzes über die Trennung von Staat und Kirche stellte es der Regierung anheim, ob diese Regelungen auch auf Algerien und die Kolonien angewendet würden. Hinzu kam, dass ein Dekret vom 27. September 1907 es dem Generalgouverneur in Algerien ermöglichte, von ihm ausgewählte Religionsvertreter aufgrund von »nationalem Interesse« temporär zu finanzieren. Diese temporäre Beschränkung wurde im Anschluss immer wieder ausgeweitet und schließlich de facto aufgehoben. Zweck dieser Regelung, die ausschließlich den Islam betraf, war es, ein möglichst hohes Maß an Kontrolle über die muslimische Bevölkerung zu wahren, vgl. Davidson, Only Muslim, S. 30–32.

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I. Algerische Migranten im lothringischen Grenzgebiet

gion und Sprache begründet sah und in einen fundamentalen Gegensatz zu Frankreich stellte20 . Die Ulema griff die spezifisch religiöse begründete Diskriminierung »muslimischer Franzosen Algeriens« auf und begegnete ihr mit einer Forderung nach Emanzipation aus explizit religiösen Motiven. Diese Stoßrichtung verstärkte die religiöse beziehungsweise muslimische Komponente des algerischen Nationalismus und wurde außer von der PCA von allen algerischen Parteien aufgegriffen21 . Ungeachtet des politischen Aufstiegs der ENA und später des PPA war die einflussreichste politische Bewegung auf algerischer Seite in der Zwischenkriegszeit die Föderation muslimischer Abgeordneter (Fédération des élus musulmans). Die 1927 als Gegenbewegung zur mächtigen Föderation der algerischen Bürgermeister gegründete Organisation stand für eine legalistische Politik algerischer Emanzipation. Sie etablierte sich in den 1930er Jahren insbesondere im ostalgerischen Constantinois unter der Führung Mohammed Salah Bendjellouls als erste algerische Massenorganisation überhaupt22 . In der Hoffnung, die sozialistisch-kommunistische Regierung der »Volksfront« mit einem breiten politischen Bündnis zu Reformen des kolonialen Systems bewegen zu können, schloss sich die Föderation muslimischer Abgeordneter mit der Ulema und dem PCA 1936 zum ersten »muslimisch-algerischen Kongress« zusammen. Die ENA jedoch blieb dem Kongress als einzige algerische Partei fern. Sie begründete dies mit dem Argument, die Anbindung an Frankreich sei an sich in Frage zu stellen und jede Art von Reformismus als Form der Kollaboration abzulehnen23 . Die ephemere Geschichte des muslimisch-algerischen Kongresses illustriert beispielhaft einen zentralen Aspekt der politischen Strategie Messali Hadjs, die er auch nach 1945 weiter verfolgte. Um den größtmöglichen Rückhalt in der algerischen Bevölkerung zu erlangen, setzte er meist auf eine klare Abgrenzung von allen Konkurrenten, um seine Organisation als die einzig wahre algerische Nationalbewegung zu inszenieren24 . Seine Bereitschaft zu 20

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Raberh Achi, »L’islam authentique appartient à Dieu, l’islam algérien appartient à César«. La mobilisation de l’association des oulémas d’Algérie pour la séparation du culte musulman et de l’État (1931–1956), in: Genèses 69 (2007), S. 49–69. Siehe auch CharlesRobert Ageron, Histoire de l’Algérie contemporaine, Paris 1974, S. 88f. Im Mai 1934 konnten die Ulema allein in der ostalgerischen Region Constantinois rund 60 000 Algerier für Demonstrationen mobilisieren, die sich gegen angekündigte Einschränkungen ihrer Lehre in den Moscheen richteten: Peyroulou, Guelma, 1945, S. 103. Mohammed Harbi, Le FLN. Mirage et réalité, Paris 1980, S. 16f. Julien Fromage, Le docteur Bendjelloul et la Fédération des élus musulmans, in: Bouchène u. a. (Hg.), Histoire de l’Algérie à la période coloniale, S. 398–401. Claire Marynower, 1936. Le Front populaire en Algérie et le Congrès musulman algérien, in: ibid., S. 401–404, hier S. 402f. Omar Carlier, Mémoire, mythe et doxa de l’État en Algérie. L’Étoile nord-africaine et la religion de la nation, in: Raphaëlle Branche (Hg.), La guerre d’indépendance des Algériens, Paris 2009, S. 19–33, hier S. 30.

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Kooperation und Kompromissen zeigte sich allenfalls in einigen Momenten akuter Bedrängnis25 . Anstatt auf seine Konkurrenten zuzugehen und zu versuchen, sich mit ihnen zu verbünden, machte sich Messali verschiedene Elemente ihres Diskurses zu eigen, um seinen eigenen politischen Einfluss zu maximieren. So waren auch nach der Abkehr der ENA vom PCF das Programm und die Reden der wichtigsten Parteikader stark von marxistischkommunistisch gefärbter Kapitalismus- und Herrschaftskritik geprägt. Damit warben die Anhänger Messalis in erster Linie um die Anhängerschaft algerischer Arbeitsmigranten in der Metropole, die ihnen der PCF stets streitig zu machen versuchte26 . Messali Hadj machte sich auch grundlegende Positionen der Ulema zu eigen und passte im Laufe der 1930er Jahre sowohl seine Rhetorik als auch sein Auftreten zunehmend den Zeichen des Islams an27 . Messalis Erscheinungsbild, das seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein langer Bart, das traditionelle Gewand djellaba und die Kopfbedeckung chechie prägten, sowie der seit 1952 verwendete Beiname Hadj verliehen dem Anführer der ENA eine religiös-traditionelle Aura der Unantastbarkeit28 , die den Anspruch untermauern sollte, der Vater des algerischen Nationalismus zu sein. Durch dieses Image, die Propagierung traditioneller arabisch-muslimischer Werte und die Forderung nach einer umfassenden Landreform gelang es Messali, den Einfluss seiner Bewegung auch innerhalb der politisch schwer zugänglichen algerischen Landbevölkerung auszuweiten29 . Das Verbot des PPA und Messalis Verhaftung verzögerten den Aufstieg der Unabhängigkeitsbewegung zur wichtigsten algerischen Partei nur bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Ein entscheidender Faktor dafür war die Unfähigkeit der provisorischen Regierung unter Charles de Gaulle, den Hoffnungen auf Reformen zu entsprechen, die in Algerien insbesondere nach der Landung der Alliierten in Nordafrika aufkamen. Im Mai 1943 forderte Ferhat Abbas als Vertreter der Föderation muslimischer Abgeordneter in seinem »Manifest des algerischen Volkes« (Manifeste du peuple algérien) unter anderem das Ende der kolonialen Diskriminierung und die Anwendung des Selbstbestimmungsrechts für Algerien30 . Ab März 1944 konnte Abbas in seiner neu gegründeten Organisation Amis du Manifeste et de la liberté erstmals alle maßgeblichen algerischen Reformströmungen auf eine gemeinsame Linie bringen. Dabei traten Anhänger des PPA, sowohl 25 26 27 28

29 30

Stora, Messali Hadj, S. 106f. Jacques Valette, La guerre d’Algérie des messalistes, 1954–1962, Paris 2001, S. 17. Carlier, Messali et son look. Der Beiname Hadj, der allen aus Mekka zurückkehrenden muslimischen Pilgern verliehen wurde, wurde von Messali nach seiner eigenen Pilgerfahrt demonstrativ als feststehender Beiname geführt, siehe ibid., S. 294. Stora, Messali Hadj, S. 108–112.138. Malika Rahal, La place des réformistes dans le Mouvement national algérien, in: Vingtième siècle. Revue d’histoire 83 (2004), S. 161–171.

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was die Wortwahl als auch was die Praxis dieser Sammelbewegung anging, als radikalisierende Antreiber hervor31 . Die französische Antwort auf die von einer breiten gesellschaftlichen Basis in Algerien getragenen Forderungen nach Emanzipation war eindeutig: Auf nicht genehmigte Demonstrationen in verschiedenen Orten Ostalgeriens am 1. und am 8. Mai 1945 reagierten die Behörden zunächst mit deren gewaltsamer Niederschlagung und einer großen Verhaftungswelle. Die daran anschließenden Ausschreitungen wütender Algerier gegen Teile der europäischen Bevölkerung hatten Maßnahmen kollektiver Bestrafung zur Folge, die über mehrere Wochen hinweg in wahre Massaker ausarteten. Sie wurden von Teilen der französischen Armee, aber auch von Siedlermilizen begangen. Die Ära der algerischen Reformpolitiker in Algerien schien damit besiegelt zu sein. Als unmittelbare Folge jener Massaker erhielt der PPA aus allen Bevölkerungsschichten Algeriens Zulauf in bis dahin unbekanntem Ausmaß32 . Bis zum Ausbruch des Algerienkriegs 1954 steigerte die Bewegung um Messali die Zahl ihrer festen Mitglieder auf knapp 18 00033 und etablierte sich gegenüber der von Ferhat Abbas gegründeten Union démocratique du Manifeste algérien (UDMA) auf beiden Seiten des Mittelmeers als mit Abstand stärkste Partei der algerischen Unabhängigkeitsbewegung. 2.1.2 Grundprobleme des MTLD Zwischen 1945 und 1954 bestimmten zwei grundlegende Entwicklungen die Geschichte der algerischen Unabhängigkeitsbewegung. Auf der einen Seite verzeichnete der MTLD einen massiven Zuwachs an Mitgliedern und Sympathisanten. Auf der anderen Seite ging dieser Machtgewinn, der zu einem bedeutenden Anteil als Reaktion auf die französische »Rekolonisation«34 und die damit einhergehenden Repressionen und Wahlfälschungen35 erfolgte, mit einer Reihe schwerwiegender innerer Zerwürfnisse innerhalb der Bewegung einher. Dabei standen drei zentrale Konfliktpunkte im Vordergrund: erstens das Verständnis der kulturellen Identität Algeriens. Während vor allem die alte Garde der ENA-Pioniere um Messali Hadj Algerien als arabisch-muslimische Nation begriff, pochten insbesondere Aktivisten aus der Kabylei darauf, die Bedeutung der berberischen Sprache und Kultur anzuerkennen und die algerische Nation als heterogene und historisch gewachsene Gemeinschaft zu 31 32 33 34 35

Meynier, Histoire intérieure du FLN, S. 64. Stora, Messali Hadj, S. 201. Ders., Faiblesse paysanne du Mouvement nationaliste algérien avant 1954, in: Branche (Hg.), La guerre d’indépendance des Algériens, S. 35–57, hier S. 38. John Springhall, zit. n. Klose, Menschenrechte im Schatten kolonialer Gewalt, S. 66. Besonders die kaum verhohlenen Fälschungen bei der Wahl von 1948 unter Generalgouverneur Edmond Naegelen riefen in Algerien massive Proteste hervor: André Nouschi, L’Algérie amère, 1914–1994, Paris 1995, S. 188–190.

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betrachten. Besonders in der Metropole sorgte diese Frage für massive Spannungen aufgrund des hohen Anteils der Kabylen unter den algerischen Migranten und MTLD-Aktivisten36 . Zweitens gab es innerhalb des MTLD große Differenzen bezüglich der anzuwendenden Mittel im Kampf für die Unabhängigkeit Algeriens. Nach dem Zweiten Weltkrieg schuf der 1939 verbotene PPA mit dem MTLD zwar eine legale Plattform, um bei Wahlen anzutreten, behielt jedoch die alten, im Untergrund existierenden Strukturen des PPA zunächst bei37 . Zudem gab die Direktion mit der Gründung einer dritten Sektion, der Organisaton spéciale (OS), dem Drängen jener Mitglieder nach, die auf bewaffnete Aktionen gegen die Kolonialmacht drängten. Somit blieb die zentrale Frage, inwiefern die Unabhängigkeit durch politische Reformen, einen Krieg oder durch einen Mittelweg erreicht werden sollte, offen. Die Einheit der Bewegung war nur um den Preis ihrer Untergliederung in mehrere Zweige möglich, was zur Folge hatte, dass die Kontrahenten das Vorgehen des jeweils anderen Lagers als potenzielle oder handfeste Gefahr für das gemeinsame Endziel einstuften. Drittens konnte der MTLD während seiner gesamten Existenz kein inneres Machtgleichgewicht herstellen, das alle Kader zufriedengestellt hätte. Da die Bewegung unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs einen massiven Zugewinn an Mitgliedern erlebte, die aus allen Schichten der algerischen Gesellschaft stammten, war die Partei nicht mehr auf die autoritäre Weise zu lenken, wie es noch in der Zwischenkriegszeit der Fall gewesen war. Mit der neuen Größe der Bewegung und ihrer zunehmend heterogenen Sozialstruktur – insbesondere in den Führungsriegen – stellte sich auch die Frage nach einer Neuverteilung der Macht: Bürgerliche Verfechter einer demokratisch und transparent organisierten Massenpartei stießen sich an den Befürwortern einer Organisation, die im Sinne einer Avantgarde von einer kleinen Elite geleitet werden sollte. Diese beiden Strömungen waren wiederum mit den persönlichen Machtansprüchen des Mitbegründers der ENA, Messali Hadj, konfrontiert, der in französischer Haft sein Prestige gegenüber der Basis zwar massiv steigerte, von den innerparteilichen Entscheidungsprozessen jedoch weitgehend isoliert blieb. Der MTLD war eine zwar streng hierarchisch aufgebaute, aber dennoch mehrfach in sich gespaltene Organisation. Seine Einheit war stets von inneren Fliehkräften sowie dem Agieren der französischen Kolonialmacht bedroht. Die beiden zentralen Forderungen des MTLD nach einer konstituierenden algerischen Nationalversammlung sowie der Befreiung Messali 36 37

Carlier, Entre nation et jihad, S. 239–268; Harbi, Le FLN, S. 59–67. Aufgrund dieser Doppelstruktur sprechen bis heute viele Historiker vom PPA-MTLD. Im Folgenden wird nur vom MTLD gesprochen, da der PPA-Apparat bereits 1947 kaum noch existierte und sich die Aktivitäten der Mitglieder fast ausschließlich im Rahmen von OS und MTLD abspielten, die de facto in ein Konkurrenzverhältnis traten, vgl. ibid., S. 41.

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Hadjs und aller »algerischer Patrioten« spiegeln letztendlich die weitgehende programmatische Leere des MTLD wider38 . Seine Mitglieder konnten zwar die Anhängerschaft der algerischen Unabhängigkeit vergrößern. Sie waren jedoch nicht in der Lage, dem Ziel der nationalen Unabhängigkeit auch eine klare, weiterführende politische Linie hinzuzufügen, die zu einem konstruktiven Dialog innerhalb der Bewegung, geschweige denn zu einem Konsens, hätte führen können. Stattdessen wurden die Verwerfungen innerhalb des MTLD seit 1954 zum Ausgangspunkt der brutal geführten inneralgerischen Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern Messali Hadjs und denen des neu gegründeten FLN. Bis heute begreifen viele Historiker die Jahre 1945–1954 als unmittelbare Vorgeschichte des algerischen Unabhängigkeitskriegs39 . Tatsächlich liegt die Einschätzung nahe, dass eine Durchsetzung oder Abspaltung jener MTLD-Mitglieder, die den Kampf für die algerische Unabhängigkeit mit (militärischer) Gewalt führen wollten, nach den kolonialen Massakern von 1945 lediglich eine Frage der Zeit war. Sie sahen sich vor allem dadurch ermutigt, dass der Besatzungszustand, gegen den sie sich richteten, von einer durch den Zweiten Weltkrieg stark geschwächten Kolonialmacht verteidigt wurde, welche durch den Krieg in Indochina einen weiteren Verfall ihrer Macht hinnehmen musste. Schließlich schufen der Kalte Krieg, die blockfreien Staaten und die von ihnen vorangetriebene Dekolonisierungsbewegung einen politischen Handlungsrahmen, in dem die andauernde Unterdrückung der algerischen Bevölkerung immer schwerer zu legitimieren war. Auch in Auseinandersetzung mit diesem historischen Metanarrativ soll im folgenden Kapitel anhand einer Analyse der Geschichte des MTLD in Lothringen gezeigt werden, dass die Entwicklung der algerischen Unabhängigkeitsbewegung zwischen 1945 und 1954 durchaus offen war und weder von ihrem Ausgangspunkt noch von ihrem Ende her hinreichend verstanden werden kann.

38 39

Carlier, Entre nation et jihad, S. 229–233. Dies zeigt sich vor allem daran, dass viele der neueren Überblicksdarstellungen über den Algerienkrieg das Jahr 1945 als zentralen Ausgangspunkt wählen, der in ihrer Analyse oft noch eine wichtigere Rolle spielt als 1954. Nur wenige Autoren gestehen diese Grundannahme so explizit ein wie Mohamed Harbi in seinem Zeitungsartikel von 2005: »La guerre d’Algérie a commencé à Sétif«, http://www.monde-diplomatique.fr/2005/05/ HARBI/12191 (Zugriff 20.6.2019).

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2.2. Die schwierigen Anfänge des MTLD 2.2.1 Organisationsprinzipien und erste Schritte des MTLD Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begann in Lothringen eine neue Zeitrechnung. Während der Jahre 1940 bis 1945 gingen die Erfahrungen der dort lebenden Personen weit auseinander und reichten von der Flucht ins französische Inland mit anschließender Rückkehr bis hin zur direkten Konfrontation mit Kriegsgefechten, Deportationen, Zwangsinkorporierung und Kollaboration mit der deutschen Besatzungsmacht40 . Infolge der Befreiung Lothringens waren schließlich alle mit den materiellen und immateriellen Folgen des Krieges konfrontiert, die das soziale und politische Koordinatensystem dieser Region grundlegend erneuerten41 . Dieser Zäsureffekt betraf auch die Anhänger der algerischen Unabhängigkeitsbewegung in Lothringen. Bereits in der Zwischenkriegszeit waren einige Aktivisten des PPA in Lothringen aktiv gewesen. Zu jener Zeit hatte insbesondere das industrielle Becken von Longwy als wichtige Hochburg der Messalisten gegolten. Benjamin Stora zufolge zählte die dortige PPA-Sektion 1939 sogar die meisten Mitglieder in der Metropole außerhalb des Großraums Paris42 . Nach dem Ende des Weltkriegs war von dieser Stärke der Messalisten jedoch zunächst nur wenig übrig geblieben. Den RG zufolge gab es innerhalb des Beckens von Longwy im August 1946 keinerlei politische Versammlungen oder Gruppierungen, an denen sich die dort lebenden »Nordafrikaner« beteiligten43 . Zumindest aus Sicht der lothringischen Polizei konnte von regen Aktivitäten des PPA in der Region Longwy zunächst keine Rede mehr sein. Es gab in dieser Phase durchaus einzelne Algerier in Lothringen, die nach der deutschen Kapitulation an ihre Aktivitäten während der Zwischenkriegszeit vor Ort anknüpften44 . Erst infolge der Ankunft einer neuen Generation algerischer Arbeitsmigranten in Lothringen konnte der algerische Nationalismus 40 41 42

43 44

Pierre Rigoulot, L’Alsace-Lorraine pendant la guerre 1939–1945, Paris 2 2010. François Moulin, Lorraine années noires. De la collaboration à l’épuration, Straßburg 2009; François Roth, Histoire politique de la Lorraine de 1900 à nos jours, Metz 2012. In Longwy befanden sich den Angaben nach 100 Mitglieder des PPA. Mehr Mitglieder zählte die Organisation allein in Boulogne-Billancourt (130) und Clichy-Asnières (118). Jenseits von Paris war außer Longwy insbesondere die Stadt Lyon ein wichtiges Sammelbecken der PPA-Mitglieder. 1939 lebten dort 115 PPA-Mitglieder, die in zwei etwa gleich starken Sektionen organisiert waren: Stora, Ils venaient d’Algérie, S. 56f. Le commissaire spécial, chef du service des RG de Briey: rapport, 18. Juli 1946, AdM&M 950 W 32. Dies zeigt etwa das Beispiel des Samar Belkacem Ben Akli (*1912 Fort-National, douar Ouadhia). Nachdem er 1937 als Hilfsarbeiter bei den Aciéries de Longwy Arbeit gefunden hatte, war er dort 1938 in den PPA eingetreten. Nach einem kurzen Aufenthalt in Algerien im Jahr 1939 arbeitete er zunächst bei Renault-Billancourt, ging 1940 nach Nancy und wurde dort drei Jahre später von der Gestapo verhaftet. 1944 gelang ihm die Flucht aus der Haft in Saint-Malo. Er kehrte nach Nancy zurück, kam dort in einem

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in Gestalt des MTLD dort aber institutionell wieder Fuß fassen und seine vorübergehende Bedeutungslosigkeit überwinden. Die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Lothringen agierenden algerischen Nationalisten waren Teile eines straff organisierten und zentral gelenkten politischen Apparats. Es handelte sich zunächst um Angehörige einer Partei, die über mehrere Unterorganisationen verfügte und sich als antikoloniale Massenbewegung begriff. Nach außen hin konnte es scheinen, als sei der MTLD allein dem Willen seiner charismatischen Führungsfigur Messali Hadj untergeordnet gewesen. Offiziell war die Partei nach dem Vorbild des streng hierarchischen Modells kommunistischer Parteien aufgebaut. Dem stellten sich in der Praxis jedoch allerlei interne Machtkämpfe entgegen. Der MTLD unterhielt formal den demokratischen Zentralismus als inneres Organisationsprinzip und ein Zentralkomitee (ZK) als oberstes Führungsgremium45 . Vorrangiges Ziel der Organisation war es, eine Maximierung der Anhänger zu erreichen, die für das Bestreben, die Unabhängigkeit Algeriens zu erreichen, gewonnen werden sollten46 . Zu diesem Zweck pflegte der MTLD das Selbstbild, die einzig legitime nationale Unabhängigkeitsbewegung zu sein47 , die keine Neutralität akzeptieren wollte und alle Algerier in Unterstützer oder Gegner unterteilte48 . Trotz dieses auch in Lothringen stets propagierten Freund-Feind-Denkens übten MTLD-Aktivisten, wenn überhaupt, nur sehr vereinzelt Gewalt oder konkreten Zwang gegenüber anderen Algeriern aus49 . Die Organisation gliederte ihre Mitglieder in drei Kategorien, die in aufsteigender Wertigkeit als sympathisants (Sympathisanten), adhérents (Anhänger) und militants (Aktivisten) bezeichnet wurden. Sympathisanten blieben von organisationsinternen Vorgängen ausgeschlossen. Sie gehörten keiner Zelle an, welche die Basiseinheit des MTLD darstellte50 , und leisteten

45 46 47 48

49 50

Wohnheim unter und übernahm die Funktion des Schatzmeisters der örtlichen PPAMTLD-Organisation: RG de Nancy, note, 27. Aug. 1945, AdM&M Cab 158. Commissariat aux RG de Forbach, note de renseignement, 11. Juni 1949, S. 1–3. Carlier, Entre nation et jihad, S. 225. Ibid., S. 215. »En bons Musulmans, nous devons nous entraider et alléger le fardeau de ceux qui ont tout abandonné pour la Patrie. Ne pas souscrire en se refusant à l’effort national, c’est se placer dans le clan adverse«, Bulletin intérieur du MTLD, Fédération de France, 15. Apr. 1953 (Sonderausgabe), AdM 370 W 51. Dies lässt sich sowohl auf der Grundlage von Polizeiberichten als auch durch Aussagen von algerischen Zeitzeugen konstatieren. Nach den seit 1952 geltenden Direktiven sollte eine Zelle mindestens acht und höchstens 15 Anhängern und Aktivisten inklusive eines Chefs umfassen. Darüber stand die Gruppe, die sich aus mindestens vier, maximal sieben Zellen zusammensetzte, mit wiederum einem Chef. Darauf folgte die section oder kasma, die nicht weniger als zwei und nicht mehr als vier Gruppen umfassen sollte. Dieser Basisstruktur stand ein comité de kasma vor, das sich aus sechs Aktivisten zusammensetzte. Ihr Chef repräsentierte die Partei innerhalb der kasma und war gegenüber der Parteiführung für deren Disziplin und Funktionieren verantwortlich. Anhand dieses Verantwortungsprinzips tritt der hierarchische

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lediglich den obligatorischen monatlichen Beitrag an die Organisation in Erwartung einer Aufnahme in die engeren Kreise der Partei. Um dies zu erreichen, musste zunächst eine Probezeit absolviert werden. Ein Zeitzeuge berichtete, dass die Mitglieder außerdem einen Treueeid auf den Koran zu leisten hatten.51 . Im Gegensatz zur passiven Rolle der Sympathisanten waren Anhänger und Aktivisten im Rahmen ihrer jeweiligen Zelle und den Vorgaben ihres Chefs zu besonderen Aktivitäten, absoluter Verschwiegenheit und vor allem zum Gehorsam verpflichtet. Das Verantwortungsprinzip galt nur von unten nach oben, sodass die Mitglieder der Organisation keinerlei Einfluss auf die Besetzung der einzelnen Führungsposten ausüben konnten, die in der Regel von der obersten Führungsriege bestimmt wurden. Auch wenn das Ideal der Demokratie dem MTLD als Leitlinie galt, blieb die Organisation intern von demokratischer Praxis stets weit entfernt52 . Dies galt auch für Lothringen: Nachdem gegenüber den Aktivisten in der Region Forbach im November 1953 erstmals interne Wahlen angekündigt worden waren53 , sagte der Chef der kasma, Belmedani Boussad, diese schon im folgenden Monat auf Anweisung eines Delegierten des MTLD aus Paris wieder ab. Nach Informationen der RG war dies damit begründet worden, dass 350 inhaftierte Mitglieder

51 52

53

Charakter des MTLD deutlich hervor. Der Chef der kasma hatte gegenüber seinen Untergebenen keinerlei Pflichten. Stattdessen war es seine Hauptaufgabe, die Direktiven der Partei innerhalb seiner kasma umzusetzen sowie sämtliche Aktivitäten des Komitees anzuleiten und zu kontrollieren. Zwei Verantwortliche für die Organisation, einer für Inneres, ein weiterer für Äußeres, sollten die Aktivitäten der Zellen und Gruppen überwachen, insbesondere die »Kollekten« und Versammlungen. Außerdem waren sie für die Weitergabe von Informationen zuständig. Ein Schatzmeister verwaltete die Finanzen der kasma. Ein Verantwortlicher für Information und Propaganda kontrollierte den Verkauf der Parteizeitung »L’Algérie libre« und war darüber hinaus für die Ausarbeitung von Propaganda zuständig. Schließlich war noch ein Verantwortlicher für Gewerkschaftsund Sozialfragen damit beauftragt, den Kontakt zu den französischen Gewerkschaften zu halten und sich über alle Probleme sozialer Art wie Arbeit, Unterkunft, Armut etc. zu informieren, um betroffene Algerier eventuell beraten zu können. Jede kasma musste monatlich für den Verantwortlichen der Region einen Bericht verfassen, in dem sie den Zustand aller Strukturen genau darlegte. Darin sollten neben den Zahlen der Mitglieder, der finanziellen Einnahmen und der Propagandaaktionen verschiedene wichtige Ereignisse und die Stimmung der in der Region lebenden Algerier geschildert werden. Diese Informationen stammen aus einem internen Schreiben des MTLD, das von den RG abgefangen wurde: RG de Thionville, information, 29. Sep. 1952, AdM 370 W 51. Interview LH–Badis, 2015, S. 10. Gilbert Meynier, Le PPA-MTLD et le FLN-ALN. Étude comparée, in: Mohammed Harbi, Benjamin Stora (Hg.), La guerre d’Algérie 1954–2004. La fin de l’amnésie, Paris 2004, hier S. 626; Interview LH–Badis, 2015, S. 10. Aufgrund der starken Zunahme seiner Mitgliederzahlen plante der MTLD in der Region Forbach, im November 1953 seine Sektionen neu zu organisieren. Zu diesem Zweck wurde ein Zensus der Mitglieder angekündigt, bei dem adhérents und militants ihre jeweiligen Vorgesetzten bis hin zum chef régional wählen sollten: Commissariat aux RG de Forbach, note de renseignement, 28. Nov. 1953, AdM 370 W 51.

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des MTLD gegen die anstehenden Wahlen protestiert und darauf bestanden hätten, diese erst nach ihrer Entlassung durchzuführen54 . Es scheint, als hätten die MTLD-Aktivisten in Lothringen sich kaum oder gar nicht in einer demokratischen Praxis geübt und ihre Aktivitäten stattdessen fast ausschließlich darauf konzentriert, möglichst viele Gelder für ihre Organisation einzutreiben und Propagandamaterialien zu verteilen. Spätestens seit 1948 wurde die Region Longwy wieder zu einem zentralen Einflussgebiet des MTLD in Lothringen. Im Juni berichteten die RG, dass unter den etwa 1500 Algeriern, die in der Region Longwy lebten, etwa 185 als Aktivisten des MTLD registriert waren. Die Anzahl der Mitläufer und Bewunderer Messali Hadjs unter den Migranten schätzten sie noch deutlich höher ein55 . Dieser Verdacht fand seine Bestätigung einen Monat darauf anlässlich einer Gedenkveranstaltung des MTLD am 4. Juli, die an den Jahrestag der Kapitulation Algiers erinnern sollte. An mehreren Orten des Beckens hatten die Messalisten zuvor durch die Verteilung von Flugblättern auf ihre Veranstaltung aufmerksam gemacht56 . Ihrem Aufruf folgten rund 500 Algerier, die sich an jenem Sonntagnachmittag in einem Saal in Longwy-Haut versammelten. Dort bot der MTLD das Parteiorgan »L’Étoile algérienne« zum Verkauf an57 . Außerdem hielten drei Aktivisten des MTLD Reden in arabischer und französischer Sprache, in denen die französische Besatzung Algeriens angeklagt wurde58 . Dass etwa ein Drittel der algerischen Migranten des Beckens von Longwy zu dieser Veranstaltung kam, ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass der Einfluss der Messalisten dort 1948 bereits weit über den Stamm der festen Parteimitglieder hinausging59 . Aufgrund der unzureichenden Quellenlage wäre es jedoch verfehlt, diesen ersten größeren Mobilisierungserfolg der Messalisten in Lothringen während der Nachkriegszeit zu überschätzen. Die von den RG registrierte hohe Beteiligung an der Veranstaltung ist auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass der 4. Juli auf einem Sonntag fiel, an dem die meisten Algerier in der Regel ohnehin frei hatten. Die wahrscheinlich aus diesem Grunde vom MTLD um einen Tag vorgezogene Gedenkveranstaltung an die Kapitulation Algiers, die am 5. Juli 1830 stattgefunden hatte, besaß für die in der isolierten Industrieregion lebenden Algerier zweifellos auch einen gesellschaftlichen Ereignischarakter60 . Sie weist auf ein gewisses Interesse der Algerier am MTLD hin, nicht jedoch auf eine blinde Gefolgschaft. 54 55 56 57 58 59 60

Ibid., 19. Dez. 1953. RG de Longwy, rapport, 2. Juni 1948, AdM&M Cab 158. Ibid, 30. Juni 1948, AdM&M 950 W 57. Ibid., 6. Juni 1948, AdM&M W Cab 158. Ibid., note d’information, 6. Juli 1948, AdM&M 950 W 57. Abssi, Le nationalisme algérien, S. 101. Julian Mischi hat gezeigt, dass auch die Anhängerschaft des PCF im industriellen Becken von Longwy sich vor allem aus Gründen der Geselligkeit traf, siehe Julian Mischi, Servir la classe ouvrière. Sociabilités militantes au PCF, Rennes 2010, S. 80.

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2.2.2 Algerische Nationalisten im Fokus der lothringischen Polizei Da die beiden Vorläuferorganisationen, ENA und PPA, vom französischen Staat aufgrund ihrer angeblich subversiven Ziele verboten worden waren, hing auch über dem MTLD stets das Damoklesschwert eines Parteiverbots. Bis einschließlich 1951 scheint es, als hätte der MTLD in Lothringen im Umgang mit dieser Bedrohung keine eindeutige oder vielmehr einheitliche Strategie entwickelt. So traten seine Mitglieder und Sympathisanten einerseits demonstrativ in der Öffentlichkeit auf und versuchten andererseits, insbesondere in den Arbeiterwohnheimen und Barackenlagern, sich einer Überwachung durch die Polizei zu entziehen. Neben vereinzelten Propagandaveranstaltungen wie der in Longwy 1948 versuchten die MTLD-Aktivisten ihr Ansehen in der Region auch dadurch zu steigern, dass sie sich gegenüber den lokalen Behörden als Interessensvertreter der algerischen Arbeiter profilierten. So schrieben einige Aktivisten im Januar 1949 einen Brief an den Subpräfekt von Briey, in dem sie sich darüber beklagten, dass immer mehr Algerier arbeitslos seien, während eine wachsende Zahl von Italienern eingestellt werde61 . Diese selbstbewusste Positionierung gegenüber der Subpräfektur erscheint umso bemerkenswerter, als sich die Messalisten über die Missgunst des französischen Staates ihnen gegenüber durchaus im Klaren sein mussten. Ihre Propagandaaktivitäten wurden von der Polizei von Anfang an überwacht und teilweise vereitelt62 . Mit Blick auf die wachsende Anhängerschaft des MTLD innerhalb des Arrondissements von Briey drängte das Innenministerium den zuständigen IGAME, Louis Perillier, im Oktober 1949, auf eine Verbesserung der Lebensumstände der algerischen Migranten in der Region hinzuwirken. Ziel dieser Initiative war es, den Einfluss der Separatisten mittels einer Anhebung des Lebensstandards algerischer Migranten so weit wie möglich zu reduzieren. Andernfalls, so warnte der Innenminister, »könnte dies politische Konsequenzen in Frankreich und Algerien haben«63 . Die Einschätzung des Innenministers teilte auch der IGAME. Allerdings ging ihm die soziale Strategie, die die Regierung gegen den algerischen Nationalismus verfolgte, nicht weit genug. In der Überzeugung, dass alle Aktionen und Bestrebungen der Organisation um Messali Hadj grundsätzlich subversiv seien, strebte Louis Perillier bereits 1948 ein Verbot des MTLD an. Im Juni 61 62

63

Le commissaire de Longwy à monsieur le sous-préfet de Briey, 19. Jan. 1949, AdM&M 950 W 57. Am 3. Mai 1948 griff die Polizei in Longwy etwa Ait Bekkou Mohamed Ouahcène (*1910, Illilten) auf, der gerade von der Post ein Paket mit Zeitungen abgeholt hatte: Le commissaire des RG de Longwy à monsieur le directeur départemental des services de police de Nancy, 4. Mai 1948, ibid. Le ministre de l’Intérieur à l’inspecteur général de l’administration, préfet de la Moselle, 19. Okt. 1949, AdM&M W 1304 150.

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beklagte er sich gegenüber dem Innenministerium über seine beschränkten Möglichkeiten, gegen den MTLD vorzugehen, und stellte die Aktivisten des MTLD als gefährliche Unruhestifter dar, die die Toleranz des französischen Staates ihnen gegenüber lediglich als Zeichen der Schwäche auslegten64 . Bereits zuvor hatte Perillier in der Erwartung einer härteren Linie der Regierung gegenüber algerischen Nationalisten sämtliche Unterpräfekten seines Departements angewiesen, jegliche Aktivitäten des MTLD so weit wie möglich zu unterbinden. Darunter fielen insbesondere nicht genehmigte Versammlungen etwa in Schlaf- oder Speisesälen und das Verteilen von Zeitungen ohne eine entsprechende Lizenz. Alle Personen, die zum MTLD gehörten, sollten streng überwacht werden. Ziel dieser Maßnahmen war es, Beweise zu sammeln, die ein Verbot der Nachfolgeorganisation des PPA ermöglichen könnten65 . Das Problem der Bedrohung durch Polizei und Gendarmerie blieb für den MTLD bis zu seiner Auflösung bestehen. Die zitierten Anweisungen des IGAME, mit der Aussicht auf ein baldiges Parteiverbot möglichst umfassend gegen den MTLD vorgehen zu können, bestärkten eine bei den lothringischen Ordnungskräften ohnehin verbreitete Haltung: Widerstand oder Widerspruch von Algeriern gegenüber der Staatsgewalt wurde meist als illegitim und tendenziell subversiv bewertet. Besonders deutlich zeigt dies der Fall eines Algeriers aus Knutange, der im Oktober 1948 Anzeige wegen einer körperlichen Misshandlung erstattete, die ihm seinen Angaben zufolge ein Gendarm der örtlichen Brigade zugefügt hatte. In Konsequenz wurde nicht der Beschuldigte, sondern allein der Ankläger zum Gegenstand umfassender Ermittlungen seitens der Gendarmerie. Diese sollten zum Beispiel ergeben, ob der Algerier »Milieus« frequentierte, die der Gendarmerie gegenüber grundsätzlich feindlich eingestellt waren66 . Unter den algerischen Migranten in der Region waren insbesondere MTLD-Mitglieder für viele Beamte ein rotes Tuch und mussten von deren Seite Schikanen und gezielte Provokationen über sich ergehen lassen67 .

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66 67

Louis Perillier, préfet de la Moselle, à monsieur le ministre de l’Intérieur, 4. Juni 1948, S. 3, AdM 370 W 51. Le préfet de la Moselle à monsieur le sous-préfet de Forbach, 20. März 1948, ibid. Siehe auch Le préfet de la Moselle, Louis Perillier, à monsieur le sous-préfet de Sarreguemines, Forbach, Château-Salins, Thionville, Sarrebourg, Boulay, 15. Juli 1948, ibid. Le capitaine Chanteclair, commandant de la SG de Thionville au commandant de la brigade d’Hayange, 19. Okt. 1948, S. 2, SHAT AG à Thionville, 2007 ZM 1/135 900. Beispielsweise holten in Ébange zwei Gendarmen einen Aktivisten des MTLD ohne einen konkreten Anlass aus einer laufenden Sitzung der CGT, um ihn zu verhören. Dabei handelte es sich dem Bericht der Gendarmerie nach um eine gezielte Brüskierung des Algeriers, aber auch der CGT, durch die beiden Gendarmen, von denen einer dem Bericht nach schwer betrunken war. Beide Beamten wurden im Nachhinein von ihrem Vorgesetzten umfassend kritisiert: Rapport du capitaine Chanteclair, commandant de la SG de Thionville, 7. Februar 1951, S. 1, SHAT AG à Thionville, 2007 ZM 1/135 901.

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Aufgrund der ständigen Überwachung der MTLD-Aktivisten durch Polizei und Gendarmerie waren die Arbeiterwohnheime und Barackenlager, in denen die meisten Algerier in Lothringen untergebracht waren, ein wichtiges Aktionsfeld. Die von den Arbeitgebern gestellten Unterkünfte brachten für die Propagandisten eines unabhängigen Algeriens oft gute Voraussetzungen mit sich, um eine hohe Zahl von Algeriern unvermittelt und von der Polizei unbemerkt kontaktieren zu können oder um geheime Treffen abzuhalten68 . In der Region Longwy fiel diesbezüglich speziell die Barackensiedlung Les Quatre Cantines in Longlaville auf. Unter den etwa 400 algerischen Bewohnern lebten dort 1948 mindestens zwei lokale MTLD-Kader69 , die mehrere Treffen der örtlichen MTLD-Sektion abhielten und unter den Bewohnern das Parteiorgan »L’Étoile algérienne« kursieren ließen70 . Im Mai 1948 schickte die französische Föderation des MTLD mehrere Exemplare des Parteiorgans per Post an einen MTLD-Aktivist, der in Les Quatre Cantines lebte71 . Im Juli 1949 zeigten sich die RG davon überzeugt, dass von dort aus die Aktivitäten der drei registrierten MTLD-Sektionen des Beckens angeleitet wurden. Demnach würden von Longlaville die Sektionen Longlaville-Longwy, Réhon-Herserange sowie Villerupt-Thil mit jeweils rund 200, 40 und 10 Anhängern kontrolliert. Als zentrale Figur identifizierten die RG den seit Juli 1947 in Les Quatre Cantines lebenden Amziane Iberrakine, außer dem noch etwa 100 MTLD-Anhänger in der größten Barackensiedlung des industriellen Beckens lebten72 . Les Quatre Cantines erschien somit als der wichtigste Sammlungsort der Messalisten in der Region. Die starke Abhängigkeit des MTLD von den Aktivitäten einzelner Führungspersonen und die Konzentration ihrer Aktivitäten innerhalb einer von Arbeitgebern gestellten Unterkunft beobachtete die Polizei in dieser Phase auch in der zweiten lothringischen Hochburg der Organisation, dem Kohlebecken von Forbach. Dort verfolgten die französischen Behörden die Propaganda des MTLD bereits seit 194773 . Ebenso wie in Longwy fand auch 68

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Bezüglich der von zahlreichen Algeriern bewohnten Siedlung Sainte-Fontaine bei Forbach erinnerte sich Medjani, dass nachts wiederholt Flugblätter des MTLD unter den Eingangstüren hindurchgeschoben wurden: Interview LH–Medjani, 2014, S. 14. 1948 betraf dies Iberrakine Mohamed und Agueni Hocine (*1925 in Agouni), die bei den Aciéries de Longwy als Hilfsarbeiter tätig waren: RG de Longwy, rapport, 2. Juni 1948, AdM&M Cab 158. Ibid., 21. Apr. 1948. Le commissaire des RG de Longwy à monsieur le directeur départemental des services de police à Nancy, 4. Mai 1948, AdM&M 950 W 53; RG de Longwy, rapport, 21. Apr. 1948, ibid. Le commissaire des RG de Longwy à monsieur le sous-préfet de Briey, 16. Juli 1949, AdM&M 950 W 57. Weitere Sektionen des MTLD innerhalb des industriellen Beckens von Longwy befanden sich den Angaben der Polizei nach in Rehon, Saulnes, Villerupt und Mont-Saint-Martin: Le commissaire de police de Longwy au sous-préfet de Briey, 22. Aug. 1949, AdM&M W 1304 163. Le chef des RG de Metz au préfet de la Moselle, 6. Sep. 1947, S. 5, AdM 297 W 18.

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dort am 4. Juli 1948 eine Gedenkveranstaltung zur Eroberung Algiers statt. Ihr wohnten etwa 280 Algerier aus Forbach, Schoeneck, Petite-Rosselle, Stiring-Wendel und Merlebach bei, die sich sich nach Freyming begaben74 . Nach Informationen der RG existierten zu diesem Zeitpunkt bereits mehrere Sektionen des MTLD in der Region, die von den beiden Aktivisten Mekdoub Boussaad aus Hagondange und Feddal Abdallah aus Forbach geleitet wurden. Ihre Aktivitäten erschöpften sich den Angaben zufolge jedoch im sporadischen Verteilen von Flugblättern und des Parteiorgans »L’Étoile algérienne«. Demonstrationen fanden nicht statt und Gelder wurden nur in Form von Spenden eingesammelt, was der Parteipresse gelegentlich Anlass dazu gab, die besondere Großzügigkeit einzelner Sektionen lobend hervorzuheben75 . Zu Beginn des Jahres 1949 glaubten die RG einen deutlichen Rückgang der Aktivitäten des MTLD in Forbach beobachten zu können. Sie erklärten dies damit, dass die beiden anleitenden Kader von der französischen Föderation nach Paris versetzt worden waren, woraufhin es den Messalisten im Kohlebecken an charismatischen Führungspersonen mangelte76 . Ähnlich wie Les Quatre Cantines im Becken von Longwy erwies sich in der Region Forbach das Lager Rosselmont als zentraler Stützpfeiler der regionalen Organisationsstruktur. Als der MTLD im Sommer 1948 eine Kampagne für die Unterstützung des Kampfs der arabischen Armeen gegen die Errichtung eines israelischen Staates anleitete, spendeten die Bewohner dieses Barackenlagers laut einem RG-Bericht insgesamt rund 40 000 Franc77 . Mitte des Jahres 1949 hatten die beiden MTLD-Verantwortlichen für das Kohlebecken, Asfirane Ali (*1914 Constantine) und Dahak Ramdane (*1928 Harbil), dort ihren Wohnsitz. Zehn weitere Bewohner des Lagers stellten das Büro einer eigenen Fraktion, die der Sektion Rosselmont-Forbach angehörte78 . Jedes 74 75

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Commissariat aux RG de Forbach, note de renseignement, 6. Juli 1948, AdM 370 W 51. Information. Déstinataires: M. le directeur des RG Paris, M. l’inspecteur général de l’administration, M. Le préfet de la Moselle, M. le directeur départemental des archives, 18. Mai 1948, ibid. Annexe à la lettre du chef des RG de Metz au directeur des RG à Paris, 3. Feb. 1949, AdM 297 W 18. Commissariat aux RG de Forbach, rapport bimensuel, 29. Juli 1948, AdM 370 W 51. Der MTLD erwies sich in den Auseinandersetzungen im Nahen Osten Zeit seiner Existenz stets als Unterstützer der Palästinenser. In der Sekundärliteratur finden sich dazu jedoch nur vereinzelt Hinweise, vgl. Abssi, Le nationalisme algérien, S. 81; Simon, Le MTLD, S. 51. Die zehn Mitglieder des Büros der ersten Fraktion der Sektion von Rosselmont-Forbach waren der Präsident Lahmar Abdellah (*1917 Bougaa-Guergour), Vizepräsident Bouali Tahar (*1926 Harbil Guergour), der Sekretär Achache Larbi (*1921 El Main), der stellvertretende Sekretär Meziane Amar (*1927 Beni Melikech), der Schatzmeister Nouari Kabah (*1927 Harbil Guergour), der stellvertretende Schatzmeister Meziachi Mohand (*1924 Illoula), der Delegierte Belaribi Mouhoub (*1923 Beni Ouaghlis) und der stellvertretende Delegierte Habchi Mohand Said (*1926 Ittourar), der Kontrolleur Medahi Said (*1927 Ait Yahia-Michelet) ebenso wie der stellvertretende Kontrolleur Meziane Mahmoud (*1920 Tazmalt). Der délégue général à la propagande, der die Verbindung zwischen Fraktionen,

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Mitglied dieses Büros stand einer Zelle mit jeweils neun bis zehn Mitgliedern vor, von denen alle ebenfalls im Lager Rosselmont wohnten79 . Anhand der Polizeiberichte über die Aktivitäten des MTLD in Les Quatre Cantines und Rosselmont wird deutlich, dass die wichtigsten Wohngebiete von Algeriern in Lothringen, die die prekären Existenzbedingungen der Migranten besonders deutlich illustrierten, zugleich die wichtigsten Einflussgebiete der algerischen Unabhängigkeitsbewegung in der Region waren. Dies ist nach der Einschätzung des Autors jedoch nicht allein mit dem typisch kolonialistischen Erklärungsmuster zu begründen, die Wurzel für algerische Aufstände und den entsprechenden Separatismus liege vor allem in der sozialen Notlage der algerischen Bevölkerung. Vielmehr ist an dieser Stelle ein strategisches Geschick der Aktivisten des MTLD in Lothringen zu konstatieren, die es verstanden, die starke Segregation und Konzentration des Wohnraums der algerischen Migranten für ihre Zwecke zu nutzen. 2.2.3 Interne Konflikte, eine flüchtige Anhängerschaft und die Konkurrenten der UDMA Bis in das Jahr 1950 hinein war der MTLD in den größeren Städten Lothringens noch so gut wie inexistent. Indessen war es einigen Aktivisten in den entlegenen Grenzregionen von Longwy und Forbach bereits gelungen, einen beachtlichen Grundstock an Mitgliedern und Sympathisanten für die Organisation anzuwerben. Der entscheidende Grund für ihren Erfolg war dabei die hohe Anzahl der Algerier, die dort lebten, weil sie in der Eisen- und Stahlindustrie beziehungsweise in den örtlichen Minen arbeiteten. Vor allem im Vergleich zu Arbeitern im Baugewerbe verfügten diese in der Regel über deutlich stabilere Arbeits- und Wohnbedingungen, was dem MTLD potenziell eine relativ solide Basis von Unterstützern unter den Migranten verschaffte. Dass der MTLD seinen Stand jedoch auch im unmittelbaren lothringischen Grenzgebiet um 1950 noch immer nicht gefestigt hatte, zeigte sich anlässlich der ersten tiefen Krise der Bewegung im Jahr 1949. Die sogenannte Berberkrise nahm ihren Ausgang an der bereits während der Zwischenkriegszeit umstrittenen Frage nach der Anerkennung der kaby-

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Sektionen und Gruppierungen (groupements) sowie mit der französischen Föderation sicherstellte, war Djemahi Kahia (*1917 Constantine). Sein Stellvertreter hieß Boukaouna Belaid (*1926 Illilten). Das Büro der zweiten Fraktion war den RG zum damaligen Zeitpunkt noch unbekannt: Commissariat aux RG de Forbach, note de renseignement, 11. Juli 1949, S. 3, AdM 370 W 51. Mit ihren zwei Fraktionen zählte die Sektion von Rosselmont damit im Juni 1949 etwa 200 Mitglieder. Zu Beginn des Jahres hatten etwa 250 Algerier den Mitgliedsausweis bezahlt. Laut RG schien es noch weitere Sektionen in L’Hôpital-Carling, Petite-Rosselle, Boulay, Zimming, Thionville, Hagondange und Moyeuvre zu geben. Allerdings konnten sie dazu keinerlei konkrete Informationen liefern, ibid. S. 4.

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lischen Sprache und der kulturellen Heterogenität Algeriens. Im April 1949 hatte das mehrheitlich aus Kabylen bestehende Zentralkomitee der französischen Föderation des MTLD einem Antrag zugestimmt, der die These eines arabisch-muslimischen Algeriens verwarf, zugunsten eines »algerischen Algeriens« ohne Diskriminierung unterschiedlicher Sprachen und Rassen. Die Direktion des MTLD nahm dies als Affront auf. Sie reagierte mit der Auflösung der französischen Föderation und dem Ausschluss der Initiatoren des Antrags aus der Partei. Daraufhin kam es bis zum Dezember 1949 zu teilweise gewaltsam ausgetragenen Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern der beiden Strömungen. Eine entscheidende Konsequenz des Konflikts war der Verlust der Autonomie der französischen Föderation des MTLD, deren Kader in der Folge nur noch von der Zentrale in Algier aus ernannt wurden80 . Unter den lothringischen Aktivisten brachten die Auseinandersetzungen des Jahres 1949 zwar scheinbar keine größeren Verwerfungen mit sich. Dennoch waren die Schockwellen des Bebens, das den MTLD erfasste, auch in Ostfrankreich durchaus spürbar. Im August 1949 beschlagnahmten die RG in Forbach mehrere Flugblätter der kabylischen Aktivisten um Moulay Mohamed Bey, in denen die Gleichsetzung von Algeriern mit Arabern als Rassismus und ein Akt des Verrats bezeichnet wurde. Die Autoren klagten namentlich die Parteikader Khider, Radjef, den capitaine Saidi81 und darüber hinaus die Direktion des MTLD aufs Schärfste an: Auch sie ist es [die Direktion], die unsere wiederholten Vorschläge zu einer Einigung mit Gewalt und Provokationen beantwortet und das Blut von Algeriern vergießt. Jeder kann es nun deutlich sehen: Die Parteimitglieder und das Volk entziehen dieser Direktion ihr Vertrauen, um sich uns, unserem Kampf für die Wahrheit und gegen den Imperialismus anzuschließen82 .

Das gleiche Flugblatt kursierte bereits im Juni 1949 unter MTLD-Mitgliedern der Sektion von Réhon-Herserange83 . Nach Einschätzung der RG von Forbach zeigte diese Propaganda unter den Algeriern in der Region jedoch keine besondere Wirkung84 . Ein späterer Bericht, der im Lager Rosselmont einen dramatischen Einbruch der Mitgliedsbeiträge im Vergleich zum Vorjahr registrierte85 , legt zwar die Vermutung nahe, dass die Krise auch unter 80 81

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Harbi, Le FLN, S. 60–65; Meynier, Histoire intérieure du FLN, S. 96; Stora, Ils venaient d’Algérie, S. 107–110. Diese drei Kader waren zusammen mit Chawki Mostefaï die entscheidenden Akteure bei der Neubesetzung der Ämter des MTLD in Frankreich, siehe Meynier, Histoire intérieure du FLN, S. 96. Commissariat aux RG de Forbach, note de renseignement, 27. Aug. 1949, Annex: Bulletin intérieur du MTLD [Aug. 1949], AdM 370 W 51. Bericht, 8. Juni 1949, AdM&M 950 W 57. RG de Forbach, note de renseignement, 27. Aug. 1949, AdM 370 W 51. Demnach hätten Anfang April 1950 nur etwa 40 der dort lebenden Algerier ihren Beitrag gezahlt, während es unmittelbar vor dem Ausbruch der Krise ein Jahr zuvor noch 230 gewesen seien: ibid., 20. Apr. 1950.

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den zahlreichen kabylischen Aktivisten in Forbach für Unmut sorgte. Für diese Spekulation gibt es jedoch keinerlei weitere Hinweise über etwaige Auseinandersetzungen unter MTLD-Mitgliedern in der Region86 . Dass die internen Konflikte des MTLD auch für die Aktivisten in Lothringen eine gewisse Rolle spielten, war nicht der entscheidende Faktor für den schleppend verlaufenden Aufstieg der Organisation dort. Eine bedeutendere Rolle spielten diesbezüglich die hohe Mobilität des algerischen Milieus, der Mangel an effizienten Kadern und die ständige Bedrohung durch die Polizei. Hinzu kamen außerdem die Aktivitäten anderer politischer Organisationen, die sich ebenfalls um die politische Gefolgschaft von Algeriern bemühten. Diesbezüglich machte von algerischer Seite insbesondere die von Ferhat Abbas gegründete UDMA auf sich aufmerksam. Die erste UDMA-Sektion Lothringens wurde bereits im September 1947 in Nancy gegründet. Unter der Führung von Ayad Ali zählte sie im Oktober des gleichen Jahres 20 Mitglieder87 . Im April 1948 wiesen die RG darauf hin, dass sich auch im industriellen Becken von Longwy mehrere »Nordafrikaner« zur UDMA bekannten88 . Drei Jahre später sah es dann so aus, als könnte dem MTLD in seiner wichtigsten Einflusszone in Lothringen durch die UDMA eine ernsthafte politische Konkurrenz erwachsen: Am 30. September 1951 wurde im Beisein von rund 200 Algeriern in Thil eine Sektion der UDMA mit etwa 40 Mitgliedern gegründet. In den 14-köpfigen Vorstand traten mit Rahou Meneth und Ferroukh Chérif auch zwei ehemalige MTLD-Mitglieder ein89 . Zum Ende ihrer Gründungsveranstaltung erinnerten sie das Auditorium unter anderem an die verbrecherischen Herrschaftsmethoden Frankreichs in Algerien und bezeichneten es als die Pflicht aller Algerier, sich gegen Kolonialismus in Nordafrika und überall sonst auf der Welt einzusetzen90 . Damit standen sie ihren Konkurrenten des MTLD zumindest in der Radikalität ihrer Rhetorik in nichts nach91 . Die Anfänge der UDMA-Sektion von Villerupt gaben den Anhängern des Manifests durchaus Anlass zur Hoffnung, dass sie dem MTLD in der Region zukünftig nicht das Feld überlassen mussten.

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Auch in den bisherigen Studien über die Krise des MTLD 1949 wird davon ausgegangen, dass die Krise in Meurthe-et-Moselle bzw. Lothringen wenig bis keinerlei Bedeutung hatte: Harbi, Le FLN, S. 64; Meynier, Histoire intérieure du FLN, S. 96. RG de Nancy, note d’information, 21. Nov. 1947, AdM&M 950 W 53. RG de Longwy, rapport, 14. Apr. 1948 AdM&M Cab 158. Dabei handelte es sich um Rahou Meneth und Ferroukh Chérif, die der Polizei als besonders rege Aktivisten des MTLD aufgefallen waren, sich den Angaben nach jedoch mit der Direktion überworfen hatten. Dass es sich dabei um eine Folge der »Berberkrise« handelte, ist durchaus möglich, kann jedoch nicht nachgewiesen werden: Inspecteur du service Robert Lechaine à monsieur le commissaire de police de Villerupt, 25. Okt. 1951, AdM&M 950 W 57. Ibid. Vgl. dazu in einem größeren Kontext Rahal, La place des réformistes.

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2.2.4 Annäherung des MTLD und der CGT in der Region Longwy Ungeachtet einiger Anfangserfolge der UDMA waren vor allem die im PCF und der CGT organisierten Kommunisten die größten Konkurrenten des MTLD um die politische Gefolgschaft der Algerier in Lothringen. Allerdings gestaltete sich das Verhältnis des MTLD zum PCF deutlich komplizierter als das zur UDMA, da beide Parteien eine langjährige gemeinsame Geschichte verband und die Kommunisten in den lothringischen Industrie- und Minenzentren darüber hinaus auch eine zentrale politische Kraft darstellten92 . Dabei ist es eine regionale Besonderheit, dass der PCF in Lothringen seinen Aufstieg nur im Windschatten der CGT vollziehen konnte, weshalb Serge Bonnet für Lothringen von einem »communisme syndical« gesprochen hat93 . Bis in die 1960er Jahre hinein stand zumindest in der Region Longwy das leninistische Bild des gewerkschaftlichen Transmissionsriemens insofern Kopf, als die Mobilisierung innerhalb der Betriebe und die Aktivitäten innerhalb der CGT vor der weiteren Entwicklung der Strukturen des PCF eindeutig Priorität hatten94 . Im Zuge der Arbeitskämpfe des Jahres 1947 hatten die Kommunisten in der Region in mehreren Stahlfabriken zum Teil massive Lohnerhöhungen durchsetzen können95 , woraufhin die CGT sich als die mit Abstand einflussreichste Gewerkschaft der Region etablierte96 . Parallel dazu verzeichnete der PCF eine kontinuierliche Zunahme an Wählerstimmen. 92

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Aufgrund ihrer eng miteinander verwobenen Geschichte teilten PCF und MTLD zahlreiche politische Inhalte und Kampfparolen wie den Kampf gegen kapitalistische Ausbeutung, Imperialismus und Kolonialismus. Sie pflegten auch gemeinsame Traditionen, insbesondere die Demonstrationen zum Tag der Arbeit am 1. Mai, und unterhielten eine ähnliche Parteistruktur. Schließlich postulierten sowohl die französischen Kommunisten als auch die algerischen Nationalisten, die Interessen der algerischen Arbeiterklasse zu vertreten, die für beide mit denen der französischen Arbeiterklasse übereinstimmten. Allerdings warb der PCF für eine Emanzipation innerhalb der französischen Nation, setzte algerischen Nationalismus häufig mit Faschismus gleich und trat im Sinne der französischen Zivilisierungsmission für eine Überwindung der Religion ein. Dagegen pochten die Anhänger Messali Hadjs in einer oftmals stark religiös gefärbten Rhetorik auf die Anerkennung einer eigenständigen algerischen Nation und klagten neben der wirtschaftlichen Unterdrückung auch die politische und kulturelle Unterdrückung der Algerier an. Serge Bonnet, Sociologie politique et religieuse de la Lorraine, Paris 1972, S. 359. Mischi, Servir la classe ouvrière, S. 61. Noiriel, Longwy, S. 320f. Ibid., S. 355. Die Stärke der CGT im industriellen Becken von Longwy war eine lokale Besonderheit innerhalb des stark von katholischen und militärischen Traditionen beeinflussten Lothringen. Im benachbarten Departement Moselle war in dieser Phase die CFTC die stärkste Gewerkschaft, vgl. Valentine Gauchotte, Les catholiques en Lorraine et la guerre d’Algérie, Paris 1999, S. 61. Im Departement Moselle waren laut Émile Rideau am 31. Dezember etwa 10 000 von 39 934 Arbeitern der Eisen- und Stahlindustrie Gewerkschaftsmitglieder, etwa 7000 besaßen eine Mitgliedskarte der CGT: Rideau, Essor et problèmes d’une région française, S. 175.

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1956 wählte ein Drittel des Kantons Longwy die kommunistische Partei Frankreichs97 . Noch zum Ende der 1940er Jahre standen die lothringischen Aktivisten des MTLD den französischen Kommunisten ablehnend bis feindlich gegenüber. Dies zeigte sich in Moselle und Meurthe-et-Moselle besonders deutlich in Bezug auf den Krieg in Palästina. Während der MTLD 1948 Spenden für die arabischen Armeen sammelte und damit bei vielen Algeriern auf Zustimmung stieß98 , erkannte der PCF den Staat Israel an. In Longwy99 und Nancy100 reagierten viele Algerier auf diesen Schritt mit einer demonstrativen Distanzierung von den Kommunisten. Aus Hagondange hieß es, mehrere Algerier hätten auf die Anerkennung mit dem Austritt aus der CGT reagiert und ihre Mitgliedskarten demonstrativ zerrissen101 . Während des gleichen Jahres waren die MTLD-Aktivisten auch deshalb in Opposition zur CGT geraten, da sich die Leitung der französischen Gewerkschaft einer Unterstützung der Proteste gegen die Wahlfälschungen in Algerien verweigert hatte. In Longwy hatten die Messalisten daraufhin alle Algerier dazu aufgerufen, der CGT den Rücken zuzukehren, woraufhin etwa 100 dort ansässige Algerier aus der Gewerkschaft austraten102 . Die französischen Kommunisten bemühten sich durchaus, ihren Einfluss auf Algerier in Lothringen zumindest durch Einzelaktionen auszubauen. So schickte der PCF etwa im Juli 1948 den algerischen PCA-Abgeordneten aus Constantine, Djemaad Chérif, zu zwei Informationsveranstaltungen für die dortigen Migranten eigens nach Piennes und Homecourt. Vor jeweils 100 und 40 anwesenden Algeriern warb dieser in arabischer und kabylischer Sprache für die Mitgliedschaft im PCF und der CGT. Er erteilte Ratschläge für das Leben in der Metropole und griff bei seinem Vortrag auch den Krieg in Palästina auf, jedoch lediglich, um die vermeintlichen amerikanischen und britischen Profiteure der dortigen Auseinandersetzung zu attackieren103 . Das Verhältnis zwischen PCF und MTLD blieb auch nach 1948 weiterhin von starken Schwankungen und offenen Zerwürfnissen geprägt. Seit 1949 konnte jedoch die CGT in zunehmendem Maße als Brücke zwischen den beiden Organisationen fungieren und später auch als Plattform für gemeinsame politische Aktionen. Dieser Wandel war durch zwei strategische Neuausrichtungen beider Organisationen zustande gekommen. Dies war zum einen eine 97 98 99 100 101

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Noiriel, Longwy, S. 357f. RG de Longwy, rapport, 2. Juni 1948, AdM&M Cab 158. Rapport mensuel. Nord-Africains, o. D., AdM&M 950 W 53. RG de Nancy, note d’information, 4. Mai 1948, ibid. Information. Déstinataires: M. le directeur des RG Paris, M. l’inspecteur général de l’administration, M. le préfet de la Moselle, M. le directeur départemental des archives, 18. Mai 1948, AdM 370 W 51. RG de Longwy, rapport, 2. Juni 1948, AdM&M 950 W 57. Direction départementale des services de police, Meurthe-et-Moselle, note de renseignement, 10. Juli 1948, AdM&M 950 W 53.

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Resolution des MTLD-Zentralkomitees im Dezember 1948. Um das Feld der gewerkschaftlichen Aktivitäten nicht länger den Kommunisten zu überlassen und die Möglichkeiten der Anklage der verschiedenen Formen der Diskriminierung algerischer Arbeiter zu maximieren, entschied sich die Führung dafür, die bisherige Oppositionshaltung zur CGT aufzugeben und die Gewerkschaft stattdessen gezielt zu unterwandern104 . 1933 hatten die Statuten der neu konstituierten ENA noch ein explizites Verbot einer Doppelmitgliedschaft von PCF und ENA vorgeschrieben105 . Nach der Wende zum Ende des Jahres 1948 wurde es den Mitgliedern der Bewegung gar empfohlen, in die Gewerkschaft einzutreten106 , die gemeinhin als Transmissionsriemen des PCF bezeichnet wurde. Bis 1954 verzeichnete die CGT einen massiven Zulauf seitens algerischer Arbeiter in der Metropole107 . Der zweite entscheidende Schritt, der die Annäherung zwischen CGT und MTLD möglich machte, war die neue Haltung der französischen Gewerkschaft in Bezug auf die Unabhängigkeitsbestrebungen der »Völker Tunesiens, Marokkos und Algeriens«, die sie seit November 1950 offiziell als legitim anerkannte und in der Öffentlichkeit unterstützte. Darin spiegelte sich sowohl eine Neupositionierung gegenüber der französischen Regierung wider als auch eine Hinwendung zu der schnell wachsenden potenziellen Klientel der Arbeiter, die aus jenen Ländern kamen108 . In Lothringen wurden seit dem Ende des Jahres 1950 erste Anzeichen einer Annäherung zwischen MTLD und CGT beobachtet. So berichteten die RG im November, dass MTLD und CGT sich koordinierten, um die wachsende Zahl arbeitsloser Algerier in der Region ihrem Einfluss zu unterziehen109 . Das zwei Jahre zuvor noch von erbitterter Konkurrenz bis hin zu offener Feindschaft geprägte Verhältnis zwischen algerischen Nationalisten und französischen Kommunisten in der Region hatte einen fundamentalen Wandel durchgemacht. Am 1. Mai 1951 kam es in der Region Longwy erstmals zu massiven Auseinandersetzungen zwischen Algeriern und der französischen Polizei innerhalb Lothringens. Das Ereignis illustriert nicht nur den neuen Kurs eines offensiven bis konfrontativen Vorgehens einiger führender aktiver Mitglieder des MTLD der Region. Es zeigt auch, wie sehr das Bündnis mit 104 105

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Harbi, Le FLN, S. 51–54. Benjamin Stora, Avant la deuxième génération. Le militantisme algérien en France (1926–1954), in: Revue européenne des migrations internationales 1 (1985), S. 69–93, hier S. 75. Mohammed Harbi, Une vie debout. Mémoires politiques, Paris 2001, S. 82–85. Benjamin Stora zufolge waren 1954 über 80 % der algerischen Arbeiter in der Metropole in der CGT: Stora, Ils venaient d’Algérie, S. 111. Laure Pitti, La CGT et les Algériens en France métropolitaine durant les années 1950. Une décennie de tournants, in: Elyane Bressol (Hg.), La CGT dans les années 1950, Rennes 2005, S. 461–471. Bericht, 24. Nov. 1950, AdM&M 950 W 65.

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der CGT sich in der Zwischenzeit gefestigt hatte. Schließlich verdeutlichen die Maidemonstrationen in Longwy 1951 und ihre unmittelbaren Folgen den großen Einfluss der algerischen Unabhängigkeitsbewegung auf die Migranten innerhalb des industriellen Beckens; sie stellen aber auch heraus, dass das radikale Vorgehen des MTLD unter den Algeriern keineswegs unumstritten war. Nach Einschätzung der RG hatten die Anhänger Messali Hadjs erst seit dem Frühling 1950 einen deutlichen Einflussgewinn unter den Algeriern in der Region verzeichnen können110 . Ungeachtet dessen agierte der MTLD zunächst weiter im Hintergrund und trat außer durch die gelegentliche Verteilung von Propaganda unter den algerischen Migranten kaum in der Öffentlichkeit auf. Seit März 1951 häuften sich dann die Berichte der lokalen Behörden über größere Veranstaltungen des MTLD an verschiedenen Orten. Sie wurden fast durchweg als provokativ eingestuft. Dem Subpräfekten von Briey bereiteten insbesondere die Aktivitäten des ehemaligen Soldaten Rahou Mohammed Sorgen, der in Villerupt wohnte und sowohl Mitglied der CGT als auch ein führender Aktivist des MTLD war. Demnach hatte Rahou im März den Subpräfekten und die Aktivitäten der Wohlfahrtsorganisation AANAL gegenüber einigen Algeriern mehrfach verunglimpft. Zudem hatte er zusammen mit einem weiteren Algerier zwei »Nordafrikaner« angegriffen, wofür aus Mangel an Beweisen lediglich der Mittäter zu einem Monat Haft verurteilt worden war111 . Seit April 1951 vermerkten die lothringischen Polizeidienste eine deutliche Intensivierung der Propagandaaktivitäten des MTLD. Demnach fand in Nancy am 1. April eine Veranstaltung statt, bei der aus Paris eingetroffene MTLD-Aktivisten die »muslimische Politik« Frankreichs kritisierten112 . Am 8. April wurden zwei ähnliche Veranstaltungen des MTLD registriert, denen in Longwy 500113 und in Villerupt 800 Algerier beiwohnten114 . In der Nacht des 13. April schoss eine unbekannte Person mit einem Schnellfeuergewehr in das Fenster der Unterkunft eines Ingenieurs in Villerupt. Der Verdacht der Polizei fiel auf Rahou, da dieser nach einem Streit mit jenem Ingenieur kurz zuvor versetzt worden war115 . Als sieben algerische Arbeiter des Unternehmens Collet in Longwy in ihrem Wohnwagen eine Vergiftung durch Kohlenmonoxid erlitten (zwei der Arbeiter starben, die fünf anderen wurden in ein Krankenhaus gebracht), kam es zu einer weiteren Machtdemonstration des MTLD. Der zuständige Subpräfekt ließ den Imam aus Metz rufen, um die Beerdigung durchzuführen. 110 111 112 113 114 115

RG de Longwy, rapport, 6. Mai 1950, AdM&M 950 W 57. Le sous-préfet de Briey, note de renseignement, 23. Apr. 1951, AdM&M 950 W 65. Ibid. Message téléphoné de la gendarmerie, 9. Apr. 1951, AdM&M 950 W 65. L’Est républicain, 9. Apr. 1951. Le sous-préfet de Briey, note de renseignement, 23. Apr. 1951, AdM&M 950 W 65.

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Aufgrund eines Boykottaufrufs des MTLD gegen die Präsenz des verbeamteten Imams war jedoch kein Algerier bei der Beerdigung zugegen116 . In diesem Kontext war es sowohl für die MTLD-Aktivisten als auch für die französischen Behörden abzusehen, dass die zunehmend offene Konfrontation anlässlich der Demonstrationen zum 1. Mai auf die Spitze getrieben werden konnte. Die Messalisten schienen konkret darauf hinzuarbeiten, indem sie versuchten, an mehreren Orten des Beckens durch die Verteilung von Flugblättern möglichst viele Algerier für die Demonstration zu mobilisieren117 . Indessen suchten der Subpräfekt von Briey, Lucien Ferré, und der Bürgermeister von Villerupt den direkten Kontakt zu führenden MTLD-Aktivisten in Longwy, Longlaville und Villerupt118 , um der sich anbahnenden Eskalation entgegenzuwirken. Sie warnten den Chef der MTLD-Sektion von Villerupt, Belgacem B.119 , insbesondere davor, auf der Maidemonstration eine algerische Fahne mitzuführen, die als ein Symbol »antifranzösischen Charakters« verboten sei120 . Trotz dieser Warnung führte der Demonstrationszug des MTLD, der mit rund 1000 Algeriern erwartungsgemäß den mit Abstand größten Anteil der Teilnehmer in Longwy stellte121 , neben mehreren Spruchbändern und 116

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Ibid. Sarah Vanessa Losego hat diesbezüglich auf einen Polizeibericht hingewiesen, demzufolge algerische Hoteliers die Abwesenheit anderer Algerier bei dieser Beerdigung damit erklärt hätten, dass es sich bei dem Toten nicht um einen Kabylen, sondern um einen Mauren aus dem Departement Constantine handele, der keine Freunde oder Verwandte in der Region gehabt habe: Losego, Fern von Afrika, S. 323f. Diese Version scheint vor allem deshalb hinfällig zu sein, da es zwei Todesopfer gab und die Zahl der 1950 in der Region Longwy lebenden Algerier aus dem Departement Constantine keineswegs vernachlässigt werden kann, vgl. Girard, Leriche, L’immigration nordafricaine, S. 101–105. Insbesondere die Aktivisten im Barackenlager Les Quatre Cantines hatten bereits im Vorfeld intensiv für die Teilnahme an der Demonstration geworben. In der Nacht von 25. auf 26. April waren an mehreren Stellen in Longlaville Plakate aufgehängt worden, die dazu einluden, sich an der bevorstehenden Demonstration zum 1. Mai zu beteiligen und im Sinne des MTLD u. a. für die Unabhängigkeit Algeriens, die Befreiung Messalis und gleichen Lohn bei gleicher Arbeit zu marschieren: RG de Longwy, message téléphoné, 26. Apr. 1951, AdM&M W 1304 164. Sous-préfecture de Briey, note de renseignement, 2. Mai 1951, AdM&M 950 W 65. Der volle Name dieser Person wurde von Losego nicht genannt. Losego, Fern von Afrika, S. 323f. Die genaue Anzahl der Demonstranten und der darunter befindlichen Algerier ist ungewiss. Einige Quellen sprechen von insgesamt 1200 Demonstranten, von denen etwa 900 Algerier gewesen seien: Bericht: »La population algérienne du Departement« [vermutlich: RG de Nancy, Mai 1951], AdM&M 950 W 53. Anderen Berichten zufolge demonstrierten an diesem Tag sogar 1000 bis 2000 Algerier in Longwy. Die Zahl von 2000 scheint übertrieben zu sein, da die Gesamtzahl der Algerier in Meurthe-et-Moselle ein Jahr zuvor nach den Angaben Jean-Jacques Ragers knapp 2500 betrug. Zu einer Mobilisierung von vier Fünfteln aller algerischen Migranten des Departements dürfte der MTLD zu diesem Zeitpunkt nach Einschätzung des Autors nicht in der Lage gewesen sein: Girard, Leriche, L’immigration nord-africaine.

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-Plakaten auch eine algerische Fahne mit122 . Als die anwesenden Polizisten in Mont-Saint-Martin versuchten, diese zu beschlagnahmen, scheiterten sie jedoch an dem Widerstand der Demonstranten, die ihre Symbole des Protests nach einem Handgemenge bewahren konnten123 . Bei einem zweiten Zwischenfall in Villerupt kam es zu einer Konfrontation zwischen einigen Polizeibeamten und Rahou sowie Belgacem B. Die Polizei nahm jedoch in beiden Fällen lediglich ein Protokoll auf, ohne Festnahmen durchzuführen124 . Erst nachdem die eigentlichen Demonstrationen bereits beendet waren, kam es zu einer handfesten Eskalation. Gegen 20 Uhr erschien eine Gruppe von etwa 200 Algeriern vor dem Polizeikommissariat Longwys und forderte die Freilassung eines dort wegen Trunkenheit in der Öffentlichkeit inhaftierten Algeriers. Die Polizisten weigerten sich, dem nachzukommen, woraufhin einige Algerier versuchten, das Kommissariat zu stürmen. Die Beamten konnten den Angriff zwar abwehren, drei von ihnen wurden dabei jedoch mit Messerstichen verletzt125 . Der Anführer der Gruppe und Chef der MTLD-Sektion von Longlaville, Mustapha Guedri, wurde als angeblicher Hauptanstifter dieser Aktion verhaftet126 . Der MTLD suchte am 1. Mai gezielt die direkte Konfrontation mit der Polizei. Die lokale CGT unterstützte die algerischen Aktivisten dabei sowohl im Vorfeld während der Auseinandersetzungen als auch im Nachhinein. Beide Organisationen riefen schon für das Wochenende nach dem 1. Mai zu einer erneuten Demonstration an der Place de l’Industrie in Longwy auf. Dazu verfassten sie ein gemeinsames Protestschreiben gegen die »polizeilichen Provokationen vom 1. Mai«, das an mehreren Orten des Beckens verteilt wurde127 . Die französischen Behörden waren somit gewarnt. Mit der Begründung, die Veranstaltung sei zu spät angemeldet worden, verweigerte der Bürgermeister von Longwy der CGT die Erlaubnis, diese durchzuführen128 . Die Präfektur von Meurthe-et-Moselle ordnete für den 5. Mai eine massive Polizeipräsenz in Longwy an, die neben der lokalen Polizei auch ein Peloton der Gendar-

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Brief des Polizeikommissars von Longwy an den Präfekten von Meurthe-et-Moselle, 2. Mai 1951, AdM&M W 1304 164. Bericht »La population algérienne du departement« [vermutlich: RG de Nancy, Mai 1951], AdM&M 950 W 53. Sous-préfecture de Briey, note de renseignement, 2. Mai 1951, AdM&M 950 W 65. Über etwaige Verletzte auf algerischer Seite machte der Bericht keine Angaben. Informationsschreiben des Subpräfekten über das Verhalten von Nordafrikanern im Arrondissement von Briey, 1. Mai 1951, 2. Mai 1951, AdM&M W 1304 164. Das Barackenlager Les Quatre Cantines, in dem Guedri untergebracht war, erschien damit ein weiteres Mal als Zentrale der besonders militanten MTLD-Aktivisten in der Region. RG de Longwy, rapport, 4. Mai 1951, AdM&M 950 W 65. Le maire de Longwy à monsieur le secrétaire de l’union locale des syndicats ouvriers du bassin de Longwy à Longwy-Bas, 4. Mai 1951, AdM&M 950 W 60.

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merie, zwei Sektionen der Compagnies républicaines de sécurité (CRS) aus Longuyon und eine weitere CRS-Kompanie umfasste129 . Trotz der massiven Drohkulisse der Ordnungskräfte und des offiziellen Verbots der Protestveranstaltung fand diese dennoch statt. Die Organisatoren verlegten sie vor das Rathaus von Longwy130 , wo sich am Nachmittag des 5. Mai rund 400 »Nordafrikaner« versammelten. Fünf Redner von PCF, CGT, MTLD und dem Secours français verurteilten das Vorgehen der Polizei und riefen alle Anwesenden dazu auf, der CGT beizutreten. Schließlich wurde ein Antrag verabschiedet, der die Befreiung Guedris und Messali Hadjs, den Abschluss eines Friedensvertrags der fünf Großmächte und das Ende der polizeilichen Provokationen gegen die Arbeiterklasse forderte131 . Am 1. und am 5. Mai 1951 wurden in Longwy zentrale Forderungen algerischer Nationalisten und französischer Kommunisten auf gemeinsamen Veranstaltungen gleichberechtigt nebeneinandergestellt. PCF, CGT und MTLD inszenierten sich als einiges Bündnis im Kampf gegen die Unterdrückung durch die französische Staatsmacht beziehungsweise für die Interessen der algerischen Arbeiter. An dieser Stelle wird deutlich, dass die Anhänger der algerischen Unabhängigkeitsbewegung im lothringischen Grenzgebiet keineswegs isoliert agierten und allein auf die Unterstützung algerischer Migranten angewiesen waren. In Longwy konnten sie darüber hinaus auch auf die Solidarität der französischen Kommunisten zählen, die sich dort als bedeutende politische Kraft innerhalb der gesamten Arbeiterschaft bereits etabliert hatten. Es muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass die Forderungen des MTLD und dessen offener Kurs der Konfrontation nicht von allen algerischen Migranten gutgeheißen wurden. Kurz nach dem 1. Mai 1951 unterschrieben mehrere Algerier einen Brief an den Subpräfekten von Briey, in dem die Ausschreitungen vom 1. Mai als Aktionen einer störenden Minderheit von Agitatoren verurteilt wurden132 . Bereits im April 1951 hatten MTLD-Aktivisten im industriellen Becken von Longwy damit begonnen, ihren Forderungen beziehungsweise ihrer Oppositionshaltung gegenüber dem französischen Staat innerhalb des öffentlichen Raums Ausdruck zu verleihen. Am 1. Mai gingen sie noch einen Schritt weiter. Getragen von der Rückendeckung durch die CGT-Führung sowie der Unterstützung Hunderter algerischer Demonstranten schlugen sie 129 130 131

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Le préfet de Meurthe-et-Moselle à monsieur le sous-préfet de Briey, o. D.: au sujet de la manifestation prévue à Longwy pour le samedi, 5. Mai, ibid. Sie begannen 45 Minuten später als geplant (um 16.45 Uhr) und begrenzten die Veranstaltung auf etwas mehr als eine Stunde. Télégramme de la gendarmerie de Nancy à préfet de Meurthe-et-Moselle, 5. Mai 1951; Message téléphoné du commissariat aux RG de Longwy du 5 mai 1951 à monsieur le préfet de Meurthe-et-Moselle, 5. Mai 1951, AdM&M 950 W 65. Brief des Subpräfekten von Briey an den Präfekten von Meurthe-et-Moselle, 5. Mai 1951, AdM&M W 1304 164.

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erst einen Kurs der offenen Provokation und dann der Konfrontation ein. Sie forderten die Staatsmacht erst durch die Zurschaustellung der algerischen Flagge und dann durch den Angriff auf das Polizeikommissariat gezielt heraus und demonstrierten damit sämtlichen Beobachtern ihre Entschlossenheit. Die Anstrengungen für den algerischen Unabhängigkeitskampf und in diesem Zusammenhang die politische Mobilisierung der algerischen Migranten erreichten damit in Lothringen eine neue Qualität. 2.2.5 Ein Architekt des MTLD: Mourad Terbouche in Nancy Der fokussierte Blick auf die Ereignisse des 1. Mai 1951 in Longwy soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass die dortigen MTLD-Aktivisten aus der Perspektive ihrer Organisation gewissermaßen an der Peripherie der Peripherie agierten. Das Machtzentrum des MTLD lag bei der Direktion in Algier. Die davon abhängige französische Föderation hatte ihren Sitz in Paris. Auch wenn die aufsehenerregende Kooperation mit der CGT in Longwy von den Aktivisten vor Ort konkret gestaltet wurde – sie wäre ohne die Zustimmung der höheren Etagen des MTLD nicht möglich gewesen. Auch in anderen Orten der Metropole kam es am gleichen Tag zu gemeinsamen Demonstrationen ebenso wie zu Auseinandersetzungen mit der Polizei133 . Um den Einfluss des MTLD auf die Algerier in Lothringen zu erhöhen, gab die Führung der Organisation ganz konkrete Anweisungen oder Anstöße, die von den Mitgliedern dieser disziplinierten Kaderpartei in der Regel auch befolgt wurden. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die im Anschluss an die Direktiven vollzogenen Initiativen einzelner Aktivisten vor Ort keine Rolle gespielt hätten. Neben der Entscheidung, die Kooperation mit der CGT zu suchen, war ein weiterer folgenreicher Schritt der Direktion des MTLD die Entsendung Mourad Terbouches (*1921, Fort-National) nach Nancy als neuem Verantwortlichen für die Region im September 1950. Terbouche, der vier Jahre später die Führung der ersten französischen Föderation des FLN übernahm, hatte bereits zuvor in den Ardennen und in der Region Paris Rekrutierungsarbeit für den MTLD geleistet134 . In Nancy bezog der neue chef régional eine Wohnung in der stark von Algeriern frequentierten Altstadt in der Rue de la Hache. Unter dem Decknamen Mezziane versuchte er zunächst, möglichst viele Algerier unmittelbar vor Ort für eine Unterstützung des MTLD zu gewinnen135 . Diese Bemühungen trugen im Frühling 1951 erste sichtbare Früchte. Nachdem Terbouche im April der ersten voll funktionsfähigen kasma von Nancy vorstand136 , trat der MTLD in der Hauptstadt von Meurthe-et-Moselle anläss133 134 135 136

Pitti, La CGT et les Algériens; siehe auch Danielle Tartakowsky, Les manifestations de rue en France. 1918–1968, Paris 1997, S. 633. RG de Longwy, note d’information, 18. Mai 1951, AdM&M Cab 158. RG de Nancy, note d’information, 29. Juni 1951, AdM&M 950 W 57. Ibid. Siehe zu kasma auch Anm. 50 in diesem Kapitel.

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lich der Demonstrationen zum 1. Mai auch erstmals öffentlich in Erscheinung. Terbouche ergriff vor etwa 800 Demonstranten, unter denen sich ca. 450 Algerier befanden, das Wort und warb sowohl für die Rechte algerischer Arbeiter als auch für die algerische Unabhängigkeit137 . Nach dem 1. Mai 1951 war der hohe potenzielle Einfluss des MTLD auf die algerischen Migranten in Lothringen in aller Öffentlichkeit sichtbar geworden. Außer den französischen Kommunisten suchten daraufhin auch andere Organisationen den Kontakt zu den Messalisten. Mitte Mai wandten sich etwa das vom Abbé Pierre gegründeten Comité lorrain pour la défense des intérêts démocratiques et populaires sowie Vertreter des Mouvement contre le racisme et pour l’amitié entre les peuples an Mourad Terbouche, um politische Schnittmengen auszuloten138 . Indessen konzentrierte sich der chef régional des MTLD jedoch vor allem darauf, das Bündnis mit der CGT stärker zu seinen Gunsten zu nutzen. Dem Gewerkschaftssekretär des Departements Meurthe-et-Moselle, Marcel Dupont, signalisierte er, dass es in Zukunft nur noch bei solchen Aktionen eine Kooperation geben könne, die explizit auf die Befreiung Algeriens und die Interessen der algerischen Arbeiter zielten139 . Um der algerischen Unabhängigkeitsbewegung in Lothringen weiter Auftrieb zu verleihen, organisierte Terbouche im Sommer sogar eine Reise Messali Hadjs nach Nancy. Am 2. August 1951 wurde der zaim140 dort am Bahnhof von Terbouche und etwa 100 weiteren Algeriern mit einem Blumenkranz empfangen141 . Zwei Tage darauf trat Messali bei einer Veranstaltung des MTLD in der Maison du peuple in Nancy als alleiniger Redner auf142 . Diese Veranstaltung, der nach Polizeiangaben nur etwa 100 Algeriern beiwohnten143 , stellte späteren Angaben der Polizei zufolge einen weiteren Meilenstein in der Aufstiegsgeschichte des MTLD dar. Demnach konnte Terbouche zur Finanzierung des Aufenthalts Messalis an mehreren Orten zahlreiche Spenden von Algeriern einsammeln und bis zum Frühling des

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Bericht »La population algérienne du departement«, AdM&M 950 W 53; RG de Nancy, note d’information, 25. Mai 1951, AdM&M 950 W 57. Ibid., 29. Juni 1951. RG de Longwy, note d’information, 18. Mai 1951, AdM&M Cab 158. Messali Hadj wurde von seinen Anhängern oft als zaim bezeichnet. Dies bedeutet auf Arabisch so viel wie Anführer. Einige Berichte sprachen von 150, andere von 80 Algeriern, die mit Terbouche am Gleis auf Messali warteten. RG de Nancy, note d’information, 4. Aug. 1951, AdM&M 950 W 57. Diese Schätzung der Polizei muss besonders vorsichtig bewertet werden. Deren spärlicher Bericht über dieses Ereignis, für das der MTLD keinerlei öffentliche Werbung gemacht hatte, lässt vermuten, dass es sich ohne Wissen der Polizei ereignete. Ein Grund für diese Diskretion ist sehr wahrscheinlich in der damaligen Situation Messalis zu suchen, dessen Reise nach Lothringen vom Innenministerium nur genehmigt wurde, weil er als offizielle Begründung angab, die Familie seiner Frau in Neuves-Maisons besuchen zu wollen.

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kommenden Jahres zwischen 500 und 600 neue Anhänger für den MTLD gewinnen144 . Mourad Terbouche erwies sich als besonders umtriebiger chef régional, der über viele verschiedene Wege versuchte, die Anhängerschaft des MTLD in Lothringen zu erhöhen. Er war nie gewählt, sondern von der Parteiführung eingesetzt worden. Dies und die Vielfalt seiner Aktivitäten sowie deren erste Erfolge zeigen, dass die gezielte Politisierung der algerischen Migranten in Lothringen ein zentral angeleitetes und strategisch genau kalkuliertes Unternehmen war. Dessen Erfolgsbedingungen hingen jedoch entscheidend von lokalen Konstellationen ab, wie der Präsenz von starken Kooperationspartnern und vor allem der Empfänglichkeit algerischer Migranten für die Propaganda des MTLD. Beide Faktoren waren seit 1951 zumindest in den beiden lothringischen Hochburgen des MTLD gegeben. Sie schufen in Kombination mit den regen Aktivitäten Mourad Terbouches ein Fundament für den MTLD, das der Organisation eine weitere Expansion in Lothringen ermöglichte.

2.3. Die kurze Blütezeit des MTLD 2.3.1 Koloniale Repression als Nährboden des Antikolonialismus Gemessen an den Mitgliederzahlen und seiner Fähigkeit zur Mobilisierung erlebte der MTLD zwischen Mai 1952 und dem Ende des Jahres 1953 in Lothringen eine Hochphase. Diese nahm ihren Ausgang mit einer erneuten Verhaftung Messali Hadjs, die an vielen Orten in Algerien und der Metropole Proteste und Solidaritätsbekundungen mit dem MTLD auslöste. Den größeren Kontext stellten zunächst die andauernden Auseinandersetzungen Messalis mit der Parteidirektion dar, in deren Folge der zaim versuchte, seine Machtposition durch eine Reihe politischer Redeauftritte in Algerien zu stärken. Diese Rechnung ging zunächst auf: Seine unabhängig von der Parteiorganisation geplante und durchgeführte Rundreise durch den Constantinois im April 1952 nahm die Form eines regelrechten Triumphzugs an. Messali wurde in allen Städten wie ein Volksheld empfangen. Die Präfektur von Constantine reagierte mit der Ausweisung Messalis aus ihrem Departement, da er angeblich Unruhe stiftete. Gegen das Drängen der Direktion setzte Messali seine Tournee im Departement Algier fort. Nachdem es in Orléansville (El Asnam) bei einem seiner öffentlichen Auftritte zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei kam, die zum Tod von zwei Algeriern führten, wurde Messali schließlich verhaftet und kurze Zeit darauf in die Metropole ausgewiesen. Am 15. Mai verhängte das Innenministerium gegen 144

RG de Nancy, note d’information, 27. Mai 1952, AdM&M 950 W 57.

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ihn ein Aufenthaltsverbot für das gesamte französische Territorium mit Ausnahme des Departements Deux-Sèvres, wenige Kilometer östlich von La Rochelle. Fortan stand Messali fernab von jeglichen Sammlungsorten seiner Anhänger in Niort unter polizeilichem Hausarrest145 . Der Verlauf, das dramatische Ende und die Folgen der Algerienreise Messali Hadjs brachten für den MTLD Licht und Schatten mit sich. Einerseits verhärteten sich die Fronten in dem Machtkampf zwischen dem Präsidenten der Partei und dessen höchstem Führungsgremium, welches die Reise abgelehnt hatte. Ohne Rücksicht auf die wichtigsten MTLD-Kader zu nehmen, hatte Messali seinen Rückhalt an der Basis ausgebaut, indem er sich selbst ein weiteres Mal als lebendes Symbol und Opfer des Kampfs gegen die französische Unterdrückung inszeniert hatte. Allerdings schränkte der anschließende Arrest in Niort seinen politischen Handlungsspielraum deutlich ein, was der zuvor düpierten Direktion wiederum die Gelegenheit gab, sich zu revanchieren und Messali von innerparteilichen Entscheidungsfindungen fernzuhalten. Schließlich erlebte der MTLD während der Algerienreise Messalis und unmittelbar danach eine große Welle der Solidarität und des Zulaufs neuer Mitglieder. In der Metropole offenbarte sich dies besonders deutlich anhand der massiven Beteiligung von Algeriern an Streiks und Protestmärschen am 23. Mai 1952, zu denen die Direktion des MTLD als Reaktion auf die Verhaftung Messali Hadjs aufgerufen hatte. Die RG vermuteten, dass an diesem Tag etwa jeder dritte algerische Arbeiter die Arbeit niederlegte. Bei den Einzelhändlern wurde die Beteiligung noch höher veranschlagt146 . Auch in mehreren Orten Lothringens wurde am 23. Mai 1952 eine massive Beteiligung algerischer Arbeiter an Streiks und Demonstrationen gemeldet. In Villerupt legte fast das gesamte »nordafrikanische Personal« der beiden größten Betriebe, insgesamt 582 Personen, die Arbeit nieder. Hinzu kamen noch weitere Streiks in kleineren Betrieben und auf Baustellen147 . In Longlaville zog ein Demonstrationszug von dem Barackenlager Les Quatre Cantines bis vor das Rathaus in Longwy-Bas, wo etwa 80 Algerier lautstark die Befreiung Messali Hadjs forderten148 . Die größte Beteiligung an dem Streik in Lothringen wurde mit rund 2200 Teilnehmern in Audun-le-Tiche registriert149 . Aber auch jenseits des Beckens von Longwy stieß der Appell des MTLD auf Gehör. In Metz legten 754 Algerier die Arbeit nieder150 . In Saint-Avold zogen etwa 250 Algerier bis vor das Rathaus, um dort ihren Unmut über die gegenüber Messali getroffenen Maßnahmen kundzutun151 . In Nancy versammelten sich 145 146 147 148 149 150 151

Stora, Messali Hadj, S. 211f; Simon, Le MTLD, S. 88; Harbi, Le FLN, S. 87f. Rapport de la direction des RG – section Afrique du Nord, 23. Mai 1952, AMAE, SEAA, 1959–1961, c. 27. RG de Longwy, rapport, 24. Mai 1952, AdM&M 950 W 57. RG de Longwy, message téléphoné, 23. Mai 1952, ibid. Rapport de la direction des RG – Section Afrique du Nord, 23. Mai 1952, AMAE, SEAA, 1959–1961, c. 27. Ibid. Le colonel Assie, commandant le 6e groupement des CRS à Metz, à monsieur l’inspecteur

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etwa 100 Algerier vor der Veranstaltung des MTLD in der Maison du peuple, dem Sitz der CGT, um der Rede eines MTLD-Aktivisten beizuwohnen152 . Knapp zehn Kilometer davon entfernt demonstrierten rund 50 Algerier vor dem Rathaus in Pompey für die Freilassung Messali Hadjs153 . In Piennes hatten zwei Tage zuvor in einer entsprechenden Aktion insgesamt 72 Algerier die Arbeit niedergelegt, um sich mit dem MTLD solidarisch zu zeigen154 . Nie zuvor hatten die Messalisten an einem einzigen Tag so viele Algerier über ganz Lothringen verteilt mobilisieren können. Wie bereits am 1. Mai 1951 profitierte der MTLD insbesondere von der Unterstützung der CGT, die sich fast überall an den Streikaufrufen beteiligte. Die kommunistische Gewerkschaft brachte zwar auch eigene Forderungen nach Verbesserungen der Arbeits- und Wohnbedingungen algerischer Arbeiter mit ein, ließ jedoch keinen Zweifel daran aufkommen, dass der unmittelbare Anlass der Aktionen die Verhaftung Messali Hadjs war. Die Intensität und der Erfolg dieser Kooperation zeigten sich besonders deutlich in Villerupt. Am 22. Mai riefen Mitglieder beider Organisationen im Rahmen einer gemeinsamen Veranstaltung in der Maison du peuple dazu auf, sich an dem Streik zu beteiligen. Bei den Demonstrationen am Folgetag traten einige CGT-Kader dann auch als Redner auf155 . Im Bergwerk Aubrives in Micheville gelang es der Gewerkschaft, auch die nichtalgerischen Arbeiter dazu zu bewegen, aus Solidarität mit den Algeriern für acht Stunden die Arbeit niederzulegen156 . Schließlich intervenierten CGT-Mitglieder noch am gleichen Tag bei den Arbeitgebern jener Algerier, die wegen ihrer Beteiligung an dem Streik ihre Entlassung befürchteten157 . Die Bereitschaft einiger Algerier, den zum Teil durchaus kämpferisch vorgetragenen Streikaufrufen des MTLD zu folgen158 , war in Lothringen zumindest zu einem gewissen Anteil auch der Unterstützung durch die CGT geschuldet. Das seit dem 1. Mai 1951 gefestigte Bündnis zwischen der kom-

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général de l’administration en mission extraordinaire, préfet de la Moselle, 28. Mai 1952, AdM 370 W 51. RG de Nancy, rapport, 23. Mai 1952, AdM&M 950 W 65. Rapport de l’adjudant chef Petitroux, commandant de la brigade de gendarmerie de Pompey, 23. Mai 1952, AdM&M 950 W 57. Zwei Tage vor dem Streik registrierten die RG etwa, dass in Piennes rund 80 Algerier einer gemeinsamen Veranstaltung von MTLD und CGT beiwohnten, auf der zu einer Beteiligung an dem Streik aufgerufen wurde. Letztendlich fiel die Zahl der Arbeitsniederlegungen in diesem Ort jedoch kaum ins Gewicht: RG de Briey, message téléphonique, 21. Mai 1952, AdM&M 950 W 65. RG de Longwy, rapport, 24. Mai 1952, AdM&M 950 W 57. Bei den Aciéries de Micheville-Sidelor verliehen einige MTLD-Aktivisten dem Streikaufruf dadurch Nachdruck, dass sie sich vor Beginn der Arbeit direkt am Eingang der Fabrik postierten: Le capitaine Morival, commandant la SG de Longwy, rapport sur des manifestations organisées sur la voie publique, par les Nord-Africains, à Villerupt et à Longwy, 24. Mai 1952, AdM&M 950 W 65. RG de Longwy, rapport, 24. Mai 1952, AdM&M 950 W 57. Ibid.

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munistischen Gewerkschaft und den algerischen Nationalisten erwies sich dort auch als stabiler als in anderen Regionen Frankreichs, wo die CGT nach der Verhaftung Messalis stumm blieb159 . Für ganz Lothringen ist davon auszugehen, dass die Zahl derjenigen, die mit den Aktionen am 23. Mai sympathisierten, deutlich höher lag als die der polizeilich ermittelten Streikbeteiligung. Der Ausfall eines Tagesgehalts oder gar das Risiko, den Arbeitsplatz zu verlieren, bedeuteten für die algerischen Migranten in Lothringen eine bedeutende Hemmschwelle, die einige von ihnen zweifellos davon abhielt, sich an den Aktionen zu beteiligen. Nach dem großen Mobilisierungserfolg im Mai 1952 hatte der MTLD seine Machtposition in Lothringen bis zu einem gewissen Grad gefestigt. Von insgesamt etwa 25 000 Algeriern, die in diesem Jahr in Moselle und Meurthe-et-Moselle lebten, hatte die Organisation an einem Tag mehr als 4000 für Streiks oder Demonstrationen mobilisieren können. Dass so viele Migranten in der Region geschlossen den Direktiven des MTLD folgten, war jedoch eine Ausnahme, die sich aus der besonderen Lage Messali Hadjs ergab. Davon abgesehen konnten Initiativen des MTLD selbst in dessen lothringischen Hochburgen unter Algeriern auch unabhängig von der UDMA weiterhin auf Widerstand stoßen. Dies zeigt etwa der Fall von zwei algerischen Minenarbeitern, denen die Gruben von Petite-Rosselle im November 1952 kündigten. Die MTLD-Verantwortlichen des Bezirks wollten zunächst einen Solidaritätsstreik organisieren und die beiden Betroffenen im Anschluss zu ihren Chefs begleiten. Den Angaben der RG zufolge lehnten die Gekündigten jedoch beides ab und zogen es vor, ihren ehemaligen Arbeitgeber alleine aufzusuchen160 . Abgesehen von den festen Mitgliedern blieb der Zuspruch für den MTLD unter den algerischen Migranten zu einem hohen Anteil weiterhin von der Tagespolitik abhängig. Auch die Entwicklung einzelner lothringischer kasma zeigt, dass er keineswegs konstant war. 2.3.2 Mitgliedergewinne und erhöhte Einnahmen Das große Echo auf den Demonstrationsaufruf zum 23. Mai 1952 kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die lothringische Einflusssphäre der Messalisten auch weiterhin starken Schwankungen ausgesetzt war. Einerseits hatte sich das Verhältnis der Organisation zur CGT auf der Führungsebene deutlich abgekühlt, nachdem sich zunehmend herausgestellt hatte, dass die von der Gewerkschaft propagierte Solidarität mit dem MTLD sich in der Praxis vor allem auf solche Aktionen beschränkte, die sie selbst auch kontrollierte161 . Andererseits war der MTLD mit dem Problem konfrontiert, dass er weiter159 160 161

Pitti, La CGT et les Algériens. Commissariat aux RG de Forbach, note de renseignement, 17. Nov. 1952, AdM 370 W 51. Pitti, La CGT et les Algériens.

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hin nur über eine geringe Anzahl von Kadern verfügte, die in der Lage waren, eine lokale Sektion aufzubauen und zu festigen. Schließlich mangelte es der Organisation nach wie vor an einer stabilen Basis verlässlicher Beitragszahler, was vor allem der hohen Mobilität algerischer Migranten und dem daraus resultierenden niedrigen Organisationsgrad geschuldet war. Der MTLD zahlte weder den Aktivisten noch den mittleren Kadern eine Aufwandsentschädigung oder gar ein festes Gehalt. Auch wenn es in Lothringen Hunderte freiwillig in der Organisation engagierte Algerier und noch mehr Sympathisanten gab, stellten diese ihre Aktivitäten und Zahlungen spätestens dann ein, wenn ihre privaten Lebensumstände sie dazu bewegten, die Region zu verlassen. Daraus ergaben sich teilweise enorme finanzielle Schwankungen, wie ein von der Polizei beschlagnahmter Finanzbericht der MTLD-kasma von Hayange aus dem Jahr 1952 verdeutlicht. Die monatlichen Einnahmen schrumpften dort von 22 890 Franc im Januar auf nur noch 6300 Franc im Mai. Ende Dezember lagen sie dann wieder bei 10 020 Franc. Weder der Verkauf von Zeitungen und Broschüren noch die Eintreibung von Spenden und Mitgliederbeiträgen waren hier annähernd konstant. Dabei hatte der MTLD in Hayange die Preise über das gesamte Jahr hinweg nicht verändert. Sogenannte Solidaritätsmarken kosteten 200 Franc, Mitgliedskarten 50 Franc und ein Exemplar der Parteizeitung 20 Franc. Lediglich der Preis für die normalen Beitragsmarken war im August von 140 auf 160 Franc angehoben worden162 . Die Entwicklung der Einnahmen der MTLD-kasma von Hayange illustriert den unsicheren Stand des MTLD in dem von der Schwerindustrie geprägten Ort. Dennoch befand sich der Einfluss des MTLD trotz aller Schwankungen dort insgesamt im Aufschwung. Bis zum Ende des Jahres 1953 gewann die erweiterte kasma Hayange-Knutange immerhin 14 neue Mitglieder hinzu163 . Darüber hinaus nahm sie in dem gesamten Jahr 1953 insgesamt 222 300 Franc allein aus Mitgliederbeiträgen und außerordentlichen Spendenaktionen ein, was eine erhebliche Steigerung gegenüber dem Vorjahr darstellte. Die Erlöse aus etwa 400 monatlich verkauften Parteizeitungen und aus Spendensammlungen für die Repatriierung arbeitsloser Algerier waren dabei nicht eingerechnet164 . In den Regionen um Forbach und Longwy lagen die Einnahmen des MTLD aus verschiedenen Beiträgen algerischer Migranten deutlich über denen im Umkreis von Thionville. Darauf weisen außer den höheren Mitglie162 163

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RG de Thionville, information destinée à la 9e section, 28. Mai 1953, Annex, AdM 370 W 51. Diese Angaben der RG von Februar 1954 beruhten auf internen Berichten der MTLD-Sektionen. Ihr Inhalt deckt sich weitgehend mit dem eines früheren Informationsschreiben der RG über ein Treffen von MTLD-Verantwortlichen in Nancy. Dort war die kasma von Hayange dafür gelobt worden, dass sie es trotz der hohen Mitgliederfluktuation geschafft hatte, 14 neue Mitglieder zu rekrutieren: ibid., 30. Dez. 1953. Ibid., 23. Feb. 1954, Annex: Rapport financier, o. D.

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derzahlen auch die von den RG registrierten Spendenaktionen hin. Demnach sammelte der MTLD 1953 allein innerhalb des Kohlebeckens von Forbach im April zunächst 275 000 Franc für die Opfer der französischen Repressionen nach dem 8. Mai 1945 ein165 . Im Juni brachte eine Spendenaktion für die Finanzierung der Reisekosten einiger lokaler MTLD-Verantwortlicher dort 130 168 Franc166 . Bei einer weiteren »Kollekte«, die den Familien der Opfer der Erschießungen durch die Pariser Polizei am 14. Juli 1953 zugutekommen sollte, spendeten Algerier dem MTLD in der Region Forbach geschätzte 45 000 Franc, im Umkreis von Merlebach etwa 20 000 Franc167 .

Bild 1: Messali Hadj. Propagandabild des MTLD

165

166 167

Dabei kamen 150 000 aus dem Wohnheim von Rosselmont, 82 500 aus dem von StiringWendel und 43 000 Franc von der Sektion Merlebach-Freyming: Commissariat aux RG de Forbach, note de renseignement, 28. Apr. 1953, AdM 370 W 51. Ibid., 24. Juni 1953. Ibid., 18. Aug. 1953.

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Häufig wurden die Spendenaktionen in Form eines Verkaufs von Fotos, Postkarten oder Postern durchgeführt, auf denen Messali Hadj abgebildet war. Badis, der bereits kurz vor Beginn des Unabhängigkeitskriegs in Ébange Propagandamaterial für den MTLD verkaufte, bewahrte ein solches Poster auf (siehe Bild 1), das Messali in überdimensionaler Größe als Redner vor einem devoten Publikum algerischer Männer und Frauen in unterschiedlichen Kleidungsstilen zeigte. Insbesondere auch der schmuck gezeichnete Rahmen, der mit aufwändigen Ornamenten und Suren des Korans verziert war, gab dem Poster den Stil eines Heiligenbildes. Parallel zu den steigenden Einnahmen der Messalisten in der Region registrierte die französische Polizei 1953 einen Mitgliederzuwachs des MTLD in fast allen wichtigen Anlaufgebieten der algerischen Migration in Lothringen. Die in Grafik 5 aufgeführten Zahlen können insofern als verlässlich gelten, als sie auf internen Angaben des MTLD beruhen, die von der Polizei beschlagnahmt wurden. Grafik 5: Anzahl registrierter Aktivisten einiger MTLD-kasmas in Lothringen, 1952–1953168 600 500 400 300 200 100 0

im Sep. 1952

im Sep. 1953

Die Angaben verleiten dazu, den direkten Einfluss des MTLD auf die algerischen Migranten in der Region zu unterschätzen, da die hier aufgelisteten 168

Der Rückgang der Mitgliederzahlen der Sektionen von Villerupt, Piennes und Audunle-Tiche wurde ohne weitere Angaben mit der »nonchalance des responsables locaux« erklärt. Dass Nancy hier nicht aufgelistet wurde, ist auf einen gesonderten Zuständigkeitsbereich zurückzuführen. Im Mai 1952 hatten die RG vermutet, dass Terbouche dort bereits 500 bis 600 Anhänger rekrutiert hatte: RG de Nancy, note d’information, 27. Mai 1952, ibid. Die fehlenden Angaben zu Metz sind dadurch zu erklären, dass die Departementhauptstadt von Moselle in den Einzugsbereich der kasma von Hagondange fiel.

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Aktivisten nur den harten Kern der Organisation darstellten, zu dem noch Sympathisanten und Anhänger gezählt werden müssten. Bezüglich der kasma von Piennes etwa, wo die Zahl der Aktivisten zwischen September 1952 und September 1953 zurückging, wäre zu ergänzen, dass die aus drei Gruppen in Piennes, Jœuf und Briey bestehende kasma im Dezember 1953 außer 63 Aktivisten auch 370 Anhänger und 127 Sympathisanten umfasste. Insgesamt war somit etwa ein Drittel der ca. 1250 Algerier, die in diesen drei Orten lebten, mehr oder weniger fest in den MTLD eingebunden169 . 2.3.3 UDMA und Ulema als politische Konkurrenten des MTLD Von der wachsenden Zahl algerischer Migranten in Lothringen und deren zunehmender Hinwendung zum algerischen Nationalismus konnte die UDMA nicht profitieren. Die Anhänger von Ferhat Abbas blieben stattdessen politisch weitgehend bedeutungslos und waren kaum in der Lage, Algerier – abgesehen von eigenen Parteimitgliedern – für eigene Aktionen zu mobilisieren. Im Februar 1952 hatte die lokale UDMA-Sektion von Villerupt-Audun-le-Tiche versucht, die französischen Gewerkschaften CGT, Confédération française des travailleurs chrétiens (CFTC), Force ouvrière sowie die Confédération générale des cadres für eine gemeinsame Protestaktion gegen die französischen Repressionen in Tunesien zu gewinnen170 . Sowohl von dieser Seite als auch vonseiten des MTLD in Longwy erhielten sie diesbezüglich jedoch eine Absage171 . Als wenig später die Direktion der UDMA es wiederum ablehnte, die Protestaktionen des MTLD am 23. Mai zu unterstützen172 , schien die Partei von Ferhat Abbas in Lothringen endgültig isoliert zu sein. Obwohl der Einfluss der UDMA auf die algerischen Migranten in Lothringen letztendlich gering war und es ihr an Bündnispartnern mangelte, sorgte allein ihre Präsenz bei einigen MTLD-Kadern für Beunruhigung. Spätestens seit Beginn des Jahres 1953 ging der MTLD in mehreren Orten sogar aktiv gegen die UDMA vor. Im Lager Rosselmont beschloss die MTLD-Sektion von Forbach im Januar 1953, dass die UDMA und sämtliche Kader dieser Organisation notfalls mit Gewalt dazu gebracht werden sollten, sich zurückzuziehen und alle Aktivitäten einzustellen173 . Im März zog die Sektion von Stiring-Wendel nach und beschloss, es den UDMA Mitgliedern zu verbieten, ihre Zeitung innerhalb des örtlichen Wohnheims der HBL zu verteilen174 . 169 170 171 172 173 174

Bericht [wahrscheinlich: RG von Briey von Dez. 1953], AdM&M 950 W 57. Rapport, 15. Feb. 1952, ibid. Rapport, 13. Feb. 1952, ibid. Vgl. Jean-René Genty, Le Mouvement nationaliste algérien dans le Nord, 1947–1957. Fidaou al Djazaïr, Paris 2008, S. 61. Commissariat aux RG de Forbach, note de renseignement, 5. Jan. 1953, AdM 370 W 51. Ibid., 5. März 1953.

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Die Machtkämpfe zwischen den Anhängern von Ferhat Abbas und Messali Hadj auf der lokalen Ebene weisen auf einen Umstand hin, den Omar Carlier bereits für die nationale Ebene konstatiert hat. Insbesondere aufgrund seines mangelhaften Zugriffs auf die algerische Zivilgesellschaft konnte der MTLD seinen Anspruch, alleiniger Repräsentant der algerischen Nation zu sein, nicht umsetzen und stieß sich trotz aller Anstrengungen immer wieder an dem Einfluss der konkurrierenden Strömungen175 . Trotz der Bedrohung durch den MTLD und interner Probleme176 konnte sich die UDMA in Lothringen bis in das Jahr 1954 hinein halten177 . Im Kampf um den politischen Einfluss auf die Algerier in Lothringen wurde die Partei von Ferhat Abbas den Messalisten niemals ernsthaft gefährlich. Ihre Aktivitäten weisen weniger auf eine ernstzunehmende Konkurrenz der Messalisten hin als vielmehr auf die Heterogenität der Akteure, die sich in Lothingen mit der politischen Zukunft Algeriens befassten und sich um die politische Gefolgschaft der algerischen Migranten bemühten. Dies gilt in einer anderen Form auch für die Ulema178 . Die wenigen vorliegenden Quellen über Aktivitäten der Ulema in Lothringen zeigen, dass die Organisation zu Beginn der 1950er Jahre im lothringischen Grenzgebiet vertreten war, wenn auch in noch geringerer Zahl als die UDMA. Sie wurde lediglich vereinzelt zum Gegenstand von Polizeiberichten. Demnach fand in Forbach am 1. November 1952 eine Veranstaltung dieser Verfechter eines ursprünglichen Islams statt, bei der als Redner Rabia Bouchama und Said Aït Ouattirane auftraten, die beide zuvor in einer der Schulen der Ulema in Algier arabische Geschichte unterrichtet hatten. Vor einem Auditorium aus etwa 275 Algeriern berichteten sie über die aktuelle Algerienreise des Führers der Bewegung Ben Badis, diskutierten Koranverse und forderten mehr Investitionen des französischen Staates in Algerien, insbesondere für den Bau von Schulen und Infrastruktur. Im Anschluss an die Veranstaltung wurden Spenden in den Wohnheimen der Kaserne von Guise und im Lager Rosselmont eingesammelt, die der Organisation nach Angaben der RG rund 80 000 Franc einbrachten179 . Zur gleichen Zeit war auch ein weiteres Mitglied der Ulema in Metz aktiv. So informierte der Präfekt von Oran seinen Kollegen in Moselle darüber, dass am 19. Dezember 1952 in dem Organ der Ulema, »Le 175 176

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Carlier, Entre nation et jihad, S. 215. Darauf weist etwa der Fall eines UDMA-Verantwortlichen hin, der im Januar 1953 mit der Kasse verschwand, in der sich über 20 000 Franc befanden. Er wurde anschließend aus der Organisation ausgeschlossen: Commissariat aux RG de Forbach, note de renseignement, 23. Jan. 1953, AdM 370 W 51. Zumindest in Nilvange existierte eine kleine Sektion der UDMA mit etwa zehn Mitgliedern bis Februar 1954: RG de Thionville, information déstinée à la 9e section, 23. Feb. 1954, Annex: Rapport d’organisation, ibid. Der spätere FLN-Aktivist Medjani, der zwischen 1953 und 1959 in Lothringen lebte und politisch aktiv war, erinnerte sich in einem Interview weder an die Präsenz der UDMA noch der Ulema in Lothringen: Interview LH–Medjani, 2014, S. 15. Commissariat aux RG de Forbach, note de renseignement, 3. Nov. 1952, AdM 370 W 51.

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Jeune Musulman«, ein Bericht über Semmour Benamar180 erschienen war, der die genannte Zeitung angeblich unter den Algeriern in Metz verteilte und sich dort auch für den Bau einer Moschee einsetzte181 . Mit dem Ansteigen der Anzahl algerischer Migranten in den Departements Moselle und Meurthe-et-Moselle stieg auch die Anzahl der politischen Akteure, die sich um ihre politische Gefolgschaft bemühten. Dass CGT und MTLD dabei den mit Abstand größten Erfolg hatten, lässt sich einerseits mit Blick auf die nationale Ebene erklären: Die Nachfolgeorganisation des PPA zählte unter allen algerischen Parteien mit Abstand die meisten Sympathisanten und Mitglieder, ebenso wie die CGT eine absolute Vormachtstellung gegenüber allen anderen französischen Gewerkschaften innehatte. Richtet man den Blick explizit auf Lothringen, kann der hohe Einfluss von CGT und MTLD unter den algerischen Migranten dort auch mit Blick auf deren soziale Struktur erklärt werden. Anhand des enormen Übergewichts ungelernter Arbeiter und einer fast inexistenten Zahl von Angestellten unter den Migranten hatte der proletarisch-kämpferische Politikstil von MTLD und CGT, die sich radikal für eine soziale und national-kulturelle Emanzipation einsetzten, mehr Chancen auf Gehör als die deutlich moderateren Forderungen von Ulema und UDMA. Letztere verbuchten ihre Erfolge auch in Algerien vor allem auf Seiten einer eher gebildeten und bürgerlichen Klientel. Andererseits machen die mehrfachen Wahlfälschungen in Algerien, polizeiliche Schikanen und Repressionen gegenüber Algeriern sowie die spärlichen bis inexistenten Französischkenntnisse vieler Migranten verständlich, dass die französischen Parteien in Lothringen so gut wie keine algerischen Mitglieder zählten182 . Abgesehen von einigen Initiativen im karitativen Bereich konnten die Algerier von dieser Seite her keinen echten Wandel ihrer Situation erwarten. 2.3.4 Der moderate Kurs des MTLD Mit Blick auf die Mitglieder- und Sympathisantenzahlen des MTLD in Lothringen stand die Organisation dort 1953 auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Dabei fällt auf, dass sich der MTLD mit dem Zuwachs an Mitgliedern zunehmend aus dem öffentlichen Raum zurückzog. Während des gesamten Jahres 180

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Semmour war im Juli 1952 in Nédroma zu sechs Monaten Haft auf Bewährung und einer Geldstrafe verurteilt worden, da er algerische Wehrdienstpflichtige dazu aufgerufen hatte, ihrer Einberufung durch die französische Armee nicht Folge zu leisten: Le préfet d’Oran à monsieur le préfet de la Moselle, 13. Jan. 1953, ibid. Extrait du »Jeune Musulman« no 11 du 19 décembre 1952 annexé à: ibid. Ob die Zeitung der Ulema tatsächlich auch in Lothringen kursierte, konnte nicht nachgewiesen werden. Der einzige hierzu vorliegende Bericht betrifft das Arrondissement von Briey. Demzufolge waren in Jœuf und Homecourt etwa 30 »Nordafrikaner« Mitglieder im gaullistischen Rassemblement du peuple français (RPF). Nur ein paar waren Mitglieder in der SFIO: Rapport [wahrscheinlich: RG von Briey, Dez. 1953], AdM&M 950 W 57.

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1953 führte die Organisation nicht eine eigene Demonstration in Lothringen durch. Lediglich am 1. Mai ließ der MTLD seine Aktivisten im Zuge der alljährlichen Demonstrationen in Knutange und Forbach aufmarschieren, wobei die Beteiligung jedoch geringer ausfiel als noch im Jahr zuvor. So berichteten die RG, dass in Forbach am 1. Mai 1952 etwa 1000 »Nordafrikaner« demonstriert hätten, ein Jahr später jedoch nur 700183 . Darüber hinaus registrierte die Präfektur von Moselle an jenem Tag lediglich 80 weitere algerische Demonstranten innerhalb des Departements, die sich dem gemeinsamen Umzug von PCF, CGT und MTLD in Knutange angeschlossen hatten. Es gab keinerlei Zwischenfälle184 . Infolge der beträchtlichen Ausweitung ihres Einflussgebiets ordneten die Kader des MTLD in Lothringen keine breiten Mobilisierungsaktionen der algerischen Migranten in der Region an. Sie forcierten auch keine offenen Konfrontationen mit den französischen Sicherheitsbehörden, sondern trugen den Aktivisten eher unauffällige Aktivitäten auf. Dennoch spielte die öffentlichkeitswirksame Propagierung eigener Forderungen und Parolen weiterhin eine wichtige Rolle. So sollte etwa am 15. April unter möglichst vielen Algeriern in der Region ein »nationaler Beitrag« in der Höhe eines Tagesgehalts eingetrieben werden185 . Einen Monat darauf erhielten sämtliche kasma die Anweisung, Messali ein Glückwunschtelegramm zu dessen Geburtstag am 16. Mai zu schicken186 . Am 13. Juni 1953 organisierte der MTLD eine Diskussionsveranstaltung in Paris für die Rückkehr Messali Hadjs nach Algerien und die Befreiung aller politischen Gefangenen. Aus diesem Anlass verteilten einige Aktivisten in Moselle187 und Meurthe-et-Moselle entsprechendes Propagandamaterial an die Algerier in der Region188 , wobei dies in erster Linie auf deren Politisierung anstatt auf ihre Mobilisierung zielte. Ein Rundschreiben des MTLD hatte zuvor die Aktivisten angewiesen, die Bedeutung jener Versammlung am 13. Juni durch Mitteilungen an die Presse, das Verteilen von Flugblättern und insbesondere Diskussionsveranstaltungen mit möglichst vielen algerischen Arbeitern in die Öffentlichkeit zu tragen. Unter Anleitung von MTLD-Aktivisten sollten sich vor allem Nicht-Parteimitglieder mit den Inhalten des MTLD auseinandersetzen und bis zum 7. Juni Delegierte für die Hauptveranstaltung in Paris wählen189 . Tatsächlich wähnten sich elf Delegationen bei der Veranstaltung in Paris am 13. Juni als Vertreter der algerischen Arbeiter aus Moselle

183 184 185 186 187 188 189

RG de Forbach, note de renseignement, 1. Mai 1953, AdM 297 W 65. Le préfet de la Moselle au ministre de l’Intérieur, 5. Mai 1953, ibid. RG de Thionville, information, 2. Apr. 1953, AdM 370 W 51. MTLD, Fédération de France, circulaire du 13 mai 1953, annexée à: ibid., 27. Mai 1953. Ibid., 8. Juni 1953. RG de Nancy, note d’information, 11. Juni 1953, AdM&M 950 W 57. MTLD, Fédération de France, circulaire du 26 mai 1953, annexée à: RG de Thionville: information, 2. Juni 1953, AdM 370 W 51.

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und Meurthe-et-Moselle190 . Während diese in der französischen Hauptstadt tagten, versammelten sich in Herserange und Nancy einige Algerier zu Solidaritätsbekundungen. Angesichts der Präsenz zahlreicher Polizisten an den vorgesehenen Versammlungsorten zogen sie sich jedoch wieder zurück, ohne dass ein Demonstrationszug zustande kam191 . Von dem zwei Jahre zuvor in Longwy verfolgten Kurs der Konfrontation fehlte jede Spur. Auch im weiteren Laufe des Jahres 1953 verhielten sich die Aktivisten des MTLD in Lothringen weitgehend unauffällig. Dabei ging dieser moderate Kurs nicht etwa auf das mangelnde Engagement der Aktivisten vor Ort, sondern auf konkrete Direktiven der Zentrale zurück. Nach Informationen der RG hatte die Direktion alle MTLD-Kader Anfang Juli zu einem besonders diskreten Vorgehen aufgerufen. Jegliche internen Treffen sollten vorerst abgesagt werden192 . Bei dieser passiven Haltung blieb es auch, nachdem die Pariser Polizei am 14. Juli 1953 auf der Place de la Nation das Feuer auf algerische Demonstranten eröffnet und sechs von ihnen getötet hatte193 . Die Gewalt der Pariser Polizei zog weder in Lothringen noch im Nord-Pas-deCalais194 oder gar in Paris Proteste algerischer Nationalisten nach sich. Um die lothringischen Aktivisten zur Ruhe zu mahnen, entsandte die Direktion des MTLD gar einen Verantwortlichen eigens nach Forbach, der dem dort verantwortlichen Belmedani Boussad jede Form des offenen Protests untersagte – mit der Begründung, dass Zwischenfälle vermieden werden sollten, die der Bewegung schaden könnten195 . Zum Ende des Monats Juli beschlagnahmte die Polizei ein Rundschreiben des MTLD, das die Lage der Organisation nach dem 14. Juli als äußerst bedrohlich einstufte. Um einer Auflösung durch das französische Innenministerium zu entgehen, wurden offene Provokationen gegenüber der Polizei strikt untersagt. Stattdessen sollte mit friedlichen Mitteln wie Ansprachen, Arbeitsniederlegungen, Strafanzeigen und Petitionen für einen noch größeren Rückhalt des MTLD unter »Nordafrikanern« und französischen Demokraten geworben werden196 . Vermutlich war es diesen Anweisungen der MTLD-Direktion geschuldet, dass die lothringische Polizei unter den Algeriern in der Region keinerlei Reaktionen auf den 14. Juli 1953 registrierte. Es ist bezeichnend für die hohe 190 191 192 193 194 195 196

Diese Delegationen kamen aus Forbach, Villerupt, Piennes, Audun-le-Tiche, Thionville, Hagondange, Moyeuvre, Jœuf, Rosselange, Hayange und Metz, ibid., 16. Juni 1953. Le préfet de la Moselle à monsieur le ministre de l’Intérieur, 13. Juni 1953, AdM&M 950 W 57. Commissariat aux RG de Forbach, note de renseignement, 6. Juli 1953, AdM 370 W 51. Siehe zum Ablauf dieser Demonstration und der polizeilichen Gewalt die Ausführungen bei Blanchard, La police parisienne et les Algériens, S. 129–143. Genty, Le Mouvement nationaliste algérien, S. 79f. Commissariat aux RG de Forbach, note de renseignement, 21. Juli 1953, AdM 370 W 51. MTLD, Fédération de France, circulaire, juillet 1953, annexée à: RG de Thionville, information, 30. Juli 1953, ibid.

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Bedeutung der CGT bei der politischen Mobilisierung der algerischen Migranten, dass das Schweigen über die Ausschreitungen in Paris allein von den französischen Kommunisten gebrochen wurde. In einigen Stadträten des industriellen Beckens von Longwy legten Abgeordnete des PCF offiziell Protest ein. Die CGT verteilte in mehreren Fabriken und Minen des Beckens Flugblätter, in denen das Vorgehen der Pariser Polizei scharf verurteilt und dazu aufgerufen wurde, aus Solidarität mit dem algerischen Volk und den Opfern die Arbeit niederzulegen, eine Schweigeminute zu halten sowie Delegationen für die Teilnahme an der Beerdigung am 22. Juli zu entsenden. Der Effekt dieser Aufrufe erscheint allerdings begrenzt, da es lediglich in einigen Minen zu kurzen Streiks kam und das Vorhaben der Entsendung einer Delegation nach Paris nicht umgesetzt wurde197 . Die Solidaritätsbekundungen französischer Arbeiter in Ostfrankreich für den MTLD sind vor allem bemerkenswert, da sie mit der völlig passiven Haltung der CGT-Direktion nach dem 14. Juli 1953 kontrastieren. Anders als in Lothringen kam es in der französischen Hauptstadt weder zu Protestaufrufen noch zu organisierten Solidaritätsbekundungen. Diese Haltung der Gewerkschaft infolge des Nationalfeiertags von 1953 hat Danielle Tartakowsky als den Ausdruck einer Zäsur im Verhältnis zwischen CGT und MTLD bezeichnet198 . Diese Einschätzung ist in Bezug auf Lothringen zu korrigieren: Anstatt von einer Zäsur in Form einer Entsolidarisierung zwischen CGT und MTLD muss vielmehr von einem Überholmanöver auf dem Feld des politischen Aktivismus gesprochen werden. Die CGT protestierte im industriellen Becken von Longwy gegen die Repressionen in Paris deutlich umfassender und entschiedener, als es die Aktivisten des betroffenen MTLD taten. Dass der MTLD in Lothringen 1953 trotz einer nie dagewesenen Mitgliederstärke so diskret agierte, kann nur vor dem Hintergrund der neuen Politik der Parteiführung seit dem zweiten Kongress im April 1953 verstanden werden. Die Verfechter einer legalistischen Strategie hatten dort gegen den Willen Messali Hadjs beschlossen, vom bisherigen Konfrontationskurs Abstand zu nehmen. Anstatt durch Gewalt und Provokation sollte die französische Regierung auf nationaler und internationaler Ebene politisch unter Druck gesetzt werden, indem sich die Bewegung auf eine Politik im Rahmen des Algerienstatuts von 1947 verpflichtete und ein breites Bündnis mit den anderen algerischen Parteien sowie dem Block der afrikanisch-asiatischen Staaten anstrebte199 .

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Die Polizei registrierte in den Fabriken keinerlei Arbeitsniederlegungen. Allein in den Gruben wurden zwei Fälle gemeldet: In den Minen von Husigny und Godbrange legten am 18. Juli 474 Arbeiter zwischen 13 und 14 Uhr die Arbeit nieder. Für die gleiche Zeit ließen am 22. Juli 134 Minenarbeiter in Thil die Arbeit ruhen: RG de Longwy, rapport, 25. Juli 1953, AdM&M 950 W 65. Pitti, La CGT et les Algériens. Simon, Le MTLD, S. 103.

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Die Anhänger eines radikalen Kurses wurden bei dem zweiten Kongress ebenso wie die Verfechter der Gründung einer neuen paramilitärischen Organisation überstimmt200 . Diese legalistische Strategie spiegelte sich schon kurz darauf in der Kooperation mit dem neuen Bürgermeister von Algier, Jacques Chevallier, wider. Dieser integrierte den MTLD infolge der Kommunalwahlen im Mai in die Verwaltung der größten Stadt Algeriens und machte mit Kiouane Abderrahmane ein Mitglied des Zentralkomitees des MTLD zu seinem Stellvertreter201 . Dabei war es innerhalb der Partei durchaus umstritten, inwiefern der MTLD damit einer neokolonialen Politik Frankreichs auf den Leim ging oder einer Ausweitung seiner Macht und damit dem Ziel der Unabhängigkeit einen Schritt näher gekommen war. Vor allem in Anbetracht der bewaffneten Aktionen der antikolonialen Untergrundorganisationen Istiqlal in Marokko und Neo Destour in Tunesien seit Beginn des Jahres 1952 standen viele Mitglieder dem moderaten Kurs der Bewegung skeptisch bis ablehnend gegenüber. Dass sich fast alle – wie in Lothringen – der Parteidisziplin beugten, bedeutet nicht, dass die Differenzen überwunden waren. 2.3.5 Trauern mit dem »zaim«. Die Beerdigung von Madame Messali Die aus dem neuen Kurs der Bewegung resultierenden internen Spannungen stürzten den MTLD zum Ende des Jahres 1953 in seine schwerste Krise. Bis dahin hatten sich die lothringischen Aktivisten stets an die vom Zentralkomitee vorgegebene moderate Linie gehalten. Dies zeigt auch der Verlauf der Beerdigung der Frau Messali Hadjs, Émilie Busquant, in Neuves-Maisons im Oktober 1953. Die Tochter eines lothringischen Arbeiters hatte Messali in den 1920er Jahren in Paris kennengelernt und besaß eine hohe Bedeutung für die Unabhängigkeitsbewegung. Nicht nur, weil sie die Gefährtin des zaim war, wurde Émilie Busquant von den Aktivisten des MTLD besonders verehrt, sondern insbesondere auch, da sie angeblich die erste algerische Nationalfahne genäht hatte202 . Nachdem Busquant am 2. Oktober 1953 in Algier den Folgen einer halbseitigen Lähmung erlegen war, folgten dort mehrere Tausend Algerier ihrem

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Harbi, Le FLN, S. 89. Simon, Le MTLD, S. 113; Benjamin Stora, Dictionnaire biographique de militants nationalistes algériens. ENA, SPA, MTLD (1926–1954), Paris 1985, S. 289. Ibid., S. 79f. Ob dies wirklich der Fall war oder Teil der messalistischen Propaganda ist, ist bis heute nicht mit letzter Sicherheit geklärt. Mohammed Harbi hat zumindest eine gewisse Skepsis angemerkt. In Neuves-Maison versammeln sich bis heute einige Anhänger Messali Hadjs bzw. des PPA am Todestag Busquants an ihrem Grab, um ihr Ehre zu erweisen, siehe den Dokumentarfilm von Djamel Zaoui, Une autre guerre d’Algérie, https://www.youtube.com/watch?v=AW6rxHgiBc4 (Zugriff 20.6.2019).

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Sarg203 , der dann zur Beisetzung nach Lothringen transportiert wurde. Messali Hadj stand derweil weiterhin in Niort unter Hausarrest. Er durfte dem Ereignis in Algier nicht beiwohnen, da er sich geweigert hatte, eine Erklärung zu unterzeichnen, in der er zusicherte, die Reise nach Algerien nicht zu politischen Zwecken zu nutzen. Die Teilnahme an der Beerdigung im Heimatort Busquants in Lothringen wurde ihm jedoch gewährt. So traf Messali am 8. Oktober 1953 zunächst in Nancy und dann in Neuves-Maisons ein. Er empfing dort noch am gleichen Tag den Kondolenzbesuch verschiedener Repräsentanten des PCF und der CGT und traf dann eine Delegation mehrerer MTLD-Kader unter der Führung Mourad Terbouches204 . Der Bericht der Polizei über dieses Treffen notierte, dass Terbouche darauf bestanden habe, die Beerdigung nicht zum Anlass einer Massendemonstration zu nehmen und lediglich eine Auswahl von Parteimitgliedern der Region anreisen zu lassen, die sich nach der Beisetzung wieder zurückziehen sollten205 . Tatsächlich riefen MTLD, CGT oder PCF an keinem Ort öffentlich dazu auf, der Beerdigung beizuwohnen206 . Dem Sarg Émilie Busquants folgten auf dem zwei Kilometer langen Weg von Pont-Saint-Vincent bis nach Neuves-Maisons am 9. Oktober 1953 etwa 500 Personen, darunter 430 »Nordafrikaner«207 . Mehrere MTLD-Sektionen hatten Kränze gestiftet und für die Anreise einiger Mitglieder Busse angemietet208 . Am Grab hielt Messali eine moderate Rede, in der er am Beispiel seiner Frau über den gemeinsamen Einsatz von Algeriern und Franzosen gegen die Unterdrückung sprach, ohne dabei jedoch zu konkreten Aktionen aufzurufen209 . Anschließend nahm der zaim die Beileidsbekundungen der einzelnen Anwesenden entgegen210 , die sich nach dem Ende der Zeremonie wieder zerstreuten. Am 11. Oktober verließ Messali Neuves-Maisons wieder in Richtung Niort211 . Zu keinem Zeitpunkt hatte der MTLD versucht, die Anwesenheit des wichtigsten Anführers der algerischen Unabhängigkeitsbewegung in Lothringen für eine größere Mobilisierung zu politischen Zwecken zu nutzen. Noch im 203 204

205 206 207 208 209 210

211

Benjamin Stora zufolge waren es rund 10 000, siehe Stora, Messali Hadj, S. 219. Den RG zufolge waren die Delegierten der französischen Föderation, Hocine Lahouel, Bachir Zerzour und ein »Abdelhamid«, anwesend: RG de Nancy, note d’information, 13. Okt. 1953, AdM&M 950 W 57. Um wen es sich bei »Abdelhamid« genau gehandelt haben könnte, war nicht in Erfahrung zu bringen. Ibid., 13. Okt. 1953. RG de Longwy, message téléphoné, 9. Okt. 1953, ibid. RG de Nancy, note d’information, 13. Okt. 1953, ibid. Von Villerupt aus hatten 30 Algerier einen Bus gemietet, um die 120 km bis NeuvesMaisons zurückzulegen: RG de Longwy, message téléphoné, 9. Okt. 1953, ibid. Stora, Messali Hadj, S. 219. Ein Zeitzeuge glaubte sich zu erinnern, dass Hunderte Algerier den auf einem Stuhl am Rande des Grabes sitzenden Messali der Reihe nach passierten, einige seine Hand küssten und von ihm ein signiertes Porträt erhielten: LH–Borella, 2014, S. 4. RG de Nancy, note d’information, 13. Okt. 1953, AdM&M 950 W 57.

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Mai 1952 hatte der MTLD Tausende Algerier in Lothringen mobilisiert, um gegen Messalis Verhaftung und den anschließenden Hausarrest zu protestieren. Anderthalb Jahre später vermied die Organisation während Messalis viertägigem Aufenthalt in Meurthe-et-Moselle jeglichen Aufruhr, trotz des andauernden Hausarrests und der permanenten polizeilichen Überwachung Messalis und seiner Organisation. Inwiefern der ruhige Verlauf der Beerdigung Émilie Busquants auch den Wünschen Messali Hadjs entsprach, ist ungewiss. Dieser hatte bereits anlässlich des zweiten Kongresses des MTLD aus seiner Ablehnung gegenüber der neuen Strategie der Direktion keinen Hehl gemacht212 und sich über seine Isolation von der Parteiführung zunehmend verbittert gezeigt. Insofern war der grundlegende Konflikt zwischen dem Präsidenten und der Direktion des MTLD zum Zeitpunkt der Beerdigung Émilie Busquants bereits durchaus gegeben, auch wenn er noch nicht nach außen gedrungen war. Die Präsenz mehrerer hochrangiger MTLD-Kader in Neuves-Maisons kann durchaus als Zeichen der Anteilnahme interpretiert werden. Wahrscheinlich war sie aber auch dem Anliegen geschuldet, einer eigenständigen Aktion Messalis entgegenzuwirken, die der aktuellen Politik des MTLD zuwiderlaufen konnte. Ein konkreter Hinweis darauf ist das von der Polizei registrierte Insistieren des wichtigsten Kaders der Region, Mourad Terbouche, kein zu großes Aufheben um die Beerdigung herum zu machen, womit dieser voll auf der politischen Linie des zweiten Kongresses lag. Terbouche stellte sich wenige Monate später als einer der wenigen führenden MTLDAktivisten Lothringens offen gegen Messali, als der Konflikt zwischen diesem und dem Zentralkomitee 1954 offen ausbrach.

2.4. Spaltung und Ende des MTLD 2.4.1 »Mit Messali in den Kampf« Im Juli 1953 musste Messali Hadj nach der Konstituierung einer neuen Direktion des MTLD einen deutlichen Machtverlust innerhalb der Partei hinnehmen. Er verlor seine zwei letzten Gefolgsmänner innerhalb des höchsten Parteigremiums. Der Konflikt zwischen dem Präsidenten und der Parteidirektion eskalierte zum Ende des Jahres, als das Zentralkomitee Vorbereitungen für die Wahlen zum algerischen Kongress traf: Auf einem Treffen der MTLD-Führung, dem auch die Chefs vieler kasma beiwohnten, ließ Messali eine Botschaft verlesen, in der er seine offene Ablehnung des aktuellen politischen Kurses der Partei deutlich zum Ausdruck brachte. Am 15. Januar 1954 setzte er nach und machte das Zerwürfnis erstmals öffentlich. In einer 212

Stora, Messali Hadj, S. 214.

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Nachricht an »die Aktivisten der nationalen Bewegung, die Sympathisanten, Studenten sowie die Einzelhändlern der Region Paris und allen Städten Frankreichs und Algeriens« verurteilte er die aktuelle Direktion, die von den revolutionären Prinzipien abgekommen sei, und stellte die Gründung von Wohlfahrtsausschüssen in Aussicht, die den MTLD wieder auf seine alte Linie zurückbringen sollten. Er rief die Aktivisten dazu auf, die Gelder der Partei zu blockieren und nur noch den Anweisungen seiner beiden Vertrauten Moulay Merbah und Ahmed Mezerna Folge zu leisten213 . An der Basis fiel die Reaktion auf den offenen Konflikt eindeutig zugunsten der Position Messalis aus. Die Direktion reagierte am 28. März mit ihrem geschlossenen Rücktritt. Das Zentralkomitee beschloss, einen Teil seiner Kompetenzen an die von Messali eingesetzte Übergangsführung unter Abdallah Filali abzugeben, damit diese einen Parteikongress zur Beilegung des Streits einberief. Da über die Reichweite der Kompetenzen der von Filali eingesetzten Ausschüsse jedoch keine Einigkeit hergestellt werden konnte und jene Gremien versuchten, die Kontrolle der gesamten Partei an sich zu ziehen, nahmen die Spannungen zwischen beiden Lagern weiter zu. Der Konflikt eskalierte, als das Zentralkomitee Ende Mai seinerseits zum Angriff überging und die »Diktatur« der Wohlfahrtsausschüsse verurteilte. Selbst Messali wurde durch die Vorwürfe wie »Inkompetenz« und »manque de culture« offen attackiert214 . Das Zerwürfnis spaltete den MTLD in zwei Lager: die als »Zentralisten« bezeichneten Anhänger der Position des Zentralkomitees und die Befürworter der Position Messali Hadjs, die sich »Messalisten« nannten. Im Juni scheiterte ein letzter Vermittlungsversuch vonseiten der Zentralisten, da Messali zu einer Beilegung des Konflikts nur auf der Grundlage eines vorläufigen Schuldeingeständnisses der Gegenseite bereit war215 . Die Spaltung des MTLD wurde im Juli besiegelt, nachdem die Anhänger des Zentralkomitees einen separaten Kongress in Algier und die Getreuen Messalis einen weiteren Kongress in dem belgischen Grenzort Hornu216 durchführten. Fortan gab es zwei Lager des MTLD, die die jeweils andere Seite als abtrünnig und verräterisch bezeichneten. In Lothringen schienen sich die Differenzen innerhalb des MTLD bereits um die Jahreswende 1953/1954 anzudeuten. Ein Indiz dafür sind zwei von den RG registrierte Anweisungen regionaler Kader, die völlig konträre Direktiven beinhalteten. Demnach hatte der MTLD-Chef der kasma von Forbach, Belmedani Boussad, am 3. Dezember den ihm untergebenen Sektionen aufgetragen,

213 214 215 216

Simon, Le MTLD, S. 126–128. Harbi, Le FLN, S. 96–98. Meynier, Histoire intérieure du FLN, S. 112f. Warum der Kongress letztendlich in Belgien stattfand, ist ungewiss. Die Anhänger Messalis hatten zunächst geplant, ihre Versammlung in Saint-Denis abzuhalten. Allerdings war dies von dem dort regierenden kommunistischen Bürgermeister abgelehnt worden, siehe ibid., S. 113.

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die bestehenden inneren Funktionsweisen zu korrigieren und insbesondere die Anwerbung neuer Aktivisten auszusetzen. Stattdessen sollten sie die Partei von jenen Mitgliedern »säubern«, deren Patriotismus einen Anlass zum Zweifel gebe217 . Diese Anweisungen, die voll und ganz der Linie Messali Hadjs entsprachen, wurden etwas mehr als einen Monat später von Mourad Terbouche in Hayange konterkariert. Anstatt zu einer Abschottung der Partei und einer rigiden Kontrolle der bestehenden Mitglieder drängte Terbouche gegenüber zwölf Aktivisten und Zellenchefs vielmehr auf eine Intensivierung der Propaganda und die Rekrutierung neuer Mitglieder218 . Mit Blick auf die Geschehnisse auf überregionaler Ebene und unter Beachtung der Tatsache, dass Terbouche sich während der Krise offen von Messali distanzierte, legen diese beiden Quellen nahe, dass – entsprechend der Entwicklung auf nationaler Ebene – sich auch zwischen einigen lothringischen Aktivisten bereits um die Jahreswende ernsthafte Differenzen ergaben. Im Zuge der offenen Auseinandersetzung zwischen Messali Hadj und der Direktion im Laufe des Jahres 1954 bekannte sich die große Mehrheit der algerischen Nationalisten zu Messali. Dies war auch in Lothringen der Fall. Im April 1954 unterzeichneten sämtliche kasma-Verantwortlichen der RégionEst ein gemeinsames Treuebekenntnis gegenüber dem chef national. Darin bekundeten sie nicht nur ihr Vertrauen gegenüber Messali, sondern verurteilten auch jeglichen Neutralismus und prangerten die »spalterischen Manöver« der »ehemaligen Direktion« an219 . Ungeachtet dieser eindeutigen Positionierung versuchte das Zentralkomitee die MTLD-Aktivisten Lothringens auf seine Seite zu ziehen und schickte im Mai eine entsprechende Deklaration an alle Sektionen der Region220 . Darin wurde Messali angeklagt, er habe die Vollmacht des Zentralkomitees, den nächsten Kongress vorzubereiten, missbraucht, um Oppositionelle auszuschalten und die Lenkung der Partei an sich zu reißen. Ferner bekräftigen die Autoren, das Zentralkomitee fungiere nach wie vor als höchstes Beschlussorgan der Partei; alle Aktivisten, gleich welchem Lager sie sich zuordneten, sollten an dem nächsten Kongress teilnehmen221 . Zur gleichen Zeit kursierte in Moselle ein anderes Flugblatt, in dem ein unbekannter Autor, der sich als »[u]n nationaliste de l’Est« ausgab, die »[m]essieurs du Crua«222 anklagte, Messali zu verleumden. Das Schreiben versicherte, dass zumindest 217 218 219

220 221 222

Commissariat aux RG de Forbach, note de renseignement, 4. Dez. 1953, AdM 370 W 51. RG de Thionville, information, 16. Jan. 1954, ibid. Déclaration des responsables de kasmas MTLD de Longwy, Piennes, Charlveille, Hayange, Thionville, Forbach, Sedan, faite à Longwy, 25. Apr. 1954, Privatarchiv Djamel Zaoui. RG de Thionville: information, 2. Juni 1954, AdM 370 W 51. Déclaration du comité central du MTLD, Fédération de France, du 23 mai 1954, annexée à: ibid. Die Anhänger des Comité révolutionnaire pour l’unité et l’action (Crua) stellten eine

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in Ostfrankreich 99 Prozent der Aktivisten des MTLD auf der Seite Messalis stünden223 . Spätestens zur Mitte des Jahres 1954 wurde die Spaltung des MTLD auch in der eigenen Propaganda offenbart. Vonseiten der Anhänger Messali Hadjs war auf diesem Gebiet ein neuer, besonders martialischer Ton sowie eine deutliche Steigerung des Personenkults um Messali zu beobachten. Dies zeigt etwa ein Flugblatt, das im Mai 1954 in Thionville gefunden wurde und an die Folgen des 8. Mai 1945 erinnern sollte. Anders als während der zweiten Jahreshälfte des Jahres 1953 war nunmehr von strategischer Zurückhaltung oder dem Primat des Politischen keine Spur mehr zu finden. Stattdessen wurden sämtliche Algerier dazu aufgerufen, sich auf einen harten, unmittelbar bevorstehenden Befreiungskampf einzustellen und sich dazu hinter Messali Hadj zu sammeln: Alle Leiden, die das algerische Volk bereits durchgemacht hat, sind nichts gegenüber denen, die uns noch erwarten. Morgen wird der Tag sein, an dem du, algerischer Bruder, bereit sein musst. Morgen wird das algerische Volk nach dir rufen, damit du es von der kolonialistischen Plage befreist. Hinter unserem nationalen Führer Messali Hadj betreten wir einen schwierigen, steinigen und von heftigen Winden umwehten Weg. Dieser Weg ist der Weg der nationalen Unabhängigkeit unseres geliebten Vaterlands. [. . . ] Wir müssen schwören, aus der algerischen Nationalbewegung eine übermächtige Kampfbewegung zu machen. Wir müssen schwören, das Unmögliche zu tun, damit unser Chef Messali Hadj zu seinem Volk zurückkehren und frei sein kann224 .

Die MTLD-Führung erklärte den Geburtstag Messali Hadjs am 16. Mai zum nationalen Feiertag. Jede kasma in der Metropole wurde dazu aufgefordert, ein Glückwunschtelegramm an den »Vater der algerischen Nation« zu senden. Auch in diesem Aufruf galt der Weg zur algerischen Unabhängigkeit als unweigerlich mit dem Leben und Wirken des zaim verbunden225 . Der neu entfachte Kult um die Person Messali erschöpfte sich keinesfalls in Parolen. Vielmehr suchten die lokalen Verantwortlichen des MTLD auch verstärkt den direkten Kontakt zu ihm. Am 5. Juni 1954 reisten 49 Aktivisten aus Forbach, Hagondange, Thionville, Hayange, Villerupt, Piennes und Longwy per Bus nach Niort, um Messali zu trefen226 . Nur einen Monat später reiste eine weitere Delegation aus Moselle zu dem Kongress in Hornu227 , wo Messali zum Führer der Bewegung auf Lebenszeit gewählt und die acht Führer

223 224 225 226 227

dritte Strömung innerhalb des MTLD dar. Diese versuchte, auf eine Einigung zwischen Messalisten und Zentralisten hinzuwirken. Un nationaliste de l’Est: à ces messieurs du CRUA Metz, 29 mai 1954, annexée à: RG de Thionville: information, 2. Juni 1954, AdM 370 W 51. RG de Thionville, note de renseignement destinée à la 9e section, 7. Mai 1954, Annex: Anniversaire du 8 mai 1945, par le secrétariat fédéral du MTLD, o. D., ibid. RG de Thionville, information destinée à la 9o section, 19. Mai 1954, Annex: Bulletin intérieur du MTLD, Fédération de France, nouvelle série no 2, Mai 1954, ibid. RG de Thionville, information déstinée à la 9e section et RG de Niort, 1. Juni 1954, ibid. Commissariat aux RG de Forbach, note de renseignement, 23. Juli 1954, ibid.

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der Parteidirektion aus dem MTLD ausgeschlossen wurden228 . Spätestens zu diesem Zeitpunkt war jegliche Kritik an Messali innerhalb der Bewegung endgültig tabu. 2.4.2 Die ersten Abweichler von Messali Trotz aller rhetorischen Treuebekenntnisse waren die Reihen des MTLD in Lothringen während der internen Krise nicht geschlossen. Besonders schwerwiegend war für die Messalisten, dass sich mit Mourad Terbouche der wichtigste Kader der Region zum Lager der Zentralisten bekannte. Aus nicht bekannten Gründen wurde Terbouche bereits im November 1953 in seiner Funktion als chef régional und Chef der kasma von Nancy durch Toubal Amar ersetzt und in das Departement Moselle nach Nilvange versetzt229 . Anstatt im Juli 1954 dem Kongress in Hornu beizuwohnen, fuhr Terbouche gemeinsam mit Chiha Mohamed aus Villerupt nach Algier, um dort an dem Kongress des Zentralkomitees teilzunehmen230 . Die Fahrt des ehemaligen chef régional nach Algier konnte unter den Messalisten in Ostfrankreich nicht unbemerkt bleiben. Laut Bericht der RG entsandten die Sektionen von Hayange-Knutange und von Forbach noch im Juli eine Delegation nach Nancy, um Terbouche aufzusuchen und von ihm Rechenschaft über die Verwendung ihrer eingesammelten Gelder zu fordern231 . Wie dieser Konflikt endete, ist nicht überliefert. Sicher ist jedoch, dass Terbouche als einer der ersten Kontaktmänner des Crua in der Metropole232 beim Aufbau der französischen Föderation des FLN entscheidend beteiligt war. Als die Polizei von Nancy Terbouche am 8. November über die Auflösung des MTLD informierte, gab dieser an, bereits seit März 1954 alle Funktionen in der Partei niedergelegt zu haben233 . Dass dem MTLD im Zuge der Krise des Jahres 1954 ausgerechnet ein so zentraler Kader wie Terbouche abtrünnig wurde, war auch deshalb ein harter Schlag für die Messalisten, weil es dem MTLD am Vorabend des Unabhängigkeitskriegs in der gesamten Metropole nach wie vor an fähigem Führungspersonal mangelte. Einem internen Bericht der Organisation zufolge war dies

228 229

230 231 232 233

Stora, Dictionnaire biographique de militants, S. 63. RG de Nancy, note d’information, 14. Nov. 1953, AdM&M 950 W 57. Einem weiteren Bericht der RG zufolge wurde die Versetzung von der französischen Föderation im Januar 1954 bestätigt: ibid., 15. Jan. 1954. Ibid., 4. Nov. 1954. RG de Thionville, information déstinée à la 9e section, 23. Juli 1954, AdM 370 W 51. Ali Haroun, La 7e wilaya. La guerre du FLN en France, 1954–1962, Paris 3 2012, S. 16. Le commissaire principal, chef du service départemental des RG à monsieur le préfet de Meurthe-et-Moselle, 8. Nov. 1954, AdM&M 950 W 57.

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eine wichtige Ursache für die unkoordinierten Aktionen und die rückläufigen Mitgliederzahlen des MTLD im September 1954234 . Mourad Terbouche war nicht der einzige MTLD-Aktivist in Lothringen, der Messali Hadj schon vor dem Ausbruch des Unabhängigkeitskriegs die Treue versagte. Im Lauf des Jahres 1954 zeigten sich die Krisensymptome des MTLD auch an anderen Personen und Orten in der Region. Einem Bericht der RG zufolge gab es im Oktober innerhalb der kasma von Audun-le-TicheVillerupt ernsthafte Auseinandersetzungen aufgrund eines gewissen Einflusses der Unterstützer von Lahouel Hocine235 . In Nancy schien es den Beamten im Juni, als sei der Nachfolger Terbouches, Toubal, innerhalb seiner kasma ernsthafter Kritik ausgesetzt236 . Auch aus Forbach gab es Berichte über innere Konflikte des MTLD. Unter Berufung auf lokale Verantwortliche der Partei hieß es im Mai 1954, dass sich die Anzahl der registrierten Aktivisten in den lothringischen Kohleminen aufgrund interner Streitigkeiten seit dem Ende des Jahres 1953 fast halbiert habe237 . Diese Angaben müssen aufgrund ihres Quellenstatus vorsichtig bewertet werden und können durchaus auf verschiedene Weise interpretiert werden. Dennoch scheint es offensichtlich, dass die tiefe Krise des MTLD während des Jahres 1954 unter den algerischen Migranten in Lothringen nicht unbemerkt blieb. Medjani, der 1953 als 16-Jähriger nach Lothringen kam und damals kein aktives Mitglied der Bewegung war, erinnerte sich, die Krise aktiv verfolgt zu haben: Medjani: Im Jahr 53, da hat die Krise angefangen – da kam es zu einer offenen Krise, denn es gab sie schon seit 1953. Da ist die Krise zwischen Messali und dem Zentralkomitee eskaliert. [. . . ] Wir haben einen direkten Konflikt erlebt. Natürlich war sich die Mehrheit der Migranten über die Situation nicht im Klaren, aber jene, die sich für die Aktivitäten der Nationalbewegung interessierten, wussten, dass es Differenzen gab. LH: Wussten Sie damals darüber Bescheid? Medjani: Ja, damals. Durch die Flugblätter zum Beispiel. Danach trafen wir Leute, mit denen wir uns unterhielten und die uns sagten, was los war –238 .

2.4.3 Die MTLD-Propaganda in Zeiten der Krise 1954 Der drohende Zerfall des MTLD zeigte sich in Lothringen auf vielerlei Art und Weise. Darunter fällt auch das Vorgehen der Aktivisten bei der Verbreitung 234

235

236 237 238

Le préfet de la Moselle à monsieur le sous-préfet de Boulay, Château-Salins, Forbach, Metz-Campagne, Sarreguemines, Sarrebourg, Thionville, 22. Nov. 1954, Annex: Rapport d’organisation (mois de septembre 1954), AdM 370 W 51. RG de Longwy, rapport, 27. Okt. 1954, AdM&M 950 W 57. Lahouel Hocine war einer der prominentesten Widersacher Messalis und einer der Initiatoren des Kongresses von Algier im August 1954. Stora, Dictionnaire biographique de militants, S. 290f. RG de Nancy, note de renseignement, 15. Juli 1954, AdM&M 950 W 57. Commissariat aux RG de Forbach, note de renseignement, 13. Mai 1954, AdM 370 W 51. Interview LH–Medjani, 2014, S. 15.

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von Propaganda. Die im Laufe des Jahres 1954 durchgeführten Propagandaaktionen glichen einer Mischung aus den während der Anfangs- und dann während der Hochphase des MTLD beschriebenen Vorgehensweisen. Auf der einen Seite wurden im Vergleich zu 1953 deutlich radikalere Inhalte transportiert, die ein Maximum an Personen erreichen sollten. Auf der anderen Seite versuchten die MTLD-Aktivisten, dabei so wenig wie möglich in Erscheinung zu treten. Zu beobachten war somit eine Rückkehr zu dem seit 1953 weitgehend aufgegebenen Konfrontationskurs mit der Kolonialmacht, der jedoch anders, als es noch zwischen 1951 und 1952 der Fall gewesen war, nicht mehr auf der Straße, sondern ausschließlich auf diskursiver Ebene verfolgt wurde. So traten die MTLD-Aktivisten weiterhin direkt an die algerischen Migranten in der Region heran, um durch den Verkauf von Fotos beziehungsweise die Verteilung von Flugblättern Gelder einzutreiben. Sie taten dies aufgrund der drohenden Polizeiüberwachung vor allem nachts239 . Parallel dazu gingen sie mittels der Beschriftung oder Plakatierung von Wänden und dem Auslegen von Flugblättern auch zu einer extensiven Verbreitung von Parolen in der Öffentlichkeit über. Dieses Novum zeigte sich vor allem im September 1954. In der Nacht vom 17. September 1954 wurden in zwölf Orten des Departements Moselle Parolen in weißer, grüner oder roter Farbe an Wände gemalt, die die Unabhängigkeit Algeriens forderten. Die Präfektur in Metz ordnete an, sie augenblicklich zu übermalen240 . Am 25. September 1954 fand die Gendarmerie in Clouange, Moyeuvre-Grande, Rombas, Thionville, Hayange, Knutange und Hagondange MTLD Flugblätter, die sich an das »französischen Volk« richteten und dazu aufforderten, das Unrecht und die Unterdrückung in Algerien anzuerkennen, sich der Besatzung der Nazis zu erinnern und für die Unabhängigkeit der Völker einzustehen241 . Eine Woche später lagen Schriften mit den gleichen Forderungen in mehreren Straßen Forbachs herum und erneut in Thionville242 . Wieder eine Woche darauf war auf Flugblättern, die von Unbekannten in Forbach verteilt worden waren, eine Anklage der Haftbedingungen Messali Hadjs zu lesen243 . Am Morgen des 15. Oktober klebten Hunderte Flugblätter mit der Aufschrift »Die Unabhängigkeit Algeriens schafft Frieden in Nordafrika« an Hauseingängen, Litfasssäulen und Schaufenstern in Forbach244 . 239 240

241 242 243 244

Interview LH–Badis, 2015, S. 4.58. Es handelte sich um die Orte Faulquemont, Creutzwald, Knutange, Thionville, Hayange, Nilvange, Freyming, Amnéville, Rosselange, Forbach, Moyeuvre-Grande und Audunle-Tiche: Le préfet de la Moselle, inspecteur général de l’administration à monsieur le ministre de l’Intérieur, 21. Sep. 1954, AdM 370 W 51. Brigade de Thionville, procès-verbal no 1964, 25. Sep. 1954, ibid. Le préfet de la Moselle, inspecteur général de l’administration à monsieur le ministre de l’Intérieur, 2. Okt. 1954, ibid. Le commissaire de police, chef de la circonscription de Forbach, au directeur départemental, service de la police de la Moselle à Metz, 9. Okt. 1954, ibid. Le commissaire en chef de la circonscription de Forbach au directeur départemental des

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Ähnliche Aktionen fanden zeitgleich im industriellen Becken von Longwy statt. Dort registrierte die Polizei am 19. September an verschiedenen Wänden in mehreren Orten die rote Inschrift »Indépendance de l’Algérie«. Sechs Tage später verteilten MTLD-Aktivisten in mehreren Kommunen ein Flugblatt mit dem Titel »Aufruf an das französische Volk«. Am 29. September erhielten die Bürgermeister von Longlaville, Herserange, Rehon, Longwy und Mont-SaintMartin einen Brief, der mit »Die nordafrikanischen Arbeiter des Beckens von Longwy« unterzeichnet war und in dem die Befreiung Messali Hadjs eingefordert wurde245 . Die Propagandaaktionen einzelner Aktivisten des MTLD im September 1954 zeigt, wie die Messalisten in Lothringen der fortschreitenden Spaltung ihrer Organisation dadurch zu begegnen versuchten, dass sie umso mehr Kampfbereitschaft und Geschlossenheit nach außen demonstrierten. Während im Frühherbst 1954 noch immer darum gekämpft wurde, die Einheit der Unabhängigkeitsbewegung wieder herzustellen, hatte eine kleine Minderheit von Aktivisten bereits einen Plan ausgearbeitet, um die Spaltung durch die eigenmächtige Proklamation eines Unabhängigkeitskriegs endgültig zu besiegeln. 2.4.4 Die Auflösung des MTLD Für die führenden Kader des MTLD in Ostfrankreich kamen die Anschlagsserie des FLN am 1. November 1954 und deren unmittelbare Folgen vollkommen überraschend. Sie waren nicht mehr nur mit den Konsequenzen des Bruchs zwischen Messalisten und Zentralisten konfrontiert, sondern kurz nach den Anschlägen auch mit den Folgen des Verbots ihrer Partei durch den französischen Innenminister. Diese bestanden zunächst in einer massiven Erhöhung der polizeilichen Überwachung und Einschüchterung von MTLD-Mitgliedern. Bereits einen Tag vor der Auflösung des MTLD am 6. November gab der neue IGAME der 6. Militärregion und Präfekt von Moselle, Jean Laporte, den Befehl, sämtliche Büros des MTLD und aller ihm angegliederten Organisationen nach Dokumenten »antinationalen Charakters« zu durchsuchen246 . Am 10. November wies Jean Laporte die Subpräfekten, die Gendarmerie und die Polizeidienste in Moselle dazu an, jegliche Aktivitäten, die in Zusammenhang mit dem MTLD standen, als illegal zu unterbinden247 . Sowohl in Moselle als auch in Meurthe-et-Moselle

245 246 247

services de la police à Metz, 14. Okt. 1954, ibid. Diese Parole spielte außer auf die Zustände in Algerien auch auf die damaligen politischen Unruhen und die darauf erfolgten Repressionen Frankreichs in Tunesien und Marokko an. RG de Longwy, rapport, 2. Okt. 1954, AdM&M 950 W 57. Procuration du préfet de la Moselle, Jean Laporte, 5. Nov. 1954, AdM 370 W 51. Le préfet de la Moselle, inspecteur général de l’administration à messieurs les souspréfets, le commandant de la gendarmerie de la Moselle, le directeur départemental de

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folgte daraufhin eine Welle von Hausdurchsuchungen bei polizeibekannten MTLD-Aktivisten248 , die am 22. Dezember einen vorläufigen Höhepunkt erreichte. Binnen 24 Stunden durchsuchte die Polizei 30 Häuser in Moselle249 und 17 in Meurthe-et-Moselle250 . Sämtliche Mitglieder und Sympathisanten des MTLD wurden damit in die Illegalität gedrängt. Jegliche Form des algerischen Nationalismus war fortan in den Untergrund verwiesen. Die Geschichte des MTLD in Lothringen offenbart ebenso die Vielfältigkeit wie auch die Schwankungen der algerischen Unabhängigkeitsbewegung zwischen 1945 und 1954 auf regionaler Ebene. Die MTLD-Mitglieder trieben in der Region die Politisierung der dort lebenden Algerier stark voran. Dass sie dabei den direkten Anweisungen der französischen Föderation des MTLD untergeordnet waren, die wiederum von der Zentrale aus Algier angeleitet wurde, steht der Konstatierung einer umfassenden »Macht des Lokalen« nicht entgegen. Der Erfolg des MTLD war in Lothringen sowohl von der übergeordneten Strategie der Parteiführung, der Initiative einzelner Kader als auch von der Existenz und Konjunktur konkurrierender oder kooperierender politischer Akteure abhängig, die ebenfalls um die Anhängerschaft algerischer Migranten warben. Letztendlich ist die entscheidende Frage, welche Formen und welches Ausmaß der politische Einfluss des MTLD auf Algerier in Lothringen erreichte. Insbesondere anhand der Mobilisierungsfähigkeit, der Spendeneinnahmen des MTLD und der Entwicklung der Mitgliederzahlen wurde eine schwankende Entwicklung aufgezeigt, deren Ausgang auch noch zu Beginn des Jahres 1954 keineswegs abzusehen war. Die als Ergebnis mehrerer Konflikte auf unterschiedlichen Ebenen entstandene Krise des Jahres 1954 hatte auch für die Anhänger der algerischen Unabhängigkeitsbewegung in Lothringen weitreichende Auswirkungen. An die Stelle der bis dahin propagierten Fassade der Einheit trat ein agressiver Diskurs, der Algerier in Verräter und Patrioten einteilte und die seit 1955 einsetzenden massiven inneralgerischen Auseinandersetzungen legitimieren sollte, welche auch das algerische Milieu in Lothringen erschütterten.

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249

250

la police, les commissaires aux RG de Metz, Thionville, Sarreguimes, Forbach, 10. Nov. 1954, ibid. Dabei wurde auch das Crua explizit erwähnt. Am 6. November fanden vier Hausdurchsuchungen in Metz und eine in Merlebach statt. Am 8. November kamen jeweils eine Hausdurchsuchung in Nilvange, Florange, Seremange, Angevillers und zwei in Thionville hinzu. Am 23. November wurden wiederum fünf Hausdurchsuchungen in Metz durchgeführt. An diesem Tag nahm die Polizei in Moselle insgesamt 30 Hausdurchsuchungen bei MTLD-Aktivisten vor. Davon jeweils zwei in Hagondange, Merlebach und Fontoy, jeweils drei in Knutange und Rosselange, eine in Florange, sieben in Forbach und zehn in Stiring-Wendel. In Meurthe-et-Moselle verteilten sich die Durchsuchungen folgendermaßen: Fünf in Nancy, eine in Frouard, Lunéville, Joudreville und Joeuv sowie vier in Longwy und zwei in Villerupt: Le préfet de Meurthe-et-Moselle à monsieur le ministre de l’Intérieur, 19. Jan. 1955, AdM&M 950 W 57.

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3. Medien und antialgerische Stimmung in Lothringen vor 1954 Die Lebensbedingungen algerischer Migranten in Lothringen waren zu einem hohen Anteil von ihrer Perzeption durch die ansässige Bevölkerung geprägt. Im Folgenden wird gezeigt, dass diese in einem hohen Maße von kolonialen Denkweisen beeinflusst war. Dazu muss, wie bereits bei der Analyse der Politik- und Sozialgeschichte algerischer Migranten, zunächst die Frage nach der überregionalen Dimension des genannten Phänomens geklärt werden. Daher werden zunächst die generellen Zusammenhänge zwischen der französischen Kolonialherrschaft in Algerien und populären Angstvorstellungen in Bezug auf Algerier erörtert und Vorläufer der beschriebenen Deutungsmuster in Lothringen während der Zwischenkriegszeit beleuchtet. Sodann wird die Berichterstattung der beiden größten lothringischen Regionalzeitungen, »Le Républicain lorrain« und »L’Est républicain«, über zwei zwielichtige Mordfälle untersucht, welche in einem Abstand von etwa drei Jahren in ganz Lothringen jeweils großes Aufsehen erregten. In den Regionen Longwy und Thionville-Metz lösten sie wahre Hetzkampagnen gegen »Nordafrikaner« aus. Insofern eignen sich die beiden Fälle besonders dazu, nicht nur die Inhalte, sondern auch die Verbreitung rassistischer Ressentiments gegenüber Algeriern vor 1954 aufzuzeigen, die der Presse zur Erklärung besonders grausamer Verbrechen dienten.

3.1. Über die Entstehung von Bedrohungsszenarien im kolonialen Algerien Zwischen 1945 und 1954 war es um die Arbeits- wie auch um die Wohnsituation algerischer Migranten in Frankreich ebenso wie um deren Spielräume für politisches Engagement im Vergleich zur übrigen Bevölkerung in der Regel deutlich schlechter bestellt. Ein entscheidender struktureller Faktor, der dieser Situation zu Grunde lag, war die Tatsache, dass es sich bei Algeriern um die Bewohner der mit Abstand wichtigsten französischen Kolonie handelte. Die Herrschaft über das algerische Territorium und die Sicherung der Vormachtstellung dort lebender Franzosen gegenüber der als »muslimische Franzosen« etikettierten Bevölkerungsmehrheit waren für das Selbstverständnis der französischen Staatsmacht essenziell1 , insbesondere, nachdem deren 1

Der Abgeordnete der während der Résistance gegründeten Assemblé consultative provisoire, Gaston Monnerville, brachte dies im Mai 1945 mit den Worten zum Ausdruck: »Ohne sein Kolonialreich wäre Frankreich nur ein befreites Land. Dank seiner Kolonien

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Großmachtstatus infolge des Zweiten Weltkriegs unmittelbar in Frage stand. Der aus heutiger Perspektive besonders angesichts eigener Institutionen evident erscheinende koloniale Charakter der Herrschaft über Algerien wurde nach wie vor negiert. Trotz eines algerischen Generalgouvernements mit eigenem Budget, einer separaten Abgeordnetenversammlung und vor allem der gesetzlich festgeschriebenen Diskriminierung aller Personen, die nicht den Rechtsstatus »Muslim« ablegten2 , war die Doktrin »L’Algérie, c’est la France« Teil der französischen Staatsräson. Auch nach der Überquerung des Mittelmeers waren die Français musulmans d’Algérie vielfach mit einem »kolonialistischen Denken« konfrontiert, das sie als minderwertige Existenzen klassifizierte3 . Dem konnten sowohl rassistische, soziale oder in der Medienberichterstattung auch marktstrategische Motive zu Grunde liegen. In jedem Fall aber erhielten entsprechende Anschauungen durch die koloniale Herrschaft in Algerien, d. h. die Institutionen des Kolonialstaates und die von ihnen verbreiteten Diskurse, eine ausdifferenzierte Argumentationsbasis. Fundamental für die meisten Versuche, die französische Herrschaft über Algerien zu legitimieren, war die von keiner anderen europäischen Kolonialmacht derart entschieden vertretene Idee der Zivilisierungsmission4 . Diese besagte im Grunde, dass Frankreich das Recht und die Pflicht habe, seine angeblich überlegene Kultur der als zivilisatorisch rückständig imaginierten außereuropäischen Bevölkerung nahe- beziehungsweise beizubringen. Alice Conklin geht davon aus, dass um 1900 kaum ein französischer Bürger an dieser Vorstellung zweifelte und diese zumindest während der III. französischen Republik (1870–1940) ein integraler Teil des französisch-republikanischen Selbstverständnisses gewesen sei5 . Vor allem nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren die Herrschaftsverhältnisse in den europäischen Kolonien ohne die Unterstellung einer wie auch immer gearteten Minderwertigkeit der jeweiligen indigenen Bevölkerung nicht zu legitimieren. Da diese jedoch in der Regel nicht dazu bereit war, ihre rechtliche Diskriminierung und kulturelle Herabwürdigung zu akzeptieren, musste die den Kolonisierten unterstellte Minderwertigkeit auch

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ist Frankreich eine Siegernation«, zit. n. Klose, Menschenrechte im Schatten kolonialer Gewalt, S. 68. Claude Collot, Les institutions de l’Algérie durant la période coloniale (1830–1962), Paris, Algier 1987. Der Begriff des kolonialistischen Denkens ist Jürgen Osterhammel entlehnt: »Im Zentrum kolonialistischen Denkens steht die Vorstellung, die Bewohner außereuropäischer Regionen seien grundsätzlich anders beschaffen als Europäer; ihre [angeblich] andersartige Ausstattung mit geistigen und körperlichen Gaben befähige sie nicht zu solch maßstäblichen Kulturleistungen und Heldentaten, wie einzig das neuzeitliche Europa sie aufzuweisen habe«, Osterhammel, Kolonialismus, S. 113. Eckert, Kolonialismus, S. 111. Conklin, A mission to civilize, S. 1–10.

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mit der Unterstellung einer zumindest potenziellen Feindseligkeit einhergehen. Daraus leitete sich ein zentraler Unterschied ab, der während des 19. und 20. Jahrhunderts zwischen Kolonialstaaten und europäischen Territorialstaaten bestand: Letztere zielten in der Regel auf eine »Nationalisierung« beziehungsweise Homogenisierung der Bevölkerung, während Kolonialstaaten kulturelle und ethnische Differenzen reproduzierten oder sogar schufen6 . Die gezielte Erfindung und Festschreibung unveränderlicher Differenzen zwischen den Bewohnern einer Kolonie fand auch in Algerien statt. Dabei sind jedoch zwei Besonderheiten der dortigen Herrschaftsverhältnisse zu beachten: Einerseits war die 1830 begonnene Eroberung Algeriens durch die französische Armee mittels eines besonders brutal geführten Krieges vonstatten gegangen, dessen Verlauf und Folgen sich tief in das Gedächtnis der Siedler und der Kolonialbevölkerung einschrieben7 . Andererseits folgte auf die Eroberung eine umfassende Besiedlung Algeriens durch Europäer, die später als vollwertige Franzosen eingebürgert wurden. Deren wirtschaftlich und politisch privilegierte Position sicherte allein das »othering« der Gewalt und Diskurse, die der Kolonialstaat produzierte. Die französische Kolonialherrschaft in Algerien war in besonderer Weise von einem Zustand geprägt, den Ranajit Guha in einem anderen Kontext als »Dominance without Hegemony« bezeichnet hat8 . Das bedeutet, dass der Kolonialstaat zwar einen großen Teil seiner Machtansprüche gegenüber der Bevölkerung durchsetzen konnte, jedoch nicht in der Lage dazu war, diese auch als legitim erscheinen zu lassen. Dadurch wurden das Regime und die französischen Zivilisten in einem Zustand der permanenten Alarmbereitschaft gehalten, was wiederum der Verbreitung von Angstvorstellungen massiven Vorschub leistete. Es wäre zu kurz gegriffen, sich die koloniale Situation in Algerien als zweigeteilte Welt vorzustellen. Wer als kolonisierte oder kolonisierende Bevölkerung wahrgenommen wurde, hing von der Perspektive ab. Beide Gruppen waren in vielerlei Hinsicht heterogen und die Machtunterschiede zwischen den einzelnen Gruppen alles andere als statisch. Dennoch ist zu konstatieren, dass die zwischen den Algerienfranzosen verlaufende Kluft nicht zuletzt durch das gemeinsame Bewusstsein überbrückt wurde, ihre gegenüber Alge6

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Conrad, Deutsche Kolonialgeschichte, S. 69. Auch John Comaroff sieht den prinzipiellen Unterschied zwischen dem kolonialen Staat und dem modernen Staat in dem Prozess eines systematischen »othering«, der Einheimische in Form einer Rasse beschreibe, um sich ihnen überzuordnen und sie in ihren Traditionen einzuschließen: Eckert, Kolonialismus, S. 95f. Jürgen Osterhammel geht davon aus, dass der koloniale Staat »eine politische Form sui generis« war, dessen zwei Hauptfunktionen in der Ausübung von Kontrolle über die Kolonisierten und der Schaffung eines Rahmens für die ökonomische Ausbeutung der Kolonie lagen: Osterhammel, Kolonialismus, S. 62f. Jansen, Erobern und Erinnern. Vgl. Isabelle Merle, Les »subaltern studies«. Retour sur les principes fondateurs d’un projet historiographique de l’Inde coloniale, in: Genèses 56 (2004), S. 131–147, hier S. 140.

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riern privilegierte Position werde letztendlich durch die ständige Androhung von physischer Gewalt als zentralem Herrschaftsinstrument aufrechterhalten. Dieses Bewusstsein der fragilen Überlegenheit leistete zugleich einem Gefühl der permanenten Bedrohung Vorschub, das auf Dauer Gemeinschaft stiftend wirkte9 . Auf dieser Grundlage entstanden zahlreiche Gerüchte über brutale Indigene, deren Eigenschaften umso niederträchtiger imaginiert wurden, je maßloser die Repressionen gegen sie ausfielen. Claire Mauss-Copeaux hat als immer wiederkehrende Embleme kolonialer Ängste in Algerien insbesondere den Mord an einem Lehrer, die Vergewaltigung eines jungen Mädchens, das Durchschneiden der Kehle oder die Entmannung genannt und die ihnen enthaltene Verbindung von Zerstörung und Entweihung herausgearbeitet10 . Entsprechend der besonderen Labilität des kolonialen Staates in Algerien, die sich vor allem in immer wiederkehrenden Rebellionen und deren brutaler Niederschlagung manifestierte11 , spiegelten diese Sinnbilder die dem »kolonialistischen Denken« innewohnende Vorstellung einer kulturellen Dichotomie in extremer Weise wider. Im Anschluss an die Historikerin Patricia Lorcin ist die Entstehung kolonialer Mythen und ethnischer Kategorisierungen im kolonialen Algerien als Ausdruck des Bestrebens zu verstehen, Herrschaft ohne die permanente Androhung von Gewalt zu stabilisieren12 . Insbesondere der für den kolonialen Diskurs in Algerien markante Versuch, »gute Kabylen« gegen »schlechte Araber« auszuspielen, stellte den Versuch der Ausübung von symbolischer Gewalt im Sinne Pierre Bourdieus dar13 . Dies zielte an sich zwar auf den Erhalt des Kolonialstaats. Allerdings war eine dauerhafte Befriedung des eroberten Territoriums mittels der Verbreitung konkreter Bedrohungsszenarien schlicht unmöglich. Der faktische Zustand des Krieges, in dem sich Algerien seit der 9

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Auf die Möglichkeit, dass Angst einen Gemeinschaft stiftenden Effekt hat, hat in einem anderen Kontext Heinz Bude hingewiesen und dabei die instrumentelle Dimension der Erzeugung konkreter Bedrohungsszenarien betont: »Das ängstliche Ich wird als Subjekt der Angst aufgerufen und kann seinen Makel aus Auszeichnung begreifen. Ich brauche meine Ängste nicht mehr verständlich [zu] machen, weil sie schon verstanden sind. Angst trennt nicht mehr die Einzelnen, sondern verbindet sie im Ganzen. Hier kommen Politiken der Angst ins Spiel, die persönliche Erfahrungen von Degradierung und gruppenspezifische Befürchtungen von Verlust zu einem Gesamteindruck von Ausgeliefertheit und Bedrohtheit steigern«, Heinz Bude, Gesellschaft der Angst, Hamburg 2014, S. 123f. Mauss-Copeaux, Algérie, 20 août 1955, S. 49. Einige dieser Motive wurden auch von einer Zeitzeugin in Metz erwähnt, die gegenüber dem Autor von den Erfahrungen eines Freundes als Soldat in Algerien berichtete: »Er war in dieser Armee und er hat mir auch erzählt, was er in Algerien gesehen hatte, denn die Algerier vergewaltigten die Frauen, sie vergewaltigten die Kinder und schlitzten ihnen die Bäuche auf, nun, es waren makabre Dinge«, Interview LH–Voirand, 2014, S. 2. Vgl. Peyroulou, Tengour, Thénault, 1830–1880: la conquête coloniale. Vgl. Lorcin, Imperial Identities, S. 241. Vgl. Alf Lüdtke, Einleitung: Herrschaft als soziale Praxis, in: Ders. (Hg.), Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial-anthropologische Studien, Göttingen 1991, S. 9–51.

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Eroberung befand, konnte somit zeitweise lediglich durch den einer permanenten Alarmbereitschaft unterbrochen werden14 . Die französische Präsenz in Algerien ging somit von Anfang an mit der Verbreitung von Angstvorstellungen einher, die die indigene Bevölkerung zum Gegenstand hatten. Dass die daraus entstandenen Mythen in immer stärkerem Ausmaß auch in der Metropole Verbreitung finden würden, war spätestens nach der Eingliederung Algeriens in das französische Staatsgebiet und dem Aufbau zahlreicher institutioneller Verflechtungen nur noch eine Frage der Zeit.

3.2. »Kolonialistisches Denken« und antialgerische Stimmung zwischen den Weltkriegen Besonders nach dem Ende des Ersten Weltkriegs weitete sich das »kolonialistische Denken« mit seinen spezifischen Stereotypen und Angstfantasien auch auf den europäischen Teil Frankreichs aus. Eine entscheidende Rolle dabei spielten auf institutioneller Ebene die Angehörigen der Direction des affaires indigènes. Diese dem Innenministerium unterstellte Institution ernannte und kontrollierte die Verwalter der algerischen communes mixtes. Die Beamten der Direction waren bezüglich der Frage des Umgangs mit den zahlreichen algerischen Migranten in den 1920er Jahren gefragte Ratgeber und fungierten ebenso wie die übergeordnete Direction des affaires algériennes als Multiplikatoren des kolonialen Diskurses15 . In allen verantwortlichen Positionen der neu geschaffenen Institutionen, die während der Zwischenkriegszeit mit der 14

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In diesem Sinne hat auch Raphaëlle Branche argumentiert. Mit Blick auf die Kontinuitäten zwischen einzelnen Revolten vor dem Beginn des algerischen Unabhängigkeitskrieg stellte sie die These auf, Algerien habe sich stets in einem latenten Kriegszustand befunden: »La guerre était là depuis plusieurs générations avant même de commencer«, Branche, L’embuscade de Palestro, S. 123. Über Algerien hinaus ist mit Andreas Eckert auch davon auszugehen, dass sich der koloniale Staat in Afrika beinahe permanent im »Ausnahmezustand« befunden habe: Andreas Eckert, Vom Segen der (Staats-)Gewalt. Staat, Verwaltung und koloniale Herrschaftspraxis in Afrika, in: Alf Lüdtke, Michael Wildt (Hg.), Staats-Gewalt: Ausnahmezustand und Sicherheitsregimes. Historische Perspektiven, Göttingen 2008, S. 147–165, hier S. 164. Diese Position wurde in einer noch radikaleren Form von Dierk Walter vertreten. Ihm zufolge waren Kolonialkriege im Grunde die eigentliche Form kolonialer Herrschaft und hätten in der Geschichte der europäischen Imperien niemals wirklich aufgehört. Während in Europa die Herrschaft auf einer »sehr theoretischen Androhung von Gewalt« beruht habe, sei die tatsächliche Ausübung von Gewalt in den Kolonien Normalzustand gewesen: Dierk Walter, Warum Kolonialkrieg?, in: Thoralf Klein, Frank Schumacher (Hg.), Kolonialkriege. Militärische Gewalt im Zeichen des Imperialismus, Hamburg 2006, S. 14–43, hier S. 21–23. MacMaster, Colonial Migrants and Racism, S. 137.

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Betreuung und Überwachung algerischer Migranten befasst waren, wurden Beamte mit Kolonialerfahrung eingesetzt16 . Für eine Verbreitung kolonialer Stereotype in der Metropole übten auch Interessenvertreter französischer Siedler einen bedeutenden Einfluss aus, die aus wirtschaftlichen und politischen Motiven auf eine Begrenzung der algerischen Migration hinzuwirken suchten17 . Sie nutzten ihre Kontakte zu Politikern und Medien, um die Migrationsströme aus Algerien als Risiko für die Metropole erscheinen zu lassen, und wiesen dringlich auf die hohe Anfälligkeit von Algeriern für Arbeitslosigkeit, Krankheit und Kriminalität hin18 . Derartige Vorurteile fanden eine schlagartige Verbreitung nach einem Doppelmord in der Pariser Rue Fondary am 7. November 1923. Ein geistig behinderter Kabyle hatte am hellichten Tage zwei Frauen getötet und zwei weitere verletzt. Diese Tat eines obdach- und arbeitslosen Algeriers löste eine bis dahin beispiellose Hetzkampagne französischer Zeitungen gegen algerische Migranten beziehungsweise »Nordafrikaner« aus19 . Innenminister Chautemps nahm den Mord und die darauf folgenden Reaktionen zum Anlass, um die Reisefreiheit für Algerier wieder zu beschränken und eine umfassende Polizeiüberwachung der Migranten in der Metropole anzuordnen20 . Der Doppelmord in der Rue Fondary sorgte in ganz Frankreich für großes Aufsehen. Über seine genaue Rezeption ist in Lothringen nur wenig bekannt. Es hat jedoch nicht den Anschein, als hätte er wie in Paris ein größeres Aufsehen nach sich gezogen21 , vermutlich auch, weil zu dem damaligen Zeitpunkt noch relativ wenige Algerier in Lothringen lebten. Den Angaben Ralph Schorrs zufolge waren 1921 in Meurthe-et-Moselle 654 »Maghrebiner« erfasst worden. Sechs Jahre später waren es 140222 . Eine breitenwirksame Propagierung negativer Stereotype über »Nordafrikaner« setzte in Lothringen erst zum Ende der 1920er Jahre ein. Zwei Faktoren waren dabei entscheidend: Zum einen leistete die steigende Präsenz oftmals verarmter und unter besonders prekären Umständen lebender algerischer Migranten der Empfänglichkeit der ansässigen Bevölkerung für bestimmte 16 17 18 19 20

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Massard-Guilbaud, Des Algériens à Lyon, S. 346. Siehe Teil I, Kap. 1.1.1. MacMaster, Colonial Migrants and Racism, S. 143f. Ibid., S. 126f.; Massard-Guilbaud, Des Algériens à Lyon, S. 343. Clifford Rosenberg, La politique musulmane en métropole durant l’entre-deux-guerres, in: Bouchène u. a. (Hg.), Histoire de l’Algérie à la période coloniale, S. 375–380; Mary Dewhurst Lewis, The Boundaries of the Republic. Migrant Rights and the Limits of Universalism in France, 1918–1940, Stanford, CA 2007, S. 188–215. »L‘Est républicain« berichtete über das Ereignis am Tag nach der Tat auf seiner Titelseite, ohne dabei zu erwähnen, dass es sich bei dem »Algerier« um einen geistig Behinderten handelte. In den folgenden Tagen wurde über die Morde jedoch nicht mehr berichtet, sodass von einer Kampagne keine Rede sein kann: L’Est républicain, 8. Nov. 1923. Ralph Schor, Les conditions de vie des immigrés nord-africains dans la Meurthe-etMoselle entre les deux guerres, in: Cahiers de la Méditerranée 14 (1977), S. 41–51, hier S. 41.

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Angstszenarien Vorschub, die zuvor vor allem italienische Arbeitsmigranten im Blick gehabt hatten23 . Zum anderen beförderten vor Ort lancierte Propagandaveranstaltungen zum Ende der 1920er Jahre ein »kolonialistisches Denken«24 , im Sinne der Vorstellung einer Hierarchie der Zivilisationen mit Frankreich an der Spitze. Letzteres fand in einem festlichen Stil im Rahmen der Veranstaltung einer »kolonialen Woche« während der Jahre 1928 und 1929 in Metz statt. Auf die Initiative eines lokalen Organisationskomitees, in dem zahlreiche Vertreter aus Staat, Religion und Gesellschaft vertreten waren25 , wurden während der »kolonialen Woche« in Metz koloniale Produkte aus Indochina, dem subsaharischen Afrika, Nordafrika und Madagaskar ausgestellt sowie Filmvorstellungen und Vorträge über das Kolonialreich organisiert. Kolonialsoldaten marschierten in traditionellen Uniformen auf, spielten in einer Militärkapelle, positionierten sich neben einzelnen Ständen gewissermaßen als lebende Ausstellungsstücke und spielten Gefechte des Ersten Weltkriegs nach26 . Das Metzer Komitee betrieb einen großen Aufwand, um für dieses Ereignis zu werben: An mehreren öffentlichen Plätzen wurden Plakate angebracht, ein Flugzeug warf Flugblätter über der Stadt ab27 . 1928 nahmen an einer einzigen Veranstaltung, die im Rahmen der »kolonialen Woche« auf der Place d’Armes stattfand, über 4000 Menschen teil28 . Im Jahr darauf kontaktierte das Organisationskomitee 36 Schulen in Metz und Umgebung, um sie dazu zu bewegen, mindestens einen der Vorträge oder eine Filmvorführung in ihren Unterricht zu integrieren29 . Die lokalen Zeitungen berichteten vor, während und nach der »kolonialen Woche« geradezu begeistert über diese Ausstellungen und riefen ihre Leser dazu auf, diesem Ereignis möglichst zahlreich beizuwohnen. Anlässlich der »kolonialen Woche« von 1928 war im »Est ré23 24 25

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Galloro, Boubeker, Histoire et mémoires des immigrations, S. 268–275. Siehe Teil I, Kap. 3.1. Mitglieder des Komitees waren unter anderem der stellvertretende Bürgermeister, mehrere Stadträte, Lehrer, jeweils ein katholischer, protestantischer und jüdischer Geistlicher sowie ein Vertreter der französischen Armee: Compte rendu de la séance du comité d’action de la semaine coloniale du 11 juin 1929, AMM 3 K 104. Der Vorsitzende des Organisationskomitees hatte beim Militärgouverneur von Metz darum gebeten, die Militärkapelle des 23e régiment de tirailleurs algériens (RTA) zu Beginn und zum Ende der »semaine coloniale« aufspielen zu lassen. Außerdem wurde darum gebeten, für die Ausstellung drei tirailleurs des 23e RTA zur Verfügung zu stellen. Einer davon sollte ein »Neger« sein. Für den Stand zu Indochina wurde außerdem noch ein »Anamit« benötigt. Dieser Anfrage wurde entsprochen: Le président du comité d’action de la semaine coloniale à monsieur le général Fondeur, gouverneur militaire, commandant de la place de Metz, 24. Juni 1929, ibid.; Le général commandant de la place de Metz à monsieur le président du comité de la semaine coloniale de Metz, 26. Juni 1929, ibid. L’Est républicain, 17. Juni 1928. Le Républicain lorrain, 16. Juni 1928. Liste des écoles invitées aux séances cinématographiques de la semaine coloniale, o. D., AMM 3 K 104.

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publicain« aus Nancy zu lesen: »Seither [infolge der Eröffnung der kolonialen Woche in Metz] wurden alle Mittel der Werbung angewendet und niemand in Metz kann heute behaupten, er wüsste nicht, dass Frankreich das wichtigste Kolonialreich der Welt besitzt«30 . Im Jahr darauf berichtete ein Offizier, der auf Bitte des Komitees hin während der »kolonialen Woche« 1929 in einem Pavillon für den Eintritt in die Kolonialarmee warb31 , außer vom großen Zulauf der lokalen Bevölkerung auch über die Präsenz von Deutschen, Belgiern und Luxemburgern auf der Ausstellung32 . Die Effekte des französischen Kolonialismus zeigten sich in Lothringen nicht nur auf der Ebene der Propaganda, sondern auch anhand konkreter Ängste gegenüber algerischen Migranten. Einem 1938 im Auftrag der französischen Regierung verfassten Bericht zufolge war es infolge der Rekrutierung Tausender Algerier durch die Eisen- und Stahlindustrie im Jahr 1936 in Moselle und Meurthe-et-Moselle zu einer regelrechten Panikstimmung gekommen. Den Anlass dazu hatten – ähnlich wie im Fall der Rue Fondary – vor Ort begangene Verbrechen gegeben, die »Nordafrikanern« angelastet wurden, ohne dass dazu jedoch ein Beweis erbracht worden war. Konkret handelte es sich um eine Vergewaltigung in Homécourt, den Mord an einem Kind und einen Fall von »Unzucht« in Knutange33 . Abgesehen von diesen Verdachtsmomenten wurde von verschiedenen Stellen her eine zunehmend offene Abneigung gegenüber Algeriern konstatiert: Der Bürgermeister von Longwy forderte etwa den Armeeminister auf, für die Ausweisung aller Algerier aus Frankreich zu sorgen. In Thionville wollte die übrige Bevölkerung die von vielen Algeriern frequentierten öffentlichen Duschen immer weniger benutzen. In Nancy erwog die Straßenbahngesellschaft, einzelne Waggons auf der Linie nach Pompey ausschließlich für »Nordafrikaner« zu reservieren34 . Ein Beamter der Direktion für Arbeitsfragen in Nancy bemerkte im November 1937, dass Algerier für Frauen und Kinder eine echte Gefahr darstellten, sodass diese kaum noch unbegleitet an verlassene Orte gehen würden35 .

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L’Est républicain, 17. Juni 1928. Le président du comité de la semaine coloniale de Metz au général commandant de la place de Metz, 1. Juli 1929, AMM 3 K 104. Rapport de l’adjudant-chef Jean Bergès de l’infanterie coloniale, détaché au recrutement de Metz pour la propagande coloniale dans la 6e région, sur la semaine coloniale de Metz, 29. Juli 1929, ibid. Haut Comité méditerrannéen et de l’Afrique du Nord, session de mars 1938. Secrétariat général du Haut Comité. Annexe au rapport no 3, les Nord-Africains en France. Rapport de MM. Laroque et Ollive, auditeurs au Conseil d’État, sur la main d’œuvre nord-africaine, 1re partie, S. 63f. Privatarchiv Neil MacMaster. MacMaster, Colonial Migrants and Racism, S. 132. Schor, Les conditions de vie des immigrés, S. 47.

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Welchen Verbreitungsgrad die koloniale Propaganda während der »kolonialen Woche« beziehungsweise die Ängste vor »Nordafrikanern« in Lothringen während der Zwischenkriegszeit genau erreichten, kann an dieser Stelle nicht geklärt werden. Es ist jedoch zu konstatieren, dass beide Phänomene in Lothringen während der späten 1920er beziehungsweise Mitte der 1930er Jahre eine wichtige gesellschaftspolitische Relevanz hatten. Die zum Teil von Zeitungen vorangetriebene Verbreitung von Gerüchten über angeblich von »Nordafrikanern« begangene Grausamkeiten stellte in Lothringen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs somit keineswegs ein Novum dar. Vielmehr knüpfte sie an eine kollektive Stigmatisierung an, die bereits während der Zwischenkriegszeit stattgefunden hatte und deren Entstehung und Inhalte in einem engen Zusammenhang mit der kolonialen Situation in Algerien standen.

3.3. Panikstimmung in Réhon Am 12. November 1949 ereignete sich in Réhon ein Raubmord, der in ganz Lothringen großes Aufsehen erregte. Er beflügelte insbesondere im industriellen Becken von Longwy die kollektive Stigmatisierung von Algeriern. Bereits im April 1949 hatte der Subpräfekt des Arrondissement Briey dem Innenministerium über eine »kaum verhohlene Feindseligkeit« der lokalen Bevölkerung des industriellen Beckens von Longwy gegenüber »Nordafrikanern« berichtet. Insbesondere im Hinblick auf die Presseberichterstattung über ungeklärte Verbrechen hatte sich nach der Einschätzung des Subpräfekts innerhalb der europäischen Bevölkerung gegenüber »Nordafrikanern« bereits ein Generalverdacht etabliert: »Das Spektakel des moralischen und körperlichen Verfalls dieser Menschen [»Nordafrikaner«] ist zu offenbar, ihre Untaten beherrschen zu sehr die Zeitungskolumnen [und werden] so sehr herausgestellt, dass sich die Gewohnheit ausbreitet, ihnen die Vergehen aller unbekannten Täter anzulasten«36 . Diese Einschätzung wurde einige Monate später durch die Folgen eines Mordes in Réhon deutlich bestätigt. An einem Samstagabend waren der 72-jährige Franzose Toussaint und seine Tochter in ihrem Gemischtwarenladen mit einem schweren Gegenstand niedergeschlagen worden. Herr Toussaint war sofort tot. Seine Tochter starb daran, dass ihr nach den Schlägen auf den Kopf die Kehle durchgeschnitten wurde. Unmittelbar nach dem Mord stimmten sowohl die regionale Presse als auch die Polizei in der Annahme überein, dass der oder die Täter aus Nordafrika stammen mussten. Unter der Schlagzeile »Un paquet de couscous et un couteau de boucher feront ils découvrir le criminel de Réhon?« berichtete der »Républicain lorrain«, 36

Zit. n. Losego, Fern von Afrika, S. 293.

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dass das in der Rue de l’Industrie gelegene Geschäft stets von zahlreichen Arbeitern der nahegelegenen Fabrik frequentiert worden sei, um Einkäufe zu machen oder um dort gemeinsam etwas zu trinken. Zeugenaussagen zufolge hätte sich an jenem Abend zuletzt eine Gruppe von »Nordafrikanern« in dem Laden aufgehalten, weshalb sich die Ermittlungen auf die »nordafrikanischen Milieus des Beckens« konzentrieren würden37 . Auch der »Est républicain« legte bereits in seinem ersten Bericht über das Verbrechen nahe, dass der oder die Täter »Nordafrikaner« seien. Der Verdacht stützte sich auf drei zentrale Hinweise: Die Verkäuferin war niedergeschlagen worden, als sie gerade eine Packung Couscous aufgehoben hatte. Auf dem Tresen lag aufgeschlagen der Block, den die Toussaints für Anschreibungen von »Nordafrikanern« verwendeten. Schließlich sei das Durchschneiden der Kehle dem Kommissar der police judiciaire (PJ) zufolge eine für »Nordafrikaner« ziemlich charakteristische Form des Mordens38 . Die Nachricht des Doppelmordes und der Verdacht bezüglich der Herkunft der Täter wurden durch die beiden größten Zeitungen Lothringens in der gesamten Region verbreitet. Im industriellen Becken Longwys konstatierte der »Est républicain« kurz darauf eine regelrechte Panik vor »Nordafrikanern«, die sich der Zeitung zufolge vor allem in einer Abschottung, dem Kauf von Schusswaffen und zahlreichen Verhaftungen manifestierte: Als Vorsichtsmaßnahme verbarrikadiert man sich nachts und bewaffnet sich. Die Waffenhänder verkaufen alle ihre Revolver. Ab einer bestimmten Uhrzeit muss man sich ausweisen, wenn man nicht vor verschlossener Tür stehen will. Die kuriosesten Gerüchte kursieren und es ist nicht nötig darauf hinzuweisen, dass sie die Gemüter keineswegs beruhigen. [. . . ] Die Nordafrikaner stehen weiterhin am Pranger. [. . . ] Viele Männer mit krausem Haar und dunklen Gesichtszügen wurden auf die Polizeiwache gebracht, aber die Räumlichkeiten waren zu klein, um sie alle dort behalten zu können39 .

Beide Regionalzeitungen berichteten über zahlreiche Hinweise aus der Bevölkerung über verdächtige »Nordafrikaner« so, als seien diese eine geradezu selbstverständlich nachvollziehbare Reaktion auf den Doppelmord. Weder der Generalverdacht gegenüber »Nordafrikanern« noch einzelne Verdächtigungen, die sich unmittelbar als falsch erwiesen, wurden in Frage gestellt oder kritisiert. So kommentierte der »Est républicain« es auch nicht weiter, als ein 16-jähriger Franzose aus Longwy einen humpelnden Algerier, der ihm aufgrund eines Flecks an seiner Jacke verdächtig erschienen war, eigenmächtig auf das Kommissariat gebracht hatte40 . Bis zum 19. November hielten die beiden Zeitungen ihre Leser über den Verlauf der Fahndung täglich auf dem Laufenden, obwohl sie über keine konkreten Fortschritte berichten konnten. Der »Républicain lorrain« meldete 37 38 39 40

Le Républicain lorrain, 14. Nov. 1949. L’Est républicain, 14. Nov. 1949. Ibid., 16. Nov. 1949. Ibid., 15. Nov. 1949.

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am Tag vor der Beerdigung der beiden Opfer lediglich, dass sich mehrere Verdächtige in Untersuchungshaft befänden und die Ermittlungen bis nach Nordafrika ausgeweitet worden seien41 . Trotz des schleppenden Verlaufs der Ermittlungen blieb das Interesse daran wach und beide Zeitungen ließen keinen Zweifel an der Vermutung aufkommen, dass der oder die Täter nordafrikanischer Herkunft waren. Von anderer Stelle rief die Verbreitung negativer Einstellungen gegenüber »Nordafrikanern«, denen die Berichte der Presse und die Polizeiermittlungen infolge des Verbrechens von Réhon weiter Vorschub leisteten, Kritik hervor. Im Namen der Vereinigung der Metallgewerkschafter Union des syndicats métallurgistes wandte sich deren Vorsitzender, Marcel Dupont, am 7. Dezember 1949 an den Präfekten von Meurthe-et-Moselle, um sich über die Misshandlungen von drei Algeriern durch die PJ von Nancy zu beschweren. Trotz eines Alibis hatte die PJ diese am 30. November in Handschellen abgeführt und zwei Tage lang festgehalten. Dem Bericht Duponts zufolge waren die drei Algerier während 24 Stunden ohne Nahrung gelassen und zwei von ihnen während ihrer Vernehmung mehrfach geschlagen worden. Die Verletzungen, die sie davongetragen hatten, hatte ein Arzt bestätigt, der einen der Betroffenen aufgrund der davongetragenen Verletzungen für mehrere Tage krankgeschrieben hatte. Dies sind Methoden, die der GESTAPO Hitlers würdig sind und keines zivilisierten Landes wie dem unseren. [. . . ] Ferner nutzen wir diese Gelegenheit, um darauf hinzuweisen, dass wir die rassistische Kampagne, die die reaktionäre Presse begonnen hat, energisch verurteilen. Sie zielt darauf, die nordafrikanischen Arbeiter in den Augen der Öffentlichkeit als Banditen, Diebe und Faulenzer erscheinen zu lassen42 .

Der Brief des Gewerkschaftsfunktionärs zeigt deutlich, dass die in der Presse angeheizte Diskreditierung von »Nordafrikanern« infolge des Mordes in Réhon keinesfalls in ganz Lothringen Konsens war. Der Vorstoß Duponts zog jedoch keinerlei Folgen für die Ermittlungen nach sich. Die RG vertraten die Einschätzung, dass die Empörung »einiger Gewerkschaftler« über angebliche Misshandlungen von Algeriern während der Ermittlungen vor allem die Motivation habe, dass diese den Einfluss der CGT auf die »nordafrikanischen Arbeitsmigranten« in der Region erhöhe43 . Der Vorwurf der Misshandlungen durch die Polizei scheint auch keine Nachforschungen vonseiten der Präfektur ausgelöst zu haben44 . Vier Algerier wurden letztendlich wegen des Mordes vor Gericht angeklagt. Allein einer von ihnen hatte ein Geständnis abgelegt, das er mit dem 41 42 43 44

Le Républicain lorrain, 16. Nov. 1949. Marcel Dupont à M. le préfet de la Meurthe-et-Moselle, 7. Dez. 1949, AdM&M W 1304 163 (Hervorh. i. O.). RG de Longwy, rapport, 7. Dez. 1949, ibid. Im Departementarchiv von Meurthe-et-Moselle ist kein Antwortschreiben der Präfektur an Dupont hinterlegt und auch kein Hinweis auf Ermittlungen bezüglich der geäußerten Vorwürfe auffindbar.

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Hinweis, es sei unter Zwang entstanden, jedoch widerrief45 . Aus Sicht des »Républicain lorrain« konnte es sich bei dieser Darstellung und auch bei den Aussagen der anderen Verdächtigen nur um Lügen handeln. Einen Tag vor dem Gerichtsurteil sah die Zeitung aus Metz sowohl die Falschaussage der angeklagten Algerier als auch deren Tatmotiv als erwiesen an: Einige Tics, Gesten der Aufregung, ein ununterbrochenes Stottern und eine fast vollständige Unkenntnis der französischen Sprache bringen die einzige Farbnote in diese Debatten, die von Lügen dominiert sind. Denn alle lügen. [. . . ] Nach alter Tradition [der Nordafrikaner] soll ein Reisender nur zurückkehren, wenn er ein Geschenk für seine Familie mitbringt. Nun, Ameur und Reggane sollten nach Algerien zurückkehren, aber leider ohne Geschenk, da sie zu wenig Geld hatten. Es ist vermutlich die Angst, ihrer Pflicht nicht nachkommen zu können, die die drei Männer dazu bewegt hat, diesen kriminellen Akt zu vollziehen46 .

Der »Est républicain« argumentierte in gleicher Weise. Auch für die Zeitung aus Nancy stand das Urteil einen Tag vor dessen Verkündung bereits fest. Sie führte aus, warum jeder Einzelne der Angeklagten für schuldig gehalten werden müsse und stellte in Aussicht, dass die Anklage die Todesstrafe fordern werde. Auch der »Est républicain« versuchte, gleich zu Beginn des Artikels seine Leser glauben zu machen, dass von den Angeklagten ohnehin nichts anderes als dreistes Abstreiten erwartet werden könne, was mit dem Hinweis begründet wurde, dass sie »Nordafrikaner« waren: »›Nie gesehen‹. ›Kenne ich nicht!‹ Es war zu erwarten. Die vier Angeklagten sind Nordafrikaner und bereits mit ihren ersten Antworten verliert man sich in dem Wust ihrer Schwüre, ihrer Leugnungen und ihrer verschachtelten Lügen«47 . Darüber hinaus gab sich der »Est républicain« überzeugt davon, dass einer der Angeklagten, Nadaf, der Mörder sei. Obgleich weder von ihm noch von den anderen ein belastbares Geständnis oder ein anderer konkreter Beweis bezüglich des genauen Hergangs der Tat vorlag, legte die Zeitung aus Nancy nahe, dass der Metzgerlehrling auch aus Grausamkeit gehandelt habe: Bei der Rollenverteilung kam Nadaf, dem Mickrigen mit dem degenerierten Gesichtsausdruck, die des Mörders zu. Es hieß, er sei Metzgerlehrling gewesen. Er hatte schon im Voraus das riesige Messer auf dem Tresen gesehen. Er bestätigt, dass er es benutzt hat, um das stöhnende Opfer zum Schweigen zu bringen. Man kann sich aber auch vorstellen, dass er aus purer Grausamkeit handelte48 .

Diese Darstellung konnte im Nachhinein umso befremdlicher wirken, als selbst der Staatsanwalt in seinem Schlussplädoyer einräumen musste, dass er den Geschworenen den Mörder nicht nennen konnte. Dies hielt ihn jedoch nicht davon ab, für drei der vier Angeklagten die Todesstrafe zu fordern. Der »Républicain lorrain« zitierte ihn mit den Worten:

45 46 47 48

Le Républicain lorrain, 26. Okt. 1951. Ibid. L’Est républicain, 26. Okt. 1951. Ibid.

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Dieses Verbrechen verdient eine furchtbare Strafe. Ich wünschte, ich hätte Ihnen den Schuldigsten vorführen können, den einzigen, der die höchste Strafe verdient. Ich kann es nicht. Ich kann Ihnen lediglich denjenigen nennen, der am wenigsten schuldig ist. Es ist Oudni, der noch am ehesten Milde verdient. Aber es gibt drei weitere. Ganz gleich, welche Rolle sie genau gespielt haben: stehlen, töten, anleiten. Es brauchte eine Arbeitsteilung. So solidarisch wie sie in ihrem Verbrechen waren, so sollen sie es auch in der Bestrafung sein. Diese drei Männer müssen mit ihrem Leben für die Existenzen bezahlen, die sie ausgelöscht haben49 .

Nach einer knappen Stunde Beratung verlasen die Geschworenen ihr Urteil. Sie folgten der Staatsanwaltschaft in allen Punkten. So wurde Ramdane Oudni, der während des Verbrechens angeblich Schmiere gestanden hatte, zu zwei Jahren Haft verurteilt. Die drei anderen Angeklagten, Ameur Messaoud, Reggane Saïd und Idir Nadaf hingegen, erhielten die Todesstrafe. Da sie Berufung einlegten, ging der Prozess knapp ein Jahr später noch in die Verlängerung. Die zweite Gerichtsverhandlung über den Mord von Réhon trug in ihrer Darlegung durch die regionale Presse ebenfalls starke Züge eines Schauprozesses. Die im »Est républicain« zitierten Passagen des Schlussplädoyers des Staatsanwalts ließen eindeutig erkennen, dass auch diesem Urteil keinerlei konkrete Beweise, sondern ausschließlich Mutmaßungen und der Tatbestand einer enormen Aufregung in der Region zu Grunde lagen: Nach all den Lügen, so der Vertreter der Staatsanwaltschaft, kam endlich die Wahrheit ans Tageslicht. Die in ihren Motiven so abstoßenden Verbrechen, die Sie heute aufgerufen sind zu richten, wurden unter furchtbaren Bedingungen begangen: Sie haben Tausende Menschen in der ganzen Region vor Schreck erstarren lassen und die Gemüter erhitzt. [. . . ] Die Polizei, so sprach [der Vertreter der Staatsanwaltschaft] weiter, hat die Wahrheit leicht herausgefunden. Bezüglich des Milieus aus dem die Mörder stammten, konnte es keinen Zweifel geben. Außerdem richtete sich der Verdacht sofort auf die Nordafrikaner, die Klienten der Toussaints waren. Es gab Hinweise. Zunächst die Wildheit und die Grausamkeit, die für diese Kriminellen typisch ist. Hinzu kam, dass die Mörder ihr Opfer um ein Paket Couscous gebeten hatten. Schließlich haben alle drei, nachdem sie ihre Tat vollendet hatten, die Flucht in Richtung der nordafrikanischen Wohnheime ergriffen50 .

Die Anklage stützte sich den Angaben der Zeitung aus Nancy zufolge ausschließlich auf das nachher widerrufene Geständnis des Angeklagten Ameur Messaoud. Dass dessen Rechtsanwalt sich darüber empörte, sein Mandant habe die für ihn fatale Aussage erst gemacht, nachdem er von den Ermittlern 18 Stunden lang im Stehen und von einer starken Lampe beleuchtet befragt worden sei, konnte die Geschworenen nicht zum Einlenken bewegen51 . Ameur Messaoud wurde in frühen Morgenstunden des 29. Juni 1953 durch die Guillotine hingerichtet. Die Todesstrafen gegen Reggane Saïd und Idir Nadaf wurden aufgrund einer präsidentiellen »Begnadigung« in lebenslängliche Zwangsarbeit umgewandelt52 . 49 50 51 52

Le Républicain lorrain, 27. Oktober 1951. L’Est républicain, 25. Juli 1952. Ibid. Le Républicain lorrain, 29. Juni 1953.

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3.4. Mediale Reflexe nach einem Kindesmord in Hayange Am 31. August 1952 ereignete sich in Lothringen ein weiterer Mord, dessen Folgen die in der Region kursierenden Ängste und Verdächtigungen gegenüber »Nordafrikanern« wieder besonders deutlich hervortreten ließ. Im Kino Dax in Hayange wurde während der Nachmittagsvorstellung, der etwa 350 Personen beiwohnten, ein neunjähriges Mädchen auf der Herrentoilette tot aufgefunden. Ihre Leiche wies eine tiefe Bissspur an der linken Brust auf. Nach dem Bericht des zuständigen Arztes war das Mädchen zuerst erwürgt und dann vergewaltigt worden. Ohne dass es konkrete Hinweise auf den Täter gegeben hatte, gingen sowohl die Polizei als auch die beiden größten regionalen Zeitungen, der »Républicain lorrain« und der »Est républicain«, unmittelbar nach der Tat davon aus, dass dieses Verbrechen einem »Nordafrikaner« zuzuschreiben sei. Polizei und Gendarmerie in Moselle führten sofort nach der Tat breite Ermittlungen in mehreren Wohnheimen durch, in denen vor allem Algerier lebten53 . Am Tag nach dem Mord warnte der »Est républicain« davor, verfrühte Urteile zu treffen, legte mit einem Verweis auf die polizeilichen Ermittlungen jedoch nahe: »Es hat den Anschein, als wäre der Schuldige ein Nordafrikaner«54 . Diese Vorverurteilung schrieb der »Républicain lorrain« gar in seiner ersten Schlagzeile fest, die sich mit dem Mord befasste: »Ein schreckliches Verbrechen am hellichten Tag in Hayange. Ein neunjähriges Mädchen aus Nilvange, vergewaltigt und erwürgt in der Toilette eines Kinos. Der Verdacht richtet sich auf einen flüchtigen Nordafrikaner«55 . Mit ihrem Verdacht bezüglich der Herkunft des Täters standen Polizei und Presse nicht allein. Den Erinnerungen eines an den Ermittlungen beteiligten Inspektors zufolge war die Vermutung, dass es sich bei dem Täter um einen »Nordafrikaner« handele, in der Bevölkerung weit verbreitet. Demnach gingen in dem leitenden Kommissariat fast ununterbrochen Anrufe mit entsprechenden und zumeist abstrusen Verdächtigungen ein56 . Am 2. September 1952 verhaftete die mit den Ermittlungen beauftragte PJ von Metz um 1 Uhr morgens den Marokkaner Ahmed Ben Mohammed57 . Dieser war zuvor mehreren Personen in einer örtlichen Kneipe durch Selbstgespräche aufgefallen, in denen er einigen der Anwesenden eine Erwürgung zu imitieren schien und angeblich die Worte »Kleines Mädchen – Schade – 53 54 55 56 57

Emmanuelle de Rosa, Arnaud Vauthier, Les grandes affaires criminelles de Moselle, Riom 2011, S. 279f. L’Est républicain, 1. Sep. 1952. Le Républicain lorrain, 1. Sep. 1952. Raymond Guétienne, La police judiciaire de Metz. L’équipe Lacombe de mai 1947 à décembre 1959, o. O. 1982, S. 85f. Rosa, Vauthier, Les grandes affaires criminelles, S. 280.

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Wahnsinn –« wiederholt hatte. Ein Gast verständigte die Polizei. Ben Mohammed verließ kurz darauf die Kneipe, woraufhin mehrere Gäste seine Verfolgung aufnahmen, der sich Ben Mohammed nur dadurch entziehen konnte, dass er in einen losfahrenden Bus einstieg. Die Polizei verhaftete ihn wenige Stunden später an seinem Wohnort, dem Barackenlager von Daspich, wo er zuvor von der Kneipe aus angerufen hatte58 . Die regionale Presse berichtete ausgiebig über die Verhaftung Ben Mohammeds. Der »Est républicain« schrieb, der »Verdächtige Nr. 1« würde jede seiner Antworten auf die Fragen der Beamten lange durchdenken, um sich nicht in Widersprüche zu verstricken. Allerdings gebe es bereits mehrere Indizien, die den Schluss nahelegten, dass es sich um einen Lügner handeln müsse. Dem Artikel waren der Name und ein Foto des Verdächtigen sowie der Aufruf an die Besucher des Kinos beigefügt, sich zur Polizeiwache zu begeben, für den Fall, dass sie den Verdächtigen wiedererkennen könnten59 . Im »Républicain lorrain« fand der Stand der Ermittlungen am zweiten Tag nach der Tat gar Eingang auf die Titelseite, die in der Regel nur Themen der nationalen und internationalen Politik aufführte. Dort hieß es: »Der mutmaßliche Mörder (ein Nordafrikaner) des erwürgten Mädchens in Hayange ist in den Händen der Ermittler«. Deutlich entschiedener als die Konkurrenzzeitung aus Nancy stellte der »Républicain lorrain« die angeblich falschen Angaben des Marokkaners heraus, die den Verdacht gegen Ben Mohammed erhärteten. So habe dieser während des vergangenen Tages und der ganzen Nacht den Polizisten »Fantasiegeschichten« erzählt, die in scharfem Gegensatz zu mehreren Zeugenaussagen stünden60 . Auch die bildliche Darstellung des Hauptverdächtigen und des Opfers in den beiden Zeitungen sprach eine eindeutige Sprache. So stellten die Abbildungen die blondgelockte Annie Montaigue im einen Fall ganz in Weiß gekleidet und im anderen Fall in einem weiß besticktem Kleid mit weißen Kniestrümpfen und weißen Schuhen dar. Auf beiden Fotos lächelte das Opfer den Lesern der jeweiligen Zeitung offen und fröhlich entgegen. Montaigues direkter Blick in die Kamera suggerierte Offenheit und Vertrauen. Die sehr viel größeren Abbildungen Ben Mohameds zeigten diesen verschwitzt und erschöpft, mit geöffnetem Mund und ausweichendem Blick. Seine hohe Stirn, das krause schwarze Haar, sein dunkler Teint und die eingefallenen Wangen legten ein Alter über 40 Jahre nahe. Der »Est républicain« bildete Ben Mohammed frontal mit geöffnetem Hemd ab. Der »Républicain lorrain« zeigte ihn von der Seite im Jackett mit leicht nach vorne abstehendem Kragen, den eine Krawatte eng zusammenband. In beiden Zeitungen standen die Abbildungen des Opfers und des vermeintlichen Täters in einem schroffen Gegensatz zueinander, sowohl was Alter, Herkunft, Haut- und Haarfarbe, 58 59 60

Guétienne, La police judiciaire, S. 87. L’Est républicain, 2. Sep. 1952. Le Républicain lorrain, 2. Sep. 1952.

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Gesichtsausdruck, Farbe und Zustand der Kleidung anging. Aus heutiger Sicht scheint der Kontrast so evident wie der spontane Reflex der Empörung über das an Annie Montaigue begangene Verbrechen. Der in ganz Lothringen schlagartig berüchtigte Ben Mohammed verstrickte sich während seines Verhörs durch die Polizei zwar in Widersprüche, die Tat gestand er jedoch nicht. Indessen setzten etwa 200 Beamte der Polizei, Gendarmerie und CRS ihre Durchsuchungen von Wohnheimen, in denen vor allem algerische Arbeiter im Umkreis des Tatorts wohnten, fort und brachten rund 20 weitere »Nordafrikaner« zum Verhör in das Kommissariat von Hayange. Sie passierten dabei eine Gruppe von Menschen, die sich seit dem 1. September vor dem Kommissariat eingefunden hatte61 und an diesem wie auch am folgenden Tag wiederholt mit »à mort«-Rufen, die Hinrichtung Ben Mohammeds forderte62 . Ihnen wie auch den beiden Regionalzeitungen schien dessen Schuld zumindest am 3. September eindeutig. Dem »Est républicain« zufolge lagen zwar auch entlastende Zeugenaussagen gegen Ben Mohammed vor. Ein ärztlicher Bericht hatte den Angaben nach jedoch ergeben, dass das Gebiss des Verdächtigen exakt mit der BissSpur übereinstimme, die der Täter auf der Brust des Opfers hinterlassen hatte. So schien es der Zeitung, alles weise darauf hin, dass »Hameb«63 der Schuldige sei64 . Dieser Einschätzung folgte auch der »Républicain lorrain«. Trotz des Hinweises, dass die Ermittler bereits Zweifel an der Schuld Ben Mohammeds angemeldet hatten, führte die Metzer Zeitung ähnlich wie der »Est républicain« die Bissspur als entscheidendes Indiz für die Bestätigung des Verdachts an. Hinzu komme, dass Ben Mohammed bereits kurz vor dem 14. Juli versucht habe, eine Gruppe von zwei Frauen und mehreren Kindern in einem Wald zu überfallen und nun von diesen wiedererkannt worden sei65 . Da all diese Hinweise den Tatverdacht aus Sicht der Metzer Zeitung erhärteten, zeigte sich das Blatt am folgenden Tag geradezu empört darüber, dass Ben Mohammed freigelassen worden war. Im Hinblick auf angeblich weiterhin berechtigte Zweifel an der Unschuld des Marokkaners schien dem »Républicain lorrain« dessen Sicherheit in Gefahr zu sein, sodass die Möglichkeit eines Katz-und-MausSpiels der Polizei angeführt wurde66 . 61 62 63

64 65 66

L’Est républicain, 2. Sep. 1952. Guétienne, La police judiciaire, S. 88. Dass der »Est républicain« hier den falschen Vornamen Ben Mohammeds angab, ist nur einer unter mehreren Hinweisen auf die nachlässigen Recherchen dieser Zeitung. Bezüglich der Herkunft Ben Mohammeds stellte der Artikel zunächst fest, dass es sich um einen Marokkaner handele, bezeichnete ihn wenige Zeilen darunter jedoch als Algerier, um schließlich wieder zu der Darstellung zurückzukehren, er sei marokkanischer Herkunft. L’Est républicain, 3. Sep. 1952. Le Républicain lorrain, 3. Sep. 1952. Ibid., 4. Sep. 1952.

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Zu diesem Zeitpunkt hatte der »Est républicain« den Verdacht gegenüber Ben Mohammed bereits weitgehend fallengelassen. Stattdessen gab die Zeitung durchaus selbstkritisch zu bedenken, es könne kaum überraschen, dass ein »Nordafrikaner« nach der Tat verdächtigt und verhaftet worden sei. Schließlich habe »jeder« infolge der Nachricht über den Mord in Hayange sofort einen entsprechenden Verdacht gehegt. Im Unterschied zur Metzer Zeitung galt hier die Unschuld des Marokkaners nur als »beinahe vollkommen sicher«, woraus die Frage abgeleitet wurde, ob es sich bei dem Täter tatsächlich unbedingt um einen »Nordafrikaner« handeln müsse67 . Kurz nachdem die Polizei Ben Mohammed aus Mangel an Beweisen freigelassen hatte, wurde ein neuer Hauptverdächtiger festgenommen. Anders als im Falle Ben Mohammeds erfuhren jedoch weder die Leser der einen noch der anderen regionalen Tageszeitung etwas über dessen Herkunft oder Namen, geschweige denn, dass sie ein Bild von ihm zu sehen bekamen. Die Ermittlungen zu dem Fall wurden nach wie vor in der gesamten Region intensiv verfolgt. In Hayange schlossen sich mehrere Organisationen zusammen und setzen eine Belohnung von 500 000 Franc für Hinweise aus, die zur Ergreifung des Täters führen könnten. Ihr Gesuch wurde über Radio, Zeitung und auf Plakaten in französischer, deutscher, italienischer und polnischer Sprache verbreitet. Der »Républicain lorrain« bemängelte diesbezüglich mit einem Hinweis auf die bis dahin als ungenügend bezeichnete Unterstützung der Ermittler durch »Nordafrikaner«, dass der Aufruf nicht auch auf Arabisch gedruckt worden war. Die Haltung der »Nordafrikaner« schien dem Blatt zumindest »zweideutig« zu sein, da unter den 120 Personen, die an der Kinoveranstaltung teilgenommen und sich anschließend bei der Polizei gemeldet hätten, kein einziger »Nordafrikaner« gewesen sei68 . Selbst nachdem die Unschuld Ben Mohammeds auch der Zeitung aus Metz als erwiesen galt, stellte der »Républicain lorrain« die Rolle, die die »Nordafrikaner« in der Region in Bezug auf das Verbrechen und die Ermittlungen gespielt hatten, als problematisch dar. Dabei blieb es auch, als die Zeitung am 6. September berichtete, dass der Platzanweiser des Kinos, Pascal Nigro, ein Kind italienischer Einwanderer und französischer Staatsbürger, den Mord an Annie Montaigue gestanden hatte. Ohne einen Hehl daraus zu machen, dass dieses Ergebnis der Ermittlungen durchaus überraschend sei, schloss der entsprechende Artikel mit einem ausführlichen Verweis auf die schwierigen Lebensumstände der Arbeitsmigranten in der Region. Diesbezüglich erschien dem »Républicain lorrain« die Gefahr, dass sich ein derartiges Verbrechen wiederholen könne, als durchaus gegeben:

67 68

L’Est républicain, 4. Sep. 1952. Le Républicain lorrain, 5. Sep. 1952.

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Es handelte sich weder um einen Nordafrikaner noch um einen Ausländer, sondern schlicht, erstaunlicherweise könnte man sagen, um den Platzanweiser des Kinos Dux, Pascal Nigro, einen jungen Mann von 27 Jahren, das einzige Kind einer hervorragenden Familie aus Hayange. [. . . ] Die Justiz hat nun ihre Arbeit aufgenommen und die kleine Annie Montaigue wird gerächt werden. Aber das soziale Problem in dieser Industrieregion, in der die Bevölkerung jeden Tag anwächst, bleibt bestehen. Es ist ein doppeltes Problem. Zunächst gibt es die Wohnbedingungen der nordafrikanischen Arbeiter, von denen allein in der Region Hayange 3000 leben und im gesamten Departement 20 000. Darüberhinaus gibt es die vielen Ausländer, die alleine, ohne Familie und ohne die für sie unverzichtbare moralische Unterstützung leben. Es ist die Aufgabe der Behörden, der Verantwortlichen für die öffentliche Ordnung und die Wahrung der Interessen der Familien, sich mit dieser Situation genauer zu befassen und die notwendigen Lösungen zu finden69 .

Dieses Fazit des »Républicain lorrain« kontrastierte in mehrfacher Hinsicht mit dem Artikel, den der »Est républicain« der Auflösung des Falls widmete. Neben der Offenbarung einer großen Überraschung angesichts der Person, der Herkunft und dem Erscheinungsbild des Täters unterzog die Zeitung aus Nancy auch die eigene, ursprüngliche Erwartungshaltung einer kritischen Reflexion. Anstatt in den Artikel über Nigros Verhaftung einem Ausblick auf die Bedrohlichkeit der Arbeitsmigranten in der Region einfließen zu lassen, wie der »Républicain lorrain« es tat, thematisierte der »Est républicain« die grundlegende Verunsicherung, die diese Tat für eine »angeblich zivilisierte Gesellschaft« mit sich bringen müsse: Ist dies der grausame Mörder, Schänder und Kindermörder? Wir erwarteten einen Oger [Ungeheuer] ohne menschliches Antlitz, einen von den Narben der Sünde gezeichneten Dämon. Man führt uns einen kleinen, jungen und arbeitsamen Mann vor, der angesehen und noch nie auffällig geworden war. [. . . ] Aber die Bestrafung des Verbrechens ist eine Sache, die Vorsorge eine andere, die durchaus außer Acht gelassen wird. Dies wird die große Lehre dieses ungeheuerlichen Mordes sein, der alle Schichten unserer angeblich zivilisierten Gesellschaft erschüttert70.

Die Berichterstattungen der beiden wichtigsten Regionalzeitungen Lothringens über den Mord an Annie Montaigue illustrieren deutlich die weit verbreiteten Vorurteile und Ängste in der Region gegenüber »Nordafrikanern«. Aufgewühlt durch das Entsetzen über das Verbrechen in Hayange legten beide Blätter eine Berichterstattung an den Tag, die als eine auf haltlosen Verdächtigungen beruhenden Hetzkampagne gegen »Nordafrikaner« und insbesondere den Marokkaner Ben Mohammed bezeichnet werden muss. Vor allem der »Républicain lorrain« heizte die Verdächtigungen mit diffusen Vermutungen und unzulänglichen Hinweisen an71 .

69 70 71

Ibid., 6. Sep. 1952. L’Est républicain, 6. Sep. 1952. Dazu gehört die angebliche Information, man habe verdächtige Flecken auf der Hose und der Unterhose des Marokkaners gefunden: Le Républicain lorrain, 3. Sep. 1952.

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Auch wenn die Zeitung aus Nancy weniger hetzerisch schrieb als ihr Metzer Pendant, stellten beide Blätter die Schuld Ben Mohammeds über mehrere Tage als nahezu erwiesen dar. Sie veröffentlichten dessen Identität inklusive Porträtfotos und gaben einen ärztlichen Bericht bezüglich der am Körper des Opfers gefundenen Bissspur falsch wieder. Auf diese Weise wurden bereits bestehende Ressentiments gegenüber »Nordafrikanern«, die auch das Mordopfer angeblich gehabt hatte72 , massiv verbreitet und verstärkt. Besonders zynisch erscheint daran, dass der Täter des Verbrechens von Hayange versuchte, diese Stimmung für sich zu nutzen, indem er bei seiner ersten Befragung durch die Polizei den Verdacht auf einen »Nordafrikaner« lenkte und bei einer Gegenüberstellung mit Ben Mohammed bestätigte, diesen kurz vor der Tat im Kino gesehen zu haben73 . Widerspruch gegen die Hetzkampagne kam wie schon im Fall des Doppelmords von Réhon erneut vor allem vonseiten der französischen Kommunisten. Louis Odru, Mitglied der kommunistischen Partei und Berater der Assemblée de l’Union française, führte am 24. September mehrere Gespräche mit algerischen Arbeitern in Ébange. Von der Gendarmerie nach dem Grund seiner Anwesenheit gefragt, gab er an, dass er wegen der Stimmung unter den »Nordafrikanern« hier sei, die sich nach dem Mord von Hayange sehr verschlechtert habe. Er wollte demnach eigene Ermittlungen dazu anstellen, vor allem, da das Verhör des Verdächtigen »Ahmed« wahrscheinlich nicht mit rechten Dingen zugegangen sei.74 Den Verdacht, die Polizei habe im Zuge ihres Verhörs illegale Methoden angewendet, äußerte auch die Zeitung »L’Humanité d’Alsace-Lorraine«. Am 2. Oktober gab sie den Protest der CGT gegen die Presseberichterstattung in dem Fall wieder, die die Vermutung einer gezielten Anstachelung seitens der Arbeitgeber der Eisen- und Stahlindustrie nahelegte: Sie [die Gewerkschaft] erhebt sich mit Empörung gegen die Hasskampagne der amerikanisierten Presse, die anlässlich des furchtbaren Verbrechens von Hayange geführt wurde, das man verfrüht einem unschuldigen Nordafrikaner anhängte. Dieser Arbeiter musste nach einem mit Gestapo-Methoden durchgeführten Verhör in ein Krankenhaus eingeliefert werden. Diese sozialen Tendenzen werden von Männern der Stahlindustrie provoziert und erhalten, um die lothringischen Arbeiter gegen ihre verelendeten Kameraden aufzubringen75 .

Der Fall des Kindsmords von Hayange zeigt auch, dass die in der Öffentlichkeit kursierenden negativen Vorurteile gegenüber »Nordafrikanern« ohne 72

73 74 75

Dem »Républicain lorrain« zufolge hatte der während der Kinovorstellung anwesende Bruder des Opfers ausgesagt, seine Schwester habe ihn darum gebeten, sie zur Toilette zu begleiten. Sie habe Angst vor Nordafrikanern gehabt. Der Bruder habe jedoch den Film weitersehen wollen und sie daher allein fortgeschickt: ibid., 6. Sep. 1952. Guétienne, La police judiciaire, S. 93; L’Est républicain, 6. Sep. 1952. Rapport de l’adjudant Lambert, Commandant de la brigade de gendarmerie de Florange, 25. Sep. 1952, AdM 370 W 51. L’Humanité d’Alsace-Lorraine, 2. Okt. 1952, zit. n. Information, 6. Okt. 1952, ibid.

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deren Zutun verbreitet und verstärkt wurden. Angesichts der Vehemenz, mit der unmittelbar nach dem Verbrechen Verdächtigungen gegenüber »Nordafrikanern« propagiert wurden, ist es nicht verwunderlich, dass sich die meisten von ihnen im Lauf der Ermittlungen in Schweigen hüllten. Das Risiko, aufgrund einer Aussage selbst ins Fadenkreuz der Ermittlungen zu gelangen, musste ihnen unter den gegebenen Umständen als zu hoch erscheinen. So wird verständlich, dass sich trotz mehrfacher Aufrufe kein »Nordafrikaner« bei der Polizei meldete, um eine Aussage zu machen.76 Erst infolge der Verhaftung Pascal Nigros meldete sich ein Algerier öffentlich zu Wort, um seiner Hoffnung Ausdruck zu verleihen, dass sich die Situation nun normalisieren möge77 . Von dieser Randnotiz abgesehen, spielte sich der Verlauf der Presseberichterstattung und der Polizeiermittlungen zu dem Fall ohne eine aktive Beteiligung von Algeriern ab. Zwischen 1945 und 1954 lässt sich in Lothringen eine große Verbreitung von »kolonialistischem Denken« nachweisen. Infolge einzelner brutaler Verbrechen wurden Ängste vor vermeintlich gewalttätigen »Nordafrikanern« unter Anrufung klassischer kolonialistischer Stereotype vor allem seitens der Presse, aber auch durch die Polizei und Justiz massiv verbreitet. Dies war keineswegs ein Novum, sondern stand in der Kontinuität zu einer Entwicklung, die in der Region bereits zu Beginn der 1930er Jahre ihren Ausgang genommen hatte. Die Presseberichterstattung über die beiden Mordfälle hat außerdem gezeigt, dass »Nordafrikaner« an der Konstruktion und Zirkulation der über sie kursierenden Deutungen kaum bis gar nicht beteiligt waren. Auch unter diesem Gesichtspunkt scheint es sinnvoll, algerische Migranten als Subalterne zu begreifen78 . Mächtige Akteure wie Medien, Polizei und auch die kommunistische Partei sprachen oder schrieben sehr viel über »Nordafrikaner«, ohne diese in der Regel selbst zu Wort kommen zu lassen79 . Die verallgemeinernde Rede über zivilisatorisch rückständig und gewaltaffin eingeschätzte »Nordafrikaner« ist auch vor dem Hintergrund der Vorbehalte gegenüber anderen Migrantengruppen in Lothringen sowie einer generellen moralischen Abwertung sogenannter Unterschichten in Frank-

76 77

78 79

Guétienne, La police judiciaire, 1982, S. 92. Es handelte sich um eine moderate Stellungnahme, die eine Anteilnahme gegenüber der Familie Montaigue und die Hoffnung auf eine Verbesserung der allgemeinen Stimmung gegenüber »Nordafrikanern« zum Ausdruck brachte: Le Républicain lorrain, 6. Sep. 1952. Der Verfasser, ein gewisser H. Feghoul, konnte nicht ausfindig gemacht werden. Siehe dazu Merle, Les »subaltern studies«. Vgl. die Überlegungen von Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern Speak?, in: Cary Nelson, Lawrence Grossberg (Hg.), Marxism and the Interpretation of Culture, Basingstoke 1988, S. 271–313.

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reich zu betrachten80 . Darüber hinaus standen jedoch sowohl die Art und Weise als auch das Ausmaß der Verbreitung der Stigmatisierung algerischer Migranten in Lothringen zwischen 1945 und 1954 in einem direkten Zusammenhang mit der kolonialen Situation in Algerien. Die dortigen Machtverhältnisse waren für die Migranten im lothringischen Grenzgebiet von unmittelbarer Relevanz.

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Insbesondere die Anhänger des sog. Hygienismus verbreiteten während des 19. Jahrhunderts in Frankreich neben der Vorstellung einer Hierarchie unterschiedlicher Menschenrassen auch die Idee, dass Arme und Bettlern ein eigenes Wesen hätten: Pierre Guillaume, L’hygiène et le corps, in: Jean-François Sirinelli (Hg.), Histoire des droites en France. Bd. 3: Sensibilités, Paris 1992, S. 509–564, hier S. 533f.

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II. Drei Kriegsparteien, ein Ziel Algerische Migranten zwischen Polizei, FLN und MNA, 1955–1957

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1. Vom Aufbau eines Polizeistaats Wie schon in der Zwischenkriegszeit blieben verschiedene Formen der Diskriminierung und Schikane von Algeriern durch Polizisten auch nach 1945 an der Tagesordnung1 . Der neue rechtliche Status der »muslimischen Franzosen Algeriens«, die nach dem Zweiten Weltkrieg in der Metropole residierten, kümmerte die französische Polizei und Administration in ihrer Praxis recht wenig2 . Darüber hinaus zeigte sich die »citoyenneté paradoxale« der Algerier etwa am erschwerten Zugang zu Stellen im öffentlichen Dienst und speziellen sozialstaatlichen Leistungen sowie administrativen Sonderbehandlungen bei der Identifikation3 . In dem folgenden Kapitel wird untersucht, inwiefern sich die Haltung der Polizeidienste und der Gendarmerie gegenüber algerischen Migranten während der ersten Phase des algerischen Unabhängigkeitskriegs in Lothringen veränderte. Der Beginn des Unabhängigkeitskriegs und die ersten Aktivitäten des FLN hatten die Errichtung eines neuartigen Regimes gegenüber Algeriern zur Folge, das im Hinblick auf den offiziell geltenden Rechtsstatus der Algerier in der Metropole als Polizeistaat bezeichnet werden muss4 .

1 2

3 4

Blanchard, La police parisienne et les Algériens; MacMaster, Colonial Migrants and Racism. Der Polizeipräfekt im Innenministerium, Roger Léonard, hatte im November 1948 in Bezug auf die neue Regelung sogar explizit von einem »Mythos der gleichen Rechte« gesprochen: Emmanuel Blanchard, Contrôler, enfermer, éloigner. La répression policière et administrative des Algériens de métropole (1946–1962), in: Branche, Thénault (Hg.), La France en guerre, S. 318–331, hier S. 319. Spire, Semblables et pourtant différents; Lyons, The Civilizing Mission in the Metropole. In der Politikwissenschaft wird der Begriff »Polizeistaat« in der Regel als negatives Pendant zu dem des »Rechtsstaats« verwendet, vgl. Everhard Holtmann, Art. »Polizeistaat«, in: Ders. (Hg.), Politik-Lexikon, München 2000, S. 551. In Abgrenzung zum frühneuzeitlichen Verwaltungs- bzw. »Polizeystaat« versteht Manfred G. Schmidt unter Polizeistaat im modernen Sinne eine »kritisch-abschätzig gemeinte Bezeichnung für eine Staatsform, in der die Exekutive, vor allem die polizeilichen und geheimdienstlichen Vollzugsorgane, eine sehr starke Stellung innehaben und in der meist ein hohes Maß an staatlicher Repression die Lebensführung der Bürger einschränkt«, Manfred G. Schmidt, Wörterbuch zur Politik, Stuttgart 2010, S. 632. In der Geschichtswissenschaft hat bislang noch keine systematische Auseinandersetzung mit dem Begriff »Polizeistaat« im modernen Sinn stattgefunden. Zahlreiche Anknüpfungspunkte liefern jedoch Studien, die sich oftmals im Anschluss an Giorgio Agamben (Giorgio Agamben, Ausnahmezustand, Frankfurt a. M. 2004) mit dem Ausnahmezustand befassten: Lüdtke, Wildt (Hg.), Staats-Gewalt.

https://doi.org/10.1515/9783110644012-005

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II. Algerische Migranten zwischen Polizei, FLN und MNA

1.1. Institutionalisierung eines Generalverdachts In der Nacht auf den 1. November 1954 löste eine Serie von Anschlägen des FLN den algerischen Unabhängigkeitskrieg aus. Dieses Ereignis führte nicht allein in Algerien auf Seiten der Behörden und der französischen Bevölkerung zu einer regelrechten Panikstimmung. In unmittelbarer Folge wurden auch die in der Metropole lebenden Algerier als manifeste Bedrohung wahrgenommen. Noch am 1. November um 14.30 Uhr schickte der Innenminister ein Telegramm an die IGAME der verschiedenen Militärregionen, in dem er diese über die Anschläge in Algerien informierte. Er gab zudem Anweisung, die »nordafrikanische Bevölkerung« aufmerksam überwachen zu lassen und insbesondere auf Abreisen nach Algerien zu achten5 . Diese Vorgaben wurden auch in Lothringen befolgt. Fünf Tage nach dem Verbot des MTLD am 5. November wurden sämtliche Polizeidienste und die Gendarmerie in Moselle angewiesen, jegliche Aktivität der Mitglieder des verbotenen MTLD sowie unbegründete Abreisen von Algeriern in Richtung Nordafrika sofort an die Präfektur zu melden6 . Während der ersten Monate nach den Anschlägen in Algerien zeigte sich die französische Regierung davon überzeugt, dass diese dem MTLD zuzurechnen seien. Polizei- und Geheimdienste waren nach jahrelanger Beobachtung wohlinformiert über dessen Propaganda, Mitgliederzahlen und die hohe Zahl an Sympathisanten in Algerien wie auch in der Metropole. Sowohl die Beamten der Präfekturen, Subpräfekturen wie auch die verschiedenen Sicherheitsdienste hatten die Aktivitäten der Messalisten stets mit Argwohn betrachtet und wiederholt die Gefahr beschworen, der MTLD könne die als unpolitisch geltenden algerischen Migranten zur Rebellion aufwiegeln. Nur so ist die binnen kürzester Zeit erfolgte Obsession der Überwachung zu verstehen, welche die Sicherheitsbehörden bereits im ersten Jahr des Kolonialkriegs in den lothringischen Grenzdepartements gegenüber Algeriern entwickelten. Am 18. November 1954 wurden in Moselle Polizei und Gendarmerie angewiesen, alle zwei Tage einen standardisierten Bericht über das Verhalten der in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsgebiet lebenden »Nordafrikaner« zu erstellen. Neben generellen Beobachtungen über das »nordafrikanische Milieu« sollten in fünf Fällen auch individuelle Daten erfasst werden. Diese waren: Verlassen beziehungsweise Wechsel des Arbeitsplatzes, Abreise in Richtung Lyon, Marseille oder Nordafrika, Mitgliedschaft im MTLD, Betreiben nationalisti5 6

Le ministre de l’intérieur à MM. les IGAME des régions militaires pour préfets, 1. Nov. 1954, AdM 370 W 1. Le préfet de la Moselle, inspecteur général de l’administration à monsieur le commandant de gendarmerie de la Moselle, le directeur départemental des services de police, les commissaires aux RG de Metz, Thionville, Sarreguemines, Forbach, les sous-préfets de la Moselle, 10. Nov. 1954, AdM 252 W 16.

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scher Propaganda sowie Diebstahl von Sprengstoff. »Nordafrikaner«, auf die einer dieser Sachverhalte zutraf, sollten nach Möglichkeit mit Name, Vorname, Geburtsdatum, Geburtsort, Adresse, Beruf, dem angegebenen Grund für den Ortswechsel, dem wahrscheinlichen Zielort sowie einer Beurteilung des Betroffenen und weiteren Beobachtungen erfasst werden7 . Infolge dieser Anweisung legte die Gendarmerie erstmals lange Namenslisten von Algeriern an, die im Hinblick auf einen oder mehrere der genannten Punkte als verdächtig galten. In Moselle führten die Listen allein im November 1954 insgesamt 227 Algerier auf, die aufgrund des Verlassens ihres Arbeitsplatzes als auffällig gegolten hatten. Nur ein weiterer Algerier stand auf der Liste, weil er in einen Zug in Richtung Süden eingestiegen war8 . Somit kann bereits in den ersten Wochen nach dem 1. November ein Generalverdacht konstatiert werden, den die Sicherheitsdienste gegenüber »Nordafrikanern« hegten. Die für die Arbeitsmigranten ohnehin kennzeichnenden Arbeitsplatzwechsel und Abreisen hatten zur Folge, dass sie in die Datenbank der lothringischen Behörden aufgenommen wurden. Zu Beginn des Jahres 1955 war der Generalverdacht gegenüber »Nordafrikanern« in der Praxis der Behörden der 6. Militärregion bereits omnipräsent. Sämtliche Telegramme, die von »Nordafrikanern« stammten oder an »Nordafrikaner« adressiert waren, leitete die staatliche Post-, Telegrafen- und Telefongesellschaft an die RG weiter. Am Bahnhof von Metz wurden alle Abreisen nach Nordafrika zwei Monate lang exakt gezählt. Waffenhändler erhielten die Anweisung, Waffenkäufe durch »Nordafrikaner« umgehend zu melden. Besitzer von Sprengstoffvorräten sollten die Überwachung ihrer Lager verdoppeln. Schließlich wurden auch die größten Unternehmen der Region angewiesen, persönliche Daten von und Beobachtungen über die bei ihnen arbeitenden »Nordafrikaner« direkt an die Polizeidienste weiterzugeben9 . Für algerische Migranten war die wichtigste unmittelbare Konsequenz der Serie von Anschlägen in Algerien, dass die bereits bestehenden Maßnahmen 7 8

9

Note de service du chef d’escadron Gauroy, commandant la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 18. Nov. 1954. SHAT 2007 ZM 1/135 730. Die erste dieser Listen, die von der Gendarmerie Moselle angefertigt wurde, führte 138 Algerier auf, die zwischen 4. und 20. November 1954 ihren Arbeitsplatz verlassen hatten. In der Kategorie »Nordafrikaner, die einen Zug in Richtung Nordafrika genommen haben« (Richtung Lyon oder Marseille), wurde hingegen lediglich ein Algerier aufgeführt: Commandement régional de la gendarmerie de la 6e région militaire, 6e légion, compagnie de la Moselle, état nominatif des Nord-Africains ayant quitté leur travail pendant la période du 4 au 20 novembre 1954, ibid. In der Folge wurden die Namenslisten alle zwei Tage erstellt. Zwischen 20. und 22. November wurden 29 Algerier namentlich erfasst, die ihren Arbeitsplatz in Moselle verlassen hatten. Von 23.–24. November waren es 19, von 25.–26. November führte die Liste 17 Namen auf und zwischen 27. und 28. November vier. Am 29. und 30. November schließlich hatten den Angaben nach 20 Algerier ihren Arbeitsplatz verlassen. Le préfet de la Moselle, Inspecteur général de l’administration en mission extraordinaire pour la VIe région: Compte rendu de la réunion des préfets à Strasbourg, 6. Jan. 1955, AdM 252 W 16.

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zu ihrer Überwachung in ganz Frankreich massiv ausgeweitet wurden. Einen Anlass dazu hatte es weder in den lothringischen Departements noch an anderen Orten der Metropole gegeben. Vielmehr zeigte eine erste Auswertung jener aufwändigen Überwachung innerhalb der 6. Militärregion, dass es seitens der dort lebenden Algerier keine nennenswerten Reaktionen auf die Anschläge in Algerien gegeben hatte. Die Zahl von 2835 »Nordafrikanern«, deren Abreise zwischen dem 1. November und dem 27. Dezember nach Süden am Bahnhof von Metz registriert worden war, stand im Einklang mit den Entwicklungen der Vorjahre und wurde mit der üblichen saisonbedingten Rückkehr zahlreicher Migranten erklärt10 . Unter den im gleichen Zeitraum in Moselle erfassten 1705 »nordafrikanischen Arbeitern«, die ihren Arbeitsplatz verlassen hatten, vermerkten die Sicherheitsdienste allein 82 als Mitglieder des MTLD oder als anderweitig organisierte nationalistische Aktivisten11 . Somit gaben 95 Prozent der mit sämtlichen persönlichen Daten erfassten Algerier den Behörden des Departements keinen konkreten Anlass für weitere Ermittlungen. Sowohl die registrierten Arbeitsplatzwechsel als auch ihre Abreisen nach Nordafrika reihten sich in ein bekanntes Muster der Vorjahre ein, das zumindest während der ersten Monate nach den Anschlägen unverändert blieb. Infolge dieser Beobachtungen wurde die intensive Überwachung der Algerier in Lothringen zunächst wieder reduziert. Ab dem 1. Februar 1955 wies der IGAME der 6. Militärregion Polizei und Gendarmerie dazu an, ihre Beobachtungen nur noch auf Algerier zu konzentrieren, die explizit durch nationalistische Aktivitäten oder den Umgang mit Waffen aufgefallen waren. Zukünftig sollte nur noch einmal pro Woche ein zusammenfassender Bericht erstellt werden, der die Daten über jene »Nordafrikaner« aufführte, die einen Zug in Richtung Süden genommen hatten, als Aktivisten des MTLD bekannt waren und das Departement verlassen hatten sowie diejenigen, die nationalistische Propaganda betrieben12 . Jene, die nur ihren Arbeitsplatz verlassen hatten, wurden zunächst nicht mehr erfasst. Mit den neuen Anordnungen fokussierten die lothringischen Sicherheitsdienste ihre Überwachung wieder stärker auf algerische Nationalisten statt auf das algerische Milieu insgesamt. Ungeachtet dessen und trotz der baldigen Erkenntnis, dass die Anschläge in Algerien nicht von Anhängern Messali Hadjs, sondern vom FLN begangen worden waren, war die Angst vor bewaffneten Aktionen algerischer Aufständischer in Lothringen weiterhin präsent. Ende Februar 1955 überprüfte die Gendarmerie erstmals alle Waffenhändler und -fabrikanten in Moselle hinsichtlich der Vorgaben der interministeriellen Instruktion vom 8. November 1954. Nach dieser Regelung 10 11 12

Ibid. Ibid. Modificatif à: Note de service du 18 novembre du chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 1. Feb. 1955, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 730.

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mussten Waffenhändler ein für die Verwendung ihrer Waffen entscheidendes Bauteil separat lagern13 . Am 21. Mai 1955 wies das Innenministerium sämtliche Polizeidienste darauf hin, es existierten Hinweise, dass der FLN die Anordnung gegeben habe, die in Algerien durchgeführten Sabotageakte auch in der Metropole durchzuführen, darunter die Sprengung von Brücken und die Zerstörung von Telefonlinien. Aufgrund dieser Warnungen ordnete die Präfektur von Moselle an, alle seit dem 1. März eingegangenen Informationen über Brände und ähnlichen Unfälle zu sammeln, die aufgrund von Versehen oder ungeklärten Umständen entstanden waren. Als wichtige Zusatzinformation über derartige Zwischenfälle sollte stets die Anzahl des »nordafrikanischen Personals« der jeweils betroffenen Unternehmen angegeben werden14 . Auch an dieser Stelle zeigt sich der Generalverdacht gegenüber Algeriern besonders deutlich. Die massive Ausweitung der polizeilichen Überwachung algerischer Migranten in Lothringen während der ersten Monate des Jahres 1955 war eine direkte Folge des Algerienkrieges. Sie stand im Zeichen eines gewissen Alarmismus, der seit den Anschlägen vom 1. November 1954 das gesamte politische System der IV. Republik erfasst hatte. Am 3. April 1955 verabschiedete das französische Parlament auf eine Initiative des Ministerpräsidenten Edgar Faure hin ein neues Gesetz über den Ausnahmezustand. Um den FLN nicht indirekt als Kontrahenten anzuerkennen und sich damit auf das Gebiet des Kriegsrechts einzulassen, rief die französische Regierung nicht etwa den Kriegszustand für das gesamte französische Territorium aus. Stattdessen zog sie es vor, die Möglichkeit zu schaffen, außerordentliche polizeirechtliche Maßnahmen in einzelnen Departements zu legalisieren, die einem Kampf gegen »Terroristen« dienen sollten. Auf dieser Grundlage wurden bis zum 28. August 1955 in ganz Algerien schrittweise nächtliche Hausdurchsuchungen durch die Polizei legalisiert und die Presse offiziell einer Zensur unterworfen. Die jeweiligen Präfekturen erhielten durch das neue Gesetz auch die Möglichkeit, die Militärgerichtsbarkeit und Ausgangsverbote zu verhängen, Versammlungen und Veranstaltungen zu verbieten sowie bestimmte Personen unter Hausarrest zu stellen, was in der Regel die Internierung in einem Lager bedeutete15 . Der mögliche Anwendungsbereich des Gesetzes über den Ausnahmezustand beschränkte sich nicht auf Algerien. Dennoch wurde er erst im Mai 1958 unter Ministerpräsident Pierre Pflimlin auch auf die Metropole ausge13 14 15

Diese Anordnung bezog sich auf die Vorgaben der interministeriellen Instruktion Nummer 321 vom 8. November 1954: ibid., 21. Feb. 1955. Le préfet, directeur des RG à messieurs les commissaires divisionnaires, commissaires principaux et commissaires de police, chefs des RG, 21. Mai 1955, AdM 370 W 1. Pierre Vidal-Naquet, La torture dans la République. Essai d’histoire et de politique contemporaines (1954–1962), Paris 1998, S. 60; Sylvie Thénault, L’état d’urgence (1955–2005). De l’Algérie coloniale à la France contemporaine: destin d’une loi, in: Le Mouvement social 218 (2007), S. 63–78, hier S. 64.

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weitet16 . Somit blieb der offiziell geregelte Handlungsrahmen der Polizeibehörden nördlich des Mittelmeers zunächst unverändert. Daher bestand die erste Reaktion der lothringischen Behörden auf die seit Mai 1955 gesteigerten Aktivitäten algerischer Nationalisten zunächst nicht wie in Algerien in der Anwendung neuartiger Maßnahmen in Form einer dramatischen Erhöhung der Repressionen, sondern vor allem in der Erhöhung der Präsenz von Polizei und Gendarmerie und einer kollektiven Überwachung. Zwischen dem 22. Mai und dem 1. Juni 1955 vermerkten Polizei und Gendarmerie in Metz acht körperliche Aggressionen von Algeriern gegen andere Algerier17 . Alle Angriffe hatten sich nachts zwischen 22.40 und 2 Uhr morgens ereignet. In vier Fällen war das Opfer in ein Krankenhaus gebracht worden18 . Der Präfekt und IGAME Jean Laporte reagierte noch im gleichen Monat mit einer Intensivierung der nächtlichen Überwachung der Straßen von Metz. Zu diesem Zweck wurde ein neuer Routenplan für die Polizeipatrouillen ausgebreitet. Außerdem sollten die Stadtpolizei von der gendarmerie départementale und der gendarmerie mobile unterstützt werden. Ein maréchal des logis-chef der Gendarmerie, elf Gendarmen und 17 gendarmes mobiles wurden rekrutiert und dem Kommandanten der Gendarmerie-Sektion von Metz unterstellt, der ihren Einsatz in Absprache mit dem Zentralkommissariat von Metz koordinieren sollte. Jeweils drei Gendarmen kamen von der Sektion von Sarrebourg, Sarreguimes und Boulay. Zwei Gendarmen und ein maréchal des logis-chef kamen von der Sektion von Chateau-Salins. Zusammen mit den 17 gendarmes mobiles sollten sie in der Kaserne der Sektion von Metz untergebracht werden. Die Dauer ihres Einsatzes war unbefristet, wobei alle zwei Monate eine Ablösung vorgesehen war, falls der Einsatz verlängert werden sollte19 . Es war keineswegs erwiesen, dass die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Algeriern in Metz im Mai 1955 einen politischen Hintergrund hatten. Doch die Reaktion der Sicherheitsbehörden darauf stand bereits eindeutig im Zeichen des bereits angelaufenen Kolonialkriegs beziehungsweise des französischen »Antiterrorkampfs«. Die Polizeipräsenz wurde massiv erhöht, um jeglicher Form der Untergrabung staatlicher Autorität unmittelbar entgegenzuwirken. Im Fokus der polizeilichen Aufmerksamkeit standen mehr denn je »Nordafrikaner«.

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Ibid., S. 67. Diese Übergriffe ereigneten sich in den Straßen Boucherie-Saint-Georges, du Champé sowie an der Place Chambière. Le chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, à monsieur le colonel commandant de la 6e légion de gendarmerie, 6. Juni 1955, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 730. Note de service du chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 27. Juni 1955, ibid.

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1.2. Die Gendarmerie als Ziel von Attentaten? Im August 1955 informierte der Präfekt von Meurthe-et-Moselle die Polizeiund Sicherheitsdienste seines Departements über Hinweise des Innenministeriums, dass der MNA Attentate gegen Kommissariate, Kasernen der Gendarmerie und Rathäuser plane. Daher gab er die Anweisung, »alle zweckdienlichen Maßnahmen zu treffen«, um die permanente Überwachung der genannten Orte Tag und Nacht sicherzustellen20 . So alarmierend der Inhalt dieses Schreibens für die Empfänger sein musste, so vage waren die damit verbundenen Anordnungen. Nachdem Polizei und Gendarmerie bis dahin lediglich Anschläge von Algeriern gegen andere Algerier registriert hatten, erhielten sie nun die Information, dass die Gefahr bestand, sie selbst könnten zur Zielscheibe von Anschlägen algerischer Separatisten werden. Welche Maßnahmen sie dagegen trafen, wurde ihnen jedoch zunächst weitgehend selbst überlassen. Auf Seiten der Gendarmerie in Moselle hatten sich die Ängste vor Algeriern bereits zuvor insbesondere in der Warnung vor einer Bedrohung ihrer Brigaden und Kasernen gezeigt. Weil man befürchtete, Angreifer könnten versuchen, das Personal am Verlassen der Kasernen zu hindern und sich der dort gelagerten Waffen oder geheimer Dokumente bemächtigen oder Gefangene befreien, wurde die Bewachung der Kasernen des regionalen Kommandos der Artillerie, der militärischen Sicherheit, der CAF sowie der Gendarmeriebrigade in der Rue aux Ours in Metz ab Anfang August 1955 verstärkt21 . Aufgrund der angeblichen Bedrohungslage sollten alle Eingangstüren der Gendarmeriebrigaden immer verschlossen sein. Das Personal wurde angewiesen, zu jeder Zeit eine Waffe zu tragen22 . Zwei bis fünf Gendarmen sollten durchgehend die Innenhöfe oder Vorplätze der Kasernen überwachen23 . Diese Anordnung wurde mit Verweis auf mögliche Angriffe durch »Nordafrikaner« zum Ende des Monats auf alle Brigaden des Departements ausgeweitet. »Nordafrikaner« sollten die Brigaden nur noch einzeln betreten dürfen. Bei sämtlichen Waffen innerhalb der Kasernen musste ein Teil, das zum Funktio-

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Diese als »sehr geheim« geltende Anweisung sollte nach ihrem Empfang zerstört werden: Le préfet de Meurthe-et-Moselle à M. le chef d’escadron, commandant de la compagnie de gendarmerie de M&M (pour diffusion à toutes les brigades), M. le commissaire principal, chef du service départemental des RG à Nancy, M. le commissaire divisionnaire, commissaire central à Nancy, MM. les commissaires aux RG de Briey-Longwy, M. les commissaires et chefs de postes de police [vermutlich: 21.–26. Aug. 1955], AdM&M 950 W 57. Plan de défense par le chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de Gendarmerie de la Moselle, 5. Aug. 1955, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 730. Ibid. Ibid.

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nieren der Waffe nötig war, ausgebaut und in einem separaten Raum gelagert werden24 . Als der für die Region Thionville zuständige Kommandant der Gendarmerie am 2. September meldete, ihm lägen Informationen vor, nach denen Angriffe »nordafrikanischer Kommandos« in der 6. Region unmittelbar bevorstünden, wurden die Sicherheitsmaßnahmen weiter erhöht. Jeder Brigade wurde eine Kiste mit 25 Granaten zugeteilt; zudem sollten sie Antipersonenminen und Stacheldraht erhalten25 . Für den Fall eines Angriffs galt die Anweisung: »Jedes Kommando, das eine Brigade angegriffen hat und abgewehrt wurde, soll resolut verfolgt, nach Möglichkeit verhaftet und nötigenfalls immobilisiert und unter Feuereinsatz zerstört werden«26 . Am 10. Oktober 1955 galt die Ausstattung der Kasernen und die Schulung der Gendarmen im Umgang mit den Antipersonenminen als abgeschlossen27 . Ohne dass es in Lothringen konkrete Anzeichen oder Hinweise auf bevorstehende Angriffe von Algeriern auf die Sicherheitsbehörden gegeben hätte, wurden diese seit dem Spätsommer 1955 in einen ähnlichen Alarmzustand versetzt wie ihre Kollegen in Algerien. Nachdem FLN-Aktivisten dort bereits im Mai Posten der Gendarmerie angegriffen hatten28 und die Attentate des 20. August eine völlig neue Dimension der Revolte einläuteten, die sich insbesondere gegen Repräsentanten des französischen Staates richtete29 , traf insbesondere die Gendarmerie in Lothringen ausgiebige Vorbereitungen für bewaffnete Auseinandersetzungen vor Ort. Dabei war die Bedrohung, gegen die sie sich rüstete – der FLN – noch weit davon entfernt, sich in der Region etabliert zu haben. Die Alarmstimmung wurde allein aufgrund der Nachrichten über die Entwicklung in Algerien und der Präsenz einer größeren Anzahl Algerier vor Ort ausgelöst und verbreitet. Spätestens seit August 1955 scheint es kaum mehr Verhaltensweisen von Personen nordafrikanischer Herkunft gegeben zu haben, die in den Augen der Gendarmen nicht verdächtig erschienen. Treffen mehrerer »Nordafrikaner« im kleinen Kreis, über deren Anlass keine Informationen vorlagen, wurden ebenso gemeldet30 wie Konzertveranstaltungen31 oder Autos, in de24 25 26 27 28

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Le chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, à monsieur le préfet de la Moselle, 30. Aug. 1955, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 730. Note de service du capitaine Aumaitre, commandant de la SG de Thionville, 2. Sep. 1955, SHAT AG à Thionville, 2007 ZM 1/135 903. Ibid. Rapport du capitaine Aumaitre, Commandant de la SG de Thionville, 10. Okt. 1955, ibid. Charles-Robert Ageron, L’insurrection du 20 août 1955 dans le Nord-Constantinois. De la résistance armée à la guerre du peuple, in: Ders. (Hg.), La guerre d’Algérie et les Algériens 1954–1962, Paris 1997, S. 27–50, hier S. 28. Mauss-Copeaux, Algérie, 20 août 1955. Synthèse journalière des renseignements sur les Nord-Africains du capitaine Aumaitre, commandant provisoirement de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 22. Aug. 1955, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 730. Synthèse journalière des renseignements recueillis sur les Nord-Africains du chef d’esca-

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nen mehrere »Nordafrikaner« gesehen worden waren32 . Ortswechsel »elegant gekleideter Nordafrikaner«, über die keine weiteren Informationen vorlagen, wurden zum Anlass von Berichten an das commandement33 wie auch Reisen und Geldtransfers einzelner Algerier nach Nordafrika34 . Ein Algerier aus Clouange, der beobachtet worden war, wie er in einem Café anderen Algeriern aus der Zeitung von den Ereignissen in Algerien vorgelesen hatte, wurde verdächtigt, deren Aktivitäten gutzuheißen und sollte überwacht werden35 . Dagegen wurde einem Algerier, der angab, nahe Saint-Avold von drei Europäern angegriffen worden zu sein, mit Verweis auf dessen ärmliche Lebensumstände kein Glauben geschenkt. Der Commandant der Gendarmerie ging, ohne weitere Ermittlungen anzustellen, von einer »Abrechnung zwischen Nordafrikanern« aus36 . Dass die Zahl derartiger Berichte, die Algerier aufgrund vager Vermutungen verdächtigten, seit August massiv zunahm, ist auf drei zentrale Gründe zurückzuführen: Das Aufflammen der Kämpfe in Algerien, die Aktivitäten algerischer Nationalisten vor Ort sowie die neuen Vorgaben an Gendarmerie und Polizei in Bezug auf »Nordafrikaner«. Seit dem 17. August 1955 mussten die Sicherheitsdienste in Moselle jeden Monat einen Bericht über »Gewaltakte nordafrikanischer Nationalisten« erstellen und darin nach drei Kategorien differenzieren: 1. Gewaltakte und Zwischenfälle ohne gravierende Folgen; 2. Morde, Attentate, bewaffnete Gewaltakte und Schläge, die zur Einlieferung der Opfer ins Krankenhaus führten; 3. Attentate und Gewaltakte gegen Franzosen der Metropole37 . Insbesondere im Hinblick auf die verdeckte Vorgehensweise der beiden algerischen Untergrundorganisationen FLN und MNA mussten diese Berichte trotz ihres offiziellen Bezugs auf »nordafrikanische Nationalisten« potenziell die Aktivitäten aller Algerier untersuchen. Auf Seiten der Polizei und Gendarmerie hatte dies zwei zentrale Konsequenzen: Durch die Vorgabe, Beobachtungen über »Nordafrikaner« in einem standardisierten Bericht regelmäßig

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dron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 10. Dez. 1955, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 731. Synthèse journalière des renseignements sur les Nord-Africains du chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 1. Sep. 1955, S. 1, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 730; ibid., 5. Sep. 1955, S. 1; ibid., 6. Sep. 1955, S. 1f., ibid., 10. Sep. 1955, S. 1. Synthèse journalière des renseignements sur les Nord-Africains du capitaine Aumaitre, commandant provisoirement de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 25. Aug. 1955, S. 1, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 730. Ibid., 26. Aug. 1955, S. 1–2. Synthèse journalière des renseignements recueillis sur les Nord-Africains du chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 28. Dez. 1955, S. 1, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 731. Ibid., 4. Nov. 1955, S. 1f. Note de service du capitaine Aumaitre, commandant provisoirement de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 17. Aug. 1955, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 730.

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weiterzugeben, wurde zum einen die Aufmerksamkeit der Sicherheitsbehörden gegenüber Algeriern stark erhöht. Zum anderen steigerte die Anweisung, auch über Zwischenfälle (incidents) ohne besondere Folgen zu berichten, den Ermessenspielraum der Beamten bezüglich des Informationswerts ihrer Angaben. Jede als »Nordafrikaner« titulierte Person konnte somit allein schon aufgrund ihrer Zuschreibung als solche verdächtig und zum Gegenstand eines Polizeiberichts werden. Unterstrichen wurde diese neue Qualität der Fixierung der Ordnungskräfte auf alle in Lothringen lebenden Algerier durch die Einführung nächtlicher Straßenkontrollen. In Moselle fanden sie erstmals in der Nacht vom 27. auf den 28. August statt. An neun Kontrollpunkten sollten CRS, Gendarmerie und Stadtpolizei zwischen 23 und 3 Uhr morgens jedes Auto anhalten, in dem sich mindestens ein »Nordafrikaner« befand. Ausgerüstet mit zwei Schusswaffen sollten die jeweiligen Posten überprüfen, ob die Insassen bewaffnet waren, um anschließend sämtliche Personalien aufzunehmen und das betreffende Auto vollständig zu durchsuchen38 . Dabei wurde bereits angekündigt, dass derartige Kontrollen in Zukunft regelmäßig stattfinden sollten39 , sodass die Beamten sich darauf einstellen konnten, Personen nordafrikanischer Herkunft auch längerfristig per se als verdächtig einzustufen. Wenige Tage darauf wurde diese Ankündigung wahrgemacht. Nach einer Versammlung der Spitzen der nationalen Sicherheitsdienste beschloss das Innenministerium am 30. August, die bis dato in der Metropole vorgenommenen Maßnahmen gegen die algerische Unabhängigkeitsbewegung nochmals auszuweiten40 . Dabei wurden die bis dahin in Moselle praktizierten Methoden nicht nur auf andere Departements angewendet, sondern auch ergänzt. Die Bandbreite der polizeilichen Maßnahmen, die während des Einsatzes vom 5. September 1955 zur Kontrolle von Algeriern angewendet wurden, offenbarte in Lothringen Verhältnisse, die einem Polizeistaat entsprachen.

1.3. Vom Generalverdacht zur Generalschikane Am 5. September 1955 führten die Sicherheitsdienste an verschiedenen Orten erstmals eine breit angelegte Aktion der Einschüchterung gegenüber Algeriern durch. Binnen eines Tages erfassten die Behörden in 18 Departements die Personalien von insgesamt 26 690 »Nordafrikanern«41 . Ziel dieser Aktion war es einerseits, polizeilich gesuchte Personen, insbesondere Mitglieder 38 39 40 41

Note de service du chef d’escadron Gauroy, vommandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 27. Aug. 1955, ibid. Ibid. Le ministre de l’Intérieur à monsieur le préfet de la Moselle, 5. Sep. 1955, AdM 370 W 1. Der Zensus von 1954 erfasste rund 211 000 Algerier in der Metropole: Stora, Ils venaient d’Algérie. S. 143.

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des MTLD, ausfindig zu machen. Andererseits ging es dem Innenministerium auch darum, mit Blick auf die Einführung eines neuen Personalausweises »erste Maßnahmen der Erfassung der Algerier« vorzunehmen42 . Algerier wurden an diesem Tag erstmals auch in der Praxis zu einer Sonderkategorie französischer Staatsbürger, die es besonders zu überwachen und möglichst vollständig zu erfassen galt. Die neue Qualität der Schikane zeigte sich besonders deutlich innerhalb von Moselle. Allein in diesem Departement fanden 5100 Personenkontrollen statt, was im Vergleich zu den anderen 17 Departements den Spitzenwert darstellte43 . Knapp ein Drittel aller in Moselle lebenden Algerier wurden an an einem Tag kontrolliert und persönlich erfasst. 23 wurden verhaftet44 . Die Behörden kommunizierten das neue Ausmaß der polizeilichen Fokussierung auf Algerier nicht nur implizit durch die massiven Kontrollen, sondern auch explizit. So verteilten sie parallel zu den Kontrollen Flugblätter mit einem Aufruf an »die algerischen Arbeiter«, der am folgenden Tag auch im »Républicain lorrain« erschien. Der als Appell titulierte Text beinhaltete vor allem eine konkrete Warnung: Dieser Aufruf richtet sich explizit an die Algerier, denen die Eigenschaft, französische Bürger zu sein, es erlaubt, frei in die Metropole zu kommen, um dort zu arbeiten und die gleichen Gehälter zu beziehen wie die anderen Franzosen, und die so von sozialen Vorteilen profitieren, die kein anderes Land der Welt seinen Bürgern bietet. Algerier, die Regierung ist entschieden, euch gegen diese Betrüger zu beschützen und wird dazu die energischsten Maßnahmen anwenden. Um jede Art der Konfusion zu vermeiden, ist es eure Pflicht, die Zahlung von Geldbeiträgen an wen auch immer zu verweigern und den Provokationen der Agitatoren zu widerstehen, die versuchen, euch gegen eure Mitbürger der Metropole aufzuwiegeln, seien sie Muslime oder nicht. Außerdem sollt ihr die Durchführung polizeilicher Kontrollen erleichtern, die notwendig sind, um die Kriminellen und ihre Komplizen unschädlich zu machen. Algerier, vertraut der französischen Justiz, die eure legitimen Interessen verteidigen und jene unerbittlich bestrafen wird, die kein anderes Ziel verfolgen, als euch auszubeuten und ein Klima zu schaffen, das euch daran hindert, in aller Freiheit euren eigenen Bedürfnissen und denen eurer Familien nachzukommen45 .

Mit diesem Schreiben wandten sich die französischen Behörden seit dem 1. November 1954 erstmals in aller Öffentlichkeit an die in Lothringen lebenden Algerier und sprachen diese als einheitliches Kollektiv an. Ohne die Bedrohung, gegen die sich die Behörden wandten, näher zu beschreiben, stellte der Text die französische Staatsbürgerschaft der Algerier als eine gefährdete 42 43 44

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Rapport du ministère de l’Intérieur sur l’opération de contrôle des milieux nationalistes algériens, 7. Sep. 1955, S. 1, AdM 370 W 1. An zweiter Stelle stand das Département Bouches-du-Rhône mit 3500 Kontrollen, in Meurthe-et-Moselle waren es den Angaben des Innenministeriums zufolge 900. Direction des RG, 8e séction: Les opérations de contrôle des milieux nord-africains, 20. Sep. 1955, AdM&M 950 W 80. Nach Benjamin Stora wurden zwischen 5. und 15. September 1955 in der Metropole insgesamt 440 aktive Messalisten verhaftet: Stora, Ils venaient d’Algérie, S. 139. Le Républicain lorrain, 6. Sep. 1955.

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Errungenschaft dar, an der unbedingt festzuhalten sei. Das dafür notwendig erachtete Vertrauensverhältnis zwischen Algeriern und den französischen Behörden setzte der Aufruf voraus und forderte es zugleich ein, um daraus eine Pflicht der Migranten zur vollständigen Kooperation mit der Polizei abzuleiten. Dass das Ausbleiben einer Unterstützung der Polizei einer »Verwirrung« Vorschub leisten müsse, ist in Verbindung mit der Ankündigung »energischster Maßnahmen« als kaum verschleierte Drohung zu bewerten. Der vor einer breiten Öffentlichkeit in Lothringen publizierte Appell machte somit vor allem zwei Punkte deutlich. Erstens: Die Zugehörigkeit der Algerier zu Frankreich stand in Frage. Zweitens galt für Algerier lediglich eine durch aktive Kooperation mit der Polizei zum Ausdruck gebrachte Entscheidung für diesen Status als akzeptabel. In Meurthe-et-Moselle konzentrierten sich die am 5. September durchgeführten Kontrollaktionen algerischer Migranten lediglich auf Piennes und Nancy. Insgesamt waren knapp 1000 Algerier betroffen und etwa 400 Beamte im Einsatz46 . Aus welchen Gründen die Kontrollaktion nicht auch in Longwy durchgeführt wurde, bleibt ungewiss. Sicher ist, dass dieses wichtige Sammelbecken algerischer Nationalisten in Lothringen als Ziel der Kontrollaktion durchaus anvisiert worden war. Erst am Tag der Durchführung der Aktion erhielt der Präfekt von Meurthe-et-Moselle um 5 Uhr morgens die Nachricht, dass die CRS, die ihm das Innenministerium zur Unterstützung einer Kontrollaktion in Longwy zugeteilt hatte, verhindert war. Daraufhin sagte der Präfekt die Aktion in Longwy ganz ab, mit der Begründung, er wolle eine zu schwache Truppe aus Gendarmerie und Stadtpolizei nicht dem gegebenen Risiko »möglicher Vorfälle« aussetzen. Mit Blick auf die Tatsache, dass in der Region Longwy die meisten »Nordafrikaner« seines Departements lebten, zeigte sich der Präfekt Samara deutlich verärgert über den Vorfall und beklagte, die »Unruhestifter« seien nun gewarnt und ähnliche Aktionen in naher Zukunft daher kaum erfolgversprechend47 . In Piennes wurden am 5. September etwa 150 Algerier kontrolliert und 30 von ihnen mit ihren persönlichen Daten erfasst. Um die Mittagszeit war die Aktion beendet48 . In Nancy nahmen die Kontrollen ein deutlich größeres Ausmaß an. Fast jeder zweite der etwa 2000 in Nancy und Umgebung lebenden Algerier49 wurde an diesem Tag polizeilich erfasst oder zumindest kontrolliert. In den frühen Morgenstunden des 5. September riegelte die Polizei das von zahlreichen Algeriern bewohnte Viertel um die Rue de la Hache ab. 46 47

48 49

L’Est républicain, 7. Sep. 1955. Le préfet de Meurthe-et-Moselle à monsieur le ministre de l’Intérieur, en communication à monsieur l’inspecteur général de l’administration en mission extraordinaire à Metz, 5. Sep. 1955, AdM&M 950 W 80. Ibid. Bei diesen Zahlen handelt es sich um eine Schätzung der örtlichen Polizei: Le commissaire principal, chef du service départemental des RG à monsieur le préfet, directeur des RG à Paris, 7. Sep. 1955, AdM&M 950 W 80.

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Gegen 6 Uhr fuhr dann ein Lautsprecherwagen durch die engen Gassen und forderte Algerier auf Französisch und Arabisch dazu auf, ihre Wohnungen zu verlassen und sich den Sicherheitsbehörden zu stellen50 . Anschließend wurden etwa 500 Algerier mit Lastwagen in die CRS Kaserne des nahe gelegenen Vororts Jarville gefahren. Unweit dieser Kaserne nahmen Polizei, CRS und Gendarmerie weitere 300 Algerier in Gewahrsam. Es handelte sich um Obdachlose, die in den Ruinen des Geländes der ehemaligen Stahlfabrik Aciéries du Nord et de l’Est ihre Schlafplätze hatten. Auch diese weckten die Beamten per Megaphon mit der Aufforderung, sich ihnen zu stellen51 . Daraufhin wurden die Obdachlosen in mehreren Konvois auf das Gelände der CRS-Kaserne gebracht. Erst gegen 20 Uhr waren die Kontroll- beziehungsweise Erfassungsmaßnahmen von insgesamt 824 Algeriern52 dort abgeschlossen. In einem späteren Bericht des Präfekten hieß es, der Mangel an Übersetzern sei ein entscheidender Grund für lange Verzögerungen gewesen. Einige Algerier, die von Vertretern ihrer Arbeitgeber identifiziert wurden, konnten das Gelände nach ihrer Erfassung sofort wieder verlassen. Andere mussten auf dem Hof oder im Inneren der Kaserne warten53 . Ebenso wie im Nachbardepartement Moselle verliefen die Kontrollaktionen in Meurthe-et-Moselle am 5. September 1955 ohne größere Zwischenfälle oder Widerstand. Einem Bericht des Präfekten zufolge hatten sich lediglich zwei kleine Vorfälle in der Kaserne von Jarville ereignet, bei denen Algerier vergeblich zum Boykott des ausgeteilten Mittagessens beziehungsweise zur Flucht aufgerufen hatten54 . Dass die große Mehrheit der Algerier in Meurthe-et-Moselle es ohne größere Proteste über sich ergehen ließ, aus dem Schlaf gerissen, deportiert und dann teilweise nach stundenlangem Warten polizeilich erfasst zu werden, wird vor allem mit Blick auf das massive personelle Aufgebot der französischen Sicherheitsdienste verständlich. Diese stellten die völlig überraschten Migranten vor die Wahl, sich entweder für den Verlust eines Arbeitstages und ihre polizeiliche Identifizierung oder für ihre Verhaftung zu entscheiden. Dass eine solche sie im Fall von Widerstand fast zwangsläufig erwartete, wurde durch die Absperrungen und die mündlich und schriftlich gemachten Aufrufe unmissverständlich gemacht. 50 51

52 53

54

Le Républicain lorrain, 6. Sep. 1955. Le préfet de Meurthe-et-Moselle à monsieur le ministre de l’Intérieur, en communication à monsieur l’inspecteur général de l’administration en mission extraordinaire à Metz, 5. Sep. 1955, AdM&M 950 W 80. Le commissaire principal, chef du service départemental des RG à monsieur le préfet, directeur des RG à Paris, 7. Sep. 1955, ibid. Le préfet de Meurthe-et-Moselle à monsieur le ministre de l’Intérieur, en communication à monsieur l’inspecteur général de l’administration en mission extraordinaire à Metz, 5. Sep. 1955, ibid. Ibid.

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Bild 2: Die polizeiliche Kontrollaktion in der CRS-Kaserne von Jarville, 5. September 1955

Die Ereignisse des 5. September sorgten in Meurthe-et-Moselle auch im Nachhinein kaum für Empörung. Die Präfektur registrierte diesbezüglich allein Proteste seitens des MNA55 und eine von 39 Algeriern und Franzosen unterzeichnete Petition für die Freilassung von zwei im Zuge der Kontrollaktionen nach Algier deportierten Algeriern56 . Die RG teilten dem Präfekten mit, dass die zuvor aufgrund der Aktivitäten algerischer Nationalisten aufgewühlte Öffentlichkeit durch diese Aktion beruhigt worden sei und die Bevölkerung wünsche, dass derartige Aktionen in Zukunft des Öfteren durchgeführt würden57 . Die Zeitung »Le Républicain lorrain« gab sich hingegen überzeugt, dass die durchgeführten Maßnahmen lediglich zum Schutz der Algerier durchgeführt worden seien und damit in deren Interesse lägen58 . Der Kommissar von Nancy ging sogar so weit anzunehmen, dass die große Mehrheit der »Nordafrikaner« die Kontrollaktionen begrüßt habe59 . Ungeachtet des Wahrheitsgehalts dieser Einschätzungen kann konstatiert 55 56 57 58 59

RG de Nancy, note d’information, 3. Okt. 1955, AdM&M 950 W 80. Le commissaire principal, chef du service départemental des RG à monsieur le préfet, directeur des RG à Paris, 7. Sep. 1955, ibid. Ibid. Le Républicain lorrain, 6. Sep. 1955. Le commissaire principal, chef du service départemental des RG à monsieur le préfet, directeur des RG à Paris, 7. Sep. 1955, AdM&M 950 W 80.

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werden, dass den meisten Beobachtern klar gewesen sein dürfte, dass die Ereignisse des 5. September keine einmalige Aktion waren, sondern vielmehr einen Wendepunkt in der Vorgehensweise der französischen Polizeiund Sicherheitsdienste gegenüber algerischen Migranten in der gesamten Metropole markierten.

1.4. Staatliche Anleitung zu einem (kaum) verhohlenen Rassismus Spätestens nach dem 5. September 1955 war der bereits zuvor gegenüber Algeriern gehegte Generalverdacht der lothringischen Sicherheitsbehörden endgültig in deren Praxis übergegangen. Die Kontrollaktion stellte einen ersten Höhepunkt in dem laufenden Prozess der Kriminalisierung aller Algerier dar. Sie war kein singuläres Ereignis, sondern der Auftakt einer Serie vergleichbarer Maßnahmen. In Moselle informierte Jean Laporte die Polizeidienste des Departements eine Woche nach dieser Aktion über diese Wende und deren unmittelbare Konsequenzen. Fortan sollte der algerische Nationalismus mittels vier Maßnahmen bekämpft werden: Erstens forderte der Präfekt, algerische Besitzer von Kneipen, Restaurants, Wohnheimen und Herbergen zu Verbündeten der französischen Administration zu machen, da diese Orte als Zentren der nationalistischen Agitation galten. Diesbezüglich und im Hinblick auf den Boykott von Tabak und Alkohol sollten algerische Gastronomen und Hoteliers dazu aufgefordert werden, der Polizei Agitatoren, Verdächtige, »Kollekten«-Eintreiber etc. zu melden, sich deren Geldforderungen zu widersetzen sowie ständig alkoholische Getränke zu servieren und Tabak zu verkaufen60 . Im Fall einer Ablehnung wies Laporte die Beamten dazu an, den betreffenden Personen mit der Schließung ihrer Einrichtung zu drohen und zu deren Begründung etwa mangelnde Hygiene oder die Nichteinhaltung von Schließzeiten anzuführen61 . Zweitens sollten an allen von Algeriern frequentierten Orten tagsüber und nachts auf eigene Initiative der örtlichen Subpräfekturen Kontrollaktionen stattfinden, die Jean Laporte als »opérations de harcèlement« bezeichnete. Damit war eine breite Erfassung der persönlichen Daten algerischer Migranten mit einem Foto und zwei Fingerabdrücken gemeint, wie sie bereits 60 61

Der Konsum und Verkauf von Tabak und Alkohol wurden vom MNA untersagt. Le préfet de la Moselle, inspecteur général de l’administration à MM. les chefs de circonscription de police de Metz, Thionville, Moyeuvre-Grande (commissaire de police de Hagondange), Forbach, Merlebach, Sarreguemines, M. le chef de poste de police de Sarrebourg, MM. les sous-préfets, 12. Sep. 1955, S. 2f., AdM 370 W 1. Bezüglich der konkreten Anwendung dieser Maßnahmen in den Departements Moselle und Meurthe-et-Moselle zwischen 1957 und 1962 siehe Teil III, Kap. 4.3.2.

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am 5. September stattgefunden hatte. Im Zuge dieser Aktionen sollten »verdächtige Gegenstände« beschlagnahmt und auch kleinere Vergehen erfasst werden, wie etwa Vagabundentum, öffentliche Trunkenheit, Glücksspiele und nächtliche Ruhestörung62 . Drittens kündigte der Präfekt an, die Mobilität algerischer Nationalisten durch regelmäßige Straßensperren einzuschränken, was nach dem bereits zuvor praktizierten Muster erfolgen sollte. Schließlich wurde die Anordnung ausgegeben, die bereits begonnene Einbindung von Waffen- und Eisenwarenhändlern bei der Überwachung von Algeriern zu intensivieren. In Zukunft sollten diese nicht allein Käufe von Jagd- und Handfeuerwaffen durch »Nordafrikaner« melden, sondern auch den Erwerb von Äxten, Beilen, Hämmern und Rasierern63 . Neben dem neuen Bündel von Überwachungsmaßnahmen wurde mit der Gründung des Service de coordination des informations nord-africaines (SCINA) im September auch eine zentrale Sammelstelle sämtlicher als polizeilich relevant erachteter Informationen über »Nordafrikaner« in der Metropole geschaffen. Jede Präfektur musste dem SCINA einmal im Monat einen Bericht und eine Statistik über die von »Nordafrikanern« begangenen Verbrechen vorlegen64 . Im November ordnete das Innenministerium an, bei jedem Verhör eines »Nordafrikaners« auch Fragen bezüglich der »Rebellen in Nordafrika« zu stellen, insbesondere bezüglich deren Organisation, Ausstattung, Rekrutierungsmaßnahmen, Stimmung und Propaganda65 . In Moselle wies die Präfektur Arbeitgeber von »Nordafrikanern« außerdem dazu an, algerische Nationalisten zu entlassen und nur noch »Nordafrikaner« einzustellen, die vom Generalgouvernement in Algier ausgewählt und als »Algérien sûr« bezeichnet worden seien66 . Bis zum Ende des Jahres 1955 waren die wichtigsten Eckpunkte des gesonderten Überwachungssystems festgelegt, das für die Sicherheitsbehörden in Lothringen und der übrigen Metropole während des gesamten Algerienkriegs handlungsanleitend war. Es konzentrierte sich ausschließlich auf eine Personengruppe, die nach den Bestimmungen des französischen Staatsrechts als besondere Gruppe von Staatsbürgern galten: Algerier beziehungsweise Français musulmans d’Algérie. Die zu Beginn des algerischen Unabhängigkeitskriegs bereits weit verbreitete Vorstellung und Praxis einer 62

63 64

65 66

Le préfet de la Moselle, inspecteur général de l’administration à MM. les chefs de circonscription de police de Metz, Thionville, Moyeuvre-Grande (commissaire de police de Hagondange), Forbach, Merlebach, Sarreguemines, M. le chef de poste de police de Sarrebourg, MM. les sous-préfets, 12. Sep. 1955, S. 3f., AdM 370 W 1. Ibid., S. 4. Le ministre de l’Intérieur, note de service aux directeurs départementaux des services de police et commissaires centraux et chefs de circonscription de sécurité publique, 3. Jan. 1956, AdM 370 W 1. Ministre de l’Intérieur, note de service, 17. Nov. 1955, ibid. Le préfet de la Moselle à messieurs les sous-préfets, 12. Nov. 1955, ibid.

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fundamentalen Ungleichheit zwischen Français de souche européenne (FSE) und den seit 1958 als Français de souche nord-africaine (FSNA) bezeichneten Algeriern wurde mit den polizeilichen Anordnungen des Jahres 1955 eindeutig festgeschrieben. Das neue Dispositiv der Überwachung sah für die Betroffenen keinerlei Möglichkeit vor, sich den gemachten Zuschreibungen zu entziehen. Sofern Personen aufgrund von körperlichen Eigenschaften als »Nordafrikaner« wahrgenommen wurden, galten sie den Sicherheitsdiensten unweigerlich als verdächtig. Insofern handelte es sich bei den zitierten Dienstanweisungen an die Polizei und Gendarmerie in Lothringen um einen staatlich verordneten Rassismus67 , der erfolgreich darauf zielte, die Logik des kolonialen Systems in Algerien in die Praxis der Polizei und Gendarmerie der Metropole zu übertragen. Aufgrund der kolonialen Doktrin »L’Algérie, c’est la France«, um deren Geltung sich der Algerienkrieg hauptsächlich drehte, wurden die gemachten Anweisungen zur generellen Diskriminierung von Algeriern jedoch stets unter einem gewissen Vorbehalt geäußert. Im Zuge des Aufbaus jenes umfangreichen auf Algerier ausgerichteten Überwachungsapparats wies das Innenministerium mehrfach darauf hin, dass jeder Anschein einer diskriminierenden Behandlung zu vermeiden sei. So hielt etwa eine Anweisung

67

Der Begriff »Rassismus« wird in der aktuellen Forschung zum Teil sehr unterschiedlich definiert. In Anlehnung an Christoph Antweiler vertritt der Autor dieser Studie ein enges Verständnis von Rassismus in Abgrenzung zu vergleichbaren, aber nicht identischen Phänomenen wie etwa Ethnozentrismus: »Im Rassismus werden einzelne Menschen aufgrund ausgewählter (tatsächlich wahrnehmbarer, akzentuierter oder konstruierter) Körpermerkmale Gruppen bzw. Kategorien zugeordnet, die für abgegrenzt und fundamental ungleich gehalten werden, und dies mittels bewerteter Eigenschaften, die diesen Gruppen bzw. Kategorien als ganze, also kategorisch, zugeschrieben und als unwandelbar gedacht werden«, Christoph Antweiler, Ethnozentrismus im interkulturellen Umgang. Theorien und Befunde im Überblick, in: Roland Eckert (Hg.), Wiederkehr des »Volksgeistes«?, Opladen 1998, S. 19–81, hier S. 62. Mit Bezug auf die während des Algerienkriegs einflussreiche Doktrin der guerre revolutionnaire, die bestimmte Maßnahmen des Krieges als medizinische Eingriffe in einen kranken Körper deutete, ist im Zusammenhang mit der hier vertretenen These eines staatlich verordneten Rassismus auch die Definition anschlussfähig, die Philipp Sarasin im Anschluss an Michel Foucault von Rassismus lieferte: »Im Zeitalter der Biopolitik und der Regulation ist Rassismus jene Funktion, die das Gesunde vom Kranken scheidet und zwar in dem Maße, wie das ›Gesunde‹ auf der Ebene des Volkskörpers gesucht wird; Rassismus ist die Selektion, die als ›krank‹, als ›fremd‹, als ›unrein‹ oder als ›rassisch anders‹ vorgestellten Teile der Bevölkerung ausscheidet«. Mit Ausscheiden ist an dieser Stelle Ausgrenzung bis hin zum Töten gemeint, siehe Philipp Sarasin, Zweierlei Rassismus? Die Selektion des Fremden als Problem in Michel Foucaults Verbindung von Biopolitik und Rassismus, in: Martin Stingelin (Hg.), Biopolitik und Rassismus, Frankfurt a. M. 2003, S. 55–79, hier S. 62. Zur Doktrin der guerre révolutionnaire siehe Denis Leroux, La »doctrine de la guerre révolutionnaire«: théories et pratiques, in: Bouchène u. a. (Hg.), Histoire de l’Algérie à la période coloniale, S. 526–532.

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vom Dezember 1955, die eine Intensivierung der Straßenkontrollen zur Bekämpfung des »nordafrikanischen Nationalismus« vorsah, fest: Diese Kontrollen können sowohl innerorts als auch auf den Straßen, sowohl tags als auch nachts durchgeführt werden und insbesondere vor Feiertagen. Dennoch ist darauf zu achten, dass diese Kontrollen mit einem Höchstmaß an Höflichkeit durchgeführt werden, sodass sie nicht den Charakter einer rassistischen Diskriminierung widerspiegeln68 .

Vorgaben wie diese, die von den Sicherheitsbehörden eine möglichst breite Kontrolle aller Algerier forderten, ohne dass diese dabei jedoch eine rassistische Diskriminierung an den Tag legten, mussten im Hinblick auf die vollwertige französische Staatsbürgerschaft von Algeriern widersprüchlich erscheinen. Dieser Widerspruch ergab sich aufgrund der kaum zu vereinbaren Bestrebungen, einerseits die Loyalität algerischer Migranten gegenüber dem französischen Staat sicherzustellen und sie andererseits mittels verschiedener Formen der Drangsalierung möglichst umfangreich zu kontrollieren. In Moselle zeigte sich, dass die umfassenden Kontrollaktionen die kolonialistisch inspirierten Ängste und Diskriminierungen auf Seiten der französischen Ordnungskräfte massiv verstärkten. Obwohl angesichts der Rebellion in Algerien mehr denn je das Ziel gelten sollte, die »muslimischen Franzosen« an Frankreich zu binden, wurden diese bereits im ersten Jahr des Algerienkriegs aus Sicht von Polizei und Gendarmerie zum Inbegriff von Subversion und Bedrohung. Dies zeigt etwa ein Bericht des Chefs der Gendarmerie von Moselle, Gauroy, im August 1955, in dem dieser bezüglich eines Kritikers des Krieges in Algerien anmerkte, dass es sich um ein »individu de race blanche« handelte69 . Algerier beziehungsweise »Nordafrikaner« wurden zu einem imaginierten Kollektiv bedrohlicher Personen, das von dem der »Europäer« beziehungsweise der »weißen Rasse« in zunehmend radikaler Weise abgegrenzt gedacht und behandelt wurde. Einen entscheidenden Beitrag dazu leisteten auch Angstfantasien von Gendarmerie und Polizei, denen zuweilen keine Grenzen gesetzt schienen. So meldete Gauroy im Oktober 1955, algerische Nationalisten hätten die Anweisung erhalten, bei Demonstrationen mit vier Rasierklingen präparierte Tomaten auf die Beamten zu werfen70 . Sowohl das französische Innenministerium als auch die leitenden Beamten und die französischen Vollzugsbeamten wurden während des Unabhängigkeitskriegs mit dem Dilemma konfrontiert, das die koloniale Doktrin 68 69

70

Le ministre de l’Intérieur à messieurs les inspecteurs généraux de l’administration en mission extraordinaire, 26. Dez. 1955, S. 2, AdM 370 W 1. Synthèse journalière des renseignements sur les Nord-Africains du chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 31. Aug. 1955, S. 1, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 730. Synthèse journalière des renseignements recueillis sur les Nord-Africains du chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 21. Okt. 1955, S. 1f., SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 731.

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»L’Algérie, c’est la France« mit sich brachte. Dabei spielte die unterstellte Gefährlichkeit von Algeriern für sämtliche Akteure eine sehr viel größere Rolle als das Anliegen, sie nicht diskriminierend zu behandeln. Was sich somit im Zuge der zitierten Anordnungen durchsetzte, war in erster Linie die Bereitschaft, sämtliche Algerier umfassenden Kontrollmaßnahmen zu unterziehen und sie darüber hinaus systematisch einzuschüchtern.

1.5. Genese eines Systems der permanenten Einschüchterung Aus der Perspektive algerischer Migranten betrachtet, erscheint die Anfangsphase des algerischen Unabhängigkeitskriegs in der Metropole als Geschichte der Entstehung eines westeuropäischen Polizeistaats. Während der ersten beiden Jahre, die auf die Anschlagsserie des 1. November 1954 folgten, höhlten die verschiedenen Regierungen der IV. französischen Republik die Rechtsstaatlichkeit in mehreren Schritten aus: Zunächst hatte die Regierung des Ministerpräsidenten Pierre Mendès-France das Gesetz über den Ausnahmezustand ausgearbeitet, welches die nachfolgende Regierung des Ministerpräsidenten Edgar Faure im April 1955 verabschiedete. Sodann brachte die nachfolgende Regierung Guy Mollets im März 1956 eine weitere Ausdehnung der Exekutivmacht auf den Weg, die abgekürzt als pouvoirs spéciaux bezeichnet wurde. Der Wortlaut war: »Gesetz über die Bevollmächtigung der Regierung, in Algerien ein Programm für wirtschaftliches Wachstum umzusetzen und alle außerordentlichen Maßnahmen für die Widerherstellung der Ordnung, des Schutzes von Personen, deren Eigentum sowie des Territoriums zu treffen«. Dieses Gesetz mit einem bewusst vage gehaltenen Titel diente im weiteren Verlauf des Algerienkriegs allen Regierungen als rechtliche Grundlage für die Steigerung beziehungsweise Legitimierung der Überwachung von und der Repressionen gegenüber Algeriern. Solche Maßnahmen konnten in der Folge ohne Mitsprache des Parlaments per Dekret angeordnet werden71 . Wie schon im Fall des Gesetzes über den Ausnahmezustand wurden auch die im Anschluss an die pouvoirs spéciaux angelehnten Maßnahmen zunächst nicht auf dem Territorium der Metropole angewendet. Die Entwicklung in Lothringen zeigt jedoch, dass sich polizeistaatliche Konzepte und Methoden auch innerhalb des bereits bestehenden rechtlichen Rahmens ausarbeiten und umsetzen ließen. Am 6. Juni 1956 versammelten sich die Präfekten der 6. Militärregion zu einer Konferenz, die den Titel »Das nordafrikanische Problem und die öffent71

Vidal-Naquet, La torture dans la République, S. 60.

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liche Sicherheit« trug. Anlässlich der seit dem Winter 1955/1956 gesteigerten Aktivitäten algerischer Nationalisten in Ostfrankreich berieten die Präfekten dort über mögliche Maßnahmen zu deren Eindämmung. Dem Vorsitzenden der Konferenz und IGAME, Jean Laporte, bereitete besonders die Situation in Metz Sorgen. Er wies auf eine angebliche Zunahme der Attentate von Algeriern gegen métropolitains hin, nannte jedoch keine konkreten Fälle und spielte mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die Auseinandersetzungen zwischen algerischen Demonstranten und der Polizei im März und April an72 . Tatsächlich waren in der Hauptstadt des Departements Moselle bis dahin lediglich Algerier selbst Opfer gezielter Attentate algerischer Nationalisten gewesen. Dessen ungeachtet galt es dem Protokoll zufolge zu verhindern, dass der »Terror« in Ostfrankreich ein ähnliches Ausmaß wie in Nordafrika erreichte. Daher ordnete der IGAME an, das »nordafrikanische Milieu«, vor allem in den Städten, »jederzeit zu überwachen«. Die Aktivisten des MNA und des FLN sollten dadurch verunsichert und ihre Chefs nach Möglichkeit verhaftet werden. Zu diesem Zweck sollten die polizeilichen Maßnahmen, die seit dem 31. Mai 1956 in Moselle angewendet wurden, auf die gesamte 6. Militärregion ausgedehnt werden. Diese Maßnahmen standen erneut unter dem Stichwort Drangsalierung73 . Die Dienstanweisung Jean Laportes an die Polizei und Gendarmerie des Departements Moselle vom 31. Mai 1956 stellt eine besonders wichtige Etappe in der stufenweisen Eskalation polizeilicher Repression und Schikanen gegenüber Algeriern in Lothringen dar. Sie wurde in der gesamten 6. Militärregion bis zum September 1957 als Leitfaden für jegliche Polizeiaktionen verwendet, die auf Algerier zielten. Es handelte sich außerdem um die erste in Lothringen erteilte Dienstanweisung, deren zentrale Intention darin lag, ein »Klima der Unsicherheit« zu erzeugen. Erst in einem zweiten Schritt wurde die Verhaftung per Haftbefehl gesuchter Individuen anvisiert. Das vorrangige Ziel jener Dienstanweisung bestand somit in der Erzeugung eines bestimmten Gefühls – nämlich der Einschüchterung – auf Seiten aller Algerier auf dem gesamten Gebiet der 6. Militärregion. Mit der Dienstanweisung Jean Laportes vom 31. Mai 1956 wurde angeordnet, eine Reihe polizeilicher Maßnahmen auszuweiten, die der Präfekt und IGAME bereits am 6. April befohlen hatte. Explizit handelte es sich um Straßenkontrollen, Durchsuchungen von Wohnheimen und Privatwohnungen ebenso wie vorläufige Festnahmen und Verhöre. Die ersten Straßenkontrollen setzte er für den 2. Juni an. 24 Stunden lang sollte die gendarmerie départementale vor allem in der Nähe der Wohnheime von »Nordafrikanern« Kontrollposten errichten und dort sämtliche Autos, in denen sich »Nordafri72 73

Siehe Teil II, Kap. 2.2. Compte rendu de la réunion des préfets de la 6e région du 6 juin intitulée »Le problème nord-africain et la sécurité publique«, annexé à la lettre du préfet de la Moselle aux préfets de la 6e région, 12. Juni 1956, AdM 370 W 1.

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kaner« befanden, anhalten und durchsuchen74 . Parallel dazu wurde eine CRS angewiesen, mit der Unterstützung von Inspektoren der Brigade de sûreté du territoire (BST) die gleichen Kontrollen in den Bezirken durchzuführen, in denen die Gendarmerie nicht aktiv war, insbesondere in den Bezirken von Metz und Hagondange75 . Die Stadtpolizei von Metz, Forbach und Thionville sollte vor allem die Ein- und Ausgänge der Städte überwachen und bei Bedarf die Unterstützung der CRS und der gendarmerie mobile von Thionville anfordern. Innerhalb der Hauptstadt des Departements Moselle sah die Dienstanweisung für den 2. Juni mehrere Kontrollmaßnahmen vor, die vom Zentralkommissar geplant und mit Hilfe der RG, der BST und der CRS Nr. 71 durchgeführt werden sollten. Dies betraf zunächst alle »Nordafrikaner«, die sich in ankommenden und abfahrenden Bussen und Zügen befanden. Zudem sollten von »Nordafrikanern« betriebene Cafés, Herbergen und Hotels insbesondere in den Bezirken Pontiffroy, Vincentrue, BoucherieSaint-Georges sowie Champé durchsucht werden. Schließlich ordnete der Präfekt an, die Polizei solle in Metz auf öffentlichen Plätzen in Parks, an den Ufern der Mosel und der Seille, in der Avenue Serpenoise sowie in der Rue des Jardins Patrouillen durchführen und alle »Nordafrikaner« dort kontrollieren76 . Diese Dienstanweisung vom 31. Mai 1956 enthielt nicht nur die genauen Vorgaben zu jener Aktion am 2. Juni, die sich nach den Vorstellungen des IGAME in unregelmäßigen Abständen fortan einmal im Monat wiederholen sollte. Darüber hinaus ordnete das Dokument auch eine »quinzaine de harcèlement« an, womit eine mehrtätige Suche nach Verbindungsleuten und Geldeintreibern algerischer Nationalisten, sogenannten collecteurs de fonds, gemeint war. Konkret sollte die »quinzaine« erstmals von der Stadtpolizei mit der Unterstützung der RG und der BST zwischen 4. und 20. Juni 1956 in Metz, Thionville und Forbach durchgeführt werden. An jedem dieser Tage sollten zwei Stunden lang Autos mit zwei Inspektoren an den Orten patrouillieren, die als Treffpunkte von Verbindungsleuten des MNA oder des FLN besonders bekannt waren77 . Bezüglich der Zeiten und der kontrollierten Zonen, die sich jeden Tag verändern sollten, wurde den jeweiligen Chefs freie Hand gelassen. Sie wurden jedoch dazu verpflichtet, dem Präfekten über ihre Aktivitäten immer einen Bericht vorzulegen78 .

74 75 76 77

78

Explizit genannt wurden La Maxe, Maizières, Vitry-sur-Orne, Créhange und Faulquemont an der Nationalstraße 406. Le préfet de la Moselle, note de service, 31. Mai 1956, S. 2, AdM 370 W 1. Ibid., S. 3. In Metz betraf dies nach den Anweisungen Jean Laportes vor allem die Umgebung des Bahnhofs bis zur Porte Serpenoise, die Place de la République und die Esplanade, die Place d’Armes sowie die Rue des Jardins. Ibid., S. 4f.

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Mit dieser Anweisung trieb Jean Laporte die polizeiliche Durchdringung des öffentlichen Raums in Lothringen massiv voran. Die Vorstellungen des Repräsentanten des französischen Innenministers bezüglich des Verhältnisses von Polizei und Gendarmerie gegenüber algerischen Migranten entsprachen immer mehr dem Muster eines Polizei- beziehungsweise eines Kolonialstaats. Allerdings legen die Quellen die Annahme nahe, dass die zitierten Maßnahmen in der Praxis zunächst nicht in der Form durchgeführt wurden wie ursprünglich geplant. Die erste nachgewiesene Anordnung zu einer »quinzaine de harcèlement«, die exakt das Muster der Dienstanweisung vom 31. Mai 1956 reproduzierte, datiert vom 14. August des gleichen Jahres79 . Somit ist ungewiss, ob auch im Juli eine »quinzaine« stattfand. Für eine Wiederholung einer Polizeiaktion nach dem Vorbild des 2. Juni liegen für das Jahr 1956 keinerlei Nachweise vor. Es ist anzunehmen, dass die mangelhafte Umsetzung der Dienstanweisung Jean Laportes auf den enormen personellen Aufwand zurückzuführen ist, der mit der Umsetzung des Projekts einer polizeilichen Durchdringung des öffentlichen Raums verbunden gewesen wäre. Aufgrund der vagen Zielvorstellungen des IGAME – einer allgemeinen Einschüchterung aller Algerier, deren Erfolge kaum nachweisbar waren – ließ sich ein derartiger Aufwand nach aller Wahrscheinlichkeit vor allem aus zwei Gründen kaum rechtfertigen. Erstens war der Staatshaushalt bereits durch die die Aufstockung der Mittel für die Kämpfe in Algerien zu diesem Zeitpunkt massiv belastet. Zweitens war die von algerischen Nationalisten ausgehende Gefahr in Lothringen trotz aller Panikmache offensichtlich sehr viel geringer als etwa in Paris geschweige denn in Algerien. Die weitreichenden Anordnungen Jean Laportes zur Überwachung und Einschüchterung der in Lothringen lebenden Algerier wurden nicht etwa aufgrund rechtlicher Bedenken, sondern vor allem aufgrund finanzieller beziehungsweise personeller Engpässe nicht in dem ursprünglich geplanten Ausmaß durchgeführt. Die weitaus weniger aufwändigen »quinzaines de harcèlement« fanden in Moselle auch über das Ende des Jahres 1956 hinaus scheinbar regelmäßig statt. So berichtete Jean Laporte dem Innenminister im Mai 1957, dass in einer solchen intensiven Phase polizeilicher Kontrollen zwischen dem 1. und 15. Mai 1957, die nach den Vorgaben der Dienstanweisung vom 31. Mai 1956 durchgeführt worden waren80 , 781 Algerier verhört und 21 verhaftet worden seien81 . Dass Algerier generell als verdächtig galten und daher allein in Moselle zu Hunderten von Polizei und Gendarmerie kontrolliert wurden, wurde aus Sicht der leitenden Behörden zu einer Normalität. 79 80

81

Note de service de la préfecture de la Moselle, 14. Aug. 1956, AdM 370 W 1. Le préfet de la Moselle au directeur départemental des services de Police, commandant de la compagnie de la gendarmerie, chef du service départemental des RG, commissaire chef de la BST commissaire chef de l’antenne S.J., 30. Apr. 1957, ibid. Le préfet de la Moselle, inspecteur général de l’administration à monsieur le ministre de l’Intérieur, 25. Mai 1957, ibid.

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1.6. »Pouvoirs spéciaux« und Algerienkrieg in der Metropole Nach der Besetzung des algerischen Generalgouvernements durch das französische Militär mit Unterstützung der französischen Bevölkerung Algiers am 13. Mai 1958 wurden die politischen Verhältnisse in Frankreich grundlegend neu geordnet. Der durch den Algerienkrieg in entscheidender Weise vorangetriebene Erosionsprozess der IV. Republik kam zu einem Ende. Dabei war die zunehmende Untergrabung der Rechtsstaatlichkeit der IV. Republik ein besonders deutliches Indiz für die Unfähigkeit jenes politischen Systems, den Anspruch auf die Kontrolle des algerischen Territoriums durchzusetzen oder diesen aufzugeben. Die immer kürzeren Amtszeiten der französischen Regierungschefs, die alle an der Algerienpolitik scheiterten, illustrieren dies besonders deutlich. Am 22. Mai 1957 stürzte Ministerpräsident Guy Mollet nach 15 Monaten Regierungszeit über die Ablehnung eines Gesetzentwurfs im Parlament, der Steuererhöhungen vorsah, die vor allem die Militärausgaben in Algerien kompensieren sollten82 . Mit dem ehemaligen Verteidigungsminister Maurice Bourgès-Maunoury trat ein ausgewiesener Hardliner der Algerienpolitik die Nachfolge Mollets an. Während seiner lediglich drei Monate währenden Amtszeit setzte er die Ausdehnung der pouvoirs speciaux auf die Metropole durch, die am 26. Juli 1957 im Palais Bourbon beschlossen wurde. Mit diesem Gesetz ging eine erneute Steigerung der repressiven Maßnahmen gegenüber Algeriern einher. Der zweite Artikel ermöglichte es dem Innenminister, Personen, die bereits wegen eines Vergehens gegen Gesetze über Waffenbesitz und Privatmilizen verurteilt worden waren83 , ohne Gerichtsverfahren unter bewachten Hausarrest zu stellen84 . Zur Durchführung des »überwachten Hausarrests« wurden seit Dezember 1957 auch in der Metropole mehrere Internierungslager eingerichtet, deren Insassen fast ausschließlich Algerier waren85 . 82 83 84

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René Rémond, Frankreich im 20. Jahrhundert, Bd. 1: 1918–1958, Stuttgart 1994, S. 574– 576. Konkret handelte es sich um die Art. 75–108, 209–268, 305–308 sowie 400 des französischen Strafrechts. Benjamin Stora zufolge wurde nach der Verabschiedung des Gesetzes von dieser Möglichkeit innerhalb von zwei Jahren in 6707 Fällen Gebrauch gemacht: Stora, Ils venaient d’Algérie, S. 282–286. Im Dezember 1957 wurde in Vadenay (Departement Marne) das erste von insgesamt vier Internierungslagern in der Metropole eröffnet. Die anderen drei Lager befanden sich in den Orten Thôl, Larzac und Vincennes. Bis heute ist eine Studie über die Geschichte der Gefängnisse und Sammellager während des Algerienkrieges in der Metropole ein Forschungsdesiderat geblieben, vgl. zum aktuellen Stand der Forschung Emmanuel Blanchard, L’internement avant l’internement. Commissariats, centres de triage et autres lieux d’assignation à résidence (il-)légale, in: Matériaux pour l’histoire de notre temps

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II. Algerische Migranten zwischen Polizei, FLN und MNA

Nach der Verabschiedung des Gesetzes über die pouvoirs speciaux konnten Polizei und Gendarmerie in Lothringen nicht nur auf ein Bündel neuer Maßnahmen zurückgreifen, die der Bekämpfung des algerischen Separatismus dienen sollten86 . Darüber hinaus verbesserten die leitenden Beamten der zuständigen Polizeidienste im Zuge monatlicher Treffen im Rahmen eines SCINA auf Departementebene auch ihren Informationsaustausch und versuchten, die einzelnen Stellen auf die zentralen Anforderungen einer überregionalen Strategie des sogenannten Antiterrorkampfs festzulegen. Bereits das erste Protokoll der konstituierenden Sitzung des SCINA von Moselle vom 22. Juli 1957 enthielt zum einen ausführliche Informationen über die Mitgliederstärke, Einnahmen, Propaganda und einige französische Unterstützer von MNA und FLN in der Region. Zum anderen legte der Text auch konkrete Handlungsleitlinien fest, wie etwa die Empfehlung, die Anstrengungen auf den Kampf gegen den FLN zu konzentrieren und der Gewerkschaft der Messalisten hingegen freie Hand zu lassen87 . Letzteres konnte den regionalen Behörden nur aus einer überregionalen Perspektive heraus als sinnvoll erscheinen. Schließlich rechnete der SCINA des Departements Moselle im Juli 1957 sämtliche begangenen Attentate von Algeriern gegen andere Algerier innerhalb von Moselle mit nur einer Ausnahme dem MNA zu88 . Dass der Fokus der polizeilichen Repression dennoch auf den FLN gelegt werden sollte, wurde allein damit begründet, dass die Macht des FLN die des MNA sowohl in Algerien als auch in der Metropole und nicht zuletzt auch im Ausland insgesamt bereits übertroffen hatte. Die vonseiten des SCINA von Moselle vorgegebene Strategie einer selektiven Repression sah vor, den Einsatz von Polizei und Gendarmerie neben dem Strafrecht auch an die Bedingungen politischer Opportunität zu binden. Das SCINA-Protokoll intendierte, dass sich die Aktionen der Vollzugsbeamten in

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92 (2008), S. 8–14; Arthur Grosjean, L’action des conseillers techniques aux affaires musulmanes. L’exemple du camp de Thol, in: Matériaux pour l’histoire de notre temps 92 (2008), S. 15–23; Marc Bernardot, Être interné au Larzac. La politique d’assignation à résidence surveillée pendant la guerre d’Algérie (1958–1962), in: Politix 65 (2005), S. 39– 61; Ders., Le garde et l’interné. Essentialisation des catégories et subversion des clivages dans les centres d’internement français de la guerre d’Algérie (1959–1962), in: Travailler (2006), S. 81–96; Sylvie Thénault, Personnel et internés dans les camps français de la guerre d’Algérie, in: Politix 69 (2005), S. 63–81. Bezüglich der pouvoirs spéciaux vermerkte das Protokoll des SCINA von Moselle im September 1957, dass das Innenministerium von acht Anträgen für einen »bewachten Hausarrest« innerhalb der Militärkaserne in Mourmelon vier akzeptiert habe: Procèsverbal de la réunion du SCINA du département de la Moselle, 30. Sep. 1957, AdM 370 W 1. Aufgrund der besonderen Brisanz dieser Empfehlung wird sie hier im Original zitiert: »Pour barrer le FLN qui prend de l’ampleur (à Metz notamment, où tous les cafés maures sont désormais sous coupe), il conviendrait de laisser pour l’instant les mains libres à l’USTA«, ibid., 22. Juli 1957, S. 2. Ibid.

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Moselle gegenüber »Nordafrikanern« stets auch an der Gesamtentwicklung des Konflikts um den Erhalt des kolonialen Status quo in Algerien orientierten. Die Anordnung einer passiven Haltung gegenüber den Messalisten in Lothringen, obgleich diese zahlreiche Algerier in der Region mittels spektakulärer Attentate einschüchterten, kam einer gezielten Aushebelung des Rechtsstaats gleich. In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre zeigte sich eine spezifisch regionale Färbung der Aktionen von Polizei und Gendarmerie gegenüber algerischen Migranten – weniger in deren Methoden, Kompetenzen oder Strategien, sondern vor allem in der Schwerpunktsetzung ihrer Aktivitäten auf bestimmte Räume. Die Präsenz der Ordnungs- und Sicherheitsdienste wurde dort erhöht, wo viele Algerier lebten. In Moselle hatten dies besonders die der Dienstanweisung vom 31. Mai 1956 entsprechenden Maßnahmen für die Stadt Metz gezeigt. Eineinhalb Jahre später zeigte sich diese Logik nochmal besonders deutlich im Arrondissement von Thionville. Dort wurde am 1. August 1957 auf einen Antrag Jean Laportes dem Unterpräfekten ein Peloton der gendarmerie mobile zur Verfügung gestellt, der dem Befehl des Zentralkommissars von Thionville unbefristet unterstehen sollte. Die Aufgabe dieser Truppe bestand ausschließlich in der Kontrolle der rund 3000 »Nordafrikaner«, die nach einer Schätzung der Gendarmerie auf dem Gebiet der Kommunen Hayange, Knutange, Algrange, Nilvange, Thionville und Basse Yutz lebten89 . Bei diesem aus 26 Mann bestehenden Peloton handelte es sich um die erste polizeiliche Einsatztruppe in Lothringen, deren Zuständigkeitsbereich sich ausschließlich und dauerhaft auf den Personenkreis »Nordafrikaner« konzentrieren sollte. Diese Maßnahme schrieb sich in den längeren Prozess ein, währenddessen jeder einzelne Algerier als hilfsbedürftig und kontrollwürdig markiert wurde90 und der während des Algerienkriegs eine manifeste Beschleunigung erfuhr. Der zitierte Fall illustriert, wie Polizei und Gendarmerie in Lothringen ebenso wie in anderen Regionen versuchten, sich diese Entwicklung zunutze zu machen, um ihren jeweiligen Machtbereich auszuweiten. Im Oktober 1957 beschwerte sich der Befehlshaber der Gendarmerie des Arrondissements 89

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»Dieser Peloton aus Adjudant-Chef sowie 25 Gendarmen wird ausschließlich durch den zentralen Kommissar von Thionville eingesetzt, um ›Nordafrikaner‹ in allen Orten des Arrondissements zu überwachen, in denen es eine Stelle der Staatspolizei gibt«: Le capitaine Aumaitre, commandant de la SG de Thionville au chef d’escadron, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 2. Okt. 1957, S. 1, SHAT AG à Thionville, 2007 ZM 1/135 905. Am 14. August erhielt die Gendarmerie in Moselle Anweisung, im Zuge von Straßenkontrollen bereits kontrollierte Autos mit »nordafrikanischen« Insassen mit einem Aufkleber zu versehen, damit ihre Kollegen sie an anderer Stelle nicht noch ein zweites Mal kontrollierten. Es ist jedoch nicht bekannt, ob und in welchem Ausmaß dieser Vorgabe in der Praxis entsprochen wurde: Additif du capitaine Aumaitre, commandant provisoirement de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 14. Aug. 1957, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 732.

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Thionville darüber, dass die 26 Mann starke Sondereinsatztruppe für »Nordafrikaner« lediglich dem Kommissar von Thionville unterstellt worden war. Dazu führte er an, dass in dem ihm unterstellten Gebiet mit den Kommunen Florange, Audun-le-Tiche, Aumetz, Uckange Guenange, Vitry-sur-Orne, Ottange und Hettange-Grande gar 4000 »Nordafrikaner« lebten und die Zahl somit deutlich höher sei als in den Zonen, die der Kontrolle der Polizei unterstanden. Dies veranlasste den capitaine dazu, ebenfalls eine Sondereingreiftruppe für sein Gebiet einzufordern91 . Seinem Anliegen wurde noch im Dezember des gleichen Jahres entsprochen92 . Aufgrund der besonders hohen Anzahl der Algerier, die innerhalb von Moselle lebten, lag der Schwerpunkt der Polizeiaktionen in Lothringen auf diesem Departement. Wie bereits die Konferenz der Präfekten der 6. Militärregion vom 6. Juni 1956 zeigt, beschränkten sich die Aktionen jedoch keineswegs auf dieses Territorium. So leitete Jean Laporte etwa am 26. Dezember 1957 dem Präfekten des Departements Meuse die neuen Dienstanweisungen für die Polizeidienste gegenüber »nordafrikanischen Separatisten« weiter. Um eine möglichst reibungslose Kommunikation sicherzustellen, bot der IGAME an, den Direktor seines Kabinetts nach Bar-le-Duc zu schicken, um die genannten Maßnahmen bei Bedarf mündlich zu präzisieren93 . Auf Seiten der leitenden Beamten von Polizei und Gendarmerie in Lothringen hatte sich spätestens bis zum Ende des Jahres 1957 die Ansicht etabliert, dass die einzig mögliche Form des effizienten Vorgehens gegen den algerischen Separatismus darin bestand, möglichst viele Algerier möglichst umfassend zu drangsalieren. So resümierte etwa der Befehlshaber der Gendarmerie innerhalb des Arrondissements von Thionville im Dezember: »Die einzige Möglichkeit, die Aktionen der nordafrikanischen Separatisten zu konterkarieren, ist es, sie durch häufige Kontrollen sowohl tagsüber als auch nachts zu drangsalieren«94 . In dieser Haltung wussten sich die Beamten mit ihren Vorgesetzen durchaus einig. Bereits am 31. Oktober hatte sich der IGAME Jean Laporte an die verschiedenen Polizeidienste und die Gendarmerie des Departements Moselle gewandt und eine neue Anordnung des Innenministers bezüglich der 91

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Le capitaine Aumaitre, commandant de la SG de Thionville au chef d’escadron, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 2. Okt. 1957, S. 2, SHAT AG à Thionville, 2007 ZM 1/135 905. Nach einer nicht auf den Tag ihrer Erstellung datierten Dienstanweisung vom Dezember 1957 sollte die Überwachung der »Nordafrikaner« in der Region Thionville offenbar weiter intensiviert und einer weiteren spezialisierten Truppe aufgetragen werden: 6e légion de gendarmerie, compagnie de la Moselle, section de Thionville, note de service no 419/4, o. D., ibid. Le préfet de la Moselle, Jean Laporte, à monsieur Malvy, préfet de la Meuse, 26. Dez. 1957, AdM 370 W 1. Le capitaine Aumaitre, commandant de la SG de Thionville au chef d’Escadron, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 20. Dez. 1957, SHAT AG à Thionville, 2007 ZM 1/135 905.

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Kontrollen von »Nordafrikanern« weitergeleitet. Ab sofort sollten sowohl die Gendarmerie als auch die verschiedenen Polizeidienste an jedem ersten Tag im Monat einen Bericht vorlegen, der einen numerisch exakten Aufschluss über die Anzahl der auf »Nordafrikaner« zurückgehenden Aggressionen und politischen Zwischenfälle gab, und sollten über die nächtlichen Hausdurchsuchungen wie die Anzahl der kontrollierten Personen informieren95 . Die neuen Berichte über den Umfang der polizeilichen Aktionen gegenüber Algeriern wurden seit dem 1. Dezember 1957 bis zur Unabhängigkeit Algeriens einmal pro Monat verfasst96 . Sie sollten den Präfekturen einen genauen Überblick über das Ausmaß der Kontrollen von »Nordafrikanern« ermöglichen. Diese galten zumindest den leitenden Behörden als einziges effizientes Mittel im Kampf gegen den FLN und sollten in ihrer Ausübung so transparent wie möglich gemacht werden. Dass sich die Machtausweitung des FLN dennoch fortsetzte, wurde nicht etwa zum Anlass einer Reflexion über alternative Vorgehensweisen. Vielmehr drängten das Innenministerium und der IGAME die Vollzugsbeamten mehrfach dazu, die Kontrollen von »Nordafrikanern« auszuweiten oder bezeichneten die vorgelegten Zahlen über das Ausmaß der Repression als unzureichend. Nach einer Anweisung des Innenministers Bourgès-Maunoury trat Jean Laporte im Dezember 1957 mit einem neuen Maßnahmenkatalog an die verschiedenen Polizeidienste und die Gendarmerie in Moselle heran97 . Dieser sah vor, die Kontrollen in den Wohngebieten von »Nordafrikanern« nochmals zu erhöhen und insbesondere die Wohnheime für »nordafrikanische Arbeiter« zu überwachen, die sich in wahre »Seminare des Nationalismus« verwandelt hätten. Zudem sollten die Personenkontrollen an Bahnhöfen, Häfen und Flughäfen, aber auch auf der Straße gesteigert werden. Die Beamten wurden auch angewiesen, mögliche Spannungen zwischen Algeriern auszunutzen, um sie auf ihre Seite zu ziehen: »Zur Erinnerung: bei Gelegenheit immer mit dem Antagonismus MNA–FLN, Araber–Kabylen spielen. Außerdem den Überdruss und das Aufbegehren einiger muslimischer Arbeiter gegen die Forderungen der Terroristen ausnutzen«98 . 95

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Le préfet de la Moselle, inspecteur général de l’administration en mission extraordinaire à messieurs le directeur départemental des services de police, le chef d’escadron, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, le commissaire principal, chef du service départemental des RG, le commissaire principal, chef de la BST, le commissaire, chef de l’antenne de PJ, 31. Okt. 1957, AdM 370 W 1. Siehe dazu Teil III, Kap. 1.1. Le préfet de la Moselle à monsieur le chef d’escadron, commandant de la compagnie de gendarmerie, à l’attention particulière de monsieur le commandant Gauroy [30.12.1957], AdM 370 W 1. Conférence des inspecteurs généraux de l’administration en mission extraordinaire des 16 et 17 décembre 1957, extrait du compte-rendu annexé à la lettre du préfet de la Moselle au directeur départemental des services de police, le commandant de la compagnie de gendarmerie, le commissaire principal, chef du service départemental des RG, le commissaire principal, chef de la BST, le commissaire principal, chef du détachement de PJ, 20. Jan. 1958, ibid.

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Als gefährlich oder zumindest verdächtig erachtete Personen sollten in einer Zentraldatei99 erfasst werden. In diesem Zusammenhang wurde auch eine neue Strategie deutlich, nämlich unerwünschte Algerier nach Möglichkeit nach Algerien zu überführen. Nach den Vorstellungen des Innenministers sollte Personen, die in der Datei vermerkt waren, in Zukunft nicht mehr die Einreise nach Algerien verweigert werden, da sie von dort aus keine Aussicht auf Wiedereinreise hätten. Darüber hinaus sollten algerische »Vagabunden« dazu gedrängt werden, eine Erklärung zu unterschreiben, in der sie um eine Repatriierung nach Algeriern baten. Verweigerer sollten vor Gericht gestellt werden mit dem Vorschlag, sie zwangsweise nach Algerien abzuschieben100 . Diese neue Teilstrategie des französischen Innenministers lässt sich vor allem mit einer Überforderung der Behörden erklären. Im Kampf gegen den FLN kooperierten diese zwar durchaus mit ihren Kollegen in Algerien – sei es in Form von ermittlungsanleitenden Hinweisen101 oder Haftbefehlen102 –, allerdings war der Handlungsrahmen von Polizei, Gendarmerie und Justiz nördlich des Mittelmeers deutlich beschränkter. In Algerien internierte oder folterte die französische Armee in dieser Phase nach eigener Willkür103 . Die Militärs versuchten, verübte Morde an führenden FLN-Kadern als Suizide zu vertuschen und rechtfertigten Massaker an der Zivilbevölkerung als notwen99

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Nach einer ministeriellen Anordnung vom 5. August 1957 legte der SCINA eine Kartei (»fichier Z«) an, in der alle verfügbaren Daten gefährlicher Personen in der Metropole zentral erfasst werden sollten, um eine bessere Koordinierung der Polizeiaktionen zu erreichen. Dies sollte vor allem auf »nationalistische Aktivisten« bezogen werden, ohne dass deren Beschreibung jedoch präzisiert wurde: Hélène Chaubin, Laurent Chevrel, Identifier les nationalistes algériens. Les fiches Z, in: Branche, Thénault (Hg.), La France en guerre, S. 332–339. Conférence des inspecteurs généraux de l’administration en mission extraordinaire des 16 et 17 décembre 1957, extrait du compte-rendu annexé à la lettre du préfet de la Moselle au directeur départemental des services de police, le commandant de la compagnie de gendarmerie, le commissaire principal, chef du service départemental des RG, le commissaire principal, chef de la BST, le commissaire principal, chef du détachement de PJ, 20. Jan. 1958, AdM 370 W 1. In den Archiven lassen sich mehrfach Zeugnisse dafür finden, dass Behörden aus Algerien mit ihren Kollegen in Lothringen Kontakt aufnahmen, um sie auf Hinweise aufmerksam zu machen, die sie von Algeriern erhalten hatten, die zwischen den beiden Regionen pendelten. Im März 1956 wies sogar der Präfekt von Algier den Präfekt von Moselle darauf hin, dass mehrere muslimische Arbeiter nach ihrer Rückkehr erzählt hätten, dass in Moselle »Kollekten« durchgeführt wurden, die teilweise die Hälfte des Gehalts ausmachten. Der Schwerpunkt der Aktivitäten jener Geldeintreiber sei Florange: Le préfet d’Alger à monsieur le préfet de la Moselle, 1. März 1956. AdM 252 W 19. Eines von mehreren Beispielen ist ein Haftbefehl des Ermittlungsrichters des Militärgerichts Algier vom 3. Dezember 1957. Dieser sah die Verhaftung von drei »Nordafrikanern« vor, die in Audun-le-Tiche wohnten: Note de service du capitaine Aumaitre, commandant de la SG de Thionville, 5. Dez. 1957, S. 1f., SHAT AG à Thionville, 2007 ZM 1/135 905. Branche, La torture et l’armée pendant la guerre d’Algérie.

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dige »Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Ordnung« oder gar »Befriedung«104 . Bei der Verfolgung der kompromisslosen Strategie für den Erhalts des kolonialen Status quo in Algerien konnte es aus der Sicht des französischen Innenministeriums somit durchaus sinnvoll erscheinen, den Umgang mit Algeriern, die als gefährlich, verdächtig oder schlicht störend eingestuft wurden, auf das algerische Territorium zu verlagern. Trotz der enormen Ausweitung ihres Machtbereichs bestand auf Seiten einiger Vollzugsbeamter in Lothringen zum Ende des Jahres 1957 bereits eine gewisse Skepsis, ob der Kampf gegen den FLN überhaupt gewonnen werden könnte. Diesbezüglich gab sich der Chef der BST in Metz, René Haiblet, anlässlich eines Vortrags vor mehreren Offizieren und Unteroffizieren der Gendarmerie pessimistisch. Er bezweifelte, dass es möglich sei, den FLN, den er als »totalitäre Partei« bezeichnete, mit demokratischen Mitteln zu bekämpfen. Zudem schien es ihm angesichts der geltenden Rechtslage und des »Nomadentums« der Algerier in der Metropole unmöglich, diese effizient zu kontrollieren. Außer auf die hohe Mobilität und die angeblichen Falschaussagen wies Haiblet auch darauf hin, dass viele Algerier oft nicht genau wüssten, wann sie geboren seien, sich gegenseitig nur mit Vornamen oder Spitznamen kennen würden und einige nicht einmal einen Nachnamen hätten105 . Diese Erschwernisse der alltäglichen Polizeiarbeit würde sich wiederum der FLN zunutze machen106 . Die Regelungen der pouvoirs spéciaux bezeichnete der Chef der BST in Metz als völlig unzureichend und begrüßte lediglich die Vereinfachungen bei der Durchführung nächtlicher Hausdurchsuchungen sowie die Vereinheitlichung der repressiven Aktionen. In Erwartung einer Gesetzesregelung, die eine Untersuchungshaft ohne die Bedingung einer Vorverurteilung ermöglichte, galt es Haiblet zufolge vor allem fünf Aspekte zu beachten. Erstens sollte dem Kampf gegen den FLN absolute Priorität eingeräumt werden107 . Zweitens sollten die Verbindungen zwischen dem FLN und französischen Kommunisten genau beobachtet werden. Drittens pries Haiblet die unsichtbaren Erfolge ausgiebiger Kontrollen möglichst vieler Algerier an vielen Orten sowohl tags-

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Diese Bezeichnung wird bis heute von einigen französischen Historikern unkritisch weiterverwendet, vgl. Mathias, Survivre à l’indépendance algérienne, S. 38. Compte rendu de la causerie faite à Nancy par René Haiblet, chef de la BST à Metz, aux officiers et sous-officiers de la gendarmerie: Le séparatisme algérien dans la 6e région – des conditions et des formes d’une répression efficace, 12. Dez. 1957, S. 6, AdM 370 W 1. Ibid. Wörtlich lautete die Anweisung: »Jedes Mal, wenn dies möglich ist, der Aktion gegen den FLN die Priorität gegenüber der Aktion gegen den MNA einräumen. – Diese Ausrichtung unserer Aktivitäten zwingt uns zu einer großen Vorsicht gegenüber unseren Informanten. Wir sollten zunächst versuchen, unseren Informanten genau zu verorten. Es könnte sich um einen Agenten des FLN handeln, der uns Informationen über die konkurrierende Bewegung liefert, damit wir diese zerstören«.

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über als auch nachts und sprach sich für deren Fortführung und Intensivierung aus: Diese ständige Drangsalierung, die scheinbar keine Resultate zeigt, ist im Gegenteil sehr effizient. Sie zerstört die Verbindungen und die Propaganda des FLN und darüber hinaus sogar die Kollekten. Die Verantwortlichen trauen sich nicht mehr, eine Waffe oder einen internen Bericht bei sich zu tragen und auch keine Propagandadokumente. Die Aktivisten, die ständig von der Polizei bedrängt werden, legen ihren Eifer ab108 .

Der Chef der BST plädierte viertens dafür, aktiver gegen den FLN beim Kampf um die Kontrolle »arabischer Cafés und Hotels« vorzugehen. Schließlich mahnte er fünftens dazu, den Informationsaustausch zu optimieren und erinnerte diesbezüglich an die Komplexität, der Aufgabe, der sich Polizei und Gendarmerie stellten: Wir kämpfen in der Tat nicht gegen Individuen, sondern gegen eine Organisation, die sich über Algerien, die arabischen Länder bis in die Metropole erstreckt und Agenten in allen Nachbarländern Frankreichs hat. Die Verantwortlichen und die Aktivisten dieser Organisation sind aus Sicherheitsgründen, aber auch aufgrund ihres Temperaments Nomaden109 .

Die fünf zitierten Forderungen René Haiblets zeigen einerseits deutlich, dass der Chef der BST von Metz sich der enormen Herausforderung bewusst war, die der Kampf gegen den FLN darstellte. Sie offenbaren andererseits einmal mehr, dass vonseiten der Polizei und Gendarmerie in Lothringen nie der Kampf gegen den algerischen Separatismus an sich in Frage gestellt wurde, sondern lediglich die dafür verwandten Mittel. Wie auch in anderen Regionen der Metropole zeigten sich leitende Funktionäre von Polizei und Gendarmerie in Lothringen trotz mehrfacher Ausweitung ihres Kompetenzbereichs unzufrieden und forderten noch größere Handlungsspielräume ein. Über etwaige Bedenken seitens der Vollzugsbeamten oder der Präfektur bezüglich der Rechtsstaatlichkeit des damaligen Vorgehens liegen hingegen keinerlei Berichte vor. In dem Zeitraum zwischen den ersten Anschlägen des FLN in Algerien am 1. November 1954 und dem Ende des Jahres 1957 entwickelte sich die Situation algerischer Migranten in Lothringen zum Leben in einem Polizeistaat. Seit Mai 1956 machte sich eine Logik des Krieges im Vorgehen der lothringischen Gendarmerie und Polizei gegenüber Algeriern vor allem darin bemerkbar, dass sie jene Maßnahmen, die darauf zielten, einzelne algerische Nationalisten festzunehmen, zugunsten einer Strategie zurückstellten, die neben der Kontrolle auch auf die Schikane aller Algerier zielte. Die seit 1957 mehrfach erfolgte Anweisung an die Vollzugsbeamten, ihre Anstrengungen auf den Kampf gegen FLN zu konzentrieren und gleichzeitig gegenüber den Messalisten eine eher wohlwollende Haltung einzunehmen, markierte ein 108 109

Ibid., S. 209. Ibid.

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weiteres Abgleiten in polizeistaatliche Verhältnisse. Nicht mehr das französische Strafrecht allein sollte für den Einsatz von Polizei und Gendarmerie maßgeblich sein. Der Einsatz der Sicherheitsdienste wurde in zunehmendem Maße auch an die Bewertung politischer Opportunität, das heißt, die Entwicklung des algerischen Unabhängigkeitskriegs, gekoppelt. So gehörte für algerische Migranten in Lothringen die Möglichkeit einer Kontrolle und einer Verhaftung in dieser Phase zum Teil ihres alltäglichen Erwartungshorizonts.

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2. Niedergang der Messalisten im lothringischen Grenzgebiet Nach der Auflösung des MTLD im Dezember 1954 durch den französischen Innenminister reagierte Messali Hadj sofort mit der Gründung einer Nachfolgeorganisation, dem MNA. Aufgrund der exponierten Rolle, die Messali Hadj in der Unabhängigkeitsbewegung bereits seit über 20 Jahren gespielt hatte, und nicht zuletzt im Hinblick auf die besonders kämpferischen Töne der Messalisten in der zweiten Jahreshälfte 1954 hegten die französische Regierung, Polizei und Geheimdienste den Verdacht, Messali sei der eigentliche Drahtzieher der Anschläge in Algerien. Spätestens nach der erfolgreichen Mobilisierung mehrerer Tausend Zivilisten des Constantinois für die Offensive des 20. August 1955 erschien jedoch der FLN den meisten nationalen und internationalen Beobachtern als treibende Kraft des antikolonialen Widerstands in Algerien. Seitdem fand die Sichtweise, nach der die Anhänger Messali Hadjs auf der Seite des Kolonialismus als »Verräter« oder gar als »letzte Karte Frankreichs« einzuordnen seien, in der Metropole zunehmend Verbreitung1 . Vor diesem Hintergrund geht das nachfolgende Kapitel der Frage nach, mit welchen Mitteln und mit welchem Erfolg Aktivisten des MNA während der ersten beiden Jahre des Unabhängigkeitskriegs versuchten, die Algerier in Lothringen ihrem Einfluss zu unterziehen.

2.1. Algerische Migranten als Adressaten von Verhaltensregeln, Drohungen und Geldforderungen Nach der Auflösung des MTLD und den anschließenden Polizeikontrollen verhielten sich die algerischen Nationalisten in Lothringen zunächst ruhig. Bis April 1955 wurde zwar vereinzelt nationalistische Propaganda unter den algerischen Migranten der Region verteilt2 . Polizei und Gendarmerie registrierten jedoch während der ersten Monate nach den Anschlägen vom 1. November 1

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Wichtige Auswirkungen hatte in diesem Zusammenhang ein Interview des Journalisten Robert Barrat mit zwei führenden FLN-Repräsentanten, Krim Belkacem und Amar Ouamrane, das am 15. September 1955 in »France-Observateur« erschien. Im Dezember legten Colette und Francis Jeanson mit ihrem Buch »L’Algérie hors la loi« nach. Sie stellten die Messalisten in Algerien als kleine, von der Polizei überwachte Minderheit dar. Seit der Auflösung des MTLD bis zum April 1955 waren im Minenbecken von Forbach mehrfach Flugblätter verteilt worden, die vom Komitee für die Befreiung von Messali Hadj stammten. Die Gendarmerie berichtete auch über einen fahrenden Fotografen namens Abdelkrime Achour (*1925), der im Saarland unter einer unbekannten Adresse wohnte

https://doi.org/10.1515/9783110644012-006

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II. Algerische Migranten zwischen Polizei, FLN und MNA

1954 keinerlei Häufung gewaltsamer Auseinandersetzungen unter Algeriern3 . Dies lässt entweder auf eine gewisse Passivität oder Lähmung des MNA in der Region schließen, könnte aber auch ein Indikator für das Ausbleiben von Widerstand seitens der Algerier gegenüber dem MNA sein. Eine konkrete Einschätzung ist insofern nicht möglich, als Quellennachweise über Aktivitäten der Messalisten in Lothringen bis zum Spätsommer 1955 äußerst rar sind. Es kann jedoch festgestellt werden, dass der MNA spätestens im August ein weitläufiges Netz zur Kontrolle algerischer Migranten in Lothringen gespannt hatte. Dies zeigen insbesondere Propagandaaktionen, die intensivierte Durchführung regelmäßiger »Kollekten« sowie die Beobachtung, dass viele Migranten die Vorgabe eines Alkoholverbots befolgten. Getreu der alten Linie des MTLD richtete sich die MNA-Propaganda, die seit dem Spätsommer 1955 in Lothringen kursierte, weiterhin nicht allein an algerische Migranten, sondern auch explizit an die französische Bevölkerung. Unter den zahlreichen Flugschriften der lothringischen Messalisten befanden sich außer Protesten gegen Verhaftungen algerischer Nationalisten4 , der Forderung nach einer verfassungsgebenden algerischen Nationalversammlung5 sowie Ansprachen Messali Hadjs an den Generalsekretär der UNO6 auch spezifisch französische Inhalte. So rief der MNA am 4. September die französische Bevölkerung in Morhange, Forbach, Stiring-Wendel und L’Hôpital dazu auf, sich gegen die Massaker in Algerien, den Kolonialismus und für die algerische Unabhängigkeit einzusetzen7 . In Moyeuvre-Grande wurde am 23. September ein offener Brief des MNA an den französischen Innenminister verteilt, welcher sich über dessen jüngsten Aufruf an die »Nordafrikaner in der Metropole« empörte8 , der unter anderem im »Républicain lorrain«

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und den Migranten in der Region anbot, sie mit einem Bildnis Messali Hadjs im Hintergrund zu fotografieren: Le chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, à monsieur le colonel commandant de la 6e légion de gendarmerie, 30. Apr. 1955, S. 2, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 730. Ibid. Am 6. Dezember 1955 verteilte ein »Nordafrikaner« nach den Angaben der Gendarmerie in Knutange Flugblätter des MNA, die er sowohl an »Nordafrikaner« als auch an Europäer ausgab. Es ging darum, gegen die Verhaftung von Mustapha Ben Mohamed zu protestieren, einem der Anführer der Bewegung: Synthèse journalière des renseignements recueillis sur les Nord-Africains du chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 10. Dez. 1955, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 731. In der Nacht vom 28. auf 29. Dezember 1955 verteilte der MNA in den Straßen von Stiring-Wendel mehrere Flugblätter, auf denen stand, die Algerier würden ausschließlich für eine souveräne, verfassungsgebende, algerische Nationalversammlung wählen gehen: ibid., 30. Dez. 1955. In Forbach wurde Laouri Salah (*1927 Sidi Merouan) am 20. Oktober 1955 verhaftet, nachdem er mit einigen nordafrikanischen Arbeitern gesprochen und ihnen ein Flugblatt des MNA ausgeteilt hatte, auf dem eine Ansprache von Messali Hadj abgedruckt war, die sich an den Generalsekretär der UNO richtete: ibid., 20. Okt. 1955, S. 1. Ibid., 6. Sep. 1955, S. 1, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 730. Ibid., 26. Sep. 1955, S. 1.

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erschienen war. Andere Flugschriften, die im industriellen Becken von Longwy9 , Thionville und Forbach verteilt wurden, riefen jene Franzosen, die zum Kriegsdienst einberufen wurden, dazu auf, sich den Befehlen der Armee zu widersetzen10 . Der MNA versuchte es für sich zu nutzen, dass die Entwicklung in Algerien auch die französische Bevölkerung Lothringens in einem stärkeren Maße betraf als vor dem 1. November 1954. Seit den ersten Anschlägen waren die Gewalt in Algerien und die diesbezüglichen Maßnahmen der Regierung regelmäßig Gegenstand der Berichterstattung der lothringischen Presse. Laura Tared hat gezeigt, dass diese sich in der Regel gegen die algerische Rebellion positionierte und es mit Ausnahme von »L’Humanité« bis zu den Massakern der französischen Armee im nördlichen Constantinois im August 1955 dauerte, bis die lothringischen Zeitungen auch über »zivile« algerische Opfer berichteten11 – in der Überzeugung, diese könnten von getöteten »Terroristen« eindeutig unterschieden werden. Ein unmittelbarer Einfluss des Krieges auf die französische Bevölkerung Lothringens bestand vor allem in der Rekrutierung von Wehrpflichtigen und Reservisten. Davon abgesehen hatten die Kämpfe in Nordafrika für die Mehrheit der französischen Bevölkerung nur eine marginale persönliche Bedeutung. Dagegen erlebten die algerischen Migranten den Konflikt zwischen 1955 und 1957 als ein regelrechtes Erdbeben, das alle ihre sozialen Bezüge erfasste. Dort, wo sie herkamen und wo zumindest Teile ihrer Familien noch lebten, herrschte nun der Ausnahmezustand sowie die Willkür französischer Soldaten. Da, wo sie sich befanden, mussten sie zu jeder Zeit mit Polizeikontrollen rechnen. Zudem erlebten sie, wie die im MNA organisierten Nationalisten vor Ort ein neues Regime der Überwachung und Sanktionierung etablierten, das sich ausschließlich auf sie richtete. Seit dem Spätsommer des Jahres 1955 berichteten Polizei und Gendarmerie über eine Häufung gewalttätiger Auseinandersetzungen unter Algeriern und den plötzlichen Verzicht vieler Migranten auf Alkohol12 . Parallel dazu registrierten sie eine vermehrte Durchführung von »Kollekten« unter algerischen Arbeitern, die vor allem in den Arbeiterwohnheimen der Region stattfanden. Beide Entwicklungen waren auf den MNA zurückzuführen, der alle Algerier zu einem Boykott alkoholischer Getränke aufgerufen hatte. Diese Maßnahme sollte ein Bekenntnis zum Islam und Zeichen der Trauer angesichts des Krieges in Algerien darstellen und zudem der französischen Wirtschaft Gelder

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RG de Longwy, rapport, 20. Sep. 1955, AdM&M 950 W 57. Synthèse journalière des renseignements sur les Nord-Africains du chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 23. Sep.1955, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 730. Tared, Interprétations et répercussions de la guerre d’Algérie en Lorraine. In Meurthe-et-Moselle registrierten sie einen solchen Boykott in Piennes, Jœuf, Homécourt und Auboue: RG de Briey, rapport, 19. Aug. 1955, AdM&M 950 W 57.

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entziehen. Die Gendarmerie registrierte im August 1955 in Boulange, StiringWendel13 , Mondelange14 und Metz15 Gruppen von vier bis 15 Algeriern, die in Lieferwagen zu einzelnen Arbeiterwohnheimen der Region fuhren, angeblich, um die algerischen Bewohner einzuschüchtern und ihnen den Konsum von Alkohol zu untersagen. Bereits im August 1955 berichtete die Gendarmerie in Moselle, dass Algerier ihren Alkoholkonsum zunehmend verheimlichten oder komplett eingestellt hätten16 . Einige Algerier, so hieß es, hätten der Gendarmerie berichtet, dass ihnen bei einem Bruch des Boykotts Prügel oder Folter drohten17 . Ein solcher Fall wurde im Lager Bétange18 in Florange gemeldet, wo im September drei Algerier von zwei Anhängern des MNA geschlagen wurden, weil sie angeblich Bier getrunken hatten19 . Ein weiteres Novum neben dem Aufruf, Alkohol zu boykottieren, waren die regelmäßigen Geldforderungen des MNA an die Migranten. Anders als der MTLD forderte der MNA nicht nur seine Mitglieder, sondern alle Algerier dazu auf, einen monatlichen Beitrag an die Organisation zu zahlen. Im Fall einer Weigerung drohten die Messalisten auch hier mit Zwangsmaßnahmen. Als sich im August 1955 drei von 80 Bewohnern eines Wohnheims in Metz-Frescaty weigerten, einen Beitrag für die algerische Revolution zu zahlen, erhielten sie kurz darauf Drohbriefe mit dem Siegel des MNA20 . Im September 1955 signalisierte die Gendarmerie von Boulay, dass sich ein Algerier einer »Kollekte« bei den »nordafrikanischen Arbeitern« in dem Unternehmen Muller verweigert habe und am nächsten Tag aus einer algerischen Kneipe in Metz geworfen und bedroht worden sei21 . Die MNA-Aktivisten brachten ihre Kontrollansprüche über die Bewegungsräume der Migranten nicht allein durch ihr Auftreten an vielen verschiedenen Orten zum Ausdruck. Sie gaben auch vor, die Migration 13

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Synthèse journalière des renseignements sur les Nord-Africains du capitaine Aumaitre, commandant provisoirement de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 18. Aug. 1955, S. 1, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 730. Ibid., 24. Aug. 1955. Synthèse journalière des renseignements sur les Nord-Africains du chef d’escadron Gauroy, commandant provisoirement de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 30. Aug. 1955, S. 1, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 730. Synthèse journalière des renseignements sur les Nord-Africains du capitaine Aumaitre, commandant provisoirement de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 22. Aug. 1955, ibid. Synthèse journalière des renseignements sur les Nord-Africains du chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 31. Aug. 1955, S. 2f., ibid. Bétange war während des Zweiten Weltkriegs ein Internierungslager. Synthèse journalière des renseignements sur les Nord-Africains du chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 13. Sep. 1955, S. 1f., SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 730. Ibid., 31. Aug. 1955. Ibid., 13. Sep. 1955.

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zwischen Algerien und der Metropole zu kontrollieren. So verteilten etwa zwei Algerier, die am 21. August 1955 in dem Café Sid-Ahmed in Thionville eine »Kollekte« für den MNA durchführten, an alle Zahlenden Quittungen, welche den Angaben der RG zufolge auch als Einreiserlaubnis für Algerien fungieren sollten22 . Der MNA zielte darauf, bei den Algeriern den Eindruck entstehen zu lassen, dass er eine umfassende Kontrolle über ihre Lebensräume ausübte. Wie das Protokoll eines Verhörs der Gendarmerie von Saint-Avold zeigt, war es den Messalisten selbst in Gegenwart der Gendarmerie möglich, ihre Drohungen zu kommunizieren. Ein wegen des Besitzes eines Messers befragter Algerier gab gegenüber den Gendarmen an, die Waffe zur Selbstverteidigung bei sich zu führen, da er Drohungen erhalten hatte. Das Verhör wurde unterbrochen, als ein zweiter Algerier die Brigade betrat und den Befragten auf Arabisch warnte, noch mehr zu erzählen, woraufhin dieser gegenüber dem Gendarmen keinerlei weitere Angaben mehr machte23 . Die Aktionen der Messalisten während der Anfangsphase des Algerienkriegs in Lothringen zeugen einerseits von deren Entschlossenheit, ihre Macht über die algerischen Migranten in der Region massiv auszubauen. Ihr Umfang legt jedoch auch nahe, dass viele Algerier, die schon mit dem MTLD sympathisiert hatten, bereit waren, dem MNA einen gewissen Rückhalt zu geben. Trotz der Verhaftungen und der Überwachung der Messalisten durch die Polizei konnten die Eintreiber der »Kollekten« an vielen Orten Geld einsammeln und zahlreiche Algerier dazu bringen, das Alkoholverbot einzuhalten. Angesichts der Geschichte des MTLD und der unmittelbaren Betroffenheit der Algerier durch die aktuellen Ereignisse kann dies nicht allein mit den radikalen Methoden einer Unterwerfung erklärt werden. Vielmehr verweisen die Erfolge der Messalisten in dieser Zeit auf die Anerkennung einer gewissen Legitimität vonseiten einer bedeutenden Zahl von Algeriern, die sich aktiv oder passiv zu den Zielen des MNA bekannten. Allen Betroffenen war bewusst, dass der MNA sich nach eigener Auffassung in einem Krieg für die Unabhängigkeit befand, was die entscheidende Begründung dafür war, den eigenen Machtansprüchen nicht nur durch Propaganda, sondern auch durch die manifeste Androhung von Gewalt Nachdruck zu verleihen.

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Direction des RG de Thionville: note de renseignement, 25. Aug. 1955, AdM 252 W 19. Synthèse journalière des renseignements recueillis sur les Nord-Africains du chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 21. Okt. 1955, S. 2, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 731.

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2.2. Mobilisierung und Disziplinierung im Zeichen ausufernder Gewalt Die Anhänger Messali Hadjs waren seit 1945 die einflussreichsten Repräsentanten des algerischen Nationalismus in Lothringen. Mangels einer starken politischen Konkurrenz war dies auch nach der Spaltung des MTLD und infolge der Attentate in Algerien vom 1. November 1954 der Fall. Vor dem Hintergrund der ausufernden Gewalt in Algerien und dem Aufstieg des FLN versuchten die Messalisten seit dem Spätsommer 1955, die Einbindung aller Algerier in ihren eigenen Kampf für die Unabhängigkeit mit immer radikaleren Mitteln zu erreichen. Anforderungen, die bis dahin nur für Mitglieder der Organisation galten, wurden auf alle Algerier ausgedehnt. Diese sollten unter Androhung von Gewalt – bis hin zur Ermordung – einen regelmäßigen Beitrag an die Organisation zahlen und Verhaltensregeln einhalten wie etwa ein Konsumverbot von Alkohol und Zigaretten. Nachdem diese Maßnahmen zunächst durchaus Erfolge gezeigt hatten, nahm der Einfluss der Messalisten auf algerische Migranten im lothringischen Grenzgebiet seit dem Sommer 1956 deutlich ab. Dabei spielte der Aufstieg des konkurrierenden FLN zunächst nur eine Nebenrolle. Stattdessen war der Machtverlust der Messalisten in erster Linie einer Reihe gezielter Verhaftungen durch Polizei und Gendarmerie geschuldet. Die Beamten reagierten auf eine inflationäre Zahl von Attentaten der Messalisten, welche sich zuletzt auch gegen Polizisten richteten. In ihrem Bemühen, die Algerier in der Region einem Katalog rigider Verhaltensregeln zu unterwerfen, stießen die Aktivisten des MNA seitens der Migranten mehrfach auf Widerstand. Dies war oft weniger mangelnden Sympathien für die algerische Unabhängigkeitsbewegung, sondern vielmehr knappen Finanzressourcen und dem Festhalten an Gewohnheiten wie etwa dem Konsum von Alkohol geschuldet. Ein weiteres Hemmnis für die breitere Machtentfaltung des MNA stellte seit Mitte des Jahres 1956 auch der wachsende Einfluss des FLN in der Region dar. Die Messalisten reagierten auf diese Widerstände damit, dass sie ihre Machtansprüche in zunehmendem Maße durch ostentative Ausübung von Gewalt kommunizierten. Gegen die darauffolgenden Aktionen der Polizei und Gendarmerie war das Netzwerk der Organisation jedoch nicht gewappnet. Letztendlich beschleunigten die lothringischen MNA-Aktivisten mit der ausufernden Ausübung von Zwang und Gewalt den Prozess des Zerfalls ihrer eigenen Organisation. Um sich aus der Situation der Bedrängnis zu befreien, in der sich der MNA zu Beginn des Jahres 1956 befand, setzte die Organisation zunächst weiterhin auf das Mittel der Propaganda. Nach wie vor präsentierte diese den MNA als einzig legitimen Repräsentanten des algerischen Volkes, das geeint und entschlossen Messali Hadj in den Krieg für die Unabhängigkeit und den Frieden

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folgen sollte24 . Fast wie ein Eingeständnis, dass diese Ansprüche zumindest in der damaligen Situation noch nicht erfüllt werden konnten, wurde im Frühling 1956 jedoch auch betont, dass dieser »Krieg des algerischen Volkes« sich sowohl nach außen als auch nach innen richten müsse. Das Szenario eines Krieges, in dem sowohl gegen die willkürlich agierende französische Armee als auch gegen heimtückische Verräter auf der algerischen Seite gekämpft werde müsse, etablierte sich als ein fester Teil der MNA-Propaganda. Aktivisten des FLN wurden seit Beginn des Jahres 1956 nicht länger totgeschwiegen, sondern als Dissidenten der ALN bezeichnet, die dem Kolonialismus dienten und Massaker an Frauen, Kindern und Alten begingen25 . Außer durch die Propaganda in Flugschriften und das MNA-Organ »La Voix du peuple« versuchten die Messalisten ihre Legitimationsansprüche auch durch Demonstrationszüge zu kommunizieren. Anlass dazu gaben ihnen im März 1956 die Diskussionen um die pouvoirs spéciaux und die Aufhebung der Reisefreiheit zwischen Algerien und der Metropole26 . Am 19. März 1956 beteiligten sich erstmals algerische Arbeiter in Lothringen an einer dieser Massenaktionen des MNA. Der »Républicain lorrain« berichtete, etwa zwei Drittel der in Moselle und Meurthe-et-Moselle lebenden Algerier hätten dem entsprechenden Aufruf Folge geleistet. Metz und die Region Longwy fielen durch eine besonders hohe Streikbeteiligung auf27 . Zehn Tage nach dem Streik vom 19. März legten im industriellen Becken Longwys rund 80 Prozent der algerischen Arbeiter erneut die Arbeit nieder. Es kam an verschiedenen Orten des Beckens zu Demonstrationen von insgesamt etwa 800 Algeriern, die auf den Widerstand der Polizei trafen, was Verletzte auf beiden Seiten zur Folge hatte28 . Am 1. April versammelten sich um 8 Uhr morgens etwa 800 Algerier in Metz auf der Saint-Georges-Brücke und forderten die Befreiung Messalis sowie Reisefreiheit nach Algerien. Nach Auseinandersetzungen mit der Polizei wurden etwa 40 Demonstranten zum Teil schwer verletzt und mussten ins Krankenhaus gebracht werden. Im Zuge einer gleichzeitig stattfindenden Demonstration in Thionville trafen am Ortseingang 1200 Algerier auf die Polizei. Dabei kam es zu gewalttätigen Aus24

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In einem offenen Brief an die Abgeordneten des französischen Parlaments, der in »La Voix du peuple« erschien, hieß es: »In einem Kampf auf Leben und Tod wird das algerische Volk hinter seinem Mouvement national algérien sich weder von Drohungen noch von Reformen abhalten lassen, die ihn von seinem Ziel, der Unabhängigkeit, abbringen sollen«: Lettre ouverte à messieurs les députés de l’Assemblée nationale française [. . . ] parue dans »La Voix du peuple«, no 20, März 1956, zit. n. Nedjib Sidi Moussa, Jacques Simon (Hg.), Le MNA. Le Mouvement national algérien (1954–1956), Paris 2008, S. 176f. Siehe dazu die Flugschrift »Le peuple algérien repousse avec mépris les accusations portées contre le Mouvement national algérien«, 27. März 1956, zit. n. ibid., S. 186f. Aufgrund eines Dekrets mussten alle Personen, die nach Algerien einreisen wollten, seit 19. März 1956 über eine zuvor von einer Präfektur ausgestellte Einreisegenehmigung verfügen. Le Républicain lorrain, 20. März 1956. Ibid., 31. März 1956.

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einandersetzungen, bei denen 20 Algerier verletzt wurden29 . Auch in Metz fand am Vormittag des 2. April 1956 eine Demonstration von Algeriern statt, die nach Berichten des französischen Geheimdienstes der MNA organisiert hatte30 . Am 3. April berichtete der »Républicain lorrain« schließlich über eine rege Beteiligung algerischer Arbeiter an Streiks, die in den Regionen um Forbach, Sarreguemines, Boulay und Nancy stattfanden31 . Die Beteiligung der algerischen Migranten in Lothringen an den vom MNA lancierten Streiks und Demonstrationen zeigt, dass die Messalisten dort im Frühling des Jahres 1956 auf dem Höhepunkt ihrer Macht standen. Dies ist einerseits mit Blick auf die nach wie vor bestehenden Sympathien vieler Migranten für Messali Hadj zu verstehen. Noch immer glaubten zu diesem Zeitpunkt viele Algerier, dass der zaim die Rebellion in Algerien anleiten würde, nicht zuletzt, da der MNA gezielt versuchte, diesen Mythos aufrecht zu erhalten und sich als Avantgarde der Armée de libération nationale (ALN) zu inszenieren. Im Juni 1956 verteilte ein Aktivist im Stadtviertel Saint-Epvre in Nancy ein Bild, das zuvor in »La Voix du peuple« abgedruckt worden war und eine nackte Frau zwischen zwei Soldaten vor dem Eingang eines ärmlichen Hauses zeigte. Beide Soldaten blicken lächelnd in die Kamera. Einer von ihnen berührt die deutlich kleinere Frau am Rücken, der andere an der linken Brust sowie am Arm, sodass sich dem Betrachter die Vermutung aufdrängt, sie sei entweder vor oder nach der Aufnahme vergewaltigt worden. Die Überschrift des Flugblatts lautete »Pacification!«. Darunter stand ein kämpferischer Aufruf an die Öffentlichkeit, der vermutlich in Verbindung mit der schockierenden Wirkung des Bildes ein hohes Potenzial für die politische Mobilisierung von Algeriern hatte: Der Generalstab der Armee der nationalen Befreiung hat der Direktion des Mouvement national algérien dieses Foto geschickt. Es wurde im Besitz eines gefangenen französischen Soldaten gefunden. Französisches Volk, das algerische Volk lässt dich über die Missbräuche richten, die der Imperialismus begeht. FÜR DIE FREIHEIT und die UNABHÄNGIGKEIT wird das algerische Volk bis zum Sieg kämpfen32 .

Der Einfluss des MNA auf Algerier in Lothringen stützte sich auch in dieser Phase nicht allein auf Freiwilligkeit, politische Überzeugung oder eine gewisse 29

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Nach Verhandlungen zwischen Demonstranten und der Polizei konnten die Aktivisten jedoch erreichen, dass die Demonstration nicht aufgelöst, sondern nach Terville und Daspich umgeleitet wurde: ibid., 2. Apr. 1956. Direction générale de la sûreté du territoire, information, 4. Apr. 1956, AdM 252 W 16. Le Républicain lorrain, 4. Apr. 1956. Nach intensiver Abwägung wurde auf einen Nachdruck des Bildes an dieser Stelle verzichtet, um die betroffene Frau und ihre Angehörigen zu schützen. Das Anliegen des Autors, der Zirkulation gewaltverherrlichender Bilder Einhalt zu gebieten, wog schwerer als der letztendlich geringe analytische Mehrwert einer Reproduktion an dieser Stelle. Das Flugblatt des MNA ist an folgendes Dokument angefügt: Le commissaire divisionnaire, commissaire central à Nancy à monsieur le préfet de Meurthe-et-Moselle, 1. Juli 1956, AdM&M 950 W 57 (Hervorh. i. Orig.).

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Gruppendynamik. Parallel zu ihrer Propagandaoffensive steigerten die Messalisten sowohl in Lothringen als auch in anderen Regionen der Metropole seit Beginn des Jahres 1956 die Anzahl der Anschläge auf Algerier, die sich den Vorgaben ihrer Organisation nicht beugten. In verschiedenen Städten des Nord-Pas-de-Calais griffen seit Mitte Januar mehrfach bewaffnete MNAAktivisten Algerier in Wohnheimen, Cafés und auf offener Straße an33 . Benjamin Stora bezeichnete den Anfang des Jahres 1956 treffend als den Beginn des inneralgerischen Bürgerkriegs in der Metropole34 . Im Kohlebecken von Forbach häuften sich die Aggressionen gegenüber Algeriern bereits seit Mitte November 1955. Die örtliche Gendarmerie berichtete zum Ende des Jahres 1955 von einem Klima der Angst insbesondere in StiringWendel und in Forbach, wo es anders als zuvor kaum noch ein Algerier wagte, mit der Polizei zu sprechen35 . Zwischen dem Beginn des Jahres 1956 und Mitte März registrierte die Gendarmerie im Bezirk Forbach 15 gewalttätige Übergriffe auf »Nordafrikaner«. Der FLN hatte nach Erkenntnissen der örtlichen Behörden zu diesem Zeitpunkt keinerlei Einfluss auf die Algerier des Kohlebeckens. Diese sahen sich somit allein mit den Machtansprüchen der Messalisten und der Polizei sowie Gendarmerie konfrontiert36 . In Forbach erhielten mehrere Algerier Briefe des MNA, die sie dazu aufriefen, nach Algerien zu fahren, um die algerische Armee zu unterstützen und im Fall einer Ablehnung mit Sanktionen von einer Geld- bis zur Todesstrafe drohten37 . In unmittelbarer Nähe zur saarländischen Grenze unternahm ein Disziplinarkommando des MNA im Kohlebecken verschiedene Anschläge gegen Algerier in Cafés38 , auf offener Straße39 oder in deren Wohnung40 . Dabei folgte es den Anweisungen eines internen Tribunals, das sich aus fünf bis sechs lokalen MNA-Kadern zusammensetzte41 . Dieses Gremium sanktionierte in erster Linie Ungehorsam, den Besuch von Kneipen, Trunkenheit und den häufigen Umgang mit Franzosen, insbesondere Polizisten. Algerier, die sich die33 34 35

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Genty, Le Mouvement nationaliste algérien, S. 176–179. Benjamin Stora, Les immigrés algériens en France. Une histoire politique, 1912–1962, Paris 2009, S. 186. Synthèse journalière des renseignements recueillis sur les Nord-Africains du capitaine Aumaitre, commandant provisoirement la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 8. Dez. 1955, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 731. Le commissaire principal, chef du service des RG de l’arrondissement de Forbach, à monsieur le préfet de la Moselle, 3. Feb. 1956, S. 2, AdM 252 W 19. Synthèse journalière des renseignements recueillis sur les Nord-Africains du chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 14. März 1956, S. 2, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 731. Le Républicain lorrain, 1. Feb. 1956. Ibid., 28. Feb. 1956. Ibid., 13. März 1956. Le chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle au général, commandant régional de la gendarmerie nationale de la 6e région militaire, 14. Apr. 1956, S. 2, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 731.

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sen Regeln widersetzten, drohte bei der ersten Verwarnung eine Geldstrafe von 10 000 Franc. Nach der zweiten Verwarnung sollte es Schläge geben. Der dritte Verstoß gegen die Vorgaben des MNA sollte eine Exekution nach sich ziehen42 . Die Welle von Anschlägen zu Beginn des Jahres 1956 schuf für die Migranten in Verbindung mit der Forderung, einmal im Monat durch einen Beitrag von 1100 Franc ein aktives Bekenntnis der Unterordnung abzulegen, eine imposante Drohkulisse. Eine durchgehend passive oder gar feindselige Haltung der Algerier des Kohlebeckens gegenüber dem MNA wurde für sie lebensgefährlich. Angesichts der Radikalität der Messalisten konnte Protest kaum in Form von Verhandlungen stattfinden. Er musste vielmehr die Form eines offenen Widerstands gegen die Organisation annehmen oder innerhalb der Organisation als verdeckte Subversion stattfinden. Dass beide Formen des Dissenses existierten, zeigen zum einen die ausgiebigen Aktivitäten der als »Schocktruppen« bezeichneten Disziplinarkommandos und zum anderen die Verhaftung der lokalen MNA-Führungsriege infolge einer Denunziation43 . Die genannten Informationen über den MNA in Forbach erhielt die Gendarmerie durch einen als frankophil bezeichneten Algerier, welcher der Organisation angeblich unter Zwang beigetreten war. Am 13. März informierte er die Gendarmerie über das nächste Treffen der lokalen MNA-Führer, das fünf Tage später in seiner eigenen Baracke stattfinden sollte44 . Aufgrund dieses Tipps konnte die Gendarmeriesektion von Forbach am 18. März den chef régional, einen Sektionschef und zehn weitere Aktivisten samt umfassendem Beweismaterial verhaften und den Aktivitäten des MNA innerhalb des Kohlebeckens vorerst ein Ende setzen45 . In der Folge riss nicht nur die Serie der gewalttätigen Übergriffe auf Algerier ab. Die Messalisten mussten in ihrer ehemaligen Hochburg für einige Monate sogar einige ihrer bis dahin regelmäßig durchgeführten »Kollekten« einstellen46 . Auch im Fensch-Tal gingen die Aktivisten des MNA zunehmend brutal gegenüber jenen Algeriern vor, die sich nicht ihren Vorgaben beugen woll42 43

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Capitaine Bohler, commandant de la SG de Forbach, fiche de renseignement, 14. März 1956, SHAT AG de Forbach, 2007 ZM 1/135 818. Als groupes de choc (Schocktruppen) bezeichneten sowohl der FLN als auch der MNA ihre bewaffneten Kampfgruppen, die über die Einhaltung der jeweils proklamierten Ordnung wachten und Attentate verübten. In der französischen Presse wurden sie zuweilen »les policiers du MNA« genannt: Charles Robert Ageron, Les Français devant la guerre civile algérienne, in: Jean-Pierre Rioux (Hg.), La guerre d’Algérie et les Français, Paris 1990, S. 53–62, hier S. 54. Capitaine Bohler, commandant de la SG de Forbach, fiche de renseignement, 14. März 1956, SHAT AG de Forbach, 2007 ZM 1/135 818. Le chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle au général, commandant régional de la gendarmerie nationale de la 6e région militaire, 14. Apr. 1956, S. 2, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 731. Circonscription de police urbaine de Forbach, note de renseignement, 17. Juli 1956, AdM 252 W 19.

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ten. Als der Algerier Mkache Akli im Januar 1956 in Florange in einen Zug einsteigen wollte, um zur Arbeit zu fahren, griffen ihn zwei Algerier in Gegenwart zahlreicher anderer Algerier mit einem Messer an und bedrohten ihn mit dem Tode. Der ehemalige Unteroffizier der französischen Armee hatte sich nach Informationen der Gendarmerie geweigert, einen Posten in der Untergrundorganisation anzunehmen und einen monatlichen Beitrag von etwa 3000 Franc an die algerischen Nationalisten zu zahlen47 . Ende Februar 1956 berichtete die örtliche Gendarmerie über eine deutliche Zunahme von Aggressionen gegenüber Algeriern binnen weniger Tage, und zwar sowohl in Hayange, Knutange, Algrange als auch in Florange48 . Verstöße gegen die Verhaltensregeln des MNA erwiesen sich für Algerier auch in der Industrieregion zwischen Thionville und Metz zunehmend als hohes Risiko. Im April wurde ein Algerier, der einem Demonstrationsaufruf des MNA nicht gefolgt war, in Uckange zusammengeschlagen49 . Drei weitere Algerier wurden bei bewaffneten Angriffen von MNA-Aktivisten in einem Wohnheim in Thionville50 und in einem algerischen Café in Nilvange verletzt51 . Sowohl die Anzahl, das Verletzungspotenzial wie auch die Sichtbarkeit der Anschläge des MNA erfuhren im Frühling 1956 eine deutliche Steigerung. Am 17. April berichtete die Gendarmeriesektion von Thionville erstmals über einen Algerier, der aufgrund seiner Weigerung, Beitragszahlungen zu leisten, ermordet worden war52 . Diese in einem Zimmer des abgelegenen Wohnheims La Balastière in Ébange begangene Tat53 ereignete sich erneut an einem Ort, den fast ausschließlich Algerier frequentierten. Dass es nicht bei dieser räumlichen Begrenzung blieb, zeigt der Mord an einem Algerier, der sich mehrfach den Beitragsforderungen der Messalisten verweigert hatte: Ein MNA-Aktivist erschoss ihn am 3. Juni gegen 19 Uhr inmitten einer Menschenmenge von

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Synthèse journalière des renseignements recueillis sur les Nord-Africains du chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 2. Feb. 1956, S. 1, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 731. Note de service du capitaine Aumaitre, commandant de la SG de Thionville, 29. Feb. 1956, SHAT AG à Thionville, 2007 ZM 1/135 904. In der Nacht von 16. auf 17. April griffen mehrere Algerier Sabouri Lounès in Uckange an, der sich nicht an einem Streik beteiligt hatte. Sabouri trug eine Kopfverletzung davon und wurde für drei Wochen krankgeschrieben: Synthèse journalière des renseignements recueillis sur les Nord-Africains du capitaine Aumaitre, commandant provisoirement la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 19. Apr. 1956, S. 1–2, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 731. Le Républicain lorrain, 14. Apr. 1956. Ibid., 16. Apr. 1956. Synthèse journalière des renseignements recueillis sur les Nord-Africains par le capitaine Aumaitre, commandant de la SG de Thionville, 17. Apr. 1956, SHAT AG à Thionville, 2007 ZM 1/135 904. Le Républicain lorrain, 18. Apr. 1956.

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II. Algerische Migranten zwischen Polizei, FLN und MNA

etwa 300 Personen auf der Place du Luxembourg in Thionville54 . Für die algerischen Migranten in Lothringen gab es kaum noch Orte, an denen sie sich vor möglichen Repressalien von MNA-Aktivisten sicher fühlen konnten. Im gesamten Departement Moselle gingen die Aktivisten des MNA während des Jahres 1956 dazu über, die Machtansprüche ihrer Organisation durch die Ausübung von Gewalt auch in aller Öffentlichkeit zu demonstrieren. In der Departement-Hauptstadt Metz äußerte sich dies zwischen Mai und August in einer Serie von sieben mit Schusswaffen durchgeführten Anschlägen auf offener Straße oder in Gaststätten. Dabei wurden drei Algerier ermordet und acht teilweise schwer verletzt55 . Ebenso wie für Forbach kann auch für Metz gezeigt werden, dass die Attentate auf eine bewaffnete Schocktruppe lokaler Aktivisten des MNA zurückzuführen waren. Im Fall der Hauptstadt Moselles wurde das fünfköpfige Kommando56 von der Ebene der kasma angeleitet. Einmal pro Woche trafen sich deren Chef und die vier Verantwortlichen der Sektionen von Metz57 , um die allgemeine Entwicklung der Organisation bezüglich ihrer Mitglieder und der Finanzen zu evaluieren sowie Strafexpeditionen anzuordnen. Ein Sektionschef, Mohamed Bahri, der nicht der Schocktruppe angehörte, verwaltete die Schusswaffen. Der Chef der kasma erstattete dem regionalen Verantwortlichen über jede Operation Bericht58 . Dieses Prozedere funktionierte solange, bis ein Mitglied der Schocktruppe im August 1956 einen französischen Polizisten bei einem Schusswechsel schwer verletzte. Die fast unmittelbare Folge war die weitgehende Zerschlagung der Organisation des MNA auch über die Stadt Metz hinaus.

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Bei dem Opfer handelte es sich um Djouambi Ferhand (*1921 Sejnizalla, Constantine): Synthèse journalière des renseignements recueillis sur les Nord-Africains du capitaine Aumaitre, commandant provisoirement la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 5. Juni 1956, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 731. Siehe die Auflistung in: Le Républicain lorrain, 22. Aug. 1956. Dieses Kommando unterstand dem Sektionschef Merabet Bachir. Er leitete die beiden Attentäter Ghiat Ahmed und den flüchtigen Nemmour Ahmed sowie zwei Informanten namens Boukadem Yahia und Reghrag Ikhief (genannt Soudani) an. Die MNA-kasma von Metz wurde bis dahin von Ali Becke Ahmed, genannt Si Ahmed, und dessen Stellvertreter Ben Salah Mohamed geleitet. Die Chefs der vier Sektionen, die ihnen unterstanden, waren Merabet Bachir, Bahri Mohamed Chérif, Dahnoune Brahim und der flüchtige Dahani. Le chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, au général, commandant régional de la gendarmerie nationale de la 6e région militaire, 21. Sep. 1956, Annex, S. 4, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 731.

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2. Niedergang der Messalisten im lothringischen Grenzgebiet

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2.3. Der Anschlag auf das Café La Ville d’Oran in Metz und seine Folgen Am 13. August 1956 erlebte die Stadt Metz den Schlusspunkt einer seit Mai andauernden Serie von Attentaten gegen Algerier. Um 13.30 Uhr drangen zwei Mitglieder der örtlichen MNA-Schocktruppe in das Café La Ville d’Oran ein und erschossen den Algerier Elouali Abdelkader, der gerade in einem Hinterzimmer mit dem Wirt Titsaoui zu Mittag aß. Die Schüsse erregten die Aufmerksamkeit einiger Passanten, die den vorbeifahrenden Brigadier Nicolas Guerder alarmierten. Guerder nahm mit seinem Moped die Verfolgung eines der zu Fuß fliehenden Attentäter auf und konnte ihn in der Rue Paixhans zunächst stellen. Er durchsuchte ihn jedoch nicht und wurde von dem Aktivisten mehrfach angeschossen. Beide Attentäter entkamen59 . Dieses Ereignis, das den ersten Angriff algerischer Aktivisten auf einen Polizisten in Lothringen während des Algerienkriegs markierte, läutete in mehrfacher Hinsicht eine Wende ein. Aus Sicht des »Républicain lorrain« hatte der »nordafrikanische Terrorismus« mit diesem Attentat eine neue Qualität erreicht, die insbesondere im Hinblick auf die Gefährdung der europäischen Bevölkerung alarmierend war: Metz erlebt zurzeit eine wahre Welle des nordafrikanischen Terrorismus. Nachdem bislang lediglich muslimische Franzosen Opfer dieser Angriffe waren, so hat das Verbrechen von gestern Nachmittag bewiesen, dass die Mörder der Strafexpeditionen nicht zögerten und ohne Zweifel auch in Zukunft nicht zögern werden, auf Europäer zu schießen. Dies ist der Grund, warum dieser Fall [. . . ] so außergewöhnlich schwerwiegend ist, was auch die Gesichter der Polizeibeamten widerspiegelten. Sie haben nun die schwere Aufgabe, die Sicherheit zu wahren und bleiben dabei an Gesetzestexte gebunden, die in der aktuellen Situation nicht mehr angemessen sind60 .

Während in der regionalen Presse Forderungen nach einer Ausweitung der Polizeikompetenzen laut wurden, konnten die französischen Ordnungskräfte schon nach wenigen Tagen einen umfassenden Erfolg gegen die Organisation des MNA in der Region landen. Mit Hilfe eines lokalen Informanten wurde zunächst Ghiat Ahmed verhaftet, der nicht nur seine Beteiligung an dem Attentat in der Rue Basse-Seille zugab. Er gestand darüber hinaus seine Teilnahme an mehreren der zuvor in Metz durchgeführten Attentate und lieferte den Beamten auch die Namen seiner Komplizen61 . So konnte die Polizei am

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Le Républicain lorrain, 14. Aug. 1956. Ibid. Die sehr ausgiebige Informationsbereitschaft Ghiat Ahmeds ist aus heutiger Sicht überraschend. Der nicht weiter erläuterte Hinweis des Präfekten von Moselle, man habe ihn gekonnt verhört (»habilement interrogé«), wirft ebenso wie der Bericht des »Républicain lorrain«, Ghiat Ahmed sei sieben Stunden lang verhört worden, Fragen bezüglich der Ermittlungsmethoden der lothringischen Polizisten auf: ibid., 22. Aug. 1956.

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II. Algerische Migranten zwischen Polizei, FLN und MNA

20. und 22. August 1956 mehrere Mitglieder des MNA verhaften62 und erhielt erstmals einen umfassenden Einblick in die ihr bis dahin wenig bekannte regionale Struktur der Organisation. Neben der Zerschlagung der gesamten kasma von Metz wog für den MNA insbesondere die Verhaftung des für Nord- und Ostfrankreich zuständigen chef régional Abdelkader Ghalmi, genannt Si Larbi, besonders schwer. Dieser hatte im Saarland in Bexbach gewohnt und war zwei Tage nach dem Mord im La Ville d’Oran von drei Mitgliedern der kasma von Metz aufgesucht worden, welche fünf Tage später in die Fänge der Polizei gerieten63 . Alarmiert durch ihre französischen Kollegen, griff die saarländische Polizei am 26. August Ghalmi, den contrôleur régional des Bezirks Metz Si Ahmed Lakhdar ben Tahar, den Chef der kasma von Metz sowie zwei weitere MNA-Aktivisten, Ghouti und Kaldoun, bei der Grenzüberquerung auf und lieferte sie ihren französischen Kollegen in Forbach aus64 . Am 6. September wurde der zweite Attentäter des Anschlags auf La Ville d’Oran im Departement Nord gefasst65 . Schließlich verhafteten Gendarmerie und BST in der Nacht auf den 7. September auch noch den designierten Nachfolger Ghalmis, Benoudina Zoubir, sowie den Chef der kasma von Thionville, Derbouz Tahar und einen weiteren MNA-Aktivisten, Beida Djedid. Infolge des Anschlags auf La Ville d’Oran und der Schüsse auf den französischen Brigadier verhaftete die Polizei somit in weniger als einem Monat 23 zum Teil hochrangige Aktivisten des MNA, beschlagnahmte interne Berichte und Propagandamaterial und stellte 18 Handfeuerwaffen sowie ein Schnellfeuergewehr sicher66 . Die Verhaftungen von Führungskadern und Mitgliedern der Schocktruppen des MNA schwächten die Organisation an ihren zwei empfindlichsten Stellen. Davon hingen die Anleitung des gesamten Apparats und der Einfluss auf die algerischen Migranten entscheidend ab. Auch wenn der MNA im August 1956 unter den rund 16 000 Algeriern des Departements noch immer knapp 1000 feste Mitglieder zählte67 und auf der Ebene der Region über einen monatlichen Haushalt von über 1 Million Franc verfügte68 , wurde die Erosion 62

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Es handelte sich um Dahnoune, Bahri, Merabet, Ben Amara, Rachedi, Lifa, Kadri und Amara. 48 Stunden später wurden Ben Salah, Boukacem, Reghrag, Fettalah und Guessas verhaftet. Ben Salah, Boukacem und Reghrag. Der genaue Zeitpunkt dieser Verhaftung konnte nicht ermittelt werden. Der knappe Bericht des »Républicain lorrain« über dieses Ereignis legt den 24. August nahe: Le Républicain lorrain, 25. Aug. 1956. Le préfet de la Moselle, inspecteur général de l’administration à monsieur le ministre de l’Intérieur, cabinet – SCINA, direction générale de la Sûreté nationale (cabinet), 10. Sep. 1956, S. 3f., AdM 370 W 1. Ibid., S. 1–3. Der Präfekt von Moselle, Jean Laporte, beließ es in seinem Bericht bei dieser vagen Angabe. Der »Républicain lorrain« schrieb, der MNA zähle in Moselle 935 Mitglieder. Le préfet de la Moselle, inspecteur général de l’administration à monsieur le ministre de

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seiner Machtstellung in Moselle im Anschluss an die Verhaftungen offensichtlich. Sowohl der »Républicain lorrain«69 , der Befehlshaber der Gendarmerie70 als auch der Präfekt von Moselle71 meldeten eine positive Reaktion der meisten Algerier auf die Festnahmen, was sich insbesondere in einem deutlichen Rückgang des Boykotts von Tabak und Alkohol zeige. Bereits am Tag nach der Verhaftung des Kommandos um Merabet Bachir hätten demnach wieder zahlreiche Algerier in Metz Cafés und Bars aufgesucht, die sie vorher systematisch gemieden hatten. Infolge der Verhaftungen von Forbach im März und von Metz im August und September mussten im Herbst 1956 auch die Messalisten im Fensch-Tal einen schweren Schlag hinnehmen. Am 14. November nahm die Gendarmeriebrigade von Uckange vier chefs de section und einen Kontrolleur der örtlichen Organisation fest72 . Nach dem über mehrere Monate hinweg andauernden Aufflammen der Gewalt gegen Algerier in Moselle befand sich der Einfluss des MNA somit innerhalb des gesamten Departements Moselle im freien Fall. Dies erleichterte den Aufstieg des FLN, dessen bis dahin weitgehend unabhängig voneinander agierende Aktivisten in Lothringen erst in dieser Phase zueinanderfanden und das Netzwerk des FLN auch auf den lothringischen Grenzraum erweiterten.

2.4. Der offene Konflikt mit den französischen Kommunisten Im ersten Jahr des Algerienkriegs standen viele französische Kommunisten und insbesondere deren Gewerkschaft CGT zunächst noch an der Seite der algerischen Rebellen. In Anknüpfung an die bis dahin geleistete Unterstützung für den MTLD sprach sich die CGT mehrfach gegen die Repressionen in Algerien und für ein Ende des kolonialen Regimes aus. Führende Vertreter der Gewerkschaft gaben mit Blick auf Algerien vor, Verständnis für alle Patrioten

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l’Intérieur, cabinet – SCINA, direction générale de la Sûreté nationale (cabinet), 10. Sep. 1956, AdM 370 W 1. Le Républicain lorrain, 26. Aug. 1956. Le chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, au général, commandant régional de la gendarmerie nationale de la 6e région militaire, 21. Sep. 1956, S. 18, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 731. Le préfet de la Moselle, inspecteur général de l’administration à monsieur le ministre de l’Intérieur, cabinet – SCINA, direction générale de la Sûreté nationale (cabinet), 10. Sep. 1956, S. 4, AdM 370 W 1. Synthèse journalière des renseignements recueillis sur les Nord-Africains du chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 17. Nov. 1956, S. 1, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 731.

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zu haben und verbanden ihre sozialen Forderungen mit dem Anliegen, gegen jede Art der Repression und der Diskriminierung vorzugehen73 . In Lothringen hängte der PCF im Dezember 1955 gar deutsche und französische Plakate auf, die gegen »die Politik der Regierung in Nordafrika« gerichtet waren74 . Letztendlich konnten sich die französischen Kommunisten jedoch nicht dem Sog der Spaltungen entziehen, die der Algerienkrieg zwischen den Verfechtern der »Algérie française«, deren Gegnern, aber auch innerhalb der beiden Lager vorantrieb. Nach dem Verbot des PCA im September 1955 schlossen sich zunächst viele algerische Kommunisten dem FLN an75 . Im Dezember folgten alle in französischen Kammern noch verbliebenen algerischen Abgeordneten dem Aufruf des FLN, ihre Mandate abzugeben76 . Die ehemals im MTLD aktiven »Zentralisten« hatten sich zu diesem Zeitpunkt bereits dem FLN angeschlossen. Im Januar 1956 taten es ihnen die führenden Kader der UDMA gleich und beschlossen die Auflösung ihrer Organisation77 . Indessen war die Position der CGT zu dem Konflikt mehrfach ins Zwielicht geraten. So etwa, als auf einer Kundgebung zum 1. Mai 1955 in Vincennes trotz der Präsenz zahlreicher algerischer Arbeiter die Redner des MNA vom Podium ausgeschlossen wurden78 . Auf algerischer Seite erregte auch Unmut, dass einige Eisenbahner der CGT nach den Massakern, die auf den 20. August 1955 folgten, an einer Propagandaveranstaltung des Gouverneurs Jacques Soustelle teilnahmen79 . Zum Ende des Jahres wurde sowohl innerhalb des FLN als auch des MNA über die Möglichkeit debattiert, aus praktischen, vor allem aber aus symbolischen Gründen eine eigene algerische Gewerkschaft zu gründen. Auf Seiten der Messalisten waren es dann vor allem ehemalige CGT-Mitglieder, die diese Idee umsetzten80 . Der endgültige Bruch der algerischen Nationalisten mit den französischen Gewerkschaften erfolgte nach den französischen Parlamentswahlen im Februar 195681 . Der neue Ministerpräsident Guy Mollet hatte den Wahlkampf 73

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René Gallissot, Syndicalisme et nationalisme. La fondation de l’Union générale des travailleurs algériens, ou Du syndicalisme CGT au syndicalisme algérien (1954 – 1956 – 1958), in: Le Mouvement social 66 (1969), S. 7–50, hier S. 17. Le capitaine Aumaitre, commandant de la SG de Thionville: Synthèse journalière des renseignements recueillis sur les Nord-Africains, 15. Dez. 1955, SHAT AG à Thionville, 2007 ZM 1/135 903. Gallissot, Syndicalisme et nationalisme, 1969, S. 18. In keinem französischen Parlament waren in der Folge noch Algerier vertreten: Meynier, Histoire intérieure du FLN, S. 180. Stora, Daoud, Ferhat Abbas, S. 241. Benjamin Stora, L’union des syndicats des travailleurs algériens USTA. La brève existence du syndicat messaliste (1956–1959), in: Le Mouvement social (1981), S. 95–122, hier S. 103. Gallissot, Syndicalisme et nationalisme, S. 18. Es waren die Funktionäre Abdallah Filali, Abderrahmane Bensid, Mohammed Ramdani, Abdelkader Tefaha und Ahmed Bekhat: Stora, L’Union des syndicats des travailleurs algériens, S. 97. Gallissot, Syndicalisme et nationalisme, S. 19.

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der Section française de l’Internationale ouvrière (SFIO) unter anderem mit dem Slogan »Frieden in Algerien« geführt. Nach seinem Antrittsbesuch in Algerien zeigte er sich jedoch von der Aggressivität der französischen Siedler derart beeindruckt82 und für den Einfluss ihrer Lobby so empfänglich, dass er schon vier Tage nach der Wahl eine Kehrtwende seiner Algerienpolitik einleitete. Anstatt, wie im Wahlkampf angekündigt, Verhandlungen mit den Rebellen vorzubereiten, bereiteten die französischen Sozialisten nun eine Ausweitung des rechtlichen Rahmens für eine Steigerung der Repressionen vor. Der PCF signalisierte dazu seine Unterstützung. In diesem Kontext gründeten MNA-Aktivisten am 14. Februar 1956 in Algier die erste algerische Gewerkschaft, die Union syndicale des travailleurs algériens (USTA). Wenige Tage darauf erwuchs ihr in der Gestalt der vom FLN kontrollierten UGTA eine direkte Konkurrenz, sodass sich der inneralgerische Konflikt auch auf das Gebiet der Arbeitsbeziehungen ausdehnte83 . Zugleich entstand ein weiteres Feld der franko-algerischen Auseinandersetzung, das nicht vom FLN, sondern von französischen Kommunisten und Messalisten eröffnet wurde. Einen Monat nach der Gründung der USTA entbrannte zwischen den Messalisten und den französischen Kommunisten infolge der Verabschiedung des Gesetzes über Sondervollmachten der Regierung in Algerien, die pouvoirs spéciaux, eine offene Feindschaft84 . Die kommunistische Fraktion stimmte in der Nationalversammlung geschlossen dafür, woraufhin zahlreiche algerische Parteimitglieder den PCF verließen. Die CGT setzte sich in der Folge zwar weiterhin für »Frieden in Algerien« ein, verzichtete jedoch bis in die Endphase des Algerienkriegs auf Solidaritätsbekundungen bezüglich der »nationalen Bestrebungen des algerischen Volkes«85 . Während der FLN einen Modus Vivendi mit der CGT fand, gingen die Messalisten zu den französischen Kommunisten auf direkten Konfrontationskurs. Seit Beginn des Jahres 1956 integrierte die MNA-Propaganda sie in die Reihe der »Feinde«, »Verräter« und »Kolonialisten«, die es aus ihrer Sicht zu bekämpfen galt. Auch in Lothringen verwandelte sich das ehemalige Bündnis zwischen den Messalisten und der CGT durch den Algerienkrieg in eine erbitterte Feindschaft. Die CGT hatte bereits unmittelbar nach den ersten Anschlägen in Algerien ihre Anstrengungen zur gewerkschaftlichen Rekrutierung algerischer Arbeiter in Moselle intensiviert, die den Berichten zufolge jedoch kaum Erfolge im Sinne neuer Mitgliedschaften von Algeriern gezeigt hatten86 . In 82 83 84 85

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Guy Mollet wurde bei seiner Ankunft in Algerien mit allerlei Gemüse beworfen, sodass der Tag später als »journée des tomates« bezeichnet wurde. Stora, L’Union des syndicats des travailleurs algériens. Pitti, La CGT et les Algériens. Dies., Der Algerienkrieg bei Renault-Billancourt (1954–1962). Eine »Arbeiterfestung« auf dem Prüfstand, in: Jürgen Danyel, Patrice G. Poutrus (Hg.), Der Algerienkrieg in Europa (1954–1962). Beiträge zur Geschichte eines transnationalen Phänomens, Berlin 2007, S. 124–141, hier S. 136f. Im November 1954 organisierte die Gewerkschaft in Knutange und in Créhange-Cité

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Meurthe-et-Moselle konstatierten die RG seit Beginn des Jahres 1956 einen Rückgang der Anzahl algerischer CGT-Mitglieder. Ein Bericht von Mitte des Jahres 1956 zitierte den für das Departement zuständigen Kader der Gewerkschaft Marcel Dupont mit den Worten: »Bis auf wenige Ausnahmen haben wir die Kontrolle über alle algerischen Arbeiter verloren«87 . Infolge der Gründung der ersten USTA-Sektion Lothringens am 18. Juni 1956 in Hagondange entstand auf der Ebene der Gewerkschaften eine neue Rivalität. Der Leiter der neuen USTA-Sektion, Boudjani Ben Amar ould Mohamed, war zuvor noch Mitglied in der CGT gewesen und im Dezember 1955 auf einer Liste der Gewerkschaft zum Betriebsrat der UCPMI gewählt worden88 . Er stand in direktem Kontakt zu dem für die USTA in Ostfrankreich verantwortlichen Mechouche Brahim89 , welcher wiederum der am 26. März 1956 in Paris gegründeten französischen Föderation der USTA unterstellt war90 . Dass die Sektion von Hagondange in den ersten Monaten nach ihrer Gründung kaum in Erscheinung trat91 , lässt nicht zwangsläufig darauf schließen, dass die Gründung lediglich auf eine strategische Initiative aus den oberen Reihen des MNA zurückging. Die Messalisten verfügten unter den Arbeitern der UCPMI über einen beträchtlichen Einfluss, wie insbesondere die hohe Beteiligung an dem Streikaufruf des MNA am 19. März 1956 verdeutlicht. 128 von insgesamt 227 algerischen Arbeitern des Unternehmens hatten an jenem Tag die Arbeit niedergelegt92 . Mit Boudjani befand sich unter ihnen auch ein erfahrener Gewerkschafter, der in der Lage war, eine unabhängige Organisation in Konkurrenz zur CGT aufzubauen. Er und die elf weiteren

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Veranstaltungen, die sich explizit an »Nordafrikaner« richteten und auf deren Einbindung zielten. Im Februar 1955 trieb die CGT in Moselle die Gründung einer comission départementale nord-africaine voran und forderte in allen Betrieben dazu auf, die Anzahl der algerischen Arbeiter im Verhältnis zu den europäischen Arbeitern zu erfassen: Message téléphoné par la gendarmerie de Metz au préfet de la Moselle, 6. Nov. 1954, AdM 252 W 16; Le sous-préfet de Boulay à monsieur le préfet de la Moselle, 5. Nov. 1954, ibid.; Information de la direction générale de la Sûreté nationale, 16. Feb. 1955, ibid. RG de Nancy, note d’information, 9. Apr. 1956, AdM&M 950 W 34. Boudjani hatte seinen damaligen Wohnsitz in Metz in der Rue Chambière: Le directeur départemental des services de police, note de renseignement, 22. Juni 1956, AdM 252 W 16; Le chef d’escadron Gauroy, commandant la compagnie de gendarmerie de la Moselle, au général, commandant régional de la gendarmerie nationale de la 6e région militaire, 21. Sep. 1956, S. 12, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 731. RG de Metz, message, 7. Aug. 1956, AdM 252 W 16. Die französische Föderation der USTA wurde von Ahmed Bekhat, Nadji Mohamed, Semmache Ahmed und Bensid Abderrahmane gegründet: Jacques Simon, La Fédération de France de l’Union syndicale des travailleurs algériens (USTA). Son journal, Paris 2002, S. 12. Im Oktober konstatierte die Polizei in Metz, dass die USTA in Hagondange bisher keinerlei Aufsehen erregt habe: Note d’information du commissaire principal, chef de la BST à Metz, à monsieur le préfet de la Moselle, 8. Okt. 1956, AdM 252 W 16. Le Républicain lorrain, 20. März 1956.

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Gründungsmitglieder der Sektion von Hagondange hatten lediglich gemeinsam, dass sie bei der UCPMI arbeiteten und sich an dem Streik vom 19. März 1956 beteiligt hatten. Sie waren nicht miteinander verwandt und kamen aus völlig unterschiedlichen Regionen Algeriens93 . Zumindest in den ersten Monaten nach der Gründung war die Funktion der Sektionsmitglieder rein passiv und bestand vor allem in der Entrichtung eines regelmäßigen finanziellen Beitrags an die USTA94 . Erst im Oktober 1956 begann die USTA in Moselle ihre Propagandaoffensive gegen die CGT und ließ unter den Arbeitern in Hagondange das erste »Bulletin intérieur« der USTA kursieren. Darin wurden zwar die Kameradschaft und die gemeinsamen Probleme der algerischen und der französischen Arbeiterklasse unterstrichen, aber auch eine verbitterte Abrechnung mit den französischen Kommunisten vollzogen. Demnach hätte die bisherige Kooperation der Unabhängigkeitsbewegung unter Messali Hadj mit der CGT gezeigt, dass letztere lediglich an den Stimmen der algerischen Arbeiter interessiert gewesen sei und sie von dem Ziel der Unabhängigkeit habe abbringen wollen. Die USTA betonte, dass sich der Erfolg gewerkschaftlicher Aktivitäten an politischen Folgen zu messen habe und die Problemlagen algerischer Arbeiter im Zusammenhang mit der Besatzung Algeriens zu sehen seien. Daher wurde sowohl die Abwendung von der CGT als auch die Gründung einer algerischen Gewerkschaft als einzig echter Vertretung der Interessen algerischer Arbeiter als konsequent bezeichnet95 . Im Januar 1957 ging die CGT-Sektion von Hagondange zum Gegenangriff über und verteilte unter den Arbeitern der UCPMI ein Flugblatt, das die lokalen USTA-Aktivisten offen diskreditieren sollte. Zunächst wurde hervorgehoben, dass eine Delegation der CGT am 30. Januar 1957 aufgrund von diskriminierenden Maßnahmen gegenüber algerischen Arbeitern bei der Direktion der UCPMI Protest eingelegt hatte. Dann präsentierte sich die CGT als Beschützerin der Interessen der algerischen Arbeiter, während die USTAAktivisten als Spalter der Arbeiterklasse und Agenten der Arbeitgeber und der Polizei angeklagt wurden96 . Die USTA in Hagondange reagierte auf diese Kampfansage mit einer Gegendarstellung auf einem eigenen Flugblatt, das ebenfalls in dem Betrieb verteilt wurde. Der Text erinnerte darüber hinaus daran, dass einige Minister der französischen Regierung – die im Mai 1945 die Repressionen angeordnet hatte, denen angeblich 45 000 Algerier zum Opfer gefallen seien – CGTMitglieder waren. Die daraus zu ziehende Lehre war aus Sicht der jungen

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Note d’information, 21. Juni 1956, AdM 252 W 16. In Hagondange lagen die von der USTA erhobene Einschreibegebühr bei 200 Franc und der Monatsbeitrag bei 120 Franc: ibid. Bulletin intérieur de l’USTA, Nr. 1, Okt. 1956, AdM 252 W 16. Simon, La Fédération de France (journal), S. 21.

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Gewerkschaft, dass die kommunistische Gewerkschaft nicht die Interessen der Algerier vertrete und dies auch niemals getan habe: Die CGT vergießt Krokodilstränen, verteilt Flugblätter und schreibt Artikel, aber sie bewegt sich nicht und wird sich auch nicht bewegen. Denn wie schon 1945 steht die CGT nicht auf der Seite der algerischen Arbeiter. [. . . ] Kein Vertrauen in die CGT, die weder in Algerien noch in Frankreich jemals die Rechte der algerischen Arbeiter vertreten hat97 .

Mit der Gründung der USTA schlugen die Messalisten in Lothringen nun auch gegenüber den französischen Kommunisten einen offenen Konfrontationskurs ein. Die Aktivitäten der neuen Organisation beschränkten sich jedoch keineswegs auf antikoloniale Gewerkschaftsarbeit. Vielmehr nutzten die Messalisten die USTA in zunehmendem Maße als legale Plattform für die Propagierung ihrer politischen Inhalte, die Anwerbung von Aktivisten und die Eintreibung von Geldern. In Lothringen markierte die Gründung der Sektion von Hagondange somit den Ausgangspunkt einer strategischen Neuorientierung der Messalisten. Da sie unter dem Siegel MNA nicht öffentlich auftreten durften, versuchten sie die algerischen Migranten in der Region über die USTA zu erreichen und für ihre Ziele zu gewinnen. Zu diesem Zweck nahmen sie bewusst eine Kompromisshaltung gegenüber den französischen Behörden ein: Die USTA stellte Anträge, informierte über ihre Treffen und passte sogar einige ihrer Inhalte und Botschaften den Bedingungen des französischen Strafrechts an, wie zum Beispiel bei der Kundgebung der USTA am 12. Mai 1957.

2.5. Die Kundgebung der USTA am 12. Mai 1957 in Metz Der Tag der Arbeit des Jahres 1957 war die erste große Gelegenheit für die USTA, in der Umgebung von Metz mit einer größeren Aktion für ihre Ziele zu werben. Die USTA hatte im Vorfeld des 1. Mai 100 000 Flugblätter drucken lassen, auf denen sie die algerischen Arbeiter in der Metropole dazu aufrief, an den Maiveranstaltungen der Gewerkschaft teilzunehmen. Dabei verortete sich die USTA durchaus in der Tradition der internationalen Arbeiterbewegung, hob aber noch mehr die spezifisch algerischen Bestrebungen hervor, indem sie beispielsweise »das Recht des algerischen Volkes, über sich selbst zu bestimmen«, einforderte98 . In Metz beantragte der USTA-Funktionär Boudjani bei der Präfektur, am 1. Mai eine öffentliche Veranstaltung in der Hauptstadt des Departements abhalten zu dürfen. Die Erlaubnis wurde zwar lediglich für den 97 98

Ibid., S. 22f. Ministère de l’Intérieur à direction des affaires d’Algérie, secrétariat: édition de tracts de l’USTA, 26. Apr. 1957, AMAE, SEAA, 1959–1961, c. 28.

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12. Mai erteilt, dennoch zeigte sich die USTA weiterhin kooperativ. Fünf Tage vor Beginn der Veranstaltung sicherte die Sektion von Metz dem Präfekten von Moselle schriftlich den ordnungsgemäßen Ablauf der Versammlung zu und kündigte an, dass es einen Ordnungsdienst geben werde und außerhalb des Versammlungsortes kein Defilee oder gar eine Demonstration stattfinden sollte99 . Trotz dieser Ankündigung beantragte der Präfekt am 10. Mai beim Innenministerium die vollständige Mannschaft der CRS 72 für den 12. Mai 1957 ab 8 Uhr morgens, damit diese angesichts der Versammlung der USTA die öffentliche Ordnung sichern könne100 . Die CRS wurde entsandt. Ihr Eingreifen war jedoch nicht nötig, da die USTA wie angekündigt einen eigenen Ordnungsdienst eingerichtet hatte, der einen kontrollierten Ablauf der gesamten Veranstaltung sicherstellte. Einem Polizeibericht zufolge stand vom Rande des Messegeländes an, wo die Veranstaltung stattfand, bis in die beiden Viertel Chambière und Pontiffroy etwa alle 50 Meter ein Algerier mit einer grünen Armbinde mit den Insignien der USTA101 . Am Ende der Veranstaltung verließen die Anwesenden das Gebäude in drei Stößen, nachdem die Veranstalter zuvor jede Form der Demonstration im Anschluss untersagt hatten102 . Mit diesen akribischen Kontrollmaßnahmen demonstrierten die Messalisten ihre Stärke gegenüber den 250 bis 300 anwesenden Algeriern103 und zeigten sich zugleich gegenüber der Präfektur als verlässlich. Die Veranstaltung lieferte einen guten Überblick über die Ziele der USTA, sowohl auf regionaler als auch auf überregionaler Ebene. Zwischen 10 und 12.30 Uhr sprachen an diesem Sonntag in Metz acht Redner in französischer und arabischer Sprache104 über regionale und nationale Themen. Den Höhepunkt sollte der Vortrag des USTA-Generalsekretärs Ahmed Bekhat darstellen, der die moderate Haltung der Gewerkschaft deutlich zum Ausdruck brachte. So führte Bekhat bezüglich der Abgrenzung zur kommunistischen Partei aus, dass er im Zweifelsfall den französischen Kolonialismus dem russischen Imperialismus vorziehen würde. Darüber hinaus appellierte er an die französische Regierung, dass man verhandeln müsse, anstatt Patrioten von Kolonialisten ermorden zu lassen. Eine direkte Forderung nach der algerischen Unabhängigkeit sprach er nicht aus105 . 99 100 101 102 103 104 105

Lettre de l’union locale de l’USTA de Metz au préfet de la Moselle, 7. Mai 1957, AdM 252 W 16. Le préfet de la Moselle à monsieur le directeur général de la Sûreté nationale, 10. Mai 1957, ibid. Note d’information [annexée à la lettre du commissaire central de Metz à M. le préfet de la Moselle], 13. Mai 1957, ibid. Le Républicain lorrain, 11. Mai 1957. Die RG schätzten die Teilnehmerzahl auf 300, der Kommissar von Metz hingegen gab ihre Zahl mit 250 an. Nach Angaben der RG wechselten einige Redner auch zwischen den beiden Sprachen. Le Républicain lorrain, 11. Mai 1957.

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Nachdem der Generalsekretär die grundlegenden Ziele der Gewerkschaft zum Ausdruck gebracht hatte, gingen die lokalen Vertreter der USTA in ihren Reden auf die Probleme algerischer Arbeiter vor Ort ein. So beklagten etwa Mesbahi Messaooud, Boukarouba und Djaroubi die Schwierigkeiten der Algerier bei der Arbeitsfindung in der Region, während Italiener und Ungarn ohne Probleme eingestellt würden. Boudjani Ben Amar sprach zunächst über die aktuelle Situation in Algerien, wonach er auf die Verachtung zu sprechen kam, die vielen Algeriern in Frankreich entgegengebracht werde. Mechouche Brahim, der regionale Verantwortliche der USTA, legte den Anwesenden nochmals die zentralen sozialen und politischen Forderungen der Gewerkschaft dar. Diese umfassten eine Erhöhung der Löhne, Verbesserungen der Unterkunftssituation, Reisefreiheit zwischen Algerien und der Metropole, ein Ende der Feindschaft und der Repression sowie die Anerkennung der Freiheit des algerischen Volkes. Mohamed, der Sohn Boudjanis, las einen arabischen Vers vor, der aus dem Koran stammte und sich auf Vaterlandsliebe und Unabhängigkeit bezog. Zuletzt wandte sich auch der CFTCFunktionär Émile Heintz vom Podium aus an die Anwesenden und sprach die Unterstützung und Grüße seiner Gewerkschaft aus106 . Die Inhalte der Beiträge zeigen deutlich, dass die USTA anhand des Aufzeigens konkreter Missstände, die den Alltag und die Zukunftsperspektiven der Algerier betrafen, durchaus als legitime Vertreterin der Interessen der Migranten angesehen werden konnte. Zum Zeitpunkt der Veranstaltung waren alle Algerier in der Region einerseits auf die eine oder andere Weise mit den Auswirkungen des Kolonialkriegs unmittelbar konfrontiert und wussten andererseits um die widrigen Arbeits- und Wohnbedingungen der Mehrzahl ihrer Landsleute. Da davon auszugehen ist, dass sie sich in beiden Punkten Verbesserungen wünschten, wäre es verfehlt, die Anwesenden dieser Veranstaltungen vorab als Agitatoren, Opfer oder gar indoktrinierte Nationalisten einzuordnen. Der durchaus naheliegenden Möglichkeit, dass Druck auf Algerier in Metz ausgeübt wurde, damit sie dem Treffen beiwohnten, steht nicht entgegen, dass die verschiedenen Redner der USTA Inhalte vortrugen, die einen großen Teil des Auditoriums durchaus interessiert haben dürfte. Die Vorbereitung, der Verlauf und das Ende der Veranstaltung zeigen außerdem, dass die USTA sehr darauf bedacht war, ihren legalen Status nicht einzubüßen. Dies wurde, neben der Kommunikation mit der Präfektur und dem Vorgehen des eigenen Ordnungsdienstes, auch am Inhalt einiger Reden deutlich. So erwähnte Ahmed Bekhat explizit in seiner Rede, dass er sich nicht für die Unabhängigkeit Algeriens aussprechen dürfe. Boudjani Ben Amar, der Präsident, merkte auf dem Podium an, dass er nicht alles sagen dürfe, was er denke. Weniger vorsichtig waren dagegen Boukarouba und Djaroubi. Sie rie-

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RG de Metz, message, 13. Mai 1957, AdM 252 W 16.

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fen offen dazu auf, die »Brüder« in Nordafrika zu unterstützen, die dort den »heiligen Krieg« führten107 . Die USTA entpuppte sich auf der Veranstaltung vom 12. Mai 1957 als neue legale Plattform der Messalisten. Ihre Vertreter konnten in Metz ungestört vor etwa 300 Algeriern ihre Forderungen verkünden und von ihnen Beiträge einsammeln108 , weil sie sich vorab und auch in ihren Reden an den roten Linien der französischen Zensur orientierten. Ahmet Bekhat, der beteuert hatte, keiner politischen Organisation anzugehören, ließ am Ende seiner Rede Messali Hadj hochleben. Spätestens danach musste allen Anwesenden klar sein, dass sie einen Anhänger des MNA vor sich hatten109 . Die Nähe zwischen MNA und USTA war auch der französischen Polizei bewusst. Dass sie die Messalisten in dieser Phase des Krieges ein Stück weit gewähren ließ, war nur zu einem geringen Anteil dem Status der Gewerkschaft und den Bestimmungen der französischen Rechtsordnung geschuldet. Letztere wurde im Zuge des Algerienkriegs in einer Weise zu einem Instrument der Überwachung und Repression entwickelt, dass es Justiz und Polizei auch vergleichsweise leichtgefallen wäre, die USTA-Mitglieder aufgrund ihrer Verbindungen zum MNA zu verhaften110 . Dass jene Veranstaltung in Metz abgehalten wurde und es (heute einsehbare) Berichte darüber gibt, war in erster Linie einer strategischen Erwägung bezüglich des Gesamtgeschehens des Algerienkriegs geschuldet. Der FLN hielt mit seinen Anschlägen in Algerien – seit Beginn des Jahres 1957 vor allem in Algier – ganz Frankreich in Atem und erreichte mit seinen diplomatischen Initiativen bei der UNO international immer mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung. In dieser Situation schien es den von Paris aus angeleiteten Präfekturen angezeigt, den Gegenspieler des sich auch in ihrer Region ausbreitenden FLN innerhalb enger Grenzen gewähren zu lassen. Die Messalisten hatten aus Sicht des französischen Staates vor allem den Vorzug, dass sie unter dem Siegel USTA durchaus zu Kompromissen mit der Staatsmacht bereit waren, ihre größeren Veranstaltungen in einem vorgegebenen Rahmen abhielten und damit auch die Möglichkeiten polizeilicher Überwachung verbesserten. Émile Vie, Direktor der RG, beschwerte sich zwar gegenüber dem Direktor seiner Behörde in Metz darüber, dass dieser ihn erst einen Tag nach dem Treffen darüber informiert und einige wichtige

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Le Républicain lorrain, 11. Mai 1957. Die Gewerkschaftszeitung »La Voix du travailleur algérien« wurde für 25 Franc unter den Algeriern verkauft. Am Ende der Versammlung sammelten vier Mitglieder der Organisation bei den Teilnehmern Gelder ein, um die Kosten dieser Aktion zu decken: Note d’information, annexée à la lettre du commissaire central de Metz à M. le préfet de la Moselle, 13. Mai 1957, AdM 252 W 16. Le Républicain lorrain, 11. Mai 1957. Zur Geschichte der französischen Justiz während des Algerienkrieges siehe Thénault, Une drôle de justice.

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Bild 3: USTA Generalsekretär Ahmed Bekhat bei einer Rede in Metz, 12. Mai 1957

Bild 4: Das Auditorium der USTA-Veranstaltung in Metz, 12. Mai 1957

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Informationen dort offenbar nicht registriert hatte111 . Die vorliegenden Textquellen und Bilder belegen jedoch, dass entweder Polizeiagenten oder zumindest deren Spitzel anwesend waren. Zudem hatte die USTA schon vorab größte Offenheit demonstriert und außer mit Flugblättern auch mit zwei Zeitungsanzeigen im »Républicain lorrain«112 alle Arbeiter zu der Veranstaltung eingeladen, ungeachtet ihrer politischen oder religiösen Zugehörigkeit113 . Im Nachhinein sorgte die USTA auch dafür, dass die wichtigsten Anliegen ihres Treffens öffentlich wurden und gab eine Pressemitteilung heraus, die der »Républicain lorrain« – in deutlich gekürzter Form – auch publizierte114 .

2.6. Von den Risiken einer legalistischen Strategie im Kolonialkrieg Ebenso wie die verschiedenen Redner auf der USTA-Veranstaltung in Metz versuchte auch das Organ der Gewerkschaft »La Voix du travailleur algérien« nicht nur, die Leser für Messali Hadj und die übergeordneten politische Ziele seiner Bewegung zu begeistern. Vielmehr setzte sich die Zeitung der Gewerkschaft auch mit konkreten Alltagsproblemen algerischer Arbeiter auseinander und stellte diese in einen Zusammenhang mit dem französischen Kolonialismus. Die Maiausgabe des Jahres 1957 etwa enthielt einen längeren Artikel über die katastrophalen Wohnbedingungen eines Algeriers, der seit drei Jahren mit seiner Frau und sechs Kindern in einer notdürftig gebauten Baracke in der Nähe von Thionville lebte115 . An einer anderen Stelle befasste sich die gleiche Ausgabe mit dem Rassismus, der Algeriern in Lothringen entgegenschlug, und klagte diesbezüglich explizit die Direktion der UCPMI in Hagondange, die CGT und auch den Polizeikommissar Lacombe aus Metz an116 . Seit dem Frühling 1957 stellte die USTA die Inkarnation der legalistischen Strategie der Messalisten in Lothringen dar. Um innerhalb der engen Vorgaben des französischen Staates wie zu den Zeiten des MTLD größere Versammlungen abhalten zu dürfen, Propaganda zu verteilen und Stellungnahmen in der Öffentlichkeit geben zu können, standen die führenden Mitglieder der Gewerkschaft in direktem Kontakt mit der Presse, der Polizei und der Präfektur. Die Gründung aller Sektionen in der Region wurde veröffentlicht117 . Im Ju111 112 113 114 115 116 117

Le préfet, directeur des RG à monsieur le commissaire principal, chef du service des RG à Metz, 20. Mai 1957, AdM 252 W 16. Le commissaire principal, chef du service départemental des RG à monsieur le préfet de la Moselle, 11. Mai 1957, AdM 252 W 16. Le Républicain lorrain, 11. Mai 1957, AdM 252 W 16. RG de Metz, rapport, 14. Mai 1957, AdM 252 W 16. La Voix du travailleur algérien, Nr. 3, Mai 1957, AdM 252 W 16. Ibid. Im Mai 1957 kündigte die USTA in »La Voix du travailleur algérien« die Gründung einer

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ni 1957 bat der Generalsekretär der USTA den Präfekten von Moselle um die Genehmigung, die Zeitung »La Voix du travailleur algérien« innerhalb des Departements zu verkaufen118 . Einen Monat darauf wandte er sich ein weiteres Mal an den Präfekten, um sich über eine widerrechtliche Durchsuchung des USTA-Büros in Freyming und die Beschlagnahmung von Dokumenten durch die Gendarmerie zu beschweren119 . Im ersten Fall wurde die Erlaubnis erteilt, obgleich es nach geltender Rechtslage lediglich einer Deklaration der Gewerkschaft bedurft hätte. Im anderen Fall blieb die Beschwerde der USTA ohne Folgen. Wie bereits die Aktivisten des MTLD mussten die messalistischen Gewerkschafter trotz des legalen Status ihrer Organisation widerholt Schikanen der Polizei und Gendarmerie über sich ergehen lassen. Ihre Aktivitäten wurden von den Behörden unter Auflagen zwar toleriert, aber auch ausgiebig überwacht. Im Juli 1957 berichteten etwa die RG von Metz, dass der USTA-Verantwortliche für Ostfrankreich, Mechouche Brahim, innerhalb des Departements verschiedene Wohnungen und Wohnheime aufsuche, um die dort lebenden »Nordafrikaner« über die Ereignisse in Algerien zu informieren, ihnen die Situation der algerischen Arbeiter in der Metropole darzulegen und sie dazu aufzufordern, der USTA beizutreten120 . Auch über die personellen Verflechtungen zwischen USTA und MNA waren die lothringischen Sicherheitsdienste informiert. Die Überschneidungen zwischen beiden Organisationen zeigten sich zunächst daran, dass sich die einzelnen Sektionen stets in den Gebieten oder Städten befanden, in denen der MNA unter den algerischen Migranten noch einen gewissen Rückhalt hatte. In Meurthe-et-Moselle befanden sich im Mai 1957 drei von vier Sektionen innerhalb des industriellen Beckens von Longwy121 . Darüber hinaus lagen der Polizei auch detaillierte Informationen über einzelne Sektionen vor. Demnach

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Sektion auf dem Bau in Uckange, in Algrange bei den Unternehmen Wendel und Sollac an. Eine weitere Sektion war für die Kohlearbeiter in Merlebach sowie für die Metallarbeiter von Thionville gegründet worden. Bezüglich Longwy beklagte das Organ der USTA, dass alle lokalen Verantwortlichen ohne Grund verhaftet worden seien und die Polizei zum zweiten Mal in einem Monat auch alle Marken, Karten und andere Materialien der Gewerkschaft beschlagnahmt habe. Als Reaktion sei ein Protestschreiben sowohl an den Bürgermeister als auch an den Präfekten verfasst worden, siehe ibid. Die Anfrage ging auf eine Anordnung eines Polizisten zurück, der die Verkäufer der Zeitung zuletzt aufgefordert hatte, eine Autorisierung der Präfektur für den Verkauf vorzulegen. Obgleich dem Präfekten bewusst war, dass die USTA dafür keine Autorisierung beantragen, sondern nur eine Deklaration abgeben musste, leitete er die Anfrage an den Innenminister weiter: Le préfet de la Moselle, inspecteur général de l’administration à monsieur le ministre de l’Intérieur, 13. Juni 1957, AdM 252 W 16. Le chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, à monsieur le préfet de la Moselle, 9. Sep. 1957, S. 2, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 732. RG de Metz, message, 24. Juli 1957, AdM 252 W 16. Die vier Sektionen der USTA in Meurthe-et-Moselle befanden sich in Mont-SaintMartin, Herserange, Rehon und Nancy: RG de Nancy, message, 23. Mai 1957,

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war der für die USTA-Sektion in Metz Verantwortliche Boudjani Ben Amar auch ein Kader des MNA, der nach Informationen der RG mehrere Algerier im Juli 1957 dazu aufgefordert hatte, sich in Streitfällen nicht mehr an die französischen Behörden, sondern an ihn zu wenden122 . Zu einer Verhaftung Boudjanis kam es zunächst nicht. Zu diesem Zeitpunkt galt im Hinblick auf den Aufstieg des FLN in Moselle bereits die Vorgabe, zumindest die USTA gewähren zu lassen, wie das Protokoll des SCINA des Departements Moselle im Juli 1957 vermerkte: »Um den Aufstieg des FLN zu bremsen (der sich vor allem in Metz bemerkbar macht, wo alle maurischen Cafés mittlerweile unter seiner Kontrolle stehen), ist es momentan angezeigt, der USTA freie Hand zu lassen«123 . Die Strategie der Messalisten, mit der USTA durch den Aufbau eines legalen Ablegers ihren Einflussverlust unter den algerischen Migranten zu bremsen oder gar zu verhindern, ging nicht auf. Von Januar bis Oktober 1957 zog der FLN nicht nur die algerisch-französische, sondern die internationale Aufmerksamkeit durch den sogenannten Kampf um Algier auf sich. Dabei koordinierte der FLN zunächst Streiks und Attentate mit den Zeitpunkten von UNO-Sitzungen, was der Organisation enorme Aufmerksamkeits- und Prestigegewinne verschaffte. Mittels eines umfassenden Überwachungssystems, massenhafter Verhaftungen und dem standardisierten Einsatz von Folter durch die französische Armee war der FLN im Oktober 1957 in Algier zwar zerschlagen, allerdings zweifelte zu diesem Zeitpunkt kaum noch ein Beobachter daran, dass er es war, der die Führung des Unabhängigkeitskriegs innehatte. In Kontrast zur diplomatisch-militärischen Strategie des FLN warf der legalistische Kurs, den die Messalisten mit der Gründung der USTA verfolgten, den MNA in zweifacher Weise zurück. Erstens musste der Einsatz der USTA für die algerische Unabhängigkeit im Vergleich zum FLN, der ausschließlich im Untergrund agierte und die Anerkennung der algerischen Unabhängigkeit als Vorbedingung für jede Verhandlung mit Frankreich stellte, deutlich weniger radikal und auch weniger erfolgreich erscheinen. Die Initiativen und Veranstaltungen der USTA wie etwa ihr erster Kongress vom 28.–30. Juni 1957 in Paris124 erlangten nie einen mit den Anschlägen des FLN oder dessen Vorstößen in der internationalen Politik vergleichbaren Bekanntheitsgrad. Zweitens stellte die USTA nicht nur ein gut sichtbares Zielobjekt für die Überwachung der Polizei und Gendarmerie, sondern auch für Attentate

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AdM&M 950 W 57. Im Februar 1957 zählte die Sektion der USTA in Nancy nach Angaben der RG etwa 110 Mitglieder: RG de Nancy, note, 22. Feb. 1957, AdM&M 950 W 53. RG de Metz, message, 24. Juli 1957, AdM 252 W 16. Procès-verbal de la réunion du SCINA du département de la Moselle, 22. Juli 1957, S. 2, AdM 370 W 1. Einige Quellen zu dem Kongress sind zu finden bei Jacques Simon, La Fédération de France de l’Union syndicale des travailleurs algériens (USTA). Le premier congrès, Juni 1957, Paris 2002.

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des FLN dar. Im Mai 1957 hatte dieser bereits durch ein Massaker an den Bewohnern eines angeblich den Messalisten zugetanen Dorfes in Algerien ein grausames Exempel zum Umgang mit angeblichen Verrätern statuiert125 . Seine rücksichtslose wie auch äußerst medienwirksame Einschüchterung der Messalisten setzte der FLN im Frühherbst 1957 mittels einer Serie von Attentaten gegen führende USTA-Kader fort. Zwischen dem 20. September und dem 7. Oktober erschossen Attentäter des FLN sowohl den Verantwortlichen der USTA für die Region Paris, Ahmed Semmache, den Verantwortlichen für die Renault-Fabriken, Mellouli Saïd, den Kader Hocine Maroc sowie den stellvertretenden Generalsekretär und Herausgeber von »La Voix du travailleur algérien«, Abdallah Filali126 , schließlich auch den Generalsekretär Ahmed Bekhat127 . Innerhalb kürzester Zeit sah sich die USTA ihrer wichtigsten Führungspersonen beraubt, während dem FLN durch die Mordserie an prominenten Messalisten erneut eine beeindruckende Machtinszenierung gelungen war. Dieser hatte die Gewerkschaft der Messalisten nicht viel entgegenzusetzen. Nach den Morden an den führenden Kadern der messalistischen Gewerkschaft versuchte die USTA, in Lothringen weiterhin auf legalem Wege an Rückhalt zu gewinnen. Sie gab Pressemitteilungen an den »Républicain lorrain« heraus128 und versuchte, sich der CFTC weiter anzunähern129 . Dies konnte den Machtverlust, den die Messalisten 1957 auch in Lothringen erfuhren, jedoch nicht aufhalten. Auch in Lothringen wurden die Kader der

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Zum sogenannten Massaker von Melouza siehe Thénault, Histoire de la guerre d’indépendance algérienne, S. 86f. Zu Abadallah Filali vgl. René Gallissot, Algérie. Engagements sociaux et question nationale de la colonisation à l’indépendance, 1830–1962. Dictionnaire biographique du mouvement ouvrier, Maghreb, Paris 2006, S. 290. Jacques Simon, La Fédération de France de l’Union syndicale des travailleurs algériens (USTA). FLN contre USTA, Paris 2002, S. 13. RG de Metz, message, 9. Nov. 1957, AdM 252 W 16. Die meisten Algerier schienen gegenüber dem PCF eher skeptisch bis verschlossen zu sein. Während der Recherchen stieß der Autor auf keinerlei Quellen, die auf Mitgliedschaften von Algeriern bei der kommunistischen Partei Frankreichs hinweisen. Die genauen Ursachen dafür müssen noch ermittelt werden. Aufgrund ihrer politischen Isolation hatte die USTA nach Beobachtungen der Polizei versucht, sich in der Woche vom 22.–29. September 1957 der CFTC anzunähern. Letztere verhielt sich jedoch abwartend: SCINA départemental de la Moselle, procès-verbal de la réunion, 30. Sep. 1957, S. 2, AdM&M 950 W 13. Die Position der christlich geprägten Gewerkschaft CFTC wandelte sich nur allmählich von der Forderung einer Rechtsgleichheit für algerische Arbeiter im Jahr 1956 bis zur Anerkennung des Rechts der Algerier auf Selbstbestimmung 1958: Valentine Gauchotte, Les catholiques en Lorraine et la guerre d’Algérie, Paris 1999, S. 62.

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Gewerkschaft zur Zielscheibe von Attentaten des FLN130 ; führende Kader wurden verhaftet131 . Die Zahl ihrer Anhänger sank rapide. Im dritten Jahr des Unabhängigkeitskriegs zogen dessen exkludierende Wirkungen immer weitere Kreise. Seit Januar 1957 brandmarkten sich in Lothringen nicht mehr nur Aktivisten von MNA und FLN gegenseitig als Verräter, Spalter und Komplizen der französischen Kolonialmacht. Infolge der Gründung der USTA dehnte sich das in der Deutung so labile wie in der Praxis radikale Freund-Feind-Schema, das der Kolonialkrieg transportierte, auch auf das Feld der Gewerkschaftsarbeit aus. Für die algerischen Migranten im lothringischen Grenzgebiet hatte dies zwei zentrale Konsequenzen: Einerseits erhöhten die Messalisten mit der Integration der CGT in die Reihe ihrer Feinde den Druck auf alle Algerier, sich nur ihren Verhaltensregeln zu beugen und ausschließlich den von ihnen kontrollierten Organisationen beizutreten. Andererseits trug die CGT durch die Verunglimpfung der USTA dazu bei, die algerischen Bestrebungen nach Eigenständigkeit grundsätzlich zu diskreditieren. Dadurch wurde das Feld, in dem sich die Migranten noch ohne Zwang zu einer politischen Stellungnahme bewegen konnten, enger und die Klippen an dessen Rändern steiler.

2.7. Formen und Folgen der Verlagerung von MNA-Aktivitäten auf das Saarland Nach den Verhaftungen der führenden MNA-Aktivisten des lothringischen Grenzgebiets im November 1956 richteten die Messalisten in der Region ihre Aktivitäten neu aus. Während die USTA einerseits als legale Plattform und Propagandamedium etabliert wurde, agierte der MNA ausschließlich im Untergrund. Dabei scheint es, als habe der MNA das Ziel, die Mobilisierung aller Algerier zu erreichen, vollständig an die messalistische Gewerkschaft delegiert. Während die USTA Propagandamaterial verteilte und Kundgebungen organisierte, beschränkten sich die Aktivitäten des MNA bis zum Ende des Unabhängigkeitskriegs fast ausschließlich darauf, einerseits mittels Einschüchterungen und der Anwendung von Gewalt die Geldzahlungen einzutreiben und die Unterordnung einer möglichst hohen Zahl von Algeriern zu erreichen – und andererseits den FLN zu bekämpfen. Dieses Ziel verfolgte der MNA auch weiterhin mit der Strategie der Einschüchterung 130

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Am 3. Juli 1957 wurde Mesbahi in Metz ermordet. Es war die erste spektakuläre Aktion des FLN gegen den MNA in Moselle: SCINA départemental de la Moselle, procès-verbal de la réunion, 22. Juli 1957, S. 2, AdM&M 950 W 13. Im Dezember 1957 berichtete die Zeitung, dass Fatis Ali, secrétaire der union locale von Longwy und Mitglied der Exekutivkommission der USTA, verhaftet worden sei: Simon, La Fédération de France (journal), S. 75.

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durch Drohungen und aufsehenerregende Übergriffe. Gleichzeitig erweiterte die Untergrundorganisation jedoch mit der zunehmenden Verlagerung der Aufenthaltsorte ihrer führenden Kader und Schocktruppen auf das Saarland auch ihren Handlungsraum. Daher waren in steigendem Maße Algerier auf beiden Seiten der französisch-saarländischen Grenze von den Auswirkungen des Unabhängigkeitskriegs unmittelbar betroffen132 . Seit Anfang August 1957 meldeten sowohl die RG als auch die Gendarmerie in Lothringen mehrfach, dass einzelne Algerier handschriftliche Drohbriefe erhalten hätten, die jeweils einen Stempel mit der Aufschrift »La main de fer algérienne« trugen133 . Da vor allem Überläufer diese Drohungen erhielten, wertete der SCINA des Departements Moselle dies als neue Methode der Messalisten bei deren Rückzugsgefecht gegen den Aufstieg des FLN in der Region134 . Der MNA gab sich dabei als alleiniger legitimer Vertreter des algerischen Freiheitskampfes, der es allen Abweichlern absprach, Algerier zu sein, und diese mit dem Tode bedrohte: Der Kampf, den unsere Kombattanten führen, ist der aller Algerier ohne Ausnahme. Was tust du, während unsere Patrioten den imperialistischen Kugeln ihre Brust darbieten? Weißt du, dass die Revolution morgen von allen Algeriern Rechenschaft fordern wird? Weißt du, dass derjenige, der aus den Reihen der Partei desertiert, einen Verrat begeht? Die Rolle, die du gespielt hast, ist keine, die den Namen Algerier verdient, denn du hast die algerischen Interessen verraten. DIESE ERSTE UND LETZTE VERWARNUNG SOLL DICH IN ZUKUNFT LEITEN. Im Fall einer Wiederholung wird dich die Strafe der Revolution treffen, ganz gleich, wo du dich aufhältst. DIE ALGERISCHE EISENHAND EXEKUTIERT. Gezeichnet: Die Armee der nationalen Befreiung135 .

Die lothringischen MNA-Aktivisten waren nicht in der Lage, den Aufstieg des FLN auch in ihrer Region zu verhindern und den eigenen Machtverlust zu bremsen. Ihre Strategie der Einschüchterung zeigte nicht die gewünschten Effekte und kehrte sich in mehreren Fällen sogar gegen die eigene Organisation. In der Bedrängnis sollte die jeweilige Einschüchterung zu einem Höchstmaß getrieben werden, was nur durch den Einsatz von Gewalt möglich war. Dies und die mangelnde Professionalität der Mitglieder der Schocktruppen des MNA machten sie zu einer leichten Beute für die Polizei, die stets in der Lage war, von Einzelpersonen umfassende Informationen über weitere Mitglieder und die Organisationsstruktur zu erhalten136 . Dies zeigte sich auch 132

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Eine ausführliche Darstellung der Situation algerischer Migranten im Saarland während des algerischen Unabhängigkeitskrieges findet sich in Lucas Hardt, Une zone de repli minée, Algériens et guerre d’Algérie en Sarre, in: 20 & 21. Revue d’histoire 142/2 (2019), S. 33–45. RG [o. O.], rapport, 12. Sept. 1957, S. 1, AdM 252 W 19. Procès-verbal de la réunion du SCINA du département de la Moselle, 30. Sep. 1957, AdM 370 W 1. Annexe à la synthèse journalière des renseignements recueillis sur les N.A. du chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 23. Okt. 1957, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 732 (Hervorh. i. Orig.). Die zwei plausibelsten Erklärungen für die erfolgreichen Verhöre der Polizei und Gen-

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anhand des zweiten Überfalls auf das Café La Ville d’Oran am 10. November 1957 und dessen Folgen. Es war an einem Sonntag gegen 19.45 Uhr, als drei maskierte Personen in das Café La Ville d’Oran in Metz eindrangen. Zwei ihrer Komplizen hielten draußen Wache. Schon beim Eintreten wurden erste Schüsse auf die Gäste abgefeuert. Ein Gast wurde sofort getötet, zwei weitere erlitten schwere Verletzungen und mussten ins Krankenhaus gebracht werden137 . Andere Gäste konnten einen der Angreifer138 überwältigen und töten. Dabei erlitt der Betreiber des Cafés, Titsaoui Rabah, eine Bisswunde an der Hand und mehrere Revolverschläge auf den Kopf139 . Die anschließenden Ermittlungen der Polizei von Metz führten am 15. November zur Festnahme der vier geflüchteten Attentäter und des Anstifters des Attentats140 . Diese Aktion war vor allem deshalb ein schwerer Schlag gegen den MNA, weil sich unter den Verhafteten auch der neue Chef der kasma von Metz, Mohamed Ayadi, sowie Yahiaoui Ali, der Chef der Schocktruppe dieser kasma, befanden. Die Polizei beschlagnahmte sieben Revolver und ein Heft mit dem Verzeichnis von Beitragszahlern des MNA141 . Während seines Verhörs zeichnete Ayadi den Niedergang seiner Organisation in Metz nach. Demnach habe der MNA 1956 vor den Verhaftungen, die nach dem ersten Attentat auf das Café La Ville d’Oran erfolgt waren, in Metz noch etwa 1900 Mitglieder gezählt und eine Schocktruppe mit 35 Männern unterhalten. Diese Truppe habe jedoch durch die Verhaftungen 18 Mitglieder verloren, woraufhin auch die übrigen Mitglieder die Region verlassen hätten. In der Folge sei am 17. Februar 1957 noch ein zweites Kommando des MNA nach einem Mordversuch142 verhaftet worden, woraufhin der MNA einen ra-

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darmerie sind einmal deren Kooperation mit algerischen Nationalisten, andererseits ist es auch möglich, dass Druck auf die Befragten ausgeübt wurde. Siehe Teil III, Kap. 1.3.1 zur Anwendung von Folter. Der 29-jährige Guerbas Ahmed starb sofort, Dalden Nahidine (21) und Isaadi Amar (56) erlitten Verletzungen. Dieser war Allalouche Ali (*1920 Ouled Debed, Constantine), der erst kurze Zeit in Metz wohnte. Le préfet de la Moselle, inspecteur général de l’administration à monsieur le ministre de l’Intérieur, cabinet – SCINA, direction générale de la Sûreté nationale (cabinet), 18. Nov. 1957, S. 1f., AdM 370 W 1. Bei den Verhafteten handelte es sich um Bounaas Nadir (*1932 Ouled Kebheb, Constantine), Saifi Mahfoud, genannt Said (*1932 Mirabeau, Algier), Hamdaoui Hocine (*1932 Mirabeau, Algier), Yahiaoui Ali (*1927 Beni-Mekla, Algier), Ayadi Mohamed, genannt Abdallah (*1930 Tebessa, Constantine). Le préfet de la Moselle, inspecteur général de l’administration à monsieur le ministre de l’Intérieur, cabinet – SCINA, direction générale de la Sûreté nationale (cabinet), 18. Nov. 1957, S. 2, AdM 370 W 1. Der Betroffene, Ahmed Tounsi, wurde 1931 in Oran geboren. Er kämpfte in der französischen Armee während des Indochinakrieges, emigrierte dann nach Lothringen und arbeitete in Uckange als Schmied. Der »Républicain lorrain« stellte ihn als einen Prügelknaben dar, der am 17. Februar 1957 in der Rue Boucherie-Saint-Georges in Metz betrunken eine Gruppe von anderen Algeriern beschimpft habe, woraufhin es zu einer

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II. Algerische Migranten zwischen Polizei, FLN und MNA

piden Mitgliederschwund verzeichnet habe. Ayadi gab an, der MNA habe kurz vor dem Attentat nur noch 120 Aktivisten in Metz gezählt. Um diesem Trend entgegenzuwirken, sei beschlossen worden, eine spektakuläre Aktion durchzuführen, die sich gegen Titsaoui und seine Bar richten sollte, weil dieser vom MNA zum FLN übergelaufen sei143 . Seit Mitte des Jahres 1957 befanden sich die Anhänger Messali Hadjs in Lothringen angesichts des Aufstiegs des FLN in ernsthafter Bedrängnis. In dieser Situation erschien die Grenznähe der Region für sie als ein Hoffnungsschimmer. Im Saarland lebten rund 2000 Algerier, an die der MNA herantreten konnte. Die Grenze war für Zivilpersonen einfach zu überqueren, stellte für die französische Polizei aber offiziell eine Mauer dar, an der ihr Zugriff endete. Dass die Messalisten die Grenzlage ihres Einflussgebiets zu nutzen verstanden, zeigen bereits die Wohnorte einiger ihrer seit 1956 festgenommenen Führungskader. Nach einer Übersicht des SCINA über die Verantwortlichen der wilaya-est des MNA erstreckte sich dieses Gebiet über die Departements Elsass, Lothringen, Doubs sowie die Ardennen144 . Nach einem Dokument vom Oktober 1957, das die saarländische Polizei beschlagnahmt hatte, lag die Zentrale der wilaya-est des MNA in Völklingen. Zuvor hatte sie mehrere Jahre im heutigen Bexbach gelegen. Als einer der zentralen Verantwortlichen der wilaya-est des MNA galt Abdelkader Ghalmi. Dieser hatte zunächst in Charleville, dann Uckange und schließlich in Bexbach gewohnt, seine Aktivitäten jedoch vor allem in Moselle, Meurthe-et-Moselle und im Elsass ausgeführt. Nach der Verhaftung Ghalmis übernahm im August 1956 Benoudina Zoubir dessen Funktion, der zuvor chef régional des MNA im Elsass gewesen war. Seine Festnahme erfolgte jedoch nur einen Monat später als die seines Vorgängers. Der Nachfolger Benoudinas, Laroubi, wohnte in Charleville und hielt seine Treffen in Uckange ab. Nachdem er sich eine Zeit lang in Bexbach aufgehalten hatte, war er in Sedan verhaftet worden. Ihm war Haddadi, der ehemalige chef régional des Elsass, nachgefolgt. Er wurde in Metz verhaftet. Der aktuelle Chef der wilaya-est nannte sich den Polizeiinformationen nach Kefti und hatte seinen Wohnsitz in Völklingen145 .

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144 145

Auseinandersetzung gekommen sei. Tounsi wurde durch drei Schüsse lebensgefährlich verletzt: Le Républicain lorrain, 18. Feb. 1957. Le préfet de la Moselle, inspecteur général de l’administration à monsieur le ministre de l’Intérieur, cabinet – SCINA, direction générale de la Sûreté nationale (cabinet), 18. Nov. 1957, S. 3, AdM 370 W 1. Ohne eine Frage des Interviewers zu der Person Ayadi erinnerte sich Amenzu daran, dass Abdallah Ayadi, Mitglied einer Schocktruppe des MNA, in seinem Hotel gewohnt habe und im Juli 1957 voller Wut gegenüber dem FLN gewesen sei. Amenzu berichtete, er habe ihn eines Tages gewarnt, »tu vas te faire brûler«, womit er nach eigenen Angaben viel riskiert habe. Die Freunschaft zu Ayadi sei es ihm jedoch wert gewesen: Interview LH–Amenzu, 2013, S. 7. SCINA régional, 6e région, procès-verbal de la réunion, 7. Jan. 1958, S. 6, AdM&M 950 W 13. Ibid., S. 7.

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2. Niedergang der Messalisten im lothringischen Grenzgebiet

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Seit 1956 verlagerte der MNA das Zentrum seiner Aktivitäten immer stärker ins Saarland. Dies entging weder der französischen noch der saarländischen Kriminalpolizei. Letztere nahm seit 1956 in Kooperation mit der BST mehrfach Hausdurchsuchungen bei einigen MNA-Kadern vor146 . Bei einer dieser Personen handelte es sich um Sid Ramdane, der auch in den folgenden Jahren noch eine wichtige Rolle für den MNA im Saarland spielen sollte. Die saarländischen Polizisten fanden am 2. Dezember 1957 in Ramdanes Wohnung in Bexbach 8000 Patronen sowie eine ausführliche Dokumentation147 über den MNA in Frankreich und im Ausland, die den französischen Behörden übergeben wurde148 . Sid Ramdane, der als Besitzer des beschlagnahmten Materials galt, befand sich auf der Flucht149 . Die Munition hatte Ramdane im Dachgeschoss eines Privathauses, in dem er und weitere Aktivisten zur Miete wohnten, unter Stroh versteckt. Die Polizei hatte die Aktivisten bereits seit mehreren Monaten beobachtet150 und fand bei ihrer Durchsuchung außer der Munition und den Dokumenten auch Stempel zur Fälschung von Ausweisen151 . Der Fund in Bexbach erregte im Saarland und auch in der übrigen Bundesrepublik Aufsehen. Seitens der Medien widmeten etwa die »Westdeutsche Allgemeine Zeitung«152 , das »Hamburger Echo«153 und der »Mannheimer Morgen«154 dem Vorfall eine ausführliche Darstellung. Der SPD-Abgeordnete Helmut Schmidt stellte im Bundestag gar eine Anfrage an die Bundesregierung zum Waffenhandel an der Saar155 . Im Saarland reflektierten die regionalen Zeitungen die Razzia in Bexbach stets im Hinblick auf die etwa 2000 dort lebenden Algerier156 . Diesen wurde somit durch die Aktivitäten des MNA plötzlich eine neue Aufmerksamkeit zuteil. Die »Saarbrücker Zeitung« schrieb warnend in Bezug auf die Razzia in Bexbach: 146 147 148

149 150 151 152 153 154 155 156

Le commissaire principal, chef de la brigade de surveillance du territoire de Metz, à monsieur le préfet de la Moselle, 10. Feb. 1958, AdM 252 W 19. Haiblet sprach gar von einer »vollständigen Dokumentation«, die allerdings nicht überliefert ist. Compte rendu de la causerie faite à Nancy par René Haiblet, chef de la BST à Metz, aux officiers et sous-officiers de la gendarmerie: Le séparatisme algérien dans la 6e région – des conditions et des formes d’une répression efficace, 12. Dez. 1957, S. 3, AdM 370 W 1. Le commissaire principal, chef de la brigade de surveillance du territoire de Metz, à monsieur le préfet de la Moselle, 10. Feb. 1958, AdM 252 W 19. Saarbrücker Neueste Nachrichten, 24. Jan. 1958. Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 24. Jan. 1958. Ibid. Hamburger Echo, 26. Jan. 1958. Mannheimer Morgen, 23. Jan. 1958. Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 1. Feb. 1958. Die saarländische Polizei hatte ihre Kollegen in Metz informiert, dass etwa 2000 »Nordafrikaner« in den Minen, in der Industrie und auf dem Bau im Saarland beschäftigt seien: Le commissaire principal, chef de la brigade de surveillance du territoire de Metz, à monsieur le préfet de la Moselle, 10. Feb. 1958, AdM 252 W 19. Die gleiche Einschätzung teilte die »Westdeutsche Allgemeine Zeitung«, 24. Jan. 1958.

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II. Algerische Migranten zwischen Polizei, FLN und MNA

Durch die auch im Saarland eingeführte Ausländerpolizeiverordnung der Bundesrepublik [können] Ausländer, die das Gastrecht des Landes auf irgendeine Art verletzen, sofort ausgewiesen werden. Von den entsprechenden Paragraphen wird im Zusammenhang mit den genannten Vorgängen strengster Gebrauch gemacht157 .

In der SPD-nahen »Saarbrücker Allgemeinen Zeitung« forderte Egon Berndorf, den Fall nicht zu bagatellisieren. Auch sein Artikel implizierte eine deutliche Warnung an alle Algerier. Ein wichtiger Unterschied zur »Saarbrücker Zeitung« bestand jedoch darin, dass hier explizit eine Anerkennung der Legitimität algerischer Unabhängigkeitsbestrebungen ausgesprochen wurde: Gegen die Algerier an der Saar haben wir wenig einzuwenden. Sie sind in ihrer Mehrzahl friedliche, ordentliche Arbeiter, die von ihren Arbeitgebern auch als solche geschätzt werden. Ihre Überzeugung im Kampf ihrer Landsleute um ihre Heimat bleibt unangetastet. Aber wir sind darüber hinaus der Meinung, daß an der Saar Gastrecht genießende Algerier dieses Gastrecht nicht mißbrauchen sollten158 .

Allen Berichten war zumindest die Tendenz gemein, die Algerier an der Saar infolge der Funde von Bexbach unter eine erhöhte Aufmerksamkeit zu stellen. Trotz eines eher beschwichtigenden Tons wurde dies auch bei den »Saarbrücker Neuesten Nachrichten« deutlich: Die an der Saar lebenden Nordafrikaner genießen, von einigen Ausnahmen abgesehen, bei der saarländischen Bevölkerung eine gewisse Sympathie als fleißige Arbeiter und gutmütige Menschen, die hier den Lebensunterhalt für ihre Familien in Nordafrika verdienen. [. . . ] Immerhin aber bietet die Fremdarbeitersituation an der Saar, zu denen nicht zuletzt auch die Italiener zu zählen sind, ein gewisses Problem, das mit der Entdeckung des Munitionslagers wieder besonders akut geworden ist. [. . . ] Alles in allem besteht jedoch kein Grund, die Entdeckung in Bexbach zu dramatisieren. Keinesfalls war oder ist dadurch die Sicherheit der saarländischen Bevölkerung bedroht159 .

Auf diesen – im Vergleich zu den lothringischen Regionalzeitungen – moderaten Kurs schwenkte nach kurzer Zeit auch die »Saarbrücker Zeitung« ein. Im Hinblick auf die vorige Berichterstattung über den Fall sprach Oberstaatsanwalt Dr. Schneider von maßlosen Übertreibungen und wies darauf hin, dass bis dato lediglich ein Algerier in dieser Sache verhört worden sei. Er gab an, dass auch die Vermutungen, dass im Saarland lebende Algerier zu Geldspenden gezwungen worden seien, sich nicht bestätigt hätten160 . Als die algerischen Migranten im Saarland aufgrund von Aktivitäten des MNA im Dezember 1957 seitens der saarländischen Medien unter erhöhte Aufmerksamkeit gestellt wurden, waren führende Messalisten schon seit längerem auf der anderen Seite der lothringischen Grenze aktiv gewesen. Spätestens seit Mitte des Jahres 1956 waren Aktivisten des MNA im Saarland und unterhielten durch die Struktur der wilaya-est direkten Kontakt zu den Ak157 158 159 160

Saarbrücker Zeitung, 24. Jan. 1958. Saarbrücker Allgemeine Zeitung, 1. Feb. 1958. Saarbrücker Neueste Nachrichten, 24. Jan. 1958. Saarbrücker Zeitung, 25. Jan. 1958.

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tivisten in Lothringen. Der in Forbach aktive MNA-Geldeintreiber Ahmed Tayeb (*1932 Menguellen) etwa wurde verhaftet, nachdem er im August 1956 Propagandamaterial des MNA aus dem Saarland über die Grenze gebracht hatte161 . Der MNA ließ seine Propaganda nicht nur in der BRD drucken, sondern erhielt von dort auch Unterstützung bei ihrer Formulierung. Dies machten die Verhaftung und die Befragung eines Algeriers im Mai 1957 deutlich. Bemrah Djelloul war in Neunkirchen bei der Firma Hofer als Maurer angestellt. Er lebte bereits seit 1952 im Saarland und war mit einer Saarländerin verheiratet. Als er in Saarhölzbach im Zug verhaftet wurde, trug er unter Anderem den Abdruck eines Aufrufs Messali Hadjs an die UNO und einen handgeschriebenen Brief des MNA-Generalsekretärs Moulay Merbah bei sich162 . Gegenüber der Polizei erklärte Bemrah, er habe einige Tage zuvor einen ehemaligen Arbeitskollegen aus Longwy am Bahnhof von Saarbrücken getroffen. Dieser habe ihm angeboten, seine nächste Reise nach Bonn zu finanzieren, falls Bemrah bereit sei, am Bahnhof von Trier einen weiteren Algerier zu treffen, der ihm Dokumente163 übergeben sollte. Bemrah sei auf das Angebot eingegangen und habe die Dokumente am 1. Mai in Trier entgegengenommen, ohne etwas über deren Inhalt zu wissen. Er gab an, den Aufenthaltsort seines Auftraggebers nicht zu kennen164 . Über den Wahrheitsgehalt dieser Aussage können keine Angaben gemacht werden. Dennoch macht der Fall deutlich, dass der MNA im Saarland und in Teilen der Bundesrepublik auch über einen oder mehrere Unterstützer bei der Erstellung von Propaganda verfügte. Einige der Ermittlungen gegen Algerier, die verdächtigt wurden, für eine Untergrundorganisation zu arbeiten, führten die saarländischen und die französischen Beamten gemeinsam durch. Darüber hinaus weitete der französische Staat jedoch auch die Kontrollvorgaben für Algerier auf die bestehenden Zollgrenzen des Saarlands aus. So bekamen die im Oktober 1957 an 161 162 163

164

Note de renseignement de la police urbaine de Forbach, 28. Aug. 1956, AdM 252 W 19. Rapport du gendarme Baquet, commandant provisoirement le poste prévôtal no 4, 2. Mai 1957, S. 1, SHAT 2007 ZM 1/209 690. Bei genauer Untersuchung der Dokumente konnte der Autor feststellen, dass die Texte offenbar zu Korrekturarbeiten zirkuliert hatten. An der Seite der jeweiligen Texte befanden sich Kommentare in fehlerlosem Deutsch und Französisch. Die Polizei ging davon aus, dass Bemrah diese Texte entweder in Bonn oder in Trier erhalten hatte. Der Brief Moulay Merbahs, der gegen die Verwendung von NATO-Soldaten in Algerien protestierte, sollte nach einer beiliegenden Notiz noch in der gleichen Nacht gedruckt werden. Die Ankunft in Saarbrücken wäre um 22 Uhr gewesen. Daher vermutete die Gendarmerie, dass es eine Druckerei des MNA im Saarland gab oder sich diese Druckerei in der Nähe der Grenze in Frankreich befand: Fiche de renseignement (suite à rapport no 17/4 du 2 mai 1957) par le maréchal des logis-chef Souillot, commandant le poste prévôtal no 4, 3. Apr. [recte: 3. Mai] 1957, S. 1, SHAT 2007 ZM 1/209 690. Rapport du gendarme Baquet, commandant provisoirement le poste prévôtal no 4, 2. Mai 1957, S. 2. ibid.

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der deutsch-saarländischen Grenze stationierten französischen Zollbehörden die Anweisung, die Identität von allen »Nordafrikanern« festzuhalten, die die Grenze überquerten, ebenso wie die ihrer Begleitpersonen, und die jeweiligen Nummernschilder zu überprüfen165 . Durch die französische Kontrolle über das Personal wurden die Funktionen der deutsch-saarländischen Zollgrenze um eine standardisierte polizeiliche Erfassung erweitert. Dass Algerier nicht nur an den Grenzen, sondern auch innerhalb des Saarlands verstärkt die Aufmerksamkeit der Polizei auf sich zogen, war ein direkter Effekt des Algerienkrieges. Entscheidend war zum einen die Präsenz bewaffneter algerischer Nationalisten. Zum anderen erregte auch die politische Bedeutung Aufsehen, die den Aktivitäten algerischer Nationalisten außerhalb des französischen Territoriums beigemessen wurde. Der Verdacht, unter den die im Saarland lebenden Algerier im Laufe des Jahres 1957 aus der Sicht der Polizei und der Medien gerieten, stand während dieser Phase in keinem Verhältnis zu der Zahl der tatsächlich registrierten Algerier, die im Saarland gegen das Gesetz verstoßen hatten. Für das Jahr 1957 fertigte das saarländische Landeskriminalamt erstmals eine nach Nationalitäten gegliederte Kriminalstatistik an, bei der Algerier in einer eigenen Kategorie ohne Anmerkungen vermerkt waren. Nach dieser Statistik hatte die saarländische Polizei insgesamt 25 097 Verbrechen und Vergehen erfasst. Unter den insgesamt 520 straffällig gewordenen Ausländern waren 288 Franzosen, 78 Italiener, 41 Amerikaner, 28 Ungarn und 21 Algerier verzeichnet. Algerier hatten somit 0,08 Prozent aller Delikte begangen und vier Prozent der Vergehen, die Ausländern vorgeworfen wurden. Dabei handelte es sich in drei Fällen um »Notzucht« und in vier Fällen um »Unzucht zwischen Männern«. Jeweils drei weiteren Algeriern wurden nicht weiter definierte »Sittlichkeitsdelikte« sowie »Raub und räuberische Erpressung« angehängt. Schließlich lagen nach der Polizeistatistik bei jeweils zwei Algeriern im Jahr 1957 »einfacher Diebstahl« und »Betrug/Untreue« vor166 . Lediglich etwa ein Prozent der geschätzten Anzahl aller im Saarland lebenden Algerier war 1957 registriert worden, weil sie gegen Gesetze verstoßen hatten, die zum Teil auf Sittlichkeitsnormen beruhten. Ungeachtet dessen etablierte sich durch die Mitwirkung der französischen Gendarmerie bereits seit 1956 auch im Saarland der Generalverdacht gegenüber allen Algeriern, sie könnten Mitglieder oder Sympathisanten einer als kriminell eingestuften separatistischen Untergrundorganisation sein. Seit September 1956 berichtete die Gendarmerie von Saarlouis mehrfach über drei »Nordafrikaner«, die in dem Kreis dieser Stadt lebten und weder politisch noch gewerkschaftlich aktiv waren. Sie arbeiteten als Schienenverleger und im Baugewerbe in Unternehmen, die weniger als 25 Mitarbeiter 165 166

Rapport du gendarme Baquet, commandant provisoirement le poste prévôtal no 4 sur l’état d’esprit de la population, 30. Okt. 1957, S. 5, ibid. Polizeiliche Kriminalstatistik 1957, LAS, LKA 14.

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hatten und lebten in jeweils eigenen Wohnungen167 . Die Berichte über sie erfolgten auf die Dienstanweisung »ordre de recherche no 1«, die als »generelle Informationen über das nordafrikanische Milieu« bezeichnet wurde. Spätestens seit Dezember 1957 gab es auch einen »ordre de recherche no 2«, der Informationen über die »Standorte der nordafrikanischen Bewegungen« verlangte. Ein »ordre de recherche no 3« betraf »Hinweise auf illegale Aktionen«. Der »ordre de recherche no 4« schließlich umfasste die »action psychologique« und zielte auf die Meinung beziehungsweise die Politisierung von Algeriern. Diesbezüglich wurde etwa vermerkt, dass bei den im Saarland stationierten »nordafrikanischen Soldaten« noch keine »Kontamination« festgestellt worden sei168 . Nachdem FLN und MNA ihren Einflussbereich auf Algerier auch im Saarland ausgedehnt hatten, tat es ihnen der französische Staat gleich. Seit der Mitte des Jahres 1956 sahen sich die Messalisten in Lothringen sowohl durch die gesteigerte Radikalität der polizeilichen Maßnahmen gegenüber algerischen Nationalisten als auch aufgrund der zunehmenden Aktivitäten und der wachsenden Anhängerschaft des FLN zusehends geschwächt. Ihre Reaktion auf diese Schwächung bestand zunächst in der massiven Androhung und Ausübung von Gewalt gegenüber Algeriern. Auch als Kommunikation der eigenen Machtansprüche wurden Attentate häufig so geplant, dass algerische Zeugen zugegen waren. Die ausgeübte Gewalt sollte nicht zuletzt eine öffentliche Inszenierung der Machtansprüche des MNA sein. Die parallel dazu verfolgte Strategie der Messalisten spiegelt sich in der Gründung der USTA wieder. In Gestalt dieser Gewerkschaft lagerten die Messalisten die Organisation und Durchführung größerer Versammlungen, Demonstrationen und Streiks aus. Die politische Aktion wurde von der bewaffneten Aktion organisatorisch getrennt, sodass der MNA in der Region seit Mitte 1956 nur noch als radikaler Kampfbund agierte und für die algerischen Migranten dort auch nur als solcher in Erscheinung trat. In zunehmendem Maße begann die Untergrundorganisation damit, die Grenzlage zu nutzen und ihre Aktivitäten auf das Saarland auszudehnen. Dadurch konnten die Mitglieder das Risiko, verhaftet zu werden, deutlich senken und eine neue Offensive gegen den FLN vorbereiten.

167 168

Poste de gendarmerie de Sarrelouis, renseignement sur le milieu nord-africain, 13. Sep. 1956, SHAT 2007 ZM 1/209 684. Poste de gendarmerie de Sarrelouis, le maréchal des logis-chef Langlois, renseignement sur le milieu nord-africain, 23. Dez. 1957, ibid.

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3. Die Anfänge des FLN in Lothringen Die Geschichte des FLN ist mit der des MTLD und des MNA untrennbar verflochten. Allerdings kann die Entwicklung beider Organisationen in der Metropole aus einer regionalen Perspektive aufgrund der Quellenlage nicht in gleicher Weise erforscht und nachgezeichnet werden. Der umfangreiche Informationsstand der Geheimdienste, Polizei und Gendarmerie bezüglich der Nachfolgeorganisation des MTLD ist heute in weiten Teilen archivalisch überliefert und frei zugänglich. Dies schafft für Historiker des algerischen Unabhängigkeitskriegs eine völlig andere Ausgangslage als im Fall des FLN. Ganz anders als der MNA konnte dieser in Lothringen nicht an überlieferte Organisationsstrukturen anknüpfen, sondern entstand zunächst als Ansammlung vereinzelter und voneinander unabhängig agierender Zellen von Aktivisten1 . Um die Anfänge des FLN in Lothringen zu rekonstruieren, kann im Vergleich zum MNA nur auf wenige Archivalien, dafür aber auf deutlich mehr Zeitzeugenberichte zurückgegriffen werden2 . Die dadurch veränderte Perspektive des Forschers hat die Gliederung dieser Arbeit und die Form des nachfolgenden Kapitels maßgeblich beeinflusst. Im überregionalen Kontext wird nun erörtert, welche regionalen Faktoren beim Aufschwung des FLN im lothringischen Grenzgebiet zwischen 1955 und 1957 eine zentrale Rolle spielten.

3.1. Entstehung und erste Schritte des FLN in Algerien und in der Metropole Der FLN war ein direktes Produkt der Zerwürfnisse, die den MTLD seit Dezember 1953 erschütterten und die Organisation im Juli 1954 in zwei große Lager aus Messalisten und Zentralisten zerbrechen ließen. In dieser Phase entstand das Crua, dessen Mitglieder auf eine Annäherung der beiden Lager drängten. Die Gründung initiierte im März 1954 das ehemalige Mitglied der OS, Mohamed Boudiaf. Das Crua stellte ein Gremium aus Zentralisten und ehemaligen Mitgliedern der OS dar, die Messali zwar deutlich kritisierten, aber mit seinen Anhängern über die Abhaltung eines gemeinsamen Kongresses verhandeln wollten. Sie drängten explizit auch auf eine Überwindung der Spaltung, um so schnell wie möglich mit bewaffneten Aktionen gegen 1 2

Meynier, Histoire intérieure du FLN, S. 169. Da sich der FLN in dem Machtkampf mit den Messalisten durchsetzte und MNAAnhänger bis heute in Algerien und teilweise auch in Lothringen als Verräter angesehen werden, ist es sehr schwierig, ehemalige Aktivisten oder Sympathisanten des MNA ausfindig zu machen und zu interviewen. Wie die damalige ausführliche Dokumentation der Polizei über den MNA muss dies als direkte Folge des Krieges verstanden werden.

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Frankreich beginnen zu können3 . Entsprechende Aufrufe zu Vermittlungen und Mobilisierungsversuche des Komitees wurden auf Flugblättern auch in Lothringen verteilt4 . Nachdem die Aktivitäten des Crua weitgehend im Schatten der Auseinandersetzungen zwischen Messalisten und Zentralisten blieben, löste sich das Komitee am 20. Juli 1954 auf. Kurz zuvor, am 25. Juni, hatten sich bereits dessen radikalste Mitglieder zurückgezogen und damit begonnen, die 1950 aufgelöste OS wieder aufzubauen5 . Die OS war ursprünglich als Tribut an jene Aktivisten des PPA-MTLD gegründet worden, die sich als Avantgarde des bewaffneten Kampfes für die algerische Unabhängigkeit gesehen hatten. Omar Carlier hat die Idee der OS im Jahr 1954 treffend beschrieben als Konzept einer verschworenen Gemeinschaft aus Revolutionären und zugleich eines unter den radikalen Anhängern der Unabhängigkeitsbewegung verehrten Mythos6 . Während die Messalisten darauf zielten, zunächst die politischen Differenzen innerhalb der Bewegung zu überwinden, um dann mit der offenen Revolte gegen die Kolonialmacht beginnen zu können, glaubten die meisten Zentralisten gar nicht an den Erfolg einer bewaffneten Aktion. Die ehemaligen Mitglieder der OS hingegen wollten sofort den Krieg für die Unabhängigkeit führen und alle politischen Fragen im Anschluss klären7 . Sie hatten ihre Organisation bereits seit deren Gründung niemals lediglich als Arm des MTLD, sondern durchaus als einen selbstständigen Flügel der Partei gesehen. In der Annahme, dass in Algerien seit 1947 eine revolutionäre Situation existiere8 und mit Blick auf die Aktivitäten des Istiqlal und des Neo-Destour in den beiden benachbarten französischen Protektoraten Tunesien und Marokko hatten sie stets auf bewaffnete Aktionen gegen Frankreich gedrängt. Es konnte für sie aus der kolonialen Situation keinen anderen als einen gewaltsamen Ausweg geben9 . Alle neun Anführer des »ersten FLN«, Larbi Ben M’Hidi, Mourad Didouche, Mohammed Boudiaf, Hocine Aït Ahmed, Rabah Bitat, Mohamed Kider, Belkacem Krim, Mostefa Ben Boulaïd und Ahmed Ben Bella, die sogenannten chefs historiques10 , waren ehemalige Mitglieder der OS11 . Sie kannten das Leben im Untergrund und hatten Erfahrung mit der Durchführung bewaffneter Aktionen. Im Hinblick auf die geringe Anzahl der Männer, die 3 4

5 6 7 8 9 10 11

Harbi, Le FLN. Mirage et réalité, S. 96f. Le chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, à monsieur le colonel commandant de la 6e légion de gendarmerie, 30. Apr. 1955, S. 2, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 730. Harbi, Le FLN, S. 121. Carlier, Entre nation et jihad, S. 298. Harbi, Le FLN, S. 118. Ibid., S. 115. Carlier, Entre nation et jihad, S. 293. Einen Überblick über die sozialen Hintergründe der einzelnen Mitglieder dieses ersten Führungsgremiums des FLN liefert Meynier, Histoire intérieure du FLN, S. 129–137. Carlier, Entre nation et jihad, S. 305.

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ihnen unterstanden12 , sah ihre Strategie zunächst eine Einteilung des Krieges gegen Frankreich in drei Phasen vor: Zunächst war die direkte Konfrontation mit dem Feind zu vermeiden, um die militärischen und politischen Mittel zur Vorbereitung und anschließenden Ausweitung des Aufstands bereitstellen zu können. Daraufhin sollte mittels Anschlägen und »Massenaktionen« ein generelles Klima der Unsicherheit und eine Gegenmacht zum Kolonialstaat geschaffen werden. In einer dritten Phase sahen die Mitglieder des FLN die Einrichtung befreiter Zonen vor. Diese Gebiete sollten dem Einfluss des Feindes vollständig entzogen werden, um dort die Bildung eines unabhängigen Staates vorbereiten zu können13 . In den dazu notwendigen Kampf wollte der FLN alle Algerier einbeziehen. Diesbezüglich kündigte die Proklamation, die den Beginn des Unabhängigkeitskriegs einläutete und am 31. Oktober 1954 in Algier verfasst worden war, unter anderem »die Versammlung und Organisierung aller gesunden Energien des algerischen Volkes zur Liquidierung des kolonialen Systems« an14 . Damit sprach der FLN eine kaum verhohlene Warnung an alle seine französischen und algerischen Widersacher aus. Eine Kampfansage an die Messalisten bedeutete die Proklamation zwar noch nicht, aber sie forderte auch alle Anhänger des MNA unmissverständlich dazu auf, sich dem FLN anzuschließen. Dass dieser Aufruf nicht sofort in gewalttätige Auseinandersetzungen mündete, zeigen außer Berichten über Gespräche zwischen den Führern der Organisation auch Bewegungen an der Basis: Im Laufe des Jahres 1955 war noch kein offener Kampf zwischen MNA und FLN ausgebrochen und es wurde mehrfach berichtet, dass FLN-Aktivisten auf Veranstaltungen der Messalisten Präsenz zeigen und sich meldeten15 . Die Mobilisierungsziele des FLN beschränkten sich keineswegs auf die Aktivisten und Sympathisanten des MTLD. Vielmehr waren alle Algerier nicht nur dazu aufgerufen, keinen Widerstand gegen die neue Organisation zu leisten, sondern den Unabhängigkeitskrieg und damit den FLN auch aktiv zu unterstützen16 . Der FLN entstand als eine Verbindung zwischen erfahrenen Untergrundaktivisten und Guerillakämpfern, die in verschiedenen Regionen Algeriens Einfluss ausübten. Das fragile Machtgleichgewicht zwischen neun gleichberechtigten Anführern schlug sich zunächst in einer horizontal gegliederten Struktur der Führungsebene nieder. Auch aufgrund der expliziten Ablehnung jedes Personenkultes besaß der FLN – anders als der MNA – zum Zeitpunkt seiner Gründung keine herausragende Führungsfigur, die unter den Chefs 12

13 14 15 16

Der FLN verfügte unmittelbar vor den Anschlägen vom 1. November über 350 bewaffnete Männer im Aurès-Gebirge, 450 in der Kabylei, 50 im Algérois und weitere 60 im Umkreis von Oran: Harbi, Le FLN. Mirage et réalité, S. 127. Ibid., S. 123f. Siehe die Proklamation des FLN vom 1. Nov. 1954 in: Ders., Gilbert Meynier, Le FLN, documents et histoire. 1954–1962, Paris 2004, S. 36f. Harbi, Le FLN. Mirage et realité, S. 152. Ders., Meynier, Le FLN, documents et histoire, S. 38.

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eine Hierarchie herstellen konnte. Die Organisation wurde stattdessen von einem Gremium angeleitet, das Algerien in sechs verschiedene Einflusszonen aufteilte, in denen die jeweiligen Guerillakämpfer zunächst unabhängig voneinander agieren sollten. So bestand bis zum Kongress der Soummam im August 1956 ein deutlicher Mangel an Koordination. Den Erinnerungen des FLN-Gründungsmitglieds Bentobbals zufolge hatte es bis dahin sechs verschiedene Arten von Politik und sechs praktizierte militärische Strategien des FLN gegeben. Zudem sei es mehrfach zu internen Konflikten gekommen, etwa bezüglich der nach außen kommunizierten Positionen des FLN, der Organisation der Waffenlieferungen oder der Opportunität bestimmter bewaffneter Aktionen17 . Bis 1956 hatten die Aktivisten des FLN auf dem algerischen Terrain zwar durchaus Erfolge zu verbuchen. Sie agierten in dieser Phase jedoch weitgehend zerstreut und wenig abgestimmt, da es ihnen einerseits an einem militärstrategisch anleitenden Zentrum fehlte und andererseits Tausende Algerier – ob Mitglieder, Sympathisanten oder Unbeteiligte – im Zuge der Repressionen der französischen Polizei und Armee und Polizei verhaftet, gefoltert oder ermordet wurden18 . Unter diesen Bedingungen nahm die Basisstruktur in der ersten Phase des Konflikts die Form eines Konglomerats aus vielen kleinen Aktivistenzellen an, die nach dem Vorbild der OS Anschläge durchführten. Unter dem Siegel der FLN verlangten sie nun aber auch regelmäßige Geldbeiträge und aktive Unterstützung von der algerischen Bevölkerung. Nicht nur in Algerien, sondern auch in der Metropole waren die ersten Schritte des FLN unkoordiniert und stark von den drohenden Verhaftungen durch die Polizei beeinträchtigt. Da die Mitgliedschaft streng geheimzuhalten war, agierten die Aktivisten häufig im Unwissen über das Vorgehen ihnen unbekannter Algerier, die sich ebenfalls zum FLN bekannten. Die wenigen Kader der Organisation konnten eine verbindende Struktur der einzelnen Zellen nur allmählich aufbauen, vor allem, da sich ihnen mit den Messalisten und der französischen Polizei zwei mächtige Widersacher entgegenstellten. Dies mahnte die Aktivisten des FLN zu besonderer Vorsicht und machte einen erfahrenen Kader wie Mourad Terbouche für die Organisation besonders wertvoll. Im November 1954 erhielt Terbouche in Nancy19 von Mohamed Boudiaf20 den Auftrag, die ersten Zellen des FLN in Frankreich zu gründen21 . Um die Jahreswende 1954/1955 versammelte Boudiaf dann in Luxemburg-Stadt etwa 17 18 19 20 21

Harbi, Le FLN. Mirage et realité, S. 172. Siehe hierzu insbes. Branche, La torture et l’armée; Vidal-Naquet, La torture dans la République; Mauss-Copeaux, Algérie, 20 août 1955. Daho Djerbal, L’organisation speciale de la Fédération de France du FLN. Histoire de la lutte armée du FLN en France, 1956–1962, Algier 2012, S. 21. Boudiaf war der ehemalige Verantwortliche der französischen Föderation des MTLD und zum damaligen Zeitpunkt einer der neun führenden FLN-Chefs. Haroun, La 7e wilaya, S. 17.

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15 Kader aus Ostfrankreich und legte ihnen die Ziele und Methoden des FLN dar. So entwickelte sich ein erster harter Kern des FLN in der Metropole, der den Schwerpunkt seiner Aktivitäten vom lothringischen Grenzraum schnell auf die französische Hauptstadt verlagerte. Sein Einfluss nahm binnen eines Jahres auch in allen anderen Regionen, in denen algerische Migranten lebten, rasch zu22 . Auf der Ebene der Metropole wurde die Koordination des FLN vor allem durch die Festnahmen von Führungskadern durch die Polizei gehemmt. Diese destabilisierten zusätzlich die internen Abläufe und Machtverhältnisse der im Entstehungsprozess befindlichen Organisation. Im Juni 1955 wurden Terbouche, Zerrouk und Mahdi verhaftet, woraufhin der FLN erstmals eine neue Führung erhielt und Mohamed Mechatti die Leitung des FLN in Ostfrankreich übernahm23 . Nachdem im August 1956 auch Mechatti und weitere FLN-Kader verhaftet worden waren, wurde Ahmed Doum die Führung der französischen Föderation übertragen24 . Er fiel allerdings am 17. November der französischen Polizei in die Hände25 . Im Anschluss übernahm kurzzeitig Louanchi die Direktion, er wurde jedoch bereits im Dezember 1956 durch Mohamed Lebjaoui und dessen Stellvertreter Hocine El Mehdaoui ersetzt. Die französische Polizei verhaftete die beiden jedoch zusammen mit weiteren FLN-Anführern am 26. Februar 1957, woraufhin wiederum ein neues Komitee die Führung des FLN in Frankreich übernahm26 . Erst nach der Entsendung des ehemaligen OS-Aktivisten Omar Boudaoud27 an die Spitze des FLN in der Metropole im Juni 1957 konnte die französische Föderation in der Zusammensetzung ihrer Führungsebene eine 22

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Das erste Führungskomitee des FLN in der Metropole bestand aus Mourad Terbouche, der ihm vorstand, Ahmed Doum (genannt Rédha Mohammed), Larbi Mahdi und Zerrouk (genannt Bouzid oder Ahcen). Auch Fodil Bensalem und »Sayed« Guerras schlossen sich der neuen Struktur an, die jedoch zunächst nur auf eine Basis von etwa 200 Aktivisten bauen konnte. Diese Version wird zumindest von Ali Haroun, Mohamed Harbi und Moussa Kebaili vertreten, während Ahmed Mahsas fest behauptet, dass sich der erste Kern des FLN in der Metropole um ihn herum gegründet habe, in enger Absprache mit Ben Bella in Ägypten. Daho Djerbal konstatiert diese Differenz, er kommentiert oder bewertet sie aber nicht und lässt seine Leser diesbezüglich im Unklaren: Djerbal, L’organisation speciale de la Fédération de France, S. 24–28. Ibid., S. 29. Haroun, La 7e wilaya, S. 26f. Ibid., S. 28. An dessen Spitze stand Tayeb Boulahrouf. Weitere Mitglieder waren Ahmed Boumendjel, Kaddour Ladlani, Hocine Moundji, Abdelkrim Souici und Said Bouaziz. Omar Boudaoud trat als 17-Jähriger dem PPA bei. Er war in die Vorbereitungen der Demonstrationen am 8. Mai 1945 verwickelt, wurde verhaftet und gefoltert. Nach einer Amnestie im Jahr 1946 kam er wieder frei und wurde dann zum Verantwortlichen der OS in der Basse Kabylie ernannt. 1948 wurde er erneut verhaftet und zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Nach seiner Freilassung wurde die OS von dem Zentralkomitee des PPA-MTLD aufgelöst. Boudaoud gehörte zu den Aktivisten, die sehr viel in den Aufbau der Organisation investiert hatten und wegen der Auflösung außer sich waren. Nach dem Beginn des Krieges ging er nach Marokko, hatte dort einen schweren Autounfall

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gewisse Konstanz entwickeln28 . Dies erreichte Boudaoud vor allem durch die Umstrukturierung der Direktion, die er mit eigenen Vertrauensleuten besetzte29 , nachdem er alle internen Gegner isoliert oder ausgeschaltet hatte30 . Um die Sicherheit der Direktion der französischen Föderation zu gewährleisten, setzte er schließlich durch, dass deren Standort von Paris nach Westdeutschland in die Region Köln-Bonn verlegt wurde. Seit dem Beginn des Jahres 1955 bis weit in den Sommer 1957 hinein musste der FLN seine Führungsstruktur infolge zahlreicher Verhaftungen nicht nur mehrfach neu besetzen, sondern aufgrund der steigenden Mitgliederzahlen auch immer wieder ausdifferenzieren und vergrößern31 . Hinzu kam, dass unter den Gründungsmitgliedern des FLN mehrfach Konflikte über die Frage entstanden, wer die französische Föderation anleiten sollte32 . Bis zum Soummam-Kongress war sie keinem Befehlshaber eindeutig zugeordnet und die Kader erhielten auch nach dem Kongress noch Anweisungen von Mohamed Boudiaf aus Rom, Abbane Ramdane in Algier und Ben Bella, der sich widerum in Kairo aufhielt. Die primäre Zuständigkeit Algiers für die französische Föderation war erst nach der Flugzeugentführung durch die französische Armee am 22. Oktober 1956 geklärt, bei der Ben Bella, Boudiaf, Ait Ahmed und Khider festgenommen wurden33 . Der 1924 in der Kabylei geborene Omar Boudaoud hatte die massiven Repressionen der französischen Armee im Mai 1945 am eigenen Leib erfahren. In seinen Memoiren schrieb er, dass er und viele andere damals zu der Überzeugung kamen, dass es sinnlos sei, eine Revolution ohne militärische Organisation zu beginnen, weshalb er sich in der neu gegründeten OS engagierte34 . Unter der Führung Boudaouds ging die französische Föderation des FLN seit dem Ende des Jahres 1957 dazu über, die algerischen Milieus der Metropole systematisch mit der Methode des quadrillage zu erfassen. Diese Methode sah vor, nicht mehr nur in Form von Mund-zu-Mund-Propaganda für die Ziele der Organisation zu werben. Vielmehr gab der FLN seinen Aktivisten kon-

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und traf später Abbane Ramdane, der ihm im Juni 1957 die Direktion der französischen Föderation des FLN übertrug. Boudaoud reiste über eine Kontaktperson des FLN in Madrid nach Paris: Haroun, La 7e wilaya, S. 33–37; Omar Boudaoud, Du PPA au FLN. Mémoires d’un combattant, Algier 2007. Haroun, La 7e wilaya, S. 28f. Von 1958 bis zur Unabhängigkeit wurde der FLN in der Metropole durch ein Fünferkomitee angeleitet, bestehend aus Kaddour Ladlani (politische Organisation), Said Bouaziz (Chef der OS), Ali Haroun (Presse und Information), Abdelkrim Souci – mit 23 Jahren der Jüngste – (Finanzen) und Omar Boudaoud (Vorsitz), vgl. ibid., S. 44. Meynier, Histoire intérieure du FLN, S. 540; Djerbal, L’organisation speciale de la Fédération de France, S. 56–58. Haroun, La 7e wilaya, S. 22–24. Ausführlich dazu: Linda Amiri, La Fédération de France du Front de libération nationale (FLN). Des origines à l’indépendance (1962–1962), Diss. Institut d’études politiques, Paris (2013). Haroun, La 7e wilaya, S. 27. Boudaoud, Du PPA au FLN, S. 38.

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krete geografische Einheiten vor, innerhalb derer sie agieren und möglichst viele Algerier für die Organisation gewinnen sollten35 . Damit entwickelte sich der FLN in der Metropole binnen drei Jahren von einem unübersichtlichen Netzwerk aus zum Teil voneinander isolierten Aktivistenzellen zu einem regelrechten Staat im Staat, dessen Machtansprüche zu Beginn des Jahres 1958 auch innerhalb der Metropole keinen Algerier gleichgültig lassen konnten.

3.2. Die vielen Wege in den FLN Auch in Lothringen entstand der FLN aus einem breit gestreuten Netzwerk vereinzelter Aktivistengruppen. Einem ausführlichen Bericht der BST über die Aktivitäten algerischer Nationalisten in Lothringen zufolge waren die ersten Gebiete, in denen Aktivitäten des FLN 1955 von der Polizei registriert wurden, die nahe Longwy gelegenen Nachbarorte Villerupt und Audun-le-Tiche, die Region um Hayange und Knutange sowie die Hauptstadt des Departements Meurthe-et-Moselle. Nancy war über mehrere Monate das Zentrum des FLN in der Region36 , repräsentiert durch den ehemaligen chef régional des MTLD, Mourad Terbouche. Dass außer Nancy auch Straßburg im ersten Jahr des Konflikts ein wichtiges Zentrum des FLN in Ostfrankreich war, führte der BST-Bericht auch auf den Einfluss algerischer Studenten zurück, die an einer von den medizinischen Fakultäten dieser Städte eingeschrieben waren37 . Tatsächlich übten die Revolutionäre des FLN auf algerische Studenten einen sehr viel größeren Einfluss aus als der MNA38 . Allerdings zählten die Messalisten in der Metropole zu Beginn des Jahres 1955 trotz aller Verhaftungen und Beschlagnahmungen mehrere Tausend Mitglieder39 , hatten noch mehr Sympathisanten und bedienten 35 36

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Haroun, La 7e wilaya, S. 47. Den Angaben des Historikers Yves Frey zufolge fand in Nancy am 20./21. Februar 1955 das zweite Treffen der ersten FLN-Kader in der Metropole statt, bei dem diese ihr Bekenntnis zu der neuen Organisation nach dem Treffen in Luxemburg mit Boudiaf erneuerten. Eine Quelle nennt Frey diesbezüglich nicht: Yves Frey, La guerre d’Algérie en Alsace. Enquête sur les combattants de l’ombre 1945–1965, Straßburg 2013, S. 78. François Borella, der in Nancy studierte und als Rechtsanwalt arbeitete, erinnerte sich, dass es dort bereits in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg auch algerische Studenten gab, vgl. Interview LH–Borella, 2014, S. 3f. Nach den Angaben des Chefs der BST von Metz, René Haiblet, von 1957 war der ehemalige Verantwortliche der Ost-Zone des FLN Chelid L’Bahi, bis zu seiner Verhaftung Medizinstudent: Compte rendu de la causerie faite à Nancy par René Haiblet, chef de la BST à Metz, aux officiers et sousofficiers de la gendarmerie: Le séparatisme algérien dans la 6e région – des conditions et des formes d’une répression efficace, 12. Dez. 1957, S. 4, AdM 370 W 1. Der FLN unterhielt auch eine eigene Studentenorganisation, die Union générale des étudiants musulmans algériens (Ugema), die ihre direkte Verbindung zum FLN aufgrund der politischen Situation nicht offen deklarierte. Einem von der Polizei beschlagnahmten internen Bericht des MTLD vom September

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sich weiterhin der Informations- und Organisationskanäle des MTLD. Somit konnte sich der FLN im Machtkampf gegen den MNA keineswegs auf seinen Einfluss im universitären Milieu beschränken. Stattdessen versuchten seine Aktivisten, direkt an die weitaus zahlreicheren algerischen Arbeiter heranzutreten, um sie für den FLN zu gewinnen. Der hohe Grad der Eigeninitiative, den die ersten FLN-Mitglieder dabei an den Tag legten, lässt sich etwa daran zeigen, dass es während der Anfangsphase des Krieges offenbar kein festes Muster des Einstiegs oder der Rekrutierung gab. In den Apparat des FLN führten mehrere Wege. Der Vergleich von sechs Zeitzeugenberichten hierzu zeigt, dass für die jeweils anwesenden Aktivisten die Orte und situativen Kontexte für den ersten direkten Kontakt der Betroffenen zum FLN eine sehr unterschiedliche Rolle spielten. Der 1937 geborene Medjani hatte bereits vor seiner Ankunft in Lothringen in der Kabylei Zeitungen des MTLD ausgetragen. Er kam 1953 als 16-Jähriger nach Forbach, um in der Nähe seiner dort lebenden Cousins Arbeit zu finden. Medjani wohnte in Merlebach, als die Polizei im Herbst 1955 dort größere Kontrollaktionen durchführte40 und eine erste Welle von Verhaftungen die Reihen der MNAAktivisten dezimierte. Bis dahin hatte Medjani einen regelmäßigen Beitrag für »die algerischen Nationalisten«41 im Barackenlager von Sainte-Fontaine gezahlt, nachdem sein dort lebender Cousin in seinem Namen damit begonnen hatte. Medjani erinnerte sich im Gespräch mit dem Autor dieser Studie, er habe nach den Festnahmen und der Abreise seines Cousins nach Algerien in Eigeninitiative damit begonnen, Algerier für einen »Neuaufbau« der Organisation in der Region zu gewinnen42 . Asmun war kurz nach dem Beginn des Unabhängigkeitskriegs als Hirte in Aïn Touta von algerischen Rebellen mit Geldforderungen konfrontiert worden. Er kam im Oktober 1955 als 17-Jähriger nach Lothringen, arbeitete dort in Saint-Avold und lebte in dem Wohnheim der Kaserne von Lahitolle. Asmun kannte in Saint-Avold bei seiner Ankunft niemanden. Er passte sich den Gewohnheiten der anderen Algerier an und zahlte einen Beitrag an den MNA, bis der FLN diesen 1957 verdrängte43 . Auf eine Initiative außerhalb von familiären Bindungen erfolgte auch die Rekrutierung Herrn Djaouts in den FLN. Dieser war 1953 mit 21 Jahren zunächst nach Nancy gekommen und hatte dort im Baugewerbe gearbeitet. Er

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1954 zufolge zählte dieser in der Metropole 9396 Sympathisanten, Aktivisten und Anhänger: Le préfet de la Moselle à monsieur le sous-préfet de Boulay, Château-Salins, Forbach, Metz-Campagne, Sarreguemines, Sarrebourg, Thionville, 22. Nov. 1954, Annex: rapport d’organisation (Sep. 1954), AdM 370 W 51. Es ist anzunehmen, dass damit die Kontrollaktionen der Polizei in Moselle im September 1954 gemeint waren. Medjani konnte auf Nachfrage nicht mit Gewissheit bestätigen, dass es sich dabei um den FLN handelte. Interview LH–Medjani, 2014, S. 16–18. Interview LH–Bougherra, Asmun und Yattuy, 2014, S. 8–13.

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erinnerte sich, von einem Arbeitskollegen angesprochen und in eine Zelle des FLN integriert worden zu sein, kurz nachdem er 1956 nach Forbach gezogen war, um eine Arbeit bei den HBL anzunehmen44 . Amenzu, ein Café- und Hotelbesitzer aus Metz, berichtete, sein Vater habe für die gesamte Familie einen Beitrag an den FLN gezahlt und so sei auch er in Kontakt mit der Organisation gekommen45 . Azayku, der 1955 mit 16 Jahren nach Metz kam, berichtete dem Autor, im Laufe des Jahres 1957 sei ein Unbekannter auf der Straße an ihn herangetreten und habe ihn in den FLN integriert. Dass sein Vater bereits seit der Ankunft der Familie in Moselle Mitglied des FLN gewesen sei, habe er selbst hingegen erst nach der Unabhängigkeit erfahren46 . Während hier die Familienbindung für den Eintritt in den FLN offenbar keine Rolle spielte, war sie im Fall von Herrn Bougherra wiederum entscheidend. Letzterer war als Zwölfjähriger 1951 mit seinem Vater nach Forbach gekommen. Er musste seinem Vater, der nie eine Schule besucht hatte, seit 1955 Anweisungen des FLN vorlesen und an seiner Stelle Briefe schreiben. Nach der Festnahme des Vaters im Sommer 1957 übernahm Bougherra selbst eine Funktion im FLN47 . Yattuy war mit zwölf Jahren in Algerien bei den Pfadfindern des MTLD gewesen und hatte dort unter anderem Lieder über Messali gesungen. Er gab gegenüber dem Autor an, zu den ersten zwölf Mitgliedern des FLN im Lager Sainte-Fontaine gehört und niemals Beiträge an den MNA gezahlt zu haben. Sein Onkel hingegen sei ein Anhänger des MNA gewesen48 . In Yattuys Erinnerung hatten familiäre Bande für ihn bei der Wahl des politischen Lagers keine Rolle gespielt. Yattuy: Mein Onkel zahlte an die Messalisten, ich zahlte an die Fédération de France [des FLN] und keiner wusste Bescheid! Mein Onkel wusste nicht, dass ich –. Damals gab es keine Familie, es gab kein Vertrauen zu niemandem. Er zahlte an die Messalisten, war zu 100 Prozent Messalist und ich –. Wir wohnten zusammen!49

Die Algerier, die sich zwischen 1955 und 1957 zum FLN bekannten, taten dies aus sehr unterschiedlichen Motiven. Die Organisation entstand einerseits aufgrund von Eigeninitiativen ehemaliger MTLD-Aktivisten oder Sympathisanten, wie im Fall von Medjani oder Yattuy50 . Es gab jedoch auch Personen, die die Organisation aus zunächst eher unpolitischen Gründen unterstützten wie etwa Bougherra, der seinem Vater bei dessen Schriftverkehr mit dem FLN assistierte. Dies trifft auch auf Herrn Amenzu zu, der nach der indirekten Re44 45 46 47 48 49 50

2. Interview LH–Djaout, 2014, S. 4. Interview LH–Amenzu, 2013, S. 1. Interview LH–Azayku, 2014, S. 8–10. Interview LH–Bougherra, 2014, S. 1–5. Interview LH–Bougherra, Asmun und Yattuy, 2014, S. 9–11. Ibid., S. 10. Die Eigeninitiative algerischer Nationalisten bei der Gründung der ersten Zellen des FLN in der Metropole hat auch Linda Amiri unterstrichen: Amiri, La Fédération de France, S. 160–163.

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krutierung durch seinen Vater in den FLN später als Café- und Hotelbesitzer einen erhöhten Beitrag sowohl an den FLN als auch den MNA zahlen musste, um von deren Mitgliedern nicht bedroht zu werden51 . Der FLN profitierte während der Anfangsphase des Krieges davon, dass der Wille zum Kampf und der überparteilich-nationale Sammlungsanspruch die Organisation für viele Algerier attraktiv machte, die nach den jahrelang erfolglosen Bemühungen der Anhänger Messali Hadjs, die Unabhängigkeit zu erreichen, nun einen grundlegenden politischen Wandel herbeisehnten52 . Es darf jedoch nicht unterschätzt werden, dass der FLN seinen Aufbau neben Propaganda und Vorstößen in der internationalen Politik auch sozialen Bindungen und Mitläufern verdankte.

3.3. Strategische Vorteile des FLN gegenüber den Messalisten Durch die dokumentierten Aktivitäten einzelner Kader wie Terbouche und anhand der Erinnerungen von Zeitzeugen wird deutlich, dass in Lothringen bereits während der ersten Monate des Algerienkriegs für die Mitgliedschaft im FLN oder zumindest für dessen Unterstützung geworben wurde. Die Polizei vor Ort registrierte jedoch erst um die Jahreswende 1955/1956 erstmals eine Häufung von freiwilligen oder erzwungenen Spendenaktionen für die Unterstützung der »in Nordafrika kämpfenden Befreiungsarmee«. Den Berichten nach waren diese in der Regel als »Kollekten« bezeichneten Geldsammlungen in Moselle von FLN-Aktivisten aus Thionville, Knutange, Florange53 und Metz54 durchgeführt worden, die sich jedoch nicht als solche zu erkennen gaben und als Empfänger der Gelder lediglich »die Rebellen« in 51 52

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Interview LH–Amenzu, 2013, S. 8. Gilbert Meynier hat bezüglich der Frage, welche Rolle der Zwang für die Macht des FLN spielte, eindeutig Position bezogen. Ihm zufolge war die große Mehrheit der algerischen Bevölkerung dazu bereit, einen Beitrag an den FLN zu bezahlen, und sympathisierte zumindest mit dem FLN, siehe Meynier, Histoire intérieure du FLN, S. 154. Die Polizei in Thionville berichtete, dass eine »nationale Spendenkampagne« für die »in Nordafrika kämpfende Befreiungsarmee« in der Region Thionville vom 15. Dezember 1955 bis zum 5. Januar 1956 stattgefunden habe. Dabei seien im gesamten Bezirk Thionville 182 000 Franc eingesammelt worden, die am 7. Januar auf dem nationalen Kongress von Givet dem Verantwortlichen für den Norden und Osten, Bouchenaf Salah, genannt Rachid aus Paris, übergeben worden seien. Er hatte die kasma-Chefs des Bezirks Thionville persönlich mit dieser »Kollekte« beauftragt, besonders die von Knutange und Florange: Commissariat central de Thionville, note d’information, 19. Jan. 1956, AdM 252 W 19. In Metz gab es allein zwei »Kollekten«, die in diesem Rahmen stattfanden: Eine in der Kaserne Krien, wo etwa 100 Algerier Summen zwischen 100 und 1000 Franc zahlten; bei dem Train-Parc du Sablon sei eine ähnliche »Kollekte« durchgeführt worden: Le préfet

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Algerien genannt hatten. Diese Informationen decken sich mit den Angaben mehrerer Zeitzeugen, die das offene Bekenntnis zum FLN in der Anfangsphase des Konflikts als riskant beschrieben, da die Vormachtstellung der Messalisten in Lothringen zunächst ungebrochen war. Erst im Frühling des Jahres 1956 beendeten die Aktivisten des FLN auch in Lothringen ihr Schattendasein und traten dort vermehrt als direkte Konkurrenten der Messalisten offen in Erscheinung. Am 8. März 1956 meldete die Gendarmerie Moselle erstmals den Fund eines Flugblatts mit dem Siegel FLN55 . Am 19. April 1956 berichtete die Gendarmerie in Daspich über einen gewalttätigen Übergriff, der dem FLN zugeschrieben wurde und sich gegen den MNA-Aktivisten Derbal Rabah gerichtet hatte56 . Im Mai führten verschiedene FLN-Aktivisten – nun explizit im Namen ihrer Organisation – »Kollekten« in Nancy57 , dem Metzer Vorort Pardoux und in Forbach58 durch. Dass nicht nur die Geldforderungen des MNA, sondern auch des FLN durchaus den Widerstand algerischer Migranten in Lothringen erregen konnten, zeigt ein Vorfall in Château-Salins. Dort zeigten mehrere algerische Bauarbeiter einen ihrer Kollegen an, der sie im Mai 1956 unter Androhung von Gewalt dazu drängen wollte, einen Beitrag an den FLN zu zahlen59 . Gemessen an den Einschätzungen des Chefs der Gendarmerie von Moselle, Gauroy, und der Häufigkeit der Propagandaaktionen algerischer Nationalisten in der Region60 schien der MNA während der ersten Jahreshälfte 1956 in

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de la Moselle, inspecteur général de l’administration à monsieur le ministre de l’Intérieur, DST, RG, SCINA, 20. Feb. 1956, ibid. Synthèse journalière des renseignements recueillis sur les Nord-Africains du chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 8. März 1956, S. 1, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 731. Synthèse journalière des renseignements recueillis sur les Nord-Africains du capitaine Aumaitre, commandant provisoirement la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 19. Apr. 1956, S. 1, ibid. Am 2. Mai 1956 verhaftete die französische Polizei Hocine Elkienz, der mit 400 000 Franc aufgegriffen wurde und sich als Verantwortlicher für die »Kollekten« des FLN in Metz zu erkennen gab: L’Est républicain, 10. Mai 1956. Am 9. Mai 1956 meldete die Gendarmerie, dass es einen Geldeintreiber des FNL (sein Name ist unleserlich) in dem Unternehmen Chanzy in Pardoux gebe. Der Verdächtige fuhr den Angaben nach auch öfter nach Forbach: Synthèse journalière des renseignements recueillis sur les Nord-Africains du chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 9. Mai 1956, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 731. Brigade de gendarmerie de Château-Salins, procès-verbal no 477, 29. Mai 1956. AdM 252 W 19. Am 1. Juni wurden gegen 21 Uhr Flugblätter in verschiedenen Straßen von CréhangeCité verteilt und auch an anderen Orten, in denen »Nordafrikaner« wohnten. Sie stammten vom MNA. Dem Bericht nach waren diese Blätter von drei »Nordafrikanern« verteilt worden, die in einem schwarzen Auto aus Richtung Metz gekommen waren. Das Nummernschild hatten die Zeugen nicht lesen können: Synthèse journalière des renseignements recueillis sur les Nord-Africains du capitaine Aumaitre, commandant provisoirement la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 13. Juni 1956, SHAT AG à

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Ostfrankreich gegenüber dem FLN noch das Übergewicht zu haben. Abgesehen von den »Kollekten« machte der FLN den Messalisten auch auf dem Gebiet der Propaganda zunehmend Konkurrenz. Am 2. Mai verteilten Anhänger beider Organisationen im Fensch-Tal Flugblätter, die zwei verschiedene Wege zur Unabhängigkeit vorzeichneten. Während der FLN sich ausschließlich an Algerier richtete und Soldaten, Hafenarbeiter und sonstige Arbeiter zu Desertion und Sabotage aufrief, beschwor der MNA französische und algerische Arbeiter, sich bis zur Realisierung der völligen Unabhängigkeit Algeriens zu gemeinsamen Aktionen zu vereinen61 . Dieser Appell des MNA stand mit seinem Aufruf für einen franko-algerischen Kampf gegen den Kolonialismus eindeutig in der Tradition der Propaganda des MTLD. In dem ausschließlich an Algerier gerichteten Aufruf des FLN war von einer möglichen französischalgerischen Eintracht keine Rede. Stattdessen lag der Fokus des Aufrufs auf einer direkten Konfrontation. Die Konkurrenz der beiden Organisationen wurde in Lothringen auch anhand der Durchführung ihrer jeweiligen »Kollekten« deutlich. Berichten der RG zufolge erzielte der FLN diesbezüglich deutlich bessere Ergebnisse als der MNA, da der FLN es besser verstand, sich die sozialen Bindungen unter den Algeriern zu Nutze zu machen. Beide Organisationen sammelten ihre Beiträge zum Ende des Monats ein. Während die Messalisten jedoch ausgewählte Geldeintreiber schickten, die sich an lokalen Listen der vor Ort erfassten Algerier orientierten, sammelten die Geldeintreiber des FLN in der Region die Beiträge derjenigen ein, die aus dem gleichen Ort stammten wie sie selbst. Anschließend sollte die Summe an einen FLN-Beauftragten des jeweiligen Dorfes oder der Stadt in Algerien geschickt werden62 . Ob dieses Verfahren wirklich überall konsequent eingehalten wurde, ist unter Historikern bis heute umstritten. Wahrscheinlich ist jedoch, dass die Bereitschaft der Migranten zur Zahlung von Geldbeiträgen höher war, wenn dieser von einem Bekannten eingesammelt wurde und die Aussicht bestand, dass das Geld dem Heimatdorf zugutekam. Die Sympathien gegenüber einem vermeintlich unbekannten Geldeintreiber dürften in der Regel wesentlich geringer gewesen sein, was letzteren wiederum zur Anwendung von Zwang oder Gewalt getrieben und damit einem höheren Verhaftungsrisiko ausgesetzt hätte. Der FLN war dem MNA während der Anfangsphase des Algerienkriegs in Lothringen zwar zahlenmäßig unterlegen. Die dezentrale Struktur der Orga-

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Metz, 2007 ZM 1/135 731. Am Abend des 26. Mai 1956 wurden in Carling Flugblätter verteilt, auf denen die Haftbedingungen von Messali Hadj angeprangert wurden. Man fand die Flugblätter am gleichen Abend auch in Forbach und in Petite-Rosselle: ibid., 30. Mai 1956. Synthèse journalière des renseignements recueillis sur les Nord-Africains du chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 7. Mai 1956, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 731. RG de Forbach, rapport, 18. Okt. 1956, AdM 252 W 19. Siehe auch Amiri, La Fédération de France, S. 160. Entsprechendes berichtete auch Amenzu: Interview LH–Amenzu, 2013, S. 2f.

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nisation machte diesen jedoch zunächst unempfindlicher für die Folgen der Verhaftungen einzelner Kader. Außerdem war der FLN nicht darauf angewiesen, seinen Forderungen durch den Aufbau einer Drohkulisse am gleichen Ort Nachdruck zu verleihen. Seine Machtposition in Algerien, über die auch die regionalen Zeitungen in Lothringen täglich berichteten, sowie die transmediterrane Organisation des Systems der »Kollekten« versetzten den FLN in die Lage, eine Androhung von Sanktionen gegen die Familien in Algerien als Druckmittel für Gehorsam und Loyalität der Algerier in Lothringen zu nutzen. Der ehemalige FLN-Aktivist Yattuy berichtete etwa, dass es ihm von der Organisation aus strategischen Gründen verboten worden sei, nach Algerien zu reisen, wo er seine Cousine heiraten wollte. Yattuys Onkel sei hingegen mit dem Tode bedroht worden, falls er seine Tochter in der Zwischenzeit jemand anderem zur Frau gebe: LH: Sie hatten also vor, eine Algerierin zu heiraten, der FLN hat ihnen verboten hinzufahren und dann sind Sie hiergeblieben? Yattuy: [nickt] Denn in Algerien sind mit den Frauen in den Bergen gewisse Dinge passiert. So wurde ich verlobt, nicht verheiratet – nun, es ist nur ein Wort – mit der Tochter meines Onkels. So hat mir mein Onkel einen Brief geschrieben, um mir zu sagen, du kommst nach Hause und heiratest. [. . . ] Also habe ich gesagt, dass ich fortgehen will. Aber sie haben gesagt, du gehst nicht, wir brauchen dich hier. Ich habe gesagt, aber wie –, sie haben gesagt, wenn du das Mädchen da wirklich willst, darf dein Onkel sie keinem anderen geben. Wenn er es doch tut, werden wir ihn töten. Das war nicht mein Wunsch –63 .

Im Gegensatz zum MNA war der FLN in Lothringen zur Mitte des Jahres 1956 in der Lage, Algerier ohne eine direkte Anwendung von Gewalt vor Ort sowohl zu begeistern als auch einzuschüchtern. Dies stellte einen entscheidenden Vorteil gegenüber den Messalisten dar, die zu diesem Zeitpunkt in Algerien nur noch wenig Einfluss hatten und in Lothringen nach einer Welle von Verhaftungen der Polizei Anfang September 1956 stark geschwächt waren. Die Gendarmerie ging im gleichen Monat davon aus, dass der FLN von algerischen Migranten im nördlichen Departement von Moselle bereits über 1 Million Franc pro Monat einnahm und den MNA in der Region Thionville an Mitgliederzahlen mit 520 gegen 415 dominierte64 . Dass der FLN sich gegen Ende des Jahres 1956 auch in Lothringen anschickte, den MNA zu verdrängen, war nicht allein das Resultat der Vorstöße der französischen Polizei gegen den MNA, sondern auch dem strategischen Vorgehen der Aktivisten vor Ort sowie nicht zuletzt dem zunehmenden Bekanntheitsgrad des FLN geschuldet. Seit der 10. Generalversammlung der UNO zwischen dem 20. September und dem 20. Dezember 1955 hatte es der FLN mit der Unterstützung der syrischen und der irakischen Delegationen 63 64

Interview LH–Bougherra, Asmun und Yattuy, 2014, S. 16. Le capitaine Aumaitre, commandant de la SG de Thionville au chef d’escadron, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 14. Sep. 1956, S. 7, SHAT AG à Thionville, 2007 ZM 1/135 904.

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II. Algerische Migranten zwischen Polizei, FLN und MNA

geschafft, dass die Algerienfrage dort verhandelt wurde und sich als fester Gegenstand der internationalen Politik etablierte65 . Die Propaganda des FLN inszenierte Akte der Gewalt gegen französische Militärs als einen Akt der Reinigung von der kolonialen »Verschmutzung«66 . Gegenüber Algeriern angewandte Gewalt sollte hingegen den Anspruch des FLN zum Ausdruck bringen, einziger legitimer Vertreter des zukünftigen unabhängigen algerischen Staats zu sein. Aufgrund dieses Selbstverständnisses konnte sich der FLN nicht damit begnügen, lediglich auf die Algerier Einfluss auszuüben, die sich aus politischer Überzeugung zu ihm bekannten. Als selbsternannte Führungskraft des Unabhängigkeitskriegs, in dem es galt, alle nationalen Kräfte gegen die Kolonialmacht zu sammeln, strebten sowohl der FLN als auch der MNA stets nach einer Maximierung ihrer Autorität gegenüber allen Algeriern. Die Anwendung von Einschüchterung und Gewalt erwies sich dabei als effektiv, aber auch riskant. Während der Verfall des MNA in Lothringen durch die Folgen aufsehenerregender Attentate maßgeblich beschleunigt wurde, erleichterte es den Aufstieg des FLN, dass dessen Mitglieder auf Gewaltaktionen zunächst weitgehend verzichteten. Laut dem SCINA war der Mord eines FLN-Aktivisten an dem USTA-Kader Mesbahi in Metz am 3. Juli 1957 die erste spektakuläre Aktion des FLN gegen die Messalisten in der Region67 . Die FLN-Aktivisten in Lothringen verstanden es bis zum Ende des Jahres 1957 deutlich besser als die Messalisten, das Risiko einer Verhaftung gering zu halten. Abgesehen vom weitgehenden Verzicht auf Attentate achtete der FLN im Vergleich zum MNA auch weniger streng auf die Einhaltung von Verhaltensregeln wie etwa das Verbot des Konsums von Alkohol, Tabak oder den Umgang mit französischen Frauen68 . Amenzu berichtete gar, der FLN habe die Algerier in Metz dazu ermuntert, Alkohol zu trinken, während der MNA es verboten habe69 . 65

66

67 68

69

Matthew Connelly, A Diplomatic Revolution. Algeria’s Fight for Independence and the Origins of the Post-Cold War Era, New York 2002, S. 127; Meynier, Histoire intérieure du FLN, S. 595. Zum Abstimmungsverhalten der einzelnen Mitgliedsstaaten bei den UNO-Generalversammlungen zwischen 1955 und 1962 siehe Khalfa Mameri, Les nations unies face à la »question algérienne« (1954–1962), Algier 1969. Meynier, Histoire intérieure du FLN, S. 215. Besonders öffentlichkeitswirksam wurde eine derartige Deutung und Legitimierung antikolonialer Gewalt von Frantz Fanon in dessen 1961 zuerst erschienenen Buch »Les Damnés de la terre« ausformuliert. Dieses Buch wurde zu einem der weltweit bekanntesten Unterstützungsmanifeste für den Unabhängigkeitskrieg des FLN: Frantz Fanon, Les damnés de la terre, Paris 2002, siehe insbes. S. 90f. SCINA départemental de la Moselle, procès-verbal de la réunion, 22. Juli 1957, S. 2, AdM&M 950 W 13. Le préfet de la Moselle, inspecteur général de l’administration à monsieur le ministre de l’Intérieur, cabinet – SCINA, direction générale de la Sûreté nationale (cabinet), 18. Nov. 1957, S. 3, AdM 370 W 1. Interview LH–Amenzu, 2013, S. 3.

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Den unmittelbaren Herausforderungen des Krieges in Algerien entsprechend, legte der FLN auf lokaler Ebene den Schwerpunkt seiner Aktivitäten auf das Einsammeln von Geldern und die systematische Anwerbung neuer Mitglieder70 . Anders als die Messalisten brachten sich die FLN-Aktivisten damit weniger in Gefahr, infolge von Schikanen verhaftet zu werden. Sie machten auch kein neues Konfrontationsfeld auf, wie es die USTA mit der CGT beziehungsweise den französischen Kommunisten tat. Wenige Tage nach der Gründung der USTA hatten FLN-Aktivisten im Februar 1956 zwar die konkurrierende Gewerkschaft UGTA gegründet. Diese vermied jedoch die Konfrontation mit der CGT und setzte die Anhänger des »Front« in Lothringen somit neben dem MNA, der Polizei und der Gendarmerie nicht noch einem zusätzlichen Kontrahenten aus71 .

3.4. Grenzüberschreitende Aktivitäten des FLN Die Gründer des FLN hatten alle Algerier dazu aufgerufen, ihre Organisation zu unterstützen und dabei ungeachtet des Aufenthaltsorts an eine nationale Identität appelliert. Nationalstaatliche Grenzen sollten weder in Nordafrika noch in Europa Barrieren für das Engagement im Unabhängigkeitskrieg darstellen. Im Falle Luxemburgs hatte bereits das von Boudiaf anberaumte Treffen im Januar 1955 gezeigt, dass der FLN Rückzugsgebiete in Form von Grenzregionen in seine Strategie von Anfang an mit einbezog. Nach Luxemburg setzten sich den Angaben der Gendarmerie zufolge auch zwei »Nordafrikaner« ab, die in der Nacht vom 18. auf den 19. März 1956 im Namen des FLN in dem Lager Bétange in Florange von den »nordafrikanischen Bewohnern« einen Beitrag von jeweils 1000 Franc verlangt hatten72 . Der französische Auslandsgeheimdienst SDECE berichtete im gleichen Monat, FLN-Aktivisten seien in Belgien unter anderem auf der Suche nach Pistolen, Maschinenpistolen, Sprengstoff und Funkgeräten, die sie nach Frankreich transportieren wollten, um dort Attentate zu begehen73 . 70

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73

Im Juli 1957 berichtete das Protokoll des SCINA in Moselle etwa, dass sich an mehreren Bahnhöfen FLN-Mitglieder postierten, um ankommende Algerier für ihre Organisation zu rekrutieren: SCINA départemental de la Moselle, procès-verbal de la réunion, 22. Juli 1957, S. 6, AdM&M 950 W 13. SCINA régional, 6e région, procès-verbal de la réunion, 7. Jan. 1958, S. 14, ibid. Synthèse journalière des renseignements recueillis sur les Nord-Africains du chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 28. März 1956, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 731. Bericht des SDECE an die Direction des affaires d’Algérie, secrétariat, 20. März 1956, AMAE, SEAA, 1959–1967, c. 12. Zwischen 1955 und 1957 berichtete die belgische Presse aus der Region Mons, Charleroi und Liège über etwa 50 Attentate, die wahrscheinlich im Zusammenhang mit den beiden Organisationen FLN und MNA standen: Jean L. Doneux, Hugues Le Paige, Le front du Nord. Des Belges dans la guerre d’Algérie, 1954– 1962, Brüssel 1992, S. 78.

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II. Algerische Migranten zwischen Polizei, FLN und MNA

Bereits seit 1955 war der FLN dem Zeitzeugen Salah Menad zufolge auch im Saarland aktiv. Salah Menad war bis Juni 1951 Vorsitzender einer SchülerSektion des MTLD in Philippeville (Skikda) gewesen74 , hatte dann ein Jahr in Algier studiert und war 1952 an die Universität Straßburg gewechselt. Er verfügte noch immer über enge Verbindungen zu ehemaligen MTLDMitgliedern, als er sich zu Beginn des Jahres 1955 nach Saarbrücken absetzte und dort nach eigenen Angaben sofort damit begann, algerische Arbeiter und Studenten im Saarland für den FLN anzuwerben75 . Medjani berichtete, dass er um den Jahreswechsel 1956/1957 noch keinen Kontakt zur französischen Föderation, dafür jedoch zu FLN-Aktivisten im Saarland unterhielt. Dazu überquerte er die Grenze mehrfach entweder mit seinem Moped bei Creutzwald oder mit der Bahn zwischen Forbach und Saarbrücken76 . Die damaligen Chefs des FLN im Saarland waren seinen Angaben zufolge Studenten, die in einigen Fällen von der saarländischen Polizei zur Kooperation gedrängt worden waren77 . Dies war nach Auffassung von Herrn Medjani auch der Grund für die moderaten Aktivitäten des FLN im Saarland, die sich bis 1956 ausschließlich auf die Durchführung von »Kollekten« beschränkt hätten: LH: Und wenn ich recht verstanden habe: Als Sie mit Algeriern im Saarland in Kontakt getreten sind, war der FLN dort bereits aktiv –? Medjani: Ja, ja! – Es gab dort einen Kern von Aktivisten. Es gab Einzelne, die Beiträge zahlten. [. . . ] Wenn Sie so wollen, gab es außerhalb des Eintreibens von Beiträgen keine Aktivität – man ließ sich ein wenig hängen, aber warum? Nun, der Verantwortliche der Region, der entsendet worden war, um die Aktivitäten dort anzuleiten, machte nicht viel. Er stand offen in Verbindung mit der Polizei von Saarbrücken. Da gab es eine Art Status quo: Wir lassen euch zufrieden und ihr macht nichts. So war das78 .

Nachdem sich die ersten Zellen des FLN in der Metropole zu einem Netzwerk verbunden hatten, wurden die Aktivisten im Ausland von denen in der Metropole strukturell getrennt, anders als im Fall des MNA. Das Saarland, später die Bundesrepublik, und Belgien hingen von einer anderen Zone der französischen Föderation ab als Lothringen79 . Dennoch überquerten die lothringischen Aktivisten etwa zur Beschaffung von Propagandamaterial oder zur Flucht mehrfach die Grenze und konnten dies im Fall des Saarlands auch aufgrund der Abwesenheit einer Zollgrenze weitgehend ungehindert tun80 . In die BRD unterhielt der FLN enge Kontakte zu dem Hamburger Waffenhänd-

74 75 76 77 78 79 80

Harbi, Une vie debout, S. 79f. Interview LH–S. Menad, 2014, S. 1–9. Interview LH–Medjani, 2014, S. 27f. Ibid., S. 22–25. Ibid., S. 36. Ibid., S. 34. Interview LH–Djaout, 2014, S. 17f.

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ler Otto Schlüter, mit dem sich einige Aktivisten im August 1956 in Düsseldorf getroffen hatten81 . Ein Fahndungserfolg der BST von Metz legte im März 1957 nahe, dass auch in Lothringen Waffen kursierten, die der FLN aus Hamburg importiert hatte. Im Café Roehrig in der Rue du Bac in Sarreguemines wurde im März 1957 Teklal Belkacem verhaftet; er trug 30 automatische Pistolen und Munition bei sich, die er offenbar aus der BRD mitgebracht hatte. Die Polizei fand außer den Waffen auch eine Rechnung bei ihm, die zwei von Hamburg aus getätigte Anrufe in dem betroffenen Café in Sarreguemines auflistete82 . Ebenso wie die Mitglieder des MNA machten sich auch die Aktivisten des FLN schon früh die strategischen Vorteile der Grenzregion zunutze. Mitglieder beider Organisationen aus Lothringen zogen sich in die nahe gelegenen Nachbarländer entweder zurück, um sich zu verstecken oder um sich dort Waffen zu besorgen.

3.5. Die anonyme Etablierung des FLN Dass der FLN spätestens 1957 in den meisten Orten Lothringens gegenüber dem MNA die Überhand erlangen konnte, war außer strategischem Geschick, seiner propagandistischen Attraktivität, diversen Formen der Einschüchterung sowie den Verhaftungen von Messalisten auch seiner organisatorischen Effizienz geschuldet. Diese wurde seit der Übernahme der Leitung der französischen Föderation durch Omar Boudaoud durch die Vorgabe einer streng gegliederten räumlichen Strukturierung aller Mitglieder ermöglicht. Nachdem sich die Führung der französischen Föderation in die Bundesrepublik abgesetzt hatte, erhielten die regionalen Verantwortlichen die Anweisung, die strenge hierarchische Gliederung aller Mitglieder in Zellen (cellules), Gruppen (groupes) und Sektionen in jedem Fall aufrecht zu erhalten und nach Möglichkeit zu erweitern83 . Nach dem Vorbild der paramilitärisch organisierten 81

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Bericht des SDECE an die Direction des affaires d’Algérie, secrétariat, 10. Aug. 1956, AMAE, SEAA, 1959–1967, c. 12. Zum Waffenschmuggel des FLN in der BRD unter besonderer Beachtung der Aktivitäten Otto Schlüters siehe Mathilde U. von Bülow, The Foreign Policy of the Federal Republic of Germany, Franco-German Relations, and the Algerian War, 1954–62. Diss. Univ. Cambridge (2006), S. 99–112. Im Dezember schien es der BST dann erwiesen, dass das »Roehrig« einen wichtigen Treffpunkt des chef régional des FLN in Ostfrankreich darstellte, weshalb gegenüber der Präfektur die Schließung des Cafés beantragt wurde: Le commissaire principal, chef de la brigade de surveillance du territore de Metz, René Haiblet, à monsieur le préfet de la Moselle, 6. Dez. 1957, AN, F/7/15114. Der Präfekt stimmte dem zu und ordnete die Schließung der Kneipe für sechs Monate an, was der Innenminister kurz darauf noch auf ein Jahr verlängerte: Arrêté du ministère de l’Intérieur, 3. Jan. 1958, ibid. Einem Bericht der DST zufolge galt diese Vorgabe etwa seit der Mitte des Jahres 1957: Direction générale de la Sûreté nationale: Implantation du FLN en métropole, Feb. 1958, S. 2, BArch, B 106–15779.

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II. Algerische Migranten zwischen Polizei, FLN und MNA

OS sollte die gesamte algerische Bevölkerung systematisch in den Apparat des FLN integriert werden. Auf der Ebene der Metropole war die Struktur des FLN 1957 in drei große Regionen (wilayas) unterteilt: centre-sud, nord-est und région parisienne84 . Auf der Basis von beschlagnahmten internen Dokumenten des FLN ging die Direction de la sûreté du territoire (DST) davon aus, dass die wilaya-nord-est im August 1957 insgesamt 13 536 Mitglieder zählte, während es im März zuvor noch 7525 gewesen waren. Die wilaya-nord-est des FLN umfasste eine Nord-Zone mit rund 4200 Mitgliedern, eine Ost-Zone mit 3851 Mitgliedern und eine Nord-Ost-Zone mit 5485 Mitgliedern. Letztere bestand wiederum aus den fünf Regionen Maubeuge-Ardennes (mit 1859 Mitgliedern), Belgique (700 Mitglieder), Saint-Dizier (650 Mitglieder), Moselle (1465 Mitglieder) sowie Meurthe-et-Moselle (820 Mitglieder)85 . Während die Aktivisten im Kohlebecken um Forbach und Sarreguemines an das Elsass angegliedert waren86 , zählte der gesamte Norden von Meurtheet-Moselle sowie der Nordosten des Departements Moselle mit den Orten Longwy, Villerupt, Briey, Homécourt, Knutange und Thionville zur Region Moselle. Den Angaben der DST zufolge waren die 1465 FLN-Aktivisten dieser Region im August 1957 in vier kasmas, 16 Sektionen, 61 Gruppen und 249 Zellen organisiert87 . Der Aufbau dieser kleinteiligen Organisationsstruktur des FLN vollzog sich von der regionalen Polizei weitgehend unbemerkt und in einem ständigen Tauziehen um die Macht mit den Messalisten. Der Kampf zwischen FLN und MNA um die politische Gefolgschaft der Algerier in Lothringen war eine Auseinandersetzung um Einflusssphären. Das regelmäßige Einfordern von Schutzgeldern, der Abkehr von der Konkurrenzorganisation und das Gebot des Stillschweigens gegenüber der Polizei konnten nur erfolgreich sein, wenn die jeweiligen Aktivisten innerhalb der von ihnen anvisierten Räume auch eine dauerhafte Autorität etablieren konnten. Sowohl für den MNA als auch für den FLN stellte die Machtausübung in geschlossenen oder eng begrenzten Räumen, in denen besonders viele Algerier zusammenkamen, ein besonderes Desiderat dar. Dies betraf in Lothringen, wie bereits im Fall des MTLD gezeigt wurde, vor allem Arbeiterwohnheime, Barackenlager sowie algerische Kneipen und Hotels. Anders als im Fall ihrer Vorgängerorganisation waren FLN und MNA dort jedoch nicht nur mit der Konkurrenz der jeweils anderen Organisation, sondern auch mit den Konse-

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Vgl. dazu die Abbildung bei Haroun, La 7e wilaya, S. 50. Direction générale de la Sûreté nationale: Implantation du FLN en métropole, Feb. 1958, S. 4–9, BArch, B 106–15779. Dies haben auch die Unterschungen von Yves Frey bestätigt: Frey, La guerre d’Algérie en Alsace, S. 113. Direction générale de la Sûreté nationale: Implantation du FLN en métropole, Feb. 1958, S. 8, BArch, B 106–15779.

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3. Die Anfänge des FLN in Lothringen

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quenzen der enorm gesteigerten Überwachung durch die Polizei und Gendarmerie konfrontiert. Allen Akteuren war bewusst, dass sich ihr Kampf um den politischen Einfluss auf die Algerier in der Region zu einem hohen Anteil an der Frage der Macht in den Massenunterkünften und Gastronomiebetrieben entscheiden würde. 3.5.1 Die Kontrolle des urbanen Raums im Becken von Nancy In Lothringen konnten sich Algerier und insbesondere antikoloniale Aktivisten seit dem Beginn des Algerienkriegs auf freien Plätzen aufgrund der Polizeiüberwachung noch weniger als zuvor sicher sein. Djaout berichtete, dass die Algerier in Forbach es während des Krieges generell vermieden hätten, sich in Gruppen von mehr als drei Leuten zu bewegen, da dies das Risiko erhöht habe, von Polizisten kontrolliert, verhaftet oder gar verprügelt zu werden88 . In größeren Städten wie Nancy und Metz, wo die meisten Algerier in eigenen Wohnungen lebten, konnten sie von algerischen Nationalisten unauffällig und in hoher Zahl am besten an öffentlich zugänglichen und zugleich geschlossenen Versammlungsorten wie etwa Bars und Hotels kontaktiert werden. Traditionell waren Cafés die wichtigsten Versammlungsorte der Algerier in den Städten und auch bedeutende Zentren der Politisierung und des politischen Austauschs89 . Die FLN-Aktivisten hinterlegten in der Anfangsphase des Konflikts ihre eingesammelten Gelder häufig bei algerischen Einzelhändlern, die die entsprechenden Summen im Fall einer Polizeikontrolle als eigene Erträge tarnen konnten90 . Amenzu berichtete, er habe in seinem Hotel für den FLN Gelder in Couscous-Säcken und Dokumente unter den Dachziegeln versteckt, die die Polizei bei einer Hausdurchsuchung nicht fand91 . Dass die von der Polizei häufig als »établissements arabes« bezeichneten algerischen Hotels und Gastronomiebetriebe in den inneralgerischen Auseinandersetzungen auf urbanen Terrain zu besonders umkämpften Orten wurden, wurde im Fall von Metz bereits durch die beiden Attentate des MNA auf das Café La Ville d’Oran deutlich. Zweimal hatten die Messalisten ein hohes Risiko auf sich genommen, um diesen wichtigen ersten Stützpunkt des FLN in der Hauptstadt des Departements Moselle wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Für algerische Gastronomen wurde die Situation in Lothringen während des Unabhängigkeitskriegs besonders schwierig. Vonseiten der Polizei wur88 89 90 91

2. Interview LH–Djaout, 2014, S. 6f. Omar Carlier, Le café maure. Sociabilité masculine et effervescence citoyenne (Algérie, XVIIe –XXe siècle), in: Annales. Histoire, sciences sociales 45 (1990), S. 975–1003. Interview LH–Medjani, 2014, S. 20. Interview LH–Amenzu, 2013, S. 4f.

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II. Algerische Migranten zwischen Polizei, FLN und MNA

den sie bereits seit dem Sommer 1955 mit der administrativen Schließung ihrer Etablissements bedroht, falls sie nicht sämtliche Informationen über die Aktivitäten algerischer Nationalisten weitergeben würden92 . Tatsächlich begannen die Präfekturen in Metz und Nancy zwei Jahre später damit, verstärkt von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen. Zwischen Juli 1957 und März 1962 wurden in Moselle und Meurthe-et-Moselle 65 algerische Hotels und Kneipen aufgrund angeblicher Implikationen in die Aktivitäten von MNA oder FLN zumindest vorübergehend geschlossen93 . Zu dem wachsenden Druck, den algerische Gastronomen seitens der Polizei erfuhren, kamen noch die Aktivitäten von MNA und FLN hinzu. Der Eindruck, in zunehmendem Maße zur vorrangigen Zielscheibe aller im Unabhängigkeitskrieg engagierten Parteien zu werden, trieb einige der Betroffenen dazu, sich nach einer alternativen Erwerbsmöglichkeit umzusehen. So berichteten die RG im April 1957, dass mehrere algerische Kneipen- und Hotelbesitzer in Nancy sich aufgrund der Aktivitäten von MNA und FLN zunehmend bedroht fühlten und planen würden, ihr Gewerbe aufzugeben94 . Nancy war die Ausgangsbasis des FLN in Lothringen. Zum Zeitpunkt des Ausbruchs des Algerienkriegs lebten dort etwa 2300 Algerier, darunter der wichtigste Verantwortliche der Region, Mourad Terbouche95 . Infolge der Verhaftung Terbouches im April 1955 schien es der Polizei zunächst, als sei der Aufbau der Organisation in der Stadt ins Stocken gekommen96 . Die Beamten erhielten keinerlei konkrete Informationen über den Zustand des FLN und registrierten in Meurthe-et-Moselle zwischen den großen Kontrollaktionen im September 1955 und Februar 1956 zunächst keinerlei Aktivitäten der Organisation97 . Genausowenig registrierten die RG unmittelbare Reaktionen der algerischen Migranten in Nancy auf die Aufstände des 20. August 1955 und die anschließenden Massaker der französischen Armee98 . 92

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98

Le préfet de la Moselle, inspecteur général de l’administration à MM. les chefs de circonscription de police de Metz, Thionville, Moyeuvre-Grande (commissaire de police de Hagondange), Forbach, Merlebach, Sarreguemines, M. le chef de poste de police de Sarrebourg, MM. les sous-préfets, 12. Sep. 1955, S. 2f., AdM 370 W 1. Vgl. die entsprechenden Dokumente in den Archives nationales, AN, F/7/15114. RG de Nancy, état d’esprit chez les commerçants nord-africains du bassin de Nancy, o. D., AdM&M 950 W 53. RG de Nancy, activité nationaliste algérienne en Meurthe-et-Moselle, 16. Okt. 1956, ibid. Es wurde spekuliert, dass eine interne »Säuberung« stattgefunden habe: Le commissaire principal, chef du service départemental [de Meurthe-et-Moselle] des RG à monsieur le préfet, directeur des RG, 31. Aug. 1955, ibid. RG de Nancy, activités terroristes en métropole, 17. Feb. 1956, ibid. Die Anfänge des FLN in Nancy sind, abgesehen von der Führungsebene, kaum zu rekonstruieren. Der Leiter der vom FLN kontrollierten Adaf von Nancy gab in einem Gespräch in seinem Büro am 29. August 2012 gegenüber dem Autor an, dass auch er die Mitglieder der ersten Zellen des FLN in Nancy nicht kannte. Le commissaire principal, chef du service départemental [de Meurthe-et-Moselle] des RG à monsieur le préfet, directeur des RG, 31. Aug. 1955, AdM&M 950 W 53.

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Obwohl die Organisation in Nancy für die Polizei nach der Verhaftung Terbouches zunächst gewissermaßen unsichtbar wurde, war der Einfluss der Unabhängigkeitsbewegung in Nancy weiterhin präsent. So fiel den Beamten im August 1955 auf, dass alle »Nordafrikaner« in Meurthe-et-Moselle unabhängig ihrer politischen Gesinnung die Vorgaben einhielten, keinen Alkohol mehr zu trinken, nicht zu rauchen und sich ordentlicher anzuziehen. In der Altstadt von Nancy war zudem beobachtet worden, dass seit dem 23. August nur noch sehr wenige Algerier ihr Viertel verließen und die meisten von ihnen den Kontakt mit »Europäern«99 mieden100 . Seit Mai 1956 hatten die RG keinen Zweifel mehr daran, dass sich die Algerier in Nancy mehrheitlich zum FLN bekannten101 . Dieser konzentrierte sich beim Aufbau seines Netzwerks auf das Stadtzentrum und legte daher den Schwerpunkt seiner Aktivitäten auf entsprechend situierte Hotels und Cafés. Im Februar 1957 stützte sich der FLN in Nancy nach Angaben der Polizei vor allem auf fünf Kneipen in der Altstadt, die in unmittelbarer Nähe zueinander lagen102 . Während der FLN sich somit durch eine hohe räumliche Konzentration einzelner Stützpunkte ein fest eingerahmtes Einflussgebiet inmitten des wichtigsten algerischen Wohnviertels der Stadt schaffen konnte, lagen die Stellungen der Messalisten deutlich weiter voneinander entfernt103 . Die Beständigkeit der Kontrolle des FLN über die Altstadt von Nancy zeigt sich darin, dass es den Anhängern des MNA im südlichen Teil von Meurtheet-Moselle nicht gelang, sich gegenüber dem FLN zu etablieren, und dass sie allein im Norden des Departements ihr Einflussgebiet wahren konnten104 . Die Altstadt von Nancy war seit dem Beginn des Algerienkriegs das wichtigste Machtzentrum des FLN in Lothringen. Vor allem von der Kontrolle dortiger Gastronomiebetriebe ausgehend, konnte die Organisation dort bis zum Beginn des Jahres 1958 ihre mit Abstand stärkste kasma in Meurthe-et99

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Die Bezeichnung »Europäer« weist in diesem Kontext auf eine weitere Übernahme des Kolonialjargons durch die lothringische Polizei hin. Um die Statusunterschiede zwischen Algeriern und Algerienfranzosen zu verschleiern bzw. als natürlich gegeben erscheinen zu lassen, wurde in der Kolonie häufig ein Gegensatz zwischen Muslimen und Europäern konstruiert, obwohl die Nachfahren der Einwanderer aus Spanien, Malta und anderen Ländern durch ein Gesetz vom 26. Juni 1889 offiziell eingebürgert worden waren. Mit der Bezeichnung »Europäer« meinten vermutlich auch die lothringischen Behörden französische Staatsbürger nichtalgerischer Herkunft und nicht etwa ein Kollektiv aus Franzosen und europäischen Ausländern. Le commissaire principal, chef du service départemental [de Meurthe-et-Moselle] des RG à monsieur le préfet, directeur des RG, 31. Aug. 1955, AdM&M 950 W 53. RG de Nancy, activité des Nord-Africains, 14. Mai 1956, ibid. Drei befanden in der Rue de la Hache (Nr. 92, 71, 88), eine in der Rue Saint-Nicolas (Nr. 103) und eine weitere in der Rue des Sœurs-Macarons (Nr. 40). Wichtige Hochburgen des MNA waren im Februar 1957 den Erkenntnissen der Polizei zufolge ein Wohnheim in Maxéville (Route de Metz), das Café Printania in Malzeville (1, rue d’Amance), die Bar du Soleil (53, rue Saint-Nicolas) und das Café Slamani (6, rue Guilbert-de-Pixérécourt). RG de Nancy, note, 22. Feb. 1957, AdM&M 950 W 53.

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II. Algerische Migranten zwischen Polizei, FLN und MNA

Moselle etablieren (siehe Tabelle 4). Im Zuge von drei Polizeiaktionen zwischen dem 12. November und dem 23. Dezember 1957 wurde der FLN zwar durch die Verhaftung von 46 Aktivisten in Meurthe-et-Moselle geschwächt105 . In Nancy konnte die Organisation ihre Vormachtstellung jedoch weiterhin erhalten: Nach Angaben der Polizei trieb der FLN im Januar 1958 von einem Drittel der in Nancy lebenden Algerier einen regelmäßigen Beitrag ein. Der FLN hatte das Departement zu diesem Zeitpunkt in drei Regionen unterteilt, die alle der wilaya-nord-est unterstanden. Die erste Region umfasste 910 Beitragszahler, von denen 723 in 144 Zellen in Nancy-Ville organisiert waren, während sich die übrigen Mitglieder auf Pont-à-Mousson, NeuvesMaisons und Foug verteilten. Longwy, Villerupt, Homécourt und Piennes, die der zweiten Region des FLN zugeordnet waren, zählten insgesamt 375 Beitragszahler. Die Stadt Toul war der dritten Region zugeordnet und zählte nur 93 Beitragszahler. Insgesamt lebten demnach über die Hälfte der insgesamt 1378 Beitragszahler des FLN in Meurthe-et-Moselle in Nancy106 . Tabelle 4: Zellen und Beitragszahler des FLN in Meurthe-et-Moselle, Januar 1958 Ort Nancy Pont-à-Mousson Neuves-Maisons Foug Longwy Villerupt Homécourt Piennes Toul

Zellen des FLN

Beitragszahler

144 16 16 4 36 20 8 12 18

723 82 86 19 177 98 41 59 93

3.5.2 Kampf um die Lager und Arbeiterwohnheime der Region Thionville Außerhalb der größeren Städte richteten sich die Machtansprüche der Aktivisten des MNA und des FLN in Lothringen vor allem auf die verschiedenen Arbeiterwohnheime und Barackensiedlungen, in denen viele Algerier auf engstem Raum zusammenlebten. 1957 zeigte sich dies besonders deutlich in der Region um Thionville, wo der Verantwortliche der FLN-Region Moselle nach Angaben der DST im August seinen Hauptsitz hatte107 und etwa ein 105 106 107

Le commissaire principal, chef du service départemental [de Meurthe-et-Moselle] des RG à monsieur le préfet, directeur des RG, 14. Jan. 1958, ibid. Ibid. Direction générale de la Sûreté nationale: Implantation du FLN en métropole, Feb. 1958, S. 8, BArch, B 106–15779.

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3. Die Anfänge des FLN in Lothringen

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Drittel aller Algerier des Departements lebte: Die Gendarmerie registrierte im September 1956 im Arrondissement von Thionville 22 Arbeiterwohnheime mit insgesamt 4855 »nordafrikanischen Bewohnern«. In Florange lebten davon 1750, wovon etwa 1000 Arbeiter der Sollac waren; sie lebten in den beiden Lagern von Ébange (400) und Grossend (600). Weitere 500 in Florange lebende Algerier waren den Angaben nach Arbeiter des Unternehmens Wendel und wohnten im Lager Bétange108 . Im Frühling des Jahres 1956 schien es der Polizei noch, als würden in Florange sowohl die Arbeiterwohnheime als auch die algerischen Kneipen dem Einfluss des MNA unterliegen109 , auch wenn immer wieder deutlich geworden war, dass die Macht der Messalisten keineswegs unumstritten blieb. So hatten etwa im Januar 1956 im Lager Bétange zwei algerische Bewohner einen weiteren mit dem Tode bedroht, da dieser sich geweigert hatte, einen Beitrag an sie zu zahlen110 . Spätestens seit dem Herbst 1956 waren auch Mitglieder des FLN in Bétange aktiv. Am 31. Oktober fand die Gendarmerie dort mehrere Flugblätter des FLN, die sich auf den zweiten Jahrestag des 1. Novembers 1954 bezogen111 . Etwa einen Monat später meldete die Gendarmeriebrigade von Florange, in der Nähe des Lagers seien Flugblätter mit der Aufschrift »À bas les pseudo-patriotes« verteilt worden, die vom MNA stammten und sich gegen die Mitglieder des FLN richteten112 . Im September 1956 stufte die Gendarmerie den Einfluss des FLN in Moselle insgesamt eher als gering ein. Lediglich in der Region Thionville schien es den Beamten, als würde sein Einfluss den des MNA überragen113 . Nach Informationen der RG hatte der FLN allein in den Bezirken Longwy und Thionville in jenem Monat insgesamt 1 086 000 Franc eingesammelt, was bei einem Beitrag von 1000 Franc für algerische Arbeiter auf rund 1000 Beitragszahler in dieser Region schließen lässt (siehe Tabelle 5). 108

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110

111 112 113

Le capitaine Aumaitre, commandant de la SG de Thionville, au chef d’escadron, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 14. Sep. 1956, S. 4, SHAT AG à Thionville, 2007 ZM 1/135 904. Am 17. April 1956 machte die Gendarmerie eine Hausdurchsuchung im algerischen Café Moknache in Florange. 150 timbres-vignettes des MTLD, die vom 1. April 1956 datierten, wurden bei Bouziane Abderazad ben Mohamed gefunden, 26 Jahre alt und wohnhaft in diesem Café. Er wurde verhaftet: Synthèse journalière des renseignements recueillis sur les Nord-Africains du capitaine Aumaitre, commandant provisoirement la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 19. Apr. 1956, S. 1, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 731. Synthèse journalière des renseignements recueillis sur les Nord-Africains du chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 2. Feb. 1956, S. 1, ibid. Ibid., 5. Nov. 1956. Ibid., 11. Dez. 1956. Le chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, au général, commandant régional de la gendarmerie nationale de la 6e région militaire, 21. Sep. 1956, S. 13, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 731.

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II. Algerische Migranten zwischen Polizei, FLN und MNA

Tabelle 5: FLN-Einnahmen aus den Regionen Longwy und Thionville, September 1956 Orte Audun-le-Tiche Knutange – Hayange – Fontoy Sérémange – Florange Uckange – Thionville Ebange – Daspich Villerupt Longwy Gesamt

Einnahmen (Franc) 179 000 216 500 144 000 59 000 20 000 416 000 52 000 1 086 500

Trotz ihres bedeutenden Machtgewinns in der Region Thionville hielten sich die Aktivisten des FLN gegenüber den Messalisten im Verlauf des Jahres 1956 aber weitgehend im Hintergrund. Dies legen nicht nur Polizeiberichte nahe. Badis, der bis November 1956 im Wohnheim der Sollac in Ébange gelebt hatte und Mitglied des MNA gewesen war, erinnerte sich, lediglich durch die ihm vorgesetzten Kader von den lokalen Aktivitäten des FLN erfahren zu haben114 . Erst ab dem Sommer 1957 wurde die Erosion des Einflusses der Messalisten zugunsten des FLN auch in der Region Thionville offenbar. Sie zeigte sich in einer wachsenden Anzahl ungeklärter Gewaltakte, die sich innerhalb oder in unmittelbarer Nähe der örtlichen Wohnheime und Barackensiedlungen ereigneten. Am 28. Juli 1957 schlugen sieben oder acht maskierte, mit Pistolen und Knüppeln bewaffnete Personen zwischen 23.30 Uhr und Mitternacht im Lager Ébange zwei »Nordafrikaner« zusammen. Die bei der Sollac angestellten Opfer mussten ins Krankenhaus gebracht werden, verweigerten aber jegliche Angabe zu den Tätern und deren Motiven115 . Dieses Muster wiederholte sich etwa eine Woche später im Lager Bétange, wo gegen Mitternacht zunächst drei »Nordafrikaner« von fünf anderen »Nordafrikanern« mit Knüppeln zusammengeschlagen wurden. Sie mussten ins Krankenhaus gebracht werden und verweigerten im Zuge der anschließenden Ermittlungen jede Aussage bezüglich der Täter116 . Drei Wochen später, am 24. August gegen 22.15 Uhr, wurden knapp 15 Kilometer davon entfernt auf zwei weitere »Nordafrikaner« in der Rue Foch in Clouange mehrere Schüsse abgefeuert. Auch hier wollten die Angegriffenen keinerlei Angaben zu den Tätern machen117 . Am 4. September 1957 beschossen in Florange mehrere »Nordafrikaner« zwei Algerier, die gerade ihren Bruder in Ébange besucht hatten. Einer von ihnen erlitt 114 115 116 117

Interview LH–Badis, 2015, S. 58. Synthèse de renseignements recueillis sur les N.A. par le capitaine Aumaitre, commandant de la SG de Thionville, 30. Juli 1957, SHAT AG à Thionville, 2007 ZM 1/135 905. Ibid., 5. Aug. 1957. Ibid., 26. Aug. 1957.

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3. Die Anfänge des FLN in Lothringen

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dabei eine Schussverletzung an der Hüfte. Zu den Tätern oder deren Motiven machten die Angegriffenen keinerlei Angaben118 . Dies war auch bei den fünf »Nordafrikanern« der Fall, die am 14. Oktober in der cantine Goetz im Lager Bétange gegen 22.30 Uhr von mehreren »Nordafrikanern« geschlagen worden waren119 . Die wahrscheinlich auf Einschüchterungen zurückgehende Verschwiegenheit der Opfer ermöglichte es Polizei und Gendarmerie nur vereinzelt, ein Motiv festzustellen. In der Regel waren derart heftige Auseinandersetzungen in den Konkurrenzkampf zwischen FLN und MNA einzuordnen120 . Polizei und Gendarmerie registrierten zwar an mehreren Orten gleichzeitig einen Machtverfall der Messalisten wie auch eine Häufung ungeklärter Attentate gegen Algerier. Die einzelnen Schritte des Aufbaus und der Machtausweitung des FLN in Lothringen konnten sie jedoch erst später rekonstruieren. Der Vergleich mit dem MNA zeigt, dass die diskreteren Methoden des FLN in dieser Phase ein wesentliches Geheimnis seines Erfolges waren. Seit dem Ende des Jahres 1957 ging die Polizei davon aus, dass es innerhalb Lothringens nur noch in den Umkreisen von Longwy, Thionville und Metz aktive Messalisten gab121 . Deren Zahl variierte jedoch in den einzelnen Gebieten stark. Nach den Verhaftungen, die auf den zweiten Überfall auf das Café La Ville d’Oran 118

119

120

121

Synthèse de renseignements recueillis sur les N.A. par l’adjudant-chef Francois, commandant provisoirement la SG de Thionville, 7. Sep. 1957, SHAT AG à Thionville, 2007 ZM 1/135 905. Synthèse journalière des renseignements recueillis sur les N.A. du chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 18. Okt. 1957, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 732. Einen solchen Fall hielt der folgende Bericht der Gendarmerie fest: Am 16. April 1958 griff ein Algerier gegen 7 Uhr morgens in Bétange drei weitere Algerier an. Bei dem Täter handelte es sich um Ahmed Rahlem (*1922 Batna, Algerien). Er hatte mit einem Beil mehrfach auf Menacer Mouloud (*1926 Belezma, Constantine und inkognito im Lager) eingeschlagen, ihn dabei getötet und noch zwei weitere Algerier verletzt. Alle drei Opfer hatten in Bétange gewohnt. Der Mörder hatte nach Angaben der Gendarmerie regelmäßig einen Beitrag an den MNA gezahlt und war mehrfach von Menacer dazu aufgefordert worden, dem FLN beizutreten. Er hatte dies jedoch immer abgelehnt. Weil er dachte, er würde überwacht, verließ er das Lager von Bétange für einige Tage und arbeitete nicht. Als er am 16. April gegen 6 Uhr morgens in das Lager zurückkehrte, fand er Menacer in seinem Bett vor, der ihn erneut aufforderte, einen Beitrag für den FLN zu zahlen. Daraufhin brach ein heftiger Streit aus und weil Rahlem sich bedroht fühlte, nahm er ein Beil zur Hand und schlug auf den Kopf von Menacer ein, der wenige Minuten später starb. Aiche und Benlouanas, die ihre beiden Kameraden trennen wollten, wurden verletzt. Von den Wächtern des Lagers entwaffnet, wurde Rahlem kurz darauf von der Gendarmerie von Florange verhaftet. Er wurde durchsucht und man fand bei ihm zwei Quittungen des MNA über eine Summe von jeweils 1600 Franc. Im Zuge des kurzen Verhörs gab Rahlem an, dass Benlouanas ein Eintreiber des MNA sei: Synthèse de renseignements recueillis sur les Français de souche nord-africaine, 17. Apr. 1958, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 733. SCINA régional, 6e région, procès-verbal de la réunion, 20. Juni 1958, S. 1, AdM&M 950 W 13.

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II. Algerische Migranten zwischen Polizei, FLN und MNA

erfolgt waren, stand der MNA in Metz kurz vor dem Abgrund. In der Region Longwy hingegen konnten die Messalisten noch im Dezember von einer Offensive der Polizei gegen den FLN profitieren, bei der fünf chefs de groupe aus Villerupt, Gouraincourt, Mont-Saint-Martin und Herserange verhaftet wurden122 . In der Region Thionville erlebte der FLN im Dezember 1957 ebenfalls einen Rückschlag, nachdem Unbekannte mehrere Schüsse auf einen lieutnantcolonel im Ruhestand abgegeben hatte, der in der SMK für nordafrikanische Arbeiter zuständig war. Im Zuge der anschließenden Ermittlungen entdeckten die Beamten vier Listen mit insgesamt 49 Namen von Geldeintreibern des FLN. Eine darauffolgende Durchsuchung von Polizei und Gendarmerie in mehreren Wohnheimen in Florange, Knutange und Hayange führte zu der Verhaftung von 25 Geldeintreibern des FLN123 . Abgesehen von der Region um Longwy konnten diese Verhaftungen den Aufstieg des FLN jedoch nur kurzzeitig bremsen. Auf der Basis von internen Dokumenten des FLN ging die BST im August 1957 davon aus, dass um die zehn Prozent aller Algerier in den Departements Moselle und Meurthe-etMoselle Beiträge an den FLN zahlten124 : Im Januar 1958 setzte der monatliche Bericht des SCINA der 6. Militärregion diese Zahl auf 18 Prozent an125 . Dem FLN gelang sein Aufschwung in Lothringen aufgrund von Anweisungen führender Kader, der Eigeninitiative ehemaliger MTLD-Aktivisten, Sympathisanten, aber auch durch Familienbindungen. Dass die Organisation einen Unabhängigkeitskrieg gegen Frankreich begonnen hatte, erregte bei vielen Migranten Aufmerksamkeit und grundsätzliche Sympathie. So konnte binnen zwei Jahren ein Netzwerk des FLN innerhalb des Dreiecks Nancy, Saarbrücken und Longwy als Konglomerat zunächst voneinander isolierter Zellen entstehen, die nur allmählich in Kontakt miteinander traten. Aufgrund ihrer Bekämpfung durch die französische Polizei und den MNA konnten sie erst seit der zweiten Jahreshälfte 1956 als eine verbundene Struktur agieren. Der FLN profitierte in erster Linie davon, dass die Adressaten seiner Kontrollforderungen Migranten waren, die sich einer Region verbunden fühlten, in der er vor den Augen der Weltöffentlichkeit den Unabhängigkeitskrieg vorantrieb. Ob durch Bewunderung oder Bedrohung – dies ermöglichte dem FLN einen ebenso diskreten wie rapiden Aufbau einer Sympathisanten- und Mitgliederbasis in Lothringen. Erst seit der zweiten Jahreshälfte 1956 – viel später als bei den Messalisten – setzten sich die Aktivisten des FLN in Lothrin122 123 124

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Le Républicain lorrain, 1. Dez. 1957. Synthèse de renseignements recueillis sur les N.A. par le capitaine Aumaitre, commandant de la SG de Thionville, 10. Dez. 1957, SHAT AG à Thionville, 2007 ZM 1/135 905. Compte rendu de la causerie faite à Nancy par René Haiblet, chef de la BST à Metz, aux officiers et sous-officiers de la gendarmerie: Le séparatisme algérien dans la 6e région – des conditions et des formes d’une répression efficace, 12. Dez. 1957, S. 5, AdM 370 W 1. SCINA régional, 6e région, procès-verbal de la réunion, 7. Jan. 1958, S. 14, AdM&M 950 W 13.

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3. Die Anfänge des FLN in Lothringen

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gen dem Risiko aus, infolge von Gewalthandlungen Opfer von Verhaftungen zu werden. Dies konnten sie sich erlauben, nachdem sie es geschafft hatten, in bestimmten Gebieten einen soliden Grundstock an Mitgliedern und Beitragszahlern zu rekrutieren. Anders als die Messalisten ging der FLN in Lothringen nicht von einer erodierenden Machtposition aus, die der MNA zum Anlass für massive Einschüchterungsmaßnahmen und Anwendungen von Gewalt nahm. So konnten sich die verschiedenen Sympathisanten des FLN sammeln, während Polizei und Gendarmerie zunächst vor allem die Nachfolgeorganisation des MTLD und deren oftmals brutal vorgehenden Aktivisten im Blick hatten.

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4. Die politische Mobilisierung algerischer Migranten in Lothringen und ihre Folgen In den Jahren 1955 bis 1957 erreichten die Auswirkungen der Auseinandersetzungen um die politische Zukunft Algeriens in Lothringen eine solche Intensität, dass sich ihnen kein Algerier mehr entziehen konnte. Die Migranten sahen sich nicht nur mit einer massiven Steigerung der Machtansprüche algerischer Nationalisten und der Etablierung eines Generalverdachts durch Polizei und Gendarmerie konfrontiert. Außerdem veränderten der Krieg und die damit verbundenen Zuschreibungen in Lothringen auch die Haltung vieler Unternehmer und der übrigen Bevölkerung zu Algeriern zum Negativen. Dieser Prozess ist insofern von besonderer Bedeutung, weil der mögliche Zugang zum Arbeitsmarkt die Grundvoraussetzung für die Anreise der meisten Algerier nach Lothringen war.

4.1. Erste Reaktionen auf den Algerienkrieg Bereits im ersten Jahr des Algerienkriegs war der Konflikt in Lothringen nicht allein für Algerier von Relevanz. In unterschiedlicher Form und Intensität sahen sich auch zahlreiche Franzosen 1955 mit Auswirkungen des Kolonialkriegs konfrontiert. Dies geschah auf vergleichsweise subtile Weise, aber dafür auf besonders breiter Ebene durch die ausgiebige Berichterstattung der regionalen Zeitungen über die Rebellion. Nach den Berichten auf zahlreichen Titelseiten, die die Auseinandersetzungen in Algerien zum Thema hatten, konstatierte der »Républicain lorrain« im Mai 1955, dass Algerien zum wichtigsten politischen Thema für Frankreich geworden sei. Die Zeitung aus Metz nahm dies zum Anlass, den Sonderkorrespondenten Claude Delmas dorthin zu entsenden. Dieser sollte den Lesern ein genaues Bild der Lage liefern, wobei entsprechend der regierungstreuen Linie der Zeitung vor allem Ausführungen des Generalgouverneurs Jacques Soustelle zitiert wurden1 . Sowohl beim verwendeten Vokabular, der Auswahl bei der Darstellung als auch bei den politischen Bewertungen dominierte in allen lothringischen Medien zumindest bis September 1959 eine Pro-»Algérie-française«-Position. Mehr oder weniger explizit traten ihre Reporter für den Erhalt des politischen Status quo ein2 und beschrieben Algerier entweder in diesem Zusammen-

1

Le Républicain lorrain, 31. Mai 1955.

https://doi.org/10.1515/9783110644012-008

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hang oder bei anderer Gelegenheit häufig als naiv und rückständig3 . Daher führten die Medien als Ursachen für die Rebellion in der Regel auch nicht die koloniale Situation oder die Bestrebung nach politischer Emanzipation an, sondern in erster Linie soziale Faktoren wie etwa Arbeitslosigkeit und mangelnde administrative Einbindung4 . Sie lagen damit ganz auf einer Linie mit der französischen Propaganda5 . Auf mögliche Verbindungen zwischen der Rebellion und den algerischen Migranten in Lothringen wurden die Leser der größten lothringischen Regionalzeitung aus Metz in dieser Phase nur selten gestoßen6 . Sofern es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Algeriern in Lothringen kam, unterstellten die meisten Berichte als Tatmotive Raub, Rache oder Alkoholeinfluss7 , sodass der politische Charakter der inneralgerischen Auseinandersetzungen gegenüber kolonialen Stereotypen in den Hintergrund trat. Anders als die regionalen Medien nahm der lothringische Klerus den Beginn der bewaffneten Auseinandersetzungen in Algerien durchaus zum Anlass, um sich verstärkt mit den algerischen Migranten in der Region zu befassen. So unterstrich etwa die Wochenzeitschrift des Bistums Nancy, »La Semaine religieuse«, im August 1955 die Relevanz der Probleme Algeriens mit Blick auf die bedeutende »colonie algérienne«, die »vor den Türen der Lothringer« leben würde. Valentine Gauchotte hat gezeigt, dass der Klerus in dieser Phase versuchte, eine eindeutige Positionierung in dem Konflikt zu vermeiden, was etwa darin zum Ausdruck kam, dass in politischen Positionierungen stets die Gleichheit aller »Rassen« und Menschen vor Gott betont wurde. In Bezug auf die Migranten vor Ort warben die Katholiken nicht für Mitleid, sondern für Verständnis und soziale Unterstützung8 . Letztere fanden die Algerier vor allem in den größeren Städten9 . In Metz und in Nancy traten

2 3

4 5

6 7 8 9

Wichtige Ausnahmen stellten diesbezüglich auch in Lothringen die kommunistische und trotzkistische Presse dar. Hierzu liegt jedoch bis heute keine einzige konkrete Studie vor. Der Ethnologe Jean Servier schrieb etwa in einem Artikel des »Républicain lorrain«, dass er selbst gesehen habe, wie MTLD-Aktivisten Barthaare Messali Hadjs an sterile algerische Frauen verkauft hätten, die sich davon Fruchtbarkeit erhofften: L’Est républicain, 19. Dez. 1954. In einem späteren Artikel bezeichnete der Korrespondent Claude Delmas das Aurès-Gebirge als einen »psychologische[n], politische[n] Abszess«, von dem die Rebellion ausgegangen sei und wo eine von der Zivilisation abgeschottete, völlig ignorante Bevölkerung wie ihre Vorfahren vor 2000 Jahren lebe: Le Républicain lorrain, 31. Mai 1955. L’Est républicain, 1. Juni 1955. Thénault, Histoire de la guerre d’indépendance algérienne, S. 60; Daniel Lefeuvre, Les réactions algériennes à la propagande économique pendant la guerre d’Algérie, in: Ageron (Hg.), La guerre d’Algérie, S. 231–244. So etwa, als die Zeitung im Mai titelte: »Ein falscher Hausierer sammelte in der Region Spenden für die Fellaghas ein«: Le Républicain lorrain, 22. Mai 1955. Vgl. ibid. 16. Dez. 1954, 8. Jan., 28. Feb., 16. und 17. Mai 1955. Gauchotte, Les catholiques en Lorraine, S. 14. François Borella erinnerte sich daran, dass junge Katholiken in Nancy vor und während

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4. Die politische Mobilisierung algerischer Migranten

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diesbezüglich insbesondere Mitglieder der Organisation junger Katholiken, »Route«, hervor10 . Die zum Militärdienst einberufenen Lothringer und deren Angehörige waren von dem Krieg in besonderer Weise betroffen. Sie standen der Rekrutierung für einen Einsatz in Nordafrika häufig skeptisch bis ablehnend gegenüber. Zwar ereigneten sich in Lothringen keine größeren Protestaktionen französischer Rekruten wie in Lyon oder Rouen11 . Mehrere kleine Ereignisse zeigen jedoch, dass die Aussicht auf einen Militäreinsatz in Algerien auch bei einigen lothringischen Reservisten und Wehrdienstleistenden für Unmut sorgte und sogar Widerstand hervorrief. Davon zeugen etwa die Tumulte in Metz zum Ende des Jahres 1955, wo zum Wehrdienst nach Algerien Einberufene eine militärische Zeremonie vor dem Denkmal für die gefallenen Soldaten störten12 , oder das Verteilen von Propganda, die sich gegen die Rekrutierung wandte. Zu erwähnen ist ein Flugblatt der SFIO, das die Gendarmeriebrigade von Merlebach am 19. Oktober 1955 in L’Hôpital fand. Der Text der damals noch oppositionellen französischen Sozialisten verurteilte Kapitalismus und Kolonialismus und wandte sich auch gegen die Abreise der Soldaten nach Nordafrika sowie die »politique de force« der Regierung13 . Im September 1955 sorgte die ausschließliche Einberufung der Reservisten von 1945 aus Moselle und dem Elsass in den betroffenen Departements für Empörung. Während das Verteidigungsministerium die Rekrutierung der damals unter Zwang in die Wehrmacht eingegliederten Soldaten mit Blick auf deren militärische Grundausbildung begründete, beförderte diese Maßnahme in der Region und insbesondere auf Seiten der sogenannten malgré-nous ein des Algerienkrieges kostenlose Sprachkurse für Algerier anboten: Interview LH–Borella, 2014, S. 2–3. 10 Gauchotte, Les catholiques en Lorraine, S. 30–34. Unter den Mitgliedern der lothringischen »Route« befand sich auch der im Juli 1956 zum Kriegsdienst nach Algerien eingezogene und nur drei Monate später von Rebellen erschossene Jean Muller. Seine posthum veröffentlichten Aufzeichnungen über die Verbrechen der französischen Armee in Algerien spielten für den Widerstand gegen den Kolonialkrieg weit über Lothringen hinaus eine bedeutende Rolle: Thénault, Histoire de la guerre d’indépendance algérienne, S. 111. 11 Clément Grenier, La protestation des rappelés en 1955. Un mouvement d’indiscipline dans la guerre d’Algérie, in: Le Mouvement social 218 (2007), S. 45–61. 12 Gauchotte, Les catholiques en Lorraine, S. 31. 13 Le chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, à monsieur le préfet de la Moselle, 28. Okt. 1955, AdM 252 W 16. Für die Rekruten, deren Großväter häufig im Ersten und Väter im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatten, war der Einsatz in Algerien schon deshalb nicht attraktiv, weil dieser nicht als Krieg bezeichnet wurde. Während die Generationen davor mit einem unmittelbaren militärischen Bedrohung ihrer eigenen Herkunftsregionen konfrontiert waren, diente der Einsatz der Wehrdienstleistenden und Reservisten der Verteidigung eines Gebiets, das ihnen in der Regel fremd war: Raphaëlle Branche, La masculinité à l’épreuve de la guerre sans nom, in: Clio. Histoire, femmes et sociétés 20 (2004), S. 2–8.

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besonderes Opferbewusstsein14 . Im Mai 1956 kam es schließlich am Bahnhof von Metz aufgrund verschiedener Sabotageakte zu einer starken Verspätung bei der Abfahrt der 900 Soldaten des 94. Infanterieregiments nach Algerien15 . Eine offene Kritik am Vorgehen der französischen Regierung in Algerien kam in Lothringen 1955 nicht allein vonseiten algerischer Nationalisten, Katholiken und französischer Wehrdienstpflichtiger. Darüber hinaus verurteilten in der Öffentlichkeit insbesondere auch französische Kommunisten und Studenten den Krieg und setzten sich für die Rechte der Migranten ein. Der in Nancy geborene Rechtsanwalt François Borella erinnerte sich gegenüber dem Autor an die Unterstützung der Studentenorganisation Union nationale des étudiants de France (Unef) für algerische Nationalisten, die etwa im Fall eines Gerichtsverfahrens in der Vermittlung einen Rechtsanwalt bestellen konnte16 . Im November 1955 prangerte die Soziologin Andrée Michel in einem Artikel der Zeitschrift der Liga für Menschenrechte den zunehmenden Rassismus in Moselle gegenüber Algeriern durch Presse, Arbeitgeber und Polizei an. Dabei verglich sie unter anderem die polizeilichen Kontrollmaßnahmen am 5. September 1955 mit den Aktionen, die während der deutschen Besatzung gegen Juden und »Patrioten« durchgeführt worden waren17 . In ihrer Berichterstattung über Kritik und Widerstand gegenüber dem Krieg in Algerien durch Franzosen blieben Polizei und Gendarmerie stets auf die Kommunisten fixiert. Sie berichteten diesbezüglich sowohl über eher unauffällige Aktivitäten von Einzelpersonen18 als auch über die Verteilung von Antikriegspropaganda. Im August kursierte etwa ein zwölfseitiger Text des PCF in Saint-Avold mit den Titel »Algérie 1955«. Das Dokument war in deutscher und französischer Sprache abgefasst und kritisierte die »Politik der Gewalt« in Nordafrika19 . Bevor die französischen Kommunisten die Regierung Guy Mollets unterstützten, waren die Befürchtungen innerhalb der französischen Regierung, dass die französischen Kommunisten den algerischen Separatismus di14 15 16

17 18

19

Frey, La guerre d’Algérie en Alsace, S. 139f. Jean-Charles Jauffret, Le mouvement des rappelés en 1955–1956, in: Harbi, Stora (Hg.), La guerre d’Algérie 1954–2004, S. 147. François Borella, der während des Algerienkrieges selbst für kurze Zeit Vorsitzender der Unef war, übernahm nach eigenen Angaben auch selbst die Verteidigung von FLN- und MNA-Aktivisten vor Gericht: Interview LH–Borella, 2014. Andrée Michel, Racisme et antiracisme en Lorraine, in: Droit et liberté (1955), S. 3. Der in Metz wohnhafte Nicolas Collin galt der Gendarmerie als »notorischer Kommunist«. Angeblich war er täglich in Kontakt mit »Nordafrikanern«, die in Clouange wohnten, und berichtete ihnen von den Erfolgen der Rebellion in Algerien: Synthèse journalière des renseignements sur les Nord-Africains du chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 30. Aug. 1955, S. 2f., SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 730. Diese Angaben müssen freilich mit besonderer Vorsicht bewertet werden, da Kommunisten vonseiten der französischen Polizei- und Geheimdienste in dieser Zeit per se mit Subversion in Verbindung gebracht wurden. Ibid., 31. Aug. 1955, S. 1.

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4. Die politische Mobilisierung algerischer Migranten

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rekt unterstützen könnten, besonders groß. Berichte über kommunistische Antikriegspropaganda riefen daher zum Ende des Jahres 1955 eine starke Gegenreaktion der Behörden hervor. Am 14. Oktober 1955 wies das Innenministerium die Präfekten der Metropole an, der »Demoralisierung französischer Soldaten durch Kommunisten« aktiv entgegenzuwirken und erinnerte diesbezüglich an die Parallelen zum Krieg in Indochina, in dessen Verlauf der PCF schon einmal versucht habe, in der öffentlichen Meinung das Vorgehen der französischen Armee zu desavouieren20 . Um dem entgegenzuwirken, sah Innenminister Maurice Bourgès-Maunoury drei zentrale Maßnahmen vor, die der Präfekt des Departements Moselle an die Unterpräfekturen weiterleitete. Erstens sollten unter dem Stichwort »action répressive« alle Zeitungen beschlagnahmt und Autoren verhaftet werden, die auf eine »Demoralisierung der Armee und der Nation« nach Art. 75 § 2 des Strafrechts zielten. Alle Versammlungen oder Aufrufe gegen die Mobilisierung und den Einzug der Armee waren zu unterbinden21 . Der Innenminister gab außerdem bekannt, dass er den Justizminister angewiesen hatte, Instruktionen an die Gerichte zu geben, damit diese die Aktion so weit wie möglich unterstützten22 . Zweitens sollte im Sinne einer »action humanitaire« eine ostentative Unterstützung der Familien eingezogener Militärs und insbesondere der Familien von Opfern stattfinden23 . Drittens sah der Plan des Innenministers vor, dass die Präfekturen und Subpräfekturen auf dem Feld der Propaganda im Rahmen einer »action psychologique« selbst Position beziehen sollten. Demnach sollte von diesen kein öffentlich vorgebrachtes Argument, das die »mission civilisatrice« Frankreichs in Zweifel zog, unbeantwortet bleiben. Bourgès-Maunoury stellte eine intensivierte Propagandatätigkeit in Aussicht, sowohl gegenüber Handelskammern, katholischem Klerus, Veteranenverbänden und auch an Schulen. Die Präfekturen vor Ort sollten dabei eine aktive Rolle spielen: Ich habe den Bildungsminister gebeten, zu prüfen, unter welchen Bedingungen die Jugend unter Wahrung der Neutralität der Schule eine bürgerliche Bildung erhalten könnte, die ihren Stolz für ein Werk [das koloniale Werk] weckt, das sie aufgerufen ist, fortzuführen und zu vollenden. Sie [die adressierten Präfekten] sollen diesbezüglich mit den Inspektoren

20 21

22 23

Le ministre de l’Intérieur à messieurs les inspecteurs généraux de l’administration en mission extraordinaire, messieurs les préfets, 8. Okt. 1955, AdM 252 W 16. Kurz darauf musste der Innenminister jedoch einräumen, dass er nicht die Möglichkeit habe, Versammlungen zu verbieten, auf denen gegen die Politik der Regierung in Nordafrika demonstriert wurde. Daher ordnete er an, einen Mitarbeiter der RG zu solchen Versammlungen zu schicken, damit dieser die Verunglimpfungen der Armee etc. registriere: Message du ministre de l’Intérieur à tous les IGAME et tous les préfets de la métropole, 28. Okt. 1955, AdM 252 W 16. Le ministre de l’Intérieur à messieurs les inspecteurs généraux de l’administration en mission extraordinaire, messieurs les préfets, 8. Okt. 1955, S. 2f., AdM 252 W 16. Ibid., S. 3.

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der Grundschulen Kontakt aufnehmen und sie gegebenenfalls bei der Umsetzung dieser Aufgabe unterstützen24 .

Das Ausmaß sogenannter repressiver, humanitärer und psychologischer Aktionen, die auf diese Anweisungen in Lothringen hin erfolgten, ist nicht bekannt. Nur einige Einzelbeispiele weisen darauf hin, dass sich auch die lothringischen Behörden an den Deutungskämpfen über die Auseinandersetzungen in Algerien beteiligten, so etwa mit der Vorstellung des Kurzfilms »Si la France venait à perdre l’Algérie« im Kino Eden von Sarreguemines vom 25. bis 29. September 195725 . Bereits im ersten Jahr des Algerienkriegs waren die bewaffneten Auseinandersetzungen in Algerien keineswegs nur für Algerier und Polizisten in Lothringen von Relevanz. Vielmehr umfasste das Spektrum der betroffenen Akteure Personen aus allen Schichten der Gesellschaft. Dies zeigte die Alarmstimmung der Behörden angesichts der als defätistisch verstandenen kommunistischen Propaganda gegen das Vorgehen des Militärs in Algerien ebenso wie die Berichterstattung des »Républicain lorrain«, die Rekrutierung junger Männer zum Militärdienst in Algerien sowie die Aktivitäten von Katholiken und Studenten. Die unterschiedlichen Bezüge der Akteure zu den sogenannten Maßnahmen zum Erhalt der Ordnung veranlassten sie nicht zwangsläufig zu einer veränderten Haltung gegenüber vor Ort lebenden Algeriern. Dennoch wurde an verschiedenen Orten bereits 1955 eine deutliche Verschlechterung der Stimmung gegenüber Algeriern konstatiert. Besonders schwerwiegende Folgen hatte dieser Stimmungswandel auf dem Gebiet der Arbeitsbeziehungen. Bis dahin hatten viele Arbeitgeber in Lothringen ihre reservierte Haltung gegenüber Algeriern vor allem mit kolonialen Stereotypen begründet. Im Zuge der Eskalation der Gewalt in Algerien und der Aktivitäten algerischer Nationalisten vor Ort wurde das Bild des algerischen Arbeiters in Lothringen in zunehmendem Maße auch von Semantiken des Krieges geprägt, was die Chancen der Algerier auf dem Arbeitsmarkt deutlich verschlechterte.

24 25

Ibid., S. 4. RG de Sarreguemines, note d’information, 1. Okt. 1957, AdM 252 W 16.

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4.2. Algerische Migranten aus der Perspektive lothringischer Arbeitgeber 4.2.1 Integrationskonzepte für »nordafrikanische Arbeiter« als koloniale Propaganda Zu Beginn des algerischen Unabhängigkeitskriegs wurde die Wahrnehmung algerischer Migranten durch die lothringischen Arbeitgeber vor allem von drei Faktoren bestimmt. Erstens durch ihren jeweiligen Bedarf an Arbeitskräften; zweitens durch die paternalistische Vorstellung, dass sich alle Arbeiter gegenüber ihrem Chef in einem Abhängigkeitsverhältnis befänden und auch jenseits des Betriebs von diesem umsorgt oder kontrolliert werden müssten26 . Drittens, und dies betraf ausschließlich algerische beziehungsweise »nordafrikanische« Arbeiter, wurde die Perzeption vieler Arbeitgeber maßgeblich auch durch koloniale Stereotype bestimmt. Für die lothringische Eisen- und Stahlindustrie kann dies anhand einer im Oktober 1955 in Metz abgehaltenen Konferenz illustriert werden. Es handelte sich bereits um die dritte Konferenz, die der größte Arbeitgeberverband der Branche, die Union des industries métallurgiques et minières (UIMM) über »nordafrikanische Arbeiter« in der Eisen- und Stahlindustrie organisierte. Der Zweck dieser Veranstaltungen bestand vor allem darin, Ansätze für die Selektion und betriebliche Integration »nordafrikanischer Arbeiter« zu diskutieren, da diese unter allen Arbeitern als besonders problembelastet galten. Auf der Konferenz in Metz versuchten jeweils ein Vertreter der Unternehmen Sollac, UCPMI und Lorraine-Escaut mit Blick auf eigene Erfahrungen und Nachforschungen in den Betrieben von Moselle und Meurthe-et-Moselle einige Leitlinien für den spezifischen Umgang von Arbeitgebern mit »Nordafrikanern« zu entwickeln. Dabei standen alle Vorträge deutlich unter dem Eindruck der damaligen politischen Entwicklung in Algerien und der Metropole. Monsieur Reymond27 , der inspecteur de la main d’œuvre nord-africaine der Sollac, berichtete, dass alle größeren Betriebe in Lothringen mit einer hohen Anzahl »nordafrikanischer Arbeiter« über spezialisiertes Personal mit Arabischkenntnissen verfügten. Die Erfahrung habe gezeigt, dass solche 26

27

Kritik am Paternalismus vieler Arbeitgeber der lothringischen Eisen- und Stahlindustrie kam keineswegs ausschließlich vonseiten der französischen Kommunisten. So warnte etwa der Jesuit Émile Rideau 1956, der Paternalismus der Arbeitgeber in Lothringen werde die Arbeiterschaft der CGT in die Arme treiben. Rideau beschrieb das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern mit den Worten: »Mais souvent l’effort social en reste à un don extérieur: le dialogue n’est pas engagé, le fossé n’est pas franchi; même bien traité, l’ouvrier demeure un étranger dans l’entreprise et n’est pas pleinement reconnu comme majeur«, Rideau, Essor et problèmes d’une région française, S. 197. Die Vornamen dieser Person und der anderen Vortragenden konnten nicht in Erfahrung gebracht werden.

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Sozialarbeiter im besten Fall Europäer sein und zu ihrer Klientel mindestens in einem Verhältnis von 3 zu 250 stehen sollten. Dies sei zum einen für eine nachhaltige Einführung in die Sicherheitsbestimmungen und eine Senkung der Unfallzahlen sinnvoll. Zum anderen habe es sich als ertragreich erwiesen, innerhalb der Betriebe Informationsmaterial über »Nordafrikaner« zu verteilen, um einer negativen Haltung den Arbeitern gegenüber entgegenzuwirken: »Lange Erfahrung und präzisere Kenntnisse über die nordafrikanische Psychologie sollen die negativen Aspekte unserer Vorsicht überwinden helfen und die Aufmerksamkeit darauf lenken, die Hebung einer arbeitenden Bevölkerung vorzubereiten, welche trotz der aktuellen Ereignisse [sic!] nach wie vor geschätzt wird«28 . Godard von der Lorraine-Escaut widmete seinen Vortrag vor allem der Frage der Unterbringung »nordafrikanischer Arbeiter«. Dabei plädierte er sowohl für eine umfassende »Führung« (encadrement) als auch eine »Integration« der Algerier. So sollten die Arbeiterwohnheime stets von europäischem Personal überwacht werden, da »Nordafrikaner« meist nicht in der Lage seien, dort ihre Autorität durchzusetzen. Bezüglich der Anwesenheit der Familien algerischer Arbeiter berichtete Godard von durchaus positiven Effekten und sprach sich dafür aus, sie nach Möglichkeit in einem Umfeld aus »verständnisvollen und vorbildlichen französischen Familien« unterzubringen. Außerdem erschien es ihm angezeigt, den Kontakt zwischen algerischen und europäischen Arbeitern durch die Einrichtung von Kantinen zu erleichtern, wobei jedoch auf die Einhaltung muslimischer Ernährungsregeln zu achten sei. Allein bei der medizinischen Versorgung forderte Godard eine konsequente Sonderbehandlung »nordafrikanischer Arbeiter«, die das System der Sozialversicherung parasitär ausnützten und daher am besten durch einen Militärarzt betreut werden sollten29 . In dem dritten Vortrag der Konferenz befasste sich ein Herr Balland von der UCPMI insbesondere mit der betrieblichen Integration junger algerischer Arbeiter. Seinen Angaben zufolge war über die Hälfte aller algerischen Arbeiter in den Fabriken der Region zwischen 20 und 30 Jahre alt. Da die Algerier die Migration als entwurzelnde Zeitreise empfinden müssten, sah er die Arbeitgeber nicht nur in der Pflicht, den angeblichen »Schock der Entwurzelung« für die Migranten so verträglich wie möglich zu gestalten, sondern den »Nordafrikanern« darüber hinaus auch zu helfen, Minderwertigkeitskomplexe und andere rückständige Denkmuster zu überwinden: 28

29

Rapport de M. E. Reymond, directeur et inspecteur de la main d’œuvre nord-africaine à la Société de laminage continu »Sollac«: Effectifs – recrutement et sélection, accueil, adaptation au travail de la MONA, La main d’œuvre nord-africaine et son emploi dans les industries des métaux, hg. von UIMM, 27. Okt. 1955, S. 17, Archives UIMM, c. 14, b. 46. Rapport de M. le docteur J. Godard, chef des services médicaux et sociaux de la LorraineEscaut, division de Thionville: Logement – alimentation – action sociale et sanitaire, S. 21–24, ibid.

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Stellen wir uns diesen kleinen algerischen Bauern vor, der kaum 20 Jahre alt ist und bislang nur armselige Landarbeit gemacht hat, der auf seinen Vitaminmangel nur mit Passivität reagieren konnte und stets unter der väterlichen Autorität gelebt hat, die seiner eigenen Entfaltung keinen Raum ließ. Eingesperrt in überkommene Traditionen und Bräuche, welche auch die kleinsten seiner Handlungen bestimmen, wird er plötzlich von seiner Familie, die Geld braucht, fortgeschickt. Er überspringt mehrere Jahrhunderte und sieht sich in ein Land versetzt, in dem seine Sprache nicht gesprochen wird und in dem er sich selbst und der Gnade Gottes überlassen ist. [. . . ] Und da ist Ali bei der Arbeit. Er ist zugleich stolz und schreckhaft, erfüllt vom Gefühl der Überlegenheit eines Gläubigen, aber auch ängstlich und unsicher im Angesicht dieser Zivilisation, die er nun entdeckt, ihren Maschinen, ihren Bräuchen und ihrem Rhythmus. [. . . ] Im Austausch mit dieser abendländischen Zivilisation entsteht eine seltsame Verbindung aus Minderwertigkeitskomplexen und Überlegenheitsgefühlen. Dies ist die große psychologische Hürde, die Schritt für Schritt überwunden werden muss, um die Anpassung unseres nordafrikanischen Arbeiters umzusetzen. Gleichzeitig unterweisen und Selbstbewusstsein geben. Dies ist der Weg der Anpassung, ich würde fast sagen der Befreiung, der nordafrikanischen Arbeiter. Es handelt sich also um eine Sache der Technik und eine Sache des Herzens30 .

Um die Integration der Algerier möglichst erfolgreich zu gestalten, empfahl Balland insbesondere die Organisation von Französischsprachkursen. Zudem sollten die Arbeitgeber in ihren Fabriken Exemplare der Zeitschrift »Études sociales nord-africaines«31 auslegen und zur Lektüre von Romanen ermutigen, die von »Nordafrikanern« verfasst worden waren32 . Er schloss mit dem emphatischen Aufruf, dass die Arbeitgeber es sich nicht erlauben dürften, die Hoffnungen zu enttäuschen, die viele dieser Arbeiter in sie und in Frankreich gesetzt hätten33 . Für den letzten Vortrag der Konferenz trat erneut der Mitarbeiter der Sollac, Monsieur Reymond, ans Rednerpult. Er befasste sich explizit mit der aktuellen politischen Situation in Algerien und in der Metropole. Dazu lieferte er dem Auditorium seine eigene Interpretation der Geschichte Nordafrikas, die er seit der Gründung Karthagos skizzierte. Die Ausbreitung des Islam setzte er mit Gewalt und Chaos gleich, während die Eroberung Nordafrikas durch Frankreich ausschließlich erfolgt sei, um dem Piratenwesen im Mittelmeer ein Ende zu bereiten. Die algerische Bevölkerung, so erklärte Reymond, würde mehrheitlich Arabisch sprechen und sich als Araber begreifen. Dennoch flösse vor allem in den Venen der in den Bergen zurückgezogenen Stämme »kaum 30 31 32

33

Rapport de M. Balland, chef du service social à l’UCPMI, Usine de Hagondange: L’adaptation sociale des travailleurs nord-africains, S. 28, ibid. Zur Einordnung dieser Zeitschrift siehe Teil I, Kap. 1.1.2. Als hilfreiche Bücher, um die Mentalität und die Lebensweise der »Nordafrikaner« besser zu verstehen, empfahl Balland u. a. »La Grande Maison« von Mhamed Dib, »La Terre et le Sang« von Mouloud Feraoun, »La Colline oubliée« von Mouloud Mammeri, »La Statue de sel« von Albert Memmi, »Le Chapelet d’ambre« und »La Boîte à merveilles« von Ahmed Sefrioui. Rapport de M. Balland, chef du service social à l’UCPMI, Usine de Hagondange: L’adaptation sociale des travailleurs nord-africains, in: La main d’œuvre nord-africaine et son emploi dans les industries des métaux. Journée d’études, hg. von UIMM, 27. Okt. 1955, S. 33, Archives UIMM, c. 14, b. 46.

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vermischtes berberisches Blut«, was er als Anlass zur Hoffnung für deren Zivilisierung bewertete. Den »historischen Fehler« Frankreichs sah Reymond darin, dass den indigenen Eliten, die er als junge Pflanzen beschrieb, zu früh zu viele Rechte eingeräumt worden seien. Dies, so trug Reymond vor, sei die Wurzel der »aktuellen schmerzhaften Probleme«, zu deren Lösung die Arbeitgeber jedoch direkt beitragen könnten. Ihre Aufgabe sollte es sein, ihre verängstigten algerischen Arbeiter durch eine ebenso harte wie konsequente Haltung auf den »rechten« Weg zurückzubringen34 . Dabei galt es nach Reymonds Einschätzung zu beachten, dass die Migranten in der Regel noch im psychischen Stadium eines Kindes seien, das instinktiv nach einer führenden Hand Ausschau halte. Anlass zu Optimismus gebe nach seinem Ermessen die angebliche Tatsache, dass »der Franzose«, zumindest sofern er Patriot sei, besser dazu geeignet sei als irgendjemand sonst: Häufig wird ihnen zugesprochen, dass sie [die Algerier] das Offensichtliche nicht anerkennen wollen. Sie ähneln darin Kindern, deren psychischer Zustand nicht dem eines Erwachsenen entspricht. [. . . ] Wir glauben, dass der hellsichtige Paternalismus nach wie vor und noch für lange Zeit die am ehesten angemessene Form des Umgangs mit dem nordafrikanischen Arbeiter ist, welcher instinktiv einen Führer auf dem Weg seiner persönlichen Befreiung sucht, in einer neuen Welt, die für ihn voller Abgründe ist. Ich für meinen Teil glaube, dass der Franzose, mehr als jeder andere, die erforderlichen Qualitäten hat, um einen Freund aus ihm zu machen. Mit Sicherheit werden die Franzosen in dieser Anstrengung mehr als nur eine moralische Befriedigung finden, nämlich die Wertschätzung ihrer Personen und das Gefühl, dass sie am Wohlergehen des Landes Anteil haben35 .

Bis dahin hatten die einzelnen Vorträge den direkten Bezug zwischen den Arbeitsmigranten in Lothringen, der französischen Kolonialherrschaft sowie der aktuellen Lage in Algerien explizit nur vereinzelt hergestellt. Die Redner hatten sich zum Teil ausgiebig kolonialer Stereotype bedient. Dazu gehörten insbesondere das Bild des von Islam, patriarchalischen Strukturen und Minderwertigkeitskomplexen gebeutelten Indigenen, die Vorstellung von im Vergleich zu Berbern rassisch minderwertigen Arabern sowie die Darstellung von Europäern und Franzosen in der Rolle wegweisender Helfer. Der Abschlussvortrag Reymonds ging noch weit darüber hinaus. Er entwickelte anhand von absurden historischen Darstellungen, kolonialistischen, islamfeindlichen und rassistischen Klischeevorstellungen eine Legitimation der französischen Herrschaft in Nordafrika und appellierte emphatisch an das Auditorium, an deren Bewahrung aktiv mitzuwirken. Glaubt man den abschließenden Bemerkungen des Leiters der Konferenz, Marcel Grison, war der der letzte Vortrag Reymonds von den meisten Kongressteilnehmern besonders aufmerksam verfolgt worden und hatte für diese 34 35

Rapport de M. E. Reymond, directeur et inspecteur de la main d’œuvre nord-africaine à la Société de laminage continu »Sollac«: La psychologie des Nord-Africains, S. 41, ibid. Ibid., S. 43.

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»une véritable révélation« dargestellt36 . Die UIMM schuf mit der Konferenz in Metz somit nicht nur eine Bühne für die Verbreitung »kolonialistischen Denkens«37 , sondern auch der französischen Kriegspropaganda. Hinweise über kritische Kommentare zu den Vorträgen liegen nicht vor. 4.2.2 Sondermaßnahmen zur betrieblichen Integration Die in den Vorträgen in Metz zum Ausdruck gebrachte Überzeugung, dass algerische Arbeiter grundsätzlich problembelastet seien und daher einer Sonderbehandlung bedürften, zeigte sich nicht nur in den Reden, sondern auch in der Praxis der Arbeitgeber der lothringischen Eisen- und Stahlindustrie. Vor allem Großunternehmen, die das dazu nötige Kapital aufbringen konnten, investierten häufig viel Aufwand und Geld in besondere Integrationsmaßnahmen ihres »nordafrikanischen Personals«. Der lothringische Jesuit Émile Rideau schrieb diesbezüglich in einer Abhandlung über den Abbau und die Verarbeitung von Eisen und Kohle aus dem Jahr 1956: »In der Regel ländlicher Herkunft und im Angesicht von Gewohnheiten der Pünktlichkeit, des Rhythmus und der Logik verunsichert, hängt der Wert des durchschnittlichen N.-A. [Nordafrikaners] vor allem von dem Chef ab, der ihn anleitet. Er arbeitet [. . . ] nur dann gut, wenn er gut angewiesen wird«38 . Mit Blick auf die Kosten, die Arbeitgebern durch die besondere Betreuung ihres »nordafrikanischen Personals« entstanden, bezeichnete Rideau dieses als »Luxus-Arbeitskraft«39 . Dieser Ausdruck versperrt als Teil der Diskurses über problembelastete »Nordafrikaner« den Blick auf das beidseitige ökonomische Abhängigkeitsverhältnis, das zwischen lothringischen Arbeitgebern und algerischen Arbeitern bestand: Die meisten Migranten waren aufgrund ihrer Mittellosigkeit darauf angewiesen, möglichst schnell eine Arbeitsstelle zu bekommen. Zugleich hatten sie sich schon vor dem Beginn des Algerienkriegs aufgrund ihrer Anzahl, Mobilität und ihrer vergleichsweise hohen Bereitschaft, schlecht bezahlte und gefährliche Arbeiten zu übernehmen, zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor in der Region entwickelt. Nachdem in der Zwischenkriegszeit vor allem Italiener, Polen und Grenzgänger für eine Steigerung der Produktivität lothringischer Fabriken und Kohleminen gesorgt hatten, mussten Großunternehmen, die weiter expandieren und ihre Gewinne steigern wollten, während der 1950er Jahre auch für algerische Arbeiter offen sein. Da diese jedoch häufig im Zusammenhang mit dem französischen Kolonialismus gesehen wurden, standen die verschiedenen Betreuungs- beziehungsweise Kontrollmaßnahmen, die für sie bereitgestellt wurden, stets unter 36 37 38 39

Marcel Grison: Conclusions, in: ibid., S. 45. Siehe Teil I, Kap. 3. Rideau, Essor et problèmes d’une région française, S. 204. Ibid.

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den Vorzeichen der französischen Zivilisierungsmission. Auch zur Versicherung der eigenen Überlegenheit sollte keine andere Migrantengruppe derart intensiv und breit »umsorgt« werden wie die »muslimischen Franzosen Algeriens«. Als Beispiele für Firmen lothringischer Arbeitgeber, die speziell für »Nordafrikaner« Sozialmaßnahmen konzipierten, ließen sich mehrere Unternehmen anführen, wie etwa die SMK, die Lorraine-Escaut, die Sollac oder die UCPMI, wo Hunderte Algerier arbeiteten. Im Folgenden wird auf die beiden letztgenannten Fabriken in der Industrieregion südlich von Thionville eingegangen, und zwar aufgrund der günstigen Quellenlage. Die 1948 gegründete Sollac war ein Joint-Venture-Unternehmen aus sieben Großbetrieben40 . Wie die meisten anderen Großunternehmen der Region praktizierte auch die Sollac eine intensive Sozialpolitik für ihre gesamte Arbeiterschaft: Zwischen 1951 und 1956 hatte das Unternehmen um den Ort Florange über 2000 Wohnungen sowie eine neue Brücke über die Mosel, provisorische Kirchen und Gasverteilungsanlagen gebaut41 . Um stets den unmittelbaren Kontakt zur Arbeiterschaft zu wahren, waren in jeder der »Cité Sollac« genannten Wohnanlagen in der Regel drei Vertreter des Unternehmens präsent42 . Dass die Direktion der Sollac bei ihren umfassenden Sozialmaßnahmen für ihre Arbeiterschaft auch ein besonderes Augenmerk auf die etwa 1500 Algerier legte, wird besonders am Beispiel der 1954 gegründeten Klinik El Afia deutlich. Sie wurde zur Pflege von kranken oder verletzten »nordafrikanischen Arbeitern« konzipiert, die nicht die Möglichkeit hatten, sich von Familienangehörigen oder in einem der Krankenhäuser in der Region aufgrund deren mangelnder Kapazitäten pflegen zu lassen. Die Klinik befand sich inmitten der Cité Sollac, auf dem sogenannten »chemin noir«43 in Florange, wo Hunderte Algerier wohnten. El Afia war am 26. Februar 1954 vom Arbeitsministerium und von der Direction départementale de la santé von Moselle vorläufig zugelassen worden. Damals umfasste die Klinik zunächst sieben Betten, einen Behandlungsraum und drei Räume für die Kranken, von denen

40

41 42 43

Dazu gehörten Sidelor, Wendel, UCPMI, Lorraine-Escaut, Forges de Gueugnon, Etablissements J.-J. Carnaud, Forges de Basse-Indre sowie die im Saarland gelegene, aber mehrheitlich französisch kontrollierte Société des forges et aciéries de Dilling: Rideau, Essor et problèmes d’une région française, S. 135; Jacques Devavry, Charles Klein, La sidérurgie et la transformation des méteaux, in: Bour (Hg.), Encyclopédie de la Lorraine, S. 75–130, hier S. 97. Rideau, Essor et problèmes d’une région française, S. 191–193. Ibid., S. 193f. Abdallah Badis, Sohn algerischer Migranten, die in dieser Zeit in Lothringen lebten, benannte nach dem »chemin noir« einen autobiografischen Dokumentarfilm, der 2012 in den französischen Kinos gezeigt wurde.

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einer für ansteckende Krankheiten vorgesehen war. Es gab einen Ankleideraum, einen Waschraum und eine Toilette44 . Das Jahresbudget der Klinik lag in der Anfangsphase bei 4 017 000 Franc. Die Präfektur von Moselle zahlte für jeden dort stationär behandelten Kranken pro Tag eine Subvention von 1000 Franc45 . Nachdem El Afia im November 1954 definitiv zugelassen worden war, konnte sie ihr Budget weiter erhöhen. Wenige Monate später wurde die Klinik um einen Operationssaal, ein Büro, zwei Räume für Patienten mit ansteckenden Krankheiten, einen Speisesaal, drei Toiletten und einen separaten Raum mit Waschbecken erweitert46 . Der Zweck von El Afia bestand in erster Linie darin, »nordafrikanische Arbeiter« aufzunehmen, die bei der Sollac oder bei einem anderen Unternehmen in der Region arbeiteten und in den anderen Krankenhäusern der Region keinen Platz gefunden hatten. In der Klinik, die nach dem arabischen Wort für Frieden und die daraus hervorgehende Gesundheit und Entspannung benannt worden war47 , erfuhren sie eine Behandlung, die an zwei grundlegenden Absichten ausgerichtet war. Erstens galt es, die Patienten durch medizinische Versorgung und Betreuung wieder dem Arbeitsbeziehungsweise dem Kapitalertragsprozess zuzuführen. Zweitens sollten die Arbeitsmigranten durch einen spezifischen Umgang, der im Zeichen der Zivilisierungsmission stand, enger an das Unternehmen und auch an den französischen Staat gebunden werden. Dazu wurde eine Reihe von Sondermaßnahmen angewandt, die den Respekt vor der »muslimischen Identität« der algerischen Patienten ausdrücken sollten, sie dadurch jedoch gleichzeitig auf ein solches Konstrukt festlegte. Nach einigen Abwägungen war ein Arzt mit speziell kolonialer Erfahrung für El Afia zunächst nicht angeheuert worden48. Für die Leitung der Klinik war vielmehr der Chefarzt der Sollac zuständig49 . Die kolonialen Einflüsse auf die Abläufe in der Klinik zeigten sich in dieser Phase vor allem anhand der Zu44 45

46 47 48

49

L. Thomas, Société lorraine de laminage continu: clinique El Afia, 25. Mai 1955, S. 1, AdM 297 W 66. L’administrateur des services civils de l’Algérie chargé de mission pour la 6e région, préfecture le Moselle, note sur la clinique El Afia des usines Sollac à Florange, 2. Aug. 1954, S. 2, ibid. L. Thomas, Société lorraine de laminage continu: clinique El Afia, 25. Mai 1955, S. 1, ibid. Ibid., S. 3. L’administrateur des services civils de l’Algérie chargé de mission pour la 6e région, préfecture le Moselle, note sur la clinique El Afia des usines Sollac à Florange, 2. Aug. 1954, S. 1, AdM 297 W 66. Im Jahr 1960 arbeitete die Klinik u. a. mit einem Arzt zusammen, der zuvor in den séctions administratives spécialisées (SAS) in Algerien gedient hatte: Le conseiller technique aux affaires musulmanes de la Moselle: Note sur le fonctionnement de la clinique de la Paix, ancienne clinique El Afia, 2. Nov. 1960, S. 2, ibid. L’administrateur des services civils de l’Algérie chargé de mission pour la 6e région, préfecture le Moselle, note sur la clinique El Afia des usines Sollac à Florange, 2. Aug. 1954, S. 2, ibid.

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Bild 5: Ein Patient wird in der Klinik El Afia behandelt.

bereitung von speziell nach den Anforderungen der muslimischen Religion zubereiten Mahlzeiten50 sowie der Hierarchie des Personals. Für die Versorgung der Kranken war ein staatlich geprüfter »europäischer Krankenpfleger« verantwortlich, der von einem »nordafrikanischen Hilfskrankenpfleger« (infirmier auxiliaire nord-africain) unterstützt wurde. Ein weiterer »Nordafrikaner« war als Reinigungskraft für den service général eingeteilt. Die Auswahl des Personals hatte der am Aufbau der Klinik maßgeblich beteiligte inspecteur de la main d’œuvre nord-africaine der Sollac, Reymond, getroffen51 . El Afia war für die Sollac eindeutig auch ein Prestigeobjekt. Auf der Konferenz der UIMM in Metz wurde die Klinik des Unternehmens als Leuchtturm einer ebenso professionellen wie weitsichtigen betrieblichen Integration von »Nordafrikanern« in Lothringen dargestellt. Dabei bezeichnete der Chef des medizinischen und sozialen Dienstes der Lorraine-Escaut die inzwischen auf 25 Betten erweiterte Einrichtung als vielversprechendes Projekt, das von den »nordafrikanischen Arbeitern« der Sollac durchweg begrüßt werde und auf die gesamte Region ausgeweitet werden könne52 . Zuvor hatte bereits die Zei50 51 52

L. Thomas, Société lorraine de laminage continu: clinique El Afia, 25. Mai 1955, S. 2f., ibid. Ibid., S. 3. Rapport de M. le docteur J. Godard, chef des services médicaux et sociaux de la société

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tung »Le Lorrain« die Klinik El Afia und deren Spiritus Rector Reymond in den höchsten Tönen gelobt53 . Neben der Sollac fiel in Lothringen auch das Unternehmen UCPMI in Hagondange durch besondere Anstrengungen bei der betrieblichen Integration »nordafrikanischer Arbeiter« auf. Die vom Thyssen-Konzern während der ersten deutschen Besatzung Lothringens um 1910 gebaute Fabrik54 gehörte nach dem Zweiten Weltkrieg mit rund 5000 Arbeitern zu den größten im Eisen- und Stahlsektor in ganz Lothringen. Zwischen 1947 und 1954 war in der Regel jeder zehnte Arbeiter der UCPMI »Nordafrikaner« (siehe Tabelle 6). Eine interne Bilanz der Sektion, die für Transporte zuständig war, notierte für das Jahr 1953 eine hohe Instabilität der Arbeiter insgesamt. Diesbezüglich wurde jedoch angemerkt, dass »Nordafrikaner« bis dahin durchschnittlich länger auf der wegen zahlreicher Unfälle besonders unbeliebten Position des accrocheur 55 geblieben seien als »Europäer«56 . Wie die Sollac praktizierte auch die UCPMI eine eigene Sozialpolitik für ihre Arbeiterschaft mit dem Ziel, dem Unternehmen deren Arbeitskraft möglichst lange zu erhalten. Die 57 festen Mitarbeiter des »service social« der UCPMI wurden in der Regel auf Anfragen von Arbeitern des Unternehmens und deren Familien hin aktiv und suchten diese auch zu Hause auf57 . Einer Bilanz für das Jahr 1955 zufolge hatten sich in jenem Jahr auch 28 Familien »nordafrikanischer Arbeiter« darunter befunden, die in Metz, Talange, Hagondange, Mondelange und Amnéville lebten und die auf die namentlich nicht genannte, auf »Nordafrikaner« spezialisierte Sozialarbeiterin des Unternehmens positiv reagiert hätten. Den Angaben nach hatte die Sozialarbeiterin vor allem bei der Beantragung von Familienzuwendungen Unterstützung geleistet. Zu diesem Zweck hatte sie etwa bei den zuständigen Kassen in Oran, Algier und Constantine zugunsten von 68 »Nordafrikanern« erfolgreich inter-

53 54 55

56 57

Lorraine-Escaut, division de Thionville: logement – alimentation – action sociale et sanitaire, in: La main d’œuvre nord-africaine et son emploi dans les industries des métaux, hg. von UIMM, 27. Okt. 1955, S. 23–26, Archives UIMM, c. 14, b. 46. Le Lorrain, 11. März 1955. Michel Prosic, L’usine créatrice. L’usine de Hagondange: naissance de la vie ouvrière (1910–1938), Hagondange 1996. Der accrocheur hatte die Aufgabe, verschiedenen Waggons entsprechend ihrer Kennzeichnung zu verkuppeln. Der Arbeiter musste aufgrund der Sicherheitsbestimmungen bei der UCPMI älter als 18 Jahre sein, aber jünger als 40 Jahre, damit er sich über acht Stunden am Stück schnell bewegen konnte. Er musste lesen und auch ein wenig schreiben können, um mit den Etiketten an den Waggons nicht überfordert zu sein: UCPMI Usines d’Hagondange: Service du chemin de fer, rapport sur l’année 1956, 31. Mai 1957, S. 12f., AAM EA-V28/40. UCPMI Usines d’Hagondange: Service du chemin de fer, rapport sur l’année 1953, 5. Apr. 1954, S. 35, AAM EA-V28/39. UCPMI Forges et aciéries d’Hagondange: Rapport général d’activités du service social pendant l’année 1955, 23. Juli 1956, AAM EA-V28/40.

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Tabelle 6: Anzahl der »nordafrikanischen Arbeiter« der UCPMI, 1947–1954 Jahr

»Europäer«

»Nordafrikaner«

Anteil der »Nordafrikaner« an der Arbeiterschaft insgesamt (%)

1947 1948 1949 1950 1951 1952 1953 1954

4483 5157 5366 5352 5486 4563 5520 5470

470 501 563 611 634 715 715 730

9,48 8,85 9,49 10,24 10,35 13,54 11,46 11,77

veniert, die keine oder nicht mehr die Zuzahlungen für Familien (allocations familiales) bezogen hatten58 . Im Jahr 1955 galt der Umgang der UCPMI mit ihren nunmehr 840 »nordafrikanischen Arbeitern«59 für den Berater für »nordafrikanische Angelegenheiten« der Präfektur Moselle, Jean de Nesmes, als vorbildlich. So zeigte sich Nesmes überzeugt, dass die Verteilung von verschiedenen Informationsmaterialien über »Nordafrikaner«, wie etwa einzelne Hefte der »Études sociales nord-africaines« oder eines betriebsinternen »Digest nord-africain« eine geeignete Maßnahme sei, um einer innerbetrieblichen Segregation entgegenzuwirken60 . Er lobte darüber hinaus die Arbeitseinführung von Neuankömmlingen bei der UCPMI durch eine ausgiebige Aufklärung über die Sicherheitsbestimmungen und daran anschließende »Patenschaften« durch erfahrene Arbeiter61 . Beeindruckt zeigte sich Nesmes ferner von der Reaktion der UCPMI auf das Erdbeben von Orleansville im September 1954. Demnach hatte das Unternehmen kurz nach der Katastrophe den Chefingenieur des Sozialdienstes dorthin geschickt, damit dieser sich ein Bild von der Situation machen und mehrere dort lebende Familien algerischer Arbeiter besuchen konnte62 . Für die Opfer des Erdbebens hatte die Direktion unter den Arbeitern rund 700 000 Franc an Spenden gesammelt und diese Summe aus eigenen Mitteln verdoppelt63 . Darüber hinaus hatten zum Weihnachtsfest 1954 insgesamt 776 Kinder

58 59

60 61 62 63

Ibid. Demgegenüber war die Zahl der »europäischen Arbeiter« den Angaben des CTAM zufolge zur Mitte des Jahres 1955 auf 6340 gestiegen: J. de Nesmes, conseiller aux questions sociales musulmanes pour la 6e région: Réalisations sociales par une grande usine sidérurgique en faveur de sa main d’œuvre nord-africaine [Juli 1955], S. 1, AdM 297 W 65. Ibid., S. 2. Ibid., S. 4. Ibid., S. 3. Ibid., S. 10.

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»nordafrikanischer Arbeiter« der UCPMI, die in Algerien lebten, von dem Unternehmen ein Päckchen mit Spielsachen zugeschickt bekommen64 . Um algerischen Arbeitern längere Aufenthalte in ihrer Heimat zu ermöglichen, akzeptierte die UCPMI die Kumulierung bezahlter Urlaubstage bis zu einer Länge von zwei Monaten. Auch bei der Ausbildung »nordafrikanischer Arbeiter« spielte die UCPMI nach Ansicht Nesmes in der Region eine absolute Vorreiterrolle. Demnach hatte sich das 1947 noch bestehende Missverhältnis von 75 Prozent Hilfsarbeitern zu 25 Prozent angelernten Arbeitern unter den »nordafrikanischen Arbeitern« des Unternehmens acht Jahre später auf 51 zu 48 Prozent nahezu ausgeglichen. Ein Prozent der »nordafrikanischen Arbeiter« der UCPMI waren 1955 sogar Facharbeiter.65 In diesem Zusammenhang hob Nesmes auch die besonderen Bildungsangebote für Arbeiter der UCPMI hervor. Allein für »Nordafrikaner« gab es seinen Angaben zufolge 1955 bei dem Unternehmen in Hagondange drei Angebote: Lesen und Schreiben für Analphabeten, einen weiteren Kurs für Alphabetisierte, die ihre Kenntnisse ausweiten und vertiefen wollten und schließlich einen Kurs für Fortgeschrittene, bei dem »Nordafrikaner« sich den Gegenstand des Unterrichts selbst aussuchen konnten66 . Bis auf den Alphabetisierungskurs wurden diese Veranstaltungen ausschließlich ehrenamtlich von Ingenieuren des Betriebs geleitet. Der Sozialdienst der UCPMI beschrieb die Kurse, die zeitweise 100 bis 150 Teilnehmer hatten, als einen Beitrag zur »Befreiung« der als rückständig eingeschätzten Klientel. Bis zum Ende des Jahres 1954 fanden Abschlussveranstaltungen statt, auf denen diejenigen mit den besten Resultaten Preise wie etwa Kugelschreiber, Bücher und Portemonnaies erhielten67 . Weniger als ein Jahr nach dem Beginn des algerischen Unabhängigkeitskriegs gestaltete sich die weitere Umsetzung der bis dahin von der UCPMI zur »Hebung«68 ihres »nordafrikanischen Personals« praktizierten Maßnahmen zunehmend schwierig. Dies zeigte sich vor allem anhand eines Boykotts der Sprachkurse. Nachdem die Teilnehmerzahlen während des Ramadans im April und Mai 1955 zunächst eingebrochen waren69 , erreichten sie nach dem 64 65 66 67 68

69

Ibid., S. 9. Der Anteil der angelernten Arbeiter lag bei den übrigen Arbeitern des Unternehmens bei rund 60 %, siehe ibid., S. 10f. Ibid., S. 6. Ibid. Sebastian Conrad hat angesichts dieses klassischen Motivs der kolonialistischen Zivilisierungsmission darauf hingewiesen, dass »der Diskus der ›Hebung‹ [. . . ] allerdings nicht nur strategisch eingesetzt [wurde]«, sondern häufig auf wohlmeinenden, humanitären Absichten beruht habe. Dies war sicherlich auch bei Mitarbeitern der UCPMI der Fall: Conrad, Deutsche Kolonialgeschichte, S. 71. Das Unternehmen Sollac berichtete, dass sich die Zahl der algerischen Arbeiter, die während des Ramadans 1955 fasteten, im Vergleich zu den Jahren davor verdreifacht hatte. Diese Tendenz wurde laut Andrée Michel in der gesamten Metropole konstatiert. Die meisten Beobachter sahen darin eine politisch motivierte Abgrenzung, die wahr-

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Ende der Fastenzeit lediglich in dem Wohnheim der Hauts Fourneaux wieder das gleiche Niveau wie zuvor. Die Teilnehmerzahl unter den Bewohnern des Wohnheims der Rue Wilson blieb im Vergleich zu vorher hingegen stark rückläufig. Zudem war eine Veranstaltung der UCPMI, bei der Preise zum Abschluss des Schuljahres verteilt wurden, den Angaben nach im Vorfeld zum Gegenstand einer massiven »Gegenpropaganda« geworden, sodass letztendlich nur 30 »Nordafrikaner« teilnahmen – im Jahr zuvor waren es rund 200 gewesen. Dass zwischen diesen Neuerungen und dem Algerienkrieg ein Zusammenhang bestand, war für die Autoren des internen Berichts der UCPMI nicht zu bezweifeln. Sie gingen ferner davon aus, dass Kontakte mit der Betriebsleitung ebenso wie die Teilnahme an diesen Kursen für Algerier nunmehr ein gewisses Risiko darstellten70 . Die unmittelbaren Effekte des Unabhängigkeitskriegs auf die UCPMI zeigten sich nicht nur an den Aktivitäten algerischer Nationalisten vor Ort. Darüber hinaus sah sich das Unternehmen zu Beginn des Jahres 1957 erneut mit einem Mangel an accrocheurs konfrontiert, dessen Ursachen auf die Einberufung lothringischer Reservisten und Wehrpflichtiger zurückgeführt wurde71 . Der Kolonialkrieg wurde für das Unternehmen aus Hagondange zunehmend relevant. Spätestens im Frühling 1956 stellten mehrere lothringische Arbeitgeber mit Blick auf den Kolonialkrieg ihre bisherige Haltung gegenüber ihren algerischen Arbeitern auf den Prüfstand. Dabei wurden zumindest die bereits seit Jahren für Algerier praktizierten kolonialistisch-paternalistischen Sondermaßnahmen zumindest in der Öffentlichkeit nicht in Frage gestellt. Sie wurden vielmehr umso emphatischer weitergeführt und verteidigt, während mehrere Unternehmen parallel dazu eine direkte finanzielle Unterstützung des Kolonialkriegs leisteten72 . So spendeten die Arbeitgeberverbände der Eisen- und Stahlindustrie sowie des Kohlesektors in Moselle während einer

70 71 72

scheinlich auf Anordnung des MNA hin stattfand oder eine Reaktion auf die massive Diskriminierung algerischer Migranten infolge des 1. November 1954 war: Michel, Les travailleurs algériens en France, S. 197. UCPMI Forges et aciéries d’Hagondange, rapport général d’activités du service social pendant l’année 1955, 23. Juli 1956, AAM EA-V28/40. UCPMI Usines d’Hagondange: Service du chemin de fer, rapport sur l’année 1956, 31. Mai 1957, S. 12f., ibid. Im Mai 1956 erschien in der arbeitgebernahen Zeitschrift »Actualités industrielles lorraines« ein Artikel, der offen für eine Intensivierung der Aktionen der französischen Armee in Algerien eintrat und den drohenden Zusammenbruch des französischen Kolonialreichs als Katastrophe bezeichnete. Dabei wurde ebenfalls darauf hingewiesen, dass die Auswirkungen des Algerienkrieges in Lothringen durchaus präsent waren: »Diese Ereignisse betreffen uns nicht nur hinsichtlich der Zuneigung, die wir für unsere Freunde und unsere Soldaten empfinden, welche unter den Schüssen der Fellaghas ums Leben kommen. Sie haben auch einen direkten Einfluss auf das Verhalten der nordafrikanischen Arbeiter, die temporär nach Frankreich emigrieren«: Problèmes nord-africains, in: Acutalités industrielles lorraines, Nr. 43, Mai–Juni 1956, S. 35–41, hier: S. 35, AAM PER 1/2.

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von der Regierung initiierten »nationale Woche der Solidarität für die algerischen Kinder« vom 22. bis zum 29. Oktober 195673 insgesamt 500 000 Franc74 . Im Dezember des gleichen Jahres überwies Fillod, ein Metallbauunternehmen der Wendel-Gruppe, an die Union pour le salut et le renouveau de l’Algérie française rund 400 000 Franc75 . Die Unternehmensgruppe Wendel hatte bereits im August 1956 und später im Juli 1957 jeweils 250 000 Franc an die Veteranenstiftung Maréchal-de-Lattre gespendet76 . Die für »Nordafrikaner« konzipierte Sozialpolitik für algerische Arbeiter und das Spendenverhalten mehrerer lothringischer Großindustrieller in dieser Phase weisen auf deren eindeutiges Bestreben hin, den kolonialen Status Algeriens und der algerischen Migranten aufrecht zu erhalten. In der Folge wurde diese Haltung jedoch vor dem Hintergrund der sich häufenden Attentate algerischer Nationalisten in Lothringen, den zahlreichen Abreisen algerischer Migranten 1956 und den Streiks des FLN zu Beginn des Jahres 1957 zunehmend fallengelassen. Immer weniger Arbeitgeber lothringischer Großunternehmen wollten es durch eigene Investitionen kompensieren, dass die den algerischen Arbeitern stets zugeschriebene Problembelastung in zunehmender Weise auch eine neue politische und kriminelle Dimension erhielt. Stattdessen versuchten sie in zunehmendem Maße, nach Möglichkeit auf algerische Arbeiter, den vermeintlichen Luxus, zu verzichten.

4.3. Heimreisen, ein neues Migrationsregime und Entlassungen Rund anderthalb Jahre nach der Proklamation des Unabhängigkeitskriegs durch den FLN zeigte der Konflikt erste Auswirkungen auf das Migrations73 74 75 76

Jean Laporte, préfet de la Moselle, à Charles Bigas, directeur général des usines de Wendel de la vallée de la Fensch, 30. Okt. 1956, AAM EA-V10/176. Charles Bigas, directeur général des usines de Wendel de la vallée de la Fensch à Jean Laporte, préfet de la Moselle, 29. Nov. 1956, ibid. M. Delille à monsieur Henri de Wendel, 28. Dez. 1956, ibid. Le trésorier-payeur général de la Moselle à monsieur le président du conseil d’administration de la société de Wendel & Cie, 23. Aug. 1956; M. de Mitry au préfet de la Moselle, 23. Juli 1957, ibid. De Wendel erwies sich bei den Zahlungen im lothringischen Vergleich als besonders großzügig, wobei das Unternehmen bei weitem nicht das einzige war, das Stiftungen und Wohltätigkeitsaktionen für den Erhalt der »Algérie française« finanziell unterstützte. 1956 hatten unter anderem SIDELOR, die HBL, Lorraine-Escaut und SAFE Spenden in einer Größenordnung zwischen 15 000 und 200 000 Franc überwiesen: M. de Mitry à M. Aubrun, président de Sollac, 23. Aug. 1956, ibid. Die Solidaritätsaktionen hatten auch bei der Bevölkerung einen großen Erfolg. Laut einer Meldung des »Lorrain« wurden allein im Département Moselle bis Ende August 1956 über 12 Millionen Franc für die französischen Soldaten in Algerien und deren Familien gesammelt: Le Lorrain, 20. Aug. 1956.

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verhalten der Algerier in Lothringen. Die Zahl algerischer Arbeiter war dort seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit saisonal bedingten Schwankungen entweder angestiegen oder stagniert. Seit dem Sommer 1956 bis zum Beginn des Jahres 1957 verzeichneten die Behörden erstmals einen deutlichen Einbruch der Anzahl algerischer Arbeiter. Im Departement Moselle registrierte die Direktion für Arbeitsfragen im Januar 1957 gegenüber dem im April 1956 erfassten Wert einen Rückgang von 3937 algerischen Arbeitern, was 25,5 Prozent entsprach (siehe Grafik 6). An diesem neuen Trend fiel auf, dass sich der Rückgang der Anzahl algerischer Arbeiter besonders im Verlauf der Sommermonate abgezeichnet hatte, wodurch die in den Jahren zuvor dokumentierte Entwicklung auf den Kopf gestellt wurde; hatte doch die Anzahl algerischer Arbeiter bis dahin während der heißen Monate stets ihren Jahreshöchststand erreicht. In Meurthe-et-Moselle zeichnete sich eine ähnliche Entwicklung ab. Dort erreichte die Zahl der registrierten algerischen Arbeiter im September 1955 einen vorläufigen Höhepunkt von 7800. Sie ging danach ununterbrochen zurück und fiel bis zu Beginn des Jahres 1959 auf 479377 . An diesem eindeutigen Trend ist vor allem bemerkenswert, dass die Gesamtentwicklung der Beschäftigtenzahlen in Lothringen während der 1950er Jahre in fast allen Schlüsselsektoren, in denen Algerier arbeiteten, eine gegenteilige Tendenz aufwies. Die Eisenminen in der Umgebung von Briey, Audun-le Roman, Longwy und Nancy verzeichneten zwischen 1951 und 1961 einen leichten, aber kontinuierlichen Zuwachs der Arbeiterzahlen. Während des gleichen Zeitraums wuchs die Zahl der Beschäftigten in der lothringischen Eisen- und Stahlindustrie von 83 180 auf etwa 101 500. Nur im Bausektor ging die Zahl der Arbeiter in Lothringen auch insgesamt zurück und fiel zwischen 1954 und 1962 um rund sieben Prozent78 . Nach einer Umfrage der Präfektur von Meurthe-et-Moselle bei 17 Unternehmen79 der Eisen- und Stahlindustrie des Departements war die Gesamtzahl ihrer Arbeiter zwischen dem 30. Juni 1955 und dem 31. Dezember 1956 um rund 4000 gestiegen80 . Der Anteil der »Nordafrikaner« daran war jedoch insgesamt rückläufig und in fünf Fabriken gar von 15 bis 20 Prozent auf rund ein Prozent gefallen81 . 77

78 79 80 81 82

Le Conseiller technique pour les affaires musulmanes: les Algériens en Meurtheet-Moselle, 30. Juni 1962, AdM&M W 950 34. Eine detaillierte Übersicht über die monatliche Entwicklung in diesem Departement nicht ausfindig gemacht werden. Galloro, Boubeker, Histoires et mémoires des immigrations en Lorraine, S. 127–131. Die Namen der Unternehmen wurden in dem Bericht nicht genannt. M. Dehant, rapport sur le logement de la main d’œuvre nord-africaine: Logement des célibataires, 30. Apr. 1957, S. 2, AdM 297 W 18. Ibid., S. 3. Die konkreten Angaben zu Algeriern sind an dieser Stelle möglich, da in der zugrunde liegenden Statistik über »Nordafrikaner« Tunesier und Marokkaner separat aufgelistet wurden.

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4. Die politische Mobilisierung algerischer Migranten Grafik 6: Anzahl algerischer Arbeiter in Moselle, 1955–195782 17000 16000 16235

15000

15741 15236

15498 15251 14714

14000 13000

12843

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11561

11309 10877

ep 55 Ok t-D ez 55 Ja nM rz 56 Ap r-J un 56 Ju l-S ep 56 Ok t-D ez 56 Ja nM rz 57 Ap r-J un 57 Ju l-S ep 57 Ok t-D ez 57

55

-S Ju l

rz -M Ja n

Ap r-J un

55

10000

Hinsichtlich der Entwicklung am Arbeitsmarkt manifestierte sich die besondere Situation der der Algerier in Lothringen 1956 in einer neuen Form. Der Rückgang der Anzahl algerischer Arbeiter in Lothringen zur Mitte der 1950er Jahre deckte sich mit der allgemeinen Entwicklung am Arbeitsmarkt nur im Bausektor, wo etwa jeder zweite algerische Arbeiter sein Geld verdiente. Zeitgenössische Beobachter sahen darin einen direkten Effekt des algerischen Unabhängigkeitskriegs. So führte etwa die Zeitschrift »Actualités industrielles lorraines« im Herbst 1956 den manifesten Mangel an Arbeitskräften im Bausektor auf die Rekrutierungen zum Militärdienst und die Abwanderung algerischer Arbeitsmigranten zurück83 . Der starke Rückgang der Anzahl der algerischen Arbeiter in Lothringen im Laufe des Jahres 1956 ist auf mehrere Faktoren zurückzuführen. Zunächst beobachteten mehrere Stellen bereits im Herbst des Jahres 1955 eine Veränderung des Migrationsverhaltens der Algerier in Lothringen. So berichtete etwa die Gendarmerie Moselle gegenüber dem Vorjahr über eine deutliche Steigerung der Zahlen von Algeriern, die das Departement verließen. Anhand von Stichproben aus den Arrondissements Metz, Thionville und Forbach ergab sich, dass während der ersten Novemberwoche 1955 überall mehr Algerier abgereist waren als im gleichen Zeitraum ein Jahr zuvor84 . Ein Bericht der 83 84

L’industrie manque provisoirement de bras, in: Actualités industrielles lorraines 45 (1956), S. 15 AAM PER 1/2. Tableau comparatif de départs d’Algériens par le chef d’escadron Gauroy, commandant la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 10. Nov. 1955, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 731. Obwohl die Erfassung der Tabelle bis zum 13. November gedauert hatte, ist als Datum, an dem der Bericht offiziell angefertigt wurde, der 10. November angegeben, vermutlich ein Versehen Gauroys.

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Präfektur in Metz kam im Februar 1956 zu der Einschätzung, dass zahlreiche Algerier, die während des Winters nach Hause gefahren waren – weil sie Repressalien gegen ihre Familien in Algerien fürchteten –, nicht wieder in die Metropole zurückkehren würden85 . Der Krieg in Algerien rückte in seiner Anfangsphase zunächst durch die Polizeikontrollen und wohl auch durch die Medienberichterstattung ins Bewusstsein der Migranten in Lothringen. Die Aufstände des 20. August 1955 waren einem Bericht der Gendarmerie zufolge bereits am folgenden Tag Gegenstand reger Diskussionen unter algerischen Migranten auf einem arabischen Markt im Barackenlager Rosselmont86 . Viele Algerier vernahmen aufgrund der hohen Mobilität des Milieus, in dem sie sich bewegten, jedoch auch Erfahrungsberichte einiger Migranten, die die neuen Zustände in Algerien selbst erlebt hatten. Der Zeitzeuge Medjani führte die Anfangserfolge des FLN in Lothringen zu einem großen Anteil auf die Erzählungen von Heimkehrern zurück: Medjani: Nun, wenn Sie so wollen, diese Phase 1955/1956 war von einer gewissen Verwirrung unter den Migranten geprägt. Um die Algerier zu überzeugen, dass es der FLN war, der den Kampf begonnen hatte, fragte man etwa Leute, die über die Ferien nach Algerien fuhren: Geht nach Algerien und bringt in Erfahrung, wer den Befreiungskampf ausgelöst hat und wer ihn führt –. LH: Es gab viele Hin- und Rückfahrten –? Medjani: Sie fuhren hin und zurück. Sie fuhren in ihr Dorf, in ihren douar, und als sie wiederkamen, sagte man ihnen, sagt nun ganz offen, was ihr gesehen habt. Daraufhin immer: Es ist nicht der MNA. Nicht der MNA – es ist der FLN. Und so kam es, dass der FLN zunehmend die Überhand gewann87 .

Im Februar 1956 berichtete die Gendarmeriebrigade von Moyeuvre-Grande, dass ihre algerischen Informanten nach einem Aufenthalt in Algerien zwischen November 1955 und Januar 1956 wie ausgewechselt nach Lothringen zurückgekehrt seien. Während sie zuvor bereitwillig über die Aktivitäten algerischer Nationalisten in ihrem Umfeld berichtet hätten, würden sie nun jeden Kontakt zur Gendarmerie meiden und keinerlei Informationen mehr liefern88 . Abgesehen von dem jeweiligen Urteil über die politische Lage in Algerien und der Sorge um die Angehörigen und Freunde in der Heimat bestand vermutlich ein weiterer Grund für die Entscheidung algerischer Migranten, Lothringen den Rücken zuzukehren, in entsprechenden Aufforderungen 85 86

87 88

Abssi, Le nationalisme algérien, S. 129. Synthèse journalière des renseignements sur les Nord-Africains du capitaine Aumaitre, commandant provisoirement la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 23. Aug. 1955, S. 1, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 730. Interview LH–Medjani, 2013, S. 3. Synthèse journalière des renseignements recueillis sur les Nord-Africains par le capitaine Aumaitre, commandant de la SG de Thionville, 13. Feb. 1956, SHAT AG à Thionville, 2007 ZM 1/135 903.

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durch den FLN oder den MNA. Beide Organisationen riefen die Migranten seit dem Herbst 1955 dazu auf, sich in Algerien aktiv an dem Kampf für die Unabhängigkeit zu beteiligen. So berichtete die Gendarmerie etwa über Sendungen von Radio Kairo, die in arabischer Sprache entsprechende Aufrufe tätigten. Darin hieß es, alle Algerier sollten nach Algerien zurückzukehren, um ihre Familien vor dem Unheil zu beschützen, das die französische Armee anrichtete89 . In Thionville kursierten im November 1955 Flugblätter, die genaue Informationen darüber enthielten, wie Algerier am einfachsten mit dem Flugzeug nach Nordafrika kommen konnten; wahrscheinlich waren sie von Mitgliedern des MNA verteilt worden90 . Während der Parlamentsdebatte über die pouvoirs spéciaux und diesbezüglichen Demonstrationen der Messalisten in der Metropole im Frühling 1956 berichtete die Gendarmerie auch über schriftliche Drohungen algerischer Nationalisten, die die Migranten zur Rückkehr nach Algerien drängten. Demnach hätten im März 1956 mehrere Algerier in Forbach Drohbriefe erhalten, die von einem Postamt des Departements Constantine aus versendet worden waren und sie zur Rückkehr nach Algerien bewegen sollten91 . Infolge eines solchen Aufrufs zur Rückkehr, um dort zu den Waffen zu greifen, konnte es durchaus passieren, dass die Adressaten sich unmittelbar nach ihrer Heimreise an den bewaffneten Auseinandersetzungen beteiligten. Dies illustriert ein Attentat algerischer Guerillakämpfer gegen eine Patrouille der französischen Armee zwischen Fort-National und Michelet im April 1956, bei dem zwei französische Soldaten getötet und sieben weitere verletzt wurden. Einem Bericht der Gendarmerie zufolge hatten drei der Attentäter erst am 13. Januar 1956 den Bezirk von Moyeuvre-Grande verlassen, wo sie zuvor gelebt und gearbeitet hatten92 . Ein weiterer wichtiger Faktor für den Wandel des Migrationsverhaltens der Algerier in Lothringen waren die neuen Regelungen für den Reiseverkehr zwischen Algerien und der Metropole, die die Regierung in Paris anlässlich der pouvoirs spéciaux einführte. Seit dem 19. März 1956 war die Einreise nach Algerien an eine vorherige Genehmigung durch ein Polizeikommissariat ge89

90 91

92

Synthèse journalière des renseignements recueillis sur les Nord-Africains du chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 18. Okt. 1955, S. 1f., SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 731. Ibid., 3. Nov. 1955, S. 1. Ibid., 14. März 1956, S. 2. Die Gendarmerie berichtet auch über entsprechende Anweisungen des MNA, denen zufolge die algerischen Migranten in der Region bis zum Ende des Monats Juli 1956 in ihre Heimat-douars zurückzukehren sollten. Nur eine Minderheit von ihnen sollte in der Metropole bleiben, um dort weiterhin antifranzösische Propaganda zu machen und Sabotageakte zu begehen. Diese Kommandos sollten sich den Vorgaben nach in den Städten Douai, Straßburg und Nancy sammeln (für den Norden und Nordosten Frankreichs): ibid., 12. März 1956. Ibid., 4. Apr. 1956, S. 1f.

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bunden. Zudem mussten alle Personen, die zwischen Frankreich und Algerien verkehrten, einen neuen Personalausweis vorweisen, der im Oktober 1955 eingeführt worden war. Diese Maßnahmen zielten auf eine breite Kontrolle aller Algerier durch den französischen Staat93 . Sie hemmten die Migranten bei der Umsetzung ihrer wie auch immer motivierten Reisevorhaben zwischen Afrika und Europa allein schon aufgrund des gesteigerten organisatorischen Aufwands und des Unwillens der meisten Algerier, mit den französischen Behörden in Kontakt zu treten. Sowohl die Heimreise nach Algerien als auch die Rückreise nach Lothringen wurde für Algerier erschwert. Die RG schätzten, dass die Anzahl der im Departement Meurthe-et-Moselle während der Sommermonate 1956 eingetroffenen Algerier nur noch ein Fünftel des in den Jahren zuvor erreichten Durchschnittswerts betrug94 . Einige Algerier verstanden es zwar, sich durch die Entwicklung alternativer Reisestrategien selbst zu helfen95 . Insgesamt stellten die neuen Reisebedingungen jedoch einen wichtigen Hemmfaktor für den Austausch zwischen Algerien und der Metropole dar. Schließlich vollzog sich zwischen dem Frühjahr 1956 und dem Beginn des Jahres 1957 auch eine Wende in der Haltung vieler Arbeitgeber gegenüber ihrem algerischen Personal. Zunächst ließ im März 1956 allein die Beteiligung Tausender algerischer Arbeiter an Streiks und Demonstrationen von FLN und MNA in Lothringen diese in zunehmendem Maße als potenziellen Störfaktor für die Unternehmensplanung erscheinen. Algerische Arbeiter brachten jedoch auch ein zunehmend hohes Risiko von Arbeitsausfällen mit sich – aufgrund von Verhaftungen durch die Polizei oder wegen der Folgen von Repressionen algerischer Nationalisten. In Uckange musste etwa ein algerischer Arbeiter drei Wochen lang krankgeschrieben werden, nachdem andere Algerier ihm in der Nacht vom 16. auf 17. April 1956 eine schwere Kopfverletzung zugefügt hatten. Die Gendarmerie berichtete, der Betroffene sei angegriffen worden, weil er einem Streikaufruf algerischer Nationalisten nicht nachgekommen sei96 . 93 94 95

96

Blanchard, Contrôler, enfermer, éloigner, S. 322. RG de Nancy, main d’œuvre nord-africaine, 2. Okt. 1956, AdM&M W 950 34. Nach einem Bericht der Gendarmerie von Moselle im September 1956 waren viele Algerier wegen der neuen Reisebestimmungen sehr unzufrieden und hatten zunehmend Schwierigkeiten, eine Reiseerlaubnis nach Algerien zu bekommen. Daraus, so der Bericht, hätten einige versucht, ein Geschäft zu machen, indem sie für 10 000–25 000 Franc Personen in einem Auto nach Spanien brachten, von wo aus diese dann über Marokko illegal die Grenze nach Algerien überqueren könnten. Andere würden Pässe beantragen, um sich zunächst nach Belgien oder in die Schweiz zu begeben, von wo aus sie dann nach Marokko flogen: Synthèse journalière des renseignements recueillis sur les NordAfricains du chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 4. Sep. 1956, S. 1f., SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 731. Synthèse journalière des renseignements recueillis sur les Nord-Africains du capitaine Aumaitre, commandant provisoirement la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 19. Apr. 1956, S. 1f., ibid.

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Anfang Oktober 1956 vermittelte der Bürgermeister von Bougie (Béjaïa) mit Unterstützung der Präfektur in Metz drei Algeriern seiner Stadt einen Arbeitsplatz bei der SMK in Knutange. Kurz nach ihrer Ankunft berichteten die drei jedoch, dass sie von anderen algerischen Arbeitern des Unternehmens bedroht worden seien, woraufhin der Berater für muslimische Fragen der Präfektur versuchte, ihnen eine andere Anstellung in der Region Toulouse zu organisieren, die als ruhiger galt. Zum Ärger ihres Arbeitgebers entschlossen sich die drei Algerier jedoch, Lothringen auf eigene Faust und unangekündigt in Richtung Paris zu verlassen. Daraufhin ging der Berater für muslimische Fragen davon aus, dass es in Zukunft deutlich schwieriger für ihn sein würde, Algeriern Arbeitsplätze bei der SMK zu vermitteln97 . Die dreifache Fixierung von MNA, FLN, Polizei und Gendarmerie auf Algerier leistete der Einschätzung Vorschub, diese würden den Kolonialkrieg – im Zweifelsfall sogar gegen ihren Willen – in die Betriebe und Wohnheime tragen98 . Eine derartige Einschätzung war etwa im Sommer 1956 in den »Actualités industrielles lorraines« zu lesen: Das Verhalten der nordafrikanischen Arbeiter, mit denen wir in Kontakt stehen und die von verschiedenen Formen der Propaganda bis hin zur Gewalt bedrängt werden, wird zu einem großen Teil von unserer Haltung abhängen. [. . . ] Ohne Umsicht walten zu lassen, könnten wir allen nordafrikanischen Arbeitern die Verantwortung für die schmerzlichen Ereignisse zuschieben. Jedoch wartet die Mehrheit von ihnen – erpresst und unter Drohungen zur Befolgung von Anweisungen gezwungen, die wir ablehnen – lediglich ängstlich auf eine andere Freiheit als jene, die ihnen der Terror verspricht: Die Freiheit, friedlich das Brot ihrer Kinder zu erarbeiten99 .

Ähnlich wie in den einzelnen Beiträgen der Konferenz der UIMM in Metz wurde hier zwar explizit eine Verantwortung und potenzielle Handlungsmacht der Arbeitgeber konstatiert, um der Situation Herr zu werden. Allerdings ließ dieser Artikel keinen Zweifel an der Einschätzung seines Autors, dass bereits sämtliche algerischen Arbeiter von den Auswirkungen des Krieges und den angeblichen Erpressungen durch algerische Nationalisten betroffen waren. Auf die Möglichkeit unmittelbarer Auswirkungen der politischen Ent97

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L’administrateur des services civils de l’Algérie, conseiller aux questions sociales musulmanes à monsieur Lamy, secrétaire général du comité »Lyautey« à Paris, 3. Nov. 1956, AdM 297 W 6. Am 7. April 1956 wurde der Algerier Haizia Abdelkader im Wohnheim des Unternehmens Chanzy et Pardoux in Bambidertstroff von zwei weiteren Algeriern bedroht, sie würden ihn umbringen, falls er nicht aufhöre, Bier zu trinken. Welcher Organisation die beiden Aktivisten angehörten, war nicht bekannt. Sie waren erst zwei Tage zuvor in das Wohnheim gezogen, in dem der von ihnen bedrohte Algerier lebte: Synthèse journalière des renseignements recueillis sur les Nord-Africains du chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 12. Apr. 1956, S. 1f., SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 731. Problèmes nord-africains, in: Actualités industrielles lorraines 43 (1956), S. 35–41, hier S. 35, AAM PER 1/2.

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wicklung in Algerien auf algerische Arbeiter in Lothringen wurden die Arbeitgeber auch vonseiten der Gendarmerie gestoßen. Nach der Ankündigung eines Streiks für den 20. August 1956 wies der Kommandant der Gendarmerie-Sektion von Thionville die Chefs aller Brigaden an, Arbeitgeber mit einer großen Anzahl an nordafrikanischem Personal zu kontaktieren, damit diese genau dokumentierten, wie viele und welche »Nordafrikaner« an jenem Tag arbeiteten, streikten oder sich Urlaub genommen hätten100 . Dass die Arbeitgeber den Anliegen der Polizei in der Regel nachkamen, rief bei einigen Betroffenen offene Empörung hervor. So kommentierte ein algerischer Kohlearbeiter gegenüber Andrée Michel die Position der HBL anlässlich der massiven Polizeikontrollen in der Region Forbach im September 1955 mit den Worten: »Les Houillères, c’est la police«101 . Seit dem Frühling des Jahres 1956 schwanden sowohl die Hoffnung wie auch die Motivation vieler lothringischer Arbeitgeber, ihre algerischen Arbeiter dem Einfluss der Separatisten durch eigene Maßnahmen zu entziehen. Abgesehen davon, dass sie in den meisten Fällen mit der Polizei und Gendarmerie sowohl bei der Überwachung als auch bei der Sanktionierung der Algerier in der Regel bereitwillig kooperierten, nahm bei vielen auch die Bereitschaft immer weiter ab, Algerier einzustellen. Es kam für die Migranten hinzu, dass die Organisationen FLN und MNA in der Region an Einfluss gewannen und sie mit offenen Drohungen zur Zahlung von Geldern, der Beteiligung an Streiks und Demonstrationen, aber auch zur Rückreise nach Algerien bewegen wollten. Schließlich mussten die Migranten befürchten, dass Angehörige in Algerien während ihres Aufenthalts in der Metropole durch eine der Kriegsparteien zu Schaden kamen. Die Folge war, dass ein bedeutender Anteil der Arbeitsmigranten Lothringen den Rücken zukehrte und ihre Gesamtzahl buchstäblich einbrach.

4.4. Der Streik des FLN im Januar 1957 und die Folgen Nach der Hinrichtung von zwei Mitgliedern des FLN in Algier durch die Guillotine im Juni 1956 und der Explosion einer mit Hilfe der französischen Polizei gelegten Bombe in der Rue de Thèbes mit zahlreichen algerischen Opfern im August102 strengte der FLN in der algerischen Hauptstadt eine Serie von Attentaten auf französische Soldaten und Zivilisten an. Daraufhin führten die Soldaten der zehnten Fallschirmjägerdivision unter dem Befehl des Generals 100 101 102

Note de service du capitaine Aumaitre, commandant de la SG de Thionville, 14. Aug. 1956, SHAT AG à Thionville, 2007 ZM 1/135 904. Michel, Les travailleurs algériens en France, S. 143. Die französische Polizei sprach von 15 Todesopfern, dem FLN zufolge waren es 70.

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Jacques Massu in Kooperation mit der französischen Polizei zwischen dem 10. Januar und der Mitte des Jahres 1957 eine Welle kollektiver Repressionen durch, wie sie Algier bis dahin noch nicht erlebt hatte. Die von der französischen Propaganda als »Kampf um Algier« verherrlichten Repressionen kamen zu einem ersten Höhepunkt, als die Algerienfrage Ende Januar vor der UNOVollversammlung debattiert wurde. Um die Aufmerksamkeit der Staatengemeinschaft auf den algerischen Unabhängigkeitskampf und die Vorreiterrolle des FLN zu lenken, ordnete das Zentralkomitee des FLN an, dass alle Algerier als Zeichen der Gefolgschaft gegenüber dem FLN ab dem 28. Januar 1957 eine Woche lang in einen Streik treten sollten. Der in Algier zunächst breit befolgte Streik wurde durch die Männer Massus mit äußerster Brutalität und der systematischen Anwendung von Folter bekämpft. So gelang es dem FLN zwar, mit der Aktion das gewünschte internationale Aufsehen zu erregen. Allerdings musste die Organisation innerhalb der nächsten Monate erleben, wie ihr Netzwerk in der algerischen Hauptstadt vollständig zerschlagen wurde103 . Außer in mehreren anderen Regionen wurde der Streikaufruf des FLN auch in Lothringen von vielen Algeriern befolgt. Insbesondere im Departement Meurthe-et-Moselle zeichnete sich eine rege Beteiligung ab. Den Angaben der RG zufolge lebten dort im Januar 1957 etwa 8500 Algerier. Rund 7000 waren mit ihrem Wohnsitz bei der Direktion für Arbeitsfragen registriert, davon 2500 im Becken von Nancy, 3200 in der Region Longwy und 1300 im Becken von Briey. Die übrigen 1500 waren über das restliche Departement verteilt oder hatten keinen festen Wohnsitz. 3200 Algerier arbeiteten im Eisen- und Stahlsektor und 3300 auf dem Bau. Sie waren teilweise auf Großbaustellen und in Großbetrieben tätig. Ein bedeutender Anteil von ihnen arbeitete jedoch auch in Kleinunternehmen. Nach Informationen der RG beschäftigten über 2000 Betriebe in Meurthe-et-Moselle im Januar 1957 weniger als zehn »Nordafrikaner«104 . Der Streikaufruf an alle algerischen Arbeiter stellte die räumliche Machtdurchdringung des FLN auch in Lothringen erstmals aufs Exempel. Die Migranten sollten sich dort vor aller Augen zum FLN bekennen und ihre Entschlossenheit durch eine offene Konfrontation mit den Arbeitgebern unterstreichen. Aufgrund der Verbindung des Streiks mit der UNO Debatte hatte die FLN Propaganda die Frage der Legitimität ihrer Organisation selbst mit dem Erfolg dieser Aktion verbunden. Die Mobilisierung der algerischen Migranten in der Metropole für den Streik ging somit auf die diplomatische Strategie des Zentralkomitees des FLN zurück und muss vor

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Meynier, Histoire intérieure du FLN, S. 322f. Zur systematischen Anwendung der Folter durch die französische Armee während der bataille d’Alger siehe Branche, La torture et l’armée, S. 124–160. RG de Nancy, mouvement de grève des Nord-Africains en Meurthe-et-Moselle, 30. Jan. 1957, AdM&M 950 W 65.

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dem Hintergrund der Debatte in New York und der massiven Repression der französischen Armee in Algier gesehen werden. Einzelne Quellen zeigen, dass die Mobilisierung der algerischen Migranten in Meurthe-et-Moselle zu dem Streik ohne direkte Anwendung von Gewalt durchgeführt wurde. So berichteten etwa die RG von Nancy, dass 15 Algerier am 30. Januar 1957 gegen 11 Uhr mehrere algerische Arbeiter auf einer Baustelle in Laxou aufgesucht und diese nach längeren Gesprächen zur Niederlegung ihrer Arbeit bewegt hätten. Ein französischer Arbeiter gab zu Protokoll, dass es dabei nicht zu Gewalt gekommen war und lediglich auf Arabisch gesprochen worden sei105 . Angesichts mangelnder Quellen kann nicht beurteilt werden, inwiefern die später geäußerte Einschätzung desselben Polizeidienstes zutreffend ist, die Mobilisierung in Meurthe-et-Moselle sei vor allem auf gezielte Einschüchterungen zurückzuführen106 . Der vom FLN organisierte Streik zu Beginn des Jahres 1957 ließ zwei neue Aspekte des Algerienkriegs in Lothringen hervortreten. Erstens waren Polizei und Gendarmerie in der Situation einer öffentlich manifestierten Solidarität mit dem FLN nicht mehr auf Spitzelberichte und die Angaben beschlagnahmter interner Berichte angewiesen, um die jeweilige Stärke der algerischen Untergrundorganisationen zu evaluieren. Diese zeigte sich nun gewissermaßen vor aller Augen anhand der Streikbeteiligung, die der FLN als offenes Bekenntnis der Loyalität eingefordert hatte. So wurde in den industriellen Becken von Longwy und Briey der überragende Einfluss der Messalisten auf die algerischen Arbeiter anhand einer relativ niedrigen Streikbeteiligung sichtbar. Demgegenüber spiegelte der hohe Anteil der algerischen Arbeiter von Nancy, die die Arbeit in der Streikwoche niederlegten, die dortige Macht des FLN wider. Am ersten Tag des Streiks befolgten den Angaben der RG zufolge drei Viertel aller etwa 2500 Algerier innerhalb des Beckens von Nancy den Aufruf zum Streik. In den Becken von Longwy und Briey hingegen waren es lediglich zehn Prozent von ca. 4500107 . An den beiden folgenden Tagen wurden keinerlei Streiks mehr in den Becken von Briey und Longwy registriert. Innerhalb des Beckens von Nancy hingegen beteiligten sich den Angaben der RG zufolge am 29. Januar 78 Prozent aller algerischen Arbeiter an dem Streik und am 30. Januar 74 Prozent108 . Auch algerische Kneipen und Cafés blieben in Nancy während der gesamten Streikwoche geschlossen109 . Die von den RG geschätzte durchschnittliche Beteiligung von 20 bis 30 Prozent der algerischen

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RG de Nancy, note pour M. le préfet, 30. Jan. 1957, ibid.; L’officier de police Albert Tritz à monsieur le commissaire principal, chef de la sûreté à Nancy, 30. Jan. 1957, ibid. Die RG zeigten sich überzeugt davon, dass die hohe Beteiligung der Algerier in der Region an dem Streik eine Folge von Einschüchterung durch den FLN sei: RG de Nancy, grève des Nord-Africains en Meurthe-et-Moselle, 7. Feb. 1957, ibid. Ibid. Ibid., 30. Jan. 1957. [Ibid., 29. Jan. 1957].

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Migranten in Meurthe-et-Moselle an dem Streik110 wurde in der Hauptstadt von Meurthe-et-Moselle somit weit übertroffen. Im nördlichen Teil des Departements stach während des Streiks allein Villerupt hervor, das der Polizei als einzige Hochburg des FLN innerhalb des vom MNA dominierten industriellen Beckens von Longwy galt. So streikten etwa am 30. Januar in Villerupt 340 von insgesamt 700 algerischen Arbeitern, während in allen anderen Orten des Beckens keinerlei Arbeitsniederlegungen vermerkt wurden111 . Der Streik machte in Meurthe-et-Moselle außer den unterschiedlichen Einflusszonen von MNA und FLN auch deutlich, dass die erfolgreiche politische Mobilisierung algerischer Migranten zu einem gewissen Anteil von deren sozialer Situation abhängig war. Dies zeigt vor allem die konstant überdurchschnittliche Streikbeteiligung der Algerier, die im Bausektor tätig waren. Am 28. Januar – sowohl der FLN als auch der MNA hatten an diesem Tag zum Streik aufgerufen – beteiligten sich in Meurthe-et-Moselle 90 Prozent der algerischen Arbeiter, die im Bausektor beschäftigt waren, an dem Streik. Dagegen waren es in der Eisen- und Stahlindustrie lediglich 30 Prozent und in allen anderen Unternehmen rund die Hälfte. Der Anteil der streikenden algerischen Bauarbeiter war an jenem Tag somit fast doppelt so hoch wie der von der Präfektur geschätzte Mittelwert von 50 bis 55 Prozent für alle algerischen Arbeiter112 . Am 29. Januar hatte nur der FLN zum Streik aufgerufen. Den RG schien es an diesem zweiten Tag des Streiks, als würden im Bezirk Nancy 100 Prozent aller in Bauunternehmen arbeitenden Algerier den Streik befolgen113 . In ganz Meurthe-et-Moselle streikten nach Angaben der Präfektur hingegen nur 27 Prozent der algerischen Arbeiter, die in der Eisen- und Stahlindustrie beschäftigt waren, gegenüber 35 Prozent im Bausektor114 . Neben einer deutlich höheren Beteiligung im Süden des Departements gegenüber dem Norden zeichnete sich auch das Übergewicht des Anteils der streikenden Algerier im Bausektor gegenüber denen, die in der Eisen- und Stahlindustrie arbeiteten, während der gesamten Woche ab. Am 1. Februar beteiligten sich 29 Prozent aller Algerier in Meurthe-et-Moselle an dem 110

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Ein Überblick über die Anzahl der algerischen Streikenden in Meurthe-et-Moselle während der Streikwoche des FLN liegt nicht vor. Die von der Polizei gemachten Angaben sind diesbezüglich unvollständig und unpräzise. Die oben genannte Schätzung beruht auf den Angaben der RG, denen zufolge die Streikwoche mit einer Beteiligung von etwa 30 % begann und gegen Ende der Woche immer mehr abflaute. Am 4. Februar ließen hingegen nur noch 21 % die Arbeit ruhen: RG de Nancy, message téléphoné à la direction des RG, 4. Feb. 1957, AdM&M 950 W 65. Message des RG de Nancy au préfet de Meurthe-et-Moselle, cabinet, 31. Jan. 1957, ibid. Préfet de Meurthe-et-Moselle au ministre de l’Intérieur, cabinet, 28. Jan. 1957, ibid. [RG de Nancy], Grève nord-africaine, [29. Jan. 1957], AdM&M 950 W 65. Préfet de Meurthe-et-Moselle au ministre de l’Intérieur, cabinet, 29. Jan. 1957, AdM&M 950 W 65.

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Streik. Erneut übertraf die Quote im Bausektor mit 41 Prozent deutlich jene der Eisen- und Stahlindustrie von 31 Prozent115 . Am 2. Februar berichtete die Polizei, dass sich etwa 30 Prozent der algerischen Arbeiter in Meurthe-et-Moselle an dem Streik beteiligten116 . Die relativ hohe Beteiligung der im Bausektor arbeitenden Algerier an dem Streik erklärte die Polizei einerseits damit, dass für sie weniger auf dem Spiel stehe als für Arbeiter der Eisen- und Stahlindustrie, die befürchten mussten, nach einer Entlassung ihre gehobene soziale Position einzubüßen117 . An einer anderen Stelle führten die Beamten an, dass Bauarbeiter während jener Wintermonate in Meurthe-et-Moselle aufgrund von Arbeitermangel vielfach nachgefragt würden, sodass eine Reaktion der Arbeitgeber auf einen Streik in Form von Entlassungen im Bausektor als eher unwahrscheinlicher erscheinen konnte118 . Diese beiden Argumente können aus heutiger Sicht jedoch nur teilweise überzeugen, da die Polizei damit ein weiteres Mal eine politische Aktion von Algeriern ausschließlich unter dem Gesichtspunkt möglicher sozialer Ursachen beleuchtete und den situativen Kontext oder die politischen Motive ausblendete. Das Beispiel der Aciéries de Pompey macht deutlich, dass die Aktivisten des FLN durchaus in der Lage waren, nicht nur Arbeiter des Bausektors, sondern auch der Eisen- und Stahlindustrie in hoher Anzahl zu mobilisieren. Somit erscheint zumindest in Ergänzung zu der Frage des Arbeitssektors das konkrete Vorgehen der jeweiligen Akteure vor Ort als ein entscheidender Faktor für eine erfolgreiche Mobilisierung. Dass die auf dem Bau beschäftigten Algerier in der Regel ohnehin über knapp befristete Arbeitsverträge verfügten und aufgrund der damals hohen Nachfrage nach ihrer Arbeitskraft eine Kündigung weniger zu befürchten hatten, mag in einigen Fällen zutreffen. Es wäre jedoch vermessen, davon auszugehen, dass die meist in prekären Verhältnissen und ohne eine mittelfristige Jobperspektive lebenden Bauarbeiter ihre Arbeitsstelle unbekümmert zur Disposition gestellt hätten. Bei den Aciéries de Pompey handelte es sich um den einzigen Betrieb in Meurthe-et-Moselle außerhalb des Bausektors, in dem sämtliche algerischen Arbeiter – insgesamt 375 – den Streik befolgten119 . Nach der Darstellung der 115 116 117

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Ibid., 1. Feb. 1957. Ibid., 2. Feb. 1957. Zwei Tage vor Beginn des Streiks berichteten die RG in Nancy, dass vor allem die Arbeiter in der Eisen- und Stahlindustrie, die eine relativ gesicherte soziale Position hätten, sich angesichts des nahenden Streiks Sorgen um ihre Zukunft machten: RG de Nancy, message téléphoné à la direction des RG de Paris (8e section), 26. Jan. 1957, AdM&M 950 W 65. Tatsächlich berichteten die RG von Nancy, dass die Entlassungen im Bausektor nach dem Ende des Streiks im Vergleich zur Eisen- und Stahlindustrie deutlich geringer ausfielen: RG de Nancy, mouvement de grève des Nord-Africains en Meurthe-et-Moselle, 30. Jan. 1957, ibid. Direction départementale du travail et de la main d’œuvre à Nancy, arrêts de travail des ouvriers nord-africains, 28. Jan. 1957, ibid.

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RG verließen in der Nacht vom 27. auf den 28. Januar um Punkt 24 Uhr alle 43 algerischen Arbeiter, die für die Schicht bis 4 Uhr morgens eingetragen waren, ihren Posten. Dies wurde sowohl vonseiten der Direktion als auch des »europäischen Personals« sehr negativ aufgenommen120 , obgleich die Aktion absehbar gewesen war. So hatten einige Algerier die Direktion des Unternehmens bereits am 24. Januar gebeten, in der Nacht vom 27. auf den 28. Januar einen Arbeitsausfall von einer halben Stunde zu tolerieren, was diese jedoch rundweg abgelehnt hatte121 . Zudem hatten sich bereits eine Woche vor dem Beginn des Streiks 77 algerische Arbeiter der Aciéries de Pompey gleichzeitig krankgemeldet, was die Polizei auf fehlerhafte Anweisungen algerischer Nationalisten zurückführte122 . Die RG berichteten, dass einige Algerier sowohl im Voraus123 als auch im Nachhinein124 gegenüber ihrem Arbeitgeber und ihren Kollegen deutlich gemacht hatten, dass sie für den Fall einer Nichtbefolgung des Streiks mit dem Tode bedroht worden seien. Trotzdem und trotz der Intervention einiger Algerier und einiger Vertreter der CGT bei der Direktion der Aciéries de Pompey wurden als Folge des Streiks schließlich 75 algerische Arbeiter entlassen125 . Im Fall der Aciéries de Pompey spielten soziale Faktoren bei der Streikbeteiligung bestenfalls eine Nebenrolle. Vielmehr konnte die vollständige Mobilisierung der algerischen Arbeiter durch den FLN hier vor allem durch das Einfordern von Loyalität und mittels Einschüchterungen erreicht werden. So ließen einige der Algerier, die um Mitternacht ihren Arbeitsplatz verließen, ihre Vorarbeiter wissen, sie würden nur streiken, weil sie sich nicht »massakrieren lassen« wollten126 . Weder in diesem noch in anderen Fällen hinderte dies die Arbeitgeber daran, ihrerseits die Beteiligung algerischer Arbeiter an dem Streik zu sanktionieren. Einem Bericht der Präfektur vom 19. Januar zufolge waren in Pompey und auch andernorts bereits im Vorfeld Warnungen ausgesprochen worden, dass auf Arbeitsniederlegungen mit sofortigen Kündigungen reagiert werden würde127 . Algerier, die sich aufgrund von politischer Überzeugung, Gruppendynamik oder als Folge des ausgeübten Drucks von FLN-Aktivisten an dem Streik 120 121 122

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RG de Nancy, grève des Nord-Africains à Pompey, 28. Jan. 1957, ibid. RG de Nancy, état d’esprit de la main d’œuvre nord-africaine à l’approche de la grève lancée par le FLN, 24. Jan. 1957, ibid. Auch bei der Société métallurgique d’Aubrives-Villerupt meldeten sich 125 von 250 algerischen Arbeitern am Morgen des 21. Januar 1957 krank: Note à l’attention du préfet, 19. Jan. 1957, ibid. RG de Nancy, au sujetde la grève FLN, 28. Jan. 1957, ibid. RG de Nancy, message pour monsieur le préfet, o. D., ibid. Ibid. RG de Nancy, au sujet de la grève FLN, 28. Jan. 1957, AdM&M 950 W 65. Note à l’attention du préfet, 19. Jan. 1957, ibid.; RG de Nancy, état d’esprit de la main d’œuvre nord-africaine à l’approche de la grève lancée par le FLN, 24. Jan. 1957, ibid.

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beteiligen wollten, um anlässlich der UNO-Debatte und des »Kampfes um Algier« öffentlich Position zu beziehen, befanden sich somit in einem Dilemma. Diesem versuchten sich einige dadurch zu entziehen, dass sie sich krankmeldeten. In Pont-à-Mousson etwa waren am 31. Januar 1957 von 202 algerischen Arbeitern 81 im Streik und 58 krankgeschrieben128 . Am 4. Februar waren von 203 algerischen Arbeitern 67 bei der Arbeit, 53 hatten sich krankgemeldet und 83 waren in den Streik getreten129 . Im industriellen Becken von Longwy übertraf die Anzahl der Krankmeldungen an jenem Tag sogar die der Streikenden. So registrierten die RG hier lediglich 35 Arbeitsniederlegungen von Algeriern gegenüber 108 Krankheitsfällen130 . Die Strategie, sich krankzumelden, leistete aus der Perspektive der Arbeitgeber dem weit verbreiteten Vorurteil, dass Algerier überdurchschnittlich oft krank seien, auf eine neue Weise Vorschub. Die Annahme, algerische Arbeiter seien für Arbeitsausfälle besonders anfällig, ließ sich nunmehr – abgesehen aus kolonialistischen und rassistischen Motiven – auch im Hinblick auf die damaligen politischen Machtverhältnisse begründen131 . Der vom FLN ausgerufene Streik zu Beginn des Jahres 1957 bewirkte vielerorts eine weitere Verschlechterung des Verhältnisses zwischen französischen und algerischen Arbeitern132 und führte insbesondere zu einer weiteren Verhärtung der Position lothringischer Arbeitgeber gegenüber den Migranten133 . Dass der Anteil der Kündigungen algerischer Arbeiter nach dem Ende der Streikwoche weit hinter dem der Streikbeteiligung zurückblieb, war vor allem dem damaligen Arbeitermangel in der Region geschuldet134 , der aufgrund der Entwicklung des Jahres 1956 und wegen der kalten Jahreszeit besonders akut war. Zudem hatte das Innenministerium die Präfekten der Metropole bereits im Vorfeld des Streiks angewiesen, bei den Arbeitgebern ihrer Region zu intervenieren, damit deren Sanktionen sich lediglich gegen führende Agitatoren

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RG de Nancy, message téléphoné des RG de Pont-à-Mousson, 31. Jan. 1957, ibid. Ibid., 4. Jan. 1957. Ibid. RG de Nancy, grève des Nord-Africains en Meurthe-et-Moselle, 7. Feb. 1957, AdM&M 950 W 65. Ibid. Die RG resümierten diesbezüglich: »Dieser Streik führt zu einer eindeutigen Verhärtung der Haltung der Arbeitgeber gegenüber nordafrikanischen Arbeitern. Auch in Zukunft werden diese Arbeiter Schwierigkeiten haben, in anderen Sektoren als dem Bausektor Arbeit zu finden«: ibid., 30. Jan. 1957. Bei den Établissements Delattre in Frouard weigerten sich 143 entlassene Streikende, sich für ihre Wiedereinstellung zu bewerben und forderten ihre sofortige Wiedereinstellung. Es schien zunächst so, als würden die Arbeitgeber der Forderung aufgrund ihres Personalmangels entsprechen. Der Bericht vermerkt, dass diese Haltung großen Unmut auf Seiten der europäischen Arbeiter hervorgerufen habe. Demnach hätten diese eine Privilegierung der Algerier beklagt, da sie selbst bei einem solchen Verhalten sofort entlassen worden wären: ibid., 7. Feb. 1957.

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richteten135 . Im gesamten Departement Meurthe-et-Moselle registrierten die RG in einer vorläufigen Bilanz über den Streik 313 Kündigungen und 134 Beurlaubungen algerischer Arbeiter der Eisen- und Stahlindustrie. Im Bausektor hingegen waren es 72 Kündigungen und 86 Beurlaubungen136 . Auch im benachbarten Departement Moselle war es in der letzten Januarwoche 1957 und zu Beginn des Monats Februar an verschiedenen Orten zu Demonstrationen und Streiks algerischer Arbeiter gekommen. Der »Républicain lorrain« berichtete, dass am 28. Januar in Metz gegen 13 Uhr etwa 60 »Nordafrikaner« für die Freilassung von Messali Hadj und den MNA demonstriert hätten. Darüber hieß es, dass der Streikaufruf an algerische Arbeiter vor allem in der Region Thionville befolgt worden sei. Innerhalb dieses Arrondissements war insbesondere das Unternehmen UTE in Sérémange aufgefallen, wo den Angaben nach 217 von 220 Arbeitern die Arbeit niedergelegt hatten. Für die Tage davor schätzte der »Républicain lorrain« die Streikbeteiligung der algerischen Arbeiter auf durchschnittlich 60 Prozent137 . Infolge der hohen Beteiligung an dem Streik des FLN verschlechterten sich für Algerier auch in Moselle die Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Der SCINA des Departements resümierte bezüglich der Haltung der Arbeitgeber im September 1957: »Die Arbeitgeber zögern nicht mehr, das nordafrikanischePersonal, das sich an politisch motivierten Streiks beteiligt, zu entlassen«138 . Mit zunehmender Dauer des algerischen Unabhängigkeitskriegs wurden Algerier für die lothringischen Arbeitgeber immer weniger attraktiv. Neben den bereits zuvor gehegten verschiedenen rassistischen und kolonialistischen Stereotypen über »Nordafrikaner« sprachen viele ihnen nun auch ein politisches Handicap zu. Dies geschah nicht allein aufgrund der steigenden Macht des FLN, die sich in Attentaten und vor allem daran offenbarte, wie sehr er die algerischen Arbeiter mobilisieren konnte. Auch vonseiten der französischen Staatsmacht wurden immer weiter gehende Forderungen bezüglich der Überwachung von Algeriern an die Arbeitgeber herangetragen. Im Dezember 1957 erstellten die IGAME der Metropole auf einer Konferenz in Paris eine Reihe von Empfehlungen an Arbeitgeber, die viele »Nordafrikaner« beschäftigten. Sie sollten den Polizeibehörden regelmä135 136

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Ministre de l’Intérieur aux préfets, télégramme officiel, 19. Jan. 1957, AdM&M 950 W 65. Zudem waren im Becken von Nancy acht Algerier im Zuge des Streiks verhaftet worden. Im Becken von Longwy waren es elf: RG de Nancy, grève des Nord-Africains en Meurthe-et-Moselle, 7. Feb. 1957, ibid. Mehrere Einzelmeldungen, die zu einem späteren Zeitpunkt eingingen, zeigen, dass diese Angaben nicht vollständig sind. So kündigte etwa die Lorraine-Escaut in Mont-Saint-Martin am 7. Februar zehn algerischen Arbeitern, die unter den algerischen Arbeitern angeblich Propaganda für den MNA verteilt hatten. Dies sollte nach Einschätzung der RG einserseits eine Sanktion darstellen, aber auch ein Exempel statuieren: RG de Longwy, licenciement de 10 ouvriers nord-africains de la Société Lorraine-Escaut, section de Mont-Saint-Martin, 8. Feb. 1957, ibid. Le Républicain lorrain, 29. Jan. 1957. Der Firmenname UTE ist nicht auflösbar. SCINA départemental de la Moselle, procès-verbal de la réunion, 30. Sep. 1957, S. 3, AdM&M 950 W 13.

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ßig eine Liste mit den Algeriern zukommen lassen, die in ihrem Unternehmen arbeiteten und jeden Zwischenfall, seien es »Kollekten«, Versammlungen oder die Verteilung von Flugblättern, sofort anzeigen. Außerdem wurde dazu geraten, algerische Arbeitsanwärter in Zukunft nur noch mit Zustimmung der Polizei einzustellen. Trotz dieser Sondermaßnahmen sollten die Arbeitgeber ferner dazu ermutigt werden, jede Form der innerbetrieblichen Segregation zu vermeiden und ihr algerisches und ihr europäisches Personal in gemeinsamen Wohnheimen unterbringen139 . In Moselle hatte jedoch bereits im April 1957 ein Bericht für die Präfektur deutlich gemacht, dass aufgrund der Entwicklung »der algerischen Affäre« immer weniger Algerier in »gemischte Wohnheime« Eingang fänden. Es sei zu beobachten gewesen, dass Europäer ganz allgemein Nordafrikaner nicht mehr ausstehen könnten140 . Im Laufe des Jahres 1957 zeigte sich, dass die Ablehnung gegenüber Algeriern in Lothringen infolge des Streiks des FLN weiter zugenommen hatte. Je entschiedener die Migranten ihr Einstehen für die algerische Unabhängigkeit manifestierten, umso ablehnender bis feindseliger begegneten ihnen insbesondere Polizei und Arbeitgeber. Der algerische Unabhängigkeitskrieg hatte für die Lebensbedingungen algerischer Migranten in Lothringen unmittelbare Folgen, die weit über die umfassenden Kontroll- und Repressionsmaßnahmen der Polizei und Gendarmerie sowie der Aktivisten von MNA und FLN hinausreichten. Vor allem in den Departement-Hauptstädten und den größeren Industriezentren prägte der Krieg spätestens seit dem Frühling des Jahres 1956 den Alltag der Migranten. Dies ergab sich vor allem aufgrund von drei Faktoren: Erstens waren die Ereignisse in Algerien aufgrund der medialen Berichterstattung, aber auch der Betroffenheit Tausender lothringischer Wehrpflichtiger, Reservisten, Studenten, Katholiken und Politiker in aller Munde. Zweitens ging die Gesamtzahl der Migranten stark zurück, da viele von ihnen aufgrund der Entwicklung der Auseinandersetzungen in Algerien nach Hause fuhren und weil die seit 1956 geltenden Beschränkungen des Reiseverkehrs ihnen die Rückkehr von dort in die Metropole erschwerte. Drittens wurde der Alltag algerischer Migranten in Lothringen zwischen 1955 und 1957 auch deshalb zunehmend durch den Unabhängigkeitskrieg geprägt, da viele Arbeitgeber seit dem Frühling 1956 eine neue Haltung an den Tag legten. Mit Blick auf eine Häufung der Ausfälle algerischer Arbeiter infolge von politischer Mobilisierung, Verletzungen durch Attentate oder 139

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Conférence des inspecteurs généraux de l’administration en mission extraordinaire des 16 et 17 décembre 1957, extrait du compte-rendu annexé à la lettre du préfet de la Moselle aux sous-préfets, l’administrateur des services civils d’Algérie, conseiller technique pour les affaires musulmanes (pour exécution), le directeur départemental des services de police, le commandant de la compagnie de gendarmerie, le commissaire principal, chef du service départemental des RG (pour information), 20. Jan. 1958, AdM 370 W 1. M. Dehant, rapport sur le logement de la main d’œuvre nord-africaine: Logement des célibataires, 30. Apr. 1957, S. 6, AdM 297 W 18.

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Verhaftungen der Polizei entwickelte sich ihre Beschäftigung aus Sicht vieler lothringischer Unternehmer zu einem Aufwands- und Risikofaktor neuen Ausmaßes. Die wahrgenommene Problematik algerischer Arbeiter hatte 1957 in Lothringen ein derartiges Ausmaß erreicht, dass die Arbeitgeber damit entweder nicht alleine oder gar nicht mehr fertig werden wollten.

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III. Leben zwischen den Fronten Algerische Migranten und der Kolonialkrieg in Lothringen, 1958–1962

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1. Polizei, Gendarmerie und Armee im Umgang mit Algeriern in Lothringen Mit dem Beginn des Jahres 1958 traten die Auseinandersetzungen um die algerische Frage in eine neue Phase ein. Der FLN hatte sich aus Sicht der meisten Beobachter auf nationaler und internationaler Ebene als führender Repräsentant der Unabhängigkeitsbewegung etabliert. Auch in den meisten Orten Lothringens überstieg sein Einfluss auf die algerischen Migranten nun den des MNA. Die Erfolge der algerischen Rebellion hatten das politische System der IV. Republik derart belastet, dass es den Folgen des Putschs vom 13. Mai 1958 zum Opfer fiel und einer präsidentiellen Verfassung weichen musste. Unter dem System der V. Republik erhielten die französische Gendarmerie und Polizei Anweisungen, die Überwachung und Schikane von Algeriern auf ein Höchstmaß zu steigern. Ihre Kompetenzen im sogenannten Kampf gegen den Terrorismus wurden deutlich ausgeweitet, um dem rasanten Machtzuwachs des FLN entgegenzuwirken. Wie weit reichte die Machtsteigerung französischer Vollzugsbeamter in Lothringen beim Umgang mit Algeriern, wo lagen ihre Grenzen?

1.1. Schikane als Standardmaßnahme Infolge der Anschläge des FLN in Algerien am ersten November 1954 war die Überwachung von Algeriern in Lothringen und in der übrigen Metropole sukzessive ausgeweitet worden. Zu Beginn des Jahres 1958 erreichten die polizeilichen Kontrollmaßnahmen von »Nordafrikanern« in Lothringen ein bis dahin unerreichtes Ausmaß. Am 31. Dezember 1957 fasste der Chef der Gendarmerie in Moselle, Gauroy, die bis zu jenem Zeitpunkt in Bezug auf »Nordafrikaner« angeordneten Kontrollmaßnahmen zunächst in einer längeren Dienstanweisung zusammen, und zwar wegen einer Anordnung des Präfekten von Moselle an alle Polizeidienste. Aufgrund der Einschätzung, dass die aktuelle Lage als durchaus bedrohlich einzustufen sei, sollten die Beamten ihre Aktivitäten im »Antiterrorkampf« auf ein Höchstmaß steigern. Gauroy rief in seiner Anweisung an die Gendarmerie eine Grundregel in Erinnerung, die bei Patrouillen auf Straßen, öffentlichen Plätzen oder in Gebäuden sowie bei Personenkontrollen bei der Abfahrt und Ankunft von Zügen und Bussen zu beachten war: Alle bei diesen Aktionen identifizierten »verdächtigen Nordafrikaner« sollten auf die Wache gebracht und dort einem »sehr strengen Verhör« unterzogen werden. Dies galt insbesondere für jene, die aus einem anderen Departement kamen oder größere Geldsummen bei sich trugen. https://doi.org/10.1515/9783110644012-009

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III. Algerische Migranten und der Kolonialkrieg

Zur Koordinierung der Patrouillen in den einzelnen Orten war eine enge Abstimmung der Gendarmerie mit der örtlichen Polizei vorgesehen. Außer an die intensive Überwachung von Orten und Bezirken, in denen viele »Nordafrikaner« wohnten, erinnerte Gauroy auch an die Überwachung sogenannter sensibler Punkte. Als solche verstand er unter anderem Subpräfekturen, Rathäuser, Postämter, Bahnhöfe und Fabriken, insbesondere Waffenfabriken. Sie galten als besonders bedroht von Anschlägen oder Überfällen durch »Nordafrikaner«. Die Entscheidung über die Frequenz und die Stärke der Patrouillen überließ Gauroy wie im Jahr zuvor den Chefs der einzelnen Sektionen. Im Fall einer erforderlichen Unterstützung durch eine CRS oder die gendarmerie mobile sollten sie jedoch mindestens zwei Mal binnen 24 Stunden stattfinden. Darüber hinaus waren täglich Kontrollen in sogenannten cafés maures vorgesehen und mindestens einmal wöchentlich in Wohnheimen mit »nordafrikanischen Bewohnern«. Diese neuen Bestimmungen traten ab dem 1. Januar 1958 in Kraft. Gauroy unterstrich abschließend, dass die Kontrollen von »Nordafrikanern« für die Gendarmerie in Moselle absolute Priorität haben sollten1 . Diese Dienstanweisung spiegelte eine neue Qualität der Alarmbereitschaft der Gendarmerie wider, vor allem in der Anordnung, regelmäßig Kontrollmaßnahmen innerhalb kurzer Zeitabstände durchzuführen und die Bilanz dieser Kontrollen zu dokumentieren. Die Vorgaben an die Gendarmerie zu Beginn des Jahres 1958, die »Maßnahmen zur Drangsalierung der Nordafrikaner« bis auf ein Maximum zu intensivieren, sahen nur ein Mindest- und kein Höchstmaß der Kontrollaktionen vor. Die Befehlshaber der unteren Ränge wurden allein schon durch die Vorgabe, Stärke, Frequenz und Routen der Patrouillen festzulegen, dazu aufgefordert, eine gewisse Eigeninitiative im Kampf gegen den »nordafrikanischen Separatismus« zu zeigen. Dadurch erhielt das Überwachungssystem auch eine gewisse Eigendynamik. Eine besondere Eigeninitiative im Kampf gegen den »nordafrikanischen Terrorismus« legte im Februar 1958 der Befehlshaber der Gendarmerie im Arrondissement Thionville an den Tag. Er rief die Chefs der einzelnen Gendarmeriebrigaden dazu auf, sich mit allen Arbeitgebern in Verbindung zu setzen, die »Algerier« beschäftigten. Die Arbeitgeber sollten der Gendarmerie regelmäßig eine Liste mit Name, Vorname, Geburtsort und -datum sowie beiden Elternteilen derjenigen Algerier liefern, die in ihrem Betrieb arbeiteten. Zudem waren die Arbeitgeber angehalten, über jegliche besonderen Vorfälle in ihren Betrieben zu berichten, in die »Nordafrikaner« verwickelt waren2 . Es ist nicht bekannt, inwieweit diese Idee einer ständig aktualisierten 1 2

Note de service du chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 31. Dez. 1957, S. 1–6, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 732. Note de service du capitaine Aumaitre, commandant de la SG de Thionville, 3. Feb. 1958, SHAT AG à Thionville, 2007 ZM 1/135 905. Hier ist besonders aufschlussreich, dass die beiden Begriffe »Nordafrikaner« und »Algerier« synonym verwendet wurden. Dies weist

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1. Polizei, Gendarmerie und Armee im Umgang mit Algeriern

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Namensliste aller algerischen Arbeiter im Arrondissement Thionville umgesetzt wurde. Die Anordnung zeigt jedoch, dass die Bestrebungen dieses Chefs der Gendarmerie bezüglich der Überwachung von »Nordafrikanern« noch weiter reichten als die Anordnungen seines Vorgesetzten. Nach der Anordnung der Präfektur von Moselle, die Drangsalierungsmaßnahmen3 gegenüber »Nordafrikanern« ab Januar 1958 bis auf ein Höchstmaß zu steigern, schien eine weitere Erhöhung der Alarmbereitschaft auf diskursiver Ebene kaum noch möglich. Dennoch wurde vor allem anlässlich immer wiederkehrender Warnungen vor terroristischen Anschlägen weiterhin an die Wachsamkeit und den Diensteifer der Gendarmerie und Polizei appelliert. Im März 1958 wurden Polizei und Gendarmerie in Moselle aufgrund einer entsprechenden Meldung des nationalen SCINA in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt. Die Anweisung sah eine Akzentuierung der als bis dahin erfolgreich bewerteten »Politik der systematischen Drangsalierung« von »Nordafrikanern« vor, insbesondere in Form von verstärkten Straßenkontrollen und Patrouillen in den Städten. Parallel dazu sollte jedes Kommissariat und jede Brigade ihre Selbstverteidigung gegen mögliche Angriffe mit besonderer Sorgfalt vorbereiten4 . Im Fall der Gendarmerie bedeutete dies, dass die Türen der Brigaden permanent geschlossen und, wenn überhaupt, nur vorsichtig geöffnet werden sollten. Nach Einbruch der Dunkelheit waren die Fensterläden geschlossen zu halten. Die Waffen- und Munitionsschränke sollten stets verschlossen sein und der wachhabende Gendarm sollte stets eine Waffe in Griffweite haben5 . Nach der »opération orage« genannten Anschlagserie des FLN Ende August 1958 ordnete der Präfekt von Moselle erneut eine Intensivierung polizeilicher Kontrollen von algerischen Migranten an und drängte darauf, diese verstärkt auch nachts durchzuführen6 . Die Gendarmerie des Departements reagierte, indem sie die Frequenz aller Maßnahmen verdoppelte, die in der Dienstanweisung vom 31. Dezember 1957 vorgeschrieben waren.

3 4

5 6

wiederum darauf hin, dass die meisten Polizisten und Gendarmen den Algeriern ihre damals offiziell geltenden Rechte als französische Staatsbürger nicht zugestanden. Ansonsten hätten sie zwischen Nordafrikanern, Marokkanern, Tunesiern und Algeriern strikt unterscheiden müssen. Zu der Verwendung des Begriffs der Drangsalierung (harcèlement) durch die lothringischen Behörden siehe Teil II, Kap. 1.3–1.5. Le préfet de la Moselle, inspecteur général de l’administration en mission extraordinaire à MM. les sous-préfets, le commissaire divisionnaire, chef du secteur de C.E., le directeur départemental des services de polices, le commissaire principal, chef du sevice départemental des RG, le commandant de la compagnie de gendarmerie, le commissaire principal, chef de la BST, le commissaire principal, chef du détachement de S.J., 1. März 1958, AdM 370 W 1. Note de service du chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de la gendarmerie de la Moselle, 7. März 1958, S. 3, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 733. Le capitaine Aumaitre, commandant provisoirement la compagnie de gendarmerie de la Moselle, au colonel, commandant de la 6e légion de gendarmerie, 30. Aug. 1958, S. 1, ibid.

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III. Algerische Migranten und der Kolonialkrieg

Zudem forderte sie mit Erfolg eine personelle Verstärkung bei der Besetzung der einzelnen Brigaden ein7 . Als die Minister des Inneren und der Armee im Oktober 1958 dann anordneten, einige der Verstärkungseinheiten wieder abzuziehen, sollte dies nach den Vorstellungen des Präfekten von Moselle, Jean Laporte, keine Auswirkungen auf die Frequenz der Überwachung aller »Nordafrikaner« haben. Er appellierte diesbezüglich erneut an das Engagement der Gendarmen und Polizisten, indem er sie dazu aufrief, »um jeden Preis ein enges Dispositiv der Drangsalierung aufrechtzuerhalten, um möglichen Aktivitäten der algerischen Agitatoren entgegenzuwirken«8 . Sämtliche Überwachungspläne, die am 28. und 29. August 1958 unmittelbar infolge der »opération orage« des FLN erstellt worden waren, behielten auch im Oktober trotz reduzierten Personals ihre Gültigkeit9 . Erst im Februar des darauffolgenden Jahres wurde die in den Dienstanweisungen vom 28. und 29. August 1958 angeordnete Ausdehnung der Überwachung des Straßennetzes »vorübergehend aufgehoben«. Allerdings hielt der Chef der Gendarmerie fest, dass der Überwachung »nordafrikanischer Elemente« auch weiterhin eine besondere Aufmerksamkeit zu widmen sei10 . Seit Beginn des Algerienkriegs waren Gendarmerie und Polizei in Lothringen vor allem mittels Warnungen vor Terroranschlägen durch »Nordafrikaner« immer wieder aufs Neue in Alarmbereitschaft versetzt worden. Dies setzte sich auch über das Jahr 1957 hinaus fort. Allerdings brachte die Einführung wöchentlicher Statistiken über das Ausmaß und die Art der Kontrollen von »Nordafrikanern« im Januar 1958 mit sich, dass die Anordnung zu einer Intensivierung der Kontrollen nicht mehr allein aufgrund von Anschlägen oder entsprechenden Warnungen erfolgte. Vielmehr ließ sich eine Verstärkung der Repression nun schlicht mit dem Verweis auf die dazu vorliegenden Zahlen begründen, sofern diese als ungenügend eingestuft wurden. Im Juni 1958 konstatierte der Chef der Gendarmerie in Moselle erstmals, dass die Statistiken über die Personenkontrollen von »Nordafrikanern« ein zu nachlässiges Vorgehen der Gendarmerie widerspiegeln würden. Zur Begründung verwies er darauf, dass die Gendarmerie in Moselle im Monat zuvor weniger als 2000 »Nordafrikaner« kontrolliert habe, während in anderen 7 8

9 10

Note de service du capitaine Aumaitre, commandant provisoirement la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 28. Aug. 1958, S. 2–4, ibid. Le préfet de la Moselle, inspecteur général de l’administration en mission extraordinaire à messieurs le commissaire divisionnaire, directeur départemental des services de police de la Moselle, le colonel, commandant le 6e groupement de CRS, le chef d’escadron commandant le groupement de gendarmerie de la Moselle (pour exécution), les sous-préfets, le commissaire divisionnaire, chef du secteur de C.E. le commissaire principal chef du service départemental des RG, le commissaire principal chef de la BST, le commissaire principal chef du détachement de S.J., le commissaire principal, chef du secteur frontière de la Moselle, 21. Okt. 1958, AdM 370 W 26. Ibid. Note de service du chef d’escadron Gauroy, commandant le groupement de la gendarmerie de la Moselle, 27. Feb. 1959, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 734.

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1. Polizei, Gendarmerie und Armee im Umgang mit Algeriern

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lothringischen Departements mit weniger »Nordafrikanern« die Anzahl der kontrollierten »Nordafrikaner« entweder gleich oder noch höher gewesen sei. In der gesamten 6. Militärregion waren im Mai 1958 demnach bei 10 643 von insgesamt etwa 29 000 »Nordafrikanern« die Personalien kontrolliert worden. Aufgrund dieses angeblichen Missstandes, dass die Gendarmerie in Moselle daran keinen entscheidenden Anteil gehabt hatte, wurden die einzelnen Brigaden in Moselle angewiesen, die Zahl der Personenkontrollen von »Nordafrikanern« deutlich zu steigern11 . Im Dezember 1958 beanstandete Gauroy erneut eine zu niedrige Anzahl der Personenkontrollen von »Nordafrikanern« in den wöchentlichen Berichten der Gendarmerie von Moselle. Ein weiteres Mal drängte der Chef der Gendarmerie des Departements darauf, diese zu erhöhen und forderte die Vollzugsbeamten dazu auf, ebenso präzise wie harte Anweisungen zu geben12 . Die häufigen Aufrufe der Gendarmerie-Führung und des IGAME der 6. Militärregion, möglichst viele »Nordafrikaner« zu kontrollieren und die Wachsamkeit gegenüber »Nordafrikanern« bis auf ein Höchstmaß zu steigern, lassen auch auf eine gewisse Unzufriedenheit schließen. Vermutlich legten die Polizei und die Gendarmerie in Lothringen nicht den Eifer an den Tag, den sich ihre Vorgesetzten für die als »Antiterrorkampf« deklarierten Drangsalierungsmaßnahmen wünschten. Erst infolge der »opération orage« des FLN war eine deutliche Erhöhung der wöchentlichen Kontrollen von »Nordafrikanern« zu verzeichnen (siehe Grafik 7). Anlässlich mehrerer Warnungen vor einer erneuten Anschlagsserie des FLN im Sommer 1959 erreichte die Anzahl der registrierten Personenkontrollen von »Nordafrikanern« in Moselle im September 1959 mit 7681 ihren Höhepunkt. Bereits Ende Juli 1959 hatte der vorübergehende Chef der Gendarmerie des Departements Moselle, Aumaitre, dem Präfekten mitgeteilt, dass er die Anordnung gegeben habe, die Drangsalierungsmaßnahmen gegenüber »Nordafrikanern« erneut zu intensivieren: »Ich habe die Ehre, Ihnen mitzuteilen, dass ich die notwendigen Anordnungen an die unter meinem Befehl stehenden Einheiten gegeben habe, die Maßnahmen der Drangsalierung der FSNA bis zum Maximum zu intensivieren«13 . Keine vier Wochen später leitete Aumaitre eine Anordnung des Präfekten von Moselle an alle Gendarmen des Departements weiter, die erneut eine Intensivierung aller Aktionen gegen die Subversion in der Metropole vorsah, wobei alle gegebenen Möglichkeiten ausgeschöpft werden sollten14 .

11 12 13 14

Ibid., 10. Juni 1958. Le chef d’escadron Gauroy, commandant le groupement de gendarmerie de la Moselle aux commandants de compagnie, 11. Dez. 1958, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 734. Le capitaine Aumaitre, commandant provisoirement le groupement de gendarmerie de la Moselle, à monsieur le préfet de la Moselle, 25. Juli 1959, ibid. Note de service du capitaine Aumaitre, commandant provisoirement le groupement de gendarmerie de la Moselle, 11. Aug. 1959, S. 1, ibid.

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III. Algerische Migranten und der Kolonialkrieg

Zur Begründung dieser erneuten Alarmierung wurde angeführt, dass die Möglichkeit unmittelbar bevorstehender Attentate und Sabotageakte von zuverlässigen Quellen bestätigt worden sei. Nicht nur die Anzahl der Kontrollen von »Nordafrikanern« sollten daher erhöht, sondern auch die Brigaden erneut verbarrikadiert werden. Um Hinterhalte zu vermeiden, wurden die Gendarmen angewiesen, bei jedem Hinweis auf ein Attentat in der Region den Namen und die Telefonnummer des Informanten zu notieren und vor einer Reaktion zunächst eine Bestätigung abzuwarten. Außerdem sollte fortan jede nächtliche Patrouille mindestens eine Maschinenpistole bei sich führen15 . Grafik 7: Kontrollen von »Nordafrikanern« durch die Gendarmerie in Moselle, 1958–1961 9000 8000 7681

7000

6316 5987 5550

5870

6000 5000 4097

4000

1000

3667 4124 4602 4887

4031 2566

3000 2000

5479

4995

2787 1990

4950

5198

4642 4315 4739 4177 4295 3939

3428

2641 2380 1996

3627

3739

3562 3519 3353

4526 3451 2917 3437 3374 2968 3290

3262 2824

2714 2527

2682 2146

1901 2527

Jan 58 Feb Mrz Apr Mai Jun Jul Aug Sep Okt Nov Dez Jan 59 Feb Mrz Apr Mai Jun Jul Aug Sep Okt Nov Dez Jan 60 Feb Mrz Apr Mai Jun Jul Aug Sep Okt Nov Dez Jan 61 Feb Mrz Apr Mai Jun Jul Aug Sep Okt Nov Dez

0

Die Prognose, der FLN würde im Sommer 1959 wie ein Jahr zuvor eine zweite Welle von Attentaten durchführen, bewahrheitete sich nicht. In Moselle stabilisierte sich seither die Anzahl der Kontrollaktionen der Gendarmerie. Die Zahl der in Moselle kontrollierten »Nordafrikaner« ging bereits im Oktober 1959 im Vergleich zum Vormonat deutlich zurück und bewegte sich bis zum Ende des Jahres 1961 stets zwischen 1900 und 5200 pro Monat. Nach wie vor spielten Terrorwarnungen für die Frequenz der Drangsalierungsmaßnahmen eine wichtige Rolle. So wurden die lothringische Polizei und Gendarmerie etwa am 18. September 1960 vor einem Aufflammen des »nordafrikanischen Terrorismus in der Metropole« gewarnt und angewiesen, die Kontrollen von »Nordafrikanern« nach der gleichen verschärften Form durchzuführen wie genau ein Jahr zuvor16 . In der Folge war ein deutlicher Anstieg der registrierten Anzahl der durchgeführten Kontrollen von »Nordafrikanern« zu verzeichnen. Im September 1960 waren es noch 2968 gewesen, im Monat darauf stieg die Zahl auf 5198. 15 16

Ibid., S. 2. Note de service du lieutenant-colonel Gauroy, commandant le groupement de la gendarmerie de la Moselle, 18. Sep. 1960, S. 4, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 736.

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1. Polizei, Gendarmerie und Armee im Umgang mit Algeriern

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Zum Ende des Unabhängigkeitskrieges erschöpfte sich die Wirkungsmacht von Anschlagswarnungen auf das Ausmaß der Kontroll- beziehungsweise Drangsalierungsmaßnahmen von »Nordafrikanern«. Nach der Warnung des SCINA vor Anschlägen »nordafrikanischer Terroristen« im Sommer 1959 hatte sich in Moselle noch eine extreme Steigerung der durchgeführten Kontrollen algerischer Migranten abgezeichnet. Auch infolge einer gleichlautenden Warnung im September 1960 war eine deutliche Erhöhung der Anzahl der durchgeführten Personenkontrollen im darauffolgenden Monat zu verzeichnen, die jedoch deutlich geringer ausfiel als im Sommer des Vorjahres. Zum Ende des Jahres 1960 war der Effekt einer Terrorwarnung auf die Anzahl der Kontrollen algerischer Migranten jedoch allenfalls minimal. Selbst die Erhöhung des Personals zeigte diesbezüglich kaum Effekte: Nach einer Meldung vom 5. Dezember 1960 über ein mögliches Ansteigen der Zahl der Attentate von »Nordafrikanern« in Moselle wurde der Gendarmerie von Thionville eine zusätzliche Schwadron aus Verdun zur Verfügung gestellt. Dem Chef der Gendarmerie von Moselle wurde eine Schwadron aus Briey zugeordnet und dem Zentralkommissariat von Thionville eine Truppe von CRS zur Seite gestellt. Die Schwadron aus Verdun erhielt explizit den Auftrag, ausschließlich Drangsalierungsmaßnahmen gegenüber »Nordafrikanern« auf Straßen, öffentlichen Plätzen und an Orten durchzuführen, die von ihnen häufig aufgesucht wurden17 . Bezüglich der Frequenz der Überwachung hieß es in der zitierten Vorgabe, dass sie tags und nachts in einem von dem jeweiligen Befehlshaber festzulegenden Rhythmus stattfinden sollten. Der Dienstantritt der Verstärkungstruppen fiel auf den 5. Dezember 1960. In der Nacht vom 5. auf den 6. Dezember sollten zwischen 18 und 3 Uhr morgens »massive Personenkontrollen« vor allem auf den Straßen stattfinden18 . Ungeachtet dieser erneuten Alarmierung der Sicherheitsdienste erhöhte sich die Zahl der kontrollierten »Nordafrikaner« gegenüber dem Vormonat lediglich um 84 auf insgesamt 3374. Der Steigerungseffekt der Alarmierung der Gendarmen auf die Anzahl der von ihnen durchgeführten Personenkontrollen algerischer Migranten schwächte sich demnach in Moselle seit Anfang 1958 binnen zwei Jahren deutlich ab. Im September 1961 nahm die Anzahl der Kontrollen algerischer Migranten durch die Gendarmerie in Moselle wieder zu. Grund dafür waren nicht etwa eine Welle von Terroranschlägen des FLN in der gesamten Metropole oder Warnungen vor einer solchen, sondern vielmehr die Aktivitäten lokaler algerischer Nationalisten vor Ort. Dieser Zusammenhang, eine signifikante Steigerung der Überwachung vor Ort als Reaktion auf eine akute lokale Bedrohungslage, stellte sich auf der Ebene des Departements seit der Einführung der wöchentlichen Kontrollstatistiken im Dezember 1957 zum ersten Mal ein. Die 17 18

Ibid., 5. Dez. 1960, S. 2. Ibid., S. 3.

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III. Algerische Migranten und der Kolonialkrieg

erhöhte Zahl der »Auseinandersetzungen zwischen Nordafrikanern« nahm der IGAME, Jean Laporte, zum Anlass, um Polizei, CRS und Gendarmerie anzuweisen, die Maßnahmen umzusetzen, die er zwischen 8. und 12. September 1959 an die entsprechenden Dienste herausgegeben hatte19 . Die Zahl der registrierten Kontrollen algerischer Migranten durch die Gendarmerie reichte im September 1961 zwar keineswegs an jene von vor zwei Jahren heran. Dennoch war die Steigerung von 1901 Gendarmerie-Kontrollen von »Nordafrikanern« in Moselle im August 1961 auf 4526 im Folgemonat erheblich. Zum Ende des Jahres 1960 hatten die Warnungen vor erneuten Anschlägen algerischer Separatisten in der Metropole ihren Effekt auf die Anzahl der Kontrollen von »Nordafrikanern« weitgehend eingebüßt. Angesichts des langen Zeitraums, in dem die Beamten bei ihren Drangsalierungsmaßnahmen gegenüber »Nordafrikanern« immer wieder zu Höchstleistungen angetrieben wurden, ist von einer gewissen Ermüdungserscheinung auszugehen. Der Umgang mit der vielfach beschworenen Gefahr des »nordafrikanischen Terrorismus« wurde für Polizei und Gendarmerie zum Teil ihres Alltags, wie die Statistiken über die Anzahl der Personenkontrollen deutlich zeigen. Erst, als die Auseinandersetzungen zwischen FLN und MNA während der letzten Monate des Algerienkriegs in Lothringen in Form einer bis dahin bespiellosen Serie ungeklärter Morde an Algeriern eskalierten20 , zeichnete sich wieder eine deutliche Steigerung der Kontrollmaßnahmen ab. Die Kontrollen von »Nordafrikanern« auf dem Gebiet des Departements Moselle waren auf der Ebene der Präfekturen und der Gendarmerie Führung in ihrer Quantität nur teilweise steuerbar. Dessen ungeachtet spiegelt die Entwicklung der Anzahl der Kontrollen kein willkürliches Vorgehen von Polizei und Gendarmerie gegenüber Algeriern in Lothringen wider, sondern vielmehr den weitgehend erfolgreichen Versuch einer kontrolliert ausgeübten Schikane, die auf alle Algerier zielte und deren Ausmaß stets an die jeweils aktuellen Bedingungen angepasst sein sollte.

19

20

Le préfet de la Moselle, inspecteur général de l’administration à MM. le directeur départemental des services de police, le lieutenant-colonel, commandant le groupement de gendarmerie, le colonel, commandant le 6e groupement de CRS., le commissaire principal, chef du service régional des RG, le commissaire principal, chef de secteur de C.E., le commissaire principal, chef de la BST, le commissaire principal, chef du détachement de PJ, le commissaire, chef du 6e secteur de la police de l’air, 15. Sep. 1961, AdM 370 W 1. Siehe Teil III, Kap. 3.3.

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1. Polizei, Gendarmerie und Armee im Umgang mit Algeriern

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1.2. Grenzen polizeilicher Repressionen im »Antiterrorkampf« Die seit 1958 wöchentlich geführte Statistik über die Anzahl polizeilich kontrollierter »Nordafrikaner« illustriert das Ausmaß des Generalverdachts, unter den Polizei und Gendarmerie algerische Migranten in Lothringen während des Algerienkriegs stellten. Ergänzend dazu veranschaulichen mehrere Einzelfälle, wie fest sich dieser Verdacht bereits 1958 im Zuge der andauernden Auseinandersetzungen um die algerische Unabhängigkeit etabliert hatte. Im April dieses Jahres berichtete der Chef der Gendarmerie in Moselle über einen Algerier, den er als »frankophilen Muslim« bezeichnete und der angeblich aufgrund von Bedrohungen durch andere Algerier versucht hatte, sich das Leben zu nehmen. Die Präfektur sollte dem Betroffenen einen Wohnsitz und einen Arbeitsplatz in einem anderen Departement vermitteln. Zuvor ordnete der Chef der Gendarmerie jedoch an zu überprüfen, ob der Algerier »wirklich keiner politischen Bewegung angehörte«21 . In diesem Fall konnte selbst die demonstrierte Intention eines Algeriers, aus dem Leben scheiden zu wollen, den Verdacht der Gendarmerie ihm gegenüber nicht endgültig ausräumen. Die Dienstanweisungen und Sondergesetze für den sogenannten Antiterrorkampf institutionalisierten in Lothringen während des Algerienkriegs auf Seiten von Polizei und Gendarmerie ein generelles Misstrauen gegenüber algerischen Migranten. Darüber hinaus verliehen die neuen Vorgaben den Vollstreckern der französischen Staatsgewalt weitreichende Vollmachten, die infolge der »opération orage« des FLN nochmals ausgeweitet wurden. Laut einer Dienstanweisung vom 7. Oktober 1958 konnten auf Anweisung eines Präfekten alle Personen, die unter dem Verdacht standen, »die Rebellen in Algerien« zu unterstützen, präventiv bis zu 15 Tage lang eingesperrt werden. Anders als noch durch die pouvoirs spéciaux vorgesehen, war es für die Durchführung dieser Maßnahme nun nicht mehr erforderlich, dass die betroffene Person zuvor verurteilt worden war. Ebenso wenig musste ein Richter eingeschaltet werden. Die als Untersuchungshaft begriffene Internierung22 als »verdächtig« eingestufter Algerier konnte seit dem 7. Oktober 1958 zudem durch den Innenminister auf unbestimmte Zeit verlängert werden23 . Nach einer Erläuterung des Innenministers zur Dienstanweisung bestand deren Zweck vor allem darin, der Polizei mehr Zeit für ihre Ermittlungen zu geben und die Flucht von Verdächtigen zu verhindern24 . Auch in Moselle 21 22 23 24

Le chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, au commandant de section de Metz, 5. Apr. 1958, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 733. Le ministre de l’Intérieur à monsieur le préfet de police, messieurs les préfets (métropole), 15. Okt. 1958, S. 3–5, AdM 370 W 1. Blanchard, Contrôler, enfermer, éloigner, S. 323–325. Le ministre de l’Intérieur à monsieur le préfet de police, messieurs les préfets (métropole), 15. Okt. 1958, S. 1, AdM 370 W 2.

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III. Algerische Migranten und der Kolonialkrieg

machte die Präfektur von den neuen Möglichkeiten der Dienstanweisung ausgiebig Gebrauch. Bis zum November 1961 wurden auf dieser Grundlage allein in Moselle insgesamt 613 Algerier unter »bewachten Hausarrest« gestellt. 458 davon deportierte die Polizei in eines der Internierungslager innerhalb der Metropole. Die übrigen 155 blieben im »bewachten Hausarrest«25 . Mit Blick auf die neuen Bestimmungen der Dienstanweisung vom 7. Oktober 1958 hatte es den Anschein, als würden der Willkür der Präfekturen im Umgang mit Algeriern eher materielle und personelle als rechtliche Grenzen entgegenstehen. So wies der Innenminister die Präfekten an, bei der Anwendung der neuen Möglichkeiten nicht zu zögern. Er begründete seine Ablehnung einer massenhaften Internierung aller Algerier, die als gefährlich eingeschätzt wurden, lediglich mit der mangelnden Kapazität der Internierungslager in der Metropole und in Algerien: Obwohl sie [die Dienstanweisung 58-916] als ein günstiges MIttel erscheinen kann, um sich aller FSNA zu entledigen, die als gefährlich eingestuft werden, kommt es nicht in Frage, zumindest nicht im Moment, eine Politik der massiven Internierung in Gang zu setzen, aufgrund der sehr stark reduzierten Kapazitäten der Unterkünfte in Algerien und der Metropole, die sie [die FSNA] aufnehmen können26 .

Wie bereits die Bestimmungen für die pouvoirs spéciaux waren auch die in der besagten Dienstanweisung vom 7. Oktober 1958 genannten Maßnahmen vor allem für die Überwachung von Algeriern vorgesehen und wurden auch fast ausschließlich auf diese angewendet. Seit 1958 wurden in Lothringen nicht nur jeden Monat Tausende »Nordafrikaner« routinemäßig kontrolliert. Darüber hinaus sperrten Polizei und Gendarmerie auch eine signifikante Anzahl von ihnen ohne richterliche Anordnung ein – mehrfach mit der Anweisung, »Nordafrikaner«, die sich verdächtig verhielten, auf der Wache einem »sehr strengen Verhör« zu unterziehen27 . Der Zweck jenes speziell für die Repressionen gegen Algerier etablierten Regelwerks bestand weiterhin nicht vorrangig darin, Einzelpersonen zu verhaften. Vielmehr ging es darum, die Masse der algerischen Migranten 25

26 27

Préfecture de la Moselle: Pouvoirs spéciaux. État statistique au 22 mars 1962, AdM 370 W 1. In welches Lager die Personen gebracht wurden, die einer »assignation à résidence à domicile« unterworfen wurden, konnte nicht ermittelt werden. Le ministre de l’Intérieur à monsieur le préfet de police, messieurs les préfets (métropole), 15. Okt. 1958, S. 3–5, ibid. Die Gendarmerie bekam diese vage Anweisung besonders häufig zu hören, siehe dazu die Nachweise in: Note de service du chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 31. Dez. 1957, S. 2, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 732; Note de service du chef d’escadron Gauroy, commandant le groupement de gendarmerie de la Moselle, 22. Jan. 1959, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 734; Note de service du lieutenant-colonel Gauroy, commandant le groupement de la gendarmerie de la Moselle, 18. Sep. 1960, S. 1, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 736; Note de service du chef d’escadron Cloiseau, commandant provisoirement le groupement de gendarmerie de la Moselle, 8. Juli 1961, S. 1, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 738.

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einzuschüchtern. Das Protokoll des SCINA der 6. Militärregion von Januar 1958 hob bezüglich der ständigen Kontrollen algerischer Migranten hervor, dass es sich ungeachtet der Ergebnisse in erster Linie um eine symbolische Maßnahme handele, die métropolitains wie auch »ehrliche Algerier« beeindrucken, »Separatisten« jedoch einschüchtern sollte28 . Eine Anweisung an die Gendarmerie von Dezember 1960 hielt fest, dass die verschiedenen Aktionen der Drangsalierung algerischer Migranten »so massiv und spektakulär wie möglich« sein sollten29 . Schließlich wies ein weiterer Befehl vom 16. Februar 1961 Gendarmerie und CRS bei ihren regelmäßigen Patrouillen in den Arrondissements Metz-Campagne und Thionville dazu an, nicht zu versuchen, unauffällig zu sein, um »die Terroristen« zu entmutigen30 . Um eine umfassende Einschüchterung algerischer Migranten zu erreichen, wurde das Ausmaß der Polizeikontrollen stets auf einem hohen Niveau gehalten. Allein im August 1961 waren innerhalb des Gebiets der 6. Militärregion 26 457 von insgesamt 44 818 Muslimen kontrolliert worden. Gendarmerie und Polizei hatten in diesem Monat die persönlichen Daten von 15 421 Algeriern erfasst und 4142 verhört. Ferner waren in diesem Monat in der 6. Militärregion 30 »Nordafrikaner« verhaftet worden. Bei 92 »Nordafrikanern« hatte es Hausdurchsuchungen gegeben. Die Präfekten der 6. Militärregion konstatierten zwar im September 1961, dass diese massiven Kontrollen offenbar keinerlei Einfluss auf die Attentate algerischer Nationalisten hatten, deren Anzahl deutlich gestiegen war31 . Dessen ungeachtet pries der IGAME der 6. Militärregion auf einem Treffen mit seinen Kollegen in Paris drei Monate später die demonstrative Präsenz von Polizei und Gendarmerie im öffentlichen Raum erneut als Allheilmittel gegen den »Terrorismus«. Jean Laporte behauptete, die Erfahrung zeige, dass die Kriminalität von »Nordafrikanern« fast augenblicklich zurückgehe, sobald man in einer »Zone mit hoher muslimischer Dichte« eine CRS Kompanie oder eine Schwadron der gendarmerie mobile stationiere32 . Der IGAME klammerte sich somit an die alte Vorstellung, die Aktivitäten algerischer Nationalisten könnten von den französischen Behörden gelenkt und eingedämmt werden. Dieses Denkmus28

29 30 31

32

»Unabhängig von ihren verschiedenen Ergebnissen schaffen diese konstanten Kontrollen einerseits ein Klima der Unsicherheit unter den Separatisten und beeindrucken andererseits die Bevölkerung der Metropole und die ehrlichen algerischen Arbeiter in einem positivem Sinne«, SCINA régional, 6e région, procès-verbal de la réunion, 7. Jan. 1958, S. 18, AdM&M 950 W 13. Note de service du lieutenant-colonel Gauroy, commandant le groupement de la gendarmerie de la Moselle, 5. Dez. 1960, S. 2, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 736. Ibid., 16. Feb. 1961, S. 2, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 737. An dieser Stelle wurde erneut bedauert, dass man zu wenig Personal für eine effektive Polizeiaktion habe: Procès-verbal de la réunion de MM. les préfets de la VIe région à Paris, 28. Sep. 1961, S. 7f., AdM 370 W 1. Le préfet de la Moselle, inspecteur général de l’administration en mission extraordinaire pour la VIe région: le maintien de l’ordre en VIe région. Réunion de MM. les IGAME Paris, 1. Dez. 1961, S. 4, ibid.

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III. Algerische Migranten und der Kolonialkrieg

ter war jedoch nicht nur im Hinblick auf Lothringen, sondern spätestens auch nach der Aufnahme der ersten direkten Gespräche zwischen der französischen Regierung und der provisorischen algerischen Regierung des FLN, dem Gouvernement provisoire de la République algérienne (GPRA), offensichtlich überholt. Dass die Behörden die diversen Maßnahmen zur Einschüchterung algerischer Migranten bis zum Ende des Unabhängigkeitskriegs andauern ließen und immer wieder zu deren Steigerung aufriefen, wirft die Frage auf, inwiefern die Migranten zwischen 1958 und 1962 überhaupt noch Beschränkungen unterlagen. Dies kann zumindest auf der Führungsebene anhand des Umgangs der Präfektur und dem Chef der Gendarmerie mit Anträgen auf Abschiebung und Untersuchungshaft untersucht werden. Diese zeigen deutlich, dass den von einigen Polizisten und Gendarmen vorgebrachten Anliegen zur Repression gegenüber Algeriern selbst in der Endphase des Algerienkriegs nicht einfach stattgegeben wurde. Im April 1958 ermahnte der Befehlshaber der Gendarmerie in Moselle die Chefs der Gendarmerie-Sektionen des Departements, sich bei Anträgen für einen bewachten Hausarrest an die Regelungen der pouvoirs spéciaux zu halten. Ohne eine Zahl zu nennen, beanstandete er, dass zu viele Personen für eine »assignation à résidence« vorgeschlagen worden seien, deren Vergehen nicht unter die entsprechenden Vorgaben fallen würden. Dadurch entstehe der Präfektur ein unnötiger zusätzlicher Arbeitsaufwand. Die Sektionschefs wurden angewiesen, bei der Übermittlung solcher Anträge in Zukunft persönlich zu kontrollieren, ob diese mit den genannten Bestimmungen in Einklang waren33 . Diese Ermahnung wurde auch im Kontext der angespannten Lage unmittelbar nach der »opération orage« des FLN bezüglich der Anträge auf Abschiebungen nach Algerien wiederholt34 . Selbst unter dem Eindruck einer Reihe spektakulärer Anschläge wurde darauf geachtet, die Vorschriften der Repressionsmaßnahmen einzuhalten. Durch Anweisungen, das Personal solle »permanent in Alarmbereitschaft sein«35 beziehungsweise seine »Wachsamkeit verdoppeln«36 , leistete die Führung der Gendarmerie in Moselle immer wieder der Verbreitung einer Alarmstimmung in der Region Vorschub. Dennoch sah sie sich mehrfach dazu veranlasst, darauf hinzuweisen, dass Anträge auf Untersuchungshaft oder Abschiebung von Algeriern ebenso wie Berichte über Verdachtsmo-

33 34 35 36

Le chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle aux commandants de section, 2. Apr. 1958, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 733. Note de service du capitaine Aumaitre, commandant provisoirement la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 30. Aug. 1958, ibid. Ibid., 11. Aug. 1959, S. 1, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 734. Note de service du lieutenant-colonel Gauroy, commandant le groupement de la gendarmerie de la Moselle, 18. Sep. 1960, S. 4, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 736.

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mente eine fundierte Begründung enthalten sollten37 . In der täglichen Praxis der lothringischen Polizisten und Gendarmen hatte jeder Algerier zwar als verdächtig und als potenzielle Gefahrenquelle zu gelten. Dies war jedoch keineswegs ausreichend, um gegen Einzelpersonen besondere Maßnahmen einzuleiten. Einen entsprechenden Hinweis gab der Chef der Gendarmerie von Moselle nochmals im Dezember 1961 heraus: Die mit Bezug auf die zitierte Anordnung gemachten Anträge für eine Rückführung nach Algerien wurden von den Befehlshabern der Kompanien in verschiedenen Formen vorgelegt und meistens ohne Berücksichtigung der gegebenen Vorlage. Die Befehlshaber der Kompanien werden dazu angehalten, ihre Anträge zukünftig mit den beigefügten Dokumenten einzureichen. In jedem Falle werden lediglich solche Anträge Berücksichtigung finden, die eindeutig begründet sind. Daher ist es sinnlos, Nachrichten über Personen weiterzugeben, die als verdächtig, antifranzösisch oder Agent des FLN bezeichnet werden, ohne diese Zuschreibungen eindeutig zu begründen38 .

Die strikten Anweisungen für die Verfahren, Algerier in Untersuchungshaft zu nehmen, des Departements zu verweisen oder nach Algerien abzuschieben, zeigen deutlich, dass lothringische Polizisten und Gendarmen ihre jeweiligen Vorstellungen von Repressionen gegenüber Algeriern zumindest auf der bürokratischen Ebene nicht willkürlich durchsetzen konnten. Insofern ihre Einschüchterungsmaßnahmen gegenüber Algeriern auch ein offizielles Verfahren nach sich ziehen sollten, musste dies auch begründet und formell korrekt beantragt werden. Der Grund für diese Beschränkung der Repression ist im Hinblick auf die zitierte Erläuterung des französischen Innenministers zur Dienstanweisung vom 7. Oktober 1958 nicht primär in der Sorge um die Einhaltung rechtsstaatlicher Standards, sondern in der begrenzten Aufnahmefähigkeit französischer Gefängnisse und Internierungslager zu suchen.

1.3. Vogelfreie Franzosen? Algerier als Opfer willkürlicher Gewaltmaßnahmen 1.3.1 Die Folter und das Ansehen der Gendarmerie Schon vor dem Beginn des Algerienkriegs war »Folter« auch über die französischen Staatsgrenzen hinaus ein schillernder Begriff. Ähnlich wie beim Begriff Gewalt handelte und handelt es sich hierbei um einen Terminus, der im Alltagsgebrauch weniger zur Beschreibung oder Analyse, sondern vor allem zur 37 38

Note de service du Capitaine Aumaitre, commandant provisoirement le groupement de gendarmerie de la Moselle, 25. Mai 1959, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 734. Note de service du lieutenant-colonel Laporterie, commandant le groupement de gendarmerie de la Moselle, 5. Dez. 1961, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 738 (Hervorh. i. Orig.).

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III. Algerische Migranten und der Kolonialkrieg

Anklage und Politisierung bestimmter Handlungen verwendet wird. Es ist daher nicht sinnvoll, sich bei der nachfolgenden Ausführung über Folter in Lothringen am zeitgenössischen Verständnis dieses Begriffs zu orientieren. Nicht nur die Frage der Existenz, sondern auch die Definition von Folter war während des Algerienkriegs Gegenstand ebenso heftiger wie breit geführter politischer Debatten. Darüber hinaus erlebten der Umgang mit diesem Begriff sowie die Legitimität der damit verbundenen Praktiken auch innerhalb der Praxis der französischen Polizei einen historischen Wandel. Ein Polizeihandbuch, das 1947 noch im Umlauf war, verstand unter »zulässiger Folter« etwa den Entzug von Essen und Trinken sowie von Tabak, aber auch Drohungen. Aus dem Jargon der Polizei verschwand in der Folge zwar der Begriff. Die damit bezeichneten Praktiken wurden jedoch fortgesetzt39 . In Anlehnung an die Ansätze der auf Trutz von Trotha zurückgehenden »Neuen Soziologie der Gewalt«40 soll Folter im Folgenden phänomenologisch verstanden werden. Der Begriff bezeichnet eine Gewalthandlung, in deren Verlauf eine Person der Instrumentalität ihres Körpers durch die kontrollierte Zufügung körperlicher Schmerzen beraubt wird41 . In ihrer Monographie über die Folter der französischen Armee während des Algerienkriegs hat Raphaëlle Branche die Folter von Algeriern mit Stromstößen in ähnlicher Weise beschrieben. Sie wies zudem darauf hin, dass der Folterpraxis über die Beschaffung von konkreten Informationen hinaus auch das Anliegen zu Grunde lag, das koloniale Machtverhältnis zwischen Täter und Opfer zu bestätigen42 . Die von Branches vertretene, für die Makroebene zweifellos richtige Einordnung der Motive des Einsatzes von Folter durch die französische Armee während des Algerienkriegs kann aus zwei Gründen hier nicht berücksichtigt werden. Erstens liegt der Fokus der Analyse an dieser Stelle nicht auf einer womöglich systemischen Funktion der Folter über einen längeren Zeitraum, als Maßnahme zum Erhalt des kolonialen Status quo in Algerien. Vielmehr wird nur ein einziger Fall analysiert, der zudem keine fundierten Rückschlüsse auf die Möglichkeit der systematischen Anwendung von Folter in Lothringen ermöglicht. Zweitens lässt der Quellenmangel keinerlei Aussagen zu den tatsächlichen Motiven des Täters in diesem Einzelfall zu. Das Festhalten an einem phänomenologischen Verständnis von Folter ist an dieser Stelle auch 39 40 41

42

Blanchard, La police parisienne, S. 314. Siehe als zusammenfassenden Überblick Teresa Koloma Beck, Klaus Schlichte, Theorien der Gewalt zur Einführung, Hamburg 2014, S. 115–118.124–129. Trutz von Trotha hat vesucht, die Entfremdung eines Opfers von seinem Körper bei einem solchen Akt zu beschreiben: »So wird die Zeit des Schmerzes zum Ort der Verzweiflung. [. . . ] Es ist die Verzweiflung, daß aus dem äußeren Feind, der mich vergewaltigt, ein innerer Feind, der Körper selbst wird, der sich jeder Anstrengung des Willens entzieht und alles Handeln auslöscht. [. . . ] Es ist die Verzweiflung körperlicher Ohnmacht«, Trutz von Trotha, Zur Soziologie der Gewalt, in: Ders. (Hg.), Soziologie der Gewalt, Opladen 1997, S. 9–56, hier S. 30. Branche, La torture et l’armée pendant la guerre d’Algérie, S. 424f.

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der Überlegung geschuldet, dass sich das von Branche genannte Motiv nicht a priori auf jeden Einzelfall anwenden lässt, sofern man den möglichen Anteil individueller »Grausamkeit« bei der Anwendung von Folter bedenkt43 , welche keineswegs in einem kolonialen Zusammenhang stehen muss. Infolge der massiven Ausweitung der Kompetenzen der französischen Polizei und Gendarmerie im »Antiterrorkampf« kam es in Lothringen zu mehreren gewalttätigen Übergriffen einzelner Vollzugsbeamter gegenüber Algeriern. Derartige Vorfälle wurden in der Regel nur einseitig oder gar nicht dokumentiert. Mehrere algerische Zeitzeugen berichteten dem Autor, dass entweder sie selbst oder ihnen bekannte Algerier in Lothringen zu Folteropfern wurden. Sie unterstrichen dabei, dass es sich nicht um Einzelfälle gehandelt habe. Den Angaben Herrn Medjanis zufolge folterte die Polizei in Forbach bereits unmittelbar nach den Anschlägen am 1. November 1954 mehrere Aktivisten des MTLD und Algerier, die als solche verdächtigt wurden: Medjani: Diejenigen, die verhaftet wurden —. Vielleicht gab es zwei oder drei, die es waren, die sich darum kümmerten, aber die anderen, sie haben Leute verhaftet, die nicht einmal den Beitrag zahlten und haben sie dennoch behalten! Sie haben sie —. Ohne zu übertreiben, die ersten Folterungen haben da begonnen. Und diejenigen, die rausgekommen sind, haben uns erzählt, dass sie Kichererbsen genommen haben –. LH: Ja, das sagten Sie mir –. Medjani: Sie haben ihnen gesagt, ihr werdet auf diesen Kichererbsen laufen, auf – wissen Sie, auf Knien, so, auf Kichererbsen und als sie die Füße hinten hatten, gaben sie ihnen auf die Fußsohlen mit Stöcken, sie schlugen sie mit Stöcken44 .

Der Zeitzeuge Djaout berichtete, es sei während des Unabhängigkeitskriegs für Algerier in der Region Forbach gefährlich gewesen, in kleineren Gruppen auf der Straße oder auf dem Bürgersteig zu laufen. Stets habe das Risiko bestanden, von der Polizei verhaftet und anschließend sogar gefoltert zu werden: Djaout: Ich wusste, dass die Polizei uns ständig verfolgt. Sie verhaften uns – sobald wir mehr als drei oder vier Personen sind, verhaften sie uns und nehmen uns mit aufs Kommissariat – und foltern – und ob wir Politik machen – zu viert –. Man musste allein laufen, oder zu zweit, nicht mehr. Früher war es sehr schwierig! [. . . ] LH: Das heißt, sobald Sie mehr als drei Personen waren –.

43

44

Étienne Balibar hat in seiner Auseinandersetzung mit dem Begriff der Grausamkeit darauf hingewiesen, dass sich keine Anwendung von Gewalt in einem rationalen Schema, im Sinne einer sauber durchgeführten Operation, erschöpfend beschreiben lässt. Stets bleibe ein »unkonvertierbarer Rest« übrig, der nicht auf äußere Motive, sondern auf die Lust an der Gewalt selbst verweist: Pierre Sauvêtre, Cécile Lavergne, Pour une phénoménologie de la cruauté. Entretien avec Étienne Balibar, in: Tracés. Revue de sciences humaines 19 (2010), S. 217–238, hier S. 221. Siehe diesbezüglich auch Jan Philipp Reemtsma, Gewalt als attraktive Lebensform betrachtet. Ein Abschiedsvortrag für das Hamburger Institut für Sozialforschung, in: Mittelweg 24 (2015), S. 4–16. Interview LH–Medjani, 2014, S. 18f.

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Djaout: Ja – Sie verhaften uns –, sie nehmen uns mit aufs Kommissariat, um zu foltern, oder sie bringen uns ins Gefängnis, oder was weiß ich wohin –45 .

Bougherra lebte während des algerischen Unabhängigkeitskriegs ebenfalls in der Region Forbach. In einem Interview scheute er sich zwar, das Wort Folter zu verwenden, gab jedoch an, dass Algerier im Zuge von Verhören häufig geschlagen worden seien: Bougherra: Ja, ein hartes Verhör. [. . . ] Selbst mein Vater, mein Onkel, all diese –. Nein, nein, es ist ja klar, dass – sie ziehen keine Samthandschuhe an, nicht, wenn sie sie foltern. Ich weiß nicht, ob man –. Es sind natürlich keine Folterungen wie jene, die in Algerien gemacht wurden [. . . ]. LH: Und, nun, ich erlaube es mir zu insistieren. Die Methoden. Was tat man ihnen an? Bougherra: Na, man schlug sie zusammen. Man prügelte sie46 .

Allein auf der Basis dieser zitierten Angaben kann die Frage nach der Anwendung von Folter durch französische Vollzugsbeamte in Lothringen während des Algerienkriegs nicht befriedigend beantwortet werden. Ohne die Glaubwürdigkeit der Zeitzeugen in Frage zu stellen, ist festzustellen, dass ihre Berichte keinerlei konkrete Orts-, Zeit- und Personenangaben liefern, die es ermöglichen könnten, das Ereignis an sich und die Rollen der jeweiligen Täter, Opfer und Zuschauer der Gewalt genauer zu rekonstruieren, geschweige denn zu bewerten. Im Anschluss an die jüngere Gewaltforschung in den Sozial- und Geisteswissenschaften ist davon auszugehen, dass im Falle von Gewaltanwendung weniger die Motive als der situative Kontext eine entscheidende Rolle sowohl für den Beginn als auch für die Art und den Verlauf der Interaktionen spielen47 . Dabei gilt es jedoch auch zu beachten, dass insbesondere die lothringische Gendarmerie im Kontext des Algerienkriegs mehrfach angewiesen wurde, ein möglichst radikales Vorgehen gegenüber »Nordafrikanern« an den Tag zu legen. So ordnete der Befehlshaber der Gendarmerie in Moselle im Dezember 1957 als generelle Regel bei allen Kontrollaktionen an, die auf »Nordafrikaner« zielten: Alle verdächtigen Nordafrikaner, die im Zuge dieser Operationen identifiziert werden, vor allem jene aus anderen Departements und jene, die hohe Geldsummen bei sich tragen, werden zur Sektion der Gendarmerie gebracht, wo sie einem sehr strengen Verhör unterzogen und mit allen persönlichen Daten erfasst werden48 .

45 46 47

48

2. Interview LH–Djaout, 2014, S. 6. Interview LH–Bougherra, 2014, S. 20. Grundlegende Werke für diese Forschungsrichtung sind bspw. Trotha, Zur Soziologie der Gewalt; Randall Collins, Violence. A Micro-Sociological Theory, Princeton 2008; Harald Welzer, Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, Frankfurt a. M. 3 2005. Note de service du chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 31. Dez. 1957, S. 2, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 732.

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Diese Anweisung enthielt allenfalls vage Kriterien für die Bewertung eines »verdächtigen Algeriers«. Sie präzisierte auch nicht, was mit einem »sehr strengen Verhör« gemeint sein sollte. Dies vergrößerte den Interpretationsund damit in letzter Konsequenz auch den Handlungsspielraum der Vollzugsbeamten. Dass diese Form der Kommunikation gegenüber der Gendarmerie und Polizei durchaus Methode hatte, zeigt ein Brief des französischen Innenministers an die Präfekten der Metropole vom 15. Oktober 1958, in dem der oberste Befehlshaber der französischen Polizei unter anderem die Erfolge »forcierter Verhöre« pries: In ihrem Kampf gegen den nordafrikanischen Terrorismus in der Metropole hat die Polizei momentan den Vorteil, in der Offensive zu sein. Sie muss die Initiative behalten. Die spektakulären Ergebnisse, die in den vergangenen Wochen bei der Enttarnung der Organisationen des FLN erzielt wurden, beruhen vor allem auf den Auswertungen von Informationen, die von der DST, den RG, der PJ oder der SP infolge forcierter Verhöre49 verhafteter FMA gewonnen wurden50 .

Was genau unter einem »forcierten Verhör« zu verstehen war, ließ der Innenminister offen. Auch im Nachhinein wurden solche Begriffe nicht präzisiert. Raphaëlle Branche hat in ihren einschlägigen Arbeiten gezeigt, dass derartige Äußerungen häufig von der französischen Armee verwendet wurden, um Gewaltanwendungen gegenüber Algeriern zu umschreiben, ohne sie als solche zu benennen51 . Dies und die bereits in anderen Arbeiten nachgewiesene Praxis der Folter während des Algerienkriegs in der Metropole52 legen nahe, dass auch Polizei und Gendarmerie in Lothringen dazu ermutigt wurden, sich bei ihren Verhören von als verdächtig erachteten Algeriern nicht durch das Gebot der körperlichen Unversehrtheit bremsen zu lassen. Zumindest im Fall der Gendarmerie wurde die zitierte Anordnung, verdächtige Algerier einem »sehr strengen Verhör« zu unterziehen, mehrfach wiederholt53 . Die auf Seiten der lothringischen Gendarmerie bereits 1955 bestehende Befürchtung, zur Zielscheibe von Angriffen »nordafrikanischer Kommandos« zu werden, bestand auch weiterhin. So erinnerte der Befehlshaber der Gendarmerie von Thionville im Februar 1957 alle ihm unterstehenden Brigaden daran, die Tränengasgranaten zu überprüfen, um diese nötigenfalls sofort ein-

49 50 51 52 53

Im Originaltext war von einem »interrogatoire poussé« die Rede. Dies lässt sich am ehesten mit »ein unter Druck durchgeführtes Verhör« übersetzen. Le ministre de l’Intérieur à monsieur le préfet de police, messieurs les préfets de la métropole, 15. Okt. 1958, S. 2, AdM 370 W 1. Branche, La torture et l’armée, S. 60f. Blanchard, La police parisienne et les Algériens, S. 339–350. Note de service du lieutenant-colonel Gauroy, commandant du groupement de la gendarmerie de la Moselle, 18. Sep. 1960, S. 1, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 736. Siehe auch Note de service du chef d’escadron Cloiseau, commandant provisoirement le groupement de gendarmerie de la Moselle, 8. Juli 1961, S. 1, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 738.

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III. Algerische Migranten und der Kolonialkrieg

setzen zu können54 . Der Befehlshaber der Brigade von Villerupt forderte im März 1958 gar, ein Loch in das Dach der Gendarmeriebrigade einfügen zu dürfen, um dort eine automatische Waffe installieren zu können. Zur Begründung gab er an, es müsse auf jeder Seite des Gebäudes eine Öffnung geben, um die Brigade gegen mögliche Angriffe aus der Richtung der Fabrik in Micheville und des Stadtzentrums von Villerupt verteidigen zu können55 . Zum damaligen Zeitpunkt galten die Fabrik in Micheville und der Ort Villerupt als Hochburgen des FLN in der Region. Der bis heute einzige von den französischen Sicherheitsdiensten schriftlich dokumentierte Fall von Folter in Lothringen indiziert einen engen Zusammenhang zwischen einer Alarmstimmung auf Seiten der Gendarmen und ihrer Ausübung von Gewalt gegenüber algerischen Migranten. In einer Dienstanweisung vom 7. März 1958 warnte der Befehlshaber der Gendarmerie in Moselle vor einer unmittelbar bevorstehenden Welle des »algerischen Terrorismus in der Metropole«. Gauroy nahm dies zum Anlass, um an die geltenden Sicherheitsvorschriften zu erinnern und eine Intensivierung der Drangsalierungsmaßnahmen anzuordnen, die sich in den monatlichen Berichten über die Aktivität der einzelnen Brigaden abzeichnen sollte56 . Die Dienstanweisung Gauroys fiel mit den laufenden Ermittlungen der Gendarmeriesektionen von Sarreguemines und Forbach bezüglich eines angeblichen Waffenschmuggels von »Nordafrikanern« zusammen. Am 12. März 1958 hatte die Gendarmerie einen Hinweis erhalten, dass in dem Arbeiterwohnheim Lahitolle, einer ehemaligen Kaserne in Saint-Avold, elf Pistolen versteckt seien. Nach ersten Ermittlungen dort wurde aufgrund der Abwesenheit des Kommandanten der Brigade von Forbach als dessen Vertreter der dienstälteste Gendarm der Brigade Janicot gerufen, um in der Brigade von Saint-Avold einen Algerier zu verhören, der angeblich zugegeben hatte, Waffen besessen zu haben57 . Ein späterer Bericht Gauroys zu dem Fall hielt die Aussage eines Algeriers fest, nachdem die Gendarmen bereits im Zuge der Durchsuchungen Gewalt angewendet hätten: Nachdem sie nichts gefunden hatten, begann das Verhör. Ein Gendarm ergriff das Handgelenk von M. Baki und fixierte dieses [. . . ]. Die anderen [Gendarmen] setzten ihm zu mit Faustschlägen ins Gesicht, Stockschlägen und Fußtritten in den Unterleib. Nachdem er zu Boden gefallen war, zogen sie ihn an den Haaren empor und schlugen wild seinen Kopf

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Note de service du capitaine Aumaitre, commandant de la SG de Thionville, 15. Feb. 1957, SHAT AG à Thionville, 2007 ZM 1/135 904. Le maréchal des logis-chef Lhote, commandant de la brigade de gendarmerie de Villerupt au commandant de la SG à Longwy, 11. März 1958, SHAT 2007 ZM 1/134 083. Note de service du chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de la gendarmerie de la Moselle, 7. März 1958, S. 2, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 733. Rapport du chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, au colonel commandant de la 6e légion de gendarmerie, 5. Mai 1958, S. 1, ibid.

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gegen die Wand. Trotz der Schreie, die bis draußen zu hören waren, hagelte es noch lange weitere Schläge. M. Baki leugnete weiterhin den Besitz von Waffen58 .

Ein weiterer Zeuge berichtete über die während eines Verhörs innerhalb der Brigade von Saint-Avold angewandte Gewalt. Seine Angaben wurden in dem Bericht der Gendarmerie folgendermaßen zusammengefasst: Während dieser Zeit wurden die Handgelenke von M. Mehdid mit einem Seil eng mit seinen Knöcheln verbunden. Ein Gendarm machte eine Kerbe in die Lehne eines Stuhls und stellte diesen vor einen Tisch. Ein anderer holte einen Eimer. M. Mehdid wurden auch die Schuhe abgenommen. Barfuß wurde er mit dem Kopf nach unten an einem zwischen Tisch und Stuhl angebrachten Stock unter den Knien aufgehängt. Es hagelte Fußtritte ins Gesicht und Stockschläge, vor allem auf die Füße. Ein Gendarm, der mit einer Luftpistole bewaffnet war, schoss scheinbar mehrfach in seine Ohren. Ein anderer schüttete ihm mit einer Schüssel immer wieder Wasser ins Gesicht, wenn er in Ohnmacht fiel. Anschließend setzte er dies mit vollen Eimern fort59 .

Den zitierten Darstellungen widersprachen mehrere Zeugenaussagen sowohl von algerischen Arbeitern als auch von Gendarmen, die im Bericht Gauroys aufgeführt wurden. Aufgrund der Deklaration Janicots muss jedoch davon ausgegangen werden, dass innerhalb der Brigade von Saint-Avold tatsächlich gefoltert wurde: In seiner Deklaration vom 25. April 1958 [Protokoll Nr. 1787, S. 2], gibt der Gendarm Janicot an, dass er, als er sich in der Brigade von Saint-Avold befand, im Zuge des Verhörs von Mehdid und in der Absicht, die elf gesuchten Pistolen zu finden, diesen an den Händen und an den Füßen gefesselt hat, ohne ihn zu schlagen. Er hat ihn daraufhin gezwungen, sich mit dem Kopf nach unten auf ein horizontales Stück Holz zu stützen. Dies wurde von Mehdid bestätigt [Protokoll Nr. 1780, S. 2], der außerdem angibt, von Ahmed [ben Rahal] und den Gendarmen geschlagen worden zu sein60 .

Sowohl der Täter als auch das Opfer stimmten in ihrer späteren Darstellung des Vorfalls zumindest darin überein, dass der Körper des Verhörten planvoll einer Zwangslage ausgesetzt wurde. Die Befragung des Algeriers Mehdid wurde durchgeführt, während dieser an Armen und Beinen gefesselt kopfüber an einem Stück Holz hing. Der Tatbestand der Folter erscheint damit eindeutig erfüllt, und zwar unabhängig von der umstrittenen und an dieser Stelle nicht beantwortbaren Frage, ob Mehdid in der genannten Position geschlagen wurde oder nicht. Abgesehen von der Feststellung, dass die Folter eines Algeriers in SaintAvold damit schriftlich nachgewiesen wurde, ist der Fall Lahitolle auch darüber hinaus für das Verständnis der damaligen Situation algerischer Migranten in Lothringen aufschlussreich. Die schriftlichen Stellungnahmen 58

59 60

Le chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, à monsieur le procureur de la République auprès du tribunal de première instance à Sarreguimes, 29. Apr. 1958, S. 5, ibid. Ibid. Ibid., S. 7.

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III. Algerische Migranten und der Kolonialkrieg

des Befehlshabers der Gendarmerie in Moselle zu dem Fall lassen keinen Zweifel daran, dass dessen wichtigste Intention darin lag, das Ansehen und die Autorität der Gendarmerie allgemein und insbesondere gegenüber Algeriern aufrecht zu erhalten. So räumte Gauroy gegenüber seinem Vorgesetzten zwar ein, dass die Handlungen Janicots einen »schweren Fehler« dargestellt und das Prestige der Gendarmerie gefährdet hätten61 . Ungeachtet dessen versuchte er jedoch allerlei mildernde Umstände für den Täter geltend zu machen, um eine harte Strafe zu verhindern. Das erste Argument Gauroys in diesem Zusammenhang lautete, Janicot und seine Kollegen seien in dem unbedingten Bestreben, ihre Pflicht zu erfüllen, mit der Situation überfordert und zudem übermüdet gewesen, was auch den angeblichen Lügen der befragten Personen geschuldet gewesen sei62 . Die angeblich wegen eines nicht selbst verschuldeten Zustands der Überforderung erfolgte Gewaltanwendung Janicots sollte nach Ansicht Gauroys mit acht Tagen Gefängnis bestraft werden. Eine sofortige Versetzung Janicots, wie sie der Staatsanwalt von Sarreguemines forderte, lehnte er ebenso ab wie der Subpräfekt des Arrondissements Forbach. Zur Begründung gab Gauroy an, dass diese Maßnahme den Respekt der Algerier vor der Gendarmerie in Mitleidenschaft ziehen würde, da Janicot bei »diesem Teil der Bevölkerung« nicht nur »sehr bekannt«, sondern »zu Recht auch gefürchtet« sei63 . Eine zu strenge Bestrafung des Gendarmen aus Forbach, so glaubte Gauroy, würde die Furcht der Algerier vor der Gendarmerie verringern, wofür es bereits erste Anzeichen gebe und was unbedingt verhindert werden müsse: Eine der ersten Auswirkungen dieser Vorgehensweise ist, dass bestimmte Nordafrikaner sich von den Einheimischen, die beruflich eine sehr viel höhere Position einnehmen als sie selbst, unterstützt fühlen und beginnen, eine gewisse Arroganz gegenüber der Gendarmerie an den Tag zu legen, die sie nicht mehr in gleicher Weise zu fürchten scheinen wie zuvor. Dies beweist bereits das Verhalten des jungen Mostefa Djelloul, [. . . ] der mich im Zuge seines Verhörs am 28. April 1958 hartnäckig und in einem ungewohnten Ton fragte, mit welchem Recht wir ihn verhören würden. Er gestand uns sofort, dass ihm dazu von einem Vorgesetzten geraten worden war64 .

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Rapport du chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, au colonel commandant de la 6e légion de gendarmerie, 5. Mai 1958, S. 2, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 733. Le chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, à monsieur le procureur de la République auprès du tribunal de première instance à Sarreguimes, 29. Apr. 1958, S. 9, ibid. Dieses Argument wiederholte Gauroy auch in einem späteren Bericht über den Fall, siehe: Rapport du chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, au colonel commandant de la 6e légion de gendarmerie, 5. Mai 1958, S. 2, ibid. Ibid., S. 3. Le chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, à monsieur le procureur de la République auprès du tribunal de première instance à Sarreguimes, 29. Apr. 1958, S. 10. SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 733.

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1. Polizei, Gendarmerie und Armee im Umgang mit Algeriern

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Trotz des Aufsehens, den der Fall Lahitolle in der Region kurzzeitig erregte65 , konnte sich der Chef der Gendarmerie in Moselle mit seinem Anliegen durchsetzen, eine moderate Strafe gegen Janicot zu verhängen. Dass dieser in der Brigade von Saint-Avold einen Algerier im Zuge eines Verhörs folterte, wurde gegenüber der Möglichkeit eines Autoritätsverlusts der Gendarmerie als weniger gravierend bewertet. Dem Vorschlag Gauroys entsprechend wurde Janicot nach dem Verbüßen seiner achttägigen Haftstraffe erst fünf Monate später in eine andere Brigade versetzt, um gegenüber den Algeriern in der Region Forbach nicht den Eindruck einer zu harten Sanktionierung des Vorfalls in Saint-Avold zu erwecken66 . Der Umgang der Gendarmerieführung mit dem Fall Lahitolle weist darauf hin, dass den Gendarmen bei der Durchführung der verschiedenen Drangsalierungsmaßnahmen ein großer Handlungsspielraum eingeräumt wurde. Diese sollten sich weniger an der geltenden Rechtslage, sondern vielmehr an dem Ziel einer umfassenden Einschüchterung sämtlicher algerischer Migranten orientieren. Ein Hinweis auf den Erfolg dieses Unternehmens ist, dass die Folter eines Algeriers in Saint-Avold im März 1958 erst auf Initiative des bei den HBL angestellten Ingenieurs Chevrant dokumentiert und angeklagt wurde. Nach einer folgenlosen Intervention gegenüber der Direktion des Unternehmens informierte dieser zunächst einen Kollegen über den Vorfall, der wiederum einen Rechtsanwalt einschaltete. Letzterer entschied sich dazu, den Fall gegenüber dem Staatsanwalt von Sarreguemines anzuzeigen, wodurch die Dokumentation und die rechtliche Aufarbeitung des Vorfalls überhaupt erst ins Rollen kamen67 . Der Fall Lahitolle zeigt somit auch, dass von der Gendarmerie gegenüber Algeriern begangene Gewalttaten nicht so einfach ans Licht der Öffentlichkeit kamen. Emmanuel Blanchard hat darauf hingewiesen, dass Algerier, die einen Fall von Folter anzeigten, in der Regel als FLN-Aktivisten eingestuft wurden, die versuchten, dessen gezielte Diffamierungskampagne gegen den französischen Staat anzuheizen68 . Es ist davon auszugehen, dass dieses Risiko den 65

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In der Zeitung »L’Humanité« wurde die Gewalt gegenüber Algeriern in Saint-Avold offen angeklagt. Der Titel des entsprechenden Artikels lautete: »In Saint-Avold (Moselle): Skandalöse Misshandlungen algerischer Arbeiter«. Der Artikel ist abgedruckt in: Annexe de la lettre du chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de la gendarmerie de la Moselle, au colonel commandant de la 6e légion de gendarmerie, 16. Apr. 1958, ibid. Avis du lieutenant-colonel Laporterie, commandant le groupement de gendarmerie de la Moselle, au colonel commandant de la 6e légion de gendarmerie, 11. Sep. 1961, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 738. Le chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, à monsieur le procureur de la République auprès du tribunal de rremière instance à Sarreguimes, 29. Apr. 1958, S. 10, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 733. Vor dem Hintergrund der Debatte um die Folter in Frankreich gab Innenminister Émile Pelletier im Herbst des Jahres 1958 eine entsprechende Anweisung an die Polizei heraus: Blanchard, La police parisienne, S. 345. Siehe auch Raphaëlle Branche, Sylvie Thénault, L’impossible procès de la torture pendant la guerre d’Algérie, in: Marc-Olivier

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III. Algerische Migranten und der Kolonialkrieg

meisten Algeriern entweder bewusst war oder dass sie schlicht jeden Umgang mit den Behörden vermieden, selbst wenn sie Opfer von Gewalt geworden waren. Aus den genannten Gründen ist die Frage nach dem konkreten Ausmaß der Anwendung von Folter während des Algerienkriegs in Lothringen nicht geklärt. Die Hintergründe einseitig dokumentierter Fälle, die den Verdacht auf Folter nahelegen, aber nicht beweisen, bleiben im Dunkeln. Dazu sei auf einen fast zeitgleich zu den Vorfällen in Saint-Avold verfassten Bericht der Gendarmerie von Longwy hingewiesen. Darin geht es um einen Algerier, der verdächtigt wurde, Waffen aus dem etwa 25 Kilometer von Longwy entfernten belgischen Ort Arlon nach Frankreich eingeführt zu haben. Nachdem der Betroffene zunächst alles abgestritten hatte, war er dem Ermittlungsbericht zufolge während seiner Haft aus ungeklärten Gründen mehrfach gegen die Wand gerannt, hatte sich dabei selbst ein blaues Auge zugefügt und einige Barthaare ausgerissen. Schließlich legte der Algerier das Geständnis ab, dass er die Waffen gekauft habe, um sich gegen militante algerische Nationalisten verteidigen zu können. Der Fall hatte weder für die Beamten noch für den Betroffenen ein Nachspiel69 . Anders als im Fall Lahitolle muss damit ungeklärt bleiben, ob der durchaus nahliegende Verdacht zutrifft, dass während des Verhörs gegenüber dem Algerier Gewalt angewendet wurde. Auch wenn der Tatbestand der Folter im Fall Lahitolle erwiesen ist, lassen sich aus der Sicht des Historikers daraus keine generellen Schlussfolgerungen über einzelne Vorwürfe von angewandter Folter während des Algerienkrieges in Lothringen ableiten. Die zu dem Fall vorliegenden Quellen zeigen jedoch in besonders deutlicher Weise, dass sich ein niederer Rechtsstatus der »muslimischen Franzosen Algeriens« zumindest in der Praxis der Gendarmerie in Moselle zu Beginn des Jahres 1958 voll und ganz durchgesetzt hatte. In seiner Reflexion über die mögliche Signalwirkung einer konsequenten Sanktionierung eines Folterers lag der Fokus des Befehlshabers der Gendarmerie ausschließlich auf den algerischen Migranten der Region. Darüber, dass eine laxe Reaktion auf den Fall Lahitolle von den Gendarmen als Ausweis beziehungsweise Bestätigung einer Carte blanche zur Anwendung von Gewalt gegenüber Algeriern interpretiert werden könnte, wurden keinerlei schriftlich überlieferte Überlegungen angestellt. Gauroy befürchtete nicht die Untergrabung des Rechtsstaats in Lothringen, sondern ein Aufweichen der subalternen Position der dort lebenden algerischen Migranten.

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Baruch, Vincent Duclert (Hg.), Justice, politique et République. De l’affaire Dreyfus à la guerre d’Algérie, Brüssel, Paris 2002, S. 243–260, hier S. 252. Sylvie Thénault zufolge musste die Justiz in der Metropole sich mit Fragen der Folter so gut wie nie auseinandersetzen, da sie diesbezüglich fast nie angerufen wurde, siehe Thénault, Une drôle de justice, S. 302. Mauger, René, maréchal des logis-chef, officier de PJ: procès verbal de la brigade de Longwy no 466, 14. März 1958, S. 6f., SHAT AG, 2007 ZM 134 365.

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1. Polizei, Gendarmerie und Armee im Umgang mit Algeriern

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1.3.2 Polizeiliche Deutungs- und Handlungsmöglichkeiten im (kolonialen) Ausnahmezustand Bereits seit 1955 waren Ängste vor Übergriffen algerischer Aufständischer auf Seiten der Polizei und Gendarmerie in Lothringen weit verbreitet. Diese Ängste wurden Ende August 1958 zunächst durch die »opération orage« verstärkt. In deren Zuge fanden in Lothringen zwar keine Anschläge des FLN statt70 . Dennoch schürten die spektakulären Aktionen des FLN auch in Ostfrankreich eine gewisse Panik, die sich unter anderem in einer massiven Steigerung der Anzahl von Zeitungsartikeln über kriminelle »Nordafrikaner« widerspiegelte71 . Im September 1958 wurden die Ängste der lothringischen Polizei und des Militärs vor Übergriffen von Algeriern durch drei Anschläge in Metz nochmals verstärkt. Am Abend des 14. September gab ein Algerier einen Schuss auf einen fünf Tage zuvor aus Algerien demobilisierten Offizier der französischen Armee ab, der dadurch lebensgefährlich verletzt wurde. Der »Républicain lorrain« stufte diesen in der Rue Harelle begangenen Anschlag als besonders gravierend ein, da es sich bei dem Opfer um einen »Europäer« handelte und die Gegenwart mehrerer Zeugen die Täter von ihrem Mordversuch nicht abgehalten hatte72 . Am 19. September wurde um 20.30 Uhr ein Algerier im Zentrum von Metz unweit der Rue Serpenoise erschossen. Am 22. September erschoss ein weiterer Algerier einen Unteroffizier der französischen Armee, als dieser gegen 20 Uhr abends die Saint-Georges-Brücke überquerte73 . Die seit dem Beginn des Unabhängigkeitskriegs von lothringischen Behörden und Sicherheitsdiensten gehegte Befürchtung, zur Zielscheibe von algerischen Attentätern zu werden, erhielt durch die beiden Anschläge gegen französische Militärs eine völlig neue Grundlage. Nunmehr bedurfte es zu dieser Angstvorstellung keiner abstrakten Übertragung von Ereignissen in Algerien auf die Situation in Lothringen mehr. Der FLN hatte nicht nur bewiesen, dass er auch in Lothringen den Messalisten den Rang als Repräsentanten des algerischen Nationalismus ablaufen konnte. Darüber hinaus zeigte sich die Organisation im September 1958 auch in der Lage, im Herzen der 70

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Ali Haroun zufolge erreichte die Anweisung für die Anschläge die Zone 1 der wilaya 4 des FLN nur 48 Stunden vor Beginn der Anschläge. Ein weiteres Problem bestand darin, dass die wichtigsten Verantwortlichen der Städte Nancy, Thionville und Metz gerade erst verhaftet worden waren. Einige Aktivisten hätten zwar versucht, rund 25 km von Nancy entfernt einen Waldbrand zu entfachen, was jedoch aufgrund mangelnder Vorbereitung und aufgrund des Regens gescheitert sei. Eine weitere Gruppe, die im Wald bei Sainte-Marie-aux-Chênes habe Feuer legen wollen, sei am 23. August verhaftet worden: Haroun, La 7e wilaya, S. 104. Lucas Hardt, Die Auswirkungen des Algerienkriegs auf die algerischen Migranten im Industrierevier von Longwy. Magisterarbeit Univ. Trier (2011), S. 53–56. Le Républicain lorrain, 15. Sep. 1958. Ibid., 23. Sep. 1958.

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III. Algerische Migranten und der Kolonialkrieg

wichtigsten Garnisonsstadt Ostfrankreichs zwei Attentate gegen französische Soldaten durchzuführen. Damit hatte neben der inneralgerischen Konfliktdimension des Kolonialkriegs nunmehr auch dessen franko-algerische Dimension das lothringische Grenzgebiet vollständig erreicht: Algerische Zivilisten und französische Militärs konnten sowohl Opfer als auch Täter sein. Der vielschichtige algerische Unabhängigkeitskrieg nistete sich immer tiefer in der französischen Provinz ein. Der oben dargelegte Fall Lahitolle ist nur eines von vielen Beispielen dafür, wie auf den Seiten lothringischer Vollzugsbeamter im Verlauf des Algerienkriegs die zunehmend angespannte Stimmungslage zum Anlass genommen wurde, um eine unrechtmäßige Ausübung von Gewalt gegenüber algerischen Migranten zu rechtfertigen. Noch unmittelbar vor der Anschlagsserie von Metz im September 1958 versuchte der Befehlshaber der Gendarmerie in Moselle einen Gendarm zu entschuldigen, der bei einer Kontrollaktion in Puttelange einen Algerier erschoss. Dabei hatte es sich den Angaben zufolge um ein Versehen gehandelt. Gauroy räumte zwar ein, dass die Waffe nicht entsprechend der Dienstanweisungen verwendet worden sei, plädierte gegenüber seinem Vorgesetzten aber für eine nachsichtige Haltung: Dennoch ist es wichtig, in Betracht zu ziehen, unter welchen Bedigungen dieser Unteroffizier gerufen wurde, um mit einem seiner Kameraden zu intervenieren. Tatsächlich ist die Zivilbevölkerung, die fast jeden Tag in der Presse von den Terror- oder Sabotageakten nordafrikanischer Elemente erfährt, äußerst wachsam und lebt in einem Klima des Misstrauens gegenüber diesem Teil der Bevölkerung [den Algeriern]. Daher ist es nicht verwunderlich, dass die Information, die der Gendarmerie von Puttelange übermittelt wurde, jene Person [das Opfer] als verdächtig und sogar als ein gefährliches Element darstellte. Ferner befindet sich selbst das Personal der Gendarmerie – und vielleicht in erster Linie jenes der Brigaden mit schwacher Besetzung, wie es der Fall in Puttelange ist – seit einigen Wochen in einem Zustand der Anspannung, die von den fast täglichen Meldungen über die Möglichkeiten feindlicher Aktionen gegen das Polizeipersonal und die Gebäude, die sie schützen, aufrechterhalten wird. Diese verschiedenen Umstände vermögen die Reaktion des Gendarmen Bidois zu erklären, der selbstverständlich nicht die Intention hatte, Metaouig zu töten, da sein Schnellfeuergewehr im Moment der ersten Verwarnung nicht einmal entsichert war74 .

Im Hinblick auf die Stimmung in Lothringen und weil der betroffene Unteroffizier seit 14 Jahren gedient hatte, ohne eine Sanktion zu erhalten, sprach sich der Chef der Gendarmerie in Moselle gegenüber seinem Vorgesetzten dafür aus, keinerlei Disziplinarmaßnahmen gegen Bidois zu verhängen. Seinen Angaben zufolge teilte auch der zuständige Staatsanwalt diese Einschätzung und hatte Verständnis für die Reaktion des Gendarmen75 . Zu diesem Vorfall ist kein weiteres Dokument überliefert. Mit Blick auf die Position Gauroys und der Staatsanwaltschaft in Sarreguemines ist anzunehmen, dass die Angelegenheit für die Gendarmerie damit als erledigt galt. 74 75

Avis du chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle, 11. Sep. 1958, S. 2, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 733. Ibid.

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1. Polizei, Gendarmerie und Armee im Umgang mit Algeriern

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Obgleich die Hintergründe des Falls, also der genaue Ablauf der Situation und die tatsächliche Intention des Täters, verborgen bleiben, weist der Umgang mit dem von einem Gendarm verursachten Tod eines Algeriers in Puttelange eine wichtige Parallele zu dem Fall Lahitolle auf: Die Gendarmerieführung, aber auch zivile Behörden wollten eine Sanktionierung widerrechtlicher Gewaltanwendung gegen Algerier unter allen Umständen vermeiden. Sie wurden unter Verweis auf häufige Informationen über »mögliche feindselige Aktionen« gegen die Beamten entschuldigt, da diese eine verständliche Nervosität auslösen würden. Dass der Chef der Gendarmerie in Moselle in der Regel selbst als Multiplikator derartiger Warnungen agierte, die sich meist als nicht fundiert erwiesen, wurde nicht erwähnt. Ungeachtet der Tatsache, dass sich in Lothringen mit Sicherheit wesentlich weniger Fälle von Folter oder Erschießungen von Algeriern durch die Agenten des französischen Staates ereigneten als in Algerien selbst, ist zu konstatieren, dass die Täter sowohl auf der einen als auch auf der anderen Seite des Mittelmeers in der Regel keine gravierenden Sanktionen zu befürchten hatten oder gar straffrei blieben76 . Jenseits von Lothringen lässt sich dies anhand von zwei Gerichtsurteilen illustrieren, die um die Jahreswende 1961/1962 gefällt wurden: Im einen Fall sprach ein Pariser Militärgericht drei Militäroffiziere frei, die zugegeben hatten, eine junge Algerierin zu Tode gefoltert zu haben. Im anderen Fall wurden drei Gendarmen von einem Gericht in Avesnes-sur-Helpe zu einer Geldstrafe von jeweils 150 Franc verurteilt, nachdem sie gestanden hatten, vier Algerier unter dem Einsatz von Elektroschocks gefoltert zu haben77 . Das Ausmaß der willkürlichen Gewaltanwendung gegenüber Algeriern während des Kolonialkrieges illustrieren neben der Folter auch die in Algerien vom französischen Militär ausgiebig praktizierten Erschießungen von Häftlingen bei einem angeblichen Fluchtversuch. Bereits im Frühling 1956 erhielten die Militärs in Algerien explizit die Anweisung, auf »jeden Gefangenen oder Verdächtigen«, der versuche zu fliehen, das Feuer zu eröffnen78 . In der Folge konnte in Algerien eine Art der Hinrichtung ohne Gerichtsverfahren weite Verbreitung finden, die von französischen Militärs und von der Presse als »corvée de bois« bezeichnet wurde. Sie bestand darin, Gefangene dazu aufzufordern, loszulaufen oder ihnen eine Fluchtmöglichkeit zu suggerieren, um sie dann zu erschießen79 . In den Logbüchern der einzelnen Regimenter wurden derartige Aktionen in der Regel lediglich 76

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Raphaëlle Branche hat gezeigt, dass es zwar durchaus vorkam, dass Soldaten, die in Algerien folterten, bestraft wurden. Allerdings lassen die von ihr beschriebenen Fälle und die jeweiligen Bestrafungen keinerlei Systematik erkennen, was einmal mehr für ein hohes Maß an Willkür in diesem Zusammenhang spricht: Branche, La torture et l’armée, S. 407–410. Vidal-Naquet, La torture dans la République, S. 115. Branche, La torture et l’armée, S. 70. Ibid., S. 73.

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III. Algerische Migranten und der Kolonialkrieg

mit dem knappen Kommentar »fuyard abattu« (»Flüchtiger erschossen«) dokumentiert80 . Es ist bezeichnend für die hohe Relevanz, die der Algerienkrieg in Moselle besitzt, dass dort neben einem Fall der Folter an einem Algerier auch die Erschießung eines flüchtigen Algeriers durch einen Gendarm schriftlich nachgewiesen ist. Am 23. November 1960 erschoss der zur Brigade von Forbach gehörende Gendarm Le Grand im Wald von Schlossberg den Algerier Chenni Derradji. Der 24-jährige Chenni hatte im Lager Rosselmont81 gelebt und war angeblich separatistischer Aktivitäten im Dienste des FLN überführt worden. Dem Bericht zufolge konnte Chenni während des Verhörs aus dem Gebäude der Brigade fliehen, was eine längere Verfolgungsjagd auslöste, in deren Verlauf der Algerier der Aufforderung seiner beiden Verfolger, stehenzubleiben, nicht nachgekommen war. Erst daraufhin habe der Gendarm Le Grand Chenni niedergeschossen82 . Eine detaillierte Darstellung des Vorgangs führten die Berichte der Gendarmerie nicht auf. In einem Artikel über den Fall legte der »Républicain lorrain« den Vorgang folgendermaßen dar: Chenni sei in einem Moment der Unaufmerksamkeit der Gendarmen aus der Brigade geflohen. Auf der Flucht habe er sich seiner Schuhe entledigt, scheinbar, weil diese ihn beim Laufen gestört hätten. Sodann habe er zunächst einen Garten durchquert und sei anschließend den Hang des Schlossbergs hinaufgerannt. Die Gendarmen hätten den Flüchtigen noch durch das Geäst von Bäumen und Büschen hindurch gesehen. Nach sechs in die Luft abgegebenen Warnschüssen habe dann einer der Gendarmen den Flüchtigen mit seiner Pistole aus etwa 40 Metern Distanz in den Kopf getroffen. Kurze Zeit später sei Chenni seiner Verletzung im Krankenhaus von Forbach erlegen83 . Die Erschießung Chennis wurde auch über die lothringische Grenze hinweg im Saarland bekannt84 . Dabei wurde die Wahrhaftigkeit des dokumentierten Ablaufs weder von den französischen noch von den saarländischen Reportern in Zweifel gezogen. Sie lagen in ihrer Bewertung dieses Vorfalls voll und ganz auf einer Linie mit der Gendarmerieführung. Diese ging davon aus, dass der Gendarm keine andere Möglichkeit gehabt habe, sich der 80

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Am 3. Februar 1961 notierte etwa das Logbuch des 1er RCP bei einem Einsatz nördlich von Merouana (damals Corneille) um 13.30 Uhr: »Praliné Orange [Name einer Einheit des Regiments] en 88 E 2 [Bezeichnung des Einsatzgebiets] erschießt einen Flüchtling und verhaftet zwei Rebellen«. Die Namen der beiden Rebellen wurden notiert, der des erschossenen Flüchtigen nicht. Die genauen Umstände des Todes dieses Unbekannten werden vermutlich niemals aufgeklärt: Journal des marches et opérations du 1er régiment de parachutistes pendant la période du 1er janvier au 31 mars 1961, S. 49, SHAT 7 U 739. Siehe Teil I, Kap. 1.3.2. Message no 957/2 und Message no 961/2 du groupement de gendarmerie à Metz au préfet de la Moselle, o. D., SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 706. Le Républicain lorrain, 24. Nov. 1960. Saarbrücker Zeitung, 24. Nov. 1960.

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Person Chennis – der als »gefährliches Individuum« bezeichnet wurde – zu bemächtigen, als auf diesen zu schießen. Wie bereits im zitierten Fall von Puttelange waren sich der Befehlshaber der Gendarmerie von Moselle und die Staatsanwaltschaft von Sarreguemines darin einig, dass auch hier keinerlei Vorwürfe gegen den Gendarmen erhoben werden sollten85 . Die Versetzung Le Grands zur Brigade von Metz im darauffolgenden Monat galt zumindest offiziell nicht als Strafmaßnahme. Stattdessen begründete Gauroy, der inzwischen zum lieutenant-colonel aufgestiegen war, die Versetzung damit, dass Le Grand vor den Repressalien geschützt werden solle, die ihm algerische Separatisten in Forbach nach dem genannten Vorfall angedroht hätten86 . Aus heutiger Perspektive werfen die zitierten Berichte über die Erschießung eines flüchtigen Algeriers in einem kleinen Waldstück bei Forbach vor allem an drei Punkten Fragen auf. Erstens ist es verwunderlich, dass ein Algerier, der verdächtigt wurde, für den FLN aktiv zu sein, im Dezember 1960 entweder im Zuge eines Verhörs oder unmittelbar davor aus einer lothringischen Gendarmeriebrigade fliehen konnte. Seit fünf Jahren waren alle Gendarmen in Moselle regelmäßig und in teils dramatischer Wortwahl angewiesen worden, gegenüber »Nordafrikanern« besonders wachsam zu sein, die Priorität ihrer Aktivitäten auf den Kampf gegen den FLN zu legen, Brigaden gegen Angriffe algerischer Kommandos zu sichern und jeden verdächtigen Algerier einem besonders strengen Verhör zu unterziehen. In Anbetracht dessen erscheint es unwahrscheinlich, dass der kurz zuvor verhaftete Chenni die Brigade in Eigeninitiative offenbar ohne Handschellen verlassen und sich anschließend mit den Gendarmen eine längere Verfolgungsjagd liefern konnte. Zweitens erscheint auch die Art und Weise durchaus zweifelhaft, wie Chenni angeblich ums Leben kam. Nach heutigen Maßstäben wäre die Fähigkeit des Gendarms Le Grand, nach einer Verfolgungsjagd über mehrere Hundert Meter einen davonrennenden Menschen aus einer Distanz von etwa 40 Metern mit einer Pistole beim ersten gezielten Schuss in den Kopf zu treffen, außergewöhnlich. Aufgrund der Quellenlage bleiben die beiden Möglichkeiten, dass es sich bei dem Gendarm Le Grand um einen exzellenten Schützen, oder – so makaber das klingen mag – um einen Glückspilz handelte, zwar bestehen. Angesichts des politisch-militärischen Kontexts und der verbreiteten Methode der französischen Armee in Algerien, sich Gefangenen oder »Verdächtigen« durch die Simulation eines Fluchtversuchs zu entledigen, sind erhebliche Zweifel an der Wahrhaftigkeit der Darstellung des Falls in dem Bericht des »Républicain lorrain« durchaus angebracht. 85 86

Avis du lieutenant-colonel Gauroy, commandant le groupement de la gendarmerie de la Moselle, 3. Dez. 1960, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 736. Le lieutenant-colonel Gauroy, commandant le groupement de la gendarmerie de la Moselle, au colonel commandant de la 6e légion de gendarmerie, 3. Dez. 1960, ibid.

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III. Algerische Migranten und der Kolonialkrieg

Drittens schließlich erscheint die Darstellung des »Républicain lorrain«, Chenni habe sich auf der Flucht seiner Schuhe selbst entledigt, um schneller rennen zu können, geradezu grotesk. Dass ein Flüchtiger Ende November in Forbach geglaubt haben soll, ohne Schuhe schneller rennen zu können und aus diesem Grund den Zeitverlust in Kauf nahm, sie auszuziehen, kann als ausgeschlossen gelten. Im Hinblick darauf, dass Polizei und Gendarmerie während des Algerienkriegs bei Folterungen häufig auf die Füße der Opfer zielten, ist davon auszugehen, dass die zitierten Berichte über den Mord an Chenni keinesfalls der Realität entsprachen und die Gendarmerie die eigentlichen Umstände seines Todes verbergen wollte. Diese aus heutiger Sicht offensichtliche Verschleierung geschah unter Mitwirkung der Presse. Der Täter wurde auch hier nicht bestraft, sondern zu seinem eigenen Schutz versetzt. Dies illustriert einerseits die subalterne Position algerischer Migranten in Lothringen und andererseits die unmittelbare Präsenz des Algerienkriegs dort in besonders drastischer Form. 1.3.3 Die Menschenjagd des ersten Fallschirmjägerregiments Ohne den Kontext des Kolonialkriegs ist nicht zu verstehen, dass die als französische Staatsbürger geltenden algerischen Migranten während der späten 1950er Jahre in Lothringen von Polizisten und Gendarmen ungestraft gefoltert und sogar erschossen werden konnten. Die untersuchten Fälle verdeutlichen die Präsenz der franko-algerischen Konfliktdimension des Krieges in Lothringen in besonders eindrücklicher Weise. Freilich reichte die in Lothringen gegenüber »muslimischen Franzosen Algeriens« an den Tag gelegte Repression zwar nicht an die in Algerien heran. Dennoch ist festzustellen, dass der Krieg im deutsch-französischen Grenzgebiet in all seinen Facetten durchaus präsent war, auch wenn Lothringen anders als etwa Algier oder das Aurès-Gebirge keinen zentralen Konfliktherd, sondern einen von vielen Nebenschauplätzen des Algerienkriegs darstellte87 . Neben den Schikanen und Repressionen vonseiten der Polizei und Gendarmerie wurden Algerier in Lothringen seit dem Sommer 1961 auch in zunehmendem Maße Opfer gezielter Aggressionen französischer Soldaten. Einen entscheidenden Schritt dahin markierte die Ankunft des ersten Fallschirmjägerregiments, 1er régiment de chasseurs parachutistes (1er RCP), in Metz. Um die Auseinandersetzungen zwischen Mitgliedern dieser Einheit und Algeriern in Lothringen richtig einordnen zu können, ist es sinnvoll, zunächst einen kurzen Überblick über die Vorgeschichte des 1er RCP zu geben.

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Zu einer Einordnung der Metropole als »Hinterland« oder »zweite Front« im Algerienkrieg siehe Branche, Thénault, La France en guerre (1945–1962), S. 5–17.

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1. Polizei, Gendarmerie und Armee im Umgang mit Algeriern

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Die aus etwa 1300 Berufssoldaten und Wehrpflichtigen bestehende Eliteeinheit war seit 1955 an vordererster Front gegen die Rebellen in Algerien im Einsatz. Das 1er RCP partizipierte unter anderem an den Massakern der französischen Armee, die nach den Aufständen des 20. August 1955 im Norden des Constantinois als Maßnahmen kollektiver Bestrafung durchgeführt wurden88 . 1957 beteiligte sich das Regiment an der »großen Repression in Algier«89 . Dabei fiel das 1er RCP unter anderem durch die besonders ausgiebige Anwendung von Folter auf90 und die zentrale Rolle, die es bei dem vielbeachteten Skandal um das Verschwinden des Kommunisten und Mathematikers Maurice Audin spielte91 . Im Oktober 1958 waren die Soldaten des 1er RCP im algerisch-tunesischen Grenzgebiet im Einsatz92 . Im Mai 1958 und Januar 1960 agierten sie in Algier als Ordner bei den Demonstrationen von Algerienfranzosen gegen die neue Algerien-Politik Präsident de Gaulles93 . Darüber hinaus war das 1er RCP seit 1959 auch bei der Umsetzung des »Plan Challe« beteiligt, der darin bestand, das gesamte algerische Gebiet mit Bodentruppen ebenso minutiös wie systematisch nach Rebellen und deren Unterstützern zu durchsuchen. Noch im März 1961 waren die Soldaten im Aurès-Gebirge mit der Suche nach »Terroristen« befasst94 . Als die Männer des 1er RCP im Sommer 1961 mit algerischen Migranten in Lothringen in Berührung kamen, blickten viele von ihnen bereits auf diverse Kriegserfahrungen zurück. Aus heutiger Perspektive erscheinen drei Eigenschaften für dieses Regiment charakteristisch: Erstens zeichnete sich das 1er RCP durch einen besonders ausgeprägten Korpsgeist aus. Allen Soldaten der französischen Armee wurden die Werte Disziplin, Kameradschaft, Respekt vor Hierarchie und Patriotismus gepredigt. Dabei sind die

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Mauss-Copeaux, Algérie, 20 août 1955, S. 83.159.190. Diese Formel wurde von Gilbert Meynier eingeführt, um die implizite Verherrlichung der als bataille d’Alger bezeichneten kollektiven Repressionen der französischen Armee gegen die Zivilbevölkerung Algiers im Jahr 1957 nicht zu reproduzieren, siehe Meynier, Histoire intérieure du FLN, S. 322. Raphaëlle Branche, Sylvie Thénault, Justice et torture à Alger en 1957. Apports et limites d’un document, in: Dominique Borne, Jean-Louis Nembrini, Jean-Pierre Rioux (Hg.), Apprendre et enseigner la guerre d’Algérie et le Maghreb contemporain, Versailles 2001, S. 44–56, hier S. 47. Pierre Vidal-Naquet, L’affaire Audin, Paris 1989. Le lieutenant-colonel Cousteaux, commandant le 1er régiment de chasseurs parachutistes à monsieur le général commandant de la 10e division de parachutistes, 2. Okt. 1958, S. 2, SHAT 7 U 741. Pierre Dufour, Ier régiment de chasseurs parachutistes, Panazol 1999, S. 95.108. Siehe etwa den Bericht über die »opération Dordogne« bei Benni-Melloul, in: Journal des marches et opérations du 1er régiment de parachutistes pendant la période du 1er janvier au 31 mars 1961, S. 50, SHAT 7 U 739.

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Fallschirmjäger jedoch in besonderer Weise hervorzuheben95 . Während des Algerienkriegs setzten sich die Fallschirmjäger von anderen Soldaten schon rein optisch durch eine rote oder grüne Baskenmütze und eine Uniform im Leopardenmuster ab, die ihnen eine besondere Aura der Männlichkeit verleihen sollte96 . Die Regimenter der Fallschirmjäger pflegten darüber hinaus auch eigene Traditionen, Rituale und Gesänge97 . Jeder neue Soldat des 1er RCP wurde zunächst mit einzelnen Etappen der Geschichte des Regiments vertraut gemacht. Einige Rituale wurden vom gesamten Regiment, andere von den einzelnen Kompanien gepflegt, die jeweils nach Farben benannt wurden und bei den Einsätzen meist unterschiedliche Missionen zu erfüllen hatten. Das Gefühl der Einheit wurde somit durch Symbole, aber auch durch die Erfahrung einer gegenseitigen Abhängigkeit bei den zahlreichen Kampfeinsätzen und Trainingseinheiten gestärkt98 . Zweitens mussten die Soldaten des 1er RCP als Teil einer Elitetruppe im Kampfeinsatz auch eine gewisse Gewaltaffinität an den Tag legen. Die martialischen Gesänge der französischen Fallschirmjäger, wie etwa das »Gebet des Fallschirmjägers« (»Prière du para«99 ), leisteten einer Verherrlichung der Gewalt Vorschub, indem diese als unausweichlich und in der Form eines ehrenhaften Einsatzes auch als erstrebenswert dargestellt wurde. Dem Kampfeinsatz wurde die Funktion einer moralischen Reinigung zugesprochen, was der Anrufung einer verschworenen Kriegergemeinschaft gleichkam100 . So intervenierte etwa der Chef des Regiments bei der Führung 95

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Am Beispiel des 1er RCP ließe sich gut illustrieren, was Wencke Meteling als »Regimentsideologie« bezeichnet hat, die die Mitglieder eines Regiments und deren Familienmitglieder wie eine große Familie zusammenschweißen sollte: Wencke Meteling, Regimentsideologien in Frankreich und Deutschland, 1870–1920, in: Jörg Echternkamp, Stefan Martens (Hg.), Militär in Deutschland und Frankreich 1870– 2010. Vergleich, Verflechtung und Wahrnehmung zwischen Konflikt und Kooperation, Paderborn 2011, S. 25–48, hier S. 29. Branche, La masculinité. Maurice Vaïsse, Alger. Le Putsch, Brüssel 1983, S. 57–59. Die während des Algerienkrieges verfassten Logbücher des 1er RCP vermitteln den Eindruck, die Truppe sei fast durchgängig in Aktion gewesen. In seiner Geschichte des 1er RCP wies Pierre Dufour etwa auf die »Kompanie Schwarz« hin, die im Laufe des Jahres 1959 263 Einsatztage, außerdem 19 Tage zur »Aufrechterhaltung der Ordnung« in Algier sowie 69 Tage in einem Lehrgang im Cap-Matifou gezählt habe: Dufour, Ier régiment de chasseurs parachutistes, S. 108. Der Text des Liedes, von dem lieutenant André Zirnheld um 1943 verfasst, war gewissermaßen eine Ode an den Kriegseinsatz und wurde häufig von verschiedenen Regimentern der Fallschirmjäger bei festlichen Anlässen oder bei Trauerfällen rezitiert: http://www.defense.gouv.fr/actualites/articles/la-priere-du-para (Zugriff 20.6.2019). Dies bestätigte ein ehemaliger Unteroffizier, der während des Algerienkrieges mit dem 1er RCP in Algerien im Einsatz war, gegenüber dem Autor: »Wenn Sie so wollen, der Fallschirmjäger, das Regiment vor allem, mag nicht unbedingt den Krieg. Aber er mag die Rauferei«, Telefongespräch des Autors mit dem 1931 geborenen Marcel Party am 13. Februar 2015. Marcel Party war zwischen 1957 und 1961 mit dem 1er RCP in Algerien im Einsatz und auch während der Nacht vom 23. auf den 24. Juli 1961 in Metz dabei,

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seiner übergeordneten Division im Oktober 1958, um die Verlegung seiner Truppe in ein Kampfgebiet zu erreichen, was die Stimmung innerhalb des 1er RCP heben sollte101 . Zwischen 1955 und 1961 waren die Soldaten des Regiments fast ständig im Einsatz. Diejenigen, die sich mit dem harten Training oder der Anspannung im Zuge der Einsätze überfordert sahen, wurden in der Regel an eine andere Einheit verwiesen102 . Nach den Vorstellungen der Offiziere des 1er RCP ging es stets darum, eine Truppe ebenso disziplinierter wie entschiedener Soldaten zu unterhalten, die den Kampfeinsatz zu keinem Zeitpunkt scheuten103 . Aus dieser Hingabe zum Kampfeinsatz ergab sich eine dritte charakteristische Eigenschaft des 1er RCP, nämlich ein unbedingter Siegeswille, der hier gleichbedeutend mit dem Bestreben war, die »Algérie française« zu erhalten. Während des gesamten Krieges wurde die Truppe des Regiments vonseiten der Offiziere nicht nur über die Methoden, sondern auch den Sinn ihrer Mission instruiert104 . Das Anliegen, die Auseinandersetzung mit dem algerischen Separatismus zugunsten Frankreichs zu entscheiden, nährte sich auch aus der Glorifizierung der Geschichte jener 1943 in Marokko gegründeten Einheit. Die Ursprünge des 1er RCP und die Anfänge des Kampfes des Regiments gegen die deutsche Besatzung lagen in Nordafrika. Schließlich waren zahlreiche Offiziere und Unteroffiziere des 1er RCP Algerienfranzosen oder mit einer Algerienfranzösin verheiratet105 . Nach dem langjährigen Kampfeinsatz des 1er RCP gegen die algerischen Rebellen, der von einer umfassenden politischen Indoktrinierung begleitet war, löste die von Präsident de Gaulle im September 1959 in Aussicht gestellte Möglichkeit der Unabhängigkeit Algeriens innerhalb des Regiments eine große Frustration aus. Dies bewegte den Chef des Regiments, Plassard, im April 1961 dazu, sich den vier Generälen Salan, Challe, Zeller und Jouhaud anzuschließen, die von Algier aus einen Putschversuch gegen die keine drei Jahre alte V. Republik unternahmen106 . Nach dem Scheitern des Putsches wurde das 1er RCP einer Reihe von Strafmaßnahmen unterzogen: Mehrere Offiziere

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konnte dem Autor über die Vorgänge in jener Nacht jedoch keine weiterführenden Auskünfte geben. Le lieutenant-colonel Cousteaux, commandant le 1er régiment de chasseurs parachutistes à monsieur le général commandant de la 10e division de parachutistes, 2. Okt. 1958, S. 3, SHAT 7 U 741. Siehe dazu den Bericht des Capitaine Assemat, commandant l’escadron de reconnaissance du 1er RCP, 31. März 1956, S. 9, ibid. Ibid., S. 11. Dies illustriert bspw. eine im November 1959 gehaltene Ansprache des colonel Costaux an die Truppe des 1er RCP, in der er alle dazu aufrief, sich stets dafür zu engagieren, dass Algerien französisch bleiben und noch französischer werden sollte: Journal de marche officiel du 1er RCP, 1. Okt.–31. Dez. 1959, S. 37, SHAT 7 U 738. Telefongespräch des Autors mit Marcel Party am 13. Februar 2015. Siehe diesbezüglich die Erfahrungsberichte ehemaliger Mitglieder des 1er RCP, http:// www.hemaridron.com/le-1er-rcp-et-le-putsch-des-generaux.html (Zugriff 20.6.2019).

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wurden versetzt und das Regiment einem neuen Chef, dem lieutenant-colonel Lafontaine, unterstellt107 . Zudem wurde die Einheit an eine neue Division angegliedert und in die Metropole versetzt. So kam es, dass die Soldaten des 1er RCP am 8. Juli 1961 gegen 23.30 Uhr am Bahnhof von Metz eintrafen. Noch in dieser Nacht konnten die Bewohner der lothringischen Stadt »Algérie française«-Schreie aus den Lastwagen hören, welche die zuvor in Philippeville (Skikda) stationierte Truppe in ihre neue Kaserne Serette in Moulins-lès-Metz brachten108 . Fast unmittelbar nach der Ankunft des 1er RCP in Metz wurden bereits erste Übergriffe von Mitgliedern dieser Einheit auf Algerier vermerkt. Am 9. Juli verletzten fünf Fallschirmjäger zwei Algerier in der Stadt am Kopf und an der Brust. Am Abend darauf wurde ein weiterer Algerier von mehreren Fallschirmjägern auf der Straße mit einem Gürtel misshandelt. Ein weiterer Algerier musste ins Krankenhaus gebracht werden, nachdem er von einer Gruppe von Fallschirmjägern zusammengeschlagen worden war. Am 16. Juli griffen vier Fallschirmjäger einen Algerier an, der sich alleine im Café de la Poste aufhielt, woraufhin auch er ins Krankenhaus eingeliefert wurde. In der gleichen Nacht wurde ein Offizier von einer Gruppe von Algeriern angegriffen109 . Während sich die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen französischen Militärs und Algeriern in Metz häuften, schien es kurzzeitig so, als könnte das 1er RCP wieder nach Nordafrika verlegt werden. Aufgrund der Auseinandersetzungen zwischen Frankreich und Tunesien um die Rechte an der Militärbasis Bizerte wurden 600 Mann des 1er RCP am 19. Juli in Alarmbereitschaft versetzt. Am 21. Juli wurden sie bewaffnet und auf den Militärflughafen von Metz-Frescaty gebracht. Erst am Abend des 22. Juli wurde der Alarmzustand definitiv aufgehoben und die gesamte Einheit wieder in die Kaserne gebracht110 . Am nächsten Morgen berichtete die regionale Presse über zwei Morde an Algeriern in Nancy, die auf offener Straße von Fallschirmjägern begangen worden waren, die der gleichen Division angehörten wie das 1er RCP111 . Unmittelbar nach dem abgesagten Militäreinsatz des 1er RCP in Tunesien und den beiden Morden in Nancy gipfelten die gewalttätigen Übergriffe französischer Fallschirmjäger auf algerische Migranten in Lothringen während der Nacht vom 23. auf den 24. Juli 1961 in einer Hetzjagd gegen Algerier. Dabei spielte das 1er RCP eine entscheidende Rolle. Trotz einiger Lücken in

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Journal des marches et opérations du 1er régiment de parachutistes pendant la période du 1er juillet au 31 décembre 1961, S. 3f., SHAT 7 U 739. RG de Metz, rapport, 24. Juli 1961, S. 2, AdM 370 W 71. Le préfet de la Moselle, inspecteur général en mission extraordinaire à monsieur le ministre de l’Intérieur, 24. Juli 1961, S. 3, ibid. Journal des marches et opérations du 1er régiment de parachutistes pendant la période du 1er juillet au 31 décembre 1961, S. 10–12, SHAT 7 U 739. Le Républicain lorrain, 23. Juli 1961.

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der Überlieferung112 lässt sich dieser Fall von ebenso massiver wie willkürlicher Anwendung von Gewalt gegenüber algerischen Migranten in Lothringen relativ ausführlich dokumentieren. Dies ist auf den spektakulären Charakter des Ereignisses zurückzuführen, das in ausführlichen Berichten der PJ113 und der Gendarmerie rekonstruiert wurde114 . Am Abend des 22. Juli, einem Samstag, kam es in der Tanzbar Le Trianon in der Rue Pont-à-Mousson in Montigny-lès-Metz zwischen Mitgliedern der in Metz stationierten Einheit 1er groupe de livraison par air (1er GLA) und einigen Algeriern zu einer Schlägerei115 . Der Soldat Henri Bernaz trug dabei eine Verletzung an der Hand davon. Die Polizei wurde nicht verständigt. Am darauffolgenden Abend begab sich eine große Gruppe von Soldaten erneut zum Trianon; sie hatten den Angaben der RG zufolge die Absicht, den »Nordafrikanern« vom Vorabend eine Lektion zu erteilen116 . Auch Henri Bernaz war wieder anwesend. Gegen 22.30 Uhr versuchte Bernaz, innerhalb der Tanzbar eines Algeriers habhaft zu werden, den er mit der Auseinandersetzung des Vorabends in Verbindung brachte. Dieser schaffte es jedoch, sich Bernaz zu entziehen und verließ das Trianon fluchtartig. Während mehrere Fallschirmjäger die Verfolgung des Algeriers aufnahmen, blieb Bernaz vor dem Eingang des Trianon stehen und richtete seine Aufmerksamkeit auf eine kleine Gruppe Algerier, die sich auf der anderen Straßenseite befand. Die Algerier versuchten, sich zu entfernen, als Bernaz und zwei weitere Soldaten sich ihnen näherten. Als die Militärs zwei der Algerier nach wenigen Metern 112

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Besonders bemerkenswert ist, dass im Stadtarchiv von Metz keine einzige Quelle zu dem Fall überliefert ist. Die Berichte über Versammlungen des Stadtrats sind im Archiv nach Monaten unterteilt und für den Zeitraum des Algerienkrieges vollständig vorhanden. Die einzige Ausnahme stellt der Monat Juli 1961 dar. Daher ist davon auszugehen, dass Archivmaterial zu der Menschenjagd der Fallschirmjäger in Metz gezielt unterschlagen oder gar zerstört wurde. Über die Vernichtung von Archivmaterial während und nach dem Algerienkrieg siehe Branche, La guerre d’Algérie, S. 176f. Rapport par Gérard Polit, officier de police principal du détachement de Metz de la 16e brigade régionale de PJ, 12. Okt. 1961, AdM 370 W 71. Dieser Bericht stellt aufgrund seiner Ausführlichkeit eine Schlüsselquelle für das genauere Verständnis der Menschenjagd von Metz dar. Erst im Zuge einer Gedenkveranstaltung, des »collectif juillet 61« in Metz am 23. Juli 2016, konnte der Autor mehrere Personen kontaktieren, die das Ereignis miterlebt hatten und sich bereit erklärten, darüber zu berichten; die Zeitzeugengespräche fanden bisher nicht statt. Zuvor hatten es mehrere Algerier wie auch Fallschirmjäger, die die Nacht vom 23. Juli 1961 miterlebt hatten, abgelehnt, mit dem Autor über ihre Erfahrungen zu sprechen. Rapport du lieutenant-colonel Gauroy, commandant le groupement de gendarmerie de la Moselle, 25. Juli 1961, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 738. Die einzelnen Orte der nachfolgenden Auseinandersetzungen sind auf einer Onlinekarte aufgeführt, die mit freundlicher Unterstützung des Kartografiebüros von Sciences Po Paris erstellt werden konnte, siehe https://www.histoire-politique.fr/index.php? numero=32&rub=dossier&item=303 (Zugriff 20.6.2019). Rapport par Gérard Polit, officier de police principal du détachement de Metz de la 16e brigade régionale de PJ, 12. Okt. 1961, S. 8, AdM 370 W 71.

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lautstark aufforderten, stehenzubleiben, drehten diese sich um, zogen jeweils eine Pistole und gaben mehrere Schüsse ab. Bernaz wurde mitten ins Gesicht getroffen und war sofort tot. Die beiden anderen Soldaten erlitten Schussverletzungen117 . Bei ihrer anschließenden Flucht stießen die beiden Schützen auf die Fallschirmjäger, die den zuvor aus der Kneipe geflüchteten Algerier vergeblich verfolgt hatten und nun zurückgekehrt waren. Die Algerier gaben erneut mehrere Schüsse ab und verletzten fünf Fallschirmjäger118 , darunter Francis Soro, caporal des 1er RCP, der am gleichen Abend seinen Verletzungen erlag. Die Reaktion der Fallschirmjäger auf die Schießerei vor dem Trianon erfolgte umgehend. Gleich einem Akt der kollektiven Bestrafung zogen etwa 300 von ihnen in größeren Gruppen verteilt zu Fuß und mit Lastwagen durch die Stadt und griffen scheinbar wahllos alle Personen an, die ihnen begegneten und nach ihrer Auffassung wie Algerier aussahen. Gegen 23 Uhr drangen etwa 30 Fallschirmjäger mit leeren Flaschen und Stöcken bewaffnet in ein französisch-marokkanisches Café in der Rue Pasteur ein und verletzten mehrere Gäste. Drei von ihnen mussten danach ins Krankenhaus eingeliefert werden119 . Indessen befand sich eine weitere Gruppe von etwa 150 Fallschirmjägern vor dem Hauptbahnhof der Stadt. Diese drangen in das Bahnhofsrestaurant ein, schlugen dort mehrere Gäste zusammen, darunter einen Italiener, und zerstörten einen großen Anteil des Geschirrs und des Mobiliars. Eine weitere Gruppe von etwa 100 Fallschirmjägern begab sich zur gleichen Zeit in das Viertel Pontiffroy, wo ein großer Teil der Algerier der Stadt lebte120 . Etwa eine halbe Stunde vor Mitternacht wurden in Pontiffroy in der Rue des Jardins, der Rue du Pont-Saint-Georges und der Rue du Pontiffroy mehrere Angriffe auf Algerier registriert. Um 1 Uhr morgens wurde der Algerier Embarek ben Slimane Aougeb durch mehrere Schüsse in der Rue Gambetta tödlich verletzt121 . Eine halbe Stunde später hielt eine Gruppe Fallschirmjäger, die auf einem Lastwagen fuhr, in der Rue du Pontiffroy zwei Journalisten auf. Auf die Weigerung der Reporter hin, den Militärs ihre Kameras auszuhändigen, nahmen die Fallschirmjäger sie kurzerhand fest und brachten sie auf das Polizeikommissariat122 . Die Menschenjagd setzte sich noch mindestens bis 2.30 Uhr morgens fort. Um diese Uhrzeit erlitt ein Algerier in der

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Ibid. Ibid., S. 9. Le commissaire de police Octave Brevière, chargé du 6e arrondissement, à monsieur le commissaire central à Metz, 24. Juli 1961, S. 2, AdM 370 W 71. RG de Metz, rapport, 24. Juli 1961, S. 2, ibid. Le commissaire de police Octave Brevière, chargé du 6e arrondissement, à monsieur le commissaire central à Metz, 24. Juli 1961, S. 2. Dieser Bericht deckt sich mit der Version der RG: RG de Metz, rapport, 24. Juli 1961, ibid. Le Républicain lorrain, 25. Juli 1961.

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Rue du Pontiffroy mehrere Schusswunden, während ein weiterer von einigen Fallschirmjägern in die Mosel geworfen wurde123 . Die offizielle Bilanz der Gendarmerie für die Nacht vom 23. auf den 24. Juli 1961 in Metz umfasste vier Tote, davon zwei Fallschirmjäger, einen »französischen Zivillisten« – es handelte sich um den Barkeeper des Trianon, der von einem Querschläger getroffen worden war – sowie einen FSNA. Unter den 28 registrierten Verletzten führte der Bericht der Gendarmerie acht Fallschirmjäger, 17 FSNA und drei Zivilisten auf124 . Zwei Auffälligkeiten dieser Bilanz sind hervorzuheben. Erstens ist davon auszugehen, dass die Anzahl der Verletzten mit aller Wahrscheinlichkeit deutlich höher war. Die Zeitung »France Soir« etwa ging von etwa 40 Verletzten aus125 , während die Fédération mosellane de la Ligue des droits de l’homme gar von 80 bis 100 verletzten Algeriern ausging. Zur Begründung dieser Schätzung wies die Organisation darauf hin, dass viele verletzte Algerier nicht in den Krankenhäusern von Metz registriert wurden, da sie entweder beim Empfang abgelehnt worden seien oder es vorgezogen hätten, jeden Kontakt mit den französischen Behörden zu vermeiden126 . Aufgrund der Dauer der Ausschreitungen und der hohen Anzahl der Fallschirmjäger ist anzunehmen, dass die letztgenannte Bilanz am realistischsten ist. Zweitens ist an der Bilanz der Gendarmerie zu der Nacht von Metz auffällig, dass sie ebenso wie der entsprechende Bericht der RG zwischen »Zivilisten« beziehungsweise »französischen Zivilisten« und »FSNA« beziehungsweise »Nordafrikanern« differenzierte127 . Dies illustriert nicht nur den faktischen Sonderstatus von Algeriern als »citoyens à part«, sondern legt auch die Vermutung nahe, dass die zuständigen Ordnungskräfte zumindest implizit von einem Kriegsszenario zwischen mindestens zwei Kollektiven in Metz ausgingen. Dabei standen auf der einen Seite »die Algerier« und auf der anderen Seite die französischen Militärs, während alle übrigen Personen als Zivilisten galten, die Gefahr liefen, zwischen die Fronten zu geraten. Aus dieser Perspektive galt das imaginierte Kollektiv »Algerier« beziehungsweise »Nordafrikaner« oder FSNA in seiner Gesamtheit nicht nur als verdächtig, den Separatismus zu unterstützen, sondern gar als innerer Feind. 123 124 125 126

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RG de Metz, rapport, 24. Juli 1961, S. 3, AdM 370 W 71. Rapport du lieutenant-colonel Gauroy, commandant le groupement de gendarmerie de la Moselle, 25. Juli 1961, S. 2, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 738. France Soir, 25. Juli 1961. Secrétariat de la Ligue des droits de l’homme (Föderation Moselle): compte rendu concernant la »sanglante nuit de Metz«, 24.–25. Juli 1961, S. 4, datiert 2. Aug. 1961, Privatarchiv Gilles Manceron. Le commissaire central à monsieur le préfet de la Moselle, inspecteur général de l’administration en mission extraordinaire pour la 6e région, 24. Juli 1961; RG de Metz, rapport, 24. Juli 1961, S. 3, AdM 370 W 71; Rapport du lieutenant-colonel Gauroy, commandant le groupement de gendarmerie de la Moselle, 25. Juli 1961, S. 2, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 738.

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Dass Algerier in Metz von vielen Bewohnern im Juli 1961 als innerer Feind angesehen wurden, legen auch die unmittelbaren Reaktionen auf die Menschenjagd vom 23. Juli nahe. Die RG machten diesbezüglich vier Hauptströmungen aus. Demnach verurteilte lediglich eine kleine Minderheit die Gewalt der Fallschirmjäger oder forderte gar die Auflösung der Einheit128 . Diese Ansicht stand in einem deutlichen Gegensatz zu der anderer Zivilisten, die nach Angaben der RG offene Sympathie für das Vorgehen der Militärs manifestiert und diese in der besagten Nacht teilweise sogar angefeuert und mit dem Auto herumgefahren hätten129 . Es wurde also infolge der Menschenjagd eine öffentliche Hetze gegen alle Algerier betrieben, wie der Artikel eines ehemaligen Redakteurs des »Républicain lorrain«, Jean-Marie Louis Thirion130 , zu illustrieren vermag. Dieser sprach sich am 27. Juli zunächst in der Metzer Zeitschrift »Chandide« und drei Tage später in der Zeitung »La Voix lorraine« dafür aus, dem 1er RCP für die »seconde bataille de Metz«131 zu danken, während die Algerier allesamt verjagt oder weggesperrt werden sollten: Man organisiere Massenverhaftungen!132 Sie sollen nach Hause geschickt werden, wenn sie uns bei uns nicht in Ruhe lassen wollen. Oder besser, solange dieser Bürgerkrieg nicht beendet ist, sollte man sie in Lager einsperren, sei es, um es ihnen zu ermöglichen, einen ehrenhaften Beruf unter dem Schutz der Armee auszuüben, sei es, um zu verhindern, dass sie Schaden anrichten, und zwar bis zur Endlösung [»résolution finale«] des schwierigen maghrebinischen Problems. Man darf nicht mehr hinnehmen, dass sie innerhalb oder außerhalb der Gefängnisse die Existenz der anständigen Bürger vergiften133 .

Zwischen den beiden Strömungen, die harte Konsequenzen gegenüber allen Algeriern beziehungsweise gegenüber dem 1er RCP forderten, glaubten die RG noch eine dritte Bewertung ausmachen zu können. Demnach befürwortete zwar eine Mehrheit der Bevölkerung von Metz das Ausmaß der Aggression der Fallschirmjäger nicht, sah aber die Algerier dennoch als Bedrohung an, die 128 129 130

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Le commissaire principal des RG de Metz à monsieur le préfet de la Moselle – IGAME, 29. Juli 1961, S. 1, AdM 370 W 71. Ibid., S. 3. Thirion war Jahrgang 1926. Er hatte bis 1960 als Journalist unter anderem beim »Républicain lorrain« gearbeitet. Anschließend war er als Zeichner bei dem Verlag »Le Lorrain« in Metz angestellt. Der Kabinettschef des Präfekten von Moselle ging davon aus, dass Thirion von der Führung des 1er RCP zum Schreiben des im Folgenden zitierten Artikels angestiftet wurde: Note, 29. Juli 1961, im Anhang zu: Préfecture de la Moselle, le sous-préfet, directeur du cabinet [Name unlesbar], note pour monsieur le préfet, 30. Juli 1961, S. 3, AdM 370 W 1. Mit dieser zweifellos an die bataille d’Alger angelehnte Benennung der Menschenjagd von Metz unterstellte der Autor, dass der FLN bereits eine erste bataille de Metz geführt habe, in deren Verlauf sich die Organisation sämtliche Algerier der Stadt untergeordnet habe: Chandide, 27. Juli 1961, ibid. Im Originialtext ist von rafles die Rede. Zur historischen Einordnung und der aktuellen Deutung dieses Begriffs vgl. Emmanuel Blanchard, Ce que rafler veut dire, in: Plein droit 81 (2009), S. 3–6. La Voix lorraine, 30. Juli 1961, AdM 370 W 1.

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es einzudämmen gelte. Als exemplarisch für diese Haltung wurde die Position angeführt, die die meisten Einzelhändler vertraten: Die sehr große Mehrheit der Einzelhändler sieht die Ankunft der Fallschirmjäger positiv, denn in Metz herrschte seit mehreren Monaten ein Klima der Unsicherheit (Diebstähle, nächtliche Angriffe durch viele Nordafrikaner). Die Polizei, die im Rahmen der Gesetze handeln muss, war nicht in der Lage, die Ordnung wieder herzustellen. Nach der spontanen, wenn auch brutalen Reaktion der Fallschirmjäger ist zu erwarten, dass die Nordafrikaner nicht mehr die »Herren« der Straße sind, wenn der Abend einmal angebrochen ist. Diese Reaktion wurde und wird nach wie vor von der Bevölkerung ausführlich thematisiert, und fast immer in einem positiven Sinne gegenüber den Fallschirmjägern134 .

Schließlich resümierten die RG bezüglich der Reaktion der Algerier in Metz auf die Nacht des 23. Juli, dass »die Nordafrikaner« zutiefst verängstigt seien und insbesondere »wirklich Angst« vor den Fallschirmjägern hätten135 . Die von der Präfektur im Anschluss an die Menschenjagd von Metz getroffenen Maßnahmen erwecken den Eindruck, als habe sich die Hauptstadt des Departements Moselle im Kriegszustand befunden. Die Polizeikräfte wurden um etwa 200 Mann vestärkt136 und die Stadt in drei Bezirke der Überwachung unterteilt. Sie unterlagen jeweils der Verantwortung einer Schwadron der gendarmerie mobile, einer CRS und der Stadtpolizei, die die Anweisung erhielten, unter der Woche zwischen 18 und 1 Uhr und an Wochenenden bis 3 Uhr morgens ununterbrochen zu patrouillieren. In Ergänzung dazu wurden »gemischte Patrouillen« gebildet, bestehend aus einem Polizisten und drei Militärs, darunter zwei Fallschirmjäger. Sie erhielten die Anweisung, »ununterbrochen« durch alle Straßen der Stadt zu fahren137 . Nach Mitternacht sollte jede Person und jedes Fahrzeug kontrolliert werden138 . Dass das Überwachungskonzept der Polizei auch akribisch umgesetzt wurde, zeigt eine Bilanz der Personenkontrollen, die in Metz knapp einen Monat nach der Menschenjagd der Fallschirmjäger durchgeführt wurden. Am Abend des 19. August 1961 kontrollierten in der Hauptstadt des Departements Moselle zwischen 18 Uhr abends und 1 Uhr morgens 95 Patrouillen 48 Fahrzeuge und insgesamt 463 Personen, darunter 197 »Nordafrikaner«139 . Der hohe Anteil der Algerier unter den kontrollierten Personen erklärt sich durch die generelle Vorgabe, »alle verdächtigen Personen [. . . ] und insbesondere die Nordafrikaner« zu kontrollieren140 . Es ist davon auszugehen, dass die Anzahl der polizeilich kontrollierten Personen und insbesondere der Algerier in Metz 134 135 136 137 138 139 140

Le commissaire principal des RG de Metz à monsieur le préfet de la Moselle – IGAME –, 29. Juli 1961, S. 3, AdM 370 W 71. RG de Metz, rapport, 24. Juli 1961, S. 4, ibid. Note pour M. le préfet par le directeur du cabinet, 26. Juli 1961, ibid. Le préfet de la Moselle, inspecteur général en mission extraordinaire à monsieur le ministre de l’Intérieur, 27. Juli 1961, S. 1, ibid. Note de service du commissaire central de Metz, 26. Juli 1961, S. 3, ibid. Rapport journalier par le commissaire central de Metz, 21. Aug. 1961, S. 8, ibid. Note de service du commissaire central de Metz, 26. Juli 1961, S. 2, ibid.

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während der ersten Tage unmittelbar nach dem 23. Juli 1961 noch deutlich höher lag. Als weitere Folge der Menschenjagd des 1er RCP wurde sogar eine neuartige Segregation des urbanen Raums vorgenommen, die sich an den Wohnorten der meisten Algerier der Stadt orientierte. Es bleibt jedoch unklar, ob diese Maßnahme auf eine Initiative der Präfektur oder der Stadt Metz zurückging. Am 26. Juli 1961 wurden in den Eingängen mehrerer Straßen der Altstadt von Metz und des Pontiffroy rote Schilder aufgestellt, die ein Zugangsverbot für Soldaten signalisieren sollten141 . Angesichts der Stimmung, die zu diesem Zeitpunkt in der Stadt herrschte, dem Ausmaß der Patrouillen, die ein besonderes Augenmerk auf »Nordafrikaner« haben sollten und an denen sich auch Fallschirmjäger beteiligten, kam die Aufstellung dieser Schilder einer Einrichtung von Schutzzonen für Algerier gleich. Bereits am 27. Juli notierte der Zentralkommissar von Metz, dass die Algerier der Stadt es vermeiden würden, die beschilderten Bereiche zu verlassen142 . Die massive Präsenz der Polizei in Metz und die besonderen Vorgaben zur Überwachung des städtischen Raums wurden erst im Februar 1962 wieder auf das Niveau vor dem 23. Juli 1961 reduziert143 . Im September 1962 verlegte das 1er RCP dann seinen Standort in die Pyrenäen nach Pau. Die neuen roten Schilder wurden jedoch schon weniger als eine Woche nach ihrer Installation wieder entfernt144 . Den Anlass dazu gaben Proteste von Einzelhändlern in den besagten Vierteln, hier sei der Grundstein für ein »arabisches Ghetto« gelegt worden. Der gleichen Logik wie die zitierten Bilanzen von Gendarmerie und RG zu der Menschenjagd von Metz folgend, fragte der »Republicain lorrain« diesbezüglich: »Wenn man den den Militärs den Zugang zu bestimmten Straßen verweigert, wird man dann nicht auch die Zivilisten davon fernhalten?«145 Die Menschenjagd von Metz stellte lediglich den Höhepunkt, nicht den Schlusspunkt willkürlicher Gewaltanwendung französischer Fallschirmjäger gegenüber algerischen Migranten während des Algerienkriegs in Lothringen dar146 . Über die Gründe, warum weder Polizei noch Gendarmerie oder CRS 141 142

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Ibid., S. 1. Le commissaire central à monsieur le préfet de la Moselle, inspecteur général de l’administration en mission extraordinaire pour la 6e région, 27. Juli 1961, S. 1, AdM 370 W 71. Note de service par le commissariat central de la circonscription de Metz, 15. Feb. 1962, ibid. Le Républicain lorrain, 29. Juli 1961. Ibid., 28. Juli 1961. In den Archiven der Gendarmerie und der Präfektur von Moselle sind diesbezüglich noch mehrere Einzelfälle dokumentiert. Zur Illustration sei einer davon angeführt: Einem Bericht der Gendarmerie zufolge waren die beiden Algerier Daoud Djaber und Saouchi Lakdar am 6. August 1961 gegen 21 Uhr auf einer Straße zwischen Lemberg und Goetzenbrück unterwegs. Sie wurden von zwei Fallschirmjägern angegriffen, die seit dem 5. August in Bitche stationiert waren, und dabei »leicht verletzt«. Im Zuge

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1. Polizei, Gendarmerie und Armee im Umgang mit Algeriern

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während der Nacht des 23. Juli 1961 versuchten, die Fallschirmjäger aufzuhalten, können beim aktuellen Stand der Forschung nur Vermutungen angestellt werden. Ermittlungen zu dieser Frage wurden entweder nicht angestellt oder sie sind bis heute nicht überliefert. Dieser Fall illustriert somit besonders umfassend die hohe Gefahr für Algerier in Lothringen, während des Unabhängigkeitskriegs Opfer willkürlicher Gewalthandlungen zu werden. In den Jahren 1958 bis 1962 zeigte sich die französisch-algerische Konfliktdimension des Algerienkriegs in all ihren Facetten auch in Lothringen. Die von Polizei und Gendarmerie durchgeführten Kontrollen und Einschüchterungen von Algeriern wurden als standardisierte Maßnahme auch quantifizierbar gemacht und gerieten zum Selbstzweck. Parallel dazu wurde die kolonialistisch motivierte Repression derart gesteigert, dass Algerier zu Opfern von Folter und Mord werden konnten, ohne dass dies besondere Konsequenzen nach sich ziehen musste. Offensichtlich wurde etwa die Anweisung, als verdächtig eingestufte Algerier »besonders strengen Verhören« zu unterziehen, von einigen Beamten so verstanden, dass sie Carte blanche im direkten Umgang mit Algeriern hatten. Schließlich erreichte die Repression gegenüber Algeriern in Lothringen mit der Ankunft der Elitekämpfer des 1er RCP in Metz eine neue Qualität. Im Zuge der Menschenjagd von Metz liefen die Algerier der Stadt zunächst Gefahr, den Schlägen und Kugeln einer Truppe frustrierter Elitekämpfer zum Opfer zu fallen, die sich kurz zuvor noch vier putschenden Generälen angedient hatten, um den kolonialen Status quo in Algerien zu erhalten. Dabei wurde den offiziell als französische Staatsbürger geltenden Algeriern keinerlei Schutz vonseiten der Polizei oder der Gendarmerie zuteil. Vielmehr wurden sie unmittelbar infolge der Menschenjagd von Metz als Kollektiv in noch stärkerem Maße kontrolliert und waren in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkter als zuvor.

der anschließenden Ermittlungen, die auf eine anonyme Anzeige »nordafrikanischer Soldaten« hin erfolgt war, konnten die beiden Täter zwar ermittelt werden, zu einem Verfahren kam es jedoch nicht. Als Begründung führte der Bericht an, dass alle Beteiligten unterschiedliche Versionen des Vorfalls geliefert hätten: Message no 627/ 4 und Message no 633/ 4 du commandant du groupement de gendarmerie de la Moselle au préfet de la Moselle, o. D., SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 738.

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2. Der Überlebenskampf des MNA im lothringischen Grenzgebiet Im Laufe des Jahres 1958 schienen die Machtverhältnisse zwischen MNA und FLN in der Metropole endgültig geklärt. Aus der Sicht vieler Beobachter stand die Bewegung Messali Hadjs kurz vor ihrem Untergang. Daher war es für die meisten Beobachter umso überraschender, dass MNA und USTA 1959 einen kurzzeitigen Wiederaufstieg erlebten, der sich auch in Lothringen manifestierte. Das folgende Kapitel beleuchtet zunächst die Gründe für den weiteren Niedergang der Messalisten in Lothringen im Jahr 1958, woraufhin die wichtigsten Faktoren für die erneuten Machtgewinne des MNA seit dem darauffolgenden Jahr erörtert werden. Beide Entwicklungen verliefen keineswegs einheitlich und konnten von der Führung der Bewegung nur zum Teil beeinflusst werden.

2.1. Der Wiederaufstieg von MNA und USTA im Windschatten des »Antiterrorkampfs« Zu Beginn des Jahres 1958 befand sich der Einfluss des MNA sowohl in Lothringen als auch in den übrigen Teilen Frankreichs im Sinkflug. Abgesehen vom Nord-Pas-de-Calais und wenigen lokalen Bastionen, wie etwa dem industriellen Becken von Longwy, hatten seit zwei Jahren immer mehr Algerier den Messalisten den Rücken zugekehrt, um sich dem FLN zuzuwenden. Den Hintergrund und zugleich einen wichtigen Motor dieser Entwicklung stellten auf der einen Seite die militärischen und diplomatischen Erfolge des FLN dar sowie auf der anderen Seite die eher zögerliche und zunehmend an Frankreich orientierte politische Haltung des MNA. Dem politischen Einfluss der Messalisten setzte besonders zu, dass sie trotz aller propagandistischen Bemühungen das Gerücht nicht ausräumen konnten, ihre Bewegung stehe im Dienst des französischen Kolonialismus. Dieser Vorwurf erhielt im Dezember 1957 neuen Auftrieb, als französische Medien verkündeten, der »General des MNA«, Mohammed Bellounis, habe sich selbst und seine etwa 2500 Mann in den Dienst der französischen Armee gestellt. Dass Bellounis1 , der langjährige Gefährte Messali Hadjs, ein militärisches Bündnis ohne politische Verpflichtungen mit der französischen Armee eingegangen war, das nur die gemeinsame Feindschaft gegenüber dem FLN sowie umfassende Waffenlieferungen 1

Der 1912 geborene Mohammed Bellounis war bereits 1938 in den PPA eingetreten. Seit Beginn des Algerienkrieges führte er mehrere Gruppen messalistischer Guerillakämpfer in Algerien an: Stora, Dictionnaire biographique de militants, S. 169f.

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III. Algerische Migranten und der Kolonialkrieg

festlegte, wurde erst später bekannt2 . Die französische Kriegspropaganda hatte das Ereignis aufgrund ihrer ständigen Bemühungen, einen nahen Sieg über den FLN in Aussicht zu stellen, vollständig für ihre Zwecke vereinnahmt. Im Lauf des Jahres 1958 gaben einige öffentliche Positionierungen Messali Hadjs dem Vorwurf neue Nahrung, der MNA kollaboriere mit der französischen Regierung. Charles de Gaulle war infolge des ersten Putschs des Algerienkriegs vom 13. Mai 1958 als Hoffnungsträger der Anhänger der »Algérie française« an die Macht zurückgekehrt. Insofern sorgte es für Aufsehen, als der vermeintliche »Vater des algerischen Nationalismus«, Messali Hadj, am 6. Juni 1958 erstmals von der unbedingten Forderung einer Unabhängigkeit Algeriens abrückte und sich für Verhandlungen über eine zukünftige Lösung nach dem Vorbild des englischen Commonwealth offen zeigte3 . Messalis Rückendeckung für den von der französischen Armee gefeierten Anführer der Résistance im Zweiten Weltkrieg stieß bei vielen Mitgliedern des MNA auf Unverständnis. Seit der Anfangsphase des Krieges war den Messalisten nachgesagt worden, dass sie sich vom französischen Kolonialismus instrumentalisieren lassen würden. Durch die offen vollzogene Annäherung ihres Chefs an Charles de Gaulle erhielt dieser Vorwurf neuen Auftrieb und löste an der Basis, die sich als Avantgarde der algerischen Unabhängigkeitsbewegung begriff, Befremden aus4 . Der Mitgliederschwund des MNA war somit nicht allein der offenen Bekämpfung durch den FLN anzulasten. Er muss auch mit Blick auf den zunehmend moderaten politischen Kurs verstanden werden, den die Organisation nach außen vertrat. Vor dem Hintergrund dieser beiden Entwicklungen nahm die Erosion der Basis des MNA auch in Lothringen teils dramatische Ausmaße an. Die RG von Nancy gingen bereits im Dezember 1957 davon aus, dass der MNA in der Hauptstadt des Departements Meurthe-et-Moselle nicht mehr existierte5 . Auch in Thionville brachen die Mitgliederzahlen des MNA nach der Einschätzung des SCINA der 6. Militärregion regelrecht ein. Demnach waren dort im September 1958 nur noch 30 Messalisten aktiv, während es ein Jahr zuvor noch 470 gewesen waren6 . Trotz aller negativen Vorzeichen des Jahres 1958 konnte der MNA seine Macht in Lothringen seit dem Frühling des Jahres 1959 wieder ausdehnen. Dabei spielten mehrere Faktoren eine Rolle. Zunächst profitierten die Mes2

3 4

5 6

Charles-Robert Ageron, Une troisième force combattante pendant la guerre d’Algérie. L’Armée nationale du peuple algérien et son chef le »général« Bellounis. Mai 1957–juillet 1958, in: Revue francaise d’histoire d’outre-mer 85 (1998), S. 65–76. Stora, Messali Hadj, S. 271. Entgegen der politischen Linie Messalis publizierten etwa die beiden führenden USTAAktivisten Outaleb Mohand und Mechouche Brahim einen antigaullistischen Artikel in der Zeitung der Gewerkschaft: Valette, La guerre d’Algérie des messalistes, S. 95. RG de Nancy, rapport, 18. Feb. 1959, AdM&M 950 W 57. SCINA régional, 6e région, procès-verbal de la réunion, 19. Dez. 1958, S. 8f., AdM&M 950 W 13.

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2. Der Überlebenskampf des MNA im lothringischen Grenzgebiet

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salisten von den Verhaftungen mehrerer hochrangiger FLN-Kader in der Region, die infolge der »opération orage« durchgeführt worden waren. Ein solcher Zusammenhang wurde etwa in Nancy beobachtet. Nach Angaben der RG war dort der Einfluss des FLN auf die algerischen Migranten der Stadt nach einer Reihe von Festnahmen lokaler Aktivisten im September 1958 stark zurückgegangen7 . Im Januar 1959 setzte die französische Regierung Messali Hadj und mehrere andere Aktivisten des MNA auf freien Fuß. Die Freilassung des zaim hatte für dessen Bewegung vor allem einen hohen symbolischen Wert8 . Dagegen war die Rückkehr einiger zuvor in Algerien internierter MNA-Aktivisten nach Lothringen für die Organisation vor Ort von unmittelbarem Nutzen9 . Im Juni 1959 ging der SCINA der 6. Militärregion davon aus, dass sich der Wiederaufstieg des MNA in der Region konsolidiert hatte. In Moselle wurde die Zahl der Messalisten auf 1450, in Meurthe-et-Moselle auf 800 und im Departement Meuse auf zehn geschätzt. Demnach hatten sich die Mitgliederzahlen in diesen drei Departements seit Dezember 1958 von 1318 auf nunmehr 2260 erhöht10 . Obwohl dieses Widererstarken der Organisation eng mit den Aktivitäten einer Schocktruppe aus dem Saarland in Verbindung gebracht wurde, stellte der MNA nach dem Urteil des SCINA keine Bedrohung der öffentlichen Ordnung dar11 . Diese Einschätzung zeigt deutlich, dass der Wiederaufstieg des MNA in Lothringen vonseiten der regionalen Sicherheitsbehörden durchaus mit Wohlwollen betrachtet wurde. Der französische Geheimdienst hatte seine Rücksichtnahme auf den MNA inzwischen auch ausländischen Kollegen mitgeteilt. Über die Unterredung zwischen dem Chef der DST, Pierre Verdier, und einigen Mitarbeitern des BKA in Bonn im November 1958 vermerkte das Protokoll: Da die MNA ihre Ziele »überwiegend mit korrekten Mitteln« verfolge, gehe die französische Polizei gegen Mitglieder der MNA »wesentlich rücksichtsvoller« vor als gegen Mitglieder der FLN12 . Nach einer Warnung aus Paris vor Anschlägen von FLN-Aktivisten gegen Messalisten wies das BKA im Juli 1959 alle Dienststellen an, »evtl. bekannte MNA-Leiter, die sich in der BRD aufhalten, in geeigneter Weise zu warnen«13 . 7 8 9 10 11 12

13

RG de Nancy, rapport, 18. Feb. 1959, AdM&M 950 W 57. Bei seiner nächtlichen Ankunft in Chantilly am 15. Januar wurde er trotz Regens von Hunderten Anhängern begeistert empfangen: Stora, Messali Hadj, S. 276. RG de Nancy, la population musulmane en Meurthe-et-Moselle, 4. März 1959, AdM&M 950 W 14. SCINA régional, 6e région, procès-verbal de la réunion, 19. Juni 1959, S. 1–4, AdM&M 950 W 13. Ibid., S. 10. Aufzeichnung über eine Besprechung am 18. November 1958 über die im Zusammenhang mit der Anwesenheit von Algeriern im Bundesgebiet stehenden Fragen, S. 14, BArch, B 106–5350. LKA Rheinland-Pfalz, i. A. Schmücker, 4. Aug. 1959, LAK 880, 2378.

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III. Algerische Migranten und der Kolonialkrieg

MNA und USTA verdankten ihren Wiederaufstieg in Lothringen 1959 zu einem bedeutenden Anteil dem offensichtlichen Wegsehen von französischer Polizei und Gendarmerie. Dass diese sich den Aktivitäten der Messalisten kaum noch entgegenstellten, war keineswegs den angeblich »korrekten Mitteln« geschuldet, derer sich die Aktivisten bedienten, um Algerier für ihre Organisation zu rekrutieren. Vielmehr ging die Passivität gegenüber dem MNA darauf zurück, dass sein unmittelbarer Gegenspieler FLN den französischen Staat sowohl innen- als auch außenpolitisch in arge Bedrängnis gebracht hatte. Aus französischer Sicht war der MNA der letzte Garant dafür, dass der FLN seinen Anspruch, Repräsentant aller Algerier zu sein, nicht erfüllen konnte. Dennoch waren die Messalisten keine Marionetten Frankreichs, wie die Propaganda des FLN glauben zu machen versuchte. Insbesondere die Aktivitäten des MNA im lothringischen Grenzgebiet zeigen, dass die Machtausdehnung der Organisation 1959 zu einem entscheidenden Anteil auf Strategien und Initiativen lokaler Aktivisten zurückging, die es verstanden, den ihnen gegebenen Spielraum auf beiden Seiten der Grenze für ihre eigenen Zwecke zu nutzen. In ihrer stark geschwächten Position fuhren sie im Windschatten des französischen Antiterrorkampfs, was nicht bedeutet, dass sie sich diesem auch verpflichtet fühlten. Nach einer längeren Phase der Unauffälligkeit zeigten einige Zellen von Aktivisten des MNA seit Mitte 1959 in Lothringen wieder eine verstärke Aktivität. Der SCINA der 6. Militärregion nannte in diesem Zusammenhang die Orte Forbach, Metz, Thionville, Hagondage, Longwy und Piennes sowie Sedan und Carignan14 . Die Strategie der Messalisten bestand weiterhin darin, mittels Drohungen und demonstrativer Gewaltanwendung um neue Mitglieder und Beitragszahler zu werben. Die Verteilung von Propagandamaterial fand kaum und – wenn überhaupt – nur verdeckt statt15 . Zugleich sollte der Organisation nach außen hin ein möglichst demokratischer und sogar legalistischer Anstrich gegeben werden, was sich in der Gründung mehrerer USTASektionen widerspiegelte. Trotz der unbestreitbaren Nähe der USTA zum MNA und den zahlreichen personellen Überscheidungen zwischen der Gewerkschaft und der Untergrundorganisation zeigte die USTA in ihrer Praxis durchaus, dass sie mehr 14 15

SCINA régional, 6e région, procès-verbal de la réunion, 19. Juni 1959, S. 10, AdM&M 950 W 13. Die wenigen existierenden Quellen über die Verteilung von Propaganda des MNA in Lothringen berichten über lose Flugblätter, die von Polizei oder Gendarmerie auf der Straße gefunden wurden, etwa ein Flugblatt des MNA, das den 1. November 1954 hochleben ließ, am 9. November 1959 am Ortsausgang von Faulquemont: Le chef d’escadron Gauroy, commandant le groupement de gendarmerie de la Moselle, au général commandant de la gendarmerie de la 6e région militaire, à monsieur le préfet de la Moselle, au colonel commandant de la 6e légion de gendarmerie, 12. Nov. 1959, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 735.

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2. Der Überlebenskampf des MNA im lothringischen Grenzgebiet

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als nur eine Strohorganisation des MNA war. In Lothringen und auch im Norden Frankreichs kandidierten ihre Kader bei Betriebsratswahlen. Die Gewerkschaft brachte spezielle Forderungen algerischer Arbeiter auf die Tagesordnung und übernahm die Prozesskosten bei Streitfällen vor einem Arbeitsgericht. All dies taten französische Gewerkschaften nur selten, wenn Algerier betroffen waren16 . Nachdem der FLN im September und Oktober 1957 fast die gesamte Führung der USTA umgebracht hatte, schien die Gewerkschaft der Messalisten über ein Jahr lang vor dem Aus zu stehen. Ihr Organ, »La Voix du travailleur algérien«, erschien zwischen Mai 1958 und April 1959 gar nicht mehr17 . Der erhoffte Aufschwung der Gewerkschaft nach der Befreiung Messali Hadjs manifestierte sich in Lothringen erst spät. Der Aufruf der »Voix du travailleur algérien«, einen eindrucksvollen 1. Mai 1959 in der gesamten Metropole stattfinden zu lassen18 , blieb in Lothringen folgenlos19 . Erst im letzten Drittel des Jahres wurden dort neue Sektionen der Gewerkschaft gegründet. Zunächst gründete eine Gruppe von Messalisten am 27. September 1959 eine USTA-Sektion in Mont-Saint-Martin, die es sich zur Aufgabe machte, die Interessen von 623 Algeriern zu vertreten, die dort für das Unternehmen Lorraine-Escaut arbeiteten20 . Kurz darauf wurden in Meurthe-et-Moselle zwei weitere USTA-Sektionen, und zwar in Piennes, gegründet21 . Am 1. November hinterlegten dann Foudi Mohamed und Guedal Djilali im Rathaus von Freyming die Statuten einer weiteren USTA-Sektion. Diese entsprachen exakt denen der USTA-Sektion, die schon 1957 in diesem Ort gegründet worden war. Die einzige Neuerung war, dass der Sitz der Gewerkschaft nun Metz sein sollte22 . Der Grund dafür lag vermutlich darin, dass die Messalisten im Kohlebecken zu diesem Zeitpunkt lediglich etwa 40 Aktivisten zählten23 und die wenigen Kräfte innerhalb des Departements in dessen Hauptstadt gebündelt werden sollten. Die Neugründungen von USTA-Sektionen in Lothringen im Herbst 1959 hingen vermutlich damit zusammen, dass die Gewerkschaft vom 27. bis 16 17 18

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20 21 22 23

Genty, Le Mouvement nationaliste algérien, S. 202. Stora, L’Union des syndicats des travailleurs algériens USTA, S. 118f. Siehe Art. »Préparons un grand 1er Mai«, in: La Voix du travailleur algérien, no 13, Apr. 1959, zit. in: Jean-René Genty, L’USTA, un syndicat marginalisé?, in: Benjamin Stora, Linda Amiri (Hg.), Algériens en France. 1954–1962 la guerre, l’exil, la vie, Paris 2012, S. 68–71, hier S. 69. Die Gendarmerie in Moselle war aufgrund der Ankündigung der USTA, am 1. Mai 1959 zu demonstrieren, zwar alarmiert, jedoch gab es weder im Vorfeld noch im Nachhinein konkrete Hinweise auf entsprechende Vorbereitungen: Le chef d’escadron Gauroy, commandant le groupement de gendarmerie de la Moselle, à monsieur le préfet de la Moselle, 28. Apr. 1959, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 734. RG de Longwy, rapport, 2. Okt. 1959, AdM&M, W 1304 163. RG de Nancy, la population musulmane en Meurthe-et-Moselle, 5. Dez. 1959, AdM&M 950 W 14. RG de Forbach, message, 18. Nov. 1959, AdM 252 W 16. Ibid., 21. Okt. 1959, AdM 252 W 16.

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III. Algerische Migranten und der Kolonialkrieg

29. November in einem Ortsteil von Lille ihren zweiten Kongress abhielt, der den Messalisten eine bessere Sichtbarkeit und auch international Gehör verschaffen sollte. Wie bereits in der Phase 1956–1957 nutzte die Bewegung Messali Hadjs ihren legalen Ableger USTA weiterhin als Propagandainstrument. Der zweite Kongress der USTA fand in der damals wichtigsten Einflusszone der Messalisten statt, dem Departement Nord24 . Neben Messali Hadj und dem Generalsekretär Abderrahmane Bensid waren 351 Delegierte aus einzelnen Sektionen der Metropole sowie verschiedene Gäste anwesend. In den Beiträgen der USTA-Mitglieder aus Lothringen wurde die doppelte Ausrichtung der USTA auf die nationale und die lokale Ebene deutlich zum Ausdruck gebracht. So unterstrichen zwei Delegierte aus Longwy in ihren Beiträgen den Durchhaltewillen der USTA angesichts der Repression des FLN25 und prangerten darüber hinaus die Arbeits- und Wohnbedingungen an, mit denen algerische Arbeiter insbesondere bei der Lorraine-Escaut in Mont-Saint-Martin konfrontiert waren26 . Drei Vertreter der USTA-Sektion aus Hagondange gingen in ihrem Beitrag ebenfalls zunächst auf die übergeordneten Ziele der Gewerkschaft ein, die nach ihrer Darstellung politisch unabhängig, aber dennoch dem Kampf für die Unabhängigkeit und der Einheit des »Vaterlandes« verpflichtet sei. Bezüglich der lokalen Situation in Hagondange beklagten sie, dass Algerier kaum noch Arbeit bekämen und die Arbeitgeber ausländische Arbeiter vorziehen würden, um Algerier weiterhin im Elend zu halten. Sie prangerten zudem aufwändige Einstellungsverfahren für Algerier an, in deren Verlauf auch das Privatleben der Verwandtschaft algerischer Bewerber durchleuchtet würde. Dabei habe sich herausgestellt, dass USTA-Mitglieder oder deren Verwandte grundsätzlich keine Chance hätten, eingestellt zu werden27 . Ein weiteres USTA-Mitglied aus Nancy empörte sich über die Feindschaft der CGT, die nach Kräften versuchen würden, die Aktivitäten der algerischen Gewerkschaft in Lothringen zu behindern28 . Schließlich wandte sich ein USTA-Delegierter aus dem lothringischen Faulquemont in seinem Beitrag der Politik der marokkanischen und tunesischen Regierungen zu, welche die inneralgerische Spaltung durch ihre einseitige Unterstützung des FLN und der Konkurrenzorganisation UGTA vorantreiben würden. Nach der Über-

24

25 26 27 28

Vgl. die Arbeiten von René Genty zur Geschichte der algerischen Migration in der Region Nord-Pas-de-Calais: Genty, L’immigration algérienne dans le Nord-Pas-de-Calais; Ders., Des Algériens dans la région du Nord. De la catastrophe de Courrières à l’indépendance, Paris, Budapest, Turin 2005; Ders., Le Mouvement nationaliste algérien. Jacques Simon, La Fédération de France de l’Union syndicale des travailleurs algériens. Le deuxième congrès, novembre 1959, Paris 2002, S. 71. Ibid., S. 83. Ibid., S. 76f. Ibid., S. 95.

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zeugung des Redners sollte dies lediglich dem Ziel dienen, in ganz Nordafrika eine Terror- und Ausbeuterherrschaft zu errichten29 . Auf ihrem Kongress und während der darauffolgenden Monate inszenierte sich die USTA als vielseitig engagierte Gewerkschaft, die sowohl den Interessen der internationalen Arbeiterklasse, der Selbstbestimmung des algerischen Volkes und der territorialen Einheit Algeriens, den Rechten der algerischen Arbeiter und Bauern sowie der Emanzipation der algerischen Frau verpflichtet war30 . Dass sie dabei jedoch nach wie vor ihre Funktion eines Transmissionsriemens des MNA beibehielt, zeigte insbesondere die auf dem Kongress verabschiedete Aufforderung an alle Algerier, den von MNA und dem »leader national« Messali Hadj geleisteten Aufrufen für ein Ende der Kämpfe Folge zu leisten31 . Nach Einschätzung der Polizei zeigte diese Strategie in Lothringen zumindest kurzfristig einige Erfolge. So schien es den RG von Nancy im April 1960 gar, als hätten die Messalisten in Meurthe-et-Moselle zur alten Stärke von 1957 zurückgefunden32 . Bereits im Lauf des darauffolgenden Jahres zeigte sich jedoch, dass der 1958 knapp vermiedene Untergang der Organisation im lothringischen Grenzgebiet nur aufgeschoben worden war. Seit dem Herbst 1961 war er nicht mehr aufzuhalten.

2.2. Die Krise des MNA im Winter 1958–1959 Nach einer längeren Phase des Niedergangs schien der MNA um die Jahreswende 1958/1959 kurz vor dem Zusammenbruch zu stehen. Die »opération orage« des FLN im August 1958 hatte zwar kurzfristig eine Schwächung des FLN und eine Stärkung des MNA zur Folge gehabt. Der Grund dafür lag jedoch ausschließlich in den anschließenden Verhaftungen von FLNMitgliedern durch die Polizei. Auf die meisten Algerier hatten die Anschläge der »opération orage«, welche die Kompromisslosigkeit und Entschlossenheit des FLN nochmals deutlich zum Ausdruck gebracht hatten, eine beeindruckende Wirkung sowohl im positiven als auch im negativen Sinne. Daher sorgte es in den Reihen des MNA für eine gewisse Frustration, dass Messali Hadj allen Mitgliedern seiner Organisation im Zuge der »opération orage« verbot, sich an den Anschlägen gegen die Symbole der französischen Staatsund Wirtschaftsmacht zu beteiligten. 29 30 31 32

Ibid., S. 102f. Siehe Text der Resolution des zweiten USTA-Kongresses in: ibid., S. 153–162. Ibid., S. 153. »Der MNA scheint den größten Teil seiner Anhänger, die er in der Region im Jahr 1957 hatte, wiedergewonnen zu haben, aber seine Aktionen scheinen weitgehend auf die Becken von Longwy und Nancy begrenzt zu sein«: RG de Nancy, la population musulmane en Meurthe-et-Moselle, 4. Apr. 1960, AdM&M 950 W 14.

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III. Algerische Migranten und der Kolonialkrieg

Die internen Spannungen im MNA verschärften sich, als Messali im Herbst 1958 einen direkten Konfrontationskurs zu den meisten Kadern der Organisation einschlug. Auf einer Versammlung am 9. Oktober 1958 kündigte er an, die gesamte Führungsriege des MNA wegen Illoyalität durch einen Wohlfahrtsausschuss ersetzen zu wollen33 . Wie bereits beim Konflikt um die Berberfrage34 sollten zahlreiche Führungsposten sowohl der USTA als auch des MNA unter der Anleitung eines Vertrauten Messalis neu besetzt werden. In diesem Fall war es Abderrahmane Bensid35 . Die Neuverteilung der Macht im Parteiapparat des MNA zum Ende des Jahres 1958 zog eine tiefe innere Krise innerhalb der Bewegung nach sich. In Paris und Nordfrankreich kam es gar zu Schießereien zwischen Messalisten. Insbesondere Kader in Nord- und Ostfrankreich, die dort die letzten Bastionen des MNA hielten, waren nicht bereit, den rücksichtslosen Führungsstil Messalis weiter hinzunehmen. Die internen Spannungen gipfelten darin, dass zwölf ranghohe Aktivisten von MNA und USTA im Dezember zum FLN überliefen36 . Angesichts des ohnehin sinkenden Einflusses des MNA auf die Algerier stellte dieser Seitenwechsel führender Aktivisten der letzten Hochburgen des MNA ein einschneidendes Ereignis dar37 . Dem Wechsel kommt für diese Arbeit insofern eine besondere Bedeutung zu, als er sich im deutschfranzösischen Grenzraum abspielte und sowohl in Lothringen als auch im Saarland eine besondere Wirkung entfaltete. Der Ablauf der Desertion der zwölf MNA Kader zum FLN kann nur teilweise anhand von Einzelinformationen aus verschiedenen Quellen rekonstruiert werden. Berichten französischer und bundesdeutscher Geheimdienste zufolge ging die ausschlaggebende Initiative auf den damaligen Chef der östlichen wilaya des MNA zurück: Nesbah Ahmed ben Achour, genannt Si Ahmed oder auch El Glaoui Lakhal38 . Dieser hatte die MNA-Aktivisten in Ostfrankreich über längere Zeit von Bexbach und Kaiserslautern aus angeleitet und in der Bundesrepublik mehrere Waffeneinkäufe für den MNA getätigt. Ungeachtet des Kontexts der internen Krise des MNA resultierte Nesbahs persönliche Abkehr von Messali nach Informationen des bundesdeutschen Verfassungsschutzes aus einer Auseinandersetzung, die zwischen ihm und dem MNA-Generalsekretär Moulay Merbah um die Verwendung interner Gelder entbrannt war. Messali hatte in dieser Frage Partei für seinen langjährigen Vertrauten Merbah ergriffen, woraufhin Nesbah mehrere 33 34 35 36

37 38

Valette, La guerre d’Algérie des messalistes, S. 94–96. Siehe Teil I, Kap. 2.2.3. Zu Abderrahmane Bensid siehe Stora, Dictionnaire biographique de militants, S. 312. Das LKA in Rheinland-Pfalz gab im Juli eine Namensliste der Überläufer mit einem expliziten Hinweis auf deren Gefährlichkeit heraus, siehe Anlage I zu dem Schreiben BKA–SG–EH/G–970/59 (Bi) VS-NfD, 28. Juli 1959, LAK, 880, 2378. Haroun, La 7e wilaya, S. 273. Direction générale de la Sûreté nationale: Implantation du MNA en métropole, Nov. 1959, S. 19, AMAE, SEAA, 1959–1967, c. 27.

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2. Der Überlebenskampf des MNA im lothringischen Grenzgebiet

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kasma-Anführer für seine Position mobilisierte39 , die im Saarland, in der Region Longwy, in Valenciennes, Douai, Lens, Lille, Roubaix und Belgien aktiv waren40 . Auf einem Treffen, das wahrscheinlich am 16. oder 17. Dezember 1958 in Wachenheim in der Pfalz stattfand, rief Nesbah die potenziellen MNADissidenten offen dazu auf, die Fronten zu wechseln41 . Ali Haroun zufolge stand Nesbah seit diesem Monat auch im Kontakt zum FLN-Büro in Bonn42 . So ist davon auszugehen, dass er und die übrigen Kader den MNA nicht verließen, ohne sich zuvor der Möglichkeit einer Integration in die Reihen des FLN versichert zu haben. Nach dem vollzogenen Frontenwechsel übergab Nesbah mehrere interne Dokumente und Namenslisten des MNA an den damaligen Repräsentanten in Bonn, Hafid Keramane, genannt Malek43 . Im Januar 1959 zeichnete Nesbah verantwortlich für einen Artikel im FLN-Organ »El Moudjahid«, in dem er den Frontenwechsel zum FLN ausführlich begründete. Dieser Text, der einer Generalabrechnung mit dem MNA gleichkam, enthielt auch eine explizite Anklage Moulay Merbahs, des ehemaligen Widersachers Nesbahs, und des außer Kontrolle geratenen Umgangs mit den internen Finanzen. Ferner verurteilte er die Entmachtung zahlreicher Kader, die sich um die Organisation verdient gemacht hätten, stellte den MNA als antirevolutionäre Organisation dar und rief schließlich alle Messalisten dazu auf, seinem Beispiel zu folgen und sich dem FLN anzuschließen44 . Diese offen vollzogene politische Kehrt39 40 41

42 43 44

Bundesamt für Verfassungsschutz an den Herrn Bundesminister des Innern, 31. Juli 1959, S. 2f., BArch, B 106–15779. Direction générale de la Sûreté nationale: Implantation du MNA en métropole, Nov. 1959, S. 20, AMAE, SEAA, 1959–1967, c. 27. Bundesamt für Verfassungsschutz an den Herrn Bundesminister des Innern, 31. Juli 1959, S. 2f. BArch, B 106–15779. Auch wenn dieser Hinweis keine Klärung darüber herbeiführt, wann der Seitenwechsel der zwölf ranghohen Messalisten zum FLN letztendlich geschah, ermöglicht er doch zumindest eine genauere Eingrenzung. Benjamin Stora stellt die von Nesbah angeführte Aktion als eine Verschwörung der Kabylen innerhalb des MNA dar, die ihren Ausgang im Herbst 1958 genommen habe, siehe Stora, Ils venaient d’Algérie, S. 361. An anderer Stelle datiert Stora dieses Ereignis auf den 4. Februar 1959 und unterstellt Mechouche Brahim und Outaleb Mohand die Initiative, der sich Nesbah lediglich angeschlossen habe, siehe Ders., Messali Hadj, S. 277f. Glaubwürdiger sind diesbezüglich die Angaben von Jacques Valette, der den Impuls durch Nesbah deutlich hervorhebt und davon ausgeht, dass sich die zwölf MNA-Kader am 18. Januar im FLNBüro in Bonn versammelt hatten, bevor sie nach Tunis ausreisten, siehe Valette, La guerre d’Algérie des messalistes, S. 94. Haroun, La 7e wilaya, S. 271. Boudaoud, Du PPA au FLN, S. 109. Der Artikel »Les dessous du messalisme« stellte die Daseinsberechtigung des MNA insbesondere nach der Gründung der provisorischen algerischen Regierung in Frage und beklagte, Messali habe weder den »plan de Constantine« noch die Kollaboration des »sogenannten Generals Bellounis« mit der französischen Armee verurteilt. Darüber hinaus wurde bedauert, der MNA habe sich der »opération orage« des FLN nicht anschließen dürfen, und behauptet, die französische Regierung verschließe vor den Aktivitäten der

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III. Algerische Migranten und der Kolonialkrieg

wende eines der wichtigsten Kader des MNA im lothringischen Grenzgebiet blieb für die vor Ort lebenden Algerier nicht ohne Folgen.

2.3. Ein Mord in Saarbrücken und die Saarland-Strategie des MNA Im Januar 1959 hielten sich die zwölf hochrangigen Kader, die unter der Führung Nesbahs kurz zuvor zum FLN übergelaufen waren, in Bonn auf. Sie planten eine Reise nach Tunesien, wo unter anderem die Besichtigung von Stützpunkten der ALN-Truppen und die Teilnahme an politischen Seminaren vorgesehen waren. Der Aufenthalt in Nordafrika sollte in erster Linie dem Zweck dienen, die zwölf Überläufer möglichst schnell in den FLN zu integrieren. Darüber hinaus war die Reise auch als Vorbereitung einer weiteren Offensive der Abwerbung von Messalisten für den FLN geplant. Überläufer, die zuvor keine leitende Position im MNA eingenommen hatten, mussten dieses riskante Unternehmen auch ohne längere Vorbereitung durchführen, um ihre Loyalität gegenüber dem FLN unter Beweis zu stellen. Einer von ihnen war Soualem Tahar. Soualem Tahar hatte sich unter der Führung Nesbahs im saarländischlothringischen Raum um die Verwaltung der Finanzen des MNA gekümmert. Gemeinsam mit seinem Chef wechselte er die Fronten45 und versuchte auf Druck des FLN-Büros in Bonn bereits im Januar 1959, weitere Messalisten im Saarland zum Überlaufen zu bewegen. Zu diesem Zweck kam er zunächst mit dem FLN-Kader in Saarbrücken, Salah Menad, zusammen, um am folgenden Tag in der gleichen Stadt mehrere Algerier zu treffen46 . Am Abend des 19. Januar 1959 wurde Soualem Tahar in Gegenwart mehrerer Passanten auf dem Vorplatz des Saarbrücker Hauptbahnhofs erschossen. Dem saarländischen Landeskriminalamt zufolge hatten zwei MNA-Aktivisten aus Saarlouis, Ismail Tahar47 und Ahmed Belalia, bereits am Nachmittag den Hinweis erhalten, dass sich Soualem in der Bar Holzkopp in Saarbrücken aufhalten und dort Gespräche mit mehreren Algeriern führen sollte. Daraufhin hatten sie mit dem Auto Ismails den Algerier Ahmed Salem aufgesucht und ihn in der Nähe einer Bauarbeiterunterunterkunft bei Saarbrücken abgeholt, wo er lebte. Die drei Algerier fuhren zum Hauptbahnhof, wo Ahmed Salem

45

46 47

Messalisten die Augen bzw. unterstütze sie sogar: El Moudjahid, Organe central du Front de libération nationale, 15. Jan. 1959. Les nationalistes algériens en Allemagne: Direction générale de la Sûreté nationale, conférence régionale de la frontière franco-allemande, Paris, 12. Juli 1960, S. 5, AdM 252 W 72. Interview LH–S. Menad, 2014, S. 43f. Ob ein Verwandtschaftsverhältnis zwischen Ismail Tahar und Soualem Tahar bestand, konnte nicht geklärt werden.

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sein späteres Opfer in der Gaststätte der Bahnhofsvorhalle traf. Nicht nur, weil Soualem bis vor kurzem Mitglied des MNA in der Region gewesen war, ist davon auszugehen, dass er und Ahmed Salem einander kannten. Auch einige Indizien der Ermittlungen des saarländischen Landeskriminalamts weisen darauf hin. Bei dem Zusammentreffen entsicherte der bewaffnete Soualem Tahar seine Pistole nicht und schickte einen Begleiter fort, der dem Bericht des Landeskriminalamts zufolge die Funktion eines Leibwächters hatte. Ahmed Salem und Soualem Tahar tranken gemeinsam eine Tasse Kaffee und spazierten anschließend noch zusammen über den Bahnhofsvorplatz. Gegen etwa halb neun gab Ahmed Salem dann vier Schüsse auf den unmittelbar neben ihm stehenden Soualem Tahar ab und flüchtete anschließend in dem Auto Ismail Tahars48 . Die Erschießung Soualem Tahars war der erste und einzige Mord an einem Algerier im Saarland, der sich während des Algerienkriegs in aller Öffentlichkeit ereignete. Da sich die Tat an einem zentralen Platz der Landeshauptstadt zugetragen hatte, erregte der Mord auch in der Region und darüber hinaus großes Aufsehen49 . Einige westdeutsche Zeitungen reagierten auf den Mord mit einer verallgemeinernden Stigmatisierung aller Algerier. So publizierte etwa die »Saarbrücker Zeitung« einen alarmierenden Artikel unter dem Titel »Tagesgespräch Nummer eins: Gibt es in Saarbrücken ein Algerier-Problem?« Darin wurden alle im Saarland lebenden Algerier in Abgrenzung zu einer nicht weiter spezifizierten übrigen »Bevölkerung« und deren »friedlicher Stadt« dargestellt, für die sie eine manifeste Bedrohung darstellten. Die am Saarbrücker Hauptbahnhof manifestierte Gewalt sei demnach nicht nur auf die inneralgerischen politischen Auseinandersetzungen zurückzuführen, sondern auch auf unveränderliche »rassische« Eigenschaften von Algeriern: Während sich aber die Kriminalpolizei ausschweigt, um ihre Fahndungsmaßnahmen nicht zu stören, ist die Bevölkerung von einer verständlichen Unruhe ergriffen, nachdem sich mitten in ihrer friedlichen Stadt diese Wildwest-Szene abgespielt hat. Wir haben deshalb bei zuständiger Stelle das Algerienproblem angeschnitten und um eine Stellungnahme gebeten. Es ist bekannt – so hieß es –, daß die Nordafrikaner bei uns relativ häufig straffällig werden und sich vor allem Eigentums- und Sittlichkeitsdelikte zuschulden kommen lassen. Zu dieser kriminellen Anfälligkeit aber tritt die Tatsache hinzu, daß die Algerier in meh48

49

Diese Darstellung der Vorgeschichte des Mordes durch die saarländische Polizei erscheint insofern glaubhaft, als sie auf den Aussagen mehrerer Zeugen beruht, die bei der Tat in der Bar Holzkopp, am Arbeitsplatz Ahmed Salems und am Tatort, anwesend waren. Darüber hinaus fanden die Beamten einige Tage nach der Tat in dem Auto Ismail Tahars die einzige Patronenhülse, die am Tatort fehlte: LKA Saarland, Jahresbericht 1959, S. 50–56, LAS, LKA 49. Wenn auch mit Verzögerung, die Ermordung Soualem Tahars wurde auch jenseits des Saarlands thematisiert. Am 26. Mai berichteten etwa die »Pfälzische Volkszeitung« aus Kaiserslautern und die »Rhein-Neckar Zeitung« aus Heideberg über den Mord und die inneralgerischen Auseinandersetzungen im Allgemeinen. »Algerienkrieg schlägt Wellen bis zur Saar«: Pfälzische Volkszeitung, 26. Mai 1959; »Auch die Saar spürt Algerien«, Rhein-Neckar-Zeitung (Titelzeile), 26. Mai 1959.

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rere politische Lager aufgespalten sind, die sich mit der ganzen Heißblütigkeit dieser Rasse absolut rücksichtslos bekämpfen50 .

Ohne ein Wort über den genauen politischen Kontext des Mordes vor dem Saarbrücker Hauptbahnhof zu verlieren, nahm die »Saarbrücker Zeitung« das Ereignis zum Anlass, um alle im Saarland lebenden Algerier in ein negatives Licht zu rücken. Bis zum 19. Januar 1959 hatten es die Messalisten stets vermieden, im Saarland durch Gewaltakte in der Öffentlichkeit aufzufallen. Ebenso wie für den FLN hatte die Sicherung ihres wichtigsten Rückzugsgebiets im lothringischen Grenzraum vor dem Ziel einer Disziplinierung möglichst vieler Algerier stets Vorrang gehabt. Für die Aktivisten war es zweifellos vorhersehbar, dass die Ermordung Soualem Tahars vor dem Saarbrücker Hauptbahnhof im Saarland großes Aufsehen erregen und den Stand für Algerier diesseits der französischen Grenze ganz allgemein erschweren würde. Um zu verstehen, wieso die Mitglieder der Schocktruppe aus Saarlouis es in Kauf nahmen, nach dem Mord an Soualem Tahar unter verstärkte Beobachtung der Polizei im Saarland zu geraten, sind sowohl der genaue Hergang als auch die unmittelbare Vorgeschichte der Tat zu beachten. Sie weisen darauf hin, dass der Mord als aus der Not geborener, aber dennoch strategisch kalkulierter Versuch begriffen werden muss, dem akuten Mitgliederschwund des MNA Einhalt zu gebieten. Der Niedergang der Organisation Messali Hadjs hatte unmittelbar nach dem Überlaufen zwölf ranghoher Kader besonders in Ostfrankreich und im Saarland ein existenzbedrohendes Ausmaß erreicht. Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass individuelle Motive wie etwa Rache oder persönliche Enttäuschung bei dem Mord an Soualem Tahar eine Rolle gespielt haben. Entscheidend ist jedoch, dass es darüber hinaus auf der Ebene der Organisation dringend geboten schien, die Abwerbungsversuche des FLN zu unterbinden, damit der Auflösungsprozess des MNA gestoppt werden konnte. Da der Überläufer Soualem Tahar kurz vor seiner Ermordung noch eine wichtige Rolle in der Organisation des MNA vor Ort gespielt hatte und viele der im Saarland lebenden Algerier kannte, wurden seine Aktivitäten von den letzten überzeugten Messalisten im Saarland als unmittelbare Bedrohung ihrer Organisation bewertet, die es so schnell wie möglich zu beseitigen galt. Vor diesem Hintergrund muss die Tatsache, dass sich der Mord in aller Öffentlichkeit ereignete, auch nicht als Zufall oder Unglück des MNA gewertet werden. Es ist unwahrscheinlich, aber durchaus möglich, dass die Aktivisten die anschließende Signalwirkung ihrer Tat einkalkulierten, um ein Exempel zu statuieren. Einige Kilometer weiter westlich praktizierten die Messalisten den strategischen Einsatz der abschreckenden Symbolkraft spektakulärer Attentate bereits seit Jahren. Ein echter Strategiewechsel des MNA im Saarland fand 50

Saarbrücker Zeitung, 22. Jan. 1959.

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nach dem 19. Januar 1959 jedoch nicht statt. Vielmehr versuchten die Messalisten dort auch weiterhin möglichst unauffällig vorzugehen. Das eigentlich umkämpfte Einflussgebiet blieb Lothringen.

2.4. Die kurzfristigen Erfolge der saarländischen MNA-Schocktruppe In dem Überlebenskampf, den der MNA spätestens seit Anfang 1959 gegen den FLN im lothringischen Grenzgebiet führte, nahm das Saarland eine zentrale strategische Bedeutung ein. Die wichtigste Bastion der Messalisten in der Region war zwar nach wie vor das industrielle Becken von Longwy. Allerdings konnte die Organisation von dort aus keine Ressourcen mobilisieren, um die wenigen verbliebenen Mitglieder in den Gebieten um Metz und Forbach vor dem FLN zu schützen beziehungsweise zu kontrollieren, geschweige denn, um einen Teil der verlorenen Macht über die dort lebenden algerischen Migranten zurückzuerlangen. Vor allem aber, weil die französische Polizei im Saarland offiziell keinen Zugriff hatte, der FLN dort wesentlich moderater agierte als in Lothringen und die geografische Distanz zum Kohlebecken von Forbach nur wenige Kilometer betrug, rückten die gewaltbereiten Mitglieder der Schocktruppe des MNA in Saarlouis in eine Schlüsselposition. Durch den Mord an Soualem Tahar konnten die dortigen Aktivisten der Erosion ihrer Organisation im Januar 1959 zunächst Einhalt gebieten. Darüber hinaus gelang es ihnen, mittels gezielter Einschüchterungsaktionen in Lothringen den Einfluss des MNA in der Region sogar kurzzeitig wieder auszudehnen. Die Strategie der Schocktruppe entsprach der typischen Guerillataktik, nur für kurze und möglichst beeindruckende Aktionen aus der Verdeckung herauszutreten, um sich anschließend wieder in Sicherheit zu bringen. Mehrere Aktivisten fuhren abends oder nachts über die Grenze nach Lothringen, führten dort ein Attentat durch oder bedrohten Algerier, die sich in Arbeiterwohnheimen oder in Kneipen aufhielten. Unmittelbar darauf zogen sie sich wieder nach Saarlouis zurück. Der Chef der Gendarmerie in Moselle berichtete im April 1959, dass sich entsprechende Vorfälle sowohl in Longeville-lès-SaintAvold als auch in Porcelette und Boulay sowie Valmont zugetragen hätten. Seinem Bericht zufolge hatten dort Algerier, die sich als MNA-Mitglieder aus dem Saarland ausgaben, von anderen Algeriern mit vorgehaltener Waffe Geld gefordert und in der Regel auch erhalten51 . Nach Informationen des französischen Geheimdienstes unterstand die Schocktruppe, die diese Aktionen durchgeführt hatte, dem im Saarland 51

Le chef d’escadron Gauroy, commandant le groupement de gendarmerie de la Moselle, à monsieur le préfet de la Moselle, 18. Apr. 1959, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 734.

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wohnhaften Algerier Ahmed Gouthi52 . Dies bestätigt ein Bericht der Gendarmerie, demzufolge Gouthi von fünf algerischen Bauarbeitern auf einem Foto identifiziert wurde. Ihren Angaben zufolge hatte er eine Gruppe bewaffneter Aktivisten angeführt, die versucht hatte, die Bauarbeiter am 7. April in Charly53 dazu zu zwingen, eine Ausgabe der Zeitung »La Voix du peuple« zu kaufen und einen Beitrag von 2000 Franc an den MNA zu zahlen54 . Dem französischen Geheimdienst nach führten die Aktivisten um Gouthi derlei Aktionen während der ersten Jahreshälfte 1959 auch in Metz durch und konnten dort von einigen Algeriern ebenfalls Gelder für den MNA eintreiben55 . Auf der Basis der zur Verfügung stehenden Quellen ist davon auszugehen, dass die seit Beginn des Jahres 1959 begonnene Serie der Aktionen jener Schocktruppe schon nach wenigen Monaten endete. Am 5. September 1959 berichtete die Gendarmerie von Forbach, dass seit dem Mord an einem MNA-Kader bei Porcelette am 4. Mai in der Region keinerlei gewalttätige Auseinandersetzungen registriert worden seien56 . An Aktivitäten des MNA verzeichneten die Gendarmen in diesem Zeitraum lediglich die Verhaftung von zwei Algeriern am 31. August 1959 in Merlebach. Diese hatten eine Pistole und mehrere Vordrucke für interne Berichte des MNA bei sich getragen und angegeben, sie hätten sowohl die Waffe als auch die Vordrucke zuvor in Völklingen erhalten57 . Von diesem Zwischenfall abgesehen, liegen keinerlei Hinweise für weitere Aktivitäten der Schocktruppe aus Saarlouis vor. Der französische Geheimdienst glaubte zu wissen, dass diese ihre Aktionen eingestellt habe, nachdem auch Gouthi den MNA im Laufe des Sommers 1959 verlassen habe und zum FLN übergelaufen sei58 . Trotz seines Niedergangs bewahrte sich der MNA jenseits der französischen Grenzen noch eine gewisse Handlungsfähigkeit. Dies zeigte etwa der Mord an Ahmed Nesbah in Köln am 22. Oktober 1959. Wie bereits in Saarbrücken zögerten die mit hoher Wahrscheinlichkeit dem MNA zugehörigen 52 53

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Direction générale de la Sûreté nationale: Implantation du MNA en métropole, Nov. 1959, S. 21, AMAE, SEAA, 1959–1967, c. 27. Aus diesem nahe Metz gelegenen Ort kamen mehrere Opfer des Massakers der SS in Oradour-sur-Glane im Juni 1944. Daher wurde der Ort später in Charly-Oradour umbenannt. Auf die Weigerung der Algerier hin erbeuteten die Aktivisten um Gouthi insgesamt 87 000 Franc: Synthèse journalière des renseignements recueillis sur les FSNA No 129/4, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 734. Direction générale de la Sûreté nationale: Implantation du MNA en métropole, Nov. 1959, S. 65, AMAE, SEAA, 1959–1967, c. 27. Le capitaine Choffat, commandant de la compagnie de gendarmerie de Forbach, au chef d’escadron, commandant le groupement de gendarmerie de la Moselle, 5. Sep. 1959, SHAT 2007 ZM 1/135 820. Synthèse journalière des renseignements recueillis sur les Nord-Africains, 1. Sep. 1959, ibid. Direction générale de la Sûreté nationale: Le séparatisme algérien. Deuxième partie: Les activités du MNA en métropole, Nov. 1960, S. 121, AMAE, SEAA, 1959–1967, c. 27.

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Attentäter nicht, ihr Opfer in aller Öffentlichkeit niederzustrecken. Nesbah wurde um 19 Uhr auf einem Parkplatz erschossen. Unmittelbar davor hatte er noch mit seinen späteren Mördern in einer Kneipe des Kölner Hotels Neunzig gesessen59 . Aufgrund der Parallelen zwischen den Morden an Soualem Tahar und seinem ehemaligen Vorgesetzten Ahmed Nesbah liegt die Vermutung nahe, dass die Taten auf einen konkreten Vergeltungsplan des MNA zurückgingen, den die Organisation zumindest teilweise erfolgreich umsetzen konnte. Ungeachtet ihrer strategischen Planung und Durchführung müssen die beiden MNA-Attentate von Saarbrücken und Köln als isolierte Einzelaktionen bewertet werden. Beide für den Stand algerischer Migranten in der BRD folgenreichen Morde60 können die Feststellung nicht trüben, dass der MNA während der zweiten Jahreshälfte 1959 im lothringischen Grenzgebiet erneut eine Phase des Niedergangs durchmachte. Ohnehin schon geschwächt durch Verhaftungen der Polizei, Abwanderungen vieler Mitglieder und Kämpfe mit dem FLN erschütterten interne Auseinandersetzungen die bereits dezimierte Organisation. In Metz fügten zwei MNA-Mitglieder am 24. August dem ehemaligen Chef der örtlichen kasma, Mohamed Ayadi, schwere Verletzungen zu und erschossen am 27. Dezember den in der USTA aktiven Said Hadef. Die Folge war nicht nur, dass auch diese beiden Kader für die Messalisten verloren waren. Darüber hinaus wurden auch die beiden Attentäter inhaftiert61 . Um den Auflösungserscheinungen des MNA in der Region entgegenzuwirken, beschloss das Politbüro zu Beginn des Jahres 1960 eine erneute Offensive in Ostfrankreich. Nach Angaben des französischen Geheimdienstes fand dazu am 12. Februar in einer Saarbrücker Bar unter der Leitung eines Gesandten Messali Hadjs ein Treffen statt, bei dem die Gründung einer neuen Schocktruppe beschlossen wurde. Wie bereits zuvor sollte deren Basis im Saarland liegen und ihr Aktionsbereich über das lothringische Kohlebecken bis Metz und Thionville reichen. Aufgrund des akuten Mitgliedermangels in der Region blieb die Gruppe zunächst schwach und trat für äußere Beobachter nicht in Erscheinung62 . Dies änderte sich erst im Laufe des Sommers 1960, als die Parteiführung der Gruppe im Juli mehrere Aktivisten der kasma von Longwy63 und aus der Region von Valenciennes zuordnete und der Ludwigshafener Waffenhändler Hans Demmer die Schocktruppe mit Pistolen, Munition und Handgranaten ausstattete64 . 59 60 61 62

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Der Spiegel, 4. Nov. 1959. Hardt, Flüchtlinge, Terroristen, Freiheitskämpfer? Le Republicain lorrain, 19. Jan. 1960. Laut Bericht zählten zu ihren Mitglieder einige Algerier aus dem Saarland wie Belalia Ahmed, der erst kürzlich freigelassene Idjouadienne Mohand und der Chef der Gruppe, Talal Ismail [wahrscheinlich gemeint: Ismail Tahar]. Darunter befanden sich die Algerier Gheslaoui Arezki, Benyahia Idir und Kefti Said. Direction générale de la Sûreté nationale: Le séparatisme algérien. Deuxième partie: Les activités du MNA en métropole, Nov. 1960, S. 121, AMAE, SEAA, 1959–1967, c. 27.

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Wiederum von einer Strategie der Einschüchterung getragen, konnte der MNA durch die Aktivitäten dieser Gruppe seinen Machtbereich in Lothringen binnen weniger Wochen erneut ausweiten. Der Angriff auf eine Herberge in Stiring-Wendel am 8. August 1960 weist darauf hin, dass die Messalisten zur Ausdehnung ihrer Macht weiterhin auf die spektakuläre Inszenierung von Gewalt setzten. Der »Republicain lorrain« widmete dem Anschlag einen ausführlichen Bericht. Demzufolge hätten an jenem Abend gegen 22.30 Uhr mehrere maskierte Männer von der Straße aus in das Café der Herberge geschossen und dabei einen Gast getötet. Anschließend hätten sie eine Handgranate in den Raum geworfen. Nach deren Explosion seien die Attentäter in den Raum gestürmt, hätten mit Pistolenschüssen weitere algerische Gäste und eine französische Putzfrau verletzt, um sich anschließend der Kasse zu bemächtigen. Unmittelbar vor ihrer Flucht hätten sie dann noch den algerischen Wirt durch mehrere Schüsse in die Brust aus unmittelbarer Nähe getötet65 . Die Attentäter wurden später von der Polizei als Mitglieder des MNA identifiziert, konnten jedoch nicht gefasst werden, da sie sich im Saarland aufhielten66 . Der französische Geheimdienst ging davon aus, dass es sich bei diesem Anschlag um eine Racheaktion für den Mord an einem MNA-Mitglied in Behren-lès-Forbach handelte. Allein das Ausmaß der dabei angewandten Gewalt weist jedoch eindeutig darauf hin, dass der Anschlag auch als Kommunikation nach außen funktionieren sollte. Es war der Versuch einer gezielten Machtdemonstration der neuen MNA-Schocktruppe. Innerhalb der angegriffenen Herberge und unmittelbar daneben wohnten mehrere Algerier67 . Durch den Anschlag wurden diese zu direkten Zeugen der Fähigkeit des MNA, einen Mordanschlag nach paramilitärischem Muster durchzuführen. Die allein schon durch den Einsatz einer Handgranate und eine regelrechte Exekution zum Ausdruck gebrachte Zerstörungskraft spielte nach Geheimdienstberichten für die Ausdehnung des Einflusses des MNA in Lothringen während der darauffolgenden Wochen eine wichtige Rolle. Demnach hätten die Aktivisten unmittelbar nach dem Anschlag in Stiring-Wendel mehrere algerische Café- und Hotelbesitzer in Freyming, Faulquemont, Thionville, Metz, Uckange und Daspich dazu gebracht, wieder einen Beitrag an den MNA zu zahlen und Gäste, die sich zum FLN bekannten, abzuweisen68 . Die in den Quellen des französischen Geheimdienstes skizzierte kurze Erfolgsgeschichte der saarländischen Schocktruppen des MNA scheint im 65

66 67 68

L’adjudant Wolff, commandant provisoirement la gendarmerie nationale de la 6e région militaire au lieutenant-colonel, commandant le groupement de gendarmerie de la Moselle, 9. Aug. 1960, SHAT 2007 ZM 1/135 821; Le Républicain lorrain, 10. August 1960. Préfecture de la Moselle: Note à l’attention de monsieur le directeur du cabinet, 12. Sep. 1960, AdM 252 W 19. Le Républicain lorrain, 10. Aug. 1960. Direction générale de la Sûreté nationale: Le séparatisme algérien. Deuxième partie: Les activités du MNA en métropole, Nov. 1960, S. 122, AMAE, SEAA, 1959–1967, c. 27.

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Hinblick auf die weiterhin hegemoniale Position des FLN im algerischen Milieu im Allgemeinen und die Berichte einzelner betroffener Zeitzeugen im Besonderen stark vereinfacht zu sein. Es kann dennoch davon ausgegangen werden, dass einzelne Einschüchterungsaktionen des MNA insbesondere bei algerischen Augenzeugen durchaus eine entsprechende Wirkung zeigten und diese dazu bewegten, ihre Position in dem dynamischen Spannungsfeld der inneralgerischen Auseinandersetzungen in Lothringen entsprechend anzupassen. Die dabei zur Anwendung gebrachten Reaktionen und Strategien waren zweifellos meist vielfältiger und komplizierter als der einfache Vollzug eines Seitenwechsels, wie es der französische Geheimdienst vermuten ließ. Am 3. Oktober 1960 fanden die Aktivitäten der MNA-Schocktruppe aus dem Saarland ein abruptes Ende. An jenem Tag stürmte die saarländische Polizei die Zentrale der Aktivisten in Saarlouis. Es handelte sich um eine Wohnung in der Feldbergstraße 18 des Ortsteils Beaumarais. Bei ihrer Razzia überraschten die Beamten nach Presseangaben zwei Algerier, die gerade dabei waren, einen Pass zu fälschen, und verhafteten außer ihnen vor Ort acht weitere MNA-Mitglieder. Zudem gruben sie in dem Garten des Hauses an verschiedenen Stellen Sprengladungen, Handgranaten, Maschinenpistolen, Pistolen und Patronen aus69 . Kurz nach der Razzia in Saarlouis wurden vier der verhafteten Algerier wieder auf freien Fuß gesetzt. Dennoch registrierten Polizei und Gendarmerie in der Folge nur noch vereinzelt grenzüberschreitende Aktivitäten des MNA in der Region70 . Die Phase, in der MNA-Mitglieder vom Saarland aus gezielte Angriffe auf Anhänger des FLN in Lothringen durchgeführt hatten, war endgültig vorbei. Die Messalisten konnten aus dem saarländischen Rückzugsgebiet keinen unmittelbaren Nutzen mehr ziehen, um ihre Position in Lothringen zu halten oder zu verbessern. Fortan blieben dort die wenigen Algerier, die der Organisation Messali Hadjs weiterhin die Treue hielten, auf sich allein gestellt.

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Saarbrücker Zeitung, 4. und 5. Okt. 1960. Am 18. Januar 1961 nahm die Gendarmerie bei Creutzwald einen Algerier fest, der auf dem Weg nach Créhange war. Er transportierte 6000 Vordrucke für interne Berichte des MNA und fünf Pistolen, die seinen Angaben nach aus Saarbrücken stammten: Le capitaine Clemenceau, commandant de la compagnie de Gendarmerie de Forbach, synthèse journalière des renseignements recueillis sur les Nord-Africains, 24. Jan. 1961, SHAT 2007 ZM 1/135 821.

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2.5. Mittel und Wege für ein positives Bild des MNA im Saarland Zum Zeitpunkt des Mordes an Soualem Tahar musste zumindest den Kadern des MNA im lothringischen Grenzgebiet bewusst gewesen sein, dass der Erhalt ihres saarländischen Rückzugsraums von ihrer Wahrnehmung durch die dortige Öffentlichkeit, Politik und Polizei entscheidend abhing. Aufgrund der besonders misslichen Lage ihrer Organisation hatte für die Messalisten seit Beginn des Jahres 1959 zwar die Eliminierung von »Verrätern« beziehungsweise Propagandisten des FLN gegenüber dem Gebot der Unauffälligkeit ihrer Aktivisten im Saarland und der BRD Vorrang. Anders als in Lothringen unternahmen die MNA-Aktivisten im Saarland jedoch keine Anschlagsoffensive. Sie setzten Gewalt jenseits der französischen Grenze nach Möglichkeit weiter unauffällig ein. Darüber hinaus versuchten sie, gezielt auf die Deutung der von algerischen Nationalisten im Saarland begangenen Gewaltakte Einfluss zu nehmen. Um das Saarland für den MNA als Rückzugsraum für Aktivisten und Umschlagsplatz für Waffen, Gelder und Propaganda zu erhalten, sollte zumindest an der Oberfläche am bisherigen Modus Vivendi zwischen saarländischer Polizei und algerischen Nationalisten festgehalten werden71 . Am 13. Februar 1959 erschien im »Weser-Kurier« ein Artikel, in dem der saarländische Korrespondent der Bremer Zeitung, Wolfgang Rahner, über ein Treffen mit einem Messalisten berichtete, den er nach eigenen Angaben im »Hauptquartier des MNA in Bexbach« getroffen hatte. Der Artikel legte die Flucht des Algeriers aus einem Gefängnishospital in Sarreguemines dar und ging anschließend auf die Auseinandersetzungen zwischen algerischen Nationalisten im Saarland ein. Diesbezüglich erinnerte Rahner auch an den Mord vor dem Saarbrücker Hauptbahnhof. Der Darstellung des MNA-Aktivisten, alle algerischen Attentate im Saarland seien dem FLN zuzuschreiben, wurde nicht widersprochen. Stattdessen zitierte Wolfgang Rahner den Algerier mit den Worten »Wir reagieren auf diese Taten nicht«72 . Die im »Weser-Kurier« abgedruckte Auslegung der bis dahin begangenen Gewalttaten algerischer Nationalisten im Saarland war in der westdeutschen Presse zwar eine Einzelerscheinung. Sie zeigt jedoch deutlich, dass die Messalisten im Saarland weniger als einen Monat nach dem Mord an Soualem Tahar um ihr Image in der Region durchaus besorgt waren. Dass der Artikel, der ein positives Bild des MNA in der Öffentlichkeit zeichnen sollte, in einer Bremer Zeitung erschien, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Messalisten in der Lage waren, für dieses Unternehmen Personen unmittelbar aus der Region zu gewinnen. Wolfgang Rahner war damals Chefredakteur der evangelischen Kirchenzeitung »Sonntagsgruß« in Saarbrücken. Er sprach fließend Franzö71 72

Siehe Hardt, Une zone de repli minée. Weser-Kurier, 13. Feb. 1959.

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sisch, war mit einem Arabisch sprechenden Journalisten aus Saarbrücken eng befreundet und verfügte über mehrere Kontakte zu Algeriern im Saarland73 . In Zuge des Rückzugsgefechts, das der MNA im lothringischen Grenzgebiet seit Beginn des Jahres 1959 führte, versuchten dessen Aktivisten, den FLN im Saarland gezielt zu diskreditieren. Dazu wurden nicht nur Kontakte zu Journalisten genutzt. Auch die saarländische Polizei sollte gegen die konkurrierende Organisation aufgebracht werden. Weniger als einen Monat nach dem Artikel Wolfgang Rahners gab sich ein Messalist am 8. März gegenüber der Saarbrücker Polizei als Aktivist des FLN aus74 . Er berichtete den Beamten eingehend über Kontrollen von Algeriern am Saarbrücker Hauptbahnhof, regelmäßig an den FLN zu entrichtende Schutzgelder sowie insgesamt 24 »regelrechte Polizeitruppe[n] der FLN« im Saarland, von denen 13 mit jeweils einer Pistole ausgestattet seien. Darüber hinaus erzählte er, dass er sich zuletzt an der Kontrolle eines Algeriers beteiligt habe, den der FLN während seiner Überprüfung in einer Baracke seines Arbeitgebers, der Firma Horstmann, angeblich vier Tage lang festgehalten und infolge einer Anweisung der FLN-Büros in Bonn nach Frankreich gebracht und dort erschossen habe75 . Die umfassende Aussage des angeblichen FLN-Mitglieds Benzoubir Salah kam nicht nur einer Selbstanzeige gleich. Sie stellte auch einen Verrat gegenüber der eigenen Organisation dar. Den saarländischen Polizeibehörden, die in diesem Bericht bereits vorliegende Informationen über die Struktur und Methoden des FLN in der Bundesrepublik bestätigt sahen, erschienen die Angaben zunächst grundsätzlich glaubhaft. Die Beamten bezweifelten lediglich Benzoubirs Behauptung, der FLN unterhalte auch Verbindungen nach Pirmasens76 . Ungeachtet dessen wurde Benzoubir, nachdem er im August des gleichen Jahres untertauchte, in den Akten als »Führer einer sogenannten Schocktruppe (groupe de choc) des FLN« vermerkt77 . Erst im November 1959 klärte das Bundeskriminalamt darüber auf, dass es sich bei Benzoubir um einen Anhänger des MNA handelte, der in den FLN eingeschleust und von dieser Organisation inzwischen zum Tode verurteilt worden sei, da er Gelder unterschlagen und dem Ansehen des FLN im Saarland in mehrfacher Hinsicht geschadet habe78 . Dieser Fall bestätigte einen 73

74 75 76 77 78

Der komplette Nachlass Wolfgang Rahners wurde leider nach seinem Tod von seinen Erben vernichtet. Die genannten Informationen über Rahner stammen aus Gesprächen des Autors mit dessen ehemaligem Vorgesetzten, Pfarrer Hans-Dieter Osenberg, am 26. Nov. 2014 und mit Rahners Freund und Kollegen, Muhamad Salim Abdullah, am 1. Aug. 2014. Aus den vorliegenden Quellen wird nicht ersichtlich, auf welche Weise Benzoubir mit der saarländischen Polizei in Kontakt kam. Abschrift des LKA Rheinland-Pfalz, 24. August 1959: Vernehmung des Salah Benzoubir in Saarbrücken, 8. März 1959, S. 1f., LAK 880, 2378. LKA Rheinland-Pfalz an das Ministerium des Inneren, Mainz, 31. Aug. 1959, ibid. Fernschrift des LKA Koblenz an alle polizeilichen Dienststellen in Rheinland-Pfalz, 20. Aug. 1959, ibid. Bundesamt für Verfassungsschutz an den Herrn Bundesminister des Innern, 16. Nov. 1959, S. 2, BArch, B 106–15779.

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Verdacht des französischen Innenministeriums vom September 1957, demzufolge FLN und MNA nicht nur Spione bei der jeweils anderen Organisation einschleusten, sondern darüber hinaus auch versuchten, den jeweiligen Kontrahenten bei der Polizei anzuschwärzen79 . Der zitierte Fall macht deutlich, dass dies auch im Saarland stattfand. Die zwei Beispiele von Rahner und Benzoubir illustrieren, wie Aktivisten des MNA im Saarland gezielt versuchten, Einfluss auf die öffentliche beziehungsweise die polizeiliche Wahrnehmung ihrer Organisation zu nehmen. Darüber hinaus erhielten die Messalisten scheinbar auch ohne ihr eigenes Zutun aktive Unterstützung vor Ort, wie der Einsatz des vielseitig engagierten Sozialdemokraten und Gewerkschafters Karl Handfest aus Louisenthal zeigt. Handfest versuchte insbesondere während der zweiten Jahreshälfte 1960, den MNA im Saarland durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit zu unterstützen. Er führte mehrere Interviews mit Messali Hadj in Gouvieux durch, mit der Absicht, sie in der westdeutschen Presse zu publizieren80 . Außerdem versuchte er, Kontakte zwischen lokalen DGB- und SPD-Funktionären und dem MNA aufzubauen81 . Nach dem Auffliegen des MNA-Verstecks in Saarlouis im Oktober 1960 trat Handfest drei Mal an die Redaktion der »Saarbrücker Zeitung« heran. Da die saarländische Presse dieses Ereignis in der Berichterstattung fast einhellig als Zerschlagung eines algerischen »Waffenschmuggler- und Mörderrings« darstellte82 , versuchte Handfest, die Berichterstattung der wichtigsten Regionalzeitung des Saarlands über die Messalisten zum Positiven zu beeinflussen. So schickte er dem Chefredakteur der »Saarbrücker Zeitung« am 10. November 1960 einen Artikel des »Figaro« vom 5./6. November 1960 über das »Erwachen der Messalisten« sowie ein Flugblatt des MNA/ALN, zu dem sich nach den Angaben Handfests auch die Mehrheit der im Saarland lebenden Algerier bekannten83 . Der zunächst freundliche Ton Handfests in dieser Sache wich zwei Tage darauf offener Empörung und Anschuldigung. Am 12. November 1960 wandte er sich erneut an den Chefredakteur der »Saarbrücker Zeitung« mit den Worten: In der heutigen Ausgabe Ihrer Zeitung veröffentlichen Sie eine Meldung über Verhaftungen in Bexbach/Saar, wobei Sie angaben, dass einer der Verhafteten wahrscheinlich dem MNA angehöre. Erstaunlich ist zunächst einmal, dass Sie diese Meldung heute erst veröffentlichen, nachdem diese Verhaftungen bereits in den letzten Tagen des Oktobers stattfanden! Noch 79

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Le ministre de l’Intérieur à monsieur le préfet de police, messieurs les inspecteurs généraux de l’administration en mission extraordinaire, messieurs les préfets (métropole), messieurs les directeurs des services de police actifs de la Sûreté nationale, 28. Sep. 1957, AdM 370 W 1. Karl Handfest an Messali Hadj, 15. Sep. 1960, LAS NL Handfest 116. Ibid., 16. Sep. 1960. Saarbrücker Landeszeitung, 5. Okt. 1960; Saarbrücker Allgemeine Zeitung, 5. Okt. 1960. Karl Handfest an den Chefredakteur der Saarbrücker Zeitung, 10. Nov. 1960, LAS NL Handfest 116.

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erstaunlicher hingegen ist die Tatsache, dass wir weder gestern noch heute in Ihrem Blatt eine Meldung über die Verhaftung von Algeriern im Saarbrücker Hauptbahnhof fanden84 . – Oder wissen Sie nicht, wieviele Menschen man mit 2000 Schuss Munition niedermachen kann? Oder wussten Sie nicht, dass die Verhafteten dem FLN angehören? Wissen Sie, dass der FLN mit Moskau zusammenarbeitet? Der MNA hingegen ist antikommunistisch! Im Übrigen kann der MNA Ihnen versichern – und der kommende Prozess gegen einige MNAMilitanten wird dies erweisen –, dass in Saarlouis-Beaumarais niemals »Morde geplant« wurden, wie dies auch von Ihrem Blatt Anfang Oktober geschrieben wurde! Hochachtungsvoll!85

Am Tag darauf sandte Handfest noch eine weitere Notiz an die gleiche Adresse. Darin stellte er den FLN erneut als Organisation dar, die vom Kreml gesteuert würde, und wertete eine Diskreditierung dessen Gegenspielerin MNA als Unterstützung Moskaus86 . Inwiefern Karl Handfest über direkte Kontakte zu Messalisten im Saarland verfügte, ist aus heutiger Sicht ungewiss. Die beiden Briefe an den Chefredakteur der »Saarbrücker Zeitung« legen die Vermutung nahe, dass Handfests Motivation für die Unterstützung der Messalisten zu einem großen Teil auf seiner strikten Feindschaft gegenüber der Sowjetunion beruhte. Zwischen 1951 und 1957 war Handfest Generalsekretär des Saarländischen Komitees Friede und Freiheit, welches in dem Netzwerk antikommunistischer Propagandaorganisationen verankert war, die in Westeuropa während der unmittelbaren Nachkriegszeit entstanden87 . Handfest gehörte zu jenen Beobachtern des Algerienkrieges, welche die zahlreichen Kontakte des FLN mit 84

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Dies war eine Anspielung auf die Verhaftung eines FLN-Mitglieds nach dem Fund mehrerer Waffen in einem Bahnhofsschließfach am Saarbrücker Hauptbahnhof durch die saarländische Polizei: Saarbrücker Zeitung, 11. Nov. 1960. Karl Handfest an den Chefredakteur der Saarbrücker Zeitung, 12. Nov. 1960, LAS NL Handfest 116. Ibid., 13. Nov. 1960. Der 1950–1970 existierende Volksbund für Frieden und Freiheit (VFF) war eine Organisation, die sich eine möglichst breite Verteilung antisowjetischer Propaganda in der Bundesrepublik zur Aufgabe gemacht hatte. Sie wurde von Eberhard Taubert (1907– 1976) gegründet, der während der Hitler-Diktatur als Referent für Gegnerbekämpfung im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda gearbeitet hatte. Bis zu seinem Ausscheiden aus dem VFF 1955 leitete er die konspirative und streng hierarchisch organisierte Organisation mehr oder weniger allein. Nach einer kurzen Phase der Unterstützung durch die USA konnte sich der VFF bereits seit 1950 zum größten Teil durch geheim gehaltene Mittel des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen und das Bundeskanzleramt finanzieren. Die Organisation erhielt auf diesem Wege allein bis zu Beginn des Jahres 1956 über 2 Millionen DM. Die Mitglieder- und Sympathisantenzahlen sind aufgrund mangelnder Quellen bis heute nicht sicher ermittelt. Als sicher gilt jedoch, dass der VFF spätestens Mitte der 1960er Jahre in allen westdeutschen Bundesländern über einen Landesverband verfügte. Über diese Stellen verteilte der VFF zwischen 1957 und 1961 im Jahresdurchschnitt etwa 1,6 Millionen Flugblätter und Broschüren, dazu weitere 1,3 Millionen aus eigener Produktion. Im Saarland existierte ein Landesverband des VFF seit 1957, siehe Mathias Friedel, Der Volksbund für Frieden und Freiheit (VFF). Eine Teiluntersuchung über westdeutsche antikommunistische Propaganda im Kalten Krieg und deren Wurzeln im Nationalsozialismus, St. Augustin 2001, S. 1.49–57.60f.72.

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den Ostblockstaaten als möglicherweise gefährliche Kräfteverschiebung im Kalten Krieg ansahen. Der MNA galt ihm als Garant dafür, den Einfluss der Sowjetunion auf ein von Frankreich unabhängiges Algerien zu verhindern. Für Karl Handfests Engagement zugunsten des MNA im Saarland spielte aber offenbar auch Geld eine gewisse Rolle. Dies legt eine zwischen 1958 und 1961 unterhaltene Korrespondenz mit dem algerischen Gewerkschafter Fernand Hadjadj88 nahe. Hadjadj war ein enger Mitarbeiter des französischen Sozialisten Georges Albertini und dessen wichtigster Berater in allen Algerienfragen89 . Albertini wiederum wurde während der 1950er Jahre unter anderem von der CIA finanziert, um den Antikommunismus unter führenden französischen Politikern zu stärken. Zu Albertinis Bekanntenkreis gehörten zahlreiche führende Politiker Frankreichs wie etwa Émile Roche, René Pléven und Edgar Faure90 . Knapp zwei Monate, bevor sich Handfest bei der »Saarbrücker Zeitung« so enthusiastisch für ein positivere Berichterstattung über den MNA und eine Diskreditierung des FLN eingesetzt hatte, war ihm für sein Engagement in Sachen »Algerier« von Hadjadj per Brief eine Überweisung in Aussicht gestellt worden91 . Anders als bei Salah Benzoubir und Wolfgang Rahner ist bei den Bemühungen Karl Handfests für den MNA im Saarland unklar, ob die lokalen Aktivisten in sein Engagement eingeweiht waren. Der überzeugte Antikommunist Handfest ordnete die Auseinandersetzungen um die Frage der algerischen Unabhängigkeit in das Freund-Feind-Schema des Kalten Krieges ein, das er während seines Engagements beim Volksbund für Frieden und Freiheit über Jahre hinweg weiterverbreitet hatte. Während die Unterstützung prodeutscher Saarländer für den FLN häufig auf antifranzösischen Ressentiments beruhte92 , ging Handfests Eintreten für den MNA in erster Linie auf dessen antikommunistische Überzeugung zurück. Die politischen Inhalte, für die die Messalisten standen, waren für ihn offenbar von sekundärer Bedeutung.

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Im Nachlass von Karl Handfest ist der älteste Hinweis auf seinen Kontakt zu Hadjadj ein Telegramm vom September 1958, in dem letzterer seine baldige Ankunft in Saarbrücken ankündigt: Hadjadj an Karl Handfest, 18. Sept. 1958, LAS NL Handfest 116. Es ist also davon auszugehen, dass sich Hadjadj und Handfest schon davor kannten. Eine im Bereich der Spekulationen, aber dennoch nahe liegende Vermutung ist, dass sich diese Bekanntschaft im Zuge der Kooperation des VFF mit seinem französischen Pendant Paix et Liberté ergeben hatte. Zu dieser Organisation pflegte wiederum Georges Albertini enge Kontakte: Pierre Rigoulot, Georges Albertini, 1911–1983. Socialiste, collaborateur, gaulliste, Paris 2012, S. 276f. Louis Botella, art. »Hadjadj, Fernand«, http://maitron-en-ligne.univ-paris1.fr/spip. php?article137664 (Zugriff 20.6.2019). Ibid. Brief von Fernand Hadjadj, 8. Juli 1960, LAS, NL Handfest 116. Vgl. Busemann, Den eigenen Weg gehen, S. 392–399.

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2.6. Der MNA im industriellen Becken von Longwy Im industriellen Becken von Longwy hatte die Spaltung des MTLD 1954 zunächst keinen Einfluss auf die Machtposition der Messalisten gehabt. Während der ersten Jahre des Unabhängigkeitskriegs blieb die Position des neu gegründeten MNA dort weitgehend unangefochten. Im äußersten Norden des Departements Meurthe-et-Moselle konnte der FLN seine Machtansprüche nur in Villerupt durchsetzen, was sich etwa in der Beteiligung vor Ort lebender Algerier an Streiks und Demonstrationen widerspiegelte. So folgten etwa am 19. März 1956 fast alle algerischen Arbeiter des Beckens von Longwy, insgesamt etwa 1800 Personen, einem Streikaufruf des MNA. Lediglich in Villerupt blieb der Aufruf weitgehend ungehört, was die örtliche Polizei auf den Einfluss des FLN in diesem Ort zurückführte, der sich damit aber auch schon erschöpft hatte93 . Die »Verspätung« des FLN im industriellen Becken von Longwy lässt sich zunächst auf zwei strukturelle Faktoren zurückzuführen. Erstens stellte die Region aufgrund ihrer räumlichen Abgeschiedenheit in vielerlei Hinsicht einen sozialen und politischen Mikrokosmos innerhalb Lothringens dar94 . Neben der enormen Konzentration von Schwerindustrie in der Region trugen dazu auch die schlechte infrastrukturelle Anbindung des Beckens, die Nähe zwischen den einzelnen Orten sowie die hügelige Landschaft bei, die sie umgab. Die Messalisten agierten dort innerhalb eines Gebiets mit einer deutlich niedrigeren sozialen Mobilität und einer leichter zu überschauenden Wohnstruktur, als es etwa in Metz oder Nancy der Fall war. Die algerischen Migranten lebten innerhalb des industriellen Beckens von Longwy gewissermaßen in aneinandergereihten Dörfern. Der sowohl vor der Polizei als auch vor dem MNA geheimzuhaltende Aufbau des FLN musste daher in der Region als besonders schwierig erscheinen. Der Aufstieg des FLN in der Region Longwy in Form einer Graswurzelbewegung wurde zweitens auch dadurch erschwert, dass die Messalisten dort bereits zu Zeiten des MTLD über besonders umtriebige und gewaltbereite Aktivisten verfügten, die als einzige in Lothringen nicht vom Großeinsatz von Polizei, Gendarmerie und CRS am 5. September 1955 betroffen waren. In keiner anderen der lothringischen Hochburgen des MTLD hatten die Messalisten wie in Longwy die Gelegenheit bekommen, sich auf die neuen Bedingungen polizeilicher Repressionen einzustellen, die der algerische Unabhängigkeitskrieg mit sich brachte. Anders als etwa im Kohlebecken von Forbach oder im Umkreis von Nancy wurde der Apparat des MNA in Longwy nicht schon während der frühen Phase des Unabhängigkeitskriegs zerschlagen, weshalb 93 94

RG de Longwy, rapport, 20. März 1956, AdM&M, W 1304 164. Losego, Fern von Afrika, S. 19–21.

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die Messalisten im äußersten Norden von Meurthe-et-Moselle über einen besonders langen Atem verfügten. Nach den Angaben der RG unternahm der FLN erst zum Ende des Jahres 1957 den Versuch, eine größere Organisation im Bezirk Longwy aufzubauen. Dazu rekrutierte die Organisation einen Aktivisten aus dem Departement Nord und einen weiteren aus Algerien, der bereits vor dem Krieg in Longwy gelebt hatte95 . Bereits Anfang Januar 1959 wurde dieses Netzwerk jedoch von der Polizei wieder zerschlagen, woraufhin der FLN innerhalb des Bezirks für einige Monate kaum noch in Erscheinung trat. Es dauerte bis zum Herbst des gleichen Jahres, bis der FLN für die Polizei erkennbare Ansätze zum Wiederaufbau seiner regionalen Strukturen unternahm und versuchte, Mitglieder zu mobilisieren. Dies löste auf Seiten des Hauptkommissars von Longwy die Sorge vor erneuten gewalttätigen Auseinandersetzungen unter Algeriern aus, hatte doch der MNA seit der Entlassung Messali Hadjs aus der Haft im Januar 1959 seinen Einfluss auf die »Nordafrikaner« der Region noch gesteigert96 . Während der MNA seine Machtposition gegenüber dem FLN im Laufe des Jahres 1959 an anderen Orten Lothringens gerade wieder festigte, geriet sie im industriellen Becken Longwys in dieser Phase erst ins Wanken. Die Messalisten konnten auch an ihren ehemals wichtigsten Rückzugsorten ihren Einfluss auf die Algerier des Beckens nicht mehr unwidersprochen geltend machen. Am Abend des 11. Oktober versuchten fünf MNA-Aktivisten, im Barackenlager Les Quatre Cantines in Mont-Saint-Martin den etwa 500 Bewohnern ein Foto von Messali Hadj für jeweils 100 Franc zu verkaufen. Les Quatre Cantines war noch zu Beginn der 1950er Jahre das wichtigste Machtzentrum der MNA-Vorgängerorganisation, MTLD, innerhalb des Beckens gewesen97 . An jenem Abend stießen die Messalisten dort einem Polizeibericht zufolge jedoch auf offenen Widerstand. Einige Algerier weigerten sich und zerrissen das Foto sogar, woraufhin es zu Schlägereien und Morddrohungen kam98 . Der MNA erfuhr während der zweiten Hälfte des Algerienkriegs in der Region Longwy zwar vereinzelt Widerstand, letztendlich behielt die Organisation jedoch auch dort gegenüber dem FLN zunächst die Oberhand. Dies zeigte sich zuletzt in der zweiten Jahreshälfte 1960 besonders deutlich anhand einer Serie von Attentaten gegen FLN-Aktivisten, auf die es laut Berichten der Polizei keinerlei Reaktion der lokalen FLN-Organisation gab99 . Bis zur Endphase des Algerienkriegs, die durch die Ankündigung von Verhandlun95

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RG de Longwy, rapport, 17. Dez. 1957; AdM&M, W 1304 165. Dass Führungspersonen der französischen Föderation des FLN aus Algerien berufen wurden, war durchaus üblich. Sie bildeten vor allem ein ausführendes Organ, das sich den Direktiven der Führung in Algerien bzw. Ägypten zu beugen hatte: Meynier, Histoire intérieure du FLN, S. 534f. Le commissaire principal, chef de la conscription de Longwy, à monsieur le préfet de Meurthe-et-Moselle, 16. Okt. 1959, AdM&M, W 1304 165. Siehe Teil I, Kap. 2.2.2. RG de Longwy, rapport, 14. Okt. 1959, AdM&M, W 1304 163. Siehe die Monatsberichte der RG von Nancy über die »muslimische Bevölkerung in

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gen zwischen dem FLN und der französischen Regierung eingeleitet wurde, konnten die Messalisten das Industriebecken als wichtigste Hochburg in Ostfrankreich halten. Trotz des durchaus vorhandenen Widerstands einiger vor Ort lebender Algerier gegenüber MNA-Aktivisten funktionierte deren Organisation zunächst auch weiterhin, wie interne Dokumente des MNA von Juni 1960 zeigen. Von der französischen Polizei nach der Verhaftung eines regionalen MNA Kaders beschlagnahmte Papiere zeichneten das Bild einer wohlorganisierten, mitgliederstarken und schlagkräftigen kasma. Diese gliederte sich in zwei »Gruppen«, 27 »halbe Gruppen«100 und 58 »Zellen«, die insgesamt 359 Mitglieder umfassten. Wie bereits im MTLD waren sie in Aktivisten, Anhänger und Sympathisants gegliedert. Darüber hinaus fanden sich in dem ausgiebigen Bericht auch Angaben über die Schocktruppe von Longwy, der 20 Personen angehörten, sowie genaue Angaben zum Stand der Finanzen vom Monat April 1960. Daraus war zu entnehmen, dass sich die Einnahmen der kasma in jenem Monat von insgesamt 609 190 Franc zu über 90 Prozent aus Beiträgen der Mitglieder zusammensetzten. Übrige Geldquellen waren die gesonderten Beiträge von Einzelhändlern, verspätete Zahlungen aus dem vorigen Monat und der Erlös aus Zeitungsverkäufen101 . Die registrierten Ausgaben der kasma von insgesamt 115 000 Franc ergaben sich zum größten Anteil aus Zahlungen an inhaftierte Aktivisten sowie für die Unterstützung zweier algerischer Familien mit insgesamt sieben Kindern102 . Erst während der letzten beiden Jahre des Unabhängigkeitskriegs begannen die Messalisten angesichts einer nachhaltigen Offensive des FLN auch in der Region Longwy zu straucheln. Angesichts der anstehenden Verhandlungen mit der französischen Regierung über die Bedingungen eines Waffenstillstands verfolgte die Führung des FLN das Ziel, ihre Ausgangsposition durch die Eingliederung oder die Eliminierung aller algerischen Widersacher zu stärken. Messali Hadj und die verbliebenen MNA-Aktivisten stellten aus dieser Perspektive eine Beschädigung der Legitimität der provisorischen Regierung Algeriens GPRA dar, die der FLN eigenmächtig ausgerufen und aufgestellt hatte. Im Mai 1961 konnte der MNA im industriellen Becken von Longwy noch von der Verhaftung mehrerer FLN-Aktivisten in der Region profitieren. Die RG vermuteten, die Festnahmen seien der entscheidende Grund dafür gewesen, dass sich innerhalb des Beckens im ganzen Monat Juni 1961 kein einziges

Meurthe-et-Moselle« der Monate August bis Dezember 1960: RG de Nancy, la population musulmane en Meurthe-et-Moselle, AdM&M, 950 W 14. 100 Was sich genau hinter der Bezeichnung »halbe Gruppen« verbirgt und welche Funktionen diese hatten, wurde aus den dem Autor vorliegenden Unterlagen nicht ersichtlich. 101 Der MNA verkaufte seine Zeitung »La Voix du peuple« auch an die algerischen Migranten in der Metropole. 102 RG de Longwy, rapport, 10. Juni 1960, AdM&M, W 1304 163.

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Attentat ereignet habe, in das Algerier verwickelt waren103 . Im August 1961 gingen die Beamten davon aus, dass die Stärke der MNA-kasma von Longwy weitgehend unverändert war. Nach Angaben der RG zahlten dort 399 Algerier einen regelmäßigen Beitrag an den MNA104 . Seit August 1961 führte der FLN eine neue Serie von Anschlägen in ganz Lothringen gegen widerständige Algerier, Messalisten und deren Unterstützer durch. Von der dadurch ausgelösten Welle der Gewalt war auch das industrielle Becken von Longwy betroffen105 . In der Folge fielen die Messalisten selbst in ihrer bisherigen Hochburg reihenweise Anschlägen zum Opfer, die andere Algerier im Auftrag des FLN an vielen verschiedenen Orten durchführten. Ein lokaler Kader der USTA wurde etwa am frühen Morgen des 5. Dezembers 1961 auf der Toilette seines Arbeitsplatzes in Herserange ermordet106 . Im Januar 1962 meldete ein Sympathisant des MNA der Polizei von Longwy, mehrere »Nordafrikaner« hätten ihn in den Keller eines Cafés gedrängt, wo er von einem Tribunal des FLN zu einer Strafe von 50 000 Franc verurteilt worden sei. Einen Tag nach seiner Anzeige wurde der Algerier erschossen aufgefunden107 . Besondere Aufmerksamkeit erregte die Ermordung von Amahme Amar, dem Mitglied einer Schocktruppe des MNA. Er war am 15. Februar bei einer Schießerei mit zwei FLN-Aktivisten am Busbahnhof von Longwy tödlich verletzt worden, wobei auch zwei Franzosen Schlussverletzungen erlitten hatten108 . Am 20. März wurde schließlich ein hochrangiger Kader der USTA in Rehon auf offener Straße ermordet, nachdem sein Cousin gerade einmal sechs Tage zuvor in seinem Auto erschossen worden war109 . Durch den Einsatz massiver Gewalt setzte sich der FLN in Lothringen während der letzten Monate des Unabhängigkeitskriegs gegenüber dem MNA endgültig durch. Die Welle gezielter Ermordungen stieß allein im industriellen Becken Longwys auf die massive Gegenwehr seitens der Messalisten, wodurch sich die Region einmal mehr als letzte Bastion des MNA in Ostfrankreich auszeichnete. Noch im Dezember 1961 gingen die RG davon aus, dass die kasma von Longwy weiterhin über eine Schocktruppe verfügte

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RG de Nancy, la population musulmane en Meurthe-et-Moselle, 4. Juli 1961, AdM&M 950 W 14. Die MNA-kasma von Piennes, Trieux und Tucquegnieux zählte den RG Angaben nach 135 Beitragszahler, die Sektion von Nancy etwa 50. Die Zahl der USTA-Mitglieder wurde insgesamt auf 480 geschätzt: RG de Nancy, la population musulmane en Meurtheet-Moselle, 2. Aug. 1961, ibid. RG de Longwy, rapport, 22. Sep. 1961, AdM&M, W 1304 165. Ibid., 5. Dez. 1961. Ibid., 31. Jan. 1962. Zu dem Attentat am Busbahnhof von Longwy: RG de Longwy, rapport, 15. Feb. 1962, ibid.; Le directeur général de la Sûreté nationale à monsieur le préfet de Meurthe-etMoselle, o. D., ibid. Le commissaire principal, chef de la conscription de Longwy, à monsieur le préfet de Meurthe-et-Moselle, 20. März 1962, ibid.; RG de Longwy, rapport, 20. März 1962, ibid.

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und regelmäßige Beiträge von 359 Algeriern bezog110 . Die örtliche MNAkasma zeigte sich noch immer in der Lage, Personen zu mobilisieren, die im Kampf gegen den FLN zum Äußersten bereit waren. Im September 1961 wurde etwa ein FLN-Aktivist von einem MNA-Mitglied in dem Wohnheim Verzotti in Saulnes im Schlaf per Kopfschuss ermordet111 . In Herserange schoss ein MNA Attentäter im Februar 1962 zwei FLN-Mitglieder auf einem Fabrikgelände nieder112 . Auch nach dem zwischen dem FLN und der französischen Regierung geschlossenen Waffenstillstand setzten die Messalisten in der Region Longwy ihre Attentate fort. Am 21. März 1962 wurde der FLN-Aktivist Mohamed Aouadja in Longwy Gouraincourt in der Rue Prieuré erschossen, nachdem er gerade die Kneipe Wagner verlassen hatte113 . Drei Tage darauf griffen einige Algerier eine Kneipe in Rehon an, die als Basis des FLN bekannt war. Sie gaben von außen zwölf Schüsse auf das Etablissement ab, verletzten dabei drei Gäste und ergriffen anschließend in einem Auto die Flucht. Die Präfektur war sicher, dass es sich um ein Attentat des MNA handelte114 . Aufgrund der starken Position des MNA im industriellen Becken Longwys war ein Ende der Gewalt für die dort lebenden Algerier auch nach dem Abkommen von Evian zunächst nicht absehbar, sei es aufgrund der Nichtanerkennung des Abkommens zwischen dem FLN und der französischen Regierung oder aufgrund individueller Motive. Noch am 21. April 1962 floh ein algerischer Arbeiter der Lorraine-Escaut in Mont-Saint-Martin nach einem Angriff von zwei Messalisten in die Behausung des Leiters von Les Quatre Cantines in Longlaville, um sich dort zu verstecken. Seine Lage schien umso bedrohlicher, als beide Attentäter den gleichen Wohnort und Arbeitsplatz hatten wie er selbst115 . Der Gang durch die »Hölle der Politik«116 war für viele algerische Migranten in der Region auch nach dem offiziellen Waffenstillstand in Algerien nicht vorbei. Die tiefe Krise des MNA im Winter 1958/1959 war zu einem entscheidenden Anteil von Aktivisten im lothringischen Grenzgebiet ausgelöst worden und hatte dort unmittelbare Folgen. Sie gipfelte darin, dass der MNA auch im Saar110 111 112 113 114 115 116

RG de Nancy, la population musulmane en Meurthe-et-Moselle, 4. Dez. 1961, AdM&M 950 W 14. RG de Longwy, rapport, 15. Sep. 1961, AdM&M, W 1304 165. Ibid., 12. Feb. 1962. Le commissaire principal, chef de la conscription de Longwy, à monsieur le préfet de Meurthe-et-Moselle, 22. März 1962, AdM&M 950 W 14. Le préfet de Meurthe-et-Moselle au ministre de l’Intérieur, SCINA Paris, 25. März 1962, ibid. Ibid., 22. Apr. 1962. Ein algerischer Stahlarbeiter in Jœuf beschrieb 1965 die Situation der Algerier in der Region während des Algerienkrieges so: »Man befand sich in der Hölle der Politik. Man musste marschieren. Man musste den Willen haben, Algerien zu helfen«, zit. n. Losego, Fern von Afrika, S. 334.

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land seine Machtansprüche gegenüber Algeriern durch den Einsatz von Gewalt in aller Öffentlichkeit manifestierte. Dass die Organisation Messali Hadjs in der Folge nicht ihren Untergang, sondern einen – wenn auch nur kurzzeitigen – Wiederaufstieg erlebte, war maßgeblich der wohlwollenden Haltung der Polizei ihr gegenüber zu verdanken. Insbesondere die Aktivitäten der MNASchocktruppe aus Saarlouis illustrieren jedoch, dass die Messalisten die ihnen gewährten Spielräume durchaus eigensinnig117 ausnutzten und keineswegs wie Marionetten des französischen Staates agierten. Mittels spektakulärer Anschläge untergruben sie nicht nur den staatlichen Anspruch auf das Monopol physischer Gewaltanwendung, sondern arbeiteten zumindest im Rahmen der Gewerkschaft USTA auch weiterhin konkret dem Ziel der algerischen Unabhängigkeit entgegen und klagten Diskriminierungen algerischer Arbeiter an.

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Zur Anwendung des auf Alf Lüdtke zurückgehenden Konzepts von »Eigensinn« siehe Teil III, Kap. 4.3.

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3. Schwacher Staat oder starke Untergrundorganisation? Der FLN in Lothringen Bis 1958 hatte sich der FLN sowohl in Algerien als auch in Frankreich als führende algerische Untergrundorganisation etabliert. Aufgrund seines Selbstverständnisses, Platzhalter eines unabhängigen algerischen Staates zu sein, konfrontierte der FLN alle Algerier schon vor der Unabhängigkeit mit quasi staatlichen Machtansprüchen. Inwiefern war dieses Unternehmen während der zweiten Hälfte des Unabhängigkeitskriegs, zwischen 1958 und 1962, auch im lothringischen Grenzgebiet erfolgreich? Dazu wird, im Anschluss an das Staatsverständnis Max Webers, zunächst die Reichweite der Zentralisierung und Monopolisierung von Gewaltausübung, Verwaltung, sowie Rechtsetzung und Rechtsprechung des FLN innerhalb des lothringischen Territoriums beleuchtet1 . Darüber hinaus wird die Frage reflektiert, inwiefern der FLN sich die Aura einer als legitim erachteten Autorität geben konnte. Schließlich vermag erst das Zusammenwirken »physisch-direkter« und »sanfter« Formen von Herrschaft diese auf Dauer zu stellen2 . Welcher Mittel bedienten sich also die selbsternannten »state-builders«3 des FLN zwischen 1958 und 1962 und mit welchem Erfolg, um ihren Einfluss auf die algerischen Migranten im lothringischen Grenzraum auszudehnen? Dies ist auch im Hinblick auf die unter Historikern nach wie vor umstrittene Frage von Interesse, ob die Macht des FLN auf der Ausübung von Zwang oder politischer Überzeugungskraft beruhte4 . Dabei muss wiederum beachtet 1 2 3

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Siehe dazu Andreas Anter, Theorien der Macht, Hamburg 2012, S. 68–70. Siehe dazu Lüdtke, Einleitung: Herrschaft als soziale Praxis, S. 29. Zur Politik und den staatlichen Herrschaftsansprüchen bewaffneter Gruppen vgl. Klaus Schlichte, In the Shadow of Violence. The Politics of Armed Groups, Frankfurt a. M. 2009. In seinem Standardwerk zur Geschichte des FLN während des Algerienkrieges hat Gilbert Meynier unterstrichen, dass der FLN sich nur deshalb zu einer derart mächtigen Organisation in Algerien entwickeln konnte, weil seine Ziele mit den Hoffnungen und Wünschen der Bevölkerung weitgehend übereinstimmten. Dass der Erfolg des FLN allein auf Terror aufbaute, bezeichnete er als »vollkommen ausgeschlossen«: Meynier, Histoire intérieure du FLN, S. 203. Dagegen hat Benjamin Stora, der in der französischen Öffentlichkeit als führender Experte der Geschichte des Algerienkrieges gilt, in seiner Studie über die algerische Migration in der Metropole fast ausschließlich den repressiven Charakter des FLN hervorgehoben, vgl. Stora, Ils venaient d’Algérie, S. 176.200.328f. Sylvie Thénault hat treffend darauf hingewiesen, dass die Vorstellungen, der Erfolg des FLN baue vor allem Zwang oder in erster Linie auf freiwilliger Unterstützung der Algerier auf, dazu tendierten, die Möglichkeiten der direkten Einflussnahme der Organisation auf Algerier zu überschätzen: Sylvie Thénault, L’organisation judiciaire du FLN, in: Ageron (Hg.), La guerre d’Algérie et les Algériens, S. 137–149, hier S. 137.

https://doi.org/10.1515/9783110644012-011

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werden, dass Lothringen aus der Sicht des FLN einen peripheren Schauplatz des Unabhängigkeitskrieges darstellte. Im Zentrum der Aufmerksamkeit der Untergrundorganisation stand stets Algerien. Daher lag das vordergründige Interesse der französischen Föderation darin, durch eine Maximierung der Geldbeiträge algerischer Migranten die Kriegskasse zu füllen, um den Kampf der Truppen in Algerien zu finanzieren5 . Auch im Hinblick auf die im Kontext von Bürgerkriegen notwendigerweise ungeklärte Frage der territorialen Souveränität6 wäre es daher verfehlt, den FLN in Lothringen lediglich anhand der oben angeführten Kriterien einer klassischen Staatsdefinition nach Max Weber in ein Kontinuum zwischen bewaffneter Untergrundorganisation und Staat einordnen zu wollen. Im Hinblick auf das Ziel des FLN wird sein Einfluss auf Algerier in Lothringen besonders in Bezug auf seine Fähigkeit in den Blick genommen, die Migranten nach dem Modell eines Steuersystems zur Zahlung regelmäßiger Geldbeträge zu bewegen. Die lothringischen Aktivisten sahen sich nicht als Agenten einer Untergrund- oder gar »Terrororganisation«, sondern handelten vielmehr im Namen eines im Entstehen begriffenen modernen algerischen Staates, der seine Machtansprüche an das »Staatsvolk« aus dem eigenmächtig erklärten Zustand des Krieges gegen den französischen Staat und den MNA ableitete. Die Anhänger des »FLN-Untergrund-Staats« wollten nicht das lothringische Territorium erobern. Es ging ihnen vor allem um die »Herzen und Köpfe« der Algerier, die dort lebten.

3.1. Struktur, Erfolgsrezept und Grenzen der Macht des FLN Noch zu Beginn des Jahres 1958 war die Machtverteilung des FLN in der Metropole keineswegs einheitlich. Der Grad der Einbindung der Algerier und das Kräfteverhältnis gegenüber dem MNA wiesen je nach Region zum Teil große Unterschiede auf. Die Region Ile-de-France war das mit Abstand wichtigste Sammelbecken algerischer Migranten in der Metropole und zugleich das wichtigste Einflussgebiet des FLN außerhalb Algeriens. Im November 1957 ging die Polizei davon aus, dass dort über ein Drittel der Algerier entweder einen Beitrag an den FLN oder den MNA zahlten, in den Regionen Pays de la Loire, Poitou, Charente und Bretagne dagegen insgesamt weniger als drei Pro5

6

Ali Haroun zufolge trieb die französische Föderation mit den Geldbeiträgen der algerischen Migranten in der Metropole etwa 80 % der finanziellen Ressourcen des GPRA ein: Haroun, La 7e wilaya, S. 307. Diese Einschätzung wurde u. a. von Neil MacMaster und Jim House, zweien der besten Kenner der Geschichte der französischen Föderation des FLN, übernommen: House, MacMaster, Paris 1961, S. 94. Stathis N. Kalyvas, The Logic of Violence in Civil War, Cambridge, New York 2006, S. 87f.

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3. Der FLN in Lothringen

Tabelle 7: Anzahl der FLN- und MNA-Mitglieder unter den algerischen Migranten in der Metropole, November 1957 Region Île-de-France Haute Normandie/Nord/Picardie Pays de la Loire/Poitou/Charente/ Bretagne Aquitaine Midi-Pyrénées/ Pyrénées-Orientales Elsass/Lothringen/ Champagne-Ardennes Franche-Comté/Burgund Rhône-Alpes/Auvergne Provence-Alpes-Côte d’Azur/ Languedoc-Roussillon/Korsika

Anzahl der Algerier

FLN-Mitglieder

MNA-Mitglieder

140 755 33 858 2598

50 666 5588 30

2955 2957 40

3214 4011

200 50

80 80

29 892

2912

2284

7431 39 762 26 262

600 7183 3460

87 1439 280

zent. Im Norden und im Osten Frankreichs konnte der MNA im Verhältnis zum FLN noch immer eine bedeutende Anzahl von Algeriern dazu bewegen, einen Beitrag an ihn zu zahlen. Das relative Übergewicht des FLN gegenüber den Messalisten war dort im Herbst 1957 bei weitem nicht so erdrückend wie etwa im Großraum Paris (siehe Tabelle 7). Außer durch die nach wie vor bedeutende Präsenz des MNA wurde Ali Haroun zufolge die Machtentfaltung des FLN in Nord- und Ostfrankreich auch dadurch gehemmt, dass sich ein besonders großer Anteil der dort lebenden algerischen Migranten weder zum FLN noch zum MNA bekannte und stattdessen eine neutrale Position anstrebte7 . Nach Zahlen des SCINA und internen Angaben von FLN-Aktivisten entrichtete tatsächlich nur ein geringer Anteil der Algerier in Lothringen – etwa im Vergleich zur Region Ile-de-France – einen regelmäßigen Beitrag an die Organisation. Insofern konnte der FLN seinem Anspruch, alle dort ansässigen Algerier in der Manier eines Staates zu repräsentieren und auch zu kontrollieren, Anfang 1958 nicht gerecht werden. Während des gesamten Unabhängigkeitskriegs stellten die Aktivitäten der französischen Polizei und Gendarmerie für die Machtentfaltung des FLN in Lothringen den wichtigsten Störfaktor dar. Der MNA hingegen verkörperte für die Organisation nur noch bedingt eine Bedrohung. Außerhalb des industriellen Beckens von Longwy zeigten sich die Messalisten während der ersten Jahreshälfte 1958 derart geschwächt, dass sie nicht in der Lage waren, Verhaftungen von FLN-Aktivisten zu nutzen, um ihren Einfluss auf die Algerier in der Region wieder auszudehnen. Dies zeigte sich etwa in Nancy: Auf der 7

Haroun, La 7e wilaya, S. 59.

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III. Algerische Migranten und der Kolonialkrieg

Grundlage eines Haftbefehls des Militärtribunals von Algier verhaftete die Polizei dort im Rahmen von drei Aktionen zwischen dem 12. November und dem 23. Dezember 1957 insgesamt 46 Algerier, die als aktive Mitglieder des FLN galten. Auch wenn dies einen deutlichen Rückschlag für den FLN bedeutete, war seine Vormachtstellung dadurch jedoch nicht gefährdet. Nach Angaben der RG verfügte die Organisation in Meurthe-et-Moselle im Januar 1958 noch über 1378 Beitragszahler. Dagegen waren es beim MNA lediglich 645, deren Großteil in der Region Longwy lebte8 . Die Messalisten konnten sich gegenüber dem FLN in Lothringen allein im industriellen Becken von Longwy behaupten, mit Ausnahme des Ortes Villerupt. Dies wurde in Zahlen anhand eines von der Polizei beschlagnahmten Berichts über eine FLN-»Kollekte« deutlich, die im März 1958 durchgeführt worden war. Demnach hatten die algerischen Migranten in Villerupt 822 000 Franc, in Knutange 812 000 und Audun-le-Tiche 610 000 Franc an den FLN gezahlt, während es in Longwy lediglich 365 000 waren9 . Abseits vom äußersten Norden des Departements Meurthe-et-Moselle hatte der MNA dem FLN in Lothringen kaum noch etwas entgegenzusetzen10 . Dennoch zahlten nach den Angaben der französischen Polizeidienste im Januar 1958 in Meurthe-etMoselle wie auch auf dem übrigen Gebiet der 6. Militärregion zur Jahreswende 1957–1958 lediglich etwa 18 Prozent der dort lebenden Algerier einen regelmäßigen Beitrag an den FLN11 . Es kann als sicher gelten, dass die Machtentfaltung des FLN in Lothringen ohne die massive Gegenwehr der französischen Polizei- und Geheimdienste zu Beginn des Jahres 1958 ein deutlich größeres Ausmaß angenommen hätte. Die Organisation verfolgte das Ziel ihrer Machtausdehnung mit großem strategischem Geschick. Wie bereits in Algerien hatte der FLN auch in Lothringen bereits eine eigene organisatorische Einteilung der Region vorgenommen, um die dort lebenden Algerier systematisch in seine Reihen zu integrieren12 . 8 9

10

11 12

Le commissaire principal, chef du service départemental des RG à monsieur le préfet, directeur des RG – 8e section –, 14. Jan. 1958, AdM&M 950 W 53. SCINA régional, 6e région, procès-verbal de la réunion, 10. Apr. 1958, S. 12f., AdM&M 950 W 13. Diese Angaben müssen vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Einwohnerzahlen gesehen werden. 1961 registrierte die Gendarmerie in Longwy 831 und in Villerupt 723 »Nordafrikaner«: Groupement de gendarmerie de Meurthe-et-Moselle: nombre total de N.A. en résidence dans les circonscriptions de brigades du groupement, o. D., AdM&M 950 W 32. Zu den Einnahmen des MNA innerhalb des industriellen Beckens von Longwy siehe Teil III, Kap. 2.6. Die Zahlung oder Nichtzahlung von Geldbeiträgen an eine der beiden Organisationen brachte nicht automatisch auch politische Gefolgschaft für oder gegen eine der beiden Seiten mit sich. SCINA régional, 6e région, procès-verbal de la réunion, 7. Jan. 1958, S. 14, AdM&M 950 W 13. Die administrative Struktur der französischen Föderation des FLN wurde 1957 eingeführt und seitdem mehrfach geändert. Sie orientierte sich jedoch immer an den wichtigsten Zentren der algerischen Migration, siehe Teil II, Kap. 3.1.

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3. Der FLN in Lothringen

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Nach einem ausführlichen Bericht des Geheimdienstes DST vom Februar 1958 über die territoriale Gliederung des FLN in der Metropole gehörte Lothringen zur Nord-Ost-Zone. Diese war in fünf Regionen unterteilt, die insgesamt 5485 Beitragszahler zählten. Die Region Maubeuge-Ardennes wies 1850 Beitragszahler auf, Saint-Dizier 650 und die belgische Zone 700. Die beiden Regionen Moselle und Meurthe-et-Moselle hingegen zählten jeweils 1465 und 820 Beitragszahler13 . Die FLN-Region Moselle umfasste den Angaben nach den Norden von Meurthe-et-Moselle sowie den Nordosten des Departements Moselle. Dazu gehörten die Orte Longwy, Villerupt, Briey, Homécourt, Knutange, Thionville und Metz. Die Region von Meurthe-et-Moselle hingegen umfasste lediglich den Süden von Meurthe-et-Moselle, darunter die Städte Nancy und Pont-à-Mousson14. Obwohl die FLN-Regionen zeitweise den Namen der französischen Departements trugen, deckten sich die beiden Gebietseinheiten nicht. Sowohl die Struktur der Organisation als auch die Bezeichnung ihrer einzelnen Einheiten wurden aus Sicherheitsgründen zwischen 1958 und 1962 immer wieder verändert15 . Um die Stärke einer territorialen Einheit zu bemessen, blieb die Anzahl der algerischen Beitragszahler jedoch stets das entscheidende Kriterium. Das Kohlebecken von Forbach gehörte um 1958 zu einer anderen administrativen Einheit als die Nord-Ost-Zone. Es war Teil der Ost-Zone, die insgesamt 3851 Beitragszahler zählte. Diese waren auf die FLN-Regionen Belfort, Haut-Rhin und Bas-Rhin verteilt. Im August 1957 zahlten 1107 Algerier in der Region Bas-Rhin nach DST-Informationen einen regelmäßigen Beitrag an den FLN. Davon unterstanden 371 der kasma von Sarreguemines, 226 der kasma Stiring-Wendel, 450 der kasma von Straßburg sowie 80 weitere einer Sektion von Merlebach16 . Auf der Grundlage interner Dokumente des FLN kam die DST im Februar 1958 zu dem Schluss, dass diese planvolle Gliederung des Territoriums ein entscheidender Grund für den Erfolg des FLN war. Auch wenn dieser Einschätzung erneut die implizite Annahme zu Grunde lag, der Einfluss des FLN stütze sich in erster Linie auf eine effizient organisierte Einschüchterung algerischer Migranten, scheint sie dennoch einen wichtigen Erklärungswert zu haben. Demnach hatte der FLN seit der Einführung einer eigenen territorialen Struktur die Anzahl seiner Beitragszahler in Ostfrankreich zwischen April 1957 und dem Ende des Jahres nahezu verdoppelt. Für die Nord-Ost-Zone war ein Zuwachs von 2965 Beitragszahlern auf 5485 und für die Ost-Zone

13 14 15 16

Bericht der Direktion der RG: Implantation du FLN en métropole, Feb. 1958. S. 6, BArch, B 106–15779. Ibid., S. 8. Neil MacMaster, Jim House, La Fédération de France du FLN et l’organisation du 17 octobre 1961, in: Vingtième siècle. Revue d’histoire 83 (2004), S. 145–160. Bericht der Direktion der RG: Implantation du FLN en métropole, Feb. 1958, S. 9, BArch, B 106–15779.

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III. Algerische Migranten und der Kolonialkrieg

von 1969 auf 3851 verzeichnet worden17 . Dass der FLN in weniger als einem Jahr die Anzahl seiner Beitragszahler ohne den Aufbau einer effizienten Organisationsstruktur derart hätte steigern können, scheint kaum möglich. Mit dem Elan der territorialen Expansion seines Netzwerks im Verlauf des Jahres 1957 begann der FLN 1958 auch damit, den inneren Apparat seiner Organisation weiter auszudifferenzieren. Dies konnte nach dem Verbot der beiden zunächst legalen Ableger, der Studentenorganisation Union générale des étudiants musulmans algériens (Ugema) am 28. Januar 1958 sowie der ehemaligen Gewerkschaft Amicale générale des travailleurs algériens (AGTA) am 23. August 195818 , ausschließlich im Untergrund stattfinden. Aus Effizienzund Sicherheitsgründen wurden vier parallele Strukturen angelegt, deren Mitglieder unabhängig voneinander agierten. So folgten die Sympathisanten und Anhänger des FLN einer anderen organisatorischen Einteilung und Befehlsstruktur als die Aktivisten19 . Darüber hinaus gab es die OS, deren Mitglieder seit 1957 vollkommen abgeschottet von allen anderen FLN-Mitgliedern meist im Ausland zu paramilitärischen Kämpfern ausgebildet wurden20 . Schließlich gründete der FLN in der Metropole im Laufe des Jahres 1958 mehrere Komitees, die sich um die sozialen Belange verhafteter Aktivisten und deren Familien kümmern sollten. Die als comités de soutien aux détenus (CSD) bezeichneten Gremien bildeten zusammen eine weitere eigene Struktur innerhalb des FLN. Sie sollten im Grunde die soziale Komponente des FLN-Staates darstellen und den Algeriern, die sich für den Unabhängigkeitskampf engagierten und dadurch Gefahr liefen, verhaftet zu werden, eine Aussicht auf soziale Absicherung für sie selbst und ihre Familien bieten21 . Ihre Mitglieder erstellten Berichte über die materielle Situation der Familien verhafteter Aktivisten, woraufhin diese jeden Monat eine entsprechende Ausgleichzahlung erhalten sollten. Marion Abssi zufolge variierten die Zahlungen in den verschiedenen Regionen und hingen auch von den Direktiven lokaler Verantwortlicher ab22 . 17 18 19

20

21

Ibid., S. 24. Abssi, Le nationalisme algérien, S. 207f. Nach Ali Haroun, einem ehemaligen Führungsmitglied, war die Basiseinheit des FLN die Zelle. Sie bestand aus drei einfachen Mitgliedern und einem Chef. Eine Gruppe umfasste drei Zellen und einen Chef. Die Sektion hatte ebenfalls einen Chef und setzte sich aus drei Gruppen zusammen. Die darauffolgenden Organisationseinheiten waren der Reihenfolge nach die kasma, der Sektor, die Region, die Zone, die amala bzw. die Superzone und schließlich die wilaya. Anders war die Struktur bei den Aktivisten. Hier setzte sich die übergeordnete Einheit immer nur aus zwei untergeordneten Einheiten zusammen. Diese Organisation sollte einem maximalen Sicherheitsanspruch gerecht werden, vgl. Haroun, La 7e wilaya, S. 50–56. Die Nachfolgeorganisation der OS des MTLD wurde von Said Bouaziz aufgebaut, der vom CCE des FLN zu Beginn des Jahres 1957 aus der wilaya IV (Algérois) in die Metropole versetzt wurde, siehe dazu Djerbal, L’organisation speciale de la Fédération de France du FLN, S. 71–73. Linda Amiri, La Fédération de France, S. 222f.

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3. Der FLN in Lothringen

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Im März 1958 berichteten die RG von Thionville über die Gründung eines CSD durch mehrere Verantwortliche der FLN-kasma der Region Thionville. Den Angaben nach sah das CSD von Thionville für jedes Familienmitglied verhafteter FLN-Aktivisten eine monatliche Ausgleichszahlung in Höhe von 3000 Franc vor, sofern diese in der Metropole lebten. Wenn sie sich in Algerien befanden, sollten sie jeweils 2000 Franc erhalten. Für die Internierten selbst war eine Zahlung von 5000 Franc pro Monat angesetzt. 20 000–30 000 Franc waren für die Bezahlung eines Rechtsanwalts der Inhaftierten vorgesehen. Aus angeblich sicherer Quelle glaubten die RG auch zu wissen, dass der Verantwortliche für das Komitee von Thionville für ganz Ostfrankreich verantwortlich war. Es handelte sich um Mouloud Boubeker23 , dessen regulärer Wohnsitz in Paris lag. Die französische Föderation des FLN zahlte ihm angeblich einen monatlichen Lohn von 42 000 Franc24 . Wenn auch weniger rapide als noch 1957 setzte sich der Aufstieg des FLN in Lothringen auch während der ersten Hälfte des Jahres 1958 weiter fort. Die Organisation wurde im März nochmals durch mehrere Verhaftungen mittlerer Kader geschwächt. Dabei kam es dem FLN jedoch zugute, dass sein direkter Konkurrent MNA bereits weitgehend ausgeschaltet zu sein schien. Die Messalisten konnten aus den Schlägen der Polizei gegen den FLN keinerlei Profit schlagen und sahen ihre Bewegung auch während der ersten Jahreshälfte 1958 weiterhin mit schrumpfenden Mitgliederzahlen konfrontiert. In der Region Forbach etwa war der MNA nach Polizeiangaben im April 1958 bereits so gut wie inexistent25 . Zur Mitte des Jahres konnten die Messalisten dem SCINA zufolge ihren Einfluss auf Algerier innerhalb des Territoriums der 6. Militärregion nur noch in Longwy und teilweise in Thionville und Metz geltend machen. Dieser Zustand wurde auch auf die unbedachte Ausübung von Gewalt durch einzelne MNA-Aktivisten zurückgeführt: Gegenüber [dem FLN in Lothringen] gibt es nichts. Der MNA ist nun so gut wie inexistent, abgesehen von Longwy und der Region von Thionville und Metz. Außerdem macht er [der MNA] derart rücksichtslos vom Revolver Gebrauch, dass die Polizei ihn im Zuge ihrer Ermittlungen zerschlagen kann. Im Gegensatz dazu ermöglicht die Perfektion seiner Struktur dem FLN, besonders effizient und weniger sichtbar zu agieren26 .

Nach Einschätzung des Chefs der BST in Metz, René Haiblet, basierte der Aufstieg des FLN in der Region zu einem großen Anteil darauf, dass er im Gegensatz zum MNA nicht auf eine »Politik des Terrors«, sondern auf eine »Politik der Präsenz« setzte. Demnach sei es dem FLN gelungen, die meisten Algerier allein durch seine besonders effiziente Überwachung einzuschüchtern, ohne 22 23 24 25 26

Abssi, Le nationalisme algérien, S. 212. *1922 im douar Belloua im algerischen Arrondissement von Tizi Ouzou. RG de Thionville, rapport, 26. März 1958, AdM 252 W 19. SCINA régional, 6e région, procès-verbal de la réunion, 10. Apr. 1958, S. 2–5, AdM&M 950 W 13. Ibid., 20. Juni 1958, S. 7.

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III. Algerische Migranten und der Kolonialkrieg

vor Ort regelmäßig Attentate durchführen zu müssen. Darüber hinaus galt auch die mündliche Propaganda des FLN als außerordentlich erfolgreich, womit die BST indirekt eingestand, dass die Macht des FLN keinesfalls allein auf der Ausübung von Zwang beruhte. Vielmehr baute diese zu einem wichtigen Anteil auch auf der Kommunikation politischer Inhalte auf27 . Als weiteren Grund für den Aufstieg des FLN in Lothringen nannte Haiblet dessen oben erwähnte Strategie einer mitgliederunabhängigen Expansion der Organisationsstruktur. So war beobachtet worden, dass die Erhöhung der Zahl der kasma zeitweise völlig unabhängig von einem Zuwachs an Beitragszahlern erfolgte. Demnach war In einigen Orten eine kasma gegründet worden, wo es gerade mal eine Sektion und manchmal auch nur eine Zelle des FLN gab, dafür jedoch der Einfluss des MNA gering war. Dieses Vorgehen habe in Kombination mit einer zielgerichteten »Politik der Erfassung« aller Algerier eine rasante Ausdehnung der Organisationsstruktur ermöglicht. Haiblet ging daher im Juni 1958 davon aus, dass innerhalb der 6. Militärregion etwa 25 Prozent aller Algerier einen regelmäßigen Beitrag an den FLN zahlten28 . Wie Haiblet richtig beschrieb, versuchten FLN-Mitglieder in dieser Phase in Lothringen in der Regel nicht, wie der MNA, Algerier im Stil bewaffneter Banden mit aufwändigen und riskanten Attentaten als Beitragszahler zu gewinnen. Noch während der ersten Hälfte des Jahres 1958 basierte der Erfolg des FLN in der Region in erster Linie auf dessen Propaganda. Diese verstand es, entweder mündlich oder über das Radio militärische Aktionen und diplomatische Erfolge des FLN für die Migranten politisch attraktiv zu inszenieren und zugleich eine beeindruckende Drohkulisse zu schaffen. Der SCINA der 6. Militärregion maß insbesondere den über Radio verbreiteten Ansprachen im Sinne des FLN eine hohe Bedeutung bei. Im Januar 1958 brachte das Protokoll über das monatliche Treffen des SCINA die profitablen Effekte von Radiosendungen aus Kairo, Tunis und Rabat für den FLN erstmals zur Sprache29 . Zwei Monate später forderten die Mitglieder dieses SCINA, jene Sendungen mittels der Einrichtung von Störsendern und der Beschlagnahmung von Radiogeräten zu unterbinden. Das Sitzungsprotokoll verwies diesbezüglich auf Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg: Diesbezüglich insistiert der SCINA erneut auf der Notwendigkeit, die Ausstrahlung arabischer Radiosendungen zu behindern. Es ist anzunehmen, dass das, was 1939–1940 für Radio Stuttgart umgesetzt wurde, mit Sicherheit auch 1958 technisch möglich ist. Die Kon-

27 28 29

René Haiblet, commissaire principal, chef de la BST à Metz, à monsieur le préfet de la Moselle, 17. Juni 1958, AdM 370 W 1. Ibid. »Hört man Botschaften der arabischen Sender aufmerksam zu, haben diese ebenso reale wie schädigende Auswirkungen. Sie unterstützen sehr stark die Rekrutierungen des FLN«, SCINA régional, 6e région, procès-verbal de la réunion, 7. Jan. 1958, S. 16, AdM&M 950 W 13.

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3. Der FLN in Lothringen

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sequenzen einer solchen Lösung wären beträchtlich, da die – wie jeder weiß, sehr beeinflussbaren – muslimischen Arbeiter von voreingenommenen Informationen und Anweisungen fast vollständig abgeschnitten wären. Innerhalb kürzester Zeit würde der FLN mit Sicherheit mehrere seiner Anhänger verlieren30 .

Die Konzentration des FLN auf mündliche Propaganda und die Unterstützung der nordafrikanischen Regierungen bei deren Verbreitung ersparten es den Aktivisten in Lothringen, sich etwa im Zuge der Verteilung von Flugblättern oder Zeitungen dem Risiko einer Verhaftung auszusetzen. Im Juli 1958 wurde zwar auch registriert, dass Algerier in den Departements Ardennes und Haute-Marne anlässlich des Jahrestags der französischen Besatzung Algiers 1830 einige Exemplare der Gewerkschaftszeitung der FLN-nahen AGTA verteilt hatten31 . Der Schwerpunkt lag jedoch weiterhin auf der mündlichen Propaganda, nicht zuletzt auch aufgrund der hohen Rate von Analphabeten unter den Migranten32 . Im Vergleich zum MNA hatte der FLN den strategischen Vorteil, dass er durch Radiosendungen und andere Medienberichterstattungen algerische Migranten in Lothringen auch ohne den Einsatz lokaler Aktivisten begeistern und einschüchtern konnte. Die Organisation verfolgte die Strategie, für die Migranten zugleich omnipräsent und unsichtbar zu sein, mit beachtlichem Erfolg. Dies zeigte sich auch bei der Eintreibung von Geldern. Während der MNA die Durchführung seiner »Kollekten« etablierten Mitgliedern überließ, die etwa durch das Mitführen von Schlag- oder Schusswaffen eine unmittelbare Drohkulisse aufbauen sollten, wandte der FLN spätestens zu Beginn des Jahres 1958 in Lothringen ein System der Geldeintreibung an, das es den eigenen Mitgliedern ermöglichte, sich bei den »Kollekten« selbst im Hintergrund zu halten. So hatten dem SCINA der 6. Militärregion zufolge FLN-Mitglieder in einigen Orten einzelne Algerier dazu bewegen können, ihre Beiträge für den FLN selbstständig bei algerischen Einzelhändlern zu hinterlegen33 . Um möglichst ohne Risiko Geldbeiträge einzusammeln, bestand eine andere Methode des FLN laut Bericht eines algerischen Informanten der Präfektur von Moselle darin, eine Person zu bestimmen, die für das Einsammeln und die Übergabe der Beiträge verantwortlich gemacht wurde. Der Informant wurde mit den Worten zitiert: 30

31 32 33

Ibid., 6. März 1958, S. 13f. Im Juni vermerkte der SCINA, dass die Frage der Störung arabischer Radiosendungen vom chef du service régional des STI und dem directeur des transmissions der 6. Militärregion mit dem Resultat untersucht worden sei, dass die lokalen Empfangsstörer nur in einem Radius von 15 km wirksam seien. Dennoch wurde beschlossen, diesbezüglich einige Versuche zu machen: ibid., 20. Juni 1958, S. 23. Sofern diese Maßnahmen tatsächlich durchgeführt wurden, scheint ihr Erfolg begrenzt gewesen zu sein. Auf den darauffolgenden Sitzungen des SCINA wurde das Thema nicht mehr erwähnt. Ibid., 21. Juli 1958, S. 12 Ibid., 20. Juni 1958, S. 5. Ibid., 10. Apr. 1958, S. 14.

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III. Algerische Migranten und der Kolonialkrieg

»Manchmal wählen sie einen von uns aus, der die Kollekte durchführen soll. Damit dieser Kamerad keine Schwierigkeiten mit ihnen bekommt, müssen wir ihm Geld geben«. Dem Bericht des Algeriers zufolge wagten es die Migranten in der Regel nicht, die Polizei zu verständigen, weil dies zu Ermittlungen und Repressionen des FLN gegen die Migranten selbst, aber auch gegen deren Familien in Algerien führen konnte34 . Wie bereits in der Phase von 1955 bis 1957 verstanden es die FLN-Aktivisten in Lothringen auch weiterhin, die sozialen Bindungen innerhalb des algerischen Milieus für den Machtausbau ihrer Organisation auszunutzen. Dass während der ersten Hälfte des Jahres 1958 immer noch lediglich eine Minderheit der algerischen Migranten in Lothringen regelmäßig Beiträge an den FLN zahlte, ist auf mehrere Gründe zurückzuführen. Erstens lag in Lothringen keine einzigartige Konzentration algerischer Migranten auf engstem Raum vor wie etwa im Großraum Paris. Durch die zersiedelte Struktur der Territorien der Nord-Ost- und der Ost-Zone war die Kontrolle der dort lebenden Algerier nicht zuletzt auch eine große logistische Herausforderung. In Lothringen lebten die meisten Algerier nicht in bidonvilles genannten Elendsvierteln wie etwa in Nanterre35 , sondern in meist abgelegenen Arbeiterwohnheimen und Barackenlagern, die man nur mit dem Auto über Landstraßen erreichen konnte und deren Einwohner zum Teil strengen Kontrollen unterlagen. Zweitens wird die mittels Kontrollen und Verhaftungen von der französischen Polizei und Gendarmerie aufgebaute Drohkulisse viele Algerier davon abgehalten haben, sich im FLN zu engagieren. Erst im Laufe des Jahres 1960 machte der FLN mit einer großen Welle von Mordanschlägen in ganz Lothringen unmissverständlich deutlich, dass er auch dort dazu bereit war, gegenüber widerständigen Algeriern bis zum Äußersten zu gehen. Bis dahin hatten die zahlreichen Aktionen der Polizei gegen den FLN die Organisation zum Teil derart geschwächt, dass sie vielerorts nicht in der Lage war, eine gefestigte Mitgliederbasis über den Stand von 1958 hinaus aufzubauen. Selbst wenn die Migranten gerne einen Beitrag an den FLN zahlen wollten, standen ihnen dazu in manchen Orten zeitweise schlicht keine Abnehmer zur Verfügung. Drittens befanden sich die meisten algerischen Migranten während des Unabhängigkeitskriegs in einer wirtschaftlich prekären Lage. Im Januar 1958 lagen die vom FLN geforderten monatlichen Beiträge nach Informationen der Polizei bei 1600 Franc für Arbeiter, 5000 Franc für Café-, Hotel- und Kneipenbesitzer sowie 3000 Franc für fahrende Händler36 . Dabei ist zu beachten, dass 34 35

36

Rapport de F. Guigue à la préfecture de la Moselle, 18. Feb. 1958, AdM 252 W 19. Mehrere Studien haben bereits gezeigt, dass die bidonvilles insbesondere aufgrund ihrer unübersichtlichen Struktur zu einem »natürlichen Rückzugsgebiet« des FLN werden konnten: House, MacMaster, Paris 1961, S. 132; siehe auch Muriel Cohen, Les bidonvilles de Nanterre, in: Stora, Amiri (Hg.), Algériens en France, S. 27–30. SCINA régional, 6e région, procès-verbal de la réunion, 7. Jan. 1958, S. 15, AdM&M 950 W 13.

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3. Der FLN in Lothringen

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die große Mehrheit der Algerier in dieser Zeit als Hilfsarbeiter beschäftigt war. Andrée Michel zufolge verdiente ein Hilfsarbeiter in Moselle im Bausektor und in der Eisen- und Stahlindustrie 1955 etwa 150 Franc die Stunde37 . Vor diesem Hintergrund betrachtet, erscheint die Verweigerung der Zahlung regelmäßiger Beiträge an den FLN nicht notwendig als Ausweis politischer Neutralität. Vielmehr ist davon auszugehen, dass viele Algerier ungeachtet ihrer Sympathien für die Unabhängigkeit Algeriens ohne die Ausübung von Zwang nicht dazu bereit waren, einen regelmäßigen Anteil ihres geringen Lohns, den sie oftmals mit ihren Familien in Algerien teilten, aus der Hand zu geben. Die Summe, die die Untergrundorganisation von den Migranten für die Aussicht auf deren politische Emanzipation verlangte, war vielen Algeriern, die sich zuallererst mit den Sorgen des Alltags befassen mussten, schlicht zu hoch. Der FLN konnte 1958 in Lothringen lediglich ein knappes Viertel der dort lebenden Migranten dazu bewegen, einen regelmäßigen Beitrag an ihn zu zahlen. Insofern muss das häufig bemühte Bild eines algerischen Staates im Staat ungeachtet des strategischen Geschicks, der erfolgreichen Propaganda und der ausdifferenzierten Struktur des FLN relativiert werden. Trotz aller Erfolge mangelte es der Untergrundorganisation zur Realisierung ihrer eigenen Machtansprüche in dieser Phase noch an Durchsetzungsfähigkeit.

3.2. Die negativen Konsequenzen der »opération orage« Während der ersten Jahre des algerischen Unabhängigkeitskriegs hatten FLN-Aktivisten in der Metropole immer wieder vereinzelte Anschläge gegen französische und algerische Politiker, Polizisten und Soldaten durchgeführt. Den Tätern, Opfern und Beobachtern galten diese Attentate ungeachtet ihres jeweiligen Kontextes als öffentlich sichtbare Zeugnisse der Schlagkraft und Reichweite der Macht des FLN außerhalb Algeriens. Als solche riefen sie auf Seiten der Gendarmerie und Polizei stets eine harte Gegenreaktion in Form von Hausdurchsuchungen, Verhaftungen und auch Gewaltanwendungen an Algeriern hervor. Dieses Muster zeigte sich in seiner bis dahin extremsten Form anlässlich der »opération orage« des FLN. Sie begann am 25. August 1958 und sollte der Präsenz des Unabhängigkeitskriegs in der Metropole durch eine Serie von koordinierten Anschlägen auf unterschiedliche Ziele an diversen Orten zu einer neuen Qualität verhelfen. Die groß angelegte Anschlagsserie des FLN hatte nach den Memoiren Omar Boudaouds, des damaligen Chefs der französischen Föderation des FLN, drei Ziele. Die Attentate gegen militärische und wirtschaftliche Ziele sowie »Agenten der Repression« sollten erstens den Transport von Waffen 37

Michel, Les travailleurs algériens en France, S. 96.

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III. Algerische Migranten und der Kolonialkrieg

und Geldern an die französische Armee behindern und damit die ALN in Algerien entlasten. Zweitens sollte die französische Öffentlichkeit beeindruckt werden, damit sie mehr Druck auf die Regierung in Paris ausübte, die Repression in Algerien zu beenden. Drittens schließlich sollten die Anschläge den französischen Staat auch wirtschaftlich schwächen, da die französische Regierung bereits versuchte, Investoren für die Ausbeutung der algerischen Ölfelder zu gewinnen. Aus Sicht der Rebellen galt es, diese Investitionen zu verhindern und durch Anschläge als unsicher erscheinen zu lassen38 . Nach der Anordnung der »opération orage« durch das GPRA äußerte Mohamed Harbi als einziges Mitglied der damaligen Führung der französischen Föderation des FLN Bedenken gegen die Eröffnung einer »zweiten Front« in der Metropole39 . Boudaoud behauptete in seinen Memoiren, die Aktivisten der Organisation hätten vor Ungeduld gebrannt, sich endlich mit konkreten Aktionen und nicht nur mit Beitragszahlungen an der Revolution beteiligen zu dürfen40 . Dagegen wies Harbi auf die riskanten Folgen einer Anschlagsoffensive hin, nicht nur für den FLN, sondern für alle algerischen Migranten. Dass die französische Reaktion auf eine solche Anschlagsserie eine Welle massiver Repressionen zur Folge haben würde, war abzusehen. Jahre später erinnerte sich Harbi, allen Mitgliedern des Führungskomitees sei bewusst gewesen, dass die Existenz des FLN in der Metropole auf dem Spiel gestanden habe41 . Die »opération orage« erwies sich zunächst als herber Rückschlag für den FLN. Das Ziel, die mediale und öffentliche Aufmerksamkeit in Bezug auf die algerische Rebellion zu erhöhen, wurde zwar erreicht. Allein während der ersten Nacht der Anschlagsserie vom 24. auf den 25. August kamen durch Attentate des FLN in der Metropole mindestens 24 Personen ums Leben und 17 weitere wurden verletzt42 . Abgesehen von ihrer symbolischen Bedeutung hatten die Anschläge militärisch jedoch nur einen verschwindend geringen Effekt43 . Die französische Föderation des FLN musste erleben, dass die auf »orage« folgende Offensive der Polizei ihre Organisation über mehrere Monate hinweg nachhaltig schwächte. Obgleich die spektakulären Attentate auf Einzelpersonen und Explosionen von Ölreservoirs nur in wenigen Städten stattgefunden hatten44 , setzten die Folgen der Anschlagsserie dem FLN in der gesamten Metropole zu. 38 39 40 41 42

43 44

Ibid., S. 169–171. Ibid., S. 171. Ibid. Harbi, Une vie debout, S. 238f. Linda Amiri hat darauf hingewiesen, dass dies nur eine vorläufige Bilanz sei, die von weiteren Forschungen noch ergänzt werden könnte: Linda Amiri, La répression policière en France vue par les archives, in: Harbi, Stora (Hg.), La guerre d’Algérie 1954–2004, S. 403–416, hier S. 405. Meynier, Histoire intérieure du FLN, S. 540. Neben Paris waren insbes. Marseille, Toulouse und Rouen Ziele, vgl. Haroun, La 7e wilaya, S. 92–102; Djerbal, L’organisation speciale de la Fédération de France, S. 63–65.

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3. Der FLN in Lothringen

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In Lothringen erreichte der Befehl für die Anschläge die zuständigen Aktivisten nach der Darstellung Ali Harouns erst 48 Stunden vor deren Beginn. Aufgrund dieser späten Anweisung, der kurz zuvor erfolgten Verhaftung der wichtigsten FLN-Kader aus Nancy, Thionville sowie Metz und nicht zuletzt wegen des schlechten Wetters fand »orage« in Lothringen praktisch nicht statt. Eine Gruppe von Aktivisten, die den Wald bei Sainte-Marie anzünden wollte, wurde am 23. August verhaftet45 . Eine weitere Gruppe scheiterte in der Nacht von 24. auf den 25. August bei dem Versuch, einen Waldbrand in den Ardennen zu legen, am Regen46 . Bis Mitte Dezember 1958 erlebte auch die Organisation des FLN in Lothringen einen deutlichen Machtverfall. Der SCINA der 6. Militärregion stellte dies in direkten Zusammenhang mit der im August 1958 begonnenen »Terroroffensive« des FLN in der Metropole und bezeichnete diese daher als schweren taktischen Fehler. Das Gremium ging davon aus, dass die »muslimische Masse« in der Metropole die Anschläge abgelehnt habe und verwies zudem auf die im Anschluss an »orage« auch in Lothringen durchgeführten Verhaftungen führender FLN-Kader47 . So konnten Polizei und Gendarmerie im September 1958 allein in Meurthe-et-Moselle etwa 30 Zellen des FLN zerschlagen, nachdem ein chef régional, neun kasma-Chefs, 15 Chefs von Sektionen und 30 Gruppenleiter verhaftet worden waren48 . Anfang Dezember bilanzierten die RG jenes Departements, dass dort seit der »opération orage« insgesamt 68 FLN-Aktivisten verhaftet sowie vier Pistolen beschlagnahmt worden seien49 . Indessen konnte die BST von Metz am 13. November 1958 den Stellvertreter des chef régional der FLN-Region von Metz, den Bezirksleiter von Metz sowie einen Kontrolleur, der aus Paris gekommen war, verhaften. Bei dieser Aktion fielen der BST zudem 2 210 000 Franc in die Hände, die im Monat zuvor bei algerischen Migranten in der Region eingesammelt worden waren. Aufgrund der Angaben der Verhafteten nahm die BST am darauffolgenden Tag auch den chef régional des FLN von Metz in Folschviller fest50 . Im Dezember gelang es der BST von Metz schließlich, mit Imalhayene Samir und Bennai Ouhamed zwei weitere chefs de zone sowie den chef régional von Nancy zu verhaften. Hinzu kamen fünf Verbindungspersonen, darunter drei Frauen. Kurz zuvor waren bereits die beiden régionaux von Metz und Thionville, 45 46 47 48 49 50

Haroun, La 7e wilaya, S. 104. René Haiblet, commissaire principal, chef de la BST à Metz, à monsieur le préfet de la Moselle, 4. Okt. 1958, AdM 370 W 1. SCINA régional, 6e région, procès-verbal de la réunion, 19. Dez. 1958, S. 4f., AdM&M 950 W 13. RG de Nancy, la population musulmane en Meurthe-et-Moselle, 6. Okt. 1958, AdM&M 950 W 14. Ibid., 4. Dez. 1958. Charles Tuyttens et Marcel Bey, brigade de Saint-Avold, procès-verbal no 2090, 23. Nov. 1958, AN, F/7/15114.

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III. Algerische Migranten und der Kolonialkrieg

zwei Bezirksleiter von Metz und mehrere ihrer Verbindungspersonen verhaftet worden. Die PJ von Metz konnte ihrerseits die Festnahme des régional choc und mehrerer Mitglieder seiner Gruppe melden, während die PJ von Nancy berichtete, sie habe den FLN-Bezirk Villerupt-Errouville zerschlagen; die Sûreté von Nancy ließ verlauten, sowohl die Bezirke Nancy-Ville als auch Nancy-Extérieur seien zerstört. Als ebenfalls identifiziert, aber flüchtig galten im Januar 1959 die beiden régionaux von Thionville und Forbach sowie ein weiterer zonal choc51 . Die große Verhaftungswelle führender FLN-Kader in Lothringen zum Ende des Jahres 1958 verzögerte dessen weitere Machtentfaltung in der Region erheblich. Besonders in Meurthe-et-Moselle konnte der MNA dank seiner nördlichen Bastion in Longwy und der Rückkehr einiger Aktivisten nach ihrer Internierung in Algerien52 aus der Desorganisation des FLN kurzzeitig Profit schlagen und einige zuvor übergelaufene Aktivisten zurückgewinnen53 . Abgesehen von (oder wegen) dieser erneuten Anspannung der Konkurrenzsituation schien es den RG im April 1959, als sei der Einfluss des FLN auf die Algerier in Meurthe-et-Moselle rückläufig. Demnach hatten die »Kollekten« nach den Verhaftungen mehrerer Verantwortlicher zwar wieder stattgefunden, aber in einem wesentlich geringeren Umfang. Der Inlandsgeheimdienst berichtete gar von einer allgemeinen Entspannung innerhalb der algerischen Gemeinschaft54 ; eine Einschätzung, die vorsichtig bewertet muss, da die Polizeikontrollen von Algeriern in der Region unvermindert fortgesetzt wurden. Trotz allem schien den RG das Übergewicht des FLN gegenüber dem MNA in Meurthe-et-Moselle mit 1163 zu 560 Beitragszahlern auch weiterhin gegeben zu sein55 . Allein aufgrund der Quellen der Dienste des SCINA ist jedoch zu konstatieren, dass der bis dahin zeitweise unaufhaltsam anmutende Aufstieg des FLN auch in Lothringen durch die Folgen von »orage« einen Bruch erlebte. Um die Organisation zukünftig besser gegen die Verhaftungen der französischen Polizei zu schützen, organisierte der FLN seine festen Mitglieder auf der Ebene der Aktivisten zu Beginn des Jahres 1959, nach Angaben der BST, neu. Im Unterschied zu den Anhängern und Sympathisanten sollte jede Zelle 51

52 53

54 55

René Haiblet, commissaire principal, chef de la BST à Metz, à monsieur le préfet de la Moselle, 24. Jan. 1959, AdM 370 W 1. Die Bezeichnungen régional choc und zonal choc weisen darauf hin, dass die Aktivitäten der bewaffneten Kommandos bzw. der Schocktruppen innerhalb des FLN zumindest offiziell der Anleitung bestimmter Kader unterlagen, die jeweils für eine bestimmte territoriale Einheit verantwortlich waren. RG de Nancy, la population musulmane en Meurthe-et-Moselle, 6. Apr. 1959, AdM&M 950 W 14. Nachdem im Februar 1959 weitere FLN-Aktivisten in Nancy und Jœuf verhaftet wurden, meldeten die RG im März, dass einige zum FLN übergelaufene Messalisten wieder zum MNA zurückgekehrt seien: ibid., 4. März 1959. Ibid., 6. Apr. 1959. Ibid.

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3. Der FLN in Lothringen

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der Aktivisten anstatt fünf nur noch drei Mitglieder zählen. Die forcierte Abschottung der Mitglieder mit der höchsten organisationsinternen Verantwortung war nach Informationen der BST von Metz in der FLN-Region Thionville bereits im Februar 1959 umgesetzt worden, während sie etwa in den Ardennen trotz entsprechender Anordnungen der Zentrale des FLN noch nicht vollzogen war56 . Die Struktur und die Macht des FLN blieben weiterhin stark von lokalen Bedingungen abhängig. Abseits der Region Thionville, die von der Verhaftungswelle nach »orage« in Lothringen am wenigsten betroffen war und wo nach Einschätzung der BST im Februar 1959 noch etwa 1600 Algerier Beiträge an den FLN zahlten, hatten die polizeilichen Repressionen zum Jahresende 1958 den FLN in ganz Lothringen erheblich geschwächt. So ging die BST im Februar 1959 davon aus, dass etwa im Umkreis von Longwy nur noch 100 und in Metz lediglich 400 FLNBeitragszahler lebten. In Nancy hingegen galt das vormals 2000 Beitragszahler zählende Netzwerk des FLN als vollkommen desorganisiert57 . Im Departement Meurthe-et-Moselle hatte sich der FLN nach Einschätzung der RG auch ein Jahr nach »orage« nicht von deren unmittelbaren Folgen erholt. Es wurde geschätzt, dass die Organisation innerhalb des Departements weiterhin rund 1200 Beitragszahler zählte, deren Verteilung ein Bericht genauer aufschlüsselte. Innerhalb des industriellen Beckens von Longwy zählte demnach der FLN-Bezirk von Longwy etwa 100 Beitragszahler und die beiden kasma Piennes-Trieux-Tucquegnieux und Errouville jeweils 165 und 95 Beitragszahler. Den stärksten Rückhalt hatte die Organisation wie zuvor in Villerupt. In dem dortigen Bezirk zahlten den Angaben nach 310 Algerier einen regelmäßigen Beitrag an den FLN58 . Jenseits von Longwy entrichteten im Bezirk Jœuf, der an die Region von Metz angegliedert war, nach der Einschätzung der RG etwa 150 Algerier Beiträge an den FLN. Eine Sektion von Toul, die von rund 20 Algeriern Gelder eingetrieben hatte, war im Februar 1959 gegründet, jedoch bereits im Mai darauf von der Polizei enttarnt und zerschlagen worden59 . Schließlich kam noch die im August 1959 zumindest in Teilen reorganisierte FLN Region Nancy hinzu, wo im Bezirk Nancy-Ville 130 Algerier den FLN finanziell unterstützten, während es im Bezirk Nancy-Extérieur 288 waren60 . 56 57

58 59 60

Le commissaire principal, chef de la BST à Metz, René Haiblet, à monsieur le préfet de la Moselle, 28. Feb. 1959, AdM 370 W 1. Ibid. In Nancy war der MNA nach Einschätzung der Polizei am 1. Dezember 1957 praktisch inexistent; die Organisation war vom FLN in der Hauptstadt des Departements Meurthe-et-Moselle so gut wie eliminiert worden. Allerdings hatte der FLN seit September 1958 einen großen Teil seines Einflusses auf die algerische Bevölkerung der Stadt wieder eingebüßt, nachdem zahlreiche Mitglieder der Organisation verhaftet worden waren: RG de Nancy au préfet de Meurthe-et-Moselle, 18. Feb. 1959, AdM&M 950 W 57. RG de Nancy, la population musulmane en Meurthe-et-Moselle, 3. Aug. 1959, AdM&M 950 W 14. Ibid. Ibid.

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III. Algerische Migranten und der Kolonialkrieg

Ein Jahr nach »orage« hatte es der FLN somit nicht geschafft, die um die Jahreswende 1958/1959 enttarnten Bezirke in Meurthe-et-Moselle zu reorganisieren61 . Die Zahl seiner Beitragszahler unter den algerischen Migranten war jener der wieder im Aufschwung befindlichen Konkurrenzorganisation des MNA zumindest in Meurthe-et-Moselle wieder gefährlich nahe gekommen. Die RG gingen im Juni 1959 von einem Kräfteverhältnis von rund 1200 zu 800 in diesem Departement aus62 . Innerhalb des Departements Moselle nahmen die Machteinbußen des FLN infolge von »orage« weniger spektakuläre Ausmaße an als in Meurthe-etMoselle. Auf einer Sitzung des SCINA des Departements Moselle herrschte am 7. September 1959 zwischen den Vertretern der Polizeidienste und der Gendarmerie des Departements Einigkeit darüber, dass der MNA dort weiterhin sehr schwach sei. So hatte man etwa konstatieren können, dass die MNA-Chefs von Uckange und Hagondange zum FLN übergelaufen waren, ohne dies jedoch bekanntzugeben. Also gaben sie weiterhin vor, Gelder für den MNA einzusammeln, die aber letztendlich beim FLN landeten. Mit dem Hinweis darauf, dass die wenigen erfolgreichen Rückeroberungsversuche einzelner Cafés und Herbergen des MNA in Metz und Sarreguemines von Aktivisten außerhalb von Moselle durchgeführt worden seien, wurde der kleine Aufschwung der Messalisten in Moselle im Jahr 1959 als »Strohfeuer« bezeichnet. Das Übergewicht des FLN schien dort weiterhin eindeutig zu sein. Im September zählte die Organisation demnach in der Region Thionville 1710 Beitragszahler, in der Region Metz 560 und im Kohlecken von Forbach rund 100063 . Einige Quellen deuten darauf hin, dass der FLN in Moselle seinen Wiederaufstieg ebenso wie der MNA zu einem gewissen Anteil auch Aktivisten verdankte, die von auswärts kamen und selbst nicht in Lothringen lebten. So berichtete etwa ein algerischer Informant der Polizei von Metz, dass bis dahin unbekannte Kontrolleure des FLN am frühen Abend des 18. Juni 1959 einen Rundgang durch alle algerischen Kneipen des Viertels Pontiffroy gemacht hätten, um dort Karten- und Dominospiele zu verbieten. Tags drauf hätten sie die gleichen Anweisungen in allen Kneipen im Viertel Champé gemacht, woraufhin am Nachmittag des 21. Juni vier andere Emissäre des FLN kontrolliert hätten, ob die Anordnungen auch eingehalten wurden64 . Im November 1959 schien es auch den RG in Meurthe-et-Moselle, als zeigten die Anstrengungen des FLN, seinen Einflussbereich dort wieder auszudehnen, erste Erfolge. In Toul wurde der Organisation der Mord an einem 61 62 63 64

Entsprechendes hatten auch der chef de zone und sein Stellvertreter bestätigt, die im Juni und Juli 1959 verhaftet worden waren, vgl. ibid. Ibid. Die gleichen Zahlen wurden auch schon in einem früheren Bericht angeführt: ibid., 2. Juni 1959. SCINA départemental: compte rendu de la réunion, 7. Sep. 1959, S. 1–10, AdM 370 W 26. Commissariat central de Metz – sûreté urbaine – BNA: activités des mouvements séparatistes algériens, 26. Juni 1959, ibid.

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3. Der FLN in Lothringen

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Algerier zugeschrieben, der in der Nacht vom 10. November erwürgt und am Rande des Hafenbeckens liegengelassen worden war65 , was die Algerier in der Stadt nach Einschätzung der RG stark eingeschüchtert hatte66 . Zugleich wurde ohne Angaben von Zahlen konstatiert, in Nancy würden die »Kollekten« des FLN wieder in einem deutlich größeren Ausmaß und regelmäßiger stattfinden als noch im Sommer zuvor67 . Bei dieser Einschätzung blieben die RG auch, nachdem im November 1959 der chef de zone von Nancy und mehrere chefs de région verhaftet worden waren. Nach ihrer eigenen Einschätzung hatte dieser erneute Coup der Polizei die Macht des nunmehr gestärkten FLN in der Hauptstadt von Meurthe-et-Moselle substanziell nicht eingedämmt68 . Glaubt man den Angaben der RG, war der erneute Machtgewinn des FLN in Meurthe-et-Moselle zum Ende des Jahres 1959 nur von kurzer Dauer. Nachdem im Dezember zunächst die zwei Verantwortlichen der beiden Bezirke des FLN in Nancy verhaftet worden waren69 , brach die Zahl der Algerier, die in dieser Stadt einen regelmäßigen Beitrag an die Organisation entrichteten, zu Beginn des Jahres 1960 wieder ein. Mit dem Verweis auf einen internen Bericht eines chef de zone berichteten die RG im April 1960, dass die Zahl der Beitragszahler des FLN in Nancy seit Dezember 1959 von 446 auf etwa 50 eingebrochen sei70 . Im Mai 1960 berichteten die RG dann wieder unter Berufung auf interne Dokumente des FLN, dass in ganz Meurthe-etMoselle nur noch etwa 500 Algerier Geldbeiträge an die Organisation zahlen würden71 und somit nicht einmal 10 Prozent aller Algerier, die zu dieser Zeit in jenem Departement registriert waren72 . Die Angaben der Polizeiberichte über die Machtentwicklung des FLN weisen einen deutlichen Mangel an Präzision auf. Dies liegt vor allem daran, dass die Beamten es mit einer breit vernetzten Untergrundorganisation zu tun hatten und, um deren Stärke einzuschätzen, stets auf die Berichte von Spitzeln angewiesen waren. Sie hatten nur selten die Möglichkeit, auf interne Berichte des FLN zuzugreifen. Trotz dieser offensichtlichen Mängel können die Quellen auch ohne den Anspruch auf absolute Präzision deutlich machen, dass der FLN nach »orage« in Lothringen zeitweise erhebliche Schwierigkeiten hatte, algerische Migranten zur Entrichtung eines regelmäßigen Geldbeitrags für die Unterstützung des Unabhängigkeitskampfes zu bewegen. 65 66 67 68 69 70 71 72

Le Républicain lorrain, 11. Nov. 1959. RG de Nancy, la population musulmane en Meurthe-et-Moselle, 4. Feb. 1960, AdM&M 950 W 14. Ibid., 3. Nov. 1959. Ibid., 5. Dez. 1959. Ibid. Ibid., 4. Apr. 1960. Ibid., 4. Mai 1960. Exakte Zahlenangaben für diesen Zeitpunkt liegen dem Autor nicht vor. Im März 1961 lebten nach den Angaben der RG in Meurthe-et-Moselle etwa 7800 Algerier, 265 Marokkaner und 62 Tunesier, ibid., 5. Apr. 1961.

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III. Algerische Migranten und der Kolonialkrieg

Zumindest in Bezug auf die Menge regelmäßiger Beitragszahler unter den algerischen Migranten in den beiden Departements Moselle und Meurtheet-Moselle hatte die Macht des FLN im Herbst 1958 einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Dass die Organisation in der Folge versuchte, jenes Defizit etwa durch eine Erhöhung der Beiträge zu kompensieren73 , kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine deutliche Mehrheit der Algerier sich ihren Machtansprüchen entzog. Ob dies vor allem aufgrund verschiedener Formen von Eigensinn, Einschüchterungen durch Polizei, Gendarmerie, MNA oder aus anderen Motiven heraus geschah, kann aus heutiger Sicht nicht mehr geklärt werden. Es muss festgehalten werden, dass der Verzicht einer großen Zahl der algerischen Arbeitsmigranten auf die finanzielle Unterstützung der algerischen Unabhängigkeitsbewegung noch keine definitive Aussage über deren Haltung gegenüber dem FLN zulässt. Dass die Organisation es im September 1959 etwa geschafft hatte, Präsident de Gaulle dazu zu bringen, die Unabhängigkeit Algeriens als realistische politische Option zur Diskussion zu stellen, dürften viele Algerier in Lothringen durchaus begrüßt haben. Der CTAM von Moselle berichtete, dass die diesbezügliche Rede de Gaulles von »fast allen Algeriern des Departements« verfolgt worden sei und es einen wahren Auflauf vor Radiound Fernsehsendern gegeben habe74 . Das Interesse der algerischen Migranten an der politischen Zukunft ihrer Heimat war enorm, und nur die wenigsten dürften nach knapp fünf Jahren Krieg einen Machterhalt Frankreichs als wünschenswert angesehen haben. Dass die ersten offiziellen Verhandlungen zwischen Vertretern der französischen Regierung und des FLN in Melun im Juni 1960 scheiterten, war in erster Linie de Gaulles Festhalten am Territorium der Sahara geschuldet. Vor allem aufgrund der Ölvorkommen und der dort gegebenen Möglichkeiten für Atomtests sollte die Sahara nach dem Willen des ehemaligen Generals von den Verhandlungen über die Unabhängigkeit des algerischen Territoriums ausgenommen werden75 . Den beiden Verhandlungsparteien schien das Endziel der Unabhängigkeit beziehungsweise die Möglichkeit einer Schadensbegrenzung für Frankreich in dieser Situation zum Greifen nahe. Da keine Seite jedoch ein mögliches Entgegenkommen signalisierte, versuchten beide noch fast zwei 73

74

75

Der SCINA von Moselle berichtete im September 1959, dass FLN-Aktivisten die Beiträge von 2000 auf 3000 Franc erhöht und damit dem Niveau im Rest der Metropole angeglichen habe: SCINA départemental: compte rendu de la réunion, 7. Sep. 1959, S. 1–10, AdM 370 W 26. Die meisten Algerier hatten es nach der Rede jedoch vermieden, ihre Meinung darüber zu äußern. Die meisten hätten sich zuversichtlich gezeigt, dass die Unabhängigkeit nun in Reichweite sei, was bei denjenigen, die bislang für die Polizei gearbeitet hatten oder profranzösisch orientiert waren, große Ängste vor den Folgen erzeugt habe: M. Guigue, conseiller technique pour les affaires musulmanes, rapport trimestriel, 8. Okt. 1959, AdM 297 W 66. Thénault, Histoire de la guerre d’indépendance algérienne, S. 242f.

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3. Der FLN in Lothringen

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Jahre lang, den jeweiligen Kontrahenten abseits des Verhandlungstischs zum Einlenken zu bewegen. Als Form der Machtdemonstration wurde dabei die Gewalt gegenüber Algeriern in der Metropole von beiden Seiten auf die Spitze getrieben76 .

3.3. Ein Industriegebiet wird zum Kriegsgebiet Seit dem Ende des Jahres 1958 hatte die erdrückende Dominanz der französischen Armee in Algerien für heftige Verwerfungen innerhalb des FLN gesorgt, die bis in das GPRA hineinreichten77 . Die bereits seit dem ersten Jahr des Krieges bestehenden Konflikte innerhalb der Führung des FLN um die Frage der Versorgung der ALN mit Waffen und Nahrungsmitteln verschärften sich, als die französische Armee im Februar 1959 mit einer groß angelegten Militäroffensive begann, dem Plan Challe. Dieser sah eine minutiöse Durchkämmung des algerischen Territoriums durch Bodentruppen von West nach Ost vor mit dem Ziel, eine endgültige militärische Niederlage der Rebellion herbeizuführen78 . Noch vor dem Ende dieser militärisch äußerst erfolgreichen Offensive erkannte jedoch Präsident de Gaulle am 16. September 1959 in einer öffentlichen Rede erstmals das Recht des algerischen Volkes auf Selbstbestimmung an. Es war das erste Mal, dass ein französischer Staatschef ein »algerisches Algerien« als realistische Option diskutierte79 . Der FLN hatte stets auf eine Ankündigung der französischen Regierung wie jene am 16. September 1959 hingearbeitet. Dennoch wurden die bereits bestehenden organisationsinternen Spannungen durch die Rede de Gaulles noch akzentuiert. Auf den unteren Ebenen lag dies vor allem daran, dass französische Armee und Polizei ihre Repressionen ungebrochen fortführten oder sogar verstärkten, um ihrer Regierung bei den nun möglich gewordenen Verhandlungen über einen Waffenstillstand eine gute Ausgangsposition zu ver76

77 78

79

Auch die Regierung de Gaulle war über das Ausmaß des Staatsterrors gegenüber Algeriern der Metropole informiert. Sie ließ dem berüchtigten Chef der Pariser Polizei, Maurice Papon, diesbezüglich vollständig freie Hand und deckte ihn auch: House, MacMaster, Paris 1961, S. 223f. Vgl. Thénault, Histoire de la guerre d’indépendance algérienne, S. 180–187. Daho Djerbal, Les maquis du Nord-Constantinois face aux grandes opérations de ratissage du plan Challe (1959–1960), in: Jauffret, Vaïsse (Hg.), Militaires et guérilla durant la guerre d’Algérie, S. 195–217. Damit hatte der französische Präsident einen radikalen Kurswechsel in der Algerienpolitik eingeschlagen, den außer zahlreichen Offizieren der Armee auch viele Politiker als Affront auffassten. Nach mehreren Aufständen Zehntausender Algerienfranzosen, von denen viele de Gaulle anderthalb Jahre vor dem 16. September 1959 noch als Retter der »Algérie française« gefeiert hatten, gipfelte der innerfranzösischen Konflikt um die Zukunft Algeriens schließlich am 21. April 1961 im zweiten Putsch des Algerienkrieges: Vaïsse, Alger. Le Putsch.

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III. Algerische Migranten und der Kolonialkrieg

schaffen. Auf der Ebene des GPRA hingegen konnte keine Einigkeit bezüglich der Frage hergestellt werden, inwiefern die militärischen Anstrengungen erhöht werden sollten, um ein Auseinanderfallen der ALN zu verhindern oder ob im Sinne eines baldigen Waffenstillstands eher eine allgemeine Deeskalation angezeigt war. Schließlich heizte die nun konkreter gewordene Aussicht auf die baldige Unabhängigkeit Algeriens die FLN-internen Rivalitäten auch aufgrund der Frage nach der Machtverteilung innerhalb des dann zu errichtenden Staatsapparats an80 . Angesichts der verschiedenen Differenzen innerhalb des FLN erwiesen sich die führenden Kader der französischen Föderation wie bereits bei den Sondierungen für »orage« als ausgewiesene Hardliner. Sie setzten im Rahmen ihrer Möglichkeiten gegenüber dem GPRA und insbesondere gegenüber Frankreich auf einen Konfrontationskurs. Davon abgesehen war die Führung der Föderation besonders in der Endphase des Unabhängigkeitskriegs nur noch bedingt dazu in der Lage, die Kampfeslust ihrer Aktivisten an der Basis zu bremsen81 . Diese sahen sich insbesondere in Paris seit der Übernahme des Amts des Polizeipräfekten durch Maurice Papon im März 1958 mit einer massiven Steigerung der polizeilichen Repression konfrontiert und machten den Machtkampf mit der Polizei in der Hauptstadt trotz der Beschwichtigungsversuche des GPRA neben einer politischen auch zu ihrer persönlichen Angelegenheit82 . Während der letzten beiden Jahre des Unabhängigkeitskrieges war der MNA in Paris weitgehend ausgeschaltet. Somit wurde die Agenda der dortigen FLN-Aktivisten neben dem Einsammeln von Geldbeträgen algerischer Migranten von den Auseinandersetzungen mit der französischen Polizei dominiert. Die Konfliktkonstellation in der Hauptstadt unterschied sich sehr von der Situation in Lothringen. Der FLN musste sich im lothringischen Grenzgebiet nicht nur von einem Schwund der Mitglieder und Beitragszahler erholen, hinzu kam, dass die dortigen Aktivisten sich weiterhin in einem Machtkampf mit den Messalisten befanden. Ali Haroun bezeichnete das Becken von Lothringen ebenso wie die Agglomeration Lille-Roubaix-Tourcoing im Hinblick auf die dortigen Auseinandersetzungen mit dem MNA bis zur Unabhängigkeit als »Grab der FLN-Chefs«83 . Dabei waren diese keineswegs nur Opfer, sondern strengten Gilbert Meynier zufolge unter den 80 81 82

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Djerbal, L’organisation speciale de la Fédération de France, S. 328–332. House, MacMaster, Paris 1961, S. 124. Jim House und Neil MacMaster haben gezeigt, wie in der französischen Hauptstadt unter der Aufsicht und teilweise unter Anleitung der Regierung de Gaulle ein Polizeiregime entstand, das unter dem Eindruck der Sondierungen für einen Waffenstillstand in Algerien und zahlreicher Mordanschläge des FLN gegen Polizisten den »Staatsterror« gegenüber Algeriern im Verlauf des Jahres 1961 auf die Spitze trieb. Allein im September und Oktober 1961 wurden mindestens 120 Algerier von der Pariser Polizei ermordet, vgl. ibid., S. 211. Haroun, La 7e wilaya, S. 259.

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3. Der FLN in Lothringen

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entsprechenden Anweisungen der französischen Föderation einen »wahren Vernichtungskrieg«84 gegen den MNA an. Aufgrund eigener Sicherheitsbestrebungen und Machtansprüche vor Ort, aber auch, um die Verhandlungsposition des GPRA gegenüber der französischen Regierung zu stärken, richtete sich die Offensive der Gewalt des FLN nicht nur gegen Messalisten, sondern gegen alle Algerier, die die Autorität der Organisation in Frage stellten85 . So wurden die algerischen Migranten im lothringischen Grenzgebiet seit Mitte des Jahres 1960 mehr denn je zu Zeugen und teilweise zu Opfern des Bestrebens der Kriegsparteien FLN, MNA und der französischen Polizei, ihre Macht in Form von massiver Gewaltanwendung sowohl der Öffentlichkeit, den Kriegsgegnern als auch gegenüber den anderen Teilen ihrer Organisation zu demonstrieren. Um verstehen zu können, welches Ausmaß die Gewalt gegen Algerier in Lothringen seit Mitte des Jahres 1960 erreichte, müssen die verschiedenen Attentate nicht nur in ihrer Anzahl, sondern auch in ihrem jeweiligen situativen Kontext betrachtet werden. Abstrakte Zahlen vermögen die emotionale Wirkung einer breit angelegten Machtdemonstration durch zahlreiche Einschüchterungen und Morde nicht zu erfassen. Die Wirkung der Gewalt kann in ihrem historischen Kontext für heutige Leser nur nachvollziehbar gemacht werden, wenn sie nicht nur quantitativ, sondern auch in ihrer räumlichen Konzentration und Frequenz rekonstruiert wird. Dazu bietet es sich an, den Blick auf die Anschläge im Industriegebiet um Thionville zu konzentrieren, wo innerhalb Lothringens in dieser Phase die meisten Algerier lebten86 . Zwischen Juli 1960 und März 1962 berichtete die regionale Presse von über 55 Attentaten auf Algerier, die allein innerhalb des etwa 30 Kilometer langen Industriestreifens entlang der Mosel zwischen Thionville und dem nördlich von Metz gelegenen Woippy verübt worden waren. Dabei waren den Angaben zufolge 33 Algerier ermordet und 31 verletzt worden. Für die Arbeitsmigranten vor Ort bedeutete dies, dass Nachrichten von in nächster Umgebung ermordeten Algeriern, die ihnen durchaus bekannt sein konnten, zu einem alltäglichen Geschehen wurden.

84 85

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Meynier, Histoire intérieure du FLN, S. 538. Exemplarisch dafür, dass sich der FLN während der letzten Monate des Unabhängigkeitskrieges mit mehreren Feinden gleichzeitig konfrontiert sah, ist eine Anordnung des für die Finanzen zuständigen Kaders der französischen Föderation, Kaddour Ladlani, 7. März 1962. Darin ist grob verallgemeinernd von »provocations messalo-flicoharkistes« die Rede, wodurch Messalisten, Polizisten und Harkis auf eine Ebene gestellt wurden, siehe ibid. Dieser Annahme liegen die Zahlen einer Erhebung der Gendarmerie Moselle aus dem Jahr 1958 zu Grunde. Demnach lebten innerhalb des Einzugsgebiets der GendarmerieSektion von Thionville 5744 der insgesamt 12 670 Algerier innerhalb des Departements Moselle: Le chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle: État de répartition numérique des Nord-Africains résidant dans le département, 7. Jan. 1958, SHAT 2007 ZM 1/135 733.

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III. Algerische Migranten und der Kolonialkrieg

Der Prozess der Veralltäglichung der Gewalt gegen Algerier in der Region Thionville während der Endphase des Unabhängigkeitskriegs lässt sich ab dem 21. Juli 1960 nachzeichnen. In der Nacht auf den 22. Juli 1960 wurde ein Algerier in Florange im Lager Bétange erschossen, der dort bei einem Cousin übernachtet hatte, weil er zuvor in Thionville vom FLN bedroht worden war87 . Am nächsten Morgen wurde in Sérémange ein Algerier durch einen Schuss ins Gesicht schwer verletzt, als er um 4.40 Uhr auf dem Weg zur Arbeit war88 . Am 15. August wurde dann die Leiche eines Algeriers am Rande eines kleinen Weges in Hayange gefunden. Der »Républicain« berichtete, das Opfer habe sich zuvor geweigert, einen Beitrag an den FLN zu zahlen89 . Nach dieser Tat schossen noch am gleichen Abend mehrere Unbekannte von der Straße aus in das algerische Café Guessas in Uckange, das als wichtiger Rückzugsort des MNA galt90 . Nach einer kurzen Phase ohne Meldungen über Attentate in der Region um Thionville häuften diese sich wieder zum Ende des Jahres 1960. Zunächst wurde am 27. November 1960 die Leiche eines Algeriers, eingewickelt in einen Mantel, in einem Gebüsch bei Illange, einem Ortsteil von Thionville, gefunden. Er war erwürgt worden91 . Am Abend darauf wurde der algerische Besitzer des Café d’Alger in der Rue de Verdun in Hayange gegen 22 Uhr in Anwesenheit von mehreren Gästen angeschossen und schwer verletzt92 . Zwei Wochen später versuchten Unbekannte, den in Rosselange wohnhaften Larbi Khifer in der Fabrik von Moyeuvre mit einem Schal zu erwürgen. Khifer überlebte, weil seine Attentäter von ihm abließen, in der Annahme, er sei bereits tot93 . Der am 28. November lebensgefährlich verletzte Cafébesitzer aus Hayange hatte vor seinem Tod noch Angaben zu seinen Attentätern machen können. Dies ermöglichte es der Polizei, wenige Tage später sowohl den chef régional des FLN von Thionville zu verhaften als auch die vier Mitglieder einer Schocktruppe der Region94 . Bereits am 22. Dezember meldete der »Républicain lorrain« die Festnahme des Nachfolgers des chef régional des FLN für Thionville und Longwy95 . Am 3. Januar 1961 wurden dann vier weitere Algerier in Jœuf wegen angeblicher Mitgliedschaft im FLN festgenommen96 . Verhaftungen wie diese hatten jedoch, wenn überhaupt, nur einen kurzzeitigen Effekt für die Eindämmung von Gewaltakten. Am 6. Januar 1961 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96

Le Républicain lorrain, 22. Juli 1960. Ibid., 23. Juli 1960. Ibid., 16. Aug. 1960. Ibid., 1. Sep. 1960. Ibid., 28. Nov. 1960. Ibid., 29. Nov. 1960. Ibid., 13. Dez. 1960. Ibid., 16. Dez. 1960. Ibid., 22. Dez. 1960. Ibid., 4. Jan. 1961.

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3. Der FLN in Lothringen

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wurde im Bois de l’Étoile auf dem Gebiet der Kommune Florange ein Algerier ermordet aufgefunden. Dieser war jedoch bereits seit dem 18. Dezember 1960 verschwunden gewesen97 . Somit dauerte es nach dem Mordversuch in Moyeuvre genau zwei Monate, bis in der Region Thionville ein erneuter Anschlag auf Algerier registriert wurde. Am 13. Februar 1961 drangen um 2 Uhr morgens drei Algerier in ein Arbeiterwohnheim in Richemont ein, verlangten von mehreren Bewohnern Geld und schlugen auf einen von ihnen mehrfach ein. Den algerischen Aufseher des Wohnheims trieben die drei Attentäter über die Felder bis an den Rand der Mosel und fügten ihm dort lebensgefährliche Verletzungen mit drei Pistolenschüssen und mehreren Messerstichen zu98 . Am Tag darauf erschoss ein algerischer Kneipenbesitzer einen Algerier gegen 23 Uhr auf einer Straße in Jœuf. Der Täter meldete sich anschließend sofort bei der Polizei und gab an, dass das Opfer ein FLN-Aktivist gewesen sei, der ihm mit dem Tode gedroht habe99 . Am 16. Februar kam es in Vitry-sur-Orne zu einem erneuten Übergriff auf ein Arbeiterwohnheim. Die drei maskierten und mit Pistolen bewaffneten Angreifer erfuhren nach Angaben der Gendarmerie vonseiten der Bewohner jedoch heftigen Widerstand, beispielsweise mit einer Axt. Bei der erfolgreichen Abwehr wurde einer der Bewohner durch mehrere Messerstiche verletzt100 . Ebenfalls erfolgreich konnte sich ein algerischer Barbesitzer in Jœuf verteidigen, als ein Algerier am 23. Februar versuchte, ihn bei laufendem Betrieb hinter dem Tresen zu erschießen. Es gelang dem Wirt, den Arm des Attentäters zu fassen, sodass er von den Schüssen nicht getroffen wurde101 . Nachdem am 5. März um 1 Uhr nachts ein Algerier mit durchgeschnittener Kehle auf einer Straße in Knutange aufgefunden worden war102 , ereigneten sich die gewalttätigen Übergriffe auf Algerier in der Region Thionville seit Ende März wieder in deutlich kürzeren Zeitabständen. Zunächst fanden Autofahrer am Morgen des 27. März am südlichen Ortsausgang von Thionville unmittelbar neben einem Kreisverkehr einen toten Algerier, der mit zwei Kugeln erschossen worden war103 . Zwei Tage später wurde in der Nacht vom 29. auf den 30. März ein Algerier in der Nähe eines Arbeiterwohnheims 97

98 99 100 101 102

103

Es handelte sich um Djerioui Layachi, einen Cafébesitzer aus Hayange. Die Gendarmerie glaubte zu wissen, dass er Mitglied des FLN gewesen und von einem internen Gericht zum Tode verurteilt worden sei: Gendarmerie de Forbach, fiche de Renseignements, 28. Jan. 1961, SHAT 2007 ZM 1/135 907. Message no 183/2 du groupement de gendarmerie à Metz au préfet de la Moselle, o. D., SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 706; Le Républicain lorrain, 14. Feb. 1961. Ibid., 15. Feb. 1961. Message no 198/2 du groupement de gendarmerie à Metz à la legion de la gendarmerie à Metz, o. D., SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 706. Le Républicain lorrain, 23. Feb. 1961. Message no 170/4 du commandant du groupement de gendarmerie de la Moselle au colonel, commandant de la subdivision autonome de la Moselle, o. D., SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 737. Le Républicain lorrain, 28. März 1961.

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III. Algerische Migranten und der Kolonialkrieg

bei Sainte-Marie-aux-Chênes lebensgefährlich verletzt. Der »Républicain lorrain« berichtete, das Auto des Opfers sei zunächst von einem anderen Fahrzeug mit drei Insassen fast unmittelbar vor dem Wohnheim abgedrängt worden. Diese hätten ihr Opfer anschließend auf die offene Straße geführt und drei Schüsse auf den Kopf des Algeriers abgegeben, woraufhin der Tod jedoch nicht eingetreten sei. Als die drei Attentäter daraufhin versucht hätten, den Verletzten zu überfahren, habe dieser sich auf den Bürgersteig retten können, wo er vom Leiter des Wohnheims und einigen Bewohnern gerettet worden sei104 . Neun Tage nach diesem Vorfall wurde erneut ein Arbeiterwohnheim im Industriegebiet Thionville zum Schauplatz der Gewalt. In Clouange drangen drei Männer am 8. April 1961 um 1 Uhr nachts in ein Wohnheim von Sidelor in der Rue Foch ein und verlangten von drei algerischen Bewohnern Geld. Nachdem sich einer dieser Forderung verweigert hatte, wurde er mit einem Hocker geschlagen, sodass er anschließend ins Krankenhaus gebracht werden musste105 . Im darauffolgenden Monat ereigneten sich in der Region Thionville in kurzer Abfolge zwei Anschläge auf Algerier auf offener Straße. Am 8. Mai erschossen in Knutange zwei Unbekannte den stellvertretenden »Abteilungsleiter für nordafrikanische Arbeiter« der SMK um 18.30 Uhr in seinem Auto106 . Fünf Tage später wurde ein Algerier gegen 22 Uhr in der Rue de Hayange in Uckange durch mehrere Schüsse lebensgefährlich verletzt107 . In der gleichen Straße feuerten Unbekannte dann am 20. Juni gegen 23 Uhr auf einen Algerier, der sich trotz drei Einschüssen in ein nahe gelegenes Café retten konnte und überlebte. Am 25. Juni wurde ein anderer Algerier in Uckange am Oberschenkel angeschossen. Tags drauf fand ein Angler am Rande von Uckange die Leiche eines Algeriers in der Mosel, mit verbundenen Händen und Würgemalen am Hals. Wenige Stunden später wurde ebenfalls in Uckange die Leiche eines weiteren Algeriers im Fluss gefunden, die auf die gleiche Weise gefesselt war und ähnliche Verletzungen aufwies108 . Am 4. Juli überraschten eine halbe Stunde vor Mitternacht mehrere Attentäter in Uckange zwei Wachmänner eines algerischen Arbeiterwohnheims bei ihrem Rundgang. Sie erschossen den einen und verletzten den anderen schwer109 . Die Gewaltakte gegen Algerier in der Region Thionville blieben nur für eine kurze Zeit auf den Ort Uckange beschränkt. Unbekannte Attentäter schlugen 104 105 106 107

108 109

Ibid., 31. März 1961. Message no 234/ 4 du commandant du groupement de gendarmerie de la Moselle au préfet de la Moselle, o. D., SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 737. Le Républicain lorrain, 9. Mai 1961. Message no 395/ 4 du commandant du groupement de gendarmerie de la Moselle au préfet de la Moselle, o. D., SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 737; Le Républicain lorrain, 15. Mai 1961. Ibid., 27. Juni 1961. Ibid., 6. Juli 1961.

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3. Der FLN in Lothringen

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in der Folgezeit wieder in anderen Orten, in Wohnheimen, auf der Straße, dem Arbeitsplatz, in Kneipen und selbst in Privatwohnungen zu. In der Nacht vom 13. auf den 14. Juli schossen mehrere Attentäter von außen auf ein algerisches Café in Talange und warfen eine Handgranate hinein. Das gleiche Szenario wiederholte sich zwei Abende darauf gegen 23 Uhr in einer Kneipe in Hagondange. Dabei wurden sechs Algerier verletzt110 . Weniger als zehn Tage später drangen in der Nacht vom 25. auf den 26. Juli gegen 23 Uhr zwei maskierte Männer in die Wohnung eines algerischen Paares in der Rue de la Gare in Hagondange ein. Sie erschossen den Mann, der als Anhänger des MNA bekannt war, und verletzten die Frau mit einem Schuss ins Bein111 . Am übernächsten Tag fanden zwei Italiener bei Hayange eine Leiche in der Fensch. Es handelte sich um einen Algerier, der erwürgt worden war112 . Am 7. August 1961 entdeckte ein Autofahrer, der gerade von Uckange kam, kurz vor dem Ortseingang von Richemont gegen 20 Uhr einen Algerier am Straßenrand. Er war mit einem Schuss in den Nacken niedergestreckt worden113 . Die Umstände dieses Mordes ließen ebenso an eine Hinrichtung denken wie der Anschlag gegen einen Algerier am darauffolgenden Tag in der Rue de Metz in Talange. Das Opfer war gegen 22 Uhr mit drei Körper- und zwei Kopfschüssen aus unmittelbarer Nähe ermordet worden114 . Fast exakt zur gleichen Zeit wie der auf offener Straße begangene Mord in Talange ereignete sich etwa zehn Kilometer entfernt vor der Herberge Guessas eine Auseinandersetzung zwischen FLN-Aktivisten und der Gendarmerie. Um 21.55 Uhr wurde die Brigade von Uckange verständigt, eine Gruppe von Geldeintreibern befinde sich in der Herberge Guessas in Uckange. 15 Minuten später mussten sich die überraschten FLN-Aktivisten vor und in dem Wohnheim verstecken und lieferten sich dort eine knappe Stunde lang eine Schießerei mit den Gendarmen. Einer konnte fliehen, sechs wurden verhaftet, davon waren zwei verletzt115 . Acht Tage darauf, am 16. August, griffen zwei Unbekannte den Betreiber der Herberge Guessas an. Dieser konnte den einen jedoch entwaffnen, woraufhin der andere die Flucht ergriff116 . Einen Abend zuvor hatte sich in Florange ein erneutes Attentat auf eine algerische Kneipe ereignet: Am Abend des 15. August gaben Unbekannte von der Straße aus zwei Schüsse durch das Fenster des Cafés À l’Étape ab und warfen anschließend eine Handgranate hinein. Dabei wurde ein Franzose getötet. Ein Algerier und

110 111 112 113 114 115 116

Ibid., 17. Juli 1961. Ibid., 27. Juli 1961. Ibid., 29. Juli 1961. Ibid., 8. Aug. 1961. Message no 641/ 4 du commandant du groupement de gendarmerie de la Moselle au préfet de la Moselle, 9. Aug. 1961, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 738. Avis du lieutenant-colonel Laporterie, commandant le groupement de gendarmerie de la Moselle, 19. Aug. 1961, ibid. Le Républicain lorrain, 17. Aug. 1960.

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III. Algerische Migranten und der Kolonialkrieg

ein weiterer Franzose erlitten durch die Granatensplitter schwere Verletzungen117 . Weder in dieser noch in einer anderen Phase des Unabhängigkeitskriegs wiesen die Gewaltakte algerischer Nationalisten in Lothringen ein eindeutiges Muster auf. Drei Arten von Anschlägen wiederholten sich mehrfach: Erstens der Angriff auf eine Kneipe oder ein Café durch Schüsse mit anschließenden Wurf einer Handgranate; zweitens die Erschießung auf offener Straße sowie drittens der versteckte Mord, in dessen Verlauf oder Anschluss die Betroffenen in einen Fluss geworfen wurden. Die praktisch nie aufgeklärten Taten, deren Opfer fast ausschließlich Algerier waren, mussten vor allem durch ihre Häufung in unregelmäßigen Zeitabständen auf Seiten der Migranten in der Region ein starkes Gefühl der Bedrohung bewirken. Auch im weiteren Verlauf der zweiten Hälfte des Jahres 1961 vermittelten die Gewaltakte gegen Algerier im Industriegebiet von Thionville, dass es für diese kaum noch einen sicheren Ort geben konnte, zumindest, wenn sie sich offen gegen den FLN stellten. Am Morgen des 9. September 1961 beobachtete ein Italiener auf dem Weg zu seiner Arbeit in Marspich gegen 5 Uhr zwei vor ihm laufende Algerier. Einer holte plötzlich eine Pistole heraus und gab mehrere Schüsse auf seinen Begleiter ab118 . In der drauffolgenden Nacht wurde mit einem Schnellfeuergewehr auf das Arbeiterwohnheim Guessas in der Rue de Hayange in Uckange gefeuert119 . Bei diesem Anschlag wurde zwar niemand verletzt, vier Tage später wurde jedoch einer der Bewohner um 4.30 Uhr auf dem Weg zur Arbeit 200 Meter neben Guessas an einer Bushaltestelle erschossen120 . Außerdem hatten sich in der gleichen Nacht im näheren Umkreis bereits zwei weitere Mordanschläge auf Algerier ereignet. Gegen 22.30 Uhr wurden zwei Algerier in der Nähe des Lagers Bétange in Florange erschossen. Eine Stunde später eröffneten maskierte Unbekannte in einem leer stehenden Gebäude in der Rue de Hussigny in Saulnes das Feuer auf einige obdachlose Algerier, die dort schliefen. Dabei kam einer von ihnen ums Leben, sechs wurden verletzt121 . Am Morgen des 20. September 1961 wurde ein toter Algerier bei Richemont aus der Mosel gezogen, dessen Hände hinter dem Rücken mit einer Krawatte zusammengebunden waren122 . In der Nacht vom 20. auf den 21. September 1961 wurde ein Algerier in Rombas im Viertel Cimenterie gegen 23.30 Uhr erschossen123 . Zehn Tage später trieb bei bei Ay-sur-Moselle ein toter Algerier im Fluss, dessen Leiche mehrere Kopfschüsse aufwies124 . Am 12. Oktober wurde in einer Bar in Auboué ein Algerier erschossen, 117 118 119 120 121 122 123 124

Ibid., 16. Aug. 1961. Ibid., 10. Sep. 1961. Ibid. Ibid., 15. Sep. 1961. Ibid., 16. Sep. 1961. Ibid., 21. Sep. 1961. Ibid., 22. Sep. 1961. Ibid., 2. Okt. 1961.

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3. Der FLN in Lothringen

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nachdem er dort von einem FLN-Tribunal verurteilt worden war. Die Polizei fand den Toten wenige Tage später bei einer Hausdurchsuchung im Keller der Bar125 . Vier Tage nach diesem Mord erschoss ein Algerier einen anderen gegen 19 Uhr im Zentrum von Knutange126 . Die Morde des FLN in der Region Thionville waren für alle Beobachter vollkommen unvorhersehbar. Sie fanden teils vor aller Augen und am hellichten Tag oder an versteckten Orten in der Nacht statt. Anders als für die Schocktruppen des MNA spielte es für die Aktivisten des FLN in dieser Phase scheinbar keine besondere Rolle, ob ihre Taten in Gegenwart von Augenzeugen stattfanden. Sie erreichten einen mindestens gleichwertigen Effekt der Einschüchterung aller Beobachter schon über die bloße Anzahl der Mordanschläge. So waren auch im Verborgenen durchgeführte Morde im Sinne einer breiten Verängstigung durchaus effektiv. Ein solches Verfahren lag besonders nahe, wenn die Mordopfer später verlassen in der Natur aufgefunden wurden. So wurde am Morgen des 7. November 1961 die Leiche eines erschossenen Algeriers auf dem Friedhof von Algrange gefunden127 . 18 Tage darauf entdeckte ein Angler einen toten Algerier in der Mosel bei Ay-sur-Moselle128 . Drei Tage später schlugen drei Aktivisten wiederum in aller Öffentlichkeit zu und griffen im Café d’Alger in der Rue de Verdun in Hayange den Wirt, Ferrouck Mocktar, und weitere Gäste an. Mocktar musste mit zwei Schusswunden am Bauch ins Krankenhaus gebracht werden129 . Eine völlig andere situative Konstellation lag dem Attentat vom 2. Dezember 1961 auf Aouchia Ali ben Ali zu Grunde. Er verließ gegen 21 Uhr in Thionville auf der Route de Metz am Eingang der Usine Escaut gerade den Arbeiterbus, als ihm dort eine andere Person in den Bauch schoss130 . Drei Tage später wurde ein weiterer Algerier um 19.15 Uhr in der Nähe des Bahnhofs Uckange durch mehrere Pistolenschüsse ermordet131 . Zwölf Kilometer davon entfernt wurden in der Nacht vom 8. auf den 9. Dezember zwei Algerier in Talange jeweils um 22.30 und 5.30 Uhr erschossen132 . Zwei Tage darauf fanden Holzfäller im Wald Saint-Hubert bei Budange-lès-Fameck einen toten Algerier, der mit mehreren Pistolenschüssen umgebracht worden war133 . Im 125 126 127 128 129 130

131 132 133

Rapport du capitaine Bazard, commandant de la compagnie de gendarmerie de Briey, à Monsieur le préfet de la Meurthe-et-Moselle à Nancy, 18. Nov. 1961, S. 2, AN, F/7/15114. Le Républicain lorrain, 17. Okt. 1961. Ibid., 8. Nov. 1961. Ibid., 26. Nov. 1961. Message no 985/2 du groupement de gendarmerie à Metz à la subdivision de Metz, o. D., SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 706. Das Opfer war früher Übersetzer beim tribunal de grande instance in Thionville gewesen sowie ex-sergent chef, 1915 in Algier geboren, Vater von sechs Kindern, wohnhaft in Veckring (Moselle): Message no 959/ 4 du commandant du groupement de gendarmerie de la Moselle, 3. Dez. 1961, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 738. Le Républicain lorrain, 6. Dez. 1961. Ibid., 10. Dez. 1961. Ibid., 12. Dez. 1961.

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III. Algerische Migranten und der Kolonialkrieg

gleichen Wald wurde dann am 21. Dezember auch die Leiche eines weiteren Algeriers gefunden, der bereits seit dem 20. November als vermisst gegolten hatte134 . Mit dem Ende des Jahres 1961 hörte auch die spektakulärste Mordserie in Lothringen nach dem Zweiten Weltkrieg auf. Die Attentate gegen Algerier fanden dort und auch in der Region Thionville zwar weiterhin nach den gleichen Mustern statt, doch in einer wesentlich niedrigeren Frequenz. Der »Républicain lorrain« berichtete nach wie vor über Funde verlassener Leichen von Algeriern, wie am Morgen des 26. Dezember 1961 in Knutange135 . Algerische Gastronomen lebten nach wie vor gefährlich, wie das dritte Attentat auf Djemid Guessas am 14. Januar 1962 um 16.45 Uhr in Uckange zeigte, bei dem dieser ums Leben kam136 . Dennoch flaute die Gewalt bereits drei Monate vor der algerischen Unabhängigkeit zumindest in der Region Thionville deutlich ab. In dieser Phase wurden ›nur‹ zwei Attentate in Uckange gemeldet, bei denen am 18. Januar und 7. März zwei Algerier verletzt wurden und einer starb137 . Bei der vorangehenden Darstellung der Anschläge gegen Algerier im Industriegebiet von Thionville zwischen dem Sommer 1960 und dem März 1962 wurden nur jene berücksichtigt, die Polizei, Gendarmerie und »Républicain lorrain« bekannt wurden. Es ist jedoch davon auszugehen, dass dies nur ein Teil der tatsächlich erfolgten politisch motivierten Gewaltakte und Einschüchterungen gegenüber den Migranten war. Ferner ist zu bedenken, dass die Region Thionville für die dort lebenden Algerier sicher den wichtigsten, aber nicht den einzigen Orientierungshorizont bildete. Auf unterschiedlichen Wegen erfuhren die Migranten zeitweise auch, was in einem Radius von weniger als 90 Kilometern in den algerischen Milieus der Regionen Longwy, Metz, Forbach und Nancy geschah: So sorgte etwa die Ermordung des Imams von Metz am 6. Februar 1962 während einer Beerdigungszeremonie für zwei erschossene MNA-Mitglieder vermutlich auch bei zahlreichen Algeriern außerhalb der Departement-Hauptstadt für Aufsehen. Für alle genannten Anlaufgebiete algerischer Migranten in Lothringen ließen sich zwischen dem Sommer 1960 bis zu Beginn des Jahres 1962 bedrückende Chroniken von aufeinanderfolgenden Anschlags- beziehungsweise Mordserien an Algeriern erstellen, die ähnliche Muster und Frequenzen aufwiesen wie im 30 Kilometer langen Industriestreifen zwischen Thionville und Woippy. Insgesamt wurden der Polizei allein zwischen Juni und November 1960 innerhalb des Departements Moselle 119 Attentate gemeldet, die »Nordafrikanern« zugeschrieben wurden. Dabei waren 18 Algerier ums Le134 135 136 137

Message no 981/ 4 du commandant du groupement de gendarmerie de la Moselle au préfet de la Moselle, o. D., SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 738. Le Républicain lorrain, 27. Dez. 1961. Ibid., 15. Jan. 1962. Ibid., 19. Jan. 1962; L’Est républicain, 8. März 1962.

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3. Der FLN in Lothringen

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ben gekommen und 110 verletzt worden. In Metz hatten sich allein in diesen sechs Monaten 49 Attentate mit einem Toten und 51 Verletzten ereignet138 . Eine genaue Analyse der einzelnen Morde hätte angesichts der inhaltlich problematischen und schwer zugänglichen Quellenlage139 einen zusätzlichen Aufwand bedeutet, der den Rahmen dieser Studie gesprengt hätte. Besonders problematisch für eine genauere Untersuchung der Anschlagserien ist, dass die Polizei die Attentäter nur in seltenen Fällen verhaften konnte, aber ebenso wie die Gendarmerie und der »Républicain lorrain« Berichte darüber ablieferte, deren Wahrheitsgehalt besonders im Vergleich mit der Praxis ihrer jeweiligen Kollegen in der Hauptstadt zu hinterfragen ist140 . Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass einige der hier dargestellten Morde von Akteuren des französischen Staates begangen und anschließend vertuscht wurden. Insbesondere die Funde toter Algerier in lothringischen Flüssen haben eine Parallele, da Pariser Polizisten während des gesamten Jahres 1961 Algerier nach Verhören entweder tot oder gefesselt in die Seine warfen und sie später als Opfer des FLN deklarierten141 . Es liegen jedoch keine konkreten Hinweise vor, die eine den Pariser Verhältnissen entsprechende Mordserie französischer Polizisten und Gendarmen während der Endphase des Algerienkriegs auch für Lothringen nahelegen oder gar beweisen. Der FLN hatte mit Blick auf die Waffenstillstandsverhandlungen in Evian ein vordringliches Interesse daran, alle algerischen Kräfte auszuschalten, die die Position des GPRA als einzigem Verhandlungspartner der französischen Regierung über einen unabhängigen algerischen Staat gefährden konnte. Dass die Sorge um die Besetzung des Verhandlungstischs durchaus begründet war, zeigte nicht zuletzt die Gründung des Front algérien d’action démocratique (FAAD) durch den französischen Auslandsgeheimdienst infolge eines geheimen Auftrags des Premierministers Michel Debré. Der FAAD war nur eine von mehreren Tarnorganisationen der französischen Geheimdienste. Während etwa die sogenannte Rote Hand den Auftrag hatte, Anschläge vor allem gegen FLN-Aktivisten und deren Waffenlieferer im Ausland durchzuführen142 und während die »Barbouzes« in Algerien Jagd 138

139

140

141 142

État des attentats et agressions enregistrés en Moselle de juin à novembre 1960 inclus, 2 déc. 1960, annexé au rapport du commissaire de police Pierre Pecastaing, chef de détachement de la 16e BRP à monsieur le préfet de la Moselle, 17. Dez. 1960, AdM 370 W 14. Für eine befriedigende Analyse hätte es neben noch umfassenderen Archivrecherchen weiterer Zeitzeugeninterviews mit beteiligten Algeriern, aber auch ehemaligen französischen Polizisten und Gendarmen bedurft. Ferner hätten die Archive des FLN in Algier konsultiert werden müssen, zu denen vor allem ausländische Forscher bis heute aber nur unter erheblichem Aufwand Zugang erhalten. Siehe insbes. Guillaume D’Hoop, Les Algériens, acteurs de faits divers pendant la guerre d’Algérie 2004, http://barthes.ens.fr/clio/revues/AHI/articles/volumes/dhoop. html (Zugriff 20.6.2019); Blanchard, La police parisienne et les Algériens; House, MacMaster, Paris 1961. Ibid., S. 143. Mathilde von Bülow, Myth or Reality? The Red Hand and French Covert Action in Fe-

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III. Algerische Migranten und der Kolonialkrieg

auf OAS-Mitglieder machten143 , sollte der FAAD als dritte algerische Kraft neben MNA und FLN die Alleinvertretungsansprüche des algerischen Volkes durch den FLN öffentlich in Frage stellen144 . Der FLN hatte ein fundamentales Interesse an der politischen Mitgestaltung des Rahmens für die Waffenstillstandsverhandlungen. Dadurch entstand für die Organisation seit dem Ende des Jahres 1959 ein wichtiger Beweggrund, die Frage der legitimen Repräsentation des algerischen Volkes endgültig zu ihren Gunsten zu klären. Diesbezüglich, im Hinblick auf den auffällig hohen Anteil von deklarierten Mitgliedern oder Sympathisanten des MNA unter den Opfern145 und nicht zuletzt aufgrund der klaren Vormachtstellung des FLN in der Region ist davon auszugehen, dass dem FLN die große Mehrheit der beschriebenen Attentate gegen Algerier zuzuschreiben ist. Das besonders in der Region Longwy gut zu beobachtende Muster der Gewalt in Lothringen, nach dem der MNA auf Mordserien des FLN mit einzelnen Racheakten und Gegenoffensiven antwortete, war in der Metropole während dieser Phase kein Einzelfall. Auch in Nordfrankreich146 und in Lyon147 leisteten die Messalisten bis über das Ende des Krieges hinaus massiven Widerstand gegen den FLN. Selbst wenn das Gros der Attentate vermutlich auf das Konto des FLN ging, ist davon auszugehen, dass der allgemeine Schrecken im Industriegebiet von Thionville das gemeinsame Resultat verschiedener Täter mit unterschiedlichen Zielen war. In ganz Lothringen waren sowohl misslungene respektive erfolgreich abgewehrte Anschläge als auch scheinbar minutiös geplante und durchgeführte Morde zu beobachten. Dies weist darauf hin, dass geübte wie im Umgang mit Gewalt eher unerfahrene Attentäter am Werk waren148 .

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146 147 148

deral Germany during the Algerian War, 1956–61, in: Intelligence and National Security 22 (2007), S. 787–820. Dard, Voyage au cœur de l’OAS, S. 190–197. Neben ihren kurzlebigen und letztlich erfolglosen politischen Aktivitäten führten die Mitglieder des FAAD in Kooperation mit dem französischen Geheimdienst und der Polizei auch Mordanschläge gegen Algerier durch, die sie für Mitglieder des FLN hielten: House, MacMaster, Paris 1961, S. 222f. Allein in Uckange ereigneten sich während des behandelten Zeitraums elf Attentate und zwei Leichenfunde, was mit hoher Wahrscheinlichkeit daran lag, dass das dortige Wohnheim Guessas einer der letzten Rückzugsorte des MNA im Industriegebiet von Thionville war. Genty, L’immigration algérienne dans le Nord-Pas-de-Calais, S. 267–284. Atger, Le Mouvement national algérien à Lyon. Der Soziologe Randall Collins hat darauf hingewiesen, dass das Zustandekommen und die Art der Austragung gewalttätiger Konflikte in den meisten Fällen nicht auf Strategien oder persönliche Eigenschaften der beteiligten Personen zurückgeführt werden können. Abgesehen von wenigen Fällen, in denen professionell ausgebildete Gewalttäter am Werk waren, sind aufgrund der extremen emotionalen Anspannung in einer potenziell gewaltträchtigen Konfliktlage für deren weiteren Verlauf vor allem situative Faktoren und die Interaktion zwischen den beteiligten Akteuren entscheidend: Col-

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3. Der FLN in Lothringen

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Auch wenn die geschilderte Serie der Attentate gegen Algerier im Industriegebiet von Thionville hinsichtlich ihrer Täter hier nicht aufgeschlüsselt werden kann, ist zumindest festzustellen, dass die Gewalt dort spätestens während der letzten beiden Jahre des Unabhängigkeitskriegs zu einem Teil des Alltags algerischer Migranten wurde. Sie erlebten das Szenario eines Bürgerkrieges insofern, als die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten erschwert wurde und weder Zeiten noch Schauplätze des Friedens oder der Gewalt eindeutig bestimmbar waren149 . Dass es soweit kam, war neben lokalen Auseinandersetzungen vor allem der Politik der verschiedenen Parteien des Algerienkriegs geschuldet. Diese gaben nicht etwa wahllos Morde in Auftrag, sondern versuchten Gewalt gegenüber Algeriern gezielt und planvoll einzusetzen, um ihre jeweils eigenen Interessen durchzusetzen.

3.4. Die Organisation der Gewalt des FLN Zwischen der Mitte des Jahres 1960 und dem Ende des Unabhängigkeitskrieges erreichte die von FLN-Aktivisten gegenüber Algeriern ausgeübte Gewalt in Lothringen ein quantitatives Höchstmaß. Ebenso systematisch, wie der FLN bis 1958 das Netz seiner Organisation in den Wohngebieten algerischer Migranten ausgebreitet hatte, führten seine Aktivisten nunmehr eine ebenso rapide wie planmäßige Ermordung ihrer algerischen Feinde durch. Die französische Föderation des FLN verfolgte die Strategie, dem GPRA mittels einer Machtdemonstration in Form von Anschlägen gegen politische Gegner eine günstige Ausgangslage bei den anstehenden Verhandlungen über einen Waffenstillstand und die algerische Unabhängigkeit zu verschaffen. Messali Hadj strebte bis zum Schluss an den Verhandlungstisch in Evian; die Mitglieder seiner Organisation sahen die Konsultationen zwischen FLN und der französischen Regierung aufgrund des Ausschlusses des »Vaters des algerischen Nationalismus« als illegitim an. Daher stellten sie für die Verhandlungsposition des FLN, der sieben Jahre nach seiner Gründung unmittelbar vor dem Ziel stand, nach wie vor eine Gefahr dar. Diese Ausgangslage gab denen, die zur Gewalt entschlossen waren, die Möglichkeit, ihren Einsatz für die Sache der Unabhängigkeit nun unmissverständlich unter Beweis zu stellen. Der politische Kontext ist jedoch nicht der einzige Erklärungsfaktor für die bis dahin beispiellose Entfesselung inneralgerischer Gewalt in Lothringen.

149

lins, Violence, S. 1–29; Gérôme Truc, La violence en situations. Entretien avec Randall Collins, in: Tracés. Revue de sciences humaines 19 (2010), S. 239–255. Dies knüpft an die Thesen zum Bürgerkrieg von Teresa Koloma Beck an: Teresa Koloma Beck, The Normality of Civil War. Armed Groups and Everyday Life in Angola, Frankfurt a. M. 2012, S. 15.

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III. Algerische Migranten und der Kolonialkrieg

Bereits mehrere Monate vor der entscheidenden Wende de Gaulles im September 1959 hatte die Gendarmerie in Moselle im Mai 1959 über die Existenz von Todeslisten berichtet, auf denen die Namen von MNA-Mitgliedern aufgeführt waren. Diesen war eine Frist bis zum 17. April gesetzt worden, um dem FLN beizutreten150 . Die systematische Eliminierung aller algerischen Feinde des FLN entsprach dessen Selbstverständnis, allein legitimer Repräsentant der algerischen Nation zu sein. Der Krieg war die raison d’être des FLN. Bereits in der Proklamation vom 1. November 1954 hatte die Organisation deutlich gemacht, dass sie von Algeriern keine andere Haltung als Unterordnung hinnehmen würde. Die Aussicht auf baldige Waffenstillstandsverhandlungen machte die Umsetzung dieser Ankündigung aus der Sicht der französischen Föderation besonders dringlich. Die mehrfach nachgewiesene Existenz von »Abschusslisten« des FLN in Lothringen151 weist auf ein geradezu professionelles Vorgehen mehrerer Attentäter hin. Die Morde wurden in der Regel nicht spontan oder auf eigene Faust begangen, sondern im Voraus geplant. Darauf weist auch die mehrfach von Gendarmerie und Polizei entdeckte Existenz von FLN-Tribunalen hin152 , die einem Attentäter zumindest offiziell erst den Auftrag erteilten, einen Mord zu begehen. Der ehemalige Chef einer FLN-kasma in Freyming erinnerte sich, dass es zur Sanktionierung widerständiger Algerier ein Verfahren mit verschiedenen Verantwortlichkeiten gab: LH: Und wenn jemand auf der Ebene der Sektion nicht bezahlt, ist es der Verantwortliche der Sektion, der die Leute schickt? Djaout: Nein. Er fragt zuerst mich. Ja. Es braucht einen Bericht, in dem steht, Herr Sowieso [. . . ] hat nicht bezahlt –. Er fertigt seinen Bericht an, gibt ihn mir [. . . ] und ich sehe ihn mir an. Manchmal, wenn die Leute hier sind, gehe ich zu ihnen –. Ich bin [Chef der] kasma und gehe bis zur untersten Stufe, um mir selbst ein Bild zu machen. [. . . ] Wenn sie dann immer noch nicht zahlen wollen, sage ich ihnen, dann komm selber klar. Wenn die Leute kommen und schlagen, darfst du dich nicht beschweren, nicht? Na und dann bezahlen alle, denn sie haben Angst –. Manchmal schlagen sie die Leute. Das bin nicht ich, der –. Es gibt einen anderen speziellen Verantwortlichen dafür. LH: Der entscheidet, ob man schlägt oder nicht?

150 151

152

Note de service du capitaine Aumaitre, commandant provisoirement le groupement de gendarmerie de la Moselle, 27. Mai 1959, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 734. Im Dezember 1960 wurde eine Todesliste mit den Namen von Messalisten bei einer Hausdurchsuchung in einem Café in Rehon gefunden: Le commissaire principal de Longwy à monsieur le préfet de Meurthe-et-Moselle, 14. Dez. 1960, S. 2 AN, F/7/15114. Noch im Januar 1962 gab der SCINA der 6. Militärregion zu Protokoll, algerische Aktivisten in Metz und Longwy würden Todeslisten mit angeblichen Verrätern führen: Synthèse des SCINA, 18. Jan. 1962, AMAE, SEAA, 1959–1967, c. 11. Ein solches Tribunal befand sich etwa im November 1961 im Café La Ville d’Alger in Auboué: Rapport du capitaine Bazard, commandant de la compagnie de gendarmerie de Briey à monsieur le préfet de la Meurthe-et-Moselle à Nancy, 18. Nov. 1961, S. 2, AN, F/7/15114.

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3. Der FLN in Lothringen

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Djaout: Nein! Es gibt einen anderen Verantwortlichen, der die Leute zum Schlagen schickt. Das ist noch ein anderer. Ich erstelle den Bericht. Ich habe gesagt, so, Herr Sowieso hat nicht bezahlt. [. . . ] LH: Also haben Sie die direkte Anweisung gar nicht geschickt? Djaout: So ist es. LH: Es lief eigentlich über Berichte. Djaout: So ist es. Mein Mann der Sektion sagt, es gibt einen, der nicht bezahlt hat, oder der nicht bezahlen will. Ich gebe meinen Bericht dem Verantwortlichen, der spezielle Leute schickt. Er heißt, es sind diese Männer von, es ist –. Es sind die Schocktruppen. Ich weiß nicht, ob Sie –? Kennen Sie das?153

Bei der Ausübung von Zwang und Gewalt gegenüber Algeriern waren die FLN-Aktivisten gehalten, diszipliniert und strategisch vorzugehen. Die FLNSektion Longwy führte im Dezember 1961 eine Auflistung konkreter Vergehen mit der jeweils dazu erhobenen Geldstrafen. Diese waren beispielsweise: Kartenspiel (1000 Franc), Weigerung zur Unterbringung oder Beschimpfung eines Bruders (jeweils 10 000 Franc), Flucht (1000 Franc), Verlassen des Postens (2000 Franc) und die Verweigerung eines Befehls (5000 Franc)154 . Die ehemaligen Mitglieder einer Schocktruppe des FLN aus der Region Forbach berichteten dem Autor, dass es gegenüber Verweigerern des Geldbeitrags eine standardisierte Vorgehensweise gegeben habe. In einem Gruppeninterview beschrieben sie ein relativ stringentes Muster der Repression und wiesen dabei insbesondere auf die Kompetenz einer richtenden Instanz innerhalb der Organisation hin. Sie unterstrichen außerdem, dass die Art der Einschüchterung oder Sanktionierung abhängig vom vorgeworfenen Vergehen variierte, je nachdem, ob es sich um die erste, zweite oder dritte Verweigerung eines Beitrags oder etwa um »Verrat« handelte. LH: Herr Bougherra, das letzte Mal [. . . ] sagten Sie, es gab Widerständige, also jene, die nicht den Beitrag zahlen wollen und so weiter. Sie haben gesagt, wir machten ihnen Angst. Nun, ich wollte wissen, welche Methoden – wie man Angst machte. Gab es Drohbriefe? Sie waren ja auch in den Schocktruppen, Herr Yattuy. Wie machten Sie es konkret, um jemanden zum Bezahlen zu bewegen, um Druck auszuüben, ihm zu sagen, es ist wichtig, dass du bezahlst? [. . . ] Yattuy: Es begann mit Zahlungen aus freiem Willen. Aber dann, aber dann wurde es verpflichtend. Ein Zwang. Wenn du nicht zahlst, schicken wir dir Typen, die dich bedrohen. Du zahlst, du zahlst den Beitrag, sonst Gnade dir. LH: Es sind also Männer, die an die Tür klopfen? Yattuy: Ja, na klar! Asmun: Wir gehen direkt zu ihnen nach Hause. [. . . ] Zum Beispiel gibt es welche in L’Hôpital155 , die nicht zahlen wollen. Ja. Wir sind von Saint-Avold losgefahren. Wir sind an einem Sonntag losgefahren. [Yattuy dazwischen: Davor machen wir den quadrillage, davor den

153 154 155

2. Interview LH–Djaout, 2014, S. 8f. RG de Longwy, rapport, 26. Dez. 1961, AdM&M, W 1304 165. Ein Ort im Kohlebecken von Forbach.

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III. Algerische Migranten und der Kolonialkrieg

quadrillage!156] Wir sind zu fünft in einem Auto losgefahren. Wir sind zu ihnen gegangen. Wir kommen im Auftrag von Jabhat157 und so weiter. Entweder ihr zahlt oder ihr zahlt nicht. So ist es. So, ihr habt zwei Dinge zu tun. Ihr habt eine Woche, um nachzudenken. Entweder ihr zahlt, oder ihr zahlt nicht. Bougherra: Um einen quadrillage durchzuführen, wie er gesagt hat, mussten sie auch ihre Schulden bezahlen, nicht wahr. Wenn es 1958 war, verurteilten sie ihn, von 56 bis 58 zu zahlen, die ganze Verspätung. Wenn sie wirklich Widerständige waren, mussten sie zusammengeschlagen werden und dann, wenn immer noch nicht, wird er vor eine Justizkomission geführt. Yattuy: Oh ja – und wird verurteilt. Bougherra: Man verurteilt nicht zum Tode, wenn einer nicht bezahlt hat. [Yattuy dazwischen: Nein, nein, nein]. Diejenigen, die zum Tode verurteilt werden, sind vor allem die Verräter. Yattuy: Und außerdem machen wir – Dings, wir machen die Polizei, die die Leute, die trinken, überwacht. Verbieten das Trinken –. Es gibt den Typen, der das macht. Das erste Mal wird er bestraft. Das zweite Mal schlagen sie ihn zusammen! Die Strafzahlung zuerst und dann schlagen sie ihn zusammen. Es sind die Schocktruppen, die Aktivisten, die –158 .

Die oben beschriebene Mordwelle in der Region Thionville mag heute auf den ersten Blick ebenso grausam wie auch ziel- und sinnlos erscheinen. Die Berichte der algerischen Zeitzeugen weisen jedoch darauf hin, dass die meisten der Attentate des FLN in Lothringen einer politischen Logik und institutionalisierten Abläufen folgten oder folgen sollten. Als solche wurden sie im Sinne einer organisationsinternen Transparenz und Effizienz zunächst von speziell ausgewählten Akteuren beschlossen und angeordnet, woraufhin andere, wiederum eigens dafür ausgewählte Aktivisten die Anschläge durchführten. Im Anschluss an die These, der FLN sei bereits während des Unabhängigkeitskrieges der Staat der Algerier gewesen, ließe sich diese Arbeitsteilung auch als Einführung einer von Frankreich unabhängigen Justiz und Polizei beschreiben. Nach Informationen des SCINA von Moselle verfügte der für die Region zuständige zonal des FLN im September 1961 über drei groupes armés à 20 Mann, die nach dem Dreierprinzip jeweils in mehrere Zellen gegliedert waren. Ihre Aufgabe war die Umsetzung von Todesurteilen der FLN-Tribunale159 . Medjani, ein ehemaliger zonal des FLN in Lothringen, berichtete, dass die Mitglieder der Tribunale vom zonal eingesetzt wurden, es jedoch im dringenden Bedarfsfällen gar nicht erst zu deren Anrufung kommen musste. Die Untersuchung und das Urteil durch eine Art Kriegsgericht kamen demnach bei einigen Attentaten nur ergänzend zum Tragen160 . 156

157 158 159

Quadrillage bezeichnet hier die systematische Erfassung von Personen mit deren Namen, Beruf und Wohnort sowie dem Zeitpunkt des Beginns ihrer Zahlungen an den FLN. Die Identität von »Jabhat« wurde im Verlauf des Interviews nicht mehr geklärt. Interview LH–Bougherra, Asmun und Yattuy, 2014, S. 18. SCINA: extraits de la synthèse quotidienne de renseignements no 1520, 9.–11. Sep. 1961, AdM 370 W 26.

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3. Der FLN in Lothringen

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Da sich der FLN im Krieg sah, konnten dessen Mitglieder auch ohne die vorherige Legitimierung durch höhere Instanzen zu Gewalt greifen. Insofern trifft die bereits für lothringische Polizisten, Gendarmen und Soldaten in deren Umgang mit Algeriern gemachte Feststellung, dass weniger das Recht den Krieg als vielmehr der Krieg das Recht bestimmte, durchaus auch für den FLN zu. Dessen Tribunale in Lothringen wurden nur aktiv, sofern die Umstände es ermöglichten. Als Orientierungspunkt dienten ihnen weniger rechtstaatliche Standards als vielmehr das Kriegsrecht. Im Fall einer Anrufung verurteilten sie auch abwesende Algerier. LH: Auf welcher Ebene läuft das mit den Gerichten? Medjani: Ah, es läuft auf mehreren Ebenen, aber prinzipiell ist es das Gericht auf der Ebene der Zone. Dort gibt es ein echtes Gericht und einen Verantwortlichen –. Er ist der Vorsitzende des Gerichts und hat generell fast die –. Er ist sogar fast auf der gleichen Ebene wie der Chef der Zone, wenn nicht wie der Chef der Region. In der Regel werden sie abhängig vom Alter ausgewählt. Man räumt denen, die älter sind, den Vorrang ein. LH: Und wer wählt sie aus? Medjani: Ah, es ist die Organisaton, die sie auswählt. LH: Ist es der zonal, der sie auswählt? Medjani: Es kann der zonal sein, es kann auch darüber sein. Es kann auch darüber sein, aber in der Regel –. LH: Mussten Sie einen Richter einsetzen? Nun, Sie als zonal, mussten Sie einen Richter für ein Tribunal auswählen? Medjani: Ich habe nicht gewählt, aber ich habe einen vorgefunden, den ich seine Arbeit habe weitermachen lassen. Es war einer, der damals ungefähr 50 Jahre alt war. Damals war es selten, solche zu treffen und da es ein Ehemaliger des MTLD war –. Ich habe ihn –. Übrigens, als es die Infiltrierung durch jenen gab, der auf mich schoss, kam es über einen Hinweis von diesem, diesem Chef der Justiz, weil es ein ehemaliger des MTLD war. Es hat sich herausgestellt, dass er nicht vollständig mit ihnen gebrochen hatte – [. . . ]. LH: War er [der Angeklagte] immer anwesend? Medjani: In der Regel. In der Regel. Aber es kann vorkommen, dass –, dass er geflüchtet ist. [. . . ] LH: Man richtet ihn trotzdem. Medjani: Ah, er wird gerichtet, er wird gerichtet –. Er wird in Abwesenheit gerichtet! Da er geflohen ist, will er sich nicht erklären. LH: In Ordnung. Aber generell versuchte man – . . . Medjani: Ah. Ja, ja, ja. Immer versucht man herauszufinden. Aber sie hatten vor allem in den großen Städten viel zu tun, denn es ist –. Vor allem, wenn es Streitigkeiten zwischen Mitgliedern des FLN gibt, Streitigkeiten unterschiedlicher Art, die nichts mit der Organisation zu tun haben –. Dem FLN ist es gelungen, eine Art parallele Administration einzurichten, das heißt, er hat den Algeriern befohlen, ihre Differenzen nicht vor der französischen Justiz auszutragen, sondern sie –. Zum Beispiel die Hotel-Etablissements und all dies. Es gab nicht

160

Die Idee und Praxis einer konkret geregelten Rechtsprechung des FLN nahmen ihren Ausgang beim Soummam-Kongress 1956. In der Folge scheiterten die Machtansprüche der Tribunale jedoch häufig daran, dass es zu wenige von ihnen gab oder sie ihre Urteile nicht umsetzen konnten, vgl. Thénault, L’organisation judiciaire du FLN.

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III. Algerische Migranten und der Kolonialkrieg

ein Etablissement, in dem es keinen Kommissar des FLN gab. Der Besitzer gibt sich damit zufrieden, sein Geld zu erhalten und so weiter, aber wenn es einen gibt, der ihm keine Miete zahlt, kümmert er sich nicht darum, nein. Es ist der FLN, der ihm aufträgt, seine Miete zu zahlen, es ist der FLN, der auch die Höhe eben dieser Miete festlegt161 .

Die Angabe Medjanis, alle Algerier hätten ihre Auseinandersetzungen über den FLN geklärt, ist für Lothringen angesichts des hohen, aber keineswegs erdrückenden Anteils der effektiven Beitragszahler unter den algerischen Migranten selbst für die Endphase des Unabhängigkeitskriegs stark zu bezweifeln. Dass seine Ausführungen über die Reichweite der Macht des FLN jedoch für einige Hochburgen der Organisation zutreffend sind, erscheint mit Blick auf die Quellen der Präfekturen und der Gendarmerie durchaus wahrscheinlich. Seine Erinnerungen können vor allem zeigen, welche Ziele der FLN auf der untersten Ebene verfolgte. Sympathisanten, Anhänger und Aktivisten sollten die gesamte algerische Emigration mobilisieren, um den FLN in seinen Machtansprüchen zu bestätigen, durch finanzielle Abgaben, konformes Verhalten bis hin zur Anrufung seiner Autorität. Parallel zu den Aktionen der Schocktruppen der Aktivisten wurden einige Attentate gegen Algerier in Lothringen von Mitgliedern der OS des FLN verübt. Deren speziell für Attentate ausgebildeten Aktivisten agierten unabhängig von den Netzwerken der Sympathisanten, Anhänger und Aktivisten des FLN. Sie zielten den Angaben des französischen Geheimdienstes zufolge insbesondere auf Personen, die gewissermaßen als Verbindungspunkt zwischen Algeriern und Franzosen fungierten, da sie sowohl von den Migranten als auch von der französischen Administration geschätzt wurden. Demnach begingen Mitglieder der OS etwa den Mord an dem Imam von Metz am 6. Februar 1962 und überraschten damit die lokalen Kader des FLN162 . Dass die Sprache der Gewalt von den meisten Algeriern verstanden wurde, wird in diesem Fall daran deutlich, dass kein einziger Algerier zur Beerdigung des Imams erschien, der bereits seit über zehn Jahren in Moselle aktiv gewesen war163 . Der FLN hatte einen Boykott angeordnet, der nach dem in aller Öffentlichkeit begangenen Mord auf symbolische Weise den Tatbestand des Verrats dieses Delegierten der Moschee von Paris festschreiben sollte. Das Etikett des Verräters wurde dem Opfer von einem Repräsentanten der Adaf in Metz auch noch im Jahr 2014 angeheftet164 . Die Strategie der französischen Föderation des FLN, ihre Macht durch einen offenen Kurs der Konfrontation öffentlich zur Schau zu stellen und auszuweiten, war in Lothringen äußerst erfolgreich. Im Zuge der Anschlagsserie, 161 162 163

164

Interview LH–Medjani, 2014, S. 65–67. Note d’information de la division du renseignement, 5. März 1962, S. 3, AMAE, SEAA, 1959–1967, c. 11. Der Stadtrat von Metz zahlte dem Imam seit 1950 einen Jahresunterhalt von 20 000 Franc: Comptes rendus du conseil municipal de Metz pour l’année 1950, AMM SC 1711950. Interview LH–Azayku, 2014, S. 17f.

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3. Der FLN in Lothringen

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die sich dort zwischen 1960 und 1962 ereignete, konnte die Organisation nach Angaben der RG die Anzahl ihrer Beitragszahler massiv ausbauen. Nachdem die Schätzungen in Meurthe-et-Moselle zwischen dem Spätsommer 1958 und der Mitte des Jahres 1960 zwischen 1200 und 500 geschwankt hatten, ging die Polizei im November 1961 davon aus, dass rund 3000 Algerier in diesem Departement den FLN finanziell unterstützten165 .

3.5. Algerische »Kollekten« und Strafen im Saarland Die enorme Machtfülle des FLN in Lothringen wirft die Frage nach dem Ausmaß der Macht des FLN im unmittelbar angrenzenden Saarland auf. Sie muss dreifach gegliedert werden: Es ist zu klären, wie viele Algerier während des Unabhängigkeitskriegs unter dem direkten Einfluss des FLN im Saarland standen, wie umfassend dieser Einfluss letztendlich war und inwiefern die Macht der Untergrundorganisation innerhalb der 2500 Quadratkilometer umfassenden Fläche des Saarlandes auch räumlich variierte. Um ein ungefähres Bild des Ausmaßes der Kontrolle des FLN über Algerier im Saarland zu zeichnen, ist der Zeitzeugenbericht von Salah Menad eine von zwei Schlüsselquellen. Salah Menad zählte zu der Generation junger algerischer Männer, die sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit im MTLD engagiert hatten. In Philippeville (Skikda) waren Aktivisten wie Belaid Abdesslam166 für diese junge Generation gleichzeitig Vorbilder und Integrationsfiguren. Abdesslam hatte sich an den Demonstrationen im Mai 1945 beteiligt und war in der Folge verhaftet worden. Nach seiner Freilassung setzte er seine Aktivitäten in der Organisation fort und warb in einem Gymnasium von Skikda unter anderen Salah Menad für den MTLD an167 . Menad wurde so zum Chef einer Schüler-Zelle und rekrutierte seinerseits weitere Mitglieder für den MTLD wie Mohamed Harbi, der ihm 1951 als Leiter jener Zelle nachfolgte168 . Menad studierte ein Jahr lang Chemie in Algier, konnte aber im Jahr darauf nach Straßburg wechseln, wo die Studienbedingungen deutlich besser waren. Aus Angst vor polizeilicher Verfolgung setzte sich Salah Menad nach den ersten Anschlägen des FLN in Algerien um die Jahreswende 1954/1955 nach Saarbrücken ab. Obgleich er keinerlei Deutschkenntnisse hatte, konnte er 165 166

167 168

RG de Nancy, la population musulmane en Meurthe-et-Moselle, 2. Nov. 1961, AdM&M 950 W 14. Mohammed Harbi schrieb in seinen Memoiren über Abdesslam: »On savait que ce dernier – futur ministre et Premier ministre de l’Algérie indépendante – avait été arrêté en mai 1945 à Sétif. Son exemple nous servait de modèle, d’autant plus qu’il était un élève brillant«, Harbi, Une vie debout, S. 49. Interview LH–S. Menad, 2014, S. 4. Harbi, Une vie debout, S. 79.

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III. Algerische Migranten und der Kolonialkrieg

sein Studium an der Universität des Saarlandes fortsetzen, indem er dort die in Französisch gehaltenen Veranstaltungen besuchte. Er bekam einen Platz im Studentenwohnheim und finanzierte sich zunächst durch die Übernahme kleiner Arbeiten, die ihm saarländische Kommilitonen vermittelten169 . Unmittelbar nach seiner Ankunft in Saarbrücken nahm Salah Menad Kontakt zu den Anhängern des inzwischen aufgelösten MTLD auf, die sich im Saarland aufhielten170 . Durch die Zusammenarbeit mit Belaid Abdesslam, der beim Aufbau der im Juli 1955 in Paris gegründeten, FLN-nahen Studentenorganisation Ugema eine zentrale Rolle spielte171 , wurde Menad dann zu einer zentralen Figur des Netzwerks jener Studentenorganisation und des FLN im Saarland. Eine Kontaktperson aus Paris trug ihm auf, sämtliche algerischen Studenten und Arbeiter vor Ort in den FLN zu integrieren. Um dies zu bewerkstelligen, strebte Salah Menad in der Folge die Position eines Patrons der Algerier im Saarland an: Salah Menad: Und ich habe versucht, alle Probleme zu regeln, die sich dort [im Saarland] für die Algerier stellten. Politisch, administrativ, polizeilich. Denn man musste ihnen helfen. Zunächst eine Unterkunft. Sie mussten unterkommen. Dann musste man ihnen [. . . ] Dokumente beschaffen, damit sie nach Deutschland und anschließend nach Tunesien oder Marokko gebracht werden konnten. Also musste man sie anmelden –. Es waren in der Regel die Tunesier, die das gemacht haben. Die tunesische Botschaft in Bonn, nicht wahr, die ihnen Pässe aushändigte und sie –. Die ermöglichten es ihnen, nach Tunesien oder Marokko zu gehen. Nun, das war so in etwa unsere Arbeit172 .

Die Universität des Saarlandes zählte während der Anfangsphase des Konflikts nur etwa zehn algerische Studenten. Diese dienten dem FLN als zentrale Stütze auf der östlichen Seite der lothringischen Grenze. Als der FLN-Aktivist Medjani, der innerhalb des Kohlebeckens von Forbach aktiv war, um die Jahreswende 1956/1957 von Lothringen aus versuchte, Kontakt zu Algeriern im Saarland aufzubauen, gelang ihm dies, weil er in Saarbrücken algerischen Studenten begegnete173 . Salah Menad erinnerte sich im Dezember 2014, dass er während des algerischen Unabhängigkeitskriegs im Saarland mit etwa 200 Algeriern in Kontakt stand, die die Autorität des FLN anerkannten. Dies erscheint in Anbetracht der Schätzungen westdeutscher Behörden, im Saarland hätten im Oktober 1958 mindestens 700 Algerier gelebt174 , eher gering. Demnach war einem zentralen Akteur des FLN im Saarland die Präsenz von mehr als zwei Dritteln aller Algerier, die dort von der Polizei erfasst worden waren, gar nicht bewusst.

169 170 171 172 173 174

Interview LH–S. Menad, 2014, S. 7f. Ibid., S. 25. Meynier, Histoire intérieure du FLN, S. 108. Interview LH–S. Menad, 2014, S. 10. Interview LH–Medjani, 2014, S. 23f. Siehe die Aufsätze: Hardt, Une zone de repli minée; Ders., Flüchtlinge, Terroristen, Freiheitskämpfer?

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3. Der FLN in Lothringen

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Sowohl die von Salah Menad als auch von der saarländischen Polizei aufgeführten Zahlen über Algerier im Saarland müssen vor allem aus drei Gründen vorsichtig bewertet werden. Erstens ist es insbesondere bei Zahlenangaben plausibel, dass Erinnerungen von Zeitzeugen unpräzise sind. Zweitens ist es ungewiss, aber nicht unwahrscheinlich, dass die dem FLN-Chef bekannten Algerier in Kontakt zu anderen Algeriern im Saarland standen, Einfluss auf diese ausübten, ihre Bekanntschaften bei der Organisation jedoch nicht deklarierten. Drittens gibt es keine Informationen darüber, wie diese jeweiligen Zahlen genau entstanden und es ist auch davon auszugehen, dass im Oktober 1958 nicht alle Algerier von der saarländischen Landesregierung erfasst wurden. Auch wenn sich bezüglich der Anzahl der Migranten im Saarland aufgrund der Quellenlage kein scharfes Bild zeichnen lässt, scheint die Disparität zwischen dem Anspruch und der tatsächlichen Reichweite der Macht des FLN im Saarland evident. Der Abgleich der Erinnerungen Salah Menads mit der Namensliste der saarländischen Behörden lässt die Schlussfolgerung zu, dass lediglich eine Minderheit der im Saarland lebenden Algerier im Saarland unter dem direkten Einfluss des FLN stand. Es wird deutlich, dass die Selbstinszenierung des FLN als alleiniger legitimer politischer Vertreter aller Algerier auch im Saarland ein Mythos war. Ungeachtet der bestehenden Konkurrenz durch den MNA verbarg sich eine deutliche Mehrheit der Algerier vor dem FLN im Saarland beziehungsweise entzog sich dessen direktem Zugriff. Mehrere Gründe geben Anlass zu der Vermutung, dass zumindest der indirekte Einfluss auf Algerier im Saarland deutlich größer war als die Zahlen von Salah Menad nahelegen. Insbesondere im Hinblick auf die Signalwirkung der Kontroll- und Disziplinierungsmaßnahmen algerischer Nationalisten kann davon ausgegangen werden, dass auch Algerier, die von FLN oder MNA nicht erfasst waren, über deren Präsenz im Saarland Bescheid wussten und darauf in der einen oder anderen Form reagierten. Schließlich manifestierten FLN-Mitglieder ihre Machtansprüche gegenüber Algeriern nicht nur in Form diskret durchgeführter Geldforderungen beziehungsweise »Kollekten«. Sie drückten sie auch in Form von Kontroll-, Zwangs- oder Gewaltmaßnahmen an den unterschiedlichsten Orten aus. Die Quellen zeigen deutlich, dass FLN-Aktivisten während der zweiten Hälfte des Algerienkriegs auch im Saarland gegenüber anderen Algeriern als Vertreter einer quasistaatlichen Organisation auftraten. Im Oktober 1958 berichtete das saarländische Landeskriminalamt dem rheinland-pfälzischen Innenministerium, Überfälle von im Saarland arbeitenden Algeriern durch »Terrortrupps« der algerischen Freiheitsbewegungen, welche unter Vorhalten von Maschinenpistolen »Steuern« erheben, seien an der Tagesordnung und könnten kaum verhindert werden, weil die Betroffenen Furcht vor ei-

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III. Algerische Migranten und der Kolonialkrieg

ner Anzeige bei der deutschen Polizei hätten175 . Einen Monat zuvor hatte das Saarbrücker Innenministerium bereits einen Bericht der »Bildzeitung« bestätigt, demzufolge mit Maschinenpistolen bewaffnete Algerier, die »der algerischen Freiheitsbewegung« angehörten, bei Neunkirchen mehrere algerische Bauarbeiter dazu gezwungen hätten, insgesamt rund 1000 DM für den Kampf gegen Frankreich zu spenden176 . Die Kontrollansprüche des FLN über Algerier im Saarland manifestierten sich nicht nur anhand der »Kollekten«. Zumindest während der Endphase des Krieges postierte die Untergrundorganisation regelmäßig einen Aktivisten am Saarbrücker Hauptbahnhof, der alle ankommenden Algerier darauf hinweisen sollte, nicht polizeilich aufzufallen177 . Hinzu kam, dass Algerier, die durch häufige Kneipengänge auffielen, aufgrund ihres Konsums von Alkohol oder Tabak von FLN-Aktivisten ermahnt und bestraft werden konnten. Selbst auf offener Straße wurden Algerier während der zweiten Phase des Unabhängigkeitskrieges im Saarland von Aktivisten der Untergrundorganisation überprüft und festgehalten, wie etwa Belkacem Sekfali. Am 23. September 1959 traf dieser in Bildstock bei Friedrichsthal auf der Neunkircher Straße drei ihm unbekannte Algerier, die ihm seinen Personalausweis wegnahmen und ihn mehrere Stunden in einer Baracke festhielten, bis seine Identität durch den FLN überprüft worden war178 . Ein Mord vom 5. September 1959 zeigt schließlich, dass FLN-Mitglieder Algerier, die sich nicht ihren Anweisungen entsprechend verhielten, auch im Saarland umbrachten. Tahar Grib war Mitglied des MNA und hatte sich Zahlungsforderungen des FLN mehrfach verweigert, woraufhin ihn mehrere Mitglieder des FLN im Mai 1959 zusammenschlugen. Nach einem Ermittlungsverfahren der saarländischen Justiz dazu sollte am 25. September 1959 ein Gerichtsprozess den Vorfall klären179 . Tahar Grib war der Hauptbelastungszeuge gegen drei FLN-Aktivisten. Keine drei Wochen vor Prozessbeginn wurde Grib in seiner Baracke unweit von Saarbrücken ermordet180 . Ganz gleich, ob am Wohnort, am Arbeitsplatz, in der Kneipe, im Studentenwohnheim, bei der Ankunft am Bahnhof oder auf dem Bürgersteig: 175 176 177 178

179 180

Vermerk des Innenministeriums von Rheinland-Pfalz, 22. Okt. 1958, S. 1, LAK 880, 2353. Fernschrift des Ministeriums des Innern Saarbrücken an das Ministerium des Innern in Mainz, 16. Sep. 1958, ibid. Interview LH–R. Menad, 2014, S. 36. Der Landrat an das Verwaltungsgericht des Saarlandes, 1. Kammer, 20. Sep. 1960, LAS, Amtsgericht Nohfelden VG 10; Verwaltungsgericht des Saarlandes, 1. Kammer, Beschluss vom 27. März 1961, ibid. LKA Saarland, Jahresbericht 1959, S. 59, LAS, LKA 49. Der Bericht der saarländischen Polizei weist auf den besonders grausamen Tod Tahar Gribs hin, der offensichtlich von mehreren Personen mit diversen Gegenständen misshandelt worden war. Seine Mörder konnten zunächst über Bonn nach Rom fliehen, wurden dann jedoch von der italienischen Polizei gefasst und an die Bundesrepublik ausgeliefert: ibid.

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3. Der FLN in Lothringen

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Spätestens seit 1959 konnte der FLN seine Kontrollansprüche gegenüber Algeriern im Saarland zumindest potenziell an nahezu jedem Ort zum Ausdruck bringen. Es gilt dennoch, zwischen verschiedenen Einflusszonen zu unterscheiden. Das Gravitationszentrum des FLN lag eindeutig in Saarbrücken. Das Beispiel aus dem etwa 15 Kilometer entfernten Bildstock zeigt zwar, dass die Kontrollmöglichkeiten der Organisation nicht an den Rändern der saarländischen Hauptstadt endeten. Dennoch spielte die Lage des Wohnorts beziehungsweise des Arbeitsplatzes auch im Saarland eine entscheidende Rolle dafür, ob und inwiefern Algerier mit den Machtansprüchen des FLN konfrontiert wurden oder nicht. Die breite Streuung der Algerier über das ganze Saarland hinweg ist ein naheliegender Erklärungsfaktor für den relativ niedrigen politischen Organisationsgrad der dort lebenden Migranten. 1958 gab es dem saarländischen Landeskriminalamt zufolge 24 Orte im Saarland, in denen lediglich ein Algerier wohnte. In 12 Dörfern wurden zwei Algerier registriert und in acht weiteren Dörfern drei. Es erscheint kaum möglich, dass der FLN jede Einzelperson in entlegenen Dörfern wie etwa Wolfersweiler oder Hemmersdorf erfassen konnte. Dies war in Saarbrücken deutlich leichter. Dort registrierte das Landeskriminalamt 142 Algerier, die mit Abstand größte Anzahl von Algeriern innerhalb eines saarländischen Ortes181 . Die Machtansprüche des FLN im Saarland stießen sich somit nicht nur an dem Widerstand oder dem »Eigensinn« vieler Algerier, sondern auch an der zersiedelten Struktur des saarländischen Raums und der mangelnden Infrastruktur. Ebenso wie im Falle Lothringens lässt sich die territoriale Reichweite der Macht des FLN im Saarland am treffendsten mit der Metapher »Inseln der Staatlichkeit« beschreiben182 . Die Untergrundorganisation erhob zwar auch dort gegenüber allen Algeriern quasistaatliche Machtansprüche. Sie war jedoch nur in wenigen Gebieten dazu in der Lage, diese Ansprüche auch durchzusetzen. Dass der FLN dabei jedoch effizienter war als der MNA, vermag ein kurzer Vergleich der Methoden und Strategien der beiden Untergrundorganisationen im Saarland zu erklären. Abgesehen davon, dass der FLN seine Ziele auch im Saarland deutlich erfolgreicher verfolgen konnte als der MNA, wies die jeweilige Praxis der beiden Organisationen ähnlich wie in Lothringen mehrere Parallelen auf. Sowohl FLN als auch MNA nutzten das Saarland für Geldtranfers, Waffenschmuggel und als Fluchtmöglichkeit. Ebenso wie in Frankreich versuchte der FLN, möglichst viele Algerier seinen Direktiven zu unterwerfen und sie insbesondere zur Zahlung eines regelmäßigen Geldbeitrags anzuhalten. Mitglieder beider 181 182

LKA Saarbrücken: Erfassung der im Saarland aufhaltsamen Algerier, 17. Nov. 1958, BArch Koblenz B 106–15779. Zur Anwendung des Staatsbegriffs auf den FLN siehe in diesem Teil, Kap. 3. Die Formel »Inseln der Staatlichkeit« ist Stefan Mair entlehnt: https://www.swp-berlin.org/file admin/contents/products/arbeitspapiere/ap13_2003_mrs_ks.pdf (Zugriff 10.7.2019).

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III. Algerische Migranten und der Kolonialkrieg

Organisationen waren außer in Lothringen auch im Saarland dazu bereit, zur Disziplinierung oder zur Bestrafung von Algeriern umfassend Gewalt anzuwenden und taten dies in einigen Fällen auch. Anders als in Lothringen setzten algerische Nationalisten im Saarland Gewalt jedoch niemals primär als Kommunikationsmedium ein. Sowohl bei dem Mord von FLN-Mitgliedern an Tahar Grib als auch bei dem von MNAAktivisten an Soualem Tahar handelte es sich um kalkulierte Reaktionen auf akute Bedrohungslagen der jeweiligen Organisation; im einen Fall durch ein anstehendes Gerichtsverfahren und im anderen Fall durch die akute Abwerbung von Mitgliedern durch den FLN. Um ihr Rückzugsgebiet nicht zu gefährden, versuchten sowohl der MNA als auch der FLN, bei der Ausübung von Zwang oder Gewalt gegenüber Algeriern im Saarland möglichst diskret vorzugehen. Während die Schocktruppen des MNA durchaus grenzüberschreitend operierten, zeichnete sich der FLN dadurch aus, dass sich seine im Saarland lebenden Aktivisten allein auf Algerier konzentrierten, die auch diesseits der Grenze lebten. Dass die Organisation diese Strategie überhaupt anwenden konnte, erklärt sich anhand des deutlich größeren Einflusses des FLN auf Algerier sowohl in Lothringen als auch im Saarland. Aufgrund der hohen Mitgliederzahlen des FLN konnten seine Mitglieder das Risiko eingehen, in Lothringen vor Ort zu bleiben, anstatt sich im deutschen Hinterland zu verstecken. Anders als für den MNA stellte die Auflösung einer Schocktruppe für den FLN im lothringischen Grenzgebiet seit 1958 keine existenzielle Bedrohung mehr dar. Ein wichtiger regionaler Faktor, der die Vormachtstellung des FLN gegenüber dem MNA erklären kann, ist die strukturelle Trennung der im Saarland lebenden FLN-Aktivisten von der Organisation in Lothringen. Die Aktivisten des FLN im Saarland waren für Lothringen nicht zuständig, da sie nicht der französischen Föderation unterstanden, sondern einer Zone, die sich über Belgien und die Bundesrepublik erstreckte183 . Die Organisationsstruktur der Messalisten hingegen reichte über die nationale Grenze hinweg. Dementsprechend agierten auch die Mitglieder ihrer Schocktruppen transnational. Im Gegensatz dazu wurden lothringische FLN-Aktivisten, die wie Medjani eine direkte Kooperation mit den frontistes des Saarlands anstrebten, von ihren Vorgesetzten dafür gerügt.

183

Diese Zone umfasste den Angaben Ali Harouns zufolge drei Regionen: Belgien, das Saarland und die übrige Bundesrepublik, vgl. Interview LH–Medjani, 2014, S. 34. Zwischen Oktober 1961 und März 1962 zählte der FLN in Belgien laut Ali Haroun zwei Regionen, eine im Saarland und drei weitere in der Bundesrepublik, siehe: Haroun, La 7e wilaya, S. 53.

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3. Der FLN in Lothringen

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3.6. Die Demonstrationen algerischer Frauen im Oktober 1961 Am 17. Oktober 1961 organisierte die französische Föderation des FLN auf Initiative einiger führender Kader der Region Paris eine große Demonstration in der französischen Hauptstadt. Die Aktion richtete sich gegen das am 5. Oktober vom Pariser Polizeipräfekten Maurice Papon verhängte Ausgehverbot für »muslimische Franzosen« zwischen 20.30 und 5.50 Uhr. Mit dieser offiziell als »Ratschlag« formulierten Maßnahme übernahm Papon eine weitere Methode der französischen Armee beim »Kampf um Algier«, um seinem Ziel näherzukommen, die Macht des FLN in Paris zu brechen184 . Seit Papons Amtsantritt im März 1958 hatte der ehemalige Präfekt und IGAME von Constantine den Druck auf das gesamte algerische Milieu im Großraum Paris massiv gesteigert. Zu seinen Neuerungen im »Antiterrorkampf« zählten etwa unangekündigte nächtliche Umsiedlungen von Algeriern im Rahmen der »opération osmose«185 sowie der Einsatz von Spezialeinheiten, die er bei der Repression gegenüber Algeriern explizit zu Gewalttaten und anderen Gesetzübertretungen ermutigte186 . Die FLN-Aktivisten der Stadt reagierten ihrerseits auf die zahlreichen Morde und Folterungen von Algeriern mit einer Serie von Anschlägen gegen französische Polizisten187 . Trotz der wiederholten Anordnungen des GPRA an die französische Föderation, zumindest während der Verhandlungen mit der französischen Regierung 1960 und 1961 die Waffen ruhen zu lassen, setzten die Aktivisten in Paris ihre Anschläge gegen Polizisten fort. Angesichts der ebenfalls fortgesetzten täglichen Repressionen durch die Männer Papons konnte oder wollte die Föderation die Aktivisten in Paris nicht mehr zügeln188 . Für den Fall, dass man der Polizei das Feld überließ, fürchteten die Männer um Boudaoud in Köln einerseits den Verfall der Macht des FLN in dessen mit Abstand wichtigstem Einflussgebiet innerhalb der Metropole189 . Mit Blick auf die Zeit nach der Unabhängigkeit hofften sie andererseits darauf, ihren Einfluss innerhalb der Gesamtorganisation durch eigene Machtdemonstrationen zu stärken. So kam es, dass die Demonstrationen des FLN zwischen dem 17. und dem 20. Oktober ohne Anweisungen des GPRA und allein anlässlich der Konfrontation zwischen FLN und der Pariser Polizei geplant wurden190 . Die Demonstrationen 184 185 186

187 188 189 190

House, MacMaster, Paris 1961, S. 162. Ibid., S. 103. Ein Beispiel dafür ist die Anordnung Maurice Papons vom 5. Sep. 1961 an die Polizei, Mitglieder einer Schocktruppe des FLN, die bei einem Verbrechen überrascht wurden, vor Ort zu erschießen, ibid., S. 217. Blanchard, La police parisienne et les Algériens, S. 369–376. House, MacMaster, Paris 1961, S. 124. Ibid., S. 128f. Ibid., S. 195.

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III. Algerische Migranten und der Kolonialkrieg

sollten eine Machtdemonstration sowohl gegenüber dem GPRA als auch gegenüber der Pariser Polizei sein. Die Föderation und die Pariser Kader des FLN hatten gehofft, dass die französischen Ordnungskräfte es nicht wagen würden, gegen Algerier Gewalt anzuwenden, die friedlich und unbewaffnet das Ausgehverbot der Polizeipräfektur brachen. Diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Etwa 20 000 bis 30 000 algerische Männer, Frauen und Kinder stießen auf zum großen Teil schwer bewaffnete und durch bewusst gestreute Falschmeldungen über bewaffnete Demonstranten aufgestachelte CRS, Gendarmen und Polizisten. Allein an diesem Tag wurden 11 518 Algerier in Paris verhaftet191 , unter den Demonstranten soll es etwa 2300 Verletzte und mindestens 100 Tote gegeben haben192 . Die Solidaritätskundgebungen algerischer Frauen und Kinder in der gesamten Metropole – drei Tage nach dem 17. Oktober – hatte die französische Föderation de France bereits am 10. Oktober geplant193 . Auch wenn sich die Informationen über das ganze Ausmaß des »kolonialen Massakers« von Paris194 nur spärlich und langsam verbreiteten, wurde die politische Bedeutung der Demonstrationen vom 20. Oktober durch die Ereignisse in der Hauptstadt enorm gesteigert. Die Föderation versuchte, die Aufmerksamkeit weiter auf sich zu lenken und mit den Aufmärschen algerischer Frauen und Kinder eine weitere Demonstration ihrer Macht zu liefern. Die Polizei wollte hingegen die Gelegenheit nutzen, um ihr Personal angesichts der wachsenden Kritik an ihrem Vorgehen am 17. Oktober nun als Gentlemen zu inszenieren, während sie den FLN beschuldigte, mit dieser Aktion Frauen und Kinder als lebende Schutzschilde zu missbrauchen195 . Die Präfekturen in Lothringen waren vor den Demonstrationen des FLN gewarnt worden. Bereits am 18. Oktober erhielten sämtliche Ordnungskräfte in Moselle die Anweisung, jeglichen Hinweis auf ähnliche Demonstrationen wie die in Paris weiterzuleiten und gegebenenfalls so schnell wie möglich zu intervenieren196 . Nachdem bekannt geworden war, dass der FLN eine Solidaritätsdemonstration auf den 20. Oktober angesetzt hatte, wurden in Lothringen entsprechende Vorkehrungen getroffen: In Thionville positionierte sich ein Aufgebot aus Polizisten, Gendarmen, CRS und Feuerwehrmännern rund 191 192 193 194 195 196

Ibid., S. 163. Ibid., S. 170.211. House, MacMaster, Paris 1961, S. 149. Blanchard, La police parisienne et les Algériens, S. 391. House, MacMaster, Paris 1961, S. 175. Le préfet de la Moselle, inspecteur général de l’administration à MM. le directeur départemental des services de police, le lieutenant-colonel, commandant le groupement de gendarmerie, le colonel, commandant le 6e groupement de CRS, le commissaire principal, chef du service régional des RG, le commissaire principal, chef de secteur de C.E., le commissaire principal, chef de la BST, le commissaire principal, chef du détachement de PJ, 18. Okt. 1961, AdM 370 W 1.

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3. Der FLN in Lothringen

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um die Subpräfektur der Stadt, die als Ziel der Demonstration ausgemacht worden war. Sieben CRS-Busse sowie diverse Autos der Gendarmerie und Polizei waren vor Ort197 . Gegen Mittag wurden bei Fahrzeugkontrollen ein PKW und ein Transporter angehalten, die mehrere Frauen und Kinder zu der Demonstration ins Stadtzentrum bringen sollten. Nachdem ihre Spruchbänder und Fahnen beschlagnahmt worden waren, wurden sie weggeschickt. Einige von ihnen kehrten jedoch um kurz vor 13 Uhr zurück, um in der Rue de Paris am Rande der Place de la République verschiedene Parolen zu skandieren und FLN-Plakate zu schwenken198 . Rund 100 algerische Frauen und Kinder beteiligten sich an dieser Aktion, 34 Frauen wurden in Untersuchungshaft genommen199 . In Metz versammelten sich am 20. Oktober gegen 13 Uhr in der Rue BelleIsle etwa 30 Algerierinnen und liefen von dort aus mit mehreren Spruchbändern in Richtung Stadtzentrum. Nach etwa einer halben Stunde intervenierte die Polizei, beschlagnahmte einige Plakate und verhaftete 18 Frauen200 , die jedoch alle zwischen 18.30 und 19.30 Uhr wieder freigelassen wurden201 . Während die Beteiligung an der Demonstration auch in Longwy mit rund 70 Frauen und 60 Kindern202 relativ gering blieb, war sie in Forbach bemerkenswert hoch. Im Laufe des Vormittags hatten sich dort mehrere Algerier auf der Straße positioniert, um algerische Kinder, die sich auf dem Schulweg befanden, wieder nach Hause zu schicken203 . Gegen 12 Uhr formierte sich hinter der Kirche Saint-Rémy unweit der Subpräfektur ein Demonstrationszug, der nach Angaben von Presse und Polizei zwischen 12.30 und 13 Uhr etwa 250 bis 350 algerische Frauen und Kinder umfasste204 . Sie waren zuvor zum Teil mit Autos aus Freyming, Behren, Stiring und Merlebach dorthin gefahren worden205 . Die Demonstrantinnen verstreuten sich infolge einer ersten Intervention der Polizei etwa 200 Meter vor der Subpräfektur206 in kleinere Gruppen, die dann in verschiedenen Straßen der Kleinstadt ihre Spruchbänder mit Forderungen nach Verhandlungen der französischen Regierung mit dem GPRA schwenkten und »Algérie algérienne« skandierten. Infolge mehrerer Verhaf-

197 198 199 200 201

202 203 204 205 206

Le Républicain lorrain, 21. Okt. 1961. Ibid. IGAME préfet de la Moselle au ministre de l’Intérieur, cabinet, 20. Okt.1961, AdM 252 W 20. Le Lorrain, 21. Okt. 1961. Le commissaire de police urbaine Jean Delachaux, chef de la sûreté urbaine à monsieur le commissaire divisionnaire, commaissaire central de Metz, 21. Okt. 1961, AdM 252 W 20. Manifestation de femmes nord-africaines, 20. Okt. 1961, ibid. RG de Forbach, manifestation de femmes musulmanes, 20. Okt. 1961, ibid. Ibid. Le Républicain lorrain, 21. Okt. 1961. Direction générale de la Sûreté nationale, manifestations nord-africaines à Forbach, o. D., AdM 252 W 20.

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III. Algerische Migranten und der Kolonialkrieg

tungen der Polizei endete die Aktion im Kohlebecken gegen 14.30 Uhr207 , nachdem die Polizei einen Demonstrationszug aus etwa 90 algerischen Frauen in Stiring-Wendel aufgehalten hatte208 . Anlässlich der Demonstrationen des FLN am 20. Oktober 1961 traten die algerischen Frauen in Lothringen für einen Moment aus ihrem politischen Schattendasein heraus, das sie bis dahin gefristet hatten. Teils auf Druck des FLN, teils aus eigener Überzeugung taten sie ihre Unterstützung für das GPRA öffentlich kund und setzten damit nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Kinder dem Risiko aus, zu Opfern polizeilicher Repressionen zu werden. Die große Opferbereitschaft illustriert auch die Beteiligung von Schwangeren an den Demonstrationen209 . Insbesondere im Kohlebecken von Forbach konnte der FLN mit der Demonstration vom 20. Oktober eine beeindruckende Machtdemonstration vollziehen. Innerhalb Lothringens mobilisierten die dortigen Aktivisten den mit Abstand höchsten Anteil algerischer Frauen. Nach Angaben der RG lebten in diesem Arrondissement im Oktober 1961 insgesamt 232 algerische Frauen und 1288 algerische Kinder. Falls die Zahlen stimmen und die von den RG geschätzte Beteiligung von etwa 180 Frauen und 120 Kindern an der Demonstration zutreffend ist, gingen somit mehr als drei Viertel aller Algerierinnen und fast jedes zehnte algerische Kind in dem Arrondissement am 20. Oktober auf die Straße, um im Sinne des FLN zu demonstrieren210 . Sowohl von französischer als auch von algerischer Seite her gerieten die Demonstrationen zwischen dem 17. und dem 20. Oktober 1961 nur wenige Monate später in Vergessenheit. Dafür sorgte neben der Pariser Polizei und dem französischen Staat auch das GPRA aus Sorge vor einem zu großen Macht- und Prestigegewinn der ohnehin schon einflussreichen französischen Föderation. In dieser Absicht konzentrierte sich die Propaganda des FLN in den Wochen nach dem Massaker weniger auf Paris, sondern vor allem auf einen Hungerstreik algerischer Häftlinge. Als (erneutes) Bekenntnis zum FLN wurde der Hungerstreik aller algerischen Häftlinge ab dem symbolträchtigen 1. November angeordnet und außer von zahlreichen Gefangenen in der Metropole auch von inhaftierten Größen der Organisation wie Ben Bella befolgt211 . In Lothringen berichtete die Presse über eine Beteiligung algerischer Häftlinge in Briey, Nancy und Toul an dem Hungerstreik212 . In Toul befanden sich nach zwölf Tagen 20 der 185 Häftlin-

207 208 209

210 211 212

Le Républicain lorrain, 21. Okt. 1961. RG de Forbach, manifestation de femmes musulmanes, 20. Okt. 1961, AdM 252 W 20. Bougherra, der zum Zeitpunkt der Demonstration im FLN aktiv war, berichtete dem Autor, dass seine schwangere Frau an der Demonstration teilgenommen hat. Sie wurde verhaftet und verlor in den Tagen darauf ihr Kind: Interview LH–Bougherra, 2014, S. 17. RG de Forbach, manifestation de femmes musulmanes, 20. Okt. 1916, AdM 252 W 20. House, MacMaster, Paris 1961, S. 197. Le Républicain lorrain, 2. Nov. 1961.

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3. Der FLN in Lothringen

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ge, die die Nahrungsaufnahme verweigerten, in medizinischer Betreuung213 . Am 16. November solidarisierten sich algerische und einige französische Studenten in Nancy mit ihnen und wiesen ihrerseits demonstrativ in der Mensa das angebotene Essen zurück214 . Der 17. Oktober 1961 und die anschließenden Demonstrationen algerischer Frauen wurden auch im kollektiven Gedächtnis in Lothringen marginalisiert. Sie gerieten aufgrund der Machtverhältnisse während des Krieges und der Geschichtspolitik der algerischen und französischen Regierung seit 1962 in Vergessenheit. Nach einer langen Phase des Schweigens wurde in Paris erst seit den 1990er Jahren in Form von allerlei Veranstaltungen an den 17. Oktober 1961 erinnert. Heute wird das Massaker der Pariser Polizei in den Medien und auch in der Forschungsliteratur häufig als Paradebeispiel herangezogen, um die Gewalt in der Metropole gegenüber Algeriern während des Algerienkriegs zu illustrieren. Dabei ist jedoch vielfach nicht nur die Einzigartigkeit der Situation in Paris aus dem Blick geraten, sondern auch die damit einhergehende memorielle Verdrängung paralleler beziehungsweise mit dem 17. Oktober verknüpfter Ereignisse jenseits der Hauptstadt. Die Erfahrungen algerischer Männer und Frauen in Lothringen werden selbst im Zuge dort stattfindender algerischer Gedenkveranstaltungen an den Unabhängigkeitskrieg – wenn überhaupt – nur am Rande erwähnt215 . Die Geschichte der algerischen Migranten im lothringischen Grenzgebiet während des algerischen Unabhängigkeitskriegs ist nur hinreichend zu verstehen, wenn man bereit ist anzuerkennen, dass der FLN eine quasistaatliche Organisation war, die sich im Krieg befand. Der FLN kam der Umsetzung seines Ziels, eigene Strukturen zur Regelung aller alltäglichen Belange algerischer Migranten aufzubauen, auch in einigen Gebieten des lothingischen Grenzraums beachtlich nahe. Vor allem hinsichtlich des regelmäßigen Eintreibens von Geldbeiträgen in der Manier eines Steuersystems, aber auch mit Blick auf die vielseitigen Funktionen und Einsätze von Aktivisten mit gerichts- und polizeiähnlichen Funktionen sind die Institutionalisierungsprozesse innerhalb des FLN als Aufbau einer neuen politischen Ordnung in Lothringen einzustufen216 . 213 214 215

216

Die Zeitung bezeichnete die Betroffenen in diesem Kontext als »freiwillige Kranke«: ibid., 13. Nov. 1961. Ibid., 17. Nov. 1961. Tidar berichtete, dass bei einer Gedenkveranstaltung an den Algerienkrieg am 12. November 2014 die bis heute vom FLN angeleitete Adaf in Metz kein Wort zu den Ereignissen in der Region während des Krieges verloren habe: 2. Interview LH–Tidar, 2014, S. 2–4. Dies knüpft an die Analyse der Politik bewaffneter Gruppen von Klaus Schlichte an: »[T]he politics of armed groups can also be seen as part of a violent reconfiguration of political orders. The insitutionalization that occurs within armed groups then becomes a contribution to state-building. Quite a number of armed groups, therefore, can be seen as outright state-builders«, Schlichte, In the Shadow of Violence, S. 179.

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III. Algerische Migranten und der Kolonialkrieg

Auch in Lothringen sah vermutlich eine Mehrheit der Migranten den FLN bereits im Laufe des Unabhängigkeitskriegs als »ihren Staat« an. Nachdem der FLN 1962 über sieben Jahre nach dem Beginn des Unabhängigkeitskriegs damit begann, einen international anerkannten algerischen Staat nach seinen Vorstellungen zu gestalten, entschied sich fast die gesamte in der Metropole lebende algerische Bevölkerung dazu, die neue algerische Staatsbürgerschaft anzunehmen217 . Dies muss zwar nicht als aktives Bekenntnis für eine Unterstützung des FLN gewertet werden, aber zumindest als (begrenzte) Unterordnung unter dessen Machtbestrebungen. Damit hatten die »state-builders« des FLN in Lothringen ihr Ziel erreicht.

217

Lyons, The Civilizing Mission in the Metropole, S. 513 mit Anm. 112.

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4. Alltag und »agency« algerischer Migranten in Lothringen Bislang wurde deutlich, dass der vielseitige Druck, der aus politischen Motiven auf Algerier ausgeübt wurde, zwischen 1958 und 1962 einen Höhepunkt erreichte. In dieser Phase mussten sie innerhalb des lothringischen Grenzgebiets jederzeit darauf gefasst sein, zur Zielscheibe von Kontrollen und Repressionen unterschiedlicher Akteure zu werden. Dennoch waren für die Bedingungen und die Gestaltung des Alltags der Migranten auch weiterhin deren soziale Kontakte sowie Arbeits- und Wohnbedingungen zentral. Daher untersucht das folgende Kapitel, inwiefern sich während dieser »heißen Phase« des Unabhängigkeitskampfes auch ein Wandel der sozialen Struktur der algerischen Migration einstellte. Dabei wird unter besonderer Beachtung der staatlich geförderten Sozialarbeit für »Nordafrikaner« auch erörtert, welcher Einfluss diesbezüglich dem Kolonialkrieg zukam. Schließlich illustriert eine abschließende Untersuchung über die Reichweite der Handlungsspielräume der Migranten, dass der Kolonialkrieg deren Lebensbedingungen zwar in hohem Maße prägte, aber keineswegs determinierte.

4.1. Die wachsende Zahl algerischer Migranten und der Wandel der Sozialstruktur Seit dem Frühling des Jahres 1956 hatte sich der algerische Unabhängigkeitskrieg auf die Chancen algerischer Migranten am lothringischen Arbeitsmarkt zunehmend negativ ausgewirkt. Vor dem Hintergrund der Intensivierung der Auseinandersetzungen um die algerische Frage in Lothringen setzte sich diese Entwicklung auch im Verlauf des Jahres 1958 fort. Der Generalverdacht, Algerier würden nicht mehr allein aufgrund ihrer vermeintlichen zivilisatorischen Rückständigkeit, sondern nun auch aus politischen Motiven innerbetriebliche Abläufe stören, weitete sich aus. Im April 1958 berichtete der SCINA der 6. Militärregion, die Haltung der meisten Arbeitgeber gegenüber »Nordafrikanern« habe sich weiter verhärtet. Aus einzelnen Regionen wurde gar berichtet, die dortigen Arbeitgeber würden die Einstellung von »Nordafrikanern« nunmehr grundsätzlich ausschließen1 . Unternehmen, die weiterhin viele Algerier beschäftigten, zeigten sich meist weiterhin dazu bereit, zur Überwachung algerischer Arbeiter eng mit der Präfektur zu kooperieren. So lieferte etwa die Generaldirektion des Unter1

SCINA régional, 6e région, procès-verbal de la réunion, 10. Apr. 1958, S. 17, AdM&M 950 W 13.

https://doi.org/10.1515/9783110644012-012

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III. Algerische Migranten und der Kolonialkrieg

nehmens Wendel der Präfektur im Juli 1959 eine ausführliche Liste mit allen persönlichen Daten der »nordafrikanischen Arbeiter« an den Standorten in Jœuf, Moyeuvre und Hayange2 . Der für die »nordafrikanischen Arbeiter« der HBL zuständige Sozialarbeiter Verbiest beschwerte sich im Mai 1958 zwar bei der Präfektur darüber, dass verschiedene Polizeidienste regelmäßig bei ihm persönlich vorsprachen, um Informationen über »Nordafrikaner« zu bekommen. Dieser Vorstoß beruhte den Angaben des CTAM von Moselle zufolge jedoch allein auf der Befürchtung, Verbiest könne sich dadurch aus Sicht der »nordafrikanischen Arbeiter« kompromittieren. Dabei wurde auf einen Mordanschlag gegen Verbiests Kollegen bei der SMK im Jahr zuvor verwiesen. Vor diesem Hintergrund bat der Sozialarbeiter der HBL, der eine eigene Kartei mit verdächtigen »Nordafrikanern« unterhielt, darum, die Polizei möge die entsprechenden Anfragen in Zukunft mit erhöhter Diskretion durchführen3 . Gegenüber der zunehmenden Skepsis bzw. Ablehnung vieler Arbeitgeber gegenüber »Nordafrikanern« erwies sich die Wirtschaftsentwicklung seit 1959 als entscheidender Faktor für die weitere Entwicklung der Anzahl algerischer Migranten in der Region. Diese war seit dem Frühling 1956 immer weiter zurückgegangen, was zumindest vorrangig keine ökonomischen Gründe hatte. Im Mai 1958 schrieb der Journalist René Bour, dass in Lothringen bereits seit Mitte des Jahres 1957 Unternehmen unterschiedlicher Sektoren eine bedeutende Nachfrage nach Arbeitskräften geäußert hätten. Demnach hatten die HBL 1957 sogar die Zuweisung von 3000 bis 4000 Hilfsarbeitern aus dem Ausland gefordert, während die Eisen- und Stahlindustrie einen Bedarf von rund 2000 Arbeitern anmeldete4 . Dies ist ein weiterer Hinweis dafür, dass der Algerienkrieg der entscheidende Faktor für den Rückgang der Anzahl algerischer Arbeiter und den Mangel an Arbeitern in der Region während der Phase von 1956 bis 1959 darstellte. Noch im September 1959 berichtete die Polizei von Metz, die Arbeitgeber der Region drängten derart auf die Einstellung von Italienern, lehnten gleichzeitig Muslime aber ab, dass man nicht umhin komme, letztere als Opfer einer »eindeutigen Diskriminierung« zu sehen5 . Der Trend, dass die Menge der algerischen Arbeiter in Lothringen mit zunehmender Dauer des Kolonialkriegs zurückging, kam seit dem Jahr 1959 zu einem Ende. Obwohl die polizeilichen Repressionen, die Ablehnung vieler Arbeitgeber gegenüber Algeriern sowie die bewaffneten Übergriffe von FLN und MNA zwischen 1959 und 1962 ihren Höhepunkt erreichten, wuchs die Zahl 2 3 4 5

Direction générale de Wendel à monsieur le préfet de la Moselle, 23. Juli 1959, AdM 297 W 18. F. Guigue à monsieur le sous-préfet de la Moselle, 20. Mai 1958, AdM 370 W 1. René Bour, La Lorraine face à son avenir, in: Actualités industrielles lorraines 55 (1958), S. 18–23, AAM PER 1/3. Commissariat central de Metz, note de renseignements, 15. Sep. 1959, AdM 252 W 19.

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4. Alltag und »agency« algerischer Migranten

der algerischen Arbeiter dort in dieser Phase kontinuierlich an. In Moselle steigerte sie sich bis zum Sommer 1961 bis auf den bis dahin höchsten jemals erfassten Wert von 15 486 (siehe Grafik 8)6 . Grafik 8: Anzahl algerischer Arbeiter in Moselle, 1958–1962 16000 15486 15000 14746 14171

14000

13744

14732 13907 14005

13000

12000

12733

11571

10576 10234

Ja

nM Ap rz 5 r-J 8 u Ju n 5 l-S 8 Ok ep 5 t-D 8 Ja ez 5 nM 8 Ap rz 5 r-J 9 u Ju n 5 l-S 9 Ok ep 5 t-D 9 Ja ez n- 59 M Ap rz 6 r-J 0 u Ju n 60 l-S Ok ep t-D 60 Ja ez 6 nM 0 Ap rz 6 r-J 1 u Ju n 6 l-S 1 Ok ep 6 t-D 1 Ja ez n- 61 M Ap rz 6 r-J 2 u Ju n 62 l-S Ok ep t-D 62 ez 62

10000

11869

11222

10649 10556 11000 10378 10457

Auch die soziale Struktur der algerischen Migration in Lothringen machte während des Algerienkriegs in mehrfacher Hinsicht einen grundlegenden Wandel durch. Dies betraf zunächst die Herkunftsregionen der Migranten, wie ebenfalls am Beispiel des Departements Moselle deutlich wird. Zwischen 1950 und 1958 differenzierte sich deren Zusammensetzung nach Herkunftsorten wesentlich aus. Insbesondere das Arrondissement von Thionville wurde durch die Ansammlung zahlreicher Algerier aus den Arrondissements von Algier, Constantine, Oran sowie aus der Kabylei auch zu einem Sammelbecken der inneralgerischen Begegnung7 . 6

7

Die lückenhaften Angaben sind der mangelhaften Überliefererung geschuldet. Mehrere Monatsberichte in den Archiven der Präfektur fehlen ohne Erklärung, siehe: Rapports de la direction départementale du travail et de la main d’œuvre en Moselle, AdM 297 W 18. Nach den Angaben der Gendarmerie lebten im Arrondissement Thionville Algerier aus elf verschiedenen algerischen Arrondissements. 1481 kamen aus Algier, 277 aus TiziOuzou, 325 aus Medea, 319 aus Oran, 52 aus Tlemcen, 345 aus Mostaganem, 2489 aus Constantine, 20 aus Bone, 344 aus Sétif und 50 aus Batna: Le chef d’escadron Gauroy, commandant le groupement de gendarmerie de la Moselle: État faisant ressortir l’implantation des Nord-Africains, par groupements dans le département, 24. Sep. 1958, SHD, Vincennes, AG à Metz, 2007 ZM 1/135 734. Acht Jahre zuvor kamen die im Arrondissement Thionville lebenden Algerier aus nur acht verschiedenen algerischen Arrondissements: 93 aus Aumale, 401 aus Batna, 161 aus Bougie, 197 aus Constantine, 79 aus Mostaganem, 17 aus Sétif, 792 aus Tizi-Ouzou und 69 aus Tlemcen: Girard, Leriche, L’immigration nord-africaine, S. 101–105.

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III. Algerische Migranten und der Kolonialkrieg

Der zweite wichtige Wandel der sozialen Struktur der algerischen Migration in Lothringen war die wachsende Unabhängigkeit von den Arbeitgebern bei der Unterbringung. Zwischen 1950 und 1954 lebten noch etwa drei Viertel der algerischen Arbeitsmigranten in einer Unterkunft ihres Arbeitgebers. Daran hatte sich fast nichts geändert, nachdem die Gesamtzahl der algerischen Arbeiter in Moselle 1958 auf den Stand von 1951 eingebrochen war. Einer Erhebung der Gendarmerie zufolge lebten 1958 rund 68 Prozent der algerischen Arbeiter in einem Wohnheim oder einer Wohnsiedlung, die ihr Arbeitgeber kontrollierte (siehe Grafik 9). Infolge des Wiederanstiegs der Anzahl algerischer Arbeiter in Moselle seit Beginn des Jahres 1959 ging der Anteil derer, die in einer Unterbringung ihres Arbeitgebers lebten, drastisch zurück. Als die Anzahl der Algerier innerhalb dieses Departements im Februar 1961 mit 14 746 registrierten algerischen Arbeitern kurz vor einem historischen Höchststand war, waren den Angaben der Gendarmerie zufolge nur 40 Prozent davon in einem Wohnheim oder Barackenlager untergebracht8 . Während die Zahl der algerischen Arbeiter zwischen Januar 1958 und Februar 1961 insgesamt von 10 648 auf 14 746 um 28 Prozent zugenommen hatte, war der Anteil derer, die in einer von Arbeitgebern gestellten Unterkunft lebten, um mehr als ein Drittel zurückgegangen. Während die Intensität der Austragung des Konflikts um die algerische Frage in Lothringen einen Höhepunkt erreichte, machten sich immer mehr Algerier dort bei der Beschaffung ihrer Unterkunft unabhängig. Dadurch kamen einerseits mehr Kosten auf die Migranten zu. Sie reduzierten damit aber auch die Macht der Arbeitgeber über ihre Lebensverhältnisse und entzogen sich der Aufsicht des Wohnheimpersonals. Durch den Verzicht auf die Unterbringung in einer Wohnanlage verbesserten sie nicht zuletzt ihre Chancen, sich dem Zugriff von MNA und FLN zu entziehen. Die beiden algerischen Untergrundorganisationen schickten ihre Geldeintreiber, wie bereits der MTLD, besonders häufig in die lothringischen Wohnheime und Barackenlager, wo viele Algerier auf engem Raum zusammenlebten9 .

8

9

Dieser Wert beruht auf der Auswertung einer Auflistung der Gendarmerie aller Arbeiterwohnheime und Barackenlager mit ihren algerischen Bewohnern im Departement Moselle. Die Liste entstand im Kontext einer Überwachungs- bzw. einer Einschüchterungsaktion der Gendarmerie gegen den »algerischen Terrorismus«: Annexe de la note de service du lieutenant-colonel Gauroy, commandant le groupement de gendarmerie de la Moselle, 16. Feb. 1961, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 737. Der SCINA der 6. Militärregion berichtete im April 1958, dass eine größere Anzahl von Nordafrikanern die Wohnheime verlassen habe, um sich den »Kollekten« des FLN zu entziehen: SCINA régional, 6e région, procès-verbal de la réunion, 10. Apr. 1958, S. 4, AdM&M 950 W 13. Ob dieser Verdacht zutraf, konnte im Rahmen dieser Studie nicht ermittelt werden.

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4. Alltag und »agency« algerischer Migranten

1.994

METZ

THIONVILLE

FORBACH

„Nordafrikaner“, die in einer Wohnung leben

CHATEAUSALINS

SARREGUEMINES

298

183

179

122

35

SARREBOURG

15

0

79

894

643

1.916

1.211

5.101

Grafik 9: Die Wohnsituation der »Nordafrikaner« in Moselle, 195810

BOULAY

„Nordafrikaner“, die in einem Wohnheim oder einem Wohnlager leben

Der Wandel der sozialen Struktur der algerischen Migration in Lothringen während des Algerienkriegs erschöpfte sich auch nicht in der zunehmenden Abwendung algerischer Arbeiter von den Wohnheimen ihrer Arbeitgeber. Anhand von Zensuserhebungen des französischen Staates kann gezeigt werden, dass die Veränderungen weit darüber hinausreichten. Als Fallbeispiel werden dazu die Daten zu dem kleinen Ort Longlaville im industriellen Becken von Longwy angeführt11 . Die aus dem Zensus von 1954 für Longlaville registrierten Personen mit arabischen beziehungsweise kabylischen Nachnamen werden im Folgenden als Algerier bezeichnet, sofern keine Details über ihre Herkunft vorliegen12 . Im Jahr 1954 waren von den insgesamt 398 Personen 64 Prozent Hilfsarbeiter, 29 Prozent anderweitig beschäftigt und sieben Prozent ohne Arbeit13 . Diese Werte scheinen für das Becken von Longwy insofern repräsentativ, als sie sich weitgehend mit denen von 156 Algeriern aus der Region decken, deren Beruf zwischen 1945 und 1962 polizeilich erfasst wurde. Von diesen waren 65 Prozent Hilfsarbeiter und sechs Prozent arbeitslos14 . 10 11 12

13 14

Insgesamt lebten den Angaben der Gendarmerie zufolge von 12 670 »Nordafrikanern« 4030 in einer Wohnung und 8640 in einem Wohnheim. Siehe zu den folgenden Angaben Hardt, Die Auswirkungen des Algerienkriegs. Diese Entscheidung wurde getroffen, da ihre Nationalität nicht immer eindeutig angegeben war und der geringe Anteil von Marokkanern und Tunesiern an der Migration aus Nordafrika insgesamt die Verwendung der kolonialistisch aufgeladene Bezeichnung »Nordafrikaner« aus Sicht des Autors in diesem Fall nicht rechtfertigen würde. Für diese und alle weitere Angaben gilt die Richtlinie, dass nur Personen gezählt wurden, die zum Zeitpunkt der Erhebung mindestens 16 Jahre alt waren. Diese Angaben stammen aus der Datenbank »Militants« des Trierer Sonderforschungsbereichs 600 »Fremdheit und Armut«. Die darin erhobenen Daten stammen aus den Beständen W 1304 163, W 1304 164, W 1304 165 und Cab 158 des Departementarchivs von Meurthe-et-Moselle in Nancy, siehe Hardt. Die Auswirkungen des Algerienkriegs, S. 100–109.

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III. Algerische Migranten und der Kolonialkrieg

72 Prozent der 398 erfassten Personen in Longlaville lebten 1954 in dem örtlichen Barackenlager Les Quatre Cantines. Abgesehen vom Aufseher Matthias Weber und dessen insgesamt 13 Personen zählender Familie gab es dort keine weiteren Bewohner mit europäischen Namen. Diese starke Segregation spiegelte sich weitgehend auch in der Wohnsituation außerhalb von Les Quatre Cantines wider. In lediglich neun von 41 erfassten Haushalten mit einem oder mehreren algerischen Bewohnern in Longlaville lebten auch eine oder mehrere Personen mit europäischen Namen. Dies beruhte in vier Fällen auf einem Eheverhältnis und in drei weiteren Haushalten auf der nicht weiter definierten Relation »amie«. Sechs Algerier lebten allein. In den übrigen aufgeführten Haushalten teilten Franzosen oder Italiener ihre Wohnung mit mindestens einem weiteren Algerier, mit dem sie den Angaben nach entweder eine freundschaftliche oder familiäre Bindung unterhielten. Nur drei Frauen mit kabylischem oder arabischem Nachnamen wurden erfasst, darunter ein Mädchen mit einem marokkanischen Vater und einer französischen Mutter. Zum Ende des Krieges hin zeichnete die Erhebung des Zensus ein deutlich gewandeltes Bild der sozialen Situation der Algerier in Longlaville. Nunmehr waren 85 Prozent von ihnen als Hilfsarbeiter registriert, drei Prozent arbeitslos und zwölf Prozent anderweitig beschäftigt. Diesem deutlichen Anstieg des Anteils der Migranten in prekären Arbeitsverhältnissen bei gleichzeitigem Rückgang der Arbeitslosigkeit stand eine tendenzielle Auflockerung bezüglich der ethnischen Segregation der Wohnsituation gegenüber. In zehn der 37 Haushalte mit Personen, die einen arabischen oder kabylischen Namen trugen, lebte 1962 mindestens eine Person europäischen Namens. Die Zahl der eingetragenen Ehen zwischen algerischen und nichtalgerischen Personen hatte sich auf sechs verdoppelt, und auch die Zahl der unter »amie« beziehungsweise »concubinage« registrierten Verhältnisse eines Algeriers zu einer Europäerin war auf vier gestiegen. Zwei dieser Paare hatten auch ein gemeinsames Kind. Selbst in Les Quatre Cantines machte sich der neue Trend bemerkbar. Dort waren 1962, abgesehen von Algeriern und der Familie Weber auch drei Italiener und ein Franzose wohnhaft. Außerdem hatte sich die Anzahl algerischer Frauen in Longlaville auf fünf erhöht. Diese Zahlen können über die fortbestehende Isolierung eines Großteils der Migranten jedoch nicht hinwegtäuschen. Die algerischen Bewohner von Les Quatre Cantines stellten zusammen mit denen eines neu eröffneten Wohnheims des Unternehmens Lorraine-Escaut noch immer eine deutliche Mehrheit von 69 Prozent. Hinzu kommt, dass sich die Zahl der alleine lebenden Algerier von neun auf 19 erhöht hatte, bei einem starken Rückgang der Zahl der Algerier in Longlaville insgesamt, von 398 im Jahr 1954 auf 240 acht Jahre später15 . 15

Diese Entwicklung steht absolut konträr zu dem bereits erwähnten Befund, dass die Zahl der Algerier in der Region während des Algerienkrieges insgesamt zunahm. An dieser Stelle kann dafür jedoch keine Erklärung geliefert werden.

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4. Alltag und »agency« algerischer Migranten

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Die 1962 neu eingeführten Angaben des Zensus über den Migrationshintergrund der erfassten Personen weisen darauf hin, dass besonders »Neuankömmlinge« aus Algerien von Ausgrenzung betroffen waren. Personen, die am 1. Januar 1954 noch in Algerien gelebt hatten, machten im Jahr der algerischen Unabhängigkeit 72 Prozent der algerischen Bevölkerung Longlavilles aus. Von diesen waren wiederum 90 Prozent in einem der beiden Wohnheime untergebracht. Lediglich 20 Prozent der Algerier in Longlaville hatten zum Ende des Algerienkrieges bereits bei der Erhebung von 1954 in dem Ort gelebt. Dies illustriert die enorme Mobilität, die innerhalb des algerischen Milieus in Lothringen herrschte. Vor allem aufgrund der hohen Bereitschaft algerischer Migranten, den Wohn- und Arbeitsplatz zu wechseln, konnte sich die Anzahl der Algerier in Lothringen spätestens seit 1959 im Schlepptau des wirtschaftlichen Aufschwungs in der Region entwickeln. Während innerhalb des Departements Moselle im Laufe des Jahres 1958 noch ein stetiger Rückgang der Anzahl algerischer Migranten zu verzeichnen war, blieb die Entwicklung in Meurthe-et-Moselle weiterhin von den saisonal bedingten Wirtschaftsschwankungen geprägt. Den Angaben der RG zufolge lebten dort im Februar noch 8572 Algerier16 . Im Zuge des saisonalen Aufschwungs am Arbeitsmarkt insbesondere im Bausektor stieg ihre Anzahl im Laufe des ersten Halbjahres deutlich an17 und wurde im Juli 1958 auf etwa 9700 geschätzt18 . Nach diesem bedeutenden Zuwachs war der Wert zum Ende der heißen Jahresperiode jedoch wieder rückläufig und betrug im September nur noch 890019 . Dieser erneute Rückgang lag nach Einschätzung der RG vor allem an der Fertigstellung mehrerer Großbauprojekte in Meurtheet-Moselle20 . Der weitere Rückgang der Anzahl der in Meurthe-et-Moselle lebenden Algerier bis zum Januar 1959 auf 8402 wurde einerseits auf die Entwicklung am Arbeitsmarkt zurückgeführt21 . Andererseits gingen die RG von Nancy auch davon aus, dass die seit Beginn des Jahres 1958 intensivierten »Maßnahmen zur Drangsalierung« der Polizei und Gendarmerie gegenüber Algeriern viele von ihnen dazu bewegt hatten, das Departement zu verlassen22 . Letzteres bestätigt die Vermutung, dass die unterschiedliche Entwicklung der Anzahl algerischer Arbeiter in Moselle und Meurthe-et-Moselle zumin16

17 18 19 20 21 22

Die Gesamtzahl der »Nordafrikaner« wurde auf 8800 beziffert. Dies zeigt einmal mehr das enorme Übergewicht der Algerier unter den Migranten aus Nordafrika. Dass Tunesier und Marokkaner eine derart kleine Minderheit darstellten, änderte nichts daran, dass in den offiziellen Berichten häufig verallgemeinernd von »den Nordafrikanern« die Rede war: RG de Nancy, la population musulmane en Meurthe-et-Moselle, 4. März 1958, AdM&M 950 W 14. Ibid., 6. Apr. 1958. Ibid., 5. Aug. 1958. Ibid., 6. Sep. 1958. Ibid., 4. Nov. 1958. Ibid., 5. Jan. 1959. Ibid., 6. Sep. 1958.

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III. Algerische Migranten und der Kolonialkrieg

dest bis zum Ende des Jahres 1958 auch auf die Intensität der lokalen Auseinandersetzungen um den Unabhängigkeitskrieg zurückzuführen ist. Mit der längerfristigen Zerschlagung des FLN in Nancy 1958 durch die französische Polizei hatten die Aktivitäten algerischer Nationalisten dort stark abgenommen, während sie in den wichtigsten Anlaufzentren algerischer Migranten im Nachbardepartement weitgehend unverändert fortgeführt wurden. Angesichts der neuen Dominanz, mit welcher der FLN in Lothringen seit dem großen Streik zu Beginn des Jahres 1957 auftrat, ist es nicht unwahrscheinlich, dass einige Migranten es vorzogen, ihren Wohnort und Arbeitsplatz in der Region zu wählen, in der außer der besseren Lage auf dem Arbeitsmarkt auch die Wahrscheinlichkeit von Geldforderungen algerischer Nationalisten geringer war. Beide Bedingungen waren seit dem Ende des Jahres 1958 in der Region Nancy wie in keinem anderen Anlaufgebiet algerischer Migranten in den Departements Moselle und Meurthe-et-Moselle gegeben. Dass sich die Anzahl der algerischen Arbeiter in ganz Lothringen seit Beginn des Jahres 1959 wieder erhöhte, war in erster Linie der erhöhten Nachfrage auf dem lothringischen Arbeitsmarkt geschuldet. Die bis zu Beginn der 1960er Jahre andauernde Phase der wirtschaftlichen Expansion bewirkte, dass der Bedarf an Arbeitskräften anstieg und neben einer allgemeinen Steigerung der Arbeiterzahlen auch ein deutlicher Zuwachs bei den registrierten algerischen Arbeitern zu verzeichnen war. Die Eisen- und Stahlindustrie sowie einige neue Großbauprojekte der öffentlichen Hand erwiesen sich als entscheidende Träger dieses Aufschwungs. In Lothringen und in ganz Frankreich erreichte die monatliche Bruttoproduktion von Stahl im Oktober 1959 seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs einen Höhepunkt23 . Das nationale Wachstum gegenüber dem Vorjahr lag bei 4,1 Prozent24 . Die daraus entstehende Nachfrage an Arbeitskräften in Lothringen wurde seit 1958 zusätzlich durch eine neue Welle von Infrastrukturprogrammen erhöht, die in Lothringen lanciert wurden, wie etwa durch die 1956 von verschiedenen lothringischen Banken und Unternehmen gegründete Baugesellschaft Société lorraine de développement et d’expansion (Lordex). Mit ihrem zur Hälfte von verschiedenen Banken der Region und zur anderen Hälfte von lothringischen Unternehmen aus verschiedenen Bezirken gestellten Eigenkapital von 250 Millionen Franc sollte die über 100 Aktionäre zählende Gesellschaft lothringische Unternehmen einerseits bei der Aufnahme von Krediten durch Bürgschaften unterstützen und andererseits deren infrastrukturelle Anbindung durch einzelne Bauprojekte verbessern. Für Letzteres war die Gründung halbstaatlicher Gesellschaften vorgesehen, die dann Mittel aus dem Fonds national pour l’aménagement du territoire beantragen konnten. Eine solche Gesellschaft war die Sociéte d’équipement du bassin lorrain (SEBL). Sie wurde von den conseils généraux 23 24

[O. V.], Actualités, in: Actualités industrielles lorraines 64 (1959), S. 20, AAM PER 1/3. Ibid. 65 (1960), S. 38.

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4. Alltag und »agency« algerischer Migranten

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der vier lothringischen Departements, der Handelskammer der Eisen- und Stahlindustrie sowie der Landwirtschaftskammer, den HBL und einem Fonds des Wirtschaftsministeriums finanziert25 . Auf dem Gebiet der beiden Kommunen Marspich und Nilvange begann die SEBL im Frühling 1959 mit dem Bau eines Wohngebiets von rund 1000 Wohnungen, in denen etwa 4000 Personen leben sollten. Den Angaben der »Actualités industrielles lorraines« zufolge waren die Plätze insbesondere für Arbeiter der Stahlfabrik SMK vorgesehen. Demnach sollten die Arbeiter eine Unterkunft erhalten, die nicht unmittelbar neben ihrem Arbeitsplatz lag und die ihnen ein angenehmes Umfeld mit weniger Lärm, mehr Platz und besserer Luft bot. Neben den Wohnhäusern sollten auch eine Post, eine Kirche, ein Einkaufszentrum sowie verschiedene Gebäude für die Administration und Schulen gebaut werden26 . Im Mai 1961 berichtete die SEBL über den Abschluss von 64 Bauprojekten in ganz Lothringen, darunter vor allem die Anlegung von Straßen sowie den Bau neuer Industrie- und Wohngebäude, die insgesamt etwa 500 Millionen Franc gekostet hatten. Zahlreiche weitere Bauprojekte waren in Planung. Andere waren noch nicht fertiggestellt27 , wie etwa der 1958 begonnene Bau eines Wohngebiets bei Fameck – damals ein Ort mit 4500 Einwohnern – für etwa 30 000 Personen. Dieses Projekt war Teil eines größeren Urbanisierungsplans für das Fensch-Tal, der aufgrund der wirtschaftlichen Expansionsmöglichkeiten ausgearbeitet worden war, die durch die Kanalisierung der Mosel und die Expansion der lothringischen Eisen- und Stahlindustrie für die Region erwartet wurden28 . Es kann an dieser Stelle nicht nachgewiesen werden, wie viele Arbeitsplätze für Algerier diese großen Bauprojekte letztendlich schufen. Es ist aber davon auszugehen, dass sie eine große Nachfrage nach ungelernten Arbeitern auslösten, die in Moselle bereits seit Beginn der 1950er Jahre insbesondere im Bausektor zu einem großen Anteil von Algeriern befriedigt wurde. Dass der Anstieg der Anzahl algerischer Arbeiter in Lothringen seit 1959 in erster Linie der wirtschaftlichen Entwicklung geschuldet war, konstatierten 1962 für Meurthe-et-Moselle auch fünf Studenten aus Nancy. In einem Aufsatz in den »Études sociales nord-africaines« publizierten sie 1962 eine Reihe von Untersuchungen zur sozialen Lage der »Nordafrikaner« innerhalb ihres Departements. Deren Zahl war den Angaben nach seit 1959 kontinuierlich 25

26 27 28

René Bour, Le programme d’action régionale pour la Lorraine. Deux sociétés, la Lordex et la SEBL, sont à l’œuvre, in: Actualités industrielles lorraines 60 (1959), S. 15–19, AAM PER 1/3. Ibid. Société d’équipement du bassin lorrain: Rapport du conseil d’administration à l’assemblée générale ordinaire des actionnaires, 16. Mai 1961, AdM 175 W 7. René Bour, Le programme d’action régionale pour la Lorraine. Deux sociétés, la Lordex et la SEBL, sont à l’œuvre, in: Actualités industrielles lorraines 60 (1959), S. 15–19, AAM PER 1/3.

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III. Algerische Migranten und der Kolonialkrieg

angestiegen, nachdem sie zuvor seit 1956 »aufgrund der politischen Situation« zurückgegangen sei29 . Im April 1959 hatten die RG noch über etwa 215 unvermittelte Arbeitsgesuche von Algeriern in Meurthe-et-Moselle berichtetet30 . Bereits im August stellten sie jedoch eine »Vollbeschäftigung« unter den Algeriern innerhalb dieses Departements fest31 . Im Dezember 1959 schätzten die RG dann, dass es 300 arbeitslose »Nordafrikaner« in Meurthe-et-Moselle gab32 . Dass dies jedoch keinen Bruch in der genannten Entwicklung, sondern lediglich eine saisonale Schwankung darstellte, zeigte sich im April 1960, als die Aufträge im Baugewerbe und bei den öffentlichen Bauarbeiten es nach den Angaben der RG ermöglichten, wieder »alle Nordafrikaner« in den Arbeitsmarkt zu integrieren33 . Auch im August 1961 hieß es, unter den »Nordafrikanern« innerhalb von Meurthe-et-Moselle herrsche »Vollbeschäftigung«34 . Somit vollzog sich parallel zu der massiven Steigerung der Gewalt gegenüber Algeriern in Lothringen für sie auch ein echter Aufschwung am Arbeitsmarkt. Der wirtschaftliche Boom in der Region zog wieder wachsende Zahlen algerischer Migranten an, als die Macht des FLN und das Ausmaß der polizeilichen Kontrollmaßnahmen und Repressionen gegen Algerier dort in der heißen Phase des Krieges ihren Höhepunkt erreichten. In Moselle berichtete der CTAM zwar im September 1959, dass die Arbeitgeber innerhalb des Departements bereits seit einigen Wochen verstärkt Widerstände gegen die Einstellung von »Nordafrikanern« an den Tag legten. Dies änderte jedoch nichts daran, dass sich die Gesamtzahl der »nordafrikanischen Arbeiter« in Moselle zu jenem Zeitpunkt bereits im Aufstieg befand35 . Der zumindest bis zum Herbst 1961 zu konstatierende Anstieg der Anzahl der algerischen Arbeiter in Moselle seit Anfang 1959 erfolgte nicht wegen, sondern trotz der Haltung der meisten Arbeitgeber ihnen gegenüber. Dass diese seit 1959 wieder vermehrt Algerier einstellten, war neben der wirtschaftlichen Entwicklung zu einem gewissen Anteil auch dem Druck der französischen Regierung geschuldet. So forderte etwa der Innenminister im Juni 1960 von allen Präfekten der Metropole gegenüber den Arbeitgebern ihres Departements »im Interesse der Nation« und »ungeachtet der Schwierigkeiten, die ihnen [den Arbeitgebern] aus dieser Pflicht entstehen könn[t]en«, auf die 29 30 31 32 33 34 35

En Meurthe-et-Moselle parmi les Africains du Nord, in: ESNA 88 (1962), S. 5–46, hier S. 10. RG de Nancy, la population musulmane en Meurthe-et-Moselle, 5. Mai 1959, AdM&M 950 W 14. Ibid., 3. Aug. 1959. Ibid., 4. Jan. 1960. Ibid., 4. Mai 1960. Ibid., 5. Sep. 1961. Dazu macht der Autor keinerlei weitere Angaben: Rapport trimestriel sur la période du 1er juillet au 30 septembre 1959 de M. Guigue, conseiller technique pour les affaires musulmanes à la préfecture de la Moselle, 8. Okt. 1959, S. 22, AdM 297 W 66.

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4. Alltag und »agency« algerischer Migranten

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Einstellung von mehr Algeriern hinzuwirken. Insbesondere gegenüber staatlich kontrollierten Unternehmen und jenen, die von staatlichen Subventionen profitierten, sollte diesbezüglich Druck ausgeübt werden36 . Einen Tag darauf berichtete der CTAM von Moselle, dass viele Arbeitgeber des Departements vor allem aufgrund der Wirtschaftslage und einer rigorosen Blockadehaltung der Direktion für Arbeitsfragen bei Anfragen nach ausländischen Arbeitskräften nur notgedrungen »Nordafrikaner« eingestellt hätten: Die Arbeitgeber zeigen sich bei der Einstellung nordafrikanischer Arbeitskräfte nach wie vor sehr widerspenstig, vor allem, da sie Attentate und Sabotageakte befürchten. Ungeachtet dessen war der Bedarf an Arbeitskräften in diesem Quartal vor allem im Bausektor derart hoch, dass Muslime, die für angebotene Arbeiten tatsächlich geeignet waren, einen Arbeitsplatz finden konnten. Die Stellen der Arbeitsvermittlung haben diesbezüglich ein entschlossenes Vorgehen an den Tag gelegt, indem die Einführung ausländischer Arbeitskräfte systematisch abgelehnt wurde, sofern es möglich war, nordafrikanische Arbeitskräfte vor Ort zu rekrutieren. In einem größeren Rahmen könnte diese Politik wichtige Auswirkungen auf die Geisteshaltung der Muslime haben, die sich stets über die Konkurrenz durch italienische Arbeitskräfte beschweren37 .

Der letzte Satz weist auf das wichtigste Anliegen seines Autors hin: Die in seinem Einzugsbereich lebenden Algerier sollten mittels einer Verbesserung ihrer sozialen Position an Frankreich gebunden werden und dem Separatismus entsagen. Auf der Ebene der Regierung erreichten die dazu angestellten Bemühungen infolge des Amtsantritts von Charles de Gaulle und dessen am 3. Oktober 1958 verkündeten »plan de Constantine« genannten Wirtschaftsentwicklungsprogramm einen neuen Höhepunkt38 . Dies machte sich auch in Lothringen stark bemerkbar, wo die durchschnittlichen Lebensbedingungen der algerischen Migranten parallel zu Maßnahmen in der Arbeitsmarktpolitik auch durch eine Ausdehnung der speziell auf sie ausgerichteten Sozialarbeit verbessert werden sollten.

4.2. Sozialarbeit für »Nordafrikaner« Seit 1955 hatte Jacques Soustelle als Generalgouverneur Algeriens die Strategie verfolgt, die Rebellion gegen die französische Kolonialherrschaft durch gezielt herbeigeführte soziale Verbesserungen für die algerische Bevölkerung einzudämmen. In französischen Regierungs- und Militärkreisen herrschte Einvernehmen über die Einschätzung, dass mit einer Bekämpfung der so36 37

38

Le ministre de l’Intérieur à messieurs les préfets (métropole), 29. Juni 1960, AdM&M 950 W 34. Rapport trimenstriel sur la periode du 1er avril au 30 juin 1960 de M. Guigue, conseiller technique pour les affaires musulmanes à la préfecture de la Moselle [Juli 1960], S. 4, AdM 297 W 66. Viet, La France immigrée, S. 195–217.

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III. Algerische Migranten und der Kolonialkrieg

zialen und politischen Benachteiligung der Algerier einer entscheidenden Ursache für den wachsenden Rückhalt des FLN begegnet werden könne39 . Den daraufhin erfolgten und durch den »plan de Constantine« seit dem Ende des Jahres 1958 auf die Spitze getriebenen Maßnahmen zur »Modernisierung« Algeriens lag das Ideal der französischen Zivilisierungsmission zugrunde. In diesem Sinne wurde auch die Situation eines Großteils der über 3 Millionen vertriebenen Algerier ausgenutzt, die nach der weiträumigen Abriegelung von Verbotszonen in Lagern oder sogenannten neuen Dörfern leben mussten. Ihr Alltag wurde – sowohl was ihre Wohn- und Arbeitssituation anging, aber auch durch ausgiebige Propagandaveranstaltungen der französischen Armee – ebenso schlagartig wie radikal verändert40 . Im Zuge des neuen politischen Kurses der Algerienpolitik der französischen Regierung im Zeichen von frankoalgerischer »Integration« und »Fraternisation«41 machte auch die für Algerier konzipierte Sozialarbeit während der zweiten Hälfte des Algerienkriegs eine quantitative und qualitative Veränderung durch. Sie wandelte sich von einer auf kolonialistischen Segregationsvorstellungen beruhenden Hilfestellung für Algerier, ohne etwas für deren gesellschaftliche Integration zu tun42 , zunehmend in eine Art groß angelegtes »Zivilisierungsprojekt«, das den Anschluss an die Gesellschaft des republikanischen Frankreichs und deren Lebensstil nicht nur proklamierte, sondern durch einen enormen finanziellen und personellen Aufwand auch konkret umzusetzen versuchte43 . Für eine bessere Abstimmung und Intensivierung jener Sozialmaßnahmen wurde bereits im April 1958 der Service des affaires musulmanes et de l’action sociale geschaffen, dem fortan unter Anleitung des Innenministeriums die Koordination sämtlicher »die muslimischen Franzosen Algeriens betreffenden Belange sozialer Natur« oblag44 . Um den Anforderungen einer selbst erklärten »guerre sociale«45 gerecht zu werden, wurden die Schaltstellen für Überwachung und soziale Unterstützung von »Nordafrikanern« damit zusammengelegt. Im gleichen Jahr arbeitete die 39 40

41

42 43 44 45

Thénault, Histoire de la guerre d’indépendance algérienne, S. 60. Moritz Feichtinger, Stephan Malinowski, »Eine Million Algerier lernen im 20. Jahrhundert zu leben«. Umsiedlungslager und Zwangsmodernisierung im Algerienkrieg 1954–1962, in: Journal of Modern European History 8 (2010), S. 107–133; Viet, La France immigrée, S. 194. »Fraternisation« ist im Deutschen am ehesten mit »Verbrüderung« wiederzugeben. Nach der Rückkehr de Gaulles in die französische Politik im Mai 1958 war dies ein zentraler Begriff in den Reden des Generals über Algerien. Er diente dazu, gleichzeitig einen bereits laufenden Prozess und das Ziel der französischen Algerienpolitik zu bezeichnen bzw. zu unterstellen: Lucas Hardt, Ferienlager gegen die Rebellion. Jumelages und Colonies de vacances im Algerienkrieg (1959–1962), in: Journal of Modern European History 11 (2013), S. 351–373, hier S. 357f. mit Anm. 25. Lyons, Invisible Immigrants, S. 108. Dies., The Civilizing Mission, S. 504. Ibid., S. 503f.; Losego, Fern von Afrika, S. 270. Viet, La France immigrée, S. 203.

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4. Alltag und »agency« algerischer Migranten

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Regierung einen Plan für die Errichtung von 31 neuen Aufnahmezentren für algerische Arbeiter in der Metropole aus46 und trieb den Bau neuer Sozialwohnungen voran47 . Dies sollte vor allem den beiden Zielen dienen, die als potenziellen Hinterhof des FLN geltenden Elendsviertel (bidonvilles) aufzulösen48 und die Bewohner durch einen erhöhten Lebensstandard zu entpolitisieren49 . Die durch die Sozialpolitik zu demonstrierende Großzügigkeit des französischen Staates gegenüber seinen muslimischen Staatsbürgern verstand das französische Innenministerium explizit als festen Bestandteil der Strategie gegen den algerischen Separatismus. Sie wurde seit 1958 gezielt als ergänzende Komponente zur polizeilichen Repression eingesetzt50 . Zentral für die Ausführung dieser sozialen Komponente der »Terrorbekämpfung« waren außerhalb von Paris51 vor allem private und halbstaatliche karitative Organisationen52 . Diese schätzten innerhalb der Gemeinden den jeweiligen Bedarf an sozialer Intervention ein und stellten für ihre Arbeit entsprechende Subventionsanträge an den Staat53 , der seit 1946 die Inhalte und Instrumente der Sozialarbeit formal vorgab54 und bei Geldanfragen zur sozialen Unterstützung algerischer Migranten während des Algerienkriegs eine große Zahlungsbereitschaft an den Tag legte. 46 47

48

49 50

51

52 53 54

Sturm-Martin, Zuwanderungspolitik in Großbritannien und Frankreich, S. 211. Am 4. August 1956 wurde ein Gesetz zur Gründung der Société nationale de construction pour les travailleurs originiaires d’Algérie (Sonacotra) verabschiedet. Sie wurde mit einem Startkapital von 150 Millionen Franc ausgestattet, sollte aber nur zur Hälfte in staatlicher Hand liegen und sich um die Finanzierung, den Bau und die Einrichtung von Unterkünften für »muslimische Franzosen Algeriens« und deren Familien kümmern: Janine Ponty (Hg.), L’immigration dans les textes. France, 1789–2002, Paris 2003, S. 300–302. Marc Bernardot, La Sonacotra. 40 ans de politique de logement social, in: Migrations Société 11 (1999), S. 25–40, hier S. 26. Siehe zum Beispiel das Vorgehen der Pariser Behörden gegen die FLN-Strukturen innerhalb der bidonvilles von Nanterre: Linda Amiri, La bataille de France. La guerre d’Algérie en métropole, Paris 2004, S. 93f. Lyons, The Civilizing Mission, S. 511. Jim Miller, Planning a New »Human Economy« in the Department of the Moselle. The Regional Politics of Immigration in the New Union Française, 1945–1962, in: Caruso, Pleinen, Raphael (Hg.), Postwar Mediterranean Migration to Western Europe, S. 53– 71, hier S. 64. In der Hauptstadt waren die Anzahl und die Dichte der nordafrikanischen Migranten in der Metropole am höchsten. Hier wurde während des Algerienkrieges ein spezieller Dienst, der service d’assistance technique aux Français musulmans algériens, eingesetzt, um ähnlich wie die SAS in Algerien unter dem Deckmantel sozialer Aktionen und administrativer Hilfe politische Überzeugungsarbeit zu leisten und die Migranten gleichzeitig zu überwachen: Jim House, Du colonisé à l’immigré: des sujets contrôlés. Contrôle, encadrement, surveillance et répression des migrations coloniales: une décolonisation difficile (1956–1970), in: Bulletin de l’IHTP 83 (2004). Siehe Teil I, Kap. 1.1.2. Lyons, The Civilizing Mission, S. 502; Losego, Fern von Afrika, S. 273. Ibid., S. 264.

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III. Algerische Migranten und der Kolonialkrieg

Die Auswirkungen der neuen Sozialpolitik der französischen Regierung zeigten sich auch in Lothringen. Im Arrondissement Thionville gab der Befehlshaber der Gendarmerie bereits im Juli 1958 drei neue Direktiven der französischen Politik an die Brigaden weiter, die den von de Gaulle geforderten erhöhten Respekt vor den FSNA zum Ausdruck bringen sollten. Sie beinhalteten neben dem Einsatz für eine Verbesserung der Wohnsituation der Algerier das Bemühen darum, die Diskriminierung von Algeriern durch bestimmte Arbeitgeber zu beenden. Schließlich wurde angekündigt, dass Vorträge auf Arabisch organisiert werden sollten, die den algerischen Arbeitern die Ziele der Politik der Regierung in Algerien nahebringen könnten55 . Aufgrund des neuen Kurses der französischen Sozialpolitik für Algerier in der Metropole erreichten die entsprechenden Maßnahmen in Lothringen seit der Mitte des Jahres 1958 ein nie dagewesenes Ausmaß. Dies hat Sarah Vanessa Losego für das industrielle Becken Longwy ausführlich am Beispiel der Aktivitäten der örtlichen Sektion des Cleana gezeigt. Diese spaltete sich im Mai 1960 von der Mutterorganisation ab, um den eigenständigen Groupement longovicien d’action nord-africaine (Glana) zu gründen. Die ehemaligen Mitglieder des Cleana hatten sich mit diesem Schritt zunächst von den Vorgaben aus Nancy befreien wollen, um die vor Ort zu leistende Arbeit eigenständig weiterentwickeln und sie besser an die besonderen lokalen Erfordernisse anpassen zu können. Unter dem Vorsatz, die sozialen Aktionen professioneller und effizienter zu gestalten, schuf der Glana fünf feste Mitarbeiterstellen, plante den Neubau eines Beratungszentrums sowie die Intensivierung der vom Cleana bis dahin nur spärlich praktizierten Familienbetreuung. Schließlich erwirkte der Glana auch die Errichtung eines Nachtasyls für arbeitslose Neuankömmlinge. Diese hatten seit der Schließung des ohnehin viel zu kleinen Wohnheims Ifriqiya56 1957 in der Region gar keine Anlaufstelle mehr gehabt. Insgesamt wurde der Umfang der sozialen Aktionen während der Verfolgung dieser ambitionierten Ziele auch weiterhin ausgedehnt, was allein schon der extreme Anstieg der Kosten für »direkte Unterstützung« veranschaulicht. So wurde das Budget des Glana für das Jahr 1961 gegenüber dem Vorjahr fast verdoppelt57 . Im Departement Moselle erhöhte die Präfektur ihre Ausgaben für die medizinische Versorgung von »Nordafrikanern« zwischen dem 1. Juli und dem 30. September 1959 von 8 510 000 Franc58 gegenüber der Periode zwischen dem 1. April und dem 30. Juni 1960 auf 9 352 00059 . Auch die Sozialarbeiter 55 56 57 58

59

Rapport du capitaine Aumaitre, commandant de la SG de Thionville, 4. Juli 1958, S. 2, SHAT AG à Thionville, 2007 ZM 1/135 905. »Ifriqiya« steht im modernen Arabisch für Afrika. Losego, Fern von Afrika, S. 375–380. Rapport trimestriel sur la période du 1er juillet au 30 septembre 1959 de M. Guigue, conseiller technique pour les affaires musulmanes à la préfecture de la Moselle, 8. Okt. 1959, S. 6, AdM 297 W 66. Rapport trimestriel sur la période du 1er avril au 30 juin 1960 de M. Guigue, conseiller

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der Canam steigerten ihre bereits seit den frühen 1950er Jahren laufenden Aktivitäten in Moselle. Die Anzahl der von ihnen veranlassten »Interventionen für Nordafrikaner« in Moselle stieg während des genannten Zeitraums den Angaben des CTAM von Moselle zufolge von 350060 auf 436961 . Nach einer entsprechenden Anweisung durch den Innenminister zum Ende des Jahres 1958 wurden außer in Metz auch an anderen Orten von Moselle Haushalts- und Sprachkurse für algerische Frauen angeboten. Der Innenminister hatte eine Anpassung der Frauen an »eine Zivilisation, auf die sie meist nicht vorbereitet worden waren«, dabei als Grundbedingung für jede Art familiärer Integration bezeichnet62 . Nachdem die französische Regierung Familienzuwanderung aus Algerien lange Zeit als unerwünscht angesehen hatte, ging sie im Zeichen der von de Gaulle propagierten »Fraternisation« dazu über, sowohl in Algerien als auch in der Metropole dafür zu werben. Dem lag vor allem die Annahme zu Grunde, die Präsenz algerischer Frauen könne die gesellschaftliche Integration der Männer unterstützen und deren Empfänglichkeit für separatistische Propaganda mindern63 . In Moselle wurden 130 algerische Frauen im Laufe des Jahres 1958 von einer Sozialarbeiterin aufgesucht, die ihnen zu Hause Ratschläge für die Führung ihres Haushalts gab. 58 dieser Frauen hatten zudem an wöchentlichen Haushaltskursen für algerische Frauen außerhalb ihres Hauses in den Orten Metz, Thionville und Angevillers teilgenommen64 . Von der Präfektur ermutigt, baute die Canam ihr auf algerische Frauen zugeschnittenes Angebot an Sozialmaßnahmen weiter aus und führte auch speziell für algerische Frauen konzipierte Französischsprachkurse ein. Seitens der Algerierinnen blieb die Teilnahme daran jedoch begrenzt. Im April 1960 zählte der Sprachkurs in Metz lediglich acht Teilnehmerinnen. In Angevillers hatten sich ebenfalls acht und in Thionville sieben Frauen angemeldet. Versuche, auch die von der Canam im Kohlebecken von Forbach betreuten algerischen Frauen für Französischkurse zu motivieren, waren gescheitert65 . Im Januar 1961 erfuhr der

60

61 62

63 64 65

technique pour les affaires musulmanes à la préfecture de la Moselle [Juli 1960], S. 7, ibid. In diesem Zeitraum war auch die Anzahl der »Nordafrikaner«, die in einem Krankenhaus von Moselle behandelt wurden, von 1281 auf 1620 gestiegen. Rapport trimestriel sur la période du 1er juillet au 30 septembre 1959 de M. Guigue, conseiller technique pour les affaires musulmanes à la préfecture de la Moselle, 8. Okt. 1959, S. 9, ibid. Rapport trimestriel sur la période du 1er avril au 30 juin 1960 de M. Guigue, conseiller technique pour les affaires musulmanes à la préfecture de la Moselle [Juli 1960], S. 9, ibid. Die finanziellen Mittel zur Entlohnung des jeweiligen Personals sollten beim Ministerium für Bildung beantragt werden: Le ministre de l’Intérieur à messieurs les inspecteurs généraux de l’administration en mission extraordinaire, messieurs les préfets (métropole), 22. Dez. 1958, AdM 297 W 47. Lyons, The Civilizing Mission, S. 500–502. Comission d’aide aux Nord-Africains dans la métropole: formation et adaptation des femmes musulmanes en Moselle, Jan. 1959, AdM 297 W 47. Comission d’aide aux Nord-Africains dans la métropole, Mme S. Berthelot à monsieur l’inspecteur général de l’administration, le préfet de la Moselle, 1. März 1960, ibid.

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Präfekt von Moselle dann, dass die in der Avenue de Blida in Metz angebotenen Sprachkurse für algerische Frauen nunmehr lediglich zwei Teilnehmerinnen zählten66 , woraufhin er eine Intensivierung der Werbung für die Teilnahme an den Kursen anordnete67 . Im lothringischen Grenzgebiet wurde als Ausfluss einer Strategie im Sinne des Kolonialkriegs eine forcierte Sozialpolitik für FSNA verfolgt, was nicht bedeutet, dass auf Seiten der Migranten keinerlei Bedarf an sozialer Fürsorge geherrscht hätte. Zumindest ein kleiner Anteil der algerischen Frauen, die dort lebten und Gelegenheit dazu hatten, nahm die Angebote für Fortbildungen an. Die Ausdehnung der Aktivitäten des Glana stellten besonders für arbeitsund obdachlose Algerier eine wichtige Ergänzung der meist von Arbeitgebern finanzierten Sozialmaßnahmen dar, welche fast ausschließlich Algeriern in Arbeit zugutekamen. Arbeits- und Obdachlose ohne ein soziales Netzwerk in Lothringen waren bei ihrer Selbstversorgung nicht zuletzt auch aufgrund administrativer Hindernisse häufig auf sich selbst gestellt. Nach Angaben der RG betrug zu Beginn des Monats November 1958 die Anzahl der Algerier, die in Meurthe-et-Moselle zu einer sogenannten population flottante gezählt wurden, 132068 . In dieser Lage erwies es sich für die Betroffenen vor allem während der kalten Wintermonate als Problem, dass es in Lothringen kaum beheizte Unterkünfte gab. Arbeits- und obdachlose Algerier mussten in Lothringen im Vergleich zu algerischen Arbeitern auch mit einem erhöhten Risiko von Polizeikontrollen rechnen, da sie in besonderem Maße unter Verdacht standen, umherwandernde Kader oder Verbindungsleute des FLN zu sein. Im Februar 1958 gab der Befehlshaber der Gendarmerie von Moselle im Kontext einer Reihe von Anweisungen des Innenministers bezüglich der Kontrollen von »Nordafrikanern« die Anordnung heraus, arbeitslose »Nordafrikaner« aufzuspüren und ihnen »das Leben schwer [zu] machen«69 . Vor dem Hintergrund der Anschlagsserie des FLN im Industriegebiet von Thionville im September 1961 wurde diese Vorgabe durch den Befehlshaber der Gendarmerie des Arrondissements noch konkretisiert: Alle »Nordafrikaner«, die bei einer Kontrolle keinen Arbeitsplatz oder keine Unterkunft vorwiesen, sollten ebenso wie jene, die große Geldsummen oder gar Waffen bei sich trugen, besonders streng verhört und automatisch mit einem Lichtbild registriert werden70 . 66 67 68 69

70

L’inspecteur de l’académie de Strasbourg en résidence à Metz à monsieur le préfet de la Moselle, 11. Jan. 1961, ibid. Le préfet de la Moselle, inspecteur de l’administration en mission extraordinaire à monsieur l’inspecteur de l’académie de la Moselle, 27. Jan. 1961, ibid. RG de Nancy, la population musulmane en Meurthe-et-Moselle, 4. Nov. 1958, AdM&M 950 W 14. Wörtlich lautete die Anweisung: »Rechercher les N.A. sans emploi et leur mener la vie dure«: Note de service du capitaine Aumaitre, commandant de la SG de Thionville, 3. Feb. 1958, SHAT AG à Thionville, 2007 ZM 1/135 905. Note de service du lieutenant-colonel Laporterie, commandant le groupement de gendarmerie de la Moselle, 15. Sep. 1961, S. 1, SHAT AG à Metz, 2007 ZM 1/135 738.

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Bezüglich des Bedarfs an einer sozialen Intervention, die sich nicht nur an algerische Arbeiter, sondern an alle Algerier in Lothringen richtete, ist auch darauf hinzuweisen, dass die Migranten in einigen Fällen von den Zuwendungen ärztlicher Hilfe ausgeschlossen blieben. Für das Jahr 1958 können dies zwei Beispiele aus Metz veranschaulichen. In dem einen Fall verstarb ein Algerier am 18. Januar an den Folgen einer Erkrankung, nachdem sich knapp drei Stunden zuvor die Fahrerin eines gerufenen Krankenwagens geweigert hatte, ihn in ein Krankenhaus zu fahren71 . Der Präfekt von Moselle empörte sich über den Zwischenfall insbesondere im Hinblick auf die Tatsache, dass es sich bei dem Toten um einen »Nordafrikaner« gehandelt hatte72 . Aufgrund der Befürchtung vor negativen politischen Konsequenzen im Fall einer Wiederholung drohte der Präfekt mit Konsequenzen, die er jedoch nicht weiter ausführte73 . Dass derartige Warnungen wenig bewirkten, zeigte sich bereits wenige Monate später, als zwei Algerier in der gleichen Stadt am 24. Juli trotz ihres desolaten Gesundheitszustands von dem Krankenhaus Bon Secours abgewiesen wurden. Wiederum unterstrich der Präfekt, dass dies besonders schlimm sei, da es sich um »Nordafrikaner« gehandelt habe: »Ich bin der Ansicht, dass diese Verfehlungen umso inakzeptabler sind, als es sich bei den Opfern um Nordafrikanern handelt«.74 Die Expansion der besonderen Sozialmaßnahmen in Lothringen zwischen 1958 und 1962 war in erster Linie keine Reaktion auf die durchaus reale Notsituation einer bedeutenden Anzahl algerischer Migranten. Vielmehr war sie Teil der politischen Strategie der Regierung zur Schwächung der algerischen Rebellion. Darüber hinausgehend hat Sarah Vanessa Losego am Beispiel des industriellen Beckens von Longwy gezeigt, dass das bereits zuvor existierende Berufsfeld der spezifisch für »Nordafrikaner« konzipierten Sozialarbeit in dieser Phase eine gewisse Eigendynamik entwickelte. Da die ausführenden Vereine ihre Arbeit auf verschiedenen Ebenen moralisch, politisch und finanziell rechtfertigen mussten, waren sie von der Verbreitung und Verankerung der Vorstellung eines permanenten Bedarfs der Migranten an spezialisierter sozialer Betreuungsarbeit essenziell abhängig. Sie warben daher nicht zuletzt aus Eigeninteresse um staatliche Subventionierung zur Ausweitung ihrer Aktivitäten75 . Für einen Erfolg dieses Anliegens lieferte ihnen der algerische Unabhängigkeitskrieg die besten Voraussetzungen. Nach der algerischen Unabhängigkeit blieb die Vorstellung, dass algerische Migranten eines besonderen Umgangs und einer »Führung« bedürften, 71 72 73 74 75

Le directeur départemental des services de police à monsieur le préfet de la Moselle, inspecteur général de l’administration, 6. Feb. 1958, S. 3, AdM 297 W 66. Le préfet de la Moselle à MM. le directeur départemental de la santé, le directeur départemental des services de police, commissaire central de Metz, 28. Jan. 1958, ibid. Ibid. Le préfet, inspecteur général de l’administration à monsieur le directeur de l’hôpital Notre-Dame de Bon-Secours, 1. Aug. 1958, AdM 297 W 66. Losego, Fern von Afrika, S. 357f.

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III. Algerische Migranten und der Kolonialkrieg

bei vielen Arbeitgebern, Politikern und Sozialarbeitern in Lothringen auch weiterhin bestehen. Allein der Gedanke, dass der französische Staat und die Arbeitnehmer aufgrund von »nationalen Interessen« eine Verpflichtung hätten, sich um diese Problemlagen in besonderer Weise zu kümmern, wurde fallen gelassen. Zwar stieg der Bedarf algerischer Migranten an sozialer Fürsorge mit dem enormen Anstieg ihrer Gesamtzahl seit 1962 in ganz Frankreich massiv an76 . Ungeachtet dessen wurden jedoch sämtliche Organisationen, die mit der Betreuung der Migranten befasst waren, von der französischen Regierung angewiesen, die Kosten ihrer direkten Unterstützungsleistungen drastisch zu reduzieren. Der Glana entschloss sich in dieser Situation zunächst dazu, seine Hilfen auf die in der Region neuerdings angesiedelten ehemaligen algerischen Kombattanten der französischen Armee, sogenannte Harkis, zu konzentrieren. Drei Jahre später wurde auf einer Generalversammlung am 21. Juni 1965 dann einstimmig die Auflösung der Organisation binnen eines Jahres beschlossen. Es war »das Ende einer wohltätigen Epoche« für die »Nordafrikaner« des Pays-Haut, für die der französische Staat seit 1952 knapp 40 Millionen Franc in die Aktivitäten der beiden Organisationen Cleana und Glana investiert hatte77 .

4.3. Eigensinn und Unabhängigkeitskrieg. Dimensionen der »agency« algerischer Migranten Die ebenso komplexe wie auch dynamische Konfliktkonstellation des algerischen Unabhängigkeitskrieges mag zuweilen den Eindruck erwecken, dass die Handlungsspielräume involvierter Einzelpersonen in dieser Zeit bis auf ein Minimum schrumpften. Es muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass der Kolonialkrieg nicht als Auseinandersetzung jeweils einheitlich agierender Kollektive verstanden werden kann. Daher geht es in dem folgenden Kapitel darum, einen Perspektivwechsel zu vollziehen und individuelle Erfahrungen algerischer Migranten zu analysieren. Anders, als es insbesondere die Quellen der lothringischen Polizei und Gendarmerie vielfach nahelegen, waren Algerier keineswegs dem FLN oder MNA unterworfene Gefangene. Vielmehr entwickelten jene, die in einer der Untergrundorganisationen engagiert waren ebenso wie politisch eher passive Algerier angesichts des neuen sozialen Kräf76

77

Aufgrund des privilegierten Status, den die Verträge von Evian algerischen Staatsbürgern in Frankreich zugestanden, konnten sich die Migrationsbewegungen zwischen der ehemaligen Metropole und ihrer ehemaligen Kolonie seit 1962 zunächst wieder ungehindert entfalten. Sie erreichten ein nie dagewesenes Ausmaß: Allein in den Jahren 1963 und 1964 wurden 262 000 bzw. 269 000 Abreisen von Algeriern nach Frankreich registriert: Alain Gillette, Abdelmalek Sayad, L’immigration algérienne en France, Paris 2 1984, S. 91. Losego, Fern von Afrika, S. 381–386.

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tefelds, das der algerische Unabhängigkeitskrieg begründete, eigene Strategien und Praktiken, die weder als Formen des Gehorsams noch des Widerstands zu verstehen sind78 . Mehrere Zeitzeugenberichte illustrieren, dass die vom Algerienkrieg am meisten betroffenen Akteure ihr Handeln selbst in dessen »heißer Phase« häufig an Bezugspunkten orientierten, die quer zu den verschiedenen politischen Konfliktlinien lagen. 4.3.1 Handlungsspielräume eines »zonal« des FLN Am 27. Dezember 1960 wurde gegen 2 Uhr morgens in der Rue des Capucins in Metz ein Algerier erschossen, den der »Républicain lorrain« als ehemaligen Sympathisanten des FLN bezeichnete79 . Nach wenigen Tagen verhaftete die Polizei von Metz am 5. Januar 1960 mehrere Mitglieder der USTA-Sektion von Moselle aufgrund ihrer angeblichen Verwicklung in die Tat. Unter den Verhafteten befand sich auch der Generalsekretär der USTA in Moselle, Hadef Said, ein Verwandter des Todesopfers. In der Folge gab sich die Gewerkschaftssektion mit dem Sitz in der Rue des Capucins eine neue Führung mit sieben Mitgliedern. Lediglich zwei von ihnen hatten bereits dem Vorgängergremium angehört. Einer der beiden war der 1928 in Michelet geborene und in dem Wohnheim Chambière in Metz wohnhafte Mohamed Belkacem Medjani80 . In einem Zeitzeugeninterview erwähnte Medjani, bis 1959 amtierender zonal des FLN in Lothringen, dass ihm Mordpläne gegen einen seiner Cousins, der Mitglied des MNA gewesen sei, zugetragen worden seien. Ohne dass er danach gefragt wurde, nannte Medjani dem Autor den Namen dieses Cousins: Mohamed Belkacem81 . Es handelte sich somit um den oben erwähnten USTA-Kader. Die nachfolgenden Ausschnitte aus dem Interview des Autors mit Medjani geben nicht nur einen Einblick in die regelmäßig anfallenden Aufgaben sowie die Reichweite und Grenzen der Macht des damals höchsten FLN-Kaders in Lothringen82 . Sie illustrieren darüber hinaus auch die Möglichkeit der Praxis von »Eigensinn« innerhalb des FLN, selbst im Umgang mit Mitgliedern des deklarierten Erzfeindes MNA. LH: Im Verlauf des letzten Interviews habe ich Sie gefragt, ob der Krieg zuweilen die Familienbande erschütterte, ob er in die Familien eindrang. Sie haben mir erzählt, dass Sie einen Cousin hatten, der in der Region lebte und Messalist war. Medjani: Ja, ja – er war Messalist, er lebte in Metz – [. . . ]. Die Messalisten haben ihn als Briefkasten benutzt. Eines Tages war ich in Metz auf einem Treffen [des FLN], und als wir fertig 78 79 80 81 82

Lüdtke, Einleitung: Herrschaft als soziale Praxis, S. 49. Le Républicain lorrain, 5. Jan. 1960. RG de Metz, message, 23. Feb. 1960, AdM 252 W 16; RG de Metz, message, 25. Jan. 1960, ibid. Hier wurde nur der Nachname geändert. Interview LH–Medjani 2014, S. 48. Dass Medjani tatsächlich jene Position im FLN ausfüllte, wurde auch durch die Zeitzeugen Bougherra und Yattuy bestätigt.

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waren –. Am Ende des Treffens gab es immer einen Tagesordnungspunkt, den wir »Verschiedenes« nannten. [. . . ] Immer am Monatsende gab es eine Versammlung, um uns über die eingetriebenen Beiträge, die Entwicklung der Mitgliederanzahl, die Schenkungen [. . . ], die Unterstützung der Gefangenen [. . . ] und natürlich vor allem die bewaffneten Aktionen auf den aktuellen Stand zu bringen. In der Regel umfasste der letzte Punkt Verschiedenes. Als wir an diesem Tag an dem Punkt Verschiedenes angekommen waren, öffnete der Verantwortliche von Metz seine kleine Tasche. Er holte so ein Paket heraus. LH: Ein Paket mit Papieren? Medjani: Umschläge und Briefe –. Er hat sie herausgeholt und alle trugen meinen Namen –, den Familiennamen meines Cousins, der auch mein Familienname ist –. LH: Medjani – Medjani: Ja, aber sie, sie kannten ihn nicht. Das anwesende Komitee kannte nicht meinen wahren Familiennamen [. . . ]. Zu einem bestimmten Zeitpunkt nannten sie mich in Metz Rachid. Als ich ins Elsass ging, habe ich gewechselt. Sie nannten mich Hadir. Insofern versuchte man gar nicht, die Familiennamen herauszufinden. [. . . ] Nun, er sagt mir, es handelt sich um einen Aktivisten des MNA, er wohnt –. Seine Adresse war angegeben und er sagte mir, so, wir haben all diese Post innerhalb eines Monats beschlagnahmt. [. . . ] In diesen Umschlägen waren Flugblätter, Dokumente mit Instruktionen, ein bisschen von allem –. Ich konnte nicht alles lesen, da ich –. Ich schaute es mir so an, ich öffnete schnell und guckte – und dann sagte ich ihnen, gut, wie schätzt ihr diese Situation ein? Während dieser Zeit guckte ich weiter und sie diskutierten. Ich hörte ihnen nur mit einem Ohr zu [. . . ] und während ich all das ansah, hatte ich plötzlich das Bild seiner Mutter vor Augen –. Es war furchtbar! Seine alte Mutter, ich sah sie direkt vor mir. Er war der einzige Sohn, den sie hatte. Sie hatte eine Tochter und einen Sohn. [. . . ] Ich überlegte für mich allein, während die anderen weitersprachen. [. . . ] Dann sagte mir der Chef der Region, es ist eine gefährliche Person. Sie sehen selbst, dass er sehr aktiv ist. Wir haben beschlossen, wir haben Vorkehrungen getroffen, um mit ihm abzuschließen. Ich überlegte und blieb zunächst ruhig. Dann hatte ich so etwas wie eine Erleuchtung. Ich sagte ihnen, hört zu, das, was für uns momentan entscheidend ist, ist, diese Post weiter abzufangen. Ich sagte, ich bräuchte diese Post. Momentan ist ihm nichts weiter vorzuwerfen als die Tatsache, dass er als Briefkasten dient. Sie sagten mir ja. Ich sagte, habt ihr gesehen, dass er an irgendwelchen Aktionen teilgenommen hat? Sie sagten nein. Ich sagte also, ich glaube, die Aktion, die ihr vorbereitet, ist momentan nicht zwingend erforderlich. LH: Sie waren der zonal? Medjani: Ja, ja. LH: Die anderen waren Region. Medjani: Ja, Region und Sektor. Es gab 3 Sektoren und den Chef der Region. Also sagte ich nein, im Augenblick ist die Aktion nicht zwingend erforderlich –. Was mich interessiert, ist, ihre Post weiterhin abzufangen. So sind wir informiert und alles Weitere sehen wir dann [. . . ] und ich mache euch für seine Sicherheit verantwortlich, denn ich will diese Post weiterhin erhalten –. Wir beenden das Treffen, trennen uns und ich nehme den Zug. Obwohl es nicht geplant war, fahre ich nach Merlebach. Ich ging einen älteren Cousin besuchen, heute ist er tot. [. . . ] Nachts kann ich leicht hingehen. Ich klopfe an die Tür, er öffnet die Tür, ich sage ihm, wer ich bin, er hat mich wiedererkannt. [. . . ] Ich sage ihm, hör zu [. . . ], du musst nach Metz fahren, hier ist die Adresse, du musst zu ihm fahren – er heißt Mohm Belkacem [. . . ]. Du wirst zu ihm gehen und ihm sagen, dass ich dich geschickt habe, damit er sich vorbereitet. Ich werde ihn aus Frankreich nach Marokko oder Tunesien bringen, evakuieren. Wenn er dort bleibt, riskiert er, dass ihm etwas Schlimmes zustößt. [. . . ] Er sagte mir, gut, denn er ist strikt und beim FLN. Er hat mir gesagt, hör zu, du verlangst es von mir und ich werde hingehen, aber sicher nicht gerne, denn er ist ein Sturkopf. [. . . ] Ich sagte, ich – so früh wie möglich. Sonntag fährst du hin. Er sagte mir, einverstanden –. Er traf ihn binnen

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einer Woche. Dann fuhr ich wieder nachts zu ihm. [. . . ] Er sagte mir, hör zu (er sprach mich mit meinem echten Vornamen an), [. . . ] lass ihn. Du hast getan, was du tun konntest, aber du weißt, wie borniert er ist – er will nichts hören. [. . . ] Er sagte mir, hör zu, du willst ihn retten, aber er hat mir gesagt, wenn sie es schaffen, dich zu schnappen, töten sie dich. Als ich deinen Namen aussprach, hat er mir gesagt, ja, ja, ja, jetzt wissen wir, dass er der Chef hier in Moselle ist. Wenn wir ihn finden, ist es aus mit ihm. [. . . ] Als ich das Departement Moselle verließ, um ins Elsass zu gehen, haben sie weniger als einen Monat nach meiner Abreise auf ihn [den Cousin] geschossen. Er hat unglaubliches Glück gehabt. [. . . ] Er verließ die Region. LH: War er bereits Mitglied im MTLD gewesen, dieser Cousin? Medjani: Ja, ja – na, um ein Messalist zu sein – er war auch im MTLD gewesen, ja. Aber es waren einfache Aktivisten, die sich der Sache voll und ganz hingaben, das ist es. LH: Als Sie nach Forbach fuhren, um diesen anderen Cousin zu treffen – die Abschottung war doch sehr streng in der Organisation –. Medjani: Ja, ja. LH: Und dieser Cousin wusste von Ihrer wahren Identität und Ihrer Funktion innerhalb des FLN? Medjani: Ja, ja – oh ja! LH: Aber das ist doch normalerweise nicht gestattet –. Medjani: Es ist nicht gestattet, aber äh –, nun zunächst ist dieser Cousin ein Cousin ersten Grades, wissen Sie, mein Vater und sein Vater sind Brüder. Er ist alt. Außerdem hatte er Schwierigkeiten, als man mich suchte, gingen sie zu ihm, sie haben ihn zwei Mal in Folge verhaftet und haben ihm einen Haufen Schwierigkeiten gemacht. Das Einzige, was er ihnen sagt, ist, hört zu, er ist mein Cousin, er steht mir nah, aber ich weiß nicht, wo er arbeitet. [. . . ] Sie haben ihn sogar drei Monate lang eingesperrt. [. . . ] Er hat niemals etwas anderes als das gesagt. Also, als ich zu ihm gefahren bin, um ihn so zu beauftragen, tat ich das nicht im Namen der Organisation. Ich habe es als Familienmitglied getan. Nun, es gab Konflikte in den Familien, aber es gab zwei Sorten von Personen. [. . . ] Sie haben Leute, die die Vorgaben wörtlich nahmen –. Sie waren in der Lage – es gab welche, die ihren eigenen Bruder ermordet haben. Das hat es gegeben, sogar ihren Vater! Das hat es gegeben, seien sie beim FLN oder beim MNA. Der Algerienkrieg ist etwas Furchtbares –83 .

Die zitierten Ausführungen illustrieren in mehrfacher Hinsicht, dass die Handlungsbedingungen historischer Subjekte selbst in Kriegssituation nicht allein als gegeben, sondern auch als (kreativ) produziert verstanden und bewertet werden müssen84 . Die familiäre Bindung zwischen dem zonal des FLN und dem USTA-Kader aus Metz konnte während des von Herrn Medjani geschilderten Treffens der Kader des FLN im Verborgenen bleiben, da zumindest die führenden Mitglieder der Untergrundorganisation aufgrund der akribischen Ermittlungen der französischen Polizei gegen sie in der Regel Decknamen trugen. Obwohl der Abschottung innerhalb der Organisation ein hoher Wert beigemessen wurde, pflegte zumindest der zonal Medjani damit einen flexiblen Umgang. Dass er einen anderen Cousin aus Forbach, der ebenfalls Mitglied des FLN war, über seine Position innerhalb 83 84

Interview LH–Medjani, 2014, S. 47–49. Alf Lüdtke, Einleitung. Was ist und wer treibt Alltagsgeschichte?, in: Ders. (Hg.), Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt a. M. 1989, S. 9–47, hier S. 12.

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der Organisation in Kenntnis setzte, war an sich streng verboten. Einen noch schwerwiegenderen Verstoß gegen das Reglement des FLN stellte sein Versuch dar, einen Verwandten zu schützen, der sich offen als ebenso aktiver wie überzeugter Messalist und Gegner des FLN gab. Die Handlungen Herrn Medjanis standen in dem zitierten Fall durchaus in einem offensichtlichen Widerspruch zu den Vorgaben des FLN. Es wäre dennoch verfehlt, sie als Widerstand, Aufbegehren oder gar Subversion einzustufen. Bis dahin hatte sich der zonal den Zielen der Organisation und den Anordnungen seiner Vorgesetzten stets verpflichtet gefühlt. Wie seine anschließenden Aktivitäten im Elsass und die bis heute andauernde Arbeit des Zeitzeugen für den FLN zeigen85 , blieb dies auch weiterhin der Fall. Dass er mit dem Versuch, einen Verwandten vor der Ermordung des FLN zu bewahren, das Risiko einging, innerhalb der Organisation FLN in Ungnade zu fallen, war allein der Schwierigkeit geschuldet, persönliche und politische Anliegen miteinander in Einklang zu bringen. Angesichts des scheinbaren Dilemmas zwischen einer loyalen Position gegenüber dem FLN und dem Wunsch, die Ermordung eines Familienmitglieds zu verhindern, entwickelte Medjani eine Lösung, die insofern als Ausfluss von »Eigensinn« zu verstehen ist, als sie nicht nur eine Distanzierung gegenüber konkreten Erwartungen »von oben«, sondern auch »von unten« darstellte86 . Obgleich der damalige zonal in der Befehlshierarchie des FLN eine höhere Position innehatte als jene auf der Ebene einer Region beziehungsweise eines Sektors agierenden Teilnehmer der von ihm beschriebenen Versammlung, benötigte er ein überzeugendes Motiv, um die geplante Ermordung seines in der USTA aktiven Cousins zu verhindern. Sowohl eine grundlose Ablehnung als auch die Benennung des eigentlichen Motivs seiner Position hätten Medjanis Stellung innerhalb des FLN enorm gefährdet. Nur weil es ihm gelang, das Weiterleben seines Cousins überzeugend als mit den Interessen des FLN übereinstimmend darzustellen, vermochte Medjani das Dilemma aufzulösen, in dem er sich befand. Dazu war er bereit, ein zweifaches Risiko einzugehen: Einerseits setzte er sich durch das Verschweigen seiner familiären Bindung zu dem »Briefkasten« der Messalisten in Metz der Gefahr aus, innerhalb des FLN wegen der Unterstützung eines »Verräters« aufzufliegen. Andererseits erhöhten seine anschließenden Ortswechsel, die er vollzog, um Mohammed Belkacem durch einen Mittelsmann zur Flucht zu bewegen, für ihn das Risiko, von Agenten des französischen Staates verhaftet zu werden. Die komplexe Konfliktsituation des Algerienkriegs hinderte Medjani zumindest in diesem besonderen Fall nicht daran, sich der Autorität der Kriegsparteien

85 86

Medjani hatte zum Zeitpunkt des Interviews eine gehobene Funktion in einer FLN-nahen Organisation in Paris. Alf Lüdtke, Wo blieb die »rote Glut«? Arbeitererfahrungen und deutscher Faschismus, in: Ders. (Hg.), Alltagsgeschichte, S. 255f.

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zu entziehen und entsprechend seiner persönlichen Belange beziehungsweise in seinem eigenen Sinne zu handeln. 4.3.2 Die Politik der Gastronomen und Arbeiter Der Kampf um den politischen Einfluss auf Algerier in Lothringen war zu einem großen Anteil auch eine Auseinandersetzung um die Kontrolle bestimmter Räume. Es wurde bereits dargelegt, dass alle Konfliktparteien des Unabhängigkeitskriegs in Lothringen besondere Anstrengungen darauf verwendeten, ihren Einfluss vor allem in Arbeiterwohnheimen, algerischen Herbergen, Cafés und Kneipen zu etablieren, wo sie besonders viele Migranten auf engstem Raum erreichen konnten. Häufig gerieten algerische Besitzer der jeweiligen Etablissements dadurch in eine besonders heikle Situation. Sie mussten einerseits vonseiten der Aktivisten des FLN und des MNA bewaffnete Übergriffe fürchten, während die Polizei sie andererseits mit der Möglichkeit der Schließung ihres Gewerbes unter Druck setzte87 . Das Szenario einer Bedrohung algerischer Gastronomen durch mehrere Kriegsparteien ergab sich insbesondere an jenen Orten, wo das Machtverhältnis zwischen FLN und MNA über einen längeren Zeitraum hinweg instabil oder ausgeglichen blieb. Welche Ausmaße dies annehmen konnte und welche Folgen sich daraus für die Betroffenen ergaben, wird anhand der Ausführungen des Zeitzeugen Amenzu deutlich, der während des Unabhängigkeitskriegs das algerische Hotel-Restaurant La Ville d’Alger im Viertel Pontiffroy in Metz betrieb. In einem ausführlichen Bericht der BST über das Etablissement in der Rue du Pontiffroy 39 vom März 1960 hieß es, dass dieses bis etwa 1958 ein wichtiger Treffpunkt führender MNA-Kader der Region gewesen sei88 . Dies änderte sich den Angaben nach erst, nachdem der Einzelhändler aus Forbach, Mohand Amenzu, La Ville d’Alger aufgekauft und die Leitung seinem Sohn Ali Amenzu und seinem Bruder übertragen hatte89 . Ein früherer Bericht der RG legt nahe, dass der Wandel der politischen Couleur des Hotel-Restaurants vom MNA zum FLN weniger auf die politische Überzeugung der Familie Amenzu als vielmehr auf Einschüchterungsmaßnahmen zurückzuführen war. Demnach hatten fünf Aktivisten des FLN im Juli 1958 Mohand Amenzu im Keller 87

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Le préfet de la Moselle, inspecteur général de l’administration à MM. les chefs de circonscription de police de Metz, Thionville, Moyeuvre-Grande (commissaire de police de Hagondange, Forbach, Merlebach, Sarreguemines et M. le chef du poste de police de Sarrebourg), 12. Sep. 1955, AdM 252 W 19. Die Polizei war dabei zunächst lediglich Beobachterin und intervenierte »aus technischen Gründen« auch nicht, als bei einer Kontrolle der Kneipe am 22. Mai 1957 eine Versammlung von MNA- und USTA-Aktivisten aufflog: Le commissaire principal, chef de la brigade de surveillance du territore de Metz, René Haiblet, à monsieur le préfet de la Moselle, 24. Feb. 1960, S. 1, AN, F/7/15114. Ibid.

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seines eigenen Cafés geschlagen und ihn erfolgreich zur Zahlung ausstehender Beiträge an den FLN genötigt90 . Nach Informationen der BST galt La Ville d’Alger im Februar 1960 nicht nur unter den in Metz lebenden Algeriern als wichtiger Stützpunkt des FLN in der Stadt. Darüber hinaus waren auch in den Papieren einiger Aktivisten des FLN in der Bundesrepublik Telefonnummer und Adresse des Hotels gefunden worden91 . Bei den Verbindungen des besagten Etablissements zum FLN kam dem 1935 in Ain Frah in der Kommune von Fort-National geborenen Ali Amenzu eine Schlüsselrolle zu. Er galt der BST nicht nur als der eigentliche Chef von La Ville d’Alger, sondern auch als die wichtigste Kontaktperson der Untergrundorganisation dort: »Er ist es, der sich eigentlich um den Betrieb des Etablissements La Ville d’Alger kümmert und die FLN-Verantwortlichen unterbringt, die auf der Durchreise sind. Er ist es auch, der die telefonischen Anweisungen von Verbindungsleuten des FLN bekommt«92 . Die scheinbar eindeutige Unterstützung der Betreiber des Hotel-Restaurants für den FLN wurde von der Polizei in Metz als Begründung für den Antrag auf Schließung von La Ville d’Alger angeführt93 . Nach einer gleichlautenden Empfehlung durch den Präfekten von Moselle veranlasste das Innenministerium am 23. März 1960 eine entsprechende Maßnahme. Dabei wurden jedoch nicht die politischen Aktivitäten der Familie Amenzu, sondern vielmehr ein angeblicher Verstoß gegen ein Gesetz zur Regulierung des Alkoholkonsums als Begründung herangezogen94 . Mittels eines solchen Verfahrens wurden zwischen 1957 und 1962 in den beiden Departements Moselle und Meurthe-et-Moselle insgesamt 55 Kneipen und Restaurants geschlossen, deren algerische Besitzer als Unterstützer oder Mitglieder des FLN oder des MNA galten. Proteste der Betroffenen hatten bis auf vier Ausnahmen keinen Erfolg95 . Ein polizeilicher Hinweis bezüglich ihrer vermeintlich subversiven politischen Gesinnung und Aktivitäten war insbesondere beim Verdacht einer Kooperation mit dem FLN hinreichend, um ihnen ohne ein gerichtliches Urteil ihre Existenzgrundlage zu entziehen. Die auch in dieser Arbeit häufig zitierten Zuordnungen der Polizei und der Gendarmerie von Algeriern zu einer der beiden Organisationen FLN und MNA ist insbesondere in Bezug auf algerische Gastronomen zu hinterfra90

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Das Gleiche widerfuhr Cherfaoui Belkacem, dem Wirt eines algerischen Cafés in der Rue du Champé. Hocine und Cherfaoui wurden den Angaben nach zu einer Zahlung von 200 000 Franc gedrängt: RG de Metz, rapport, 2. Aug. 1958, AdM 252 W 19. Le commissaire principal, chef de la brigade de surveillance du territore de Metz, René Haiblet, à monsieur le préfet de la Moselle, 24. Feb. 1960, S. 3, AN, F/7/15114. Ibid. Ibid. Arrêté du ministère de l’Intérieur, 23. März 1960, AN, F/7/15114. Diese Zahlenangaben beruhen auf den in den AN nachgewiesenen Fällen administrativer Schließung algerischer Kneipen, Restaurants oder Herbergen in den beiden Departements Moselle und Meurthe-et-Moselle zwischen 1957 und 1962, ibid.

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gen. Während es den Beamten vor allem darum ging, in Bezug auf Algerier zwischen Separatisten und einer dem französischen Staat gegenüber loyalen »gesunden Bevölkerung«96 zu unterscheiden, standen viele Algerier während ihres Alltags in Kontakt zu Mitgliedern beider Organisationen. Vor allem in Räumen, in denen sich die Einflussbereiche von FLN und MNA über einen längeren Zeitraum hinweg überschnitten wie etwa in Metz, waren Algerier darauf angewiesen, sich mit den Aktivisten beider Organisationen jeweils individuell auf eine bestimmte Weise zu arrangieren. Ali Amenzu, der bis heute ein Hotel-Restaurant in Metz betreibt, zeichnete in einem Zeitzeugeninterview ein wesentlich differenzierteres Bild seiner Position während des Algerienkriegs als der zitierte Bericht der BST. LH: Wie konnte man sicher sein, dass man jemandem vertrauen konnte? Man wusste nicht, wer neutral war und wer beim FLN oder beim MNA war – Amenzu: Ah – LH: Was waren die wichtigsten Orientierungspunkte? Wie konnte man sicherstellen, dass man über einen ehrlichen oder verlässlichen Kontakt verfügte? [. . . ] Amenzu: Nun, sie geben sich zu erkennen. Direkt. Wenn sie zu uns kommen, sagen sie voilà – und Metz ist immerhin –. Es ist wie ein Dorf, nicht, es gab damals 18 algerische Cafés und Restaurants und man kannte fast jeden. Die Leute der Organisation, also des MNA oder des FLN [. . . ]. Sie kommen nicht etwa getarnt, nein. Sie kommen, sagen, wer sie sind und so ist es. Wie ich Ihnen vermutlich erzählt habe, das heißt, wir haben versucht, neutral zu bleiben. Selbstverständlich waren wir –. Wir waren eher für die Unabhängigkeit, aber jeder hatte da seine Empfindlichkeiten. Als ich das Restaurant La Ville d’Alger übernommen habe –. Es war auch eine Pension für 68 Mieter, die aus verschiedenen Regionen Algeriens kamen. [. . . ] Nun, die Politiker, jene, die in der Organisation des MNA und des FLN waren, kamen jeden Monat, um ihre Beiträge einzutreiben. Jeden Monat kamen sie. Es gab einen Geldeintreiber, der die Runde machte und der dann – die Geldbeiträge einsammelte. LH: Sie waren gezwungen zu zahlen –? Amenzu: Ah ja, ja – ja! LH: Also letztendlich an beide Organisationen. Amenzu: Genauso ist es – ja! Ich wurde vom MNA massiv bedroht, als ich aufgehört hatte, den Beitrag zu zahlen. Sie sind zu meinem Vater nach Forbach gefahren, der dort ein Geschäft hatte. [. . . ] Ich erinnere mich, es war ein Junger, der ein bisschen aus dem algerischen Süden kam. Er hatte etwas hellere Haut –. Aber er war ein Aktivist einer Schocktruppe, jene, die von der Organisation des MNA beauftragt werden, jemanden aus dem und dem Grund umzubringen. [. . . ] LH: Wann haben Sie aufgehört, an den MNA zu zahlen? Amenzu: Es ist mir nicht mehr ganz präsent. Ehrlich –. Ich erinnere mich nicht recht. Ich weiß nicht, in welchem Jahr es war. LH: Aber es gab eine Phase, in der Sie gezwungen waren, an beide Bewegungen zu zahlen. Amenzu: Ah ja! Ja. [. . . ] Und noch die Steuern [er lacht] für den französischen Staat. Also können Sie sich diese Situation ein wenig vorstellen. Es war nicht einfach, nein. Es war nicht einfach. Entweder Sie bringen sich in einer Organisation ein, oder in einer anderen. Die

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Le commissaire principal, chef de la brigade de surveillance du territoire de Metz, René Haiblet, à monsieur le préfet de la Moselle, 24. Feb. 1960, ibid.

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Neutralität war nicht gestattet. Übrigens, selbst als wir unser Hotel-Restaurant schließen mussten, und das ist ja den Spitzeln der Polizei geschuldet –. Ich wusste, dass es Leute gab, ich habe es Ihnen vermutlich gesagt, Leute, die uns nahe standen, Klienten und solche, mit denen wir gut bekannt waren, die die Polizei über alles, was so passierte, informierten97 .

Wie die BST richtig vermutete, füllte Amenzu, nachdem er über mehrere Jahre hinweg zwischen den Fronten des MNA und des FLN in Metz gestanden hatte, gegen Ende des Unabhängigkeitskriegs einige konkrete Funktionen für den FLN aus. Sein Zeitzeugenbericht weist jedoch darauf hin, dass in seiner alltäglichen Praxis die politische Zugehörigkeit von Algeriern nur bedingt eine Rolle spielte. Er bewirtete in seinem Restaurant Angehörige aller politischen Lager, inklusive Spitzel der französischen Polizei. Auch seine Angabe, er habe während des Unabhängigkeitskriegs stets versucht, eine politische Neutralität zu wahren, weist darauf hin, dass seine Aktivitäten für den FLN eher der Dominanz der Organisation in Metz als einer konkreten politischen Überzeugung geschuldet waren, wie es die BST nahelegte. Der Umgang von Algeriern mit Anhängern des FLN oder des MNA stand stets unter dem Einfluss der Bedingungen ihres Alltags. Dies war nicht nur bei vielen Bewohnern von Arbeiterwohnheimen und den Betreibern von Gastronomiebetrieben der Fall, sondern auch bei einfachen Arbeitern. Selbst engagierte Aktivisten mussten im Fall einer politischen Konfliktsituation am Arbeitsplatz eine Abwägung vornehmen, ob sie im Fall einer offenen Auseinandersetzung das Risiko hinnehmen wollten, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Der ehemalige Chef einer kasma des FLN aus Forbach, Djaout, berichtete, dass die Begegnung mit Messalisten für ihn auf der Arbeit und im öffentlichen Raum während des Unabhängigkeitskriegs wie auch für Herrn Amenzu zum Alltag gehört habe. Zu Auseinandersetzungen kam es dabei, seinen Angaben zufolge, in der Regel nicht. LH: Und die Messalisten –? Djaout: Sie waren böse –. Sie waren böse. LH: Und wussten Sie, wo sie waren? Gab es noch welche hier in Forbach? Djaout: Oh ja. Ich habe mit einem zusammen gearbeitet! LH: Arbeitete er mit ihnen in der Mine? Djaout: Oh ja. LH: In der gleichen Mannschaft? Djaout: Oh ja! Wir kannten ihn! – Sein Name war – [unverständlich]. Es war ein Kabyle. LH: Und Sie haben zusammengearbeitet? Djaout: Zusammen, wir arbeiteten zusammen, ja! LH: Und kam es während der Arbeit nicht zu Konflikten? Djaout: Nein – das können wir nicht. Wir können bei der Arbeit nicht reden. Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass es verboten ist. Wenn der Vorgesetzte einen sieht, ruft er sofort die

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Interview LH–Amenzu, 2013, S. 7–9.

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Polizei an. Nein, wir kannten ihn. Er ist da, aber wir – wir redeten nicht – mit ihm. Doch wir sprachen miteinander: Guten Tag, guten Tag, aber wir sprachen nicht von Politik. Wir kannten ihn. Er war vom MNA, nun ja –. LH: Heißt das, dass Sie bis zum Ende des Krieges in Ihrem Alltag Messalisten getroffen haben, die –? Djaout: Ah ja. Danach ist es vorbei. [. . . ] Sie haben aufgehört und wir haben auch aufgehört. Es ist vorbei! LH: Aber bis zum Ende des Krieges trafen Sie Messalisten auf der Straße, auf dem Markt, in Bars –? Djaout: Na klar! Aber was willst du tun? Sie machen nichts, wir machen nichts. Die Harkis auch. Die Harkis haben uns das Leben zur Hölle gemacht, dem FLN. Vor allem sie, die Harkis, sie sind auf der Seite Frankreichs. Und die Messalis[ten] sind auf der Seite Frankreichs. Aber sie sind frei –. Nun, so ist es –. Wir, wir können nicht –. LH: Das bedeutet, dass der MNA den ganzen Krieg über hier existiert hat. Djaout: Ja, ja! LH: Während des gesamten Krieges? Djaout: Ja, ja –. Aber ja!98

Die Ausführungen der beiden Zeitzeugen Djaout und Amenzu erlauben es, im Vergleich zu den Berichten der Polizei und Gendarmerie einen differenzierteren Eindruck bezüglich der alltäglichen Relevanz des Unabhängigkeitskrieges für Algerier in Lothringen zu geben. Anders als etwa die auch in dieser Arbeit zitierten Angaben über Beitragszahler an den MNA und FLN in der Region es nahelegen, ist nicht einfach von einem Milieu auszugehen, das in verschiedene Lager – Anhänger einer der beiden Untergrundorganisationen und politisch unentschiedene, passive, neutrale oder profranzösisch eingestellte Algerier – gespalten war. Viele Algerier brachten ihre Haltung gegenüber politischen Auseinandersetzungen je nach Situation mit ihrer damaligen und ihrer angestrebten sozialen Lage, insbesondere ihrer Arbeits- und Wohnsituation, in Einklang. Es war in gewissen Phasen offenbar nichts Besonderes, wenn sich in Metz oder Forbach die Wege von Aktivisten des FLN mit denen von MNA-Mitgliedern kreuzten. Den Angaben der Zeitzeugen zufolge hatte dies wohl nur in Ausnahmefällen offene Konfliktsituationen oder gar Gewaltanwendung zur Folge. Der Algerienkrieg begründete durchaus Feindschaften, aber keine Automatismen. Den Algeriern war einerseits wohl bewusst, dass sie sich innerhalb eines unbeständigen Kräftefelds bewegten, in dem mehrere jeweils breit vernetzte Akteure versuchten, ihren Einfluss auf sie mit verschiedenen politischen Mitteln und der Anwendung von Gewalt auszudehnen. Die Konfliktkonstellation, die sich vor allem durch das Nebeneinander von Anhängern des FLN und des MNA ergab, war andererseits nur eine von mehreren alltagsrelevanten Herausforderungen, vor denen die Migranten standen. Insofern variierte auch die Bedeutung des politischen Konflikts und eines eindeutigen Bekenntnisses zu 98

Interview LH–Djaout, 2014, S. 23f.

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einer der jeweiligen Parteien je nach Situation. Immer wieder mussten Abwägungen getroffen werden, wie politische und soziale Interessen miteinander in Einklang gebracht werden konnten. Statt wie Figuren auf einem Schachbrett sollten wir uns Algerier während des Kolonialkriegs im lothringischen Grenzgebiet als »eigensinnige« Akteure vorstellen, die innerhalb einer ebenso dynamischen wie komplexen Konfliktkonstellation ständige Anpassungsleistungen vollzogen und neue Strategien für ihr (Über-)Leben entwickelten. 4.3.3 Eine Frau im Krieg um die Frauen Die Lebensbedingungen der algerischen Migranten in Lothringen machten während des Unabhängigkeitskriegs in mehrfacher Hinsicht einen tiefgreifenden Wandel durch. Die gegenüber der Zeit vor 1955 völlig neue Dimension der alltäglichen Relevanz politischer Fragen bedeutete nicht nur einen Zuwachs an Druck und vermehrte Zwangssituationen für die Migranten. Sie brachte auch neue Handlungsmöglichkeiten mit sich, die es den Betroffenen einerseits erlaubten, den politischen Wandel vor Ort mitzugestalten und andererseits auf eine Veränderung ihrer persönlichen Lebensbedingungen hinzuwirken. Dies lässt sich besonders anschaulich am Beispiel algerischer Frauen zeigen, die es verstanden, unter den Bedingungen des Unabhängigkeitskriegs ihre Autonomie zu stärken und ihre soziale Anerkennung zu steigern. Während der französische Staat darauf zielte, algerische Frauen vor allem mittels Haushalts- und Sprachkursen zu »echten« Französinnen zu erziehen, sprach die Propaganda des MNA und des FLN ihnen die Rolle einer aktiven Unterstützerin der »algerischen Revolution« zu. Dabei standen beide Organisationen in dieser Frage noch unter dem Einfluss der Position ihrer Vorgängerorganisationen. Der PPA und der MTLD hatten, vor dem Hintergrund ihrer Distanzierung gegenüber der kommunistischen Bewegung und der stärkeren Betonung islamischer Werte, seit den 1930er Jahren stets zwischen Forderungen nach weiblicher Emanzipation und der Bewahrung traditioneller Familienstrukturen geschwankt. Im Zweifelsfall sprachen sie sich stets für ein traditionelles Geschlechterverhältnis aus99 . Diesen Kurs führten die beiden Nachfolgeorganisationen im Großen und Ganzen fort. Ebenso wie der MNA propagierte auch der FLN bestimmte Geschlechterrollen mit jeweils konkreten Funktionen. Die Männer sollten dem Ideal des selbstlosen, mutigen, loyalen und ehrenhaften Kämpfers (moudjahid) entsprechen, während Frauen in erster Linie die Rollen als Haushälterin, 99

Dies geschah nicht zuletzt in Form von Analogien zwischen der Autorität eines Familienvaters und der Rolle Messali Hadjs als Wegweiser der algerischen Nation: Nedjib Sidi Moussa, Devenirs messalistes (1925–2013). Sociologie historique d’une aristocratie révolutionnaire, Diss. Univ. Paris 1 (2013), S. 508–518; MacMaster, Burning the Veil, S. 42–45.

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Mutter und Köchin zugedacht waren100 . Für den MNA illustriert dies besonders deutlich ein Artikel der Parteizeitung »La Voix du peuple« über »die algerische Frau in der Revolution« von Oktober 1961: Als Hausfrau, Bäuerin, Studentin, Ärztin, Hebamme, Arbeiterin und Apothekerin war die algerische Frau ebenso in den politischen Auseinandersetzungen wie auch im militärischen Kampf präsent. [. . . ] Morgen, beim Aufbau der algerischen Nation wird sie noch mehr tun. Als Mutter und Ehefrau wird sie auf ihren Knien neue Generationen formen, die wiederum Algerien in ein glückliches Land umformen werden, in dem Demokratie, soziale Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden herrschen werden. Kann es eine höhere Ehre geben als diese Rolle auszufüllen, die Gott ihr zugesprochen hat?101

Auch während des Unabhängigkeitskriegs prägten patriarchalische Leitbilder weiterhin zu einem großen Anteil die Propaganda der algerischen Unabhängigkeitsbewegung. Allein um die identitäre Spaltung zwischen Algeriern und Franzosen voranzutreiben und die kulturellen Wurzeln der algerischen Nation in den Vordergrund zu stellen, spielten Motive der religiösen Ordnung, der Tradition und der Rückbesinnung sowohl für das Selbstverständnis des FLN als auch des MNA eine wichtige Rolle102 . Parallel dazu entwickelten jedoch beide Organisationen teils verdeckt, teils öffentlichkeitswirksam, einen durchaus progressiveren Umgang mit der Rolle der Frauen, als es ihre Außendarstellung teilweise vermuten ließ. Dies war abgesehen von dem Anliegen einer positiven Selbstinszenierung insbesondere dem Ziel geschuldet, unter den Bedingungen des Krieges eine möglichst hochgradige Mobilisierung der gesamten algerischen Bevölkerung zu erreichen. So druckte etwa der FLN Propagandabilder algerischer Frauen in Uniform und Waffen103 , während in »La Voix du peuple«, dem Organ des MNA, von der französischen Armee verhaftete »algerische Patriotinnen« für deren revolutionäres Engagement gefeiert wurden. Die beiden Kongresse der USTA von 1957 und 1959 verabschiedeten jeweils eine Resolution zur »Befreiung« beziehungsweise zur »Emanzipation« der algerischen Frau104 . Dass der FLN für die Beteiligung algerischer Frauen an Kampfhandlungen zeitweise durchaus offen war, hat insbesondere Djamila Amrane gezeigt, deren Untersuchungen zufolge etwa drei Prozent der Kämpfer im FLN bezie-

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Meynier, Histoire intérieure du FLN, S. 214–225. Sonderausgabe von »La Voix du peuple«, Okt. 1961, S. 5, AMAE, SEAA, 1959–1967, c. 28. Dazu bedienten sich beide Bewegungen bereits seit der Anfangsphase des Krieges religiöser Motive, die auf die Verschmelzung politischer und religiöser Idealvorstellungen wie etwa von Nation und Glaubensgemeinschaft, Hingabe für das Vaterland und Askese zielten: Michel Renard, Observance religieuse et sentiment politique chez les NordAfricains en métropole, 1952–1958, in: Jean-Charles Jauffret (Hg.), Des hommes et des femmes en guerre d’Algérie, Paris 2003, S. 261–279, hier S. 272–275. Meynier, Histoire intérieure du FLN, S. 224. Sidi Moussa, Devenirs messalistes, S. 510–519.

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hungsweise in der ALN Frauen waren105 . Marc André hat am Beispiel von Lyon illustriert, dass algerische Frauen zumindest auf lokaler Ebene in beiden Organisationen sogar Schlüsselpositionen einnehmen konnten106 . Das Ausmaß der direkten Beteiligung algerischer Frauen am algerischen Unabhängigkeitskrieg ist bis heute unter Historikern umstritten107 . Als sicher gilt hingegen, dass die bis dahin geltende Ordnung der Geschlechter- und Familienverhältnisse durch die unterschiedlichen Positionierungen und Initiativen der Kriegsparteien auf diesem Gebiet ins Wanken geriet108 . Durch den »Krieg um die algerischen Frauen« eröffneten sich für einige von ihnen neue Handlungsmöglichkeiten, die es so zuvor nicht gegeben hatte. Die alltagswirksamen Veränderungen durch den Unabhängigkeitskrieg für algerische Frauen in Lothringen werden im Folgenden mit einem Kurzporträt dargestellt. Dabei steht zunächst die Frage im Vordergrund, ob und wie die zunehmende Relevanz politischer Fragen für Algerier während des Kolonialkriegs auch für algerische Frauen die Möglichkeit mit sich brachte, eine Veränderung ihrer persönlichen Situation herbeizuführen. In dem konkreten Fall handelt es sich um Frau Tidar, die mit 12 Jahren aus Algerien in das Kohlebecken von Forbach kam, dort bis zum Ende des Unabhängigkeitskriegs blieb, Kinder bekam und den FLN vor allem durch Geldschmuggel aktiv unterstützte. Dass sie derartige Aufgaben nicht nur aus Überzeugung, sondern auch aufgrund der Furcht vor Sanktionen durch die Untergrundorganisation übernahm, sagt weder etwas über die konkrete Gestaltung ihrer politischen Aktivitäten aus, noch darüber, welche Handlungsspielräume sich dadurch für sie innerhalb und außerhalb der Organisation eröffneten. Bei der Analyse der beiden Zeitzeugeninterviews, die mit Frau Tidar in Forbach geführt wurden, standen diese Aspekte im Hinblick auf die Fragestellung bezüglich der agency algerischer Migranten in Lothringen im Vordergrund. Frau Tidar wurde 1944 in Biskra geboren. Bis zum Tode des Vaters, der 1956 im Zuge einer kollektiven Strafmaßnahme der französischen Armee von Soldaten erschossen wurde, lebte sie mit ihrer Familie in einem kleinen Dorf. Da die Versorgung der Familie sich seit dem Tod des Vaters schwierig gestaltete, schickte die Mutter das Mädchen im Dezember 1956 per Flugzeug 105

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Djamila Amrane, Femmes au combat. La guerre d’Algérie (1954–1962), Algier 1993. Der FLN baute außerdem in der Metropole unter der Anleitung des Ehepaars Salima und Said Bouaziz seit dem Ende des Jahres 1960 eine Frauensektion auf. Die Anzahl ihrer Mitglieder ist nicht überliefert. Neil MacMaster zufolge dehnte sie ihre Mitgliederzahlen insbesondere während der Zeit nach dem Waffenstillstand und dem 5. Juli 1962 aus. Darunter waren auch Frauen aus der Region um Thionville: Neil MacMaster, Des révolutionnaires invisibles. Les femmes algériennes et l’organisation de la section des femmes du FLN en France métropolitaine, in: Revue d’histoire moderne et contemporaine 59 (2012), S. 164–190, hier S. 171. André, Des Algériennes à Lyon 1947–1974, S. 109–112. Vgl. Ryme Seferdjeli, Rethinking the History of the Mudjahidat during the Algerian War, in: Interventions 14 (2012), S. 238–255. Meynier, Histoire intérieure du FLN, S. 226.

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nach Lothringen, zu ihrer älteren Tochter, Tidars Schwester, und deren Ehemann nach Forbach. Bereits nach einem Jahr wollte ihr Schwager Tidar jedoch wieder loswerden und schickte sie mit einem Flugticket nach Algerien zum Flughafen Metz-Frescaty. Der Flug entfiel, woraufhin Tidar von einer Sozialarbeiterin in ein Frauenkloster gebracht wurde, wo sie etwa ein Jahr lang blieb, zwischen 1958 und 1959109 . Sie verließ das Kloster erst, nachdem auch ihre Mutter und ihr Bruder nach Forbach gekommen waren. Letzterer sorgte fortan mit 16 oder 17 Jahren für seinen eigenen Lebensunterhalt sowie für den seiner Mutter und seiner Schwester. Die Familie lebte zu dritt zunächst in einer Baracke im Lager Rosselmont und anschließend in der ehemaligen Kaserne Bataille. 1960 heiratete Tidar einen 14 Jahre älteren algerischen Minenarbeiter, der ebenfalls aus Biskra stammte und seit 1957 in der Metropole lebte. Ihre Mutter und der Onkel des Ehemanns hatten die Hochzeit initiiert, in deren Folge die damals 16-Jährige sowohl mit den politischen Machtbestrebungen des FLN als auch mit der paternalistischen Autorität eines neuen Familienmitglieds konfrontiert wurde. Aufgrund der Kontakte des Onkels ihres Ehemanns zum FLN traten Aktivisten der Organisation an Tidar heran, um sie dazu zu bewegen, Gelder der Organisation ins Saarland zu schmuggeln. Sie willigte ein und erhielt seitdem in regelmäßigen Zeitabständen immer von der gleichen Person einen Beutel. Diesen lieferte Tidar stets bei der gleichen Person in Großrosseln im Saarland ab, nachdem sie jedes Mal den gleichen Weg zu Fuß allein durch den Wald genommen hatte. Ihre Grenzübertritte variierten lediglich bezüglich der Uhrzeit, die ihr jeweils vorgegeben wurde110 . Der Onkel des Ehemanns von Tidar nahm nicht allein aufgrund seiner Verbindungen zum FLN eine zentrale Rolle in deren Leben ein. Gemeinsam mit seiner Frau teilte er auch ihre Wohnung und verfügte über das Gehalt seines Neffen, der weder Französisch lesen noch schreiben konnte111 . Der Onkel be109

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Diese Episode im Leben Tidars hat auf Seiten des Interviewers besondere Verwunderung ausgelöst. Die Maßnahme der Sozialarbeiterin, an deren Namen sich Tidar nicht erinnern konnte, erscheint jedoch absolut nachvollziehbar, da die Sozialarbeit für »Nordafrikaner« in Lothringen in dieser Zeit in erster Linie auf alleinstehende Männer und in zweiter Linie auf algerische Familien ausgerichtet war. Der Fall eines jungen algerischen Mädchens, das in der Region keinen Ort der Zuflucht wusste, war dabei nicht vorgesehen. Dadurch war die Sozialarbeiterin, die sich um Tidar kümmerte, auf die Hilfsbereitschaft nichtstaatlicher Institutionen, wie in diesem Fall das katholische Kloster, angewiesen. Während eines Gesprächs des Autors dieser Studie mit dem ehemaligen FLN-Mitglied Salem Amenzu am 3. August 2013 in Metz berichtete dieser, dass er sich während des Krieges hin und wieder an der Grenze postiert habe, um die Zeitpunkte der Patrouillen der Gendarmerie für den FLN zu notieren. Es ist davon auszugehen, dass die Anordnungen an Tidar, die Grenze nur innerhalb eines bestimmten Zeitraums zu überqueren, sich auf die Angaben von Beobachtern wie Salem Amenzu gründeten. Noch 2014 beim Interview waren die Möglichkeiten des Ehemanns von Tidar, sich gegenüber dem Autor mündlich auf Französisch auszudrücken, begrenzt.

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III. Algerische Migranten und der Kolonialkrieg

zog auch die Familienzulagen des jungen Ehepaars und verhinderte zunächst deren Auszug, als der Mann von Tidar das Angebot der HBL bekam, in eine größere Wohnung in Behren umzuziehen. Bei einem Streit darüber verließ Tidar die Wohnung und drohte ihrem Mann und dessen Onkel, wieder bei ihrer Schwester zu wohnen. Auf Initiative des Onkels kam es zu einer Intervention von zwei Aktivisten des FLN, die der Frau in dem Konflikt jedoch Recht gaben. So musste der Onkel den Auszug des Ehepaars aus der Kaserne Bataille hinnehmen, beschloss allerdings, mit in die neue Wohnung einzuziehen. Aufgrund der andauernden Kontrolle des Onkels über die Finanzen der Familie blieb Tidar wie bereits zuvor auf Lebensmittelspenden der Nachbarschaft angewiesen. Darüber entbrannte eine erneute Auseinandersetzung, in deren Folge der Onkel nach erneuter Intervention von FLN-Mitgliedern zumindest die Familienzuzahlungen an Tidar weitergab. Als diese dann nach Ende des Unabhängigkeitskriegs auf den Auszug des Onkels drängte, verließ er in ihrer Abwesenheit mit fast dem gesamten Mobiliar die Wohnung112 . Die Geschichte Tidars illustriert einen doppelten Effekt des algerischen Unabhängigkeitskriegs. Durch die zahlreichen strukturellen Veränderungen des sozialen Feldes, in dem sich die Migranten bewegten, wurden algerische Männer und Frauen einerseits mit bestimmten Zwangssituationen konfrontiert. Als solche sind im Fall Tidars etwa der Mord an ihrem Vater durch Soldaten der französischen Armee in Algerien oder die später erfolgte Aufforderung des FLN zum Geldschmuggel zu sehen. Andererseits entstanden durch den politischen Konflikt auch »Gelegenheitsstrukturen«113 in Form von neuen Möglichkeiten des sozialen Auf- und Abstiegs. Dass die Betroffenen durchaus in der Lage waren, diese so eröffneten Gelegenheiten für ihre persönlichen Zwecke zu nutzen und somit die Auswirkungen des Kolonialkriegs aktiv mitzugestalten, wird vor allem daran deutlich, dass Tidar bei ihren Anstrengungen, patriarchalischen Kontrollansprüchen über die Bedingungen ihres Alltags zu entkommen, die Unterstützung des FLN gewinnen konnte. Bezüglich ihrer persönlichen Situation war die starke Position des FLN in Lothringen vor allem deshalb relevant, weil die Organisation ihre Autorität selbst gegenüber dem Patriarch der Familie von Tidar geltend machen konnte. Um sich dessen weitreichenden Kontrollansprüchen zu entziehen, nutzte Tidar die Ausdehnung der Macht des FLN auch für ihre eigenen Zwecke. Schließlich waren die algerischen Nationalisten beider Lager neben der Rückbesinnung auf algerische Traditionen auch auf sozialen Fortschritt und das Wohlergehen der algerischen Männer und Frauen bedacht. Zwischen 1958 und 1962 kann ein Wandel der sozialen Lebenswelt algerischer Migranten in Lothringen konstatiert werden, der durchaus differenzierter aus112 113

2. Interview LH–Tidar, 2014, S. 20f. Unter »Gelegenheitsstrukturen« werden »Parameter für soziale oder politische Akteure, die ihre Aktionen entweder ermutigen oder entmutigen«, verstanden, http://www. demokratie-goettingen.de/blog/gelegenheit-macht-protestierende (Zugriff 20.6.2019).

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4. Alltag und »agency« algerischer Migranten

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fällt, als es die vorigen Kapitel zunächst annehmen lassen. Erstens wurde gezeigt, dass die Anzahl der algerischen Migranten in Lothringen während der heißen Phase des Unabhängigkeitskriegs trotz der zunehmend ablehnenden Haltung vieler Arbeitgeber ihnen gegenüber enorm zunahm. Das bis dahin für die algerische Migration prägende Phänomen der Kettenmigration büßte seine Wirkung in erheblichem Maße ein, was durchaus auch auf die gesteigerte Notlage eines Großteils der algerischen Bevölkerung zurückzuführen ist. Zweitens wurde hinsichtlich der staatlich angeleiteten sozialen Intervention für Algerier deutlich, dass nur ein kleiner Anteil der algerischen Männer und Frauen in Lothringen damit direkt in Berührung kam. Die Hoffnungen auf signifikante politische Effekte im Sinne einer profranzösischen Haltung wurden enttäuscht. Vor dem Hintergrund der Diversität der Faktoren, die die Bedingungen des Alltags algerischer Migranten beeinflussten, wurde drittens die Frage nach dem Wandel der agency während des Unabhängigkeitskriegs untersucht. Es konnte festgestellt werden, dass Algerier während des Unabhängigkeitskrieges keineswegs zu Spielbällen der unterschiedlichen Konfliktparteien wurden. Vielmehr erwuchsen den Migranten, teils durch die politischen Wandlungsprozesse an sich, teils durch ihre aktive Mitwirkung daran, außer neuen Zwangssituationen auch neue Gestaltungsmöglichkeiten ihrer Lebenssituation.

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Epilog: Der Krieg ist zu Ende. Es lebe der Krieg? Am 19. März 1962 unterzeichneten die Vertreter des FLN und der französischen Regierung in Evian einen Waffenstillstand. Den zentralen Punkt dieses Abkommens stellte die Einigung dar, dass die Frage der Unabhängigkeit Algeriens von der algerischen Bevölkerung per Referendum entschieden werden sollte. Gemäß allen Erwartungen fiel das Votum am 1. Juli 1962 im Sinne des FLN aus: 99,72 Prozent aller abgegebenen Stimmen votierten für die Unabhängigkeit und besiegelten damit nach 132 Jahren das Ende der französischen Besatzung in Algerien1 . Seit dem Jahr 2012 ist der 19. März in Frankreich als Tag des Gedenkens an die »zivilen und militärischen Opfer des Algerienkriegs und der Kämpfe in Tunesien und Marokko« gesetzlich verankert. Die politische Debatte, ob dies ein passendes Datum für die Gedenkfeiern zu dem Konflikt sei, dauert jedoch an. Sie wurde nicht nur vom ehemaligen Präsidenten Nicolas Sarkozy, sondern auch von dem wohl prominentesten Historiker des Algerienkriegs, Benjamin Stora, angefacht. Dieser äußerte Verständnis für den Unmut vieler Franzosen, denen das Andenken des 19. März angesichts der vielen Opfer unter den Algerienfranzosen und Harkis in Algerien unmittelbar nach dem Abkommen von Evian Unbehagen bereitet2 . Stora regte an, für den Gedenktag ein Datum zu finden, das »allen Toten« und »allen Leiden« gerecht werden könne3 . Vor dem Hintergrund dieser Debatte und der vielfältigen Auswirkungen des Krieges in Lothringen stellt sich die Frage, welche Bedeutung dem 19. März 1962 für die Auseinandersetzungen in Lothringen zukam. Am 23. März 1962 informierte das französische Innenministerium alle Präfekten der Metropole über die Konsequenzen der Deklarationen der Regierung vom 19. März 1962 und das drei Tage später erteilte präsidentielle Dekret Nr. 62-237. Demnach sollten bis zum Referendum über die Unabhängigkeit Algeriens eine Reihe von Neuregelungen im Umgang mit FSNA beachtet werden. Diese betrafen Versammlungen an öffentlichen Plätzen, die nur im Fall einer Bedrohung der öffentlichen Ordnung aufgelöst werden sollten, wobei Demonstrationen weiterhin verboten blieben. Die Bewegungsfreiheit auf dem gesamten Territorium der Metropole sollte gewährleistet sein. Hin- und Rückreisen von und nach Algerien blieben der aktuellen Regelung unterworfen, der zufolge eine Erlaubnis der Administration einzuholen war. Reisen nach Algerien ohne Rückreise sollten hingegen ohne jede Restriktion autorisiert wer1 2 3

Thénault, Histoire de la guerre d’indépendance algérienne, S. 253. Stora, Jenni, Les mémoires dangereuses, Paris 2016, S. 21. Siehe dazu die Ausführungen Storas in einer Nachrichtensendung des Senders France 3 von 2016, https://www.youtube.com/watch?v=OQyqx6N_PRc (Zugriff 20.6.2019).

https://doi.org/10.1515/9783110644012-013

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Epilog

den. Die Möglichkeit des Waffenerwerbs für Algerier war gegeben, allerdings sollten Autorisierungen nur mit der größten Umsicht erteilt werden. Ferner bestand nun die Möglichkeit, dem Innenminister die Rücknahme der beantragten Schließung von Hotels und Bars vorzuschlagen. Schließlich mussten Personen, die auf der Grundlage der Dienstanweisung vom 7. Oktober 1958 interniert worden waren, umgehend auf freien Fuß gesetzt werden4 . Bezüglich der Amnestieerklärung vom 22. März 1962 erklärte der Innenminister, dass Ermittlungen gegen FSNA – besonders anlässlich der Vorwürfe »Verletzung der Sicherheit des Staates«, Freiheitsberaubung und SprengstoffAttentaten – nur weitergeführt werden sollten, falls eine Unterstützung des algerischen Aufstandes nicht gegeben schien. Im Fall der Entdeckung von FSNA, die sich dem Militärdienst entzogen hatten, sollten diese nicht verhaftet werden. Alle Haftbefehle gegen FSNA sollten als nichtig betrachtet werden, insofern deren Vergehen eine Unterstützung der algerischen Freiheitsbewegung dargestellt hatte5 . Auf Druck der Repräsentanten des FLN in Evian waren damit alle Algerier, die sich aktiv an den Auseinandersetzungen um die Unabhängigkeit Algeriens beteiligt hatten, von der Strafverfolgung durch die französischen Behörden ausgenommen. Dennoch wurde die besondere Überwachung aller Algerier durch Polizei und Gendarmerie in Lothringen auch noch nach dem Referendum fortgeführt. Auf eine Anfrage des IGAME der 6. Militärregion vom 18. Juli 1962 wies der Generaldirektor der Sûreté nationale im August 1962 zwar darauf hin, dass die Bezeichnung algerischer Nationalisten als »Separatisten« nach der Anerkennung Algeriens nicht länger angewendet werden sollte. Allerdings sollten »die algerischen Milieus« weiterhin genauestens überwacht werden6 . Erst im März 1964 teilte der Präfekt des Departements Meurthe-et-Moselle den Unterpräfekten seines Departements mit, dass der Innenminister beschlossen hatte, den SCINA aufzulösen. Darin hieß es, dass die Dienste jenes speziellen Informationsdienstes aufgrund der Entwicklung der Probleme, die die Präsenz der »algerischen Kolonie« auf dem Territorium der Metropole mit sich bringen würde, nicht mehr von Nöten seien. Die RG sollten zwar weiterhin regelmäßig über »Nordafrikaner« in ihrer Region berichten, ihren Kenntnisstand nun jedoch direkt an das Innenministerium weiterleiten7 . Bis 4 5 6 7

Télégramme du ministère de l’Intérieur à MM. les préfets (métropole) et police, 23. März 1962, AdM 370 W 1. Ibid. Le directeur général de la Sûreté nationale à monsieur le préfet de la Moselle, inspecteur général de l’administration en mission extraordinaire, 6. Aug. 1962, AdM&M 950 W 13. Le préfet de Meurthe-et-Moselle à messieurs les sous-préfets de Briey, Lunéville, Nancy, Toul, monsieur le conseiller technique pour les affaires musulmanes, monsieur le chef d’escadron commandant le groupement de gendarmerie de M&M., messieurs les commissaires et chefs de poste de sécurité publique de M&M, 18. März 1964, AdM&M 950 W 13.

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dahin hatte auch die Gendarmerie in Lothringen ihre regelmäßige Berichterstattung über »Nordafrikaner« fortgeführt. Im März 1963 beschwerte sich etwa der Kommandant der Kompanie von Thionville, dass nur zwei Brigaden seines Einflussgebiets verwertbare Informationen über »N.A.« geliefert hatten und ordnete an, die im Januar 1958 eingeführten wöchentlichen Standardberichte über Kontrollen von »Nordafrikanern« weiterzuführen8 . Auch in einer Erhebung der Gendarmerie-Kompanie von Forbach über die Anzahl der Ausländer in ihrem Gebiet vom Januar 1964 wurde der andauernde Sonderstatus von Algeriern deutlich. So tauchte in dieser Aufzählung kein einziger Algerier auf9 , während eine weitere Erhebung sechs Monate später ausschließlich die Anzahl algerischer Männer, Frauen und Kinder in dem Gebiet zum Gegenstand hatte10 . Seit Januar 1966 verfasste diese Kompanie regelmäßig standardisierte Berichte mit dem Titel »Délinquance algérienne en métropole«11 . Die spezielle Überwachung aller Algerier in Lothringen durch die französische Polizei und Gendarmerie dauerte somit weit über das Waffenstillstandsabkommen von Evian hinaus an. Auch der FLN war in der Region weiterhin aktiv. Die Aktivisten der nunmehr legalen Organisation pochten gegenüber der Polizei in Lothringen auf die Einhaltung der Vorgaben von Evian. Am Nachmittag des 27. Mai 1962 mobilisierte der FLN in Nancy etwa 400 Algerier, um vor dem Polizeikommissariat der Stadt gegen die kurz zuvor erfolgte Verhaftung vier bewaffneter Aktivisten der Organisation zu protestieren. Erst nach einer Unterredung des Kommissars mit zwei Repräsentanten des FLN löste sich die Menge wieder auf12 . Dass der FLN in Nancy binnen weniger Stunden eine derart hohe Anzahl von Algeriern für eine Protestaktion vor dem Polizeikommissariat 8

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Le capitaine Roy, commandant de la compagnie de gendarmerie à Thionville: Message postalisé à tous les commandants de brigade de gendarmerie. Objet: Renseignements N.A., 23. März 1963, SHAT, 2007 ZM 1/135 910. L’adjudant-chef Weinachter, commandant provisoirement la compagnie de gendarmerie à Forbach, au lieutenant-colonel, commandant le groupement de gendarmerie de la Moselle, 25. Jan. 1964, SHAT 2007 ZM 1/135 823. Le capitaine Henry, commandant de la compagnie de cendarmerie à Forbach, au colonel, commandant le groupement de gendarmerie de la Moselle à Metz, 23. Juli 1964, ibid. Dies scheint insofern eine regionale oder lokale Besonderheit gewesen zu sein, als die Frist für Algerier, die französische Staatsbürgerschaft zu beantragen definitiv erst am 1. Januar 1968 endete: Amelia H. Lyons, French or Foreign? The Algerian Migrants’ Status at the End of Empire (1962–1967), in: Journal of Modern European History 12 (2014), S. 126– 144. Le capitaine Henry, commandant de la compagnie de gendarmerie à Forbach, au colonel, commandant le groupement de gendarmerie de la Moselle à Metz, 2. Feb. 1966, SHAT 2007 ZM 1/135 824. Die Polizei hatte inzwischen auch Verstärkung einer CRS-Einheit angefordert, die vier Algerier blieben vorerst in Haft. Details über die Unterredung zwischen den FLNRepräsentanten und dem Kommissar sind nicht überliefert. Somit kann nicht festgestellt werden, ob der Rückzug des FLN in diesem Fall auf Einschüchterung oder auf der Überzeugung beruhte, dass die vier Inhaftierten zu Recht in Polizeigewahrsam genommen

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Epilog

mobilisieren konnte, illustriert den ungebrochen großen Einfluss der Organisation in Lothringen nach dem Abkommen von Evian. Nach wie vor beruhte diese Machtposition nicht allein auf freiwilliger Gefolgschaft. Ende April 1962 glaubte der IGAME der 6. Militärregion feststellen zu können, dass der FLN seine Disziplinarmaßnahmen gegenüber den algerischen Migranten seit Evian gar intensiviert habe. Gegenüber dem französischen Innenminister führte er diesbezüglich insbesondere Aktivitäten von Schocktruppen und Tribunalen der Organisation an, die Drohbriefe versandten und an zahlreichen Orten weiterhin »Kollekten« unter den Migranten durchführten. Ferner hatten Aktivisten des FLN den Angaben nach begonnen, eine regelrechte Zensuserhebung unter den Migranten durchzuführen und alle Algerier dazu gedrängt, ihre Waffen beim FLN abzugeben13 . Die Quellen der lothringischen Polizei und Gendarmerie lassen darauf schließen, dass der Druck des FLN auf die Algerier in der Region erst nach dem Votum für die Unabhängigkeit und der anschließenden Auflösung der französischen Föderation im November 1962 deutlich nachließ. Die Bindung der Migranten an den Apparat des FLN sollte nun durch die vom FLN kontrollierte Adaf14 und die algerischen Konsulate15 sichergestellt werden. In Moselle richtete die Adaf eine Sektion in Metz ein, die laut einem algerischen Informanten der Gendarmerie im März 1963 von ihren Mitgliedern einen Monatsbeitrag von 10 Franc verlangte16 . Zumindest diesbezüglich hatte sich die politische Lage für Algerier in Lothringen damit deutlich entspannt. Der Putsch des colonel Houari Boumedienne gegen den ersten algerischen Präsidenten Ahmed Ben Bella am 19. Juni 1965 scheint in der Region kein besonders großes Echo hervorgerufen zu haben17 .

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worden waren: Rapport du commissaire principal de Nancy, A. Combé (in Vertretung: S. Giraud), 27. Mai 1962, AN, F/7/15114. Le préfet de la Moselle, inspecteur général de l’administration en mission extraordinaire à monsieur le ministre de l’Intérieur, cabinet – SCINA, direction générale de la Sûreté nationale (cabinet), 30. Apr. 1962, AdM 370 W 1. Abssi, Le nationalisme algérien, S. 339. Im April 1963 informierte eine Sektion der Adaf in Behren-lès-Forbach ihre Mitglieder darüber, dass in Nancy ein algerisches Konsulat eröffnet worden sei: Synthèse journalière. Renseignements sur l’organisation de l’Adaf à Behren-Cité, 6. Apr. 1963, SHAT, 2007 ZM 1/135 822. Le capitaine Clemenceau, commandant de la compagnie de gendarmerie à Metz, au général, commandant de la gendarmerie nationale de la 6e région militaire à Metz, 23. März 1963, ibid. Am 21. Juli berichtete die Gendarmerie in Forbach, dass in Behren-lès-Forbach eine Organisation gegründet worden sei, die für eine Unterstützung Ahmed Ben Bellas werbe. Sie zählte allerdings lediglich fünf Mitglieder und fiel den Beamten in der Folge nicht weiter auf: Le capitaine Henry, commandant de la compagnie de gendarmerie à Forbach, à monsieur le sous-préfet de Forbach: L’activité du milieu algérien, 23. Juli 1965, SHAT ZM 1/135 824. Auch in den anderen Regionen Lothringens sind keine besonderen Aktivitäten von Algeriern nachgewiesen, die mit dem Konflikt zwischen Ben Bella und Boumedienne in Zusammenhang standen.

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Neben den Aktivitäten der Polizei und des FLN manifestierten sich die Nachklänge des algerischen Unabhängigkeitskriegs in Lothringen auch in dem Aufbegehren der Messalisten gegen die zukünftige Staatspartei Algeriens. Einige Aktivisten drängten auch nach dem Abkommen von Evian auf Vergeltung und führten weiterhin Anschläge gegen vermeintliche Verräter durch. So ereigneten sich im industriellen Becken von Longwy am 21. und am 24. März 1962 zwei Attentate gegen FLN-Aktivisten, die einen Toten und drei Verletzte zur Folge hatten18 . Am 11. April berichteten die RG von Nancy, dass MNA-Aktivisten am Vorabend gegen 21 Uhr einen »Nordafrikaner« erschossen hätten, welcher der Polizei als Mitglied einer bewaffneten Gruppe des FLN bekannt gewesen war19 . In der gleichen Stadt warfen im Stadtteil Maxeville Unbekannte kurz nach Mitternacht drei Handgranaten in die zweite Etage eines Wohnheims für »Nordafrikaner« mit 205 Bewohnern und nahmen das Gebäude anschließend mit einem Schnellfeuergewehr unter Beschuss. Die RG gaben sich überzeugt, dass diese Aktion, bei der ein »Nordafrikaner« verletzt wurde, ein »attentat messaliste« gewesen sei20 . Erbost über den Fait accompli von Evian zeigten sich die Anhänger Messali Hadjs weder nach dem 19. März 1962 noch infolge des Votums für die Unabhängigkeit dazu bereit, die Legitimität des FLN anzuerkennen. Durch die Neugründung des PPA am 19. Juni 1962 versuchte Messali zwar, auf die politische Entwicklung in Algerien Einfluss zu nehmen. Aufgrund der Blockadehaltung des FLN blieb ihm dies jedoch verwehrt21 . Auch nach der Besiegelung der algerischen Unabhängigkeit trugen die Anhänger des MNA bzw. PPA sowohl in Lothringen als auch im Saarland22 ihre politischen Forderungen weiter in die Öffentlichkeit. Noch heute versammeln sich am Todestag der Frau Messali Hadjs einige Anhänger der Bewegung im lothringischen Neuves-

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Le commissaire principal, chef de la conscription de Longwy, à monsieur le préfet de Meurthe-et-Moselle, 22. März 1962, AdM&M 950 W 14; Le préfet de Meurthe-et-Moselle au ministre de l’Intérieur, SCINA Paris, 25. März 1962, ibid.; Le commissaire principal de Longwy à monsieur le préfet de Meurthe-et-Moselle, 26. März 1962, ibid. Le préfet de Meurthe-et-Moselle au ministre de l’Intérieur, SCINA Paris, 11. Apr. 1962, ibid. RG de Nancy au préfet, directeur des RG – 7e section, à Paris, 23. Juni 1962, ibid. Messali Hadj kehrte nie wieder nach Algerien zurück und starb am 3. Juni 1974 in Paris. Drei Tage später wurde sein Leichnam nach Algerien überstellt und kurz darauf in Tlemcen, seiner Geburtsstadt, beerdigt: Stora, Messali Hadj, S. 281f. Am 27. Oktober 1962 berichtete der Befehlshaber der Forces françaises en Allemagne, der »Parti populaire algérien«, früher MNA, habe kurz zuvor im Saarland sein Programm an verschiedene Politiker verteilt und darin vor allem ein Ende des Bürgerkrieges sowie Arbeit und Brot für das algerische Volk gefordert. Der Offizier hatte den Parti du peuple algérien fälschlich als »Parti populaire algérien« bezeichnet. Commandement en chef des Forces françaises en Allemagne, état-major, 2e bureau: Activités des Nord-Africains. Synthèse du 3e trimestre, 27. Okt. 1962, S. 7, SHAT 10 T 550.

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Maisons an ihrem Grab, um das Andenken an die Gefährtin des zaim in Ehren zu halten23 . Der lange Atem bei den Auseinandersetzungen um die Unabhängigkeit Algeriens zeigte sich in Lothringen nach dem Abkommen von Evian auch anhand der Präsenz der Harkis. Zu Beginn des Jahres 1964 lebten im Departement Moselle 647 Männer, 121 Frauen und 292 Kinder, die die Präfektur als Harkis klassifizierte24 . Viele von ihnen waren unter prekären Umständen untergebracht25 und sowohl die Präfektur als auch der Befehlshaber der 6. Militärregion, Jacques Massu, sahen sich diesbezüglich aufgrund des Einsatzes der Harkis für die französische Armee während des Krieges in einer besonderen Verantwortung. So kam es, dass die Sonacotra Ende des Jahres 1963 den Auftrag erhielt, in Fameck ein Gebäude zur Unterbringung von 75 HarkiFamilien zu errichten26 . Dieses Vorhaben löste nicht nur auf Seiten der betroffenen Gemeinde Widerstand aus. Auch FLN-Aktivisten und Sympathisanten betrachteten die Präsenz der in Algerien bis heute mit dem Stigma des Verräters belegten Harkis im Industriegebiet von Thionville mit Argwohn. Die Gendarmeriebrigade von Florange berichtete im April 1965, dass Gruppen von Algeriern einzelne Harkis häufig dazu aufgefordert hätten, ihren Ausweis zu zeigen, um festzustellen, ob sie die algerische Staatsbürgerschaft angenommen hatten. Mehrere Harkis seien dadurch äußerst verunsichert. Dem Gesuch einiger der Betroffenen, zu ihrer Selbstverteidigung eine Handfeuerwaffe erwerben zu dürfen, sollte nach Empfehlung der Brigade jedoch nicht stattgegeben werden. Es wurde befürchtet, dass daraus die Einschätzung abgeleitet werden könne, die Waffen »in übertriebener Weise« einsetzen zu müssen beziehungsweise zu dürfen27 . Dass diese Einschätzung nicht aus der Luft gegriffen war, zeigt etwa der Überfall einer Gruppe von Harkis auf einen ehemaligen FLN-Aktivisten in Knutange im Mai 1963, in dessen Folge das Opfer in ein Krankenhaus eingeliefert werden musste28 .

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Vgl. den Dokumentarfilm von Djamel Zaoui, Une autre guerre d’Algérie, https://www. youtube.com/watch?v=AW6rxHgiBc4 (Zugriff 20.6.2019). Le chef du service départemental des rapatriés, note à l’attention du sous-préfet, directeur du cabinet: situation des harkis dans le département, 15. Jan. 1964, AdM 297 W 114. 101 Männer, 70 Frauen und 143 Kinder lebten in Militärlagern in Biche, Cattenom und Saarebourg, 100 Familien und 92 alleinstehende Männer benötigten nach Angaben der Militärs eine feste Unterkunft, da sie entweder »schlecht« oder »provisorisch« untergebracht waren, siehe ibid. Le directeur départemental du service de la construction à monsieur le préfet de la Moselle, inspecteur général de l’administration en mission extraordiniare, 14. Nov. 1963, AdM 297 W 114. Procès-verbal no 616 de la brigade de gendarmerie de Florange, 23. Apr. 1965, S. 2, AdM 252 W 19. Fiche de renseignements recueillis sur les Nord-Africains, 5. Mai 1963, SHAT, 2007 ZM 1/135 910.

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Das Ringen um ein für alle Konfliktparteien befriedigendes Datum, das das Ende der Auseinandersetzungen um die algerische Frage markieren soll, erscheint mit Blick auf die langen und vielfältigen Nachwehen des Unabhängigkeitskriegs in Algerien, aber auch in Frankreich aussichtslos. Angesichts ihrer politischen Tragweite lassen sich die darum entbrannten Konflikte nicht allein mit dem Hinweis beilegen, dass dieses Phänomen allen als Krieg bezeichneten Auseinandersetzungen eigen ist und dass umkämpfte Begriffe wie Krieg, Nation, Terrorismus oder Staat grundsätzlich hinterfragt und auf ihren analytischen Mehrwert bezüglich konkreter Fragestellungen überprüft werden müssen. Darüber hinaus muss der Blick auch auf zwei Aspekte gelenkt werden, die am Beispiel des lothringischen Grenzgebiets gezeigt werden konnten: Erstens nahmen die vielerorts geführten und zum Teil gewalttätigen Auseinandersetzungen um den politischen Status Algeriens und der Algerier ihren Ausgang lange vor dem 1. November 1954. Diese erhielten durch die verschiedenen Aktivitäten des FLN jedoch eine neue Qualität und entfalteten eine bis dahin unbekannte internationale Reichweite, weshalb es sinnvoll erscheint, den Beginn des Algerienkriegs auch entsprechend zu datieren. Zweitens markierte das Abkommen von Evian zwar keineswegs ein Ende der Gewalt in den verschiedenen Auseinandersetzungen um die algerische Frage. Allerdings leitete der offizielle Waffenstillstand vom 19. März 1962 diesbezüglich auf beiden Seiten des Mittelmeers für alle Betroffenen unverkennbar eine neue Phase ein. Diese kann nur in Anbetracht der spätestens zu jenem Zeitpunkt unausweichlich gewordenen Aussicht auf die Gründung eines vom FLN kontrollierten algerischen Staates verstanden werden, die wenige Monate später vollzogen wurde. Es wäre an der Zeit, sich diesen Einsichten zu stellen, einer historisch fundierten Auseinandersetzung mit den Erfahrungen der damaligen Akteure mehr Raum zu geben und die alten Fronten abzubauen.

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Resümee Was bleibt von den beobachteten Geflechten politischer Konflikte, den Serien gewalttätiger Auseinandersetzungen und den beschriebenen sozialen und kulturellen Veränderungsprozessen in der Form eines historischen Überblicks? Der rechtliche Rahmen und die soziale Ausgestaltung der algerischen Migration zwischen 1946 und 1956 zeigen, dass diese sowohl aus Sicht des französischen Staates als auch aus Sicht der Migranten als Kompensationsstrategie angelegt war. Algerier wurden zu Migranten, da sie angesichts steigender Armut kurz- bis mittelfristig die wirtschaftliche Existenz ihrer sozialen Referenzgruppe und damit auch deren innere Struktur durch einen befristeten Gelderwerb in der Metropole stabilisieren wollten. Die Bedingungen zur Umsetzung dieses Vorhabens wurden durch die Liberalisierung des transmediterranen Grenzverkehrs entscheidend erleichtert. Dieser Maßnahme lagen vor allem drei mittel- bis langfristig angelegte Zielstellungen der Algerienpolitik der französischen Regierung zu Grunde: Die koloniale Doktrin »L’Algérie, c’est la France« sollte symbolpolitisch untermauert, der Arbeitskräftemangel der Schwerindustrie der Metropole behoben und ein Ventil für den steigenden sozialen und politischen Reformdruck in Algerien geschaffen werden. Entgegen dieser Hoffnungen übte die Migration in ihrer Praxis eine beschleunigende Wirkung auf den sozialen und politischen Wandel in Algerien aus. Als herausragende Indikatoren sind die Destabilisierung familiärer Ordnungen in Algerien, neue Kontakte und Perspektiven der Migranten im Exil sowie die Vernetzung und Unterstützung der Unabhängigkeitsbewegung zu nennen. Es kam hinzu, dass die bei den meisten Algeriern bereits 1945 diskreditierte koloniale Ordnung seit dem Ende des Jahres 1954 durch Anschläge und Mobilisierungsaktionen des FLN unter einen stark erhöhten Druck geriet und die Rahmenbedingungen des sozialen Lebens durch die Gegenreaktion der französischen Armee in weiten Teilen Algeriens binnen kürzester Zeit erschüttert wurden. Der davon stark beschleunigte Wandel der sozialen Struktur der algerischen Migration spiegelte sich in Lothringen zunächst vor allem in einem steigenden Anteil von Frauen und Kindern unter den Migranten wider. Ferner zeigte sich anhand der zunehmend heterogenen Zusammensetzung des algerischen Milieus nach Herkunftsorten, dass die Wirkung überkommener Migrationsnetzwerke rückläufig war. Immer mehr Migranten erwiesen sich offenkundig als Flüchtlinge, die den Wechsel ihres Lebensmittelpunkts weniger strategisch planten, sondern vielmehr aus einer akuten Notlage heraus vollziehen mussten. Auf der einen Seite war die französische Regierung nicht in der Lage, die Missstände, die sich aufgrund der Kolonisierung eingestellt hatten, zu beheben. Alle Lösungsvorschläge hatten in ihrer Umsetzung zugleich dem Ziel https://doi.org/10.1515/9783110644012-014

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Resümee

einer Aufrechterhaltung der kolonialen Ordnung Rechnung zu tragen, sodass die Probleme bestenfalls verlagert werden konnten. Auf der anderen Seite mussten Algerier erleben, dass die sozialen Verhältnisse, die sie durch eine temporär geplante Abwesenheit als Arbeitsmigranten zu stützen versuchten, gerade dadurch an anderen Stellen destabilisiert und durch den Kolonialkrieg schließlich zum Einsturz gebracht wurden. Aus einer historischen Makroperspektive betrachtet, ist die algerische Migration nach Frankreich während des ersten Jahrzehnts westeuropäischer Nachkriegszeit somit als gescheitertes Projekt zu bezeichnen, das noch am ehesten die Hoffnungen lothringischer Arbeitgeber realisieren konnte. Diese beschwerten sich während des gesamten Untersuchungszeitraums zwar vielfach über ihr algerisches Personal, profitierten jedoch in vielerlei Hinsicht von dem Angebot ihrer sehr flexibel einsetzbaren und billigen Arbeitskraft. Zwischen 1945 und 1958 lebten etwa zwei Drittel der algerischen Migranten in Lothringen in Wohnheimen oder Barackenlagern ihrer Arbeitgeber. Deren Autorität bestimmte demnach sowohl die Grundbedingungen ihres Arbeitsplatzes als auch ihres Wohnortes. Da die Algerier in der Regel keine Berufsausbildung hatten und kolonialistische Stereotype über sie außer in Presse- und Polizeiberichterstattung auch auf Seiten vieler Arbeitgeber fest etabliert waren, wurden sie häufig als besondere Arbeiterkategorie geführt, für die auch besondere Zuwendungen und Kontrollen vorgesehen waren. Den an kolonialistischen Maßstäben orientierten Umgang mit algerischen Arbeitern praktizierte am weitreichendsten die lothringische Eisen- und Stahlindustrie, die bezüglich der Anzahl algerischer Arbeiter im Departement Moselle seit 1951 nur vom Bausektor übertroffen wurde. In den zahlreichen Bauunternehmen, die im durch den Krieg gezeichneten Lothringen nach 1945 florierten, wurde Algeriern in der Regel keine kolonialistisch ausgefeilte Sonderbehandlung zuteil. Stattdessen hatten sie sich damit auseinanderzusetzen, dass eine Unterkunft häufig nicht gestellt wurde, ihre Verträge nur befristet und die Löhne besonders niedrig waren. Nicht nur im Vergleich zu den Franzosen, sondern auch in Relation zu vielen Ausländern galt Letzteres aufgrund der verminderten staatlichen Zuzahlung an Familien in Algerien für alle algerischen Arbeiter in der Metropole. Neben dieser eindeutigen Diskriminierung macht die dominante Rolle der Baubranche auf dem Arbeitsmarkt für Algerier in Lothringen eine zentrale Eigenschaft des sozialen Feldes deutlich, in dem sich die Migranten dort bewegten: Es gab für die meisten kein Ankommen, allerdings auch, weil dies nur selten angestrebt wurde. Es wurde gezeigt, dass die Gelegenheiten für Algerier, in Lothringen einen mehr als nur temporären sozialen Anschluss zu finden und Exklusionsmechanismen zu überwinden, während des Untersuchungszeitraums zunahmen. Mit Blick auf die Persistenz der sozialen Referenzpunkte in Algerien wird jedoch verständlich, dass die große Mehrheit der algerischen Migranten in Lothringen nicht auf eine Überwindung ihrer provisorischen Existenzsitua-

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Resümee

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tion hinarbeitete1 . Damit ging ein nicht unbedeutendes Risiko einher. Der phasenweise bedeutende Anteil von Arbeits- und Obdachlosen unter ihnen zeigt, dass der für begrenzte Zeit geplante Aufenthalt in der Metropole statt zum Gelderwerb durchaus auch in die Armut führen konnte. Die große Mehrheit der in Lothringen lebenden Algerier legte das als Provisorium eingerichtete Migrantendasein während des Untersuchungszeitraums nicht ab und hatte dazu mangels längerfristiger Zukunftsperspektiven auf dem Arbeitsmarkt auch kaum Gelegenheit. Der Einfluss des Kolonialkriegs auf diese Situation zeigte sich seit dem Beginn des Jahres 1956 besonders deutlich in der zunehmend ablehnenden Haltung von Arbeitgebern gegenüber Algeriern, infolge der von FLN- und MNA-Anhängern durchgeführten Anschläge, Demonstrationen und Streiks in Lothringen, aber auch anhand der Abreise zahlreicher Migranten nach Algerien. Es ist zu konstatieren, dass der Algerienkrieg auf die Entwicklung der sozialen Situation der Algerier in Lothringen zwar starke Einwirkungen hatte. Er konditionierte sie jedoch nicht. Im Departement Moselle stieg die Anzahl der algerischen Arbeiter seit 1959 und während der gesamten darauffolgenden Hochphase inneralgerischer Auseinandersetzungen und polizeilicher Repressionen in Lothringen wieder an. Entscheidend für die sozialen Lebensbedingungen der meisten Migranten waren somit auch während des Unabhängigkeitskriegs weiterhin die Entwicklungen im Bau-, Eisen-, Stahl- und Kohlesektor in Form der daraus resultierenden Nachfrage nach ungelernten Arbeitskräften. Aus der Perspektive von Migranten betrachtet, müssen derartige Entwicklungen stets auch in einem Bezug zu deren zweitem sozialen Referenzgebiet beleuchtet werden. Abgesehen von persönlichen Bindungen behielt Algerien für viele Migranten in ihrer Abwesenheit auch in der Form eines Heimatkults, der von der Unabhängigkeitsbewegung, algerischen Schriftstellern und Musikern betrieben wurde, eine hohe symbolische Relevanz. Durch die soziale Einbindung in zwei räumlich voneinander getrennte Kontexte2 kam Ereignissen, die sich in über 1500 Kilometer Entfernung ereigneten, in Lothringen eine unmittelbare Bedeutung zu. Da der übergroße Anteil der algerischen Bevölkerung innerhalb der Kolonie auf dem Land lebte und entweder in der Landwirtschaft tätig oder arbeitslos war, ist ein detaillierter Vergleich zu den Lebensbedingungen der vor allem in Städten, Wohnheimen und Barackenlagern lebenden algerischen Bau-, Stahl- und Kohlearbeiter in Lothringen nicht zielführend. Lothringen und Algerien stellten in dieser Hinsicht zwei grundlegend unterschiedliche Erfahrungsräume dar. Allerdings beeinflussten die Veränderungen in der Kolonie nicht nur die soziale Struktur des algerischen Milieus in der 1

2

Abdelmalek Sayad hat in seinen Arbeiten stets auf die Mitverantwortung der Migranten an deren provisorischer Lebenslage hingewiesen, siehe etwa Abdelmalek Sayad, L’immigration ou les paradoxes de l’altérité, Bd. 2: Les enfants illégitimes, Paris 2006, S. 157f. Raphael, La théorie du champ social.

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Resümee

Metropole. Sie hatten auch für das Vorgehen der Polizei und Gendarmerie gegenüber Algeriern in Lothringen schwerwiegende Folgen. Letzteres näherte sich den in Algerien angewandten Methoden vor allem unter drei Gesichtspunkten immer weiter an: Erstens wurden die Formen der bereits vor dem Unabhängigkeitskrieg virulenten polizeilichen Schikane gegenüber Algeriern massiv ausgeweitet, bis hin zu standardisiert durchgeführten, massenhaften Personenkontrollen. Zweitens sperrten Gendarmerie und Polizei Hunderte Algerier in Lothringen unter Berufung auf die Dienstanweisung vom 7. Oktober 1958 auf Verdacht hin ein und deportierten sie in eigens dafür eingerichtete Sammellager. Drittens nahmen die straflose Ausübung von Gewalt und Zwang gegenüber Algeriern bis hin zu Folter und Mord ein bis dahin in Lothringen unbekanntes Ausmaß an. Dass diese Phänomene in Algerien ein sehr viel größeres Ausmaß erreichten, kann über die Parallelen der Entwicklungen in Lothringen nicht hinwegtäuschen. Trotz der zunehmenden Repressionen gegenüber Algeriern verbesserte sich für diese seit 1959 die drei Jahre zuvor eingebrochene Lage auf dem Arbeitsmarkt. Außerdem wurden die staatlich finanzierten Anstrengungen für spezielle soziale Unterstützung von Algeriern auf einen Höhepunkt getrieben. Es gab Fälle von Folter und Erschießungen durch Polizisten, Gendarmen und Soldaten bis hin zu einer Menschenjagd Hunderter Fallschirmjäger auf Algerier in Metz 1961. Parallel dazu schalteten sich die örtlichen Behörden aktiv in die Regierungskampagne zum Erhalt der »Algérie française« ein. All diese Faktoren zeigen die Wirksamkeit der vielseitig ausgerichteten Strategie des französischen Staates im »Kampf um die Bevölkerung« in Lothringen. Im Vergleich zu Lothringen war die an staatlichen Maßstäben orientierte Durchsetzungsfähigkeit von FLN und MNA gegenüber Algeriern innerhalb des Saarlands und der Bundesrepublik eher gering. Dem lagen vor allem der niedrigere Organisationsgrad algerischer Nationalisten sowie deren Strategie zu Grunde, potenziell öffentlichkeitswirksame Gewalttaten außerhalb Frankreichs nur in Ausnahmefällen zuzulassen. Im nahen Lothringen dagegen erreichten die Messalisten zwischen 1951 und 1956 und der FLN seit der Streikwoche zu Beginn des Jahres 1957 bis zur Unabhängigkeit beachtliche Mobilisierungserfolge. Dies lässt nicht darauf schließen, dass sich alle Beteiligten mit einer der beiden Organisationen vollständig identifizierten. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass eine breite Sympathie für das Ziel der nationalen Unabhängigkeit unter den Algeriern vorhanden war. Zwischen 1951 und 1962 führten diesbezügliche Fragen an einzelnen Tagen Tausende Algerier in Lothringen auf die Straße. Es wäre irreführend, die Aktivisten der algerischen Untergrundorganisationen und deren Unterstützer als Rädchen in einem politischen Getriebe oder gar Opfer von Propaganda und Zwang abzuhandeln. Alle beteiligten politischen Akteure versuchten, genau dies zu inszenieren, um im Namen der Algerier sprechen zu können. Aus einer Mikroperspektive betrachtet, zeichnen sich die meisten der zentralen Akteure dieser Studie dadurch aus, dass sie

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Resümee

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während des Untersuchungszeitraums nicht nur in Bezug auf einen einzigen Raum oder an einer politischen »Front« einzuordnen sind. Die Algerier im lothringischen Grenzgebiet orientierten sich dazwischen. Alltagserfahrungen politisch aktiver Algerier zeigen deutlich, dass die Einflusszonen ihrer jeweiligen Organisation fluide waren und binnen kürzester Zeit von lokalen Aktivisten verändert werden konnten. Algeriern erwuchsen aus der neuen politischen Machtkonstellation seit 1954 vor allem neue Risiken, aber auch Gelegenheiten für sozialen Aufstieg, innerfamiliäre Emanzipation oder neue Formen der Gemeinschaftserfahrung. Die Reichweite und Wirkungsmächtigkeit der Konfliktstellung in Lothringen wurde nicht nur in Paris, Algier und Tunis bestimmt, sondern auch von den Migranten vor Ort. MNA- und FLN-Aktivisten konnten trotz des Kriegszustands, den ihre beiden Organisationen propagierten, etwa im gleichen Unternehmen tätig sein oder einander auf der Straße begegnen, ohne dass dies zu einer Auseinandersetzung führen musste. Familienbindungen wurden in einigen Fällen durch den Unabhängigkeitskrieg gespalten, in anderen Fällen über die politischen Fronten hinweg aufrechterhalten. Innerhalb Lothringens, aber auch im Saarland bestanden während des gesamten Unabhängigkeitskriegs zahlreiche Räume, in denen weder Polizei noch FLN oder MNA eine verlässliche Autorität für Algerier aufbauen konnten. Vor allem in Arbeiterwohnheimen, Barackenlagern und algerischen Gastronomiebetrieben bot sich Algeriern häufig keine klare Machtstruktur im Sinne einer Monopolisierung des Anspruchs auf die Ausübung physischer Gewaltsamkeit. Selbst wenn sich Algerier offen zu einem politischen Lager bekannten und dieses Bekenntnis von ihrem Umfeld als relevant erachtet wurde, beruhte der konkrete Umgang damit meist auf einer Abwägung von persönlichen Interessen und situativen Faktoren. Um in dem Kräftefeld zwischen dynamischen Räumen und Fronten (über)leben zu können, waren eigene Positionierungen und Flexibilität unabdingbar. Dies gilt sowohl für FLN- und MNA-Aktivisten als auch für politisch eher passive Algerier. Wenn auch unter gänzlich anderen Bedingungen als in Algerien, gelang es den algerischen Nationalisten in Lothringen mit ähnlichen Methoden wie in der Kolonie, Tausende Algerier durch Aufrufe und Propaganda zu Demonstrationen und Streiks zu mobilisieren. Entscheidend war für sie jedoch das Eintreiben regelmäßiger Geldbeiträge, um die jeweils eigene Organisation und deren vielfältige Aktionen zu finanzieren. Insbesondere zu diesem Zweck reglementierten beide Organisationen auch die Ausübung von Gewalt in der Manier von Staaten: Sowohl der MNA als auch der FLN setzte in Lothringen erst eigene Polizeitrupps und dann auch Gerichte ein, um das gesamte algerische Milieu zu disziplinieren beziehungsweise einzuschüchtern. Mangels präziser und glaubwürdiger Zahlen lässt sich nur schätzen, dass FLN- und MNA-Mitglieder um 1958 in Lothringen von einem Viertel und während der Endphase des Konflikts von mindestens der Hälfte der dort lebenden Algerier einen monatlichen Geldbeitrag einsammelten. Dies wurde

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Resümee

durch die systematische Erfassung und Überwachung von Algeriern mittels eigener territorialer Einheiten umgesetzt, in denen die gewaltbereiten Schocktruppen die Achtung der Autorität ihrer jeweiligen Organisation einforderten. Deren Aktionsradius reichte von regelmäßigen Kontrollgängen in den algerischen Gastronomiebetrieben und Arbeiterwohnheimen über bewaffnete Überfälle mit Handgranaten und Schnellfeuergewehren, Exekutionen von Algeriern auf offener Straße bis hin zu Angriffen auf französische Polizisten und Soldaten der französischen Armee. Die beobachtete Dynamik der Gewalt kann in ihrer Virulenz und ihrem Schrecken nur in einer transmediterranen Perspektive verstanden werden. Die lothringischen Aktivisten des FLN und des MNA verfügten über umfassende Kenntnisse der Umstände in Algerien und sahen sich gerade im Hinblick darauf im Krieg. Das Ausmaß der französischen Repressionen in der Kolonie erschien die Klärung der bereits vor 1954 umstrittenen Führungsfrage der Unabhängigkeitsbewegung aus Sicht beider algerischen Untergrundorganisationen dringlicher denn je zu machen. Während der FLN diesbezüglich zu keinem Zeitpunkt ein Entgegenkommen signalisierte, taten die Messalisten dies erst, als ihr Machtverfall schon weit fortgeschritten war. Somit machten sich die beiden Untergrundorganisationen gegenseitig dafür verantwortlich, den nationalen Widerstand im Sinne Frankreichs zu spalten und für die zahllosen algerischen Opfer mitverantwortlich zu sein. Nur unter Betrachtung dieses weit über Lothringen hinausreichenden Orientierungshorizonts der Akteure kann der ausgiebige und vielfältige Gebrauch von Gewalt durch Kommandos des FLN und des MNA in Lothringen verstanden werden. Gewalt fungierte sowohl auf der Mikro- als auch auf der Makroebene immer auch als politisches Instrument, dessen Erfolg sich oft in seiner Außenwirkung zu messen hatte. Für die Täter waren häufig nicht nur die Opfer, sondern auch die Reaktionen der »Zuschauer« von hoher Bedeutung. Anders als in den meisten Regionen Algeriens konnte der MNA auf dem lothringischen Terrain vor allem durch den Rückhalt der Hochburg in Longwy, das Saarland als Rückzugsgebiet und die Propaganda seines gewerkschaftlichen Arms, der USTA, bis zum Ende des Unabhängigkeitskriegs einen bedeutenden Grundstock von Anhängern bewahren. Nach ihren vor allem von der französischen Polizei bis 1957 herbeigeführten Machtverlusten erlebten die lothringischen Messalisten 1959 – im Windschatten der polizeilichen Offensive gegen den FLN und mit Unterstützung bewaffneter Aktivisten aus dem Saarland – sogar einen kurzzeitigen Aufschwung. Dadurch waren Algerier insbesondere im industriellen Becken von Longwy, Metz und im lothringisch-saarländischen Grenzraum zwischen Sarreguemines und Saarlouis besonders lange mit den jeweils exklusiven Anforderungen nach Gefolgschaft von drei miteinander in Konkurrenz stehenden Parteien konfrontiert: Polizei, FLN und MNA.

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Für eine als »Problemgeschichte der Gegenwart« verstandene Zeitgeschichte3 gewinnt der algerische Unabhängigkeitskrieg momentan eine völlig neue Relevanz. Daher scheint die Westeuropa zugewandte Geschichtswissenschaft auch außerhalb Frankreichs gut beraten, ein verstärktes Interesse gegenüber jenen Auseinandersetzungen zu entwickeln. Der Algerienkrieg wird zwar in vielen Überblickswerken erwähnt, jedoch in seiner Bedeutung für die historischen Maßstäbe westeuropäischer Innenpolitik zwischen 1955 und 1962 kaum beachtet4 . Historiker kommen nicht umhin zu konstatieren, dass Frankreich sich während des Algerienkriegs zu einem Polizeistaat entwickelte. Der euphemistisch als Bündel von »Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Ordnung« bezeichnete Kampf gegen »Terroristen« brachte ein ganzes Bündel verschiedener Maßnahmen systematisch praktizierter Schikane und Repressionen gegen weite Teile der eigenen Bevölkerung mit sich. Allein im europäischen Teil Frankreichs gingen auf aktives Betreiben des französischen Staates etwa 300 000 offiziell als französische Staatsbürger geltenden Algeriern fundamentale Bürgerrechte verloren. Während sich die mitwissenden europäischen Verbündeten in einer kaum verhohlenen profranzösischen Abwartehaltung übten, erfuhr der Unabhängigkeitskrieg auch für einige von ihnen eine innenpolitische Relevanz. Schon diesbezüglich wirft der algerische Unabhängigkeitskrieg, aus transnationaler Perspektive betrachtet, ein erhellendes Licht auf die ersten beiden Jahrzehnte westeuropäischer Nachkriegszeit.

3

4

Hans Günter Hockerts, Zeitgeschichte in Deutschland. Begriff, Methoden, Themenfelder, in: Historisches Jahrbuch 113 (1993), S. 98–127; vgl. programmatisch zu diesem Ansatz der Zeitgeschichtsschreibung Lutz Raphael, Anselm Doering-Manteuffel, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2 2010. Siehe etwa Tony Judt, Die Geschichte Europas seit dem Zweiten Weltkrieg, Bonn 2006, S. 319–325; Hardt, Une zone de repli minée und Ders., Flüchtlinge, Terroristen, Freiheitskämpfer?

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Abbildungsnachweise Bilder 1 2 3 4 5

Messali Hadj. Propagandabild des MTLD, Privatarchiv Badis . . Die polizeiliche Kontrollaktion in der CRS-Kaserne von Jarville, 5. Sep. 1955, AdM&M 950 W 80. . . . . . . . . . . . . . . . . . Der USTA-Generalsekretär Ahmed Bekhat bei einer Rede in Metz am 12. Mai 1957, AdM 252 W 16 . . . . . . . . . . . . . . Das Auditorium der USTA-Veranstaltung in Metz, 12. Mai 1957, ibid. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Patient wird in der Klinik El Afia behandelt, ibid. . . . . . .

136 192 234 234 290

Grafiken 1 2

3

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5

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Algerische Migration zwischen Algerien und der Metropole (1914–1955), nach: Kateb, Européens, indigènes et juifs, S. 261 Anzahl der »Nordafrikaner« in Moselle (1948–1954), Ciedehl: Main d’œuvre nord-africaine en Lorraine, Juli–Aug. 1954, S. 3, AdM 39 J 114 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anzahl und Wohnsituation »nordafrikanischer Arbeiter« in Moselle (1950–1954), Rapports de la direction départementale du travail et de la main d’œuvre en Moselle, AdM 297 W 18 . . Anteil der algerischen Arbeiter in einem Departement der Metropole, die 1956 in einer Unterkunft ihres Arbeitgebers untergebracht sind (in %), Zahlen aus: Michel, Les travailleurs algériens en France, S. 106 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anzahl registrierter Aktivisten einiger MTLD-kasmas in Lothringen (1952–1953), RG de Thionville, information destinée à la 9e section, 8. Sep. 1953, AdM 370 W 51 . . . . . . . . . . . Anzahl algerischer Arbeiter in Moselle (1955–1957), Rapports de la direction départementale du travail et de la main d’œuvre en Moselle, AdM 297 W 18 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontrollen von »Nordafrikanern« durch die Gendarmerie in Moselle, 1958–1961, SHAT, 2007 ZM 1/135 733 bis 738 . . . . . Anzahl algerischer Arbeiter in Moselle (1958–1962), Rapports de la direction départementale du travail et de la main d’œuvre in Moselle, AdM 297 W 18 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

https://doi.org/10.1515/9783110644012-015

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297 320

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482 9

Die Wohnsituation der »Nordafrikaner« in Moselle 1958, Le chef d’escadron Gauroy, commandant de la compagnie de gendarmerie de la Moselle: état de répartition numérique des Nord-Africains résidant dans le département, 7. Jan. 1958, SHAT 2007 ZM 1/135 733 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

435

Tabellen 1

2 3

4

5 6

7

Qualifizierung der »nordafrikanischen Arbeiter« in lothringischen Unternehmen, 1954, Ciedehl: Main d’œuvre nord-africaine en Lorraine (projet 1), Juli–Aug. 1954, S. 15f., AdM 39 J 114 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Struktur der 1954 in Moselle und Meurthe-et-Moselle registrierten »Nordafrikaner«, ibid., S. 2 . . . . . . . . . . . . . Wohnbedingungen der Algerier an einigen Orten in Moselle, 1956, Zahlen aus: Michel, Les travailleurs algériens en France, S. 347 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zellen und Beitragszahler des FLN in Meurthe-et-Moselle, Januar 1958, Le commissaire principal, chef du service départemental [de Meurthe-et-Moselle] des RG à monsieur le préfet, directeur des RG, 14. Jan. 1958, AdM&M 950 W 53 . . . . . . . . . . . . FLN-Einnahmen aus den Regionen Longwy und Thionville, Sep. 1956, Rapport des RG de Thionville, 27. Sep. 1956, AdM 252 W 19 Anzahl der »nordafrikanischen Arbeiter« der UCPMI (1947–1954), Ciedehl: Main d’œuvre nord-africaine en Lorraine (projet 1), Juli–Aug. 1954, S. 9, AdM 39 J 114 . . . . . . . . . . Anzahl der FLN- und MNA-Mitglieder unter den algerischen Migranten in der Metropole im November 1957, in: Abssi, Le nationalisme algérien, S. 198 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abkürzungen AAM AANAL Adaf AG AGTA ALN AMAE AN ANMT b. BArch BST c. CAA Canam CFTC CGT Ciedehl Cleana CRS Crua CSD CSMONA CTAM DM DST ESNA FAAD FLN FMA FSNA Glana GPRA HBL IGAME k. A. LAK

Archives Arcelor Mittal Association des amis des Nord-Africains en Lorraine Amicale des Algériens en France Archives de la gendarmerie Amicale générale des travailleurs algériens Armée de libération nationale Archives du ministère des Affaires étrangères Archives nationales de France Archives nationales du monde du travail boîte (Archivkiste) Bundesarchiv Koblenz Brigade de sûreté du territoire carton (Archivkarton) Comité des amitiés africaines Comission d’aide aux Nord-Africains dans la métropole Confédération française des travailleurs chrétiens Confédération générale du travail Centre d’information et d’études d’économie humaine en Lorraine Comité lorrain d’études et d’action nord-africaine Compagnies républicaines de sécurité Comité révolutionnaire pour l’union et l’action Comité de soutien aux détenus Contrôleurs sociaux de la main d’œuvre nord-africaine Contrôleurs techniques aux affaires musulmanes Deutsche Mark Direction de la sûreté du territoire Études sociales nord-africaines Front algérien d’action démocratique Front de libération nationale Français musulman d’Algérie bzw. muslimische Franzosen Algeriens Français de souche nord-africaine Groupement longovicien d’action nord-africaine Gouvernement provisoire de la République algérienne Houillères du bassin de Lorraine Inspecteur général de l’administration en mission extraordinaire keine Angaben Landeshauptarchiv Koblenz

https://doi.org/10.1515/9783110644012-016

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Abkürzungen

LAS LKA Lordex Mf W MNA MTLD N.A. o. D. o. J. o. O. o. V. OS PCA PCF PJ PPA RG SAS SCINA SDECE SEBL SFIO SG SHAT SMK Sollac Sonacotra SP UCPMI UDMA UIMM Unef USTA

Landesarchiv des Saarlandes Landeskriminalamt Société lorraine de développement et d’expansion Ministerium für Wirtschaft Mouvement national algérien Mouvement pour le triomphe des libertés démocratiques Nord-Africains ohne Datum ohne Jahr ohne Ort ohne Verfasserangabe Organisation spéciale Parti communiste algérien Parti communiste français Police judiciaire Parti du peuple algérien Renseignements généraux Séctions administratives spécialisées Service de coordination des informations nord-africaines Service de documentation extérieure et de contre-espionnage Sociéte d’équipement du bassin lorrain Section française de l’Internationale ouvrière Section de gendarmerie Service historique de l’armée de terre Société métallurgique de Knutange Société lorraine de laminage continu Société nationale de construction pour les travailleurs originaires d’Algérie Sécurité publique Union des consommateurs de produits métallurgiques et industriels Union démocratique du Manifeste algérien Union des industries métallurgiques et minières Union nationale des étudiants de France Union syndicale des travailleurs algériens

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Quellen Archiv der französischen Bodenarmee, Vincennes Journal des marches et opérations du 1er régiment de chasseurs parachutistes SHAT 7 U 738 1er avril 1960–31 décembre 1960 SHAT 7 U 739 1er janvier 1961–30 juin 1961 SHAT 7 U 741 1er Régiment de Chasseurs Parachutistes, Opérations diverses 1955–1963 SHAT 10 T 550 Commandement en chef des Forces Françaises en Allemagne (FFA), 2e Bureau: Synthèses mensuelles sur les activités des Nord-Africains, militaires et civils en Allemagne, octobre 1959–décembre 1962

Archiv der Gendarmerie in Lothringen (AG) beim SHAT, Vincennes 2007 ZM 1/134 083

Rapports de la Brigade de Gendarmerie de Villerupt, 1956–1959

2007 ZM 1/134 365

Rapports de la Brigade de Longwy, 1957–1959

Rapports du Groupement de Gendarmerie de la Moselle 2007 ZM 1/135 706

1960–1961

2007 ZM 1/135 730

1954–1955

2007 ZM 1/135 731

1955–1956

2007 ZM 1/135 732

1957

2007 ZM 1/135 733

1958

2007 ZM 1/135 734

1958–1959

2007 ZM 1/135 735

1959–1960

2007 ZM 1/135 736

1960

2007 ZM 1/135 737

1961 [1re partie]

2007 ZM 1/135 738

1961 [2e partie]

Rapports de la section de gendarmerie à Forbach 2007 ZM 1/135 818

1953–1957

2007 ZM 1/135 820

1959–1960

https://doi.org/10.1515/9783110644012-017

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Quellen

2007 ZM 1/135 821 2007 ZM 1/135 822 2007 ZM 1/135 823 2007 ZM 1 135 824

1960–1961 1961–1963 1963–1965 1965–1966

Rapports de la section de gendarmerie à Thionville 2007 ZM 1/135 900 2007 ZM 1/135 901 2007 ZM 1/135 903 2007 ZM 1/135 904 2007 ZM 1/135 905 2007 ZM 1/135 907 2007 ZM 1/135 910

1947–1950 1950–1952 1954–1956 1956–1957 1957–1958 1959–1961 1962–1963

2007 ZM 1/209 148

Rapports de la Brigade de Gendarmerie des Forces Françaises en Allemagne (FFA) à Landau, 1947–1962 Rapports de la Brigade de Gendarmerie des Forces Françaises en Allemagne (FFA) à Sarrelouis, 1946–1962 Rapports du Poste prévôtal no 4 du détachement de Gendarmerie en Sarre, 1957–1959

2007 ZM 1/209 684 2007 ZM 1/209 690

Archiv des Departements Moselle, Saint-Julien-lès-Metz AdM 175 W 7

Direction régionale de l’INSEE de Nancy: Recensement, listes nominatives (par arrondissement), Thionville, 1962

Préfecture de la Moselle AdM 252 W 16 AdM 252 W 19 AdM 252 W 20 AdM 252 W 72 AdM 297 W 6

Affaires Nord-Africaines. Attitude des Syndicats, Associations, 1955– 1961 Affaires Nord-Africaines. Armes–Collectes, 1956–1963 Affaires Nord-Africaines. Manifestations, 1961 Affaires relatives aux forces du maintien de l’ordre. Activités (surveillance des frontières), 1948–1962 Affaires musulmanes et Rapatriés. Bureau du conseiller technique. Stage d’information des cadres de réserve. Voyage: Jeunes de Tizi-Ouzou. Séjour en métropole de jeunes algériens. Jeunes algériens de Bougie. Journée d’études: Problèmes industriels algériens, 1956–1962

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Quellen

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AdM 297 W 18

Affaires musulmanes et Rapatriés. Bureau du conseiller technique. Moselle: statistiques trimestrielles, main d’œuvre et diverses. Recensement des Musulmans, anciens militaires. Logement des ouvriers vivant en célibataires, dénombrement, provenances des Nord-Africains, 1950–1963

AdM 297 W 44

Affaires musulmanes et Rapatriés. Bureau du conseiller technique. Centres d’hébergement pour travailleurs: rapports, règlements équipement, constructions, préfabriqués, baraquements, 1954–1962

AdM 297 W 47

Affaires musulmanes et Rapatriés. Bureau du conseiller technique. Cours du soir: enseignement général, du français, ménager, formation professionnelle, 1954–1962

AdM 297 W 65

Affaires musulmanes et Rapatriés. Bureau du conseiller technique. Mouvements sociaux. Le Nord-Africain chez son employeur, enquête sociale, 1953. Enquête du professeur Montagne. Statistiques, 1950–1954

AdM 297 W 66

Affaires musulmanes et Rapatriés. Bureau du conseiller technique. Action sociale dans le département, dans l’arrondissement de Forbach. Aspect social du problème Nord-Africain. Enquête sur les familles musulmanes en Moselle. Caisse d’allocations familiales. Sécurité sociale. Direction départementale de la Santé, 1952–1963

AdM 297 W 114 Affaires musulmanes et Rapatriés. Bureau du chargé de mission du service de liaison et de promotion des migrants. Aide aux migrants. Enquête sur la situation sociale des travailleurs migrants. Office National d’Immigration. Population: action sociale. Armée du Salut. Enquêtes: étrangers. 1965. Familles algériennes: admission en France. Harkis: rapatriement des familles, 1964–1967 AdM 370 W 1

Analyse globale: Affaires Nord-africaines. Surveillance et répression: instructions

AdM 370 W 2

Analyse globale: Affaires Nord-africaines. Ordonnance no 58-916: instructions du 7/10/1958 relatives aux mesures à prendre à l’égard des personnes dangereuses pour la sécurité publique, 1958

AdM 370 W 14

Analyse globale: Affaires Nord-africaines. Opérations de police – contrôle des N.A., 1959–1962

AdM 370 W 26

Analyse globale: Affaires Nord-africaines. Activité du service de police – Patrouilles contrôles – Recrudescence du terrorisme (Contrôle des N.A.), 1956–1962

AdM 370 W 51

Analyse globale: Affaires Nord-africaines. Mouvement des N.A / M.T.L.D., 1954

AdM 370 W 71

Évènements en rapport avec la guerre d’Algérie (6); incident entre paras et Nord-Africains (juillet 1961)

AdM 39 J 114

Centre d’informations et d’études d’économie humaine en Lorraine (Ciedehl): [D 3] Main d’œuvre nord-africaine en Lorraine: projet d’enquête, rapports, 1954

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488

Quellen

Archiv des Departements Meurthe-et-Moselle, Nancy Préfecture de Meurthe-et-Moselle, cabinet du préfet AdM&M 950 W 13

Services de coordination des informations nord-africaines, création, fonctionnement et supression: circulaires (1955–1964). Service régional de coordination des informations nord-africaines: procèsverbaux et réunions (1957–1962)

AdM&M 950 W 14

Rapports des préfets au SCINA: rapports hebdomadaires (1957– 1962), rapports mensuels (août 1957–février 1958, avril–mai 1958, juillet 1958–décembre 1959, mars–juin 1962)

AdM&M 950 W 28

Conseillers techniques pour les affaires musulmanes: circulaires (1952–1962). Synthèses trimestrielles des rapports établis par les conseillers techniques pour les affaires musulmanes (1er trimestre 1962–2e trimestre 1965)

AdM&M 950 W 32

Recensement et situation des Nord-Africaines. – Avant les accords d’Evian: circulaires, rapports des Renseignements généraux, états statistiques (1946–1962); après les accords d’Evian: états statistiques mensuels (novembre–décembre 1962, février 1963–avril 1964, juillet–octobre 1964, décembre 1964)

AdM&M 950 W 34

Ouvriers et chômeurs: rapports des Renseignements généraux, états statistiques (par activité, par entreprise), correspondance (1958). Actions en faveur de la main-d’œuvre nord-africaines auprès des employeurs: circulaire, note d’information, rapport de police, états statistiques (1951–1960). Professions réglementées occupées par des Nord-Africaines. Demandes de cartes professionnelles: dossiers individuels (1956–1960). Mesures destinées à favoriser l’accès des Français musulmans d’Algérie aux emplois publics de l’Etat: instructions, statistiques, liste nominatives, notices individuelles (1957–1958)

AdM&M 950 W 53

État d’esprit de la population nord-africaine et mouvements nationalistes en Meurthe-et-Moselle: rapports des Renseignements généraux, étude du ministère de l’Intérieur, carte des implantations, photographies, correspondance (1948–1967)

AdM&M 950 W 57

Parti du peuple algérien (PPA): notes d’informations, statuts, pojet de charte revendicative, carte du parti (vierge), brochures, tracts (1945–1952). Union démocratique du manifeste algérien (UDMA): notes d’information (1951–1952). Mouvement pour le triomphe des libertés démocratiques (MTLD): notes d’information, rapports des Renseignements généraux et de la gendarmerie, coupures de presse (1948–1956). Mouvement national algérien (MNA): notes d’information, rapports des Renseignements généraux (1954–1965). Mouvement national algérien et Mouvement pour le triomphe des libertés démocratiques, relations avec Messali Hadj: rapports des Renseignements généraux, rapports de police, fiches de renseignement, listes nominatives, correspondance (1951–1961)

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Quellen AdM&M 950 W 60

AdM&M 950 W 65

AdM&M 950 W 80

AdM&M Cab 158

489

Implantation du FLN [Front de libération nationale] en métropole / Ministère de l’Intérieur, direction générale de la Sûreté nationale, direction des Renseignements généraux. – Mise à jour de la précédente étude de février 1958. – Paris: [o.V.] juin 1958. – 1 vol. (83 p.): ill.; 27 cm. (1958) Mouvements sociaux et grèves: rapports des Renseignements généraux et de la gendarmerie, lettre d’un Nord-Africain au président de la République (1948–1962). Manifestations: rapports des Renseignements généraux (1960–1962) Opérations d’»élimination des agitateurs nationalistes« (dossiers par opération): circulaires, rapports des Renseignements généraux, commissions rogatoires, comptes rendus, états statistiques, coupures de presse, photographies (1955–1961) Nord-africains. rapports de gendarmerie et autres sur leur situation, leur organisation. Regroupement divers (1952–1956)

Sous-préfecture de Briey: Affaires concernant les Algérien AdM&M W 1304 150

AdM&M W 1304 165

Enquête sur la main d’œuvre et les familles nord-africaines (1949–1952); Statistiques générales (1955–1958) Partis politiques et syndicats algériens (1949–1961) Grèves, chômeurs nord-africains, évolution de la situation (1950–1951, 1956–1957) Terrorisme FLN (1956–1962)

AdM&M 51 J 586

Fonds Serge Bonnet

AdM&M W 1304 163 AdM&M W 1304 164

Archiv des französischen Außenministeriums, La Courneuve AMAE, Secrétariat d’État aux affaires algériennes (SEAA), 1959–1967 11, 12, 27, 28 AMAE, Z Europe, Sarre, Séries 27–3–3; 27–15–1; 27–15–2

Archiv von Arcelor Mittal (AAM), Florange AAM EA 420/741 Oeuvres sociales, recrutement, logements etc. – Homécourt: logements de nord-africains

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490

Quellen

AAM EA-V28/39

UCPMI, Usines d’Hagondange, rapports techniques annuels: Aciéries (1951, 1953, 1954), Atelier central (1951), Centrale à gaz (1951, 1953), Cimenterie (1947, 1951 à 1954), Contrôle thérmique (1951, 1952), Cokerie (1947, 1948, 1951 à 1954), Chemin de fer (1947, 1951 à 1954), Entretien Cokerie (1951), Hauts-Fourneaux (1951 à 1954), Laminoirs (1951 à 1954), Fonderie d’Ars-sur-Moselle (1947, 1948, 1951 à 1954), Mine Sainte-Barbe (1954)

AAM EA-V28/40

UCPMI, Usines d’Hagondange, rapports annuels: Aciéries (1955 à 1958), Atelier central (1955), Centrale à gaz (1955), Cimenterie (1955), Contrôle thermique (1955, 1956), Cokerie (1955, 1956), Chemin de fer (1956, 1957), Entretien Cokerie (1955), Entretien mécanique (1955), Hauts-Fourneaux (1955, 1956), Laminoirs (1955 à 1957), Service social (1955), Fonderie d’Ars-sur-Moselle (1956, 1957), Mine de Roncourt (1956), Mine Sainte-Barbe (1955, 1956)

AAM EA-V10/176 Œuvres sociales en faveur des nord-africains, 1955–1957 AAM PER 1/2

Actualités industrielles lorraines 43 (1956); Actualités industrielles lorraines 45 (1956)

AAM PER 1/3

Actualités industrielles lorraines 55 (1958); Actualités industrielles lorraines 60 (1959); Actualités industrielles lorraines 64 (1959); Actualités industrielles lorraines 65 (1960)

Archives nationales du monde du travail, Roubaix ANMT H 6084-109 AQ 316

Société d’études pour le développement et la rationalisation des entreprises (Sedre): Enquête sur les problèmes humains de la sidérurgie de Lorraine, 1952

Stadtarchiv Metz AMM 3 K 104

Semaine coloniale à Metz, 1929

AMM SC 171-1950 Délibérations du conseil municipal de Metz, 1950

Archives nationales, Paris F/7/15114

Ministère de l’Intérieur/direction de la réglementation. Fermeture administrative de débits de boissons tenus par des Algériens, statistiques et requêtes des tenanciers, départements Loire à Moselle (1955–1964)

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Quellen

491

Archiv des Arbeitgeberverbandes UIMM, Paris C. 14, b. 46

Publications: Main d’œuvre nord-africaine, 1952–1960

Bibliothèque de l’université de la Nouvelle-Calédonie L 576

Canam (comité Louis-Morard)

Bundesarchiv Koblenz Bundesministerium des Innern BArch, B 106–5350

Asylrecht für Algerier. – Allgemeines und Einzelfälle, Bd. 2, 1958– 1959 BArch, B 106–15779 Radikale Algerier (Einzelpersonen und polit. Gruppen) in der BRD. – Ermittlung und Bekämpfung, 1958–1963

Landeshauptarchiv Koblenz (LAK) Landesministerium des Innern: Behandlung französischer Staatsangehöriger aus dem französischen Gebiet Nordafrikas (Algerien) LAK 880, 2353 Bd. 1, 1958–1963 LAK 880, 2378 Bd. 2, 1958–1963

Landesarchiv des Saarlandes (LAS), Scheidt Amtsgericht Nohfelden VG 10 Mf W 786 Nachlass (NL) Handfest 116

Landeskriminalamt (LKA) des Saarlandes LKA 10 LKA 11

Polizeiliche Kriminalstatistik und Jahresbericht 1953 Polizeiliche Kriminalstatistik und Jahresbericht 1954

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492 LKA 14 LKA 49 LKA 112

Quellen Polizeiliche Kriminalstatistik und Jahresbericht 1957 Jahresbericht 1959 Kontrolle ausländischer Arbeitnehmer, Okt. 1952–Mai 1956

Privatarchive Gilles Manceron

Djamel Zaoui

Secrétariat de la Ligue des droits de l’homme (Fédération Moselle): Compte rendu concernant la »sanglante nuit de Metz« 24 au 25 juillet 1961, p. 4, daté du 2 août 1961. Déclaration des responsables de kasmas MTLD de Longwy, Piennes, Charleville, Hayange, Thionville, Forbach, Sedan, faite à Longwy le 25 avril 1954.

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Zeitungen und Wochenzeitschriften Der Spiegel Deutsche Volkszeitung Deutsche-Saar-Zeitung

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Quellen

493

France Soir L’Est républicain L’Humanité Le Lorrain Le Républicain lorrain Mannheimer Morgen Rhein-Neckar-Zeitung Saarbrücker Allgemeine Zeitung Saarbrücker Landeszeitung Saarbrücker Neueste Nachrichten Saarbrücker Zeitung Weser-Kurier Westdeutsche Allgemeine Zeitung

Unpublizierte Hochschularbeiten Abssi, Marion, Le nationalisme algérien et ses diverses expressions dans l’immigration en France métropolitaine entre 1945 et 1965, Diss. Univ. Metz und Lüttich (2013). Amiri, Linda, La Fédération de France du Front de libération nationale (FLN). Des origines à l’indépendance (1926–1962), Diss. Paris Institut d’études politiques (2013). André, Marc, Des Algériennes à Lyon 1947–1974, Diss. Univ. Paris 4 (2014). Bülow, Mathilde U. von, The Foreign Policy of the Federal Republic of Germany, FrancoGerman Relations, and the Algerian War, 1954–62. Diss. Univ. Cambridge (2006). Hardt, Lucas, Die Auswirkungen des Algerienkriegs auf die algerischen Migranten im Industrierevier von Longwy. Magisterarbeit Univ. Trier (2011). Lavinia-Munerez, Isabelle, La frontière et ses effets dans l’espace Lorraine-Sarre, Diss. Univ. Metz (1991). Lyons, Amelia H., Invisible Immigrants. Algerian Families and the French Welfare State in the Era of Decolonization (1947–1974), Diss. Univ. Irvine, CA (2004). Miller, Jim, Planing Modernization in the Departement of the Moselle. Lodging Algerian Immigration in the Heart of Frances Eur-African Sphere, 1945–1962, Diss. Univ. Chicago (2007). Mulonnière, Hugo, Les ouvriers »nord-africains« aux usines de Biache-Saint-Vaast (Pasde-Calais), de 1947 à 1962, Masterarbeit, Univ. Paris 1 (2012). Sidi Moussa, Nedjib, Devenirs messalistes (1925–2013). Sociologie historique d’une aristocratie révolutionnaire, Diss. Univ. Paris 1 (2013). Tared, Zahra, Interprétations et répercussions de la guerre d’Algérie en Lorraine, Diss. Univ. Metz (1987).

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Lucas Hardt: Zwischen Räumen und Fronten — 2019/9/20 — page 508 — le-tex

Interviewte Zeitzeugen In den Anmerkungen werden die Interviews folgendermaßen angegeben: Interview LH (= Lucas Hardt)–(Name), (Jahr). Auf Bitte der meisten algerischen Interviewpartner wurden deren Namen anonymisiert. Die französisch geführten Interviews wurden vom Autor ins Deutsche übersetzt. Die Bände mit den Transkriptionen aller Interviews, auf welche sich auch die Seitenangaben in den Anmerkungen beziehen, befinden sich im Besitz des Autors. Name, Geschlecht

Geburtsjahr und -ort

Tätigkeit in Lothringen 1945–1962

Tätigkeit zum Zeitpunkt des Interviews

Ort und Zeitpunkt des Interviews

Amenzu, Salem (m)

1933, Ain-Frah (Algerien) 1935, Ain-Frah (Algerien)

Soldat, Gastronom, FLN-Aktivist Hotel- und Restaurantbesitzer in Metz Bote, Hilfsarbeiter in der Stahlindustrie, Mitglied einer Schocktruppe des FLN, Kreis Forbach Beruf unbekannt, Leiter einer Sektion des FLN in Metz Hilfsarbeiter in der Stahlindustrie, Aktivist des MNA in der Region Thionville Student, Rechtsanwalt

unbekannt

Metz, 3. Aug. 2013

Hotel- und Restaurantbesitzer

Metz, 3. Aug. 2013; Metz, 13. Dez. 2014

Rentner

FreymingMerlebach, 14. Nov. 2014

Leiter der Adaf in Metz

Metz, 9. Mai 2014

Rentner

Hautmont, 22. Feb. 2015

Rentner

Nancy, 7. Mai 2014

Amenzu, Mohand (m)

Asmun (m)

1938, Aïn Touta (Algerien)

Azayku (m)

1939, unbekannt (Algerien)

Badis (m)

1934, Sidi Merouane (Algerien)

Borella, François (m)

1932, Nancy

https://doi.org/10.1515/9783110644012-019

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Interviewte Zeitzeugen

509

Name, Geschlecht

Geburtsjahr und -ort

Tätigkeit in Lothringen 1945–1962

Tätigkeit zum Zeitpunkt des Interviews

Ort und Zeitpunkt des Interviews

Bougherra (m)

1939, Aït Yahia (Algerien)

Rentner, Leiter der Adaf in Forbach

Forbach, 13. Feb. 2014; FreymingMerlebach, 14. Nov. 2014

Djaout (m)

1932, Batna (Algerien)

Rentner

Forbach, 14. Nov. 2014; FreymingMerlebach, 15. Nov. 2014

Medjani (m)

1937, Aït Yahia (Algerien)

Leiter der Adaf

Menad, Rabah (m)

1934, Roknia (Algerien)

Paris, 29. Okt. 2013; Paris, 21. Nov. 2014 Algier, 8.–11. Dez. 2014

Menad, Salah (m)

1931, Roknia (Algerien)

Tidar (w)

1944, Biskra (Algerien)

Schüler, Bergmann, Chef eines Sektors des FLN in Forbach Bauarbeiter, Bergmann, Leiter einer kasma des FLN in Forbach Bote, Chef der Region Lothringen des FLN Student, Stipendiat des GPRA und Mitglied des FLN im Saarland Student, Leitender Aktivist des FLN im Saarland Hausfrau, Botin des FLN in Forbach

Voirand, Marie-Jeanne (w) Yattuy (m)

1939, Metz

Schülerin, Kellnerin in Metz Bergmann, Mitglied eines Schocktruppe des FLN, Kreis Forbach

Rentnerin

1934, Iferhouene (Algerien)

(m)= männlich; (w) = weiblich

Rentner

Rentner

Aïn Benian, 10. Dez. 2014

unbekannt

Forbach, 11. Mai 2014; Forbach, 14. Nov. 2014 Metz, 6. Mai 2014

Rentner

FreymingMerlebach, 14. Nov. 2014

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Register Abbas, Ferhat 103, 107f., 121, 138f. Audin, Maurice 343 Aurès (Gebirge) 342f. Bekhat, Ahmed 231–234, 238 Ben Bella, Ahmed 250, 254, 428, 468 Boudaoud, Omar 253f., 265, 393f., 425 Bourgès-Maunoury, Maurice 201, 205, 281 Brahim, Mechouche 228, 232, 236 Constantine, plan de 441f. Constantinois 102, 106, 131, 211, 213, 343 Debré, Michel 411 Forbach 21, 33, 56, 58, 74, 76f., 81, 90, 113, 117–121, 135f., 138f., 141f., 147, 149–152, 199, 212f., 218–220, 222, 224f., 245, 256f., 259, 264, 266f., 297, 299, 302, 329f., 332, 334f., 340–342, 358, 367f., 370, 377, 387, 389, 396, 398, 410, 415, 420, 427f., 445, 451, 453, 455–457, 460f., 467 Gaulle, Charles de 42, 107, 343, 345, 356, 400f., 414, 441, 444f. Grandval, Gilbert 89, 91f., 94, 98 Hadj, Messali 101, 103f., 106–110, 112, 114f., 125, 128, 130–134, 136f., 139, 141, 143–149, 151–153, 182, 211f., 216, 218, 229, 233, 235, 242, 245, 258, 309, 355–357, 359–361, 366, 369, 371, 374, 378f., 382, 413, 469 Harbi, Mohammed 394, 419 Hoffmann, Johannes 89, 93f. Kabylei 41, 52, 54f., 70, 102, 108, 254, 256, 433 Laporte, Jean 153, 184, 193, 198, 200, 203–205, 318, 322, 325 Longwy 21, 30, 48–50, 52, 55, 60, 62f., 68, 70f., 77, 81, 83f., 111, 114f., 117–119, 121–129, 132, 135, 138, https://doi.org/10.1515/9783110644012-020

142f., 149, 153, 155, 162–164, 190, 213, 217, 236, 245, 255, 266, 270–274, 296, 303–305, 308, 336, 355, 358, 360, 363, 367, 369, 377–381, 385–387, 389, 396f., 404, 410, 412, 415, 427, 435, 444, 447, 469, 478 Massu, Jacques 303, 470 Merbah, Moulay 147, 245, 362f. Metz 31, 33, 50–58, 64, 70, 72, 76f., 80, 82–84, 98, 125, 132, 139f., 152, 155, 161f., 166, 168, 170f., 173, 181f., 184f., 198f., 203, 207f., 214, 217f., 221–225, 230–237, 241f., 257–259, 262, 265, 267f., 273f., 277–280, 283, 287, 290f., 297f., 301, 309, 325, 337f., 341f., 346f., 349–353, 358f., 367–370, 377, 387, 389, 395–398, 403, 407, 409–411, 418, 427, 432, 445–447, 449–457, 461, 468, 476, 478 Mitterrand, François 13 Mollet, Guy 197, 201, 226, 280 Muller, Jean 214 Nancy 52, 68, 121, 123, 125, 129f., 132, 142, 145, 150f., 162, 165–167, 169, 172f., 190, 192, 218, 252, 255f., 259, 267–270, 274, 278, 280, 296, 303–305, 346, 356f., 360f., 377, 385, 387, 395–397, 399, 410, 428f., 437–439, 444, 467, 469 Nédroma 53f. Nesbah, Ahmed 362–364, 368f. Nesmes, Jean de 46, 292f. Papon, Maurice

402, 425

Ramdane, Abbane

254

Saarbrücken 21, 90, 97f., 245, 264, 274, 364f., 368f., 372f., 419f., 422f. Saarlouis 96, 246, 364, 366–368, 371, 374f., 382, 478 Sayad, Abdelmalek 19 Sétif 43, 52 Soustelle, Jacques 226, 277, 441

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Register

Terbouche, Mourad 129–131, 145f., 148, 150f., 252f., 255, 258, 268f. Thionville 56, 58, 60, 65, 76f., 85f., 135, 149, 152, 155, 162, 186, 199, 203f., 213, 215, 217, 221f., 224, 235, 258, 261, 266, 270–274, 288, 297, 299, 302, 309, 316f., 321, 325, 331, 356, 358, 369f., 387, 389,

395–398, 403–406, 408–410, 412f., 416, 426, 433, 444–446, 467, 470 Villerupt 117, 121, 125–127, 132f., 138, 149–151, 255, 266, 270, 272, 274, 305, 332, 377, 386f., 396f.