Josephinismus zwischen den Regimen: Eduard Winter, Fritz Valjavec und die zentraleuropäischen Historiographien im 20. Jahrhundert 9783205201656, 9783205795698, 1918194551


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Josephinismus zwischen den Regimen: Eduard Winter, Fritz Valjavec und die zentraleuropäischen Historiographien im 20. Jahrhundert
 9783205201656, 9783205795698, 1918194551

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Schriftenreihe der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts Band 17 Herausgegeben von Wolfgang Schmale (Band 1–8 herausgegeben von Moritz Csáky)

Franz Leander Fillafer, Thomas Wallnig (Hg.)

Josephinismus zwischen den Regimen Eduard Winter, Fritz Valjavec und die zentraleuropäischen Historiographien im 20. Jahrhundert

2016 BÖHLAU VERLAG WIEN · KÖLN · WEIMAR

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung durch das Land Steiermark Kultur. Europa. Außenbeziehungen das Land Niederösterreich. Wissenschaft und Forschung die Kulturabteilung der Stadt Wien – MA 7 die Universität Wien, Historisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät University of South Bohemia in České Budějovice, Faculty of Philosophy, History Institute

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: © Archiv der Stadt Prag [NAD 1262, Winter Eduard, Inv. Nr. 45, Josefinismus und seine Geschichte (zweite Version), S. 512 und 513]

© 2016 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Dr. Ernst Grabovszki, Wien Satz: Bettina Waringer, Wien Druck und Bindung: Dimograf, Bielsko Biala Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-205-79569-8

Inhalt

Franz Leander Fillafer, unter Mitarbeit von Thomas Wallnig Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Franz Leander Fillafer Das Elend der Kategorien. Aufklärung und Josephinismus in der zentraleuropäischen Historiographie 1918–1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Jiří Němec War die Josephinismus-Interpretation von Eduard Winter aus dem Jahre 1943 eine nationalsozialistische Interpretation? . . . . . . . . . . . . 102 Norbert Spannenberger Die Josephinismusinterpretation von Friedrich (Fritz) Valjavec . . . . . . . . . . . 141 Petra Svatek Fritz Valjavec – Aufklärungsbegriff und Südostforschung . . . . . . . . . . . . . . 156 Johannes Holeschofsky Eigene Wege des habsburgtreuen Konservativen Hugo Hantsch zwischen den Josephinismuskonzepten von Fritz Valjavec und Eduard Winter . . . . . . . . . . . 171 Sonia Horn Auftrag und Erfüllung. Erna Lesky und medizinhistorische Narrative im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . 181 Ivo Cerman Der Josephinismus und die „Geistesgeschichte“ in Tschechien . . . . . . . . . . . . 213 Olga Khavanova und András Forgó Die Rezeption der Werke von Fritz Valjavec und Eduard Winter in den ungarischen Geisteswissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240

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Konrad Clewing Der Josephinismus als Begriff und Epochenvorstellung in der kroatischen und serbischen Historiographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Antonio Trampus Der Josephinismus in der italienischen Historiographie . . . . . . . . . . . . . . . 286 Robert Evans Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 Autorinnen und Autoren des Bandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317

Franz Leander Fillafer, unter Mitarbeit von Thomas Wallnig

Einleitung Der „Josephinismus“ ist ein marktgängiges Edelsubstantiv der Ideengeschichte, er gehört zu den wirkmächtigsten Begriffen der zentraleuropäischen Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts. Wie andere historische Sortierelemente liefert der Josephinismus vorgefertigte narrative Szenarien und Scharniere, die für die modellierende Gestaltung des Quellenstoffs notwendig sind. Eben diese Modul- und Sequenzbildungsvorgänge, die hinter dem Gebrauch von Epochensignaturen wie „Aufklärung“ und „Josephinismus“ liegen, interessieren im vorliegenden Band. Hier wird erstmals die Entstehung und Konjunktur des „Josephinismus“ im 20. Jahrhundert kritisch durchleuchtet und historisch kontextualisiert, vor allem für die Zwischenkriegszeit, die 1940er und 1950er Jahre. Ansatz und Erkenntnisinteresse sind spezifisch, insofern sie die Ideengeschichte der Habsburgermonarchie zum Ausgangspunkt nehmen. Die Fragen nach dem erkenntnispragmatischen und operativen Status von Begriffen wie jenem des Josephinismus in der zentraleuropäischen Geschichtswissenschaft, nach der Karriere solcher Begriffe und der Historiker, die sie wissenschaftsstrategisch einsetzen, sind aber mit Gewinn auf andere Leitkonzeptionen und Deutungsparadigmen „zwischen den Regimen“ übertragbar. Damit wirft dieses Buch die folgenden Fragen auf: Wann und durch wen kam es zur Konstruktion des „Josephinismus“ als österreichischer Spielart der Aufklärung? Weshalb konnte sich dieses Paradigma etablieren? Wie verhält sich dieser „Josephinismus“ zu anderen Formen der Aufklärung in einzelnen Ländern der Monarchie, wie sie im 19. und 20. Jahrhundert entdeckt wurden, also zur böhmischen, ungarischen, italienischen, kroatischen und serbischen Aufklärung? Schließlich betten die folgenden Beiträge diese Fragen in die Geschichte der Geschichtsschreibung ein: In den Nachfolgestaaten der Monarchie im 20. Jahrhundert war die Historiografie geprägt von Staatsgründungs-Erzählungen (Italien, Ungarn, Polen, Rumänien), posthabsburgischen Föderalismen (Tschechoslowakei, SHS-Staat), späterhin von den Programmen nationalmarxistischer Selbstbehauptung. Wie verstanden Historiker in Ostmitteleuropa und Südeuropa den Josephinismus, welche Funktion erfüllte er in der Geschichtskultur dieser Länder? Wenn man den „Josephinismus“ unter die Lupe nimmt, fällt zunächst auf, dass er zwischen erkenntnisleitendem Leitkonzept und Lückenbüßer-Begriff changiert. Mit dem Josephinismus lassen sich sehr verschiedene Sachverhalte, Institutionen und intellektuelle Komplexe erfassen. Eine kritische Sichtung der Theoriehintergründe und Verwendungsmuster des Begriffs steht noch aus, einen ersten Grundriss für eine solche Bilanz bietet dieses Buch. Dabei geht es nicht darum, die alten Debatten über Staatskirchentum, bürokratischen Reformismus und Katholische Aufklärung noch einmal durchzuspielen, vielmehr erörtern die Beiträge, weshalb und auf welche Weise diese Kontroversen entstanden sind und wie der Josephinismus als heuristisches Konzept funktioniert. Zu diesem Zwecke gehen die Aufsätze

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Franz Leander Fillafer, unter Mitarbeit von Thomas Wallnig

des Buches von den beiden Klassikern der Josephinismus-Forschung aus, von Eduard Winter (1896–1982) und Fritz Valjavec (1909–1960), deren erstmals 1943 und 1944 erschienenen Bücher immer noch die Diskussion beherrschen, und betten sie in die Historiographiegeschichte des 20. Jahrhunderts ein. Die präzise Lokalisierung des Josephinismus erlaubt es, drei Bereiche sorgfältiger auszuloten: Erstens wird die Bedeutung des Josephinismus für die Erforschung des 18. Jahrhunderts, für die Epochensignatur und Komplementärbegriffe der Aufklärung greifbar, besonders was den Aufgeklärten Absolutismus und die regionalen Entwicklungsspezifika der Aufklärung in verschiedenen Teilen Europas betrifft. Zweitens gestattet es die Beschäftigung mit dem Josephinismus, das Spektrum und die Spannungsfelder der historischen Methoden der Zeit aufzuschlüsseln: zwischen Geistesgeschichte und Kulturgeschichte, Volksgeschichte und Sozialgeschichte. Drittens schließlich bietet das Buch eine erste Problemskizze zur nationalsozialistischen Deutung des Josephinismus. Valjavec und Winter machten im Dritten Reich Karriere: Die Beiträge analysieren die methodischen Prämissen und kulturellen Leitbilder der Zeit vor 1945, widmen sich aber auch Kontinuität und Camouflage danach, etwa am Beispiel der volksgeschichtlich inspirierten Beschäftigung mit dem „deutschen Kultureinfluss im Osten“, die nach Kriegsende in die Erforschung der „deutsch-slawischen Wechselseitigkeit“ umgeschmolzen wurde. Ergänzt und abgerundet werden die Beiträge über Winter und Valjavec durch weitere Aufsätze, die das intellektuelle Umfeld erschließen und andere Protagonisten der Diskussion über den Josephinismus in den Nachfolgstaaten der Monarchie vorstellen: Wie wurden Winter und Valjavec in den Historiographien Zentraleuropas rezipiert? Damit bietet das Buch einen problemgeschichtlichen Aufriss, der zugleich Gehalt und Tragfähigkeit des Begriffs Josephinismus auf den Prüfstand stellt; und es versucht erstmals, sprachliche Barrieren und die Isolation nationalhistoriographischer Spezialdiskurse durch einen synoptischen Zugang zur zentraleuropäischen Region zu überwinden.

I Aufklärungsforschung: eine Bestandsaufnahme Die Historiographie über die Aufklärung ist so alt wie die Aufklärung selbst. Schon während des 18. Jahrhunderts reflektierte man Ursprünge, Verlauf und Zielpunkte des Aufklärungsprozesses, diese narrativen Strukturen bleiben bis heute untrennbar mit der Betrachtung des historischen Phänomens Aufklärung verwoben.1 Die Aufklärung war also für all jene, die an ihr Anteil hatten, nicht zuletzt ein Modus der Selbstverständigung. Das schließt freilich nicht aus, dass die Ausprägungen der Aufklärung nach Ort und Milieu variierten, dass man Vermittlungen und Übertragungsverluste auf mehreren Ebenen, jenen des Selbstverständnisses, der Denkfiguren und der gelehrten Verfahren, orten muss. 1 Dan Edelstein, The Enlightenment. A Genealogy. Chicago – London 2010; Giuseppe Ricuperati (Hg.), Historiographie et usage des Lumières. Berlin 2002.

Einleitung

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Daraus ergibt sich eine wichtige Schlussfolgerung: Die Idee, die Aufklärung sei von Frankreich ausgegangen, hat ihre eigene Geschichte. Zu einem Gutteil ist dies die Geschichte der Historisierung der Aufklärung im 19. Jahrhundert, die seit der Französischen Revolution die Geschichten der Aufklärung außerhalb Frankreichs ihrer französischen Variante immer ähnlich werden ließ.2 Die wissenschaftliche Erforschung der Aufklärung ist Teil dieses Prozesses.3 Das heißt: Die Polarität zwischen den Paradigmen der Diffusion der Aufklärung, also ihrer Ausdehnung von einem klar definierten Zentrum aus, und der polyzentrischen Struktur einer übergreifend gedachten Aufklärung, ist keineswegs neu, sie ist mitnichten bloß ein Problem der Forschung seit den 1980er Jahren.4 Bereits im frühen 20. Jahrhundert wurden diese beiden Positionen aus der Kulturpublizistik und philosophischen Literatur in geschichtswissenschaftliche Kategorien übersetzt.5 Seither hat die Pluralität der Aufklärung immer mehr Aufmerksamkeit gefunden. Als Meilenstein gilt der gehaltvolle Band von Mikuláš Teich und Roy Porter The Enlightenment in National Context,6 der 1981 erschien und zugleich zeigte, wie wenig man der Aufklärung durch eine Zergliederung nach „nationalen“ Spielarten beikommen kann. So beinhaltet Teichs und Porters Buch etwa zwei Beiträge über den vermeintlich „nationalen“ deutschen Kontext, nämlich einen über die protestantischen und einen über die katholischen deutschen Staaten, denen sich noch ein Aufsatz zum „Reformkatholizismus“ in der Habsburgermonarchie beigesellt.7 In jüngster Zeit wird der polyzentrische Zugang auf andere Weise eingefasst. So ist etwa von „lokalen Aufklärungen“8 und „Peripherien“ der Aufklärung die Rede, ohne dabei die 2

Franz Leander Fillafer, Escaping the Enlightenment. Liberal Thought and the Legacies of the Eighteenth Century in the Habsburg Monarchy, 1780–1848. Diss Konstanz 2012. 3 Daniel Brewer, The Enlightenment Past. Reconstructing Eighteenth-Century French Thought. Cambridge – New York 2008; Erszébet Bürger, Nicolai Friedrich és a magyar felvilágosodás [Friedrich Nicolai und die ungarische Aufklärung]. Budapest 1941; Timothy Hochstrasser, Carlyle and the French Enlightenment. Transitional Readings of Voltaire and Diderot. Working Papers on the Nature of Evidence: How Well Do ‘Facts’ Travel? 21/07: http://eprints.lse.ac.uk/21432/ [01.02.2015]; Catherine Thomas, Le mythe du XVIIIe siècle au XIXe siècle (1830–1860). Paris 2003; Brian Young, The Victorian Eighteenth Century. An Intellectual History. Oxford 2008; Richard Schaefer, True and False Enlightenment. German Scholars and the Discourse of Catholicism in the Nineteenth Century. In: The Catholic Historical Review 97 (2011), 24–45. 4 Vgl. Siegfried Jüttner / Jochen Schlobach (Hg.), Europäische Aufklärung(en). Einheit und nationalen Vielfalt. Hamburg 1992. 5 Vgl. als Überblick Daniela Gretz, Die deutsche Bewegung. Der Mythos von der ästhetischen Erfindung der Nation. München 2007. 6 Roy Porter / Mikuláš Teich (Hg.), The Enlightenment in National Context. Cambridge 1981. 7 Joachim Whaley, The Protestant Enlightenment in Germany. In: Roy Porter / Mikuláš Teich (Hg.), The Enlightenment in National Context. Cambridge 1981, 106–117; Timothy Blanning, The Enlightenment in Catholic Germany. In: Ebenda, 118–126; Ernst Wangermann, Reform Catholicism and Political Radicalism in the Austrian Enlightenment. In: Ebenda, 127–140. 8 Jan Golinski, Science in the Enlightenment. In: History of Science 24 (1986), 411–424; Steven Shapin, Social Uses of Science. In: George Rousseau / Roy Porter (Hg.), The Ferment of Knowledge: Studies in the Historiography of Eighteenth-Century Science. Cambridge 1980, 93–139.

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Gefälle zwischen Zentrum und Rändern eingehender zu reflektieren, oder es wird mit mehr transferheuristischem Raffinement von „Orten eigener Vernunft“ gesprochen.9 Detailstudien über konkrete Bedingungen für das implizit vorausgesetzte Übertragungsgeschehen bleiben eher die Ausnahme, ebenso wäre zu klären, wie die Spielarten der Aufklärung mit ihren lokalen Bedingungen und ihrem Umfeld in Beziehung gesetzt werden können. Rudolf Vierhaus, einer der bedeutendsten deutschen Historiker des 18. Jahrhunderts, hat schon 1995 darauf aufmerksam gemacht, dass „die Aufklärung ‚ihr‘ Jahrhundert“ nie „ausschließlich oder auch nur überwiegend“ beherrschte. „Ältere Denktraditionen, Anschauungen und Sozialisationsweisen haben sich unterschiedlich stark und lange neben ihr behauptet: orthodoxer Protestantismus, tridentinischer Barockkatholizismus, jesuitisches Bildungskonzept, späthumanistische Gelehrsamkeit [...].“ Zugleich hat Vierhaus auf „andere geistig-soziale Bewegungen“ hingewiesen, die das Jahrhundert als „Komplementärerscheinungen“ mitgeprägt haben, wie Pietismus und Empfindsamkeit. Wieder andere, die sich gegen die Aufklärung wandten, „sind ohne sie nicht zu denken: literarische Klassik und frühe Romantik, philosophischer Humanismus und neuhumanistische Bildungsidee“.10 Nun ist Polyzentrik nicht gleichbedeutend mit der Aufspaltung der Aufklärung in regionale Untersuchungseinheiten. Man kann diese Pluralität auch anhand von überregionalen Gebilden und Schnittmengen erarbeiten, Jonathan Israels mehrbändige Serie über die Aufklärung ist das gewichtigste Beispiel für diesen Zugang: Er unterscheidet zwischen einer „radikalen Aufklärung“, einer „moderaten“ oder „konservativen Aufklärung“ und der „Gegenaufklärung“.11 Auch bei diesem von Quellenfülle und Stoffbeherrschung getragenen Versuch, die Erforschung der Aufklärung gesamteuropäisch zu erfassen, bleibt Nordwesteuropa deren Herzland. Diese Beschränkung versucht John Robertson in seiner Studie über Schottland und Neapel zu umgehen. Er statuiert hier eine einheitliche Aufklärung, die sich vor allem aus der epikuräischen Skepsis und der politischen Ökonomie speiste und sich – trotz sehr unterschiedlicher politischer und ökonomischer Voraussetzungen – am Golf von Neapel wie am Firth of Forth in verwandten Kernanliegen und Ideen äußerte.12 David Sorkin schließlich hat in seinem Buch The Religious Enlightenment die religiöse Aufklärung in Europa als Gruppenbild jüdischer, anglikanischer, katholischer und protestantischer Gelehrter des 18. Jahrhunderts dargestellt, die Szenenfolge beginnt im Cambridge William Warburtons und 9 Richard Butterwick, Peripheries of the Enlightenment. Oxford 2008; Alexander Kraus / Andreas Renner (Hg.), Orte eigener Vernunft. Europäische Aufklärung abseits der Zentren. Frankfurt am Main / New York, 2008. 10 Rudolf Vierhaus, Was war Aufklärung? Göttingen 1995, 5f. 11 Jonathan Israel, Radical Enlightenment. Philosophy and the Making of Modernity, 1650–1750. Oxford 2001; Id., Enlightenment Contested. Philosophy, Modernity, and the Emancipation of Man, 1670–1752. Oxford 2006; Id., Democratic Enlightenment. Philosophy, Revolution, and Human Rights, 1750–1790. Oxford 2011. Vgl. jüngst Jonathan Israel / Martin Mulsow (Hg.), Radikalaufklärung, Berlin 2014, fundiert zu den philosophischen Vorannahmen, die Israels „Spinozismus“ als Grundstock seiner „radikalen Aufklärung“ prägen: Anthony La Vopa, A New Intellectual History? Jonathan Israel’s Enlightenment. In: The Historical Journal 52 (2009), 717–738. 12 John Robertson, The Case for the Enlightenment. Scotland and Naples, 1680–1760. Cambridge 2005.

Einleitung

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führt über die Aktivitäten des Kirchenrechtlers und Regierungskommissars Joseph Valentin Eybel in Wien und Linz bis ins Paris Adrien Lamourettes.13 Sorkin bildet freilich eine Ausnahme: Der „Josephinismus“, dem sich der vorliegende Band widmet, wird in den Werken der aktuellen Aufklärungshistoriographie wie auch in allgemeinen Überblicksdarstellungen allenfalls der Vollständigkeit halber erwähnt, eine ernstzunehmende Auseinandersetzung mit dem Begriff sucht man zumeist vergebens. Auch das zuletzt erschienene Handbuch Europäische Aufklärung kommt ohne das Lemma „Josephinismus“ aus; auf einen Beitrag über die habsburgischen Länder hat man verzichtet, während Polen, die Schweiz und Spanien aufgenommen wurden.14 Diese Vernachlässigung hängt mit mehreren Faktoren zusammen. Zum einen fällt hier die asymmetrische Kenntnisnahme zentraleuropäischer Literatur in Westeuropa ins Gewicht. Während es für die Historiographie in Zentraleuropa zu den selbstverständlichen Usancen gehört, englisch- und französischsprachige Literatur zu rezipieren, fehlt dort bis auf wenige Ausnahmen eine vergleichbare Tradition der Auseinandersetzung. Dazu kommen die unterschiedlichen disziplinären und akademischen Ausprägungen und Zugehörigkeiten einschlägiger Fächer, etwa der „history of ideas“ und „intellectual history“.15 In Deutschland waren es ganz wesentlich Romanisten und Germanisten, die nach 1945 die Aufklärungsforschung lancierten, während die Geschichte Europas in den USA ressourcenmäßig und thematisch über Jahrzehnte von der fachlich exzellent verankerten französischen Geschichte aufgesaugt wurde.16 Dieser Frankreichfokus erklärt sich wiederum aus modernisierungstheoretischen Prämissen. Dabei fällt auf, dass diese Vorstellungen ihren Entstehungskontext insofern überdauern konnten, als Regionen, die einmal als „rückständig“ klassifiziert waren, auch nach der Demontage der Modernisierungstheorie marginalisiert blieben. Darüber hinaus hat sich der kulturprotestantische Fokus, die Ableitung der Aufklärung aus spezifisch protestantischen Quellen, als hinderlich erwiesen: Die Aufklärung im katholischen Europa war nicht der Rede wert, solange sich die Nachahmungstheorie hielt, die Auffassung, nach der es sich bei der Aufklärung auf der iberischen Halbinsel, in Italien und 13 David Sorkin, The Religious Enlightenment. Protestants, Jews, and Catholics from London to Vienna. Princeton 2011. 14 Heinz Thoma (Hg.), Handbuch europäische Aufklärung. Begriffe – Konzepte – Wirkung. Stuttgart – Weimar 2015. 15 Ernst Schulin, German „Geistesgeschichte“, American „Intellectual History“ and French „Histoire des Mentalités“ since 1900. A Comparison. In: History of European Ideas 1 (1981), 195–214; Franz Leander Fillafer, Auszug aus Cambridge. In: Zeitschrift für Ideengeschichte 9/1 (2015), 115–118. 16 Holger Dainat / Wilhelm Vosskamp (Hg.), Aufklärungsforschung in Deutschland. Heidelberg 1999; Carsten Zelle (Hg.), 20 Jahre DGEJ. Aufklärungsforschung – Bilanz und Perspektiven. Wolfenbüttel 1995; Monika Neugebauer-Wölk / Markus Meumann / Holger Zaunstöck (Hg.), 25 Jahre Deutsche Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts. Zur Geschichte einer Wissenschaftlichen Vereinigung (1975–2000). Wolfenbüttel 2000. Die amerikanische Forschung zur deutschsprachigen Aufklärung war zumeist auf Kant und seine „Vorläufer“ zugespitzt, vgl. als wichtige revisionistische Arbeit Lewis White Beck, Early German Philosophy: Kant and his Predecessors. Cambridge, Mass. 1969.

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Ostmitteleuropa nur um einen verdünnte Version englischer, niederländischer und französischer Vorbilder gehandelt habe. Dass eines der Kernländer der Aufklärung, Frankreich, eben katholisch war, stellte für dieses Schema deshalb kein Problem dar, weil man von einer antiklerikalen, vor allem antikatholischen Quintessenz der Aufklärung ausgehen zu müssen glaubte. Dass diese Rechnung aufging, hat freilich mit den Verwerfungen und Rückübertragungen im 18. Jahrhundert zu tun: Die philosophes haben gegen érudition und jesuitische Katholische Aufklärung die lumières geschichtsmächtig für sich selbst reklamiert.17 I.1 Geschichtspolitik an der „Peripherie“: Aufklärung jenseits der Zentren und nationale/regionale Identitätsdiskurse Bei näherer Betrachtung zeigt sich also die Kontingenz, zeigen sich die Nahtstellen und Verwerfungen der Geschichte der Aufklärung in Frankreich. Diese Brüche sind auch wichtig, wenn es darum geht, die Politik der Indigenisierung „autochthoner“ Traditionen anderswo unter die Lupe zu nehmen. Seit dem 18. Jahrhundert war es Schicksal und Trumpf der Intellektuellen an den europäischen Peripherien, die eigenen Geschichten defizitär auf eine vermeintlich geschlossene Entwicklung im „Zentrum“ zu beziehen.18 Dabei ist die wiederkehrende Grundunterscheidung jene zwischen „wurzellosen“ Aufklärern und Liberalen sowie vermeintlich indigenen konservativen, klerikalen oder bäuerlich-nationalen Legitimitätsspendern. Der Historiker Javier Herrero hat diese Dichotomie erkannt und 1971 im frankistischen Spanien den Spieß umgedreht. Gegen die in der faschistischen Diktatur hochgeschätzte hausgemachte katholische Reaktion und gegen Marcelino Menéndez Pelayos Historia de los heterodoxos españoles (1880–1882) hat Herrero darauf hingewiesen, dass die apologetische Literatur Spaniens keineswegs dem Reinheitsgebot der Autochthonie genügte, dass sie vielmehr bis in Details von französischen Vorbildern abhängig war.19 Die vielgepriesene spanische Gegenaufklärung, die man gegen Frankreich ins Treffen führte, speiste sich aus französischen Quellen. Ähnliche Muster zeigen sich an anderen Peripherien: Die Konfrontation zwischen Slawophilen und Westlern ist die bekannteste Spielart dieses Gegensatzes, berühmt die Szene in Iwan Turgenjews Rauch, in der Potugin unter dem Eindruck des Londoner Kristallpalasts seine russischen Landsleute dafür schilt, „einen alten abgetragenen Schuh, der Saint-Simon oder Fourier vom Fuß gerutscht ist“, wie ein Heiligtum anzubeten, während sie un17 Jeffrey Burson, The Rise and Fall of Theological Enlightenment. Jean-Martin de Prades and Ideology in Eighteenth-Century France. Notre Dame 2010; Céline Spector, Les Lumières avant les Lumières. Tribunal de la raison et opinion publique. In: Revolution française.net 3/2009: http://revolution-francaise. net/2009/03 [08.02.2015]. 18 Vgl. Stefan Nygård / Johan Strang, Facing Asymmetry. Nordic Intellectuals and Center – Periphery Dynamics in European Cultural Space [erscheint 2015 im Journal of the History of Ideas]. Ich danke Stefan Nygård und Johan Strang für die Überlassung des Manuskripts dieses wichtigen Beitrags. 19 Javier Herrero, Los orígenes del pensiamento reaccionario español. Madrid 1971; Carmen Iglesias, El siglo de las luces en la obra de Menéndez Pelayo. In: Gonzalo Anes y Alvárez de Castrillón (Hg.), 150 aniversario del nacimiento de don Marcelino Menéndez Pelayo. Madrid 2007, 67–86.

Einleitung

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fähig seien, etwas Eigenes zu schaffen.20 Auf die Wirkmacht der Polarität von Obskuranz und Westbindung hat jüngst Manolis Patiniotis hingewiesen. Wie er zeigt, durchzieht diese Gegenüberstellung als Grundopposition die Praxis der griechischen Wissenschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert: Der von Patiniotis herausgearbeitete Gegensatz zwischen der „progressiven“ Nachahmung der westlichen Zentren und der „konservativen“ Eigenbrötelei bildet eine narrative Basisstruktur, die man auch in der Aufklärungsforschung an anderen Peripherien wiederfindet: auch sie wurde, wie in Spanien und Griechenland so auch in Südosteuropa, Ostmitteleuropa, Skandinavien und Lateinamerika, lange als Analyse erfolgter oder unterbliebener Verwestlichung betrieben.21 Dieses Verspätungsmodell schließt natürlich keineswegs aus, dass innerhalb jeder „Peripherie“ weitere Schattierungen und Abstufungen möglich sind, dass gegensätzliche Regionalidentitäten arbeitsteilig weitergepflegt werden. Antonio Trampus weist das in seinem Beitrag zur italienischen Historiographie für die Lombardei und die Toskana nach,22 Ähnliches gilt für die josephinischen Reformen in Galizien, die zum Vergleichsobjekt in der innerpolnischen Modernisierungsdiskussion wurden.23 Die russische Aufklärung bietet sich als drittes Beispiel an. Hier lässt sich zeigen, wie Kulturträger-Ideologeme innerhalb einer vermeintlichen „Peripherie“ gegeneinander ausgespielt und dabei verschiedene historische Überlieferungsschichten und geopolitisch abgesicherte Europabilder eingesetzt werden. Im Langzeitprojekt zur osteuropäischen Aufklärung, das Eduard Winter während seiner Hallenser und Ostberliner Zeit betreute,24 wurde der Versuch unternommen, die Aufklärung Osteuropas im Rahmen der „deutsch-slawischen Wechselseitigkeit“ als der westeuropäischen Aufklärung ebenbürtig darzustellen. Natürlich sei die Aufklärung im Verlauf von West nach Ost anders getaktet gewesen, selbstverständlich habe sich die verzögerte Wirksamkeit der Aufklärung auf die Umsetzung ihrer europaweit gültigen Anliegen ausgewirkt, das spreche jedoch nicht gegen die metaregionale Erfassung objektiv gesetzmäßiger Faktoren.25 In den 1990er Jahren hat 20 Iwan Turgenjew, Rauch. Ein König Lear aus dem Steppenland, übers. von Johannes von Guenther, In: Id., Gesammelte Werke in Einzelbänden, 4. Berlin 1952, 114. Rauch erschien erstmals 1867. 21 Manolis Patiniotis, Origins of the Historiography of Modern Greek Science. In: Nuncius 23 (2008), 264–289. 22 Siehe den Beitrag von Antonio Trampus in diesem Band, 295f., 299f. 23 Vgl. Stanisław Grodziski, Die Beziehungen zwischen Österreich und Polen im Lichte der polnischen Historiografie des 19. Jahrhunderts. In: Österreichische Osthefte 32 (1990), 240–252; Larry Wolff, Inventing Galicia. Messianic Josephinism and the Recasting of Partitioned Poland. In: Slavic Review 63 (2004), 818–840. 24 Die beste Dokumentation bieten die Festschriften für Eduard Winter, vgl. Hans-Holm Bielfeldt (Hg.), Deutsch-slawische Wechselseitigkeit in sieben Jahrhunderten. Eduard Winter zum 60. Geburtstag dargebracht. Berlin 1956; Wolfgang Steinitz (Hg.), Ost und West in der Geschichte des Denkens und der kulturellen Beziehungen. Festschrift für Eduard Winter zum 70. Geburtstag. Berlin 1966; Gerhard Oberkofler / Eleonore Zlabinger (Hg.), Ost-West-Begegnung in Österreich. Festschrift für Eduard Winter zum 80. Geburtstag, Wien – Graz 1976. 25 Zur marxistischen Kombination von universal-objektiven Entwicklungspatterns der Sozialgeschichte und der Diagnose geistesgeschichtlicher Eigengesetzlichkeiten und „Verspätungen“, sowie weiters zu den Aporien, die diese Verbindung vor allem in der DDR-Historiographie produzierte, vgl. Horst Möll-

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der amerikanische Historiker Max J. Okenfuss Winters Thesen über die russische Aufklärung zu widerlegen versucht, indem er Russland ebenfalls Europa einverleibte, aber dazu eine andere Überlieferungsschiene aufbaute: Okenfuss zufolge stellte der „lateinische Humanismus“ das gemeinsame Bildungsgut Europas im 17. und 18. Jahrhundert dar, der polnisch-litauische orthodoxe Klerus habe diesen Humanismus auch im „Moskauer“ Russland verbreitet. Erst die marxistische Historiographie rund um Winter habe laut Okenfuss seit den 1950er Jahren versucht, eine „russische Aufklärung“ aus dem Hut zu zaubern: Unter antiklerikalen Vorzeichen und als Bestätigung der großrussischen Führungsrolle im sowjetpatriotischen Geschichtsbild sollen diese Historiker die russische Aufklärung als Leitbild für die Erforschung des 18. Jahrhunderts in Ostmitteleuropa konstruiert haben. Winter und seine Nachfolger hätten also die Suprematie eines angeblich „aufgeklärten“ Moskauer Zentrums gegenüber der kleinrussisch-ukrainischen Gelehrsamkeit behauptet, das Sowjetreich als politisch-intellektuellen Vorreiter eines neuen, besseren Europa positioniert26 und zugleich durch die Marginalisierung des lateinischen Humanismus einen alternativen, älteren europäischen Kulturraum mit seiner kirchlichen Gelehrsamkeit aus der Geschichte getilgt.27 Erst neuerdings reift die Einsicht, dass jeder Ort ein Zentrum ist. Nunmehr werden die lokalen Entstehungsbedingungen der Aufklärung ergründet und die ebenso spezifischen Voraussetzungen für ihre Teilaneignung und selektive Fortbildung an den „Peripherien“, etwa am Beispiel des kopernikanischen Weltbilds und des Newtonianismus aufgezeigt,28 das 18. Jahrhundert wird als goldenes Zeitalter der Übersetzung neu entdeckt.29 Vor allem geht es hier auch darum, interregionale Verstrebungen und Querverbindungen aufzuzeigen, die sich vor der Aufklärung herausbildeten, überhaupt darum, die Aufklärung als Resultat unterschiedlicher Überlieferungsreihen darzustellen und die jeweiligen lokalen Bedingungen dieser Prozesse zu klären.30 er, Die Interpretation der Aufklärung in der marxistisch-leninistischen Geschichtsschreibung. In: Zeitschrift für historische Forschung 4 (1977), 438–472. 26 Vgl. dazu auch den Kommentar des tschechoslowakischen Musikologen und Kulturministers Zdeněk Nejedlý, O Evropě [Über Europa]. In: Var 3 (1950) Nr. 3, 69 (die Sowjetunion als „wahres Europa“, das die „besten Traditionen“ des Kontinents verkörpere). 27 Max Okenfuss, The Rise and Fall of Latin Humanism in Early-Modern Russia. Pagan Authors, Ukrainians, and the Resiliency of Muscovy. Leiden 1995, 223–230; vgl. Claus Scharf, Aufklärung „von oben“: Das Russische Reich. In: Wolfgang Hardtwig (Hg.), Die Aufklärung und ihre Weltwirkung. Göttingen 2010, 169–202, hier 174. 28 Manolis Patiniotis, Periphery Reassessed: Eugenios Voulgaris Converses with Isaac Newton. In: British Journal for the History of Science 40 (2007), 471–490; B. Harun Küçük, Early Enlightenment in Istanbul. Diss University of California San Diego 2012. 29 Fania Oz-Salzberger, Translating the Enlightenment. Scottish Civic Discourse in Eighteenth-Century Germany. Oxford 1995; Edoardo Tortarolo, Diesseits und jenseits der Alpen. Deutsche und italienische Kultur im 18. Jahrhundert. Leipzig 2011; Michael Schippan, Die Aufklärung in Russland im 18. Jahrhundert. Wiesbaden 2012, 265–400. 30 Charles Withers, Placing the Enlightenment. Thinking Geographically about the Age of Reason. Chicago 2007; Carla Hesse, Toward a New Topography of Enlightenment. In: European Review of History / Revue Européenne d’Histoire 13 (2006), 499–508.

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Das vorliegende Buch stellt einen Beitrag zu dieser Problemdiagnose der Aufklärungshistoriographie in „peripheren“ Regionen dar. Für die Habsburgermonarchie ist derlei bisher noch nicht geleistet worden. Daneben steht ein zweites Kernanliegen des Buches, es thematisiert erstmals in gebündelter und komparativer Form die Aufklärungshistoriographie unter dem NS-Wissenschaftsregime am Beispiel des Josephinismus. Die Ausgangslage für dieses zweite Erkenntnisinteresse unseres Buches und seine Gewichtung skizziert der folgende Abschnitt. I.2 Josephinismus unter dem Hakenkreuz Die Beiträge dieses Buches machen die Aufklärungsforschung im Nationalsozialismus zum Thema und zeigen damit unbekannte Aspekte der Kontinuität und Camouflage „kämpfender Wissenschaft“ und ihrer Deutungsmuster an einem bislang kaum bearbeiteten Beispiel auf. In der Tat wurde der Ort der Aufklärungsforschung in der NS-Wissenschaftspolitik bislang kaum berücksichtigt. Die Aufklärungs-Historiographie unter der Ägide des Nationalsozialismus erschöpfte sich nicht nur in stereotypen Parolen, sie hat bisher weniger Beachtung gefunden, die Polemik des Regimes und seiner Gefolgsleute gegen „Weltbürgertum“ und „Freimaurerei“ stellen nur die Spitze eines Eisbergs dar. Gerade am Beispiel Eduard Winters und Fritz Valjavecs lässt sich zeigen, wie der Volkstumskampf und die Kultureinflussforschung aus den Jahren der Zwischenkriegszeit in das polykratische und unübersichtliche NS-Wissenschaftssystem integriert wurden und mit welchen spezifischen Anpassungsschwierigkeiten, Akkomodationsgesten und Leerläufen das geschah.31 So können konkurrierende Leitbilder und Paradigmenkämpfe in der Südostforschung, den Wissenschaftsmilieus der Volkstumsverbände und der auslandsdeutschen katholischen Bewegung rekonstruiert werden. Zugleich vermitteln diese Untersuchungen Einblicke in die Wissenschaftspolitik der NS-Forschungsstiftungen und der Universitäten der Zeit: Vor allem zeigt sich, wie heikel sich das Abgleichen älterer Interpretamente, die verschiedene völkische und religiöse Programme der 1920er und 1930er Jahre widerspiegelten, mit den durch Staat und Partei sanktionierte Deutungsdirektiven gestaltete. So fällt neues Licht auf die Verbindungslinien zwischen dem „Reformkatholizismus“ und der Wissenschaft unter dem Nationalsozialismus, aber auch auf die Funktion von Bollwerkmythen, von Kulturträger-Mission und Raumforschung. Die hier vorgestellten Ergebnisse bieten Anregungen für die Erforschung des Nationalsozialismus in den Geistes- und Kulturwissenschaften. Der im Folgenden erprobte Ansatz wäre auch auf andere Werke der Aufklärungshistoriographie anzuwenden, auf Max Wundts Schulphilosophie der deutschen Aufklärung oder auf Alfred Baeumlers Werke über Kant und den Irrationalismus.32 Dabei liefert der Band auch Anhaltspunkte für Konjunkturen systemüber31 Harmut Lehmann / Otto Gerhard Oexle (Hg.), Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften, 1: Fächer – Milieus – Karrieren; 2: Leitbegriffe – Deutungsmuster – Paradigmenkämpfe. Erfahrungen und Transformationen im Exil. Göttingen 2004. 32 Vgl. Max Wundt, Die Schulphilosophie der deutschen Aufklärung. Tübingen 1945; Alfred Baeumler,

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spannender, gleichsam regimeinvarianter Deutungen: Die Haltbarkeit der Josephinismusbücher Eduard Winters und Fritz Valjavecs hat sich bis in die jüngste Zeit erwiesen, wobei in Rechnung zu stellen ist, dass in der Geschichtswissenschaft im Allgemeinen und gerade in der Ost- und Südostforschung das wissenschaftliche Personal mit seinen Zitierkartellen nach 1945 überwiegend unbehelligt weiterwirken konnte. Hier muss die Frage gestellt werden, aus welcher Konstellation sich die Resonanz und langfristige Wirkung der Problemformulierung bei Winter und Valjavec erklärt. Diese Perspektive leitet zum dritten Anliegen des Buches über, zur zentraleuropäischen Dimension. I.3 Zentraleuropäische Geschichtsschreibung Die Historiographiegeschichte Zentraleuropas hat man bislang kaum übergreifend behandelt.33 In der Region erscheinen zunehmend Arbeiten, in denen teils auch die Rolle der Institutionen der Monarchie in der Entstehung der nationalen Historiographien mitreflektiert wird, hier steht die Bedeutung der 1854 gegründeten „Wiener Schule“ der Geschichtsforschung, des späteren IfÖG, im Mittelpunkt: Das Absolvieren des IfÖG-Lehrgangs galt lange als wichtigste Entréebillet für die Archiv- und Universitätslaufbahn in Cisleithanien.34 Vergleichende Studien, die sich den Überkreuzungen und Schnittstellen zwischen den Nationalhistoriographien widmen, sind aber rar, allenfalls wird diesen Fragen noch in der slowakischen Historiographiegeschichte nachgespürt, wenn es um die Inkorporation der lokalen

Das Irrationalismusproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft, Halle an der Saale 1923; Id., Studien zur deutschen Geistesgeschichte. Berlin 1937; Hans Jörg Sandkühler (Hg.), Philosophie im Nationalsozialismus. Hamburg 2009. 33 Vorzügliche Ausnahmen sind Emil Niederhauser, A történetírás története Kelet-Európában [Geschichte der Geschichtsschreibung in Osteuropa]. Budapest 1996; Josef Macůrek, Dějepisectví evropského východu [Geschichtsschreibung Osteuropas]. Praha 1946; jüngst am Beispiel der natio­ nalliberalen Geschichtsschreibung von Litauen bis Rumänien anhand von fünf Historikern des 19. Jahrhunderts souverän: Monika Baár, Historians and Nationalism. East-Central Europe in the Nineteenth Century. Oxford 2010. Vgl. auch Maciej Janowskis eleganten Vergleich von Gyula Szekfű, Josef Pekař und Michał Bobrzyński: Maciej Janowski, Three Historians. In: CEU History Department Yearbook 2001–2002, 199–232. 34 Ivan Hlaváček, Tzv. Gollova škola a vídeňský “Institut“ [Die sogenannte Goll-Schule und das Wiener „Institut”]. In: Bohumil Jiroušek / Josef Blüml / Dagmar Blümlová (Hg.), Jaroslav Goll a jeho žáci. České Budějovice 2005, 77–90, zur Gründungsphase: Miloš Řezník, Wácslaw Wladiwoj Tomek, das Ministerium für Cultus und Unterricht und die Einführung der historischen Seminare in Österreich: die Institutionalisierung der Geschichtswissenschaft zwischen Staat, Nation und akademischer Neuorientierung. In: Christine Ottner-Diesenberger / Klaus Ries (Hg.), Geschichtsforschung in Deutschland und Österreich im 19. Jahrhundert. Ideen – Akteure – Institutionen. Stuttgart 2014, 139–157. Über die ungarische Archivdelegation am Haus-, Hof- und Staatsarchiv vgl. Imre Ress, Die Ungarische Archivdelegation in Wien als eine Institution zur Lösung von grenzüberschreitenden Archivproblemen. In: Scrinium 36–37 (1987), 264–272; sowie Michael Silagi, Die internationalen Regelungen zum Archivgut der Habsburgermonarchie nach 1918. Zum Schicksal von Archiven beim Staatszerfall. In: Südostforschungen 55 (1996), 311–333.

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Geschichtsforschung in die neue tschechoslowakische Wissenschaftskultur geht.35 Die Wissenschaftsbeziehungen zwischen dem österreichischen Rumpfstaat und seinen neuen Nachbarn nach 1918 haben dagegen wenig Aufmerksamkeit gefunden, das Gleiche gilt für die Zeit nach 1945, als die Grenze zwischen den Blöcken unüberwindbar schien. Zwischen diesen beiden Phasen liegt die nationalsozialistische Okkupation der Region, die in mehreren Schüben auch die Wissenschaftslandschaft der besetzten Länder erfasste. Winter und Valjavec haben beide als Sachverständige und Lehrende im NS-Wissenschaftssystem gewirkt, volkstumspolitisches Primärmaterial aufbereitet und ihre Expertise auf verschiedene Weise in den Dienst der Erschließung des „deutschen Ostens“ gestellt, auch indem sie die Brückenfunktion der dort siedelnden „Deutschen“ betonten und die nationalitätenpolitischen Konsequenzen des „Josephinismus“ unter diesem Blickwinkel analysierten. Erstaunlicherweise wurde dieser spezifische Subtext ihrer Arbeiten bisher kaum beachtet, das vorliegende Buch versucht hier Abhilfe zu schaffen. Daneben lenkt es den Blick auf die Zeit nach 1945. Auch hier liegen, mit Ausnahme einzelner Studien über die national-marxistische Historiographie der Ostblockländer wenig regional-komparative Arbeiten vor.36 Unser Band dokumentiert erstmals den Nachhall von Winters und Valjavecs Josephinismus-Konzeptionen in der zentraleuropäischen, südosteuropäischen und italienischen Historiographie nach 1945 und versucht so, eine länderübergreifende Gesamtschau zu ermöglichen. Damit sind die allgemeine Ausgangssituation und die Zielvorgaben unseres Buches abgesteckt. Der folgende Abschnitt der Einleitung diskutiert zunächst die Unschärfen des Josephinismusbegriffs, damit werden auch schlaglichtartig die Probleme, die sich für Eduard Winter und Fritz Valjavec stellten, skizziert. Im abschließenden dritten Teil der Einleitung folgen zwei werkbiographische Medaillons zu Winter und Valjavec.

II Auf der Suche nach der „österreichischen“ Aufklärung: der Josephinismus als Forschungsproblem Die Beiträge des Buches bieten keine Reprisen vertrauter Motive, sie vermeiden es, bekannte Bruchlinien fortzusetzen: Was im Gegenteil angestrebt wird, ist die kritische Durchleuchtung überlieferter Interpretamente aus historiographiegeschichtlicher Perspektive. Die nächsten Seiten diskutieren jene konzeptuellen Unschärfen, welche die Polyvalenz des Begriffes Josephinismus bedingen. Vier Valenzen des Begriffs scheinen uns besonders beachtenswert: erstens die Unschärfe zwischen Josephinismus und Aufklärung, also katholischer sowie anderweitig religiös fun35 Vgl. Milan Ducháček, Václav Chaloupecký. Československý historik a archivář (1882–1951) [Václav Chaloupecký. Tschechoslowakischer Historiker und Archivar (1882–1951)]. Diss Praha 2012. 36 Maciej Górny, „Die Wahrheit ist auf unserer Seite“. Nation, Marxismus und Geschichte im Ostblock, übers. von Peter Oliver Loew / Błażej Białkowski / Andreas Warnecke. Köln – Wien – Weimar 2011; Stefan Guth, Erzwungene Verständigung? Die Kommission der Historiker der DDR und der Volksrepublik Polen, 1956–1990. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 57 (2009), 497–542.

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dierter bzw. radikaler Aufklärung (II.1); zweitens das Verhältnis zwischen Josephinismus und Aufgeklärtem Absolutismus (II.2); drittens die Zeitdimension des Josephinismus als Epochenideologem oder als Summe von Lebensläufen der „Josephiner“ (II.3); viertens die Diskrepanz zwischen nationalen historiographischen Mustern der Aufklärungsforschung, die häufig die Debatten über die josephinischen Reformen in den landespatriotischen Milieus um 1800 fortsetzen (II.4). Dies führt uns zu einer abschließenden Beobachtung über den Zusammenhang zwischen Josephinismusforschung und defensivem Grenzland-Deutschtum (II.5). II.1 Welche Aufklärung? Der Josephinismus gilt als Spielart der Katholischen Aufklärung.37 Nun lässt sich die Frage, ob eine Aufklärung in katholischen Ländern überhaupt möglich sei, bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen, in beiden christlich-konfessionellen Lagern hat diese Polemik bis in die jüngere Zeit nachgewirkt: Die Tendenz, die Aufklärung für den Protestantismus zu beanspruchen und Entwicklung im katholischen Kontext defizitär auf diese zu beziehen, findet sich etwa bei Notker Hammerstein,38 während die katholische Selbstorientalisierung, die Abgrenzung von der Aufklärung, sich aus der vormärzlichen Restauration bis in die jüngsten Arbeiten Harm Kluetings fortsetzt.39 Zwischen diesen beiden Polen existiert freilich seit mehreren Jahrzehnten eine facettenreiche Literatur zur Katholischen Aufklärung,40 deren narrati37 Vgl. Elisabeth Kovács (Hg.), Katholische Aufklärung und Josephinismus. Wien 1979; Harm Klueting / Norbert Hinske (Hg.), Katholische Aufklärung – Aufklärung im katholischen Deutschland. Hamburg 1993. – Der folgende Band erschien am Ende der Redaktionsphase dieses Buches und konnte nicht mehr gebührend berücksichtigt werden: Rainer Bendel / Norbert Spannenberger (Hg.), Katholische Aufklärung und Josephinismus. Rezeptionsformen in Ostmittel- und Südosteuropa. Köln – Weimar – Wien 2015. 38 Notker Hammerstein, Aufklärung und katholisches Reich. Untersuchungen zur Universitätsreform und Politik katholischer Territorien des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation im 18. Jahrhundert. Berlin 1977. 39 Harm Klueting, The Catholic Enlightenment in Austria or the Habsburg Lands. In: Ulrich Lehner / Michael Printy (Hg.), A Companion to the Catholic Enlightenment in Europe. Leiden – Boston 2010, 127–164, 157f. – Vgl. zu diesen Mustern: Manuel Borutta, Antikatholizismus. Deutschland und Italien im Zeitalter der europäischen Kulturkämpfe. Göttingen 2010. 40 Guter neuer Überblick bei: András Forgó, Katolikus felvilágosodás és politikai reformmozgalom [Katholische Aufklärung und die politische Reformbewegung] In: István Szijártó / Zoltán Gábor Szűcs (Hg.), Politikai elit és politikai kultúra a 18. század végi Magyarországon. Budapest 2012, 120–146; Id., A katolikus felvilágosodás a német nyelvű történetírásban [Die katholische Aufklärung in der deutschsprachigen Geschichtsschreibung]. Zur „vielfältig schillernde[n]“ Katholischen Aufklärung Franz Schnabel, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, 4: Die religiösen Kräfte. Freiburg im Breisgau 1937, 11. Elisabeth Kovács, Ultramontanismus und Staatskirchentum im theresianisch-josephinischen Staat. Der Kampf der Kardinäle Migazzi und Frankenberg gegen den Wiener Professor der Kirchengeschichte Ferdinand Stöger, Wien 1975; Elisabeth Garms-Cornides, Lodovico Antonio Muratori und Österreich. In: Römische Historische Mitteilungen 13 (1971), 333–351; Robert Evans, Über die Ursprünge der Aufklärung in den habsburgischen Ländern. In: Das achtzehnte Jahrhundert und Österreich 2 (1985), 9–31; Id., Die Universität im geistigen Milieu der habsburgischen Länder

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ve Anordnung sich mittlerweile zu einem stabilen Muster verdichtet hat: Niemand, der sich zur Aufklärung in katholischen Regionen äußert, scheint umhin zu können, das Vorhandensein des Gegenstandes zu rechtfertigen und damit die Herkunftserzählung zu begründen, die üblicherweise zum Würzburger Kirchenhistoriker Sebastian Merkle zurückführt.41 In Westeuropa hat man noch am ehesten diesen Aspekt der Katholischen Aufklärung wahrgenommen, Bernard Plongeron und Derek Beales haben hier Pionierarbeit geleistet.42 Erst in den letzten Jahren beginnt man sich für die Aufklärung bei den anderen religiösen Gruppen der Monarchie, bei Juden und Protestanten, bei den Griechisch-Katholischen und bei den Orthodoxen zu interessieren.43 Dass die Josephinismuskonzeption mit dieser Konnotation „religiöser Aufklärung“ aufgeladen ist, kommt nicht von ungefähr. Der Begriff „Josephinismus“ stammt aus einer kirchen- und konfessionspolemischen Konstellation des Vormärz, damals war er eindeutig auf die Staatskirche bezogen.44 Der Begriff „Josephiner“ ist älter, er begegnet uns schon in den Quellen aus der Regierungszeit Josephs II.: so widmete etwa der Čáslaver empfindsame Bankalinspektor und Polymath Johann Ferdinand Opiz 1784 in seinem Manuskript Polygraphische Ephemeriden einige Seiten einer Widerlegung von Joseph Grossingers Unwahrscheinlichkeiten, einer Polemik gegen die Ungarnpolitik Josephs II. Opiz plante, seinen Geheimbund gegen „Jesuitengift“ „Josephiner“ zu nennen.45 Diese Bedeutungsebene ermöglicht es aber (17.-18. Jhdt.). In: Alexander Patschovsky / Horst Rabe (Hg.), Die Universität in Alteuropa. Konstanz 1994, 183–204; Teodora Shek Brnardić, Svijet Baltazara Adama Krčelića. Obrazovanje na razmeđu tridentskoga katolicizma i katoličkoga prosvjetiteljstva [Baltazara Adama Krčelićs Welt. Ausbildung zwischen tridentinischem Katholizismus und katholischer Aufklärung]. Zagreb 2009; Annali del Collegio Ungaro-Illirico di Bologna, 1553–1764, Bologna 1988; Walter Markov, Bemerkungen zur südslawischen Aufklärung. In: Deutsch-slawische Wechselseitigkeit in sieben Jahrhunderten, wie Anm. 24, 349–366. 41 Dominik Burkhard, Sebastian Merkle (1862–1945). Leben und Werk des Würzburger Kirchenhistorikers im Urteil seiner Zeitgenossen. Paderborn 2014; Jeffrey Burson, Introduction. Catholicism and Enlightenment, Past, Present, and Future. In: Jeffrey Burson / Ulrich Lehner (Hg.), Enlightenment and Catholicism in Europe. A Transnational History. Notre Dame 2014, 1–40. 42 Bernard Plongeron, Recherches sur l’Aufklärung catholique en Europe occidentale, 1770–1830. In: Revue d’histoire moderne et contemporaine 16 (1969), 555–605; Derek Beales, Christians and ‘philosophes’: the case of the Austrian Enlightenment. In: Id. / Geoffrey Best (ed.), History, Society, and the Churches. Essays in Honour of Owen Chadwick. Cambridge 1985, 169–194, neuerlich in Id., Enlightenment and Reform in Eighteenth-Century Europe. London 2005, 60–90. 43 István Udvari, Ruszin (kárpátukrán) hivatalos írásbeliség a XVIII. századi Magyarországon [Ruthenisches (karpatoukrainisches) offizielles Schrifttum im Ungarn des 18. Jahrhunderts]. Budapest 1995, 10–13; Ioan Horga, Contribuţii la cunoaşterea Jozefinismului provincial: debutul Episcopiei Greco-Catolice de Oradea (1777–1784) [Beiträge zum Verständnis des Provinzjosephinismus: Anfänge der griechisch-katholischen Diözese von Oradea (1777–1784)] Oradea 2000; Louise Hecht, Ein jüdischer Aufklärer in Böhmen. Der Pädagoge und Reformer Peter Beer (1758–1838). Köln – Wien – Weimar 2008, 320–321. 44 Fillafer, Escaping the Enlightenment, wie Anm. 2, 63. 45 Johann Ferdinand Opiz, Polygraphische Ephemeriden, in: Knihovna Národního muzea v Praze, Praha, V/99. Vgl. auch František Martin Pelcl, Paměti [Erinnerungen]. Praha 1931, 16.

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auch, über die religiöse Aufklärung hinauszublicken, und nach den Quellen des „Josephinismus“ und seinem Verhältnis zu anderen, auch radikalen Formen der Aufklärung zu fragen. Wenn man die Beziehungen zwischen Josephinismus und Aufklärung eingehender betrachtet, ist auf dreierlei hinzuweisen: Erstens gibt es eine Palette von Mutmaßungen über die Herkunft des Josephinismus. Hier haben seit dem Vormärz drei Gruppen abwechselnd den Zuschlag erhalten, Muratorianer, Jansenisten und protestantische Staatskirchenrechtler. Zweitens hat die Forschung schon länger auf die kontingente Verknüpfung zwischen Aufklärung und Josephinismus hingewiesen. Erich Zöllner etwa hat eindringlich darauf aufmerksam gemacht, dass nicht alle österreichischen Aufklärer Josephiner und nicht alle Josephiner Aufklärer waren.46 Drittens schließlich geht es um das Verhältnis zwischen Josephinismus und radikaler Aufklärung, das vor allem auf zwei Ebenen diskutiert wurde: anhand der „reaktionären Wende“, die von manchen Historikern um 1785 bei Joseph II. konstatiert wurde47 und ausgehend von der Verzweigung von Pfaden, welche die Josephiner nach dem Tod Josephs II. beschritten, hier wurden die Wege nachgezeichnet, auf denen seine Parteigänger zu Sympathisanten der französischen Revolution wurden. Pionierarbeiten hierzu legten vor allem die vom Nationalsozialismus ins Exil gezwungenen Remigranten Ernst Wangermann und Edith Rosenstrauch-Königsberg vor, die im Nachkriegs-Österreich nur unter den schwierigsten Bedingungen Fuß fassen konnten.48 Die Beschäftigung mit der „radikalen Aufklärung“ und Vergleichsmöglichkeiten mit Denkern, die nicht dem Wiener selbstergänzenden Milieu der Josephiner angehörten, hat die „Josephinismus“-Heuristik eher vereitelt. Das gilt für Figuren wie Giuseppe Gorani, Alessandro und Pietro Verri49 sowie, unter der Perspektive der „radikalen Spätaufklärung“, für Titularabt Ignác Martinovics, der 1795 als Drahtzieher der ungarischen Jakobinerverschwörung auf 46 Erich Zöllner, Bemerkungen zum Problem der Beziehungen zwischen Aufklärung und Josephinismus. In: Österreich und Europa. Festgabe für Hugo Hantsch zum 70. Geburtstag. Graz 1965, 203–221. „Of course the Enlightenment is relevant to the matters traditionally discussed under the heading of Josephism; but it is unhelpful to equate two terms which, though related, are clearly distinguishable and which it is convenient to distinguish”: Derek Beales, Joseph II, 1: In the Shadow of Maria Theresa. Cambridge 1987, 440. 47 Ernst Wangermann, Die Waffen der Publizität. Zum Funktionswandel der politischen Literatur unter Joseph II. Wien 2004. – Max Lamberg schreibt an Johann Ferdinand Opiz am 31. Januar 1790: „Eben sagt man mir jetzt, der Kaiser hätte die Preßfreiheit aufgehoben. Diese neue Abänderung wird im Auslande viel Lärmens machen, bei uns gar keinen, denn da in den Erblanden keine Preßfreiheit je statt hatte, konnte dieses Täuschungsbild leicht mit andern derlei illusorischen Abänderungen verwechselt werden“: Knihovna Národního muzea v Praze, Praha, VII E 2, 12 Bde., IX, 156; Opiz hatte 1784 in Brünn eine Schrift über die Bücherfreiheit publiziert, in der er sich für die Aufhebung aller Beschränkungen und für das Verbot des Nachrucks aussprach. 48 Ernst Wangermann, From Joseph II to the Jacobin Trials. Oxford 1959; Edith RosenstrauchKönigs­berg, Freimaurerei im josephinischen Wien. Aloys Blumauers Weg vom Jesuiten zum Jakobiner. Wien 1975. 49 Vgl. Carlo Capra, I progressi della ragione. Vita di Pietro Verri, Bologna 2002; Sergio Luzzatto, L’illuminismo impossibile. Alessandro Verri tra rivoluzione e restaurazione, in: Rivista di letteratura italiana 3 (1985), 263–290.

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dem Schafott endete. Martinovics war ein Spinozianer und Materialist, ein Anhänger der Phlogistontheorie; er gab an, ein Jesuiten-Elixier zu kennen, mittels dessen sich Menschen auflösen ließen und arbeitete an einem Gegengift. Martinovics lehrte in Lemberg, vermutlich vereitelte seine Herkunft aus dem Franziskanerorden die Berufung an die Universität Buda, an der die Naturphilosophie fest in der Hand von Exjesuiten war. Martinovics verdingte sich als Spitzel Leopolds II. in Ungarn, politisch manövrierte er zwischen Aufgeklärtem Absolutismus, adeliger Reform und demokratischem Umsturz, er verstrickte sich in seine eigenen Ränke, die er nach dem Tod Leopolds in zwei parallelen Geheimgesellschaften fortspann, allem Anschein nach tat er dies in der irrigen Überzeugung, im Geist des neuen Monarchen Franz II. zu handeln.50 Martinovics Karriere leitet über zum zweiten Aspekt, den es hier anzusprechen gilt, zum Verhältnis zwischen Josephinismus und Aufgeklärtem Absolutismus. II.2 Welcher Absolutismus? Die Debatte über den Josephinismus und den Aufgeklärten Absolutismus verläuft in jenen Bahnen, die der scharfsinnige böhmische Altachtundvierziger Anton Springer 1863 vorgezeichnet hat. Die Regierungszeit Josephs II., schrieb Springer in seiner Geschichte Österreichs seit dem Jahr 1809, bannte „für die ganze folgende Zeit bis auf unsere Tage herab die Entwicklung Österreichs in ihre Spuren“, sie warf „einen unerschöpflichen Gärstoff in das Leben der österreichischen Völker“ und zwang alle Parteien „auf sie zurückzublicken, an sie anzuknüpfen, in der einen oder anderen Richtung – denn die Interessen der Freiheit und des Absolutismus fanden in den josefinischen Anschauung ihre Vertretung – fortzusetzen“.51 Der Josephinismus galt lange Zeit als Paradebeispiel des Aufgeklärten Absolutismus.52 Als seine Kernmerkmale werden der Ausbau staatlicher Herrschaft, die Beseitigung intermediärer und kirchlicher Gewalten und die Mobilisierung finanzieller Ressourcen im Dienst obrigkeitlich definierter Gemeinwohlverwirklichung angesehen.53 Geprägt hat den Begriff Wilhelm Roscher in seiner Stufenlehre der absoluten Monarchie von 1847,54 die fachliche Diskussion 50 Kálmán Benda, A magyar jakobinusok iratai [Schriften der ungarischen Jakobiner]. 3 Bde., Budapest, 1952–1957, hier 1 575; Denis Silagi: Ungarn und der geheime Mitarbeiterkreis Leopolds II. München, 1961, 41f.; Id., Jakobiner in der Habsburger-Monarchie. Ein Beitrag zur Geschichte des aufgeklärten Absolutismus in Österreich. Wien – München 1964. 51 Anton Springer, Geschichte Österreichs seit dem Jahre 1809, 2 Bde. Leipzig 1863, 1 23. 52 Vgl. v.a. Hamish Scott, Introduction: The Problem of Enlightened Absolutism. In: Id., Enlightened Absolutism. Reform and Reformers in Later Eighteenth-Century Europe. Ann Arbor 1990, 1–35; 343– 347; ausgezeichnet und wertbeständig die Problemskizzen von Robert Evans, Maria Theresa and Hungary. In: Ebenda, 189–207, 357–360; sowie Id., Joseph II and Nationality in the Habsburg Lands. In: Ebenda, 209–219, 360–366. Vgl. auch jüngst Wolfgang Schmale, Das 18. Jahrhundert. Wien 2012, 19–56. 53 Vgl. Esteban Maurer, Rezension Reinalter, Josephinismus als Aufgeklärter Absolutismus, und Schmale / Zedinger / Mondot (Hg.), Échecs et réussites du Jósephisme. In: Zeitschrift für Historische Forschung 38/2 (2011) 361–365, 361. 54 Wilhelm Roscher, Umrisse zur Naturlehre der drei Staatsformen. In: Allgemeine Zeitschrift für Ge-

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trat Michel Lhéritier auf dem Internationalen Historikerkongress von Oslo 1928 los.55 Über den idealtypischen Steckbrief des aufgeklärten Herrschers wurde diskutiert,56 Handbücher und Lexika haben den Forschungsstand aufbereitet, zuletzt Helmut Reinalters beachtliche Trilogie.57 Ohne Joseph II. und den mit seiner Regierungszeit nur asymptotisch verbundenen „Josephinismus“ kommt keines dieser Werke aus, die Debatte darüber, ob die Aufklärung hier ein bloßes Feigenblatt war, inwiefern sie die Staatsverdichtung und Optimierung der Ressourcenextraktion als Propaganda begleitete, hat man keine Einigkeit erlangt.58 Wichtig ist diese Präferenz für den „Absolutismus“ deshalb, weil sich hier die bisher skizzierten Interpretationslinien überkreuzen: Oft dient die Gleichsetzung von Aufklärung und Aufgeklärtem Absolutismus, also „Josephinismus“ als „defensiver Modernisierung“, nämlich dazu, das alte modernisierungstheoretische Modell des Entwicklungsgefälles zu perpetuieren. Damit wird suggeriert, die „verspätete“ Aufklärung in Ostmitteleuropa hätte sich eben in der Parteinahme für diesen „Absolutismus“ erschöpft. Gegen die These, die Aufklärung sei nur ein Lockstoff gewesen, hat Franco Venturi eingewandt: „Even in those regions, such as Poland or Russia, where the Enlightenment might, mistakenly, seem only a fashion, an ornament, or mere propaganda, it soon reveals itself as firmly rooted [...] If one attempts to avoid this truth, the whole picture is distorted.“59 Um dieses Problem an der Wurzel zu packen, muss man beim Absolutismusbegriff ansetzen. Reinhard Blänkner hat in einer vorzüglichen Studie aufgezeigt, dass die Absolutismuskategorie ihr Gepräge der junghegelianischen Staatsbildungsgeschichte des Vormärz verdankt: Den Junghegelianern zufolge habe der Absolutismus dialektisch den Fortschritt zur Freiheit vorbereitet, einen Fortschritt, der sich zunehmend über seine historischen Voraussetzungen erhebt und sie schließlich vernichtet. Diese Lesart des Absolutismus erklärt sich aus dem schichte 7 (1847), 79–88, 322–365, 436–473, sowie 9 (1848), 285–413, Id., Die Epochen der absoluten Monarchie in der neueren Geschichte [1889]. In: Id., Zur preußischen und deutschen Geschichte. Aufsätze und Vorträge. Stuttgart 1921, 330–375. 55 Michel Lhéritier, Le despotisme éclairé de Frédéric II à la Révolution française. In: Bulletin du Comité international des sciences historiques, IX/ii/35 1937, 181–225; Fritz Hartung / Roland Mousnier, Quelques problèmes concernant la monarchie absolue. In: Relazioni del X° Congresso internazionale di scienze storiche, storia moderna, Roma 1955, IV. Firenze 1955, 1–55, Diskussion Ebenda, 429–433. Exzellente Überschau bei Karl Otmar von Aretin (Hg.), Der aufgeklärte Absolutismus. Köln 1974. 56 Günter Birtsch, Der Idealtyp des aufgeklärten Herrschers. Friedrich der Große, Karl Friedrich von Baden und Joseph II. im Vergleich. In: Aufklärung 2 (1987), 9–47; Walter Markov, Princes et Administrateurs éclairés: L’individu et l’histoire. In: Béla Köpeczi / Albert Soboul / Éva Balázs / Domokos Kosáry (Hg.), L’Absolutisme éclairé. Paris 1985, 143–157. 57 Helmut Reinalter / Harm Klueting (Hg.), Der aufgeklärte Absolutismus im europäischen Vergleich. Wien 2002; Id., Lexikon zum aufgeklärten Absolutismus in Europa. Herrscher – Denker – Sachbegriffe. Wien 2005; Id., Josephinismus als aufgeklärter Absolutismus. Wien 2008. 58 Vgl. Köpeczi et al. L’Absolutisme éclairé, wie Anm. 56, darin: Albert Soboul, Fondements économiques: la feodalité tardive, 35–49; Béla Köpeczi, L’idéologie de l’absolutisme éclairé, 101–118. 59 Franco Venturi, Utopia and Reform in the Enlightenment. Cambridge 1971, 134, vgl. Teodora Shek Brnardić, Intellectual Movements and Geo-Political Regionalization. The Case of the East European Enlightenment. In: East Central Europe / L’Europe du Centre-Est (32) 2006, 147–178, 153, Anm. 12.

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Kontext des 19. Jahrhunderts als „Revolutionszeitalter“, sie hat eine antifranzösische Pointe. Die deutschen Historiker des Aufgeklärten Absolutismus wie Fritz Hartung und Rudolf Stadelmann hoben den französischen, unaufgeklärten vom aufgeklärten, revolutionspräventiven Absolutismus in den deutschen Staaten ab.60 Hier ging es um die Ausbaufähigkeit eines Systems von Verfassungsäquivalenten (das preußische Allgemeine Landrecht und das österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch erschienen als Verfassungsersatz61), durch das sich angeblich die erstrebenswerten Ziele der Französischen Revolution auf dem Wege friedlicher Reformen von oben erreichen ließen. Die Formel des „einsichtsvollen Absolutismus“62 bildet den erwünschten Kontrast zum verhängnisvollen Menetekel Frankreichs.63 Die französische Forschung hat demgegenüber wesentlich früher darauf hingewiesen, dass der Absolutismus den Keim des Scheiterns in sich trug und klargestellt, dass er mehr Schein als Wirklichkeit war: Hier wurden die sehr mangelhafte Umsetzung obrigkeitlicher Direktiven, die Zielkonflikte innerhalb des Regierungssystems und das Versagen zentraler Steuerungsversuche im Detail dargestellt.64 Die Verbrämung des Staatshandelns, die Fixierung auf den Staat als Vehikel welthistorischen Fortschritts, hat die Kategorie „Absolutismus“ geprägt, für die Josephinismus-Forschung sollte sich dies als Hypothek erweisen. In der Geschichtsschreibung der Habsburgermonarchie hat Robert Evans’ The Making of the Habsburg Monarchy neue Wege gewiesen,65 60 Vgl. Rolf Graber, Aufgeklärter Absolutismus. Historiographiegeschichtliche Aspekte und forschungspolitische Konsequenzen eines umstrittenen Epochenbegriffs. In: Aufklärung-Vormärz-Revolution 22/23/24/25 (2002–2005), 15–25. 61 Dieter Grimm, Das Verhältnis von politischer und privater Freiheit bei Zeiller. In: Walter Selb / Herbert Hofmeister (Hg.), Forschungsband Franz von Zeiller (1751–1828). Beiträge zur Gesetzgebungs- und Wissenschaftsgeschichte, Wien – Graz – Köln 1980, 94–106; Carl Gottlieb Svarez, Über den Einfluß der Gesetzgebung in die Aufklärung. In: Id., Vorträge über Recht und Staat, hg. von Hermann Conrad / Gerd Kleinheyer, Köln – Opladen 1960, 635. Als kritische Revision der Verfassungsersatz-These: Lothar Kittstein, Politik im Zeitalter der Revolution. Untersuchungen zur preußischen Staatlichkeit, 1792–1807. Stuttgart 2003, 173f. 62 Wenn der Absolutismus „die Zeichen der Zeit versteht, und sich selbst beschränkt, leitet [er] von oben herab die Reformen, welche die Verjüngung der veralteten und abgestorbenen Verhältnisse des inneren Staatslebens bewirken sollen; dadurch stellt sich der einsichtsvolle Absolutismus selbst an die Spitze der Intelligenz und Cultur seines Volkes […] Er verzichtet von selbst auf die bisherige Bevormundung des Volkes“: Karl Heinrich von Pölitz, Der Absolutismus und das constitutionelle System im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert. In: Id., Staatswissenschaftliche Vorlesungen für die gebildeten Stände in constitutionellen Staaten, 1. Leipzig 1831, 12. 63 „Es ist Preußen […] es ist der königliche Philosoph, der zuerst diese neue Form der Monarchie hindurchführt“, der „eine völlig andere Ordnung der Dinge“ schafft, in welcher die Aufgabe des Staates es ist, „Recht und Gesetz und das Wohl Aller zu schützen“: Johann Gustav Droysen, Vorlesungen über die Freiheitskriege. 2 Bde., Kiel 1846, hier 1 57f. 64 Georges Lefèbvre, Der aufgeklärte Despotismus. In: Aretin (Hg.), Der aufgeklärte Absolutismus, wie Anm. 55, 77–88; Emile Lousse, Absolutismus, Gottesgnadentum, ‚Aufgeklärter Despotismus‘. In: Ebenda, 89–102; Johannes Kunisch, Absolutismus. Europäische Geschichte vom Westfälischen Frieden bis zur Krise des Ancien Régime. Göttingen 1986, 194. 65 Robert Evans, The Making of the Habsburg Monarchy, 1550–1700. An Interpretation. Oxford 1979.

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der reichhaltige Forschungsband Petr Maťas und Thomas Winkelbauers über die Chancen und Grenzen des Absolutismusparadigmas hat eine Bilanz der seither angeregten Forschungen gezogen.66 Evans feinsinniger Aufsatz über die „Grenzen der Konfessionalisierung“ stellt ebenfalls ein Korrektiv zur älteren staatsverhafteten Tradition dar.67 In all diesen Arbeiten wird auf die Lückenhaftigkeit des „sozialdisziplinierenden“ und „konfessionalisierenden“ Staatshandelns hingewiesen, sie widerlegen die Behauptung, die „Konfessionalisierung“ habe die Herrschaftsverdichtung und Steigerung monarchischer Macht gefördert: so sinkt das Konstrukt eines „konfessionellen Absolutismus“, der angeblich schon unter Ferdinand II. die ständische Ordnung abgelöst und strukturell den „modernen Staat“ angebahnt haben soll, allmählich in sich zusammen.68 Diese Arbeiten rollen die Anfänge des „Absolutismus“ auf, die im letzten Abschnitt erwähnten Studien über den Jakobinismus bemühen sich um eine ähnliche Abgrenzung von der historiographischen Staatsverklärung. In die gleiche Kerbe schlagen fundierte Regionalstudien, die Blindgänger und Leerläufe der Herrschaftsintensivierung aufzeigen: Sie zeichnen nach, wie sehr der „moderne Staat“ bis weit ins 19. Jahrhundert auf lokale Gewalten, körperschaftliche Strukturen und klienteläre Verbände angewiesen blieb.69 Joachim Bahlckes und Konrad Clewings meisterliche Werke über den ungarischen Episkopat im 18. Jahrhundert und über Dalmatien im Vormärz haben diese Befunde untermauert.70 Von einem verwandten Impuls geht die alltags- und sozialgeschichtlichen Widerstandsforschung71 aus: Sie sieht das Volk nicht mehr als Manipulationsmasse, als „Objekt obrigkeitlichen Handelns“,72 sondern spürt abgefächerten Reaktionen auf die „Reformen“ bei den Zünften, Bruderschaften,

66 Petr Maťa / Thomas Winkelbauer (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1620 bis 1740. Leistungen und Grenzen des Absolutismusparadigmas; vgl. auch die vorzügliche Gesamtdarstellung von Thomas Winkelbauer, Ständefreiheit und Fürstenmacht. Länder und Untertanen des Hauses Habsburg im konfessionellen Zeitalter. 2 Bde., Wien 2003. 67 Robert Evans, Die Grenzen der Konfessionalisierung. Die Folgen der Gegenreformation für die Habsburgerlander (1650 – 1781). In: Joachim Bahlcke / Arno Strohmeyer (Hg.), Konfessionalisierung in Ostmitteleuropa. Wirkungen des religiösen Wandels im 16. und 17. Jahrhundert in Staat, Gesellschaft und Kultur. Stuttgart 1999, 395–412. 68 Karin MacHardy, Staatsbildung in den habsburgischen Ländern in der frühen Neuzeit. Konzepte zur Überwindung des Absolutismusparadigmas, in: Maťa / Winkelbauer (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1620–1740, wie Anm. 66, 73–98, hier 76. 69 Jochen Schlumbohm, Gesetze, die nicht durchgesetzt wurden – ein Strukturmerkmal des frühmodernen Staates? In: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), 647–663; Horst Glassl, Das österreichische Einrichtungswerk in Galizien, 1772–1790. Wiesbaden 1975. 70 Joachim Bahlcke, Ungarischer Episkopat und österreichische Monarchie. Von einer Partnerschaft zur Konfrontation (1686–1790). Stuttgart 2005; Konrad Clewing, Staatlichkeit und nationale Identitätsbildung. Dalmatien in Vormärz und Revolution. München 2001. 71 Graber, Aufgeklärter Absolutismus, wie Anm. 60. 72 Vgl. den wichtigen Band: Rudolf Vierhaus (Hg.), Das Volk als Objekt obrigkeitlichen Handelns. Tübingen 1992.

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Orden73 und Freimaureren nach,74 hier werden auch die Bewegungen religiösen und ständischen Sozialprotests gewürdigt.75 Die Josephinismus-Heuristik ist also eng mit der Staatsbildungs-Erzählung verwoben. Schon Winter und Valjavec haben auf je eigene Weise versucht, durch volkstumsbezogene, religionsgeschichtliche und der Kulturgrenzforschung verpflichteten Perspektiven diese Saatsfixierung aufzulockern. Darüber hinaus teilt der Josephinismus mit der Staatsbildungsgenealogie auch die Probleme der Periodisierung, das zeigt sich an zwei Befunden: zum einen anhand der Begriffe, die der Josephinismus-Forschung zu Gebote stehen, den „Entwicklungskeimen“ und „Vorläufern“, den „Spätformen“ und „Nachwirkungen“. Zum anderen hängt das Problem eng mit der Präferenz intentionaler oder struktureller Zugänge zusammen, damit, wie sich die Kontinuität des Josephinismus modellieren lässt, wenn man einander ablösende Trägerschichten eines kontinuierlichen „Programms“ beschreiben will. II.3 Zeitpfeil, Epochenprofil, Kollektivbiographie: Wie datiert man den Josephinismus? Der Geist weht bekanntlich, wo er will, und wie es sich für einen guten geistesgeschichtlichen Bewegungsbegriff ziemt, besitzt auch der „Josephinismus“ eine große Elastizität: Seine Quellen waren, wie schon dargelegt, seit dem Vormärz umstritten. Im Verlauf schlägt er viele Haken, zeitweilig verschwindet er ganz aus dem Suchraster, wird vermutlich als unterschwellige Überlieferung weitergegeben, um unverhofft wieder aufzutauchen. Dabei sind zwei kategoriale Spielarten zu unterscheiden. Zum einen ist da die großkalibrige Periodisierung des Josephinismus: Hier setzt er schon bei Joseph I. und Karl VI. an (im

73 Martin Gaži, Osvícený praktik, nebo prelát tmář. Zlatokorunský opat Bohumír Bylanský v intelektuálním panoramatu druhé poloviny 18. století [Praktiker der Aufklärung oder Prälat als Dunkelmann? Der Goldenkroner Abt Gottfried Bylanský im intellektuellen Spektrum der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts]. In: Jaroslav Lorman (Hg.), Post tenebras spero lucem. Duchovní tvář českého a moravského osvícenství. Praha 2008, 278–300; Julia Anna Riedel, Bildungsreform und geistliches Ordenswesen im Ungarn der Aufklärung. Die Schulen der Piaristen unter Maria Theresia und Joseph II. Stuttgart 2012. 74 Vgl. Walther Brauneis, Die Wiener Freimaurerei unter Kaiser Leopold II. Die „Zauberflöte“ als emblematische Standortbestimmung. In: Otto Biba (Hg.), Studies in Music History, presented to H. C. Robbins Landon. London 1996, 115–151, 261–265; Eva Huber, Die Sozialstruktur der Wiener Freimaurerlogen im Josephinischen Jahrzehnt. In: Helmut Reinalter (Hg.), Aufklärung und Geheimgesellschaften. Zur politischen Funktion und Sozialstruktur der Freimaurerlogen im 18. Jahrhundert, Quatuor Coronati-Sonderausgabe. München 1989, 173–188; Josip Kolanović, Jedna sporna epizoda iz života Maksimilijana Vrhovcac [Eine umstrittene Episode im Leben von Maksimilijan Vrhovac]. In: Croatica christiana periodica 5/7 (1981) 1–28. 75 Gabriele Turi, Viva Maria! La reazione alle riforme leopoldine (1790–1799), Firenze 1969; Gerlinde Affenzeller, VerWunderliche Hartnäckigkeit. Wallfahrtkonflikte im Josephinismus. Diplomarbeit Universität Wien 1996.

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„Frühjosephinismus“76 werden „Vorläufer des liberalen Zentralismus“ geortet77), er führt über den theresianischen „Protojosephinismus“78 zur Regierungsdekade Josephs II. und weiter bis weit ins 19. Jahrhundert. Dabei wird die Zeit des Vormärz meist eilig durchschritten, um dann in der Ära des Konkordats mit dem Kategorien-Origami aus „Josephinismus“, „Restauration“, „Staatskirchentum“ und „Liberalismus“ fortzufahren. Das liest sich dann etwa in Robert Kanns Multinational Empire von 1974 so: Das Konkordat sei „a distortion of the Franciscan distortion of Josephinism”, es war nicht länger „with even the most flexible interpretation of Josephinism“ vereinbar.79 Hier ist der Josephinismus vollends zur unguided missile geworden. Die zweite Variante ist ein stärker personalisierendes Format. Sie liefert Periodisierungsvorschläge mittlerer Reichweite: Hier herrscht eine kleinteilige, mobile Heuristik, es interessiert mehr, wer die Josephiner waren, es geht um das ideen- und sozialgeschichtliche Realsubstrat des Josephinismus.80 Dabei kommt ein Josephinertypus, der als Spezies unter Artenschutz steht, nicht zu kurz: der Beamte, oft aus einfachen Verhältnissen, beispielhaft verkörpert vom Iglauer Schneidersohn Carl Friedrich von Kübeck (1788–1855), der zum Hofkammerpräsidenten und Vorsitzenden des Reichsrats aufstieg. Waltraud Heindl und Ronald E. Coons haben vorzügliche Arbeiten zur josephinischen Beamtenschaft vorgelegt.81 76 Vgl. Ferdinand Maass, Der Frühjosephinismus. Wien 1969; dazu die Rezension Hans Helmut Schnizer. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung 57 (1971), 406; Elisabeth Kovács, Ultramontanismus und Staatskirchentum, wie Anm. 40; Heinrich Benedikt, Der Josephinismus vor Joseph II.. In: Österreich und Europa. Festgabe für Hugo Hantsch, wie Anm. 6, 183–201; dagegen Derek Beales, Joseph II, 1, wie Anm. 46, 475–486. 77 Adolph Fischel, Christian Julius von Schierendorff, ein Vorläufer des liberalen Zentralismus im Zeitalter Josefs I. und Karl VI. In: Id., Studien zur österreichischen Reichsgeschichte. Wien 1906, 139–305. 78 Christoph Gnant, Der Josephinismus und das Heilige Römische Reich. „Territorialer Etatismus“ und josephinische Reichspolitik. In: Wolfgang Schmale / Renate Zedinger / Jean Mondot (Hg.), Josephinismus – eine Bilanz. Échecs et réussites du Jósephisme. Bochum 2008, 35–54. 79 Robert Kann, A History of the Habsburg Empire 1526–1918. Berkeley 1974, 321; vgl. Peter Melichar, Zur Soziogenese des Intellektuellen in Österreich, vor allem im josephinischen Wien. Diss. Wien 1993, 6; Matthias Rettenwander, Das Fortleben des Josephinismus. In: Reinalter / Klueting (Hg.), Der aufgeklärte Absolutismus, wie Anm. 57, 303–329. Kritisch zum unreflektierten Begriffsgebrauch: Karl Vocelka, Glanz und Untergang der höfischen Welt: Repräsentation, Reform und Reaktion im habsburgischen Vielvölkerstaat. Wien 2001, 368–371. 80 In diesem Sinne der vorzügliche Überblick: István Fried, II. József, a jozefinisták és a reformerek (Vázlat a XVIII. század végének magyar közgondolkodásáról) [Joseph II., die Josephiner und die Reformer (Skizze über ungarische kollektive Denkformen an der Wende des 18. Jahrhunderts)]. In: Széchényi Könyvtár Évkönyve 1979, 563–591. Zur Funktion von Gérard van Swietens Wirken als „Epochengrenze“ vgl. den Beitrag von Sonia Horn im vorliegenden Buch. 81 Waltraud Heindl, Gehorsame Rebellen. Bürokratie und Beamte in Österreich, 1: 1780–1848. Wien 1991 [22013]; Ead., Bürokratie und Beamte in Österreich, 2: Josephinische Mandarine: 1848–1914. Wien 2013; Ronald Coons, Reflections of a Josephinist. Two Addenda to Count Franz Hartig’s „Genesis der Revolution in Österreich im Jahre 1848“. In: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 36 (1983), 204–236; Id., Kübeck and the Pre-Revolutionary Origins of Austrian Neoabsolutism. In: Ferenc Glatz / Ralph Melville (Hg.), Gesellschaft, Politik und Verwaltung in der Habsburgermonarchie 1830–1914. Stuttgart 1987, 55–86.

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Zugleich wird aber der Josephinismus immer wieder auch als Bewegungsbegriff benützt, um per Analogie Positions-Affinitäten zu kennzeichnen, ohne einen direkten Überlieferungszusammenhang nachzuweisen. So etwa bei Béla Németh, der 1976 den Kreis um Pesti Napló, die jungen ungarischen Anhänger einer zentralistischen Verfassung im Jahr 1849, als Opfer einer „josephinischen Illusion“ bezeichnete.82 Während in der ersten Variante eine Zeitleiste des Josephinismus entsteht, die sich über die Epochen legen lässt, führt der zweite Zugang eher zu einer Punktewolke von Positionen, die sich über das 18. und 19. Jahrhundert verteilen. Beide Modellierungsansätze erweisen sich als unzulänglich, wenn es um die Schwellenkunde geht: also darum, zu klären, wie der Josephinismus sich in den 1770er Jahren entfaltete und wie er sich seit den Neunzigerjahren weiterentwickelte. Hier sind die Streitpunkte vor allem die Toleranzpolitik in den Siebzigerjahren und die angebliche „reaktionäre Wende“ unter Kaiser Franz I. Diese Übergänge sind auch deshalb besonders relevant, weil sie es erlauben, die politische Relevanz der Josephinismus-Heuristik darzulegen. Schon anhand des Thronjubiläums Josephs II. im Jahr 1980 lassen sich diese politischen Valeurs aufzeigen. Den großen Kongress in Wien stellte man unter den Titel Kontinuität und Zäsur,83 um die Wende zum „leitend und sorgend die Geschicke seiner Untertanen“ lenkenden „aufgeklärten Despoten“84 zu charakterisieren. Man kann sich mit Blick auf diesen und andere Jubiläumsbände des Eindrucks nicht erwehren, dass sich in der II. Republik seit den 1950er Jahren eine gewisse großkoalitionäre Arbeitsteilung einbürgerte: Der sozialintegrativ-aufgeschlossene Konservatismus zog die umsichtige Maria Theresia vor, nicht ohne Stolz 82 G. Béla Németh, A jozefinista illúzió fölvillanása 49 után (A Pesti Napló kezdeti szakasza) [Aufblitzen der josephinischen Illusion nach 1849 (Anfangsphase des Pesti Napló)]. In: Id., Létharc és nemzetiség. Irodalom- és művelődéstörténeti tanulmányok. Budapest 1976, 414-444. 83 Richard Plaschka (Hg.), Österreich im Europa der Aufklärung: Kontinuität und Zäsur in Europa zur Zeit Maria Theresias und Josephs II. 2 Bde., Wien 1985; Grete Klingenstein, Zur Einführung. Österreich und Europa 1780. In: Ebenda 19–28; Ernst Wangermann, Matte Morgenröte. Verzug und Widerruf im späten Reformwerk Maria Theresias. In: Walter Koschatzky (Hg.), Maria Theresia und ihre Zeit. Salzburg 1979, 61–71. 84 Grete Klingenstein, Zur Einführung, wie Anm. 83, 19; „Gewöhnlich sind wir, den guten Absichten und der Propaganda der Reformer voll vertrauend, so angetan von ihren Werken, daß wir die krisenhafte Lage kaum bemerken, die ihrem Denken und ihren Handlungen die Richtung gab; sind wir auch so eingenommen von den in der Nachwelt noch wirkenden Wohltaten, daß wir die krisenhaften Konstellationen übersehen, zu der sich die unmittelbaren Folgen der theresianischen Reformen im zeitgenössischen Pro und Kontra von Erleben und Miterleben verdichten konnten“: Ebenda, 21. Vgl. Robert A. Kann, Fortschritt und Tradition. In: Österreich im Europa der Aufklärung, wie Anm. 83, 29–36, 34: Die „Vorstellung der Ausgewogenheit, auf die Maria-Theresianische Epoche im Gegensatz zu der Josephs II. angewandt, klingt aber nicht nur banal, sie ist auch falsch. Ausgewogenheit wird im Rückblick häufig so verstanden, daß dynamische und retardierende gesellschaftliche Faktoren einander aufheben mit dem Resultat, daß in einem solchen Zustand labiler weil künstlicher Ruhe der Wunschtraum eines dolce far niente hervortritt, wie dies unter der langen Herrschaft von Maria Theresias Enkel der Fall wurde.“ Die „Bewegung“ unter Maria Theresia und ihren beiden Söhnen gebe der „Geschichte Österreichs in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und mit Unterbrechungen bis in unsere Zeit ihren beispielhaften Sinn und ihren Glanz“: Ebenda, 36.

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nannten sich manche seiner Anhänger „Theresianer“. Die sozialdemokratische linke Reichshälfte übernahm als Erbstück aus der deutschliberalen Geschichtsrevue den „antiklerikalen“ Reformer Joseph II. Die politischen Kultur bestimmt Forschungskonjunkturen: Die Toleranzpolitik galt seit den 1780er Jahren als symbolisch aufgeladene Großtat Josephs II., dem „Toleranzkaiser“ dieses Verdienst abzusprechen, kam einem Denkmalsturm gleich. Die 1939 geborene Grazer Historikerin Grete Klingenstein hat in ihrem Beitrag Modes of Tolerance and Intolerance in Eighteenth-Century Habsburg Politics 1993 versucht, Ansätze der Toleranzgesetzgebung unter Maria Theresia herauszuarbeiten. Klingenstein behauptete, Joseph II. hätte nur bereits bestehende Ansätze vollendet – ähnliche Bemerkungen finden sich schon bei enttäuschten Aufklärern zu Josephs Zeit85 – dafür hat sie herbe Kritik geerntet.86 Der Germanist Leslie Bodi wiederum, er wurde 1922 geboren und entstammt einer jüdischen Budapester Familie, entwickelte in seinem Tauwetter in Wien,87 dem Standardwerk über die „erweiterte Preßfreiheit“ und Broschürenliteratur der 1780er Jahre, eine andere Perspektive, dazu trugen seine Erfahrung rassistischer Diskriminierung und Verfolgung unter Horthy und Hitler, aber auch die Repressalien im kommunistischen Ungarn bei. Bodi konnte erst nach 1945 mit dem Philologiestudium beginnen, 1957 entschloss er sich nach dem ungarischen Aufstand zur Emigration nach Australien. Für Bodi wurde die verdrängte Aufklärung in den habsburgischen Ländern zum Lebensthema. In seinem Werk über das Tauwetter untersuchte er die repressive Rücknahme der Reformen durch Joseph II. und die Lebenswege der enttäuschten Josephiner bis ins frühe 19. Jahrhundert. Zudem hat Bodi in Thomas Bernhards Auslöschung Spuren der „seit Jahrhunderten unterdrückten Aufklärung“ in Zentraleuropa ausfindig gemacht. Den „josephinischen Schreibtisch mit einer schweren, zwanzig Zentimeter dicken Platte aus Carraramarmor“ sieht Bodi als „metaphorische Bild, des ‚traumatisierten Josephi-

85 „Nicht erst K. Jos. II. (wie allgemein geglaubt wird), schon seine unvergessliche Mutter K. K. M. Theresia, die so viel für die Aufklärung ihrer Völker, soviel für den Flor ihrer Länder getan hat, war es, die das jesuitische Reformations- und Inquisitionssystem ihres Ahnherrn K. Ferdinands II. verlassen hat. Schon sie fing im geheimen an, eine Toleranz zu begünstigen […] Öffentlich schätzte und unterstützte sie die besser reformierenden Arbeiten eines noch nicht gepurpurten Migazzi, der van Swieten u. Riegger, der Stock und Rautenstrauch etc. […]“, so der Polymath, Erfinder einer Anagrammatisierungsmaschine und empfindsame Bankalinspektor Johann Ferdinand Opiz, Polygraphische Ephemeriden, Nr. 1290 [1790]; Arnošt Kraus, Johann Ferdinand Opiz’ Autobiographie, Praha 1908, 58. 86 Grete Klingenstein, Modes of Religious Tolerance and Intolerance in Eighteenth-Century Habsburg Politics. Austrian History Yearbook 24 (1993), 1–16, 15: „Joseph’s legislation [...] only summarized the fundamental changes that had already expanded denominational rights and liberties“. Gerda Lettner, Lang lebe der Mythos vom Revolutionär auf dem Thron! In: Österreich in Geschichte und Literatur 33 (1989), 25–30; vgl. pointierte Kritik bei Derek Beales, Prosperity and Plunder. European Catholic Monasteries in the Age of Revolution, 1650–1815, Cambridge 2003, 341, Anm. 7; Id., Joseph II, 1, wie Anm. 46, 472; Lois Dubin, The Port Jews of Habsburg Trieste: Absolutist Politics and Enlightenment Culture. Stanford 1999, 241, Anm. 7. 87 Leslie Bodi, Tauwetter in Wien. Zur Prosa der österreichischen Aufklärung, 1781–1795. Frankfurt am Main 1977 [neue erweiterte Auflage Wien – Köln – Weimar 1995].

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nismus‘“.88 Das führt uns vom ersten Bruch, der spät-mariatheresianischen Zeit, zur zweiten Zäsur, den 1790ern. Offenkundig spielen hier verschiedene Wertungen der „Aufklärung“ als „unabgeschlossenes Projekt“ im 20. Jahrhundert eine Rolle, wobei die österreichische antifaschistische Linke – hierin der italienischen ähnlicher als der deutschen89 – sich die Adorno–Horkheimer’sche Kritik der Aufklärung als Lenkungs- und Zurichtungstechnologie der Naturbeherrschung nie zu eigen gemacht hat. Die zweite Zäsur in den 1790er Jahren unterscheidet sich von der Situation in den 1770ern dadurch, dass hier die „Moderne“ schon unhintergehbar scheint: Hier meint man, die Wende von der Aufklärung zu einer ebenfalls „modernen“ Restauration oder Reaktion ablesen zu können, die Aufklärung konnten auch ihre Feinde nicht mehr ungeschehen machen. Dass schon das Konstatieren dieses Bruchs nach 1792 hoch politisch ist, leuchtet unmittelbar ein: Entweder wird hier das Wiederaufleben des österreichischen „Barock“ nach dem erfolglosen Intermezzo der angeblich importierten (je nach Tendenz französischen oder preußischen) „Aufklärung“ festgestellt, oder man konstatiert, dass die ominöse „reaktionäre Wende“ gar nicht stattgefunden hat, dass sich die Epoche Franz II. in den Bahnen der Staatsaufklärung fortbewegt habe. Was die 1790er angeht, divergieren die Meinungen dementsprechend scharf.90 Da es immer noch keine wissenschaftlich zuverlässige Biographie Kaiser Franz’ gibt, sollte man mit Stellungnahmen zur politischen Geschichte vorsichtig sein. Für die Geschichte der Wissenschaften und der Ideen sind alternative Interpretationen angeboten worden, für Ungarn und Böhmen liegen ebenfalls ausführliche Studien vor.91 Gegen die These des Deutschnationalen 88 Leslie Bodi, Österreicher in der Fremde – Fremde in Österreich. Zur Identäts- und Differenzerfahrung in Thomas Bernhards Auslöschung. Ein Zerfall (1986). In: Yoshinoro Shichiji (Hg.), Begegnungen mit dem „Fremden.“ Grenzen – Traditionen – Vergleiche. Akten des VIII. Internationalen Germanistenkongresses Tokyo 1990. München 1991, 122–125, 122; Thomas Bernhard, Auslöschung. Ein Zerfall. Frankfurt am Main 1986, 188–190. 89 Vgl. Christoph Dipper, Die politische Funktionalität des italienischen Naturrechts in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Vanda Fiorillo / Frank Grunert (Hg.), Das Naturrecht der Geselligkeit. Anthropologie, Recht und Politik im 18. Jahrhundert. Berlin 2009, 135–157. 90 Staatsreferendar Anton von Spielmann notierte in der „Hölle“ der Konventionsverhandlungen von Reichenbach im Sommer 1790 bitter, „die unüberwindliche Vorsehung“ habe beschlossen, „alle Opera des seligen Herrn“, also Josephs II., „ohne Ausnahme funditus zu destruiren“: Michael Hochedlinger, Krise und Wiederherstellung. Österreichische Großmachtpolitik zwischen Türkenkrieg und „Zweiter Diplomatischer Revolution“ 1787–1791. Berlin 2000, 361. 91 Fillafer, Escaping the Enlightenment, wie Anm. 2; Id., Die Aufklärung in der Habsburgermonarchie und ihr Erbe. Ein Forschungsüberblick. In: Zeitschrift für historische Forschung 40 (2013), 35–97. Zu Böhmen als Materialsammlung brauchbar: Jiří Beránek, Absolutismus a konstitucionalismus v Čechách v době Velké francouzské revoluce [Absolutismus und Konstitutionalismus in Böhmen zur Zeit der Französischen Revolution]. Praha 1989. Zu Ungarn vgl. besonders: István Soós, A Habsburg-kormányzat és a magyar rendek 1812 és 1825 között [Die Habsburgerregierung und die ungarischen Stände zwischen 1812 und 1825]. In: Történelmi Szemle 49 (2007), 91–118; Gábor Pajkossy, Törekvések a magyar rendi alkotmány korszerűsítésére az 1790-es évek első felében [Ansätze zur Reform der ungarischen ständischen Verfassung in der ersten Hälfte der 1790er Jahre]. In: Gábor Klaniczay / János Poór / Éva Ring (Hg.), A felvilágosodás jegyében: Tanulmányok H. Balázs Éva 70. születésnapjára. Budapest 1985, 163–176; Moritz Csáky, Von der Aufkärung zum Liberalismus: Studien zum

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Viktor Bibl von der reaktionären, gegenaufklärerischen Wende, mit Verve 1925 in Der Zerfall Österreichs vorgetragen,92 hat schon Fritz Valjavec eingewandt, dass „[e]ine Absage an die Aufklärung […] nicht nur deswegen fast unmöglich [war], weil die Mehrzahl gerade der maßgebenden Staatsdiener ihr mehr oder weniger anhing, sondern weil sie die geistigen Grundlagen des österreichischen Absolutismus schwer erschüttert hätte“.93 Ähnlich pointiert hat das auch Robert Kann in seinem hervorragenden Werk Kanzel und Katheder formuliert: Die [...] stark modifizierte, aber doch deutliche Billigung, die Josephs [...] Verwaltungskurs von seiten der beiden folgenden Herrscher erfuhr, kann nicht einfach als eine vorsichtige Verbeugung vor seiner angenommenen Popularität verstanden werden. Es ist kaum zu bezweifeln, daß diese Popularität [...] von der Mitte des 19. Jahrhunderts vom österreichischen Liberalismus überwiegend gutgläubig, aber doch ganz bewußt propagiert wurde und daß sie dann immer mehr als geschichtliche Wirklichkeit erschien.94

Damit hat Kann darauf aufmerksam gemacht, wie sich Staatsdurchdringung und Aufklärungsprozess bis ins 19. Jahrhundert verschränkten,95 aber auch darauf, wie diesem Prozess später vom Liberalismus ein neuer Kausalnexus unterlegt wurde: die Macht der öffentlichen Meinung nämlich, Josephs schichtübergreifendes und unwiderstehliches Prestige als gekrönter Menschenfreund.96 Die beiden vorgestellten historiographischen Modelle, der Josephinismus als Zeitleiste und die „Josephiner“ als soziale und intellektuelle Milieus, sind geprägt von den Problemen,

Frühliberalismus in Ungarn. Wien 1981; jüngst Franz Szábo, Prince Kaunitz and the Hungarian Diet of 1790–91. In: Helmut Wohnout / Ursula Mindler / Georg Kastner (Hg.), Auf der Suche nach Identität. Festschrift für Dieter Anton Binder zum Sechzigsten Geburtstag [im Druck], 254–291. Franz Szábo danke ich sehr herzlich für die Überlassung der Druckfahnen seiner wichtigen Studie. 92 Vgl. Franz Leander Fillafer, Das Elend der Kategorien (in diesem Band). 93 Fritz Valjavec, Der Josephinismus. Zur geistigen Entwicklung Österreichs im 18. und 19. Jahrhundert. Brünn 1944, 13. „[N]icht einer der schwächsten Beweise für die Stärke der Aufklärung und ihren Einfluß auf die Denker, wenn man feststellt, daß selbst ihre Feinde unfähig waren, ein anderes System zu ersinnen.“ Henri Brunschwig, Gesellschaft und Romantik in Preußen im 18. Jahrhundert. Die Krise des preußischen Staates am Ende des 18. Jahrhunderts und die Entstehung der romantischen Mentalität. Frankfurt am Main, 1976, 277 [Original: La crise de l’État prussien à la fin du XVIIIe siècle et la genèse de la mentalité romantique. Paris, 1947] 94 Robert Kann, Kanzel und Katheder: Studien zur österreichischen Geistesgeschichte von Spätbarock bis Frühromantik. Wien 1962 [Original: A Study in Austrian Intellectual History from Late Baroque to Romanticism. New York 1960], 145. 95 Rudolf Vierhaus, Aufklärung und Reformzeit. Kontinuitäten und Neuansätze in der deutschen Politik des späten 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts [1984]. In: Id., Deutschland im 18. Jahrhundert. Politische Verfassung, soziales Gefüge, geistige Bewegungen. Ausgewählte Aufsätze. Göttingen 1987, 249–261. 96 Franz Leander Fillafer, Rivalisierende Aufklärungen: Die Kontinuität und Historisierung des josephinischen Reformabsolutismus in der Habsburgermonarchie. In: Wolfgang Hardtwig (Hg.), Die Aufklärung und ihre Weltwirkung, wie Anm. 27, 123–168, 146–168.

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die bisher vorgestellt wurden, der Relationsbestimmung zwischen Josephinismus und Aufklärung (II.1) auf der einen, jener zwischen Josephinismus und Aufgeklärtem Absolutismus (II.2.) auf der anderen Seite.97 Aus den verschiedenen Einschätzungen dieser beiden Verhältnisse ergibt sich die zeitliche Streuung und inhaltliche Varianzbreite des Josephinismusbegriffs. Dazu kommen, wie im folgenden Abschnitt gezeigt wird, die Verschiebungen zwischen den länderspezifischen, später nationalhistoriographischen Josephinismus-Deutungen in der Region (II.4). II.4 Gesamtstaatliche Aufklärung – Landespatriotismen – Nationalhistoriographien Aufklärung und Aufgeklärter Absolutismus sind die beiden neuralgischen Punkte aller Deutungen des „Josephinismus“. Durch die vielsprachige und plurireligiöse Situation der habsburgischen Länder gestaltet sich die Interpretation des Josephinismus besonders heikel.98 Hier zeigt sich seit dem frühen 19. Jahrhundert, dass die Konkurrenz um das Vermächtnis der Aufklärung nicht nur zwischen gesamtstaatlichen und länderspezifischen Positionen aufbrach, sondern dass sich Intellektuelle und Gelehrte verschiedener Sprachgruppen in allen Ländern der Monarchie eigene Varianten der Geschichte der Aufklärung zurechtzulegen begannen.99 Die Anfänge der Schwierigkeiten, die auch die Josephinismus-Deutungen von Winter und Valjavec nicht vermeiden konnten, liegen also in den Jahren um 1800, und sie haben mit dem schon skizzierten Phänomen der Indigenisierung kultureller Traditionen zu tun (I.1). Den Kontext für diese Indigenisierungsstrategien bildete der Übergang von der älteren Form der Identität, von einer ganzheitlichen, mehrsprachigen Landeskultur hin zu einer einsprachigen Nationalkultur. Diese landespatriotische Identität galt den Propagandisten der Sprachgemeinschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Rückblick als unvollständige Nationalkultur, diese Sichtweise wurde in der Forschung lange reproduziert. 100 Zugleich 97 Zu dieser Spannung von „Person“ und „System“ in der italienischen Aufklärungshistoriographie vgl. auch den Beitrag von Antonio Trampus in diesem Band. 98 Robert Evans, Joseph II and Nationality in the Habsburg Lands. In: Hamish Scott (Hg.), Enlightened Absolutism: Reform and Reformers in Later Eighteenth-Century Europe. Houndmills 1991, 209–219. 99 Franz Leander Fillafer, Imperium oder Kulturstaat? Die Habsburgermonarchie und die Historisierung der Nationalkulturen im 19. Jahrhundert”. In: Philipp Ther (Hg.), Kulturpolitik und Theater: Die kontinentalen Imperien in Europa im Vergleich. Wien – München 2012, 23–53; Štefan Eliáš, Uhorské vlastenectvo a Slováci: syntéza historickej dimenzie [Ungarischer Patriotismus und die Slowaken. Synthese der historischen Dimension]. Košice 1991. 100 Vgl. aber Moritz Csáky, Die Hungarus-Konzeption. Eine „realpolitische“ Alternative zur magyarischen Nationalstaatsidee. In: Anna-Maria Drabek / Richard Plaschka (Hg.), Ungarn und Österreich unter Maria Theresia und Joseph II. Neue Aspekte im Verhältnis der beiden Länder. Wien 1982, 223–237; István Soós, Értelmiségi minták és a Hungarus-tudat [Typen der Intelligenz und das Hungarus-Bewußtsein]. In: Štefan Šutaj / László Szarka (Hg.), Regionálna a národná identita v mǎdarskej a slovenskej histórii. Prešov 2007, 10–19; Ambrus Miskolczy, Povedomie Hungarus v 19. storočí [Die Hungarus-Ideologie im 19. Jahrhundert]. In: Historický časopis 59 (2011), 215–240; Id., A „hungarus alternatíva”: példák és ellenpéldák [Die „Hungarus-Alternative“: Beispiele und Gegenbeispiele]. In: Régió 26 (2009), 3–49.

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wurde im frühen 19. Jahrhundert versucht, den alten Gelehrtenpatriotismus der Spätaufklärung, der dieser ganzheitlichen Landeskultur verpflichtet war, als Legitimitätsressource nutzbar zu machen. Im Vormärz kam es zu einer Gabelung der Integrationsrhetorik, die sich vor allem im Vermächtniswettbewerb um den Gelehrtenpatriotismus zeigte. Das heißt konkret: In jedem Land der Monarchie vereinnahmten die vormärzlichen Vertreter der verschiedenen sprachnationalen „Wiedergeburten“ die Generation der Gelehrtenpatrioten für sich und warfen einander dabei wechselseitig vor, ihr Erbe zu verraten.101 Dazu trat eine zweite Schwierigkeit, die Lokalisierung der historischen Quellen des Patriotismus. Hier wurden zwei Anwärter auf die „wahre“ Vaterlandsliebe und die „nationale Wiedergeburt“ aufgerufen, der ältere kirchliche Patriotismus des 18. Jahrhunderts und der Patriotismus der Aufklärung.102 Somit war die Identitätsbegründung in den mehrsprachigen Ländern der Monarchie doppelt fragil: Zum einen zerfiel sie entlang sprachlicher Bruchlinien, dazu kam aber der Streit über die Ursprünge des „nationalen Erwachens“ (Aufklärung oder religiöse Tradition103), der wieder innerhalb jeder der sich allmählich etablierenden sprachlichen Diskursgemeinschaften ausgetragen wurde. Diese beiden Diskrepanzen sollten die Einschätzung Josephs II. und der josephinischen Aufklärung färben. Wollte man den Gelehrtenpatriotismus der Spätaufklärung vereinnahmen, dann hieß das: Die Parteinahme der Gelehrtenpatrioten für Joseph II. war aus der Geschichte zu tilgen, um ihren Nationsbegriff der sprachnationalen Identität anzugleichen, wie sie zunehmend von den Protagonisten der „Wiedergeburt“ vertreten wurde. Das Fortwirken des „Josephinismus“, etwa in patriotischer, sozialethischer, religiöser und ökonomischer Hinsicht, wurde verschüttet, indem er aus den entstehenden Nationalgeschichten ausgeschlossen wurde. Man legte diesen Josephinismus auf „Zentralismus“ und „Germanisierung“ fest, auf zwei Faktoren, denen man die „historischen“ und „natürlichen“ Rechten der Länder entgegenstellte.104 Dabei griff man gerne auf die gefälschte Sammlung von Briefen Josephs II. zurück, die Ru-

101 Vgl. Fillafer, Escaping the Enlightenment, wie Anm. 2, 443. 102 Bohuš Rieger, Návrh na povznesení českého jazyka učiněný roku 1753 [Der Vorschlag zur Hebung der tschechischen Sprache vom Jahr 1753] [1897]. In: Id., Drobné Spisy Bohuš Svob. Pána Riegra, hg. von Karel Kadlec. 2 Bde., Praha 1914–1915, 1 69–78. 103 Fillafer, Imperium oder Kulturstaat, wie Anm. 99, 42; Iveta Cermanová / Jindřich Marek, Na rozhraní křesťanského a židovského světa. Příběh hebrejského cenzora a klementinského knihovníka Karla Fischera (1757–1844) [An der Schnittstelle zwischen der christlichen und der jüdischen Welt. Die Geschichte des Hebraica-Zensors und Klementinum-Bibliothekars Karl Fischer]. Praha 2007. 104 Bohuš Rieger, Dílo centralismu v 18. století [Das Werk des Zentralismus im 18. Jahrhundert] [1888]. In: Id., Drobné Spisy 1, wie Anm. 102, 1–68; Id., O poměru českých stavů k reformám poddanským za Marie Teresie [Über das Verhältnis der böhmischen Stände zu den Untertanenreformen unter Maria Theresia] [1892]. Ebenda, 99–178; Z germanisačního úsilí 18. věku [Über das Germanisierungsstreben im 18. Jahrhundert] [1887]. Ebenda 191–247, 246. Beachtenswert ist auch, wie Rieger hier die Feindschaft der restaurativen Monarchie gegen den „sozialen und politischen Individualismus“ schildert, der sich in den Amerikanischen und Französischen Revolutionen die Bahn gebrochen habe, wobei er zugestehen muss, dass dieser „Individualismus“ sich eben auch in beiden Fällen in Form des „Zentralismus“ geäußert habe.

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dolph Grossing erstmals 1790 aufgelegt hatte.105 Im Vormärz wurde sie zum Hausschatz der deutschösterreichischen Liberalen, Derek Beales hat in seinem vorzüglichen Aufsatz The False Joseph II die Entstehungsumstände dieser legendären Briefsammlung und ihre Wirkmacht in der Historiographie aufgezeigt.106 Die Leitlinien der Debatte über den „Josephinismus“ im 20. Jahrhundert, der sich die folgenden Kapitel widmen, wurden im Vormärz gezeichnet. Das lässt sich vor allem an einer Konstellation zeigen: Liberale und klerikale Patrioten warfen einander nämlich in den Zeiten der „Wiedergeburt“ vor, die Nation eben dadurch zu verraten, dass sie eine der beiden Komponenten unterstützten, die späterhin als die zwei Bestandteile des Gesamtphänomens „Josephinismus“ gelten sollten, das „Staatskirchentum“ oder die „Aufklärung“. Beide wurden abwechselnd als fremdartiges und mit den Traditionen der jeweiligen Nation unvereinbares Importgut dargestellt. Das war eine polemische Verzerrung: Es gab sehr wohl kirchliche Patrioten, die gegen die staatliche Kuratel über die Kirche aufbegehrten, und Liberale, die sich keineswegs mit der Aufklärung als Epoche oder Tradition identifizierten. Zudem entsprachen die Überlieferungsmodi und -sequenzen von Denkfiguren und gelehrten Verfahren aus dem 18. Jahrhundert keineswegs diesem ideenpolitischen Kontrasteffekt des Vormärz.107 Für die Klischeegeschichte des Josephinismus ist diese vormärzliche Gegenüberstellung aber höchst relevant, weil sie die beiden Komponenten des Begriffs festlegte, die Valjavec, Winter, Maaß, Hantsch und Konsorten im 20. Jahrhundert erkenntnisstrategisch aufrüsten sollten: Tatsächlich handelte es sich bei der Josephinismus-Forschung um den Versuch, eine alte Polemik zu verwissenschaftlichen, die seit den 1820er und 1830er Jahren geführt wurde. Dazu kamen zwei weitere Aspekte: Erstens die Phasenverschiebung verspäteter Entwicklung innerhalb Europas, die man schon seit dem späten 18. Jahrhundert diskutierte. Hier wurde das Fortschrittsmonopol der aufgeklärten Zentralgewalt dadurch gebrochen, dass man die erstrebenswerten Freiheiten nicht mehr auf die Reformtätigkeit der Dynastie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zurückführte, sondern in der Geschichte der eigenen Nation vor der habsburgischen Herrschaft verankerte; die scheinbare Rückständigkeit entsprach einem Erkenntnisvorsprung, hatte doch die eigene Geschichte jene westeuropäischen Freiheiten, die von der Dynastie und ihrem Apparat in mundgerechter Dosierung verordnet wurden, um Jahrhunderte vorweggenommen (Protochronismus).108 Diese Argumentationslinie spannte sich durch das 19. Jahrhundert, dazu trat als zweiter Faktor um und vor allem nach 1848 die Nationalcharakterologien, die als Schuldzuweisungs-Schema die Fortschrittserzählung begleiteten: Die Vorwürfe des angeblich aus dem Nationalcharakter erklärbaren 105 Vgl. etwa Rieger, Z germanisačního úsilí 18. věku, wie Anm. 104, 245f. („Polyp“ der Staatsomnipotenz); Mihály Horváth, Geschichte der Ungarn, 2. Pesth 1855, 487. 106 Derek Beales, The False Joseph II., nachgedruckt in: Id., Enlightenment and Reform in Eighteenth-Century Europe, wie Anm. 42, 117–154. 107 Fillafer, Escaping the Enlightenment, wie Anm. 2. 108 Fillafer, Imperium oder Kulturstaat?, wie Anm. 99, 48; vgl. Janowski, Three Historians (wie Anm. 33).

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„Servilismus“ und „Klerikalismus“, etwa zwischen „Slawen“ und „Deutschen“, waren dabei reziprok.109 Resümierend kann man also festhalten: Wenn man das Entstehen des Aufklärungserbes betrachtet, ist ein doppelter Differenzierungsprozess auszumachen, jener nach Sprachmilieus und jener nach Quellen des „Erwachens“, die innerhalb der entstehenden Milieus umstritten waren. Dazu kommt im Vormärz noch ein dritter Übertragungsprozess, der für das Erbe der josephinischen Aufklärung nicht minder bedeutend war: die Übernahme geschichtspolitischer Schablonen, vor allem der These über das enge Verhältnis von Aufklärung und Revolution nach französischem Vorbild, die auf die zentraleuropäischen Länder angewandt wurde. Das beflügelte die konservative Kritik am Absolutismus als „Revolution von oben“. Durch den mehrschichtigen Prozess, der in dieser kurzen Skizze zur Sprache kam, vollzog sich die Indigenisierung und Externalisierung der Aufklärung in Hinblick auf entstehende Nationalgeschichten. So konnte die Aufklärung als der jeweiligen Nation fremdes Importgut dargestellt und die Eskalationslogik von Aufklärung und Revolution auch auf die habsburgischen Länder angewendet werden: In diesem Kontext wird der Begriff „Absolutismus“ aus der junghegelianischen Staatsbildungsgeschichte mit negativer Konnotation übernommen, sowohl von liberalen als auch von konservativen Kritikern des Metternich’schen Regimes, allerdings mit verschiedenen Akzentsetzungen: Während für die konservative Zeitdiagnostik Aufklärung, Revolution und Absolutismus aus demselben Holz geschnitzt waren und das Übel des Metternich-Staates eben in der Fortsetzung der josephinischen Zentralisierung bestand, war für die Liberalen die historische Aufklärung der Widerpart des Absolutismus.110 Entscheidend für die schillernde Mehrdeutigkeit des Begriffs „Josephinismus“ war nun, dass er im tagespolitischen und gelehrtensprachlichen Gebrauch der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit den hier angedeuteten Entwicklungsvektoren verbunden, zugleich aber als festgefügtes Programm angesehen wurde, „die Historiker des 19. Jahrhunderts mochten derartiges glauben, als sie sahen, wie die Parteien des Konstitutionalismus ihre Grundsätze zu Programmen zusammenschmiedeten“.111 Für die deutschsprachigen Liberalen zeichnete dieser „Josephinismus“ ihre Kulturmission innerhalb der Monarchie vor, er inaugurierte den politischen Zentralismus, dem es nachzueifern galt. Dem deutschsprachigen politischen Katholizismus galt der „Josephinismus“ aus eben diesen Gründen als größte Gefahr für die Monarchie, wohingegen er in den Nationalhistoriographien des späten 19. Jahrhunderts eben entweder als Inbegriff der die Nation gefährdenden Aufklärung oder als von der Aufklärung und von der Nation abgenabelter Zentralismus erschien: Die durch Zwang verhängte Staats109 Vgl. etwa Andreas Gottsmann, Stockböhmen oder Russenknechte? Das Bild der Tschechen im Spiegel der deutschsprachigen österreichischen Presse in den Jahren 1848. In: Österreichische Osthefte 34 (1992), 283–311. 110 Franz Leander Fillafer, Die Aufklärung in der Habsburgermonarchie und ihr Erbe. Ein Forschungsüberblick, wie Anm. 22, 57–71. 111 Klingenstein, Zur Einführung, wie Anm. 83, 21f.

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religion und die zwangsmäßige staatliche Germanisierung erschienen hier als zwei Seiten derselben Medaille.112 II.5 Grenzlandjosephinismus? Man muss sich diese Gemengelage verdeutlichen, um die Historiographiegeschichte des Josephinismus im 20. Jahrhundert zu begreifen. Nur so wird deutlich, warum der Josephinismus als Weichenstellung für das Schicksal der Monarchie so relevant war, warum seine Bedeutung als Forschungsproblem nach 1918 noch weiter zunahm. Gerade für das so genannte „Grenzlanddeutschtum“ in der Monarchie der Jahrhundertwende war Joseph II. eine Schlüsselfigur, Denkmalserrichtungs-Kampagnen, einschlägigen Feiern und Sammelaktionen begleiteten die Verehrung für den Kaiser.113 Wie man mit einem Blick auf die Hauptprotagonisten der folgenden Kapitel erkennt, scheint sich die Frage nach der Bedeutung des Josephinismus für das Fortbestehen der Monarchie gerade in der Zwischenkriegszeit in diesen Randgebieten, grenznahen Siedlungsquartieren und „Sprachinseln“ mit besonderer Vehemenz gestellt zu haben. Volkstumspolitisch organisiert waren die intellektuellen „Auslandsdeutschen“ über Arbeitskreise und Verbände, seien es NS-nahe Vorfeldverbände, sei es der „christlich-abendländisch“ geprägte „Österreichischen Verband für volksdeutsche Auslandsarbeit“.114 Betrachtet man die Lebensläufe von Valjavec, Winter, Hugo Hantsch – aber auch Ferdinand Maaß – vor diesem spezifischen Hintergrund, könnte man die Konjunktur des Themas in den 1930er und 1940er Jahren als „Grenzlandjosephinismus“ bezeichnen. Maaß (*1902) stammte aus dem Tiroler Oberinntal, er wurde im Weiler Hohlenegg bei Ried im Landkreis Landeck geboren; Winter (*1896) war gebürtig aus Grottau/Hrádek nad Nisou in der Region Reichenberg/Liberec, gelegen an den Ausläufern des Riesengebirges; Hugo Hantsch, ein Jahr älter als Winter, war in Teplitz-Schönau/Teplice-Šanov, ebenfalls in Nordböhmen, geboren. Valjavec (*1909), er kam in Wien als Sohn eines in Zagreb tätigen österreichischen Beamten und einer donauschwäbischen Mutter zur Welt, wuchs im Banat im Städtchen Vršac/Werschetz auf, seine Prägung als „Deutschungar“ erfuhr er am Deutschen Gymnasium im Budapest. Die volkstumspolitische Relevanz der Frage nach dem „Josephinismus“ lag für alle vier „Altös112 Rieger, Z germanisačního úsilí 18. věku, wie Anm. 104, 246. – Zur Spannung zwischen „allgemeiner“ und „deutscher“ Aufklärung bei Fritz Valjavec und Hugo Hantsch vgl. die Beiträge von Petra Svatek und Johannes Holeschofsky in diesem Band. 113 Vgl. Nancy Wingfield, Statues of Emperor Joseph II as Sites of German National Identity. In: Maria Bucur (Hg.), Staging the Past. The Politics of Commemoration in Habsburg Central Europe. West Lafayette 2001, 178–205; Ead., Conflicting Constructions of Memory. Attacks on Statues of Joseph II in the Bohemian Lands after the Great War. In: Austrian History Yearbook 28 (1997), 147–171. Gegen diese anachronistische Berufung auf Joseph II.: Rieger, Z germanisačního úsilí 18. věku, wie Anm. 104, 246. Vgl. den Beitrag von Ivo Cerman in diesem Band. 114 Jiří Němec, Eduard Winter v německém dějepisectví v protektorátu. Biografická studie o kariéře, přizpůsobení a politické podřízenosti historiografie [Eduard Winter und die deutsche Geschichtsschreibung im Protektorat Böhmen und Mähren. Biographische Studie zur Karriere, Anpassung und politischen Unterordnung des Historikers]. Diss Brno 2008, 74f.

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terreicher“ auf der Hand, zumal sie die Erfolgsaussichten von Zivilisierungsmissionen und Strategien interkulturellen Zusammenlebens historisch zu erklären versuchten.115 Dazu tritt noch ein zweiter Faktor der heuristischen Regionalisierung, den man in Betracht ziehen muss, wenn man die Josephinismus-Historiographie präziser erfassen will. Sowohl bei Maaß als auch bei Winter kommt der Josephinismus von den Rändern her. Bei Maaß ist es die Lombardei mit der Giunta, die als eigentliches Laboratorium der josephinischen Kirchenpolitik gilt, Kaunitz ist ihr Architekt.116 Bei Winter ist Böhmen die Herzkammer des Josephinismus, er ist auf Gedeih und Verderb an sein dortiges Personal gebunden, Bolzano rettet den Josephinismus ins 19. Jahrhundert hinüber und ermöglicht seine Weiterentwicklung zum Liberalismus, zwischendurch wird nach Wien geblendet, aber die dramaturgische Konvention der Einheit von Ort, Zeit und Handlung weist Böhmen als Hauptschauplatz aus. Das trug Winter Maaß’ Zurechtweisung ein, vor allem die Geschichte des Staatskirchentums könne man nicht „aus der Literatur und aus peripheren Provinzarchiven“ erarbeiten, sie sei „aus dem entscheidenden Archivmaterial der obersten Behörden“ zu rekonstruieren.117 Auch hier haben wir es mit einer Selektion zu tun, die Verwerfungen aus dem 19. Jahrhundert reproduziert. Schon damals war die raumheuristische Abgrenzung „zentraler“ und „peripherer“ Denkschemata, die hier den Erklärungsraster bildet, gängig, schon damals waren die Felder in dieser Matrix verschieden auffüllbar: So wurde etwa die aufgeklärte Staatskirche gegen die fromme, romtreue lokale Priesterschaft ausgespielt oder die reformkatholische, protoliberale Regionalkirche von der ultramontanen Staatskirche abgegrenzt.118 Auch bei Valjavec spielen solche Geschichtsräume, aus früheren Jahrhunderten übernommene Topographien mit ihren Zonengliederungen und Grenzverläufen eine ganz elementare Rolle. Valjavecs Impulse stammen aus der Kultureinfluss-Forschung, er hat die Ausbreitung der Aufklärung eng mit dem Ausgreifen des „Deutschtums“, der „deutschen Kultur“ in Südostmitteleuropa verbunden. Unter Betonung der Wechselbefruchtung, die unter den „ethnischen“ Gruppen der Region geherrscht habe, führt Valjavec die Diffusion der Aufklärung als entscheidende Etappe in die Geschichte des „deutschen Kultureinflusses“ ein; damit refunk115 Vgl. die Beiträge von Ivo Cerman und Johannes Holeschofsky in diesem Band. 116 Ferdinand Maass, Der Josephinismus. 5 Bde., Wien 1951–1961; Id., Vorbereitung und Anfänge des Josefinismus im amtlichen Schriftwechsel des Staatskanzlers Fürsten von Kaunitz-Rittberg mit seinem bevollmächtigten Minister beim Governo generale der österreichischen Lombardei, Karl Grafen von Firmian, 1763 bis 1770. In: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 1 (1948), 437–441; Grete Klingenstein, Staatsverwaltung und kirchliche Autorität im 18. Jahrhundert. Das Problem der Zensur in der theresianischen Reform. Wien 1970; Franz Szábo, Intorno alle origini del giuseppinismo. Motivi economico-sociali e aspetti ideologici. In: Società e storia 4 (1979), 155–174; Id., Kaunitz and Enlightened Absolutism, 1753–1780. Cambridge 1994, 210–228; Beales, Joseph II, 1, wie Anm. 46, 446f.; Carlo Capra, Kaunitz and Austrian Lombardy. In: Grete Klingenstein / Franz Szábo (Hg.), Staatskanzler Wenzel Anton von Kaunitz-Rietberg 1711–1794. Neue Perspektiven zu Politik und Kultur der europäischen Aufklärung. Graz – Esztergom – Paris – New York 1996, 244–260. 117 Historische Zeitschrift 198 (1964), 682–685, 683. 118 Fillafer, Escaping the Enlightenment, wie Anm. 2, 197.

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tionalisiert er aber den älteren Bollwerkmythos, der seit den Kriegen gegen das Osmanische Reich Zentraleuropa als antemurale gegen die heranbrandende Barbarei aus dem Südosten aufbaute.119 Valjavec behält diese Vorstellung eines Festungsrings überlegener „deutscher“ Kultur bei, ersetzt aber die ältere religiöse Definition: Anstelle des Katholizismus führt er die Aufklärung als Kulturbringer ein.

III Biogramme III.1 Eduard Winter Eduard Winter, als Sohn eines Grundbuchbeamten und Kanzleiverwalters in Nordböhmen aufgewachsen, besuchte zunächst das Gymnasium in Česká Lípa/Böhmisch Leipa. Aus der nationalen Schülerverbindung Germania soll er mit sechzehn Jahren ausgetreten sein, nachdem es zur Verhöhnung der Konsekration der Hostie bei einer „Kneipe“ der Burschenschaft gekommen war.120 Schon 1914 führte er den Vorsitz bei der gemeinsamen Jahrestagung der deutschen katholisch-vaterländischen Mittelschulverbindungen Nordböhmens, der als verheerend empfundene Mangel deutschsprachiger Priester in Nordböhmen hat Winter eigenen Angaben nach zusätzlich angespornt, Theologie zu studieren. Bei Kriegsausbruch meldete er sich freiwillig, wurde aber abgelehnt. Winter ging nach Innsbruck, wo er vier Jahre an der dortigen Jesuitenfakultät hörte, auch in Tirol war er als Leiter einer Studentengruppe aktiv. Kurt Augustin Huber, vormals Winters Assistent in Prag, merkte hierzu an: „Daß ihn das Ideal der Jesuiten tief beeindruckt hat, zeigt sich darin, daß er einige Jahre später ernsthaft daran dachte, selbst in die Gesellschaft Jesu einzutreten. Nach 1940 machte er sich den im außerkatholischen Schrifttum beliebten Topos von der Gesellschaft Jesu als Verkörperung geistigen Machtstrebens zu eigen.“121 1919 erhielt Winter die Priesterweihe und warf sich in die Arbeit für das sozialstudentische Apostolat, die Großstadtmission, die damals Carl Sonnenschein von Berlin aus propagierte. Nach Böhmen zurückgekehrt, setzte Winter seine Studien an der Deutschen Universität in Prag fort, wo er vor allem bei dem Volkswirt Oskar Engländer und beim Juristen und Statistiker Heinrich Rauchberg seine sozialtheoretischen Interessen vertiefte. 1921 wurde er mit einer Arbeit über den Eigentumsbegriff im Pentateuch promoviert,122 im Folgejahr habilitierte er sich mit einer Schrift zur sozialen und pastoralen Bedeutung der Landkranken-

119 Vgl. jüngst Johannes Feichtinger / Johann Heiss (Hg.), Geschichtspolitik und „Türkenbelagerung“. Wien 2013. 120 Kurt Augustin Huber, Eduard Winter (1896–1982). Ein Nekrolog, in: Id., Katholische Kirche und Kultur in Böhmen. Ausgewählte Abhandlungen, hg. von Joachim Bahlcke / Rudolf Grulich. Münster 2005, 711–752, hier 712. 121 Huber, Eduard Winter, wie Anm. 120, 714. 122 Huber, Eduard Winter, wie Anm. 120, 715.

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pflege.123 Als Protégé des Prager Weihbischofs Wenzel Frind wirkte der Studentenseelsorger Winter für das Ideal des aufopferungsbereiten und feinspürigen, national bewussten Priesters, der die stark empfundenen Verkrustungen der Amtskirche beseitigen sollte. In seiner Organisationsarbeit für den sudetendeutschen Katholikenverband Staffelstein machte Winter sich die Gedanken des sozialen Aufbruchs und die ersehnte Wirkmacht der Kirche in einer von der spirituellen Verelendung bedrohten Gesellschaft zu eigen, die „Andächteleien“ der damaligen neuen Mysterientheologie hingegen blieben ihm eigenem Bekunden zufolge fremd. 124 Dabei pflegte Winter enge Kontakte mit Teilen des tschechischen Wissenschaftsmilieus, betonte immer wieder die Notwendigkeit der Verständigung zwischen den beiden Völkern in Böhmen und versuchte ihre wechselseitige Abhängigkeit in der Geschichte herauszustellen.125 Wie stark nationalpolitische, sozialpädagogische und wissenschaftliche Interessen bei Winter verklammert waren, zeigt sein weiterer Werdegang: Befristet als Adjunkt an der Theologischen Fakultät der Prager Deutschen Universität angestellt, entschied er sich für ein zweites, geschichtswissenschaftliches Doktorat, so entstand seine Monographie über den böhmischen Schulreformer der Spätaufklärung Ferdinand Kindermann von Schulstein. Das Buch über Kindermann, das 1926 im Druck erschien, war seinem Mentor Frind gewidmet.126 Hier stellte Winter Kindermann in den Dienst der sudetendeutschen Selbstvergewisserung als „ostmitteldeutsche“ Brücke zwischen dem Reich und dem osteuropäischen „Deutschtum“; Valjavec sollte zehn Jahre später das gleiche Verfahren auf den „südostdeutschen“ Preßburger Bürgermeister der Aufklärungszeit Karl Gottlieb Windisch anwenden. Das volkstumspolitische Bestreben, die Bande zum „Stammland“ zu festigen, um nicht zum „Kulturdünger fremder Nationen herabzusinken“, durchtränkte die Arbeit von Winters Geldgeber, dem „Reichsverband für das katholische Auslandsdeutschtum“. Er unterstützte die Forschungsreisen, die Winter mit seinen Staffelsteinern zu „Deutschen“ in der Karpatoukraine und in Galizien führten.127

123 Vgl. den Beitrag von Sonia Horn in diesem Band. 124 Huber, Eduard Winter, wie Anm. 120, 720. 125 Jiří Němec, Eduard Winter und sein Prager Kreis. In: Stefan Albrecht / Jiří Malíř / Ralph Melville (Hg.), Die „sudetendeutsche Geschichtsschreibung“ 1918–1960. Zur Vorgeschichte und Gründung der Historischen Kommission der Sudetenländer. München 2008, 113–125; Pavel Kolář, Eine Brutstätte der Volksgeschichte? Überlegungen zur Geschichte der Prager deutschen Historiographie 1918–1938 im Gesamtkontext der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft’. In: Robert Luft et al. (Hg.), Geschichtsschreibung zu den böhmischen Ländern im 20. Jahrhundert. Wissenschaftstraditionen – Institutionen – Diskurse. München 2006, 109–135. 126 Eduard Winter, Ferdinand Kindermann, Ritter von Schulstein (1740–1801). Der Organisator der Volksschule und Volkswohlfahrt Böhmens. Augsburg 1926. 127 Zitat aus dem Großen Herder von 1932, nach: Reinhard Richter, Nationales Denken im Katholizismus der Weimarer Republik. Münster 2000, 305. Vgl. weiters: Ingo Haar, Sudetendeutsche Sprachinselforschung zwischen Volksgruppen-Bildung und Münchener Abkommen: Eduard Winter, Eugen Lemberg und die Nationalisierung und Radikalisierung des deutsch-katholischen Wissenschaftsmilieus in Prag, 1918–1938. In: Hans Henning Hahn (Hg.), Hundert Jahre sudetendeutsche Geschichte. Eine völkische Bewegung in drei Staaten. Frankfurt am Main 2007, 207–242.

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Reibereien und Scharmützel machten es für Winter schwierig, sich an der Fakultät zu etablieren. 1928 habilitierte sich Winter mit einer philosophisch-systematischen Arbeit über den Vormärztheologen Anton Günther,128 danach supplierte er als Privatdozent „Christliche Philosophie und Gesellschaftslehre“. 1929 wurde er als unbesoldeter außerordentlicher Professor an der Universität angestellt, für seinen Lebensunterhalt konnte er zunächst dank einer von Frind vermittelten Kaplanei in der Diözese Leitmeritz aufkommen. 1931 erfolgte die Berufung als beamteter Professor für Philosophie, in den Jahren darauf erschienen seine Erstlingswerke über Bernard Bolzano.129 In Bolzano fand Winter sein Lebensthema und sein ethisches Vorbild, Bolzanos Wirken als Seelsorger und als Lichtgestalt des „Reformkatholizismus“ – Winter übernahm hier den Begriff Franz Xaver Kiefls130 – schien ihm kongenial. Seine Bücher über Anton Günther und Bolzano, deren Werke ja von der Kurie verurteilt worden waren, empfahlen Winter aber nicht für höhere Weihen an der Fakultät, die Berufung auf den Lehrstuhl für Kirchengeschichte und Patristik erfolgte 1934 nur nach langwierigen Revirements und Interventionen beim Prager Erzbischof Karel Kašpar. Parallel liefen Winters Überzeugungsarbeit für das Verständnis der „deutsch-volksmäßigen Ausdruckskraft“ des Christentums und sein Agitieren für die sozialethische Mission der Kirche in der Gesellschaft weiter, für jene beiden Anliegen also, die er durch den „Zentralismus“ der Kurie und die anationale Beschwichtigungspolitik des böhmischen Episkopats gefährdet sah.131 Die territorial- und landeskirchlichen, sozialfürsorgemäßigen sowie seelsorgerischen Komponenten des „Josephinismus“ sollten Winter also nicht von ungefähr begeistern. Stringenz und Verve gewann Winters Konzeption des Josephinismus auch daraus, dass sie eine Intervention in die volkstumspolitischen Grabenkämpfe der Böhmendeutschen darstellte. Hier baute Winter auf dem älteren Josephskult aus der Spätzeit der Monarchie auf, der eng mit der Behauptung eines Primats des „deutschen“ Volkstums gegenüber dem Staat verbunden war, gewann aber aus dieser zuvor antiklerikal-kulturkämpferischen Tradition einen christlich-nationalen Kern. Die Denunziationen innerkatholischer Widersacher, die dem Staffelstein-Kreis vorwarfen, er hätte „Hakenkreuzterminologie in Reinkultur“ geboten, „Deutschtum über Christentum“ gestellt und eifrig „Pflege des Antisemitismus“ getrieben, sollte Winter zweimal, im Dezem128 Eduard Winter, Das positive Vernunftskriterium. Eine historisch-kritische Studie zu der philosophisch-dogmatischen Spekulation Anton Günthers. Warnsdorf 1928; Id., Die geistige Entwicklung Anton Günthers und seiner Schule. Paderborn 1931. 129 Eduard Winter, Religion und Offenbarung in der Religionsphilosophie Bernard Bolzanos. Breslau 1932; Id., Bernard Bolzano und sein Kreis. Leipzig 1933; Id., Der Bolzanoprozeß. Dokumente zur Geschichte der Prager Karlsuniversität im Vormärz. Brünn – München – Wien 1944. 1934 präsentierte Winter seine Thesen über die Ursprünge der niederländischen devotio moderna, die in Thomas a Kempis Imitatio Christi gipfelte: Winter ortete die Wurzeln der devotio im humanistischen Prager Milieu zur Zeit Karls IV, vgl. Jiří Němec, Raný humanismus v díle Eduarda Wintra [Der Frühumanismus im Werk Eduard Winters]. In: Pavel Sokoup / František Šmahel (Hg.), Nemecká medievistika v ceských zemích do roku 1945. Praha 2004, 363–380. 130 Karl Josef Lesch, Franz Xaver Kiefl und der Reformkatholizismus, in: Würzburger Diözesangeschichtsblätter 43 (1981), 359–387. 131 Huber, Eduard Winter, wie Anm. 120, 734.

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ber 1938 und im Mai 1940, als Beweis seiner einwandfreien parteikonformen Gesinnung dem Dekan der Deutschen Universität vorlegen.132 Nach der Zerschlagung der Tschechoslowakei durch Nazideutschland und der Errichtung des Protektorats Böhmen und Mähren blieb Winter zunächst an der Theologischen Fakultät, ab Frühling 1939 wurde er als NSDAP-Mitglied geführt.133 Winter stand unter Überwachung, 1939 wurde er vom Sicherheitsdienst (SD) als verkappter Klerikaler eingestuft,134 seine Vorlesungsthemen schnitt er auf die Raumforschung zu. Es kam zu Anfeindungen seitens nationalsozialistischer Studenten, sie beanstandeten, dass ein „dogmatisch gebundener“ Dozent über „arteigenes deutsches Denken“ lehrte.135 Wie Jiří Němec in seinem Beitrag zeigt, schritt Winters Entfremdung von der Kirche in diesen Jahren immer weiter fort. Private und politische Motive waren hier miteinander verquickt: Winter hatte eine Beziehung zu seiner späteren Frau, mit der er eine Familie gründen wollte, das Auftreten als nationaler Priester wurde immer aussichtsloser, die ihm vorschwebende Versöhnung von deutschem Volkstum und katholischer Kirche erwies sich zunehmend als illusionär. Am 4. September 1940 teilte Winter dem Reichserziehungsminister mit, dass es ihm „weltanschaulich nicht mehr möglich“ sei, seiner „Lehrverpflichtung für Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Deutschen Universität Prag“ weiterhin zu entsprechen und bat um „sofortige Entpflichtung“. Winter heiratete am 27. Februar 1941,136 am 20. April 1941 folgte die Exkommunizierung.137 Im Herbst 1941 wurde Winter mit seinem bisherigen kirchengeschichtlichen Lehrstuhl an die Philosophische Fakultät versetzt, sein Lehrstuhl in eine Forschungsprofessur für „Europäische Geistesgeschichte“ umgewandelt. Winter sah sich als „Opfer der Machtkirche“,138 dies rückte ihn noch mehr an sein Idol Bernard Bolzano heran. Winters Tätigkeit in der Heydrich-Stiftung beleuchtet Jiří Němec in seinem Beitrag;139 seine Studien über die Ostkirche und die päpstlichen Unionsversuche aus jenen Jahren werden mitunter als „Nische“ für den vom Tageskampf zermürbten Winter verstanden, sein Buch über Rom und Byzanz im Kampf um die Ukraine als Abstecken eines

132 Vgl. Georg Gimpl, Die Jahre der „Erfüllung“? Eduard Winter oder: Gelenkte Kulturgrenzforschung im Geiste des historischen Materialismus. In: Id. (Hg.), Mitteleuropa. Mitten in Europa = Der Ginko-Baum. Germanistisches Jahrbuch für Nordeuropa 14 (1996), 252–282, hier 258, vgl. Christianus, Die Totengräber des sudetendeutschen Katholizismus. Prag 1938. 133 Vgl. zu den verwickelten Umständen seiner Parteimitgliedschaft Jiří Němec, Eduard Winter (1896– 1982). „Eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der österreichischen Geistesgeschichte unseres Jahrhunderts ist in Österreich nahezu unbekannt“. In: Karel Hruza (Hg.), Österreichische Historiker 1900–1945. Lebensläufe und Karrieren in Österreich, Deutschland und der Tschechoslowakei in wissenschaftsgeschichtlichen Porträts. Wien 2008, 669–725, hier 706. 134 Němec, Winter, wie Anm. 114, 97. – Ausführlich zu Winter der Beitrag von Jiří Němec in diesem Band. 135 Němec, Winter, wie Anm. 114, 103 (Studienjahr 1938–1939). 136 Němec, Eduard Winter, wie Anm. 133, 684. 137 Němec, Winter, wie Anm. 114, 96. 138 Huber, Eduard Winter, wie Anm. 120, 741. 139 Němec, Eduard Winter, wie Anm. 133, 711–717.

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„neutralen“ Arbeitsgebiets. Winters Arbeiten lagen eindeutig im Einzugsgebiet der Ostforschung, wegen ihrer „kriegsentscheidenden“ Bedeutung wurde Winters Archiv für osteuropäische Geistesgeschichte, das geraubte Akten aus den besetzten Gebieten bearbeiten sollte, von den Budgetreduktionen und Einschränkungen nach Verkündung des „totalen“ Kriegseinsatzes ausgenommen.140 Aus Winters Arbeiten über Panslawismus, Slawophilie und Orthodoxie fielen auch Lehrbehelfe, Schulungsmaterial für den Reichssicherheitshauptamt-„Dienstgebrauch“ ab.141 Das Josephinismus-Buch trug das Erscheinungsjahr 1943, wurde aber erst 1944 ausgeliefert. Němec und Ivo Cerman spüren in ihren Beiträgen den Verschiebungen und Valeurs von Winters Josephinismusbegriff zwischen den frühen 1930er Jahren und 1943 nach. Nach Kriegsende bemühte sich Winter, dem im Juni 1944 vom Rektor der Prager Deutschen Universität bescheinigt worden war, er sei „politisch in jeder Hinsicht anerkannt“, 142 am Wiener Institut für Osteuropäische Geschichte Fuß zu fassen,143 dieser Versuch scheiterte.144 Winter sieht sich selbst als Opfer der klerikalen Reaktion, die im niemals seine Heirat und sein Niederlegen des Priesteramtes verziehen habe; Winter war davon überzeugt, dass seine einstigen Freunde aus dem Kreis deutschgesinnter Katholiken der Zwischenkriegszeit ihn insgeheim um seine Courage beneideten, dass sie ihn verfolgten, um „Gewissenskonflikte, an denen sie selbst gelitten hatten“ zu bereinigen.145 Um ihre eigenen NS-Scharten auszuwetzen, denunzierten diese ehemaligen Weggefährten Winter als Parteimitglied und führenden Kopf der Heydrich-Stiftung.146 Die „Verschränkung“ klerikaler und „deutschnationaler“ Restauration nach 1945 überschattete das universitäre Leben,147 Winters Berufung auf einen Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte wurde hintertrieben.148 Der damalige Vizepräsident 140 Němec, Winter, wie Anm. 114, 100. Eduard Winter, Byzanz und Rom im Kampf um die Ukraine. Leipzig 1942. Vgl. auch Jiří Němec, Zwischen „negativer“ und „positiver“ Ostforschung: Der Ostmitteleuropahistoriker Eduard Winter, Manuskript. 141 Němec, Zwischen „negativer“ und „positiver“ Ostforschung, wie Fn. 140. Johannes Papritz, Geschäftsführer der Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft und Leiter der Publikationsstelle Berlin-Dahlem, zeichnete dafür verantwortlich, dass zumindest ein Text Winters für den Schulungs- und Dienstgebrauch vervielfältigt wurde. 142 Němec, Winter, wie Anm. 114, 126, Anm. 469. 143 Eduard Winter, Erinnerungen (1945–1976), hg. von Gerhard Oberkofler. Frankfurt am Main 1994, 9–35. 144 Vgl. aus dieser Zeit: Eduard Winter, Joseph II. Von den geistigen Grundlagen und letzten Beweggründen seiner Reformen, in: Der Bindenschild 3 (1946), 19–46. 145 Winter, Erinnerungen, wie Anm. 143, 12, 25; Winter, Mein Leben im Dienste des Völkerverständnisses. nach Tagebuchaufzeichnungen, Briefen, Dokumenten und Erinnerungen. Berlin 1981, 154–179, 185f. 146 Winter, Erinnerungen, wie Anm. 143, 12, 25. 147 Christian Fleck, Autochthone Provinzialisierung. Universität und Wissenschaftspolitik nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft in Österreich. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 7 (1996), 67–92. 148 Vgl. Němec, Eduard Winter, wie Anm. 133, 674, 684–697, 722, Fn. 271 über Zweifel an Winters fachlicher Eignung für die angestrebte Professur beim Slawisten Rudolf Jagoditsch.

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der Akademie der Wissenschaften, Richard Meister, selbst ein wendiger Gelehrter, der es verstand, im Austrofaschismus ebenso zu reüssieren, wie im Nationalsozialismus und in der Zweiten Republik,149 hatte sich mit Winters Anträgen auseinanderzusetzen: Winter wollte die Briefe Bolzanos unter dem Patronat der philosophisch-historischen Klasse erscheinen lassen. Meister beschied ihn hinhaltend, die „politische Beurteilung“ seiner Person sei abzuwarten.150 Winters Bolzano-Brevier mit dem Untertitel Sozialethische Betrachtungen aus dem Vormärz wurde in der Furche 1947 vernichtend rezensiert. Diese Erfahrungen verstärkten Winters Hang, sich zum Märtyrer zu stilisieren, in Briefen stellt er sein Schicksal in eine Reihe mit jenem Bolzanos und Brentanos.151 Von seinem Scheitern auf dem Wiener Parkett enttäuscht, wechselte Winter 1947 in die ostdeutsche Sowjetische Besatzungszone. Ab 1947 war Winter als Ordinarius in Halle an der Saale tätig, dort bekleidete er während des 450-jährigen Reformationsjubiläums das Rektorat, ab 1950 wirkte er als Professor in Berlin. Winter verstand es dabei geschickt, das ältere Programm der „Kulturgrenzforschung“152 aufzukochen und in das Gefäß der „deutsch-slawischen Wechselseitigkeit“ zu gießen sowie seine Analyse des Reformkatholizismus mit dem im neuen kommunistischen Gastland wie zuvor im NS-Wissenschaftsmilieu vorgeschriebenen Antiklerikalismus zu verbinden. Winter begeisterte sich für den kommunistischen Internationalismus, der nach dem Krieg die Wunden der aggressiven Nationalideologien in der Region heilen sollte.153 Als 149 Johannes Feichtinger, Richard Meister. Ein dienstbarer Hochschulprofessor in vier politischen Regimen. In: Mitchell Ash (Hg.), Die Universität Wien als Ort der Politik seit 1848, 2/1 Wien 2015 [im Druck]. 150 Winter, Erinnerungen, wie Anm. 143, 17. 151 Winter, Erinnerungen, wie Anm. 143, passim; Id., Bernard Bolzano, der Stern meines Lebens. In: Id., Ausgewählte Schriften aus dem Nachlass, hg. von Edgar Morscher. St. Augustin 1993, 27–30. 152 Winter, Erinnerungen, wie Anm. 143, 35. 153 Winter, Erinnerungen, wie Anm. 143, 13, mit der Analyse des „romantischen Nationalismus“ als neues Lebensthema. Vgl. Winters Manuskript Quintessenz der Geschichte meines Denkens: „Und wirklich, ich erlebte im freundschaftlichem Umgang mit der Roten Armee Mai-Juni 1945 meinen zweiten geistigen Umbruch. Das kleinbürgerlich Nationale wich dem sozialistischen Internationalismus, wie ihn mir meine Rotarmisten praktisch vorführten. In Österreich, wo ich am 1. August 1945 eintraf, las ich in der Seminarbibliothek für osteuropäische Geschichte, die ich neu aufbaute, eifrig Lenin und fand hier theoretisch die Bestätigung für das, was mir die Rotarmisten praktisch vorgeführt hatten mit dem stolzen Bekenntnis: ‚Wir kennen in der Sowjetunion keinen Nationalitätenhass‘. Dies war für mich eine Erlösung aus nationalem Krampf, die meine Liebe zum eigenen Volk nicht minderte. Die Novembererklärung 1914 in Bern war dafür klassische Aussage, die ich immer wieder mit Begeisterung las. Ein weiterer Stein des Anstoßes war meine Exkommunikation als verheirateter katholischer Priester. Noch mehr war es freilich mein Denken, das mir diese maßgeblichen klerikalen Kreise zu entschiedenen Feinden machte. Vor allem mein Buch über den Josefinismus als Reformkatholizismus zog mir den Hass dieses Kreises z.B. um F[riedrich]. Funder [(1872– 1959)] zu. Der Jesuit F[erdinand]. Maaß [(1902–1973)] wurde bereits 1946 veranlasst, durch umfassende Quellenausgaben zu beweisen, daß der Josefinismus, der ins 19. Jahrhundert verlängert wurde, kirchenfeindliches Staatskirchentum sei, wobei, wie später festgestellt, auch vor Fälschungen der Quellen nicht zurückgescheut wurde. Auch mein begeisterter Einsatz für die österreichisch-sowjetische Freundschaft war keine Empfehlung in den Augen der damaligen klerikalen Machthaber Österreichs. So ist es verständlich, daß ich den Machthabern in Österreich nicht der Mann

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Einstandsgeschenk präsentierte er das erwähnte Bolzano-Brevier.154 Winter war kein SED-Mitglied, als bedeutender „bürgerlicher“ Historiker trug er der DDR-Historiographie zu seiner Zeit einiges Prestige ein, als Antifaschisten wie Walter Markov und Leo Stern in die kommunistische Besatzungszone gingen und Gelehrte wie Ernst Bloch und Hans Mayer sie gen Westen verließen. Als die Trennung der beiden deutschen Staaten sich verhärtete, ließ es Winter nicht an Linientreue fehlen, wohl auch, um Zweifel über seine politische Eignung als Hochschullehrer in der DDR zu zerstreuen.155 Während der 60er Jahre wurde Winter immer wieder mit unbequemen Fragen über seine Prager Zeit konfrontiert, die in Gang kommende Historisierung der Ostforschung schien Winters Reputation zu gefährden. 1961 begrüßte er den Mauerbau mit einer Absage gegen die „politischen und ideologischen Dunkelmänner der Vergangenheit, die sich in Westdeutschland wieder die Macht erschlichen haben“;156 1962 wurde er an der Universität emeritiert, 1965 an der Akademie der Wissenschaften. Winters akademische Anerkennung wuchs weiter, das festigte aber nicht unbedingt seine Position in der DDR-Wissenschaft. Durch die gemeinsame Herausgabe der Ketzer-Schicksale unterstützte er seinen vormaligen Assistenten, den wegen „Objektivismus“ und „Revisionismus“ mit Berufsverbot belegten Günter Mühlpfordt, dessen Schriften nur verstümmelt erscheinen konnten.157 Zugleich versäumte es Winter nicht, in Briefen an den SED-Chefideologen, ZK-Mitglied Kurt Hager, darauf hinzuweisen, dass einer seiner „begeisterten“ österreichischen Schüler unter seinem Einfluss Mitglied der KPÖ geworden sei.158 Obwohl Winter in Anspielung auf Bolzanos „sozionomes“ Denken und das sozialistische Gepräge des „obersten Sittengesetzes“ noch 1977 beteuerte, wie viel er Hagers Vorlesungen über den war, den sie auf dem Lehrstuhl für osteuropäische Geschichte an der Wiener Universität sehen wollten“: nach Oberkofler, Zum Kontext von Dossiers im Büro Kurt Hager über zwei altösterreichische Emigranten in der Deutschen Demokratischen Republik. In: Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft 3/2011, 9–19 (www.klahrgesellschaft.at/Mitteilungen/AKG_3_11.pdf ) [08.02.2015]; Ebenda, 13: „Die große Leistung, die auf dem Gebiet der Geschichte des Denkens nun [nach 1945] erfolgte, war im Westen entweder Ausfluss einer krankhaften Selbstbestätigung oder primitive Naivität, nicht aber Einfluss günstiger gesellschaftlicher Entwicklung.“ 154 Eduard Winter, Bolzano-Brevier. Sozialethische Betrachtungen aus dem Vormärz. Wien 1947. 155 Vgl. die Bemerkung des Winter-Schülers Gerhard Oberkofler: „Eduard Winter erschien Leo Stern politisch nicht ganz zuverlässig, wozu er aber auch im Blick zurück keine tatsächlichen Anhaltspunkte haben konnte. Wohl aber gab es immer wieder, nicht zuletzt von klerikaler Seite in die Welt gesetzte Gerüchte wegen Winters angeblicher Zusammenarbeit mit den Nazis in Prag. Leo Stern waren allerdings Intelligenzler schon zuhauf begegnet, die die Arbeiterbewegung verraten und verlassen hatten. Seine Reserven gegenüber Winter könnten darauf beruhen.“: Gerhard Oberkofler, Die Wahl von Leo Stern in die Deutsche Akademie der Wissenschaften (1955). In: Mitteilungen der Alfred-Klahr-Gesellschaft 1/1999, (www.klahrgesellschaft.at/Mitteilungen/Oberkofler_1_99.html) [08.02.2015]. 156 Ilko-Sascha Kowalczuk, Geist im Dienste der Macht: Hochschulpolitik in der SBZ/DDR 1945 bis 1961. Berlin 2003, 555. 157 Margarete Wein, Interview mit Günther Mühlpfordt. In: Berliner Osteuropa-Info 11 (1998), 100–103; Eduard Winter, unter Mitarbeit von Günther Mühlpfordt, Ketzerschicksale. Christliche Denker aus neun Jahrhunderten. Berlin/Ost 1979. 158 Schreiben von Eduard Winter an Kurt Hager vom 24. 2.1977, zititiert nach: Oberkofler, Zum Kontext von Dossiers, wie Anm. 153, 10.

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dialektischen Materialismus verdanke, die er 1952/53 in Berlin gehört hatte,159 blieben die materialistischen Analysekategorien in seinen Arbeiten Stukkatur. Wie veränderte sich Winters Josephinismusbegriff? Dafür ist nicht nur die Zweitauflage des Buchs von 1962 aufschlussreich, sondern auch verstreute Rezensionen und entlegen veröffentlichte Bemerkungen. Besonders zwei Besprechungen, die Winter 1968 über die frisch erschienenen Bücher Roger Bauers und Christoph Thienen-Adlerflychts veröffentlichte, enthalten wichtige Anhaltspunkte. Roger Bauers Buch Der Idealismus und seine Gegner in Österreich verschmolz Barock und Josephinismus gegensatzaufhebend unter der Perspektive der Staatsidolatrie und „Ordo“-Ideologie zu einer Einheit. Dazu bemerkt Winter: „Auf Grund von Quellenanalysen kam der Rez. nach vielen Forschungen in einem eben abgeschlossenen Buche über den Frühliberalismus […] zu anderen Ergebnissen, als denen, die er früher erarbeitet hatte und von denen B. stark beeinflußt ist. Vor allem geht es um ein besseres Verständnis des Josefinismus und seiner Geschichte.“ Das Staatskirchentum sei „nur ein Aspekt des Josefinismus, wie noch stärker betont werden muß. Deswegen ist der Begriff Frühliberalismus richtiger, der wohl bei der katholischen Aufklärung (Josephinismus) als geistiger Bewegung beginnt, aber doch, durch andere Umstände gezwungen, neue Ufer anstrebt“.160 Über Christoph Thienen-Adlerflychts Graf Leo Thun im Vormärz schreibt Winter, der Autor verkenne nicht nur Metternich, den er mit einem „vortheresianischen Absolutismus“ identifiziere, sondern missverstehe als Schüler des Priesters und Innsbrucker Universitätsprofessors für Geschichte Karl Eder, auch den Liberalismus. Zum einen betont Winter gegen Thienen jetzt die Kontinuität zwischen Spätjosephinismus und Frühliberalismus, die er selbst früher „nicht ganz richtig gesehen“ habe,161 schon unter Leopold II. habe sich die Verwandlung vom Josephinismus zum Liberalismus vollzogen.162 Eders Irrtum, dass „die Abzweigung des liberalen Denkens aus den Geleisen und Scharnieren des Josephinismus“ mit Metternichs Regierungsantritt eingetreten sei, habe Thienen zur konzeptuellen Grundlage seines Buchs gemacht.163 1962 erschien die Neuauflage von Winters Josephinismusbuch, die Ferdinand Maaß zu dem Verdikt reizte, es handle sich nur „in zweiter Linie um ein rein wissenschaftliches Werk“, 159 Schreiben von Winter an Hager vom 29. 5. 1979, zitiert nach: Oberkofler, Zum Kontext von Dossiers, wie Anm. 153, 12: „Vorgänge in der Geschichte des Denkens um 1800, die ich von meiner bisherigen, idealistischen Sicht nicht verstehen konnte, wurden mir jetzt durch Anwendung des historischen Materialismus, der die Entwicklung der Wirtschaft und die Klassenauseinandersetzungen beachtete, klar.“: Winter in Quintessenz der Geschichte meines Denkens, zitiert nach Oberkofler, Zum Kontext von Dossiers, wie Anm. 153, 13. 160 Eduard Winter, Rezension Bauer, Der Idealismus und seine Gegner in Österreich [Heidelberg 1966]. In: Deutsche Literaturzeitung 89/4 (1968), 289. 161 Eduard Winter, Rezension Thienen-Adlerflycht, Graf Leo Thun im Vormärz. Grundlagen des böhmischen Konservatismus im Kaisertum Österreich [Wien – Köln – Weimar 1967]. In: Deutsche Literaturzeitung 89 (1968), Sp. 812–814, 813. 162 Winter, Rezension Thienen, Leo Thun, wie Anm. 161, Sp. 813; vgl. Id., Frühliberalismus in der Donaumonarchie. Religiöse, soziale und wissenschaftliche Strömungen von 1790–1868. Wien 1968, 11. 163 Winter, Rezension Thienen, Leo Thun, wie Anm. 161, Sp. 814.

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weil es, abgesehen von „einigen kleinen Verbeugungen vor der marxistischen Geschichtsauffassung“, seit 1943 unverändert geblieben sei.164 Auch Robert Kann bemerkte: „the smooth transition of a work from one totalitarian regime to another is hardly a compliment“, jedoch: „the old book certainly stood head and shoulders above the pseudoscholarly National Socialist literature.“165 Kann zeigt sich verblüfft über Winters Unvermögen, die Verflochtenheit der doktrinengeschichtlichen und institutionellen Aspekte des Staatskirchentums zu erkennen: „He frequently approves the former within the spirit of Josephinian reforms and condemns the latter.“166 Zudem lege Winter einen Doppelstandard an: Die Protagonisten des „Barockkatholizismus“ schmachten im Gefängnis ihrer Begriffe und Weltauffassung, während für Winter selbst gelte: „the champion of historical materialism moves in a sphere of unrestricted reality.“167 Nach seinem Werk Frühaufklärung. Der Kampf gegen den Konfessionalismus in Mittel- und Osteuropa (1966) legte Eduard Winter Ende der 1960er Jahre in rascher Folge eine Trilogie zur Geistesgeschichte der Donaumonarchie vor, die aus „Forschungsvorlesungen“ an der Humboldt-Universität hervorgingen; während diese Bände in Ostberlin im Akademie Verlag erschienen, wurden sie in Wien von Wilhelm Frank betreut und im Europa Verlag herausgebracht.168 Vor allem Winters Frühliberalismus, erschienen 1968, zollten die Rezensionen von Edith Rosenstrauch-Königsberg bis Ernst Wangermann einhellig große Anerkennung, bemängelt wurde lediglich Winters sehr kursorische Quellendokumentation.169 III.2 Fritz Valjavec Während Winter sich auf seinen sozialethischen, theologiegeschichtlichen und volkspädagogischen Interessen aufbauend als Geisteshistoriker profilierte, bündelte Valjavec sein Interesse und seinen Umgang mit Quellen unter dem Begriff Kulturgeschichte; als Kulturhistoriker der Aufklärung forcierte er ein Programm, das sich kritisch von der Geistesgeschichte absetzte. Die „allgemeine Kulturgeschichte“ sollte der Geistesgeschichte den Rang ablaufen, indem sie die „volkstümliche“ Überlieferung in ihrer ganzen Breite und Tiefe zu erfassen beanspruchte. Diese Betonung des „Volkstums“ gegenüber einer staatsverhafteten Perspektive 164 Ferdinand Maass, Rezension Winter, Josephinismus [1962]. In: Historische Zeitschrift 198, 1964, 682–685, 682. 165 Robert Kann, Rezension Winter, Der Josefinismus [1962] sowie Silagi, Ungarn und der geheime Mitarbeiterkreis Kaiser Leopolds II. In: Slavic Review 22 (1963), 549–551, 549f. 166 Kann, Rezension Winter / Silagi, wie Anm. 165, 550. 167 Kann, Rezension Winter / Silagi, wie Anm. 165, 550. 168 Vgl. Gerhard Oberkofler, Wilhelm Frank zum Gedenken: Stationen eines Lebens für sozialen und technischen Fortschritt. In. Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft 1/2000) (www.klahrgesellschaft. at/Mitteilungen/Oberkofler_1_2_00.html) [08.02.2015]. 169 Edith Rosenstrauch-Königsberg, Von der Metallschleiferin zur Germanistin. Lebensstationen und historische Forschungen einer Emigrantin und Remigrantin aus Wien, hg. von Beatrix Müller-Kampl. Wien 2001, 222–225; Ernst Wangermann, Rezension Winter, Barock, Absolutismus und Aufklärung in der Donaumonarchie. In: The Slavonic and East European Review 52 (1974), 141–142.

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ließ sich nach 1945 zunächst im Rahmen der Vertriebenenpolitik und Revision der westdeutschen Nationalgeschichtsschreibung gut mit der neuen politischen Ordnung vereinbaren. Valjavec, dessen Profil als Volkstums- und Kultureinflussforscher Norbert Spannenberger und Petra Svatek in ihren Beiträgen ausführlicher schildern, konnte sich nach Kriegsende als Troubadour des von der NS-„Barberei“ ebenso wie von der modernen „Vermassung“ bedrohten Abendlandes170 stilisieren und sich in Vorarbeiten zu einer „allgemeinen Kulturmorphologie“ vertiefen.171 Dabei war Valjavec kein Einzelfall: Vielfach wurde nach 1945 aus einer Perspektive der Verklärung abendländisch-christlicher Werte die Modernekritik, die man schon seit den 1930er Jahren kultiviert hatte, fortgeführt, mit einer wichtigen Akzentverschiebung: Hatte man den Nationalsozialismus zuvor noch als Überwinder der verteufelten Moderne herbeigesehnt, beschrieb man ihn im Nachkriegsdeutschland als Symptom jener Moderne, die man seit jeher kritisierte.172 Valjavec, Sohn einer donauschwäbischen Mutter und eines altösterreichischen Zagreber Beamten, besuchte in Budapest das Deutsche Gymnasium. Sein erster Mentor war der Budapester Germanist Jakob Bleyer, kulturpolitischer Tycoon der ungarischen Volksdeutschen jener Jahre.173 Damals freundete sich Valjavec mit Franz Basch an, dem Vorsitzenden des deutschungarischen Kulturbundes, der später gemäß den Auflagen der Wiener Schiedssprüche von 1940 zum Leiter der deutschen Volksgruppe in Ungarn avancierte.174 Seit Herbst 1930 mit einem von Jakob Bleyer vermittelten Stipendium in München, betätigte sich Valjavec als Kontaktmann der Ungarndeutschen zum „Volksbund für das Deutschtum im Ausland“. Valjavecs von Karl Alexander von Müller begutachtete Doktorarbeit über den Preßburger Bürgermeister Karl Gottlieb Windisch zeichnete das „Lebensbild“ eines „südostdeutschen Bürgers“ zur Aufklärungszeit.175 Er wurde rasch Mitarbeiter und Bibliothekar des neu gegründeten Südost-Instituts, übernahm ab 1935 die Herausgabe der neuen Zeitschrift Südost-Forschungen und habilitierte sich 1938 mit seiner großen Monographie über den Kultureinfluss im nahen Südosten.176 Die Begutachtung und Rezeption von Valjavecs Arbeit erhellt

170 Diesen Begriff entlehne ich aus Tomasz Giaros Arbeit über den Rechtshistoriker Paul Koschaker, vgl. Tomasz Giaro, Der Troubadour des Abendlandes. In: Horst Schröder (Hg.), Rechtsgeschichtswissenschaft in Deutschland 1945 bis 1952. Frankfurt am Main 2001, 31–76. 171 Harold Steinacker, Fritz Valjavec. In: Historische Zeitschrift 192 (1961), 263–264, 264. 172 Vgl. Franz Leander Fillafer, The Enlightenment on Trial. Reinhart Koselleck’s Interpretation of “Aufklärung”. In: Id. / Edward Wang (Hg.), The Many Faces of Clio. Cross-cultural Approaches to Historiography. Oxford – New York 2007, 322–345. 173 Harold Steinacker, Der Kulturhistoriker Fritz Valjavec. Der Forscher und Gelehrte. In: Südostdeutsches Archiv 3 (1960), 3–13. 174 Loránt Tilkovszky, Fritz Valjavec és a magyarországi németség, 1935–1944 [Fritz Valjavec und das ungarische Deutschtum, 1935–1944]. In: Századok 127 (1993), 601–650, 601–604. 175 Fritz Valjavec, Karl Gottlieb von Windisch. Das Lebensbild eines südostdeutschen Bürgers der Aufklärungszweit (1725–1793). München 1936. Vgl. Franz Leander Fillafer, Das Elend der Kategorien (in diesem Band), 86–87. 176 Fritz Valjavec, Der deutsche Kultureinfluss im nahen Südosten. Unter besonderer Berücksichtigung Ungarns. München 1940. Vgl. den Beitrag von Petra Svatek in diesen Band.

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schlaglichtartig sein Dilemma als Volkstumskämpfer und Historiker. László Orosz hat dies in einer mikrologischen Studie anhand der Münchner Dekanatsakten zur Habilitation, vor allem auch zur nach der Begutachtung folgenden „wissenschaftlichen Aussprache“, eindringlich dargestellt: Valjavec wurde eine Rehabilitierung der habsburgischen Kulturmission zur Last gelegt.177 Anhand von Valjavecs Habilitationsverfahren lassen sich aber auch die Differenzen zwischen Ost- und Südostforschung reflektieren. Während in der Ostwissenschaft die lebensraumpolitische Stoßrichtung der „Gegnerforschung“ klar zutage tritt, zeigt die Südostforschung eigene Valeurs, auf dem als „Ergänzungsraum“ für die NS-Großraumplanung betrachteten Balkan stellten sich die Erfordernisse der Grenzrevision und Expansionspolitik an der „Wissenschaftsfront“178 anders dar, wie sich das heuristisch niederschlug, bliebe noch ausführlicher zu klären. Valjavec machte als Universitätsprofessor in München, später in Berlin Karriere, wo er am von SS-Brigadeführer Franz Alfred Six geleiteten Auslandswissenschaftlichen Institut tätig war. Die Entstehungszeit des Josephinismusbuchs markiert den Höhepunkt von Valjavecs rassenpolitischem Engagement, 1941 war er als Angehöriger der Einsatzgruppe D an den Gewaltakten gegenüber der Zivilbevölkerung in der Bukowina, mutmaßlich auch an der Ermordung der Czernowitzer Juden beteiligt.179 1944 erschien im Rohrer Verlag in Brünn die erste Auflage des Josephinismus-Buchs, 1945 folgte die erweiterte und um eine Literaturübersicht ergänzte Zweitauflage. Fritz Valjavec war in den 1930er Jahren ein erfolgreicher Vertreter der Kulturgeschichte als Volksgeschichte. Die ressourcenmobilisierende Wirkung der Einflussforschung im volksgeschichtlichen180 NS-„Großforschungssystem“, dem Interdependenzrelais zwischen staatlich initiierter Zweckforschung und wissenschaftlicher Selbstorganisation, haben Forscher wie Ingo Haar nachgewiesen.181 An Valjavecs Arbeit und an seinen Kontakten zu ungarischen 177 László Orosz, Tudomány és politika. Egy habilitációs eljárás háttere (Németország, 1938) [Wissenschaft und Politik. Der Hintergrund eines Habilitationsverfahrens (Deutschland, 1938)]. In: Aetas 24 (2009), 5–22. 178 Fritz Valjavec an Alfred Krehl, Landesleiter des baden-württembergischen Volksbundes für das Deutschtum im Ausland, 18.5.1936, zitiert nach Gerhard Seewann, Von der Arbeit am Deutschtum zur Südosteuropa-Forschung, 5: http://www.sogde.org/pdf_2014/doku/geschichte_sog/sog_geschichte_seewann.pdf [07.06.2015]. 179 Ingo Haar, Fritz Valjavec. Ein Historikerleben zwischen den Wiener Schiedssprüchen und der Dokumentation der Vertreibung. In: Lucia Scherzberg (Hg.), Theologie und Vergangenheitsbewältigung. Eine kritische Bestandsaufnahme im interdisziplinären Vergleich. Paderborn 2005, 103–119, 111; Andrej Angrick, Besatzungspolitik und Massenmord. Die Einsatzgruppe D in der südlichen Sowjetunion 1941–1943. Hamburg 2003, 726. Vgl. Frank-Rutger Hausmann, Rezension Südosteuropaforschung im Schatten des Dritten Reiches. In: Informationsmittel (IfB): digitales Rezensionsorgan für Bibliothek und Wissenschaft (04-2-590): http://swbplus.bsz-bw.de/bsz112284973rez.htm [07.06.2015]. 180 Wolfgang Mommsen, Vom „Volkskampf“ zur nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. Zur Rolle der deutschen Historiker unter dem Nationalsozialismus. In: Winfried Schulze / Otto Gerhard Oexle (Hg.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus. Frankfurt am Main 2000, 183–214. 181 Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten. Göttingen 22002, 22f.

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Kollegen zeigen sich nicht nur die rassistischen und siedlungsraumpolitischen Programmelemente der Kultureinflussforschung, sondern auch die sehr verschiedenen Valeurs der Nationalcharakterlehren in der Region: Wie ihr deutsches Pendant war auch die ungarische Volksgeschichte grenzrevisionistisch, sie betonte aber viel stärker, dass Volk und Nation eben nicht deckungsgleich waren; sie hatte mit spezifischen Problemen zu kämpfen, mit der Statuierung der Magyaren als Trägerschicht multiethnischer Reichsbildung, mit der Frage der „nationalen“ Identität des niederen Adels, mit konkurrierenden Substraten unverfälschter historischer Identität, die sich vor allem aus dem Bauernstand ableiten ließen.182 Über Valjavecs Josephinismusdeutung wird ausführlich in den folgenden Kapiteln gehandelt, hier soll noch, wie auch im Biogramm Eduard Winters, eine Skizze von Valjavecs Nachkriegskarriere folgen. Mit seinen Kollegen und Freunden teilte Valjavec das Unbehagen angesichts der älteren Politikgeschichte und Geistesgeschichte als Gipfelkamm-Panorama,183 das nur die Spitzen höchster Denkschärfe berücksichtigte. Stattdessen wertete Valjavec Kalenderliteratur und Gesangsbücher, Erbauungsschriften und Fibeln für das Landvolk aus. Diesem Zugang ist er in seiner Geschichte der abendländischen Aufklärung und in seinem Werk über Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland treu geblieben.184 Auch nach 1945 waren die Volks- und Kulturhistoriker felsenfest davon überzeugt, immer schon auf Seiten des Fortschritts gestanden zu sein: Die Verfechter der Volksgeschichte warfen den Pionieren der historischen Sozialwissenschaft in den Sechzigerjahren Geschichtsklitterung und Amnesie vor, schließlich leugneten sie die volksgeschichtlichen Wurzeln ihrer Methoden.185 Valjavec und seine Kollegen orteten nach 1945 eine bedrohliche Konstellation: Zeichnete sich nicht die Wiederkehr der „verdünnten“,186 mit Weimar bankrott gegangenen Geistes182 Árpárd von Klimó, Volksgeschichte in Ungarn. Chancen, Schwierigkeiten, Folgen eines ‚deutschen’ Projektes. In: Matthias Middell / Ulrike Sommer (Hg.), Historische West- und Ostforschung in Zentraleuropa zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg – Verflechtung und Vergleich. Leipzig 2004, 151–178. 183 Willi Oberkrome, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918–1945. Göttingen 1993; Id., Geschichte, Volk und Theorie. Das „Handwörterbuch des Grenz- und Auslandsdeutschtums“. In: Peter Schöttler (Hg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft, Frankfurt am Main 1997, 104–127, 104–106; Peter Schöttler, Die intellektuelle Rheingrenze. Wie lassen sich die französischen Annales und NS-Volksgeschichte vergleichen? In: Christoph Conrad / Sebastian Conrad (Hg.), Die Nation schreiben. Geschichtswissenschaft im internationalen Vergleich. Göttingen 2002, 271–295, 272; Thomas Welskopp, Grenzüberschreitungen. Deutsche Sozialgeschichte zwischen den dreißiger und siebziger Jahren. In: Ebenda, 296–332, 304. 184 Fritz Valjavec, Geschichte der abendländischen Aufklärung. Wien – München 1961; Id., Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland 1770–1815. München 1951. 185 Vgl. das Zeitzeugeninterview mit Karl Bosl, Vergleich, Strukturgeschichte, moderne Sozialgeschichte, Dekan 1968 (www.hdbg.eu/zeitzeugen/video.php?id=6) [08.02.2015]. Vgl. Frank-Rutger Hausmann, „Deutsche Geisteswissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg. Die „Aktion Ritterbusch“ (1940–1945). Dresden 22002, 253. 186 Harold Steinacker, Fritz Valjavec, wie Anm. 171, 264.

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geschichte ab, eine Rückkehr der „Walpurgisnacht der Ismen“?187 Hier drohte eine Restaurationsbewegung, die plötzlich die Großväter wieder an die Katheder rief, weil sie weniger „kompromittiert“ waren als die Volkstumskämpfer. Valjavec stand für eine „allgemeine“ oder „ganzheitliche“ Kulturgeschichte, wie sein Freund Harold Steinacker 1961 im prominent platzierten Nachruf in der Historischen Zeitschrift ausführte: Entgegen der heutigen Auflösung dieses Faches in viele Spezialdisziplinen und einer Bevorzugung der Geistesgeschichte, die sich dabei oft zur bloßen Ideengeschichte verdünnt, ging V. auf das Ganze, auf den Gesamtprozeß der Kultur, auf die Verflechtung aller Schichten, der führenden Schichten und ihrer neuen Ideen und schöpferischen Persönlichkeiten mit den breiten Massen des Durchschnitts und dem volkstümlichen Brauchtum der niederen Schichten. Sein Quellenstoff reichte von der hohen Dichtung und dem philosophischen Denken bis zum Volkskalender, dem Speisezettel, dem Privatbrief, von der hohen Kunst bis zur Volkskunst und dem ganzen musealen Stoff. In seiner Darstellung fließen alle Äußerungen der geistigen wie der materiellen Kultur zusammen zum Gewebe des gesellschaftlichen Daseins, zur Kulturatmosphäre der einzelnen Völker und Zeitalter.188

Damit rückt Steinacker Valjavec in die Kontinuität des Bleyer’schen Kulturkontaktmodells der Zwischenkriegszeit, der mit „Schwabenbällen“ und Landschulfahrten das deutschsprachige Stadtbürgertum und die „volksdeutsche“ Landbevölkerung zusammenführen wollte, um gemeinsam dem Magyarisierungsdruck zu widerstehen und um die Ressourcen unverfälscht-deutscher Lebensart, aber auch volksbewusst-freundschaftlicher Koexistenz auf dem Lande anzuzapfen.189 Das entsprach der Selbstrechtfertigung der Südostforschung nach 1945, man habe sich „von jeder Ideologie, auch von jeder Phraseologie des Nationalsozialismus weltenfern gehalten“,190 deshalb ließ sich die Südostforschung unbehelligt von politischen Brüchen in die Nachkriegszeit hinüberretten, es gelang, die Ost- und Südostexpertise im Rahmen der Abendlandaffirmation und unvermindert aktuellen Gegnerforschung neu zu positionieren. Wer an diesen Kontinuitäten der Heuristik und des Personals Kritik übte, wurde kurzerhand als Handlanger der Ostblock-Propaganda gegen die westliche Wissenschaft abgestempelt.191 187 Karl Pestalozzi, Apologetisches. Zum Beitrag von Klaus Weimar. In: Christoph König / Eberhard Lämmert (Hg.), Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925. Frankfurt am Main 1993, 106–110, hier 106f. 188 Steinacker, Fritz Valjavec, wie Anm. 171, 264. 189 Steinacker, Der Kulturhistoriker Fritz Valjavec, wie Anm. 173. 190 Karl August Fischer, Fritz Valjavec. In: Südost-Forschungen 19 (1960), 1–15, hier 7; zitiert nach Matthias Beer, Wege zur Historisierung der Südostforschung. In: Id. (Hg.), Südostforschung im Schatten des Dritten Reiches. Institutionen, Inhalte, Personen. München 2004, 7–38, hier 18. 191 Christoph Klessmann, DDR-Historiker und „imperialistische Ostforschung.“ Ein Kapitel deutsch-deutscher Wissenschaftsgeschichte im Kalten Krieg. In: Archiv. Zeitschrift für das vereinigte Deutschland 35 (2002), 13–31; Stefan Creuzberger / Jutta Unser, Osteuropaforschung als politisches Instrument im Kalten Krieg. In: Osteuropa 48 (1998), 849–867.

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Deshalb ist Steinackers Valjavec-Nekrolog so aussagekräftig: Steinackers Situierungsgeste schneidet sehr bewusst die Verbindungslinien ab, die von Valjavecs Volkstümelei zum Vernichtungskrieg und zur rassisch-siedlungspolitischen Verbundforschung führen. Unter der Ägide der Opferkonkurrenz und Vertriebenenintegration der Nachkriegszeit versetzt Steinacker Valjavecs kulturhistorisches Werk in eine goldene Zeit friedlicher Selbstbehauptung, fern von den Umvolkungsparolen und -aktionen der Folgezeit.192

192 Steinacker, Der Kulturhistoriker Fritz Valjavec, wie Anm. 173.

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Das Elend der Kategorien. Aufklärung und Josephinismus in der zentraleuropäischen Historiographie 1918–1945 Der Josephinismus war ein Zankapfel der zentraleuropäischen Geschichtsschreibung der Zwischenkriegszeit. Mein Aufsatz ist eine Pilotstudie zur Historiographiegeschichte zwischen 1918 und 1938, er beschäftigt sich am Beispiel des Josephinismus mit den Interpretamenten und Institutionen von Historikern in der Tschechoslowakei, Österreich und Ungarn. Dabei lässt sich zeigen, dass die Wurzeln und der Gehalt des Josephinismus ebenso umstritten waren wie die Qualität der Übergänge vom Josephinismus zur nachjosephinischen Restauration. Dazu kamen diametrale Einschätzungen der Bedeutung der Josephinismus für die Bewegungen der nationalen Wiedergeburt sowie für die Spielarten des Liberalismus in der Region. Nach dem Zerfall der Monarchie erlaubte es die Debatte über den Josephinismus sozialistischen, radikalen und nationaldemokratischen Historikern, nachträglichen Widerstand zu leisten, während konservative Publizisten die Monarchie verteidigten. In der deutschösterreichischen Literatur beschwor man entweder die germanisierend-freisinnige oder die katholische mission civilisatrice des alten Österreich. Je nach Präferenz erschien Joseph II. so entweder als Galionsfigur der Einheit des Reichs oder als antiklerikaler Berserker, der die monarchische Integration im Geist des katholischen Universalismus zunichtegemacht hatte. Mein Beitrag versucht den Rahmen zu rekonstruieren, in dem Eduard Winter und Fritz Valjavec ihre Deutungen vorlegten. Dabei geht vor allem um drei Gesichtspunkte: Erstens möchte ich rekonstruieren, wie sich die Debatte über die Epochensignatur Aufklärung entwickelte, hier wird der Stellenwert des Josephinismus für die verschiedenen Szenarien der Aufklärung in der Region rekonstruiert. Hierfür wird Material aus den benachbarten Fächern herangezogen, etwa aus der literaturwissenschaftlichen Biedermeierforschung und aus der Kunst- und Theologiegeschichte. Zugleich wird dargestellt, wie zeitgebundene Leitbilder und Fragen nach der Rückständigkeit Zentraleuropas, sowie nach dem Erbe defensiver Modernisierung und imperialer Ausbeutung, die Erfassung und Bearbeitung des Josephinismus-Komplexes prägten. Zweitens werden dabei immer wieder ausgewählte Konflikte innerhalb der Fachkulturen der Nachfolgestaaten dargestellt. Zu berücksichtigen sind hier die Debatten zwischen Josef Pekařs Zirkel und dem Kreis Tomáš G. Masaryks, die Diskussion rund um die Josephinismus-Deutungen Gyula Szekfűs und Elemér Mályusz’ und die Széchenyi-Forschung sowie die Auseinandersetzung zwischen der Alphons Dopsch-Schülerin Georgine Holzknecht und dem Innsbrucker Rechtshistoriker Hans von Voltelini. Drittens schließlich werden grenz- und sprachübergreifende Rezensionen und Repliken in Fachzeitschriften ausgewertet: Dazu ziehe ich etwa Jan Heidlers und Josef Pekařs Bespre-

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chungen von Arbeiten Hanns Schlitters und Viktor Bibls im Český časopis historický heran. Hier möchte ich fragen, ob sich an der grenzübergreifenden Debatte über den Josephinismus die Entstehung abgekapselter nationaler Diskursgemeinschaften ablesen lässt. Diesen Leitthemen möchte ich in sieben Abschnitten nachgehen. Die Einführung (I) skizziert die Geschichte der Aufklärungsforschung in den habsburgischen Ländern, der folgende Abschnitt (II) geht der Bedeutung des innerimperialen Vergleichs für die Entstehung des Josephinismus als politischer und heuristischer Begriff nach. Daran schließt ein überleitender Abschnitt (III) an, der sich aufrisshaft mit der Möglichkeit gesamtmonarchischer Fragestellungen und Perspektiven in der Historiographie der Nachfolgestaaten ab 1918 beschäftigt. Hierauf folgen drei Kapitel über die Historiographie in der Tschechoslowakei (IV), Ungarn (V) und Österreich (VI) in der Zwischenkriegszeit. Im abschließenden Teil des Aufsatzes (VII) befrage ich vor diesem Hintergrund die Josephinismusbücher Winters und Valjavecs auf ihre innovativen Qualitäten: Warum setzen diese beiden Bücher immer noch die Maßstäbe für die Erfassung und Einordnung des „Josephinismus“? Wie konstituieren sie ihren Gegenstand, worin ähneln sie einander hierin, inwiefern unterscheiden sie sich?

I Aufklärungsforschung als Zeitgeschichte Das Interesse an der Aufklärung als historischem Gegenstand war eng mit Suprematiebestrebungen und Zivilisierungsmissionen innerhalb der Monarchie verbunden. Von den 1820er bis in die 1860er Jahre zeichnen sich drei Tendenzen ab: Die offiziöse gesamtvaterländische Geschichtsschreibung seit dem Vormärz begegnete der Aufklärung salomonisch-abgeklärt und bemüht staatstragend;1 das liberale „Junge Österreich“ fügte die Aufklärer in seine Ahnengalerie ein,2 dies war wiederum ein Teilkomplex der großangelegten Historisierung der Aufklärung, ihrer Einbindung in nationale Traditionen durch die Demiurgen der „nationalen

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Vgl. etwa Josef Calasanz von Arneth, Geschichte des Kaiserthumes Österreich, Wien 1827; Johann Chrysostomus Sporschil, Österreich und die Broschürenschmiede gegen dieses Kaiserthum, Leipzig 1847; gegensätzliche Position bei: Politische Memorabilien aus Österreichs Neuzeit, Leipzig 1844, 63–65. Gute monographische Darstellungen bei Marta S. Lengyel, Reformersors Metternich Ausztriájában [Reformerschicksal im Österreich Metternichs], Budapest 1969 (über Groß-Hoffinger, Leipziger Broschürist des „Jungen Österreich“, später Apologet im Sold der Regierung). Zur Geschichtspolitik der vormärzlichen Opposition vorzüglich: Jan Heidler, Čechy a Rakousko v politických brožurách předbřeznových [Böhmen und Österreich in den politischen Broschüren des Vormärz], Praha 1920, 29, 86, 99, 124. 2 Peter Kuranda, Großdeutschland und Großösterreich bei den Hauptvertretern der deutschösterreichischen Literatur, Wien – Leipzig 1928; Robert Evans, Josephinism, ‘Austrianness,’ and the Revolution of 1848. In: Ritchie Robertson / Edward Timms (Hg.), The Austrian Enlightenment and Its Aftermath. Edinburgh 1991, 145–160; Eduard Beutner, Joseph II. Die Geschichte seiner Mythisierung und Entmythisierung in der Literatur (1741–1848). Die Grundlagen und Bausteine der josephinischen Legende. Habilitationsschrift [Masch.] Salzburg 1992.

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Wiedergeburt“, die in der gesamten Region bereits im frühen 19. Jahrhundert einsetzte.3 Die dritte Tendenz vertrat die kirchenaffine und klerikale Geschichtsschreibung nach 1848, die das Staatskirchentum geißelte und das „Eindringen des modernen kirchenfeindlichen Zeitgeistes“ in die zuvor heile Welt der Habsburgermonarchie beklagte. Dabei fällt auf, dass diese Geschichtswerke nur sehr selten in einem akademischen Kontext entstanden. Das ist erklärungsbedürftig, weil es mit der Grenzziehung zwischen Gegenwart und jüngst vergangener Zeit zusammenhängt. Die akademische Geschichtsschreibung, die sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts in der Monarchie etablierte, zog als Themen das Mittelalter und die frühen Neuzeit dem 18. Jahrhundert vor, das galt für Cisleithanien wie für Transleithanien.4 An den Universitäten und Akademien beschäftigte man sich bis ins späte 19. Jahrhundert nur sehr sporadisch mit der Aufklärung: 1850 edierte der Augustinerchorherr Joseph Chmel, der große Quellensammler des Vormärz, im Archiv für die Kunde österreichischer Geschichtsquellen die bischöflichen Beschwerden über das Regiment Josephs II., die man 1790 seinem Bruder und Nachfolger Leopold unterbreitet hatte.5 Albert Jäger, der Tiroler Benediktiner und Gründungsdirektor der „österreichischen Schule“ für Geschichtsforschung, des nachmaligen Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, brachte 1867 eine populäre Darstellung der Epoche Josephs II. und Leopolds II. heraus. Die Aufklärung, die „Vergötterung des Lasters“, entspringt bei Jäger in England, gedeiht auf dem „faulen Boden“ Frankreichs zur Hochblüte und breitet sich von dort weiter aus.6 Die Budapester Akademie lobte 1878 einen Preis für die Geschichte Ungarns im 18. Jahrhundert aus.7 Diese Ansätze blieben aber verstreute Einzelfälle. Woran lag es nun, dass die Aufklärung erst recht spät ein Thema der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung wurde und was bedeutete das für die entstehenden Deutungen des „Josephinismus“? Das 18. Jahrhundert war bis in die 1850er Jahre Zeitgeschichte, Thema der essayistischen Gegenwartsdiagnostik und Belletristik,8 der Philosophie- und Literaturge3

Franz Leander Fillafer, Imperium oder Kulturstaat? Die Habsburgermonarchie und die Historisierung der Nationalkulturen im 19. Jahrhundert. In: Philipp Ther (Hg.), Kulturpolitik und Theater. Die kontinentalen Imperien in Europa im Vergleich. München 2012, 23–53. 4 Petér Gunst, Egy történeti monográfia születése (Marczali Henrik: Magyarország története II. József korában) [Die Entstehung einer geschichtswissenschaftlichen Monographie (Henrik Marczali: Geschichte Ungarns zur Zeit Josephs II.)]. In: Századok 124 (1990), 275–296, 279. 5 Joseph Chmel (Hg.), Actenstücke zur Geschichte des österreichischen römisch-katholischen Kirchenwesens unter Kaiser Leopold II., 1790. In: Archiv für die Kunde österreichischer Geschichtsquellen 1/I (1850), 3–156. 6 Albert Jäger, Kaiser Joseph II. und Leopold II. Reform und Gegenreform (1780–1792). Wien 1867, 5f. Das Buch erschien als zehnter Band der von Josef Alexander von Helfert betreuten Österreichischen Geschichte für das Volk; Joseph Scheicher, Josephinismus und Josephiner. Eine österreichisch-canonistisch-historische Studie. Wien 1893. 7 Gunst, Egy történeti monográfia születése, wie Anm. 4, 279. 8 Franz Gräffer, Josephinische Curiosa, oder Ganz besondere, theils nicht mehr, theils noch nicht bekannte Persönlichkeiten, Geheimnisse, Details, Actenstücke und Denkwürdigkeiten der Lebens- und Zeitgeschichte Kaiser Josephs II. Wien 1848; Id., Francisceische Curiosa, oder Ganz besondere Denkwürdigkeiten aus der Lebens- und Regierungs-Periode des Kaisers Franz II. (I.). Wien 1849; Friedrich

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schichte.9 Der Begriff „Josephinismus“ entstammte der tagespolitischen Reflexionsprosa, er entstand im Vormärz in der Kontroversliteratur zur Staatskirchenpolitik. In den Memoiren und in der Tagespublizistik, in biographischen Medaillons der gelehrten Zeitschriften des Vormärz, schillerte das 18. Jahrhundert in vielfältigen Bezügen, die feuilletonistische Zeitgeschichte als Lesestoff gehört hier zum täglichen Brot der gebildeten Stände. 10 So wurde das 18. Jahrhundert vor allem in Genres aufbereitet, die selbst der Zeithistorie und Tagesliteratur der Spätaufklärung entstammten.11 Werke, in denen das 18. Jahrhundert als Bestandteil der Jetztzeit, des „Zeitalters der Revolutionen“ behandelt wurde, erschienen noch bis in die Sechzigerjahre, all diesen Schriften war gemeinsam, dass sie als Geschichten der jüngsten Zeit für ein breites Publikum konzipiert wurden. Die zeitgeschichtliche Reflexionsform wurde dabei vor allem von liberalen Autoren wie Julius Franz Schneller und Anton Springer geprägt.12 Der Grazer Geschichtsprofessor Schneller etwa machte während der 1820er Jahre mit seinem Buch Oesterreichs Einfluß auf Deutschland und Europa seit der Reformation bis zu den Revolutionen unserer Tage Furore: In der Monarchie hatte es nicht erscheinen dürfen, Schneller wechselte an die Universität Freiburg und gab das Originalmanuskript kurzerhand an den Verlag weiter, wo es in den Jahren 1828 bis 1829 einschließlich der Zensurnoten von Metternichs Sekretär Friedrich von Gentz erschien. Nun konnte man nachlesen, wie Gentz Schnellers Darstellung der Aufklärung glossierte. Schneller führte beispielsweise die Rede Joseph von Sonnenfels’ vor der savoyischen Ritterakademie in Wien aus dem Jahr 1770 an. Hier beschwor Sonnenfels die jungen Adeligen, sich nicht auf ihre Standesprivilegien zu verlassen, denn „die Motte, die die Schätze der Vernunft nicht schonet“ richtet „durch ihren verräterischen Biß die Geburtsvorrechte zu grunde“; dies mache die jungen Adeligen dem „übrigen menschlichen Geschlechte“ gleich, das Anton von Schönholz, Traditionen zur Charakteristik Österreichs, seines Staats- und Volkslebens unter Franz I., eingeleitet und erläutert von Gustav Gugitz. 2 Bde., München 1914. Aus einer der Medaillonserien: [Anonymus], Erinnerungen an vaterländische Gelehrte: Johann Sigismund Popowitsch. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichts- und Staatskunde (1836), 21–23, 27–28, 31–32, 35–36, 37–38; als Lebensbild: Heinrich Hermann, Sigismund von Stochenau. In: Carinthia 26/27 (1838) 107–109, 112–113. 9 Vgl. Gudrun Langer, Die Bewertung des Barock in der tschechischen und österreichischen Literaturgeschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts. München 1984. 10 Vgl. Iwan Michelangelo D’Aprile, Die Erfindung der Zeitgeschichte. Geschichtsschreibung und Journalismus zwischen Aufklärung und Vormärz. Berlin 2013, über Friedrich Buchholz (1768–1843). 11 Vgl. beispielsweise: Franz Martin Pelzel, Geschichte der Böhmen, von den ältesten bis auf die neuesten Zeiten: aus den besten einheimischen und auswärtigen Geschichtsschreibern, Kroniken und gleichzeitigen Handschriften zusammen getragen. Prag 1817. 12 Anton Springer, Geschichte des Revolutionszeitalters, 1789–1848. Prag 1848; Id., Geschichte Österreichs seit dem Wiener Frieden 1809. 2 Bde., Leipzig 1863–1865. Vgl. als Beispiel für die junghegelianischen Philosophiegeschichten des Vormärz das Werk des Brünner Augustinerchorherrn Franz Thomas Bratranek, Neue Bestimmung des Menschen [1841], hg. v. Klaus Vieweg / Jaromír Loužil. Frankfurt am Main – Berlin – Bern 2001. Dazu kamen vereinzelte kirchengeschichtliche Werke wie: Anton Klein, Geschichte des Christenthums in Österreich und Steiermark seit der Einführung desselben in diese Länder bis auf die gegenwärtige Zeit. 7 Bde., Wien 1840–1842.

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sie, „da ihm solche hinfälligen Dinge mangeln, Pöbel“ nennen. Gentz quittierte dies mit den Worten: „Bravo! So durfte allenfalls Sonnenfels zu seiner Zeit faseln. Aber die Zeiten sind zu ernst geworden, um seine Plattitüden jetzt noch zu verdauen.“13 Während der „Josephinismus“ für Schneller die Rettung der Monarchie verkörperte, galt er dem Wiener Kleriker Sebastian Brunner als Österreichs Verderben. Brunner betonte die zerstörerische Kraft der Aufklärung, sie sei eine Kampfansage an die Religion gewesen und habe die Selbstverwaltung einer vormals über Stände, Verbände und Bünde organisierten Gesellschaft vernichtet. Damit nahm er die Deutung des 18. Jahrhunderts beim christlichsozialen politischen Katholizismus vorweg. Der Priesterromancier und Journalist Brunner war einer der eloquentesten Kämpfer gegen die Staatskirche in den 1840er Jahren, nach der Revolution führte er diesen Rachefeldzug in quellennahen und materialreichen Werken über die josephinische Epoche weiter, für die er erstmals in großer Zahl Archivalien aus Ministerien und dem Haus-, Hof- und Staatsarchiv heranzog.14 Die Kirchengeschichtsschreibung über das 18. Jahrhunderts blieb eine Domäne des Klerus, ähnlich verhielt es sich mit der Geschichte der Verwaltung: Sie wurde von den Beamten geschrieben. Nun gilt ja die Bürokratie als Bastion der „Josephiner“, bei näherer Betrachtung zeigt sich freilich, dass das Erbe der maria-theresianischen und josephinischen Verwaltungspraxis die Beamtenschaft polarisierte. Auch hier erweist sich der Vormärz als Schaltwerk für die späteren Deutungen des „Josephinismus“. Der liberale Politiker und Jurist Eduard Herbst, ein alter Anhänger des Vernunftrechts, erinnerte sich der Handbillette Josephs und Maria Theresias als „Goldkörner“, die er als Adjunkt in der Finanzprokuratur unter vergilbten Akten barg, um in ihnen sein „Evangelium“ der „Liebe zum Volke“ zu entdecken: Im „Praktikantendienste“ der 1830er Jahre sei er zum „Josephiner“ geworden.15 Ignaz von Beidtel repräsentiert die Gegenposition zu Herbst. Seine historischen Studien sollten neben den Schriften Sebastian Brunners zum wichtigsten Referenzpunkt für die Historiographie werden. Beidtel war im Vormärz als Appellationsgerichtsrat in Zara, Fiume, Klagenfurt und Brünn tätig. Schon in den Vorarbeiten zu seiner großen Geschichte der österreichischen Staatsverwaltung legte er dar, wie eine antiklerikale „Aufklärungspartei“ seit Maria Theresia rastlos den Aufbau eines allesverschlingenden Zentralstaats vorangetrieben habe, der „in die tiefsten Tiefen der Gesellschaft“ gereicht haben soll.16 13 Julius Franz Schneller, Oesterreichs Einfluß auf Deutschland und Europa seit der Reformation bis zu den Revolutionen unserer Tage, Bd. 2. Stuttgart 1829, 119; vgl. Joseph von Sonnenfels, Das Bild des Adels. In: Id., Gesammelte Schriften. 10 Bde., Wien 1783–1787, hier 8 [1786] 149–176, 153. Jüngst: Zsolt Kökényesi, Kiváltságosok az állam és a közjó szolgálatában. Joseph von Sonnenfels nemesség koncepciójáról [Privilegierte im Dienste des Staats und des Gemeinwohls: Zu Joseph von Sonnenfels Adelskonzeption]. In: Aetas 28 (2013), 60–91. 14 Sebastian Brunner, Die theologische Dienerschaft am Hofe Josephs II. Geheime Correspondenzen und Enthüllungen zum Verständniß der Kirchen- und Profangeschichte in Österreich von l77l–1800 aus bisher unedirten Quellen der k. k. Haus-, Hof-, Staats und Ministerialarchive. Mainz 1868. 15 Friedrich Schütz, Eduard Herbst. In: Neue Freie Presse (8. Dezember 1880), 1–3, hier 1. 16 Vgl. Alfons Huber, Ignaz Beidtels Leben und Wirken nach seinen Memoiren. In: Ignaz Beidtel, Geschichte der österreichischen Staatsverwaltung 1790 bis 1848, hg. v. Alfons Huber, 2 Bde., Innsbruck 1896–1898, I, IX–LIV.

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Von der akademischen Geschichtsschreibung, die allmählich im Zeichen des Historismus ihren Kranz methodischer und habitueller Selektionskriterien ausbildete, wurden diese Werke der Zeitschriftsteller zunächst geflissentlich ignoriert. Erst um 1900 begann man sich für diese Arbeiten zu interessieren. Dass das 18. Jahrhundert lange Thema der Gegenwartsdiagnose im Revolutionszeitalter blieb, ist freilich sehr aufschlussreich, wenn es um die Entstehung der „wissenschaftlichen“, also akademisch akkreditierten Zeitgeschichte geht. Die Konstellation ist durchaus bemerkenswert: Es scheint in der Tat so, als hätte das achtzehnte Jahrhundert zunächst aus der „gegenwärtigen Zeit“ in die Geschichte absinken müssen, bevor die Zeitgeschichte als Gegenstand mit zureichender wissenschaftlicher Dignität konstituiert werden konnte.17 Worin liegt die Bedeutung von Schriften wie jenen Brunners und Beidtels für das Josephinismus-Paradigma, das der vorliegende Band kritisch durchleuchtet? Sie spürten als Zeitzeugen die Wirkmacht des 18. Jahrhunderts in ihrer Gegenwart auf, damit prägten sie die Geschichtsbilder der staatlich verordneten Aufklärung in der Monarchie. So wurden im Vormärz die Schneisen für die späteren Deutungen des Josephinismus angebahnt, vor allem in zweierlei Hinsicht: was das Verständnis Josephs II. als antiklerikaler Berserker angeht und was das Bild des „Absolutismus“ als funktionsteiliges System betrifft, in dem die Herrschaftswirklichkeit dem Buchstaben der allerhöchsten Verordnungen entsprach. Das ist für die weitere Geschichte des Paradigmas Josephinismus deshalb hoch relevant, weil es hier zu einer strukturellen Konvergenz gegensätzlicher Einschätzungen kam. Unbeschadet der politischen Divergenzen, also ungeachtet dessen, ob man diesen Prozess guthieß oder verdammte, konnte man sich über seine Hauptmerkmale verständigen, das heißt: Liberale wie klerikale Kulturkämpfer der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begriffen diesen „Josephinismus“ als Prozess der Säkularisierung und Zentralisierung.18 Um das dritte Merkmal, das die Deutung des „Josephinismus“ im späten 19. Jahrhundert abrundete, jenes der Germanisierung nämlich, zu verstehen, muss man sich das Wechselspiel landespatriotischer, später nationalhistoriographischer Erklärungsmuster näher ansehen. Das soll im folgenden Unterkapitel geschehen.

17 Diego Venturino, L’historiographie révolutionnaire française et les Lumières, de Paul Buchez à Albert Sorel. In: Giuseppe Ricuperati (Hg.), Historiographie et Usages des Lumières. Berlin, 2002, 21–58; Id., Sur la genèse de l’expression „siècle des lumières“ (XVIIIe-XXe siècles), 59–83. Weiters: Vincenzo Ferrone / Daniel Roche, Le XIXe siècle: l’identité refusée. Les Lumières et la Révolution française. In: Id (Hg.), Le Monde des Lumières. Paris 1997, 497–522. 18 Vgl. zur Spannbreite der religionspolitischen Anschauung bei den liberalen und freisinnigen Mitgliedern des Reichstags von Kremsier die sehr aufschlußreiche Arbeit von Erika Weinzierl-Fischer, Die Kirchenfrage auf dem österreichischen Reichstag 1848/49. In: Mitteilungen des österreichischen Staatsarchivs 8 (1955), 160–190. Zur Vereinfachung und Verhärtung der Fronten im Kulturkampf: Karl Vocelka, Verfassung oder Konkordat? Der publizistische und politische Kampf der österreichischen Liberalen um die Religionsgesetze des Jahres 1868. Wien 1978.

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II Josephinismus-Paradigma und innerimperialer Vergleich Für das Verständnis der josephinischen Zeit und ihrer Folgen sind innerimperiale Vergleiche in zweierlei Hinsicht relevant. Erstens waren diese Vergleiche, sofern sie auf der Basis sozialgeschichtlichen Materials ausgeführt wurden, ein Produkt der Entdifferenzierung einer ursprünglich plurikulturellen Situation, die Protagonisten dieses oder jenes „Erwachens“ während des 19. Jahrhunderts in kohärente Nationalkulturen zu zerlegen bestrebt waren.19 Dabei wurde gemeinhin angenommen, der „Josephinismus“ habe die Weichen für diesen Prozess gestellt, allerdings verband man mit dieser These diametrale Einschätzungen: Für die Historiographie der tschechischen und ungarischen Wiedergeburt war der „Josephinismus“ der Hauptgegner, der durch „Zentralismus“ und „Germanisierung“ vom Schaltbrett der Wiener Burg aus die regionalen kulturellen Bestrebungen vereiteln wollte.20 Die deutschösterreichische Historiographie übernahm diese Auffassung, stülpte sie aber um und machte sie zum positiven Autostereotyp. Der Josephinismus war die Initialzündung des „Gesamtdeutschtums“: Dieses Geschichtsbild war in mehreren Ablagerungen entstanden, um 1848 führte man noch vielfach die empfundene Abkapselung des vormärzlichen Österreich vom größeren Deutschland auf die josephinische Universitäts- und Wissenschaftspolitik zurück.21 Je mehr aber die Zeitzeugen der Nachwelt die Feder überließen, desto stärker setzte sich die Reputation Josephs II. und seiner Anhänger als Vertreter des „Deutschtums“ durch. Im deutschliberalen Schönheitssalon verschwanden alle Makel des drakonischen Monarchen, er galt als frühliberaler Menschenfreund und Bahnbrecher deutscher Kultur. Beiden Seiten, den Publizisten im Dienst der verschiedenen Formen der „nationalen Wiedergeburt“ auf der einen sowie den Deutschösterreichern auf der anderen Seite, war gemeinsam, dass sie die josephinische Förderung der Landessprachen und die gemischten Loyalitäten des frühen 19. Jahrhunderts nicht mehr wahrhaben wollten.22 Der Germanisierungs-Topos erfüllte also sehr unterschiedliche Funktionen: Er leistete der Dominanz der deutschen Kultur in der Gesamtmonarchie Vorschub, fungierte aber zugleich als Drohkulisse, um die Loyalität zur jeweiligen von der josephinischen Politik bedrohten Nation zu verstärken. Zweitens findet sich eine vergleichende Perspektive auf Gehalt und langfristige Wirkung der josephinischen Epoche in der austroslawistischen und austrohungaristischen Essayliteratur der 1850er und 1860er Jahre. Den Hintergrund bildeten die Ideen des „historischen Staatsrechts“ des jeweiligen Landes, die seit den 1840er Jahren überall in der Monarchie im 19 Fillafer, Imperium oder Kulturstaat?, wie Anm. 3. 20 Vgl. Fillafer / Wallnig, Einleitung (in diesem Band), 31–35. 21 Vgl. Hans Lentze, Andreas Freiherr von Baumgartner und die Thunsche Studienreform. In: Anzeiger der philosophisch-historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 11 (1959), 161–179. 22 Franz Leander Fillafer, Sechs Josephiner. In: Rainer Bendel / Norbert Spannenberger (Hg.), Katholische Aufklärung und Josephinismus. Rezeptionsformen in Ostmittel- und Südosteuropa. Köln – Weimar – Wien 2015, 349–389.

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Schwange waren. Während des Neoabsolutismus ermöglichte das historische Staatsrecht in den Ländern eine Annäherung des landespatriotischen Adels an die liberalen Alt-Achtundvierziger: Beide sahen den „Josephinismus“ als Hort des „Zentralismus“ und der „Germanisierung“.23 Das heißt: Die komparative Perspektive auf die Ländergeschichten der Monarchie ergab sich hier vor allem aus dem Vergleich der Josephinismus-Resistenz. Es ging also darum, nachträglich Widerstandsbeweise gegeneinander aufzurechnen. Im Zuge dieses Wettbewerbs fand man den Ausgangspunkt der verschiedenen Formen des nationalen Erwachens im Aufbegehren gegen den „Josephinismus“. Dabei fiel es natürlich ins Gewicht, wie sich der Josephinismus im jeweiligen Land entfaltete, dank welcher Schichten und Multiplikatoren er sich durchsetzte, wie wasserdicht man ihn von den Vertretern des „Erwachens“ abgrenzen konnte, vor allem aber: ob sich durch den direkten Vergleich zeigen ließ, dass er in den unterschiedlichen Ländern der Monarchie verschieden stark und nachhaltig wirkte. In diesem Umfeld wird der „Josephinismus“ zur programmatischen Kampfformel. Zwei Beispiele: Die Wiener Kirchenzeitung, die versuchte, die „Spagatnetze“, welche die „Josephiner“ über „den lebendigen Garten der Kirche spannten“, zu zerschneiden, stellte den „Radikalismus“ des ungarischen Klerus im Jahr 1848 den berechtigten Forderungen der Priesterschaft in Cisleithanien gegenüber: Schließlich gelte es hier das Joch der „josephinischen“ Kirchengesetze abzuschütteln, während in Ungarn Joseph II. selbst auf dem Sterbebett die meisten seiner Reformen wiederrufen hatte.24 Auch František Palacký gewichtet in seiner Schrift Österreichs Staatsidee sehr vorsichtig innere und äußere Faktoren für das ungarische Erwachen: Seitdem „der berühmte Herder“ den Magyaren vorausgesagt hatte, „daß sie im Verlaufe der Zeit in dem Meere dieser Völker untergehen werden und Kaiser Joseph II. diesen Zeitraum abzukürzen begann oder wenigstens den Anschein hatte, dies thun zu wollen, erwachten sie wieder zu neuem Leben […]“.25 Als Zwischenresümee lässt sich also feststellen: Die drei Bausteine des Josephinismus-Paradigmas, der säkularistische Antiklerikalismus, die Zentralisierung und die Germanisierung entstanden als Erklärungsmuster seit dem frühen 19. Jahrhundert. Vor der Jahrhundertmitte waren sie alles andere als unangefochten, sie dienten als integrative Selbstbehauptungs-Diskurse und Legitimierungsargumente für gewisse Gruppen: für die Vorkämpfer der nationalen 23 Valentin Urfus, K vzájemnému poměru českého státoprávního programu a předbřeznové stavovské opozice v Čechách [Die wechselseitigen Beziehungen zwischen dem tschechischen staatsrechtlichen Programm und der vormärzlichen ständischen Opposition in Böhmen]. In: Právněhistorické studie 13 (1967), 85–103; Vilmos Heiszler, Austroslawismus – Austrohungarismus (Die Aufnahme der tschechischen föderalistischen Vorstellungen in Pest in den Jahren 1860–61. In: Annales Universitatis Scientiarum Budapestinensis de Rolando Eötvös Nominatae: Sectio historica 24 (1985), 23–48. 24 H., Die Universitätsfrage. In: Wiener Kirchenzeitung (26. August 1851), 534. 25 Franz Palacký, Österreichs Staatsidee. Prag 1866, 19. Vgl. Richard Pražák, František Palacký a maďarská historiografie před rokem 1867 [František Palacký und die ungarische Geschichtsschreibung vor 1867]. In: Hana Ambrožová (Hg.), Historik na Moravě. Profesoru Jiřímu Malířovi, předsedovi Matice moravské a vedoucímu Historického ústavu FF MU, věnují jeho kolegové, přátelé a žáci k šedesátinám. Brno 2009, 139–145; Id., Palacký a Maďaři před rokem 1848 [Palacký und die Ungarn vor 1848]. In: Časopis Matice moravské 77 (1958), 74–99.

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Wiedergeburt, für die Gegner des Staatskirchentums und die liberalen Bürokraten, die an eine autochthone Reformtradition anknüpfen wollten. Zugleich wurde die Aufklärung zum Spielball zwischen verschiedenen Autochthonie-Programmen im Rahmen des „nationalen Erwachens“: Ob dem Barockpatriotismus oder einer als säkularistisch und protoliberal geltenden Aufklärung der entscheidende Anteil an der jeweiligen „Wiedergeburt“ zukam, welche Tradition damit das genuine Zentrum der Nationalgeschichte darstellte, wurde während des 19. Jahrhunderts in allen Regionen der Monarchie eifrig diskutiert. Hier ging es sozusagen um einen erfolgreich durchzuführenden Kaiserschnitt, darum nämlich, die aufgeklärten Gelehrtenpatrioten trennscharf vom „Josephinismus“ zu scheiden, um sie als Gründerväter einer nationalen Tradition darzustellen. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts verlagerte sich der Konflikt zwischen der klerikalen Partei und den Liberalen in dem Sinne, dass nun die Bewertung des Kohäsionsfaktors Aufklärung in den Vordergrund rückte. Hielten die seit Maria Theresia etablierten Institutionen die Monarchie zusammen oder gefährdeten sie dadurch, dass sie die Völker voneinander entfremdeten und der Säkularisierung Vorschub leisteten, das Vaterland? Nach 1918 gewannen diese Fragen noch an Brisanz, weil sie nun mit Genealogien des Zerfalls der Monarchie verknüpft wurden. Dass die drei Module Antiklerikalismus, Zentralisierung und Germanisierung sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem kohärenten Epochen-Interpretament verdichteten, hatte mit den tagespolitischen Debatten der Konkordatszeit und mit den Mobilisierungsversuchen des nationalen Zeitalters zu tun, durch welche die Bürger der Monarchie eindeutigen Identitätskategorien der „Nationalität“ zugeordnet werden sollten. Das für unsere Belange wichtige Resultat dieser Entwicklungsreihe ist die Etablierung eines dreigliedrigen Schemas, das sich dadurch auszeichnete, dass die verschiedenen Gruppen über den Inhalt des Paradigmas Einigkeit erzielen konnten, wenn sie auch intentional über seine Wirkungen uneins waren. Egal ob man den Josephinismus mit seinen Komponenten guthieß oder verdammte, die Stabilität des Interpretaments rührte daher, dass sich die unterschiedlich bewerteten Fixierungen des Sachverhalts gegenseitig verstärkten. Die Wurzeln des Deutungsparadigmas „Josephinismus“ lagen also in der Debatte über die politische und kulturelle Struktur der Monarchie zwischen Vormärz und Ausgleich. Wie stellte sich nun methodisch die Erforschung der Aufklärung dar, als sie allmählich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die Dignität eines Themas der akademischen Historiographie gewann? Auf das Problem der Autochthonie kultureller Entwicklung, auf die Indigenisierung und Externalisierung kultureller „Einflüsse“ habe ich bereits hingewiesen: Sie bildete den Leitkonflikt in der Diskussion darüber, ob die jeweilige „nationale Wiedergeburt“ aus dem barocken Kirchen- und Adelspatriotismus oder aus einer lokalen Variante der Aufklärung entsprungen war. Historiographiegeschichtlich ist das insofern bemerkenswert, weil hier Gegenstandskonstitution und Methode zusammenfielen, das heißt: Die Eingemeindung oder Abstoßung der Aufklärung in der Geschichte der Region überschneidet sich im ausgehenden 19. Jahrhundert mit der Methodendiskussion über Aneignung und Abwehr von Modellen historiogra-

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phischer Praxis. Zunächst wurden diese Leitbilder und Direktiven der „Verwissenschaftlichung“ mit Bezug auf den Positivismus (Henry Thomas Buckle) und deutschen Historismus, hier primär unter Referenz auf Leopold von Ranke, in allen Historikermilieus der Region diskutiert.26 Im frühen 20. Jahrhundert verschoben sich durch den Werturteilsstreit und die Kontroverse über die Kulturgeschichte die Koordinaten, später wurde die Fixierung auf Staatsbildung und res gestae der Herrschaftsausübung durch die Volksgeschichte und Stammesliteratur-Forschung aufgelockert.27 Dabei fällt auf, dass die Debatte über die methodischen Voraussetzungen der „Wissenschaftlichkeit“ häufig unter der Prämisse der Kompatibilität ausländischer Innovationen mit lokalen Gegebenheiten und etablierten Verfahren geführt und in lokale Konflikte über Deutungsparadigmen der nationalen Geschichte abgefächert wurden. „Fremdheit“ und „Autochthonie“ waren dabei polyfunktional und perspektivenabhängig. Das führte zu wissenschaftspolitischen Stellvertreterkriegen, hier wurden die aus der deutschen Debatte bekannten Frontverläufe in den nationalen Praxiskontexten reproduziert. Masaryk etwa polemisierte gegen die „philologisch-paläographisch-diplomatische“ deutsche Geschichtsschreibung und versuchte damit, die Prager Schule Jaroslav Golls zu desavouieren; Elemér Mályusz warf den ungarischen Vorkämpfern der Geistesgeschichte vor, sie hätten die Vorurteile Friedrich Meineckes und Ernst Troeltschs gegen die Volksgeschichte reproduziert und damit die Entstehung einer eigenständigen ungarischen Volksgeschichte zu hintertreiben versucht.28 Etwas zugespitzt könnte man sagen, dass diese Debatte bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts von zwei Reflexmustern beherrscht blieb: vom Argument einerseits, dass die nationale Wissenschaft aus der Nationalgeschichte entstanden und eben darin universal sei, das heißt: dass auch der pseudouniversale „Historismus“ einer sehr spezifischen deutschen nationalen Traditionsgenese entsprang; andererseits von der These, der zufolge die Nationalgeschichte nach universalgültigen Methoden zu erforschen sei, was den Distinktionseffekt mit sich brachte, 26 Jaroslav Marek, O historismu a dějepisectví [Vom Historismus zur Geschichtsschreibung]. Praha 1992, 135; Tomáš Vojtěch, Česká historiografie a pozitivismus: světonázorové a metodologické aspekty [Die tschechische Geschichtsschreibung und der Positivismus: Weltanschauliche und methodologische Aspekte]. Praha 1984, 54, 157; Bohumil Jiroušek / Josef Blüml / Dagmar Blümlová (Hg.), Jaroslav Goll a jeho žáci [Jaroslav Goll und seine Schüler]. České Budějovice 2005; Ágnes R. Várkonyi, A pozitivista történetszemlélet a magyar történetirásban [Die positivistische Geschichtsauffassung in der ungarischen Geschichtsschreibung]. 2 Bde., Budapest 1973. 27 Vgl. Lutz Raphael, Historikerkontroversen im Spannungsfeld zwischen Berufshabitus, Fächerkonkurrenz und sozialen Deutungsmustern: Lamprecht-Streit und französischer Methodenstreit der Jahrhundertwende in vergleichender Perspektive. In: Historische Zeitschrift 251 (1990), 325–363; Christiane Brenner / Erik Franzen et al. (Hg.), Geschichtsschreibung zu den böhmischen Ländern im 20. Jahrhundert. München 2006. 28 Attila Pók, Rankes Einfluß auf Geschichtsschreibung und Geschichtsdenken in Ungarn – ein historisierter Historiker. In: Wolfgang Mommsen (Hg.), Leopold von Ranke und die moderne Geschichtswissenschaft. Stuttgart 1988, 201–214; Josef Pekař, Masarykova česká filosofie [Masaryks tschechische Philosophie] [Český Časopis Historický 18 (1912), hier Separatdruck]. Praha 31928, 29f. (gegen Masaryks Verunglimpfung der deutschen Historiographie); Elemér Mályusz, A magyar történettudomaný [Die ungarische Geschichtswissenschaft]. [Budapest 1941], 56f.

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dass auf diese Weise die jeweilige vermeintlich „nationale“ Volksgeschichte als Nachahmung deutscher Vorbilder entlarvt wurde. Aus den schon dargelegten Gründen besaß die Frage nach der Autochthonie der Aufklärung und des Reformprogramms Josephs II. in der Region eine besondere Brisanz. Dieses Problem überkreuzte sich um 1900 mit der Kalkulation von Innovationsrenditen und mit der Frage der epistemischen Integration durch Angleichung an ausländische Verfahrensvorbilder in den Wissenschaften. Das führte dazu, dass sich der Konflikt über den Universalitätsanspruch geschichtswissenschaftlicher Methoden besonders an der Erforschung des 18. Jahrhunderts entzündete. Bevor ich nun die Erforschung der Aufklärung in den drei ausgewählten Nachfolgestaaten skizziere, möchte ich eine allgemeinere Vorbemerkung über die Geschichtsschreibung nach 1918 einschalten und kurz die Möglichkeiten und Grenzen einer gesamtmonarchischen Perspektive nach dem Zerfall des Habsburgerreichs aufzeigen.

III Postimperiale Geschichtsschreibung Als die Habsburgermonarchie 1918 zerfiel, war ihr Wissenschaftsraum schon längst in nationale Diskursformationen ausgefasert. Die Institutionen historischer Forschung wandelten sich durch die Entstehung sprachlich getrennter Seminar-Parallelstrukturen seit den 1880er Jahren, wie an der geteilten Universität Prag, nationale Geschichtszeitschriften29 etablierten sich als Zentralorgane der Forschung, einschlägige wissenschaftliche Gesellschaften und Trägervereine wurden etabliert. An die Stelle der großangelegten gesamtmonarchischen Projekte der 1850er und 1860er Jahre30 waren im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zunehmend regionale, länderspezifische Vorhaben getreten, wie die Editionen von Landtagsakten, welche die jeweiligen Staatsrechtskonzeptionen der Kronländer untermauerten.31 Dazu kamen seit 1918 Schwierigkeiten der Quellenerschließung: Viele der Nachfolgestaaten hatten ihren neuen 29 Vgl. Frank Hadler, Századok – Kwartalnik Historyczny – Český Časopis Historický. Drei Konstanten ostmitteleuropäischer Historiographiegeschichte. In: Matthias Middell (Hg.), Historische Zeitschriften im internationalen Vergleich. Leipzig 1999, 145–161. 30 Zu den Probleme der österreichischen gesamtvaterländischen Geschichte vgl. Franz Leander Fillafer, Jenseits des Historismus: Gelehrte Verfahren, politische Tendenzen und konfessionelle Muster in der Geschichtsschreibung des österreichischen Vormärz. In: Christine Ottner-Diesenberger / Klaus Ries (Hg.), Geschichtsforschung in Deutschland und Österreich im 19. Jahrhundert: Ideen – Akteure – Institutionen. Stuttgart 2014, 79–91; zur Infrastruktur: Gudrun Pischinger, Geschichtsministerium oder Verlagsanstalt? Eine Funktionsanalyse der Historischen Kommission der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien von 1847 bis 1877. Diss. Graz 2001. 31 Vgl. Robert Evans, Historians and the State in the Habsburg Lands. In: Willem Pieter Blockmans / Jean-Philippe Genet (Hg.), Visions sur le développement des états européens. Théories et historiographies de l’état moderne. Roma 1993, 203–218; Jaroslav Pánek, Sněmy české (Naděje a ztroskotání edice k dějinám raného novověku) [Böhmische Landtage (Hoffnung und Schiffbruch der Editionsvorhaben zur Geschichte der frühen Neuzeit)]. In: 130 let Zemského archivu. Praha 1993, 23–31, 108–109; Kálmán Benda, A magyar történeti forráskiadás múltja [Die Vergangenheit der ungarischen historischen Quelleneditionen]. In: A magyar történettudomány kézikönyve. Budapest 1987, 7–20.

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Nachbarn Gebiete abgetreten und bangten um die Minderheitenrechte der jenseits der neuen Grenzen versprengten Angehörigen der eigenen „Nation“; für die Historiker wurden Reisen zu Archiven in der Region und die Einsichtnahme in deren Bestände immer schwieriger.32 Jede der drei im Folgenden schlaglichtartig untersuchten Historiographien33 hatte nach 1918 eine eigene Ausgangslage. Im österreichischen Selbstverständnis ging es um den Ort der jungen Republik im größeren Deutschland, um Anschluss oder Eigenständigkeit. Daher waren die „Verpreußung“ durch die Aufklärung und die angebliche Abkapselung der Monarchie vom „größeren Deutschland“ durch die Restauration Leitthemen der Historiographie in der Zwischenkriegszeit. Dieses Motiv tritt damals auch in Form einer arbeitsteiligen Zivilisierungsmission der deutschen Staaten auf: als herbeigesehnte Überflügelung Preußens durch Österreich als Führungsmacht eines katholischen Deutschland. In den verschiedenen Auslegungen der „Reichsidee“ wirkt der Phantomschmerz der zerfallenen Habsburgermonarchie.34 Die tschechoslowakische Historiographie versuchte sich an der zentripetalen Staatswerdungsgeschichte der jungen, mit zuvor ungarischen Gebieten arrondierten Republik35 und bemühte sich, die slowakische Geschichte in ein historiographisches Gesamtmodell einzubauen. 36 Im geschrumpften Ungarn prägte die Katastrophe von Trianon die Fragestellungen der Historiographie, angesichts der Einbuße von zwei Dritteln des alten Landesgebietes stellte sich in aller Schärfe die Schuldfrage.37 Dennoch wäre es verfehlt, das revanchistische Gepräge der Geschichtsschreibung zu überschätzen,38 wie eine kurze Skizze postimperial-vergleichender Ansätze in der Historiografie zeigen soll.

32 Ferenc Glatz, Der Zusammenbruch der Habsburgermonarchie und die ungarische Geschichtswissenschaft. In: Études historiques hongroises 2 (1980), 577–590, hier 580f. 33 Ansätze für regional übergreifende Studien fehlen, vgl. aber die profunde komparative Arbeit von Pavel Kolář, Geschichtswissenschaft in Zentraleuropa. Die Universitäten Prag, Wien und Berlin um 1900. Leipzig 2008, sowie Gernot Heiss / Árpád von Klimó / Pavel Kolář / Dušan Kováč, Habsburg’s Difficult Legacy. Comparing and Relating Austrian, Czech, Magyar, and Slovak National Historical Master Narratives. In: Stefan Berger / Chris Lorenz (Hg.), The Contested Nation. Ethnicity, Class, Religion and Gender in National Histories. Basingstoke-Houndsmills 2008, 367–404; László Szarka, Das historische Ungarn im Spiegel der slowakischen Geschichtsschreibung. In: Specimina Nova Dissertationum ex Instituto Historico Universitatis Quinqueecclesiensis de Iano Pannonnio Nominatae – A Pécsi Janus Pannonius Tudományegyetem Történeti Tanszékének évkönyve, 1998, 165–186. 34 Gernot Heiss, Im „Reich der Unbegreiflichkeiten“: Historiker als Konstrukteure Österreichs. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 7 (1996), 455–478. 35 František Kutnar, První sjezd československých historiků [Der erste tschechoslowakische Historikerkongress]. Praha 1938. 36 Dazu jüngst Milan Ducháček, Václav Chaloupecký. Československý historik a archivář (1882–1951) [Václav Chaloupecký. Tschechoslowakischer Historiker und Archivar]. Dissertation Praha [Karls-Universität] 2012. Chaloupecký war der erste Lehrstuhlinhaber der Kanzel für tschechoslowakische Geschichte in Bratislava. 37 Petér Gunst, A magyar történetírás története [Geschichte der ungarischen Geschichtsschreibung]. Debrecen 1995. Domokos Kosáry, Társadalomtudományok [Gesellschaftswissenschaften] 1919–45. In: A magyar Tudományos Akadémia másfél évszázada 1825–1975. Budapest 1975, 312–332. 38 So etwa Gunst, A magyar történetírás története, wie Anm. 37, 171f.

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Verfassungshistoriker wie Kamil Krofta und Ferenc Eckhart39 entwarfen Vergleichsstudien über die ostmitteleuropäische ständische Libertaskultur und hoben dabei die Absolutismusresistenz der Region hervor: Bei Eckhart und Krofta war der Absolutismus kein zwangsläufiges Resultat der historischen Entwicklung.40 Durchaus im Kontrast zur Konzeption des aufgeklärten „Absolutismus“ oder „Despotismus“, wie er von Wilhelm Roscher bis Michel Lhéritier diskutiert wurde,41 betonte die komparative Rechtsgeschichte der Region übergreifende Merkmalsausprägungen der „alten Verfassung“, des „alten Herkommens“, die aus strukturäquivalenten Systemen bei den Piasten, Arpaden und Přemysliden hervorgingen.42 Kamil Krofta fragte danach, weshalb es nur in Ungarn, nicht aber in den anderen Teilen der Monarchie gelungen war, den rechtlichen Zusammenhang zwischen der alten ständischen und der modernen demokratisierten Verfassung zu bewahren; gerade hier hatte die Aufklärung eine Scharnierfunktion.43 Freilich blieb die Bewertung der Libertaskultur im Vergleichsaufbau ambivalent, so etwa, wenn Krofta darauf hinwies, dass „die Reformen in den Erbländern in viel grösserem Umfang, gründlicher und nachhaltiger durchgeführt wurden“ als in Ungarn, wo die Stände sie meistens zunichte zu machen wussten.44 Zugleich wurden hier geopolitische Faktoren über internalistisch definierte Kriterien landestypischer Entwicklung gestellt. Beispielsweise hob man die Bedeutung der osmanischen Bedrohung für die Überlebensfähigkeit der ungarischen Verfassung hervor, was die von vielen ungarischen Rechtshistorikern hochgehaltene Lebenskraft der Doktrin der heiligen Krone relativierte,45 und strich regionale Abhängigkeiten heraus: So etwa wenn tschechische Historiker betonten, dass die Kriegskostenbeteiligung

39 Vgl. Ferenc Eckhart, Les constitutions hongroise et polonaise au moyen âge. In: Przewodnik Historyczno-Prawny 4 (1933), 1–9. 40 Joachim Bahlcke, Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft. Ständeforschung in der Ersten Tschechoslowakischen Republik - eine Fallstudie. In: Jiří Mikulec (Hg.), Per saecula ad tempora nostra: sborník prací k šedesátým narozeninám prof. Jaroslava Pánka. 2 Bde., Praha 2007, hier 2 878–885. 41 Vgl. Fillafer/Wallnig, Einleitung (in diesem Band), 21–25. 42 Nach 1945 setzten Dušan Třeštík und Josef Žemlička dieses Interesse fort, legten den Akzent allerdings auf eine andere Epoche: Sie postulierten ein „mitteleuropäisches Modell“ patrimonialer Königsgewalt vom 10. bis zum 12. Jahrhundert, mit einem Dienstystem von Kastellanen, Benefiziaren und vilici; vgl. dazu kritisch Jan Libor, Skrytý půvab „středoevropského modelu“ [Der diskrete Charme des „mitteleuropäischen Modells“]. In: Český časopis historický 105 (2007), 873–903; und Stanisław Russocki, Vznik vládního systému a způsob panování v patrimoniálních monarchiích střední Evropy. (Několik diskusních poznámek) [Der Ursprung des Herrschaftssystems und der Herrschaftsweise in den patrimonialen Monarchien Mitteleuropas. (Einige Diskussionsbemerkungen)]. In: Československý časopis historický 28 (1980), 399–413. 43 Bahlcke, Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft, wie Anm. 40, 880. 44 Kamil Krofta, Die österreichischen Nachfolgestaaten. In: Bernhard Harms (Hg.), Volk und Reich der Deutschen, Vorlesungen gehalten in der Deutschen Vereinigung fuer Staatswissenschaftliche Fortbildung, 3, Berlin 1929, 385–459, 403. 45 Kamil Krofta, Stará ústava česká a uherská [Die alte Verfassung in Böhmen und Ungarn]. Praha 1931, 47f.

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der erbländischen Stände maßgeblich für den Fortbestand des königlichen Ungarn war.46 Die Vergleichsarchitektur ermöglichte es vor allem, durch den Nachweis der Musterhaftigkeit paralleler Verfassungsentwicklungen und Sozialstrukturen Prätensionen nationaler Einzigartigkeit innerhalb der Region zu unterlaufen.47 Die Historisierung solcher Singularitätsansprüche hatte immer eine zeitdiagnostisch-kritische Funktion. Ferenc Eckhart trat prononciert gegen den Mythos von der heiligen Krone auf, das Symbol der ungarischen respublica spiritualis und der Unzertrennlichkeit ihrer commembra, die angeblich den Blutvertrag der Stammesführer der magyarischen Urhorde symbolisierte und in der Landesorganisation die abgestuften Rechte der nichtungarischen Nationalitäten legitimierte.48

IV Tschechoslowakei In der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit wurde der „Streit über den Sinn der tschechischen Geschichte“, der seit Tomáš G. Masaryks Publikation seiner Česká Otázka (Tschechische Frage) im Jahr 1895 schwelte, fortgeführt.49 Masaryk behauptete, der tschechische Nationalcharakter beruhe auf einem emanzipatorischen Humanitätsideal, das sich vom Hussitentum herleite und dann über das „nationale Erwachen“ in die Gegenwart gemündet sei. Diese These wurde im Schülerkreis des Historikers Jaroslav Goll, besonders vom bereits erwähnten Kamil Krofta und von Josef Pekař, als Geschichtsklitterung angegriffen.50 Kritiker, die das von Masaryk beschworene, auf Jan Hus und die Brüderunität bezogene nationale Sendungsbewusstsein verwarfen, betonten die Bedeutung des katholischen Barockpatriotismus in der Geschichte der böhmischen Länder. Masaryk selbst sah den Liberalismus zwar als Resultat der Aufklärung, er lehnte aber beide Phänomene als frivolen Atheismus ab. Er 46 Kamil Krofta, My a Maďaři v bojích s Turky [Wir und die Ungarn im Kampfe mit den Türken]. In: Časopis svobodné Školy politických nauk v Praze 6 (1933–1934), 97–109, hier 97. 47 Eckhart, Les constitutions hongroise et polonaise au moyen âge, wie Anm. 39, 1. 48 Vgl. Bahlcke, Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft, wie Anm. 40, 882; Ákos Timon, A szent korona és a koronázás közjogi jelentősége [Die heilige Krone und die staatsrechtliche Bedeutung der Krönung]. Budapest 1907; dagegen: Ferenc Eckhart, Jog- és alkotmánytörténet [Rechts- und Verfassungsgeschichte], in: Bálint Hóman (Hg.), A magyar történetírás új útjai. Budapest 1931, 269–320. 49 Gut dokumentiert und aufbereitet in: Miloš Havelka (Hg.), Spor o smysl českých dějin 1895–1938 [Der Streit über den Sinn der tschechischen Geschichte, 1895–1938]. Praha 1995; vgl. auch Vladimír Urbanek, Nikdy nekončící spor o české dějiny a současnost? [Der nichtendenwollende Streit über die tschechische Geschichte und Gegenwart]. In: Mladá Fronta Dnes (1. Juni 1995), 19. 50 Vgl. schon die Kritik von Josef Kaizl in Havelka (Hg.), Spor o smysl českých dějin, wie Anm. 49, 18f.; Kamil Krofta, Vliv Masarykův na české dějepisectví [Masaryks Einfluss auf die tschechische Geschichtsschreibung]. In: Přehled 8 (1910), 698–700, 756–758; Josef Pekař, Masarykova česká filosofie [Masaryks tschechische Philosophie], Praha 1927; Id., Nový Bartoš [Der Neue Bartoš]. In: Český časopis historický 32 (1926), 342–376, 671–688; Olga Květoňová-Klímová, Styky Bohuslava Balbína s českou šlechtou pobělohorskou [Bohuslav Balbíns Beziehungen zum nachweißenbergischen böhmischen Adel]. In: Český časopis historický 32 (1926), 497–541.

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bezichtigte Aufklärung und Liberalismus, den Staat zu vergöttern sowie die soziale Frage zu ignorieren und rückte sie sogar in die Nähe der katholischen Kirche der Gegenreformation: Die gegenreformatorische Saat einer „unaufrichtigen, halbherzigen, charakterlosen“ Nation sei seit dem 18. Jahrhundert unter dem Schutz der Aufklärer und Liberalen aufgegangen.51 In Masaryks Werk erhielt die um 1900 übliche Polemik über die Sklerose des Liberalismus, wie sie sich in großen Teilen Europas bei ästhetischen Modernisten und sozialliberalen Gruppen vom Schlage der Fabier oder der Fortschrittspartei fand, eine habsburgspezifische Note. Masaryks Kontrahenten hingegen sahen die Aufklärung nicht bloß als antiklerikalen Säkularismus oder als Widerhall der hussitisch-spirituellen Versöhnungsbotschaft.52 Dementsprechend gerieten die Brüche zwischen Barock und Aufklärungsepoche sowie zwischen der Aufklärung und der Restauration des Vormärz bei ihnen weniger scharfkantig als in der Konzeption Masaryks, der eine Abfolge von Aktualisierungsstufen der nationalen Idee präsentierte.53 Masaryks Gegner wie Josef Pekař lehnten sowohl die Apotheose des Hussitentums im Werk František Palackýs als auch Palackýs Konstruktion eines Gegensatzes der ursprünglichen Rechtsordnungen der Germanen und der Slawen (hier „Freiheit“, dort „Feudalismus“) ab;54 sie galten rasch als Abtrünnige und Habsburgnostalgiker, die schon die nationaltschechische „Auslandsaktion“ während des ersten Weltkriegs hintertrieben hätten.55 51 Vgl. Tomáš Masaryk, Jan Hus. Naše obrození a naše reformace [Jan Hus. Unsere Wiedergeburt und unsere Reformation]. Praha 1896, 6; und Masaryks Kritik an Josef Jungmann, dem „großen Bewunderer Voltaires, unkritischen und blinden Anhänger der Aufklärung des vorigen Jahrhunderts und des Josephinismus“, in: Tomáš Masaryk, Česká Otázka. Snahy a tužby národního obrození [Die tschechische Frage. Die Bemühungen und Wünsche der nationalen Wiedergeburt]. Praha 21908, 12. 52 Vgl. den Beitrag des Pekař-Schülers František Kutnar, Život a dílo Ignáce Cornovy [Leben und Werk Ignaz Cornovas]. In: Český časopis historický 36 (1930), 327–350, 491–519. 53 Vgl. František Kutnar / Jaroslav Marek, Přehledné dějiny českého a slovenského dějepisectví. Od počátku národní kultury až do sklonku třicátých let 20. století [Überblick zur Geschichte der tschechischen und slowakischen Geschichtsschreibung. Von den Anfängen des nationalen Erwachens bis in die späten Dreißigerjahre des 20. Jahrhunderts]. Praha 21997, 493–502; weiter zur Kritik an Masaryks „historiosophischem“ und „messianischem“ Nationalgeistkonzept siehe Josef Pekař, Smysl českých dějin [Der Sinn der tschechischen Geschichte]. Praha 21929. Der Titel liegt auch in deutscher Übersetzung vor: Josef Pekař, Sinn der tschechischen Geschichte. Brünn – Leipzig – Wien 1937. 54 Pointiert Josef Pekař, Rukopisy se stanoviska historického [Die Handschriften vom historischen Standpunkte betrachtet]. In: Český Časopis Historický 45 (1935), 209–235, hier 211–212. 55 Vgl. Pekařs Plädoyer von 1917 für eine Föderalisierung der Monarchie unter Berücksichtigung des böhmischen Staatsrechts: Josef Pekař, K českemu boji státoprávnímu za války [Über die tschechischen staatsrechtlichen Kämpfe während des Weltkriegs]. Praha 1930, 535; Id., Poznámky k uherské korunovaci [Bemerkungen zur ungarischen Krönung]. In: Z české fronty. Feuilletony z „Nár. politiky“ z jara 1917, Praha 1917, 5–15, hier 7f. In diesem Sinne weigerte sich Pekař, die Monarchie als „deutschen“ Staat mit späterhin erworbenen Kronländeranhängseln zu sehen (Spätprodukt der Schlacht auf dem Lechfeld und der „ottonischen Mark“ von 955), wie es die „gesamtdeutschen“ Historiker Österreichs in der Zwischenkriegszeit tun sollten. Siehe dazu Pekař, Z české fronty. Feuilletony z „Nár. politiky“ z jara 1917, 22–29; Id., O německé a české práci v Rakousku [Zu deutschen und tschechischen Arbeiten über Österreich]. In: Josef Hanzal (Hg.), Na cestě k samostatnosti. Výbor z článků a přednášek 1916–1935, Praha 1993, 40–42.

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Während die Auseinandersetzung über den Sinn der tschechischen Geschichte auf der Etage politischer Professoren mittlerweile recht gut dokumentiert ist, hat man sich bislang kaum mit der Entwicklung der Geschichtsschreibung über Barock und Aufklärung in der Zwischenkriegszeit befasst. Um die Tragweite und die Folgen der Diskussion in der historiografischen Praxis zu durchleuchten, möchte ich kurz zwei Werke herausgreifen, Jan Strakoš’ Studie über die Anfänge des gegenaufklärerischen Historismus im Böhmen des 18. Jahrhunderts und Jaroslav Ludvikovskýs Buch über den Patriarchen der Slawistik und Weltpriester Josef Dobrovský. Im Anschluss wird es um Pekařs Auseinandersetzung mit dem österreichischen Historiker Viktor Bibl gehen, darauf folgt ein Versuch, Eduard Winter in der tschechoslowakischen Geschichtsschreibung zu verorten. In radikaler Einseitigkeit wurde Josef Pekařs Geschichtsbild von Autoren wie dem jungen katholischen Literaturkritiker und Antimodernisten Jan Strakoš ausgebaut. Strakoš kritisierte 1929 Masaryks Deutung und ortete die Quellen des „nationalen Erwachens“ in den Prager Zeitschriften und bei dem piaristischen Historiker Mikuláš Adaukt Voigt, die er als antijosephinisch und deshalb gegenaufklärerisch einstufte. František Cinek legte 1934 mit seiner dickleibigen Geschichte des „nationalen Erwachens“ des mährischen Priesternachwuchses im frühen neunzehnten Jahrhundert nach. Cinek leitete die Wiedergeburt stringent aus der barockpatriotischen Tradition der Heiligenverehrung und der klösterlichen Lokalhistoriographie ab, die der kirchlichen Romantik des Vormärz den Boden bereitet hätten. Strakoš und Cinek sprachen dem Josephinismus, der für sie gleichbedeutend mit Germanisierung, Glaubensfeindlichkeit und Zentralisierung war, jeden positiven Stellenwert im „Erwachen“ ab. Damit versuchten sie gezielt den Patriotismus ihrer Gegner im Masaryk-Lager zu desavouieren.56 Ganz ähnlich argumentierte der marxistische Antifaschist Jaroslav Čecháček: Er betrachtete die Masaryk’sche Verbrämung des Hussitismus nur als Ablenkungsmanöver, als spirituell-metaphysische und bürgerliche Illusion, die dem angeprangerten Katholizismus ähnelte wie ein Ei dem anderen.57 Etwas vereinfacht lässt sich sagen, dass konservative Autoren ihren liberalen Widersachern vorwarfen, die Fehler des Josephinismus, nämlich die Auflösung der religiösen Bindungen, die zwangsassimilatorische Politik und die Vernichtung gewachsener Institutionen, auf nationaler Ebene zu wiederholen, während nationalliberale Autoren bemüht waren, die aufgeklärten Vorläufer, auf die sie sich beriefen, vom Makel der Sympathie für Joseph II. zu befreien. 56 Jan Strakoš, Počátky obrozenského historismu českého v pražských časopisech a Mikuláš Adaukt Voigt. Příspěvek k historii protiosvícenské reakce v národním obrození [Die Anfänge des tschechischen Erweckungshistorismus in den Prager Zeitschriften und Mikuláš Adaukt Voigt. Ein Beitrag zur Geschichte der gegenaufklärerischen Reaktion im nationalen Erwachen]. Prag 1929, 243; zu ihm: Antonín Bernaček, Vzpomínky na Dp. Dr. Jana Strakoše [Erinnerungen an Dr. Jan Strakoš]. In: Nový Život 18 (1966), 219–221; weiters: František Cinek, K národnímu probuzení moravského dorostu kněžského [Zum nationalen Erwachen des mährischen Priesternachwuchses]. Olomouc 1934; sowie: Josef Škrášék, Dělník na cyrilometodějske tradice líše. Život a dílo preláta ThDr Františka Cinek [Arbeiter im Weinberg der kyrillo-methodischen Tradition. Leben und Werk von Prälat Dr. František Cinek]. Olomouc 1996. 57 Jaroslav Čecháček, Protiklerikální legenda. Pokus o marxistickou analysu [Antiklerikale Legende: Versuch einer marxististen Analyse]. Praha 1929.

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Der klassische Philologe Jaroslav Ludvikovský, er lehrte an der Universität von Bratislava, brachte mit seiner großen Dobrovský-Monographie von 1933 ebenfalls gewichtige Einwände gegen das Masaryk’sche Geschichtsbild vor.58 In Dobrovského klasická humanita wies er Masaryks kolossale Überschätzung Herders nach; nicht Herder war das Ideal der klassischen Humanität zu verdanken,59 vielmehr sei es einer eigenständigen Tradition des christlichen Ciceronianismus entsprungen, der das jesuitische Schulsystem und die barockpatriotische Publizistik durchzogen habe. Ludvíkovský korrigierte also die Masaryk’sche Fixierung auf Hus und Herder und lieferte reiches Material für die Rekonstruktion des plutarchischen Stoizismus.60 Der Altphilologe Ludvíkovský plädierte für eine stärkere Betonung der ciceronianischen „Humanitas“ (φιλανθρωπία und παιδεία) als Achse der Gelehrsamkeit und Weltsicht vom jesuitischen Patrioten Bohuslav Balbín (1621– 1688) bis zur Generation des Patriarchen der Slawistik, Josef Dobrovskýs (1753–1829).61 Damit führte Ludvikovský auch ein sehr bedenkenswertes Argument ein: Die später mit damnatio memoriae belegte, katholisch vermittelte Ausprägung der humanistischen Gelehrsamkeit habe die böhmischen Länder für die westeuropäische Aufklärung empfänglich gemacht: Hier habe ein gemeinsames Bildungssubstratum bestanden, das man durch die Fixierung auf die Pariser Enzyklopädisten leicht übersehen könne.62 Zugleich habe diese durch den kirchlichen Ciceronianismus vermittelte „klassische Humanität“ einen Kontrast zu materialistischen Spielarten der aufklärerischen mathesis und der Hybris zu weit getriebener perfectibilité gebildet. Also immunisierte, wie Ludvikovský nur auf Kosten einer pauschalen Karikatur desselben behaupten konnte, diese spezifische Prägung auch gegen den „Josephinismus“.63 Ludvikovský wies bemerkenswerterweise auch darauf hin, dass sich die humanistischen kirchlichen Aufklärer stark am Klassizismus Boileaus64 orientierten, statt sich die Griechenlandbegeisterung auf die Fahnen zu heften,65 und dass diese kirchlichen Aufklärer Intoleranz, 58 Vgl. zum Kontext Dušan Jeřábek, Dobrovský a spory o smysl českych dějin [Dobrovský und der Streit über den Sinn der tschechischen Geschichte]. In: Milan Kopecký (Hg.), Sborník referátů z pracovního zasedání katedry české literatury a literární vědy na filozofické fakultě UJEP v Brně dne 5. ledna 1979. Brno 1979, 87–100. 59 Gegen die Überschätzung von Herders Bedeutung vgl. zuletzt auch: Zdeněk David, Realism, Tolerance, and Liberalism in the Czech National Awakening: Legacies of the Bohemian Reformation. Baltimore/ MD 2010. 60 Siehe auch: Jaroslav Ludvíkovský, Platonsko-stoický prvek v Palackého ideji božnosti [Platonisch-stoische Elemente in Palackýs Idee der Gottähnlichkeit]. In: Listy filologické 28 (1941), 232–241. 61 Jaroslav Ludvikovský, Dobrovského klasická humanita. Studie o latinských vlivech na počátky našeho obrození [Dobrovskýs klassische Humanität. Studie über die lateinischen Einflüsse auf die Anfänge unseres nationalen Erwachens]. Bratislava 1933, 38–55. 62 LudvÍkovský, Dobrovského klasická humanita, wie Anm. 61, 41. 63 LudvÍkovský, Dobrovského klasická humanita, wie Anm. 61, 41f. 64 LudvÍkovský, Dobrovského klasická humanita, wie Anm. 61, 14, 24–26, 87. 65 Marijana Popović / Snežana Vukmirović, Nejstarší srbská sbírka přísloví z r. 1787 v díle Josefa Dobrovského, Vuka Karadžiće a Františka Ladislava Čelakovského [Die älteste serbische Sprichwörtersammlung von 1787 in den Werken Josef Dobrovskýs, Vuk Karadžićs und František Ladislav Čelakovskýs].

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Gewalt und die Verachtung der heidnischen Klassiker ablehnten, was sie sowohl von der Gegenreformation als auch von der hussitischen Bruderunität getrennt habe.66 Ludvikovskýs Helden wie Dobrovský vertraten häufig ein Ideal der artes et litterae einer topikalisierten Kunst und Gelehrsamkeit, die sich gegen ingeniöse inventio und gegen die philosophie aussprach; hier verlängerte Ludvikovský die Perspektive ins 19. Jahrhundert, wenn er betonte, dass diese kirchlichen Aufklärer mit ihrem Philanthropismus dem Humboldt’schen Neuhumanismus tendenziell verständnislos gegenüberstanden.67 Wie nahm man nun in der Tschechoslowakei die österreichische Literatur über Aufklärung und Restauration auf? Zunächst ist zu sagen, dass es sich hier um eine einseitige Kenntnisnahme handelte. Während die Besprechung deutschsprachiger Literatur überall in der Region Usance war, hat die österreichische Geschichtswissenschaft der Zwischenkriegszeit sich in ihrer Deutschlandfixierung auch sprachlich von den anderen Nachfolgestaaten der Monarchie abgeschottet. Ein gutes Beispiel dafür, wie anhand des Josephinismus postimperial Wendepunkte und versäumte Gelegenheiten in der Geschichte der Monarchie behandelt wurden, liefert die Debatte, die Viktor Bibls Buch Der Zerfall Österreichs entfachte. Das Buch des streng deutschnationalen Bibl erschien 1922. Die Diskussion, die Bibl mit seinem Werk in Österreich lostrat, werde ich im sechsten Teil dieses Beitrags behandeln. Hier soll es vorerst um Josef Pekařs Rezension Bibls gehen, er besprach das Werk für den Český časopis historický. Bibls Werk gilt Pekař als eines jener „reumütigen Bücher“, die nach dem Versinken der Monarchie Gewissenserforschung betrieben, „und nicht aufhören zu wiederholen: ,unsere Schuld’“.68 Pekař bekennt, a priori skeptisch gegenüber jenen österreichischen Werken zu sein, die im Sinne dessen, „was die Franzosen esprit d’escalier nennen“ die Kulmination des „Reichsproblems“ als unausweichlichen Untergang darstellen und duckmäuserisch diese „Schuld“ früheren Generationen aufbürden. Hier ortet Pekař bei Bibl vor allem die planmäßige Desavouierung Franz I.: Das Grauingrau des Polizeistaats helle bei Bibl kein Lichtstrahl auf, das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch werde mit keinem Wort erwähnt, ebensowenig die Gründung des Kaisertums im Jahre 1804!69 Pekař insinuiert, dass Bibl diese Beweislastumkehr vollziehe, um seine eigene Gruppe, die Deutschnationalen, zu amnestieren.70 Gegen In: Pavel Boček et al. (Hg.), Studia balcanica bohemo-slovaca. 6. Sv. 2. Sekce literárněvědná a kulturologická. sekce jazykovědná. Brno 2006, 603–619. 66 Ludvíkovský, Dobrovského klasická humanita, wie Anm. 61, 51–53, 63, 105, vgl. auch seine Ausführungen zu Štěpán Náchodskýs Paraphrase über die Gegenüberstellung von „Ciceronianus“ und „Christianus“ bei Hieronymus, 27, 33–36. 67 Ludvíkovský, Dobrovského klasická humanita, wie Anm. 61; weiters: Martin Svatoš, Postavení a funkce klasických jazyků ve všeobecném vzdělávání v habsburské monarchii 19. století [Die Stellung und Funktion der klassischen Sprachen in der allgemeinen Bildung der Habsburgermonarchie im 19. Jahrhundert]. In: Škola a město. Sborník přispěvků z konference ‚Škola a město‘ konáne v dnech 5.–6. října 1992. Praha 1993, 145–153. 68 Josef Pekař, Rezension Bibl, Der Zerfall Österreichs; Kaiser Franz und sein Erbe. In: Český časopis historický 28 (1922), 227–236, hier 227. 69 Pekař, Rezension Bibl, Der Zerfall, wie Anm. 68, 227. 70 Pekař, Rezension Bibl, Der Zerfall, wie Anm. 68, 227f.

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Bibls Porträt des Obskuranten Franz I. führt Pekař Cölestin Wolfsgrubers Studien über die Jugendjahre und josephinische Prägung Franzens an.71 Schließlich deutet Pekař auf die mit der angeblichen reaktionären Kehrtwende der 1790er Jahre einhergehende mögliche innere Front gegen die aufgeklärte, josephinische Bürokratie hin,72 um sofort zu relativieren: Trotz einiger oberflächlicher Zugeständnisse sei die josephinische Politik, was die adelige Mitbestimmung und die Politik gegenüber der Kirche als parastaatlicher Erziehungsagentur anging, bis in den Vormärz fortgesetzt worden; die Chefs der Zentralstellen im frühen Vormärz, Kolowrat, Lažanský, Mitrovský, Bubna gelten ihm als „aufgeklärte Männer“.73 Das „Josephinertum“ kristallisiere also, wie Pekař mit Hinweis auf Franz Josef Saurau (1760–1832) und dessen mit Metternich 1817 erarbeiteten „Reorganisations-Entwurf“ meint, nicht bei den beweihräucherten „Jakobinern“, sondern in Behördenapparat und Staatspolizei.74 Dass Pekař dabei auch gegen die zivilreligiöse Normarchitektur „humaner“ Gesinnung der Masarykianer in der tschechoslowakischen Republik anschreibt, zeigt sich in seinem Resümee. Gegen Bibls ausziselierte Zäsur von 1792/93 beobachtet Pekař: Franzens Entscheidung, eisern am Legitimitätsprinzip festzuhalten und seinen Sohn Ferdinand als Nachfolger einzusetzen, hätte sich aus dem Vertrauen in die weitere Wirksamkeit der polizeilichen Maßnahmen gespeist, welche die kindliche Ergebenheit der Nationen gewährleisten hätten sollen, dies aber sei „fast zugleich die krönende Ironie aufgeklärter Ideen über die Omnipotenz und Perfektion der Herrschaft der Vernunft und über die intellektuelle Unmündigkeit und Unzulänglichkeit der Untertanen“.75 Schließlich präzisiert Pekař seine Kritik daran, wie sich Bibl und die Deutschtümler aus der Verantwortung stehlen. Er blendet auf den bei Bibl und Redlich wohlgelittenen Leopold II. um und auf die „Pseudoliberalen“ der Epoche Kaiser Franz Josephs: Ein Umbau der Monarchie wäre nur auf dem Wege einer Verletzung des Krönungsdiploms Leopolds II. möglich gewesen, denn „es war Leopold“, so Pekař mit einer Prise Antimagyarismus, „der (in völligem Verkennen des tatsächlichen rechtlichen Aktionsradius der ungarischen verfassungsmäßigen Freiheit) den ungarischen Landtag“ mit der Formel „non ad normam aliarum provinciarum“ bewaffnete: „Es ist daher kaum wahrscheinlich, daß sich die Situation auf einem konstitutionellen oder semikonstitutionellen Landtag der 1820er […] anders entwickelt hätte, als in den 1860er Jahren.“76 Wenn es aber überhaupt Sinn mache, einen Sündenbock zu suchen, dann träfe die Schuld vielmehr „Franz Joseph und 71 Pekař, Rezension Bibl, Der Zerfall, wie Anm. 68, 229. 72 Pekař, Rezension Bibl, Der Zerfall, wie Anm. 68, 230. Rückbau ständischer Steuerbewilligungsrechte (Repartition): Josef Pekař, České katastry 1654–1789: Se zvláštním zřetelem k dějinám hospodářským a ústavním [Der Böhmische Kataster 1654–1789: Mit besonderer Berücksichtigung der Wirtschafts- und Verfassungsgeschichte]. Praha 1932, 268–270. 73 Pekař, Rezension Bibl, Der Zerfall, wie Anm. 68, 232. 74 Pekař, Rezension Bibl, Der Zerfall, wie Anm. 68, 227. Zu Saurau vgl. Peter Urbanitsch, Franz Graf Saurau. In: Neue Deutsche Biographie 22 (2005), 466–467; Kurt Hafner, Zwei Josefiner. Aus dem Briefwechsel des k.k. Hofkanzlers Grafen Saurau mit dem Grazer Gouverneur Franz Graf Hartig. In: Blätter für Heimatkunde 14 (1936), 77–97. 75 Pekař, Rezension Bibl, Der Zerfall, wie Anm. 68, 230. 76 Pekař, Rezension Bibl, Der Zerfall, wie Anm. 68, 235.

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seine ,liberale‘ Bürokratie“.77 Im Verbund mit der ungarischen Geopolitik antipanslawischer, russophober Paranoia habe diese „deutschliberale“ Beamtenschaft schließlich die Monarchie zerstört. Der Hofkammerpräsident Carl von Kübeck (1780–1855)78 nimmt aus Pekařs Perspektive bereits den antitschechischen Eifer der Deutschliberalen („německého liberála“) der franziskojosephinischen Epoche vorweg,79 welcher der franziszeischen Ära noch „fremd“ gewesen sei. Kübeck, schreibt der junge Historiker und Demokrat Jan Heidler in derselben Nummer des Český Časopis historický, war „ein Feind des böhmischen Adels, behinderte sogar zum Nachteil des Staates einige seiner [des Adels, FLF] wirtschaftlichen Initiativen, und fürchtete als josefinischer Zentralist, daß mit dem Wohlstand auch das Selbstbewusstsein des Adels gegenüber Wien noch mehr zunehme“.80 Eine letzte Frage ist in diesem Abschnitt noch anzuschneiden, sie betrifft die Positionsbestimmung von Eduard Winter im bisher vorgestellten Kontext. Wie ist er in der intellektuellen Landschaft der Tschechoslowakei während der Zwischenkriegszeit zu verorten? Ivo Cerman skizziert im vorliegenden Band, wie Winter seine Erzählung über die Tragödie des Reformkatholizismus mit der programmatischen Selbstviktimisierung, der Knechtung des „deutschen Volkes“ durch Versailles und Weimar, verknüpfte und rekonstruiert die Rezeption Winters in der tschechischen Historiografie nach 1945.81 Jiří Němec diskutiert in seinem Beitrag eindringlich die Josephinismus-Deutung Eduard Winters und legt die Edition eines bislang ungedruckten Kapitels von Winters Monographie aus dem Jahr 1943 vor.82 Němecs profunde Brünner Dissertation schildert Winters frühe Biographie und seine Karriere unter der Protektoratsverwaltung in Prag.83 Němec zeigt Eduard Winters altösterreichische Anfänge auf, behandelt seine Arbeit im Staffelsteiner Kreis, dem sudetendeutschen Katholikenverband der Zwischenkriegszeit, und rekonstruiert anhand verstreuter Publikationen Winters aus den Zwanziger- und Dreißigerjahren dessen Wertschätzung für die slawischen Völker. Winter ist von säbelrasselnden Scharfmachern und Umvolkungsaposteln unter den sudetendeutschen Historikern wie Josef Pfitzner abzuheben, obwohl er die Vorposten- und Kulturträgerrhetorik der deutschen Katholiken in Böhmen verinnerlicht hatte, in seiner Prager „Burse“ die katholische Wolframsbund-Burschenschaft versammelte und mit seinen Schülern an der Fakultät eifrig Material für die Sprachinsel-Erschließung im Osten sammelte.84 77 Pekař, Rezension Bibl, Der Zerfall, wie Anm. 68, 235. 78 Fillafer, Sechs Josephiner, wie Anm. 22. 79 Pekař, Rezension Bibl, Der Zerfall, wie Anm. 68, 232. Pekařs Behauptung, Kübeck hätte ungarische Forderungen unterstützt, entspringt freilich einer Überzeichnung von Kolowrats proböhmischer Affinität. 80 Jan Heidler, Rezension Schlitter, Aus Österreichs Vormärz. In: Český časopis historický 28 (1922), 236–239, hier 238, über Kübecks „beschränkte und in der Tat reaktionäre“ Position ebenda. 81 Vgl. den Beitrag von Ivo Cerman in diesem Band. 82 Vgl. den Beitrag von Jiří Němec in diesem Band. 83 Jiří Němec, Eduard Winter v německém dějepisectví v protektorátu. Biografická studie o kariéře, přizpůsobení a politické podřízenosti historiografie [Eduard Winter und die deutsche Geschichtsschreibung im Protektorat Böhmen und Mähren. Biographische Studie zur Karriere, Anpassung und politischen Unterordnung des Historikers]. Diss. Brno 2008. 84 Fillafer/Wallnig, Einleitung (in diesem Band), 37–41.

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Um Winters Perspektive auf die Geschichte Böhmens zu verstehen, lohnt ein Blick auf sein erstes Werk über den „Nationalitätenkampf“, das er 1938 vorlegte. Schon Winters frühere Arbeiten über die Landseelsorge, das Volks- und Industrieschulwesen und die Zusammenhänge zwischen Pastoralfürsorge und Krankenpflege waren im zweisprachigen böhmischen Milieu angesiedelt, die religiösen und nationalen Konfliktlinien rückte er aber in seinem Buch Tausend Jahre Geisteskampf im Sudetenraum ins Rampenlicht. Winter unterschied 1938 zwei Formen des gegenreformatorischen Katholizismus: einen geistig tiefen und fruchtbaren Flügel auf der einen Seite, auf der anderen jene Gruppe, welche die sterile und rücksichtlose Methode der „Dragonaden“ verfolgte.85 Durch diese Vorgehensweise kam es mitnichten zu einer Vertiefung religiösen Lebens, vielmehr wurde hierdurch das Zwangsregime des Staatskirchentums vorbereitet, das die äußerliche Rekatholisierung bei anhaltender innerer, spiritueller Unzufriedenheit bis ins 19. Jahrhundert fortführen sollte. Die „religiöse Tragik“ bei Tschechen und Deutschen verstand Winter so: [Die] Tschechen mußten, bei ihrer völkischen Wiedergeburt immer wieder durch das Staatskirchentum der alten Monarchie gehindert, in all dem, was ihnen von kirchlicher Seite gegenübertrat, eine feindliche Macht erblicken, während die Deutschen auch ihrerseits im alten Österreich-Ungarn völkisch unbefriedigt, in der Kirche die Verbündete der Habsburger und die Feindin ihres völkischen Selbsterhaltungskampfes sahen (Los von Rom-Bewegung).86

Diese doppelte Desillusionierung bringt Winter mit dem Aufkeimen des Nationalismus in Zusammenhang. Aus katholisch-sudetendeutscher Perspektive kann Winter die Schuldzuweisungs-Symmetrie aus dem „Nationalitätenstreit“ des späten 19. Jahrhunderts auflösen, indem er die Kirche als Akteur einführt und hier die enttäuschten Erwartungen beider Sprachgemeinschaften im Land überkreuzt. Das Problem habe laut Winter eben darin bestanden, dass sich die Kirche auf den Staat stützte, nicht auf die Völker, so hätten sich sowohl „Deutsche“ als auch „Tschechen“ aus völkisch-religiösen Gründen von ihr abgewandt. Damit legt Winter eine bemerkenswerte Spur der Genealogie des Nationalismus: Seine Ursprünge sieht er im Versagen der Kirche, diesem Systemversagen stellt er eben den Josephinismus gegenüber, der wiederum in Bolzanos Landespatriotismus gipfelte.87 85 Eduard Winter, Tausend Jahre Geisteskampf im Sudetenraum. Das religiöse Ringen zweier Völker, Salzburg – Leipzig 1938; tschechisch als: Tisíc let duchovního zápasu. Náboženské zápolení dvou národů. Praha 1940. Vgl. Ivo Cermans Beitrag in diesem Band, 237. 86 Eugen Lemberg, Rezension Winter, Tausend Jahre Geisteskampf. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 4 (1939), 228–230, hier 229. Vgl. Kristina Kaiserová, Die Barockzeit in den Schriften der Los-von-Rom-Bewegung: O werthestes Vatter-Land! Kultur Deutschböhmens 17.–19. Jh. In: Zprávy Společnosti pro dějiny Němců v Čechách – Mitteilungen für die Geschichte der Deutschen in Böhmen 2 (2003), 29–33. 87 Dazu kritisch: Jaromír Loužil, Neznámá exhorta Bernarda Bolzana O lásce k vlasti a mateřskému jazyku [Eine unbekannte Exhorte Bernard Bolzanos über die Liebe zum Vaterland und zur Muttersprache]. In: Strahovská knihovna 18/19 (1984), 86–112.

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Das Staatskirchentum macht Winter nun dafür verantwortlich, dass es den von ihm behandelten „Völkern“ in der Gegenwart an Widerstandskraft gegen Marxismus und Materialismus mangle. Daran ist zweierlei beachtlich: Zum einen ist da Winters Montagetechnik, die sein Prager Schüler Eugen Lemberg88 beanstandete. Lemberg, wie Winter in der völkisch-katholischen Jugendbewegung aktiv, vermisste in Tausend Jahre Geisteskampf eine „saubere Ablösung der beiden Völker voneinander“.89 Das entspricht Winters landespatriotischer Konstruktion einer Membran zwischen den Sprachgruppen Böhmens. Ebenso bemerkenswert ist aber Winters These, der zufolge das Staatskirchentum zur spirituellen Obdachlosigkeit geführt und damit Marxismus und Materialismus begünstigt habe. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sollte Winter seine Erklärung umpolen. Ähnlich wie Fritz Fischer in seinen Arbeiten über die Lutherische Liebesethik90 vollzog Winter nach 1945 eine Kehrtwende: Nun behauptete er unter Beibehaltung der Diagnose spiritueller Bedürftigkeit, das Staatskirchentum habe den verbrüdernden Humanismus bekämpft, der dereinst im Marxismus aufgehen würde. Wie stand es mit Winters Beziehungen zur tschechischen Geschichtsschreibung? Bemerkenswert sind die engen Kontakte Winters zum Pekař-Kreis. Auffassungsunterschiede waren hier nicht zu leugnen: Winters Sicht des „reaktionären“ Barockzeitalters empfanden geisteshistorisch argumentierende Pekař-Schüler wie Zdeněk Kalista91 als seifenopernhaft und verkürzt. Mit seiner Behauptung, die Aufklärung sei von Jansenisten, Muratorianern und deutschen Protestanten nach Böhmen verpflanzt worden, erreichte Winter nicht das Diskussionsniveau der tschechischen Historiografie.92 Dennoch erkannte das Pekař-Milieu in Winter einen Geistesverwandten. Rasch wurde seine erste Monographie über Bernard Bolzano übersetzt: Winters Lob für Bolzano als Befürworter der Völkerverständigung und als

88 Vgl. Karin Pohl, Die Soziologen Eugen Lemberg und Emerich K. Francis. Wissenschaftsgeschichtliche Überlegungen zu den Biographien zweier „Staffelsteiner“ im „Volkstumskampf“ und im Nachkriegsdeutschland. In: Bohemia. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 45/1 (2004), 24–76. 89 Lemberg, Rezension Winter, Tausend Jahre Geisteskampf, wie Anm. 86, 230. 90 Klaus Grosse Kracht, Fritz Fischer und der deutsche Protestantismus. In: Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte 10 (2003), 224–252, hier 243. In Fischers Förderantrag für Walter Franks Reichsinstitut für die Geschichte des Neuen Deutschlands von 1939 war noch davon die Rede, dass die Lutherische Liebesethik („naturrechtlich-moralistischer Rechtsbegriff“, „pietistisch-humanitäre Liebesethik“) die Konsolidierung des Reichs gehemmt habe; in Fischers Hamburger Antrittsvorlesung 1948 hieß es, weder das naturrechtliche Denken noch das calvinistische Widerstandsrecht hätten die autoritäre Staatsnähe des „Luthertums“ zu schwächen vermocht, die Deutschland auf seinen antidemokratischen Sonderweg führte. 91 Vgl. zum Methodenprofil Zdeněk Kalista, Duchové dějiny [Geistesgeschichte]. In: Cesty historikova myšlení. Praha 2002, 189–257, jüngst Mikuláš Čtvrtník, Geistesgeschichte in den tschechischen Ländern. Zdeněk Kalista und die Duchové dějiny. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 63 (2011), 61–87. 92 Eduard Winter, Der Josephinismus und seine Geschichte. Beiträge zur Geistesgeschichte Österreichs, 1740–1848. Brünn 1943, 14.

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Priester, der eine zentrale Rolle im „nationalen Erwachen“ spielte,93 stieß bei den katholischen tschechischen Intellektuellen jener Jahre auf Beifall.94 Damit konnte man der Tendenz, die Priesterschaft aus der Geschichte des nationalen Erwachens auszuschließen, entgegenarbeiten, das entsprach auch Winters eigener katholisch-deutschnationaler Synthese. Winters Verlängerung des reformkatholischen Josephinismus in den Vormärz blieb aber nicht unwidersprochen: Bei Winter spielte in jenen Jahren die „Romantik“ abseits der Wiener Schlegel-Günther’schen Konstellation noch keine Rolle. Winters Schüler Eugen Lemberg, wie er volkspädagogisch aktiv und in der „Lebensraum“-Forschung engagiert, spürte in seiner Dissertation über den aus Leitmeritz stammenden Kulturhistoriker und Schriftsteller Johann Georg Meinert (1775–1844) dem Verlauf der Epochengrenze nach: Lemberg wies darauf hin, dass die „Romantik“ in Böhmen nicht aus einer Reaktion gegen die Aufklärung entstand, sondern als Modifikation des Rationalismus im Rahmen spätjosephinischer Aufklärungskultur und Leibniz’schen Denkens („späte Frucht“) zu betrachten sei. Dank dieser Ausgangslage habe sich die lokale Romantik mit dem sozialethisch-freisinnigen und patriotischen böhmischen Katholizisimus verbunden.95 Lembergs Argumentation ist ein gutes Bei-

93 Jiří Němec, Eduard Winter v německém dějepisectví v protektorátu, wie Anm. 83, 53, 70; Eduard Winter, Bernard Bolzano a jeho kruh. Brno 1935. Das Werk Winters beinhaltet ein Vorwort des Literaturhistorikers Arné Novák (Předmluva, 9–13), des Wiederentdeckers des böhmischen Barock. Übersetzt und mit Glossen versehen wurde Winters Buch vom Pekař-Schüler Zdeněk Kalista, einem an Guillaume Apollinaire geschulten Lyriker, Erforscher der tschechischen „Barockgotik“ und Biographen Humprecht Johann Czernin von Chudenitz’. Zdeněk Kalista, Mládí Humprechta Jana Černína z Chudenic. Zrození barokního kavalíra [Die Jugend Humprecht Czernins von Chudenic. Geburt eines Barockkavaliers] I. Praha 1932; Id., Česká barokní gotika a její žďárské ohnisko, [Die böhmische Barockgotik und ihr Saarer Brennpunkt]. Brno 1970). Zu Kalista siehe: Alessandro Catalano, Zdeněk Kalista aneb Nekonečný boj proti obrovské přesile [Zdeněk Kalista oder der endlose Kampf gegen ungeheure Widrigkeiten]. In: Souvislosti 27 (2005), 99–111. Kalistas nüchterne Beurteilung Winters findet sich in seiner Autobiographie: Zdeněk Kalista, Po proudu života [Im Lebensstrom]. 2 Bde., Praha 1996–1997, hier 2 160, 163, 181, 425. 94 Arné Novák begrüßte überschwänglich die Rückbesinnung auf die katholisch-kirchliche Komponente des „nationalen Erwachens“, die vom „Positivismus“ Masaryk’schen Zuschnitts schmählich vernachlässigt worden sei (vgl. Josef Pekař, O periodizaci českých dějin [Über die Periodisierung der tschechischen Geschichte]. In: Spor o smysl českých dějin 1895–1938, wie Anm. 39, 729–738, hier 730–733), weist auf die Übersetzungen Chateaubriands, Calderóns und Bossuets im Vormärz sowie auf Puchmajers Psalmenparaphrasen und Čelakovskýs Dichtungen hin, um dann den Bogen von Bolzanos Katholischer Aufklärung zu Karel Havliček zu schlagen. Siehe dazu das Vorwort (Předmluva) Nováks in: Winter, Bernard Bolzano a jeho kruh, wie Anm. 93, 10–11. Novák kritisierte auch die „konsequente Missgunst“, die Bolzano seitens Jungmanns aufgrund seiner Entourage entgegenschlug: Ebd., 12; vgl. aber die nuancierte Darstellung von: Marie Pavlíková, Vztah Josefa Jungmanna k Bernardu Bolzanovi a jeho žákům. In: Literární archiv. Sborník Památníku národního písemnictví 8/9 (1974), 79–100. Weiters: Zdeněk Kalista, O český barok u Josefa Pekaře [Das tschechische Barock bei Josef Pekař]. In: Rudolf Holinka (Hg.), O Josefu Pekařovi. Příspěvky k životopisu a dílu. Praha 1937, 153–198; ferner: Eugen Lemberg, Die drei Wiedergeburten in Böhmen. In: Prager Rundschau 1 (1931), 143–152, bes. 147f. 95 Vgl. Eugen Lemberg, Grundlagen des nationalen Erwachens in Böhmen. Geistesgeschichtliche Studie, am Lebensgang Josef Georg Meinerts (1773–1844). Reichenberg 1932, 26f.

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spiel für die Zweischneidigkeit der verräumlichenden Denkfiguren in der Geistesgeschichte: Diese Lokalisierung der „Romantik“ gelingt durch den Rekurs auf kulturgeographische Gegebenheiten. Er ermöglicht hier die Erklärung der regionalen Entwicklungsspezifika in Böhmen, untermauerte aber zur gleichen Zeit, in die Siedlungspionier- und Kulturbodenforschung eingespeist, den deutschen „Drang nach Osten“.96

V Ungarn Wie in der Tschechoslowakei, so bestimmte auch in Ungarn die aktuelle politische Lage nach 1918 den Ort der Aufklärung in der nationalen Geschichte.97 Hier hatte der Vertrag von Trianon einen amputierten Staat zurückgelassen, diese Erfahrung bestimmte die Historiografie der Zwischenkriegszeit. Dabei fungierte die Geschichtswissenschaft als Selbstverständigungsdisziplin: Nach dem Scheitern der Räterepublik Béla Kuns wurde die Förderung der Geschichte in konservativen und nationalen Kreisen als bestes Mittel angesehen, um das Gespenst des Bolschewismus auszutreiben.98 Auch in Ungarn war es ein hochbegabter konservativer Historiker, der die Funktion der Aufklärung in der nationalen Geschichte hinterfragte und eine neue Interpretation vorschlug; Pekařs ungarisches Pendant war Gyula Szekfű. Schon 1913 hatte Szekfű eine kritischen Blick auf Fürst Ferenc Rákóczi geworfen, den Anführer des letzten großen antihabsburgischen Aufstandes von 1703 bis 1711; 99 Rákóczi war der Säulenheilige der liberal-kleinungarischen Historiografie, die als wissenschaftlicher Arm der Unabhängigkeitspartei von Századok-Gründungsherausgeber Kálmán Thaly fungierte.100 Der durch das Rákóczi-Buch ausgelöste Sturm der Entrüstung bewog Szekfű, die nächsten Jahre außer Landes zu verbringen, bis 1924 blieb er als Mitglied der Ungarischen Archivdelegation in Wien.101 Die Maßstäbe für die Erforschung des 18. Jahrhunderts setzte in Ungarn Henrik Marczalis dreibändige Geschichte des Zeitalters Josephs II., Magyarország története II. József korában, 96 Ingo Haar, Sudetendeutsche Sprachinselforschung zwischen Volksgruppen-Bildung und Münchener Abkommen: Eduard Winter, Eugen Lemberg und die Nationalisierung und Radikalisierung des deutsch-katholischen Wissenschaftsmilieus in Prag, 1918–1938. In: Hans Henning Hahn (Hg.), Hundert Jahre sudetendeutsche Geschichte. Eine völkische Bewegung in drei Staaten. Frankfurt am Main 2007, 207–242. 97 Ambrus Miskolczy, Egy történészvita anatómiája 1790–1830/1848: folytonosság vagy megszakítottság? [Die Anatomie eines Historikerstreits, 1790-1830/1848: Bruch oder Kontinuität?]. In: Aetas 20 (2005), 160–212; Miklós Zeidler, A magyar irredenta kultusz a két világháború között [Der ungarische Irredentenkult zwischen den Weltkriegen]. Budapest 2002. 98 Elemér Mályusz, Irányelvek a magyar történelem tanulmányozásánál [Richtlinien für die Erforschung der ungarischen Geschichte] [1930]. In: Id., Klió szolgálatában. Budapest 2003, 467–472. 99 Gyula Szekfű, A száműzött Rákóczi [Der verbannte Rákóczi]. Budapest 1913. 100 Ágnes R. Várkonyi, Thaly Kálmán és történetírása [Kálmán Thaly und die Geschichtsschreibung]. Budapest 1961, 193–336. 101 Vgl. die vorzügliche Biographie von Irene Raab Epstein, Gyula Szekfű. A Study in the Political Basis of Hungarian Historiography. New York 1987.

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die in den 1880er Jahren erschien und immer noch als Standardwerk gilt.102 Der liberale Historiker Marczali, 1858 als Sohn des neologischen Rabbiners von Marcali geboren, hatte in Wien, Berlin, Paris, London und Oxford studiert, bevor er in Budapest Privatdozent, später Assistenzprofessor für Universalgeschichte wurde, um ab 1895 die ordentliche Professur für ungarische Geschichte zu bekleiden. Marczalis Recherchen für seine monumentale Geschichte Ungarns im 18. Jahrhundert zeigen die Schwierigkeiten des Archivzugangs. So erhielt er erst nach einer Intervention der Frau des gemeinsamen österreichisch-ungarischen Finanzministers Benjámin Kallay die Erlaubnis, im Geheimarchiv des Haus-, Hof- und Staatsarchivs in Wien zu arbeiten;103 der Erzbischof von Kálocsa bezeichnete Marczali nach Erscheinen des zweiten Bandes als den „schlimmsten Feind der ungarischen Kirche“104 und sträubte sich dagegen, Marczali Zutritt zum Diözesanarchiv zu gewähren. Als Marczali schließlich in Wien im Geheimarchiv zu forschen begann, warnte ihn der Archivdirektor Alfred von Arneth – wir werden ihm gleich noch im nächsten Teil dieses Beitrags begegnen –, der Hof sehe es gar nicht gerne, dass über Joseph II. geforscht werde.105 Das Original von Josephs Rêveries aus dem Jahre 1763 hielt Arneth unter Verschluss,106 als Marczali später in der Neuauflage eine ausführlicheren Auszug des Dokuments brachte, tilgte er immerhin aus Pietät einige Worte („d’abaisser et apourir les grands“ etwa), die, so der Autor, Josephs „Löwenklauen“ offenbart hätten.107 Kronprinz Rudolf, dem Marczali den dritten Band widmen wollte, lehnte dies höflich ab. An Vorbehalten gegen Joseph II. lag das gewiss nicht, wie seine Aufsätze und Skizzen zeigen,108 die josephinischen Reformen waren auch in den 1880er Jahren ein heißes Eisen, Rudolf wollte sich hier nicht in den tagespolitischen Kampf verwickeln lassen.109 Marczali weigerte sich standhaft zu konvertieren, seinen Lehrstuhl erhielt er nur, weil sich Arneth und Franz von Krones bei Kaiser und König Franz Joseph für die Ernennung verwandten.110 Eine Marczalis Magyarország története József II. korában an analytischem Raffinement und Dichte vergleichbare Studie über das 18. Jahrhundert gibt es in keinem anderen Nachfolgestaat. Der erste Band ist in seiner alltagsgeschichtlichen Breite an Hippolyte Taine und Thomas

102 Petér Gunst, Egy történeti monográfia születése. (Marczali Henrik: Magyarország története II. József korában), wie Anm. 4. Weiters: Id., Marczali Henrik történetírói pályakezdése [Der Beginn der Laufbahn des Historikers Henrik Marczali]. In: Századok 121 (1987), 903–922. Vgl. die englische Ausgabe des ersten Bands von Marczalis Werk: Hungary in the Eighteenth Century, Cambridge 1910. 103 Gunst, Egy történeti monográfia születése, wie Anm. 4, 280. 104 Gunst, Egy történeti monográfia születése, wie Anm. 4, 281. 105 Henrik Marczali, Emlékeim [Meine Erinnerungen]. In: Nyugat 22/2 (1929), 295–302, hier 300. 106 Henrik Marczali, Magyarország története II. József korában [Geschichte Ungarns zur Zeit Josephs II.], 1. Budapest 1881, 392f. Vgl. Derek Beales, Joseph II’s Rêveries. In: Mitteilungen des österreichischen Staatsarchivs 33 (1980), 97–106, wieder abgedruckt in: Id., Enlightenment and Reform. 107 Henrik Marczali, Magyarország története II. József korában [Geschichte Ungarns zur Zeit Josephs II.], 1. Budapest 21885, IV. 108 Vgl. Brigitte Hamann (Hg.), Kronprinz Rudolf: Majestät ich warne Sie ... Geheime und politische Schriften. Wien 1979, 235–254. 109 Gunst, Egy történeti monográfia születése, wie Anm. 4, 282. 110 Gunst, Egy történeti monográfia születése, wie Anm. 4, 283.

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Macaulay orientiert.111 Obschon in diesem Band die „traditionellen“ Eliten, Aristokratie und Klerus, noch als „Stützen“ der Nation erscheinen,112 darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass Marczali die Sicht der ungarischen Historiographie auf das 18. Jahrhundert fundamental veränderte. Gegen den Konsens der Verfallsgeschichte seit Mohács, den die meisten anderen Autoren, vor allem die protestantischen Historiker, aus der Perspektive von Ungarns gefährdeter nationaler Unabhängigkeit boten, betonte Marczali die demographische und wirtschaftliche Erholung, den Aufschwung und die Konsolidierung nach den Türkenkriegen. Er handelt ausführlich über das Steuersystem, das Manufaktur- und Zollwesen sowie die Kolonisten-Ansiedelung. Marczali verschiebt aber auch die Diskussion der nationalen Sonderwegs-Eigenschaften („tulajdonságok“, im Sinne von properties), indem er zeigt, dass viele der bislang für eigentümlich ungarisch gehaltene Merkmale regionale, länderübergreifende soziale Fakten waren, etwa die Verkrustung der ständischen Gesellschaft durch chronischen Kreditmangel sowie akkumulierte Steuer- und Abgabenrückstände. Diese Befunde situiert Marczali in einem europäisch-komparativen Entwicklungstableau. Dabei spielt er die Bedeutung politischer Faktoren nicht herunter, vor allem streicht er die Beeinträchtigung des Verbürgerlichungsprozesses in Ungarn durch die Fiskal- und Zollpolitik des Wiener Hofes heraus.113 Marczali lässt in Schwebe, ob sich Joseph II. mit der Fortführung dieser Politik in die eigene Tasche log, weil er ja die „aufgeklärten“ Schichten, deren er zur Unterstützung seiner Politik bedurft hätte, nicht in der Retorte ziehen konnte; auch Josephs Angebot, das bei Einführung der Adelsbesteuerung die Aufhebung der Zwischen-Zollgrenze in Aussicht stellte, beurteilt Marczali abwägend.114 Im dritten Band zeigt Marczali, dass der hohe Adel nicht die „Stütze“ der Nation war. Eine solche „Stütze“ hätte es nie gegeben, vielmehr habe der Adel, um seine sozialen und politischen Privilegien zu erhalten, den Wiener Zentralisierungsbestrebungen die Stirn geboten. Die Sprachenfrage war dabei nur ein willkommenes Vehikel.115 Péter Gunst hat darauf aufmerksam gemacht, dass die beiden großen Deutungsweisen des ungarischen 18. Jahrhunderts aus der Zwischenkriegszeit in Marczalis Werk angelegt waren: nämlich das habsburgaffine Verständnis des 18. Jahrhunderts als Erfolgsgeschichte ökonomischen Aufschwungs, an das sich Szekfű halten sollte, und die entgegengesetzte Deutung Ungarns als „Kolonie“ der Erblande, als agrarisch strukturierter Absatzmarkt für erbländische Produkte, der durch

111 Zu Taine vgl. Philipp Müller, Erkenntnis und Erzählung. Ästhetische Geschichtsdeutung in der Historiographie von Ranke, Burckhardt und Taine. Köln – Weimar – Wien 2008; zu Macaulay: Catherine Hall, Macaulay and Son. Architects of Imperial Britain. London New Haven 2012. 112 Béla Grünwald, A régi Magyarország 1711–1825 [Das alte Ungarn, 1711–1825] [1877]. Budapest, 2001, 269–285. 113 Béla Grünwald, A régi Magyarország, wie Anm. 112, 290. 114 Vgl. Josephs II. Handbillet an den Grafen von Pálffy in Betreff des neuen Steuerplans für das Reich Ungarn, in: Heinrich Moritz Gottlieb Grellmann, Statistische Aufklärungen über wichtige Theile und Gegenstände der österreichischen Monarchie. 3 Bde., Göttingen 1795–1802, hier 2 [1797] 125–148; Gusztáv Heckenast, Vom Aufschwung zur Krise: Die Wirtschaftspolitik Josephs II. am Beispiele Ungarns, in: Was blieb von Joseph II? Eine Dokumentation. Internationales Symposion Melk. St. Pölten 1980, 112–122. 115 Marczali, Magyarország története II. József korában, wie Anm. 107, III, 296–301.

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Ressourcenausbeutung und Gewinnabschöpfung ausgeblutet wurde.116 Nach 1918 verschob sich auch die Deutung der Aufklärung. Ihre Protagonisten kamen bei Marczali nur am Rande vor,117 Marczalis Schüler Gyula Szekfű baute das späte 18. Jahrhundert in seine Genealogie des Liberalismus ein, die Trianon erklären sollte. In seinen Három Nemzedék aus dem Jahr 1920 erzählte Szekfű die Verfallsgeschichte des Liberalismus des 19.   Jahrhunderts, der sich „abstrakten Ideen“ zugewandt, die katastrophal gescheiterte Revolution von 1848 entfesselt und eine rabiate Magyarisierungspolitik verfolgt habe.118 Sehr zum Missfallen der Honoratioren der Vorkriegszeit und unter scharfer Kritik Marczalis119 baute Szekfű eine düstere Drohkulisse des Liberalismus auf, von der er Graf István Széchenyi, den katholisch-konservativen Reformer des Vormärz, als Lichtgestalt abhob.120 Zudem stellte Szekfű fest: Die kleinungarisch-liberale Geschichtsschreibung habe das 18. Jahrhundert vernachlässigt, weil es nicht in ihre Konzeption des Unabhängigkeitskampfes gepasst habe, dagegen rehabilitierte er, auf Marczalis Pionierarbeit aufbauend, das Barockzeitalter.121 Die Dreißigerjahre standen im Zeichen von Szekfűs Auseinandersetzung mit dem protestantischen Historiker Elemér Mályusz. Mályusz betonte die Wurzeln der Aufklärung im Protestantismus,122 wogegen Szekfű die religiöse Intoleranz des ungarischen Puritanismus gegen die katholische Konfessionalisierung aufrechnete.123 In den Jahren 1939 und 1940 gab Mályusz 116 Gunst, Egy történeti monográfia születése (wie Anm. 4), 290; vgl. Marczali, Magyarország története, wie Anm. 107, 1 107–114, 124–125, 141–143. 117 Vgl. János Ugrai, A felvilágosult abszolutizmus Marczali Henrik történetírásában [Der aufgeklärte Absolutismus in der Geschichtsschreibung Henrik Marczalis]. In: Előadások Marczali Henrik születésének 150. évfordulója alkalmából: tudományos konferencia Marcaliban, 2006. április 3–4. Marcali 2006, 29–47. 118 Gyula Szekfű, Három nemzedék. Egy hanyatló kor története [Drei Generationen. Geschichte eines Zeitalters des Niedergangs]. Budapest 1920, 4; Vgl. Zoltan Tóth, „A magyar középosztály megteremtése“. Jegyzetek néhány társadalmi-politikai textus margójára [„Die Erschaffung der ungarischen Mittelklasse“. Notizen zum Kern einiger gesellschaftspolitischer Texte]. In: Századvég 7 (1997), 30–45. 119 Henrik Marczali, Három nemzedék. Tanulmány Szekfű Gyula új könyvéről [Drei Generationen. Studie über das neue Buch von Gyula Szekfű]. In: Egyenlőség képes folyóirata 1/1 (1921), 9–11; Iván Zoltán Dénes, A ‘realitás’ illúziója [Die Illusion der „Realität“]. Budapest 1976, 166. Kritik geübt wurde an Szekfűs Antiliberalismus, an seinem prophetischen Ton (Klagen über „Wurzellosigkeit“), an der antisemitischen Sündenbock-Konstruktion und elegischen Dekadenzerzählung über den Kapitalismus, welche die Kleinbauern vom Regen des glebae adscriptus-Status vor 1848 direkt in die Traufe jüdisch-bürgerlicher Zinsknechtschaft und Ausbeutung geraten ließ. 120 Szekfű, Három nemzedék, wie Anm. 118, 190, 230, 260. 121 Gyula Szekfű, A barokk műveltség [Die barocke Kultur]. In: Bálint Hóman / Gyula Szekfű, Magyar történet, 4. Budapest 1928, 298f., 366–416. 122 Vilmos Erős, Szekfű és Mályusz vitája a „Magyar történet” –ről [Zu Szekfűs und Mályusz’ Streit über die „Ungarische Geschichte“]. In: Századok 131/2 (1997), 453–476, hier 471f. 123 Gyula Szekfű, A vallási türelem és a hazai puritánizmus [Die religiöse Toleranz und unser Puritanismus]. In: Theologia 2 (1935), 303–314. Vgl. Pál Hatos, Szekfű katolicizmusa [Szekfűs Katholizismus]. In: Múltunk. Politikatörténeti folyóirat 55 (2010), 232–257, mit der Groethuysenschen These, Szekfű habe ironisch die Probleme seiner eigenen bürgerlichen Welt- und Lebensauffassung und Sozialisation überspielt, die sich eben aus den jansenistisch-josephinischen Fundamenten dieses Weltbilds ergaben: 233.

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seine große Monographie zum Toleranzpatent Josephs II. heraus und legte eine immer noch unentbehrliche Quellensammlung zur josephinischen Toleranzpolitik vor.124 Hier zeichnete er ein plastisches Bild der Problembereiche des Toleranzpatents: Er behandelte die protestantische Schulautonomie, die Unterwerfung der Protestanten unter katholische Parochialstrukturen und die Zwangseinhebung von Stolargebühren zur Finanzierung des katholischen Pfarreinetzes. Vor allem schälte Mályusz auch die Quellen von Josephs Politik heraus: Sie seien eben nicht, wie es die Publizistik seit dem späten 19. Jahrhundert weismachte, in der „französischen Aufklärung“ zu suchen, sondern – wie er anhand von Christian August Becks Kronprinzenvorträgen zeigte – im deutschen natürlichen Staatskirchenrecht, Mályusz hob vor allem Samuel Pufendorf hervor.125 In seinen Vorlesungen, die er 1931 und 1932 an der Universität Szeged hielt, polemisierte Mályusz gegen Szekfűs Überhöhung des Barock: Merkantilismus und Theismus hätten eine freie Entfaltung des Individuums unmöglich gemacht, was Szekfű unterschlage.126 Ähnlich wie in der Debatte zwischen Masaryk und seinen Gegnern ging es auch hier um das Wechselspiel von Kontinuität und Zäsur in der Geschichte. Tatsächlich zielten Szekfűs Thesen auf den Zusammenhang zwischen der Aufklärung und der ungarischen Reformzeit seit Mitte der 1820er Jahre ab. Győző Concha hatte 1885 in einer kleinen Monographie diese Verbindungen aufzuspüren versucht, er strich die Bedeutung der Pamphlete der 1790er Jahre für die liberale Reformzeit der 1830er heraus und behauptete, die Zentralisten um László Szalay und Ferenc Pulszky seien mit der Flugschriftenliteratur des späten 18. Jahrhunderts vertraut gewesen.127 Mályusz schlug in die gleiche Kerbe.128 Dieser Antagonismus zwischen Mályusz und Szekfű setzte sich in der Bewertung des Reformzeitalters fort. Anders als Szekfű hob er die Bedeutung der auf dem

124 Elemér Mályusz, A türelmi rendelet. II. József és a magyar protestantizmus [Das Toleranzpatent. Joseph II. und der ungarische Protestantismus]. Budapest 1939; Id. (Hg.), Iratok a türelmi rendelet történetéhez [Dokumente zur Geschichte des Toleranzpatents], Budapest 1940. 125 Mályusz, A türelmi rendelet, wie Anm. 124, 100–102, 105, Anm. 31. Allgemein: Hermann Conrad (Hg.), Recht und Verfassung des Reiches zur Zeit Maria Theresias. Die Vorträge zum Unterricht des Erzherzogs Joseph im Natur- und Völkerrecht sowie im Deutschen Staats- und Lehnrecht. Köln/Opladen 1964. Vgl. Anna Hedwig Benna, Der Kronprinzenunterricht Josefs II. in der inneren Verfassung der Erbländer und die Wiener Zentralstellen. In: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 20 (1967), 115–179; Ead., Zur Situation von Religion und Kirche in Österreich in den Fünfzigerjahren des 18. Jahrhunderts – eine Denkschrift Bartensteins zum Kronprinzenunterricht Josefs II. In: Sacerdos et Pastor Semper et Ubique. Festschrift für Franz Loidl. Wien 1972, 193–224; Friedrich Hartl, Die erbländischen Landstände im Zeitalter Maria Theresias. Bedeutung und Bewertung in den Kronprinzenvorträgen für Joseph (II.). In: Werner Ogris / Walter Rechberger (Hg), Gedächtnisschrift Herbert Hofmeister. Wien 1996, 199–233; aktuelles Editionsprojekt: http://www.oeaw.ac.at/krgoe/files/ busch_kronprinzenvortraege_012007_kurz.pdf [13.06.2015]. 126 István Soós, Az újkortörténész Mályusz Elémer [Der Neuzeithistoriker Elémer Mályusz]. In: Pal Halmágyi (Hg.), Mályusz Elemér emlékezete 1898–1989. Makó 1999, 27–36, hier 31. 127 Vgl. Győző Concha, A kilenczvenes évek reformeszméi és előzményeik [Die Reformideen der Neunzigerjahre und ihre Voraussetzungen]. Budapest 1885, 61–66, 69; László Szalay, Publicistai dolgozatok, 2. Pest 1847, 17; Gyula Szekfű, Magyar történet, 5. Budapest 1943, 65. 128 Vgl. auch die Erinnerungen von Domokos Kosáry im Gespräch mit Ferenc Glatz, Emlékeim Hóman Bálintról, 1939–1946. In: História 25 (2003), 25–28.

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Landtag von 1790/91 eingesetzten Regnikolarausschüsse hervor, die Entwürfe für die Erneuerung Ungarns in gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und erziehungspolitischer Hinsicht erarbeitet hatten. Bedauerlicherweise seien diese Vorschläge aber erst ab 1825 wirksam geworden, als die liberale Generation des Reformzeitalters diese hausgemachten Konzepte aufgriff. Wie es dazu kam, dass diese Reformbestrebungen in den 1790er Jahren scheiterten, wies Mályusz in seiner Quellenedition der Akten und Briefe von Erzherzog Alexander Leopold nach, Alexander Leopold, einer der Brüder von Kaiser Franz, amtierte von 1790 bis 1795 als Palatin.129 Die konspirativen Vorhaben der ungarischen Jakobiner, die Martinovics-Verschwörung, erscheint bei Mályusz als Verhängnis, sie machte die Reformbemühungen zunichte: Von Utopisten ausgeheckt, wirkte sie als Sabotageakt der zielstrebigen gemäßigten Reformbemühungen; sie diskreditierte den umsichtigen Reformkurs der 1790er und führte den reaktionären Stillstand der folgenden Jahrzehnte herbei;130 die Jakobinerverschwörung war also eigentlich verantwortlich für die folgende Stagnationsphase des ungarischen Bürgertums bis 1825.131 Damit verlagerte Mályusz die Darstellungsebene weg von der Übertragungsdiagnose Szekfűs, von der Beschäftigung mit einem importierten französischen Liberalismus und einer fremdländischen Aufklärung. Auch in der Széchenyi-Forschung stieß Szekfűs Psychogramm des Grafen als „Romantiker“ und „Konservativer“ auf wenig Gegenliebe. Szekfűs Széchenyi-Portrait wurde schon früh entgegengehalten, dass er seinen Helden einseitig für die „Romantik“ reklamierte. Henrik Marczali monierte, dass Szekfű Széchenyis Auseinandersetzung mit verschiedenen Varianten der Spätaufklärung, mit Empfindsamkeit, der smithianischen politischen Ökonomie und dem Utilitarismus Benthams, wissentlich ignoriert habe.132 Im gleichen Beitrag geht Marczali auch scharf mit Szekfűs Modell der „christlich-germanischen“ Wurzeln ungarischer Staatlichkeit ins Gericht:133 Die Vorgehensweise ist allzeit dieselbe. In eine fertige Schablone werden Formen oder Ideen eingefügt, und dann je nach Parteizugehörigkeit blaßrosa, oder, falls radikal, pechschwarz

129 Vgl. Elémer Mályusz, A reformkor nemzedéke [Die Generation des Reformzeitalters]. In: Századok 57/58 (1923–1924), 17–75; Id., Sándor Lipót főherceg nádor iratai 1790–1795 [Schriften des Erzherzog Palatins Alexander Leopold 1790–1795] Kiadta, a bevezető tanulmányt és a magyarázatokat írta Mályusz Elemér [Fontes Historiae Hungaricae Aevi Recentioris – Magyarország újabbkori történetének forrásai]. Budapest 1926. 130 Elémer Mályusz, Martinovics és társai [Martinovics und Konsorten]. In: Napkelet 4 (1926), 489–506. 131 Elémer Mályusz, A magyarországi polgárság a francia forradalom korában [Das ungarische Bürgertum zur Zeit der Französischen Revolution]. In: A Bécsi Magyar Történeti Intézet évkönyve 1 (1931), 225–282. 132 Béla Iványi-Grünwald, Történeti bevezetés [Historische Einführung]. In: István Széchenyi (Hg.), A Hitel általa szerkesztett kiadásában. Budapest 1930, 141; István Széchenyi, A’ Kelet Népe [Das Volk aus dem Osten] [1841]. In: Id., Gróf Széchenyi István Összes Munkái, 5, hg. u. eingel. von Zoltán Ferenczi. Budapest 1925, 392. 133 Vgl. Gyula Szekfű, Der Staat Ungarn. Eine Geschichtsstudie. Stuttgart 1918; dazu Árpád von Klimó, Nation, Konfession, Geschichte. Zur nationalen Geschichtskultur Ungarns im europäischen Kontext (1860–1948). München 2003, 241f.

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ausgemalt. Eine solche Schablone suggeriert ohne nachvollziehbaren Grund, Széchenyi sei ein Romantiker gewesen. Eine solche Schablone, in welche die ungarische Geschichte schwer zu pressen ist, haben wir mit der „christlich-germanischen Gemeinschaft“ von Steinacker erhalten.134

Marczali, schon seit 1913 einer antisemitischen Hetzkampagne ausgesetzt, 1919 seines Lehrstuhls wegen angeblicher Kollaboration mit der Räterepublik Béla Kuns enthoben, beschrieb 1927 in einer für das internationale Publikum verfassten Skizze die Entwicklung der ungarischen Geschichtsschreibung seit dem Kriege mit einem Satz: „c’est l’esprit de réaction qui triomphe“.135 Resümiert man die Auseinandersetzung zwischen Szekfű und Mályusz, dann ergibt sich hier, bedingt durch die Geschichte Ungarns als Vielvölkerstaat, ein interessantes Ergebnis: Der politisch radikal rechtsnationale, rabiat antisemitische und antibolschewistische Mályusz pries die Aufklärung gegen den nationalismusskeptischen Szekfű, dessen Sympathien dem vormodernen Barockzeitalter galten. In den Jahren 1935 und 1936 gab Szekfű gemeinsam mit dem Mediävisten und damaligen Kulturminister Bálint Hóman die repräsentative fünfbändige Geschichte Ungarns heraus. Für Szekfű war die aufklärerische libertinage érudit des 18. Jahrhunderts ein Strohfeuer, die Ideen der Jakobinerverschwörung von 1794/95 verhallten ungehört,136 schon die antinapoleonischen Kriege atmeten den Geist des „barocken Adelsheroismus“.137 Szekfű folgte hier der Pathogenese des Liberalismus, die er in den Három Nemzedék ausgebreitet hatte: Der moderate adelige Reformismus wurde durch eine bornierte, sich als „staatsfern“ gerierende Nationalideologie sabotiert, die sich das ethnolinguistische Nationsmodell von 1789 als Zielvorgabe setzte.138 Diese Stoßrichtung verfolgte auch die wertvolle Quellen­ edition über die Frage der Staatssprache in Ungarn, Iratok a magyar államnyelv kérdésének történetéhez, die Szekfű 1926 vorlegte.139 Szekfű bemühte sich hier um den Nachweis, dass auch die parteiisch-präsentistische kleinungarisch-liberale Geschichtsschreibung des Fin de Siècle eben diesem französischen Konzept der Nation gehuldigt habe. Szekfű charakterisierte diesen engstirnigen liberalen Nationalismus als vollkommen unempfänglich für die soziale 134 Marczali, Három nemzedék, wie Anm. 119, 10. 135 Henrik Marczali, Hongrie. In: Histoire et historiens depuis cinquante ans. Méthodes, organisation et résultats du travail historique de 1876 á 1926. Paris 1927, 209–218, hier 217. 136 Vgl. Máluysz, Sándor Lipót főherceg nádor iratai, wie Anm. 129, 134, 137–141. 137 Szekfű, Magyar történet 5, wie Anm. 127, 154. 138 Szekfű, Magyar történet 5, wie Anm. 127, 65, 95, 154, 173; István Barta, A magyar polgári reformmozgalom kezdeti szakaszának problémái [Probleme der Anfangsphase der ungarischen bürgerlichen Reformbewegung]. In: Történelmi Szemle 3/4 (1963), 305–343, 336; Henrik Marczali, Az 1790/91iki országgyűles [Der Landtag von 1790–1791]. Budapest 1907, 371f. 139 Gyula Szekfű (Hg.), Iratok a magyar államnyelv kérdésének történetéhez 1790–1848 [Schriften zur Geschichte der Frage der ungarischen Staatssprache, 1790–1848]. Budapest 1926. Eine französische Fassung seiner Einleitung zu dieser Edition veröffentlichte Szekfű unter dem Titel: Le Hongrois, langue d’etat. In: Id., État et nation. Paris 1945, 11–103.

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Frage,140 zugleich sei er bis ins Mark etatistisch gewesen.141 Die Übernahme des westeuropäischen Prinzips der Volkssouveränität hielt Szekfű für verhängnisvoll,142 das schildbürgerhafte Ansinnen, die Sprachenfrage und das Nationalitätenproblem auf dem Weg der „Demokratisierung“ zu lösen, habe zur Herrschaft einer pseudoaristokratischen liberalen Oligarchie geführt, die soziale Entrechtung und Verelendung durch nationales Sendungsbewusstsein zu überspielen versuchte.143 Seitdem sich die Horthy-Regierung ab 1933 zunehmend dem nationalsozialistischen Deutschland annäherte, kritisierte Szekfű den „neobarocken“ Geist der Zeit.144 Verwerfungen in Szekfűs Konzeption zeigten sich in den frühen Vierzigerjahren, als Ungarn zwischen Hammer und Amboss lag. 1941 spricht Szekfű vom christlichen Naturrecht als universal-allgemeinmenschlicher Konzeption, die persönliche Freiheit garantiere; sie sei durch den Aufgeklärten Absolutismus und den Liberalismus „ideologisiert“ und unvollständig umgesetzt worden, aber unerlässlich.145 Obwohl hier „Materialismus“ und „Rechtspositivsimus“ die obligate Schelte einstecken, betont Szekfű, dass jeder Staat dieses natürliche Recht respektieren müsse. Er ruft die ungarischen Zentralisten des Vormärz als Wahrheitszeugen für diese Forderung auf, sie hätten ein christlich fundiertes, transpersonales Wertegefüge der Menschenwürde vertreten.146 So legt Szekfű letzten Endes, kurz bevor Ungarn im März 1944 von deutschen Divisionen besetzt wird, doch nahe, man müsste die Zentralisten von den radikalen ungarischen Liberalen unterscheiden: Hier zerrinnt Szekfű auch die zuvor behauptete Einheit des französischen Liberalismus zwischen den Fingern. Wenn man die geistesgeschichtliche Praxis der Zwischenkriegszeit und ihre Bedeutung für die Interpretation des Josephinismus verstehen will, muss man über den Tellerrand der Geschichtsschreibung blicken und vor allem die Literaturgeschichte würdigen. Auf Jaroslav Ludvíkovskýs Dobrovského klasická humanita habe ich schon im vorigen Abschnitt aufmerksam gemacht. In Ungarn verdient der Versuch des Romanisten Tibor Kardos (1908–1973) Beachtung, Friedrich Meineckes These über die barocke Staatsräson147 für die nationale Historio140 Gyula Szekfű, Három nemzedék, wie Anm. 118, 484. 141 Gyula Szekfű, Politikai történetírás [Politische Geschichtsschreibung]. In: Hóman (Hg.), Magyar történetírás, wie Anm. 48, 397–444, 406. Zu Rankes Vorbildwirkung als unparteiischer Historiker gegen die von Thalyianern angenommene Werthierarchie zwischen den Epochen ebd.; gerade umgekehrt die Bewertung bei Ágnes R. Várkonyi, A pozitivista történetszemlélet a magyar történetirásban, wie Anm. 26, 152. 142 Gyula Szekfű, A tizenkilencedik és huszadik század [Das neunzehnte und das zwanzigste Jahrhundert], wie Anm. 127, 150–159. 143 Gyula Szekfű, A középosztály és a választójog [Die Mittelschicht und das Wahlrecht]. In: Korunk Szava (15. Dezember 1936), 464. 144 Gyula Szekfű, Három nemzedék és ami utána következik [Drei Generationen und was danach geschah]. Budapest 51938. 145 Gyula Szekfű, Magyar katolikus történetfelfogás [Die ungarische katholische Geschichtsauffassung]. In: Katolikus írók új magyar kalauza. Bp., [1941] K. n. 403. 146 Gyula Szekfű, Ma és száz év előtt [Heute und vor hundert Jahren]. In: Magyar Szemle 9/1943, 116– 117. 147 Friedrich Meinecke, Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte. München 1924.

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graphie fruchtbar zu machen. Nun war die Identifikation eines solchen ungarischen Projekts im habsburgisch-gegenreformatorischen Klima schwierig, deshalb lief die Meinecke-Adaptierung auf die antizipierende Lokalisierung eines Machiavellismus avant la lettre in Callimachus Experiens’ (Filippo Buonaccorsi, 1437–1496) literarischem Gemälde des Matthias Corvinus hinaus.148 Kardos griff Szekfűs Darstellung des Barockzeitalters auf und schlug, im Ansatz Ludvíkovskýs Dobrovský-Buch nahestehend, eine Brücke zwischen „Barockhumanismus“ und „nationalem Erwachen“, wobei er auf die Tradierung humanistischer Schlüsseltexte und Interpretamente im jesuitischen Schulwesen verwies.149 Diese Arbeiten sind, obschon ihre Agenda Szekfű-affin und geistesgeschichtlich ist, vor allem durch die Elastizität des Stilbegriffs beeindruckend: So werden rigide Epochensignaturen aufgelockert, ähnlich wie in Tibor Klaniczays späteren Arbeiten, der darauf hinwies, dass barocke und humanistische Elemente metakonfessionell flottierten, dass etwa Péter Pázmány weniger „barock“ schrieb als seine protestantischen Zeitgenossen mit ihrem flamboyant manieristischen Stil.150 So stellte dieser Typus der Literaturgeschichte „Wirkungszusammenhänge“ in den Mittelpunkt, die Interessen lagen hier auf einer morphologischen Ebene, die es erlaubte, ohne eine Sequenzleiste verschiedener „Zeitgeist“-Signaturen auszukommen. Das war auch für die Erforschung der mehrsprachigen Situation in Zentraleuropa eine ergiebige Anregung: Damit unterschied sich diese literaturgeschichtliche Praxisform auch von der stammes- und landschaftsgebundenen „Nationalgeist“-Heuristik, die zur gleichen Zeit Josef Nadler in Wien ausarbeitete. Nadler wollte mit seiner Einschätzung der österreichischen „Stammesliteratur“ ein „barockes“ „Eigenstil“-Substrat des bayrisch-deutschen „Literaturzweigs“ herausarbeiten. So grenzte Nadler Franz Grillparzer, der im heiteren Typologenturnier der Literaturgeschichte entweder als urtümlich „barocker“ oder zutiefst „josephinischer“ Dichter beschrieben wurde, klar von der „artfremden“ und „verstandesdürren“ Aufklärung ab.151 Die Biedermeierforschung der Zwischenkriegszeit hat für das Problem der Beziehung von individueller, im „Erlebnis“ oder der „Wesensschau“ das Überpersönliche aktualisierender Erfahrung sowie für die Erfassung von zu „Leben“ und „Zeitgeist“ quer liegenden Epochenrastern einige neue Ansätze entwickelt, vor allem in der Auseinandersetzung mit Wilhelm Dilthey und Eduard Spranger: Die Erforschung von „Lebensformen“ (Spranger) wie Ästhetik und Ökonomie lieferten Sortierelemente, dank denen sich die Binnenvarianz der „Epochen“ erkennen ließ, mittels 148 Tibor Kardos, Callimachus. Tanulmány Mátyás király államrezonjáról [Callimachus. Studie über König Matthias’ Staatsräson]. Budapest 1931. 149 Tibor Kardos, A magyársag antik hagyományai [Die ungarischen Antikentraditionen]. Budapest 1942. 150 Balázs Trencsényi, Writing the Nation and Reframing Early Modern Intellectual History in Hungary. In: Studies in East European Thought 62 (2010), 135–154, hier 144, vgl. Tibor Klaniczay, Marxizmus és irodalomtudomány [Marxismus und Literaturwissenschaft]. Budapest 1964. 151 Vgl. Irene Ranzmaier, Stamm und Landschaft. Josef Nadlers Konzeption der deutschen Literaturgeschichte. Berlin 2008, 452. Dagegen vgl. Kuranda, Großdeutschland und Großösterreich, wie Anm. 2. Vgl. zum Modell der Deutsch-österreichischen Literaturgeschichte, die Johann Willibald Nagl, Jakob Zeidler und Eduard Castle von 1897 bis 1937 herausgaben: Gerhard Renner, Die Deutsch-österreichische Literaturgeschichte. In: Klaus Amann / Hubert Lengauer / Karl Wagner (Hg.), Literarisches Leben in Österreich, 1848–1890. Wien – Köln – Weimar 2000, 859–889.

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deren diachrone Arrangements nach stilmorphologischen Eigenschaftsmustern möglich wurden. Das Interesse für die Geschichte der häuslichen Interieurgestaltung mit ihrer Formen-, Farbensprache und Haptik, für Speisegewohnheiten, Arbeitsrhythmen und für die Formen der Geselligkeit erlaubte es, verkoppelt mit Quellen wie brieflichen und testamentarischen Egodokumenten, zwischen „Gefühlsinhalten“ und „Idealen“ auf eine Art zu vermitteln, die der textverhafteten Geistesgeschichte nicht zu Gebote stand.152 Die Heuristik der Biedermeierforschung erfüllte somit für die Literaturgeschichte eine ähnliche Funktion wie in der Geschichtswissenschaft Karl Lamprechts Versuch, die „materielle und die geistige Seite der Kulturentwicklung“ aufeinander zu beziehen.153 Daneben ergaben sich aus dieser Erkenntnisstrategie aber auch Möglichkeiten der metanationalen Integration: Das Gefälle „verspäteter“ Entwicklungen ließ sich durch den Nachweis der transhistorischen Rekurrenz von Stilphänomenen („ewige Gotik“, „ewiges Barock“) merklich relativieren. In die gleiche komparative Richtung zielte der Fokus auf Praktiken („sammeln und hegen“ für das Biedermeier), der ebenfalls national „invariante“ Fragestellungen zuließ, er wies über die hermeneutische Durchdringung der jeweiligen Dichtungstraditionen hinaus. Auch für die Literaturhistoriker blieb es eine heikle Aufgabe, den Nachweis der Teilhabe von Individuen an geisteshistorischen Großprozessen zu erklären, ohne das „Geistige” als Drahtzieher-Explanans zu benützen, das alle Detailsegmente des Zeitausschnitts organisierte und über Begriffe wie „Begleitumstände” und „Gesamtsituation” vermittelte.154 Hier bot sich gerade das Biedermeier als Rahmenkonzept an, das es erlaubte, abseits der „Nationalgeist“-Diskussion regionale Synkretismen und Überkreuzungen nachzuweisen.155 Diese Impulse leiten zu den Arbeiten Fritz Valjavecs über. Für die überwiegende Mehrheit der ungarischen Kultur- und Literaturhistoriker in der Zwischenkriegszeit war klar, dass die Geschichte der Region nicht mit homogenisierenden Begriffen zu schreiben war, das heißt: Die Gleichsetzung von Volk und Nation im Sinne einer Substanzeinheit oder einer allmählichen staatsbildenden Verschmelzung beider Größen schien ihnen für die Geschichte Zent-

152 Vgl. Christoph König / Eberhard Lämmert (Hg.), Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 1910 bis 1925. Frankfurt am Main 1993. 153 Luise Schorn-Schütte, Karl Lamprecht. Wegbereiter einer historischen Sozialwissenschaft? In: Notker Hammerstein (Hg.), Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900. Stuttgart 1988, 153–191, hier 163. 154 Vgl. die vorzügliche Arbeit von Gábor Vaderna, Biedermeier és szellemtörténet. Zolnai Béla és a magyar biedermeier [Biedermeier und Geistesgeschichte: Béla Zolnai und das ungarische Biedermeier]. In: Szabolcs Oláh / Attila Simon / Péter Szírak (Hg.), Szerep és közeg. Identitás és kánon a romantikában és a modernségben. Budapest 2006, 130–148; sowie Id., Nemzedékek, programok, lehetőségek. Az Irodalomtörténet története 1912–1949 [Generationen, Programme, Möglichkeiten. Die Geschichte der Literaturgeschichte 1912–1949]. In: Irodalomtörténet 43 (93) (2012), 279–297. 155 Vgl. Vojtěch Jirát, Český a německý biedermeier [Tschechisches und deutsches Biedermeier] [1937]. In: Id., Portréty a studie. Prag 1978, 548–551; weiters: Dalibor Tureček, Biedermeier a české národní obrození [Das Biedermeier und das tschechische nationale Erwachen]. In: Estetika 2 (1993), 15–24; Id., Biedermeier a současná literárněvědná bohemistika [Biedermeier und die zeitgenössische literaturwissenschaftliche Bohemistik]. In: Helena Lorencová / Taťána Petrasová (Hg.), Kultura biedermeieru v českých zemích. Praha 2004, 386–393.

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raleuropas unbrauchbar. Eben diese Aufhebung des Gegensatzes zwischen Volk und Nation warfen die ungarischen Forscher aber ihren deutschen und deutschösterreichischen Kollegen, etwa Othmar Spann, Max Wundt oder Max Hildebert Boehm, vor.156 Die Sauer-Nadler’sche „Anschauungsmethode“ sei, wie der Vormärzforscher Gyula Farkas 1931 feststellte, eine spezifisch deutsche, auf Ungarn sei sie nicht anwendbar,157 gerade Elemér Mályusz, der sich um die Etablierung einer eigenständigen ungarischen „Volksgeschichte“ bemühte, wurde seine „deutsch-völkische“ Methode vorgeworfen.158 Der junge Fritz Valjavec legte seine Arbeiten über die Aufklärung in Ungarn kulturlandschaftlich an. Er unterschied „Kulturböden“, die aber mit mehreren konfessionellen und sprachlichen Identitätsschichten überlagert waren. Josef Nadlers stammesgeschichtliche Rubrikenbildung machte er sich dabei ausdrücklich nicht zu eigen.159 Wie sind Fritz Valjavecs Arbeiten über die Aufklärung in die ungarische Forschung einzuordnen? Sein Mehrebenen-Modell entspricht der geistesgeschichtlichen National-Charakterologie, die wie auch bei Szekfű keine ethnisch-kulturell festgelegte Kategorie war.160 In seinen ersten Arbeiten, die Valjavec als Zwanzigjähriger zu Beginn der 1930er Jahre veröffentlichte, interessierte ihn vor allem der fluide Charakter der Aufklärung, die auf dem Rationalismus aufbaut, aber nicht mit ihm deckungsgleich ist und über ihn hinausgreift.161 Dabei verschränkte er zwei Argumentationsweisen: Erstens war bei ihm die Aufklärung durch eine eigentümliche Prozesshaftigkeit geprägt, die von philosophischen Ideengebern über popularisierende Propagatoren zu einem „Lebensgefühl“, einer „auflockernden“ Lebenshaltung überleitete; so wirke dieser Prozess philosophisch abflachend, aber für die tiefsitzende Weltauffassung formprägend. Diese „Lebenshaltung“ habe die eigentliche „Bewegung“ der Aufklärung weit ins 19. Jahrhundert hinein überdauert,162 wie Valjavec anhand von „banalistischen“ Quellen nachzuzeichnen sucht, als Vorbild gilt ihm hier Bernhard Groethuysen.163 Dasselbe Bemühen sollte auch für Valjavecs Josephinismusbuch wegweisend werden. Durch diese kulturgeschichtliche Orientierung verträgt sich Valjavecs Interesse am „Stimmungsmäßigen“ sehr gut mit der zugleich aufblühenden Biedermeierforschung. Zweitens bemüht sich Valjavec, die viel diskutierten 156 Balázs Trencsényi, The Politics of National Character. A Study in Interwar East European Thought. London – New York 2012, 104. 157 Gyula Farkas, Táj- és nemzedékszemlélet a magyar irodalomban [Landschafts- und Generationsanschauung in der ungarischen Literatur]. In: Minerva (1931), 17–38. 158 Gyula Szekfű, Népek egymas közt a középkorban [Völker untereinander im Mittelalter]. In: Id., Állam és nemzet. Tanulmányok a nemzetiségi kérdésről. Budapest 1942, 69–84. Vgl. oben 60f. 159 Fritz Valjavec, Zu den Richtlinien der ungarischen Aufklärungsforschung. In: Ungarische Jahrbücher 12 (1932), 215–234, hier 215, Anm. 3. 160 Vgl. Trencsényi, The Politics of National Character. (wie Anm. 156), 100–103. 161 „Autonomisierung der Vernunft“ – „Souveränisierung des Menschenverstandes“: Valjavec, Zu den Richtlinien, wie Anm. 159, 218; Hóman / Szekfű, Magyar történet 4, wie Anm. 121, 328–337. 162 Valjavec, Zu den Richtlinien, wie Anm. 159, 220, ebenso 225, Anm. 2. 163 Vgl. Bernhard Groethuysen, Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich. Halle 1927–1930; zu ihm die vorzügliche Biographie: Klaus Grosse Kracht, Zwischen Berlin und Paris: Bernard Groethuysen (1880–1946). Tübingen 2002.

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Verspätungs- und Transferphänomene auf den Begriff zu bringen. Sein Zugang mutet zunächst wenig überraschend an: Die Aufklärung erscheine in Ostmitteleuropa und Südosteuropa als Spätankömmling und Nachzügler, deshalb seien ihre doktrinären Züge in Zentraleuropa aufgeweicht, sie habe sich hier ausgebreitet, als sie anderswo „in schöpferischer Hinsicht abgeschlossen, ‚ausgereift‘, war, ja als man in rein geistiger Hinsicht schon die Axt an ihre Wurzel legte“.164 Dann setzte Valjavec aber einen anderen Akzent als Szekfű, dessen Werk er unermüdlich zitierte und auf dessen Wertschätzung er sich viel zugutehielt. Die Verpflanzung der fertig konfektionierten Aufklärungsideen nach Ungarn geschieht bei Valjavec eben nicht vorsätzlich, sie ist vielmehr ein Prozesseffekt: „Die ungarischen Aufklärer empfanden nicht einmal die Notwendigkeit, das Übernommene den einheimischen Verhältnissen anzupassen, was vielmehr nur die Folge eines Vorganges war, dessen sich die Einzelnen gar nicht bewusst waren.“165 Grosso modo betont Valjavec, dass die Aufklärungsbewegung bei all ihrer Kohärenz in jedem Land eine eigene Konfiguration aufgewiesen habe,166 vollständig übernimmt er Sebastian Merkles Ausführungen über die Katholische Aufklärung, gerade der Mischcharakter mit den vielen Überkreuzungen, die verschiedenen „Ballungen“ von Ideen interessieren ihn:167 Er greift József Teleki heraus, der die Trinität geometrisch beweisen wollte,168 sowie den Piaristen Schaffrath als Großmeister der Pester Freimaurer-Loge,169 und weist auf das Nebeneinanderliegen aufklärerischer und fideistischer Einstellungen bei ein und demselben Autor, etwa beim Militär und Historiker József Gvadányi, hin.170 Die Verwertung von Kants Philosophie bei katholischen und protestantischen Theologen zur Bekämpfung des Materialismus171 fasziniert ihn ebenso wie Franz Széchenyis josephinische Prägung in ihrer Verquickung mit der Schlegel’schen und Hofbauer’schen katholischen Romantik.172 Valjavec arbeitet dabei mit implizit zugrunde gelegten Bewegungs- und Systembegriffen, „Ideenkomplexe“ gewinnen „straffsten ideologischen Zusammenschluss“,173 die „josephinistische Ideologie“ bedeutete eine „gewaltige Verstärkung“ der „Einwirkungen“ der Auf-

164 Valjavec, Zu den Richtlinien, wie Anm. 159, 219. 165 Valjavec, Zu den Richtlinien, wie Anm. 159, 219. 166 Wilhelm Dilthey, Das achtzehnte Jahrhundert und die geschichtliche Welt. In: Id., Gesammelte Schriften, 3. Leipzig – Berlin 1927, 210–268. 167 Vgl. Gyula Farkás, A magyar romantika [Die ungarische Romantik]. Budapest 1930, 70f. 168 Valjavec, Zu den Richtlinien, wie Anm. 159, 218. 169 Sándor Eckhardt, A francia forradalom eszméi Magyarországon [Die Ideen der Französischen Revolution in Ungarn]. Budapest 1924, 167. 170 Valjavec, Zu den Richtlinien, wie Anm. 159, 222. 171 Dezső Trócsányi, Mándi Márton István tudományos munkássága [Das wissenschaftliche Werk István Mártons von Mánd]. Pápa 1931, 145. 172 Valjavec, Zu den Richtlinien, wie Anm. 159, 223, 224, Anm. 5, sowie 225f.; vgl. Moritz Csáky, Vom Josephinismus zur katholischen Romantik. Bemerkungen zu Franz Széchényis unbekannter Abhandlung „Vom Zeitgeist“. In: Anzeiger der philosophisch-historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 117 (1980), 70–86. 173 Valjavec, Zu den Richtlinien, wie Anm. 159, 218.

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klärung: „Ihre Folge ist das Zusammenballen zu einem – allerdings seichten – System.“174 Wenn es um die „Kultureinflüsse“ geht, muss Valjavec von lokal oder national codierten Aufklärungsvarianten ausgehen; unklar bleibt, wie sich diese Varianten zu den die inhaltlich (nach „Ideengut“), konfessionell bzw. schichtspezifisch (Adel und Bürgertum) bestimmten Unterscheidungsmerkmalen verhielten: So nimmt Valjavec etwa auf die Wiener Aufklärung Bezug, die ihm im Sinne der Verbreitung des „Kultureinflusses“ als Knotenpunkt und Ideenfilter gilt.175 Sie war dank Sonnenfels deutsch-gottschedianisch bestimmt und schnitt der „doktrinär“ französischen Aufklärung die Wirkung in Ungarn ab, neutralisierte sie „eindämmend“ und „zurückdrängend“.176 Parallel dazu spielen konfessionelle Transmissionseffekte eine große Rolle, vor allem das Auslandsstudium ungarischer Protestanten an deutschen Universitäten. Wie diese Faktoren gegenüber den regionalspezifischen und je nach Sprachgemeinschaft verschiedenen Kanalisierungsweisen der „Einflüsse“ zu gewichten sind, bleibt freilich offen. Valjavec, der seit 1930 auf Vermittlung seines Mentors Jakob Bleyer in München studierte, trat noch 1933 in die NSDAP ein, in den Folgejahren wurde es immer schwieriger für ihn, seine volkstumskämpferische Argumentation mit der Herausgabe der Südost-Forschungen zu vereinbaren, die ihm 1936 anvertraut wurde und für die er auf die Kontaktpflege mit seinen ungarischen Kollegen angewiesen war.177 Das belegt schon die Aufnahme seiner 1936 publizierte Dissertation über den Pressburger Bürgermeister Karl Gottlieb von Windisch, den er als „südostdeutschen Bürger“ der Aufklärungszeit vorstellte,178 in der ungarischen Fachwelt. Von Szekfű und Mályusz wurde die Arbeit in Briefen an den Autor gewürdigt,179 allerdings veröffentlichte der renommierte Germanist Béla Pukánszky, ausgewiesener Experte für die Geschichte der deutschsprachigen Literatur in Ungarn, eine pointierte Rezension: Valjavec verfahre anachronistisch, wenn er Windisch als „Vorposten“ des „Deutschtums“ darstelle, vielmehr sei dieser ein Repräsentant des ungarischen Staatspatriotismus gewesen. Zugleich warf Pukánszky Valjavec vor, seinen ungarndeutschen Mentor Jakob Bleyer verraten zu haben: „Was würde Jakob Bleyer – der unerschütterlich an die eigenständige Geistigkeit 174 Valjavec, Zu den Richtlinien, wie Anm. 159, 221. 175 So auch Eckhardt, A francia forradalom eszméi Magyarországon, wie Anm. 169, 10. 176 Valjavec, Zu den Richtlinien, wie Anm. 159, 232. Vgl. Gyula Müller, A bécsi francia irodalmi kultura a XVIII. században [Die französische literarische Kultur Wiens im 18. Jahrhundert]. Budapest 1930, 67–82; aber Ferenc Bíró, A fiatal Bessenyei és íróbarátai. Budapest 1976, 259–298; Szekfű, Magyar történet, wie Anm. 124, 328–330. 177 Elemér Mályusz, A mai német történetfelfogás és a magyarság [Die heutige deutsche Geschichtsschreibung und das Ungarntum]. In: Az Országos Evangélikus Tanáregyesület Évkönyve az 1940–41-es évekről (1942), 19–38. 178 Fritz Valjavec, Karl Gottlieb von Windisch. Das Lebensbild eines südostdeutschen Bürgers der Aufklärungszeit. München – Budapest 1936. 179 László Orosz, Die Beziehungen der deutschen Südostforschung zur ungarischen Wissenschaft zwischen 1935 und 1944. Ein Problemaufriss anhand des Briefwechsels zwischen Fritz Valjavec und Elemér Mályusz. In: Márta Fata (Hg.), Das Ungarnbild der deutschen Historiographie. Stuttgart 2004, 126– 167, hier 143.

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und kulturelle Sendung des Ungarndeutschtums glaubte – zu dem südostdeutsch stilisierten Karl Gottlieb von Windisch sagen?“180

VI Österreich Die deutschösterreichische Historiographie der späten Monarchie schrieb die Geschichte der Aufklärung primär als Geschichte der Binnenexpansion und -konsolidierung des Reichs und seiner – deutschsprachigen – Bildungseliten. Diese doppelte Perspektive privilegierte die Erforschung der Staatsbildung und der kulturellen Trägerschichten des Staatsgedankens. Die Historiographie der jungen Republik Deutschösterreich erbte diese Ausrichtung,181 die sich in der seit 1907 von Heinrich Kretschmayr, später von Friedrich Walter182 herausgegebenen Geschichte der österreichischen Zentralverwaltung manifestierte.183 Hier galten die Stände als Obskuranten und Quertreiber: Mit der Aufklärung verhält es sich in diesen Studien wie mit den Hofdekreten, sie kann nur von den Zentralbehörden „herabgelangen“. Ivo Cerman hat diese Überformungen schön anhand der Historiographie über die ständischen Proteste gegen das Haugwitz’sche Directorium in publicis et cameralibus herausgearbeitet.184 Die Teleo180 Béla von Pukánszky, Rezension Valjavec, Karl Gottlieb von Windisch. In: Századok 71 (1934), 354– 356, hier 356. 181 Vgl. jüngst Ota Konrád, Nĕmecké bylo srdce monarchie ... Rakušanství, němectví a střední Evropa v rakouské historiografii mezi válkami [Deutsch war das Herz der Monarchie ... Österreichertum, Deutschtum und Mitteleuropa in der österreichischen Geschichtsschreibung der Zwischenkriegszeit]. Praha 2011. 182 Vgl. auch Friedrich Walter, Die Wiener Südostpolitik im Spiegel der zentralen Verwaltung. In: Id. / Harold Steinacker (Hg.), Die Nationalitätenfrage im alten Ungarn und die Südostpolitik Wiens. München 1959, 7–28, hier 25; wo es heißt, die deutsche Romantik sei „liebevoll bemüht gewesen, das abgesunkene oder doch absinkende Kulturgut dieser unterentwickelten Stämme [des Südostens] zu heben.“ 183 Als erster Band erschien: Geschichte der österreichischen Zentralverwaltung, 1.Abt.: Von Maximilian I. bis zur Vereinigung der österreichischen und böhmischen Hofkanzlei (1749): Bd.1. Geschichtliche Übersicht. Von Thomas Fellner. Nach dessen Tode bearbeitet und vollendet von Heinrich Kretschmayr. Wien 1907. (Bd. 5). 184 Jaroslav Prokeš, Boj o Haugwicovo „Directorium in publicis et cameralibus“ r. 1761: Příspěvek ke vzniku České a rakouské dvorské kanceláře [Der Kampf um Haugwitz’ Directorium in publicis et cameralibus im Jahre 1761: Beitrag zur Entstehung der Böhmisch-österreichischen Hofkanzlei]. In: Věstník Královské české společnosti nauk 1926, Vortrag Nr. 4, 19–23; Ivo Cerman, Opposition oder Kooperation? Der Staat und die Stände in Böhmen, 1749–1789. In: Gerhard Ammerer / William Godsey Jr. / Martin Scheutz (Hg.), Bündnispartner und Konkurrenten der Landesfürsten? Die Stände in der Habsburgermonarchie. Wien 2007, 374–393, hier 384. Cerman zeigt hier, wie Friedrich Walter [Vom Sturz des Directoriums in Publicis et Cameralibus (1760/1761) bis zum Ausgang der Regierung Maria Theresias. Aktenstücke. Bearbeitet von Friedrich Walter. Wien 1934 (Bd. 29); Id., Die Geschichte der österreichischen Zentralverwaltung in der Zeit Maria Theresias (1740–1780) (Geschichte der Österreichischen Zentralverwaltung, Abt. II, Bd.1, Halbband 1). Wien 1938, 292, Anm. 4, sowie 359f.] aus gesamtstaatlicher Perspektive die Einwände der böhmischen Stände als Programm einer Rückkehr zu

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logie des „Staatsgedankens“ beruht darauf, dass man ihm einen konstanten gesellschaftlichen Träger, das deutschsprachige Bürgertum, zuordnen konnte, dem dann wechselnde Widersacher gegenübergestellt wurden. Diese Rolle fällt den nicht-deutschen „Nationalitäten“, die als konstante Akteure vorausgesetzt werden, ebenso zu wie der katholischen Kirche. Nach diesem Muster arbeitete auch Joseph Redlich in seinem nuancierten Werk Das österreichische Reichs- und Staatsproblem, das in zwei Bänden 1920 und 1926 in Leipzig erschien. Redlich wurde zurecht vorgeworfen, er habe die „theresianisch-josephinische Staatsidee“ im Licht der „Mythengeschichte“ des Liberalismus gesehen und die „religionsgebundenen Kräfte des Josephinismus, die besonders in den Ländern fortlebten“ ausgeklammert.185 Die österreichische Staatsbildungserzählung krankte an zwei Defiziten. Erstens war sie spätestens seit den 1870er Jahren zumeist deutschliberal gefärbt.186 1910 stellte der Vizedirektor des Haus-, Hof- und Staatsarchivs Hanns Schlitter,187 der sich selbst mit der Regierung Josephs II. in den Niederlanden beschäftigte und damals schon den ersten Band der Tagebücher des Haushofmeisters Maria Theresias, des Fürsten Khevenhüller-Metsch herausgegeben hatte, den Zusammenhang dieser Staatsbildungserzählung mit der Geschichtsklitterung fest, die Joseph II. zum Urvater des Liberalismus machte. Im Geleitwort zur großen Studie über Joseph II. aus der Feder des russischen Historikers Paul von Mitrofanov, die 1910 in deutscher Sprache erschien, bemerkte Schlitter, dass „österreichische Historiker, die von liberalen Ideen erfüllt waren, die Legende nicht zerstören wollten, die sich um den volkstümlichen Kaiser spann. Denn je tiefer sie in die Schächte der Archive drangen, um so mehr mußten sie erkennen, daß der Liberalismus Josephs II. in den Bereich der Legende gehörte“.188 Das zweite Defizit betraf die Vorselektion des Materials; berücksichtigt wurden lediglich die Bestände den Zuständen vor 1749 missversteht. Weiters: Ivo Cerman, Chotkové. Přiběh úřednické šlechty [Die Choteks. Geschichte eines Geschlechts aus dem Beamtenadel]. Praha 2008, 286–296. 185 Christoph Thienen-Adlerflycht, Graf Leo Thun im Vormärz. Grundlagen des böhmischen Konservatismus im Kaisertum Österreich. Graz – Wien – Köln 1967, 25. Ähnlich Walter Goldinger, Von Solferino zum Oktoberdiplom. In: Mitteilungen des österreichischen Staatsarchivs 3 (1950), 106–126. Vgl. Redlichs Kapitel „Abbau des Absolutismus und Zentralismus“, in: Joseph Redlich, Das österreichische Staats- und Reichsproblem. Geschichtliche Darstellung der inneren Politik der habsburgischen Monarchie von 1848 bis zum Untergang der Monarchie, 1/1. Leipzig 1920, 460–671. 186 Vgl. zu konservativen Gesamtstaatsgeschichten Franz Leander Fillafer / Jan Surman, Габсбургский XIX век? Концептуальные замечания [Ein habsburgisches Neunzehntes Jahrhundert? Begriffliche Anmerkungen]. In: Denis Sdvižkov (Hg.), Проблемы и модели времени в России и Европе XIX столетия, Moskau 2013, 209–228; István Kolos, Gróf Mailáth János (1786–1855). Budapest 1938; Rudolf Kučera, Historik a politika. V. V. Tomek a ministerstvo kultu a vyučování 1848–1863 [Ein Historiker und die Politik. W. W. Tomek und das Kultus- und Unterrichtsministerium, 1848–1863]. In: Miloš Řezník (Hg.), W. W. Tomek, historie a politika (1818–1905). Sborník příspěvků královehradecké konference k 100. výročí úmrtí W. W. Tomka. Pardubice 2006, 59–67. 187 Über Hanns Schlitter (1859–1945) vgl. die vorzügliche Edition: Tanja Kraler, „Gott schütze Österreich! Vor seinen ,Staatsmännern‘, aber auch vor seinen ‚Freunden‘.“ Das Tagebuch des Hanns Schlitter. 2 Bde., Diss. Innsbruck 2009. 188 Hanns Schlitter, Geleitwort. In: Paul von Mitrofanov, Joseph II. Seine politische und kulturelle Tätigkeit, übersetzt von Vera von Demelič. 2 Tle., Wien 1910, I, V.

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der Zentralbehörden, zuallermeist nur deutschsprachige Quellen. Rühmliche Ausnahmen gab es, zu ihnen zählen Franz von Krones und Eduard Wertheimer, die aber kaum Nachahmer fanden.189 So „zeitbedingt“190 die Gesamtstaatsgeschichte anmuten mag, sie bildete dennoch den historiographischen Rahmen, in dem sich die Großvorhaben der jungen Republik bewegten. Die Grundlinien des Interpretaments blieben intakt, aber der geistige Horizont und die Sprachenkompetenz der Historiker schrumpften weiter, während anderswo in der Region die Kenntnisnahme der deutschen Literatur weiterhin eine Selbstverständlichkeit war. Einer der Meilensteine der Staatsbildungsgeschichte war Alfred von Arneths große Geschichte Maria Theresias (1863–1879). Arneth, der schwarzgelbe Altachtundvierziger, langjährige Leiter des Haus-, Hof- und Staatsarchivs und Präsident der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, hat sein zehnbändiges Werk ausschließlich aus Wiener Beständen gearbeitet.191 Für die deutschnationalen Diadochen um 1900 war diese altliberale Geschichtsschreibung überholt, wie etwa der Arneth-Nachruf des Grazer Historikers Hans Zwiedineck belegt. Der nationale Zwiedineck hatte ein kulturgeschichtliches Pionierwerk über den innerösterreichischen Geheimprotestantismus im 18. Jahrhundert vorgelegt, dem 1875 von der Grazer Habilitationskommission bescheinigt wurde, es lasse das notwendige Gefühl für das „gesteigerte Staatsbewußtsein“ und die „positiven staatlichen Kräfte gegenüber allen Konfessionen“ vermissen.192 In seinem Nachruf von 1898 stellte Zwiedineck fest, Arneths Glaube an die „kräftige Centralgewalt“ und „liberale Verwaltung“ habe dessen gesamtes Œuvre durchwirkt. Arneths historisches Hauptwerk, die Geschichte der Kaiserin Maria Theresia, geht von der Überzeugung aus, daß dieser Geist der Verwaltung alle dem Centralismus entgegenwirkenden Strömungen siegreich überwinden müsse, wie er sie unter dieser einsichtsvollen und niemals schwankenden Regentin überwunden hatte. Als er im Jahre 1863, zur Blütezeit der Schmerlingschen Verfassung, den ersten Band dieses Werkes veröffentlichte, konnte er sich auch in der Hoffnung wiegen, dass die theresianischen Regierungsmaximen für immer zur Geltung gelangt, dass der Einheitsstaat, den sie mit starker Hand zu bauen begonnen hatte, gesichert sei. Historiker und Politiker begegneten sich in der Täuschung, 189 Krones stammte aus Ungarisch-Ostrau/Uherský Ostroh in Mähren, er verarbeitete für seine Geschichte des Gesamtstaats wie auch für seine Detailstudien in großer Zahl ungarische und slawische Quellen, vgl. Hermann Wiesflecker, Franz von Krones (1835–1902). In: Carinthia I 152 (1962), 112–128. 190 Wiesflecker, Franz von Krones, wie Anm. 189, 116. 191 Alfred Ritter von Arneth, Geschichte Maria Theresias. 10 Bde, Wien 1863–1979. Vgl. Id., Aus meinem Leben. 2 Bde., Wien 1892–1893. 192 Hans von Zwiedineck-Südenhorst, Dorfleben im achtzehnten Jahrhundert. Culturhistorische Skizzen aus Innerösterreich. Wien 1877. Vgl. Otto Zwiedineck-Südenhorst, Mensch und Gesellschaft, bearbeitet von Otto Neuloh. Berlin 1961, 24f. Das Kommissionsgutachten bei: Elisabeth Prutti, Die Habilitationen an der Philosophischen Fakultät der Universität Graz 1848–1890/91. In: Walter Höflechner (Hg.), Beiträge und Materialien zur Geschichte der Wissenschaften in Österreich. Graz 1981, 324–358, hier 342. Walter Höflechner danke ich herzlich für den Hinweis auf die Arbeit Pruttis.

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dass die Schöpfung Maria Theresias bereits vollendet und von den Völkern Österreichs anerkannt sei.193

Freilich sei es, so Zwiedineck 1898, mittlerweile unübersehbar, dass Arneths Schlußfolgerungen „viel tiefer in dem patriotischen Gefühle eines österreichischen Centralisten wurzeln, als in den Ergebnissen historischer und staatsrechtlicher Kritik.“ Arneths Quellen sind die Denkmäler der Beamtentätigkeit; das innere Leben der Völker, den politischen Geist und Charakter derselben hat er nicht zu erforschen gesucht. Ueber die Akten der Centralstellen ist er nicht hinausgegangen, und andre als die Meinungen der Diplomaten, Civil- und Militärgouverneure zieht er nur selten zu seiner Darstellung heran. [...] Es wäre ihm mit dem Begriffe persönlicher Anständigkeit nicht vereinbar erschienen, über Verhältnisse abzusprechen, die in österreichischen Regierungskreisen sanktioniert waren, oder Meinungen aufzustellen, die mit den Tendenzen der Dynastie, welcher er diente, im Widerspruch standen.194

Warum Arneth, der Geschichtsschreiber Maria Theresias, seinem Werk über die Mutter keine Biographie des Sohnes folgen ließ, begründete er laut Heinrich Friedjung so: „Er lehnte es ab“, weil „der Geschichtsschreiber dieses Monarchen genöthigt wäre, manche pietätvolle Tradition aus dem Andenken des hochgesinnten Kaisers wegzuwischen, dessen Feuergeist sich nie den Thatsachen anbequemen wollte.“195 Mit dem Zerfall des Liberalismus im späten neunzehnten Jahrhundert lockerte sich auch die ältere Staatsfixierung: „Volk“,196 „Land“ und „Stand“ wurden als Basis-Interpretamente ebenso attraktiv wie der Reichsbegriff.197 Der Interpretationsrahmen der liberalen Staatsbildungsgeschichte sollte den Liberalismus dennoch überleben.198 Die Staatsbildungsgeschichte ging zwar nicht in Scherben, aber es schwand die Zuversicht, die man in die zunehmende Integration der Monarchie, das „Übergewicht des deutschen Princips auf freiwilligem Wege“ 199 193 Hans von Zwiedineck, Alfred von Arneth. In: Historische Vierteljahresschrift 8 (1898), 193–198, hier 193f. 194 Zwiedineck, Arneth, wie Anm. 193, 195. 195 Heinrich Friedjung, Alfred von Arneth. In: Id., Historische Aufsätze. Stuttgart – Berlin 1919, 198– 209, hier 206. 196 Vgl. die wertvolle Arbeit von Stefan Probst, „Raum“–„Volk“–„Ordnung“. Zur Geschichtswissenschaft in Wien in der Zwischenkriegszeit. Diplomarbeit Wien 2008. Harold Steinacker, Vom Sinn einer gesamtdeutschen Geschichtsauffassung. In: Id., Volk und Geschichte. Ausgewählte Reden und Aufsätze. Brünn – München – Wien 1943, 89–110, hier 97. 197 Vgl. zur altösterreichischen Reichsgeschichte Alfred Luschin von Ebengreuth, Österreichische Reichsgeschichte. Bamberg 1896. 198 Vgl. allgemeiner zur Kontinuität der liberalen politischer Kultur nach dem Zerbrechen des parteipolitischen Liberalismus: Pieter Judson, Rethinking the Liberal Legacy. In: Steven Beller (Hg.), Rethinking Vienna 1900. New York – Oxford 2001, 57–79. 199 Franz Grillparzer (1841), zitiert nach: Madeleine Rietra (Hg.), Jung Österreich. Dokumente und Materialien zur österreichischen Opposition, 1835–1848. Amsterdam 1980, 406.

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gesetzt hatte. Was für die Politik galt,200 traf auch für die Historiographie zu: Die deutschnationalen Historiker traten das Erbe der liberalen Geschichtsschreibung an. Während katholische Autoren das Scheitern der Monarchie auf Joseph II. und die Aufklärung zurückführten, argumentierten die Erben der deutschliberalen Historiographie im Gegenteil, die unter Franz I. eingeleitete Abkehr von der Politik Josephs II. habe dem alten Staat den Untergang bereitet. Prominent zugespitzt hat letztere Sichtweise Viktor Bibl in seinem Buch Der Zerfall Österreichs, das 1922 erschien.201 Pekařs Kritik an Bibl habe ich schon im vierten Teil des Aufsatzes vorgestellt; wie aber reagierte die österreichische Historiographie? Bibls These, im süffigen Reportagestil vorgetragen, lautete: Franz I. habe, indem er die Aufklärung ächtete, das Schicksal der Monarchie besiegelt. Die Hypothek, die er seinen Erben hinterließ, führte zum Zusammenbruch des Jahres 1918. 1943 legte Bibl nach, er ließ seinem Zerfall die Monographie Kaiser Joseph II. Ein Vorkämpfer der großdeutschen Idee folgen. Bibls Dekadenzerzählung blieb nicht unwidersprochen. Am ausführlichsten hat sich Ernst Karl Winter mit Bibls Zerfall Österreichs auseinandergesetzt. Der katholische Sozialethiker und Wiederentdecker der barockplatonischen Staatsphilosophie hatte bereits eine Pionierarbeit über den Schweizer Jesuiten Nikolaus A. J. Dießbach und die Anfänge der Restauration unter Leopold II. veröffentlicht,202 und – wie Eduard Winter – über die theologische Schule Anton Günthers im Vormärz zu arbeiten begonnen.203 Der Sozialphilosoph Ernst Karl Winter war strenger Legitimist. Nach dem Bürgerkrieg vom Februar 1934 ernannte Engelbert Dollfuß Winter, der couragiert für die Versöhnung zwischen Vaterländischer Front und Sozialisten eintrat, als Zugeständnis an die Linke zum Wiener Vizebürgermeister, der überzeugte Antinationalsozialist wurde aber im Oktober 1936 unter den Bedingungen des austrofaschistischen Juli-Abkommens mit Hitler von seiner Position entfernt.204 Auf Bibls Zerfall reagierte Ernst Karl Winter mit einer mehrteiligen Widerlegung, die er in der Zeitschrift Das Neue Reich herausbrachte.205 Für Winter ist Bibls Verklärung des Josephinismus gleichbedeutend mit der Verunglimpfung alles Österreichischen. Kaiser Franz als archetypischer Repräsentant Österreichs sei nicht für den Untergang der Monarchie ver200 Vgl. Lothar Höbelt, Kornblume und Kaiseradler. Die deutschfreiheitlichen Parteien Altösterreichs, 1882–1918. Wien – München 1993. 201 Vgl. Viktor Bibl, Der Zerfall Österreichs. Kaiser Franz und sein Erbe. Wien – Berlin – Leipzig 1922. 202 Ernst Karl Winter, P. Nikolaus Joseph Albert von Dießbach, S. J. In: Schweizerische Zeitschrift für Kirchengeschichte 18 (1924), 22–41, 282–304, 293–304 203 Ernst Karl Winter, Anton Günther: Ein Beitrag zur Romantikforschung. In: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 88 (1930), 281–333. Vgl. Eduard Winter, Anton Günther und die barock-paterfamiliale Soziologie E. K. Winters. In: Theologische Quartalschrift 111 (1930), 399–411. 204 Zu Winter vgl. die hervorragende Skizze bei Wolfgang Häusler, Wege zur österreichischen Nation. Der Beitrag der Kommunistischen Partei Österreichs und der Legitimisten zum Selbstverständnis Österreichs vor 1938. In: Römische Historische Mitteilungen 30 (1988), 381–411; sowie Robert Holzbauer, Ernst Karl Winter. Materialien zu seiner Biographie und zum konservativ-katholischen politischen Denken in Österreich 1918–1938. Wien 1992, 139–142. 205 Vgl. Stefan Hanzer, Die Zeitschrift „Das Neue Reich“, 1918–1925. Zum restaurativen Katholizismus nach dem I. Weltkrieg. Diss. Wien 1973.

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antwortlich zu machen: Vielmehr habe den Zusammenbruch „eben jener Liberalismus und Nationalismus verschuldet“, der „jetzt in dem konservativen, kaiserlichen Österreich den einzig Schuldigen für die Sünden der eigenen Weltanschauung […] sieht. […] Kein größerer Pharisäismus, als jetzt nachträglich denjenigen für die eigenen Sünden verantwortlich zu machen, der an diesen Sünden des Liberalismus und Nationalismus aller Völker oder besser der Intellektuellen dieser Völker zusammenbrach.“206 Nach Bibl bestehe die Schuld des Vormärz im Abfall vom Josephinismus und in der Ablehnung des modernen Liberalismus. In Wahrheit ist es gerade umgekehrt. Die Tragik des Vormärz war nicht das konservative System, der romantische Patriarchalismus und das Legitimitätsprinzip, sondern im Gegenteil die nicht vollständige Überwindung des Josephinismus und gewisse Anpassung an die Forderungen des Liberalismus, denen schon Erzherzog Karl und Erzherzog Johann im Gegensatz zu Kaiser Franz und den übrigen Brüdern, später selbst Metternich, in Galizien z. B. im Gegensatz zu Erzherzog Ferdinand d’Este, huldigten.207

Passagenweise erinnert Ernst Karl Winters Analyse an die Prügelknaben-Historiographie Sebastian Brunners, etwa wenn es heißt: Seit Sonnenfels und van Swieten, den beiden Kreaturen Maria Theresias und Josephs II., gibt es in Österreich eine gewisse geistige Gruppe, die sich statt der sozialen Monarchie zur Führerschaft in Kultur und Politik aufwirft, gipfelnd schließlich in den vormärzlichen Gestalten des Jungen Österreichs. Stärker als die konservative Monarchie trägt diese Republik der Geister […] die Verantwortung für die negative Entwicklung Österreichs, aus ihr erwuchs schließlich […] die Intelligenz des Liberalismus und als ihr Geschöpf die moderne Universitätswissenschaft.208

Das „Positive“ des Metternich’schen „Systems“ sieht Winter gerade in seinem Gegensatz zur „revolutionären, pseudokonservativen Steinhardenbergschen Gesetzgebung Preußens, sog. 206 Ernst Karl Winter, Österreich im 19. und 20. Jahrhundert. Richtigstellungen zu Büchern des Universitätsprofessors V. Bibl. In: Das Neue Reich. Wochenschrift für Kultur, Politik und Volkswirtschaft 41 (1925), 969; Id., Romantik. In: Zeitschrift für schweizerische Kirchengeschichte 21 (1927), 81–102. 207 Ernst Karl Winter, Österreich im 19. und 20. Jahrhundert. In: Das Neue Reich 24 (1925), 558–559. Vgl. auch Hanns Schlitter, Aus Österreichs Vormärz, 1: Galizien und Krakau. Wien – Zürich 1920, 42–44; Josef Alexander von Helfert, Kaiser Franz I. von Österreich und die Stiftung des lombardo-venetianischen Königreichs. Innsbruck 1901, 230–233, 569–572. 208 Winter, Österreich im 19. und 20. Jahrhundert, wie Anm. 207, 559. Ähnlich Alphons Lhotsky, der aber Leo Thun für den Umschwung zu dieser vermeintlich unparteiischen, tatsächlich antiösterreichischen liberalen Wissenschaft verantwortlich macht und eben aus der Zerstörung des Josephinismus nach 1848 die verhängnisvolle Entwicklung der Vernichtung des alten Österreich ableitet, vgl. Johannes Feichtinger / Franz Leander Fillafer, Leo Thun und die Nachwelt. Der Wissenschaftsreformer in der österreichischen Geschichts- und Kulturpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts [In dem Band zur Tagung „Für Geist und Licht! … das Dunkel schwand“, Innsbruck 2013].

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Bauernbefreiung, Gewerbe- und Wucherfreiheit, Judenemanzipation, Parlamentarismus“. Nicht als Frucht des „franziszeischen Geistes wäre der Zerfall Österreichs zu interpretieren, sondern als Resultat des theresianisch-josephinischen Geistes“.209 An Ernst Karl Winters Bibl-Kritik zeigt sich die Konkurrenz der Sendungsideologeme, die sich während der Zwischenkriegszeit im semantischen Bezirk der „Reichs“-Begrifflichkeit entfaltete.210 Winter machte sich in seinem Aufsatz den älteren Vorbehalt gegen den josephinischen „Borussianismus“ zu eigen, der in der Ersten Republik den beiden Hauptgegnern des von Sozialisten und Deutschnationalen ja einhellig vertretenen Anschlussgedankens211 gemein war, den Legitimisten und den Kommunisten. Joseph Roth beispielsweise sprach von den „kretinischen Vorkämpfern der papiernen deutschen Phraseologie“, jenem „hochmütigen Clan, der die übernationale Sendung Österreichs verleugnete, die nichtdeutschen Völker der Monarchie ,von oben herab‘ behandeln wollte und also den Zerfall herbeiführen half“.212 Bei Ernst Karl Winter und seinen Mitstreitern erklärt sich nun die Verpreußungskritik aus dem Gegensatz der Reichsvorstellungen, hier entstand ein Verdrängungswettbewerb zwischen der aufklärerisch-josephinischen und der katholisch-antiliberalen Zivilisierungsmission.213 Durchgespielt wurden diese konträren Lesarten der „Reichsidee“ anhand der der Bollwerk- und Kulturbringermission der „Ostmark“, anhand des „Ostmarkgedankens“.214 Austrofaschistische Autoren wie Josef Lux und Konrad Josef Heilig kreideten Joseph II. und den Josephinern das „Aufgeben des christlichen Ostmarkgedankens“ und die Preisgabe der 209 Winter, Österreich im 19. und 20. Jahrhundert, wie Anm. 207, 561. Die Wandlungen von Winters Geschichtsbild in der Emigration dokumentiert sein Aufsatz: Id., Austria: Guilt and Virtue. In: Social Research 7 (1940), 480–495, 8 (1941), 106–125. 210 Klaus Breuning, Die Vision des Reiches. Deutscher Katholizismus zwischen Demokratie und Diktatur (1929–1934). München 1969, 308–310. 211 Herbert Dachs, Österreichische Geschichtswissenschaft und Anschluß, 1918–1930. Wien – Salzburg 1974. 212 Karl von Tschuppik kämpfte, so Roth, „gegen die ,Schollenmenschen‘, die Blut- und Boden-Fanatiker […].“: Joseph Roth, An Karl Tschuppiks Grab [1937]. In: Id., Das journalistische Werk, 3: 1929– 1939, hg. von Klaus Westermann, Köln 1991, 719–720. 213 Vgl. auch Winters Rückschau auf den Ersten Weltkrieg als Entscheidungsschlacht im Kampf zwischen Kultur und Barbarei: „Aus dieser Situation ergibt sich die Tragik des Weltkrieges, der ein doppeltes Antlitz trägt. Der Kampf Österreichs gegen Rußland und seine Satelliten war ein Kulturkampf, eine Verteidigung Europas, ein gerechter Krieg, im Sinne der österreichischen Aufgabe und Geschichte, umgekehrt der Kampf Preußens gegen Frankreich ein Krieg im eigentlichen Dienste Rußlands. […] Die österreichische Armee bewährte sich in der Verteidigung Europas, sie hatte ihr Kriegsziel erreicht […] sie sank dahin, weil sie nach der Lösung ihres Problems auch noch für Deutschland den Krieg fortsetzen mußte, nicht für das wahre Deutschland, daß mit Österreich Polen und Ukraine befreit, Rumänien und Serbien besetzt, das mit Bulgarien verbündet war, sondern für jenes, von Hybris erfaßte Preußen-Deutschland, das sich in Belgien und Nordfrankreich festgebissen hatte und, man kann es nicht anders sagen, ganz wie einst die germanischen Völker verlockt von den Reichtümern und Schätzen der römischen Provinzen, so auch jetzt wieder lieber Nutznießer fremder Kultur sein wollte als Kulturpionier.“: Winter, Österreich im 19. und 20. Jahrhundert, Nr. 45, 1053. 214 Werner Suppanz, Österreichische Geschichtsbilder. Historische Legitimationen in Ständestaat und zweiter Republik. Wien – Köln – Weimar 1998, 180.

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„großen Südostsendung“ an.215 Die Staatsraison hätte die Teilung Polens hervorgebracht, den „Dünkel der Vernunft“ genährt, schließlich die Lockerung der „Fesseln der Scholle“ sowie des Bandes zwischen „Volk und Adel“ bedeutet: „Ausbeutertum“, „wirtschaftlicher Liberalismus“ und die Herausbildung eines „Proletariats“ folgten auf dem Fuße.216 Bei der katholisch-ständischen Denkschule geht es um die Preisgabe der christlichen Kultursendung. Vor diesem Hintergrund lässt sich aber auch Fritz Valjavecs Werk über den deutschen Kultureinfluss im Südosten lesen,217 hier legt er der Bollwerkideologie des Deutschtums einen neuen Träger zugrunde. Unter Beibehaltung der „Kulturpionier“-Forschungspragmatik stellt Valjavec vom deutschen Christentum auf die Aufklärung als Verbreiter deutscher Kultur um. In der Folge bettet Valjavec dies in die volksdeutsche Siedlungsquartier- und Kultureinflussforschung mit ihrem Vokabular der „Siedlungsstreifen“, „Vorwerke“, „Volkssplitter“ und „Kulturgefälle“ ein.218 Wie stand es im Österreich der Zwischenkriegszeit um die Erforschung der von Sebastian Merkle rehabilitierten Katholischen Aufklärung? Der steirische Historiker Andreas Posch hatte schon 1937 in einer profunden Monographie Die kirchliche Aufklärung in Graz und an der Grazer Hochschule dargestellt, das Werk ist Poschs „hochverehrtem Freunde“ Merkle „in Ergebenheit“ gewidmet. Die kirchliche Aufklärung weist, so Posch, „keine einheitliche geistige Prägung auf“, sie trägt „beinah soviel Nuancen in sich, als sie bedeutende Vertreter zählt“.219 Zudem sei der Vorwurf, sie hätte die „Grundlagen des Glaubens und der Offenbarung“ verlassen, ungerechtfertigt, trotz Überschätzung ihrer selbst und ihres Zeitalters habe sie eindeutige Verdienste, nämlich um die „Zurückdrängung des nebensächlichen, ja oft schädlichen Beiwerks in der Volksfrömmigkeit“ ebenso wie um eine „intensivere, den Zeitbedürfnissen angepaßte Seelsorge“.220 Die Alphons Dopsch-Schülerin Georgine Holzknecht hatte 1914 in ihrer Studie Ursprung und Herkunft der Reformideen Kaiser Josephs II. auf kirchlichem Gebiete die Bedeutung der aus Frankreich und Italien vermittelten gallikanischen und febronianischen territorial- bzw. staatskirchlichen Lehren betont und gegen die Überschätzung des deutschen Naturrechts als Quelle der josephinischen Ideen polemisiert. Hier hatte sie vor allem den Wiener Rechtshistoriker Hans von Voltelini im Visier.221 Ihm warf Holzknecht vor, er habe lediglich die pejorative Sicht auf die Abhängigkeit der josephinischen Reformen vom protestantischen Naturrecht, die Ignaz Beidtel und Sebastian Brunner im neunzehnten Jahrhundert vertreten hatten, aufgegriffen und positiv umgewertet.222 215 Konrad Josef Heilig, Reichsidee und österreichische Idee von den Anfängen bis 1806. In: Julius Wolf / Konrad Josef Heilig / Hermann Görgen, Österreich und die Reichsidee. Wien 1937, 35–170, hier 159f. 216 Heilig, Reichsidee, wie Anm. 216, 163f. 217 Vgl. den Beitrag von Petra Svatek in diesem Band. 218 Vgl. Fillafer/Wallnig, Einleitung (in diesem Band), 45–51. 219 Andreas Posch, Die kirchliche Aufklärung in Graz und an der Grazer Hochschule. Graz 1937, 186. Vgl. Karl Amon, Nachruf Andreas Posch (1888–1971). In: Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark 63 (1972), 217–225. 220 Posch, Die kirchliche Aufklärung, wie Anm. 219, 186. 221 Hans von Voltelini, Die naturrechtlichen Lehren und die Reformen des 18. Jahrhunderts. In: Historische Zeitschrift 105 (1910), 65–104, hier 70 222 Vgl. Georgine Holzknecht, Ursprung und Herkunft der Reformideen Kaiser Josefs II. auf kirchlichem

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Wie ging man in der Ersten Republik mit dem „Nachleben“ des Josephinismus um? Zwei Schüler des Wiener Historikers Alfred Francis Přibram223 haben sich dem Nachhall der Aufklärung eingehend gewidmet, Friedrich Engel-Jánosi und Peter Kuranda, beide aus jüdischen Elternhäusern. Kuranda, Enkel des Achtundvierzigers Ignaz Kuranda,224 verkörpert das Dilemma deutschliberaler Intellektueller aus jüdischem Hause. Er sah die Eigenstaatlichkeit der Republik als Geburtsfehler des jungen Österreich und spürte mit seiner brillanten und grundsätzlichen Dissertation Großdeutschland und Großösterreich bei den Hauptvertretern der deutschösterreichischen Literatur, 1830–1848 den josephinischen Wurzeln dieser Sonderidentität und ihren Alternativen nach. Kurandas Protagonisten waren Grillparzer, Moritz Hartmann, Anastasius Grün, Hans Perthaler, seine Habilitation wurde von Heinrich von Srbik sabotiert.225 Engel-Jánosi stammte von einem geadelten ungarisch-jüdischen Parkettfabrikanten ab, den Döblinger Garten seines Großvaters zierte eine Statue des Toleranzkaisers.226 Engel-Jánosis Aufsätze aus den 1920er Jahren über das Staatsdenken und den Erwartungshorizont der Revolution sowie zu den ökonomisch-sozialen Zuständen und den Juridisch-Politischen Lesevereinen im Vormärz – die staatswissenschaftliche Dissertation, aus der sie hervorgegangen sind, ist leider in den Wiener Bibliotheken unauffindbar – sind immer noch feste Bezugspunkte für die Forschung.227 Zudem widmete sich Engel-Jánosi um Gebiete. Innsbruck 1914, 14–24, 47, 55–56, 89, 102; Ead., Entgegnung. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung 37 (1916), 487–490; Hans von Voltelini, Rezension Holzknecht, Ursprung und Herkunft. In: Ebd. 36 (1915), 545–550; Id., Erwiderung. In: Ebd. 37 (1916), 491. 223 Vgl. Christine Zouzelka, Alfred Francis Pribram (1859–1942). Leben und Werk als Historiker, Diss Wien 1969. Zur antisemitischen Denunziation von Alfred F. Příbrams „destruktivem“ Zugang zur Geschichte, der Leugnung historischer Wahrheit, vgl. Peter Broucek, Ein General im Zwielicht. Die Erinnerungen Edmund Glaises von Horstenau. Wien – Köln – Weimar 1980, 539. 224 Vgl. Heinrich Benedikt, Damals im alten Österreich.Wien 1979, 87f; Friedrich Engel-Jánosi, ... aber ein stolzer Bettler. Erinnerungen aus einer verlorenen Generation. Graz 1974, 77. 225 Peter Kuranda, Großdeutschland und Großösterreich bei den Hauptvertretern der deutschösterreichischen Literatur, 1830–1848. Wien – Leipzig 1928. Kurandas Habilitation scheiterte am antisemitischen Professorenkartell an der Fakultät, vgl. den Brief Heinrich von Srbiks an den damaligen Unterrichtsminister: „Kuranda ist Jude und die Zusammensetzung der Wiener Philosoph[ischen] Fakult[ät] ließ und lässt es seit mehreren Jahren schwer zu, dass Juden für neuere Geschichte habilitiert werden. Ich habe, bevor ich das Ministeramt übernahm, Pribram meine Hand zur Habil[itation] seines Schülers Engel-Janosi für neuere Geschichte gereicht, wenngleich ich auch gegen ihn einiges einzuwenden hatte. Ich bin gewiss nicht engherzig, aber ich konnte mit Rücksicht auf die realen Kräfteverhältnisse in der Fakultät ein analoges Verfahren im Falle Kuranda nicht versprechen.“ Zitiert nach Jürgen Kämmerer (Hg.), Heinrich Ritter von Srbik. Die wissenschaftliche Korrespondenz des Historikers 1912–1945. Boppard am Rhein 1988, 359; vgl. Klaus Taschwer, Geheimsache Bärenhöhle. Wien ein antisemitisches Profesorenkartell der Universität Wien nach 1918 jüdische und linke Forscherinnen und Forscher vertrieb: https://www.academia.edu/4258095/Geheimsache Baerenhoehle._Wie_ein_antisemitisches_Professorenkartell_der_Universtaet_Wien_nach_1918_juedische_und_linke_Forscherinnen_und_Forscher_ vertrieb._2013_. [28.02.2015] 226 Engel-Jánosi, … aber ein stolzer Bettler, wie Anm. 224, 16. 227 Friedrich Engel-Jánosi, Die Theorie vom Staat im deutschen Österreich, 1815–1848. In: Zeitschrift

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1930 erstmals wissenschaftlich dem Nachleben Josephs II. in zwei vorzüglichen Beiträgen. Der erste Aufsatz ist Josephs Tod im Urteil der Zeitgenossen betitelt, beinhaltet aber eine Skizze der Wirkungsgeschichte des „gekrönten Menschenfreundes“ bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts, der zweite befasst sich auf breiter Grundlage mit der Rolle Josephs II. als Legitimitätsressource im Jahr 1848.228 Zuletzt: Wie nahm die österreichische Geschichtswissenschaft die Arbeiten Winters und Valjavecs auf? Srbik äußerte sich in Besprechungen sehr positiv über Winters Werke zu Günther und Bolzano.229 Winters Josephinismusbuch traf bei den österreichischen Theologen einen Nerv, etwa beim Wiener Pionier der Stadtseelsorge, Prälat Karl Rudolf, und seinen Mitarbeitern. Rudolf beauftragte damals angeblich eine Kommission von Historikern „mit der Herausgabe eines großen Werks über den Josephinismus“, ein Vorhaben, das der Krieg „überrollte“, in dessen Nachfolge aber Ferdinand Maaß seine Quellenedition konzipiert haben soll.230 Der katholisch-großdeutsch gesinnte Melker Benediktinerpater und Historiker Hugo Hantsch231 verglich am 1. Oktober 1944 in einem Brief an Valjavec dessen Deutung des Josephinismus mit jener Winters. Valjavec konzediert er, eine gediegene Arbeit vorgelegt zu haben, bemängelt aber: Ich hätte in Ihrem Aufsatz gewünscht zu erkennen, wieso sich Josephinismus und Liberalismus unterscheiden, welches die wesentlichen Merkmale beider Geistesrichtungen sind. Wir wissen es ja, nicht wahr, aber aus Ihrem Aufsatz wird es nicht klar. Tatsächlich hat der frühe Liberalismus sich ausdrücklich auf Kaiser Joseph berufen, was besonders bei der Enthüllung des Josephsdenkmals in Wien zum Ausdruck kam. Diese Berufung besteht m. E. […] nicht zu Recht […].232 für öffentliches Recht 2 (1921), 360–381; Id., Zur Genesis der Revolution von 1848. Die Verfassungsfrage im deutschen Österreich 1815-1848. In: Zeitschrift für öffentliches Recht 3 (1922/23), 571–582; Id., Der Wiener juridisch-politische Leseverein. Seine Geschichte bis zur Märzrevolution. In: Mitteilungen des Vereines für Geschichte der Stadt Wien 4 (1923), 58–66; Id., Über die Entwicklung der sozialen und staatswirtschaftlichen Verhältnisse im deutschen Österreich. In: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 17 (1924), 95–108. 228 Friedrich Engel-Jánosi, Josephs II. Tod im Urteil der Zeitgenossen. In: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 44 (1930), 324–346; Id., Kaiser Josef II. in der Wiener Bewegung des Jahres 1848. In: Mitteilungen des Vereines für Geschichte der Stadt Wien 11 (1931), 53–72. 229 Heinrich von Srbik, Rezension von Winter, Die geistige Entwicklung Anton Günthers. In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 47 (1933), 104–106; Heinrich von Srbik, Rezension von Winter, Bernard Bolzano und sein Kreis. In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 48 (1934), 158–159. 230 Willy Lorenz, Zwischen Rom und Moskau. Die Tragödie Eduard Winter. In: Die Furche 52 (23.12.1972), 19. 231 Vgl den Beitrag von Johannes Holeschofsky in diesem Band. 232 Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Bestand Südost-Institut, Dienstkorrespondenz Valjavec, Schreiben Hugo Hantschs an Fritz Valjavec, 1.10.1944, Ravelsbach, fol. 110. Vgl. Fritz Valjavec, Der Josephinismus als politische und weltanschauliche Strömung. In: Kurt von Raumer / Theodor Schieder (Hg.), Stufen und Wandlungen der deutschen Einheit. Stuttgart – Berlin 1943, 114–132.

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Dennoch sei Valjavecs Band der Studie Winters weit vorzuziehen: Sie haben diesen Entwicklungsgang ausgezeichnet analysiert, besonders gefiel mir die objektive Darstellung wie sie den echten Historiker auszeichnet. Darin unterscheidet sich ihre Arbeit sehr vorteilhaft von dem Buche Winters, der soviel von seinem persönlichen Ressentiment durchblicken lässt, dass man sehr misstrauisch wird. Prof. Borodaykiewics [Taras Borodajkewycz, Anm. d. Verf.], der ein Freund Winters ist, sagte mir, dass er ihn darauf aufmerksam machte, und noch ärgere Dinge durch seinen Einfluss verhüten konnte. Winter hat keinen Sinn dafür, wie sehr die josephinische Reformbewegung den innersten Kern des Religiösen, nämlich seine metaphysischen Zusammenhänge, betraf. Es ist sein Verdienst, dass er gewisse Beziehungen des Josephinismus zum gesamtdeutschen Raum dargelegt hat, aber er macht andererseits auch keinen Unterschied zwischen Erscheinungen, die als allgemeine Folge der Aufklärung zu gelten haben, und dem, was man unter Josephinismus verstehen muss. […] Man muss nur einmal die Tagebücher Frh. v. Kübeck lesen, eines klaren Typus des josephinischen Beamten, dann wird man einen Begriff davon erhalten, wie sehr das Glaubensfundament in Gefahr kam, welche Tendenzen sich aus dem Josephinismus entwickeln konnten. […] Ich verstehe Winter, den ich schon vom Gymnasium her kenne und mit dem ich zusammen Theologie studierte, dass er seinen persönlichen Entschluss rechtfertigen will [d. h. seinen Entschluss, das Priesteramt niederzulegen und zu heiraten, Anm. d. Verf.], aber er hat damit die Historie zu seiner Magd gemacht.233

VII Fazit und Ausblick: Winters und Valjavecs Josephinismus-Deutungen Winter und Valjavec ist gemeinsam, dass sie die Diskussion über den Josephinismus durch die Breite ihrer Quellenarbeit auf ein neues Niveau hoben. Den meisten deutschen und österreichischen Historikern hatten Winter und Valjavec die Sprachkompetenz voraus, diese Qualität verlieh ihren Monographien das Prestige von Überblicksdarstellungen für die gesamte Region und zeichnete sie als Standardwerke aus, die mangels neuerer Darstellungen in westlichen Sprachen immer noch wichtige Referenzpunkte für die Forschung sind, die Richtlinien vorgeben, deren spezifische Fragestellungen und Arrangements es aber zu historisieren gilt. Zusammenfassend möchte ich daher die Frage stellen: Worin bestand die Innovation Winters und Valjavecs für die Josephinismusforschung? Dazu lassen sich resümierend sechs Punkte festhalten: 1. Das Gesamtbild: Der Josephinismus erscheint bei Winter und Valjavec nicht mehr als kohärentes, schrittweise umgesetztes Programm, das sich auf „Zentralismus“ und „Germa233 Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Bestand Südost-Institut, Dienstkorrespondenz Valjavec, Schreiben Hugo Hantschs an Fritz Valjavec, 1.10.1944, Ravelsbach, fol. 110.

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nisierung“ festlegen lässt. Während bei Winter der Josephinismus im Bannkreis des „Reformkatholizismus“ bleibt, betont Valjavec stärker die Überkreuzung verschiedener Muster. Winter betont die Dualität zwischen Staatskirchentum und Reformkatholizismus, wobei die dialektische Spannung zwischen diesen beiden Flügeln der „Restauration“ eher in seinen frühen Aufsätzen zur Sprache kommt. Valjavec erfasst die longue durée des Josephinismus als kulturgeschichtliches Szenario, er konzediert, dass der Josephinismus ein „seichtes System“ gebildet habe, beschreibt aber zugleich das Abflachen der Aufklärung zur Lebensform, das Überhandnehmen des „Stimmungsmäßigen“.234 2. Der Verlauf: Winter und Valjavec ist es in ihren Interpretationen des Josephinismus darum zu tun, „die Spannung zwischen Ursprungsideologie und Wirkungspotenz“235 aufzuzeigen. Während bei Winter das Personal der Josephiner konstant ein reformkatholisches Substrat im aufgeklärten Priestertum hat, scheint Valjavec eine Ablösung der Trägerschichten bei bestehender, obschon „verflachender“ Ideenkonfiguration zu konstatieren.236 In Valjavecs Josephinismusbuch wird freilich nicht klar, wie dieser Wechsel von Trägersegmenten mit dem Verlauf der Ausweitung des Einzugsgebiets der „Strömung“ Josephinismus durch Aufweichung ihrer Ideengrundlagen zu vereinbaren ist. Strukturell der Dialektik von „Staatskirchentum“ und „Reformkatholizismus“ verwandt ist bei Valjavec das mehrfach auftauchende Instrumentalismusproblem als rudimentäre Analyse eines Funktionsgefüges, etwa in Gestalt der unterbliebenen ideologischen Kehrtwende ab 1794/95. Damals, so deutet Valjavec an, fehlte die Einsicht, dass der Kampf gegen die Revolution mit dem zugleich geführten Kampf gegen die Kirche längerfristig unvereinbar sei.237 Dazu kommt der laut Valjavec zum Scheitern verurteilten Ansatz, sich nach 1795 von der Aufklärung loszusagen, was deshalb unterblieb, „weil die Mehrzahl gerade der maßgebenden Staatsdiener ihr mehr oder weniger anhing“ und sie die geistigen Grundlagen für die Staatsidee bereitstellte. 3. Der Aufklärungsbegriff: Winter benützt als Leitstern die „Großen von Wien“, diese „Großen“ zogen einen Kometenschweif von „Vorläufern“ mit, die Winter in den Anfangskapiteln des Josephinismus-Buchs wie auch seiner späteren Arbeiten über die Geistesgeschichte der Region aufreihte. Der Kontrast zwischen Aufklärung und Liberalismus, der die erste Auflage von Winters Josephinismusbuch prägte,238 war durchaus nicht nur der offiziellen Aversion des Nationalsozialismus gegen die „Ideen von 1789“ und die Liberalen geschuldet, 234 Fritz Valjavec, Der Josephinismus. Zur geistigen Entwicklung Österreichs im 18. und 19. Jahrhundert. Brünn – München – Wien 1944, 92f.; „Im Grunde genommen handelt es sich bei den politischen Anschauungen des Josephinismus um eine ins Bürokratische abgewandelte Abart des aufgeklärten Absolutismus.“: Ebenda, 88. 235 Jörn Garber, Politische Spätaufklärung und vorromantischer Frühkonservatismus. Aspekte der Forschung. In: Fritz Valjavec, Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland, 1770–1815 [1951]; 2. Aufl., hg. von Jörn Garber. Kronberg im Taunus 1978, 543–592, bes. 545. 236 Garber, Politische Spätaufklärung, wie Anm. 235, 15. 237 Valjavec, Der Josephinismus, wie Anm. 234, 57. 238 Vgl. den Beitrag von Ivo Cerman in diesem Band.

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sondern auch der Spielart des deutsch-nationalkirchlichen Modernismus, die Winter und seine Freunde im Staffelsteiner Kreis vertraten. Die Staffelsteiner zogen eine national und kirchenreformerisch verstandene Aufklärung dem „Liberalismus“ vor. Diese Abgrenzung der Aufklärung vom Liberalismus war aber bei Winter heuristisch teuer erkauft: In der Rubrik „Frühaufklärung“ wurden Muratorianer, Josephiner und Jansenisten bunt zusammengewürfelt. Hier wurden auf Autopilot Autoren für die „Frühaufklärung“ rekrutiert, die „antischolastisch“ argumentierten; was genau das bedeutete, und ob der Begriff „Aufklärung“ sich zur Erfassung dieses Konglomerats eignete, blieb ungeklärt. „Aufklärung“ fungiert dabei als metaphernrealistische Begriffs-Wünschelrute,239 wer welches Publikum oder welche Sachverhalte „aufklären“ wollte, wird dabei nicht so genau genommen, die inhaltliche Definition erfolgt über das Mindestkriterium des Kampfs gegen den „Konfessionalismus“ und ein robustes Säkularisierungs-Lenksystem. Valjavec argumentiert hier insofern feiner als Winter, als er die Polyvalenz des Aufklärungsbegriffs erkennt, „wahre Aufklärung“ ist ein Perspektivbegriff und beschreibt schließlich den Versuch, „die Ideologie der Aufklärung auszuschalten, ohne ihrer als Technik, als Instrument entraten zu wollen und zu können.“240 4. Josephinismus und Antiklerikalismus: Sowohl Winter als auch Valjavec positionieren ihren „Josephinismus“ als Teil der Katholischen Aufklärung. Damit brachen sie den Bann der antiklerikalen „josephinischen Legende“.241 5. Josephinismus und nationale Wiedergeburt: Winter wie Valjavec verstanden den Josephinismus als Initialzündung des nationalen Erwachens. Dank der josephinischen Vermittlungsleistung und infrastrukturellen Vorbereitung (pastoraltheologische Ausbildung in den Vernakularsprachen an Generalseminaren und Fakultäten, Übersetzung von Lehrfibeln, Katechismen, Erbauungsschriften, Handbücher für Landwirtschaftskunde etc.) entstanden in den Ländern der Monarchie jene Phänomene der „nationalen Wiedergeburt“, die von der nationalen Historiographie des 19. Jahrhunderts noch als Revolte gegen „Germanisierung“

239 Vgl. schon Wolfgang Philipps Kritik am negativen „axiologischen Affekt“ der Zurichtung der Aufklärung, etwa auf ihren vermeintlichen Ursprung im Wolffianismus, wofür sich wiederum die syllogistische Methode anbiete: Wolfgang Philipp, Das Werden der Aufklärung aus theologiegeschichtlicher Sicht. Göttingen 1957, 12. Diese Verschmelzung von Gegenstandsbereich und Methode beschreibt Philipp folgendermaßen (ebd., 177): „Mit der gleichen Sicherheit, mit der Wolff die notwendige Breite eines Fensters wie die Eigenschaften des göttlichen Weltkonstrukteurs aus zwei Vordersätzen im syllogistischen Verfahren (analytisch-deduktiv) ableitete, läßt man aus den bereits genannten Prämissen (die Ratio ist oberstes Gesetz und der Mensch das Maß aller Dinge) von Fall zu Fall Aufklärung und aufklärerisches Verhalten entstehen. Entsprechen die Phänomene der Epoche dem apriorisch erzeugten Bilde der Aufklärung nicht, so werden sie […] nicht selten als unecht oder heuchlerisch klassifiziert und dem Schuldkonto der Zeit als zusätzliche Belastung aufgebürdet“ (oder, so wäre zu ergänzen, als „Gegenaufklärung“ eingeordnet). 240 Valjavec, Der Josephinismus, wie Anm. 234, 13. 241 Winter, Josephinismus, wie Anm. 92, passim; Valjavec, Der Josephinismus, wie Anm. 234, 69.

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und „Zentralisierung“ dargestellt worden waren.242 Der Frageansatz und die Feststellung dieser Scharnierfunktion des Josephinismus sind bei Winter und Valjavec Resultate ihrer jeweils „volksdeutschen“ bzw. „altösterreichischen“ Prägung. In der weiteren Analyse beschritten beide verschiedene Wege. Während Valjavec schematisch betonte, dass die „Differenzierung der politischen Ideologien“ bei den „nichtdeutschen Völkern“ durch die Dominanz des „nationalen Programms“ erschwert worden sei, dass die „parteipolitische Ideologie“ dem „nationalpolitischen Moment“ untergeordnet geblieben sei,243 entwarf Winter vor allem in seinen Forschungsvorlesungen in den 1960er Jahren in Berlin, die im feinsinnigen Frühliberalismus in der Donaumonarchie gipfelten, einen elastischen Raster zur Erfassung der verschiedenen austroslawistischen, nationalromantischen und nationalliberalen Varianten während Vormärz und Neoabsolutismus.244 Der grenzlandwissenschaftliche Kontext ist auch dafür ausschlaggebend, wie Valjavec und Winter den Josephinismus im Rahmen der diskutierten Bollwerk- und Zivilisierungsideologeme situierten. Beide widersprachen nämlich der katholisch-antimodernistischen Sicht, der zufolge der Josephinismus die christliche „Südostsendung“ zunichte gemacht habe, im Gegenteil: Für beide treten Reformkatholizismus und Aufklärung an die Stelle der allein christlich imprägnierten Kulturträgermission. Was bewirkte der Josephinismus aber für den deutschen Nationalgedanken in (Deutsch-) Österreich? Diese Verbindung ist bemerkenswert: Valjavec deutet nämlich an, dass der Josephinismus im deutschsprachigen Bereich den Landespatriotismus hemmte,245 den er anderswo in der Monarchie beförderte. In den deutschen Erbländern führte er zu dem, was der ungarische Historiker Péter Hanák als intra muros-Effekt bezeichnet hat:246 Den deutschsprachigen Gruppen in der Monarchie, die ja bei beiden Autoren prominent als Kulturträger akzentuiert werden, gereichte der Josephinismus laut Valjavec in politischer Hinsicht zum Nachteil. Eine vergleichbare Perspektive ist Winters „reformkatholischer“ Konstruktion fremd, hier werden Einsichten und Qualitäten der „grenz- und siedlungsdeutschen Kulturarbeit“ sehr verschieden verarbeitet.247 242 Valjavec, Der Josephinismus, wie Anm. 234, 102f. 243 Valjavec, Der Josephinismus, wie Anm. 234, 98, Anm. 2, 113, Anm. 2. 244 Eduard Winter, Frühliberalismus in der Donaumonarchie. Religiöse, nationale und wissenschaftliche Strömungen von 1790–1868. Berlin 1968, 30–82, 110–127, 193–213, 246–260. 245 Valjavec, Der Josephinismus, wie Anm. 236, 28. Vgl. Harold Steinacker, Die geschichtlichen Voraussetzungen des österreichischen Nationalitätenproblems und seine Entwicklung bis 1867. In: Karl Gottfried Hugelmann (Hg.), Das Nationalitätenrecht des alten Österreich. Wien 1934, 1–78, hier 73. 246 Péter Hanák, Österreichischer Staatspatriotismus im Zeitalter des aufsteigenden Nationalismus. In: Reinhard Urbach (Hg.), Wien und Europa zwischen den Revolutionen 1789–1848. Wien 1978, 315– 330. 247 Diese Divergenz lässt sich auch auf einer weiteren Ebene abbilden: Während bei Valjavec, im Einklang mit der Publizistik, die während der 1850er Jahre im Umfeld der Universitäts- und Bildungsreform entstand, der Josephinismus die Abriegelung der österreichischen Deutschen vom geistigen Deutschland provozierte, spielt dies bei Winter keine Rolle mehr, er betont immer wieder, dass es auch im vormärzlichen Österreich eine „deutsche Frage“ gegeben habe: Winter, Frühliberalismus, wie Anm. 246,

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6. Die Folgen des Josephinismus: Bei Winter bleibt die Widerstandsfähigkeit und Dauerhaftigkeit des eindeutig positiv bewerteten Reformkatholizismus richtungsbestimmend, sie weist in das 20. Jahrhundert voraus, entweder – vor 1945 – in Form eines nationalkirchlichen Reformkatholizismus oder, nach Kriegsende, als frühliberaler, protomarxistischer Humanismus der Völkerfreundschaft. 1943 unterschied Winter wie erwähnt noch zwischen Aufklärung und Liberalismus, 1962/1968 ging Winter schon davon aus, dass der „Spätjosephinismus“ eigentlich „Frühliberalismus“ gewesen sei.248 Anstelle der Abwärtsspirale der „Tragödie des Reformkatholizismus“, schraubte sich jetzt eine „objektiv“ fortschrittsoptimistische Entwicklungslinie empor. Bei Valjavec dagegen ist die Diagnose der Beharrungstendenz des Josephinismus im letzten Schluss negativ. Der Josephinismus gabelt sich und fließt in konservative und liberale „Strömungen“ ein.249 Obwohl der Josephinismus der „weltanschaulichen Totalität“250 entbehrte, führte er durch die Verschmelzung mit dem Staat zu einer „ungesunden Verunklarung“ der geistigen Positionen; er „verkleisterte“ geistige Differenzen, „verwischte“ Gegensätze, die sich anderswo, in den „geistig maßgebenden Ländern ,Alteuropas’“, in gedeihlicher Weise „abschliffen“ und „fruchtbare Frontenbildungen“ im Sinne einer „funktionellen Gegensätzlichkeit“ ergaben. In den habsburgischen Ländern hingegen sei zwar die „konservative“ Umgestaltung der „Fassade des Staats“ geglückt, der „Konservatismus“ habe dies aber bitter bezahlen müssen, er habe die „Möglichkeit einer freien Auseinandersetzung mit dem politischen und geistigen Gegner“ ebenso wie den Einfluss „auf die geistig beweglichen Elemente der Monarchie“ eingebüßt; dieser Nachteil hätte sich aber nicht als Bonus für den Liberalismus ausgewirkt, auch bei ihm habe „das Fehlen eines aktiven und geistig legitimen Gegengewichts“ à la longue „verflachend“, „einschläfernd“ und „zersplitternd“ gewirkt.251 Kurzum: Die geistige Struktur, die der Josephinismus in der franziszeischen Monarchie des Vormärz gewann, führte zu den bekannten Konstanten der österreichischen politischen Kultur: ziellose Verausgabung durch Konfliktvermeidung, Selbstzerfleischung, Verfilzung und Leerlauf.

136–138. Vgl. [Franz Schuselka], Ist Österreich deutsch? Eine statistische und glossirte Beantwortung dieser Frage. Leipzig 1843. 248 Vgl. Fillafer/Wallnig, Einleitung (in diesem Band), 44. 249 Fritz Valjavec, Die josephinischen Wurzeln des österreichischen Konservatismus. In: Hellmuth Rössler (Hg.), Festgabe dargebracht Harold Steinacker zur Vollendung des 80. Lebensjahres. München 1955, 166–175. – Karl Eder beobachtete, „daß die Abzweigung des liberalen Denkens aus den Geleisen und Scharnieren des Josephinismus mit Metternichs Regierungsantritt“ einsetzte. „Kräfte, die früher an einem Strange gezogen hatten, standen nun gegeneinander. Das Totum war zerbrochen, der Platz für die Partes gegeben. Eine Weichenstellung von historischer Tragweite für Österreichs Geschichte“: Karl Eder, Der Liberalismus in Altösterreich. Geisteshaltung, Politik und Kultur. Wien – München 1955, 72. „Auch wenn sich ein lebendiges Ideenbündel nicht geschlagen gibt, bezieht es in Entscheidungsjahren die Stellung Gewehr bei Fuß“ (ebd., 73f.). Vgl. Georg Franz, Liberalismus. Die deutschliberale Bewegung in der habsburgischen Monarchie. München 1955, 37f. 250 Valjavec, Der Josephinismus, wie Anm. 234, 89. 251 Valjavec, Der Josephinismus, wie Anm. 234, 113f.

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War die Josephinismus-Interpretation von Eduard Winter aus dem Jahre 1943 eine nationalsozialistische Interpretation? Am 21. April 1944 bekam der Deutsche Staatsminister in Böhmen und Mähren Karl Hermann Frank einen Brief von SS-Hauptsturmführer Hans Joachim Beyer (1908–1971),2 dem Leiter der Reinhard-Heydrich-Reichsstiftung für wissenschaftliche Forschung in Prag (RHS).3 Beyer informierte den mächtigsten Mann im Protektorat über die Herausgabe einer neuen Schriftenreihe,4 „die sich mit volks- und gesinnungsgeschichtlichen Problemen des östlichen Mitteleuropa“ befassen sollte. Mit dem Brief erreichte den Adressaten auch der erste Band dieser Reihe.5 Es war Eduard Winters (1896–1982) Untersuchung Der Josefinismus und seine Geschichte.6 Beyer vermied jeden Kommentar zu diesem Buch. Er erwähnte aber die weiteren, sich angeblich bereits „im Druck“ befindlichen Bände dieser Schriftenreihe, hier an erster Stelle das Ergebnis seiner eigenen Forschungen über die völkische und rassische Assimilationspolitik, das unter dem Titel Amalgamation und Assimilation – Umvolkungsvorgänge in Ostmitteleuropa und Uebersee erscheinen sollte.7 Die genannte und in der Geschichtsforschung über die NS-Wissenschaft bereits bekannte Prager Reinhard-Heydrich-Stiftung war eine neue, seit dem Ende des Jahres 1942 tätige, ambitionierte wissenschaftliche Institution, die in engster Zusammenarbeit mit dem Prager Sicherheitsdienst in der Manier eines elitäreren brain trusts die theoretischen und wissenschaftlichen Fundamente für die NS-Politik in den okkupierten böhmischen Ländern liefern

1 Für die freundliche sprachliche Korrekur des Textes danke ich Thomas Wallnig. 2 Andreas Wiedemann, Hans Joachim Beyer. In: Ingo Haar / Michael Fahlbusch (Hg.), Handbuch der völkischen Wissenschaften. Personen, Institutionen, Stiftungen. München 2008, 65–68; Karl Heinz Roth, Heydrichs Professor. Historiographie des „Volkstums“ und der Massenvernichtungen: Der Fall Hans Joachim Beyer. In: Peter Schöttler (Hg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft. Frankfurt am Main 1997, 262–342. 3 Karel Fremund, Die Reinhard-Heydrich-Stiftung – ein wichtiges Instrument der faschistischen Ausrottungspolitik in der Tschechoslowakei 1942–1945. In: Informationen über die imperialistische Ostforschung 5 (1965), 3, 1–48. (ursprüngliche tschechische Version: Heydrichova nadace – důležitý nástroj nacistické vyhlazovací politiky. In: Sborník archivních prací 14 (1964), 3–38); Andreas Wiedemann, Die Reinhard-Heydrich-Stiftung in Prag (1942–1945). Dresden 2000. 4 Prager Studien und Dokumente zur Geistesgeschichte und Gesinnungsgeschichte Ostmitteleuropas. 5 Národní archiv (Nationalarchiv in Prag), Bestand Německé státní ministerstvo (Deutsches Staatsministerum), Sign. 110–12/115, Schreiben Beyers an K. H. Frank vom 21. 4. 1944. 6 Eduard Winter, Der Josefinismus und seine Geschichte. Beiträge zur Geistesgeschichte Österreichs 1740–1848 (Brünn 1943). 7 Beyer publizierte das sechshundertseitige Buch Anfang 1945 unter einem anderen Titel: Umvolkung. Studien zur Frage der Assimilation und Amalgamation in Ostmitteleuropa und Übersee. Leipzig 1945.

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sollte.8 Obwohl man nach dem ursprünglichen Plan nur mit SS-Wissenschaftlern gerechnet hatte, wurden die Stellen der Institutsdirektoren letztlich mit Professoren verschiedener ­Fächer der Prager Deutschen Karls-Reichsuniversität besetzt. Unter den Direktoren bildete sich ein Kreis mit klarer „volkspolitischer Richtung“ um Stiftungsleiter Beyer.9 Zu diesem Kreis gehörte nach Auffassung der Prager SD-Leitstelle auch Eduard Winter, ehemaliger Theologe und Kirchenhistoriker und zu dieser Zeit bereits ordentlicher Professor für europäische Geistesgeschichte und Direktor des Instituts und Archivs für osteuropäische Geistesgeschichte der RHS.10 Winters auch später noch bekanntes und manchmal leidenschaftlich diskutiertes Buch über den Josephinismus wurde in den Tätigkeitsberichten der RHS in den Jahren 1943/1944 erwähnt, als ob es sich dabei um eine Arbeit handelte, die im Stiftungsauftrag entstanden sei.11 Freilich versuchte Winter eine solche Deutung später zu verhindern. Im Januar 1947 verteidigte er sich vor sowjetischen Offizieren in Wien mit dem Argument, dass die Leitung der Stiftung und die SD-Offiziere seine Forschungen gar nicht verstanden hatten und dass er deshalb seine wissenschaftlichen Arbeiten in der von ihm selbst gewünschten Art gestalten konnte. Wie eigentlich ich in meinen Forschungen war, die, wie besonders die über [Bernard] Bolzano[,] direkt im stärksten Widerspruch mit dem Nationalsozialismus standen, dafür zeu8

Zum politischen Anfang der Reinhard-Heydrich-Stiftung zwischen den Plänen des Rektors der Prager Universität Wilhelm Saure, Alfred Rosenberg, Karl Hermann Frank und Reinhard Heydrich in den Jahren 1940–1941 siehe neuerdings: Jiří Němec, Pražská věda mezi Alfredem Rosenbergem a Reinhardem Heydrichem. K prehistorii Říšské nadace Reinharda Heydricha pro vědecká bádání v Praze. In: Studia Historia Brunensia 58 (2011), 85–105. 9 NA, Bestand Německé státní ministerstvo (Deutsches Staatsministerium), Sign. 109–4/529, Geheimes SD-Bericht von SS-Obersturmbannführer Jacobi an K. H. Frank über Stimmung und Haltung der Hochschullehrer (Kreisbildungen) vom 27. 4. 1944. 10 Eduard Winter war 1921–1940 an der Theologischen Fakultät der Deutschen Universität, zuerst als Dozent für katholische Soziologie, dann als außerordentlicher Professor für christliche Philosophie und zuletzt als ordentlicher Professor für Kirchengeschichte tätig. Er beendete dort seine kirchengeschichtlichen Vorlesungen im September 1940 und begann zugleich an der Philosophischen Fakultät der Deutschen Karls-Universität in Prag, ab Herbst 1941 als Reichsprofessor für europäische Geistesgeschichte zu lesen. Siehe näher vor allem: Jiří Němec, Eduard Winter (1896–1982). „Eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der österreichischen Geistesgeschichte unseres Jahrhunderts ist in Österreich nahezu unbekannt“. In: Karel Hruza (Hg.), Österreichische Historiker 1900–1945. Lebensläufe und Karrieren in Österreich, Deutschland und der Tschechoslowakei in wissenschaftlichen Porträts. Wien – Köln – Weimar 2008, 619–676; oder auch die unveröffentlichte Dissertation desselben, unter dem Titel: Eduard Winter v německém dějepisectví v protektorátu. Biografická studie o kariéře, přizpůsobení a politické podřízenosti historiografie. Diss. Brno 2008. Siehe nun auch: Ines Luft, Diesseits und jenseits der Amtskirche. Eduard Winter (1896–1982), ein römisch-katholischer Priester im 20. Jahrhundert, in: Norbert Jung / Franz Michalek / Stefan Seit (Hg.), Fides – Theologia – Ecclesia. Festgabe für Ernst Ludwig Grasmück. Frankfurt am Main 2012, 293–309. 11 Vor allem NA, Bestand Německé státní ministerstvo (Deutsches Staatsministerium), Sign. 109–4/1522, Tätigkeitsbericht der Reinhard-Heydrich-Stiftung vom 22. 2. 1944.

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gen meine Werke. Dass sie überhaupt erschienen konnten, war nur durch die Lässigkeit und Unkenntnis des SD, eingeschläfert durch meine äußere Eingliederung in die [Reinhard-Heydrich-]Stiftung möglich. So glaubte der SD mich zu benützen, in Wirklichkeit benützte ich ihn, um meine eigene, im Gegensatz zum Regime stehende wissenschaftliche Forschung zu ermöglichen und sogar deren Ergebnisse zu veröffentlichen. Den Herren von SD ist ganz entgangen, dass z.B. mein Buch ‚Der Josefinismus und seine Geschichte‘ eine wichtige Begründung der vom Nationalsozialismus höchst verpönten fortschrittlichen Auffassung von der tschechischen Geschichte, wie sie von Masaryk und Krofta vertraten, war.12

Kein Historiker kann sich mit dieser apologetischen Behauptung zufriedengeben. Vielmehr ist die Frage zu stellen, warum das Buch über den Josephinismus als eines jansenistisch und aufklärerisch geprägten, österreichischen Reformkatholizismus im Sinne des Urchristentums für die NS-Kreise interessant war und ob Winters Interpretation gewisse bisher nicht beachtete nationalsozialistische Merkmale aufweist. Ohne diese Fragestellung müsste man sich mit der Antwort abfinden, die 1964 in der Historischen Zeitschrift mit unverkennbarem Hohn Winters bedeutendster Kritiker, Jesuitenpater Ferdinand Maaß, gab: Winters Buch habe, so Maaß, das notwendige und in Kriegszeiten als Mangelware geltende Papier nur darum bekommen, weil „sich die damit befassten Machthaber des Dritten Reiches doch wohl allerhand von diesem Kampfbuch gegen die katholische Kirche versprochen haben“.13 Wiewohl meine Schlussfolgerungen dem nicht grundsätzlich widersprechen werden, versuche ich im Folgenden, eine etwas komplexere Antwort zu geben – durch Beschreibung des breiteren Kontextes, in dem das Buch zu Ende der NS-Ära rezipiert wurde, und durch eine Skizzierung seines Bezugs zu den damals prägenden oder für Winters Denken wichtigen Diskursen. Es ist natürlich unmöglich, alle Kontexte, in denen ein Buch entsteht, voll zu beschreiben. Es geht mir um das Aufzeigen lediglich der Kontexte, für die es in den Quellen auch wirklich eine Grundlage gibt. Weil aber Winters Buch erst Anfang Frühjahr 1944 vom Rohrer Verlag herausgegeben und ausgeliefert wurde, obwohl als Erscheinungsjahr 1943 angegeben war, hat es in der zeitgenössischen Presse nur verhältnismäßig wenig Resonanz gefunden. Diese Lücke konnte glücklicherweise durch das Studium der Korrespondenz in verschiedenen Nachlässen zumindest teilweise kompensiert werden. Es gelingt mir somit, nicht nur den Kontext des tschechischen Diskurses unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs zumindest in seinen Grundformen nachzuzeichnen, sondern auch den des nationalsozialistischen historischen Diskurses im Protektorat Böhmen und Mähren und des allgemeinen zeitgenössischen deutschen geschichtlichen Diskurses sowie letztlich auch den Kontext der reformkatholischen Theologie in der Zeit des Nationalsozialismus zu beschreiben. 12 Der Text ist eine schlechte maschinenschriftliche Abschrift einer anderen Abschrift eines sonst unbekannten Originals, der von der Stasi am 28. 4. 1953 fertiggestellt wurde. Bundesbeauftragter für Stasi-Unterlagen (BStU) 12253/92, f. 80–86, Meine Zusammenarbeit mit dem vergangenen Regime 1938–1945. Tippfehler wurden vom Autor korrigiert. 13 Ferdinand Maass, Rezension Winter, Josefinismus. In: Historische Zeitschrift 198 (1964), 682–685, hier 682.

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I Entstehungsgeschichte des Begriffs und des Buches Seit Anfang der Dreißigerjahre, vor allem seit seiner Biographie des Mathematikers und Philosophen Bernard Bolzano (1781–1848) aus dem Jahre 1933 war Eduard Winter als talentierter Kirchenhistoriker reformkatholischer, aber auch deutschnationaler Prägung in Prag bekannt.14 Er las zuletzt als ordentlicher Professor Kirchengeschichte an der theologischen Fakultät und Philosophie der Religion als Privatdozent an der philosophischen Fakultät der Deutschen Universität. Dank dem Bolzano-Buch, das ins Tschechische übersetzt wurde, gewann er freundschaftliche Beziehungen zu tschechischen Historikern. Noch besser wurde seine Synthese des religiösen Denkens in den böhmischen Ländern aus dem Frühjahr 1938 von der tschechoslowakischen Öffentlichkeit angenommen, wobei auch das Lob seitens der „sudetendeutschen“ Medien wie auch seitens der von der Konrad Henlein-Partei bereits beeinflussten „sudetendeutschen“ Geschichtswissenschaft nicht vergessen werden darf.15 Weil er ein katholischer Geistlicher war, der sich mit dem von der katholischen Kirche verurteilten Theologen und Philosophen Bolzano beschäftigte, und zugleich die Idee des Nationalen mit dem katholischen Glauben zu verbinden versuchte, wurde seine Tätigkeit vom Prager Erzbischof kritisiert. Als der Herbst 1938 mit der tschechoslowakischen Krise kam, stand Winter im Lager der sudetendeutschen Intellektuellen und Wissenschaftler, die die Entstehung des Großdeutschen Reiches und letztlich auch des Protektorates Böhmen und Mähren begrüßten. Er glaubte, dass eine solche staatliche „Ordnung“ Mitteleuropas im Sinne eines Reiches eine bessere Lösung als in der Tschechoslowakei bringen würde – auch für das Verhältnis zwischen Deutschen und Tschechen. Die politischen Auswüchse der nationalsozialistischen Diktatur nahm er anscheinend nicht oder nur sehr wenig zur Kenntnis, und mit einigen antiklerikalen Maßnahmen und Ansichten des Regimes, so vor allem mit der antirömischen Ausrichtung, konnte er sich sogar nahezu identifizieren. Er befürchtete aber, dass ihm die katholische Kirche als einem reformkatholischen Theologen, der lange Jahre eine Brücke zwischen katholischem Christentum und nationalistischem Gedankengut bilden wollte, keine weitere Tätigkeit ermöglichen und ihn an der Theologischen Fakultät suspendieren würde. Der erste Versuch eines Übertritts an die Philosophische Fakultät scheiterte aber im Jahre 1939, denn die NS-Studentenschaft und der NS-Dozentenbund in Prag stellten sich wegen Winters angeblicher katholischer Voreingenommenheit seinen an der Philosophischen Fakultät geplanten Vorlesungen entgegen. Die schwierige Situation komplizierte sich weiter, als sein Konkubinat mit einer Frau die Form einer Familiengründung annahm: Winters spätere Frau brachte im November 1940 ein Kind zur Welt. Winter, der in Frühjahr 1941 durch den Leitmeritzer Erzbischof exkommuniziert wurde, versuchte nun noch einmal, und fast um jeden Preis, von der Theologischen an die Philosophische Fakultät überzuwechseln. Mit Hilfe Curt von Burgsdorffs, des politisch ein14 Eduard Winter, Bernard Bolzano und sein Kreis. Dargestellt mit erstmaliger Heranziehung der Nachlässe Bolzanos und seiner Freunde. Leipzig 1933. 15 Eduard Winter, Tausend Jahre Geisteskampf im Sudetenraum. Das religiöse Ringen zweier Völker. Salzburg – Leipzig 1938.

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flussreichen Unterstaatsekretärs im Amt des Reichsprotektors, konnte er sein Vorhaben letztlich umsetzen. Seither publizierte er propagandistische Aufsätze in der offiziellen Zeitschrift des Reichsprotektors Böhmen und Mähren;16 und seit Sommer 1941 konnte er seine wissenschaftliche Stellung in Prag stabilisieren, ausbauen und sogar in der „elitären“ Reinhard-Heydrich-Stiftung tätig werden. In dieser Situation, sehr wahrscheinlich in der ersten Hälfte des Jahres 1942, fasste Winter das Thema Josephinismus ins Auge. Eine größere Arbeit über Geschichte der kirchlichen Verhältnisse in der Ukraine war abgeschlossen,17 und es war jüngst auch eine kleine – sehr persönlich abgefasste – Studie über den Philosophen Franz Brentano in seinem Konflikt mit den kirchlichen Autoritäten publiziert worden.18 Im Prager Nachlass Winters befindet sich eine Maschinenschrift des Textes mit handschriftlichen Eintragungen und Veränderungen.19 Das dort vorfindliche Vorwort wurde ursprünglich im Sommer 1942 datiert. Erst später wurde es mit Winters Hand auf den auch in Druckfassung vorfindlichen 13. März 1943, symbolisch als den 202. Geburtstag Josephs II., umdatiert. Dass das Buch wirklich im Sommer abgeschlossen wurde, bestätigt auch der Briefwechsel mit seinem Münchener „Konkurrenten“ Fritz Valjavec (1909–1960),20 der sich parallel mit dem Thema des Josephinismus beschäftigte und der bereits eine kurze Skizze zum Josephinismus als politischer und weltanschaulicher Strömung im 19. Jahrhundert in derselbe Zeit im Druck hatte.21 Winter wurde von dem nationalsozialistischen Südost-Experten Valjavec, der sich ein paar Monate früher am Sonderkommando-Einsatz der Einsatzgruppe D in Czernowitz beteiligt hatte, als Herausgeber eines niemals fertiggestellten Südosteuropa-Handbuches, das im Auftrage des Deutschen

16 Siehe vor allem Eduard Winter, Böhmen und Mähren im geistigen Raum des Reiches. In: Böhmen und Mähren 2 (1941), 42–46. 17 Eduard Winter, Byzanz und Rom im Kampf um die Ukraine 955–1939. Leipzig 1942. 18 Eduard Winter, Franz Brentanos Ringen um eine neue Gottessicht. Brünn – Wien – Leipzig 1941. 19 Archiv hlavního města Prahy (Archiv der Hauptstadt Prag, AHMP), NL E. Winter, Nr. 45, Manuskript Josefinismus. – Ein bisher nicht veröffentlichtes Kapitel dieses Manuskriptes bildet Anhang 1 zu diesem Beitrag. 20 Zu Valjavecs Biographie und seiner SS-Tätigkeit im Nationalsozialismus siehe vor allem Klaus Popa, Fritz Valjavec. In: Ingo Haar / Michael Fahlbusch (Hg.), Handbuch der völkischen Wissenschaften. Personen, Institutionen, Stiftungen. München 2008, 697–700; Ingo Haar, Friedrich Valjavec. Ein Historikerleben zwischen den Wiener Schiedssprüchen und der Dokumentation der Vertreibung. In: Lucia Scherzberg (Hg.), Theologie und Vergangenheitsbewältigung. Eine kritische Bestandaufnahme im interdisziplinären Vergleich. Paderborn – München – Wien – Zürich 2005, 103–119; Gerhard Grimm, Georg Stadtmüller und Fritz Valjavec: Zwischen Anpassung und Selbstbehauptung. In: Mathias Beer (Hg.), Südostforschung im Schatten des Dritten Reiches. Institutionen – Inhalte – Personen. Oldenbourg – München 2004, 237–255; Krista Zach, Friedrich Valjavec nach seinen privaten tagebuchartigen Aufzeichnungen (1934–1946). In: Ebenda, 257–273; Norbert Spannenberger, Vom volksdeutschen Nachwuchswissenschaftler zum Protagonisten nationalsozialistischer Südosteuropapolitik: Fritz Valjavec im Spiegel seiner Korrespondenz. In: Ebenda, 215–235. 21 Fritz Valjavec, Der Josefinismus als politische und weltanschauliche Strömung. In: Kurt Raumer / Theodor Schieder (Hg.), Stufen und Wandlungen der deutschen Einheit. Stuttgart – Berlin 1943, 114–132.

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Auslandswissenschaftlichen Instituts in Berlin entstehen sollte, im April 1942 angesprochen, damit er einen Abschnitt über Religion und Kirchen in der Slowakei übernahm.22 Als Winter im Juli 1942 im Zuge der Beteiligung der Reinhard-Heydrich-Stiftung an der von Valjavec herausgegebenen Zeitschrift Südost-Forschungen in den Redaktionsausschuss eintrat, wurde der Briefwechsel noch intensiver. Im September 1942 entschuldigte Winter sein fast zweimonatiges Schweigen mit Abschlussarbeiten eines „großen Werkes über den Josefinismus“.23 Valjavec äußerte sein eminentes Interesse an Winters neuem Buch und wünschte, weil er selbst an einer Erweiterung seiner eigenen Studie über den Josephinismus arbeitete, Korrekturfahnen des Werkes lesen zu können. Die Drucklegung des Textes von Winter aber musste mehrmals bis zum Ende des Jahres 1943, auch wegen Papiermangels, verschoben werden. „Mein Buch ist leider wegen Papierschwierigkeit noch nicht gesetzt“, schrieb Winter während Weihnachten 1942, „doch hoffe ich, daß Oldenbourg [Verlag], bei dem es erscheinen soll, sich mit Rohrer [Verlag] bzw. Callway [Verlag] zusammenschließt, dann dürfte die Drucklegung leichter sein. Sobald die Arbeit gesetzt wird, geht sie Ihnen sofort zu, da mir an Ihrer Mitarbeit, Ihrer Arbeit viel liegt“.24 Beide Historiker wollten erfahren, welche Auffassung über Josephinismus der andere vertrat.25 „Natürlich steht die religiöse und kirchenrechtliche Seite des Josefinismus in Vordergrund“, setzte Winter sein Brief fort, „aber diese geistesgeschichtliche Grundlage wird Ihnen doch manches sagen. Wie ich umgekehrt darauf brenne Ihre Gedanken zum Josefinismus von politischer und weltanschaulicher Seite her zu lesen. Wir werden sich [sic] hoffentlich fruchtbar ergänzen.“26 Im Frühjahr 1943 fand Winter einen Sonderdruck des Aufsatzes von Valjavec in seiner Post in Liboch an der Elbe, wo er wohnte. Nach Winters vorsichtig formulierten Worten zeigte es sich, „wie sehr sich unsere Forschungen treffen, wenn ich auch als ehemaliger Theologe manche andere Zusammenhänge, die für das Verständnis der Bewegung als unbedingt nötig sind[, sehe]“.27 Obwohl Valjavec diese Worte als „starke Übereinstimmung“ beider Auffassungen schätzte, „was“, wie er zugab, „eine willkommene gegenseitige Bestätigung dafür ist, dass man sich auf dem richtigen Wege

22 Bayerisches Hauptstaatsarchiv (BayHStA), Bestand Südost-Institut, Dienstkorrespondenz Valjavec, Konvolut 49, Schreiben Winters an Valjavec vom 20. 4. 1942. 23 BayHStA, wie Anm. 22, Schreiben Winters an Valjavec vom 12. 9. 1942. Im Schreiben vom 14. 11. 1942 erwähnte Winter auch den vollen Titel des Buches: Der Josefinismus und seine Geschichte. Eine Tragödie des Reformkatholizismus. 1745–1848 mit einem barocken Vorspiel. 24 BayHStA, wie Anm. 22, Schreiben Winters an Valjavec vom 26. 12. 1942. 25 BayHStA, wie Anm. 22, Schreiben Valjavec an Winter vom 22. 12. 1942: „Auf Ihr Buch in ich schon gespannt, da ich meinerseits dabei bin, eine größere Studie über den Josephinismus zusammenzustellen, die allerdings diesen als kirchenrechtliche Anschauung und überhaupt kirchengeschichtliche Erscheinung nur am Rande interessiert. Mein Anliegen ist, dem Josephinismus vor allem auf politischer und weltanschaulicher Ebene besonders während des 19. Jh.s nachzugehen und überhaut ein Gesamtbild dieser Bewegung zu umreissen. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn ich von Ihrem Werke Korrekturfahnen zur Ansicht erhalten könnte, da meine größere Studie noch im Laufe dieses Winters zum Satz kommen soll.“ 26 BayHStA, wie Anm. 22, Schreiben Winters an Valjavec vom 26. 12. 1942. 27 BayHStA, wie Anm. 22, Schreiben Winters an Valjavec vom 22. 3. 1943.

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befindet“, war die Diskrepanz unübersehbar. Für jeden der beiden Autoren bestätigte Valjavec nur zu Recht einen anderen Geschichtsrahmen in der eigenen Interpretation: „Auf der anderen Seite wird selbstverständlich vieles davon abhängen, unter welchem Gesichtspunkt man den Josephinismus beurteilt. Hier ist für persönliche Stellungnahmen ein recht erheblicher Spielraum gegeben. Für Sie spielt […] wahrscheinlich der reformkatholische Faktor eine grosse Rolle, während ich diese Frage mehr oder weniger unberücksichtigt lasse und mich auf die allgemein-weltanschauliche Position dieser Strömung mit ihren politischen Folgen beschränke.“28 Allerdings hielt nach dem Erscheinen von Winters Buch Valjavec dessen Auffassung in der Grundausrichtung für eine „verfehlte“…29 Bis Herbst 1940 war Winter Kirchenhistoriker, der sich im Rahmen des kirchengeschichtlichen Diskurses bewegte. Theologisches und religiöses Denken bildete eine natürliche Quelle und einen ursprünglichen Ausgangspunkt seiner historischen Überlegungen. Es überrascht nicht, dass er auch für den Josephinismus einen kirchengeschichtlichen Rahmen wählte. In diesem Rahmen war seine Deutung aber neu und provokativ. In der katholischen Geschichtsschreibung war Josephinismus nur eine negative Erscheinung, verbunden mit der staatlichen Unterordnung der Kirche. Winter gab dem Josephinismus positive Züge, ja er stellte ihn in die geschichtliche Reihe der großen christlichen Reformbewegungen, indem er ihn mit dem Versuch einer fundamentalen Reform des katholischen Christentums nach dem Vorbild der Urkirche der ersten Jahrhunderte verband. Er wollte einen Beweis erbringen, „daß es sich beim Josefinismus nicht nur um ein kirchliches System handelt, das je nach dem Standpunkt des Betrachters als unheilvolle Neuerung oder als wünschenswerte Wiederherstellung des alten Rechtes in der Kirche angesehen und darnach beurteilt werden kann“.30 Es war für ihn mehr als eine „österreichische Abart des Febronianismus“ und Gallikanismus mit ihrem „selbstverständlichen“ Kampf um Autonomie der Landeskirchen gegen den „immer stärker werdenden römischen Zentralismus“: Kaiser Josef und dem eigentlichen Begründer des Josefinismus, van Swieten, ging es um mehr, nämlich um eine grundlegende Kirchenreform, die nicht nur die Verfassung, sondern auch den Kultus, die Disziplin, ja sogar die Darstellung der Lehre erneuern wollte. Der Josefinismus ist deshalb nicht ohne Grund von den Zeitgenossen mit der Reformation Luthers verglichen worden. Wie diese war der Josefinismus der Ausdruck des Protestes des germanischen Menschen gegen den römischen Formalismus. Nicht auf äußere Andachtsübungen komme es an, sondern auf die tätige Auswirkung im täglichen Leben […]. Im Geiste der Urkirche, wie es Jansenius und St. Cyran […] vor Augen stand, sollte die Kirchenreform, angepaßt an die inzwischen zur Herrschaft gekommene Aufklärung, erfolgen.31

28 29 30 31

Ebenda, Schreiben Valjavecs an Winter vom 26. 3. 1943. Siehe unten Korrespondenz mit Alexander Posch. Winter, Der Josefinismus, wie Anm. 6, 479. Winter, Der Josefinismus, wie Anm. 6, 479.

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Noch während der 1930er Jahre verwendete Winter den josephinischen Begriff in üblicher negativer Deutung als verhängnisvolles Staatskirchentum. Er trennte ihn allerdings von einer positiv beurteilten Katholischen Aufklärung in der Tradition der reformkatholischen Geschichtsschreiber an der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert ab.32 Im Jahre 1933 war Josephinismus ein „fälschlicher“ Begriff für „reiches geistiges, soziales und auch religiöses Leben“, das sich während der Aufklärung entfaltete. Bereits damals suchte Winter die „religiöse Aufklärung“ als einen Versuch zu werten, „den geistig ausgeschöpften Barock zu ersetzen“.33 Erst gegen Ende des Jahrzehntes wagte er freilich, diese Religiosität mit dem Begriff des Josephinismus zu bezeichnen. Es waren seine vertieften Studien über Jansenismus in Österreich, die zur Änderung seiner Auffassung am meisten beitrugen. 1938 sprach er noch von radikalen Reformen Kaiser Josephs II. im Geiste der jansenistischen Kirchenreform,34 bereits 1939 wurde hingegen Jansenismus zur Triebkraft „in den kirchlichen Reformbestrebungen im ausgehenden 18. Jahrhundert, die wir unter Namen Josefinismus zusammenfassen“, gleichsam aufgewertet.35

II Der Kontext des tschechischen Geschichtsdiskurses im Protektorat Böhmen und Mähren Im Juli 1945 bewertete der tschechische Historiker katholischer Prägung Bohdan Chudoba (1909–1982), der in seinem Buch Jindy a nyní [Früher und jetzt] die Zeit der Aufklärung als Zeit der Dunkelheit beschrieb,36 in der katholisch orientierten Volkspresse [Lidové listy] Winters Josefinismus-Buch und seine tschechische Übersetzung aus dem Jahre 194537 als eine

32 Z.B. Texte von Sebastian Merkle; siehe unten. 33 „Es ist ein reiches geistiges, soziales und auch religiöses Leben, das sich in der österreichischen Aufklärung entfaltet, die fälschlich als Josefinismus bezeichnet wird und bisher viel zu einheitlich und einseitig gesehen wurde. Freilich verplattet der Nützlichkeitsgedanke die österreichische Aufklärung, wie jede Aufklärung, besonders auf religiösem Gebiete, soweit sie überhaupt religiös sein wollte. Aber die Zähigkeit des Fortlebens der Aufklärung auch im 19. Jahrhundert, das Wiederaufleben im Liberalismus zeigt, daß hier noch größere menschliche Werte zu suchen sind, als bisher angenommen wurde. Vor allem die religiöse Aufklärung muß als Versuch, den geistig ausgeschöpften Barock zu ersetzen, gewertet werden, wenn auch mit Vernunft und Nützlichkeit allein die Religion nicht begründet werden kann.“ Eduard Winter, Die katholische Restauration in Österreich 1808–1820, ihre Entwicklung und Auswirkung. In: Anton Böhm (Hg.), Katholische Glaube und deutsches Volkstum in Österreich. Salzburg 1933, 149–159, hier 150. 34 Eduard Winter, Tausend Jahre Geisteskampf in Sudetenraum. Das religiöse Ringen zweier Völker. Leipzig – Salzburg 1938, 297. 35 Eduard Winter, Jansenismus im Sudetenraum. In: Forschungen und Fortschritte 15 (1939), 76. 36 Bohdan Chudoba, Jindy a nyní. Dějiny českého národa. Praha 1946. 37 Das Buch wurde von Winters Assistent in der Reinhard-Heydrich-Stiftung und späteren kommunistischen Historiker und Politikwissenschaftler Vladimír Soják in die tschechische Sprache übersetzt und erschien im Frühjahr 1945 in Prag.

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sehr kluge und versteckte Apologie des Hitler-Regimes.38 Nach Chudoba lobte Winter die josephinische Aufklärung und die Reformen des Kaisers, weil Joseph II. als „alles regulierender Diktator“ „aus den Resten des Deutschen Reiches einen unteilbaren deutschen Staat machen wollte, in dem alles Mögliche, von der religiösen Gesinnung bis zur Muttersprache und Gewohnheiten des täglichen Lebens, von der Regierung diktiert wurde“. Entsprechend der zugespitzten Atmosphäre kurz nach der Befreiung der Tschechoslowakei von der deutschen Okkupation meinte der Verfasser in seinem durchaus emotionalen und gegenüber allem Nationalsozialistischen und Deutschen offen feindseligen Aufsatz, dass der Josephinismus die eigentliche „Wurzel des Bösen“, ein „Urbild aller hitlerschen und trotzkistischen Begier“ gewesen sei. Der Josephinismus hätte nach Meinung dieses tschechischen Historikers zu einem Instrument der Nazis werden sollen, „mit dessen Hilfe die tschechischen Seelen erobert werden sollten“. Chudoba witterte in der Interpretation Winters auch eine gefährliche Alternativinterpretation der Zeit an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, die im tschechischen Geschichtsbewusstsein traditionell als die Periode der sogenannten nationalen Wiedergeburt gegolten hatte. Diese unversöhnliche Kritik Chudobas galt mehr dem offiziösen, während des Protektorats geprägten Bild von Joseph II., als dem Kern von Winters reformkatholischer Deutung des Josephinismus, welcher von Chudoba praktisch übergangen wurde. In Texten der tschechischen aktivistischen und pro-nazistischen Publizistik wurde der Josephinismus tatsächlich als ein Geschichtsphänomen präsentiert, das zur Entstehung des zentralistischen, modernen Staates beigetragen haben soll und als erste „Revolution von oben“ mit der nationalsozialistischen Revolution vergleichbar gewesen sein soll.39 Winter benutzte in seinen Texten jedoch keinerlei solche aktuellen Rekurse und konzentrierte sich bewusst nur auf eine Seite des Josephinismus, nämlich auf die kirchlichen und religiösen Reformen des Kaisers sowie die Ausbreitung und den Einfluss des Gedankens nach einer grundlegenden Reform der katholischen Kirche. Andererseits darf aber nicht übersehen werden, dass sein Buch im Protektorat Böhmen und Mähren gerade im besagten Deutungsrahmen der angeblich „ersten Revolution von oben“ gelesen und verstanden wurde und dass es im Prinzip recht gut mit dem Protektoratsgeschichtsbild korrelierte.

III Der Kontext des NS-Geschichtsbilds im Protektorat Böhmen und Mähren Diesen Einklang mit dem für die Protektoratsära prägenden Geschichtsbild bestätigt auch Othmar Feyl (1914–1999), und zwar im April-Heft der Zeitschrift Deutsche Volksforschung in Böhmen und Mähren des Jahrgangs 1944, indem auch er von einer „ersten“ „Revolution von

38 Bohdan Chudoba, Kořen zla, Lidové listy vom 7. 6. 1945. Übersetzung des Autors. 39 Emanuel Vajtauer, Česká politika ve věku strojovém. In: Po pěti letech 1939–1944. Praha 1944, 23– 144, hier 44.

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oben“ in Bezug auf den Aufgeklärten Absolutismus spricht.40 Dr. Othmar Feyl war damals nicht nur Schriftleiter der genannten Zeitschrift, die in der Reinhard-Heydrich-Stiftung herausgegeben wurde, sondern auch Assistent Hans Joachim Beyers in derselben Stiftung (Institut für europäische Völkerkunde) sowie an der Prager Universität. Man kann seine Rezension also durchaus auch als Äußerung des Standpunktes der RHS-Leitung werten. Feyl würdigte Winters Werk zwar als „ein Zeugnis ungewöhnliches Fleißes“, schätzte des Verfassers „Bestreben [nach] größtmöglichster historischer Objektivität“ und verzieh ihm auch eine „oft deutliche, persönliche Note“ der sonst flüssigen Darstellungsweise. Doch weigerte er sich, den reformkatholischen Kern der Interpretation überhaupt zu kommentieren. Feyl betrachtete es freilich als notwendig, das Buch „in manchem nach der biologischen und gesinnungsmäßigen Seite der Volksgeschichte Böhmen-Mährens [zu] ergänzen“. Entgegen der reformkatholischen Auslegung Winters präferierte man in der RHS offensichtlich eine andere – volksgeschichtliche und rassische – Fragestellung, wie sie bereits H. J. Beyers Forschungsplan aus dem Jahre 1942 bestimmt hatte. Feyl, der den Josephinismus weder für ein System noch eine Geistesströmung hielt, sondern für eine „leitende Staatsidee eines kulturell und politisch einheitlichen Österreich-Ungarns“ (wobei er sich auf Valjavecs Aufsatz aus dem Jahre 1943 berief und gegen Winters Ende des Josephinismus in der Mitte des 19. Jahrhunderts polemisierte), füllte darum ganze drei Seiten seiner Besprechung mit den Namen von tschechischen Gelehrten, die sich als angeblich „deutschblütig“ und unter dem Einfluss des aufgeklärten Josephinismus an der tschechischen nationalen Wiedergeburt oder dem tschechischen politischen Leben beteiligt hatten. Feyl fehlten in Winters Darstellung des Josephinismus – was im Kontext der aktuellen nazistischen Schul- und Sprachpolitik im Protektorat von Interesse sein musste – auch Argumente für die Rehabilitation und Legitimation der „sogenannten josefinischen Germanisierungspolitik“, weil die, so Feyl, „auf allgemeine volkskulturelle Hebung der nicht-deutschen Völker der Monarchie mittels der deutschen Bildung bedacht war“.41 Diese Kritik zeigt, dass Winter den aktuellen Kontext der NS-Umvolkungspolitik in seinem Josephinismus-Konzept in den Augen der NS-Wissenschaft nur wenig reflektierte. Winter reagierte auf diese kritische „Anregung“ in der tschechischen Übersetzung des Buches aus dem Jahre 1945. Er ergänzte seine Darstellung im Vorwort und auf einigen Seiten im Haupttext mit der Behauptung von „wesentlicher Anteilnahme“ des „tschechischen Josefinismus“ im Hinblick auf den Beginn der nationalen Erneuerung der Tschechen.42 Es sollte

40 Othmar Feyl, Rezension Winter, Josefinismus. In: Deutsche Volksforschung in Böhmen und Mähren 3 (1944), 110–114. Wie auch Winter, lebte Feyl nach dem Krieg in der DDR (er wurde Parteimitglied der SED), habilitierte sich an der Humboldt-Universität für Bibliothekswissenschaft und wurde dort später auch ordentlicher Professor. Auch in der DDR war Feyl mit Winter im wissenschaftlichen und persönlichen Kontakt geblieben. 41 Feyl, Rezension Winter, Josefinismus, wie Anm. 40, 114. 42 Eduard Winter, Josefinismus a jeho dějiny. Příspěvky k duchovním dějinám Čech a Moravy 1740– 1848 (Praha 1945), VII (Vorwort; Übersetzung des Autors) und 193. Die ursprüngliche deutsche Fassung des ergänzten Textes auf Seite 193 befindet sich in: AHMP, NL Eduard Winter, Nr. 66.

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die wichtigste Voraussetzung für die „tschechische Moderne am Ende des 19. und Anfangs des 20. Jahrhunderts“ bilden, und als solche verdiente sie sich eine tiefere Analyse.43 Feyl beanstandete Mängel auch in anderen, mit der nationalsozialistischen Weltanschauung verbundenen Erscheinungen der Epoche Josephs II. „Zu begrüßen ist Winters belegte Distanzierung des Kaisers von Sonnenfels und Freimauern“, lobte er einerseits wohl das negative Bild des jüdischen Schriftstellers Sonnenfels, der, obwohl einer der bedeutendsten Wiener Aufklärer, in Winters Josefinismus überhaupt keine Rolle spielte. Aber mit gleichem Atem kritisierte der Rezensent die fehlende Darstellung der kaiserlichen Politik gegenüber den Juden. „Die geistigen Wurzeln der Judenpolitik des Kaisers hätten vielleicht ausführlicher Hinweise bedurft, da ja ohne die josefinische Andeutschung des böhmisch-mährischen Judentums dieses nicht verhältnismäßig so lange auf deutscher Seite gestanden hätte […].“44 Wie im Fall der ersten Kritik versuchte Winter auch diese in der tschechischen Ausgabe einzuarbeiten. Er ergänzte auf der Seite, die Sonnenfels erwähnte, einen kurzen Absatz über die Politik des Kaisers gegenüber den Juden als direkte Antwort auf Feyls Vorwurf. In sieben Zeilen argumentierte Winter, dass die letzte Motivation des Kaisers in der Politik der Gleichberechtigung gegenüber den Juden in seinem angeblichen Widerwillen gegen diese wurzelte. Joseph II. wollte die jüdische Bevölkerung schwächen. Darum sollte sie assimiliert und so „mit der Zeit ganz überwunden“ werden. Es war dies eine für die Zeit seltsame Argumentation, abgesehen von den negativen Äußerungen über den „freidenkenden Zyniker“ Joseph von Sonnenfels. Winter sagte, dass das jüdische Ghetto wegen Assimilation aufgelöst und „den Juden allerlei der Weg in die Öffentlichkeit erleichtert wurde“.45 Er schrieb diese Politik dem allgemein gelobten Kaiser zu. Obwohl sich Winter nur auf die Konstatierung historischer Tatsachen ohne jede Bewertung beschränkte, betonte er indirekt nicht die Ghettoisierung (und physische Vernichtung) der jüdischen Bevölkerung, sondern eher deren Assimilation. Die rassischen Grundsätze der antisemitischen Politik des Nationalsozialismus machten Assimilation aber unmöglich. So konnte man diese Zeilen – damals wie heute – auch als eine verborgene Polemik gegenüber der antisemitischen Politik des Nationalsozialismus lesen. Die Äußerung ist aber sehr knapp und im Werk Winters so marginal, dass man fragen kann, inwieweit dies wirklich Winters damaliger Intention entsprach. Wie bereits erwähnt, beschäftigte sich Feyl nicht mit der reformkatholischen Konzeption des Buches. Wenn er die kirchengeschichtliche Seite des Phänomens doch angeht, betont er die antiklerikale Seite. Was aber an seiner Besprechung interessant erscheint, ist sein Ver43 Winter, Josefinismus a jeho dějiny, wie Anm. 42, VII. 44 Feyl, Rezension Winter, Josefinismus, wie Anm. 40, 114. 45 Winter, Josefinismus a jeho dějiny, wie Anm. 42, 146: „Tím se vůbec nemá popírati význam, jaký má úplné zrovnoprávnění židů na veřejném životě. Císař chtěl oslabiti židovstvo, jež si protivil, asimilací a časem je úplně překonati. Proto bylo zrušeno ghetto a cesta do veřejnosti židům všemožně ulehčena. Židé proto vždy velebili josefinismus, ačkoliv jim nebyl neznám císařův odpor k nim. Není náhodné, že židé byli nejrozhodnějšími stoupenci rakouského centralismu, v protivě k feudálně-slovanskému federalismu.“ Diese Sätze wurden auf Seite 188 der deutschen Ausgabe zugefügt.

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such, den Josephinismus in seiner Beziehung zur Gegenwart zu verstehen. „Man muß immer vom leitenden Grundsatz des Aufgeklärten Absolutismus ausgehen: Alles für das Volk, nichts durch das Volk, um sich durch den Wechsel der dem Liberalismus und später der Demokratie angepaßten politischen Systeme nicht über die durchgängig verfolgbare vorbildwirkende Macht des josefinischen Sauerteigs täuschen zu lassen. Sind nicht auch wir Heutigen noch ‚Josefiner‘, sofern wir z.B. den Primat der Gottesordnung Volk gegenüber der Kirche als Institution betonen?“ Wer waren diese „wir Heutigen“? Für Feyl, dem aktiven Mitglied der NSDAP und regimetreuen jungen Universitätsassistenten, verkörperten sich in diesem „Wir“ sicher vor allem Nationalsozialisten. Mehr als der Josephinismus im reformkatholischen Sinne Winters spielte in Feyls Gedanken eine allgemeine, praktische und auf das Wohl des Kollektivs hin orientierte Aufklärung die tragende Rolle. Wie früher Chudoba, so sah auch dieser junge Nationalsozialist eine kontinuierliche, tragende und im Hintergrund stets wirkende Linie vom Josephinismus im Sinne der absolutistischen Aufklärung Josephs II. durch das 19. Jahrhundert bis hin zur nationalsozialistischen Gegenwart Adolf Hitlers. „Was waren und sind denn z.B. unsere namenlosen Väter und Großväter, diese Bauern, Beamten und Akademiker ‚geistig‘ gewesen? Sie waren die kleinen ‚Josefiner’ des Volkes mit ihrem Stolz auf den errungenen lokalen Fortschritt und die Einschränkung der klerischen Kontrollmacht z.B. in der kleinsten Volkschule […]. Wo immer im alten Österreich um das Wohl des Staates und aller seiner Bürger gerungen und gearbeitet wurde (und dies war nicht nur allein im Bürgertum der Fall), dort stand bewußt oder unbewußt der Geist Josefs als der große Initiator jener durchgängig verfolgbaren Bewegungs- und Leistungspartei, die hier größere Bedeutung als anderswo hatte.“46 Eine ähnliche Meinung über den Josephinismus teilte wahrscheinlich auch der Vorgesetzte des Verfassers in der Reinhard-Heydrich-Stiftung, H. J. Beyer, der auch im Redaktionsausschuss der Zeitschrift saß. Der Josephinismus in diesem Sinne war ein Thema, das auch gut in seine volksgeschichtlichen Forschungspläne in der Stiftung passte.47 Ob diese Einstellung zu Winters Josephinismus von anderen deutschen Historikern in Prag geteilt wurde, ist nicht bekannt, weil keine der versprochenen Rezensionen erschien.48

46 Hervorhebung in Original. Deutsche Volksforschung in Böhmen und Mähren 3 (1944), 111f. 47 Siehe Beyers Forschungsplan aus dem Jahre 1942: NA, Amt des Reichsprotektors, Sign. 109–4/1522, Brief Jacobis an K. H. Frank vom 24. 8. 1942 mit der Beilage Volkswissenschaftlicher Themenkreis Böhmen-Mähren. Vgl. auch Andreas Wiedemann, Reinhard-Heydrich-Stiftung, wie Anm. 3, 74. 48 Ende 1944 schrieb Hermann Raschoffer eine Besprechung für die wichtigste deutsche Zeitung im Protektorat, Der Neue Tag, Anfang 1945 bereitete Taras Borodajkewycz eine weitere solche als seine letzte Arbeit in Prag vor. Zu Raschhoffer siehe Schreiben Winters an den Prager Historiker Rudolf Schreiber vom 18. 11. 1944: AHMP, NL Rudolf Schreiber. Zu Borodajkewycz: BayHStA, wie Anm. 22, Schreiben Borodajkewyczs an Valjavec vom 17. 5. 1946. Auch der bedeutendste Prager Historiker, Wilhelm Wostry, schrieb in der Deutschen Literaturzeitung 71/2 (1950), 84, eine Besprechung der beiden Auffassungen von Josephinismus, welche aber in einer ganz anderer Zeit erschien und auch vor allem informativ war.

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IV Rezeption und Kontext des allgemeinen deutschen Geschichtsdiskurses Während das Josefinismus-Buch im Protektorat wahrscheinlich in seinem Kern nicht verstanden oder überhaupt nur am Rande wahrgenommen worden war, wurde es in der deutschen Geschichtswissenschaft außerhalb des Protektorats Böhmen und Mähren wegen seiner angeblich allzu subjektiven, biographisch bedingten Darstellungsweise sehr kritisiert. Keiner der Historiker, die am Diskurs über den Josephinismus außerhalb des Protektoratsgebiets beteiligt waren und die – was zu bemerken ist – meistens ideologisch und durch ihre wissenschaftlichen Karrieren mit dem Hitler-Regime verbunden waren, hat eine verbindende Linie zwischen dem „Geist“ des Josephinismus und ihrer nationalsozialistischen Gegenwart gesehen oder wenigstens ausdrücklich konstatiert. Solch einer Perspektive – offenbar in einer vermutlich nicht öffentlichen britischen oder amerikanischen Denkschrift über Nachkriegs­ österreich im Jahre 1946 formuliert – wurde auch nach dem Krieg vehement widersprochen.49 Der bekannte Historiker des Metternich’schen Zeitalters und Begründer der „gesamtdeutschen Geschichtsauffassung“ Heinrich Ritter von Srbik (1878–1951)50 gab im Juni 1944 in der Berliner Wochenzeitung Reich der Kritik an Winters Arbeit Ausdruck.51 Während Winter nach Srbiks Meinung die Bezeichnung Josephinismus vor allem für den geistesgeschichtlichen Versuch, die römisch-katholische Kirche nach dem Wesen des Urchristentums zu reformieren, verwendete, so seien in Winters Werk die übrigen staats- und kirchenpolitischen Bestrebungen der Zeit fast unberücksichtigt geblieben. „Der eigenen Geisteshaltung des Autors“, schrieb Srbik, „ist dieser Josefinismus [...] antikurial, dem Ultramontanismus entschieden abgeneigt.52 Gelegentlich würde man die Wertmaßstäbe etwas anders gewählt wünschen [...53].“ Allerdings betrachtete Srbik, der Winter persönlich kannte und seine früheren Arbeiten hoch schätzte, es als begreiflich, wenn der apologetische Ton von Winters Darstellung bei der Schilderung „der Verunglimpfungen, denen der josefinische Reformwille immer wieder ausgesetzt worden ist“ „manchmal zu sehr überwiegt“. Hier verwies Srbik unverhohlen auf 49 BayHStA, wie Anm. 22, Schreiben E. Klebels an einen Herrn Christoph von Harling vom 2. 5. 1946 (Abschrift). Dieses Schreiben bildet Anhang 2 dieses Beitrages. – Das Schreiben, das auf einen Brief Harlings reagiert, umfasst zehn Seiten, und Klebel lehnt die „Behauptung, dass Hitler und seine Ideologie auf dem Boden des österreichischen Josephinismus entstanden wäre“, sehr ausführlich ab. 50 Zu Heinrich Srbik siehe neuerdings: Martina Pesditschek, Heinrich (Ritter von) Srbik (1878–1951). „Meine Liebe gehört bis zu meinem Tod meiner Familie, dem deutschen Volk, meiner österreichischen Heimat und meinen Schülern“. In: Karel Hruza (Hg.), Österreichische Historiker 1900–1945. Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, 2. Wien – Köln –Weimar 2012, 263–328. 51 Heinrich Srbik, Der Josefinismus. In: Reich. Deutschen Wochenzeitung, 30. Juli 1944. 52 Druckfehlerkorrektur durch den Autor. Ursprünglich war hier zu lesen: „Der eigenen Geisteshaltung des Autors ist dieser Josefinismus gemäß der Standpunkt, den er einnimmt, ist [sic] antikurial, dem Ultramontanismus entschieden abgeneigt.“ 53 „... und im besonderen schiene es mir notwendig, stärker auf das Unzureichende einer überwiegend rationalistischen und verflachten Religionsansicht hinzuweisen.“

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Winters eigene Biographie eines katholischen Priesters, der von der katholischen Kirche exkommuniziert worden war. Noch schärfer wurde Winters Interpretation unter Verweis auf ihren biographischen Subjektivismus in der gesichteten Privatkorrespondenz verschiedener Historiker an Valjavec abgelehnt. Trotz des Umstandes, dass es sich nur um Briefe an Valjavec als Verfasser einer der beiden „konkurrierenden“ Auffassungen handelt, erscheinen sie als relevant und aussagekräftig und weisen auch eine Übereinstimmung in der Beurteilung des Buches von Winter auf. „Winters Werk habe ich eben jetzt durchgesehen“, teilte Andreas Posch (1888–1971), steierischer Historiker und katholischer Kenner der kirchlichen Aufklärung in Graz, 54 Valjavec mit, „ich teile Ihre Meinung, dass die Grundauffassung eine verfehlte ist. Man kann den J. nicht als Versuch einer Kirchenreform im Sinn der Urkirche definieren. Soweit der J. eine geistige Grösse darstellt, ist er doch vom Rationalismus bestimmt, das hätte Winter nicht übersehen dürfen. Kein Geringer als Srbik hat dies in einer Besprechung im ‚Reich‘ […] angedeutet“.55 In einem anderen Brief an Valjavec lobte der Verfasser der zweibändigen Geschichte Österreichs und Benediktiner Hugo Hantsch (1895–1982)56 die „objektive Darstellung“ Valjavecs und kritisierte im gleichen Atemzug die Subjektivität Winters, „der so viel von seinem persönlichen Ressentiment durchblicken lässt, dass man sehr misstrauisch wird“.57 Hantsch meinte, dass Winter „keinen Sinn dafür [habe], wie sehr die josephinische Reformbewegung den innersten Kern des Religiösen, nämlich seine methaphysischen Zusammenhänge, betraf“. Den Kern seiner Interpretation, Winters Definition des Josephinismus als „Versuch einer grundlegenden Reform der röm. kath. Kirche im Sinne der Urkirche“, sah Hantsch als „direkt falsch“ an.58 „Dass die Kirche in ihrer Einstellung gegen den Josephinismus wesentliches Glaubensgut verteidigte, entgeht ihm vollständig.“ Der streng katholisch 54 Vgl. Alexander Posch, Die kirchliche Aufklärung in Graz und an der Grazer Hochschule. Graz 1937. Das Buch war auch Prof. Sebastian Merkle gewidmet. 55 BayHStA, wie Anm. 22, Schreiben A. Poschs an Valjavec vom 5. 10. 1944. Der Brief setzt fort: „Infolge der Einengung oder bes. Berücksichtigung von Böhmen und Mähren, welche Länder ja geistig doch nicht führend waren, wirkt auch der Titel irreführend und hält nicht ganz, was er verspricht. Für meine Person würde ich auch die Unterscheidung von Nach- und Spätjos. ablehnen und lieber von einem allmählichen Ausklingen des Staatskirchentums und der Aufklärung reden.“ – In der schriftlichen Diskussion über die Vorbereitung des Josefinismus-Buches von Valjavec wurde oft nebenbei auch das früher erschienene Buch Winters besprochen. 56 Zu Hantsch vgl. neuerdings: Johannes Holeschofsky, Hugo Hantsch (1895–1972). Ein großösterreichischer Verfechter der Reichsidee. In: Karel Hruza (Hg.), Österreichische Historiker 1900–1945. Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, 2. Wien – Köln – Weimar 2012, 451–488. 57 BayHStA, wie Anm. 22, Schreiben H. Hantschs an Valjavec vom 1. 10. 1944. Einer im Schreiben erwähnten Aussage des Neuzeit-Historikers Taras Borodajkewycz nach, der bei Fertigstellung des Buches auch teilnehmen sollte, enthielt die ursprüngliche Fassung des Textes angeblich noch „ärgere Dinge“ (im Sinne von: noch mehr subjektive Äußerungen). Durch Einfluss von Borodajkewycz, der wie sein Freund Winter vor 1939 verbindende Brücken zwischen Nationalismus, Nationalsozialismus und katholischer Kirche schlug und auch dank Winter seit 1942 Geschichtsprofessor in Prag war, sollte der endgültige Text gemildert werden. 58 BayHStA, wie Anm. 22, Schreiben H. Hantschs an Valjavec vom 1. 10. 1944.

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denkende Hantsch meinte, dass Winter überhaupt nicht verstand, „wie sehr das Glaubensfundament in Gefahr kam, und welche Tendenzen sich aus dem Josephinismus entwickeln konnte“. Seiner Meinung nach verkannte Winter vollkommen „die wesentliche Beziehung zur Aufklärung“. Er stellte selbst den eigentlichen Ausgangspunkt von Winters Gedankengängen in Frage, indem er schrieb: „Eine romfreie katholische Kirche ist ein Widerspruch in sich. Bei dieser Zielsetzung kann von einer Reform nicht mehr die Rede sein, sondern nur von einer Reformation und es ist kindlich, der Kurie den Vorwurf zu machen, dass sie sich gegen eine solche Entwicklung zur Wehr setze. Ich glaube, dass dies nur logisch ist.“ Ähnlich wie Srbik meinte auch Hantsch, dass Winter seinen persönlichen Entschluss, es mit der katholischen Kirche auf einen Konflikt ankommen zu lassen, zu rechtfertigen trachtete, „aber er hat damit die Historie zu seiner Magd gemacht“.59 Er schätzte an Winters Darstellung eigentlich nur seine Herausarbeitung „der Beziehungen des Josephinismus zum gesamtdeutschen Raum“.60 Aber auch diese Ergebnisse waren durch die ungenügende Unterscheidung Winters zwischen den Phänomenen, die als Folgen einerseits der Aufklärung, andererseits des eigentlichen Josephinismus zu betrachten waren, entwertet. Winters Interpretation hat die Meinungen unter den Historikern gespalten. „Über jenes [Buch] von Winter sind hier die Meinungen geteilt“, informierte Ernst Klebel (1896– 1961)61 Valjavec in Juni 1944 über die Resonanz des Buches in Wien. Allgemein wurde von der damaligen historischen Forschung die reformkatholische Darstellung als zwar inspirierend, aber zu eng betrachtet. Der Mediävist Otto Brunner „hat genauso, wie ich gerügt“, schrieb Klebel weiter, „daß Winter die staatliche Seite zu wenig berücksichtigt habe, während es sonst als interessant, wenn auch tendenziös betrachtet wird“.62 Nach Kritik von kirchenpolitischer Einseitigkeit im Werk Winters musste die historische Forschung über eine solche Darstellung hinausgehen, diese erweitern und anders begreifen.63 Die meisten Historiker bevorzugten daher an Stelle von Winters Buch die kurz danach publizierte Darstellung von Fritz Valjavec.64 59 BayHStA, wie Anm. 22, Schreiben H. Hantschs an Valjavec vom 1. 10. 1944. 60 BayHStA, wie Anm. 22, Schreiben H. Hantschs an Valjavec vom 1. 10. 1944. 61 Wolfram Ziegler, Ernst Klebel (1896–1961). Facetten einer österreichischen Historikerkarriere. In: Karel Hruza (Hg.), Österreichische Historiker 1900–1945. Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, 2. Wien – Köln – Weimar 2012, 489–522. 62 BayHStA, wie Anm. 22, Schreiben Klebels an Valjavec vom 21. 6. 1944. 63 Auch der Vertreter der „volksdeutschen Geschichtsauffassung“ Harold Steinacker schrieb kritisch, aber doch mit Respekt über Winters Buch: „Seit dem an sich guten und neues Material erschliessenden Buche Winters ist die Notwendigkeit einer über das Kirchliche und Kirchenhistorische herausgehenden Betrachtung des Josefinismus i. weiteren Sinn klargegeben. Die Schwierigkeit dabei, u. zw. keine geringe, ist, daß die im Josefinismus nicht eine eigenständige besondere Idee darstellt, die sich positiv definieren ließe, sondern ein Kompromiss – eine Kreuzung von aufklärerischer Denkweise mit bürokratisch-absolutistischer Staatspraxis, die gegenüber verwandten Denkweisen und Haltungen nur verschwimmende Grenzen hat.“ Siehe BayHStA, wie Anm. 22, Schreiben Steinackers an Valjavec vom 31.12. 1944. 64 Neben anderen auch z.B. Heinrich Srbik zu der zweiten Auflage des Buches von Valjavec im Schreiben vom 12. 11. 1947, was sich auch in der Antwort von Valjavec wiederspiegelte: „Ich freue mich sehr, dass

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V Der Kontext des „reformkatholischen“ Diskurses in NS-Deutschland Nach den bisher gemachten Aussagen könnten wir zu folgendem – freilich, wie sich zeigen wird, vorschnellen – Schluss gelangen: Winters Interpretation des Josephinismus war zwar eine subjektive, weil sie mit der priesterlichen Karriere des Verfassers zusammenhing, in ihrem Wesen aber keine nationalsozialistische Geschichtsinterpretation. Die Schärfe der antiklerikalen Deutung sollte man, nach Winters Autobiographie, nur mit Hinweis auf die persönliche Biographie des Autors verstehen. Dieser geriet doch bereits 1937 in der Tschechoslowakei in Konflikt mit dem Prager Erzbischof, als Winters kirchenreformerische Vorschläge, die katholischen Diözesen national zu teilen, mit den Worten, das sei „Hypernationalismus“, abgelehnt wurden. Man darf tatsächlich nicht vergessen, dass das Josefinismus-Buch von einem seit Frühling 1941 verheirateten und gleich danach exkommunizierten Priester geschrieben worden war. Biographische Aspekte sind nicht zu unterschätzen, und sie sind früher auch zur Sprache gekommen. Doch stellt sich dann die Frage: Wie hätte denn eigentlich eine nationalsozialistische Deutung des Josephinismus auszusehen? Müsste sie antisemitische und rassistische sowie antirömische, antijesuitische und „anti-freimaurerische“ Aspekte in- bzw. exkludieren? Müsste sie klarer eine Geschichtslinie zur „gesamtdeutschen“ oder „volksdeutschen“ NS-Gegenwart aufzeigen? Nein, alle diese ideologischen Aspekte brauchte eine nationalsozialistische Interpretation des Josephinismus nicht zu enthalten. Darüber belehrt uns eine kurze lexikalische Abhandlung, die in einem groß angelegten, nationalsozialistischen Lexikon über Geschichte, Struktur und Wirkung der römisch-katholischen Kirche, herausgegeben von dem Hauptideologen Alfred Rosenberg, abgedruckt wurde. Das ganze Handbuch der Romfrage aus dem Jahre 194065 sollte sich „im Bekenntnis zur rassischen Weltanschauung“66 mit „einer Macht“ – also mit der katholischen Kirche – auseinandersetzen, „die einst gewaltig war, deren Kraft auch noch heute durch ihre lang geübte Zucht in unser Leben hineinragt“.67 Eine Auseinandersetzung bedeutete nach Rosenberg „sich der weltanschaulichen Position unserer Zeit auf allen Gebieten bewußt werden“ und verlangte eine neue Formulierung der bewegenden Ideen und Gestalten der deutschen Geschichte, ja eine „Darstellung eines wesentlichen Teils einer neumein Josephinismus Ihren sachkundigen Beifall gefunden hat.“ Selbst Winters persönliche Freunde, wie zum Beispiel der Münchener Osteuropaforscher Hans Raupach (1903–1997), schätzten das Buch von Valjavec, mindestens als eine Erweiterung Werkes von Winter: „Für besonders glücklich halte ich Ihre Art, diese Erscheinung im grösseren europäischen Rahmen zu erkennen. Darin haben Sie auch Winters verdienstvolle Arbeit ohne Zweifel wesentlich übertroffen.“ BayHStA, wie Anm. 22, Schreiben Raupachs an Valjavec vom 4. 10. 1948. 65 Alfred Rosenberg (Hg.), Handbuch der Romfrage, 1: A-K. Berlin 1940. Die weiteren zwei Bände sind in den Bibliotheken nicht zu finden und erschienen wahrscheinlich nicht. 66 Matthes Ziegler, Die Aufgaben des Handbuches. In: Alfred Rosenberg (Hg.), Handbuch der Romfrage, 1: A-K. Berlin 1940, VIII. 67 Alfred Rosenberg, Vorwort. In: Id. (Hg.), Handbuch der Romfrage, 1: A-K. Berlin 1940, V.

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en Weltgeschichte überhaupt“.68 Im Rahmen dieser nationalsozialistischen Geschichtskonstruktion der „immer jesuitischer werdenden Papstkirche“ erschien auch ein Stichwort über Josephinismus. Der anonyme Verfasser begriff Josephinismus als ein staatskirchliches System im Österreich des Kaisers Josephs II., „das die Oberhoheit des absolutistisch regierten Nationalstaates gegenüber dem päpstlich-jesuitischen Universalismus zur Durchführung brachte“.69 Wie in Renaissance und Reformation wurzelte es im aufklärerischen „Protest gegen das biblisch-kirchliche Denken“ und in den nationalkirchlichen Bewegungen des Febronianismus und Gallikanismus, welches in Österreich durch Männer wie Joseph von Riegger, Carl Anton von Martini, Joseph von Sonnenfels und anderen verbreitet wurde. Während sich zur Zeit Maria Theresias die Kaiserin noch nur als eine Schutzherrin der Kirche fühlte, versuchte Joseph II. den ganzen „Organisationsapparat der römischen Kirche soweit als möglich aus der Verbindung mit dem Papsttum zu lösen und in staatliche Leitung und Verwaltung zu nehmen“. Er traf über 6000 Anordnungen und Verfügungen zur Regelung des kirchlichen Lebens. Gegenüber der traditionellen katholischen Auffassung von der negativen Wirkung des Josephinismus schrieb der Verfasser der josephinischen Politik positive Wirkung zu, weil sie „nach Grundsätzen der ‚gesunden Menschenvernunft‘“ geregelt worden war. Letzte Motivation des Kaisers war aber keine Reform, ein Begriff, der in der kurzen Abhandlung überhaupt nicht zu finden war, sondern Staatskirchentum, weil die Kirche im Staat ist, „und dem Souverän kommt es zu, sie den weltlichen Gesetzen unterzuordnen und ihre Diener in derselben Abhängigkeit wie die anderen Untertanen zu erhalten“. Diese NS-Deutung des Josephinismus war antijesuitisch, antipäpstlich, in einem Wort „antirömisch“ und konzentrierte sich auf Kampf zwischen Staat und Kirche. In Winters Buch über den Josephinismus findet man auf den ersten Blick klare Antipathie gegen die Jesuiten als Vertreter einer angeblichen theologischen Starrheit, von Macht, Gewalt und „römischem“ Zentralismus. Von Anfang bis Ende kritisiert das Buch die römisch-katholische Kirche. Der Verfasser steht bewusst und eindeutig auf Seite der Jansenisten, Gallikanisten, Febronianer und all derer, die entweder in Konflikt mit der katholischen Kirche geraten waren oder eine autonomistische landeskirchliche Organisation anstrebten, die den päpstlichen Einfluss einzuschränken versuchte. Etwas Ähnliches – wenn auch nicht so zugespitzt – konnte man bei Sebastian Merkle (1862–1945)70 in seiner Beurteilung der Aufklärung aus dem Jahre 1908 lesen.71 Der Würz68 Rosenberg, Vorwort, wie Anm. 68, V. 69 Art. Josephinismus. In: Alfred Rosenberg (Hg.), Handbuch der Romfrage, 1: A-K. Berlin 1940, 688f. Hier auch weitere Zitate. 70 Hubert Wolf, Milieustabilisierende Apologie oder Schnittstelle zur Moderne? Sebastian Merkle und seine Konzeption von Kirchengeschichte im Spannungsfeld von Gegengesellschaft und Integration. Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 21, 2002, 123–140, und Theobald Freundenberger, Sebastian Merkle – Ein Gelehrtenleben, in: Sebastian Merkle, Ausgewählte Reden und Aufsätze (Würzburg 1965), 1–57. 71 Sebastian Merkle, Die katholische Beurteilung des Aufklärungszeitalters. In: Id., Ausgewählte Reden und Aufsätze. Würzburg 1965, 361–413. Vgl. Id., Um die rechte Beurteilung der sogenannten Aufklärungszeit. In: Ebenda, 414-420.

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burger Kirchenhistoriker Merkle versuchte Aufklärung in der katholischen Geschichtsschreibung zu rehabilitieren, indem er Kritik an ahistorischen Zugängen der katholischen Historiker seiner Zeit übte, da diese in die Vergangenheit allzuviel kämpferische Leidenschaft der Gegenwart hineintrugen. Anstelle der üblichen katholischen Skizzierung dunkler Zeiten des Glaubens und des Unterganges der prachtvollen Barock-Religiosität stellte er die Katholische Aufklärung als einen berechtigten, manchmal aber zu radikalen theologischen Erneuerungsversuch dar, der eine notwendige Reform des veralteten und mit dem philosophischen und wissenschaftlichen Denken nicht mehr zeitgenössischen Katholizismus anstrebte. Für Merkle, der sich auch über Kaiser Joseph II. einige Male positiv äußerte, war Aufklärung „das Durchgangsstadium zu einer neuen Zeit“.72 Merkle gehörte zu den Sympathisanten der modernistischen Reformbewegung in der katholischen Kirche an der Wende des 19. und 20. Jahrhunderts und Winter, der Merkle seit Anfang der 1930er Jahren persönlich kannte und seine Werke hoch schätzte, ging unentwegt in seinen Spuren.73 Winter verwendete den modernistischen Reformkatholizismus als Muster für seine eigene Definition des Reformkatholizismus. Die antijesuitischen und antirömischen Aspekte wurden, auch wenn sie weniger ausgeprägt daherkamen, offensichtlich ursprünglich vom modernistischen Reformkatholizismus beeinflusst. Und jede Übereinstimmung des reformkatholischen Gedankengutes mit der nationalsozialistischen Ideologie und Politik gegen die katholische Kirche konnte demnach natürlich nur zufällig oder nur parallel sein. Neuere Forschungen auf dem Gebiet der Theologiegeschichte, vor allem von der saarländischen Historikerin Lucia Scherzberg, zeigen aber, dass es auch pro-nationalsozialistische reformkatholische Theologen gab.74 Diese Theologen entwarfen ein kirchenreformerisches Programm, in dem man von einer von Rom unabhängigen „völkisch“ organisierten katholischen Kirche im Rahmen einer wiedervereinigten und zugleich völkischen Glaubensgemeinschaft mit den deutschen evangelischen Kirchen träumte und an eine „kirchliche Revolution“ durch Unterstützung des NS-Regimes glaubte. Im Dritten Reich – vor allem in den Kriegs72 Merkle, Die katholische Beurteilung, wie Anm. 71, 413. 73 Winter selbst hat sich zu Merkle im Nachwort der DDR-Ausgabe von Josefinismus (Seite 357) geäußert. Über seine persönliche Begegnung und Freundschaft mit Sebastian Merkle siehe z.B. Eduard Winter, Mein Leben im Dienst des Völkerverständnisses. Nach Tagebuchaufzeichnungen, Briefen, Dokumenten und Erinnerungen, 1. Berlin 1981, 84f., 128f. 74 Siehe vor allem Lucia Scherzberg, Das Kirchenreformerische Programm pro-nationalistischer Theologen. Umwälzung kirchlicher Strukturen, zeitgemäße Theologie und Wiedervereinigung der getrennten Kirchen. In: Lucia Scherzberg (Hg.), Theologie und Vergangenheitsbewältigung. Eine kritische Bestandaufnahme im interdisziplinären Vergleich. Paderborn – München – Wien – Zürich 2005, 56–70; Ead., Kirchenreform mit Hilfe des Nationalsozialismus. Karl Adam als kontextueller Theologe. Darmstadt 2001; Ead., Karl Adam und der Nationalsozialismus. Saarbrücken 2011. Ich danke Frau Prof. L. Scherzberg herzlichst für die sehr freundliche Versendung beider letztgenannten Bücher. Zur Theologie im Nationalsozialismus allgemein vgl. Georg Denzler / Leonore Siegele-Wenschkewitz (Hg.), Theologische Wissenschaft im „Dritten Reich“. Ein ökumenisches Projekt. Haag 2000, darin besonders: Georg Denzler, Katholische Zugänge zum Nationalsozialismus. In: Ebenda, 40–67.

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jahren – war also auch ein reformkatholischer Diskurs lebendig, der sich mit der Hoffnung auf eine kirchliche Reform in Zusammenarbeit mit dem Nationalsozialismus verband. Mindestens einmal versuchte Winter in Kontakt mit diesen Theologen zu kommen. In einem von Lucia Scherzberg zitierten und leider undatierten Brief schilderte er seine reformkatholische Enttäuschung. „In den Jubel der Heimholung des Sudetenlandes kam bald der Paukenstoss der sicheren Erkenntnis, dass es zwischen dem neuen Deutschland und der katholischen Kirche keine Bindung gibt. Diese Erkenntnis bedeutete die Vernichtung einer Lebensaufgabe, der ich beste Kräfte geopfert habe.“75 Sein Josefinismus-Buch gehörte zumindest indirekt zu diesem pro-nazistischen-reformkatholischen Diskurs, was der ursprüngliche und später abgeänderte Untertitel Josefinismus – Eine Tragödie des Reformkatholizismus und auch die ursprüngliche, etwas monotone Benennung der Hauptkapitel im Manuskript ausdrücken sollten.76 Das Manuskript bestätigt die prinzipiell reformkatholische Einstellung des Buches noch auf eine weitere Weise. Es enthält ein später ausgeschlossenes Unterkapitel (das letzte im vierten Hauptkapitel, siehe Anhang 1 zu diesem Beitrag), in dem ein Briefwechsel zwischen Bernard Bolzano und seinem Freund, dem Geistlichen Anton Stoppani (1778–1836), über die Perfektibilität des Katholizismus, also über die Möglichkeit einer Reform des Katholizismus, fast leidenschaftlich diskutiert wurde.77 Außer dem erwähnten Brief konnte aber keine engere Beziehung Eduard Winters zu dieser Gruppe der pro-nationalsozialistischen reformkatholischen Theologen festgestellt werden. Es ist dennoch längst bekannt, dass Winter – und, nach einem Buch über die Nazi-Spionage gegen den Vatikan, wahrscheinlich auch Sebastian Merkle78 – bezüglich einiger Themen (vor allem der Problematik der Orthodoxen Kirchen) mit einem Abteilungsleiter im RSHA (Reichssicherheitshauptamt), SS-Sturmbannführer Albert Hartl (1904–1982), dessen Abteilung die Aufsicht über die „politischen Kirchen und Juden“ ausübte, zusammenarbeitete.79 Hartl stellte sich das Ergebnis der kirchlichen NS-Politik in Deutschland überhaupt nicht im Sinne einer reformierten katholischen Kirche vor. Obwohl er auch ein ehemaliger ka75 Zitiert nach Scherzberg, Kirchenreform mit Hilfe des Nationalsozialismus, wie Anm. 74, 165. 76 AHMP, NL Eduard Winter, Nr. 45, Manuskript Josefinismus. Abgesehen vom ersten Hauptkapitel sollten weitere Hauptkapitel ursprünglich auch andere Titel tragen: 2. Theresianischer Reformkatholizismus, 3. Der eigentliche Josefinismus oder Josefinismus Josefs II. oder Der Höhepunkt unter Josef II., 4. Der franziszeische Nachjosefinismus oder Der nachjosefinische Reformkatholizismus in der franziszeischen Zeit, 5. Der spätjosefinische Reformkatholizismus. 77 Ebenda. Das Unterkapitel hieß einfach „Über die Perfektibilität des Katholizismus“. Viele Jahre später hat Winter ein Buch mit demselben Titel herausgegeben: Eduard Winter, Über die Perfektibilität des Katholizismus. Grundsätzliche Erwägungen in Briefen von Pascal, Bolzano, Brentano und Knoll. Berlin 1971. 78 David Alvarez / Robert A. Graham, Nothing Secret. Nazi Espionage against the Vatican 1939–1945. London – Portland 1997, 57. 79 Zu Albert Hartl siehe neben dem Buch von Alvarez und Graham vor allem: Wolfgang Dierker, Himmlers Glaubenskrieger. Der Sicherheitsdienst der SS und seine Religionspolitik 1933–1941. Paderborn – München – Wien – Zürich 2002, und, kürzer, von demselben auch: „Niemals Jesuiten, niemals Sektierer“, Die Religionspolitik des SD 1933–1941. In: Michael Wildt (Hrsg.), Nachrichtendienst, politische Elite, Mordenheit, Der Sicherheitsdienst des Reichsführers SS. Hamburg 2003, 87f.

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tholischer Priester und 1934 aus der Kirche ausgetreten war, meinte er, dass das wirkliche Ziel der kirchlichen Politik des Nationalsozialismus die totale Zerschlagung des kirchlichen Lebens sei. Unter dem Pseudonym Anton Holzner publizierte er auch verschiedene Broschüren über Grundsätze der nationalsozialistischen Gottgläubigkeit und Moral. Einen fast programmatischen Platz gewann sein scharfes antikatholisches und antikuriales Pamphlet, das unter dem Titel Priestermacht die angebliche diktatorische Herrschaft des Klerus und angeblich verhängnisvolle Konsequenzen der priesterlichen Tätigkeit auf die deutsche Volksgemeinschaft beschrieb und kritisierte.80 Obwohl Winter Hartls radikale Meinung über die Tätigkeit der Priesterschaft in der Volksgemeinschaft überhaupt nicht teilte,81 konnte Hartl sicherlich guten Gewissens jeden Versuch – auch jenen Winters – unterstützen, der auf die Abschwächung des katholischen Blocks abzielte. Genau diesen Aspekt meinte der am Anfang dieses Aufsatzes genannte Ferdinand Maaß, indem er von Winters „Kampfbuch gegen die katholische Kirche“ sprach und auf gewisse Aspirationen der NS-Machthaber hinwies. In diesem Lichte will ich zum Schluss noch einmal auf Eduard Winters Definition des Josephinismus zurückkommen. Winter sah im Josephinismus einen „Ausdruck des Protestes des germanischen Menschen gegen den römischen Formalismus“.82 Diese Deutung war in jedem Fall völkisch und rassisch gemeint. Bereits in Februar 1939 schrieb Winter über den Jansenismus, der nach seinem Verständnis die theologische und religiöse Grundlage des Josephinismus darstellte, dass dieser „im Kern ein Ausdruck des christlich-germanischen Reformwillens und Innerlichkeit“ war.83 Dürfen wir die Benutzung einer solchen völkischen/ rassischen Sprache als Modeerscheinung betrachten, ist es angebracht, dieses Vokabular als eine äußere sprachliche Strategie zu entlarven, die als Anpassung des Verfassers an das neue Regime zu verstehen ist? Obwohl ich in dieser Frage nicht ganz sicher bin, würde ich sie negativ beantworten: Es handelt sich hier wohl vielmehr um einen Ausdruck der Übereinstimmung und Übernahme gewisser NS-ideologischer Grundsätze, die vor allem im programmatischen Weltanschauungs-Buch von Alfred Rosenberg, Mythus des 20. Jahrhundert, enthalten waren. Gerade in den Jahren 1938/39 beschäftigte sich Winter öfters mit dem Buch, in dem von Rosenberg eine rassische – „deutschartige“ – „nordische“ Theologie und die Hoffnung auf eine zukünftige Deutsche Volkskirche postuliert wurden. Nach Winters Autobiographie aus den 1970er Jahren fühlte er sich von diesem Buch in einigen Aspekten – vor allem in der Kritik des „Systems“ der römisch-katholischen Kirche – angesprochen.84 Bei Rosenberg 80 A. Hartl publizierte unter dem Pseudonym Anton Holzner vier kleine Bücher: Das Gesetz Gottes. Berlin 1939; Ewige Front. Berlin 1940; Priestermacht. Berlin 1941; Zwinge das Leben. Berlin 1941. 81 Man vergleiche damit Wichtigkeit und Rolle des Priesters im Konzept des Josephinismus überhaupt. 82 Winter, Der Josefinismus, wie Anm. 6, 479. 83 Eduard Winter, Der Jansenismus im Sudetenraum. In: Forschungen und Fortschritte 15/6 (20. Februar 1939), 75f., auch in: Der Jansenismus in Böhmen und Mähren und seine Bedeutung für die geistige Entwicklung Österreich-Ungarns. In: Südostforschungen 7 (1942), 440–455. Ähnliche rasissche Argumentation auch in anderen Texten dieser Zeit, etwa: Winter, Byzanz und Rom, wie Anm. 17. 84 Winter empfand eine Übereinstimmung mit Rosenbergs Kritik des römischen Kurialismus und Zentralismus, angeblich nicht aber mit der rassischen Geschichtsphilosophie Rosenbergs. Dies konnte aber eine spätere Vernebelung der Tatsachen sein. Näher siehe Němec, Eduard Winter, wie Anm. 10, 698.

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war Luther ein germanischer Reformator, der die nordische Seele aus den „jüdisch-christlichen“ Ketten befreien wollte. Wenn Winter seinen Josephinismus als eine „Reformation des 18. Jahrhunderts“ präsentierte und ihn mit Luthers Reformation direkt verglich,85 meinte er etwas Ähnliches wie Rosenberg: Der josephinische Kampf um die Innerlichkeit und gegen die „römische“ Äußerlichkeit und den „römischen“ Formalismus lag im Wesen (also in der Biologie) des germanischen Menschen. Und wie Luther waren auch die Jansenisten und Anhänger des Josephinismus nach Winter meistens nur Deutsche – also Personen von „nordischer“ Abstammung. So kam Winter dem Denken des NS-Hauptideologen näher als der Verfasser des Absatzes im offiziösen von Rosenberg selbst herausgegebenen Handbuchs zur Rom-Frage. Winters Josephinismus enthielt im Rahmen des reformkatholischen Diskurses auch eine wichtige Botschaft. Eine „durchgreifende Kirchenreform“, die vom Inneren der Kirche ausgeht, war nach Winter angeblich kaum möglich, weil das ganze römische System des Kurialismus von Anfang an verdorben war. „Die Anregung mußte von außen kommen oder durch einen inneren revolutionären Prozeß ausgelöst werden“,86 schrieb Winter. Der damals in ganz Deutschland bekannte Tübinger Theologe Karl Adam (1876–1966), der ebenfalls zum Kreis der pro-nazionalsozialistisch-sympathisierenden Theologen gehörte, schrieb in einem privaten Brief: „E. Winters Buch über den ‚Josephinismus […]‘ hat mich von neuem darüber belehrt, dass es unter den heutigen Verhältnissen völlig aussichtslos ist, durch privates, persönliches Tun oder Leiden eine Reformation der Kirche zu erzwingen. In den Josephinischen Kämpfen folgte eine Indizierung der andern, eine Suspension der andern – u. doch blieb die Öffentlichkeit davon unberührt. Rom blieb Sieger. Seit dem Vatikanum ist es (wenn auch nicht in der Theorie, so doch in der Praxis) doch so, dass es nur mehr ein Pneuma in der Kirche gibt, das des Papstes, u. dass die kirchliche Gläubigkeit darin besteht, an diesem einen päpstlichen Pneuma teilzunehmen. […] Eine Umgestaltung kann nur von außen kommen also auf dem Wege der Gewalt. Dann wird der unvergängliche Geist Christi neues Leben

85 Siehe dazu die Besprechung des Josefinismus-Buches durch den Tübinger Rechtsphilosophen Walter Schönfeld (1888–1958) in der Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 64, Kanonistische Abteilung 33 (1947), 343–352. Schönfeld stimmt mit Winters Gleichsetzung von Josephinismus und Reformation überein und empfindet die rassisch gefärbte Argumentation nicht als anstößig; dies vor allem auf 351f., wo Schönfeld auf die nicht klar beantwortete Frage in Winters Buch eingeht und zwei verschiedene Erklärungen in den Raum stellt: „Daran knüpft der Verf. die ernste Frage: ‚Woher kommt eigentlich die immer stärker werdende Empfindlichkeit Roms, wie sie im Verhalten dem Josefinismus gegenüber hervortritt? […] Kommt es von der zunehmenden Altersschwäche und Verkalkung der Kirche, verbunden mit der technisch-mechanischen Zentralisierung und Bürokratisierung der modernen Zeit, wie der Verf. meint, oder kommt es etwa daher, daß seit der Reformation das römische über das germanische Element in der Kirche ein unheilvolles Übergewicht gewonnen hat, so daß sie eben nicht mehr katholisch im vollen Sinne dieses Wort ist; sagt uns doch auch der Verf. […], daß der Josefinismus ebenso wie die Reformation, mit der er deshalb zu Recht verglichen werde, der Ausdruck des ‚Protestes des germanischen Menschen gegen den römischen Formalismus‘ sei.“ 86 Winter, Der Josefinismus, wie Anm. 6, 407.

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aus den Ruinen locken …“.87 Adam entnahm seiner Lektüre von Winters Josephinismus also eine wichtige Erkenntnis: Ohne Eingriff des Staates, also des NS-Staates nach dem erwarteten Endsieg, konnten die kirchlichen Verhältnisse im Sinne der Kirchenreform nicht verändert werden.88

VI Schlussbemerkung Ob Winter selbst diese Hoffnungen teilte, kann mangels geeigneter Quellen nicht gesagt werden. Etwas Hoffnung auf eine allgemeine Reform der katholischen Kirche blieb ihm sicherlich, weil er eine zweite Ausgabe des Josefinismus vor allem mit Blick auf das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) herausgab.89 In der Zeit des Nationalsozialismus war es aber vielleicht anders. Von den Prager SD-Offizieren wusste er bereits im Sommer 1941, dass es kein wirkliches Interesse an einer völkischen Reform der katholischen Kirche, einer katholischen Volkskirche seitens des NS-Regimes gab.90 Trotzdem war sein Buch ein geschichtswissenschaftliches Kampfbuch gegen die römisch-katholische Kirche. Wie es im Vorwort stand, sollte ein Bild gemalt werden, „das vor allem Nichtkatholiken Einblick gibt in den Katholizismus, wie er wirklich ist“.91 In den Augen dieser ideologisch mächtigsten Männer im Protektorat Böhmen und Mähren war die ganze gegenkirchliche Auffassung aber noch eher mild.92 Das Josefinismus-Werk Eduard Winters, das von der Geschichtswissenschaft seiner Zeit nicht wirklich angenommen worden war, begreife ich vor allem als Produkt eines stark enttäuschten reformkatholischen Priesters nationalistischer Prägung, der eine Brücke zwischen katholischer Kirche und dem Nationalsozialismus schlagen wollte, dem aber die Hoffnung auf eine katholische Reform abhanden gekommen war und der anhand einer Materie aus 18. Jahrhundert analysieren wollte, warum eine Kirchenreform nicht möglich war. „Für mich war die Arbeit ein Ablösen von mir sehr nahe gehenden Fragen. Vor allem warum

87 Schreiben Adams an Oskar Schroeder vom 15. Juli 1944. Zit. nach Scherzberg, Kirchenreform, wie Anm. 74, 309. Ähnlich auch: Ead., Karl Adam, wie Anm. 74, 163f. 88 Scherzberg, Kirchenreform, wie Anm. 68, 310; Ead., Karl Adam, wie Anm. 74, 166. 89 Winter verstand das Zweite Vatikanische Konzil als letzte Reformerscheinung in der langen Reihe von Reformversuchen der katholischen Kirche, die mit dem Defensor Pacis von Marsilius von Padua begann und in der der österreichische Josefinismus eine wichtige Rolle spielte. Siehe dazu vor allem Winters kleinere Vorträge und Texte: Josefinismus und Gegenwart. Wilhelmshaven 1962; Josefinismus in Österreich. In: Forschungen und Fortschritte 37 (1963), 114–116. 90 Siehe dazu Němec, Eduard Winter, wie Anm. 10, 655. 91 Winter, Der Josefinismus, wie Anm. 6, VII. 92 Das Buch – einem Polizeiverhör des Chefs der Prager SD Walter Jacobi nach – wurde „in sehr sachlicher Form und ohne besondere Spitzen gegen die katholische Kirche“ herausgegeben und wurde sonst „wissenschaftlich sehr beachtet […] und im ganzen Reich positiv aufgenommen.“ Winter war bei dem Prager SD als ein Wissenschaftler, der sich „mit religionsgeschichtlichen Fragen des Katholizismus und vor allem [!] der östlichen Kirchen“ beschäftigte, eingeschrieben. Archiv bezpečnostních složek (Archiv der Sicherheitsdienste, Prag), 305–638–2, 83f., Verhör von Jacobi über E. Winter vom 2. 12. 1946.

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hat sich ein Reformkatholizismus, den ja auch ich mit der ganzen Kraft vertrat, nicht durchgesetzt.“93 Winter bestätigte sich dabei in der aus seiner eigenen Biographie entnommenen Überzeugung – die er mit dem Nationalsozialismus und später mit dem Bolschewismus teilen konnte – vom machtpolitischen Wesen der römisch-katholischen Kirche, die er in seinen späteren Arbeiten nur als Machtapparat oder Machtkirche im Gegensatz zu einer unsichtbaren Kirche von Christus begreifen würde. Aus dem „sudetendeutschen“ nationalistischen Lager kommend, baute er seine reformkatholische Argumentation in das völkisch-rassische Paradigma des Nationalsozialismus ein. In diesem Deutungsrahmen versuchte er das Phänomen des Josephinismus als eine neue „germanische“, aber zuletzt gescheiterte Reformation zu verstehen und geschichtsphilosophisch und kirchengeschichtlich einzuordnen. Und in diesem Sinne ist Eduard Winters Interpretation ohne Zweifel als eine NS-Interpretation des Josephinismus zu verstehen.

93 AHMP, NL Rudolf Schreiber, Schreiben Winters an Schreiber vom 15. 1. 1944.

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Anhang 1: Edition eines ausgeschiedenen Unterkapitels des Buches Der Josefinismus und seine Geschichte von Eduard Winter (1943)1 Original: Archiv hlavního města Prahy, Nachlass Eduard Winter, Manuskript Josefinismus, 512– 526. Die Verschreibung des Namens Carové am Beginn von Seite 520 deutet darauf hin, dass das maschinschriftliche Manuskript diktiert und dann von Winter mit der Hand überarbeitet wurde. Diese handschriftlichen Passagen werden in Petitdruck wiedergegeben. – Verschreibungen und Korrekturen, deren Sinn nicht ersichtlich ist, werden ignoriert, die Interpunktion bei Korrekturen angepasst. Abkürzungen werden nur aufgelöst, wenn ihr Sinn nicht unmittelbar ersichtlich ist. [512] 4. Um die2 Perfektibilität des Katholizismus In den Jahren 1832/33 wechselte Bolzano mit seinem Freund Johann Stoppani Briefe, die ihren Inhalt und Umfang nach Abhandlungen sind, über3 die Perfektibilität des Katholizismus4. Dieser Briefwechsel ge-

hört5 zu den interessantesten Auseinandersetzungen über den Reformkatholizismus überhaupt6. Er blieb leider unvollendet, hauptsächlich durch den vorzeitigen Tod Stoppanis. Trotzdem7 erschien der Briefwechsel freilich erst8 1845 im Druck,9 ohne die Beachtung zu finden, die er verdient hätte, und heute ist er noch nicht einmal in den grossen Bücherein zu finden10. Es ist deswegen wichtig ihn wiederum weiteren Kreisen zur Kenntnis zu bringen. Die Stoppanis stammten wie die Bolzanos von den Ufern des Comersees. Der Vater Stoppani11 lebte als Kaufmann in Dresden und war mit einer Dresdnerin verheiratet. Aus dieser Verbindung ging 1778 der Freund Bolzanos12 Anton Stoppani hervor. Nach dem Tode ihres Mannes zog die Witwe nach Prag, wo sie mit ihrer Hände Arbeit ihr Brot verdiente. Bereits in der Volksschule am Thein schloss Stoppani mit dem um drei Jahre jüngeren Bolzano eine 1 2 3 4

5 6 7 8 9

Ich danke Thomas Wallnig, Viktorie Ghiberti und meiner Familie für ihre freundliche Hilfe bei der Vorbereitung der Edition. Korrigiert aus Von der. Danach durchgestrichen diese Themen das Thema. In den … Katholizismus anstelle der folgenden Passage am Seitenrand eingefügt: Sein Jugendfreund Stoppani sah darin viel klarer. In einem ausführlichen Briefwechsel, der 1832/33 stattfand, suchte er Bolzano zu überzeugen, dass sein reformkatholischer Standpunkt unhaltbar sei. Danach durchgestrichen mit den. Korrigiert aus den es überhaupt gibt. Danach durchgestrichen erschien. der … erst korrigiert aus aber auch so abgebrochen. Danach durchgestrichen freilich. – Als Anmerkung mit Verweiszeichen am Seitenrand ergänzt: Über die Perfektibilität des Katholizismus. Streitschriften zweier katholischer Theologen; zugleich ein Beitrag zur Aufhellung einiger wichtigen Begriffe aus Bolzanos Religionswissenschaft, Leipzig Voss 1845.

10 und … finden über der Zeile eingefügt. 11 Korrigiert aus Stoppanis. 12 der Freund Bolzanos am Seitenrand eingefügt.

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Freundschaft, die das ganze Leben währte. Im Jahre 1800 trat Stoppani in das Prämonstratenserstift Strahov ein13, wo er den Namen Johannes Evangelist erhielt. Sehr bald14 erkannte er eher15 das Ordensleben so wie es sich ihm bot16 als „geschäftigen Müssiggang“.17 Ein Trost für den philologisch und historisch ungemein begabten Stoppani war es18 die Lehrkanzel für Bibelwissenschaft an der Prager Universität seit 1809 vertreten zu können. Doch wurde schon19 [513] 181320 die Lehrkanzel mit dem schwäbischen Benediktiner Zängerle besetzt. Die Jahre 1809–1813 „die ich an der Universität verlebte, waren die zwar kurze aber schönste Zeit meines Lebens“,21 schreibt er später einmal an Bolzano. Er hat sich auch weiterhin soviel der „geschäftige Müssiggang“ im Kloster es zuliess, mit wissenschaftlichen Arbeiten beschäftigt. Eine Reihe von wertvollen Arbeiten zur neutestamentarischen Exegese erschien in der von Frint begründeten „Theologischen Zeitschrift.“22 Stoppani23 suchte zwischen der radikalen protestantischen Bibelkritik, die damals grosse Triumphe feierte24, und der starren katholischen Ueberlieferung einen Mittelweg zu finden. „Diese Mittelstrasse jeder Zeit zu beachten, war immer der Zweck meiner literarischen Bemühungen. Wie wenig geneigt ich sei den Aberglauben, den Obskurantismus unter was immer für einer Gestalt sie auftreten mögen, auf irgend eine Art zu hofieren, davon glaube ich selbst in den Mauern meines Klosters und vielleicht nirgend stärker als da, mehr als einen Beweis geliefert zu haben … Aber allein so sehr jede Schrift missfällt, die es sich zum Geschäft macht alte Vorurteile wieder hervorzusuchen, liebevolle Ansichten im Gebiete des menschlichen Wissens zu verdrängen, der Denkfreiheit Fesseln anzulegen, uns wieder in die Finsternis barbarischer Jahrhunderte zurückzuführen, ebenso wenig gefällt es mir, wenn andere Männer vielleicht aus allzu grosser Vorliebe

13 Danach durchgestrichen wohl hauptsächlich um seiner Mutter einen schönen Lebensabend zu bereiten. Freilich musste er diese Gesinnung hart büssen. Er erkannte sehr rasch, dass das Kloster seine geistige Entwicklung hemmen werde. Aber Stoppani wollte den einmal eingeschlagenen Weg nicht mehr ändern. Im Kloster wurde er Johann Evangelist genannt. 14 Korrigiert aus Rasch. 15 Sehr bald … eher neben der Zeile eingefügt. 16 so … bot korrigiert aus empfand er. 17 Als Anmerkung mit Verweiszeichen am Seitenrand ergänzt: Eine bis jetzt nur handschriftlich erhaltene Biographie Stoppanis von B. Bolzano aus dem Jahr 1848 in Bolzano N[achlass].

18 Ein Trost … war es korrigiert aus und empfand es deswegen als ein grosses Unglück. Der für Philologie und Geschichte ungemein begabte Stoppani empfand es deswegen als grosses Glück. 19 Neben der Zeile eingefügt. 20 Danach durchgestrichen also nach wenigen Jahren. 21 Als Anmerkung mit Verweiszeichen am Seitenrand ergänzt: Briefe Stoppanis an Bolzano. Bolzano N[achlass]. 22 Als Anmerkung mit Verweiszeichen am Seitenrand ergänzt: Lehrte Jesu und seine Apostel das nahe Ende der Welt und die baldige Wiederkunft des Messias auf Erden. 1. Bd. 1813 1. H. S. 83ff. Einige Ideen zur Beurteilung des moralischen Teiles des Schriften des A.B. 2. Bd. 1. H. 1848 S. 89ff. [Danach

durchgestrichen: Über den Geist] Später veröffent-

lichte Stoppani in der Neuen Theologischen Zeitschrift die ein Schüler Frints namens Pletz herausgab: Über den Geist echt christlicher Polemik und den Wert derselben. 1. Z. 1828 S. 62ff.

Davor durchgestrichen Stoppani schrieb über den Brief

Barabas, über das Johannesevangelium und über die Versteigung in Religionsstreitigkeiten.

23 Über der Zeile eingefügt. 24 Triumphe feierte korrigiert aus Triumphe zu feiern begann.

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für alles Neue solche Meinungen und Grundsätze im Umlauf zu bringen suchen, die notwendigerweise jede positive Religion verbannen müssen.“25 Stoppani wendet diesen allgemeinen Grundsatz auf die Exegese im besonderen an. Lessings exegetische Versuche stehen im Mittelpunkt des Interesses. Sie werden von Stoppani gewürdigt aber doch als zu radikal abgelehnt.26 [514] Besonders die27 Wunderschau Lessings kann Stoppani nicht verstehen. „Warum sollte Gott, der das Samenkorn wachsen lässt, nicht auch einen Gestorbenen wieder auferstehen lassen?“ Aber der Hauptgrund für die Ablehnung solcher radikalen Auffassungen ist für Stoppani die Erfahrungsgeschichte der Menschheit, die eine positive Religion braucht und die wieder besonders wie das Christentum auf Wunder begründet ist. Stoppani stand geistig, wie schon seine Mitarbeit an der Theologischen Zeitschrift Frints zeigt, der österreichisch-katholischen Restauration nahe. Er war eben nicht nur mit Bolzano eng befreundet sondern auch scharfsinnig genug die Krebsstadien in der Kirche zuerkennen. An eine durchgreifende Reform wie sie Bolzano auf Grund seines Begriffsgebäudes von Religion und Kirche ihm [sic] vorschwebt kann Stoppani nicht glauben. Bolzano ist begierig sich mit Stoppani auseinanderzusetzen.28 „Wohl liess ich Sie lange darauf warten“ antwortet Stoppani auf das Drängen Bolzanos,29 „allein ich kann mir das Zeugnis geben, dass ich [sic] seitdem ich diese

Kontroverse begann und Sie sich bereit zeigten an derselben teilzunehmen, meinen Geist fast nichts mehr beschäftigt als dieser Gegenstand, wenn auch Geschäfte ganz heterogener Art, denen ich mich nicht entziehen konnte, meine Zeit teilen. Der Gegenstand, den wir beide besprechen, ist für mich wenigstens von grösster Wichtigkeit. Obschon von jeder öffentlichen Tätigkeit getrennt, nehme ich doch Anteil an dem Wohl meiner Mitmenschen … In welchem Zeitalter fanden wohl jene, die sich berufen fühlten, auch nur den kleinsten Teil zur [515] Verbreitung des Wahren und Guten beizutragen, eine grössere Aufforderung ihre Hände nicht in den Schoss zu legen als eben in unseren Tagen, in denen der Kampf der Gegensätze immer grösser ans Licht tritt, der Kampf, der keineswegs durch eine Verachtung ausgeglichen werden kann, wie es freilich die Gutmütigkeit des Menschenfreundes glauben zu

25 Als Anmerkung mit Verweiszeichen am Seitenrand ergänzt: Brief Stopp. an Fesl v. 16. März 1818. Fesl N[achlass].

26 Danach durchgestrichen Was die. 27 Besonders die über der Zeile eingefügt. 28 Stoppani stand … auseinanderzusetzen anstelle der folgenden Passage am Seitenrand eingefügt: Schon 1818 tritt also Stoppani den Auffassungen Bolzanos von Wunder, Offenbarung entgegen. Stoppani ist viel zu sehr Historiker und Philologe um sich mit den Begriffsableitungen Bolzanos zufrieden zu stellen. [Danach durchgestrichen Er sieht deswegen auch] Den Gegensatz Bolzanos zur katholischen Ueberlieferung empfindet er immer [korrigiert aus sehr] klarer [korrigiert aus klar] und leidet darunter, während Bolzano bekanntlich seitdem er sie einmal begrifflich [über der Zeile eingefügt] gefasst hat, nie von solchen Zweifeln geplagt wurde. Stoppani sieht einerseits die Mängel der katholischen Kirche, die unfreie Starrheit, mit der sie an längst Ueberwundenem festhält, anderseits aber scheut [über der Zeile eingefügt] er keinen Weg wie Bolzano für die Weiterentwicklung. Mit grosser Sorgfalt und nachdem er lange vorher geprüft, schreibt er seine [danach durchgestrichen Aufsätze] Briefe, die den Umfang von Aufsätzen haben. Als Bolzano ihn drängte doch vorwärts zu machen, antwortete ihm Stoppani. 29 antwortet … Bolzanos über der Zeile eingefügt.

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können versucht werden dürfte.“30 Es dauerte Stoppani31 vor allem das Schicksal „so manchen hoffnungsvollen jungen Mannes, der von besten [sic] Geiste beseelt mit den redlichsten Vorsätzen den geistlichen Stand wählt und bald einsehen wird, dass das Ideal eines vervollkommneten Katholizismus unter die Täuschungen gehört, die mit der Wirklichkeit in einen so auffallenden Kontrast treten.“ Mit diesen Worten ist das Anliegen Stoppanis umrissen. Von der Perfektibilität des Katholizismus, die ihm Bolzano immer wieder vortrug, kann sich der Historiker und Exeget keineswegs überzeugen, vor allem wenn er das Tridentinum beachtet. Dies zu zeigen nimmt sich Stoppani als Aufgabe seines ersten Briefes vom 14. Jänner 1832. Vor allem die „Wünsche für eine zeitgemässe Reformierung der katholischen Kirche in Sachsen“,32 in der nach Freiheit von Rom, Aufhebung des Zölibates, Abschaffung der Ohrenbeicht, der Möglichkeit der Ehescheidung und Gebrauch der Muttersprache in der Liturgie gerufen wird, prüft Stoppani und kommt zur Ueberzeugung, dass solche Forderungen von der katholischen Kirche immer abgelehnt werden. Zusammenfassend erklärt er: „Ich glaube nun gezeigt zu haben, dass die Idee von der Perfektibilität des Katholizismus keineswegs auf Gründen beruht, die einen unparteiischen Forscher befriedigen dürften.“ Stoppani ist für Folgerichtigkeit: „Nach meiner Absicht gibt es keinen Mittelweg zwischen dem katholischen Glaubenssystem, wie es sich uns im Kirchenglauben darstellt, und dem Protestantismus, der allein das Recht zu forschen [516] in seiner ganzen Unbeschränktheit seinen Anhängern erteilt, ja selbst als eine heilige Pflicht des Christen empfiehlt. Es bleibt daher nach meiner Meinung für den Freund der Wahrheit nichts übrig, als beide System mit Unbefangenheit zu prüfen, und falls er findet, dass das katholische seiner Ueberzeugung nicht Genüge leiste, ohne Scheu aus einer kirchlichen Verbindung auszutreten, die Niemanden für den Ihrigen anerkennt, der nicht auch innerlich von der Wahrheit desjenigen überzeugt ist, was dieser kirchliche Verein als Glaubenslehre aufstellt. Unendlich gross ist der Schaden, der für die Moralität des einzelnen Individuums sowohl als für das sittliche Wohl der Gesellschaft ganz gewiss aus einem Zustande entsteht, wo der immerwährende Kampf äusserer Verhältnisse mit der inneren Ueberzeugung den Geist in einem beständigen Schwanken erhält.“33 Bolzano musste sich durch diese Feststellung zu tiefst getroffen fühlen. Er glaubt sich geradezu selbst angesprochen und zur Folgerichtigkeit aufgefordert. Bolzano sah ja gerade darin seine Lebensaufgabe, einen fortschrittlichen Katholizismus zu vertreten, der sozusagen der Mittelweg zwischen dem entweder oder Stoppanis darstellte: Protestantismus oder römischer Katholizismus. Bolzano antwortete am 1. April 1832, indem er vor allem seine Begriffe von Religion, Offenbarung neuerlich besonders in Hinsicht auf das allgemeine Wohl34 darstellt. Gegenüber der entschiedenen Gleichsetzung von Rom und Katholizismus betont Bolzano den Unterschied von beiden, besonders in Hinblick auf eine zukünftige Vereinigung von Protestan30 Als Anmerkung mit Verweiszeichen am Seitenrand ergänzt: Stoppani an Bolzano [danach durchgestrichen Brief ] am 6. Juli 1833. Bolzano N[achlass]. 31 Korrigiert aus ihn. 32 Als Anmerkung mit Verweiszeichen am Seitenrand ergänzt: Das Buch erschien anonym Altenberg 1830. 33 Als Anmerkung mit Verweiszeichen am Seitenrand ergänzt: Perfektibilität a.a.O. S. 48f. 34 besonders … Wohl korrigiert aus im Zusammenhang von Religion und allgemeinen Wohl.

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ten und Katholiken, an die Bolzano unverbrüchlich glaubt. Die rationalistisch denkenden Protestanten haben also nur notwendig „zu ihren bisherigen [517] religiösen Ueberzeugungen35 noch einige neue hinzuzufügen; und würden sie erst dasjenige, was man als Katholik notwendig glauben muss, von dem, was nur die grosse Menge hie und da glaubt, scheiden, und es mit Unparteilichkeit prüfen: wahrlich! dann müssten sie bald gestehen, dass der katholische Lehrbegriff nichts Anstössiges habe; und nur noch gegen gewisse in unserer Kirche bestehende Disziplinarvorschriften dürften sie einen Protest einlegen, der sie jedoch nicht abzuhalten brauchte, Katholiken – freilich nicht solche, wie etwa Rom sie wünscht, aber doch wirkliche Katholiken zu werden.“36 Es haben also Stoppanis Ausführungen in seinem Brief37 nichts gewirkt, wo er sagt „niemand, der nicht das Tridentinum als unabänderliche Glaubensnorm annimmt, verdient ein Katholik zu heissen“. Damit ist aber jeder Ausgleich mit den Protestanten unmöglich. Bolzano bezweifelt gegenüber diesem Standpunkt „dass es sich erweisen lasse, dass alle jetzt lebenden Katholiken das Tridentinum als eine unabänderliche Glaubensnorm annehmen und dass auch nach zehn oder zwanzig Jahren niemand ein Katholik wird sein oder heissen können, wenn er das Tridentinum nicht in jeder seiner Entscheidung [sic] annimmt.“38 Denn für Bolzano ist nur das notwendig zu glauben, was39 alle Katholiken und zu allen Zeiten, so wie es Vinzenz von Lerin definiert hatte, als katholisch glauben. Die Vorsteher der Kirche, die Bischöfe und der Papst sind für Bolzano keineswegs ausschlaggebend für das, was zu glauben ist. Dazu gehört die Zustimmung aller Katholiken, ausserdem die Vernunftmässigkeit und die sittliche Zuträglichkeit. Der Hinweis Stoppanis auf die Verurteilung des Jansenismus40 beweist Bolzano „schlechtesten Falls nichts anderes als war [sic] wir längst wissen, dass Papst und Bischöfe fehlbare Menschen sind und dass der eine zuweilen die Grenzen seiner Macht [518] überschritt und die anderen zu feige waren sich ihm zu widersetzen. Da aber die blosse Mehrzahl der Bischöfe noch nicht das Ganze, nicht einmal die lehrende Kirche bildet, da überdies der Gegenstand um den es sich hier handelt, als eine rein historische oder gar hermeneutische Frage ist [sic], (nach Bolzanos Religionsbegriff)41 nicht zur Religion gehört, so dächte ich wir können rechtgläubige Katholiken sein ohne in diesem Punkte die Meinung des Papstes zu teilen.“ Dabei will Bolzano gar nicht die Trennung von Rom. Er verwirft auch nicht den Primat des Papstes, aber er ist ganz im Sinne des josefinischen Reformkatholizismus gegen eine Ueberbetonung der päpstlichen Macht in der Kirche. Deswegen kann Bolzano „einen Primat anerkennen und diesen namentlich in der Person des Bischofs von Rom und gleichwohl diesen Primas [sic] in gewissen einzelnen Stücken den Gehorsam verweigern, wodurch man sich dann von seiner Seite wohl auch die Ausschliessung aus der Gemeinschaft der Kirche zuziehen und somit in den Zustand einer 35 36 37 38 39 40 41

zu … Überzeugung korrigiert aus ihre bisherige religiösen Überzeugung.

Als Anmerkung mit Verweiszeichen am Seitenrand ergänzt: Ebd. [korrigiert aus Ebendort] S. 72f. Als Anmerkung mit Verweiszeichen am Seitenrand ergänzt: S. 23. Als Anmerkung mit Verweiszeichen am Seitenrand ergänzt: Ebd. [korrigiert aus Ebendort] S. 73f. Korrigiert aus das. Als Anmerkung mit Verweiszeichen am Seitenrand ergänzt: S. 24. Korrigiert aus (nach Bolzano).

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scheinbaren Trennung von Rom versetzt werden kann, ohne dass man doch aufgehört hätte ein echter Katholik und der Gesinnung nach noch immer mit der Obrigkeit der Kirche verbunden zu sein.“42 Bolzano fasste diese Auffassung in dem Satz zusammen: „Unterschiede zwischen der echt katholischen und der römisch katholischen Kirche gibt es in mehr als einer Hinsicht. Namentlich auch in der, dass so manches, was in der Kirche zu Rom gelehrt wird, nicht in der ganzen katholischen Christenheit gelehrt und angenommen wird und in Zukunft könnte dieser Unterschied noch bedeutender werden.“43 Diese Worte zeigen deutlich wie utopisch die Auffassung des Reformkatholizismus44 ist. Stoppani hat mit seiner Erklärung recht behalten,45 obwohl er selbst diese Entwicklung durchaus nicht wollte und Männer, die sich der [519] Zentralisierung der Kirche durch Rom entgegen setzten, „die Martyrer unserer Zeit und die Heiligen einer Zukunft“46 nannte. Aber darin irrte auch Stoppani, denn diese „Martyrer ihrer Zeit“, wie Josef II., Bolzano und Wessenberg, diese versteht ja Stoppani unter denselben, sind jedenfalls bis heute nicht die „Heiligen der Zukunft“ geworden. Das römische Zentralisierungsbestreben fand im Gegenteil 1870 durch die Definition des Unfehlbarkeitsdogmas seinen47 krönenden Abschluss. Bolzano verstand Stoppani so wenig, dass er glaubte dessen Einwendungen kämen daher, weil er mit dem katholischen Glauben selbst innerlich zerfallen wäre und für den Protestantismus werbe, der den Fortschritt auf religiösem Gebiete allein ermögliche. Hier verkannte er die Absicht Stoppanis vollkommen. Bolzano48 merkte nicht mit welchem Schmerz Stoppani49 von der Unmöglichkeit des Reformkatholizismus, an den er doch so gerne glauben möchte, spricht. Sicherlich war Stoppani mit dem Ordensberuf, so wie er sich ihm im Kloster Strahov bot, tief50 unzufrieden, obwohl er seit 1822 selbst51 Novizenmeister war. Seiner Geradheit und Gewissenhaftigkeit entsprach es, dass er seine [sic] Novizen stets die Schwere des Priesterstandes und besonders des Ordensstandes vor Augen stellte. Sie mussten es ihm schriftlich geben, dass er sie darauf aufmerksam gemacht habe. Der spätere Professor der Philosophie Hanusch dankte in seiner Rede bei52 der Promotion zum Doktor der Philosophie Stoppani, dass er ihn als ehemaligen Novizen rechtzeitig durch seine Worte vor einem grossen Unglück bewahrte. Der Abt entsetzte ihn hierauf seines Amtes und ernannte ihn 183253 zum Prior. Aber dieses persönliche54 Schicksal hat ihn bei 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54

Als Anmerkung mit Verweiszeichen am Seitenrand ergänzt: Ebd. [korrigiert aus Ebendort] S. 76. Als Anmerkung mit Verweiszeichen am Seitenrand ergänzt: Ebd. [korrigiert aus Ebendort] S. 80. Danach durchgestrichen wie ihn Bolzano vertritt, gewesen. Korrigiert aus gehabt. Als Anmerkung mit Verweiszeichen am Seitenrand ergänzt: So berichtet wenigstens Bolzano in den biographischen Notizen über Stopp. Bolzanno N[achlass]. Korrigiert aus ihren. Korrigiert aus Er. Korrigiert aus dieser. so … tief über der Zeile eingefügt. Über der Zeile eingefügt. Korrigiert aus nach. Über der Zeile eingefügt. Danach durchgestrichen menschliche.

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seinem Brief an Bolzano nicht beeinflusst. In einem Privatschreiben,55 das Stoppani auf die Entgegnung Bolzanos an diesen richtete, stellt er die Absicht seines letzten Briefes, der einmal gedruckt werden sollte, dahin richtig, dass er nicht Bolzano und dessen Schüler in erster Linie gemeint habe, sondern [520] die freikirchlichen Reformer wie Alexander Müller,56 Friedrich Wilhelm Carove57 und andere, die am Anfang der dreissiger Jahre des 19. Jahrhunderts durch eine Reihe von Büchern und Zeitschriften die Meinung vertraten, dass eine Reform der katholischen Kirche notwendig sei, die aber auch das Wesen derselben berühren müsse. Diesen gegenüber wollte Stoppani feststellen, dass dieser Standpunkt nicht möglich sei. Er hat aber auch Bolzano getroffen, wie die Entgegnung desselben58 deutlich zeigt. Sie war so scharf, dass Stoppani ausdrücklich erklärte, er sei59 durch die Gegenbemerkungen Bolzanos keineswegs gekränkt:60 „O nein, wenn jedem vorurteilsfreien Mann die Wahrheit lieb sein soll woher sie immer kommt, muss sie mir nicht doppelt wert sein, wenn sie von einem Mann kommt, dessen Freundschaft mir so schätzbar ist, den die besseren Menschen zu den ihren zählen?“61 Nach dieser Richtigstellung schreibt Stoppani am 5. Juli 1833 den Brief, der62 dann später veröffentlicht werden sollte. Wiederum gilt Stoppanis63 Kritik jedem Reformkatholizismus und auch dem nachjosefinischen. Bolzano musste durch diese Kritik neuerlich64 getroffen werden: „diejenigen, die das gutgemeinte Geschäft unternehmen den Katholizismus mit den neuen Ideen auszugleichen“, will Stoppani auf das „Fruchtlose einer solchen Bemühung aufmerksam machen.“65 Er greift diesen Standpunkt deswegen so scharf an, wie er diesmal erklärt, weil er nicht nur der Wirklichkeit widerspricht,66 sondern weil er Illusionen erweckt, die zu gefährlichen Folgerungen führen und „schon manchen hoffnungsvollen Jüngling, der sich in der reinsten Absicht dem geistlichen Stande widmet67“ zum Verhängnis wurden68. „Es hilft kein Unterhandeln, kein Modifizieren, hier gilt bloss das aut – aut.“69 Um den Katholizismus, wie er wirklich ist, kennen zu lernen, muss man nach Stoppani dort suchen „wo die [521] Hierarchie im ungestörten Besitz ihrer Machtvollkommenheit sich befindet, wo sie frei von jeder äusseren Bevormundung ihre Zwecke verfolgt,70 55 Korrigiert aus Schreiben. 56 Als Anmerkung mit Verweiszeichen am Seitenrand ergänzt: Müller gab den „Kanonischen Wächter“ 1830–1834 heraus und von seinen zahlreichen reformkatholischen Werken sei „Der neue Febronius“ Karlsruhe 1838 genannt.

57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70

Korrigiert aus Karwe [?]. Als Anmerkung mit Verweiszeichen am Seitenrand ergänzt: Vgl. Anm. S. 526. Über der Zeile eingefügt. er sei korrigiert aus dass er. Danach durchgestrichen sei. Als Anmerkung mit Verweiszeichen am Seitenrand ergänzt: Brief v. 6. Mai 1832, Bolzano N[achlass]. Korrigiert aus den er. Korrigiert aus seine. Über der Zeile eingefügt. Als Anmerkung mit Verweiszeichen am Seitenrand ergänzt: Vgl. Perfäktibilität, a.a.O. S. 209. Korrigiert aus nicht entspricht, Korrigiert aus widmete. Korrigiert aus wurde. Als Anmerkung mit Verweiszeichen am Seitenrand ergänzt: Ebd. Korrigiert aus verfolgen.

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ihre Gesetzgebung in Wirksamkeit treten lässt, wo es niemand wagen darf, den Klerus in seinem Wirkungskreise zu stören. … da muss man hingehen, wenn man wissen will, was eigentlich Katholizismus sei und was er nicht sei.“71 Vor allem meint Stoppani damit den Kirchenstaat. In diesem Briefe versucht Stoppani Bolzano die Folgerichtigkeit des alten Katholizismus gegenüber dem Reformkatholizismus klar zu machen, selbst in so anstössigen Dingen72 wie im Zwangszölibat oder der Ohrenbeichte, die im letzten auf der Würde des Priestertums beruhen.73 Deswegen ist es auch nach Stoppani eine Utopie irgendwie auf einen Ausgleich des Katholizismus mit dem Protestantismus zu hoffen. Hier gibt es nur eine völlige Kapitulation des Protestantismus.74 Mit der ihm eigenen Klarheit zeigt Stoppani, dass es nur eine katholische Kirche gibt und diese ist die römische. Sie muss mit allen ihren Eigentümlichkeiten angenommen werden, wenn sich jemand katholisch nennen will. Rom ist nicht Partei, sondern Richter: „Nein, Freund, das, was ich mir unter Katholizismus denke, ist keineswegs die Ansicht einer Partei, sondern die Ansicht derjenigen, die Sie als Katholik für Ihre Richter in Glaubenssachen anerkennen müssen. Nicht hat sich das Oberhaupt der Kirche, nicht haben sich die meisten Bischöfe an eine Partei angeschlossen, sondern die echten Katholiken, die sie eine Partei nennen, haben sich an das Oberhaupt und die Mehrzahl der Bischöfe angeschlossen, und die Andern, die sich mit der Lehre dieser Hirten nicht vereinigen können, haben sich stillschweigend von der katholischen Kirche losgesagt, wenn sie auch in der äusseren Kirchengemeinschaft [522] bleiben, ja sich sogar für den edleren Teil der katholischen Kirche halten. Nach meiner festesten Ueberzeugung aber bleibt für denjenigen, der sich von der Lehre derer, die Sie für eine Partei halten, entfernt, kein anderer Ausweg übrig, als auch aus der äusserem [sic] Gemeinschaft einer kirchlichen Gesellschaft auszutreten, von der er bereits geistig ausgeschieden ist.“75 Klarer lässt sich der Versuch Bolzanos und jedes Reformkatholizismus einen Romfreien oder auch nur erneuerten Katholizismus zu erwarten, in seiner utopischen Hoffnungslosigkeit nicht ausdrücken. „Der echte Katholik glaubt nämlich in der Uebereinstimmung seiner Hirten ein von Jesu selbst eingesetztes, vom göttlichen Geiste geleitetes Richteramt verehren zu müssen; was dieses entschieden hat, das sieht er als eine von Gott selbst bestätigte Wahrheit an.“76 Dies ist wirklich77 die Stärke des römischen Katholizismus und jeder gläubige Katholik wird sich deswegen, selbst wenn er eine Reform für möglich hält und sehr freie Reden führt78, doch im letzten unterwerfen, wofür ja Bolzano

71 Als Anmerkung mit Verweiszeichen am Seitenrand ergänzt: Ebd. [korrigiert aus Perfektibilität] S. 210. 72 anstössigen Dingen korrigiert aus anstössige Dinge. 73 Als Anmerkung mit Verweiszeichen am Seitenrand ergänzt: Ebd.. [korrigiert aus Perfektibilität] S. 226f. Danach durchgestrichen welche der alte Katholizismus so sehr betont [danach über der Zeile eingefügt die Ohrenbeicht so sehr] und ohne die der Zweck der Ohrenbeicht besonders bei den Frauen zu Misständen führen würde. 74 Als Anmerkung mit Verweiszeichen am Seitenrand ergänzt: Ebd. [korrigiert aus Perfektibilität] S. 231. 75 Als Anmerkung mit Verweiszeichen am Seitenrand ergänzt: Ebd. [korrigiert aus Perfektibilität] S. 245. 76 Als Anmerkung mit Verweiszeichen am Seitenrand ergänzt: Ebd. [korrigiert aus Perfektibilität] S. 245f. 77 Über der Zeile eingefügt. 78 und … führt über der Zeile eingefügt.

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selbst das beste Beispiel ist.79 Es war Bolzano nicht leicht auf diesen klaren und nach allen Richtungen belegten Brief Stoppanis zu antworten. Aber der Glaube an ein Fortschreiten ist dem Menschen so tief eingeprägt, dass er selbst, wenn er die Wirklichkeit betrachtet und80 nicht mehr daran glauben kann, sich zwingt81 zu glauben. So ist es auch mit dem Glauben an eine Reform der Kirche. Bolzano sucht sich vor allem Stoppanis eiserner Folgerichtigkeit gegenüber durch den Hinweis zu entziehen, dass auch Irrtümer für eine bestimmte Zeit segensreich sein können. Stoppani hatte wohl diesen Gedanken entschieden abgelehnt mit den Worten: „Wir Menschen dürfen nie einen Irrtum, den wir als solchen erkannt haben, für unschädlich erklären oder wohl gar behaupten er sei für ein gewisses Zeitalter notwendig, wir [523] glauben, dass jeder Irrtum seine schädlichen Früchte getragen habe und alle Zeit tragen wird.“82 Dagegen stellt Bolzano neuerlich seine ihm eigene Erklärung, die ihm83 für die Begründung des Reformkatholizismus84 wesentlich ist, entgegen, dass es unschädliche, ja nützliche Irrtümer gebe, wie die Arzneien, „die in einem gewissen Fall unschädlich, ja wohltätig und heilbringend sind für eine bestimmte Krankheit, obwohl sie einige Unbehaglichkeit hervorbringen, doch ein viel grösseres Uebel verhüten.“85 Bolzano wollte freilich nur „die Vorsehung Gottes darüber rechtfertigen, dass sie das Menschengeschlecht jahrhundertelang so manchem Irrtume dahin gibt, und die Bemühungen derer, die aufklären wollen, so oft verunglücken lässt.“ Deswegen hielt es Bolzano für „die Pflicht aller Weiseren unausgesetzt an der Verbesserung jener unrichtigen Vorstellungen bei der übrigen Menge zu arbeiten, die daran Schuld sind, dass wir die Wahrheit für sie jetzt noch gefährlich finden, damit je eher je lieber die Zeit erscheine, wo ihr Licht allgemein leuchtet.“86 Neben dem Glauben an die Notwendigkeit ja Nützlichkeit des Irrtums in der Geschichte der Menschheit ist es die Lehre von dem Gebrauch des Bildes um die Wahrheit zum Ausdruck zu bringen, die Bolzano bestärken in seinem Festhalten an der Möglichkeit des Reformkatholizismus: „Bei bildlichen Lehren ist die Aufklärung über den Umstand, dass sie nur bildlich sind, für ein Zeitalter, das noch auf einer niedrigeren Stufe der Bildung steht, nur störend. Für eine spätere Zeit dagegen kann diese Aufklärung nicht blos notwendig werden, um den Anstoss, den man im widrigen Falle an dem Bilde nehmen würde, zu heben; sondern es kann sogar dieses Bild selbst entbehrlich werden, weil man nun andere Mittel, wie etwa Bilder, die für die Gegenwart schicklicher sind, zur Erreichung derselben Zwecke besitzt.“87 Bolzano hält88 auch weiterhin an der [524] Unterscheidung zwischen echtem und römischen Katholizismus fest, trotz des von Stoppani auf Grund geschichtlicher Tatsachen erhärteten Gegenbeweises, dass eine solche Unterschei79 80 81 82 83 84 85 86 87 88

Danach durchgestrichen trotz seiner freien Reden. Über der Zeile eingefügt. Danach durchgestrichen daran. Als Anmerkung mit Verweiszeichen am Seitenrand ergänzt: Ebd. [korrigiert aus Perfektibilität] S. 136. Über der Zeile eingefügt. Danach durchgestrichen ihm. Als Anmerkung mit Verweiszeichen am Seitenrand ergänzt: Ebd. [korrigiert aus Perfektibilität] S. 274. Als Anmerkung mit Verweiszeichen am Seitenrand ergänzt: Ebd. [korrigiert aus Perfektibilität] S. 277. Als Anmerkung mit Verweiszeichen am Seitenrand ergänzt: Ebd. [korrigiert aus Perfektibilität] S. 291. Bolzano hält korrigiert aus Es hält Bolzano.

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dung unmöglich sei. Mit Genugtuung verweist Bolzano auf das Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes in Glaubenssachen, das nicht einmal in Rom, wie Stoppani selbst zugeben muss, unter die Dogmen gezählt wird: „Wie müsste man denn um ein guter Katholik zu sein sogar auch in allen übrigen Dingen denken so wie der Papst denkt.“ Wie wenig Bolzano von den Gedanken Stoppanis berührt89 worden war und wie zäh er90 an seiner eigenen Auffassung festhält, zeigt am besten die Zusammenfassung Bolzanos91 am Schlusse seines zweiten Briefes, die in dem Satze gipfelt: „Wäre die menschliche Natur so unvollkommen, dass es in Anbetracht der grossen Volksmenge keine andere Wahl für uns gäbe, als Eines von Beiden zu tun, entweder sie in einem Katholizismus von der soeben92 beschriebenen Art zu erziehen oder ihr einen protestantischen Rationalismus zu predigen: dann möchte man etwa wünschen dürfen, dass der letztere Irrtum, als der minder schädliche, den Sieg über den ersten davontrage.“ 93 Doch das kann Bolzano nicht glauben. Er empfindet das als eine Lästerung der „gemeinen Menschenverstandes und Verkennung der hohen Wirksamkeit der Mittel, die uns das tägliche Fortschreiten in allen Erkenntnissen an die Hand gibt, wenn man behauptet, dass es kein anderes Mittel gäbe den Glauben an eine materielle Offenbarung zu betonen als seine gänzliche Vernichtung.“94 Bolzano will ja in keinem Fall Irrlehrer sein, sondern höchstens Neuerer. Deswegen sieht Bolzano auch keinen Grund Stoppanis Aufforderung zu folgen, aus der katholischen Kirche auszutreten: „Warum sollte ich aus der katholischen Kirche, wenn ich die Lehren derselben in der Art, wie ich sie verstehe, vernünftig und sittlich zuträglich finde, blosz [525] deshalb austreten, weil gar manche – also doch nicht alle – neueren Auffassungen dieser Lehren, ja vielleicht selbst meine eigene, nicht eben mit dem lauten Beifalle der Vorsteher dieser Kirche beehrt werden?“95 So steht Ueberzeugung gegen Ueberzeugung. Die Kontroverse zwischen den beiden Freunden führte zu keiner Lösung, wenn auch Stoppani ein Jahr vor seinem Tode Bolzano schreibt: „Meine Meinung zu dem zwischen uns in Frage stehenden Gegenstand habe ich nicht96 im mindesten geändert, im Gegenteil bin ich erst recht seit unserem Briefwechsel in meiner Ansicht über diesen Gegenstand bestärkt worden. Ja wo ich in einzelnen Punkten von meinen ehemaligen Ansichten abgewichen bin, betrifft dies nicht sowohl den Gegenstand selbst als die Folgerungen. Um ein Beispiel anzuführen, so ziehe ich aus der Tatsache der Intoleranz der römischen Kirche, welche Tatsache übrigens unbestreitbar ist, keineswegs mehr diejenigen Schlüsse, die ich in meinen vorigen Aufsätzen daraus zog. Der Katholizismus kann vervollkommenungsfähig sein, wenn auch selbst in Deutschland auf allen Plätzen Scheiterhaufen für die Ketzer errichtet werden. Dessen ungeachtet wünsche ich, falls unsere Aufsätze gedruckt würden, sie in ihrer unveränderten Gestalt gedruckt zu se89 90 91 92 93 94 95 96

Korrigiert aus erfasst. wie zäh er über der Zeile eingefügt. Als Anmerkung mit Verweiszeichen am Seitenrand ergänzt: Ebd. [korrigiert aus Perfektibilität] S. 397–399. Danach durchgestrichen (Nr. 7). Als Anmerkung mit Verweiszeichen am Seitenrand ergänzt: Ebd. [korrigiert aus Perfektibilität] S. 399. Als Anmerkung mit Verweiszeichen am Seitenrand ergänzt: Ebd. 301 [korrigiert aus Perfektibilität S. 301]. Als Anmerkung mit Verweiszeichen am Seitenrand ergänzt: Ebd. [korrigiert aus Perfektibilität] S. 355. Neben der Zeile eingefügt.

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hen.“97 Aus diesem Brief geht deutlich98 hervor, dass Stoppani noch an eine Antwort dachte, in der er sich bestreben wollte „jeden Ausdruck zu vermeiden, der Sie auf den Gedanken bringen könnte als wolle ich den Katholizismus herabwürdigen“. Aber Stoppani ist ein Jahr nach diesem Briefe gestorben. Bolzano schätzte den Briewechsel sehr und wünschte die Drucklegung, besonders zum Andenken an seinen Freund. Fesl gegenüber verteidigte er ihn mit den Worten: „Darin liegt eben sein grosser Vorzug [der Briefe Stoppanis] vor Carové, dass er es nicht so übertreibt wie dieser, denn ist es nicht eine [526] Albernheit eine solche widerlegende Behauptung, die sie (Carové) ihm (Stoppani) in den Mund legen, ein vernünftiger Mensch kann ein für allemal nicht römisch katholisch noch symbolisch protestantisch sein. So etwas Albernes liest man bei Stoppani nirgends. Dieser ist überall gemässigt, besonnen und schreibt im Grunde klassisch. Stoppani irrt, weil Menschen, auch besonnene irren können, der aber in tausend und tausend Katholiken Anklang fand, während Carové so übertreibt, dass es jedem [sic] nüchternen Leser mit Ekel erfüllt.“99 So wenig hatte im Grunde Bolzano Stoppani verstanden, dass er seinen Freund am Rande des Katholizismus stehen sah und ihn retten wollte, während ihm dieser beweisen100 wollte wie gefährlich und haltlos sein Standpunkt sei.101

Und dies geschah zwei Männern, die miteinander seit vielen Jahren auf das engste befreundet waren und sich durch hervorragende Geisteskräfte auszeichneten. Es scheint doch die Wahrheit in einer bestimmten Weise zu sehen jedem102 angeboren und deswegen103 eine Verständigung zwischen den Menschen, die sich selbst persönlich so nah standen wie Bolzano und Stoppani,104 schwierig wenn nicht unmöglich105 zu sein.106 97 Als Anmerkung mit Verweiszeichen am Seitenrand ergänzt: Brief Stoppani an Bolzano v. 21. Juli 1835. B[olzano] N[achlass]. 98 Korrigiert aus weiterhin. 99 Als Anmerkung mit Verweiszeichen am Seitenrand ergänzt: Bolzano N[achlass]. Anmerkung, S. 520. [Nach einem weiteren Verweiszeichen durchgestrichen Vgl.] F. W. Carové, Was heisst römisch – kath. Kirche? Altenburg 1828. Die letzten Dinge d. Katholizismus in Deutschland. Leipzig 1832. Ueber das Zölibatgesetz des römisch – kath. Klerus Frankfurt 1832. Ueber Papismus u. Humanismus. Leipzig 1838. 100 Danach durchgestrichen ihm. 101 Dass … sei korrigiert aus dass nicht nur er am Rande des Katholizismus stehe, sondern Stoppani, und sein Bemühen es war, Stoppani für die römisch-katholische Kirche zu erhalten, während umgekehrt Stoppani Bolzano auf die Gefährlichkeit seines Standpunktes am Rande des Katholizismus aufmerksam machen wollte. 102 Über der Zeile eingefügt. 103 Über der Zeile eingefügt. 104 die … Stoppani mit Verweiszeichen neben der Zeile eingefügt. 105 Korrigiert aus nicht möglich. 106 Danach durchgestrichen Aber ganz umsonst war doch die Auseinandersetzung Bolzanos [über der Zeile eingefügt] mit Stoppani nicht. Das zeigt der Titel der von Fesl für die Veröffentlichung des Briefwechsels [über der Zeile eingefügt] vorgeschlagen wurde: „Ueber alten, neuen und echten Katholizismus. Ein wissenschaftlicher Briefwechsel zweier katholischen Theologen.“ Bolzano und sein Schüler wollten also ihre Stellung nicht als „neue Katholiken“ bezeichnet wissen, sondern erfanden einen dritten, höheren, den echten Katholizismus, den sie bekennen. In dem von Fesl beabsichtigten Vorwort werden diese drei verschiedenen Arten des Katholizismus dargestellt [als Anmerkung mit Verweiszeichen am Seitenrand ergänzt: Vgl. Fesl N]. Der Briefwechsel [korrigiert aus Das Buch] erschien aber ohne Vorwort 1845 unter dem Titel „Ueber die

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Anhang 2: Brief von Ernst Klebel an Christoph von Harling (1946) Original: Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Südost-Institut 49. [1] Arbing, 2. Mai 1946. Herrn W.P. Christoph von Harling. Sehr geehrter Herr von Harling! Durch unseren gemeinsamen Freund, dessen Ankunft hier ich für die nächsten Tage erwarte, möchte ich Ihnen für die Zusendung Ihrer Ausführungen danken, welche Sie mir vor Wochen zukommen ließen, wohl mit der Absicht, eine Stellungnahme meinerseits zu veranlassen. Ich stimme Ihnen im Grundgedanken durchaus bei. Eine Abtrennung der kulturellen Belange, sei es unseres ganzen Vaterlandes von dem Politischen würde durchaus Vorteile bieten und einen Wiederaufbau unserer geistigen Stellung unabhängig von allen möglichen Schwankungen erleichtern. Nun sind ja Versuche dieser Art nichts Neues. Als gebürtiger Österreicher darf ich Sie wohl auf die Ihnen vielleicht weniger bekannten Gedankengänge dieser Art aus dem Österreichs [sic] Kaiser Franz Josephs aufmerksam machen. Noch zu meiner Jugendzeit war die Trennung zwischen staatlicher Verwaltung und Landesautonomie innerhalb der einzelnen sogenannten Kronländer des österreichischen Teils der damaligen Monarchie so gestaltet, daß es in diesen Ländern Landtagsausschüsse [gab], die dem Proporz entsprechend, in manchen Ländern sogar nach ständischen Prinzipien aus verschiedenen Parteien zusammengesetzt waren, [2] [und die] die Verwaltung der kulturellen Angelegenheiten der Länder innehatten. Unter kulturellen Angelegenheiten verstand die von 1867 stammende österreichische Verfassung die Pflege des niederen Schulwesens, also der Volks- und Bürgerschulen; (unter letzteren verstand man, was man in Preußen Mittelschulen nennt) und der gesamten agrarwirtschaftlichen Angelegenheiten. Entsprechend dem Selbstverwaltungsgedanken, der diesen Körperschaften zu Grunde lag, gab es überall einen Landesschulrat und einen Landeskulturrat, jeder mit den entsprechenden zugehörigen Bürokratien. Beim mittleren Schulwesen war der Anteil der Länder ungleich, die Hochschulen gehörten vollkommen dem Staate an. Ebenso gab es auch bezüglich der land- und forstwirtschaftlichen Angelegenheiten eine gewisse Konkurrenz von Staats- und Landesangelegenheiten. Über die sogenannte Doppel­ gleisigkeit dieser Verwaltung gegenüber der staatlichen wurde namentlich in den letzten Jahren um 1910 herum wiederholt Klage geführt und auf Abhilfe gesonnen. Auf Grund dieser Landesverfassungen hat sich innerhalb mancher dieser Länder ein nationales Minderheitenrecht und eine nationale Selbstverwaltung entwickelt. Es wird ja wohl nicht notwendig sein, Perfektibilität des Katholizismus, Streitschrift zweier katholischen Theologen. Zugleich ein Beitrag zur Aufhellung einiger wichtiger Begriffe aus Bolzanos Religionswissenschaft.“ Die Auflage war, weil sie gerade in eine günstige Zeit fiel – der Neutralkatholizismus erregte die Gemüther – [der … Gemüther über der Zeile eingefügt], rasch vergriffen, aber die Rezensionen lauteten so ungünstig, das [sic] der Verleger die eigentlich notwendig gewordene Neuauflage nicht mehr wagte. Dies fällt aber bereits in eine andere Zeit.

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daß ich Sie in diesem Zusammenhang erst auf das bekannte Buch meines langjährigen väterlichen Freundes, Prof. Karl Hugelmann, derzeit in Göttingen, Schillerstraße 63, über das nationale Minderheitenrecht in Österreich-Ungarn, 1934, aufmerksam mache. Da der gelehrte Verfasser nicht allzuweit von Ihnen seine Lehrtätigkeit ausübt, so glaube ich, auf Ihren freundlichen Brief nicht mehr und nicht weniger tun zu sollen, als [3] Sie aufzufordern, doch Verbindung mit diesem, Ihren Gedankengängen nahestehenden Gelehrten aufzunehmen, der Ihnen ja ganz andere praktische Ratschläge geben kann, als ich. Auf Grund dieser älteren Minderheitenstatute sind dann jüngere, wie die deutsche Kulturautonomie in Estland, die wohl als die beste Lösung einer Minderheitenselbstverwaltung nach 19181 angesehen werden kann, entstanden. Wenig kann ich Ihnen leider über den Versuch einer Trennung der politischen und kulturellen Angelegenheiten in dem österreichischen Staate nach 1918 sagen, so die sogenannte Verfassung von 1934 einen eigenen Bundeskulturrat geschaffen hat, der auch von 1935–38 in Tätigkeit war. Ich habe über die Tätigkeit dieser ernannten Körperschaften der Diktatur Schuschniggs wenig gehört, da ich in jenen Jahren nicht in meiner Heimat weilte und diese ernannten Körperschaften wenig Boden und Echo im Lande fanden. Das Einzige jedoch, was ich hier gehört habe, war, daß sie trotz der sorgfältigen Ernennung und Auswähl [sic] nach längerer Zeit auf dem besten Weg waren, wieder in Parteien zu zerfallen. Ich fürchte daher, daß jede Kulturselbstverwaltung früher oder später in irgendeiner Weise dem Einfluß und der Kontrolle des Parteiwesens, das ja nun leider die Folge der Uneinheitlichkeit der Weltanschauungen seit dem Ende des absoluten Staates ist, unterliegen wird. Allerdings haben die früher erwähnten Landesausschüsse des alten Österreichs [sic] eher zur Milderung, als zur Stärkung der Parteigegensätze beigetragen. Es ist also anzunehmen, daß derartige Körperschaften zwar den Weltanschauungsgegensätzen und Kämpfen unterliegen werden, aber bei einer vernünftigen Führung [4] durch die gegenseitige Bindung der gemäßigten Elemente an die gemeinsame Arbeit zu deren Entgiftung beitragen können. Eine volle Ausschaltung der Parteigegensätze, so wünschenswert sie wäre, scheint mir ein zwar erstrebenswertes, aber schwer erreichbares Ideal. Sie werden es verstehen, wenn ich nach meiner Heimat zu einem in Ihrer Denkschrift nur nebenbei ausgesprochenen Satz ausführlicher Stellung nehme, nämlich zu der Behauptung, daß Hitler und seine Ideologie auf dem Boden des österreichischen Josephinismus entstanden wäre. Die Literatur über die Gedankengänge dieser in Österreich mitunter bis zur Gegenwart nachwirkenden Geistesströmung aus dem Zeitalter Kaiser Joseph II. ist noch so begrenzt, daß es geschehen kann, daß für einen aus diesem Milieu Kommenden gerade die ihm zunächst wichtigst erscheinenden Hauptkennzeichen in der Literatur zu wenig hervorzutreten scheinen. Als Hauptkennzeichen möchte ich hier den Gedanken der Toleranz anführen, der darin besteht, daß der religiöse Bereich für jeden Menschen von einer derart überragenden Wichtigkeit ist, daß jeder staatliche Eingriff in ihn wegfallen muß; das hindert natürlich nicht, daß der Staat sich mit den objektiven Erscheinungen der Religion umso lebhafter und entschiedener auseinanderzusetzen hat. Sie werden mir gewiß zugeben, 1

nach 1918 über der Zeile eingefügt.

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daß gerade dieser Toleranzgedanke dem Dritten Reich ebenso fremd war, wie er schon der Kulturkampfaera Bismarcks gewesen ist. Andererseits gebe ich Ihnen gerne zu, daß die staatliche Beaufsichtigung und Einschränkung des praktischen religiösen Lebens zwischen Joseph und Dritten [sic] Reich mancherlei Ähnlichkeiten aufweist. (Allerdings noch größere mit der Aera des Kulturkampfes). Weiter ist es [5] für den Josephinismus kennzeichnend, daß er die praktische Nächstenliebe für wesentlich wichtiger hält, als alle Askese und religiöse Beschaulichkeit. Joseph hat daher alle religiösen Bruderschaften aufgelöst und zu einer einzigen, der Bruderschaft „zum Heiligen Joseph für die christliche Nächstenliebe“ zusammengefaßt. Sie werden zwar darin vielleicht manche Analogie zur NSV [Nationalsozialistische Volkswohlfahrt] sehen wollen, aber andererseits wird man ja nicht behaupten können, daß Caritas ein Hauptkennzeichen der verflossenen Entwicklung wäre. Ebenso gehört es zum Wesen des Josephinismus, daß er die Sprache und das Schulwesen der nichtdeutschen Nationen nicht bloß gefördert, sondern geradezu begründet hat. Auch dies ist gewiß weitgehend abweichend von der Entwicklung, die wir eben an uns haben vorüberziehen lassen. Sie sehen aus diesen Kontrastierungen, daß ich zwar keineswegs leugnen möchte, daß das Dritte Reich aus einer Entwicklung des Josephinismus geschöpft hat und also namentlich in seinen Frühstadien, etwa im Buche „Mein Kampf“, noch stärker von österreichischen Gedankengängen abhängig gewesen ist. Aber es wäre unrichtig und vom Standpunkt der deutschen Einheit beklagenswert, wenn man nun im Norden jeden Einfluß norddeutscher oder ostdeutscher Geistigkeit auf diese Erscheinungen ablehnen würde und die Unbesiegbarkeit Preußens dadurch erweisen wollte, daß man alle Schuld an der tragischen Entwicklung dem „bösen Österreich“ und seinem Josephinismus zuschieben wollte. Verzeihen Sie es mir, wenn ich in Verfolg der groß deutschen Gedanken, die ich seit 1925 immer wieder – keineswegs zu meinen Gunsten – vertreten habe, vielleicht Gedanken widerspreche, die Ihnen am Herzen liegen könnten. Ich glaube, wir tun Unrecht, wenn wir den beträchtlichen [6] Teil, den alle an der Ostgrenze Deutschlands wohnenden deutschen Stämme zu dieser verflossenen Entwicklung gegeben haben, unterschätzen und verleugnen. Es sind ja in Österreich weit mehr noch Gedankengänge der christlichsozialen Partei Luegers gewesen, die auf Hitler bewußt Einfluß geübt haben, als die ihm ja nur indirekt zugekommenen josephinischen Gedankengänge. Es ist kaum bekannt, daß die christlichsoziale Partei in ihrer Verfassung genauso autoritär zugeschnitten war, wie die eben verschwundenen Organisationen, und es ist vielleicht auch zu wenig beachtet, daß die kleinbürgerliche und soziale Note der eben abgelaufenen Entwicklung in derjenigen Partei Luegers eine weitest gehende Vorläuferin und Parallelerscheinung besaß. Aber wie nun unsere Feinde von dem „Geist von Potsdam“ sprechen und darin Friedrich den Großen, Bismarck und Hitler zusammenfassen, so meinen sie damit Erscheinungen, die der österreichischen Geschichte des 19. Jahrhunderts fremd geblieben sind. Sie verstehen darunter jenen, durch die Siege Bismarcks 1864, 1868 und 1871 entstandene Auffassung, daß man politische Veränderungen in Europa durch eine Zuspitzung bis zum Kriege mit Leichtigkeit herbeiführen aud [sic] auf diese Weise wirklich lösen kann. Gewiß, wir Deutsche werden niemals unsere slavischen Nachbarn für so gleichwertig gelten lassen können, daß wir ihnen gegenüber diese angelsächsisch gesehene Methode, alles unter den „Weißen“ am „Grünen Tisch“ auszuhandeln, für gerechtfertigt ansehen

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werden und ich glaube, daß man im Moment auch in England selbst schon zu zweifeln beginnt, ob derartige Methoden des diplomatischen Parketts auf Osteuropa anwendbar sind. Es wird wohl unsere Aufgabe sein, im Laufe der nächsten Jahrzehnte [7] den Westen über den Osten so gründlich aufzuklären, daß derartige Illusionen auch im Westen verschwinden. Der Osten scheint ja selbst uns diese Aufgabe zur Zeit leicht zu machen. Aber umgekehrt möchte ich als Deutscher behaupten, daß die Bismarckischen Lösungen, soviel Positives sie für die staatliche Entwicklung des 19. Jahrhunderts gebracht haben, trotzdem gerade durch ihre Begründung auf die Spizte des Schwerts bereits in den Fundamenten alle jene politischen Risse und Sprünge eingebaut, ja verewigt haben, die schließlich zur Katastrophe von 1918 und den seither folgenden unerfreulichen innerpolitischen Entwicklungen geführt haben. Es war doch um 1860 so, daß damals nicht bloß die Katholiken des Südens, sondern auch die Linkskreise ein einheitliches Deutschland genau so wollten, wie Bismarck selbst und daß nur er derjenige von allen war, der am schnellsten gehandelt hat. Darin liegen seine Stärke und seine Bedeutung, die ich keineswegs verkleinern will. Aber in der Überschätzung der Machtpolitik, die sich ja noch stärker im Kulturkampf zeigte, lag die Achillesferse seines Gedankengebäudes. Ja, ich möchte sagen, so bedeutend Bismarck als politischer Schachspieler war, so haftet seiner ganzen Außenpolitik, genau so wie jener des Dritten Reiches ein Grundirrtum an, daß nämlich Außenpolitik aus Aktionen besteht. Außenpolitik soll aber, das ist zumindest die Meinung unserer westlichen Nachbarn, nur auf dauernde Zustände gerichtet sein und darum hat ja so lange Mussolini als einer der bedeutendsten Außenpolitiker Europas gegolten, weil seine Außenpolitik trotz verschiedenster Konstellationen bei seinen Nachbarn immer die gleiche Tendenz, wenigstens von Italien her gesehen, gezeigt hat. Wäre es Bismarck vergönnt gewesen, noch [8] 20 Jahre länger über Deutschland zu regieren – was ja bei seinem Alter an sich schon unmöglich war – so hätte er genau wie Deutschland 1914 und noch mehr in der jüngsten Vergangenheit erlebt, daß diese Außenpolitik der Aktionen, für die Bismarck selbst ja das Wort Realpolitik geprägt hat, schließlich zum allgemeinen Mißtrauen aller Nachbarn und damit zur Explosion, geführt hätte. Sie haben ja gemerkt, daß ich namentlich zwischen dem Kulturkampf Bismarcks und dem Dritten Reich mancherlei Beziehungen angedeutet habe, die ich nicht weiter auszuführen brauche. Aber es wäre verfehlt, wollten wir den Anteil der Mitteldeutschen, der Sachsen und eines Teiles der Sudetendeutschen an der geistigen Entwicklung leugnen, die vor unseren Augen so katastrophal geendet hat. Es genügt ja, darauf hinzuweisen, daß in diesen Bereichen eine Tendenz zu einer „nationalen“ Philosophie seit fast einem Jahrhundert im Gange ist, ich brauche Sie nur an Schopenhauers Neigung zur indischen Philosophie, an die Pantheismen bei Felix Dahn, an ähnliche Gedanken in der ja vorzugsweise von sudetendeutschen Akademikern getragenen Schönerianischen Bewegung, an den Sachsen Richard Wagner und den Sachsen Friedrich Nietzsche erinnern, von denen die beiden letzteren zu den Lieblingsschriftstellern Hitlers gehörten. Auch Paul de Lagarde, der in Berlin geboren und aufgewachsen und in Halle geschult wurde, also ein Ostdeutscher genannt werden kann, ist bekanntlich von Hitler außerordentlich weitgehend ausgeschrieben worden. Und den Balten Rosenberg werden Sie ja kaum mit dem Josephinismus verbinden können, [9] sondern in manchen Punkten als Fortsetzer der kleindeutschen Geschichtsschreibung erkennen. Man kann es nur von Westdeutschland behaupten, daß es we-

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nig zur Entwicklung der verflossenen Zeit beigetragen und sie sehr früh radikal abgelehnt hat. Jene Erscheinungen, die man heute unter dem Begriff des 20. Juli zusammenfaßt, sind schon sehr schnell nach 1938, wie ich selbst beobachten konnte, auch in Österreich zu bemerken gewesen, wo der augenblickliche Katzenjammer zu jenen üblen separatistischen Äußerungen geführt hat, über die niemand mehr sich grämen wird, als ein großdeutsch eingestellter Österreicher. Ich halte sie nicht für Erscheinungen, die tief fundiert und dauerhaft sind; gebe es Gott! Aber sie zeigen Ihnen, daß die Äußerungen aller deutschen Stämme im Augenblick darauf gerichtet sind, ihre Hand, wie man so schön sagt, in Unschuld zu waschen, und daß kein deutscher Stamm zur Zeit dabei gewesen sein will. Ich glaube, daß jeder, der etwas weiter sieht und denkt und der vor allem geschichtlich zu denken gewohnt ist, sich darüber klar sein muß, daß einer der größten Einschnitte der deutschen Geschichte eben hinter uns liegt. Wir hoffen ja alle, daß Wien, Berlin und auch2 Prag, die Kaiserstädte von 1348–1918 wieder aus der östlichen Überflutung gelöst und mit dem Abendland verbunden werden können. Aber es wäre Illusion zu glauben, selbst wenn dies in kürzester Zeit geschehen würde, daß wir diese Länder wieder so wiederfinden werden, wie sie vor einem Jahr uns entrissen wurden. Die Spuren dieses letzten Jahres werden unasutilgbar [sic] bleiben und werden vielleicht mitunter nicht zum Nachteil unserer Entwicklung, das Übergewicht des deutschen Westens und Südens geistig und kulturell zur Folge haben müssen. Daran wird sich auch nichts ändern, wen [sic] [10] noch so viele Flüchtlinge aus dem Osten eine bedeutende Rolle im deutschen Geistesleben der nächsten Jahrzehnte spielen sollten. Je klarer man erkennt, daß von den drei Reichsideen, die für die Entwicklung seit 1800 charakteristisch waren, 1. der Donauraum-Idee, dem Schwarzenbergischen „70-Millionen-Reich“, 2. dem „evangelischen Kaisertum“ Bismarcks und 3. der föderativen Idee, dem deutschen Bund und dem Rheinbund als seinem viel verleugneten Vorgänger, im Augenblick nur mehr die dritte zu einer Weiterentwicklung führen kann, da 1. und 2. die Herrschaft über nichtdeutsche Elemente voraussetzen, die wir wohl in absehbarer Zeit nicht mehr erreichen werden. Man hat diese föderative Idee namentlich in der kleindeutschen Geschichtsschreibung so reichlich geschmäht, daß man sie erst förmlich wieder ausgraben und als das Wesentliche der innerdeutschen Politik seit dem 14. Jahrhundert hinstellen muß, um den Sinn für sie zu erwecken. Es ist traurig, daß es gerade der Wille unserer Feinde ist, der uns in dieses Gleis zwingen will und daß wir selbst die Auswertung dieser Gedankengänge, die ich auch außerhalb Wiens in Österreich immer wieder beobachtet habe, nicht in die Hand genommen haben. Trotzdem sehe ich hier den einzigen Weg zu einer politisch eigenständigen Zukunft. Mit ergebensten Grüßen! Ihr Dr. Ernst Klebel.

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Über der Zeile eingefügt.

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Die Josephinismusinterpretation von Friedrich (Fritz) Valjavec

I Zur Vita von Valjavec und zum politischen Kontext Friedrich (Fritz) Maria Ludwig Valjavec wurde am 26. Mai 1909 in Wien geboren. Sein Vater, Ludwig August Valjavec, war Rechnungs-Official im k.u.k. Finanzministerium in Wien und kam in Laibach/Ljubljana auf die Welt. Seine Mutter, Maria Katharine Schiessel, gab Tonkünstlerin als Beruf an, war acht Jahre älter als ihr Ehemann und erblickte in Korneuburg das Licht der Welt. Ihre Eltern jedoch kamen aus dem Banat und aus Mähren. Die Familie wohnte im vierten Wiener Bezirk, in der Mühlgasse 15.1 Valjavec wuchs abwechselnd in Werschetz (serbisch Vršac, ungarisch Versec) im Banat und in Wien auf, die Schulen besuchte er im Banat. Diese Jahre dürften bei ihm bleibende Spuren hinterlassen haben: In der Kaiserstadt erlebte er Urbanität und ein bürgerliches Milieu mit deutscher Kultur und europäischem Horizont, in Werschetz dagegen die transleithanische Provinzialität. Hier tobte der Nationalitätenkampf mit besonderer Vehemenz. Der in Werschetz geborene Schriftsteller Ferenc Herczeg, der spätere Lieblingspoet des Reichsverwesers Nikolaus von Horthy in der Zwischenkriegszeit, zeichnete in seinen Memoiren diese konfliktträchtige Welt nach.2 So beteuerte er, dass, obwohl „außer im Komitatshaus, der Piaristenschule und der Konditorei nirgends Ungarisch gesprochen wurde“, die aufwärts strebenden Gebildeten den „magyarischen Herren geben wollten“, weil in Ungarn zwar „ein

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Nur bis 1911 wohnte der Vater im vierten Wiener Bezirk Wieden in einer Wohnung mit der Mutter, danach trennten sich die Wege der Familie. Vgl. die jeweiligen Ausgaben von Lehmanns Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger nebst Handels- und Gewerbe-Adressbuch für die k. k. Reichs-Haupt- und Residenzstadt Wien. Wien 1911–1919. Ferenc Herczeg (1863–1954) war führender Schriftsteller in der späten dualistischen Ära und in der Zwischenkriegszeit. Er kam in Werschetz zur Welt und vertrat die bedingungslose Assimilation und Propagierung der magyarischen sozio-politischen Elite in diesen Zeiten. Er war Mitglied und Vizepräsident der Ungarischen Akademie der Wissenschaften (MTA), Präsident der Ungarischen Revisionismus-Liga [Magyar Revíziós Liga] und Nobelpreiskandidat in den Jahren 1926 und 1927. – Nikolaus von Horthy (1868–1957), k.u.k. Offizier, Admiral und Reichsverweser des Königreiches Ungarn 1920–1944. Von 1909 bis 1914 war er Flügeladjutant Kaiser Franz Josephs I. Nach dem Sturz der Habsburger in Ungarn und der Etablierung einer Räterepublik unter Béla Kun 1919 trat er als Verteidigungsminister in die in Szeged gebildete konservative Gegenregierung ein und leitete den Kampf gegen die Räte-Regierung. Mit seinem Namen ist auch der „weiße Terror“ nach der Niederschlagung der Räterepublik verbunden. Ab 1920 führte er ein autoritäres System ein. 1944 musste er abdanken, er verbrachte sein Lebensende auf Madeira im Exil.

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Bauer Slowake oder Deutscher, ein Kulturmensch aber nur ein Ungar sein“ konnte.3 Die deutschnationale Identität von Valjavec wurzelte also in einer intensiven Auseinandersetzung mit ethnischer Zugehörigkeit: In dieser ad absurdum polarisierten Welt gab es keine graue Zone und keinen Ort des Müßigganges in der öffentlichen Artikulierung nationaler Identität. Der Einzelne musste öffentlich Farbe bekennen und diese auch kämpferisch verteidigen bzw. legitimieren. Für das Kind Valjavec war also Deutschsein eine alltägliche Auseinandersetzung mit der engeren Umwelt in einem ökonomisch florierenden Marktflecken im Banat. Dies wiederum macht eine weitere Komponente deutlich: In der Literatur wird hervorgehoben, dass er außer seiner deutschen Muttersprache auch Ungarisch, Rumänisch und Serbo-Kroatisch beherrschte.4 Dies wird wiederum mit dem multiethnischen Umfeld von Werschetz in Zusammenhang gebracht, was aber nur teils die Erklärung liefert bzw. in einen anderen Kontext gesetzt werden muss. Der so genannte Nationalitätenkampf wurde auch in Werschetz nicht zuletzt um die Sprache ausgetragen. Die Magyaronen plädierten für die intensive Erlernung und die Benutzung der ungarischen Sprache im privaten wie öffentlichen Raum.5 Die Beherrschung der Staatssprache galt als Zeichen der aufrichtigen Loyalität und als Krönung der idealisierten Assimilation. Wie gut Valjavec in Werschetz tatsächlich Ungarisch beherrschte, wissen wir nicht, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht allzu gut. Erst nach 1919 wandte er sich nämlich intensiv der Erlernung der ungarischen Sprache zu. Dagegen wurde er in seiner Heimatstadt sattelfest in Serbo-Kroatisch. Mehrsprachigkeit war zwar schon aus einer pragmatischen Haltung hinaus kein genuines Phänomen von Werschetz, aber die bewusste Präferenz der stigmatisierten Sprachen einer Minderheit im Gegensatz zur Staatssprache bezeugt ebenfalls eine politische Einstellung von Valjavec.6 Mit diesem Erfahrungsschatz zog Familie Valjavec nach dem Ersten Weltkrieg nach Buda­ pest. In der Fachliteratur wird es als eine Selbstverständlichkeit apostrophiert, dass Valjavec in Budapest den Anschluss an Jakob Bleyer und seine deutsche Bewegung fand.7 Doch dies galt 3 4 5 6 7

Herczeg Ferenc emlékezései [Memoiren von Ferenc Herczeg], hg. von Béla G. Németh. Budapest 1985, 85. Pars pro toto: Michael Silagi, Valjavec, Fritz. In: http://kulturportal-west-ost.eu/biographies/valjavec-fritz-3 [08.02.2015]. Vgl. Herczeg Ferenc emlékezései, wie Anm. 3, 104, 106 und 180. Siehe dazu ausführlich László Katus, A modern Magyarország születése. Magyarország története 1711– 1914 [Die Geburt des modernen Ungarn. Geschichte Ungarns 1711–1914]. Pécs 2010, 552-577. Jakob Bleyer (1874–1933); Germanist, Universitätsprofessor, Nationalitätenpolitiker. Nach dem Studium und der Promotion in Budapest, Berlin und Leipzig wurde er 1908 als Professor für deutsche Sprache und Literatur an die Universität Cluj/Klausenburg berufen. In den Jahren 1911 bis 1919 und erneut ab 1921 hielt er den Lehrstuhl für Germanistik an der Universität Budapest. Er war seit 1910 korrespondierendes Mitglied der ungarischen Akademie der Wissenschaften. 1926 wurde er Senator der „Deutschen Akademie“ in München sowie Ehrensenator und Ehrendoktor der „Universität Tübingen“. 1919 bis 1920 war er ungarischer Minister für nationale Minderheiten und von 1926 bis zu seinem Tode war er Abgeordneter des ungarischen Parlaments. Er galt zudem als „Führer des Ungarndeutschtums“ am Vizeposten des 1924 genehmigten „Ungarländischen Deutschen Volksbildungsvereins“. Seine Vita wurde für die Neue Deutsche Biographie von Fritz Valjavec verfasst: Fritz Valjavec, Bleyer, Jakob. In: Neue Deutsche Biographie (NDB), 2. Berlin 1955, 302–303.

Die Josephinismusinterpretation von Friedrich (Fritz) Valjavec

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keineswegs als selbstverständlich: Die Deutschen aus den so genannten abgetrennten Gebieten, so auch aus dem Banat, gingen zum Studium fast ausnahmslos nach Österreich. Warum die Familie Valjavec nach Ungarn ging, lässt sich gegenwärtig nicht beantworten, zumal Fritz Valjavec nicht die ungarischen Schulen, sondern 1923–30 die so genannte Reichsdeutsche Schule in Budapest besuchte und nebenbei Ungarisch lernte.8 Auch das ist singulär, denn ein wahres Netz von Organisationen und Netzwerken stand damals zur Verfügung, um Schülern und Studenten aus den „abgetrennten Gebieten“ ein Stipendium zu gewähren, damit sie ungarische Einrichtungen besuchten. In dieser Zeit sammelte er zwei entscheidende Erfahrungen: Erstens schaltete er sich als Jugendlicher in die deutsche Bewegung ein. Die Geländearbeit dieser Akteure war stets eine Zitterpartie im Hinblick auf die unberechenbaren Reaktionen der Behörden und der Gendarmerie. Tarnung, Desinformation etc. mussten also von den jugendlichen Aktivisten bis zur Perfektion angeeignet und angewandt werden. Das Horthy-Regime lieferte die „besten Bedingungen“, sich all dies anzueignen. Ideologisch setzte sich zweitens der Kreis um Bleyer mit einem Thema auseinander, das für Valjavec quasi das Fundament seiner wissenschaftlichen Arbeit werden sollte. Pars pro toto soll Raimund Friedrich Kaindl genannt werden, der in seinem Programm des „Karpatendeutschtums“ die These propagierte, bereits die deutsche Ostsiedlung im Mittelalter, aber auch die deutschen Siedlungsprozesse im 18. Jahrhundert seien ein Kulturtransfer, die deutschen Kolonisten dabei kontinuierlich „Kulturträger“ von West- nach Ost- bzw. Südosteuropa gewesen.9 Darauf reagierte die ungarische Historiographie, die um und nach dem Ausgleich 1867 im Begriff war, eine magyarische imperiale Geschichte zu konstruieren, äußerst allergisch. Um den Aufbau des magyarischen Nationalstaats innerhalb des Habsburgerreiches zu legitimieren, aber auch, um die politische Vorherrschaft der quantitativen Minderheit an Magy­ aren in Transleithanien zu erklären, wurde das Theorem verbindlich, wonach erst die ungarische Staatlichkeit nach deren Gründung unter König Stephan dem Heiligen (regierte 1000–1038) überhaupt Zivilisation für alle Völker der Stephanskrone gebracht habe. Die deutschen Immigranten des 18. Jahrhunderts, meist bäuerliche Untertanen oder Handwerker, wurden ergo Teilhaber dieser höheren Zivilisation. Historiographie, Publizistik etc. der 8

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Die Wurzeln dieser Bildungseinrichtung gehen auf das Jahr 1908 sowie den reformierten Pfarrer Richard Klar zurück. Ungarische Kinder durften erst ab der Mitte der Zwanziger Jahre aufgenommen werden, stellten alsbald aber die Majorität dar. Vgl. Ernst Deger, Die Reichsdeutsche Schule in Budapest. In: Franz Schmidt (Hg.), Deutsche Bildungsarbeit im Ausland nach dem ersten und dem zweiten Weltkrieg. Braunschweig 1956, 225–228. Raimund Friedrich Kaindl (1866–1930); Historiker und Ethnologe. Der in Czernowitz/Чернівці/ Cernăuți Geborene studierte in seiner Heimatstadt, promovierte 1891 und habilitierte sich ebendort. Er forschte über die Völker der Bukowina, allen voran aber zu den Deutschen in der Habsburgermonarchie. Als Volkstumspolitiker versuchte er den von ihm erschaffenen Terminus „Karpatendeutsche“ durchzusetzen. Im Ersten Weltkrieg floh er vor den russischen Truppen nach Wien. 1915 erhielt er einen Ruf auf die Universität Graz. Den Lehrstuhl für Österreichische Reichsgeschichte hatte er bis zu seinem Tode. Sein wichtigstes Werk ist die 1907 bis 1911 erschienene Geschichte der Deutschen in den Karpathenländern.

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Staatsideologie auf der einen und der Nationalitäten auf der anderen Seite lieferten sich eine verbitterte Polemik, die die breite Öffentlichkeit erreichte und diese für das Thema sensibel machte. Als Gegenreaktion schufen sich die Nationalitäten äquivalente Konstruktionen.10 Valjavec musste also später als nationalsozialistischer Historiker diese Konstruktion nicht neu erfinden, sondern lediglich ausschmücken und mit Inhalt füllen. Bleyer ermutigte seine Jünger, sich „praktischen Berufen“ zuzuwenden, damit ihre Existenz ob der Teilnahme an der Nationalitätenbewegung nicht gefährdet wurde. Da Valjavec aber Geschichte studieren wollte und im Trianon-Ungarn eine nationalitätenzentrische Geschichtsbetrachtung nicht geduldet wurde, meldete er sich in seiner Geburtstadt Wien zum Studium an. Seine Immatrikulation schlug fehl, weil sein Abitur nicht anerkannt wurde. Vermutlich auf Bleyers Empfehlung ging er deshalb nach München, wo er ab dem Wintersemester 1930/31 Geschichte und Germanistik studierte. In München wurde er vom Direktor des Südost-Instituts, Karl Alexander von Müller, und Arnold Oskar Meyer, Präsident der Wissenschaftlichen Abteilung der „Deutschen Akademie“, gefördert.11 Bleyer hatte gute Beziehungen zum „Verein für das Deutschtum im Ausland“ (VDA), wodurch auch Stipendien für die Nachwuchswissenschaftler aus Ungarn organisiert werden konnten. Die Stipendiaten aus Ungarn konnten sich aber nicht nur auf eine schöne und sorgenfreie Zeit freuen, sondern hatten sich auch als Volkstumskämpfer zu bewähren. Dies erfolgte teils in der Form von Vorträgen und Aufklärungsaktivitäten diverser Art, teils in der Pflege von Beziehungen, aber gelegentlich auch, indem sie als informelle politische Informationskanäle fungierten.12 10 Siehe dazu ausführlich Norbert Spannenberger, Interpretationen der Ansiedlungspolitik des 18. Jahrhunderts in der österreichischen und ungarischen Historiographie. In: Id. / Gerhard Seewann / Karl-Peter Krauss (Hg.), Die Ansiedlung der Deutschen in Ungarn. Beiträge zum Neuaufbau des Königreiches nach der Türkenzeit. München 2010, 5–40. 11 Karl Alexander von Müller (1882–1964); Historiker. Zu seinen Schülern gehörten nationalsozialistische Politiker und Akademiker wie Baldur von Schirach, Rudolf Heß, Hermann Göring, Walter Frank etc. Nach seinem Studium in München und Oxford habilitierte er sich 1917 über Joseph Görres. Er wurde Syndikus an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften sowie Honorarprofessor an der Universität München, 1928 dann ordentlicher Professor für bayerische Landesgeschichte. Im Mai 1933 trat er der NSDAP bei. Er galt als Vermittler zwischen den Historikergenerationen. Als Herausgeber der Historischen Zeitschrift und dank seiner Nähe zum Regime wurde er einer der einflussreichsten Historiker dieser Jahre. Von 1930 bis 1936 leitete er das „Institut zur Erforschung des deutschen Volkstums im Süden und Südosten“. 1936 wurde er zum Präsidenten der Bayerischen Akademie der Wissenschaften ernannt. Durch seine Verstrickung in das NS-Regime wurde er nach 1945 auf Anordnung der amerikanischen Militärverwaltung zwangsemeritiert. – Arnold Oskar Meyer (1877–1944); Historiker. Er arbeitete vor allem zur Geschichte der Reformation und Gegenreformation in England sowie zur Biographie Otto von Bismarcks. 1915 wurde er als ordentlicher Professor an die Universität Kiel berufen. Von 1922 bis 1929 lehrte Meyer an der Universität Göttingen und anschließend bis 1936 an der Ludwig-Maximilians-Universität München. 1936 wurde er als ordentlicher Professor für Mittlere und Neuere Geschichte an die Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin berufen und 1944 dort emeritiert. Ab 1929 war er Präsident der „Deutschen Akademie“. In der Zeit des Nationalsozialismus gehörte er dem Sachverständigenbeirat des „NS-Reichsinstituts für Geschichte des Neuen Deutschlands“ an. Valjavec galt als sein Schüler. 12 Siehe dazu ausführlich Norbert Spannenberger, Südostforschung im Dienst der SS. Zur Biographie von Fritz Valjavec 1909–1945. In: Südosteuropa Mitteilungen 54/4 (2014), 60–73.

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Das Thema seiner Dissertation über einen Intellektuellen der Aufklärung wurde Valjavec von Jakob Bleyer empfohlen.13 Dies erwies sich als nachhaltig, da Valjavec von nun an sich regelmäßig mit der Ideengeschichte des 18. Jahrhunderts und deren Auswirkungen befasste. Die „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten kam Valjavec zugute, der als VDA-Stipendiat nach seinem Studium eigentlich wieder nach Ungarn hätte zurückkehren müssen, um der Volkstumsarbeit zur Verfügung zu stehen. Valjavec aber durfte im Reich bleiben, sein Fall galt als Ausnahme. Von einem „besonderen Fall“ schrieb auch Franz Basch, der im September 1935 bestätigte: „Prof. Bleyer vertrat die Ansicht, dass er [nämlich Valjavec] als Wissenschaftler und Verbindungsmann unserer Volksgruppe im Reich bei weitem nützlicher als auf einem außendeutschen Posten sein würde.“14 Nach seiner Promotion wurde Valjavec 1934 wissenschaftlicher Mitarbeiter im neu gegründeten „Südost-Ausschuss“ der „Deutschen Akademie“ in München.15 Seine Sprach- wie Länderkenntnisse bezeugten seine Kompetenz, doch die nachhallende Fürsprache Bleyers spielte eigentlich die entscheidende Rolle. Zugleich engagierte er sich aber auch in eine andere Richtung: Bereits 1933 trat er der NSDAP bei, er war tätig für den NS-Studentenbund sowie den NS-Dozentenbund und profilierte sich als Blockleiter.16

13 Fritz Valjavec, Karl Gottlieb von Windisch. Das Lebensbild eines südostdeutschen Bürgers der Aufklärungszeit. München 1936. Auch später blieb er diesem Thema treu und es bildete den Schwerpunkt seiner Forschungen: Id., Wege und Wandlungen deutscher Südostforschung. In: Südost-Forschungen 1 (1936), 1–14.; Id., Der Werdegang der deutschen Südostforschung und ihr gegenwärtiger Stand. In: Südost-Forschungen 6 (1941), 1–37; Id., Betrachtungen zur Lage unserer Kultur. München 1941; Id., Südosteuropa und der Balkan. Forschungsziele und Forschungsnotwendigkeiten. In: Südost-Forschungen 7 (1942), 1–8.; Id., Der Josephinismus. Zur geistigen Entwicklung Österreichs im 18. und 19. Jahrhundert. Brünn – München – Wien 1944, 21945; Id., Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland 1770–1815. München 1951, 21978; Id., Geschichte der abendländischen Aufklärung. Wien – München 1961. Auf Spanisch erschien dieser Titel 1964, Italienisch 1973. Id., Geschichte der deutschen Kulturbeziehungen zu Südosteuropa. 5 Bde., München 1953–1970. Die Bände 4 und 5 wurden herausgegeben von Felix von Schroeder unter Einbezug des Nachlasses von Valjavec. 14 Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Bestand Südost-Institut, Dienstkorrespondenz Valjavec, Brief von Basch an Krehl vom 5. 9. 1935. Der Verfasser verwendet für diesen Aufsatz Kopien dieser Abschriften, die er seinerzeit anfertigte, als der schriftliche Nachlass von Valjavec noch im Archiv des „Südost-Instituts“ verwahrt wurde. – Franz Basch (1901–1946), Germanist und Nationalitätenpolitiker. Der in Zürich geborene Basch wuchs im Banat auf. Nach dem Studium und Promotion der Germanistik in Budapest, München und Freiburg im Breisgau wurde er Generalsekretär des „Ungarländischen Deutschen Volksbildungsvereins“. Im November 1938 wurde er Vorsitzender des „Volksbundes der Deutschen in Ungarn“, ab 1941 „Volksgruppenführer“. 1945 wurde er an Ungarn ausgeliefert und 1946 als „Kriegsverbrecher“ hingerichtet. 15 Diese erschien zwei Jahre später als Band 11 in der Reihe der Veröffentlichungen des Instituts zur Erforschung des Deutschen Volkstums im Süden und Südosten in München. 16 Krista Zach, Friedrich Valjavec nach seinen privaten tagebuchartigen Aufzeichnungen (1934–1946). In: Mathias Beer / Gerhard Seewann (Hg.), Südostforschung im Schatten des Dritten Reiches. Institutionen – Inhalte – Personen. München 2004, 257–273, hier 262, 270.

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An der „Deutschen Akademie“ verblieb Valjavec allerdings nur ein gutes Jahr lang.17 Was den Ausschlag für sein Ausscheiden gegeben haben mag, ist unklar. „Südost-Ausschuss“ wie Südost-Institut befanden sich jedenfalls in Konkurrenz zueinander, betrachteten doch beide den südosteuropäischen Raum als ihr Tätigkeitsfeld.18 Im Folgenden erhielt Valjavec auf Betreiben des Akademiemitglieds Karl Alexander von Müller ein DFG-Habilitationsstipendium und übernahm zudem am 1. Oktober 1935 eine Stelle am Südost-Institut, wo er bald eine Schlüsselrolle einnahm. Valjavec gründete die Institutszeitschrift Südostdeutsche Forschungen (ab 1940 dann Südost-Forschungen), und schon 1937 wurde er Geschäftsführer. Da die NSDAP „bis weit in die dreißiger Jahre hinein nicht in der Lage“ war, „aus ihrem Personalbestand eine eigene akademische Elite zu bilden“,19 waren gerade junge Quereinsteiger willkommen, denen so auch der Weg einer steilen Karriere nicht versperrt blieb und die „der Faszination einer unmittelbar zur Politik hin geöffneten Geschichtswissenschaft“ folglich nachgaben.20 Hierbei spielte eine wichtige Rolle, dass Valjavec ab 1935 mit Franz Ronneberger am „Außenamt der Studentenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität“ sowie am Südost-Institut einen Kollegen erhielt, mit dem er sich ergänzte.21 17 Siehe zur „Deutschen Akademie“ weiterführend: Eckard Michels, Von der Deutschen Akademie zum Goethe-Institut. Sprach- und auswärtige Kulturpolitik 1923–1960. München 2005, bes. 106–114. 18 Vgl. Edgar Harvolk, Zentrale Wissenschaftsorganisationen in München im Umfeld von Partei und Staat. In: Richard Bauer et al. (Hg.), München – „Hauptstadt der Bewegung“. Bayerns Metropole und der Nationalsozialismus. München 1993, 374–377. 19 Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten. Göttingen 2000, 369. 20 Hans Mommsen, Der faustische Pakt der Ostforschung mit dem NS-Regime. Anmerkungen zur Historikerdebatte. In: Winfried Schulze / Otto Gerhard Oexle (Hg.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus. Frankfurt am Main 1999, 265–274, hier 269. 21 Nach eigenen Angaben arbeitete Ronneberger von 1935 bis 1939 am Südost-Institut in München. In dieser Zeit habe er „viele Studienreisen in diese [südosteuropäischen] Länder“ unternommen und habe sich, obgleich er „die Sprache nicht [kannte]“, „hingezogen [gefühlt] zu den Menschen in diesem Raum und zu den vielen Problemen, die in diesen verschiedenen Kulturen vorherrschten“. Vgl. Franz Ronneberger, Wegemeister einer interdisziplinären Kommunikationswissenschaft. Autobiographische Fragen an Franz Ronneberger von Manfred Rühl. In: Arnulf Kutsch / Horst Pöttker (Hg.), Kommunikationswissenschaft – autobiographisch. Zur Entwicklung einer Wissenschaft in Deutschland. Opladen 1997, 21–35, hier 24. – Franz Ronneberger (1913–1999); Jurist und Sozialwissenschaftler. Noch während seines Jusstudiums in Kiel schloss sich der Thüringer dem Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund (NSStDB) an und engagierte sich für die Auslandsdeutschen. 1933 wurde er SA-Mitglied. Ein Schulungslager der Deutschen Studentenschaft weckte sein Interesse an Südosteuropa, weshalb er 1934 nach München ging. Hier wurde Ronneberger wissenschaftlicher Mitarbeiter am Südost-Institut und ein enger Weggefährte von Valjavec. Er übernahm das Außenamt der Studentenschaft der Universität München. Gemeinsam bereiteten sie Studenten auf ihren Einsatz zum „Landdienst“ im Ausland vor. Ebenso gemeinsam bauten sie 1936 einen Süd-Ost-Pressebericht auf, um die Auslandspresse sowie die Publikationen der deutschen Volksgruppen in Südosteuropa auszuwerten. 1937 wurde Ronneberger Leiter der „Außenstelle Südost“ der „Reichsstudentenführung“ und trat in die NSDAP ein. 1939 berief ihn Reichsstatthalter Arthur Seyß-Inquart in seinen Wiener Mitarbeiterstab zwecks „Aufbau einer Dienststelle zur Erforschung des Pressewesens in Südosteuropa und der laufenden Presse- und politischen Berichterstattung“. 1940 wurde das „Büro Ronneberger“ mit seinen nachrichtendienstlichen

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Wenn der nur zweiundzwanzigjährige SA-Mann Ronneberger über hervorragende Parteikontakte verfügte und vor allem organisatorisch und in der Propagandaschulung sich auszeichnete, so war der damals sechsundzwanzigjährige Valjavec mit seinen Sprach- und Länderkenntnissen der Fachkundige schlechthin. Er war nach einem „ausführlichen Gesamturteil“ der NSDAP-Gauleitung München-Oberbayern vom 1. September 1942 „gesinnungstreu und offen, ohne Winkelzüge, doch mangelt es ihm an selbstbewusstem und geschlossenem Auftreten. Er ist keine Führernatur, zeigt aber politischen Instinkt und kämpferische Veranlagung“.22 Auf Valjavec lastete um diese Zeit ein enormer Leistungsdruck: 1935 zeigte der Organisator des ersten Reichsleitungskampfes der Studenten, Franz Alfred Six, über Ronneberger Interesse für seine Arbeit im Südost-Institut.23 Valjavec organisierte schon rassenhygienische Untersuchungen in den deutschen Siedlungsgebieten, die an den Universitäten Freiburg im Breisgau und Rostock ausgewertet wurden, koordinierte auch die BDM-Arbeit der Universität Leipzig mit der Zuständigkeit für Jugoslawien und der Universität Halle-Wittenberg mit der Zuständigkeit für Ungarn.24 All diese Tätigkeiten standen schon im Dienste der Gegnerforschung der SS, und Valjavec setzte nunmehr zielstrebig auf die SS-Karte, zumal auch Ronnebergers Karriere einen richtigen Aufschwung nahm, als dieser 1939 die Aufnahme in die SS beantragte. Anfänglich waren die Rezipienten des Valjavec’schen Informationsdienstes diverse Kontaktpersonen vom Aufgaben vom Auswärtigen Amt übernommen. Im Mai 1944 wurde Ronnebergers Pressedienststelle mit der von Wilfried Krallert geleiteten „Publikationsstelle Wien“ der „Südostdeutschen Forschungsgemeinschaft“ vereinigt. Ronneberger wurde Krallerts Vertreter in Wien, der im November 1943 die Leitung der Gruppe VI G (wissenschaftlich-methodischer Forschungsdienst) im Amt VI (Auslandsnachrichtendienst) des „Reichssicherheitshauptamtes“ der SS übernommen hatte. 1947 konnte Ronneberger mit Erfolg die „Entnazifizierung“ erreichen. 1958 wurde er Referent für Hochschulfragen und akademische Nachwuchsförderung beim Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft in Essen. 1961 verfasste er für die „Südosteuropa-Gesellschaft“ (SOG) Vorschläge zur Einordnung der Südosteuropa-Forschung in die Aufbaupläne der deutschen Hochschulen. 22 www.zinnewarte.de/Transsylvania/Blindheit2.html [08.02.2015]. 23 Franz Alfred Six (1909–1975); NS-Funktionär. Schon als Student in Heidelberg war er aktiv im „Natio­ nalsozialistischen Deutschen Studentenbund“. Nach der Promotion 1934 und der Habilitation 1936 wurde er Professor für Zeitungswissenschaft in Königsberg, die er auslandswissenschaftlich umorganisierte. Er betrieb Gegnerforschung. 1940 wurde er Dekan in Berlin an der Auslandswissenschaftlichen Fakultät. Seine Karriere in der NS-Hierarchie war sehr steil: 1935 kam er als Chef des Presseamtes zum SD-Hauptamt in Berlin, 1937 war er de facto Inlands-Chef des Sicherheitsdienst des Reichsführer-SS Himmler. Von 1939 bis 1942 war Six Amtschef im Reichssicherheitshauptamt der SS, zunächst des Amtes II „Gegnererforschung“, ab 1941 des Amtes VII „Weltanschauliche Forschung“. Er war damit einer der sieben ranghöchsten Führer im gesamten SD-Hauptamt. Auf Empfehlung der Unterstaatssekretärs im Auswärtigen Amt, Martin Luther, wechselte Six im September 1942 zum Auswärtigen Amt. Dies war eine wichtige Etappe in der Vernetzung von Auswärtigem Amt, SS und RSHA. 24 Vgl. ausführlich Norbert Spannenberger, Vom volksdeutschen Nachwuchswissenschaftler zum Protagonisten nationalsozialistischer Südosteuropapolitik. Fritz Valjavec im Spiegel seiner Korrespondenz 1934–1939. In: Mathias Beer / Gerhard Seewann (Hg.), Südostforschung im Schatten des Dritten Reiches. Institutionen – Inhalte – Personen. München 2004, 215–235.

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VDA oder von den Parteistellen, so etwa Alfred Krehl, der VDA-Landesleiter in Baden-Württemberg, der diese dann im NS-Kurier Stuttgart und im Völkischen Beobachter unterbringen konnte. Durch den bayerischen Landesleiter des VDA, Ministerialdirektor Fischer, informierte Valjavec sogar Reichaußenminister Joachim von Ribbentrop über die Lage in Ungarn. Doch spätestes ab 1937 war die SS der erste Adressat seiner Berichte. Diese Positionierung erwies sich als vorausschauend, denn als er sich mit nur 29 Jahren 1938 habilitierte, war das Südost-Institut finanziell gefährdet, dies, obwohl Valjavec das Institut sowohl in der NS-Volkstumsarbeit als auch in der Südostforschung fest etabliert hatte. Doch nachdem das Südost-Institut institutionell in die SS integriert worden war, konnte nicht nur seine Existenz gesichert werden, sondern war auch die weitere Entwicklung vorgezeichnet. Valjavec profitierte mehrfach davon: Erstens verlor er zwar wegen seiner politischen Aktivität 1939 seine jugoslawische Staatsangehörigkeit, war sogar eine Zeit lang staatenlos. Doch sobald er im Sommer 1939 seinen Ariernachweis vorlegte, wurde er schnell eingebürgert.25 Zweitens erhielt er im März 1940 den Ruf auf den Lehrstuhl für Geschichte und Landeskunde Südosteuropas an dem von Franz Alfred Six geleiteten „Deutschen Auslandswissenschaftlichen Institut“ (DAWI) in Berlin. Six war bereits Amtschef im Reichssicherheitshauptamt in der Abteilung „Gegnerforschung“ und Valjavec bemühte sich mit Erfolg, das Südost-Institut formal dem DAWI einzugliedern.26 Damit wurde auch Fritz Valjavec noch enger an die SS gebunden, was aber neue Konkurrenten bescherte: Die Wiener Forschungseinrichtungen der SS, so auch die „Publikationsstelle der Südostdeutschen Forschungsgemeinschaft“ (SODFG) unter Leitung des für den Wiener SD arbeitenden Wilfried Krallert, sahen Valjavecs Aktivität mit Misstrauen.

II Definition, räumliche und zeitliche Kontextualisierung Valjavec summierte seine Thesen und Ergebnisse in einer Monographie, die spät, erst gegen Ende des Zweiten Weltkrieges, im Verlag Rudolf M. Rohrer erschien.27 Vorab, nämlich ein Jahr früher, ließ er einzelne Teile als Studie im Sammelband Stufen und Wandlungen der deutschen Einheit veröffentlichen, der von Kurt von Raumer und Theodor Schieder herausgegeben wurde.28 Er wollte mit dieser Monographie eine Synthese zum Josephinismus anbieten, die nicht allein seine eigenen, sondern auch die zeitgenössisch offiziösen Forschungsergeb-

25 Warum er dies früher nicht tat, lässt sich im Spiegel des gegenwärtigen Forschungsstandes nicht beantworten. 26 Nunmehr arbeitete Valjavec eng mit führenden Funktionären des Sicherheitsdienstes der SS, so etwa mit Walter Schellenberg (1910–1952) oder Hans Joachim Beyer (1908–1971), auch „Himmlers Professor“ genannt, zusammen. 27 Fritz Valjavec, Der Josephinismus. Zur geistigen Entwicklung Österreichs im 18. und 19. Jahrhundert. Brünn – München – Wien 1944. 28 Id., Der Josephinismus als politische und weltanschauliche Bewegung. In: Kurt von Raumer / Theodor Schieder (Hg.), Stufen und Wandlungen der deutschen Einheit. Stuttgart 1943, 114–132.

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nisse zusammenfasste und als Synthese präsentierte. Sein Ansatz galt dabei einer dezidierten Trennung zwischen Kaiser Joseph II. „und seinen Bestrebungen für sich“ und dem „Josephinismus des 18. und 19. Jahrhunderts als Gesamterscheinung, die mit den Bestrebungen des Kaisers weniger zusammenhängt, als zunächst angenommen werden könnte“.29 Ein Alleinstellungsmerkmal bestand für Valjavec eben darin, dass keine großen Persönlichkeiten ihn denkerisch formten oder zusammenfassten: So definierte Valjavec den Josephinismus als eine „gewachsene Geistesströmung“, die „kein bewusst geschaffenes System, sondern durch das Wirken anonymer Kräfte entstanden“ war.30 Deshalb ließen sich nationale, soziale und religiöse Aspekte voneinander unterscheiden.31 Doch auch weitere Singularitätskomponenten des Josephinismus machte Valjavec in seiner Analyse aus: Erstens war dieser „eine geistige Strömung“, die in der Habsburgermonarchie eine Zeitspanne abdeckte, die sonst in Europa „durch die Aufklärung, romantische Strömungen verschiedener Art und den frühen Liberalismus bestimmt gewesen“ sei.32 Zweitens aber strebte der Josephinismus danach, „Neues und Altes harmonisch auszugleichen“, also nach einer „Versöhnung auseinanderstrebender geistiger Kräfte“ der Zeit.33 Zumal schon die Entstehung des Josephinismus das „Ergebnis eines Ausgleichs zwischen Aufklärung und den geistigen Kräften der vorausgehenden Zeit“ war, womit sowohl die Uneinheitlichkeit in der Struktur als auch die Kontradiktionen in seinen verschiedenen Ausprägungen und Trägerschichten zu erklären waren.34 Genau damit wollte Valjavec aber auch die Existenzberechtigung seiner Synthese zeigen, wenn er einerseits beteuerte, dass zwar viele Publikationen zum Josephinismus vorlagen, doch dieser als „Geistesströmung“ nicht gebührend gewürdigt wurde: Der Josephinismus war nämlich „keineswegs eine bloße Lebensform […], sondern Geist und Gesinnung in tätiger Reflexion von oft überraschender Einsicht und Tiefe“.35 Deshalb waren für ihn auch nicht die kirchenpolitischen Anschauungen und Maßnahmen von Interesse, sondern die Langzeitwirkungen des Josephinismus, die er punktuell bis in seine Gegenwart beobachten zu können glaubte. Damit wollte er aber nicht nur auf die zeitliche Einordnung seines Themas mit starkem Aktualitätsbezug abzielen, sondern auch die eigentliche Kontextualisierung vorzeichnen: Der Josephinismus war Teil der gesamtdeutschen Geistesgeschichte auch dann, wenn er sich großteils außerhalb des homogenen deutschen Sprachgebietes, im multiethnischen Habsburgerreich, zu entfalten vermochte. So betonte Valjavec den Vorbildcharakter deut-

29 Valjavec, Der Josephinismus, wie Anm. 27, VIIIf. 30 Valjavec, Der Josephinismus, wie Anm. 27, 15. Deshalb betonte Valjavec auch, dass der Josephinismus weder in der Literatur noch in der Presse, am ehesten noch im Wiener Volksstück bzw. im Bürgerlichen Gesetzbuch von 1811 markant zu greifen sei. 31 Valjavec, Der Josephinismus, wie Anm. 27, 18. 32 Valjavec, Der Josephinismus, wie Anm. 27, 1. 33 Valjavec, Der Josephinismus, wie Anm. 27, 114. 34 Valjavec, Der Josephinismus, wie Anm. 27, 21. 35 Valjavec, Der Josephinismus, wie Anm. 27, 3.

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scher protestantischer Länder bzw. die „zu oft geradezu überraschenden Parallelen“ in Südund Westdeutschland. Dennoch konnte sich die Aufklärung dort durchsetzen, während einer ähnlichen Rezeption hier Grenzen gesetzt waren: „Das geistige Erbe der vorangehenden Zeit, die Nachwirkung von Kräften aus dem Zeitalter der kirchlichen Restauration, des Barock sowie die starke Verbindung Österreichs mit dem Katholizismus überhaupt, hinderte jedoch die Aufklärung an einer vollen Besitzergreifung des Staates und seines politischen Apparates, wie das etwa in protestantischen Ländern Deutschlands möglich war.“36 Neben der europäischen Aufklärung waren also die entscheidenden Impulse laut Valjavec von den deutschen Ländern zu vernehmen, womit Österreich als „Juniorpartner“ Deutschlands klassifiziert wurde: etwas retardiert in der Entwicklung, aber schöpferisch in seinem Alleinstellungsmerkmal in der Lage, „in ihrer Summe […] etwas in sich Geschlossenes, geschichtlich Einmaliges“ dazustellen.37 Dies allerdings war kein Verdienst des Monarchen, sondern das Ergebnis der kollektiven Kompromissbereitschaft „der Wiener Regierungsstellen“ bzw. des „Staates“, indem die Rezeption der Aufklärung mit den „religiösen Überlieferungen“ in Einklang gebracht werden sollte. Deshalb plädierte er dafür, den „Josephinismus der habsburgischen Länder zunächst einmal als Einheit für sich zu betrachten“, nämlich als „Sammelbezeichnung“ aller „in sich verwandten Strömungen“.38 Valjavec setzte gerade hier eigene Akzente, sich von etablierten Zugängen abzusetzen und die eigene Kompetenz herauszustreichen: Für ihn bot sich als Betrachtungsobjekt die Habsburgermonarchie als Einheit in Ganzheit an. Zwar stand die Entwicklung in den deutschen Erbländern im Fokus, doch er betrachtete diese nicht explizit als „Zentren“ des Imperiums und die slawischen, ungarischen etc. Reichsteile als Peripherien, sondern als komplementäre Prozesse unter unterschiedlichen Voraussetzungen, die in Wien wieder zusammenfanden. Genau deshalb stützte er sich demonstrativ nicht nur etwa auf Forschungsergebnisse aus den böhmischen Ländern, sondern ganz stark auf die von ihm präferierte ungarische, südslawische, rumänische etc. Fachliteratur.39 Selbst wenn das Reich als Gesamtheit betrachtet wurde, zeigte der Josephinismus bei den einzelnen Völkern letztlich doch „national eigenthümliche Sonderformen“, die in der Rezeption erhebliche Unterschiede aufwiesen. So generierte der Josephinismus bei den katholischen Slawen die nachhaltigsten Prägungen, etwa bei den Tschechen in der Form von nationalkirchlichen Forderungen, die bis in die Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts wirksam

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Valjavec, Der Josephinismus, wie Anm. 27, 7. Valjavec, Der Josephinismus, wie Anm. 27, 8. Valjavec, Der Josephinismus, wie Anm. 27, 9f. Hierbei stützte er sich nicht nur auf Arbeiten von Elemér Mályusz, mit dem er auch intensiv zusammenarbeitete. Vgl. Spannenberger, Südostforschung, wie Anm. 12. Akribisch zeichnete er anhand von Primärquellen, wie des Tagebuches des Raaber Bürgers Johann Ecker, Transfermöglichkeiten des Josephinismus durch das deutsche Bürgertum in Ungarn nach. Die Habsburgermonarchie als Einheit analysierte er aber nicht nur im Zusammenhang mit dem Josephinismus, sondern auch in anderen Zusammenhängen, wie etwa dem Biedermeier.

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blieben.40 Und während bei den Magyaren der Josephinismus sehr frühen Eingang fand, wurden die sozialen und politischen Komponenten ausgeblendet, so dass soziale Reformen erst im Zeichen des Liberalismus nach 1825 thematisiert wurden.41 Insgesamt konstatierte Valjavec eine Asymmetrie auf der Rezeptionsebene, die markante räumliche Spuren hinterließ: Während sich die Deutschen eher die politischen Komponenten des Josephinismus zu eigen machten, hinterließen die weltanschaulich-kulturellen vornehmlich bei den anderen Völkern ihre Spuren, die erst wegen der Nationalbewegungen abstarben.42 Während die räumliche Dimension des Josephinismus für Valjavec klar zu definieren war, erwies sich dessen zeitliche Einordnung für ihn komplexer. Die Genese verortete er im Kreis um Gérard van Swieten in der theresianischen Zeit, die von der österreichischen Aufklärung, vom Reformkatholizismus und Jansenismus geprägt war. Zudem kam der Aktionseifer jener Orden, die ihre Position gegenüber den Jesuiten behaupten wollten und sich als „Exekutive der Ideen“ anboten.43 Charakteristisch für diese Ausgangsbedingungen war, dass sie allesamt kirchlicher Provenienz waren. Als eigentliche Träger machte er aber die Bürokratie und das Militär aus, die „über Generationen hindurch“ die Idee des Josephinismus weitergereicht hätten, und die Benediktiner bzw. die Weltgeistlichkeit, die sich sogar bis um 1900 als deren Anhänger profilierten.44 Einen Höhepunkt erlebte der Josephinismus in der Dekade der Alleinherrschaft Josephs  II., ohne dass die Jahreszahlen 1780 und 1790 allein eine einschneidende Zäsur bedeutet hätten. Doch erstens wurden erst jetzt spektakuläre Erneuerungen durchgeführt, zweitens führten die Ereignisse in Frankreich nach 1789 zu starken Gegenbewegungen zur Aufklärung. Determiniert von den Forschungen des ungarischen Historikers Elemér Mályusz sah 40 Siehe dazu ausführlich Martin Schulze Wessel, Konfessionelle Konflikte in der Ersten Tschechoslowakischen Republik. Zum Problem des Status von Konfessionen im Nationalstaat. In: Hans-Christian Maner / Martin Schulze Wessel (Hg.), Religion im Nationalstaat zwischen den Weltkriegen 1918–1939. Polen – Tschechoslowakei – Ungarn – Rumänien. Stuttgart 2002, 73–102. 41 Zu den Diskursen im Vormärz siehe András Gergely, Széchenyi eszmerendszerének kialakulása [Die Herausbildung des Denksystems von Széchenyi]. Budapest 1972; Gyula Mérei, Mezőgazdaság és agrártársadalom Magyarországon 1790–1848 [Landwirtschaft und Agrargesellschaft in Ungarn 1790– 1848]. Budapest 1948; Antal Meszlényi, A jozefinizmus kora Magyarországon (1780–1846) [Das Zeitalter des Josephinismus in Ungarn (1780–1846)]. Budapest 1934. 42 Valjavec, Der Josephinismus, wie Anm. 27, 19 und 79. Auch wenn Valjavec also bewusst und konsequent möglichst alle Völker berücksichtigte, fokussierte er sich letztlich doch auf die Deutschen der Monarchie bzw. auf deren Trägerakteure, auf die Bürokratie, die Intellektuellen, das höhere und mittlere Bürgertum und den Großteil des Klerus. Zu seinen Transformationsansätzen siehe Fritz Valjavec, Der deutsche Kultureinfluss im nahen Südosten. Unter besonderer Berücksichtigung Ungarns, 1. München 1940. Die größten Forschungsdefizite machte er allerdings bei der Orthodoxie aus, obwohl er die Relevanz – aufgrund seiner eigenen Forschungen – in der Bukowina und in Siebenbürgen als besonders hoch einschätzte. Vgl. zur Rezeption Emanuel Turczynski, Konfession und Nation. Zur Frühgeschichte der serbischen und rumänischen Nationsbildung. Düsseldorf 1976. 43 Dass diese Orden letztlich auch ihre eigene Machtposition auf Dauer erschüttern würden, damit rechneten sie natürlich nicht. Valjavec, Der Josephinismus, wie Anm. 27, 10. 44 Valjavec, Der Josephinismus, wie Anm. 27, 89.

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Valjavec gar in den Jakobinerverschwörungen die eigentliche Zäsur, denn Kaiser Franz II./I. positionierte sich danach politisch offen gegen den Josephinismus.45 Aber „die geistige Haltung der leitenden Beamten und des größten Teiles der Bürokratie überhaupt veränderte sich gegenüber der vorangehenden Zeit nicht wesentlich“. Diese Schichten waren nämlich von der Aufklärung weitgehend durchdrungen und zu ihren Meriten zählte die „Festigung des absolutistischen Zentralismus“.46 Diese Konstellation führte im Endergebnis dazu, dass die Ideologie der Aufklärung ausgeschaltet wurde, „ohne ihrer als Technik, als Instrument entraten zu wollen und zu können“, betonte Valjavec.47 Und da eine eigene philosophische Grundlage des Josephinismus von vornherein fehlte, konstatierte Valjavec eine „geistige Erstarrung“ schon in der franziszeischen Zeit.48 Die eigentliche sichtbare Auflösung des politischen Josephinismus erfolgte aber laut Valjavec nach 1850 durch den Liberalismus, infolge der Politisierung und Nationalisierung der Hochschulen bzw. der Studentenschaft und der Armee.49 Was zunächst in den breiten Kreisen der Mittelschicht übrig blieb, war der „Vulgärjosephinismus“ mit der Idealisierung des Kaisers, der politischen Radikalisierung gegen den Adel, dem Antiklerikalismus und der Befürwortung der führenden Rolle des Deutschtums in der Monarchie.50 Diese Stimmung mutierte jedoch nie zur agierenden Aktion und war per se Wegbereiter des Liberalismus und demokratischer Ansichten. Der Josephinismus bildete somit „die Grundlage“ jener Entwicklung, die 1848 wirksam wurde, ohne die Revolution mit zu tragen, und fungierte als Wegbereiter der nachrevolutionären Entwicklungen, die nach 1867 deren Befürworter in den linken Strömungen auffing.51

III Die Relevanz der Religion und die Kirchenpolitik des Josephinismus Also selbst der Übergang von der Aufklärung zum Liberalismus erfolgte in Österreich „in einer josephinischen Form“, und obwohl der Josephinismus an Umfang und Gewicht allmäh-

45 Elemér Mályusz (1898–1989), Historiker. Nach seinem Studium in Budapest promovierte er 1920 und verbrachte zwei Jahre mit Archivrecherchen in Wien. 1922 bis 1930 arbeitete er im Ungarischen Landesarchiv, in dieser Zeit habilitierte er sich zudem. Sein Forschungsinteresse galt vornehmlich dem ungarischen Mittelalter, doch er publizierte auch zur Frühen Neuzeit, zum Barock und zur Aufklärung. Er galt als Gründer der völkischen Forschungen in Ungarn, hierbei waren seine Kontakte zu Valjavec wegweisend. 1945 wurde er zwangspensioniert, 1947–1954 leitete er das Evangelische Landesarchiv in Budapest. 46 Valjavec, Der Josephinismus, wie Anm. 27, 13. 47 Valjavec, Der Josephinismus, wie Anm. 27, 13. 48 Valjavec, Der Josephinismus, wie Anm. 27, 8. 49 Valjavec, Der Josephinismus, wie Anm. 27, 90. 50 Valjavec, Der Josephinismus, wie Anm. 27, 93f. 51 Valjavec, Der Josephinismus, wie Anm. 27, 97.

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lich verlor, konnten sich liberale, demokratische und nationale Elemente länger behaupten.52 Eine unübersehbare Langzeitwirkung ließ sich auch beim katholischen Klerus beobachten. Dank seines Kompromisscharakters jedoch machte der Josephinismus von Anfang an Konzessionen an die Kirche, womit die Geltung der Aufklärung „sich selbst abgebaut“ hatte, so dass in seiner Wirksamkeit eine deutliche Ambivalenz ab ovo zu konstatieren war. Genau daher rührt aber die Relevanz der Kirchenpolitik, die sich als Origo in der Einschätzung der praktischen Wirksamkeit anbietet, auch wenn dies intentional nicht der zentrale Punkt des Josephinismus war. Auch wenn Valjavec ausgerechnet die kirchenpolitischen Aspekte des Josephinismus für am besten erforscht und gar nicht für die entscheidenden hielt, huldigte er mit einer quantitativen Asymmetrie doch damit, dass von den insgesamt 114 Seiten etwa 59 diesem Themenkomplex gewidmet wurden. Prinzipiell machte er anfangs zwei Strömungen aus, die theistisch-christlich bzw. deistisch-radikal geprägt waren, doch für die kirchenpolitischen Entscheidungen nur eine sekundäre Rolle spielten, weil für beide die „ethischen Funktionen der Religion im Vordergrund“ standen. Indem aber der Staat als Wohlfahrtsanstalt mit seinen sittlichen Aufgaben das „schlechthin Entscheidende“ war, spielte nicht die Kirche als Institution, sondern die Religion als Kohäsionskraft die wichtige Rolle.53 Aus dieser Konstellation heraus war auch die Hierarchie folgerichtig: Wenn der Staat von der Vernunft und dem Naturrecht geleitet wurde, musste auch die Religion vom Staat auf die irdischen Belange beschränkt werden. Die Religion war also ein Politikum und somit dem Staat untergeordnet, die Kirche als Vermittlungsinstanz des Religiösen zwar relevant, nicht mehr aber das Maß aller Dinge. Zugleich förderte der Josephinimus den Reformkatholizismus, ließ ihn aber „der Aufklärung nie ganz überantwortet“.54 Dies wiederum hing auch damit zusammen, dass der Josephinismus durchwegs „ein unbereinigtes Verhältnis zu allen transzendentalen Fragen“ aufwies, und erst ab 1850 die radikalen Varianten der Säkularisierung relevant wurden, als die materialistischen und atheistischen Strömungen zunehmend an Einfluss gewannen.55 Valjavec gestand Eduard Winter den Rang der führenden Interpretation josephinischer Kirchenpolitik zu, selbst wenn dieser laut Valjavec eine „rückhaltslos positive“ Bewertung der reformkatholischen Züge aufwies. Vajlavec wollte aber den Josephinismus vor allem nicht auf die kirchenreformpolitischen Aspekte reduziert wissen, denn als „umfassendere, ‚allgemeine‘ Zeitströmung hat der Josephinismus eine längere Lebensdauer besessen, weite Strecken der österreichischen Geistesentwicklung im 19. Jahrhundert schlechtweg bestimmt und noch bis in das 20. Jahrhundert hinein beeinflusst“. Genau für diese Langzeitwirkung über die reformkatholischen Maßnahmen hinaus, wo er übrigens ebenfalls erhebliche Forschungslücken konstatierte, glaubte er etwas Originelles anbieten zu können, denn „diese Zeitspanne seiner Geltung ist weniger erarbeitet“.56 Distanz zu Winter und der Anspruch auf Berücksichtigung 52 53 54 55 56

Valjavec, Der Josephinismus, wie Anm. 27, 15. Valjavec, Der Josephinismus, wie Anm. 27, 23. Valjavec, Der Josephinismus, wie Anm. 27, 26. Valjavec, Der Josephinismus, wie Anm. 27, 31f. Valjavec, Der Josephinismus, wie Anm. 27, X.

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der josephinischen Wirkungsgeschichte „möglichst in ihrem vollen Umfang“ als ein „knappes Bild“ determinierten also das Josephinismusbild von Valjavec.57 Laut Valjavec fungierte der Josephinismus auch in seiner Kirchenpolitik nach dem Selbstverständnis des Mediators, des Vermittlers zwischen der alten Lehre und der Aufklärung. Indem aber im Vormärz eine Radikalisierung mit sukzessiver Säkularisierung entstand, wurde auch das Verhältnis zur katholischen Kirche zunehmend negativ, obwohl der Klerus sich durchaus den Kirchenreformen hingab. Doch die ideologische Radikalisierung führte zu einem Wandel im Klerus hin zum Ultramontanismus, was wiederum den Antiklerikalen weiteren Anstoß zur Radikalisierung gab. Somit geriet aber der Josephinismus in einen Zweifrontenkrieg, den er letztlich nur zu verlieren vermochte.58 Erst diese bipolare Radikalisierung führte nach 1850 bzw. 1867 zum Schulterschluss zwischen Klerus und Konservativen.59 Valjavec untermauerte seine Thesen auch damit, dass er dem Josephinismus eine positive Einstellung gegenüber dem Protestantismus bescheinigte, dessen progressive Vorzüge durchaus „gewürdigt“ wurden. Ja, er wurde von dem Josephinismus sogar gestärkt, weil er „aufgeklärter, vernünftiger und somit zeitgemäßer“ galt als der Katholizismus.60

IV Interpretatorische Gratwanderung zwischen Herkunft, Wissenschaft und Zeitgeist Die Herkunft Valjavecs als Volksdeutscher, sein Anspruch als wissenschaftlich führende Autorität zu gelten und seine Verpflichtung als hoher NS-Funktionär zwangen ihn zu einer offensichtlichen Gratwanderung in der Interpretation des Josephinismus. Einerseits ist seine prinzipielle Sympathie für den Josephinismus als Reformprogramm nicht zu übersehen, zumal darin die politische und kulturelle Führungsposition des Deutschtums eine fundamentale Rolle spielte, die wiederum für sein Forschungsparadigma, die Deutschen als „Kulturvermittler und -träger“ in Südosteuropa anzusehen, diente. Dies erklärt die vielleicht einzige Stelle in seiner Studie, wo er emotional wurde, nämlich bei der Verteidigung des Josephinismus gegen „Germanisierungsvorwürfe“ der nationalromantischen Interpretationen der nichtdeutschen Völker.61 Seine Einwände sind wissenschaftlich stichhaltig und nachvollziehbar, doch es ging bei ihm um mehr: Er war sich bewusst, welche Schlüsselrolle in der Selbstzuordnung der Österreicher diesem Thema zukam. Wenn nämlich der Josephinismus in gewissen Erscheinungsformen bis in die Gegenwart präsent war, wie es Valjavec in seiner Arbeit beteuerte, so konnte die jüngere Geschichte Österreichs nicht komplett eine Fehlentwicklung gewesen sein. 57 58 59 60 61

Valjavec, Der Josephinismus, wie Anm. 27, XII. Valjavec, Der Josephinismus, wie Anm. 27, 49 und 56. Valjavec, Der Josephinismus, wie Anm. 27, 100. Valjavec, Der Josephinismus, wie Anm. 27, 73. Valjavec, Der Josephinismus, wie Anm. 27, 102f. Diese Interpretation bildet nicht selten bis heute ein Axiom der Historiographie. Siehe dazu Katus, A modern Magyarország, wie Anm. 6, 82-91.

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Und genau diese Einordnung der österreichischen zur gesamtdeutschen Geschichte war ihm von identitätsstiftender Bedeutung auf der Makroebene wie aber auch für seine eigene Identität als Altösterreicher, der im „Großdeutschen Reich“ eine famose Karriere gemacht hatte. Erst in diesem Zusammenhang werden auch seine Kritikpunkte deutlich, wie etwa im „Versagen des Josephinismus in der Kirchenpolitik“ oder wenn er nur eine „Abart des aufgeklärten Absolutismus“ werden konnte, weil es eben – im Gegensatz zu Preußen als unumstrittenes Vorbild in der deutschen Geschichte – kein geschlossenes System zu bilden vermochte.62 In diesem Zusammenhang werden die Teilerfolge gegen die katholische Kirche umso schwerwiegender, als die „Schuld an der Spaltung des deutschen Volkes“ nach dem Dafürhalten der Zeitgenossen die ultramontane Kirche trug. Umsonst pflegte der Josephinismus Sympathien gegenüber dem Protestantismus, dies reichte nicht aus, um eine ähnliche Aufwärtsentwicklung einzuschlagen wie Preußen, das ideologisch wie politisch dies mit aller Konsequenz vollbracht hatte. Als Überwölbung der Gesamtinterpretation wiederum musste der Josephinismus – wenn auch nur indirekt – auch zur nationalsozialistischen Ideologie definiert werden. Welche Komponenten hierbei unangefochten positiv dargestellt wurden, waren offensichtlich: So war der Josephinismus ein Anlauf gegen verkrustete Strukturen. Der Gesamtstaat als politische Einrichtung stand im Mittelpunkt, der sich aber auch um die Wohlfahrt seiner Bürger kümmerte und gegen Privilegien vorging, während er die Lasten gerecht verteilte. Dafür sollte eine zentralisiert und effizient aufgebaute Bürokratie geschaffen werden. Nicht nur die katholische Kirche als Institut sollte marginalisiert werden, sondern auch die Organisation der Freimaurer und die Pressefreiheit.63 An diesem Punkt überschritt Valjavec auch die Ethik seiner Zunft und bei ihm obsiegte der Parteifunktionär, wenn er beteuert, dass die „Judengefahr“ schon von den Josephinisten erkannt worden war, so dass die generelle Toleranz letztlich vom politischen Instinkt und Pragmatismus besiegt wurde und alles darauf gesetzt wurde, „ihre weitere Ausbreitung zu verhindern“.64 Einzig ihnen wurde eine „wirkliche Gleichstellung“ verwehrt.

62 Valjavec, Der Josephinismus, wie Anm. 27, 55 und 88. 63 Valjavec, Der Josephinismus, wie Anm. 27, 47. 64 Valjavec, Der Josephinismus, wie Anm. 27, 106.

Petra Svatek

Fritz Valjavec – Aufklärungsbegriff und Südostforschung

I Einführung Fritz Valjavec kam am 26. Mai 1909 in Wien zur Welt. Er wuchs vor allem in Budapest auf, wo er von 1923 bis 1930 die „Reichsdeutsche Oberschule“ besuchte. Noch zu seiner Schulzeit nahm Valjavec mit dem ungarischen Germanisten Jakob Bleyer (1874–1933) Kontakt auf, der sein Interesse für die Volkstumsarbeit weckte. Bleyer vermittelte ihm ein Forschungsstipendium des Vereins für das Deutschtum im Ausland (VDA), wodurch er an der Universität München Germanistik und Geschichte studieren konnte (unter anderem bei Karl Alexander von Müller und Arnold Oskar Meyer). Gleichzeitig erhielt Valjavec von Bleyer den Auftrag, „die deutsche Presse, die Vereine und staatlichen Stellen über die tatsächliche Lage der Deutschen in Ungarn mit Informationen zu versorgen“.1 Dabei festigte er seine völkisch-nationalsozialistische Orientierung und trat 1933 in die NSDAP ein. Valjavec promovierte schließlich 1934 bei Karl Alexander von Müller (1882–1964) über den Privatgelehrten Karl Gottlieb Windisch (1725–1793). Im Jahre 1935 trat Valjavec in das Münchener „Südost-Institut“ ein, das von Müller geleitet wurde und gerade ab dieser Zeit die Volksgruppen Südosteuropas verstärkt in die Forschungen mit einbezog. Eine Hauptaufgabe bestand unter anderem im Nachweis der deutschen Kulturüberlegenheit im südöstlichen Europa. Hier konnte Valjavec sich somit auch beruflich der völkisch-nationalsozialistischen Südostforschung widmen.2 Im Jahre 1940 publizierte Valjavec die Monographie Der deutsche Kultureinfluß im nahen Südosten, die in diesem Artikel näher analysiert werden soll. Das Buch erschien zu einer Zeit, als die Ost- und Südostforschung im Kontext der nationalsozialistischen Expansions- und „Lebensraumpolitik“ unter den NS-Politikern und Wissenschaftlern des Deutschen Reiches eine große Bedeutung besaß. In diesem Artikel wird die These vertreten, dass Valjavec in

1 Norbert Spannenberger, Vom volksdeutschen Nachwuchswissenschaftler zum Protagonisten nationalsozialistischer Südosteuropapolitik. Fritz Valjavec im Spiegel seiner Korrespondenz 1934–1939. In: Mathias Beer / Gerhard Seewann (Hg.), Südostforschung im Schatten des Dritten Reiches. Institutionen – Inhalte – Personen. München 2004, 215–235, hier 219. 2 Zur Biographie von Fritz Valjavec siehe unter anderem: Michael Fahlbusch, Im Dienste des Deutschtums in Südosteuropa: Ethnopolitische Berater als Tathelfer für Verbrechen gegen die Menschlichkeit. In: Mathias Beer / Gerhard Seewann (Hg.), Südostforschung im Schatten des Dritten Reiches. Institutionen – Inhalte – Personen. München 2004, 175–214, hier 203f. Spannenberger, Nachwuchswissenschaftler, wie Anm. 1, hier 218–220.

Fritz Valjavec – Aufklärungsbegriff und Südostforschung

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seinen Forschungen die geistige und wirtschaftliche Überlegenheit der Deutschen im Aufklärungszeitalter gegenüber allen anderen Bewohnern Südosteuropas proklamierte. Doch welche Bereiche des wirtschaftlichen und geistigen Lebens wurden laut Valjavec im Zeitalter der Aufklärung vom deutschsprachigen Raum her beeinflusst und wie sind seine Forschungen im Kontext der nationalsozialistischen Expansions- und „Lebensraumpolitik“ zu verorten? Gerade solche Forschungen waren während der NS-Zeit bedeutend, welche die politische, wirtschaftliche und kulturelle Abhängigkeit Südosteuropas vom deutschsprachigen Raum im Laufe der Geschichte erfassten und die Siedlungen der deutschsprachigen Bevölkerung im südöstlichen Teil Europas belegten. Damit konnte der deutsche Volks- und Kulturboden eruiert und die „Raumeroberung“ vorangetrieben werden. Vor allem dem Aufklärungszeitalter kam dabei eine große Beachtung zu. Denn die politischen und ökonomischen Interessen Deutschlands an Südosteuropa, welche während des Mittelalters und der Reformation vorhanden waren und anschließend nachgelassen hatten, erfuhren gerade zu dieser Zeit eine neuerliche Belebung.3 Nach den Worten von Valjavec brachten die deutschen Aufklärer „das Licht der Vernunft auch in die Länder“, „die noch von den Mächten der Dunkelheit beherrscht waren“.4

II Der deutsche Kultureinfluss im nahen Südosten Die Monographie, die gleichzeitig Valjavecs Habilitationsschrift darstellte, widmet sich auf über 400 Seiten dem deutschen Kultureinfluss unter besonderer Berücksichtigung Ungarns vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert und erschien 1940 als Nummer 21 der Veröffentlichungen des Südostinstituts München. Es gliedert sich in die drei großen Abschnitte Mittelalter (S. 1–140), Reformation und Gegenreformation (S. 141–261) und Fürstlicher Absolutismus und Aufklärung (S. 263–441). Sein Hauptaugenmerk legte Valjavec auf die „Kulturformen und -erscheinungen“, die „mit der Mittel- und Oberschicht in Verbindung stehen“.5 Valjavec wertete gedruckte Quellen aus dem deutschsprachigen Raum und aus Südosteuropa ebenso aus wie ungedruckte Dokumente und Texte aus in- und ausländischen Archiven. Zudem bezog er vergleichende Untersuchungen mit ein, welche sich den Einflüssen anderer Kulturen, beispielsweise des Osmanischen Reichs und Frankreichs, auf Südosteuropa widmeten. Als „nahen Südosten“ verstand Valjavec „ein Gebiet, das im wesentlichen durch die Slowakei, das heutige Ungarn, Siebenbürgen, das Banat, die Batschka, Kroatien und vielleicht 3

Siehe dazu unter anderem: Rudolf Gräf, Fritz Valjavec und das Südost-Institut München. In: Stelian Mandruţ / Rudolf Gräf (Hg.), Între ştiinţă politică: Fritz Valjavec şi corespondenţii săi români (1935– 1944). Zwischen Wissenschaft und Politik. Fritz Valjavec’s Briefwechsel mit rumänischen Gelehrten (1935–1944). Cluj-Napoca 2010, 29–45, hier 37. 4 Fritz Valjavec, Wege und Wandlungen deutscher Südostforschung. In: Fritz Valjavec (Hg.), Ausgewählte Aufsätze. München 1963, 11–23, hier 11f. 5 Fritz Valjavec, Der deutsche Kultureinfluß im nahen Südosten unter besonderer Berücksichtigung Ungarns. Veröffentlichungen des Südostinstituts München 21. München 1940, VI.

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Slowenien gebildet wird“ und somit „den südöstlichen Grenzgürtel des mitteleuropäischen Lebensraumes umfaßt, gleichzeitig aber auch schon durch fremde Kulturströmungen, vor allem von der Balkanhalbinsel, stärker mitbestimmt ist“.6 Gleichzeitig gab er zu bedenken, dass seine Abgrenzung des „nahen Südosten“ keine allgemeine gültige Bedeutung besitzt, sondern von anderen Wissenschaftlern wohl auch anders beurteilt werden würde. Die Gliederung Europas in unterschiedliche Räume war seit dem 19. Jahrhundert ein beliebtes kultur- und naturwissenschaftliches Forschungsthema. Dabei wurden viele verschiedene Raumkonstrukte geschaffen, die im Laufe der Jahrzehnte zum Teil beträchtlich divergierten und zudem auch von den Meinungen unterschiedlicher Wissenschaftler und von der politischen Situation abhängig waren. Als Beispiel soll hier lediglich die Diskussion um die Lage „Mitteleuropas“ genannt werden. Vor allem ab dem beginnenden 20. Jahrhundert erfolgte bei vielen Wissenschaftlern eine Ausweitung des Raumes „Mitteleuropa“ nach Südosten bis zum Schwarzen Meer hin. Der Breslauer Geograph Josef Partsch (1851–1925) stellte zum Beispiel 1903 in seinem Werk Centraleurope ein Modell vor, das nicht nur das gesamte Habsburgerreich umfasste, sondern auch die Länder des „Zweibundes“ dem mitteleuropäischen Raum zuteilte. 1915 entwickelte der deutsche Politiker und Theologe Friedrich Naumann (1860– 1919) seine Idee vom mitteleuropäischen Staatenbund, in dem Deutschland eine führende Rolle einnehmen sollte. Der österreichische Geograph Hugo Hassinger (1877–1952) teilte 1917 sein „Mitteleuropa“ in ein „bestehendes“ und ein „werdendes, heranreifendes“ Mitteleuropa, zu dem er Serbien, Rumänien und Bulgarien zählte und das er im Text als die „Richtung des geringsten politischen Widerstandes“7 bezeichnete. Peter Čede und Dieter Fleck wiesen bereits 1996 richtigerweise darauf hin, dass diesen Ausführungen Hassingers „eine, dem Imperialismus der europäischen Großmächte verhaftete und auch den realpolitischen Verhältnissen im Ersten Weltkrieg durchaus nahe kommende Ideologie zugrunde“ lag, die in diesem „werdenden“ Mitteleuropa „eine Art Kolonie“8 für Rohstofflieferungen erkannte. Dieser Ansatz ist auch während des Nationalsozialismus zu finden, indem man Südosteuropa als „Ergänzungsraum“ für die Wirtschaft des Deutschen Reiches ansah. Während der nationalsozialistischen Herrschaft wurde „Mitteleuropa“ hingegen kaum diskutiert, da der Südosten ohnehin als Hinterland des Deutschen Reiches angesehen wurde.9 Bei Valjavec erscheint „Mitteleuropa“ im Gegensatz zu vielen anderen Wissenschaftlern etwas kleiner, da er einen großen Teil der Balkanhalbinsel nicht dazuzählte. Diese Nichtberücksichtigung vieler Balkanstaaten dürfte bei Valjavec wohl in deren Kultur liegen, denn er erwähnte die „fremden

6 Valjavec, Kultureinfluß, wie Anm. 5, VI. 7 Hugo Hassinger, Das geographische Wesen Mitteleuropas. In: Mitteilungen der k. k. Geographischen Gesellschaft in Wien 60 (1917), 437–493, hier 485. 8 Peter Čede / Dieter Fleck, Der Mitteleuropabegriff. Entwicklung und Wandel unter dem Einfluss zeitspezifischer Geisteshaltung. In: Arbeiten aus dem Institut für Geographie der Karl-Franzens-Universität Graz 34. Graz 1996, 15–26, hier 20. 9 Čede / Fleck, Mitteleuropabegriff, wie Anm. 8. Zu Naumann im Speziellen siehe auch: Jürgen Frölich, Friedrich Naumanns „Mitteleuropa“. Ein Buch, seine Umstände und seine Folgen. In: Rüdiger vom Bruch (Hg.), Friedrich Naumann in seiner Zeit. Berlin – New York 2000, 245–267.

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Kulturströmungen“, die von der Balkanhalbinsel noch in diesem „südöstlichen Grenzgürtel des mitteleuropäischen Lebensraumes“ einwirken würden.10 Valjavecs These ist, dass das Zeitalter der Aufklärung „in einer gewissen Hinsicht den Höhepunkt des deutschen, vor allem des österreichischen Einflusses auf den Südosten“11 bedeutete und dass „der deutsche Kultureinfluß nicht nur auf dem Gebiet der Lebensgestaltung, sondern auch in geistiger Hinsicht im Donauraum Erfolge wie nie vorher verzeichnen konnte“.12 Vor allem die Regierungszeit Kaiser Josephs II.13 konnte Wesentliches zur Verbreitung der deutschen Kultur im „nahen Südosten“ beitragen.14 Der Leser kann eindeutig herauslesen, dass Valjavec das Aufklärungszeitalter wegen des großen deutschen beziehungsweise österreichischen Einflusses in Südosteuropa glorifiziert. Diesen Einfluss beschrieb er in den Unterkapiteln Geltung der deutschen Sprache, Zeitungswesen, Geistige Einflüsse und Wissenschaftliche Anregungen. II.1 Geltung der deutschen Sprache15 Valjavec besprach in diesem Kapitel vor allem die zunehmende Verbreitung der deutschen Sprache seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert und ihre Vormachtstellung zur Zeit Josephs II., der Deutsch als Amtssprache einführte.16 Doch wurde nach Valjavec die deutsche Sprache nicht nur Amtssprache, sondern beherrschte beinahe das ganze öffentliche und zum großen Teil auch private Leben in Ungarn.17 In Schulen wurde Deutsch unterrichtet, Volkslieder wurden in Deutsch gesungen und Bücher in Deutsch geschrieben. Vor allem die Adeligen, die vom Wiener Hof und der kaiserlichen Armee geprägt wurden, pflegten die deutsche Sprache.18 Diese errang in Ungarn „eine gesellschaftliche Geltung“, die auch mit „dem Er10 11 12 13 14

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Valjavec, Kultureinfluß, wie Anm. 5, VI. Valjavec, Kultureinfluß, wie Anm. 5, 329. Valjavec, Kultureinfluß, wie Anm. 5, 349. Valjavec veröffentlichte 1944 ein eigenes Buch über den Josephinismus, worin er die „geistige Entwicklung“ Österreichs im 18. und 19. Jahrhundert aufzeigte. Valjavec sah das Zeitalter der Aufklärung im Gegensatz zu anderen Wissenschaftlern (etwa Hugo Hantsch) von einer gesamtdeutschen Perspektive. So verstand er den Josephinismus als die deutscheste Form der deutschen Aufklärung, während Hantsch ihn eher der allgemeinen europäischen Aufklärung zuschrieb; vgl. dazu der Beitrag von Johannes Holeschofsky über Hugo Hantsch in diesem Band. Valjavec, Kultureinfluß, wie Anm. 5, 338–349. Entscheidend waren allerdings „nicht die kaiserlichen Verfügungen, […] sondern die Gesamtlage, die die führende Geltung der deutschen Sprache trotz aller nationalen Leidenschaften ergab. Die kulturellen Verhältnisse waren so geartet, daß jeder Gebildete sich der deutschen Sprache einfach bedienen mußte, sofern er sich nicht mit dem geistigen Horizont der Tafelrichterkultur und dem dazu gehörigen holprigen Küchenlatein begnügte.“ Valjavec, Kultureinfluß, wie Anm. 5, 339f. Diese Aussage ist nicht ganz richtig. Forschungen haben ergeben, dass die ungarische Sprache viel weiter verbreitet war. Siehe dazu: Robert Evans, Language and State Building: The Case of the Habsburg Monarchy. In: Austrian History Yearbook 35 (2004), 1–24, hier 8–11. „Diese erstaunliche Geltung der deutschen Sprache äußerte sich nicht nur im Lesestoff und im Lied (deutsche Lieder waren Ausgang des 18. und Anfang des 19. Jh.s. vor allem in Transdanubien und

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wachen des madjarischen Selbstbewußtseins“ während des 19. Jahrhunderts „nur Schritt für Schritt abgedrängt werden konnte“.19 Valjavec vergaß allerdings den Widerstand vor allem des mittleren Adels zu erwähnen, denn dieser sprach in der Regel kaum Deutsch, hatte aber die meisten Ämter in der Komitatsverwaltung inne.20 Zudem war die ungarische Sprache auch an den Schulen weiter verbreitet als bei Valjavec angenommen. II.2 Zeitungswesen21 Der Wiener Einfluss spielte nach Valjavec auch im Bereich der madjarischen Tageszeitungen eine wesentliche Rolle. Diese Tradition sei auf das 16. und 17. Jahrhundert zurückzuführen, da bereits zur dieser Zeit „die Nachrichten in der Regel aus Wien bezogen wurden“. 22 Im Presseleben des 18. und frühen 19. Jahrhunderts machte Valjavec drei große Perioden aus. Die erste Periode war durch einen enormen Bedeutungsgewinn deutschsprachiger Zeitungen aus Wien, Graz und deutschen Städten gekennzeichnet, der bis ins ausgehende 18. Jahrhundert andauerte. Ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begann man schließlich in Ungarn eigene Zeitungen zu drucken, die entweder in Deutsch oder in einer osteuropäischen Sprache herausgegeben wurden. In dieser zweiten Periode setzte also die Abkehr von der deutschen Sprache in der Tagespresse ein, wobei Valjavec trotzdem noch einen deutschen Einfluss in der Gestaltung und im Inhalt der Zeitungen feststellen konnte. Als Beispiel führte er die erste in madjarischer Sprache ab 1780 erschienene Zeitung Magyar Hírmondó an, die sich in ihrer Größe, in ihrem Inhalt und in ihrer Kapitelgliederung an der Wiener Zeitung orientierte.23 Mit dem einsetzenden Vormärz, der dritten Periode, wurden schließlich die deutschsprachigen Zeitungen immer mehr zurückgedrängt und die madjarisch-sprachigen erhielten die Oberhand.24 zwar auch bei Madjaren sehr beliebt). Sie kam auch im schriftlichen Gebrauch zur Geltung. Vor allem der Adel bediente sich etwa seit der Mitte des 18. Jh.s. mit Vorliebe der deutschen Sprache, was mit dem Militärdienst in der kaiserlichen Armee, aber auch mit dem Einfluß des Wiener Hofes zusammenhängt.“ Valjavec, Kultureinfluß, wie Anm. 5, 341f. 19 Valjavec, Kultureinfluß, wie Anm. 5, 344. 20 Moritz Csáky, Die Hungarus-Konzeption. Eine „realpolitische“ Alternative zur magyarischen Nationalstaatsidee. In: Anna M. Drabek / Richard G. Plaschka / Adam Wandruszka (Hg.), Ungarn und Österreich unter Maria Theresia und Joseph II. Neue Aspekte im Verhältnis der beiden Länder. Wien 1982, 71–89, hier 76f. 21 Valjavec, Kultureinfluß, wie Anm. 5, 349–362. 22 Valjavec, Kultureinfluß, wie Anm. 5, 349. 23 „Die erste madjarische Zeitung ist sonach der seit 1780 von Matthias Ráth zu Preßburg herausgegebene ‚Magyar Hírmondó‘ (Ungarischer Bote). Sie hat auch deswegen eine große Bedeutung, weil sie die erste Zeitung in einer südosteuropäischen Sprache ist und somit den geistigen Vorsprung des Madjarentums vor den anderen Völkern dieses Gebietes bekundet. […] Bei der ältesten madjarischen Zeitung, dem bereits erwähnten ‚Magyar Hírmondó‘, zeigt“ sich der deutsche Einfluss „nicht alleine in der äußeren Gestaltung, Größe, Stoffgliederung. Auch inhaltlich hielt sie sich an die Wiener Zeitung“. Valjavec, Kultureinfluß, wie Anm. 5, 357, 360. 24 „Erst im Vormärz beginnt die Bedeutung der deutschen Zeitungen in Ungarn abzunehmen. Zwar wur-

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II.3 Geistige Einflüsse25 Im Kapitel über den geistigen Einfluss differenzierte Valjavec zwischen Theater, Buchwesen und Schrifttum/Dichtung. Er führte aus, dass die „Theaterkultur des nahen Südostens zum überwiegenden Teil im Deutschen wurzelt“ und „die ersten Schauspielergesellschaften und Theater deutsch waren“.26 Hier sei vor allem der Einfluss Wiens von Bedeutung gewesen.27 Die meisten Schauspieler kamen nämlich aus Wien, und es durften vor allem in Ungarn nur jene Stücke gespielt werden, die in Wien bis dahin zumindest zweimal aufgeführt wurden. Daraus ergab sich eine Abhängigkeit vom Wiener Spielplan zumindest bis in die Zwanzigerjahre des 19. Jahrhunderts. Erst danach konnte sich eine eigenständige madjarische Bühne entwickeln.28 Entgegen seiner Behauptung dürften allerdings die katholischen und protestantischen Theater ihre Aufführungen vor allem in ungarischer Sprache veranstaltet haben.29 Auch im Buchwesen war der deutsche Einfluss unverkennbar. Vor allem ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstanden im „nahen Südosten“ viele Druckereien, die zum großen Teil von Deutschsprachigen betrieben wurden. Valjavec stellte fest, dass „noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts die großen Verleger in Ungarn ausnahmslos Deutsche“30 waren. Aus Wien kamen nicht nur viele Buchhändler, sondern Wiener Verleger statteten auch viele Druckereien aus und druckten zudem einen großen Teil der Illustrationen und Landkarten. Auch im südslawischen Bereich und in Serbien wäre der deutsche Einfluss erkennbar gewesen.31 Allerdings verzichtete Valjavec zum Beispiel auf den Hinweis, dass gerade ab den den die großen deutschen Blätter, allen voran die Augsburger Allgemeine, eifrig gelesen. Aber die in Ungarn erscheinenden deutschen Zeitungen wurden bereits allmählich durch die madjarisch geschriebenen überflügelt. Genauere Zahlen lassen sich nicht recht ermitteln, man wird jedoch sagen dürfen, daß bereits in den vierziger Jahren das Uebergewicht bei den madjarischen Zeitungen war, nicht nur auflagenmäßig, sondern auch hinsichtlich des moralischen Schwergewichts.“ Valjavec, Kultureinfluß, wie Anm. 5, 357f. Eine ausführliche Studie zur deutschen Sprache und dem Zeitungswesen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bietet: István Fried, Die Kultur des Bürgertums deutscher Muttersprache im Pest-Ofen zur Zeit des Vormärz. In: Anton Schwob (Hg.), Methodologische und literaturhistorische Studien zur deutschen Literatur Ostmittel- und Südosteuropas. München 1994, 81–94. 25 Valjavec, Kultureinfluß, wie Anm. 5, 362–403. 26 Valjavec, Kultureinfluß, wie Anm. 5, 362–363. 27 „Die Abhängigkeit von Wien äußerte sich bis in lächerliche Kleinigkeiten, etwa in der Festsetzung der Eintrittspreise. Die behördliche Verfügung, daß auf den ungarischen Bühnen lediglich Stücke aufgeführt werden dürften, die in Wien seit 1793 wenigstens zweimal aufgeführt wurden, ergab eine weitgehende Abhängigkeit vom Spielplan der Wiener Theater.“ Valjavec, Kultureinfluß, wie Anm. 5, 363. 28 Ab der Zeit Maria Theresias konnten sich im Zuge des Baus vieler Schlösser auch immer mehr adelige Privattheater etablieren, die Opern und Schauspiele vor allem in deutscher Sprache aufführten. Siehe dazu unter anderem: Géza Staud, Adelstheater in Ungarn (18. und 19. Jahrhundert). Wien 1977. 29 Gabriella-Nóra Tar, Deutschsprachiges Kindertheater in Ungarn im 18. Jahrhundert. Berlin 2012, 28–30. 30 Valjavec, Kultureinfluß, wie Anm. 5, 372. 31 „Die Buchhändler der Städte waren Deutsche, die in der Regel aus Wien nach Ungarn gekommen waren […] Nicht anders war es mit den Anfängen des Buchhandels unter den Südslawen. Es ist nicht weiter verwunderlich, daß es bei den Slowenen und Kroaten lange Zeit nahezu ausschließlich von Deutschen

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1780er Jahren in Serbien die gedruckten kyrillischen Bücher zunahmen und viele Bücher ins Serbische übersetzt wurden.32 Auch bei Schrifttum und Dichtung war in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die deutsche Sprache vorherrschend. Die madjarischen Volksbücher beruhten ebenso auf deutscher Vorlage wie Kalender,33 Volksschriften oder Romane. Diese Bücher kamen entweder aus dem deutschsprachigen Raum oder sind von Schriftstellern des Südostens in Deutsch geschrieben worden. Erst ab dem 19. Jahrhundert konnte sich langsam eine eigenständige Literatur in madjarischer Sprache entwickeln. II.4 „Wissenschaftliche Anregungen“34 Der Erziehung maß Valjavec während des Aufklärungszeitalters eine besondere Bedeutung bei: „Das Zeitalter der Aufklärung betont nicht umsonst die unbedingte Vorherrschaft des Verstandes. Der Verstand ist alles, er ist jedem gegeben, also muß es die Aufgabe der Erziehung sein, die verstandesmäßigen Kräfte schon bei der Jugend zu wecken, um möglichst vollkommene Staats- und Weltbürger heranzuziehen.“35 Das Erziehungswesen stellte bei Valjavec außerdem ein wichtiges Beispiel dafür dar, wie der Südosten von Wien aus beeinflusst wurde. Die Schulreform Kaiserin Maria Theresias hatte nämlich nicht nur Auswirkungen auf das österreichische Schulwesen, sondern wurde auch in Ungarn umgesetzt. Zudem wurden alle Hochschulprofessoren von Wien aus bestellt und an Universitäten neue Fakultäten eingerichtet (zum Beispiel die medizinische Fakultät in Tyrnau/Trnava). Auch die Entfaltung der Naturwissenschaften in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts geht auf deutsche Anregungen zurück.36 Valjavec führte als Beispiel das Gesundheitswesen an, wo Wiener Stellen in Ungarn vor allem in der Seuchenbekämpfung wesentliche Fortschritte erreichen konnten. Zudem wurden viele Mediziner des Südostens an der Wiener medizinischen Fakultät ausgebildet. Diese brachten neue medizinische Kenntnisse nach Südosteuropa, wodurch die Gesundheitsversorgung verbessert werden konnte.37 Aber auch im Bereich der historisch-phi-

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betrieben wurde. Aber auch bei den Serben wirkten deutsche Anregungen stark. Gligor Wosarowitsch, der in Belgrad die erste Buchhandlung eröffnete, war gebürtiger Semliner und hatte seine Fachausbildung in Wien genossen.“ Valjavec, Kultureinfluß, wie Anm. 5, 372f. Vergleich dazu Marija Petrovic, Josephinist Reforms and the Serbian Church Hierarchy in the Habsburg Lands. Diss. Oxford 2010, 196. „Auch die madjarischen Kalender dürften zum größten Teil nach deutschen Vorlagen zusammengesetzt worden sein. Die Herausgeber von Kalendern waren im 18. Jh. sehr oft Deutsche, die sowohl deutsche wie auch madjarische Kalender herausgaben. Nichts war naheliegender, als daß sich das auch auf die Gestaltung und den Inhalt der madjarischen Kalender auswirkte.“ Valjavec, Kultureinfluß, wie Anm. 5, 380. Valjavec, Kultureinfluß, wie Anm. 5, 404-426. Valjavec, Kultureinfluß, wie Anm. 5, 404. „Die Entfaltung der Naturwissenschaften seit der zweiten Hälfte des 18. Jh.s ist von deutschen Anregungen begleitet. Die ältesten Electricae Machinae in Ungarn (Mitte des 18. Jh.s) stammen aus Wien, andere physikalische Geräte wiederum aus Leipzig.“ Valjavec, Kultureinfluß, wie Anm. 5, 422f. „Besonders muß in diesem Zusammenhang noch des Gesundheitswesens gedacht werden. Es ist ein

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lologischen Gelehrsamkeit und Forschung zeigte Valjavec die Beziehungen zum deutschsprachigen Raum auf, indem er unter anderem die enge Verflechtung zwischen ungarischen Historiken und ihren Wiener Kollegen ansprach. II.5 Das „nationale Erwachen“38 Zum Abschluss seines Kapitels über das Aufklärungszeitalter setzte sich Valjavec mit dem beginnenden „nationalen Erwachen“39 des „nahen Südostens“ auseinander, das allmählich mit Ende der Regierungszeit Josephs II. einsetzte und zu einer Abnahme des deutschen Einflusses ab dem beginnenden 19. Jahrhundert führte. Denn „die Regierungszeit Josephs II. bedeutete den eigentlichen Höhepunkt des deutschen Einflusses, mit ihr setzte aber gleichzeitig der politische Rückschlag ein. Der Widerstand des ungarischen Adels im Jahre 1790 war mehr als eine der vielen ständischen Bewegungen der vorangehenden Zeit. Es war das erste Anzeichen für das nationale Erwachen der Südostvölker, der erste politische Schritt, die völkische Eigenständigkeit zu erringen. Handelte es sich auch vorerst nur um eine madjarische Bewegung, so zeigten die Ereignisse der nächsten Jahrzehnte, daß diese einen Vorgang einleitete, der alle Südostvölker ziemlich gleichmäßig erfaßte“.40

III Valjavecs Forschungen im politischen und wissenschaftlichen Kontext Valjavecs Buch erschien zu einer Zeit, als die geistes- und naturwissenschaftliche Ost- und Südostforschung im Kontext der nationalsozialistischen Expansions- und „Lebensraumpolitik“ unter den NS-Politikern und Wissenschaftlern des Deutschen Reiches eine große Bedeutung besaß. Valjavec war daher nicht der einzige, der sich mit der Geschichte des deutschen Einflusses auf Ost- und Südosteuropa auseinandergesetzt hatte. Sowohl im Deutschen Reich als auch in Österreich begann man unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg im Zuge der Pariser Friedensverhandlungen die deutschen Siedlungsgebiete inklusive ihrer Geschichte und ihres wirtschaftlichen Leistungsvermögens in Mittel-, Ost- und Südosteuropa zu eruieren. Damit wollte man in diesen Regionen Gebietsansprüche stellen. So nahm zum Beispiel die österreichische Friedensdelegation eine Abhandlung des Ordinarius für Geschichte der UniVerdienst der Wiener Regierungsstellen, daß die Seuchenbekämpfung im Laufe des 18. Jh.s sehr große Fortschritte erzielte und daß vor allem durch die Schaffung des sog. „Pestkordons“ das Uebergreifen von Seuchen aus der Türkei, die bis dahin in geradezu regelmäßigen Zeitabständen ihren Vernichtungszug nach Mitteleuropa angetreten hatten, unterbunden werden konnte. […] Es ist klar, daß die Wiener medizinische Fakultät […] für den Südosten im Laufe der Zeit eine sehr große Bedeutung gewann. Nicht nur Madjaren, sondern auch Serben und Rumänen studierten an ihr verhältnismäßig häufig.“ Valjavec, Kultureinfluß, wie Anm. 5, 423, 425. 38 Valjavec, Kultureinfluß, wie Anm. 5, 426–441 39 Valjavec, Kultureinfluß, wie Anm. 5, 426. 40 Valjavec, Kultureinfluß, wie Anm. 5, 426.

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versität Wien Alfons Dopsch (1868–1953) über die historische Stellung der Deutschen in Böhmen nach Paris mit, welche den Anspruch Deutschösterreichs auf bestimmte Gebiete Böhmens historisch rechtfertigte.41 Aber auch der Allgemeine historische Handatlas (1886) des deutschen Historikers Gustav Droysen (1838–1908) befand sich im Handgepäck der Verhandler, da man zum Beispiel aus der Karte Europa zurzeit der sächsischen und fränkischen Kaiser42 wichtige Informationen über die hochmittelalterliche Ausdehnung und den Einflussbereich des römisch-deutschen Kaiserreiches entnehmen konnte.43 Während der Zwanzigerjahre ist schließlich ein zunehmendes Interesse am deutschen „Volks- und Kulturboden“ zu beobachten. Die territorialen Veränderungen der Pariser Friedensverhandlungen motivierten viele deutsche und österreichische Wissenschaftler, sich dem „Volk“ und dabei vor allem dem Auslandsdeutschtum zuzuwenden.44 Im Zuge dessen entwickelten sich diverse Ansätze, wie zum Beispiel eine Verbindung von Landes- und Volksgeschichte. Dabei wurden historische Lebens-, Wirtschafts- und Kulturformen des deutschen Volkes erforscht und zum ersten Mal in einem größeren Umfang Geschichtskarten produziert, die nicht nur die flächenmäßige Ausdehnung von Staaten und administrativen Gebieten zeigten, sondern die Siedlungsräume des „Volks“ (und die „Bevölkerung“) zu unterschiedlichen Zeitperioden berücksichtigten.45 Diese Karten waren auch für die Politiker von Bedeutung, da man sie als Argumente für politische Forderungen verwenden und sie als Propagandamittel einsetzen konnte.46 Denn sie zeigten ja unter anderem der Bevölkerung Österreichs und Deutschlands, wie ihr Lebensraum besiedelt und im Laufe der Jahrhunderte erweitert beziehungsweise reduziert wurde. Eine Verbindung zwischen Landes- und Volksgeschichte kam zum Beispiel am Leipziger „Seminar für Landes- und Siedlungsgeschichte“, am Bonner „Institut für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande“ und am Innsbrucker „Institut für geschichtliche Siedlungs- und Heimatkunde“ zustande. Zentrale Personen waren unter anderem Hermann Aubin (1885– 1969), Theodor Frings (1886–1968), Rudolf Kötzschke (1867–1949) und der Innsbrucker Historiker Adolf Helbok (1883–1968).47 Helbok arbeitete während der Dreißigerjahre zum 41 Alfons Dopsch, Die historische Stellung der Deutschen in Böhmen. In: August Wotawa (Hg.), Flugblätter für Deutschösterreichs Recht 6. Wien 1919. 42 Gustav Droysen, Droysens Allgemeiner Historischer Handatlas in 96 Karten. Bielefeld 1886, Karte 24. 43 Über die nach Paris mitgenommenen Schriften, Bücher und Karten siehe unter anderem: Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Archiv der Republik (AdR), NPA BKA AAng 312; ÖStA AdR AAng BKAAA Völkerrecht 103. 44 Siehe dazu zum Beispiel: Michael Fahlbusch, „Wo der deutsche … ist, ist Deutschland“: Stiftung für Deutsche Volks- und Kulturbodenforschung in Leipzig 1920–1933. Bochum 1994, 11. 45 Alexander Pinwinkler, Zur kartographischen Inszenierung von „Volk“ und „Bevölkerung“ in der deutschen „Volksgeschichte“. In: Rainer Mackensen / Jürgen Reulecke (Hg.), Das Konstrukt „Bevölkerung“ vor, im und nach dem „Dritten Reich“. Wiesbaden 2005, 236–253, hier 239. 46 Friedemann Schmoll, Wie kommt das Volk in die Karte? Zur Visualisierung volkskundlichen Wissens im „Atlas der deutschen Volkskunde“. In: Helge Gerndt / Michaela Haibl (Hg.), Der Bilderalltag. Perspektiven einer volkskundlichen Bildwissenschaft. München 2005, 233–250, hier 247. 47 Zu den Forschungen dieser Institutionen und Wissenschaftler siehe unter anderem: Willi Oberkrome,

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Beispiel an seinem Werk Grundlagen der Volksgeschichte Deutschlands und Frankreichs, einer 725 Seiten starken Monographie samt Kartenteil, die sich allerdings lediglich mit dem Mittelalter auseinandersetzte.48 Ein etwas anderer Ansatz kam von der Siedlungs- und Flurformenforschung. Österreichs wichtigster Vertreter war während der Dreißigerjahre der Architekt Adalbert Klaar (1900– 1981), der den Zusammenhang zwischen dem deutschen Kolonisationsvorgang und der historischen Entwicklung der Siedlungs- und Flurformen aufzuarbeiten begann. Aber auch die während der Dreißigerjahre gegründeten sechs „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“49 leisteten zur Geschichte des deutschen Einflusses auf Ost- und Südosteuropa ihren Beitrag. Für den Südosten war die 1931 gegründete „Südostdeutsche Forschungsgemeinschaft“ (SODFG) zuständig, die ihren Sitz in Wien hatte. Die Mitarbeiter kamen vor allem aus dem geisteswissenschaftlichen Bereich der Universität Wien, aber auch aus diversen Archiven, den Universitäten Prag und Graz, der Wiener Hochschule für Welthandel und aus den Südoststaaten selbst.50 Dadurch konnte eine über die Disziplinen-, Hochschul- und Staatsgrenzen hinwegreichende multidisziplinäre Forschungsgemeinschaft etabliert werden. Bis 1934 wurde die SODFG vom Geographen Hugo Hassinger geleitet, danach teilten sich Hassinger und der Historiker Hans Hirsch (1878–1940) die Leitung bis 1938. Die vorrangigen Arbeiten vor 1938 waren der Aufbau eines Übersetzungsdienstes, einer Südostbibliothek und von diversen Verzeichnissen (unter anderem von Büchern über den Südosten und von allen deutschen und nichtdeutschen Wissenschaftlern im Südosten).51 Zudem wurden Forschungen durchgeführt, die sich mit volkskundlichen, germanistischen, kulturgeographischen und geschichtlichen Themen auseinandersetzten.52 Beispiele für historische Studien wären jene von Helmut Carstanjen53 und Alfred Malaschofsky,54 welche unter anderem die Geschichte und die Charakteristika deutscher Kolonien erforschten. Reformansätze in der deutschen Geschichtswissenschaft der Zwischenkriegszeit. In: Michael Prinz / Rainer Zitelmann (Hg.), Nationalsozialismus und Modernisierung. Darmstadt 1991, 216–238; Id., Entwicklungen und Varianten der deutschen Volksgeschichte (1900–1960). In: Manfred Hettling (Hg.), Volksgeschichte im Europa der Zwischenkriegszeit. Göttingen 2003, 65–95; Matthias Werner, Die deutsche Landesgeschichtsforschung im 20. Jahrhundert. Aufbrüche, Umbrüche, Perspektiven. In: Manfred Groten / Andreas Ruth (Hg.), Rheinische Landesgeschichte an der Universität Bonn. Traditionen – Entwicklungen – Perspektiven. Bonn 2007, 157–178. 48 Adolf Helbok, Grundlagen der Volksgeschichte Deutschlands und Frankreichs. Berlin – Leipzig 1937. 49 Zu den Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften siehe: Michael Fahlbusch, Wissenschaft im Dienste der nationalsozialistischen Politik? Die „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ von 1931–1945. Baden-Baden 1999. 50 Überblick über die Mitarbeiter der SODFG siehe: Fahlbusch, Wissenschaft, wie Anm. 49, 251f. 51 Fahlbusch, Wissenschaft, wie Anm. 49, 273–278. 52 Fahlbusch, Wissenschaft, wie Anm. 49, 277–297. 53 Gerhard Werner, Das Deutschtum des Übermurgebietes. In: Aus Österreichs Grenzsaum. Forschungen zur deutschen Landes- und Volkskunde. Leipzig – Wien 1933, 76-90. 54 Alfred Malaschofsky, Deutsch-Proben. Eine geographische Studie über eine karpathendeutsche Sprachinsel. In: Aus Österreichs Grenzsaum. Forschungen zur deutschen Landes- und Volkskunde. Leipzig – Wien 1933, 52-75.

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Zeitgleich zur SODFG etablierte sich mit dem bereits oben erwähnten „Institut zur Erforschung des deutschen Volkstums im Süden und Südosten“ eine weitere Forschungsgemeinschaft, welche sich der Volks- und Kulturbodenforschung Südosteuropas zuwandte. Dieses Institut wurde 1930 in München gegründet und ging aus der Leipziger „Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung“ hervor. Im Jahre 1935 erfolgte die Umbenennung in „Südost-Institut“. In den ersten Jahren lag der Schwerpunkt der Tätigkeiten in der bayerisch-tschechischen Grenzregion und in Südtirol.55 Mit dem Eintritt von Fritz Valjavec 1935 fand schließlich eine wichtige Zäsur statt, indem sich das Institut nun vermehrt „in den Dienst der nationalsozialistischen Volksgruppenpolitik stellte und unter immer stärkerer Dominanz seitens der SS sich die vollständige Kontrolle und langfristig damit auch die Monopolisierung der gesamten volksdeutschen Forschungsarbeit sowohl im Reich als auch im Südosten zum Ziel setzte“.56 Zu dieser Zeit begann Valjavec auch mit seinen Forschungen zur Geschichte des deutschen Kultureinflusses in Südosteuropa. Wie die oben angeführten Beispiele belegen, war Valjavec nicht der erste, der sich mit diesem Thema auseinandergesetzt hatte. Doch schrieb vor ihm kein Wissenschaftler eine derart umfangreiche Studie vom Mittelalter bis in die 1830er Jahre. Auch Valjavecs Ausführungen zum Aufklärungszeitalter wurden von keinem anderen Wissenschaftler quantitativ übertroffen. Und wie es der deutsche Historiker und NS-Volkstumsforscher Hans Joachim Beyer (1908–1971) in seiner Buchbesprechung ausdrückte, „gebührt Valjavec das Verdienst einer zusammenfassenden und wertenden Darstellung“.57 Während viele volksgeschichtliche Studien interdisziplinär mit Beteiligung vieler verschiedener Wissenschaftsdisziplinen praktiziert wurden, verzichtete Valjavec auf die Einbeziehungen anderer Disziplinen und Ansätze. So stellte er zum Beispiel auch keine Karten her.58 Valjavec unterschied sich dadurch von vielen anderen Volkshistoriographen, die Lebens-, Wirtschafts- und Kulturformen des deutschen Volkes sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart unter interdisziplinären Aspekten erforschten. Vielfach ging es bei diesem mehr auf Kulturraumforschung ausgerichteten Ansatz um eine wissenschaftliche Fundierung der historischen „Heimatkunde“, die „als Symbiose von Erde und Volkstum“59 betrachtet 55 Gerhard Seewann, Das Südost-Institut 1930–1960. In: Mathias Beer / Gerhard Seewann (Hg.), Südostforschung im Schatten des Dritten Reiches. Institutionen – Inhalte – Personen. München 2004, 49–92, hier 49–56. 56 Seewann, Südost-Institut, wie Anm. 55, 57. 57 Hans Joachim Beyer, Rezension Valjavec, Kultureinfluß. In: Historische Zeitschrift 166/3 (1942) 607– 610, hier 610. 58 Zu den Charakteristika der Volkshistoriographie siehe unter anderem: Peter Schöttler, Die intellektuelle Rheingrenze. Wie lassen sich französische Annales und die NS-Volksgeschichte vergleichen? In: Christoph Conrad / Sebastian Conrad (Hg.), Die Nation schreiben. Geschichtswissenschaft im internationalen Vergleich. Göttingen 2002, 271–295, hier 282. Willi Oberkrome, Volksgeschichte, wie Anm. 47, 65–95. 59 Adolf Helbok, Probleme und Methoden der deutschen Landesgeschichte. In: Erich Brandenburg (Hg.), Historische Vierteljahrschrift 22 (1924), 433–460, hier 435.

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wurde. Adolf Helbok sah beispielsweise die „Aufgabe der geschichtlichen Landesforschung“ sowohl in der „Erarbeitung der Naturlebenslagen“ als auch in der „der geistig seelischen (Kultur-) Lebenslagen der Vergangenheit“.60 Im Gegensatz zu Valjavec vertrat Helbok eine ganzheitliche Volkstumsforschung. Dieser Ansatz wurde auch von anderen deutschen Historikern verfolgt. Neben den kulturwissenschaftlichen Aspekten (Brauchtum, Sprache, Mundart, Verkehr, Kunst, Kultur) waren für Helbok auch der Bau- und die Oberflächenformen der Erde, der Boden und das Klima bedeutende Forschungsobjekte,61 da sie das Leben der Menschen und auch ihre Kultur mitbestimmten und mit ihnen eine „Symbiose“62 eingingen. Dabei spielte bei Helbok sowohl die „horizontale“ als auch die „vertikale“63 Kartierung eine bedeutende Rolle. Karten sollten nämlich nicht nur „die Einzelheiten hinsichtlich ihrer zeitlichen Zugehörigkeit“ darstellen, sondern auch „das ganze Gebiet der Volkskunde einer Gegend“ 64 zeigen. Der Ansatz von Valjavec war im Vergleich weitaus enger gefasst. Für ihn zählte nicht die „Naturlebenslage“, sondern ausschließlich der geistesgeschichtliche Beweis, dass die in Südosteuropa siedelnden Deutschen ein „volkskundliches Sonderbewußtsein gegenüber der fremdartigen Umwelt“65 entwickelt hätten „und dieses, von der Aufklärungszeit an bis in das 20. Jahrhundert hinein, gegen die zersetzenden Kräfte der südosteuropäischen Nationalstaatsbildung verteidigt worden sei“.66 Dabei griff er abseits historischer Quellen auch auf Minderheitenstatistiken zurück, die dem Ziel dienten „erstens durch die Konstruktion des Eigenen den Anderen als Feind zu erkennen und auszugrenzen, zweitens die Kenntnis über lokale deutsche Minderheitengruppen in den Kampf um die „demographische Neuordnung“ Europas einzuspeisen.“67 Dadurch wurde er auch ein typischer Vertreter der „Volksgeschichte“ („kämpfende Wissenschaft“68), auch wenn er sich gegenüber anderen Wissenschaftlern durch einen etwas anderen Ansatz abhob. In Ungarn wurde sein Buch Der deutsche Kultureinfluß im nahen Südosten verständlicherweise nur teilweise positiv aufgenommen. So gratulierte ihm zum Beispiel trotz Meinungsverschiedenheiten der Budapester Historiker Elemér Mályusz (1898–1989), der sich selbst der Etablierung der Volksgeschichte in Ungarn verschrieben hatte. Andere Historiker, etwa 60 Helbok, Methoden, wie Anm. 59, 436. 61 Helbok, Methoden, wie Anm. 59, 437–440. Vgl. auch Matthias Werner, Zwischen politischer Begrenzung und methodischer Offenheit. Wege und Stationen deutscher Landesgeschichtsforschung im 20. Jahrhundert. In: Peter Moraw / Rudolf Schieffer (Hg.), Die deutschsprachige Mediävistik im 20. Jahrhundert. Ostfildern 2005, 251–364, hier 278. 62 Helbok, Methoden, wie Anm. 59, 435. 63 Helbok, Methoden, wie Anm. 59, 453. 64 Helbok, Methoden, wie Anm. 59, 435. 65 Fritz Valjavec, Das älteste Zeugnis für das völkische Erwachen des Donauschwabentums. In: Historische Zeitschrift 159 (1939), 316–325, hier 325. 66 Ingo Haar, Friedrich Valjavec. Ein Historikerleben zwischen den Wiener Schiedssprüchen und der Dokumentation der Vertreibung. In: Lucia Scherzberg (Hg.), Theologie und Vergangenheitsbewältigung. Eine kritische Bestandsaufnahme im interdisziplinären Vergleich. Paderborn 2005, 103–119, hier 104. 67 Haar, Valjavec, wie Anm. 66, 104f. 68 Siehe dazu unter anderem: Spannenberger, Nachwuchswissenschaftler, wie Anm. 1, 215–235.

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János Kósa, reagierten allerdings weitaus zurückhaltender. Sie erkannten nämlich, dass die im Buch vorgenommenen Argumentationen, wonach Ungarn im Laufe der Geschichte stark vom deutschsprachigen Raum beeinflusst wurde, den Expansionsbestrebungen Deutschlands Richtung Ungarn Vorschub leisteten.69 Diese Befürchtungen ungarischer Historiker stimmten wohl mit den Vorstellungen von Valjavec überein. Sein politisches Engagement und die zu dieser Zeit durchgeführten geistes- und naturwissenschaftlichen Studien anderer Wissenschaftler über Südosteuropa, mit denen auch ein Beitrag zur Expansions- und „Lebensraumpolitik“ der Nationalsozialisten geleistet werden sollte, lassen daran keinen Zweifel. Valjavec trat bereits 1933 in die NSDAP ein. 1937 wurde er zum Geschäftsführer des „Südost-Instituts“ und baute in dieser Funktion seine bisherigen Kontakte zu NS-Politikern und -behörden aus. Dabei dürfte er auch als bewusst handelndes Subjekt agiert und freiwillig Forschungsergebnisse den NS-Politikern ohne Aufforderungen zur Verfügung gestellt haben: „Die große Politik jedenfalls war es, der er mit der Lieferung von Berichten aller Art diente und damit die politische Funktion wie Bedeutung des Südost-Instituts zielbewußt steigerte. Adressaten solcher Berichte waren das Oberkommando der Wehrmacht, die Auslandsorganisation der NSDAP, Regierungsbehörden und verschiedene Volkstumsorganisationen wie beispielsweise der VDA in Stuttgart, die allesamt spätestens 1938 der SS gleichgeschaltet waren.“70 1940 wurde das „Südost-Institut“ in das „Deutsche Auslandswissenschaftliche Institut“ in Berlin eingegliedert, das unter der direkten Leitung der SS stand. Valjavec selbst erhielt zu dieser Zeit zudem eine Professur an der Auslandswissenschaftlichen Fakultät. In die SS dürfte Valjavec bereits während der zweiten Hälfte der Dreißigerjahre eingetreten sein. Er bekleidete das Amt eines SS-Untersturmführers.71 1941 wurde er in den Sicherheitsdienst des Reichsführers-SS einberufen und war beim Sonderkommando 10b der Einsatzgruppe D stationiert. Dabei arbeitete er unter anderem als politischer Agent in Czernowitz.72 Ingo Haar konnte 2005 nachweisen, dass Valjavec im Rahmen dieser Tätigkeit an der Ermordung von Juden beteiligt war.73 Alle diese Beispiele belegen, dass sich Valjavec dem NS-Staat und der Partei gegenüber immer zustimmend verhielt, ihre Ideologie anerkannte und sogar an den Gräueltaten des nationalsozialistischen Regimes beteiligt war. Er akzeptierte Hitlers Expansions- und „Lebensraumpolitik“ und wollte dazu mit seiner Studie über den deutschen Kultureinfluss im Südosten einen Beitrag leisten. Er proklamierte die geistige und wirtschaftliche Überlegenheit des deutschen Volkes gegenüber allen anderen Bewohnern des Südostens, indem er den 69 László Orosz, Die Verbindungen der deutschen Südostforschung zur ungarischen Wissenschaft zwischen 1935 und 1944. Ein Problemaufriss anhand des Briefwechsels zwischen Fritz Valjavec und Elemér Mályusz. In: Márta Fata (Hg.), Das Ungarnbild der deutschen Historiographie. Wiesbaden 2004, 126– 167, hier 153–157; Árpád von Klimó, Volksgeschichte in Ungarn. Chancen, Schwierigkeiten und Folgen eines „deutschen“ Projektes. In: Matthias Middell / Ulrike Sommer (Hg.), Historische West- und Ostforschung zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg. Leipzig 2004, 151–178. 70 Seewann, Südost-Institut, wie Anm. 55, 63. 71 Seewann, Südost-Institut, wie Anm. 55, 67–69. 72 Fahlbusch, Im Dienste des Deutschtums, wie Anm. 2, 208–211. 73 Haar, Valjavec, wie Anm. 66, 111.

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deutschen Einfluss vom Mittelalter bis in das frühe 19. Jahrhundert aufzeigte und im Speziellen die Ungarn als ein fast ausschließlich deutsch geprägtes Volk beschrieb. Aber auch während des Zweiten Weltkrieges war er nicht der einzige, der durch historische Studien über Südosteuropa der NS-Politik zuarbeiten wollte. Vor allem in Österreich wurden nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten zusätzlich zur SODFG neue Forschungsgemeinschaften, welche sich mit Südosteuropa auseinandersetzten, ins Leben gerufen. 1938 wurde in Graz das „Südostdeutsche Institut“ gegründet, das unter der Leitung von Helmut Carstanjen stand (1905–1991). Die Aufgaben der Mitarbeiter lagen in der Beobachtung der politischen Vorgänge im jugoslawischen Raum und in der Förderung des Deutschtums in der Untersteiermark und den Grenzgebieten.74 Aber auch die ab 1938 an den Universitäten und Hochschulen der Ostmark etablierten Arbeitsgemeinschaften für Raumforschung setzten sich teilweise mit Südosteuropa auseinander. Zudem wurde in Wien von NS-Politikern und Behörden die „Südosteuropagesellschaft“ gegründet. Zu den bedeutendsten Vertretern der Wiener Gesellschaften zählten der Historiker Wilfried Krallert (1912–1969)75 und Hugo Hassinger.76 Das Augenmerk legte man vor allem auf bevölkerungs- und siedlungsgeographische Studien sowie auf die Entwicklung ökonomischer Konzepte, die zum Teil mit historischen Studien kombiniert wurden. An den Forschungen waren wie vor 1938 Wissenschaftler vieler verschiedener Fachrichtungen und Institutionen beteiligt, wodurch Netzwerke zwischen Geistes-, Natur-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, Institutionen und Behörden und Vertretern des deutschen Volkstums in südosteuropäischen Staaten entstehen konnten. Forschungen zum 18. Jahrhundert wurden allerdings kaum durchgeführt. Eine der wenigen Ausnahmen bildete das im Rahmen der Arbeitsgemeinschaft für Raumforschung der Universität Wien 1942 geplante Projekt „Die deutsche Kolonisation des Banats von Temeschberg im Rahmen der Verwaltung und Kultivierung dieses Gebietes durch die kaiserliche Hofkammer 1717–1778“. Diese Forschungen wurden auf jedem Fall bis 1944 fortgesetzt. Hervorgegangene Publikationen sind allerdings nicht bekannt.77 Mit dem geschichtlichen Einfluss Wiens auf den Südosten beschäftigte sich unter anderem Hassinger. Im Rahmen seines Projektes „Raumfunktion Wiens im Rahmen des Deutschen Reiches als zentraler Ort des südöstlichen Mitteleuropa“ wollte er die Beziehung Wiens zum Südosten in wirtschaftlicher, kultureller, historischer und politischer Hinsicht aufarbeiten. Seine Forschungsergebnisse publizierte er 1942 im 85. Band der Mitteilungen der Geographischen Gesellschaft in Wien.78 Hassinger analysierte bei seinen historischen Ausführun74 Christian Promitzer, Täterwissenschaft: das Südostdeutsche Institut Graz. In: Mathias Beer / Gerhard Seewann (Hg.), Südostforschung im Schatten des Dritten Reiches. Institutionen – Inhalte – Personen. München 2004, 93–113, hier 93f. 75 Zu Krallert siehe: Fahlbusch, Im Dienste des Deutschtums, wie Anm. 2, 194–203. 76 Zu Hassingers Forschungen über Südosteuropa siehe: Petra Svatek, Hugo Hassinger und Südosteuropa. Raumwissenschaftliche Forschungen in Wien (1931–1945). In: Carola Sachse (Hg.), „Mitteleuropa“ und „Südosteuropa“ als Planungsraum. Wirtschafts- und kulturpolitische Expertisen im Zeitalter der Weltkriege. Göttingen 2010, 290–311. 77 Projektansuchen siehe Universitätsarchiv Wien, Nachlass Hassinger, Kt. 16. 78 Hugo Hassinger, Wiens deutsche Sendung im Donauraum. In: Mitteilungen der Geographischen Ge-

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gen allerdings weitgehend das 19. Jahrhundert und nahm auf das Zeitalter der Aufklärung kaum Bezug. Aber auch Hassinger sah wie Valjavec den kulturellen Einfluss Wiens in den Bereichen Theater, Literatur und Musik sowie die Bedeutung der Wiener Bildungseinrichtungen; die Studenten aus dem Südosten hätten die deutsche Lebensweise und das deutsche Bildungsideal nach Südosteuropa mitgenommen.79

IV Schlussbetrachtung Das von Fritz Valjavec 1940 publizierte Buch Der deutsche Kultureinfluß im nahen Südosten unter besonderer Berücksichtigung Ungarns mit seinem ausführlichen Kapitel zum Aufklärungszeitalter stellte ohne Zweifel einen Beitrag zur damaligen nationalsozialistischen Expansions- und „Lebensraumpolitik“ dar. Mit historischen Studien über den deutschen Einfluss auf Südosteuropa vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert konnte man nämlich den Anspruch des Deutschen Reiches auf diverse südosteuropäische Staaten bekräftigen und die „Raumeroberung“ vorantreiben. Im Zeitalter der Aufklärung sah Valjavec „in einer gewissen Hinsicht den Höhepunkt des deutschen, vor allem des österreichischen Einflusses auf den Südosten“80 und bekräftigte, dass „der deutsche Kultureinfluss nicht nur auf dem Gebiet der Lebensgestaltung, sondern auch in geistiger Hinsicht im Donauraum Erfolge wie nie vorher verzeichnen konnte“.81 Nach der nationalsozialistischen Herrschaft konnte Valjavec seine Karriere zumindest ab den Fünfzigerjahren ungehindert fortsetzen. Von 1955 bis 1960 war er abermals Leiter des reaktivierten Münchener „Südost-Instituts“. Zudem wurde er 1958 zum Ordinarius für Neuere und südosteuropäische Geschichte der Universität München bestellt.82 Von seinen vielen nach 1945 geschriebenen Publikationen soll hier seine mehrbändige Monographie über die Geschichte der deutschen Kulturbeziehungen zu Südosteuropa genannt werden. Ein Band, der 1958 erschien, widmete sich der Aufklärung und dem Absolutismus. Damit blieb Valjavec auch nach 1945 seinen Forschungen der NS-Zeit treu, allerdings nun unter veränderten politischen Rahmenbedingungen. Er war damit kein Einzelfall. Als ein Beispiel von vielen sei hier der Österreicher Wilfried Krallert genannt, der nach seiner britischen Kriegsgefangenschaft von 1952 bis 1955 die redaktionelle Leitung beim Wissenschaftlichen Dienst Südosteuropa innehatte und zum Mitarbeiter der Arbeitsgemeinschaft Ost (späteres Wiener Ost- und Südosteuropainstitut) ernannt wurde.83

sellschaft in Wien 85 (1942), 3–31. 79 Zu Hassingers Studie siehe: Petra Svatek, Hugo Hassinger: Wiens deutsche Sendung im Donauraum (1942). In: Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 9/2 (2009), 163–170. 80 Valjavec, Kultureinfluß, wie Anm. 5, 329 81 Valjavec, Kultureinfluß, wie Anm. 5, 349. 82 Fahlbusch, Im Dienste des Deutschtums, wie Anm. 2, 213. 83 Zu Krallert nach 1945 siehe: Michael Fahlbusch, Wilfried Krallert. In: Michael Fahlbusch / Ingo Haar (Hg.), Handbuch der völkischen Wissenschaften. München 2008, 335–337.

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Eigene Wege des habsburgtreuen Konservativen Hugo Hantsch zwischen den Josephinismuskonzepten von Fritz Valjavec und Eduard Winter

I Einführung und Fragestellung Der Benediktinermönch Hugo Hantsch (1895–1972) war der führende Repräsentant des „Austrofaschismus“ in der österreichischen Geschichtswissenschaft der Zwischenkriegszeit und eine der Schlüsselfiguren in der Geschichtswissenschaft der Nachkriegszeit.1 Meine Bewertung basiert auf der für einen Historiker seines Ranges singulären publizistischen Tätigkeit, mit der sich Hantsch als Professor für Österreichische Geschichte ab 1935 in den Dienst des autoritären „Ständestaates“ stellte und den Nationalsozialismus attackierte. Diese Aktivität, aber wohl auch die Herkunft aus der Schule Heinrich Ritter von Srbiks prädestinierten ihn zu dessen Nachfolger als Professor für Geschichte der Neuzeit 1946 in Wien. Hantsch nahm wiederholt zum Josephinismus-Problem Stellung. Im Folgenden wird versucht, zu zeigen, dass Hantsch die verschiedenen deutschnationalen, aber auch katholisch-konfessionellen Standpunkte seiner „österreichischen“ Zeitgenossen wie Fritz Valjavec oder Eduard Winter2 nicht übernahm, sondern sich um ein eigenständiges Urteil bemühte.

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Zur Biografie Hantschs vgl. Fritz Fellner, Österreichs historische Mission und die Reichsidee. Werk und Wirken des Historikers Hugo Hantsch in der Diskussion um ein österreichisches Geschichtsbewusstsein. In: Ulfried Burz (Hg.), Brennpunkt Mitteleuropa. Festschrift für Helmut Rumpler zum 65. Geburtstag. Klagenfurt 2000, 83–96; sowie Johannes Holeschofsky, Hugo Hantsch, Ein großösterreichischer Verfechter der Reichsidee. In: Karel Hruza (Hg.), Österreichische Historiker 1900–1945. Lebensläufe und Karrieren, 2. Wien 2012, 451–489; Id., Hugo Hantsch, Eine biografische Studie. Diss. Wien 2012. Zu Valjavec siehe Gerhard Grimm, Georg Stadtmüller und Fritz Valjavec. Zwischen Anpassung und Selbstbehauptung. In: Mathias Beer (Hg.), Südostforschung im Schatten des Dritten Reiches. Institutionen – Inhalte – Personen. München 2004, 237–255; sowie Ingo Haar, Friedrich Valjavec. Ein Historikerleben zwischen den Wiener Schiedssprüchen und der Dokumentation der Vertreibung. In: Lucia Scherzberg (Hg.), Theologie und Vergangenheitsbewältigung. Eine kritische Bestandsaufnahme im interdisziplinären Vergleich. Paderborn 2005, 103–119. Zu Winter: Jiři Němec, Eduard Winter (1896–1982) „Eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der österreichischen Geistesgeschichte unseres Jahrhunderts ist in Österreich nahezu unbekannt“. In: Karel Hruza (Hg.), Österreichische Historiker 1900–1945. Lebensläufe und Karrieren in Österreich, Deutschland und der Tschechoslowakei in wissenschaftsgeschichtlichen Porträts, 1. Wien 2008, 619–677.

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Ich werde Hugo Hantschs Haltung zum Josephinismus skizzieren und kurz anführen, warum er, im Vergleich mit berühmten, klassischen Josephinismus-Theoretikern des 20. Jahrhunderts, wie Eduard Winter und Fritz Valjavec, eine Sonderstellung einnimmt. Interessant und bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang schon Hantschs Biografie. Hantsch, glühender Monarchist, war Mitglied des Benediktinerordens in Melk.3 Ort und Orden sind sehr eng mit dem, was Eduard Winter die „katholische Aufklärung“4 genannt hat, verknüpft. Es gab eine langanhaltende Tradition von reformkatholischen, auch jansenitisch angehauchten Benediktinern gerade auch im Stift Melk. Allerdings haben Benediktiner auch sehr früh den Anschluss an die katholische Romantik, die Restauration des beginnenden 19. Jahrhunderts, gesucht und gefunden.5 Hugo Hantsch selbst empfand sich immer als dogmatisch strenggläubiger konservativer Katholik im Sinne der Neuscholastik. Er erhielt dann aufgrund seiner Strenge in der Auslegung der Ordensregel unter seinen benediktinischen Ordensbrüdern den Beinamen „Jesuit“,6 und er absolvierte schließlich sein Theologiestudium in Innsbruck am berühmten jesuitischen Collegium Canisianum.7 Inwiefern und auf welche Weise war Hantschs Annäherung an den Josephinismus von diesen Widersprüchen geprägt, bzw. wie trachtete er sie zu überwinden? Aufschluss darüber gibt der Briefwechsel zwischen Hantsch und Valjavec aus den Jahren 1943 und 1944, der dem Gedankenaustausch über den Josephinismus gewidmet ist. Valjavec war damals Professor für Geschichte Südosteuropas in Berlin und Leiter des Südost-Institutes in München. Hantsch, vor 1938 Extraordinarius (bzw. ab Beginn 1938 Ordinarius) für Österreichische Geschichte in Graz, war mit Publikationsverbot belegt als Pfarrer in der kleinen niederösterreichischen Pfarre Ravelsbach tätig (er war zuvor elf Monate im KZ Buchenwald inhaftiert gewesen).8 Fritz Valjavec war einer der wenigen Historiker, die in der NS-Zeit mit ihm Kontakt suchten. Der Anlass dieses brieflichen Austausches war eine Anfrage von Valjavec an Hantsch wegen etwaiger jansenistischer Einflüsse auf den Benediktinerorden. Hantsch las den Essay Valjavecs über den Josephinismus und beurteilte ihn höflich positiv, nicht ohne auf einige Meinungsunterschiede hinzuweisen.9 Zudem äußerte sich Hantsch über das Josephinismusproblem in seinem Buch Die Entwicklung Österreich-Ungarns zur Großmacht, das er 1933 in der Reihe „Geschichte der füh3 4

5 6 7 8 9

Holeschofsky, Reichsidee, wie Anm. 1, 453f. Geprägt wurde dieser Begriff 1908 von dem katholischen Kirchenhistoriker Sebastian Merkle. Zu Merkle und der von ihm ausgelösten Historikerkontroverse, vor allem mit dem Tübinger Theologen Johann Baptist Sägmüller, vgl. Manfred Weitlauff, Merkle, Sebastian. In: Neue Deutsche Biographie 17 (1994), 159–161 [Onlinefassung]: http://www.deutsche-biographie.de/pnd118733036.html. [19.1.2015]. Siehe hierzu Johannes Frimmel, Literarisches Leben in Melk. Ein Kloster im 18. Jahrhundert im kulturellen Umbruch. Wien 2005, 167 f. Holeschofsky, Reichsidee, wie Anm. 1, 453f. Holeschofsky, Reichsidee, wie Anm. 1, 453f. Holeschofsky, Reichsidee, wie Anm. 1, 486. Bibliothek des Institutes für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg, NL Fritz Valjavec, Schreiben von Hugo Hantsch an Fritz Valjavec vom 1.10.1944.

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renden Völker“ im Herder Verlag veröffentlichte10 und im zweiten Band seiner „Geschichte Österreichs“, 1950 im Styria Verlag erschienen.11

II Josephinismus als kirchengeschichtlicher Begriff Zunächst einmal: Was bedeutete für Hugo Hantsch „Josephinismus“? Als Erstes scheint mir wichtig, dass Hantsch zwischen Josephinismus im Sinne der den österreichischen Gesamtstaat betreffenden Reformen des Kaisers und Josephinismus im Sinne von dessen Kirchenpolitik unterschied. Obwohl er beide unterschiedlich bewertete, führte er sie schließlich dennoch auf eine und dieselbe Wurzel, die Haltung Josephs II., zurück.12 Josephs Staatskirchentum wurde von Hantsch von Anfang an eindeutig negativ beurteilt. Es ist interessant, dass Hantsch, wenn er von Josephinismus sprach, immer die Regierungszeit Kaiser Josephs II. selbst meinte und sich hier scharf von allen berühmten Josephinismustheoretikern, ob nun Winter, Valjavec oder Ferdinand Maaß und dessen Schüler Herbert Rieser, abhob. Maria Theresia war für Hantsch nie eine Jansenistin, sie wurde Hantsch zufolge auch keineswegs von ihren Lehrern13 im staatskirchlichen Sinne erzogen. Laut Hantsch war auch Eduard Winters Auffassung unrichtig, derzufolge Reformkatholiken im Sinne einer Katholischen Aufklärung sich schließlich im Kampf um die Seele Maria Theresias gegen die Jesuiten durchgesetzt hätten. Nein, Maria Theresia blieb für Hantsch bis zum Tod eine strenggläubige Barockkatholikin.14 Der Beginn der josephinisch genannten Reformen in der Toskana wurde an der laut Hantsch schon depressiven und handlungsunfähigen Monarchin vorbei durchgeführt. Sie selbst treffe keine Schuld für die nach Hantsch so verderblichen Maßnahmen.15 Anders als Maaß und Rieser sah Hantsch Joseph II. selbst als Alleinverantwortlichen für das Josephinische Staatskirchentum. Und erschien Joseph 1933 noch als nicht antichristlicher Monarch,16 so war er 1950 jemand, der wohl Deist geworden und sich einem „fla10 Hugo Hantsch, Die Entwicklung Österreich-Ungarns zur Großmacht. Freiburg im Breisgau 1933. 11 Hugo Hantsch, Eine Geschichte Österreichs. Graz 1950. 12 Die moderne Literatur argumentiert hier in der Folge von Fritz Valjavec und im Gegensatz zum frühen Eduard Winter und zu Ferdinand Maaß. Vgl. Rudolf Franzl, Das Verhältnis von Kirche/Religion im Theresianischen Zeitalter. In: Helmut Reinalter (Hg.), Josephinismus als Aufgeklärter Absolutismus. Wien 2008, 17–52, hier 50f. Man versucht, den Josephinismusbegriff möglichst umfassend zu definieren. 13 So etwa von Gottfried Philipp Spannagel. Zu ihm siehe Elisabeth Garms-Cornides / Fabio Marri, Il misterioso Filippi. Gottfried Philipp Spannagel zwischen den italienischen Staaten und der Habsburgermonarchie. In: Thomas Wallnig / Thomas Stockinger / Ines Peper / Patrick Fiska (Hg.), Europäische Geschichtskulturen um 1700 zwischen Gelehrsamkeit, Politik und Konfession. Berlin – New York 2012, 271–304. 14 Hugo Hantsch, Eine Geschichte Österreichs (Graz ³1962) 188f. 15 Hantsch, Geschichte, wie Anm. 11, 188f. 16 Hantsch, Entwicklung, wie Anm. 10, 126f.

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chen Vernunftglauben“ hingegeben hätte, wenn ihn nicht die „Tradition seines Hauses und die Verpflichtung dem Staat gegenüber“ daran gehindert hätten.17 So entsprangen Josephs kirchliche Reformen, von Hantsch als eine Vorform des Totalitarismus beurteilt, unverkennbar der Absicht des Herrschers, die Religion für die Zwecke des aufgeklärten Anstaltsstaates einzuspannen.18 Dabei warf Hantsch den Klerikern und Bischöfen der Josephinischen Zeit nur vor, sich in vorauseilendem Gehorsam in den Dienst des Kaisers gestellt zu haben.19 Somit breitete Hantsch über die Maaß’sche Deutung – ihm zufolge habe eine Freimaurerverschwörung rund um den Advocatus Diaboli Kaunitz die schon latent vorhandene Neigung der Habsburger zum Staatskirchentum für ihre häretischen Zwecke instrumentalisiert – den Mantel des Schweigens.20 Ebenso unerwähnt blieb bei Hantsch Eduard Winters These, eine innerkirchliche Reformbewegung, die in der Niederringung der eigentlich häretischen jesuitischen Theologie mündete, habe sich unter wohlwollender Mitwirkung des Kaisertums schließlich durchgesetzt.21 Dass Hantsch hingegen sehr nachhaltig von den Theorien seines böhmischen Landsmannes und ehemaligen Innsbrucker Schul- und Studienkollegen Eduard Winter beindruckt und beeinflusst war, zeigt sein Briefwechsel mit Fritz Valjavec. So schrieb Hantsch an Valjavec am 1.10.1944: „Winter hat keinen Sinn dafür, wie sehr die Josephinische Bewegung den innersten Kern des Religiösen, nämlich seine metaphysischen Zusammenhänge, betraf. Daß die Kirche in ihrer Einstellung gegen den Josephinismus wesentliche Glaubensgüter verteidigte, entgeht ihm vollständig. Bei dieser Zielsetzung kann von einer Reform der Kirche nicht mehr die Rede sein, sondern von Reformation.“22 Mit dieser Schlussfolgerung hatte Hantsch wohl Recht, denn als „Reformation“ wollte Eduard Winter die katholische Aufklärung bekanntlich auch verstanden wissen. Und weiter: „Ich verstehe Winter, den ich doch schon vom Gymnasium her kenne, und mit dem ich zusammen Theologie studierte, daß er damit seinen persönlichen Entschluss [wohl Winters Heirat und seine Entfremdung von der katholischen Amtskirche] rechtfertigen will, aber er hat damit die Historie zu seiner Magd gemacht.“23 Nun war der eigentliche Grund des Schreibens von Valjavec an Hantsch, wie eingangs erwähnt, dass dieser sich bei dem Benediktiner über jansenistische Einflüsse auf dessen Orden erkundigen wollte. Wenn Hantsch also den Zweikampf zwischen Staatskirchentum und Reformkatholizismus, wie er von seinen Kollegen Winter und Maaß mit unterschiedlichen ideologischen Zielsetzungen in den Mittelpunkt ihrer Werke gestellt wurde, bewusst baga17 Hantsch, Geschichte, wie Anm. 11, 231. 18 Hantsch, Geschichte, wie Anm. 11, 233f. 19 Hantsch, Geschichte, wie Anm. 11, 237f. 20 Herbert Rieser, Der Geist des Josephinismus und sein Fortleben. Der Kampf der Kirche um ihre Freiheit. Wien 1963, 28f. 21 Eduard Winter, Der Josephinismus und seine Geschichte. Beiträge zur Geistesgeschichte Österreichs 1740–1848. Brünn 1943, 32f. 22 Bibliothek des Institutes für Ost- und Südosteuropaforschung Institut Regensburg, NL Fritz Valjavec, Brief von Hugo Hantsch an Fritz Valjavec vom 1.10.1944. 23 Bibliothek des Institutes für Ost- und Südosteuropaforschung Institut Regensburg, NL Fritz Valjavec, Brief von Hugo Hantsch an Fritz Valjavec vom 1.10.1944.

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tellisierte, tat er das nicht nur als Anhänger einer Allianz von Thron und Altar. Er versuchte auch, heikle Punkte der Geschichte seines eigenen Ordens zu umgehen. Zum Sündenbock für den „Josephinismus im engeren Sinne“ wurde die Aufklärung als eine nicht mehr christliche, rationalistische Bewegung einerseits, Kaiser Joseph als altbekanntes schwarzes Schaf der Dynastie andererseits. Die Nachwirkungen des Josephinismus, für Eduard Winter24 und Maaß/Rieser25 genauso wie für Valjavec26 ein ganz entscheidender Gedanke, thematisierte Hantsch nur zögerlich. Schon zur Regierungszeit Josephs II. habe eine innerkirchliche Schubumkehr im konservativen Sinne eingesetzt.27 Die Weiterexistenz aufklärerischer Bestrebungen gerade auch im Benediktinerorden bis weit ins 19. Jahrhundert hinein räumte Hantsch nur widerwillig ein.28

III Josephinismus als allgemeingeschichtlicher Begriff Der Josephinismus als Sammelbegriff für die den österreichischen Gesamtstaat betreffenden Reformen des Kaisers wurde von Hantsch dagegen keineswegs dämonisiert. Als positives Resultat des Josephinismus hob er die „die Schaffung eines gemeinsamen Beamtentums und einer gemeinsamen Armee“ hervor, beide charakterisierte er als „konservativ bis in die Knochen und damit immun gegen alles revolutionäre Gedankengut, dabei aber durchdrungen von einem Geist des Kulturliberalismus und im kulturellen Fortschritt nach Beglückung der Welt und des eigenen Landes strebend“.29 Die Erzeugung dieses einheitlichen Korpus wur-

24 Winter, Josephinismus , wie Anm. 21, 389f. 25 Rieser, Josephinismus, wie Anm. 20, 89f. 26 Fritz Valjavec, Der Josephinismus. Zur geistigen Entwicklung Österreichs im 18. und 19. Jahrhundert. Brünn 1944, 99f. Die ungebrochene Anziehungskraft von Fritz Valjavecs Argumentation, der Josephinismus sei eine konservative Bewegung gewesen, zeigt sich bei: Mathias Rettenwander, Nachwirkungen des Josephinismus. In: Helmut Reinalter (Hg.), Josephinismus als Aufgeklärter Absolutismus, wie Anm. 12, 317–425. Rettenwander thematisiert einen „konservativen Josephinismus“ etwa Leopold Alois Hoffmanns. Dessen Ursprünge lägen in der im Grunde doch katholischen Überzeugung von Joseph II. Dieser habe zwar gleichsam aus Publicity-Gründen an die öffentliche Meinung appelliert, sei bei Kritik jedoch zurückgerudert und habe auch den politischen Konservativismus in Österreich begründet. Selbst der Hofbauer-Kreis sei im Grunde als Gruppierung im Sinne eines katholisch-konservativen Josephinismus zu bezeichnen: ebenda 331f. Dabei verweist Rettenwander darauf, dass etwa Hoffmann bereits 1784 eine politische Wende zum Konservativen durchmachte: Ebenda 329f. Der von Rettenwander in Bezug auf Hoffmann zitierte Leslie Bodi meinte allerdings, erst seit 1787 „Anzeichen“ für den Gesinnungswandel Hoffmanns wahrzunehmen. Leslie Bodie, Tauwetter in Wien. Zur Prosa der österreichischen Aufklärung 1781–1795. Wien 1995, 238f. Zum Themenbereich des Nachlebens des Josephinismus siehe auch: Franz Leander Filiafer, Eine Gespenstergeschichte für Erwachsene. Überlegungen zu einer Geschichte des josephinischen Erbes in der Habsburgermonarchie. In: Hubert Christian Ehalt (Hg.), Was blieb vom Josephinismus? Innsbruck 2010, 27–57. 27 Hantsch, Geschichte³, wie Anm. 14, 225. 28 Hantsch, Geschichte³, wie Anm. 14, 225. 29 Hantsch, Geschichte, wie Anm. 11, 255.

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de dem „glühenden Patriotismus“30 Josephs II. zugeschrieben. Auf den ersten Blick zeigen diese Definition der josephinischen österreichischen Bürokratie und die Feststellung, dass sie von einem konservativen Geist durchdrungen sei, eine Übereinstimmung mit Valjavec. Doch wurde bei Hantsch auch dieser säkulare Josephinismusbegriff (aufgrund seiner Definition sinngemäß Josephinismus im weiteren Sinn) ausdrücklich an die Person des Kaisers gekoppelt. Die Figur des Kaisers kommt bei Valjavec, überspitzt gesagt, gar nicht vor. So behauptete Valjavec, das Jahrzehnt der Regierungszeit Josephs II. sei, weil vielfach von dem Einfließen revolutionären Gedankengutes geprägt, vielleicht das „am wenigsten Josephinische“ Jahrzehnt Österreichs.31 Aus dem Briefwechsel zwischen Hantsch und Valjavec während der NS-Zeit geht hervor, dass Hantsch den Josephinismus von Anbeginn an im Kontext einer allgemeinen europäischen Aufklärung sehen wollte.32 Valjavec betrachtete ihn dagegen als wesentlich beeinflusst durch die deutsche Frühaufklärung, deren Eindringen in Österreich auf das Zeitalter Maria Theresias, vor allem auf die Zeit der Reformen Haugwitz’ nach dem Österreichischen Erbfolgekrieg festzulegen sei.33 Josephinismus bedeutete für Hantsch von Anbeginn an die Anwendung der Aufklärung in Österreich durch die Person Josephs II. In seiner Darstellung wurde der Monarch selbst weniger als Theoretiker auf dem Thron34 geschildert (und somit positiv Friedrich dem Großen gegenübergestellt), sondern als konsequentester Anwender aufgeklärter Ideen, die er sich nicht zuletzt durch umfassende Lektüre angeeignet habe.35 Den Ursprung dieser Ideen ortete Hantsch in seiner Geschichte Österreichs von 1950 jedoch vor allem in Frankreich. Er verwies darauf, dass kaum eine der Reformideen Josephs nicht bereits in der philosophischen Literatur Frankreichs erörtert worden sei. Joseph habe dem entsprochen, was sich französische Theoretiker unter einem Philosophenkönig vorstellten.36 Hier erschien Joseph als der 30 Hantsch, Geschichte, wie Anm. 11, 220. 31 Valjavec, Josephinismus, wie Anm. 26, 6. 32 Bibliothek des Institutes für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg, NL Fritz Valjavec, Brief von Hugo Hantsch an Fritz Valjavec vom 1.10.1944. 33 Valjavec, Josephinismus, wie Anm. 26, 7. 34 Hantsch, Geschichte, wie Anm. 11, 224. 35 Hantsch, Geschichte, wie Anm. 11, 222. 36 Hantsch, Geschichte, wie Anm. 11, 223. In den theoretischen Vorstellungen der französischen Physiokraten wurzelt der oft angesprochene Widerspruch zwischen den Begriffen der Aufklärung und des Absolutismus. Nur ein despotischer Herrscher könne wirksam gegen althergebrachte ständische Privilegien vorgehen. Vgl. Karl Otmar von Aretin, Einleitung. In: Id. (Hg.), Aufgeklärter Absolutismus als europäisches Problem. Köln 1974, 11–51. Zu Josephs Beziehungen zu französischen Aufklärern und deren Bewunderung für den Kaiser siehe auch Hans Wagner, Die Reise Josephs II. nach Frankreich und die Reformen in Österreich. In: Österreich und Europa. Festgabe für Hugo Hantsch zum 70. Geburtstag. Graz 1965, 221–247, hier 239. Weiters Erich Zöllner, Bemerkungen zum Problem der Beziehungen zwischen Aufklärung und Josephinismus. In: Österreich und Europa. Festgabe für Hugo Hantsch zum 70. Geburtstag 203–221, hier 214. Sowie Derek Beales, The Case of the Austrian Enlightenment. In: Id., Enlightenment and Reform in Eighteenth-century Europe. London 2005, 60–90, hier 75 f. Zwar schien die französische Öffentlichkeit enttäuscht darüber gewesen zu sein, dass Joseph sich anlässlich seines Frankreichsbesuches zumindest offiziell von aufklärerischen Denkern wie Voltaire distanzierte.

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europäische Monarch, der dem französischen Idealbild eines despote éclairé in seinen konsequenten Reformbestrebungen am nächsten gekommen sei. Es ist möglich, dass Hantsch, der ab Ende der vierziger Jahre in Wien Vorlesungen über französische Geschichte hielt, an die Definition des Absolutismus durch den französischen Historiker Michel Lhéritier anschließen wollte. Josephs säkularen Reformen wurden nun moralische Überlegungen im Sinne des Utilitarismus und im Sinne eines säkularisierten Naturrechtes zugrunde gelegt. Dem Kaiser wurden ein hohes soziales Bewusstsein und ein großer Gerechtigkeitssinn zugebilligt. 37 Mit seinem Gleichheitsgedanken habe er keineswegs nur Zwecke der Staatsräson verfolgt, sondern das Glück einer möglichst großen Anzahl gleichberechtigter und gleichverpflichteter Menschen zu fördern getrachtet. Weiters sei seine Außenpolitik nicht expansionistisch gewesen.38 Hier wurde eine Abkehr von einer deutschen geschichtswissenschaftlichen Tradition versucht, die in der Nachfolge Reinhold Kosers den aufgeklärt-absoluten Monarchen als Diener einer letztlich nur von ihm selbst zu bestimmenden Staatsräson definiert hatte. Und schließlich gewann auch der Konservativismus der Bürokratie, den Hantsch dem Josephinismus als bleibendes Verdienst zugestand, einen der Definition Valjavecs entgegengesetzten Sinn. Joseph II. immunisierte demnach seine eigene Bürokratie gegen revolutionäre Vorstellungen, da er sie von allerhöchster Stelle zum Tummelplatz menschheitsbeglückender Ideen machte.

IV Zur „deutschen“ Mission des Josephinismus Bis in die II. Republik gestand Hantsch dem Josephinismus auch eine deutsche Mission zu – diese war aber eben die Schaffung eines österreichischen Gesamtstaates. Insofern stand Hantsch hier dem zentralistischen Großösterreicher Ernst Karl Winter viel näher als dem Deutschnationalen Valjavec;39 mit dem Unterschied freilich, dass der volkstumsbewusste, föderalistische Großösterreicher Hantsch in Österreich keinen Nationalstaat, sondern einen Nationalitätenstaat sah, der den Gesamtstaatsgedanken mit der Wahrung des im Herder’schen Sinn verstandenen Volkstums der einzelnen Nationalitäten verknüpfte. Der deutschen Volksgruppe stand dabei immer als Primus inter pares ein Ehrenplatz als Kulturträger und Erzieher der anderen Völker – und als der Volksstamm der Dynastie – zu. Von den genuinen Deutschnationalen wie Valjavec oder Eduard Winter unterschied sich aber Hantsch dadurch, dass er die Fichte’sche Idee eines notwendigen politischen Zusammenschlusses aller in ethnisch Die frühe Beschäftigung des Kaisers mit den Philosophen der französischen Hochaufklärung sowie auch seine Beeinflussung durch den Frankreichbesuch stehen jedoch außer Zweifel. Es liegt die Vermutung nahe, dass der Kaiser inoffiziell hier weiter ging, als er sich offiziell als Kaiser des Heiligen Römischen Reiches gestattete. 37 Hantsch, Geschichte, wie Anm. 11, 224. 38 Hantsch, Geschichte, wie Anm. 11, 250f. 39 Zu dem Gegensatz zwischen Hantsch und Ernst Karl Winter siehe auch Holeschofsky, Reichsidee, wie Anm. 1, 472.

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geschlossenen Gebieten lebenden Deutschen nicht verfocht. Dieser sollte der Vorstellung von Valjavec gemäß zu einer gesamtdeutschen Hegemonie in Mittel- und Osteuropa führen. Valjavec war ein Ungarndeutscher, die Ungarndeutschen hofften in der Zeit der Habsburgermonarchie auf eine Revision des Ausgleichswerkes durch Thronfolger Franz Ferdinand. Sie hatten aber oft auch eine stark antihabsburgische Tendenz. Hantsch dagegen war in der deutschnationalen Hochburg Teplitz-Schönau geboren, hatte allerdings engste Beziehungen zum Prager Deutschtum, seine Familie lebte in Prag. Für die cisleithanischen Inseldeutschen hatte der Anschlussgedanke nur wenig Bedeutung. Nun kann man natürlich auch Hantschs Deutschtums-Gedanken einen imperialistischen Sinn zuschreiben. Demgegenüber ist aber meiner Ansicht nach zu bedenken, dass ein einiges Großdeutschland ein ganz anderes politisches Gewicht gehabt hätte als die deutsche Volksgruppe in der Habsburgermonarchie.40 Die Idee der notwendigen Kooperation der Nationalitäten Großösterreichs war somit einem glühenden Anhänger der Habsburgermonarchie, der Hantsch zweifellos zeitlebens blieb, ein ernsteres Anliegen als etwa dem Nationalsozialisten Valjavec. Noch in einem weiteren Punkt unterschieden sich Hantschs Anschauungen hier von Valjavecs Südosteuropa-Vision: Valjavec hatte Südosteuropa in zwei politisch-kulturelle Einflussräume geteilt, einen deutsch-habsburgischen und einen romanisch-panslawistischen.41 Hantsch unterlief diese strikte Zweiteilung, indem er immer wieder die romanischen Einflüsse auf die Habsburgermonarchie hervorhob. Und drittens rechtfertigte Hantsch den Ausgleich von 1867 im Lauf seines Lebens immer mehr, im Gegensatz zu Valjavec.42 Wichtige Ansätze für den Ausgleich sah Hantsch gerade bei Josephs II. Politik in der Konstituierung einer selbstständigen ungarischen Verwaltungseinheit.43 Er kritisierte Kaiser Josephs Sprachgesetze wiederum als überstürzt, mit zu wenig Respekt für gewachsene Ordnungen durchgeführt und äußerte Verständnis dafür, dass diese Gesetze den Deutschenhass geweckt hätten.44 Freilich neigte Hantsch stark dazu, aufkommende nationalistische Bewegungen in Mittel- und Osteuropa einseitig als im Grunde doch kronloyal zu beschreiben, etwa als moderaten Versuch, ständische Rechte zu wahren. Dabei übersah er, wie sehr eben nicht nur der Kaiser, sondern auch die Stände sich aufgeklärt-westliches Gedankengut aneigneten bzw. für ihre eigenen Zwecke instrumentalisierten. 40 Zumindest wurde von deutschnationalen Autoren wild gegen die angeblich undeutsche bzw. proslawische Politik Kaiser Franz Josephs I. und verschiedener Regierungen der sogenannten cisleithanischen Reichshälfte polemisiert. Siehe exemplarisch Paul Molisch, Geschichte der deutschnationalen Bewegung in Österreich. Jena 1926, 98f. 41 Fritz Valjavec, Südosteuropa und der Balkan. In: Mathias Bernath (Hg.), Ausgewählte Aufsätze. München 1963, 72–82, hier 76f. 42 Hugo Hantsch, Die Entstehung der dualistischen Monarchie Österreich-Ungarn. In: Bericht über den 7. Österreichischen Historikertag in Eisenstadt. Wien 1963, 25–35. 43 Hantsch, Geschichte³, wie Anm. 14, 215. Zu dieser Bewertung gelangte Hantsch trotz der Tatsache, dass Joseph später [1786] die ungarische Komitatsverwaltung auflöste. Joseph habe [1782] der ungarischen Hofkanzlei die Finanzangelegenheiten, die bis dato Sache der Wiener Hofkammer gewesen waren, zugewiesen. Diese Maßnahme habe unter seinen österreichischen Beamten Bedenken aufkommen lassen, der Monarch plane, den ungarischen Magnaten zu weit entgegenzukommen: Ebenda. 44 Hantsch, Geschichte³, wie Anm. 14, 230f.

Eigene Wege des habsburgtreuen Konservativen Hugo Hantsch

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V Conclusio Hantsch sah den Josephinismus in klarer Abgrenzung von den klassischen Josephinismustheoretikern Winter, Valjavec und Maaß als durch die Person Josephs II. hervorgebrachte Variante des Aufgeklärten Absolutismus. Es gelang ihm, aufzuzeigen, wieso gerade dieser Herrscher viele typische und oft diskutierte Elemente eines aufgeklärten Monarchen auf sich vereinigte. Ferner versuchte Hantsch die Josephinismusdefinition von der gesamtdeutschen Perspektive zu emanzipieren und in gesamteuropäische Zusammenhänge einzubetten. Neben eine vernichtende Beurteilung der josephinischen Kirchenpolitik trat eine Anerkennung nicht weniger Leistungen Josephs im säkularen Bereich. Insofern liegt die Problematik der Darstellung des Josephinismus bei Hugo Hantsch durchaus nicht in der Koppelung des Josephinismusbegriffes an die Person Josephs II. (eine solche hat zuletzt auch Derek Beales vorgenommen).45 Sie liegt auch nicht in der Beschreibung des Josephinismus als Aufgeklärtem Absolutismus und ebenso wenig in dem Versuch, deutlich zu machen, wie sehr gerade die unter den Monarchen seiner Zeit singuläre Erscheinung Josephs II. nicht nur mit aufklärerischem Gedankengut spielte,46 sondern es ernsthaft 45 Derek Beales, Joseph II., 2: Against the World 1780–1790. Cambridge 2009, 1f. Dagegen knüpft Helmut Reinalter einerseits an die Definition von Fritz Valjavec an, die auch das Zeitalter Maria Theresias umspannt. Andererseits versucht er, in Gegensatz zu orthodox-marxistischen Ansätzen und im Anschluss an Hans-Ulrich Wehler, den Josephinismus als „defensive Modernisierung“ Josephs II. zu fassen. Joseph habe versucht, die bürgerliche Revolution in Österreich durch überhastete Reformen zu verhindern, ohne dabei einen grundlegenden Umsturz des bestehenden Gesellschaftssystems zu beabsichtigen. Valjavec selbst hatte aber bekanntlich das seiner Ansicht nach „radikale“ Jahrzehnt der Regierung Josephs II. als „am wenigsten josephinisch“ bezeichnet! Siehe Helmut Reinalter, Einleitung. In: Id. (Hg.), Josephinismus als Aufgeklärter Absolutismus (wie Anm. 12), 9–16, hier 9f. Peter Hersche dagegen will den Josephinismus-Begriff lediglich auf das Zeitalter Josephs II. beschränkt wissen: Peter Hersche, Der Spätjansenismus in Österreich. Wien 1977. Dabei definiert er allerdings, in origineller Variierung der Ideen Eduard Winters, die Rolle Maria Theresias als die einer gläubigen Jansenistin entgegengesetzt zu Hugo Hantschs Interpretation. Maria Theresia habe sich aus ehrlicher Frömmigkeit dem Jansenismus angeschlossen. Sie habe sich dabei im Unterscheid zum Verhalten „aller anderen Herrscher“, über ihre „Klassenschranken“ hinweggesetzt und die „bürgerliche Bewegung“ des Jansenismus in Österreich ohne Hintergedanken gefördert, ohne die gesellschaftspolitischen Konsequenzen ihrer Förderung zu durchschauen: ebenda 378f. Die aufklärerisch/reformkatholische Bewegung in Österreich sei schließlich, während der Regierungszeit Josephs II., gemäß Adornos und Horkheimers „Dialektik der Aufklärung“, in einen Sieg eines „reaktionären“ Staatskirchentums umgeschlagen: ebenda 404f. Hersche unterlässt aber hier vor allem eine umfassende ideengeschichtliche und biografische Problematisierung der Frage, ob nicht auch Joseph II. eventuell „ehrlich“ aufklärerische Gedanken gefördert haben könnte. Siehe auch Id., Muße und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter, 2. Freiburg im Breisgau 2006, 979f. 46 Den seiner Ansicht nach rein inszenatorischen Charakter der Josephinischen „Aufklärung“ hat jüngst Ernst Wangermann hervorgehoben. Vgl. Ernest Wangermann, Die Waffen der Publizität. Zum Funktionswandel der politischen Literatur unter Joseph II. München 2004. Joseph habe versucht, die aufklärerische öffentliche Meinung zu instrumentalisieren, um die katholische Kirche unter Kontrolle zu bringen: ebenda 82f. Als aber die Diskussion in der öffentlichen Meinung außer Kontrolle geriet und

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zu verwirklichen suchte.47 Die Problematik von Hugo Hantschs Darstellung besteht vielmehr darin, dass er Joseph II. einerseits als schwarzes Schaf der Familie kritisierte, ihn aber andererseits dennoch – oder vielmehr: eben deshalb – in eine dynastische Erzählung über verdienstvolle habsburgische Herrscher einreihte.48 So verkannte der Historiker, wie sehr Joseph II. gerade aufgrund der Radikalität seiner Reformpolitik vehemente und mannigfaltige Widerstände innerhalb seines Vielvölkerreiches auslöste. Dieses Spannungsfeld verharmloste Hantsch. So blieb Hantsch in einer Geschichte Österreichs als eines Patrimonialbesitzes des Hauses Habsburg befangen.

drohte, seine eigene Herrschaft zu unterminieren, habe das josephinische Regierungssystem mit dem Ruf nach repressiven Maßnahmen reagiert: ebenda 97f. Wangermann schreibt allerdings selbst, dass der Ruf nach Repressalien zunächst vor allem gegenüber den konservativen Beharrungskräften laut wurde: ebenda. Aber auch die antifreimaurerische Politik Josephs kann als aufklärerische Maßnahme aufgefasst werden. Vgl. Beales, Against the World, wie Anm. 45, 649f. Insofern erscheint nach wie vor auch die Interpretation möglich, die Repressalien Josephs seien nicht als konservatives „Rollback“, sondern als konsequente Radikalisierung seiner Fortschrittsideologie zu begreifen. 47 Ursprünglich ging der Begriff des Aufgeklärten Absolutismus von der Person Friedrichs des Großen bzw. sogar von einer preußischen Entwicklung seit dem Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm aus. Reinhold Koser, Epochen der absoluten Monarchie. In: Historische Zeitschrift 61 (1889), 246–287, hier 280f. Hier fand auch die Kritik an diesem Begriff einen berechtigten Ansatzpunkt. 48 Zur Thematik vgl. Waltraud Heindl, „De viris illustribus“. Über Helden, Geschichte und Nation in der österreichischen Monarchie. In: Johannes Feichtinger / Elisabeth Grossegger et al. (Hg.), Schauplatz Kultur – Zentraleuropa. Transdisziplinäre Annäherungen. Innsbruck 2006, 105–113.

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Auftrag und Erfüllung. Erna Lesky und medizinhistorische Narrative im 20. Jahrhundert

I Einleitung Die folgenden Ausführungen verbinden die Geschichte der Medizin in Wien mit der Geschichte der Medizingeschichtsschreibung und spitzen die Analyse auf die Funktion des „Josephinismus“ in beiden Bereichen zu. Eine umfassende Einbettung der präsentierten Ergebnisse zu Lehrinhalten der medizinischen Ausbildungsstätten sowie zu Überformungen und Methodenproblemen der Medizinhistoriographie kann hier nicht geboten werden, daher bleibt vor allem die wissenschaftsgeschichtliche Kontextualisierung der Wiener Medizingeschichtsschreibung mit ihren persönlichen Beziehungsnetzwerken und ihrer Einbindung in international relevante Entwicklungen hier nur vorläufig und skizzenhaft. In der vorliegenden Analyse geht es auch nicht um Erna Lesky und ihre Biographie, nicht um die Bewertung ihrer Leistungen und ihrer Karriere als erste Ordinaria an der medizinischen Fakultät der Universität Wien und auch nicht um eine Diskussion ihres Verhältnisses zum Nationalsozialismus als Ärztin in einem Tiroler NSV-Mutter-und-Kind-Heim. Dies bleibt jenen vorbehalten, die sich biographisch mit ihrer Lebenszeit beschäftigen.1 1

Erna Lesky (geb. Klingenstein, 1911–1986) studierte zunächst Medizin und war in Innsbruck als Kinderärztin tätig. Sie war mit dem Altphilologen Albin Lesky verheiratet, der ab 1936 Professor für Klassische Philologie an der Universität Innsbruck, ab 1949 an der Universität Wien war und 1963/64 auch das Amt des Rektors bekleidete. Albin Lesky war Mitglied der NSDAP, 1963–1969 Vizepräsident und 1969/70 Präsident der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Erna Lesky widmete sich nach ihrer Heirat verstärkt der Medizingeschichte, erwarb das Doktorat der Geschichte und habilitierte sich 1957 im Fach „Geschichte der Medizin“, am selben Tag wie Marlene Jantsch (1917–1994), die sich in der Nachkriegszeit dem Wiederaufbau des Instituts für Geschichte der Medizin gewidmet hatte. 1960 übernahm Erna Lesky die Leitung des Instituts für Geschichte der Medizin, 1966 wurde sie zur ordentlichen Professorin ernannt, der ersten an der Wiener medizinischen Fakultät. Vgl. u. a. Michael Hubenstorf, Von Erfolg und Tragik einer Medizinhistorikerin, Erna Lesky (1911–1986). In: Christoph Meinel / Monika Renneberg (Hg.), Geschlechterverhältnisse in Medizin, Naturwissenschaft und Technik. Im Auftrag des Vorstandes der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik. Bassum 1996, 98–109; Helmut Gröger, Lesky, Erna, geb. Klingenstein. In: Brigitta Keint­zel / Ilse Korotin (Hg.), Wissenschaftlerinnen in und aus Österreich. Leben – Werk – Wirken. Wien 2002, 465–468. Zur Karrierestrategie von Erna Lesky: Felicitas Seebacher, Erna Lesky, General and Diplomat. Networking as a Power Tool for the History of Medicine. In: Antonio Roca-Rosell (Hg.), The Circulation of Science and Technology. Proceedings of the 4th International Conference of the European Society for the History of Science, Barcelona, 18–20 November 2010. Barcelona 2012, 208–216.

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Der Konzeption des Bandes entsprechend geht es auch in diesem Beitrag um die Wahrnehmung und Interpretation dessen, was als „Josephinismus“ in die österreichische Geschichtsschreibung Eingang gefunden hat, im Speziellen im Hinblick auf die Arbeiten von Fritz Valjavec und Eduard Winter, und hier im Besonderen auf die Frage der Medizingeschichtsschreibung, wie sie von Erna Lesky vertreten wurde. Daraus ergibt sich auch für eine Re-Lektüre ihrer Werke die Frage, „was“ und „wie“ über Josephinismus geschrieben wurde, konkret: in welcher Weise Medizin- und Gesundheitswesen – bei ihr und bei anderen – als Teil des Josephinismus aufgefasst wurden und somit das Verständnis dieser Epoche in der österreichischen Geschichtsschreibung mit bestimmen konnten. Gesundheits-, Sozial- und Bildungswesen waren wesentliche Bereiche der gesellschaftspolitischen Maßnahmen der Regierung der habsburgischen Länder in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Diese Aspekte wurden bei Eduard Winter und Fritz Valjavec nur am Rande berücksichtigt, wie in Abschnitt VIII zu zeigen sein wird. Interessant ist freilich, dass Eduard Winter in seiner theologischen Habilitationsschrift, die er 1922 an der Universität Prag eingereicht hatte, eine „pastorale Lösung“ der zu diesem Zeitpunkt aktuellen Probleme im Gesundheits- und Sozialwesen der jungen Tschechoslowakei vorschlug.2 Basierend auf einer ausführlich dokumentierten und präzisen Analyse der Situation, wurde ein Konzept entworfen, das in seiner pastoral-christlichen Ausrichtung eine starke Ähnlichkeit mit jenem aufweist, das in den Habsburgischen Ländern während der Regierung von Joseph II. etabliert wurde und noch lange wirksam war. In ihrer 1959 erschienenen Monographie Österreichisches Gesundheitswesen im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus3 thematisiert Erna Lesky einige Aspekte des Gesundheitswesens in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und verwendet dabei jene Topoi, die bis heute wahrnehmungsleitend sind und kaum hinterfragt wurden. Zwei von ihnen, der Legendenbildung um Gérard van Swieten und dem Unterricht am Krankenbett, sind die Abschnitte V und VI gewidmet. Mehrmals bezieht Lesky sich in dieser Publikation, aber auch in anderen Texten auf Eduard Winter und Fritz Valjavec, wenn es um allgemein gehaltene Bemerkungen zum Josephinismus geht. Die von ihr vertretenen Zugänge sind offenbar stark von deren Auffassungen geprägt, etwa im Hinblick auf die Rolle der Staatlichkeit, aber auch in Bezug auf das Thema „Nationalismus“, was im Folgenden erläutert wird. Insofern ruft besonders ihre Arbeit über das österreichische Gesundheitswesen den Eindruck hervor, eine Art Ergänzung zu den Arbeiten von Valjavec und Winter zu sein; jedenfalls fügt sich diese in das von den beiden Historikern entworfene Bild des Josephinismus ein. Werden die von Lesky verwendeten Topoi jedoch hinterfragt und wird vor allem deren historiographisches Fundament analysiert, erlaubt dies auch eine Einschätzung der Summe an politischen, kulturellen, intellektuellen und sozialen Entwicklungen, die unter dem Be2 Eduard Winter, Die Gesundheitsfürsorge auf dem Lande als Ausgangs- und Mittelpunkt der ländlichen Wohlfahrtspflege in ihrer pastoralen und sozialen Bedeutung (Prag 1922), hg. von Hildegard Pautsch in freundschaftlicher Würdigung der Persönlichkeit Eduard Winter. Salzburg 1984. 3 Erna Lesky, Österreichisches Gesundheitswesen im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus. Wien 1959.

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griff „Josephinismus“ zusammengefasst wurden. Dieser Zugang ermöglicht es zudem, Aspekte aufzuzeigen, die bei dieser Konstruktion des „Josephinismus“ unberücksichtigt geblieben sind oder eine einseitige Interpretation erfahren haben. Der Auswahlprozess, durch den der Josephinismus auf sein Bedeutungsspektrum festgelegt wurde, beginnt in der Medizingeschichtsschreibung jedoch nicht mit Erna Lesky. Im Folgenden wird skizziert, dass die zentralen Topoi in Leskys master narrative des Gesundheitswesens der Habsburgischen Länder in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als Kulminationspunkte einer längeren institutionellen Entwicklung zu sehen sind. Durch die in Wien immerhin seit dem späten 18. Jahrhundert existierende institutionalisierte Medizingeschichtsschreibung erfolgte eine Auswahl dessen, was an gesundheits- und sozialpolitischen Maßnahmen thematisiert wurde. So traten einige Aspekte besonders deutlich hervor, andere, so scheint es, sind einer Art damnatio memoriae, zumindest aber einer zweckdienlichen Interpretation anheimgefallen. Diese historiographie- und institutionengeschichtliche Diskussion erfolgt in den Abschnitten II bis IV. Ähnliche Vorgänge der Auswahl, Kanonisierung und Instrumentalisierung könnten auch bei anderen Themen und in der „allgemeinen Geschichtsschreibung“ über diese Epoche erfolgt sein. Mehrere Beiträge des vorliegenden Bandes weisen solche Vorgänge in den Werken von Valjavec und Winter nach. Die in ihren Texten angebotenen Definitionen von „Josephinismus“ könnten daher als Ergebnis früherer politischer Interpretationen, etwa aus der Zeit des Vormärz und der Restauration, verstanden werden,4 aber auch als Interpretationen, die – unhinterfragt oder auch mit Absicht – weitergetragen wurden. Medizin und Gesundheitswesen des „Josephinismus“ sind jedenfalls aussagekräftige Beispiele für diesen Prozess. Sie erlauben eine Annäherung an die wohl von politischen Zielen getragene Rezeption wesentlicher Aspekte der politischen und gesellschaftlichen Veränderungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Wie sich diese Reformen im Lichte der jüngeren Forschung darstellen, soll der historiographischen Analyse vorangestellt werden, um die Kontraste besser herausarbeiten zu können.

II Medizin und Gesundheitswesen des späten 18. Jahrhunderts Die Medizin des späten 18. Jahrhunderts stand vor Herausforderungen, die in den zeitgenössischen politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen begründet lagen. Ein wesentliches Ziel war die Erhöhung der Bevölkerungszahlen, wobei es nicht um die Zahl alleine ging, sondern um die Vergrößerung einer gesunden, produktiven und konsumierenden Bevölkerung. In ihrer grundlegenden Konzeption war die frühneuzeitliche Medizin auf die Behandlung des Individuums ausgerichtet. Zentrale Ansatzpunkte war in dieser Denkweise eine sehr genaue Wahrnehmung des aktuellen Zustandes des Menschen und eine darauf individuell abgestimmte Behandlung bzw. die Unterstützung einer die individuelle Gesundheit fördern4

Vgl. den Beitrag von Franz L. Fillafer in diesem Band.

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den Lebensführung. Wesentlich ist hierbei, dass medizinische Behandlungen nicht erst dann eingesetzt wurden, wenn ein Mensch bereits erkrankt war, sondern dass vorbeugende Maßnahmen Priorität hatten, um die Gesundheit möglichst lange zu erhalten. Insofern waren präventive Behandlungen und eine gesunde Lebensführung wesentliche Komponenten dieses medizinischen Konzeptes. Im Krankheitsfall wurde der individuelle Zustand der Betroffenen zunächst genau beobachtet, analysiert und eine auf diesen Zustand abgestimmte Behandlung begonnen. Danach wurde überprüft, wie die Kranken auf diese ersten Maßnahmen reagierten. Dementsprechend wurde die Therapie bis zur Gesundung laufend an die individuellen Reaktionen angepasst. Medizinische Therapien inkludierten nicht nur die Anwendung von innerlich wirkenden Arzneimitteln, die so genannte cura interna, sondern auch Behandlungen, die primär über die Körperoberfläche wirken, die cura externa. Erstere wurde hauptsächlich von akademischen Heilkundigen angewandt, letztere umfasste meist chirurgische Maßnahmen und war der Arbeitsbereich von Badern und Wundärzten. Sowohl in der cura interna als auch in der cura externa wurde also mit den individuellen Zuständen von Patientinnen und Patienten gearbeitet und darauf abgestimmt vorgegangen. Dieses medizinische Denken beruhte auf einem elaborierten (und reichlich komplexen) Verständnis des menschlichen Körpers und körperlicher Vorgänge. Die wirtschafts- und sozialpolitischen Ansprüche der werdenden modernen Staaten, die unter anderem eine hohe Bevölkerungszahl als Ziel verfolgten, stellten an das medizinische Denken Anforderungen, die über eine Auseinandersetzung mit dem Individuum hinaus gingen. Nunmehr sollten zahlreiche Individuen, nämlich die Bevölkerung als Ganzes, berücksichtigt werden. Dabei standen nicht nur der Umgang mit Erkrankungen im Vordergrund, die epidemisch oder endemisch auftraten und viele Menschen erfassten, sondern auch längerfristige und umfassende Maßnahmen, die die Gesundheit der Bevölkerung fördern sollten. Dem oben genannten Konzept entsprechend ging es im Wesentlichen um Prävention sowie um Möglichkeiten, frühzeitig in ein Krankheitsgeschehen einzugreifen. Eines der Ziele war daher der Aus- und Aufbau einer flächendeckenden, medizinischen Betreuung durch professionelle Heilkundige und die Sicherung des Zuganges zu medizinischer und sozialer Versorgung, auch in Regionen, in denen die notwendige Infrastruktur nicht oder nur begrenzt vorhanden war. Besonders relevant waren weitreichende präventive Maßnahmen wie die Impfung der gesamten Bevölkerung gegen die Pocken und die Schaffung von gesundheitsfördernden Lebensbedingungen. Dazu gehörte eine nach hygienischen Gesichtspunkten gestaltete Stadtplanung ebenso wie etwa die ausreichende Versorgung mit Lebensmitteln, die Kontrolle der Hygiene auf Märkten, die Vermittlung von medizinischem Wissen an die Bevölkerung und die exakte Dokumentation der Bevölkerungsentwicklung. Grundsätzlich war bekannt, was in konkreten Fällen zu tun war, etwa im Bereich der Stadtplanung oder im Umgang mit Epidemien, ausschlaggebend war jedoch nunmehr, dass sämtlich Maßnahmen flächendeckend umgesetzt und deren Effizienz überprüfbar gemacht werden sollten.5 5

In Bezug zur Stadtplanung vgl. Markus Swittalek, Das Josephinum. Aufklärung, Klassizismus, Zent-

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Das medizinische Wissen und Handeln war also vor die Herausforderung gestellt, zusätzlich zur Behandlung von Individuen auch Kenntnisse über die Förderung der Gesundheit der Allgemeinheit zu entwickeln, aber auch Handlungsweisen und Instrumente zur „Informationsgewinnung“ anzuwenden, um die ganze Bevölkerung – und eben nicht nur Einzelne – medizinisch beobachten und betreuen zu können. Hierbei ging es auch um die Frage der Effektivität von Maßnahmen, die sich in den Morbiditäts- und Mortalitätsraten abbilden ließen. Statistische Methoden wurden als Instrumente eingesetzt, um das Wachstum der Bevölkerung ebenso wie Krankheitshäufigkeiten und Sterblichkeit zu dokumentieren und beobachten zu können. Diese Instrumente zu Beobachtung der Bevölkerungsentwicklung waren keine neuen Erfindungen, vielmehr sind diese als political arithmetic besonders von John Graunt (1620–1674) und Willam Petty (1623–1687) im 17. Jahrhundert propagierte Instrumente, die dazu dienen sollten, die englische Wirtschaft zu stärken. Besondere Bedeutung wird diesen Beobachtungen der Bevölkerungsentwicklung im Werk Medizinische Polizey von Johann Peter Frank (1745–1821) zugeschrieben.6 Hierbei beruft Frank sich wiederum auf Konzepte und Messmethoden, die auf Johann Peter Süßmilch (1707–1767) und Kaspar Neumann (1648–1715) zurückgehen. Um diesen Anforderungen entsprechen zu können, musste auch das notwendige Wissen produziert und vermittelbar gemacht werden, was in der Folge zur Entwicklung von neuen medizinischen Fächern mit einem definierten Wissenskanon führte, wie etwa der „Medizinischen Polizey“ und der „Staatarzneykunde“, die auch die forensische Medizin umfasste. Dass die Geburtshilfe in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle spielte, versteht sich von selbst. Auch Gebiete der Heilkunde, die für den „Alltag“ der Bevölkerung von Relevanz waren, etwa die Dermatologie, die Augen- und die Zahnheilkunde, wurden als eigene Fächer definiert, vielfach erfolgte hierbei erstmals eine Verschriftlichung von bestehendem und bislang hauptsächlich mündlich und praktisch weiter gegebenem medizinischem Wissen.7 Dies bedeutet jedoch nicht, dass Wissen und Kenntnisse in diesen Bereichen nicht schon zuvor vorhanden gewesen wären, nunmehr erfolgte jedoch die Definition als Fachgebiet mit einem festgelegten Wissenskanon, mit speziellen Praktiken und Behandlungen sowie dem Zusammenfassen dieses Wissens in Lehrbüchern und nicht nur in medizinischer Expertenliteratur. Offenbar gestaltete es sich jedoch schwierig, diese Zugänge an medizinischen Fakultäten durchzusetzen, wie die bislang untersuchten Beispiele von Wien und Köln/Bonn zeigen.8 rum der Medizin. Diss. TU Wien 2014. – Zum breiteren Kontext staatlicher Maßnahmen im Bereich des Gesundheitswesens und der Bevölkerungsentwicklung: Michael Hochedlinger / Anton Tantner (Hg.), „... der größte Teil der Untertanen lebt elend und mühselig“: die Berichte des Hofkriegsrates zur sozialen und wirtschaftlichen Lage der Habsburgermonarchie 1770–1771, Innsbruck 2005. 6 Johann Peter Frank, System einer vollständigen medicinischen Polizey. 8 Bde., Mannheim u. a. 1779– 1825. 7 Vgl. dazu: Theresa Hütter, Die „Materia Chirurgica“ von Joseph Jakob Plenk. Analyse eines chirurgischen Lehrbuches des 18. Jahrhunderts. Diplomarbeit MedUni Wien 2014. 8 Sonia Horn, „… reineres Licht über die Wissenschaften im Erzstifte zu Köln …“. Medizin, Gesundheitswesen und Aufklärung an der Maxischen Akademie in Bonn und der medizinisch- chirurgischen

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Anzunehmen ist Ähnliches auch zumindest für Olmütz, in Kopenhagen und Edinburgh existierten neben den medizinischen Fakultäten ebenfalls parallele Institutionen zur medizinischen Ausbildung. In Bonn und Wien wurden neben den bereits existierenden medizinischen Fakultäten neue medizinische Ausbildungszentren etabliert, die ebenfalls akademische Grade in der Medizin vergeben konnten, an denen jedoch einem anderen Curriculum gefolgt wurde als an den medizinischen Fakultäten. Die Universität Köln war 1381 mit einer medizinischen Fakultät gegründet worden. 1773 war im nahegelegenen Bonn, dem Sitz des Kölner Erzbischofs Maximilian Friedrich (1708–1784), nach der Aufhebung des Jesuitenkollegs eine Akademie eingerichtet worden, die „Maxische Akademie“, an der auch medizinische Fächer gelehrt wurden. Diese neue Akademie zeigte vor allem in philosophischen und sprachlichen Fächern eine personelle Kontinuität, zumal hier weiterhin Jesuiten tätig waren. In den medizinischen Bereichen wurde jedoch eindeutig das Ziel verfolgt, einen Wohlfahrtsstaat aufzubauen und somit Konzepte der Aufklärung umzusetzen, wie dies die relevanten Akteure selbst bezeichneten. 1784 wurde diese Institution durch ein Privileg von Joseph II. zu einer Universität, zu der auch eine medizinische Fakultät gehörte. Josephs Bruder, Maximilian Franz (1756–1801) war seit 1780 Koadjutor des Kölner Erzbischofs gewesen und übernahm dieses Amt nach dessen Tod 1784. Die Urkunde, mit der die „Maxische Akademie“ zu einer Universität wurde, traf wenige Tage nach dem Tod von Maximilian Friedrich in Bonn ein. Von der Ausrichtung und vom Fächerkanon her entsprach die medizinische Lehre an dieser Universität den Anforderungen einer Medizin, die nicht nur auf das Individuum fokussierte sondern auch die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung zum Ziel hatte. Fächer wie Gerichtsmedizin und Medizinische Polizey waren hier von Anfang an vertreten, die Publikationen der Bonner Professoren hatten im Wesentlichen die Verbesserung der Gesundheit der Allgemeinheit und die Förderung des Bevölkerungswachstums zum Gegenstand. Besonders zu erwähnen sind hierbei Arbeiten des Professors für Anatomie und Chirurgie, Joseph Rougemont (1756–1818) über erbliche Krankheiten9 und zu vom Standpunkt des Mediziners aus gesundheitsschädlichen Kleidungsgewohnheiten von Kindern, Frauen und Männern.10 In beiden Publikationen wird ausführlich auf die Anschauungen von Johann Peter Frank Bezug genommen. Auch die Ratschläge für eine gesundheitsfördernde Lebensführung, v. a. die Nutzung von kaltem Wasser, des Arztes und Referenten für das niederösterreichische Sanitätswesen, Johann Pascal Ferro (1753–1809), wurden thematisiert und empfohlen. Franz Gerhard Wegeler (1765–1848), ab 1789 Professor für Gerichtsmedizin und Medizinische Polizey an der Universität Bonn, studierte einige Zeit lang an der medizinisch-chirurgischen Akademie in Wien, mit der die medizinische Fakultät der Universität Bonn offenbar intenJosephsakademie in Wien. In: Andreas Berger (Hg.) Beiträge der Tagung zum 625-jährigen Bestehen der Universität Köln [im Druck]. 9 Joseph Claude Rougemont, Abhandlung über die erblichen Krankheiten, übers. von Friedrich Gerhard Wegeler. Frankfurt am Main 1794. 10 Joseph Claude Rougemont, Etwas über Kleidertracht, in wie ferne sie einen nachtheiligen Einfluß auf die Gesundheit hat. Nebst einigen anatomischen und chirurgischen Beobachtungen. Bonn 1784.

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sive Beziehungen pflegte. In diesem Zusammenhang ist noch zu erwähnen, dass nicht nur Fürstbischof Max Friedrich und seine Berater den Ideen des „aufgeklärten Wohlfahrtsstaates“ zugetan waren, sondern auch sein Nachfolger Maximilian Franz. Eine ähnliche Parallelität in der medizinischen Denkweise und in der Ausbildung ist auch für Wien nachweisbar. Joseph II. hatte sich einige Zeit lang erfolglos bemüht, die Professoren der Wiener medizinischen Fakultät dafür zu gewinnen, nicht nur eine Medizin zu betreiben und zu lehren, die sich auf das Individuum konzentrierte, sondern auch die Gesundheit der Bevölkerung zu berücksichtigen. Als Resultat dieser gescheiterten Bemühungen wurde 1785 die „Medizinisch-Chirurgische Akademie“ gegründet, die ein Jahr später den Rang einer Universität erhielt und sich nunmehr „Medizinisch-Chirurgische Josephsakademie“ nennen durfte. Schließlich bürgerte sich die Bezeichnung „Josephinum“ ein. Diese Institution stand unter militärischer Verwaltung, was eine direkte Einflussnahme des Kaisers ermöglichte. Allerdings wurden hier nicht nur Ärzte für den militärischen, sondern auch für den zivilen Bereich ausgebildet, die den Anforderungen eines medizinischen Allrounders entsprachen, aber auch in administrativen Belangen und in der Erstellung von Statistiken ausgebildet waren. Weitgehend unbekannt ist, dass am „Josephinum“ auch eine wissenschaftliche Akademie eingerichtet war, die das Ziel verfolgte, medizinisches Wissen zu erweitern und bekannt zu machen. Obwohl ausreichend Quellen vorhanden sind, wurde dieser Tätigkeitsbereich des „Josephinums“ noch nicht bearbeitet, diese Akademie ist weitgehend unbekannt. Die Struktur dieser Einrichtung war im Wesentlichen die einer „Akademie der Wissenschaften“ mit Wirklichen und Korrespondierenden Mitgliedern, regelmäßigen Sitzungen, zu denen auch die Protokolle existieren, sowie der jährlichen Ausschreibung von Preisfragen und der Herausgabe einer Zeitschrift.11 Die Medizinisch-Chirurgische Akademie war ein kaum zu unterschätzender Teil des Gesundheitswesens im „Josephinismus“, hier wurde vieles umgesetzt, was mit „Ideen der Aufklärung“ charakterisiert werden könnte. Gerade in Bezug auf die gesundheitspolitischen Maßnahmen und diese Institution bestehen derzeit große Forschungsdefizite, zudem hält sich hierfür ein hartnäckiges master narrative. Die Zählebigkeit dieses Narrativs wird durch die allgemeine Annahme unterstützt, dass die Geschichte der Wiener Medizin im 18. und 19. Jahrhundert bereits umfassend erforscht sei. Krassestes Beispiel für dieses Forschungsdefizit ist, dass im Grunde nicht bekannt ist, dass zumindest für einen Zeitraum von etwa einhundert Jahren nach der Gründung der Medizinisch-Chirurgischen Akademie nachgefragt werden müsste, an welcher Institution ein Arzt seine Ausbildung und Graduierung erworben hatte, wenn es heißt, er hätte „in Wien“ studiert. Auch die Ungenauigkeit der Definition dieses Zeitraumes zeigt den enormen Forschungsbedarf in Bezug auf diese Institution, ihre Beiträge zu den medizinischen Wissenschaften und ihre Rolle in der Gesellschaft. 11 Sonia Horn, „… eine Akademie in Absicht der Erweiterung der medizinisch – chirurgischen Wissenschaft …“ Das Josephinum. Hintergründe für die Entstehung der medizinisch-chirurgischen Akademie. In: Renate Zedinger / Wolfgang Schmale (Hg.), Échecs et réussites du Joséphisme/Josephinismus – Eine Bilanz. Bochum 2008, 215–244.

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Die „Ausständigkeit“ von Forschungen zu bestimmten Bereichen der Medizin und des Gesundheitswesens des späten 18. Jahrhunderts in den Habsburgischen Ländern und die Betonung anderer Aspekte führt jedoch wieder zum eigentlichen Thema dieses Beitrages zurück, dem „Schreiben über Josephinismus“. Dass das Josephinum als zentraler Aspekt des „josephinischen“ Gesundheits- und Sozialwesens ebenso wie des Bildungswesens bei Eduard Winter und Fritz Valjavec kaum Berücksichtigung fand, mag weniger überraschen, da in beiden Werken religionsgeschichtliche bzw. kulturgeschichtliche Zugänge vorherrschen. Allerdings wäre es aufgrund der zentralen Bedeutung der Kirche im josephinischen Gesundheits- und Bildungswesen naheliegend gewesen, auch diese Aspekte zu berücksichtigen. Die auffällige Ähnlichkeit der Vorschläge zur Strukturierung des Gesundheitswesens in Winters Habilitation lassen vermuten, dass er hier Anleihen beim josephinischen System genommen haben könnte. Dass dieser Aspekt, das Josephinum als Ausbildungsstätte und „Akademie“, aber auch bei Erna Lesky einen blinden Fleck darstellt, stimmt nachdenklich. Auch die reich bebilderte Publikation über das Josephinum zeigt keine derartigen Bezüge.12 Als „josephinisches“ Gesundheits- und Sozialwesen wurde hauptsächlich die Gründung des Allgemeinen Krankenhauses und der primär humanitäre Hintergrund derselben beschrieben, wobei meist noch die Etablierung des „Unterrichts am Krankenbett“ hier verortet wird – dies ist auch mit einer Gedenktafel am Eingang des heutigen Allgemeinen Krankenhauses dokumentiert.13 Letzteres ist freilich, wie sich noch zeigen wird, ein unwiderlegbarer Irrtum, an dem sich auch bei wohlmeinender Interpretation nichts ändert. Bezüge zum Josephinum finden sich bei Lesky in der Regel lediglich im Zusammenhang mit den anatomischen und geburtshilflichen Wachsmodellen sowie mit der kunsthistorischen Besonderheit, die das Gebäude selbst darstellt. Die Medizinisch-Chirurgische Akademie wird in erster Linie als „militärärztliche“ Ausbildungsstätte dargestellt und somit in einen besonderen Bereich verschoben, der wenig mit dem medizinischen Alltag zu tun hat.

III Mysteriöses Josephinum Wie erwähnt, hatte sich Joseph II. darum bemüht, die medizinische Fakultät von einer Ausrichtung der Lehre zu überzeugen, die Gesichtspunkten folgen sollte, die auch für den Staat Relevanz hatten, und war dabei allerdings erfolglos geblieben. Daraus resultierte schließlich die Gründung der Medizinisch-Chirurgischen Akademie, deren Ziel jedoch nicht nur die Ausbildung von Ärzten für den militärischen und den zivilen Bereich war, sondern auch das konsequente Sammeln und Produzieren von relevantem Wissen. Dies kann dahingehend 12 Helmut Wyklicky, Das Josephinum: Biographie eines Hauses. Die medizinisch-chirurgische Josephs-Akademie seit 1785; das Institut für Geschichte der Medizin seit 1920. Wien 1985. 13 Helmut Leitner, Sozialpolitik im aufgeklärten Absolutismus: Kaiser Joseph II und das Spitalswesen in Wien. In: Michael Hubenstorf et al. (Hg.), Medizingeschichte und Gesellschaftskritik. Festschrift für Gerhard Baader. Husum 1997, 92–100.

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verstanden werden, dass an dieser neuen Institution andere Ausbildungsziele verfolgt wurden als an der medizinischen Fakultät, und dass dies sowohl durch Forschungen als auch durch Publikationen unterstützt wurde. Der Lehrplan für die medizinische Ausbildung unterschied sich von jenem, nach dem an der medizinischen Fakultät gelehrt wurde unter anderem darin, dass Spezialfächer wie Zahnheilkunde, Augenheilkunde, Dermatologie und gerichtliche Medizin im Curriculum vertreten waren, aber auch Arithmetik und Geometrie als Grundlagen der Statistik, die wiederum für die „Staatsarzneikunde“ und „Medizinische Polizey“ benötigt wurde. Der Unterricht folgte anderen didaktischen Konzepten, zudem wurden für die Medizinisch-Chirurgische Akademie eigene Lehrbücher verfasst, vor allem für diese speziellen Fächer. Dies bedeutet jedoch nicht, dass es zuvor noch keinen Unterricht in einigen Spezialfächern gegeben hätte, die für den Alltag benötigt wurden. So wurde an der medizinischen Fakultät der Universität Wien etwa im Anatomieunterricht von Joseph Barth (1746–1818) auch Augenheilkunde gelesen. Ein Impuls für die Einrichtung der Medizinisch-Praktischen Lehrschule war, dass 1752 in einem Vortrag des Directorium in publicis et cameralibus auf die Notwendigkeit der Einrichtung eines Operationszimmers hingewiesen wurde, in dem unter Anleitung vor allem augenheilkundliche Eingriffe vorgenommen werden sollten.14 Damit dürfte auch die 1752 erfolgte Berufung von Guiseppe Natalis Palucci (1719–1797) als Augenarzt zusammenhängen.15 Die weitere Entwicklung der Augenheilkunde in dieser Epoche wurde jedoch noch nicht erarbeitet und wurde auch in den rezenten Feiern zum zweihundertjährigen Jubiläum der Gründung der Wiener Augenklinik, die als weltweit erste propagiert wird, nicht berücksichtigt, ebenso wenig wie die Tatsache, dass die Augenheilkunde als eigenes Fach ab 1785 an der Medizinisch-Chirurgischen Akademie unterrichtet wurde. Die Definition eines Unterrichtsfaches mit einem hierfür angestellten Lehrenden und speziellen Lehrbüchern, dies zudem im Rahmen eines eigenen Lehrplanes, ist jedoch ein Schritt zur Spezialisierung und Teil der Etablierung eines medizinischen Faches. In diesen Fällen ging es zudem um die Berücksichtigung von medizinischem Wissen, das für die alltägliche Praxis und die Allgemeinheit gebraucht wurde. Am besten kann dies anhand der Vorrede der Materia Chirurgica von Joseph Jakob Plenk (1735–1807) gezeigt werden.16 Es ging dem Autor darum, das „von alters her“ bekannte und umfassende Wissen der Bader und Wundärzte über die in erster Linie konservativen Behandlungen von Erkrankungen aufzuschreiben, damit dieses Wissen an nachfolgende Generationen weitergegeben werden konnte. In gewisser Weise erinnert dies auch an das ebenfalls im 18. Jahrhundert einsetzende Interesse an münd14 Daniela Wagner, Gérard van Swieten und die Gründung der Kliniken in Wien. Eine verwaltungsgeschichtliche Analyse auf der Basis archivalischer Quellen. Masterarbeit Universität Wien 2015, 9, 27–29. 15 Wagner, Gründung der Kliniken, wie Anm. 14, 10; sowie Erna Lesky, Gerhard van Swieten. Auftrag und Erfüllung. In: Ead. / Adam Wandruszka (Hg.), Gerhard van Swieten und seine Zeit. Wien 1973, 11–61, hier 28 [Anm. 71]. 16 Joseph Jacob Plenk, Materia chirurgica, oder Lehre von den Wirkungen der in der Wundarzney gebräuchlichen Heilmittel. Wien 21777.

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lich tradierten Sprach- und Rechtsdenkmälern. Von Interesse ist weiters, dass auch auf die Ähnlichkeit einheimischer Therapieformen mit jenen anderer Regionen Bezug genommen wird, etwa wenn von der Moxatherapie berichtet wird: „Die Manier, wie die Japaneser die Moxa zubereiten, scheinet in allen Stücken mit der übereinzukommen, wie wir sie von unserm einheimischen Beifuße erhalten.“17 Die Lehrbücher von Joseph Plenk waren aufgrund ihrer übersichtlichen Strukturierung und wohl auch wegen ihrer leicht fasslichen Darstellungsweise weit verbreitet. Sie wurden meist in Deutsch verfasst und in zahlreiche Sprachen übersetzt. Dass die Zielgruppe der medizinischen Ausbildung am Josephinum Ärzte waren, die dem Staat nützlich sein und zum Einsatz für das Wohl der Allgemeinheit ausgebildet werden sollten, findet sich laufend in den für diese Institution verfassten Lehrbüchern, nicht nur in jenen von Joseph Plenk. Dies wurde vor allem in den Paratexten klar angesprochen, findet sich jedoch auch im Text und in den vermittelten Inhalten selbst.18 Diesen Publikationen ist jedoch auch zu entnehmen, dass zwischen den am Josephinum und an der medizinischen Fakultät vertretenen Lehrmeinungen ebenso Unterschiede bestanden wie zwischen einigen der propagierten therapeutischen Vorgehensweisen. Besonders deutlich wird dies bei der Haltung gegenüber der Pockenimpfung. Wohl aufgrund persönlicher Erfahrungen waren Maria Theresia und Joseph II. von der Sinnhaftigkeit dieser Maßnahme überzeugt, ebenso wie die am Josephinum tätigen Ärzte. Gérard van Swieten hingegen war der Impfung eher skeptisch gegenübergestanden, sein Kollege Anton de Haen (1704–1776), immerhin Leiter der Medizinisch-Praktischen Lehrschule der medizinischen Fakultät, polemisierte heftig gegen diese Maßnahme.19 Die Aufnahme von Studenten erfolgte an der Medizinisch-Chirurgischen Akademie durch ein Verfahren, das auch jenen die Möglichkeit zu studieren gab, die weder über den hierfür nötigen sozialen Hintergrund noch über ein ausreichendes Vermögen verfügten. Dies entspricht den politischen Theorien von Joseph von Sonnenfels (1732/33–1817), der unter anderem forderte, dass nicht nur Kinder aus begüterten Familien Zugang zu einer höheren Bildung haben sollten. Begabung und Intellekt waren seiner Meinung nach nicht vom Elternhaus abhängig, vielmehr sollte gezielt nach begabten jungen Menschen gesucht werden, damit diese nicht nur zu tüchtigen Staatsbürgern, sondern auch zu Akademikern ausgebildet werden konnten, die dem Wohl der Allgemeinheit dienen und auch im staatlichen Dienst eingesetzt werden konnten.20 Tatsächlich sind bereits einige Biographien bekannt, für die nachgewiesen werden konnte, dass die Ausbildung am Josephinum soziale Mobilität nach 17 Hütter, Materia Chirurgica, wie Anm. 7, 83. 18 Hütter, Materia Chirurgica, wie Anm. 7, 30–36. Hier wird besonders das Kapitel Die ächte Weise dem Staate nützliche Wundärzte zu bilden in: Joseph Jakob Plenk, Sammlung von Beobachtungen über einige Gegenstände der Wundarzneywissenschaften. 2 Bde., Wien 1769–1770, thematisiert. 19 Ausführich dazu: Norman Beale / Elaine Beale, Echoes of Ingen Houz. The Long Lost Story of the Genius Who Rescued the Habsburgs from Smallpox and Became the Father of Photosynthesis. East Knoyle 2011. 20 Sonia Horn, Entstehung der medizinisch-chirurgischen Akademie, wie Anm. 11, 238.

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oben sowohl für den Betreffenden als auch für seine Nachkommen mit sich brachte.21 Die Medizinisch-Chirurgische Akademie ist somit als „politischer Ort“ zu verstehen. Hier wurden medizinische Inhalte vermittelt, die auch den wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Zielsetzungen von Joseph II. und seinem Kreis entsprachen. Dasselbe gilt für die praktische Umsetzung von bildungspolitischen Konzepten. Gerade die gesellschaftspolitischen Vorstellungen Josephs, ebenso wie die damit verbundenen Bildungskonzepte, waren freilich im ausgehenden 18. Jahrhundert, besonders im Vormärz, umstritten, wurden aber dennoch in gewisser Weise weiter geführt. 22 Ihre (freilich mehrschichtige und komplexe) Bedeutung im Zusammenhang mit den Geschehnissen von 1848 ist historiographisch dokumentiert, und auch auf eine verhältnismäßig hohe Beteiligung von Studenten der Medizin an den revolutionären Ausschreitungen 1848 wurde bereits hingewiesen.23 Nicht hinterfragt wurde bisher jedoch, ob diese Medizinstudenten an der medizinischen Fakultät oder am Josephinum studierten. Bemerkenswert ist weiters die Tatsache, dass die verschiedenen in Italienisch gehaltenen öffentlichen Vorträge des ersten Direktors der Medizinisch-Chirurgischen Akademie, Giovanni Alessandro Brambilla (1728–1800), im Original wesentlich diplomatischer formuliert waren, als dies die publizierten deutschen Übersetzungen vermuten lassen. In diesen erscheint Brambilla als scharfer Kritiker der bestehenden Medizin und der bestehenden medizinischen Ausbildung.24 Brambilla selbst dürfte nach dem Tod von Joseph II. aus politischen Gründen von seinem Posten abberufen worden sein. Dass die Medizinisch-Chirurgische Akademie eine an sich umstrittene Institution war, zeigen unter anderem die sarkastischen Beschreibungen der „flachbäuchigen Eleven“ dieser Institution und die Kritik an den im Garten für jeden zugänglich ausgestellten Präparaten.25 Ging es in der Folge also darum, diese politischen Ziele und die damit verbundene Institution aus der medizinischen Geschichtsschreibung „auszublenden“? Warum ist der Aspekt „Gesundheits- und Sozialwesen“ meist auf einen historisch unzutreffenden Lobgesang auf die humanitäre Gesinnung von Joseph II. reduziert, aus der auch die Gründung des Allgemeinen Krankenhauses abgeleitet wurde? Ist deswegen das Gesundheits-, Sozial- und Bildungswesens in der Geschichtsschreibung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts weitgehend unberücksichtigt geblieben, auch im Verständnis von „Josephinismus“ bei Eduard Winter und Fritz Valjavec?

21 Rudolf Rabl, Anfänge, Ausbreitung und Werdegang der Ärztefamilie Rabl in Oberösterreich. In: Jahrbuch des Oberösterreichischen Musealvereins 115 (1970), 167–198. 22 Vgl. dazu Franz Leander Fillafer, Die Aufklärung in der Habsburgermonarchie und ihr Erbe. Ein Forschungsüberblick. In: Zeitschrift für Historische Forschung 40/1 (2013), 35–97. 23 Katharine Elisabeth Kogler, „... die Heilärzte des kranken Staates“. Die Beteiligung von Medizinern an der Revolution 1848 in Wien. Wien 2012. 24 Barbara Peintinger, Giovanni Alessandro Brambillas Appendice: Eine Quelle zur Geschichte des Gesundheitswesens im Josephinismus. Diplomarbeit Universität Wien 2010, 44, 57f. 25 Anna Märker, Model Experts: Wax Anatomies and Enlightenment in Florence and Vienna, 1775– 1815. Manchester 2011, 159–165.

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IV „Klio und Hippokrates“26 Naheliegend ist der Versuch, diese Frage zunächst anhand der Geschichte der Wiener Medizingeschichtsschreibung zu klären. Medizingeschichte ist ein Lehr- und Forschungsgegenstand, der sich im Lauf des 18. Jahrhunderts aus dem Anspruch und der Notwenigkeit ergab, die meist lateinischen Texte älterer Autoren verständlich zu machen. Über eine inhaltliche Aufbereitung im Rahmen der medizinischen Lehre sollten Studenten das bestehende Wissen kennenlernen, auch durch die Übersetzung von medizinischen Werken sollte dieses Ziel verfolgt werden. Zielpublikum hierbei waren aber nicht nur die Studierenden, denn auch die philosophische Auseinandersetzung mit dem, was Medizin an sich ist oder sein sollte, spielte bei der Verbindung von „Klio und Hippokrates“ eine Rolle. Für die habsburgischen Länder kam durch die 1781 erfolgte Einführung von Landessprachen als Unterrichtssprachen an einigen Universitäten auch der Bedarf an Übersetzungen von lateinischen Texten v. a. ins Deutsche hinzu. Ein weiterer Aspekt war der methodologische Ansatz, dem sich die medizinische Forschung dieser Zeit verpflichtet fühlte, nämlich – mit dem ihr zugrundeliegenden hippokratisch-galenischen Konzept – möglichst viele Erfahrungen zusammenzutragen und diese an die scientific community weiterzugeben. Die intensive wissenschaftliche Kommunikation innerhalb der „Gelehrtenrepublik“ wurde als wesentlicher Prozess in der Weiterentwicklung von medizinischem Wissen verstanden. Mit dieser Vorstellung einer „Gelehrtenrepublik“, die, unabhängig von politischen Vorgaben, anderen Beschränkungen des Wissensaustausches und Sprachunterschieden, über wissenschaftliche Themen kommunizierte, war durchaus auch der Anspruch verbunden, dass die Ergebnisse „unbeeinflusst“ gewonnen und zur allgemeinen „Vermehrung des Wissens“ weitergegeben werden sollten. Jahresberichte aus verschiedenen Krankenhäusern waren neben den entstehenden wissenschaftlichen Fachjournalen hierfür typische literarische Genres. Es ist nachvollziehbar, dass diese Berichte nicht unbedingt von einem ausgelasteten medizinischen Leiter eines Krankenhauses oder einem in der Lehre engagierten Professor verfasst werden konnten. Daher wurde dies von meist medizinisch ausgebildeten Personen übernommen, die über die nötige literarische Kompetenz, aber auch über Sprachkenntnisse verfügten. Sie vertraten dann einen Bereich, der als „medizinische Literatur und Geschichte“ bezeichnet wurde. 27 Soweit bekannt, war Joseph Eyerel der erste mit einem konkreten Lehrauftrag und mit einer Besoldung ausgestattete Vertreter dieser Disziplin in Wien.28 Allerdings ist über ihn 26 Hans-Uwe Lammel, Klio und Hippokrates. Eine Liaison littéraire des 18. Jahrhunderts und ihre Folgen für die Wissenschaftskultur bis 1850 in Deutschland. Stuttgart 2005. 27 Ein gutes Beispiel hierfür sind die von Eyerel herausgegebenen Berichte aus der Wiener Medizinisch-Praktischen Lehrschule sowie die ebenfalls von Eyerel herausgegeben Vorlesungen von Anton de Haen und Maximilian Stoll. 28 Universitätsarchiv Wien [UAW], Currentakten [CA], 1.2.332. (11. April 1809): „Die Niederösterreichische Regierung teilt dem Konsistorium mit, daß dem Dr. Eyerel gestattet wurde, außerordentliche

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bislang kaum Biographisches bekannt.29 Er ist zudem der Autor einiger Übersetzungen antiker Autoren ins Deutsche, etwa der Beschreibung der Germanen von Tacitus30 oder der Darstellung der attischen Pest von Thukydides, die er durch einen zeitgenössischen Bericht über eine Seuche, die während der napoleonischen Feldzüge Ägypten erfasst hatte, ergänzte.31 Eyerel übersetzte auch zeitgenössische Texte aus verschiedenen Sprachen ins Deutsche und veröffentlichte zudem eine Beschreibung der österreichischen Expedition auf die Nikobaren.32 Auch eine Zusammenarbeit mit dem „Begründer der deutschen Medizingeschichtsschreibung“, Kurt Spengel, dürfte stattgefunden haben. Des Weiteren wurden von Eyerel die Vorlesungen von Anton de Haen und Maximilian Stoll (1742–1787) veröffentlicht, ebenso die jährlichen Berichte aus der Medizinisch-Praktischen Lehrschule in Wien. Er fungierte auch als Herausgeber einer medizinischen Fach­ zeitschrift, Medizinische Chronik, in der neben Berichten über Therapiemethoden unter anderem durchaus auch sehr freimütig über den aktuellen Zustand der medizinischen Lehre in Wien diskutiert wurde. In dieser Zeitschrift finden sich auch einige rein medizinhistorische Beiträge. Der Antrag, Eyerel als außerordentlichen Professor für „Medizinische Literatur und Geschichte“ mit Besoldung anzustellen, enthielt auch den Hinweis darauf, dass dieser bereits lange Jahre hindurch in diesem Fach erfolgreich tätig gewesen war. Berücksichtigt man seine Publikationstätigkeit, ist dies durchaus nachvollziehbar. Eyerel wurde schließlich mit 11. 4. 1809 zum außerordentlichen Professor für „Medizinische Literatur und Geschichte“ mit Besoldung ernannt. Aufgrund des aktuellen Fehlens von biographischen Daten kann heute jedoch nicht nachvollzogen werden, wie lange Eyerel in dieser Funktion tätig war. Auch hier drängt sich die Frage auf, warum selbst unter Fachleuten der Medizingeschichte bislang nicht bekannt ist, dass es Ende des 18. Jahrhunderts bzw. definitiv seit 1809 in Wien einen „ersten“ Professor für Medizingeschichte gab, auch wenn die Bezeichnung geringfügig Vorlesungen über medizinische Literatur zu halten. Die Vorlesung soll an der Universität gehalten werden. Das Honorar soll von Dr. Eyerel festgesetzt werden; Stipendiaten und Studenten, die vom Unterrichtsgeld befreit sind, sollen die Vorlesung unentgeltlich besuchen dürfen. Die Vorlesung darf solange gehalten werden, bis die Erlaubnis von der Regierung und vom Studiendirektor widerrufen wird.“ 29 Lesky erwähnt als frühe Medizinhistoriker auch Ludwig von Attenhofer und Andreas Ignaz Wawruch, die ihrer Meinung nach jedoch kaum von Bedeutung waren: Erna Lesky, Die Wiener medizinische Schule im 19. Jahrhundert. Graz – Wien 1965, 617–620. 30 Joseph Eyerel (Hg.), Tacitus’ Germanien. Übersetzt mit Erläuterungen von Kurt Sprengel. Wien 1819. 31 Joseph Eyerel, Von der Pest in Athen. Aus dem Griechischen übersetzt, mit Zusätzen und Anmerkungen, und mit einem Anhang über die Pest in Egypten, während den französischen Feldzügen von ­Doctor Paul Assalini (Ein Auszug aus dem Protocoll der medizinischen Schule von Paris) von Doctor Joseph Eyerel, ausserordentlichem Professor der medizinischen Geschichte und Literatur. Wien 1810. 32 Joseph Eyerel (Hg.), Johann Friedrich Blumenbach’s Anfangsgründe der Physiologie, aus dem Lateinischen übersetzt und mit Zusätzen vermehrt von Joseph Eyerel. Wien 21795; Id. (Hg.), Tagebuch der Reise des kais. kön. Schiffes Joseph und Theresia nach den neuen österreichischen Pflanzorten in Asia und Afrika. Von Nikolaus Fontana, gewesenen Schiffwundarzt, an Herrn Brambilla, Leibwundarzt Sr. Mt. des Kaisers und Protochirurgus der k. Armeen. Dessau – Leipzig 1782.

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anders war. Erna Lesky erwähnt lediglich, dass Eyerel medizinhistorische Vorlesungen gehalten habe.33 Karl Holubar erklärte in einem 1990 erschienen Beitrag in der Wiener medizinischen Wochenschrift detailliert und ausführlich, warum als Gründungsdatum der Wiener Medizingeschichte der 20. August 1848 anzunehmen wäre, das Datum also, das der Bescheid trägt, mit dem Romeo Seligmann (1808–1892)34 zum außerordentlicher Professor für Medizingeschichte ohne Besoldung ernannt wurde; und nicht, wie Erna Lesky ausgeführt hatte, der 3. Dezember 1850, der Tag, an dem Seligmann schließlich auch eine Besoldung für seine Tätigkeit erhielt.35 Zieht man in Betracht, dass es heute nicht schwierig ist und auch vor mehreren Jahrzehnten nicht schwierig war, zu eruieren, dass Eyerel 1809 eine immerhin bezahlte Professur in diesem Fach erhalten hatte, stellt sich mit einiger Dringlichkeit die Frage, warum auf ihn nicht eingehender Bezug genommen wurde, auch nicht von früheren Medizinhistorikern wie Romeo Seligmann, dem Eyerel durchaus bekannt gewesen sein könnte. Diese „Positionierung“ Eyerels ist auch im Hinblick auf die selektive Wahrnehmung des Josephinismus aussagekräftig. Eyerel vertritt in manchen Bereichen eine Meinung, die jener der Vertreter der medizinischen Fakultät widerspricht – etwa in der Frage der Pockenimpfung. Er diskutiert und befürwortet diese in seinem Text Praktische Beyträge zur Geschichte der Kinderpocken und der Kuhpocken36 und stellt sich somit gegen die auf Anton de Haen zurückgehende Anschauung. Aufgrund der persönlichen Erfahrungen von Joseph II. mit den Pocken und der Meinung der Ärzte aus seinem Kreis ist nachvollziehbar, dass man am Josephinum die Pockenimpfung nicht nur befürwortete, sondern dass auch die Notwendigkeit einer Durchimpfung der gesamten Bevölkerung vertreten wurde. Dies wurde im Rahmen der „josephinischen“ Reformen im Gesundheitswesen auch umgesetzt, indem die flächendeckende Impfung über die Pfarren organisiert wurde. Eyerel widmete (zumindest) ein Buch Joseph Plenk, dem bedeutenden Lehrer am Josephinum. Außerdem vertrat Eyerel in Bezug auf die Entwicklung des Gesundheitswesens Positionen, die ihn in die Nähe jener Meinungen rückt, die der Medizinisch-Chirurgischen Akademie zugeordnet werden können. Könnte die „Nichtpräsenz“ dieses frühen Fachvertreters in der späteren Medizingeschichtsschreibung ein Hinweis auf eine Art damnatio memoriae von „Josephinischem“ im Zusammenhang mit der Medizinisch-Chirurgischen Akademie sein? Ein weiteres Indiz hierfür drängt sich auch im Fall des Wiener Medizinhistorikers (und 33 Lesky, Die Wiener medizinische Schule im 19. Jahrhundert, wie Anm. 29, 618f. 34 Franz Romeo Seligman studierte Medizin und orientalische Sprachen in Wien und war nach seiner Promotion zum Doktor der Medizin als Cholera-Arzt im Einsatz. Er widmete sich besonders der Geschichte und Orientalistik. 1848 war er zunächst unbesoldet, ab 1850 besoldet als Professor für Medizingeschichte tätig. 35 Karl Holubar, Zur Vorgeschichte der Gründung des medizinhistorischen Lehrstuhles an der Universität Wien (1833 bis 1848/1850). In: Wiener Medizinische Wochenschrift 140/17 (15. 9. 1990), 441– 445. 36 Joseph Eyerel, Praktische Beyträge zur Geschichte der Kinderpocken und der Kuhpocken. Wien 1800. Eyerel initiierte auch die Herausgabe einer Zeitschrift, in der die Erfahrungen mit der Kuhpockenimpfung publiziert werden sollten, die Annalen der Kuhpockenimpfung. Diese dürfte jedoch nicht über den 1802 publizierten ersten Band hinausgegangen sein.

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eben nicht ersten Professors für Medizingeschichte), Romeo Seligmann, auf. Seligmann hatte sich spätestens seit 1833, dem Jahr der anzunehmenden Pensionierung von Eyerel, darum bemüht, eine Professur für Medizingeschichte zu erhalten. Allerdings wurden die Gesuche immer wieder abgelehnt, obwohl er kontinuierlich Lehrveranstaltungen hielt und auch eine beeindruckende Übersetzung des Textes einer persischen Handschrift, der Grundsätze der Pharmakologie, die im zehnten Jahrhundert Abu Mansur Muvaffak Harawi verfasst hatte.37 An Seligmanns Qualifikation für das Fach dürfte diese lange Wartezeit nicht gelegen sein. Finanzielle Gründe waren jedoch häufig die Ursachen für die Ablehnung von derartigen Ansuchen. Seine beiden Brüder Franz und Leopold hatten ihre medizinischen Ausbildungen zum Teil am Josephinum absolviert, Franz Seligmann (1808–1889) nahm als leitender Arzt an der Novara-Expedition, der österreichischen Weltumsegelung der Jahre 1857–1859, teil.38 Seligmann stammte, wie Joseph von Sonnenfels, aus einer Nikolsburger jüdischen Familie und konvertierte zum katholischen Glauben. Auch er besuchte das Nikolsburger Piaristengymnasium und interessiertes sich für Literatur und orientalische Sprachen. In einer Festrede vor dem Doktorenkollegium der Wiener medizinischen Fakultät deklarierte sich Seligmann 1861 ziemlich eindeutig: Dazu aber bedarf es nicht nur der geistigen Arbeit der einzelnen Berufenen, dazu bedarf es der ernsten, ja grossartigen Mitwirkung des Staates selbst, im vorurtheilsfreien, grandiosen – im Josephinischen Style.39

Vielleicht waren diese Faktoren dafür mitverantwortlich, dass er sehr lange auf seine Ernennung warten musste und diese erst im Revolutionsjahr 1848 erfolgte. Auffällig ist jedoch, dass Seligmann zumindest nach seiner Ernennung zum Professor in seinen Publikationen, vor allem in seinen überlieferten Vorträgen, die Medizinisch-Chirurgische Akademie weitgehend unberücksichtigt ließ, aber die aktuellen Errungenschaften seiner Kollegen stark, nachgerade polemisch, ins Licht rückte. In seinen Texten finden sich schließlich auch die Bezeichnungen „erste und zweite Wiener Medizinische Schule“, die bis heute stark wertungsbehaftete „aufgeladene“ Begrifflichkeiten sind.40 Der Blick vor die Zeiten von Gérard van Swieten hat in dieser Art der Medizingeschichtsschreibung keinen Platz, Verweise auf diese Epoche dienen lediglich dem Kontrasteffekt, sie wird als vorwissenschaftliches, dunkles Zeitalter der Spekulation verstanden:

37 Romeo Seligmann (Hg.), Liber fundamentorum prarmacologiae. Codex Vindobonensis sive medici Abu Mansur Muwaffak Bin Ali Heratensis Liber fundamentorum pharmacologiae linguae ac scripturae Persicae specimen antiquissimum. 2 Bde., Wien 1830–1833. 38 Daniela Angetter, Art. Seligmann, Franz Romeo. In: Neue Deutsche Biographie 24 (2010), 221–222. 39 Franz Romeo Seligmann, Adam Chenot und seine Zeit. Wien 1861, 4. – Zu Seligmann und der Rolle der Mediziner in der Revolution von 1848: Katharina Kogler, „... die Heilärzte des kranken Staates.“ Die Beteiligung von Medizinern an der Revolution von 1848. Wien 2012. 40 Franz Romeo Seligmann, Die Heilsysteme und die Volkskrankheiten. Eine Vorrede. Wien 1850, 13. Vgl. dazu auch Seligmann, Festrede, wie Anm. 39.

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Nach überlanger Nacht brach der Lichtstrahl aus der Ferne mächtig herein; denn spät traten Österreichs Ärzte in die Reihe der medicinischen Größen ersten Ranges.41

Maria Theresia, van Swieten und andere Größen der ersten Wiener Schule werden in folgender Weise dargestellt: Mit Maria Theresia begann die Epoche des höchsten Glanzes. Der grösste Schüler des grossen Meisters: Van Swieten, dessen edler Genius das gesammte medicinische Wissen umfasste und verschwenderisch liebevoll ausstreute, der unduldsame selbst fanatische aber in seinem Kreise klare ja große de Haen, – Stoll der stille, bescheidene, unsterbliche, – Auenbrugger der Virtuose auf dem Thorax, und viele Andere, schufen der ersten Wiener Schule einen nie verlöschenden Ruhm.42

Über die Entstehung der zweiten Wiener Schule wird berichtet: Die zweite Wiener Schule entstand, eine Tochter der Fremde wie die Erste; wie diese nach langem Stillstande, von Decennien zwar, aber Decennien sind was Jahrhunderte waren. Die unermesslichen Schätze des Wiener Krankenhauses schliefen im strengsten Sinne des Wortes den Todesschlaf, Rokitansky weckte sie; den Tausenden von Leichen gab er ein neues wissenschaftliches Leben.43

Es stellt sich somit die Frage nach dem Grund einer solchen Darstellung und der Konstruktion einer Datumsgrenze in der Mitte des 18. Jahrhunderts, die an das „Erscheinen“ der Heldenfigur Gérard van Swieten gebunden wurde. Dies ging mit der Ausklammerung einiger Jahrhunderte vor dieser Epochenschwelle einher und auch mit der unzweideutigen Charakterisierung der Medizin vor Gérard van Swieten als „spekulativ“. Die Etablierung dieses master narrative erfolgte zudem durch Romeo Seligmann, einen Wissenschafter, der keinerlei Probleme bei der Heranziehung lateinischer Quellen gehabt hätte, wie etwa der seit 1399 überlieferten Akten der Wiener Medizinischen Fakultät, und aus diesen ganz andere Sachverhalte berichten hätte können. Weiters ist davon auszugehen, dass Seligmann die Inhalte dieser „spekulativen“ Medizin bekannt waren, zumal dieses Lehrgebäude während seiner medizinischen Ausbildung noch relevant war und anzunehmen ist, dass ihm die diesbezügliche Literatur zugänglich – auch im Sinne von verständlich – war. In die Reihe von derartigen Darstellungen der Geschichte der Medizin in Wien fügt sich auch die 1843 von Anton von Rosas (1791–1855) veröffentlichte Geschichte der Universität Wien im Allgemeinen und der medizinischen Fakultät im Besonderen44 ein. Die in vielen Be41 Seligmann, Heilsysteme, wie Anm. 40, 13. 42 Seligmann, Heilsysteme, wie Anm. 40, 14. 43 Seligmann, Heilsysteme, wie Anm. 40, 15. 44 Anton Rosas, Kurzgefasste Geschichte der Wiener Hochschule im Allgemeinen und der medicinischen Facultät derselben insbesondere. Wien 1843.

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reichen verfälschende Wiedergabe der Quellen beruht meist auf paläographischen Mängeln und mangelhaften Lateinkenntnissen, worauf auch Karl Schrauf in der Einleitung zu seiner Edition der Akten der Wiener Medizinischen Fakultät hingewiesen hat.45 Zu erwähnen ist außerdem die auffällig antisemitische Auslegung einiger Textstellen, die mit Einstellungen einhergehen, die sich auch anderen seiner Publikationen entnehmen lassen.46 Ob dies als Verzerrung angelegt war, sei dahingestellt, jedenfalls leistete diese Darstellung einer Interpretation der Jahrhunderte vor 1750 als einer einigermaßen dunklen Epochen von „spekulativer“ Medizin Vorschub.47 Welche Motivationen konnten aber, mehr oder weniger bewusst intendiert, hinter einer solchen Perspektivierung stehen? Eine andere Spur im Hinblick auf die Nicht-Wahrnehmung des Josephinums führt in gesundheits- und hochschulpolitische Bereiche. 1794 hatte Andreas von Stifft (1760–1836) für die Beantwortung der Preisfrage, wie man die Medizinisch-Chirurgische Josephsakademie zweckmäßig reorganisieren könne, einen Preis von 40 Dukaten erhalten.48 Aufgrund dieser Ausführungen wurde der Protomedikus Anton von Störk (1731–1803) auf ihn aufmerksam, was schließlich dazu führte, dass Stifft 1803 dessen Nachfolge antrat. Gleichzeitig war er aber auch Direktor der medizinischen Studien an der Universität Wien, Präses der Medizinischen Fakultät, Bücherzensor für medizinische Literatur und persönlicher Arzt des Kaisers. Diese Information ist seinen Nachrufen zu entnehmen, archivalische Quellen zu dieser Preisfrage und den konkreten Vorschlägen wurden bislang jedoch noch nicht aufgefunden. Bei dem genannten Preisgeld handelt es sich um den üblichen Betrag, der vom Josephinum für Preisfragen ausgelobt wurde, was die Annahme nahelegt, dass diese Frage von ebendieser Institution aufgestellt wurde. Erna Lesky erwähnt noch weitere Ehrungen und Mitgliedschaften in wissenschaftlichen Akademien, was sie als eine Machtfülle schildert, über die zuvor nur Gérard van Swieten verfügt hatte. Alles wie van Swieten, alle Ämter, alle Würden, alle Titel kehren bei ihm [Stifft] wieder. Aber welcher Mann trug sie nun! Die staatsrätliche Exzellenz hat nie gerne von ihrer Herkunft gesprochen. Vermutlich erinnerte sich Stifft nicht gerne daran, dass er der Sohn bürgerlicher Eltern aus Röschitz in Niederösterreich war. Dort wurde er nämlich geboren, 45 Karl Schrauf (Hg.), Acta Facultatis Medicae Universitatis Vindobonensis 1399–1435. Wien 1899, X. 46 Anton Rosas, Über die Quellen des heutigen ärztlichen Missbehagens und die Mittel um denselben wirksam zu steuern. In: Medizinische Jahrbücher des Kais.-Königl. Österreichischen Staates 40 (1842), 1–19. Als Gründe des Missbehagens bringt Rosas unter anderem vor: „8. Zu grosser Andrang der Israeliten zur Medicin“ (2); „Die überhand nehmende Zahl israelitischer Ärzte gereicht der Medizin als Kunst und Wissenschaft ja selbst der Menschheit zum Nachteil.“ (16). 47 Ausführlich: Sonia Horn, Approbiert und examiniert. Die Wiener medizinische Fakultät und nicht-akademische Heilkundige in Spätmittelalter und früher Neuzeit. Dissertation Universität Wien 2001, 24 [Anmerkung 47], 35, 74–76, 208–212. 48 Johann Jacob Sachs, Medizinischer Almanach für das Jahr 1838 (1838), 34–36; Nekrolog Andreas von Stifft. In: Der Telegraph, österreichisches Conversationsblatt 78 (27. 6. 1838) 309–310; sowie Gabriela Schmidt-Wyklitzky, Art. Stifft, Andreas Joseph Frh. von (1760–1836), Mediziner. In: Österreichischen Biographisches Lexikon 1815–1950, 13. Wien 2009, 257–258.

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studierte dann in Wien bei Stoll Medizin und machte sich dessen humoral-pathologische Lehren so zu eigen, daß sie ihm ein ganzes Leben unverrückbare Doktrin blieben. Sein Ehrgeiz begnügte sich nach seiner Promotion 1784 nicht damit, praktischer Arzt zu sein. Man mußte literarisch hervor treten wie einst der Protomedicus Störck und tat dies am besten, dem Vorbilde nacheifernd, auf dem Gebiete der Therapie.49

Stiffts preisgekrönte Vorschläge zur Reorganisation der Medizinisch-Chirurgischen Akademie werden bei Lesky nicht erwähnt, in ihren Darstellungen wird er als „Reaktionär“ bezeichnet und als jener Akteur beschrieben, der bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts die „Professorenverfolgung“, die nach den Karlsbader Beschlüssen von 1819 einsetzte, im medizinischen Bereich begonnen hatte.50 Auf Stifft soll zudem auch die Etablierung einzelner Fächer wie der Staatsarzneykunde und der Augenheilkunde an der Medizinischen Fakultät zurückgehen, indem diese einerseits als verpflichtende Fächer im Curriculum eingeführt, andererseits auch Lehrstühle und Kliniken eingerichtet wurden. Zur Ausbildung von Chirurgen wurde am Allgemeinen Krankenhaus ein „Operateurinstitut“ gegründet, für das die Ausbildung an der Medizinisch-Chirurgischen Akademie als Vorbild gedient haben soll.51 Es liegt nahe anzunehmen, dass Stifft, der die Charakteristika der Medizinisch-Chirurgischen Akademie kannte, dasjenige an die medizinische Fakultät übernahm, was schon einige Zeit zuvor am Josephinum üblich war und sich dort wohl bewährt hatte. Wenn Stifft also als ein wesentlicher Vertreter der Restauration zu sehen ist, kann daraus geschlossen werden, dass die Medizinisch-Chirurgische Akademie nach wie vor als „politischer Ort“ wahrgenommen wurde, zumal dort einiges umgesetzt worden war, das man als „aufklärerisch“ oder „josephinisch“ bezeichnen könnte; und dass die Frage der Weiterführung einer solchen Institution durchaus kontrovers gesehen wurde. Zwischen 1822 und 1824 fanden jedenfalls an der Medizinisch-Chirurgischen Akademie kaum Lehrveranstaltungen statt, in diesen Jahren wurden auch keine neuen Studenten aufgenommen. Offenbar wurde nunmehr Bewährtes an die Medizinische Fakultät übernommen – allerdings ohne die zu Grunde liegenden gesellschaftspolitischen Konzepte; vielleicht glückt hier aber zugleich auch das organisatorische Durchgreifen des Staates auf die universitäre Medizin. Claudia Wiesemann hat in ihrer elaborierten Studie zum therapeutischen Nihilismus von Joseph Dietl auf die vielfältigen Interessen der ärztlichen Standespolitik und der Universität im Vormärz hingewiesen, ebenso wie auf die zeitgenössische Kritik an den beiden Größen der Wiener Medizin dieser Epoche, Carl von Rokitansky (1804–1878) und Joseph Skoda (1805–1881).52 Skoda wurde 49 Lesky, Österreichisches Gesundheitswesen, wie Anm. 3, 216. 50 Lesky, Österreichisches Gesundheitswesen, wie Anm. 3, 219; ausführlich: Ead., Die Wiener medizinische Schule, wie Anm. 29, 32–39. 51 Gabriela Schmidt-Wyklitzky, Art. Stifft, wie Anm. 48, 257. 52 Claudia Wiesemann, Josef Dietl und der therapeutische Nihilismus. Zum historischen und politischen Hintergrund einer medizinischen These. Frankfurt am Main 1991; Ead., Der Aufstand in der Fakultät. Zur rhetorischen Funktion des „therapeutischen Nihilismus“ im vormärzlichen Wien. In: History and Philosophy of the Life Sciences 15/2 (1993), 181–204.

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von zahlreichen Kollegen wegen seines Nicht-Therapierens von Patientinnen und Patienten, die er im Allgemeinen Krankenhaus betreute, angegriffen. Er folgte der Anschauung, dass die Natur alles alleine heilen könne und ein therapeutisches Eingreifen in einen Krankheitsprozess daher nicht notwendig wäre. Dieser Zugang ermöglichte es Skoda jedoch, Krankheitsverläufe unbeeinflusst beobachten zu können und als exzellenter Diagnostiker in die Medizingeschichte einzugehen. Auf diese Weise erfolgte freilich auch eine Abkehr von bisherigen therapeutischen Maßnahmen, man propagierte (zumindest für die Patientinnen und Patienten des Allgemeinen Krankenhauses) eine Nicht-Behandlung, die von Zeitgenossen durchaus als unterlassene Hilfeleistung und Verstoß gegen die Grundsätze ärztlichen Handelns verstanden wurde. Bezüge zu diesen immerhin zeitgenössischen Kritiken finden sich bei Seligmann – verständlicherweise? – nicht, ebenso wenig in späteren Berichten der Wiener Medizingeschichtsschreibung über diese Epoche, vielmehr wurde genau dieses Herangehen als Grundlage für das Aufblühen der Wiener Medizinischen Schule des 19. Jahrhunderts gerühmt, auch in den Arbeiten von Erna Lesky. Seligmanns Texte über die beiden „Wiener medizinischen Schulen“ lesen sich, auch unter Berücksichtigung der zeitgenössischen Praxis der Geschichtsschreibung, wie öffentlichkeitswirksam aufbereitete Jubelschriften: weitgehend unkritisch und das aktuell hohe wissenschaftliche Niveau unterstreichend. Dies evoziert die Vorstellung eines durch lange Jahre des Bemühens um eine akademische Anstellung im Allgemeinen und in der Medizingeschichte im Besonderen zermürbten, an sich jedoch kompetenten Historikers. Dabei stellt sich erneut die Frage nach dem Ausblenden gewisser Aspekte der zu diesem Zeitpunkt noch einigermaßen rezenten Vergangenheit. Es drängt sich die Annahme auf, dass damit die Strategie verfolgt wurde, die durch Stiffts Maßnahmen bewirkten Veränderungen als außergewöhnliche Leistungen der Medizinischen Fakultät darzustellen, aber weitgehend zu verschweigen, dass diese von einer Institution übernommen wurden, die im Vormärz offenbar ihrerseits als inkompatibel mit dem staatlichen Erwartungshorizont erschien. Was hat all das aber mit der Frage nach dem medizinhistorischen „Schreiben über Josephinismus“ im 20. Jahrhundert zu tun?

V Mythos Gérard van Swieten Gérard van Swieten ist eine zentrale Figur in den Arbeiten von Erna Lesky und ihren Vorgängern, einer der „großen Männer“ dieser Zeit, der nicht nur „Wien“ sondern auch „die Weltmedizin“ höchst nachhaltig prägte53 – der Begründer der „ersten“ oder „älteren“ Wiener Schule der Medizin, der Reformator nicht nur des medizinischen Unterrichts; jener, der eine völlig neue Medizin etablierte, Wien einen Innovationsschub erleben ließ und diesen Ort

53 Diese Darstellungsweise zieht sich durch sämtliche Publikationen von Erna Lesky. Z. B. Erna Lesky, Vorwort, in: Ead. (Hg.), Wien und die Weltmedizin. Graz 1974, 9–10; Ead., Gerhard van Swieten, Auftrag und Erfüllung, wie Anm. 15, 30.

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ein für alle Mal zu einem Mekka der Medizin machte; ein Mann, dessen „Erscheinen“ eine solche „Strahlkraft“ und Nachhaltigkeit hatte, dass die Zeit davor, wie erwähnt, als dunkles Kapitel einer spekulativen Medizin wahrgenommen wurde, wodurch auch der Eindruck gefestigt wurde, dass eine Auseinandersetzung mit der Medizin in Wien vor diese „Zeitenwende“ völlig überflüssig wäre. Gérard van Swieten selbst wurde damit zum Epochenmacher. Diese Darstellungsweise erscheint als festgefügter und nahezu unausweichlicher Topos. Gérard van Swieten ist in den Sitzungsberichten der Sanitätshofdeputation nie als Teilnehmer angeführt, wohingegen der frühere persönliche Arzt von Karl VI., Paul Michael von Zwenhoff, sehr wohl als medizinischer Experte diesem Gremium angehörte. Erna Lesky geht in Zusammenhang mit dieser Tatsache davon aus, dass van Swieten dennoch auf jeden Fall an der Arbeit dieser Kommission wesentlich beteiligt war – selbst wenn diese Funktion in der Literatur nicht erwähnt wird.54 Wenn wir die bisherige Literatur über diesen großen europäischen Arzt überblicken, so werden wir ihn charakterisiert finden als Leibarzt der Kaiserin, als Reformator der Wiener Universität und ihrer medizinischen Fakultät, als Zensor und Präses der Hofbibliothek, nirgends aber als den sanitären Organisator und obersten Sanitätschef eines großen Reiches. Es ist schmerzlich, festzustellen, daß dieses Versäumnis, die Würdigung seiner ärztlichen Hauptleistung, heute nach dem Verlust der zentralen Archivkörpers, der Hofkanzlei und des Staatsrates, nicht mehr nachzuholen ist.

Lesky argumentiert, dass sich in den Protokollbänden der Sanitätshofdeputation immer wieder die Bemerkung findet „Note an Baron van Swieten“: Daher geht sie davon aus, … daß diese Art des Verkehrs den Schluss zulässt, daß van Swieten der Sanitäts- Hofdeputation als Mitglied nicht angehört hat, sondern sie von außen wie irgendeine andere Hofbehörde wie beispielsweise die Hofkammer beriet.

Dies scheint nachvollziehbar, aber ob sich daraus die von Lesky angenommene „Hauptleistung“ eines „obersten Sanitätschefs“ ableiten lässt, darf bezweifelt werden. Eine der wesentlichsten Errungenschaften, die Gérard van Swieten zugeschrieben werden, ist die Reform des medizinischen Studiums in Wien sowie die Einführung des Unterrichts am Krankenbett. Die Reformen, die von ihm umgesetzt wurden, waren freilich bereits 1719 ausgearbeitet worden. Allerdings gerieten die Verhandlungen offenbar für längere Zeit ins Stocken, und lediglich die Statuten für die medizinische Fakultät wurden erneuert. 55 Die Gründe hierfür waren bislang noch nicht Gegenstand einer ausführlichen Analyse, wiewohl 54 Lesky, Österreichisches Gesundheitswesen, wie Anm. 3, 41f. 55 Sonia Horn, „ein wohl auffgerichtes theatrum anatomicum“. Anatomischer Unterricht für nichtakademische Heilkundige an der Wiener medizinischen Fakultät im 18. Jahrhundert. In: Karin Stukenbrock / Jürgen Helm (Hg.), Tagungsband des Internationalen Abraham Vatter Symposion Wittenberg 2001. Stuttgart 2003, 193–195.

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es van Swietens organisatorischen Fähigkeiten und einer günstigen politischen Konstellation zu verdanken sein dürfte, vielleicht aber auch lediglich „der Gunst der Stunde“, dass die geplanten Reformen schlussendlich umgesetzt wurden. Die Aktenüberlieferung der Studienhofkommission im Allgemeinen Verwaltungsarchiv zeigt im Hinblick auf die Studienreformen, dass Gérard van Swieten ein engagierter und kompetenter „Universitätsmanager“ war, der offenbar die Fähigkeit besaß, komplizierte Sachverhalte, die die Doktoren der Medizinischen Fakultät in wohlgesetztem Latein ausführlich beschrieben, konzise auf den Punkt zu bringen; in klarem Französisch wurden diese ohne Informationsverlust zusammengefasst und in Handbillets weitergegeben. Van Swieten wusste auch um besondere Wünsche einzelner Personen, vermochte wiederholt allseits attraktive Lösungen zustande zu bringen und dabei meist auch noch finanzschonend vorzugehen. Die für die Habsburgischen Länder 1770 in Kraft getretene Sanitäts- und Kontumazordnung war von großer Relevanz, beruhte jedoch auf einem Modell, das sich über mehrere Jahrhunderte hinweg im Kontext der Wiener und der Prager Medizinischen Fakultäten entwickelt hatte. Auch hier hatte die Medizinische Fakultät Gérard van Swieten auf die enormen Belastungen aufmerksam gemacht, die die Verwaltung des Gesundheitswesens für die Fakultät bedeutete, was auch in den ersten Planungsentwürfen für die Umsetzung der anvisierten Reformen thematisiert wurde.56 Diese Entwürfe enthalten sehr viele elaborierte und klar strukturierte Vorschläge, die sich in erster Linie auf die Ausbildung und die Befugnisse verschiedener Gruppen von professionellen Heilkundigen beziehen, die sowohl im zivilen als auch im militärischen Bereich tätig waren. Die Ausgliederung der Verwaltung des Gesundheitswesens aus den Agenden der Medizinischen Fakultäten (zumindest) von Prag und Wien ist hierbei ein gewichtiger Aspekt. Es ist demnach davon auszugehen, dass van Swieten dies auch gegenüber der Sanitätshofdeputation vertreten und in diesem Zusammenhang auch an deren Entscheidungen mitgewirkt hat. Zu diskutieren wäre allerdings, ob dies als seine „Hauptleistung“ zu werten ist, vor allem im Hinblick auf die Umsetzung der Reformen im universitären Bereich. Die besonderen Leistungen von Gérard van Swieten liegen in einem Bereich, der im englischsprachigen Raum mit herding cats umschrieben wird, dem des „Universitätsmanagements“. Die von ihm umgesetzten Konzepte waren bereits weitgehend ausgearbeitet, seine Leistung lag in der konzisen Formulierung der Probleme und der Koordinierung der umsetzenden Akteure. Zudem brauchte es auch die Fähigkeit überzeugender Vermittlung, was sich aus den zahlreichen erhaltenen Stellungnahmen und Lösungsvorschlägen, die Gérard van Swieten verschiedenen Interessensvertretern unterbreitete, nachvollziehen lässt. Auch eine entsprechende Kommunikationsfähigkeit sowie das Erkennen, Abwägen und Einsetzen von Einzelinteressen zeigt sich in diesen Dokumenten. Gérard van Swieten ist sicher in vielfacher Hinsicht eine wesentliche Figur. Warum aber wurde er zu einer Heldengestalt gemacht, warum wurden ihm Leistungen zugeschrieben, die man bei solider Recherche in den Quellen, aber durchaus auch in der vorhandenen Sekundärliteratur historiographisch wesentlich seriöser hätte aufbereiten können? Und warum hat 56 Horn, Entstehung der medizinisch-chirurgischen Akademie, wie Anm. 11, 219f.

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Gérard van Swieten schließlich als einer der „Großen aus Wien“ auch in den Darstellungen von Eduard Winter eine ähnliche Funktion als „Epochengrenze“?

VI „Spekulative Medizin“ und „Unterricht am Krankenbett“ Die Medizin selbst kann für die Zeit vor van Swieten – und auch frühere Epochen – nicht als „(rein) spekulativ“ bezeichnet werden, wie dies oft geschehen ist. Grundlage des medizinischen Denkens war bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts das hippokratisch-galenische Konzept. Die genannten Proponenten der vormärzlichen Medizin sind daher durchaus in diesem Lehrgebäude beheimatet. Mit der Krasenlehre finden sich hippokratisch-galenische Elemente auch in den Theorien von Carl von Rokitansky. Angesichts dieser Konstellation ist es nicht nachvollziehbar, warum Erna Lesky diese Kategorie mit einem einigermaßen negativen Tenor Andreas von Stifft als Vertreter einer „Doktrin“ zuweist. Gérard van Swieten und seine Kollegen, aber auch sein Lehrer Hermann Boerhaave (1668–1738), vertraten im Grunde konservative, hippokratische Lehrmeinung und zeigten sich, etwa am Beispiel der weitgehenden Ablehnung der Pockenimpfung, als einigermaßen „innovationsfeindlich“ – was für Stifft wiederum nicht zutrifft, da er diese befürwortete. Auffällig ist, dass Stifft auch bei Eduard Winter ähnlich charakterisiert und als Gegenmodell zu van Swieten aufgebaut wird. Um aber eine so genannte „spekulative“ Herangehensweise an ein Krankheitsgeschehen definieren zu können, braucht es einen Bezugsrahmen, von dem aus Handlungen oder Konzepte als „spekulativ“ wahrgenommen und bewertet werden können. Insofern müssen medizinische Therapien, aber auch Beobachtungen der Natur und vieles andere, das mit Wissen im Sinn von Wahrnehmung, Interpretation und Anwendungsmöglichkeiten des Wahrgenommenen zu tun hat, aus dem zum jeweiligen Zeitpunkt relevanten Konzept und Wissensstand heraus verstanden werden, alles andere ist anachronistische Projektion. Somit muss man versuchen, einen Zugang dazu zu finden, ob etwa eine Beobachtung oder eine Therapie in ihrer Zeit selbst als „innovativ“ verstanden wurde.57 In Bezug auf die Medizin ergibt sich hier klar, dass die hippokratisch-galenische Denkweise, die im 18. Jahrhindert relevant war, kaum als „spekulativ“ zu bezeichnen ist. Auch der Unterricht am Krankenbett ist keine Einführung von Gérard van Swieten, denn ein solcher war in der ärztlichen Ausbildung an der Medizinischen Fakultät der Universität Wien von Beginn der Aufzeichnungen an vorgesehen.58 Studenten mussten ihre 57 Vgl. dazu Hasok Chang, Is Water H2O? Evidence, Pluralism and Realism. Dordrecht 2012. 58 Sonia Horn, „... damit sy in ain rechte erfahrenheit der practighen khummen.“ Der praktische Unterricht für akademische Ärzte vor den Reformen durch Van Swieten. In: Helmuth Grössing / Sonia Horn / Thomas Aigner (Hg.), Wiener Gespräche zur Sozialgeschichte der Medizin, Vorträge des Internationalen Symposions an der Universität Wien 9.–11. November 1994. Wien 1996, 75–96; Michael Stollberg, Bedside Teaching and the Acquisition of Practical Skills in Mid-Sixteenth-Century Padua. In: Journal of the History of Medicine and Allied Sciences 69/4 (2014), 633–661.

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Promotoren zumindest ein Jahr lang bei der Betreuung von Patientinnen und Patienten begleiten. In Wien bestand das Problem eher darin, dass Studenten die eigenständige Betreuung von Kranken unerlaubt und im Hinblick auf ihren Ausbildungsstand zu früh durchführten. Auch die Betreuung von Patientinnen und Patienten in Krankenhäusern war üblich, etwa auch im Spital der Barmherzigen Brüder, für das eine Beschreibung desselben von 1626 vorliegt.59 Eine mehrjährige praktische Ausbildung erfolgte auch am 1737 gegründeten Dreifaltigkeitsspital, was jedoch nur den Originalquellen zu entnehmen ist, da keine Sekundärliteratur zu diesem Spital existiert. Dies ist insofern einigermaßen merkwürdig, als es gerade hier klare Vorgaben für die praktische Ausbildung für Studenten der Medizin und der Chirurgie gab.60 Auch hier ergibt sich die Frage nach dem Grund dieses Forschungsdefizits, immerhin geht es denn doch um einen nicht unbedeutenden Aspekt der „Wiener Medizin“. Noch aufschlussreicher wird diese Frage, wenn man den Versuch unternimmt, die von Gérard van Swieten ins Leben gerufene „Medizinisch-Praktische Lehrschule“ am Bürgerspital unter die Lupe zu nehmen, also diese aus Originalquellen zu rekonstruieren, etwa anhand der Frage, wie die Kosten für die Einrichtungsgegenstände (Betten, Bettwäsche, Heilbehelfe …) beglichen wurden. Noch schwieriger ist es herauszufinden, was die immerhin dreijährige praktische Ausbildung im Dreifaltigkeitsspital (die offenbar unter Anleitung von erfahrenen Ärzten, die auch der Medizinischen Fakultät angehörten, erfolgte) vom „Unterricht am Krankenbett“ in der von Gérard van Swieten (angeblich?) eingerichteten Medizinisch-Praktischen Lehrschule unterschied, vor allem in Bezug auf die Qualität dieser Ausbildung. Dieser Frage ist bereits Christian Probst 1972 nachgegangen, ohne zu einem klaren Ergebnis zu kommen: Es erscheint nicht nachvollziehbar, in welcher Form diese Schule am Bürgerspital existierte und warum schlussendlich Anton de Haen nach Wien berufen wurde, um diese Medizinisch-Praktische Lehrschule zu leiten.61 Daniela Wagner konnte jüngst auf der Basis von Archivmaterial rekonstruieren, was Gérard van Swieten unter diesem Unterricht konkret verstand. Demnach sollten Krankheiten, die im theoretischen Unterricht besprochen wurden, parallel dazu auch an Patientinnen und Patienten beobachtet werden.62 Dies unterscheidet sich denn doch von einem Unterricht „am Krankenbett“, für den die Patientinnen und Patienten nicht eigens ausgewählt wurden. Am Wiener Bürgerspital fanden seit 1721 so genannte „Collegia publica“ statt, bei denen den Studenten der Medizin und der Chirurgie, aber auch den Hebammenschülerinnen, Patientinnen und Patienten vorgestellt wurden. Während dieser „Collegia“ wurden die Krankheiten und die Therapien ausführlich erläutert.63 Der Unterschied zwischen dieser Art der medizi59 Sonia Horn, Der praktische Unterricht für akademische Ärzte, wie Anm. 58 60 Anordnung und Verfassung des Krankenspitals zur allerheiligsten Dreyfaltigkeit. In: Codex Austriacus, Suppl. Teil 5, 1740–1758. Wien 1777, 59–94. 61 Christian Probst, Der Weg des ärztlichen Erkennens am Krankenbett, 1: 1707–1787. Wiesbaden 1972, 106f. 62 Wagner, Gérard van Swieten und die Gründung der Kliniken, wie Anm. 14, 22–24. 63 Horn, Anatomischer Unterricht für nichtakademische Heilkundige, wie Anm. 55, 205.

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nischen Lehre und dem von van Swieten intendierten Unterricht an der Medizinisch-Praktischen Schule erscheint jedoch nicht substantiell. 1754 wurde das Dreifaltigkeitsspital mit dem Spanischen Spital, das sich im Gebäude des heutigen Erzbischöflichen Priesterseminars Wien befindet, zum „Unierten Spital“ vereinigt und die Medizinisch-Praktische Lehrschule aus dem Bürgerspital dorthin verlegt. Auffällig ist die starke Ähnlichkeit der Beschreibung des Unterrichtes am Krankenbett, wie Anton de Haen ihn 1754 abgehalten haben soll, mit jenem, den Ferdinand Illmer von Wartenberg (gest. 1698) am Spital der Barmherzigen Brüder um 1695 erteilte. Niemallen kame er zu uns in das Spital, wo ihme nicht viel vorwarteten, oder aber nachfolgeten auß seinen Discipuln, denen er wehrender Ordination bald diese oder jene sinnreiche Frag von deren Kranckenzuständ auffgabe, erforschte ihre Muthmassung als ein sorgfältiger Lehrmeister; und so dieselben nach ihren Gedancken ihre Meinung und Antwort entdecketen, als dann gab er seine weiseste Resolutiones und Aussprüch.64 Schon Früh um 6 Uhr ist Haen, des Winters sowohl als des Sommers, im Krankenhause, und um 8 Uhr versammeln sich seine Zuhörer, diese führt er sogleich zum Krankenbette, erklärt mit der grössten Genauigkeit den vorliegenden Fall, erforscht die Ursachen mit dem ihm eigenen Scharfsinn, entwickelt sorgfältig die Symptome. Nun untersucht der Zuhörer den Kranken selbst, was er bemerkt hat sagt er dem Lehrer ins Ohr, dieser sammelt alle Stimmen und zeigt hernach öffentlich an, sowohl was falsch als auch was recht bemerkt worden ist.65

Klar wird hierbei jedoch auch, dass diese Beschreibung nicht unbedingt dem entspricht, was Gérard van Swieten beabsichtigt hatte, denn in beiden Fällen handelt es sich eher nicht um ausgewählte Krankheitsfälle. Der bedeutende Wiener Medizinhistoriker Theodor Puschmann66 thematisiert in seiner Geschichte des medizinischen Unterrichts auch den „praktischen Unterricht“ bzw. den „Unterricht am Krankenbett“. Er erklärt, dass dieser an sich schon lange existierte und auch im Kontext der Universitäten von Anfang an betrieben wurde. Seiner Meinung nach sind jene im Irrtum, die behaupten, es hätte keinen praktischen Unterricht in der akademischen Ausbildung von Ärzten gegeben. Seine Interpretation geht dahin, dass dieser praktische Unterricht eben nicht unmittelbar an den Universitäten erfolgte, sondern „außerhalb“ organisiert

64 Horn, Praktischer Unterricht für akademische Ärzte, wie Anm. 58, 93. 65 Gustav Löbel, Geschichtliche Notizen über das medizinische Clinicum der Wiener Universität, 2. In: Wiener Medizinische Wochenschrift, 21 (1871) [Nr. 27], 662. 66 Theodor Puschmann (1844–1899) studierte Medizin in Berlin, Marburg, Wien und München; 1878 Habilitation im Fach Geschichte der Medizin an der Universität Leipzig, 1879 außerordentlicher Professor für Medizingeschichte in Wien, 1888, 1898/99 Dekan der medizinischen Fakultät. Puschmann hinterließ einen Teil seines Vermögens der Universität Wien zur Einrichtung einer Bibliothek und eines Museums für Medizingeschichte. Den Großteil vermachte er jedoch der Universität Leipzig zur Gründung eines medizinhistorischen Instituts, das als das erste seiner Art gilt.

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wurde, und dass die Studenten die Fakultätsmitglieder bei den Krankenbesuchen sowohl im Spital als auch anderswo begleiten mussten. Diese Argumentation erscheint allerdings wenig überzeugend, gerade wenn man die begleitenden institutionellen Bezüge berücksichtigt, denn dieser „Unterricht am Krankenbett“ war durchaus in konkrete institutionelle Rahmen eingebettet, wie dies die Beispiele von Padua und Wien zeigen.67 Zwischen den medizinischen Fakultäten und den Krankenhäusern, in denen dieser praktische Unterricht durchgeführt wurde, bestanden personelle und institutionelle Verbindungen. Besonders deutlich wird dies am Dreifaltigkeitsspital, in dem auf der Basis von Stiftungen, die durch Universitätsangehörige getätigt worden waren, arme und vor allem akut Erkrankte sowohl internistisch als auch chirurgisch betreut wurden. Die dreijährige Ausbildung von Studenten der Medizin und der Chirurgie als „Praktikanten“ war klar geregelt und umfasste auch die Durchführung von Obduktionen. Den „Praktikanten“ standen auch ein Museum und eine Bibliothek zur Verfügung, ein tägliches, zweistündiges Studium in diesen Räumen war im Tagesablauf vorgesehen. Die Leitung der verschiedenen Abteilungen und der Unterricht wurden von Professoren und Doktoren der Medizinischen Fakultät wahrgenommen. Verglichen mit den Berichten über die „Medizinisch-Praktische Lehrschule“ ergibt sich daraus keine besonders auffälliger Unterschied im Hinblick auf die medizinische Ausbildung – außer dass die Praktikanten des Dreifaltigkeitsspitales wahrscheinlich wesentlich mehr Patientinnen und Patienten zu Gesicht bekamen und auch wesentlich stärker in die Krankenbetreuung eingebunden waren, als die Studenten an der Medizinisch-Praktischen Lehrschule. 1756 hielt De Haen in seiner Antrittsrede als Professor der medizinischen Klinik fest, dass die Studenten der Medizin mit seinem Unterricht bislang äußerst zufrieden gewesen seien und ihn sogar gebeten hätten, auch während der Sommermonate den praktischen Unterricht weiter zu führen. Mit Verweis darauf, dass die Studierenden diese Ferien zur Erholung benötigen würden, habe er diese Anfrage jedoch abgelehnt.68 Dies könnte aber auch als Wunsch der Studierenden nach einer intensiveren praktischen Ausbildung interpretiert werden, eventuell auch in Zusammenhang mit den Möglichkeiten, die den Praktikanten zuvor am Dreifaltigkeitsspital offen gestanden waren. Hinzu kommt, dass Gérard van Swieten die Meinung vertrat, dass die Studenten zu früh und ohne ausreichendes theoretisches Wissen in die praktische Ausbildung gingen. In diesem Zusammenhang wird auch der Vergleich mit einer handwerklichen Ausbildung bemüht.69 Auf diese Weise würde man im Gegensatz zu den üblichen Narrativen sogar zu dem Eindruck kommen, dass die Quantität, aber vielleicht auch die Qualität, der praktischen Ausbildung in der Medizin reduziert wurde. Dies würde allerdings der Situation in der Ausbildung von Hebammen in Wien nach 1748 entsprechen. Auch hier wurde der Umfang des vermittelten Wissens reduziert und das Tätigkeitsspektrum sowie die Handlungsspielräume von

67 Theodor Puschmann, Geschichte des medicinischen Unterrichts von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. Leipzig 1889, 341f. 68 Löbel, Geschichtliche Notizen 2, wie Anm. 65, 689. 69 Wagner, Gérard van Swieten und die Gründung der Kliniken, wie Anm. 14, 23.

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Hebammen eingeschränkt.70 Von Gérard van Swieten als dem Begründer des praktischen Unterrichts in Wien ist bei Puschmann nichts zu lesen. Die Darstellungen Puschmanns – eines nicht nur in seiner Zeit anerkannten, „institutionalisierten“ und handwerklich versierten Wiener Medizinhistorikers – wurden von seinen Nachfolgerinnen und Nachfolgern inhaltlich offenbar nur sehr unzulänglich rezipiert. Stattdessen wurden mit historischen Quellen relativ leicht widerlegbare Falschaussagen getätigt, was denn doch Verwunderung hervorruft und nach den historiographiegeschichtlichen Ursachen solch einer Konstellation fragen lässt. Mit größter Vehemenz in Frage gestellt wird die Gérard van Swieten zugeschriebene medizinische Innovation, wenn bei Christian Propst nachgezeichnet wird, dass wenige Jahre nach dem Tod von van Swieten Reformen des Studiums und insbesondere des praktischen Unterrichts als dringend notwendig erachtet wurden. Propst beschreibt die „Methodik“, die Gérard van Swieten und Anton de Haen vertraten, als zu ihrer Zeit bereits „erstarrt“.71 Im Hinblick darauf verliert auch die Aussage von Albrecht von Haller ihre Härte, der meinte, dass sein Studienkollege eher ein unterdurchschnittlicher Mediziner wäre und alles andere als innovativ.72 An „innovativem“ medizinischem Wissen kann die „Größe“ von Gérard van Swieten aus zeitgenössischer Sicht also eher nicht festgemacht werden. Diese dominierenden Narrative wurden jedoch von den nachfolgenden Medizinhistorikern und Erna Lesky weitgehend übernommen. Freilich hat Theodor Puschmann durchaus versucht, auch andere Epochen zu berücksichtigen. Es stellt sich hierbei die Frage, ob dies Schwierigkeiten mit Vertretern der Medizinischen Fakultät verursachte, die jedoch in den Ausführungen nicht eigens angeführt, aber mit der möglicherweise verspäteten Verleihung einer ordentlichen Professur in Zusammenhang gebracht werden können.73 Der Topos der ersten und zweiten Wiener medizinischen Schule und der eingeschränkte Blick auf die Medizinisch-Chirurgische Akademie, einer immerhin zentralen Institution im „josephinischen“ Gesundheits- und Bildungswesen, die Datumsgrenze „van Swieten“ und die Definition medizinischer Konzepte in der Zeit „davor“ als „spekulativ“ – all diese Erzählelemente wurden auch von Max Neuburger weitergetragen.74 Wesentlich bekannter sind 70 Sonia Horn, Wiener Hebammen 1643–1753. In: Studien zur Wiener Geschichte 59 [= Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien] (2003), 82–86. 71 Probst, Der Weg des ärztlichen Erkennens, wie Anm. 61, 213–217. 72 Rina Knoeff, Herman Boerhaave at Leiden: Communis Europae Praeceptor. In: Ole Peter Grell (Hg.), Centres of Medical Excellence? Medical Travel and Education in Europe, 1500–1789. Farnham 2010, 269–289, hier 279f. 73 Gabriela Schmidt, Theodor Puschmann und seine Verdienste um die Errichtung des Faches Medizingeschichte an der Wiener Medizinischen Fakultät. In: Andreas Frewer / Volker Roelke (Hg.), Die Institutionalisierung der Medizinhistoriographie. Entwicklungslinien vom 19. ins 20. Jahrhundert. Stuttgart 2001, 91–102. 74 Max Neuburger (1868–1955) studierte Medizin in Wien; Promotion 1893; Schüler von Theodor Puschmann. Habilitation in Medizingeschichte 1898, 1904 außerordentlicher Professor, 1917 ordentlicher Professor für Medizingeschichte. 1914 Gründung des Instituts für Geschichte der Medizin an der Universität Wien, Übersiedlung in das Gebäude des Josephinums und Aufbau der Sammlungen. 1939 Emigration nach London, wo er am Wellcome Institute for the History of Medicine seine Forschungsar-

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die Publikationen von Erna Lesky über die „erste und zweite Wiener Schule“ und eben über Gérard van Swieten.75 Diese waren offenbar so prägend, dass vielfach bis heute die Meinung besteht, dieses Thema sei bereits erschöpfend behandelt. Daniela Wagner hat in ihrer kürzlich abgeschlossenen Masterarbeit am Institut für Österreichische Geschichtsforschung die komplexen verwaltungsgeschichtlichen Aspekte der Gründung der Medizinischen-Praktischen Lehrschule ausführlich dargestellt und dies in den Kontext der „Verwaltungsverdichtung“ dieser Epoche gesetzt.76 Klar herausgearbeitet wurde hierbei auch, dass es um ein Eingreifen des Staates in den universitären Bereich ging und um die Aneignung von Stiftungsgeldern, die für die Umsetzung von staatlichen Zielen eingesetzt wurden. Dies gilt auch für das Dreifaltigkeitsspital, dessen Finanzierung auf Stiftungsgeldern beruhte. Diese Institution wurde 1754 mit dem Spanischen Spital zum „Unierten Spital“ vereinigt, woraus eine Institution wurde, die als staatliche Einrichtung anzusehen ist. Mit der Verlegung der „Medizinisch-Praktischen Lehrschule“ an dieses Spital wurden sowohl finanzielle als auch verwaltungstechnische Probleme bereinigt. Dies bedeutete jedoch auch, dass der medizinische Unterricht aus einer Institution, die auf einer Stiftung von Universitätsangehörigen beruhte und mit der medizinischen Fakultät in enger Verbindung stand, in eine „staatliche“ Einrichtung verlegt wurde, indem die Stiftung selbst in diese Einrichtung übergeleitet wurde. Dies würde sich durchaus logisch in die „Verstaatlichung“ des Universitäts- und Bildungswesens einfügen. Im Grunde wäre damit auch die allgemeine (begriffliche) Verwirrung um den praktischen Unterricht, den klinischen Unterricht, den „Unterricht am Krankenbett“, oder wie auch immer die Terminologie lauten mag, für Wien gelöst. Wahrscheinlich ging es nicht um das, was hier „getan“ wurde, sondern darum, wie diese Vollzüge verwaltet wurden und in welchen Zuständigkeitsbereich dies fiel – man könnte das Thema also in die bekannte Transformierung der habsburgischen Universitäten zu staatlichen Ausbildungsinstitutionen einreihen. Angesichts von, plakativ ausgedrückt, Barrikaden stürmenden Horden von (Medizin-) Studenten, die die Freiheit von Forschung und Lehre forderten und gegen die staatliche Einflussnahme auf den Wissenschaftsbetrieb ankämpften, ist es geradezu verständlich, dass die „Fortschritte“ eines verstaatlichten Universitäts- und Bildungswesens ab 1848 historiographisch ganz besonders herausgearbeitet werden sollten bzw. wurden. Die praktische Ausbildung ist für die medizinische Tätigkeit immerhin ein sehr wesentlicher Aspekt und bietet sich daher in besonderem Maß als Thema an, um klar zu machen, dass die damit verbundene Qualität der Ausbildung und das sich hierauf gründende hohe Niveau des Wissens erst möglich wurden, als der Staat und sein Bildungsmanager Gérard van Swieten diese Institutionen beiten fortsetzen konnte. 1948 nahm er seine Tätigkeit an der University of Buffalo auf, 1952 Rückkehr nach Wien. 75 Lesky / Wandruszka (Hg.), Gerhard van Swieten und seine Zeit, wie Anm. 15; sowie Lesky (Hg.), Wien und die Weltmedizin, wie Anm. 51. 76 Vgl. dazu Michael Hochedlinger, Verfassungs-, Verwaltungs- und Behördengeschichte der Frühen Neuzeit. Vorbemerkungen zur Begriffs- und Aufgabenbestimmung. In: Id. / Thomas Winkelbauer (Hg.), Herrschaftsverdichtung, Staatsbildung, Bürokratisierung. Verfassungs-, Verwaltungs- und Behördengeschichte der Frühen Neuzeit. Wien 2010, 21–85.

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übernahmen und transformierten. Um dies deutlicher zu machen, musste auch die „Zeit davor“ als dunkles Kapitel einer spekulativen Medizin konstruiert und über Themen wie die praktische Ausbildung am Dreifaltigkeitsspital geschwiegen werden. Insofern ist auch nachvollziehbar, dass es zu dieser Institution und vielen anderen medizin-, bildungs- und sozialpolitischen Themen keine oder kaum Sekundärliteratur gibt bzw. erst in den letzten Jahrzehnten genauer auf einschlägige Narrative und Geschichtskonstruktionen geachtet wird. Andererseits ist dies aber auch nicht nachvollziehbar, denn durch solide historische Arbeit an Quellen hätte dies schon vor geraumer Zeit hinterfragt werden können, sofern man nicht – bewusst oder unbewusst – an Narrativen festhält, die als Reaktion auf gesellschaftspolitische Entwicklungen entstanden sind und die vorderhand für die eigene Meinung zu aktuellen Themen der Gesellschaftsentwicklung und Universitätspolitik Relevanz haben. Die (Medizin-)Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts ist demnach nicht nur als reine „Fortschrittslegitimation“ zu verstehen, sondern sehr wohl auch als bildungs- und universitätspolitische Botschaft an mehr oder weniger aufsässige Mediziner. Die Errungenschaften staatlicher Universitätsmedizin kommen so in krassen Gegensatz zu den Unzulänglichkeiten der vorangegangenen Epochen, und die Konstruktionen eines Helden und einer Schwelle bietet sich an.

VII „Nationalismus“ Erna Lesky widmete sich freilich auch Aspekten, die in den Bereich der Forschungen zu „Osteuropa“ fallen, welche bei Fritz Valjavec und Eduard Winter eine wichtige Rolle spielten. Der Widerhall von deren Arbeiten in der tschechoslowakischen, ungarischen und jugoslawischen Historiographie wird in anderen Beiträgen des vorliegenden Buches dargestellt. 1972 fungierte Lesky neben Strahinja K. Kostić, Josef Matl und Georg Rauch als Herausgeberin eines Tagungsbandes mit dem Titel Die Aufklärung in Ost- und Südosteuropa,77 steuerte jedoch selbst keinen Aufsatz bei. Da das sehr kurz gehaltene Vorwort nicht unterschrieben ist, bleibt Leskys Beitrag nicht nachvollziehbar. Zwei Jahre zuvor hatte sie eine etwa 70 Seiten starke Monographie über Johann Evangelist Purkyně veröffentlicht, in der in erster Linie der Zusammenhang von Purkyněs universitärer Tätigkeit mit seinem Engagement im tschechischen Nationalismus thematisiert wird.78 Hier entwirft sie das Bild eines von Nationalismus geprägten Physiologen, der in Breslau tätig war und dem durch den ebenfalls nationalistisch geprägten und unter dem Einfluss von Bernard Bolzano stehenden Minister Leo Thun-Hohenstein die Rückkehr in sein Heimatland und an die Universität Prag ermöglicht wurde. Beide Wertungen stehen im Gegensatz zu den Studien Eduard Winters, in denen Purkyně und Thun als Paradebeispiele für den böhmischen Landespatriotismus gelten, der die Va-

77 Erna Lesky / Strahinja Kostič / Josef Matl / Georg Rauch (Hg.) Die Aufklärung in Ost- und Südosteuropa. Aufsätze, Vorträge, Dokumentationen. Köln – Wien 1972. 78 Erna Lesky, Purkyněs Weg. Wissenschaft, Bildung und Nation. Wien 1970.

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terlandsliebe mit einer mehrsprachigen, eben nicht ethnonational definierten Identität verband.79 Purkyně wird bei Lesky als alternder Professor dargestellt, dessen Leistungen nicht mehr dem aktuellen Stand entsprachen, wie dies von Carl Rokitansky festgestellt worden war. Dennoch sei man „von Wien aus“ mit Purkyně sehr rücksichtsvoll, geduldig und elegant umgegangen. Die These des Purkyně-Biographen Henry J. John,80 dass man den national gesinnten Purkyně von Wien aus stark eingeschränkt hätte, weist sie mit zahlreichen Quellenbezügen zurück, die im Anhang des Buches auch in einer Transkription wiedergegeben sind.81 Eine aufschlussreiche Quelle ist in diesem Zusammenhang ein äußerst kritisches Feuilleton mit dem Titel Nationale Wissenschaft, das in der Wiener medizinischen Wochenschrift vom 3. Mai 1865 veröffentlicht worden war.82 Hier wird die Tatsache, dass Purkyněs Schüler, der offenbar hoch qualifizierte Physiologe Johann Czermak, nicht als Nachfolger seines Lehrers im Land gehalten werden konnte, sondern einem Ruf nach Jena folgte, mit „czechischem Marasmus“ begründet – einer Kombination aus Nationalismus, damit verbundenem kulturellem Verfall und Beharrungstendenzen eines greisen Ordinarius. Dies ist auch mit dem Hinweis verbunden, dass Czermak fähig gewesen wäre, sowohl in Tschechisch als auch in Deutsch zu unterrichten und er insofern durchaus den sprachlichen Anforderungen einer solchen Stelle gewachsen gewesen wäre.83 Lesky berichtet ebenfalls über diese Thematik und arbeitet auf der Basis eines Briefwechsels von Purkyně und Czermak die sehr persönlichen Aspekte dieses Konfliktes eines Schülers mit seinem Lehrer heraus, der nichts davon wissen will, zurückzutreten und ihn als Nachfolger zu akzeptieren. Auch neuere Studien sehen dieses Thema eher als persönliches Problem eines greisen Wissenschafters mit seinem jüngeren Kollegen und potentiellen Nachfolger, weniger als eines, in dem Nationalismus eine zentrale Rolle spielen würde.84 Vor dem Hintergrund dieses Beispiels wird ansatzweise deutlich, dass gerade die historiographische Generation von Winter und Valjavec einen grundsätzlich „nationalistischen“ Blick auf den Josephinismus – und andere Epochen – (in welche Richtung dieser auch gehen mag) gefördert und 79 Eduard Winter, Johann Evangelist Purkinje 1787–1869. In: Eduard Winter / Günther Jarosch, Wegbereiter der deutsch-slawischen Wechselseitigkeit. Berlin 1983, 235–244. Allgemein kritisch-fundiert zur Verklärungstendenz, die der Rede vom „Landespatriotismus“ v. a. bei deutschböhmischen und österreichischen Historikern mitunter innewohnte: Jiří Rak, Welche Sprache sprechen die Bohemisten? In: Brücken Neue Folge 8 (2000), 59–69. 80 Henry John, Jan Evangelista Purkyně, Czech Scientist and Patriot 1787–1860. Philadelphia 1959. 81 Lesky, Purkyněs Weg, wie Anm. 78, 29–49. 82 P. B. [anonym], Nationale Wissenschaft. In: Wiener medizinische Wochenschrift, Jg. 15, Nr. 35 (1865), 613–617. Ich danke Prof. Ludmila Hlaváčková und Karel Černý vom medizinhistorischen Institut der Universität Prag für diesen Hinweis. 83 Vlg. dazu die ausführliche Darstellung des politisch-nationalen Rahmens bei Tatjana Buklijas, The Politics of Fin-de-Siècle Anatomy. In: Jan Surmann / Mitchell Ash (Hg.), The Nationalization of Scientific Knowledge in the Habsburg Empire, 1848–1918. Basingstoke 2012, 209–244. 84 Vladislav Kruta, Fysiologický ústav J. N. Czermaka v Praze. K historii fysiologie v Praze 1860–1865 [Das physiologische Institut in von J. N. Czermak in Prag. Beiträge zur Geschichte der Physiologie in Prag 1860–1865]. In: Československá fysiologie 22/2 (1973), 93–114. Auch hier danke ich Ludmila Hlaváčková und Karel Černý für den Hinweis und die inhaltliche Erläuterung.

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konsolidiert hatten, was jedoch in neueren Studien als wenig bis nicht relevant erscheint bzw. widerlegt wurde.

VIII PR, Politik und „Damnatio memoriae“ Die bisher behandelten Topoi wurden im Laufe der – hinreichend langen – Wiener Medizingeschichtsschreibung konstruiert, festgeschrieben und weitergegeben. Heute taugen sie in vortrefflicher Weise den Zwecken der Öffentlichkeitsarbeit, und es ist nicht auszuschließen, dass dies von Beginn an der Auftrag der Wiener Medizinhistoriographie war. Erna Lesky bezieht sich in ihren Arbeiten häufig auf Eduard Winter und Fritz Valjavec. Es ist anzunehmen, dass sie deren Vorstellungen von „Josephinismus“ übernommen und ihre Darstellungen darin eingebettet hat. Ähnlichkeiten zeigen sich bei der Betonung einer Art von „Epochengrenze“, die durch das Erscheinen des „großen Mannes“ Gérard van Swieten beinahe exakt zur Mitte des 18. Jahrhunderts definiert wurde und kaum Blicke in die Zeit „davor“ zuließ, nämlich in die Zeit der in den Publikationen häufig als „spekulative“ Heilkunde beschriebenen Medizin. Das weitgehende Schweigen über das Josephinum erinnert an die begrenzten Darstellungen bei Winter und Valjavec. Der „Josephinismus“ im Gesundheits- und Sozialwesen ist in einigen Bereichen immer noch eine terra incognita. Seitens der Medizingeschichte stellt sich die Frage, warum einzelne Themenbereiche aus der Darstellung ausgeklammert wurden, wie etwa die wissenschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung des Josephinums. Indizien deuten auf die vormärzliche damnatio memoriae einer politisch nicht unbedeutenden Institution hin, Ähnliches könnte für die Fixierung auf das „humanitäre“ Motiv des Kaisers bei der Gründung des Allgemeinen Krankenhauses gelten. Immerhin entzieht sich eine solch monumentale Einrichtung dem Vergessen, sie bietet sich dabei aber zugleich auch für einen angepassten Interpretationsrahmen an: Das Allgemeine Krankenhaus wurde schlussendlich in der institutionellen Memoria zu jener Institution, in der die „Wiener Schulen“ verortet waren und ihre Erfolge feierten. Eduard Winter hat in seinen Publikationen über den Josephinismus das Gesundheits- und Sozialwesen im Grunde nicht thematisiert. Umso interessanter erscheint seine theologische Habilitationsschrift Die Gesundheitsfürsorge auf dem Lande als Ausgangs- und Mittelpunkt der ländlichen Wohlfahrtspflege in ihrer pastoralen und sozialen Bedeutung (Prag 1922). In dieser schlägt er als „pastorale Lösung“ der aktuellen, sehr ausführlich dargestellten und präzise analysierten Probleme im Gesundheits- und Sozialwesen der jungen Tschechoslowakei ein System vor, das starke Ähnlichkeit mit jenem aufweist, das im Josephinismus etabliert wurde und noch lange wirksam geblieben war. Die staatlich ausgebildeten und finanzierten Pfarrer hatten hierbei eine wesentliche Funktion, indem sie das System vor Ort organisierten und administrierten. Von „josephinischen“ Pfarrern wurde erwartet, dass sie sich mit ihrer ganzen Person in den Dienst der Gemeinschaft stellten, hierfür wurde im Rahmen ihrer Ausbildung auch medizinisches Basiswissen vermittelt. Winter beschreibt diese Fähigkeit, sich aufopfern zu können, als persönliche Qualität, über die typischerweise besonders Frauen verfügen.

Auftrag und Erfüllung. Erna Lesky und medizinhistorische Narrative im 20. Jahrhundert

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Durch einen gezielten Religionsunterricht sollte das Ideal der tätigen Nächstenliebe bis hin zum Ignorieren persönlicher Bedürfnisse an Mädchen und junge Frauen vermittelt werden. Die diesbezügliche Leidensfähigkeit nimmt Winter besonders bei Frauen wahr, diese sollte auch durch das religiöse Ideal des „Leiden-auf-sich-Nehmens“ zusätzlich mental und spirituell gefördert werden. Auf den Punkt gebracht ging es darum, die Frauen an sich zugeordneten Attribute der Fürsorglichkeit, Selbstlosigkeit und Leidensfähigkeit im Religionsunterricht und in der Ausbildung zur Sozialhelferin oder Krankenschwester gezielt anzusprechen und weiter zu entwickeln. Auch die ehrenamtliche Tätigkeit von Frauen in diesen Bereichen sollte seiner Ansicht nach gefördert werden. Die Ähnlichkeiten zum „josephinischen“ Gesundheitsund Sozialwesen könnten kaum deutlicher sein, nur handelt es sich hier nicht um den Pfarrer, sondern um die Gemeindehelferin. Die Betonung der Bedeutung von Gérard van Swieten schließlich ist in den Publikationen von Erna Lesky eindeutig ein zentraler Punkt. Van Swieten war auch für ihre Vorgänger im Fach eine bedeutende Persönlichkeit, die Konstruktion des „Mythos van Swieten“ geht jedoch auf Lesky zurück und dürfte mit ihrer Rezeption von Eduard Winters Verständnis von „Josephinismus“ in Zusammenhang stehen. Die Ähnlichkeit ihrer Darstellung mit Winters Begriff „die Großen“ aus Wien ist nicht zu übersehen, etwa dann, wenn eine Kapitelüberschrift Der Große aus Wien lautet.85 Valjavec thematisiert wohl die „Kulturbringer“ aus Wien, die ein Gesundheits- und Sozialwesen auch in entlegenen Gebieten aufgebaut hatten, erwähnt jedoch nicht die Rolle der Ärzte, die am Josephinum ausgebildet worden waren. Hier stellt sich nun die Frage nach einer konkreten damnatio memoriae verschiedener Details und Personen sowie nach der gesellschaftlichen Bedeutung einer aus heutiger Sicht typischen Institution des „Josephinismus“, des Josephinums. Dieses Ausblenden ist, wie gezeigt wurde, an hochschulpolitische, aber auch weltanschauliche Verwerfungen im Vormärz rückzubinden. Zudem war, zumindest was die Medizin und die Naturwissenschaften betrifft, in der zweiten Hälfte des 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert eine national ausgerichtete und durchaus auch antisemitische Tradition – unter anderem bei Anton von Rosas und Theodor Billroth – in hohem Ausmaß präsent, was entsprechende historiographische Zugänge und Themenfindungen ebenfalls beeinflusst haben kann. Hinzu kommt, dass sozialgeschichtliche Perspektiven noch keinen Eingang in die Geschichtswissenschaft gefunden hatten. Dies betrifft das Gesundheits- und Sozialwesen, aber auch das Thema Bildung und soziale Mobilität, für die das Josephinum zumindest im 18. und frühen 19. Jahrhundert als beispielhafte Institution zu verstehen ist. Leskys einseitige Bewertung von Andreas Stifft ist hier aufschlussreich: Stifft kam „nur“ aus bürgerlichen Verhältnissen und dass er auch medizinische Bücher verfasst hat, wird in einer Weise vermittelt, die ein solches Unterfangen geradezu als Anmaßung erscheinen lässt; zumal solch ein Mann auch noch sämtliche Ämter vertrat, die Gérard van Swieten einst innegehabt hatte.

85 Lesky, Gerhard van Swieten. Auftrag und Erfüllung, wie Anm. 15, 33.

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IX Epilog Assoziativ drängt sich eine Zusammenschau von Leskys Narrativ und den populären Geschichtskonstruktionen der frühen Zweiten Republik auf, wie sie in Ausstellungen, Themenschwerpunkten, kinematographischen Darstellungen und im Fernsehen greifbar wurden – etwa in der TV-Serie Der Kurier der Kaiserin. Maria Theresia wendet sich an ihren Sonderbeauftragten mit den Worten „Ich habe einen Auftrag für Sie“; dieser erfüllt den Auftrag in den folgenden 30 Minuten auf die ihm eigene draufgängerische Weise. Diese Darstellung, die sich einem breiten Publikum eingeprägt hat, kann als eine Unterstützung des in den 1950er bis 1970er Jahren auch in publikumswirksamen Ausstellungen und über andere Informationsvektoren vermittelten Geschichtsbildes verstanden werden.86 Der von Lesky für ihren Aufsatz im von ihr mitherausgegeben Tagungsband Van Swieten und seine Zeit gewählte Titel – Auftrag und Erfüllung –, auf den sich auch der Titel dieses Beitrages bezieht, erschließt sich vor genau diesem Hintergrund als verklärende Geschichte eines „großen Mannes“ einer nur selektiv zu den Quellen vordringenden Medizinhistorikerin, inszeniert auf einer nicht weiter problematisierten „josephinischen“ Bühne und gleichzeitig als Resultat einer im 19. Jahrhundert wurzelnden Anstrengung der Wiener Medizinhistoriographie, ihre josephinischen Wurzeln zu verbergen.

86 Thomas Wallnig / Johannes Frimmel / Werner Telesko (Hg.), 18th Century Studies in Austria, 1945–2010. Bochum 2011.

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Der Josephinismus und die „Geistesgeschichte“ in Tschechien Da Eduard Winter aus Böhmen stammte, ist die Einstellung der tschechischen Historiographie zu seinem Werk selbstverständlich von zentraler Bedeutung für die allgemeine Rezeptionsgeschichte seiner Auffassung von Josephinismus. Ich halte es allerdings für hilfreich zuerst zu klären, welche Auffassungen des Josephinismus Eduard Winter eigentlich vertreten hat und wie es möglich wurde, dass seine historische Interpretation, die im Kontext der NS-Ideologie entstanden war, später problemlos der marxistisch-leninistischen Historiographie angepasst werden konnte. Die tschechische Fachöffentlichkeit hat über die Verbundenheit Eduard Winters mit dem Nazismus lange Zeit überhaupt nicht diskutiert, wir sind erst durch die bahnbrechenden Arbeiten von Jiří Němec auf diese Tatsache aufmerksam gemacht worden.1 Da ich selbst ein Aufklärungsforscher bin, richtet sich meine Aufmerksamkeit eher auf das Buch selbst als auf den Autor. Während Jiří Němec in seinem Beitrag die biographischen und politischen Kontexte erklärt, fokussiere ich eher auf methodologische Fragen, denn die tschechische Historiographie, und nicht nur diese, steht auch heute vor der Frage, inwieweit Winters Josefinismus für die gegenwärtige Aufklärungsforschung brauchbar ist. Ich selbst habe mit diesem Buch früher eher negative Erfahrungen gemacht. Man findet darin kaum etwas zur Geschichte des Adels, die Darstellung der Ideengeschichte ist sehr lückenhaft, auch die Darstellung der Kirchengeschichte mutet seltsam an. Ich mutmaßte früher, dass Winter absichtlich vieles ausgelassen hätte und dass er dazu eventuell durch die Notwendigkeit, sich der NS-Ideologie anzupassen, gezwungen gewesen sei. Wie wäre dann allerdings die Anpassung dieser Interpretation an die marxistisch-leninistische Ideologie möglich gewesen? Im Folgenden wird also zuerst nach den Zusammenhängen zwischen Winters Interpretation und den beiden Ideologien gefragt. Erst im letzten Abschnitt wenden wir uns der Rezeption seiner Auffassungen in der tschechischen Historiographie nach 1945 zu. Fragen wir uns zuerst: Wessen Geschichte wird eigentlich in Winters Josefinismus erzählt? Es geht nämlich nicht um eine Geschichte der Freiheit, der Kirche oder des Aufgeklärten Absolutismus. Heutzutage tendieren wir klarerweise dazu, dieses Buch als eine Darstellung des Kampfes für liberale Freiheiten zu lesen, im konkreten Fall mit Schwerpunkt auf dem Kampf für religiöse Freiheit gegenüber der Kurie und den Jesuiten. Das gegenwärtige Publikum geht dabei davon aus, dass solche liberalen Freiheiten im modernen Staat gesichert worden sind oder aber jedenfalls davon, dass sie positive Werte darstellen. Jedoch darf nicht vergessen werden, dass dieses Buch zur Zeit der NS-Herrschaft geschrieben wurde, und zwar von einem NSDAP-Mitglied, das an einer offiziellen Forschungsinstitution arbeitete. Solche 1

Vgl. Jiří Němec, Eduard Winter v německém dějepisectví v protektorátu. Biografická studie o kariéře, přizpůsobení a politické podřízenosti historiografie. Diss Brno 2008.

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liberalen Auffassungen waren nicht en vogue in einem Zeitalter, in dem man glaubte, die Ideen der Aufklärung und des Liberalismus seien für alle Übel Deutschlands verantwortlich. „Die Freiheit ist heute politisch diskreditiert“, behauptete der Jurist Ernst Forsthoff in der programmatischen Schrift Der totale Staat.2 Weiterhin mahnte er seine Volksgenossen: „Der individualistische Liberalismus darf in Deutschland nicht mehr das Vorrecht der Publizität genießen.“3 Ist es dann anzunehmen, dass Eduard Winters Buch nur eine von vielen Varianten des Kampfs für liberale Freiheiten im 18. und 19. Jahrhundert darstellt? Oder wenn das nicht zutrifft, was wäre dann das Ziel der in seinem Buch beschriebenen Bewegung? Um diese Frage richtig zu beantworten, müssen wir sein Buch zuerst als ein literarisches Werk beurteilen, um feststellen zu können, was hier eigentlich erzählt wird.

I Die Tragödie des Josephinismus (1943) Was uns Winter in der ersten Fassung seiner Darstellung aus dem Jahre 1943 erzählt, ist eine dreifache Tragödie.4 Winter selbst charakterisiert seine Geschichte an mehreren Stellen als eine solche,5 und er hatte sogar vor, dem Buch den Untertitel Tragödie des Reformkatholizismus zu geben.6 Diese Gattungsbestimmung ist sehr wichtig, weil sie dem Autor ermöglicht, dem Verdacht vorzubeugen, er würde mit den beschriebenen Ideologien übereinstimmen. Denn wenn Aufklärung und Liberalismus als besiegte Ideologien der Vergangenheit beschrieben werden, kann dem Autor nicht vorgeworfen werden, er wolle sie propagieren. Es ist allerdings ebenso möglich, dass er sich für diese Gattung entschieden hat, um Sympathien der Leser für seine tragischen Helden und ihre Sache zu gewinnen. Wenn wir die Stellen betrachten, an denen das Wort gebraucht wird, finden wir, dass es sich mindestens um drei aufeinanderfolgende Tragödien handelt. Zu Anfang schildert Winter das Scheitern einer Kirchenreform unter den besonders günstigen Bedingungen zur Zeit der Reformen Maria Theresias und Kaiser Josephs II. Es folgt der gescheiterte Versuch der Gründung einer deutsch-katholischen Kirche zur Zeit der Romantik und des Idealismus, und den dritten Schritt bildet der abermals gescheiterte Versuch einer Annäherung der katholischen und protestantischen Kirchen auf dem deutschen Volksboden. Als sich Winters Erzählung dem Ende nähert, fehlt es nicht an Ausdrücken der tragischen Wehgefühle der handelnden Personen, die dem Leser sogar ein inneres Erlebnis des tragischen Schicksals vor Augen führen. „Ich fühle mich viel unglücklicher als ich dachte. Ein schneidendes Weh geht mir durch die Seele und Ekel, viel Ekel“, habe Wilhelm Gärtl an Fesl geschrieben.7 2 Ernst Forsthoff, Der totale Staat. Hamburg 1933, 41. 3 Forsthoff, Der totale Staat, wie Anm. 2, 33. 4 Eduard Winter, Der Josefinismus und seine Geschichte. Beiträge zur Geistesgeschichte Österreichs 1740–1848. Brünn 1943. 5 Winter, Josefinismus, wie Anm. 4, 145, 268, 358, 361, 410, 439, 460, 468, 473, 486. 6 Vgl. den Beitrag von Jiří Němec in diesem Band 107, 120. 7 Winter, Josefinismus, wie Anm. 4, 469.

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I.1 Der Kampf der Großen aus Wien Die Geschichte an sich spielt auf zwei Ebenen. Auf der ersten wird der Kampf einer geschlossenen Gruppe der „Großen aus Wien“ für die Durchsetzung der Kirchenreform erzählt. Den seltsamen Ausdruck hat Winter einem Brief von Jordan Simon an den Historiker Michael Ignaz Schmidt entnommen und so interpretiert, als ob es sich um die Bezeichnung für eine spezifische Machtgruppe handeln würde.8 Winter rechnete zu dieser Gruppe Maria Theresias Leibarzt Gérard van Swieten, ihren Beichtvater Ignaz Müller, den Weihbischof Ambros Stock und den Rechtsgelehrten Karl Anton Martini. Zu ihnen stießen später noch der Benediktinerabt Franz Stephan Rautenstrauch aus Břevnov und der Spitzenbeamte Franz Karl Freiherr Kressel von Qualtenberg, der angeblich einer alten böhmischen Adelsfamilie entstammte.9 Die meisten dieser Großen sind bereits in den Siebzehnachtziger Jahren gestorben, die übrigen starben um 1800, aber Winter will uns glaubhaft machen, dass ihr Kampf bis 1848 fortgesetzt wurde. Haben sie denn irgendwelche Schüler oder Nachfolger in der Wiener Regierung gehabt? In Wien sei die Macht von den Vertretern der österreichisch-katholischen Restauration ergriffen worden, die sich während der Fahrt Kaiser Franz I. nach Rom 1819 mit der römisch-katholischen Restauration verbunden haben sollen. Wer hat dann aber die angebliche Verschwörung der „Großen aus Wien“ weitergeführt? Die tragische Auffassung seiner Handlung ermöglichte es Winter eine Erzählung zu präsentieren, in welcher der Kampf der „Wiener Großen“ von Bernard Bolzano wieder aufgenommen wurde, obwohl es sich um einen relativ isolierten Gelehrten handelte, der mit dieser Gruppe nichts zu tun hatte. Dieser tragische Held habe den Kampf bis zum bitteren Ende fortgesetzt. Gegen wen hat diese Gruppe gekämpft? Wer war ein so mächtiger Feind, dass es ihm gelungen war, eine so starke und einflussreiche Partei zu bezwingen? In der Rolle des Feindes tauchen weder die ganze Kirche noch die individuellen Geistlichen auf, sondern die römische Kurie und der Jesuitenorden. Winter betont, dass die Kurie gewonnen hat, weil die Vertreter der deutschen Reform uneinig waren. Dies zeigte sich insbesondere nach dem Tode Kaiser Josephs II., als die Reformer die Rückendeckung des Staates verloren hatten. Diese Uneinigkeit sei für die zweite Tragödie verantwortlich. „Aber sie waren vom Anfang an im Nachteil. Es fehlte ihnen die römische Einheitlichkeit und Überlieferung. Die verschiedenen Richtungen bekämpften sich und standen der geschlossenen römischen Front getrennt gegenüber.“10 Damit gewann Winter Anschluss an zwei wichtige Elemente der zeitgenössischen NS-Ge8

Es hat sich später herausgestellt, dass es sich um einen zeitüblichen Ausdruck für die hohen Schichten, hohen Adel oder die Mächtigen handelte. Er ist aus der Verdeutschung des französischen les Grands entstanden. Vgl. Grete Klingenstein, Staatsverwaltung und kirchliche Autorität im 18. Jahrhundert. Wien 1970, 128f.; Ivo Cerman, Od klineta k občanovi? Kritika Kabal a změna sociální imaginace tereziánských dvořanů, in: Opera historica 10 (2003), 101–120, hier 110. 9 Kressel und Rautenstrauch werden als Nachfolger der Großen in Wien bezeichnet: Winter, Josefinismus, wie Anm. 4, 93. 10 Winter, Josefinismus, wie Anm. 4, 352.

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schichtsschreibung. Zuerst integrierte er diese in Böhmen situierte Geschichte in die tragik-orientierte Auffassung der deutschen Geschichtsschreibung, die die Zeit nach dem Ende des „Ersten Reiches“ als einen langsamen Zerfall des mystischen Ganzen schilderte. Die wichtigsten Elemente dieser larmoyanten Auffassung der deutschen Geschichte finden wir besonders akzentuiert im populärwissenschaftlichen Bereich, etwa in dem völkischen Bilderbuch Deutsches Volk – deutsche Heimat.11 Im Verlauf dieses langen Untergangs habe Deutschland seine Führung, seinen Willen ebenso wie eine Leitungsidee eingebüßt und das Land sei zum europäischen Kriegsschauplatz geworden, wo um fremde Interessen gekämpft wurde, und weite Teile des deutschen Volksbodens seien unter fremde Herrschaft gekommen. Dem deutschen Volk habe es nicht an Lebenskraft, sondern an effektiver und volksnaher Führerschaft gefehlt und daher sei es unfähig gewesen, seine Kraft für die Verteidigung des Volksbodens einzusetzen; das Volk habe nämlich keine Gemeinschaft gebildet. Die tragische Auffassung der deutschen Geschichte zog also nicht in Zweifel, dass das deutsche Volk eine besondere Lebenskraft besitze, sie wollte eigentlich den Glauben an eben diese Lebenskraft bestärken. Der tragische Ton, den Winter geltend machte, war allerdings mit dem Risiko verbunden, dass seine Helden wie schwächliche Versager wirken konnten. Um diesem Verdacht vorzubeugen, gab er seiner Geschichte doch noch einen guten Ausgang, indem er zeigte, dass der Sieg der römischen Kurie nicht vollkommen war. Obgleich die Josephiner politisch geschlagen wurden, sei es ihnen gelungen, die Schulen mit ihren Anhängern zu besetzen und somit die Fortsetzung ihres Kampfes abzusichern.12 Als Fazit wiederholt Winter, dass seine Untersuchung nicht der geschehenen Tragödie, sondern der Hoffnung gegolten habe.13 Zum zweiten gelang es Eduard Winter ebenso an die intellektuell anspruchsvollere Auffassung eines Alfred Rosenberg anzuknüpfen, der in seinem Mythus des 20. Jahrhunderts die römische Kurie zu einem der wichtigsten Feinde Deutschlands erhob.14 Zugleich behauptet 11 Fritz Wächtler, Deutsches Volk – deutsche Heimat. München 1936. 12 Winter, Josefinismus, wie Anm. 4, 483. 13 Winter, Josefinismus, wie Anm. 4, 487. 14 Alfred Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts. München 1934 (11930). Es war vielleicht der Kampf gegen die Zentrumspartei, der Rosenberg veranlasst hat, die katholische Kirche als Zielscheibe zu wählen. In seinem Werk wird die Verbundenheit von katholischer Kirche, Kommunisten und „internationalen Juden“ dargelegt und somit wird die Kirche zu den wesentlichen Feinden des deutschen Volkes gerechnet. Abgesehen davon war freilich die katholische Kirche nur selten die Zielscheibe der nazistischen philosophisch-historischen Werke. Die Rolle des „metaphysischen“ Feindes der Germanen wurde den Juden zugeschrieben, daneben wurde gegen entfremdete Volksgenossen gehetzt, und in den historischen Arbeiten zur neuzeitlichen Geschichte wurde eine übertriebene Bedeutung der Freimaurer konstruiert. Zu Rosenberg vgl. Reinhard Bollmus, Das Amt Rosenberg und seine Gegner. Studien zum Machtkampf im nationalsozialistischen Herrschaftssystem. München 2006, 17–27; Ernst Piper, Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe. München 2007 (bes. Kapitel 5); Armin Pfahl-Traughber / Anton Pelinka / Helmut Reinalter, Der antifaschistisch-antifreimaurische Verschwörungsmythos in der Weimarer Republik und im NS-Staat. Wien 1993; Dominik Burkard, Häresie und Mythus des 20. Jahrhunderts. Rosenbergs nationalsozialistische Weltanschauung vor dem Tribunal der Römischen Inquisition. Paderborn 2005.

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Rosenberg jedoch, das lebenskräftige deutsche Volk habe seinerseits auf diesen Druck reagiert. Aus der Tiefe des deutschen Wesens explodierte Luthers Reformation, die sich wie ein „Charakterprotest der germanisch-deutschen Seele gegen ein fremdes Zwangsglaubenssystem“ verstehen lasse.15 Diesem Vorbild folgend stellte Winter den josephinischen Versuch einer Reform der katholischen Kirche wie einen weiteren „Charakterprotest“ des „germanischen Menschen gegen den römischen Formalismus“ vor.16 Im Fazit am Ende des Buches gliedert Winter den Josephinismus in die Geschichte solcher Kämpfe gegen den päpstlichen Zentralismus ein. Das Streben nach Zentralisierung der absoluten Macht der Kirche sei im Wesen des Papsttums von Anfang an präsent gewesen und jedem, der versucht habe, dieser Tendenz entgegenzuwirken, sei es ähnlich ergangen, dem Augustinereremit Luther im 16., dem Kapuziner Valeriano Magni im 17., Kaiser Joseph II. im 18. Jahrhundert oder wem auch immer sonst.17 Die Auseinandersetzung zwischen dem als Charakterprotest ausgelegten Josephinismus und der zentralisierenden Kraft der Kurie sei demnach als ein unausweichlicher schicksalhafter Zusammenstoß zweier gegenläufiger Tendenzen der europäischen Geistesgeschichte zu verstehen. Mit dieser Auslegung liefert Winter „die letzte metaphysische Begründung“ der Kirchenreformen Kaiser Josephs II., die er im Vorwort zu seinem Buch versprochen hatte.18 Vor diesem Hintergrund scheint Joseph II. bloß ein Werkzeug der verborgenen Kräfte des Schicksals zu sein. Es seien denn auch diese Kräfte, die ihn dazu gezwungen haben, sich der Verpflichtungen gegenüber dem Volk rückzubesinnen und die alte, aus Hausinteressen geschlossene Allianz der Habsburger mit der Kurie zu brechen. Da der Papst und die Bischöfe die notwendige Reform der Kirche nicht zustandebringen konnten, mussten Kaiser und Volk eingreifen.19 Aber ebenso schicksalhaft erscheint dann die Gegenwirkung der Kurie, der Jesuiten und anderer „Kräfte, die in der römischen Kirche die führende Stellung haben“, denn sie haben ebenfalls nicht willkürlich, sondern „nach innenwohnenden Gesetzen“ gehandelt.20 Damit wird der auf der ersten Ebene erzählte „Kampf der Großen aus Wien“ als Ergebnis einer metaphysischen Philosophie der Geschichte interpretiert. I.2 Ideengeschichtliche Entwicklung Auf der zweiten Ebene, die heutzutage von größerem Interesse ist, wird die Ideengeschichte des Josephinismus von Lodovico Antonio Muratori über Karl Heinrich Ritter von Seibt bis Bernard Bolzano verfolgt. Beide Erzählstränge verknüpfen sich also in der Person des letztgenannten, der hier eine zentrale Stellung einnimmt. Da von Winter insinuiert wird, dass der Josephinisimus erst in Bolzanos Philosophie „die beste allgemeine Begründung“ gefunden

15 Alfred Bäumler, Alfred Rosenberg und der Mythus des 20. Jahrhunderts. München 1943, 28. 16 Winter, Josefinismus, wie Anm. 4, 479. Vgl. auch den Beitrag von Jiří Němec in diesem Band. 17 Winter, Josefinismus, wie Anm. 4, 485. 18 Winter, Josefinismus, wie Anm. 4, vii. 19 Winter, Josefinismus, wie Anm. 4, 485. 20 Winter, Josefinismus, wie Anm. 4, 486.

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habe,21 erscheint die ganze vorherige Entwicklung nur als Vorbereitung für den Auftritt dieses deutschböhmischen Denkers, dessen Bedeutung hier indirekt mit Luther parallelisiert wird. Erst er habe die Grundauffassung des Josephinismus von Religion, Offenbarung, Wundern, Sittlichkeit in ein System gebracht, wobei er das Wohl der Gemeinschaft in den Vordergrund gerückt habe.22 Da sich seine Philosophie auch aus der des großen Deutschen Immanuel Kant speiste, wird er zugleich als Angelpunkt zwischen dem böhmischen Josephinismus und der großdeutschen Philosophie dargestellt. Zur Vorgeschichte dieser Entwicklung gehöre der Jansenismus, dessen Bedeutung darin bestanden habe, eine Reform zu erdenken, deren Durchführung nicht die Einheit der Kirche sprengen würde. Die Missstände sollten beseitigt werden, indem man die Verhältnisse der Urkirche wiederherstellte. Das Programm des Reformkatholizismus sei jedoch erst von Lodovico Antonio Muratori formuliert worden, wobei Winters drei Außenseiter des vorangegangenen Jahrhunderts – der Kapuziner Valeriano Magni, der Prämonstratenser Hieronymus Hirnhaim und der Mäzen Franz Anton Sporck – lediglich den Weg bereitet hätten. Damit ist die Herkunft der Zentralideen auf einen Urvater reduziert, wobei erwähnt werden soll, dass der Einfluss der protestantischen deutschen Juristen wie Samuel Pufendorf, Christian Thomasius und Nikolaus Hieronymus Gundling völlig ignoriert wird. Diese Reduktion ist schwer zu erklären, aber sie mag damit zusammenhängen, dass das Naturrecht als Wegbereiter des westlichen Liberalismus aufgefasst wurde.23 Diese reduktionistische Sichtweise führt dazu, dass der Reformkatholizismus als eine italienisch-deutsche Angelegenheit aufgefasst wird. Der Jansenismus sollte bereits in diesen ursprünglichen italienischen Reformkatholizismus als eine Ingredienz eingegangen sein,24 später würde allerdings Gérard van Swieten für ein zusätzliches Quantum desselben direkt aus den Niederlanden sorgen. Nach einem Siegeszug des italienischen Reformkatholizismus durch Deutschland seien die natürlichen Talente beider Völker in der Gestalt von Bolzano harmonisch verbunden. „Die formale Sicherheit des Italieners verband sich in Bernard Bolzano mit der gemütvollen deutschen Tiefsinnigkeit.“25 Winter hat jedoch diese Interpretation keineswegs auf dem Studium der Texte der drei Denker aufgebaut. Die Vorstellung, dass es eine Kontinuität von Muratori bis Joseph II. und von Seibt bis Bolzano gebe, war eher das Resultat einer Darstellungsmethode, die die ideengeschichtliche Entwicklung den Anforderungen der militärischen Metaphorik unterordnete. In Winters Darstellung decken sich die politischen Fronten mit intellektuellen Strömungen und neue bzw. reformatorische Ansichten werden lediglich den Vertretern der josephinischen Bewegung zugeschrieben. Bei den meisten Denkern erfahren wir freilich gar nicht, was sie eigentlich in ihren Büchern geschrieben haben. Lediglich bei Bolzano wird kurz dargestellt, wie sein philosophisches System ausgesehen habe. Bei den anderen wird lediglich festgestellt, 21 Winter, Josefinismus, wie Anm. 4, 277. 22 Winter, Josefinismus, wie Anm. 4, 279. 23 Kurt Hancke, Geistesgeschichte des Liberalismus. In: Id., Beiträge zur Entstehungsgeschichte des europäischen Liberalismus. Berlin 1942, 11–27, insbesondere 24–26. 24 Winter, Josefinismus, wie Anm. 4, 17. 25 Winter, Josefinismus, wie Anm. 4, 276.

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an wen sie angeknüpft haben oder mit wem sie verbunden seien. Jedoch sind solche Beziehungen lediglich durch räumliche Metaphern unterlegt. Der Reformkatholizismus erscheint demzufolge wie ein allanwesendes Fluidum, das sich von Italien aus verbreitet und alle möglichen Denker durchdrungen und auf mystische Weise in Bewegung gesetzt habe. So sei der Jurist Martini „von dem Gedankengut der italienischen Aufklärung, wie sie Muratori vertrat, ganz durchgedrungen“,26 Joseph II. „von diesem Bewusstsein ganz erfüllt“ gewesen27 und Bolzano habe den Sozialeudämonismus „sozusagen in das Blut aufgenommen“.28 Daneben seien einige Denker miteinander „geistig verwandt“.29 I.3 Fehler und Fälschungen Um Kohärenz der Darstellung auf beiden Ebenen zu gewinnen, sah sich Winter veranlasst, einige Fakten wegzulassen und wenige Kleinigkeiten gar zu fälschen. Die gröbsten Eingriffe waren notwendig, um das erwünschte negative Bild der Jesuiten zeichnen zu können. Zum Zweck größerer Konsequenz soll die Darstellung jedoch bei der höchst anzweifelbaren Einschätzung der Rolle des Staates beginnen. Winters Darstellung zufolge fangen die problematischen Eingriffe des Staats in den Bereich der Kirche erst in der Zeit der Franziszeischen Restauration nach 1800 an.30 Um den Anfang dieses Prozesses zu finden, müsste man allerdings eigentlich zu der Instruktion für die böhmische Statthalterei aus dem Jahr 1715 zurückgehen, wo der staatlichen Behörde die Pflicht aufgelegt wird, für die Erhaltung der katholischen Religion in Böhmen zu sorgen.31 Diese Quelle mag Eduard Winter unbekannt gewesen sein, er hat aber wissen müssen, dass die Anklage wegen Bedrohung der Religion gegenüber dem Philosophen Seibt ebenfalls von den staatlichen Behörden, nicht von der Kirche erhoben worden war. Diese Tatsache hätte jedoch seine deutlich gezeichnete Interpretationslinie in Frage gestellt, weshalb bei Seibt die anklagende Partei bloß als „barocke Reaktion“ bezeichnet wird.32 Um dem vorgezeichneten Bild des Kampfes gegen die Jesuiten gerecht zu werden, wird zumindest der Professor der dogmatischen Theologie Augustin Herz, der berufen wurde, um Seibts Vorlesungen als Experte zu beurteilen, als Exjesuit bezeichnet;33 tatsächlich war er 26 Winter, Josefinismus, wie Anm. 4, 37 und 129. 27 Winter, Josefinismus, wie Anm. 4, 126. 28 Winter, Josefinismus, wie Anm. 4, 277. 29 Winter, Josefinismus, wie Anm. 4, 424. 30 Winter, Josefinismus, wie Anm. 4, 374. 31 František Roubík, Místodržitelství v Čechách v letech 1577–1749. In: Sborník archivních prací 12/2 (1967), 539–603, hier 549. – Bereits Pavel Kristián von Koldíns Stadtrechte (1579) verzeichneten Gotteslästerung als eine Straftat, die von der weltlichen Macht zu ahnden ist. Dieses Gesetzbuch hatte zu Anfang des 18. Jahrhunderts noch subsidiäre Geltung, und auch das Theresianische Strafgesetzbuch von 1768 führte Gotteslästerung und Abfall vom katholischen Glauben immer noch unter den Straftatbeständen. 32 Winter, Josefinismus, wie Anm. 4, 103 und 480. 33 Winter, Josefinismus, wie Anm. 4, 104.

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ein Weltpriester.34 Darüber hinaus scheint es, dass Winter die umfangreichen Quellen zum Seibt-Prozess, die er zitiert, nicht gelesen hat.35 Sie belegen nämlich, dass Seibts Philosophie nicht so oberflächlich war, wie seine Veröffentlichungen vermuten lassen. Er beschäftigte sich nämlich vorwiegend mit den Beweisen für die Existenz Gottes und seit 1772 verwendete er dabei als Grundlage Kants Schrift Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes. Das größte Problem für Winters Interpretation besteht auch darin, dass Seibt sich bekannte, seine Vorlesungen auf den Ansichten des französischen Jesuiten Nicolas L’Herminier zu stützen. Dieses Bekenntnis hätte den großdeutschen Philosophen zum Par­ teigänger der Jesuiten gemacht. Winter verschwieg jedoch auch zahlreiche Verdienste, die sich Jesuiten für das Eindringen der neuen Gedanken erworben haben. So wird etwa das Verdienst für die Aufnahme der Philosophie von Christian Wolff den Prämonstratensern zugesprochen, weil Eduard Winter glaubte, in einer Strahover Handschrift aus dem Jahr 1740 die erste Spur der Wolff’schen praktischen Philosophie in Böhmen identifiziert zu haben. Der Philosoph Stanislav Sousedík hat allerdings die Schrift geprüft und festgestellt, dass sie mit der Philosophie Christian Wolffs nichts zu tun hat.36 Heute ist es bekannt, dass die ersten Spuren der Wolff’schen Philosophie in Böhmen eher in den Schriften einiger Jesuiten zu finden sind. Diese Frage ist allerdings kompliziert, da Wolffs Ethik an keiner der Universitäten der Habsburgermonarchie vorbehaltlos aufgenommen wurde.37 Des Weiteren wird in Winters Buch verschwiegen, dass Jesuiten sich an der Olmützer Societas incognitorum beteiligt haben.38 In seiner Darstellung scheint diese Akademie ein Ausdruck der Opposition gegen die jesuitische Universität zu sein. Auch Winters Schilderung der Verhältnisse in den Klöstern ist manipulativ. Er beschreibt 34 Ivana Čornejová, Filozofická fakulta. In: Ead. (Hg.), Dějiny Univerzity Karlovy, 2: 1622–1802. Praha 1996, 99–137, hier 113. 35 Es liegt die Vermutung nahe, dass Winter die Quellen zu Seibt von dem Archivar Jaroslav Prokeš (1895– 1951) erhalten hat. Die Hinweise auf Quellen zur Seibt-Affäre in Winters Buch sind nämlich so, dass sie erst nach vielen Jahren der intensiven Forschung in tschechischen Archiven gefunden werden konnten. Winter arbeitete allerdings eher mit gedruckten Quellen. – Prokeš hatte sich mit der Seibt-Affäre bereits seit den 1920er Jahren befasst, er hatte dazu zwei Aufsätze veröffentlicht und eine große Monographie über die Zensur geplant. Zur Zeit der deutschen Okkupation diente er als Direktor des Archivs des Innenministeriums in Prag (seit 1934) und war für seine freundschaftlichen Kontakte mit den deutschen Historikern bekannt. Nach dem Krieg wurde er wegen seiner Zusammenarbeit mit eben diesen der Kollaboration bezichtigt und angeklagt. Vgl. Josef Kollmann, Případ univ. prof. dr. Jaroslava Prokeše. Chmurná kapitola z dějin Archivu Ministerstva vnitra. In: Paginae historiae 9 (2001) 270–334. 36 Stanislav Sousedík, Filozofie v českých zemích mezi středověkem a osvícenstvím. Praha 1997, 277. 37 Vgl. Ivo Cerman, Ethics and Natural Law: Jesuit Wolffianism in Prague 1750–1773. In: Ivo Cerman / Rita Krueger / Susan Reynolds (Hg.), The Enlightenment in Bohemia. Religion, Morality and Multiculturalism. Oxford 2011, 131–147. 38 Ich stütze mich auf die Entdeckungen von Antonín Kostlán, die er im Vortrag „Olomoucká Societas incognitorum a její členská základna (1746–1751)“ im Rahmen der Tagung „Učené Čechy a Morava“ am 20. November 2014 in Prag vorgestellt hat. (Zum Program: http://cesarch.cz/wp-content/uploads/2014/11/Program-kolokvia_U%C4%8Den%C3%A9-%C4%8Cechy-a-Morava.pdf. [6.4.2015]).

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deren Gebarung, als ob alles auf Kosten der Ordensgemeinschaft gesammelt worden wäre und verschweigt, dass viele Klöster eigene Wirtschaft betrieben.39 Insbesondere bei dem Kloster Goldenkorn sind seine Falschaussagen auffallend, weil der Abt dieses Klosters Gottfried Bylansky sich eifrig bemüht hatte, dem Staate nützlich zu sein.40 Er gründete hier sogar eine Industrieschule und das Kloster entwickelte beeindruckende wirtschaftliche Aktivitäten. Trotzdem wurde es von Joseph II. aufgehoben. In Winters Darstellung wird lediglich betont, dass das Kloster das Reinvermögen von 464.141 Gulden besessen habe.41 Ebenfalls kann es eher als Einzelfall gelten, dass die Mönche in Teplá oder Žďár nad Sázavou selbst um die Aufhebung ihres Klosters gebeten haben. Winter schildert den Fall Teplá als ein typisches Beispiel, um darzulegen, dass sich die „jungen und lebendigen Kreise in den Klöstern“ der Nutzlosigkeit und Sinnlosigkeit der Einrichtung bewusst seien.42 Winter hat absichtlich nur skandalöse Beispiele ausgewählt, während er bei wirtschaftlich erfolgreichen Klöstern nur ihren Reichtum hervorgehoben hat, um den Neid der Leser zu erwecken. Die gröbste Verfälschung der ideengeschichtlichen Entwicklung unternahm Winter, indem er das Natur- und Staatsrecht sowie die Policey-Wissenschaft aus seiner Interpretation aussparte. Diese „säkularen“ Wissenschaften müssen jedoch miteinbezogen werden, wenn das Verhältnis zwischen Staat und Kirche oder die utilitaristische Einstellung des Staats zur Religion verstanden werden soll. Freilich muss dieser Mangel nicht unbedingt mit der Ideologie zusammenhängen, er mag eventuell auch durch die Einseitigkeit von Winters theologischer Ausbildung erklärt werden. Jedenfalls stimmt es nicht, wenn Winter wiederholt, dass der Naturrechtler Karl Anton Martini seine Lehren auf Muratori stützte. Zu Anfang seiner Karriere las Martini aus den Büchern von Samuel Pufendorf vor, und seine eigenen Lehrbücher des Naturrechts stützen sich auf Christian Wolff und dessen mathematische Methode der Deduktionen aus einem obersten sittlichen Prinzip („Natur-Gesetz“).43 Eduard Winter kommt auf das oberste sittliche Prinzip erst bei Bolzano zu sprechen. Er versteht die Ableitung der Moral aus einem solchen obersten Prinzip als eine Errungenschaft der Philosophie Kants, obwohl sie eher mit Wolff und der geometrischen Methode verknüpft wurde. Trotz der reichhaltigen Erörterung und zahlreichen Fakten, die Winter dem Leser vorlegt, machen es solche Lücken und Auslassungen unmöglich, sich ein Bild etwa über die Entwicklung der Moralphilosophie in der österreichischen Aufklärung zu machen. 39 Winter, Der Josefinismus, wie Anm. 4, 149: „Die Klöster waren Zufluchtsstätten von Menschen geworden, die ohne viel Arbeit sehr gut leben wollten.“ 40 Vgl. Martin Gaži, The Enlightenment from Below: the Catholic Regular Clergy in Bohemia and Moravia, In: Ivo Cerman / Rita Krueger / Susan Reynolds (Hg.), The Enlightenment in Bohemia. Religion, Morality and Multiculturalism. Oxford 2011, 193–209; Martin Gaži / Šárka Belšíková / Jarmila Hansová, Opat Bylanský a obrazy zlatokorunské školy. Osvícenství zdola v okrsku světa. České Budějovice 2013, 57–91. 41 Winter, Der Josefinismus, wie Anm. 4, 149. 42 Winter, Der Josefinismus, wie Anm. 4, 156. 43 Vgl. Michael Hebeis, Karl Anton Martini (1726–1800). Leben und Werk. Bern 1996; Ivo Cerman, Lidská práva v rakouském osvícenství. Wolff, Martini, Windischgrätz. In: Český časopis historický 111/2 (2013) 300–333.

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Die Unterschätzung der Rolle von Juden und Freimaurern hat allerdings ganz sicher mit der NS-Ideologie zu tun. Da Joseph von Sonnenfels der Sohn eines jüdischen Konvertiten war, ist ihm in Winters Darstellung keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Bedauerlicherweise wird damit die ganze Policey-Wissenschaft aus der Erörterung ausgelassen und die ideengeschichtliche Entwicklung ihres Sinnes beraubt. Sonnenfels hat bereits in dem Sammelband Sudetendeutsche Lebensbilder aus den Neunzehndreißiger Jahren die Rolle eines negativen Kontrahenten des „Deutschen“ Karl Heinrich Seibt gespielt.44 Er wurde als ein entarteter Vertreter des österreichischen Lokalpatriotismus dargestellt, der Seibt, dem tüchtigen Vertreter des Deutschtums, gegenüberstand. In Winters Josefinismus wird lediglich der zweifelhafte Charakter von Sonnenfels geschildert. Es wird erzählt, dass Sonnenfels sich durch extravagante Charakterzüge und freisinnigen Zynismus auszeichnete, was ihn in den Augen Josephs II. jeder Glaubwürdigkeit beraubte.45 Darüber hinaus enthält das Buch jedoch keine Ausfälle gegen Juden.46 Den Freimaurern wird etwas mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Winter lehnt die These von Sebastian Brunner ab,47 wonach Josephs Reformen von den Freimaurern geprägt worden seien, und betont demgegenüber Josephs ablehnende Einstellung zu dieser Geheimgesellschaft. Er widerlegt ebenfalls die Legende, dass Abt Rautenstrauch ein Freimaurer gewesen wäre.48 Das Engagement der Freimaurer etwa für die Waisenanstalt St. Johannes der Täufer in Prag wird jedoch manipulativ so aufbereitet, dass der Leser nicht auf die Idee kommt, den Freimaurern diesbezügliche Verdienste zuzuerkennen. Winter unterschlägt völlig, dass auch Seibt sich um diese Anstalt gekümmert hat und seine Mitarbeiter Augustin Zippe, Ferdinand Kindermann und Ignaz Cornova ihm darin folgten. Er erwähnt die Anstalt im positiven Sinne im Zusammenhang mit dem Prediger Zippe, einem von Seibts Schülern, wobei er jedoch nicht erwähnt, dass es sich um eine freimaurerische Anstalt handelte.49 Wenn Winter andern­ orts den Anteil der Freimaurer an der Waisenpflege einräumt, schildert er ihre Wohltätigkeit als Teil eines teuflischen Plans, um die gesamte Waisenpflege in Böhmen in die eigenen Hände zu bekommen. Kaiser Joseph habe ihr Spiel allerdings durchschaut.50 I.4 Ziele des Josefinismus: Aufklärung, Liberalismus, Freiheit? Trotzdem ist Winters Josefinismus kein typisches Produkt der NS-Historiographie. Obwohl er sich anstrengte, etwas von der Rhetorik und Deutungsmuster der NS-Ideologie anzueignen,

44 Franz Lorenz, Karl Heinrich Seibt. In: Erich Gierach (Hg.), Sudentendeutsche Lebensbilder, 3. Reichenberg 1934, 243–250. 45 Winter, Josefinismus, wie Anm. 4, 188f. 46 Winter erwähnt im neutralen Sinne nur Vorschriften über jüdische Hochzeiten: Winter, Josefinismus, wie Anm. 4, 169. 47 Winter, Josefinismus, wie Anm. 4, 142. 48 Winter, Josefinismus, wie Anm. 4, 186. 49 Winter, Josefinismus, wie Anm. 4, 195. 50 Winter, Josefinismus, wie Anm. 4, 253–254.

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ist seine Einschätzung der Aufklärung, Liberalismus und des Rationalismus doch deutlich positiver, als es damals üblich war. Dieser Unterschied lässt sich durch seine Verankerung in der Sudetendeutschen Geschichtsschreibung erklären. Die deutsche Erinnerungskultur in Böhmen hatte sich im Wettkampf mit den Tschechen entwickelt und dieser Wettkampf führte dazu, dass in deutschsprachigen liberalen Städten eine Art Kult Kaiser Josephs II. und seiner Reformpolitik gegenüber den Bauern gepflegt wurde, um die Verdienste der deutschsprachigen Herrscher um Böhmen zu zeigen. Die unterschiedliche Erinnerungspolitik der Tschechen und Deutschen zeigte sich sehr deutlich im Ringen um die Denkmäler.51 Während die Tschechen in allen Städten Denkmälern von Jan Hus errichteten, antworteten die Deutschböhmen mit einer Welle von Denkmäler Kaiser Josephs II. Zudem wurde auch die Aufklärung als ein Beitrag der deutschen Kultur ausgelegt, was eben dadurch belegt wurde, dass die meisten Vertreter der böhmischen Aufklärung aus dem Sudentenland oder aus dem deutschsprachigen Prag kamen. Dieses Pantheon, dem auch Sporck, Seibt, Zippe, Cornova, Gelasius Dobner, Adaukt Voigt und viele andere angehörten, wurde in dem von Winter zitierten kollektiven Werk Sudetendeutsche Lebensbilder sichtbar gemacht.52 Der angesprochene Gegensatz spiegelte sich auch in der Entwicklung der Historiographie wider. Für die Deutschen war das 18. Jahrhundert das Zeitalter der Aufklärung, für die Tschechen nur eine Vorbereitung auf die nationale Wiedergeburt. Für sudetendeutsche Historiker wurde es zum Untersuchungsgegenstand der Geistesgeschichte, die ja auf den Deutschen Wilhelm Dilthey zurückging, während im tschechischen Milieu solche Fragen in die Literaturgeschichte verdrängt wurden. Daher ist es nicht überraschend, dass das abschließende Werk der tschechischen Geschichtsschreibung zum Thema der böhmischen Aufklärung von dem Literaturhistoriker Josef Hanuš abgefasst wurde. Das Buch trug den irreführenden Titel Das Nationalmuseum und unsere Wiedergeburt53 und stellt eine Reihe an Fortschrittpersönlichkeiten vor, die denen der ersten Kapitel von Winters Josefinismus ähneln. In diesem Buch wird die intellektuelle Kultur des aufgeklärten Jahrhunderts selten als Aufklärung bezeichnet. Dahingegen vertritt Hanuš die These, dass die Bedeutung der böhmischen Aufklärung in der Vorbereitung der nationalen Wiedergeburt lag. Sein Buch rief eine lebhafte Polemik hervor, weil er die Verdienste des Adels für diesen Prozess würdigte. Geistesgeschichtlichen Untersuchungen wurden im tschechischen Milieu nicht betrieben, denn das erschien als Domäne der Sudetendeutschen. Vor dem Hintergrund dieser Konstellation durfte 51 Zdeněk Hojda, Jiří pokorný, Pomníky a zapomníky. Praha 1996; Daniel Kovář, Příběhy budějovických pomníků. České Budějovice 2000; Zbyněk Černý / Marcel Fišer, Umění v Chebu. Cheb 2013, 33–39. Zusammenfassend: Nancy M. Wingfield, Flag Wars and Stone Saints. How the Bohemian Lands became Czech. Cambridge, Mass. 2007. 52 Erich Gierach (Hg.), Sudetendeutsche Lebensbilder. 3 Bde., Reichenberg 1926–1934. Es ist auch daran zu erinnern, dass der große Historiker des Wiener Hofes zur Zeit Maria Theresias und Josephs II., Adam Wolf, aus Cheb (Eger) stammte; deswegen sind seine biographischen Arbeiten auch der sudetendeutschen Historiographie zuzurechnen. – Ähnliche Ziele verfolgten selbständige Biographien wie: Heinrich Benedikt, Franz Anton Graf Sporck 1662–1738. Wien 1923; Anton Erstberger, Wallenstein als Volkswirt im Herzogtum Friedlant. Reichenberg 1929. 53 Josef Hanuš, Národní museum a naše obrození. 2 Bde., Praha 1921–1923.

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Winter die lang erkämpfte Beute nicht leicht fallen lassen, also: die Aufklärung verurteilen.54 Der Ausgangspunkt der NS-Geschichtsschreibung war jedoch ein ganz anderer Konflikt. Die NS-Ideologie wurde im Kampf gegen die Weimarer Republik als das Spiegelbild des deutschen Liberalismus formuliert, wobei der Marxismus-Leninismus (damals „Bolschewismus“) eher als ein Konkurrent im Kampf gegen den westlichen Liberalismus verstanden wurde.55 Das Hauptaugenmerk der NS-Intellektuellen richtete sich jedoch auf die Aufeinanderbezogenheit von Staat und Gesellschaft und auf frühere diesbezügliche Modelle, wie die Theorie des Gesellschaftsvertrags und die Menschenrechte.56 Während diese Ideen unvereinbar mit der NS-Ideologie waren, gab es bei anderen Ansichten einen relativ großen Spielraum. Dies zeigte sich nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, als die Aufklärungsund Liberalismuskritik zum fixen Bestandteil der Propaganda gegen ausländische Feinde wurde. Die Aufklärung und die Ideen der individuellen Freiheit zeigten sich in ihren düsteren Farben in der Kritik am egoistischen Handelsgeist Englands57 und weniger negativ in der Kritik am russischen Despotismus und der Leibeigenschaft.58 Winter studierte die aktuellen Forschungsarbeiten des Deutschen auslandwissenschaftlichen Instituts in Berlin, um etwas über die geltenden offiziellen Ansichten über Aufklärung und Liberalismus zu erfahren. In den Arbeiten von Kurt Hancke wurde zumindest die deutsche Aufklärung als ein notwendiges Stadium der Geistesgeschichte rehabilitiert.59 Hancke vertrat die Ansicht, dass die deutsche Aufklärung, angeregt durch die metaphysische deutsche Vernunft, die aus der tiefen Volkskraft gespeist wurde, die westliche Aufklärung dialektisch überwunden habe. Während Kant mit seiner Philosophie den leeren westlichen Rationalismus zerstört habe, gingen die irrationalen Mystiker wie Johann Georg Hamann zur positiven Aufgabe über, und ihr Aufstand gegen den Westen sei durch den Idealismus vervollständigt worden. Den Liberalismus verstand Hancke allerdings als eine ewige latente zersetzende Kraft, die in der europäischen Geistesgeschichte seit dem alten Griechenland präsent sei und die sich als Versuche um Ausgliederung aus der Einheit und Ganzheit ausdrücke. Seit der Französischen Revolution sei dieser Liberalismus wieder an die Oberfläche 54 Winter hat sich zu diesen tschechisch-sudetendeutschen Arbeiten mit einigen Literaturhinweisen bekannt. Er verweist am häufigsten auf zahlreiche Werke von Josef Hanuš (Josefinismus, wie Anm. 4, 29, 77) und auf Sudetendeutsche Lebensbilder (ebenda 85, 94). 55 Die Grundzüge dieses ideologischen „Kriegs gegen den Westen“ sind zusammengefasst in: Aurel Kolnai, The War against the West. London 1938; Raphael Gross, Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral. Frankfurt am Main 2010, 237–257. Aus der nazistischen Seite vgl. Kurt Hancke, Deutscher Aufstand gegen den Westen. Eine geistesgeschichtliche Auseinandersetzung. Berlin 1940. 56 Zu dieser Kritik des politischen Erbes der Aufklärung und des Liberalismus vgl. Carl Schmitt, Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles 1923–1939. Hamburg 1938; Id., Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols. Hamburg 1938; Ernst Forsthoff, Der totale Staat, wie Anm. 2; Friedrich Gogarten, Politische Ethik. Versuch einer Grundlegung. Jena 1932, 115–133. 57 Paul Meissner (Hg.), Grundformen der englischen Geistesgeschichte. Stuttgart 1941. 58 Erdmann Hanisch, Geschichte Russlands, 2. o.O. 1943. 59 Kurt Hancke, Deutscher Aufstand, wie Anm. 55; Id., Beiträge, wie Anm. 23.

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durchgedrungen und habe durch die verwirrende Idee der individuellen Freiheit gegen den Staat wieder das Ganze von innen her zerstört. Fritz Valjavec, ein anderer Experte aus dem Berliner Forschungsinstitut, machte sich diese Sichtweise zu eigen und wandte sie auf den Josephinismus an. Demzufolge bestehe ein Unterschied zwischen Aufklärung und Liberalismus, denn der Liberalismus sei ein ewiger metaphysischer Gegensatz zur Volksgemeinschaft und zum totalen Staat, während die Aufklärung zumindest in der deutschen Form akzeptabel und sogar geschichtlich notwendig sei. Valjavec bewertete den Josefinismus positiv, weil er in ihm eine Art Synthese des deutschen Nationalismus mit den Ideen der Aufklärung sah. Er habe der „deutschen Bewegung“ darin geholfen, dass er die Verbreitung des Liberalismus verhinderte.60 Winters Verweise auf diese Werke und seine Kommentare im Josefinismus zeigen, wie fremd ihm solche Ansichten waren, aber sie zeigen zugleich, wie er versuchte, diesen ideologischen Mustern gerecht zu werden.61 Auch sein Verständnis der Aufklärung ist wiederum auf räumliche Metaphern gegründet, ohne dass er irgendwelche textlichen Beweise dafür lieferte. Die Aufklärung sei die geistige Voraussetzung des Josephinismus gewesen.62 Sie wird ebenfalls „wesentlich“ aufgefasst, das heißt, auch sie ist wie ein reales Fluidum zu denken, das sich von dem protestantischen Deutschland aus nach Böhmen verbreitet habe.63 Da die Urquelle dieses mysteriösen Stoffes in Deutschland läge, wäre es selbstverständlich, dass Böhmen am meisten und frühesten von der Aufklärung durchgedrungen wurde. In der Schilderung der zweiten Tragödie bekennt sich Winter jedoch ganz explizit zum Respekt für Rationalität, individuelle Freiheit und andere zersetzende Kräfte. Er verurteilt die Zeit der Romantik und der Restauration als ein neues Zeitalter der Bindungen, nachdem das Individuum bereits befreit gewesen sei.64 Die Aufklärung sei somit durch ein neues Barock überwunden worden. Im Liberalismus des 19. Jahrhunderts sei freilich der Freiheitsgedanke der Aufklärung wieder erneuert worden und der liberale Deutschkatholizismus und der böhmische Nachjosephinismus seien mit dem Liberalismus geistig verwandt.65 Um einem Konflikt mit dem offiziellen NS-Deutungsmuster vorzubeugen, versucht Winter, sein positives Urteil über den Liberalismus mit Hanckes Methode zu rechtfertigen: Unter Verweis auf denselben behauptet er, dass unter diesem Liberalismus nicht die zersetzende Grundkraft verstanden werden sollte, die seit dem Hellenismus in Europa verfolgt werden könne – und in der die Aufklärung nur eine Phase sei –, sondern die konkrete geistig-politische Situation des 19. Jahrhunderts.66 Viel60 Fritz Valjavec, Der Josephinismus als politische und weltanschauliche Strömung. In: Kurt von Raumer / Theodor Schieder (Hg.), Stufen und Wandlungen der deutschen Einheit. Stuttgart – Berlin 1942, 114–132. 61 Zu den Verweisen vgl. Winter, Josefinismus, wie Anm. 4. – Die indirekte Kritik liegt in Winters ironischer Distanz von der „organischen“ Sprache der deutschen Romantik: Winter, Josefinismus, wie Anm. 4, vii, 418, 473, 483. 62 Winter, Josefinismus, wie Anm. 4, 481. 63 Winter, Josefinismus, wie Anm. 4, 14. 64 Winter, Josefinismus, wie Anm. 4, 351 und folgende. 65 Winter, Josefinismus, wie Anm. 4, 418. 66 Winter, Josefinismus, wie Anm. 4, 473f.

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leicht wollte Winter damit andeuten, dass die lokale Variante des böhmischen bzw. deutschen Liberalismus eine positive Ausnahme von der Regel bildete. Trotzdem ist es nicht das Ziel von Winters historischer Darstellung, individuelle Gewissensfreiheit zu empfehlen. In seinen kritischen Äußerungen zur römischen Kurie bedauert Winter lediglich die Tatsache, dass es im westlichen Christentum nicht mehr autonome Kirchen gebe, wie es in der orthodoxen Kirche der Fall sei. Im Westen sei es früher auch so gewesen, die römische Kurie, die ihre eigenen Machtinteressen verfolgt habe, habe die Kirche freilich in eine despotische Institution verwandelt. Diese Ansichten hat Winter aus den eigenwilligen historischen Schriften des Altkatholiken Friedrich Heiler übernommen, der behauptete, das westliche Christentum sei ursprünglich in nationale autonome Kirchen aufgeteilt gewesen, deren Zentralisierung erst nachträglich durch die Machtgier der römischen Bischöfe durchgesetzt worden sei.67 Winter nimmt im Schlusswort des Josefinismus Bezug auf Heilers Theorien. Aus seinen Ausführungen kann geschlossen werden, dass er von der Notwendigkeit der Gründung autonomer nationaler Kirchen überzeugt war. Darüber hinaus wollte er jedoch diese Unabhängigkeit mit einer Reform der Glaubenslehre vereinbaren; nicht nur die Organisation, sondern auch das Leben einzelner Christen solle reformiert werden. In Winters Augen hatte der Josephinismus gerade das angestrebt. Deswegen kritisierte Winter jene Historiker, die den Josephinismus lediglich als Staatskirchentum verstanden haben. Es war das Ziel seiner Untersuchung, diese tieferen theologischen Reformen zu rekonstruieren. Dieses Ziel wurde zwar nicht erreicht, aber Winter hat gute Grundlagen zur zukünftigen Untersuchung dieser Frage gelegt. In den Kapiteln über die Generalseminare versteckte Winter kurze Darstellungen der Glaubensinhalte der josephinischen Theologie,68 die den künftigen Forschern zumindest als Orientierungshilfe dienen konnten. Die Tatsache, dass dieses Untersuchungsfeld für mehrere Jahrzehnte unberührt geblieben ist, hat doch auch deutlich belegt, wie groß die Arbeit war, die Winter geleistet hatte. Obwohl es unstrittig ist, dass Winters Buch immer noch einen großen wissenschaftlichen Wert für jeden Aufklärungsforscher besitzt, ändert es nichts daran, dass es keine Geschichte des Kampfs für eine liberale Gewissensfreiheit ist. Die Freiheit, die hier empfohlen wird, ist lediglich eine Unabhängigkeit von der römischen Kurie, aber nicht die Freiheit des Individuums vom Staate. Die Aufgabe der erwünschten autonomen deutschen Kirche sollte nicht in der Hemmung der staatlichen Macht liegen. Im Unterschied zu den protestantischen Denkern wie Karl Barth und Dietrich Bonhoeffer verlangte Winter nicht, dass die Kirche eine „naturgemäße Grenze jedes, auch des totalen Staates“ bildete.69 Die deutsche Volkskirche, die er verlangte, sollte sich in den totalen Staat eingliedern, um dessen Kraft zu verstärken.

67 Friedrich Heiler, Altkirchliche Autonomie und päpstlicher Zentralismus. München 1941. 68 Winter, Josefinismus, wie Anm. 4, 176–180, 211–213. 69 Karl Dietrich Bracher, Die totalitäre Erfahrung. München – Zürich 1987, 128.

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II Josephinismus als Fortschrittskampf (1968–1971) Es ist nicht uninteressant zu beobachten, wie Winter das bisher nachgezeichnete Deutungsmuster der marxistisch-leninistischen Ideologie anpasste. Nach 1947 trat Winter in den Dienst des kommunistischen Regimes in der DDR, wo er damit begann, seine früheren Untersuchungen im Einklang mit der neuen Ideologie umzuformulieren.70 „Weil ich Humanist bin, bin ich Kommunist“, will er zu diesem Sinnenwandel in einem Brief an Gerhard Oberkofler geschrieben haben.71 Nach einer Karriere an Martin-Luther-Universität in Halle an der Saale und an der Humboldt Universität in Berlin ist er 1955 in die Akademie der Wissenschaften aufgenommen worden und 1965 in den Ruhestand getreten. 1962 ist der Josefinismus neu aufgelegt, verkürzt und leicht umgearbeitet worden.72 Die Tragödie der deutschen Volkskirche ist hier einer Darstellung des Übergangs zum Liberalismus gewichen, aber die vollkommene Uminterpretation des ganzen Themas hat Winter erst mit der großangelegten „Wiener Trilogie“ zur Geistesgeschichte der Habsburgermonarchie erreicht. Winter begann 1968 mit dem Band über den Vormärz, danach folgte das Ende des 19. Jahrhunderts, und erst im dritten Teil kam die Epoche des Josephinismus zur Darstellung. Wenn wir die Bände nach der chronologischen Reihenfolge einordnen, dann steht an der ersten Stelle der Band Barock, Absolutismus und Aufklärung in der Donaumonarchie, in welchem der Josephinismus neu bearbeitet wurde, dann folgt der Band Romantismus, Restauration und Frühliberalismus im österreichischen Vormärz und schließlich der Band Revolution, Neuabsolutismus und Liberalismus in der Donaumonarchie.73 Im neuen Kontext hat sich Winter als Verfechter des Völkerverständnisses vorgestellt, genauso wie es im Untertitel zum ersten Band seiner Erinnerungen steht. 74 Im Mittelpunkt seiner Untersuchung steht nicht mehr die Kirchen-, sondern die Völkergeschichte. Diese Darstellung ähnelt den im Sowjetblock üblichen „marxistisch-leninistischen Interpretationen der Nationalgeschichte“ in dem Sinne, dass es sich um eine marxistisch ausgelegte Geschichte des wissenschaftlich-wirtschaftlichen Fortschritts handelt, die in Einklang mit einer nationalistischen Auffassung der Geschichte gebracht wird. In Winters Trilogie geht es allerdings um parallel erzählte Geschichten der slawischen Völker der Habsburgermonarchie, deren Kampf für Völkerverständnis durch Bartholomäus Kopitar von Wien aus gesteuert wird. Obwohl alle wichtigen Helden der früheren Tragödie hier nochmals auftreten, wird Bolzanos Schlüsselrolle nun von Kopitar übernommen. Was die Gattung angeht, handelt es sich allerdings

70 Diesen Abschnitt seines Lebens beschreibt er in: Eduard Winter, Erinnerungen 1945–1976, hg. von Gerhard Oberkofler. Frankfurt am Main 1994. 71 Winter, Erinnerungen, wie Anm. 70, 6. 72 Eduard Winter, Der Josefinismus. Die Geschichte des österreichischen Reformkatholizismus. Berlin/ Ost 1962. 73 Eduard Winter, Barock, Absolutismus und Aufklärung in der Donaumonarchie. Wien 1971; Id., Romantismus, Restauration und Frühliberalismus im österreichischen Vormärz. Wien 1968; Id., Revolution, Neuabsolutismus und Liberalismus in der Donaumonarchie. Wien 1969. 74 Eduard Winter, Mein Leben im Dienst des Völkerverständnisses. Berlin/Ost 1981.

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nicht mehr um eine Tragödie, vielmehr ist diese Geschichte gemäß dem pflichtmäßigen Fortschrittsoptimismus aufgefasst. Es handelt sich um eine optimistische Geschichte des Siegs der slawischen Völker über die rückständigen Kräfte der Habsburgermonarchie. Dieser Kampf endet mit deren Zerfall 1918. In dieser neuen Auffassung hat zwar eine Art Verschwörungstheorie der „Großen“ immer noch ihren Platz, aber es lässt sich nicht mehr sagen, sie wäre durch eine parallele Reihenfolge der ideengeschichtlichen Entwicklung begleitet. Da den Hintergrund zu diesem Kampf nicht mehr die ausweglose Suche nach richtigen Glaubensinhalten, sondern ein triumphaler Fortschritt der Naturwissenschaften und wirtschaftlichen Theorien bildete, lässt sich diese Darstellung nicht mehr auf zwei Erzählstränge reduzieren. Der Kampf dieser Naturforscher wird eher in das Schema des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus eingebettet. Das bedeutet, dass der Autor sich gezwungen sah, den geistesgeschichtlichen Abschnitten pflichtmäßige Kapitel über „wirtschaftliche Voraussetzungen“ voranzustellen, weil solche Themen mithin zum osteuropäischen marxistisch-leninistischen Deutungsmuster gehören. Trotzdem versäumte er es, die Entwicklung im Überbau aus den Veränderungen in Verhältnissen der Produktionsmittel abzuleiten. Wenn man seine Trilogie vor den Marxisten-Leninisten rechtfertigen wollte, hätte man wohl sagen können, sie untersuche die Vorbereitung des revolutionären Bewusstseins. Winter selbst beging diese nachgerade Vergewaltigung der Geistesgeschichte sehr gerne, wie er in seinen Erinnerungen begeistert darlegt. Er setzte es sich zum Ziel, die Kirchengeschichte vom historischen Materialismus her zu schreiben,75 er hielte es sogar für notwendig, den „proletarische[n] Internationalismus Lenins“ mit „Bolzanos oberste[m] Sittengesetz“ zu verbinden.76 Die marxistischen Kategorien wirken hier allerdings doch ziemlich unpassend, und Winters altmodische Vorstellung von der Abfolge von Barock, Aufklärung und Liberalismus als „Denkstile“ macht die Lage nicht besser. Die Periodisierung folgt eher dem deutschen Nationalökonomen Wilhelm Roscher77 als Karl Marx. Winter gliedert die Entwicklung in selbständige Epochen. Er fängt an mit dem konfessionellen Absolutismus, dann folgt die Epoche des Übergangs zum Aufgeklärten Absolutismus und daraufhin der Aufgeklärte Absolutismus selbst. Weiterhin werden die Epochen nach angeblichen Strömungen des Denkens geteilt, so dass hier Bezeichnungen wie „Frühliberalismus“ oder „Restauration“ auftauchen. Die Trilogie endet mit der Epoche von der Revolution 1848 bis zum Zerfall des Habsburgerreiches. Diese Entwicklung ist jedoch in einen breiteren geographischen Rahmen, als es im Josefinismus der Fall war, gesetzt. Im ersten Band seiner Trilogie unterscheidet Winter böhmische Länder, Ungarn und Österreich als drei Länderkomplexe, und in jeder Epoche folgt er den Entwicklungen in allen drei Kom75 Winter, Erinnerungen, wie Anm. 70, 140. 76 Winter, Erinnerungen, wie Anm. 70, 6. 77 Roscher hat Begriffe wie „konfessioneller“ und „aufgeklärter Absolutismus“ geprägt und als Periodisierungsbegriffe angewandt. Vgl. Wilhelm Roscher, Umrisse zur Naturlehre der drei Staatsformen. In: Allgemeine Zeitschrift für Geschichte 7 (1847), 79–88, 322–365, 436–478; Id., Geschichte der National-Oekonomik in Deutschland. München 1874.

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plexen parallel. Im zweiten Band ist zwar die Erörterung nicht mehr nach Länderkomplexen gegliedert, aber sie bezieht sich immer noch auf die gesamte Habsburgermonarchie. Die Erweiterung des geographischen Rahmens veranlasste Eduard Winter, die ursprüngliche Verschwörungstheorie etwas lockerer zu handhaben. Die Verschwörer werden in dieser Auffassung nicht mehr als die „Großen aus Wien“, sondern als „fortschrittliche Personen“ vorgestellt. Ihr Feind ist auch nicht mehr die römische Kurie, sondern der Feudalismus, der vom hohen Adel und vom hohen Klerus unterstützt werde.78 Dementsprechend hat sich auch die Definition des Josephinismus verschoben. Er bezeichnet nicht mehr eine „geistige Erscheinung“, deren metaphysische Begründung Winter suchte, sondern einen Kampf der sozialen und politischen Kräfte. Er war „der im absolutistischen Staat unternommene Versuch, sich mehr auf Bürger und Bauern zu stützen und den Einfluss des Adels zurückzudrängen“.79 Die Gruppe der „fortschrittlichen Personen“ wird auch wesentlich erweitert. Dazu hat zuerst die Erweiterung des geographischen Rahmens beigetragen, weil Winter die Entstehung dieser Gruppe in Böhmen und Österreich parallel verfolgt. Da nun auch Vertreter der fortschrittlichen Naturwissenschaften und der Kameralwissenschaften dieser Gruppe zugerechnet werden, erscheint das Barocke Vorspiel zum Josephinismus auf 150 Seiten ausgedehnt. In der Rolle der fortschrittlichen Wegbereiter treten nun Valeriano Magni, Prinz Eugen, der Historiker Gottfried Philipp Spannagel sowie Staatskanzler Johann Christoph Bartenstein für Österreich auf, weiterhin sind es Abt Hieronymus Hirnhaim und der Barockmäzen Sporck für Böhmen. Die Rolle des Anführers kommt immer noch Leibarzt Gérard van Swieten zu, hinzu tritt Franz Stephan von Lothringen, an dem Winter das Engagement für die Freimaurer positiv würdigt. Weitere Mitglieder des illustren Kreises sind die Bischöfe Johann Prokop von Schaffgotsch aus Breslau und Johann Joseph von Trautson aus Wien, Domherr Stock, Beichtvater Ignaz Müller und der Jurist Martini.80 Zu diesen seien in einer späteren Phase noch die böhmischen Reformkatholiken Kindermann, Rautenstrauch und Zippe hinzugetreten. Aus nicht nachvollziehbaren Gründen fehlt der Spitzenbeamte Kressel. Obwohl Winter auch weiterhin darauf beharrt, dass der Josephinismus nicht nur als Staatskirchentum verstanden werden darf, bezeichnet er ihn nun selbst als „die österreichische Abart des Staatskirchentums“.81 Wichtiger ist für uns freilich die Frage, in welcher Weise Winter nun mit den einzelnen Disziplinen umging. Er wurde nicht mehr durch die NS-Ideologie beeinflusst und konnte daher einräumen, dass Martini sich mit dem säkularen Naturrecht befasste, und sogar eine kurze Analyse desselben vorlegen.82 Als eine der größten Neuerungen bringt Winter die Entdeckung vor, dass der Josephinismus eigentlich unter der Regierung Kaiser Josephs I. vorbereitet wurde, und daher nach dem falschen Joseph benannt worden sei.83 78 79 80 81 82 83

Winter, Barock, wie Anm. 73, 164, 181, 247. Winter, Romantismus, wie Anm. 73, 19. Winter, Barock, wie Anm. 73, 162f. Winter, Barock, wie Anm. 73, 161. Winter, Barock, wie Anm. 73, 181f. Winter, Barock, wie Anm. 73, 92, 101, 120.

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Obwohl der neue Feind der „fortschrittlichen Personen“ als „Feudalismus“ bezeichnet wird, sind damit im Kern immer noch die Jesuiten gemeint. Die Adligen, die im Josefinismus noch eine positive Rolle gespielt hatten, sind in der Trilogie verschwunden. Der Adel tritt nur als eine anonyme Schicht auf, die den Feudalismus verteidigt. In seiner Trilogie hat Winter jedoch die neue Idee entwickelt, dass das Werk der Jesuiten von den Redemptoristen fortgesetzt wurde, die er als die Jesuiten des 19. Jahrhunderts sieht. Umso erstaunlicher ist es, dass er weder hier noch im Josefinismus auf das Werk des Hl. Alfons de Liguori eingeht. In der Erörterung der ideengeschichtlichen Entwicklung bzw. des „geistigen Profils“ hat Winter nun ein viel breiteres Feld von Disziplinen ins Visier genommen als es im Josefinismus der Fall war. In dieser Hinsicht ist seine Trilogie immer noch unübertroffen. Sie ermöglicht es auch heutigen Forschern, sich ein gutes Bild über die komplizierte Lage der Philosophieund Wissenschaftsgeschichte in der Habsburgermonarchie zu verschaffen. Die Entwicklungstendenzen, Diskussionen und Verhältnisse sind allerdings immer noch nicht „von unten“, also von den Texten her erarbeitet worden. Winter hat sein Untersuchungsfeld zwar als „Geschichte des Denkens“ bezeichnet, aber die Selbständigkeit, Begrenzung und eigene Logik der intellektuellen Debatten der Vergangenheit interessierten ihn kaum. Er ordnet die intellektuelle Entwicklung neuerlich einem vorgefassten Schema unter, das diesmal nicht im Kampf gegen die Kurie besteht, sondern in der Theorie des Übergangs zum Kapitalismus, welche als Orientierungsmaßstab dient. Die Denker sind dann nicht in Parteien, sondern in Strömungen eingeordnet. Die Erörterung macht eigentlich den Eindruck, als hätte Winter die Aufgabe einer „Geschichte des Denkens“ nicht im Studium der Texte, sondern in der Systematisierung solcher angeblichen Strömungen gesehen. Mithilfe der Systematik der Strömungen sieht er die „Geschichte des Denkens“ nun folgendermaßen: Hoch- und Spätbarock verlaufen noch parallel mit dem konfessionellen Absolutismus, aber als sich im Zeitalter der Frühaufklärung der Reformkatholizismus mit dem Absolutismus verbindet, entstehen der Josephinismus und der Aufgeklärte Absolutismus. Der Reformkatholizismus italienischer Herkunft hatte sich bereits mit dem Jansenismus amalgamiert, aber nachdem sich während der Regierung Kaiser Josephs II. gezeigt hat, dass der Aufgeklärte Absolutismus auf einem inneren Widerspruch basiert, wurde der Jansenismus aus diesem Amalgam wieder gelöst. Nach dem Tode Kaiser Josephs II. folgt der Spätjosephinismus und Nachjosephinismus, der sich in den Frühliberalismus verwandelt. Dem Frühliberalismus gegenüber steht eine katholische Restauration, die sich zuerst in eine österreichische und eine römische teilt. Beide Flügel verbinden sich während der Romreise Kaiser Franz I. 1819 – dieses Moment hat Winter sehr ausführlich ausgearbeitet – und in der Folge siegt die einheitliche katholische Restauration. Diese Hauptlinie wird noch durch einer Reihe von Gruppierungen innerhalb der katholischen Kirche aufgefächert, wobei es wichtig ist, dass Winter nun Bolzano und seinen Kreis zu den Frühliberalen rechnet. Die Trilogie hat weiters noch wichtige Korrekturen bezüglich der Rolle der Freimaurer und Juden gebracht. Den Freimaurern wird nun eine zentrale Rolle im Fortschrittsnarrativ zugestanden. Diese anhaltende Überbewertung der Freimaurer ist allerdings immer noch in Relation zur NS-Ideologie zu sehen, die die Freimaurer als wichtigste Unterstützer und Popularisa-

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toren des Liberalismus angesehen hatte;84 Winter hat nur die Vorzeichen verkehrt, und dabei hat ihn wiederum sein Eifer zu einigen Irrtümern verleitet. Zum Beispiel wiederholt er die alte Legende, dass Graf Sporck die erste Loge in Böhmen gründete. Diese Annahme ist jedoch bereits in den 1930er Jahren widerlegt worden.85 Des Weiteren behauptet er, dass Josef Dobrovský auch den Freimaurern angehörte, was ebenfalls ein widerlegter Mythos ist. Erstaunlicherweise sagt Winter allerdings nichts über die wirklichen Anfängen der Freimaurerei, so dass seine Trilogie ein nur sehr fragmentarisches Bild der Geschichte der Freimaurer in der Habsburgermonarchie bietet. Er berührt das Thema erst, als er das Journal für Freimaurer und das Freimaurerpatent von 1785 bespricht, das er, beinahe mit den gleichen Worten wie im Jahre 1943, als Ausdruck des Kampfes Kaiser Josefs II. mit der „Maurerbürokratie“ beschreibt.86 Die soziale Tätigkeit der Freimaurer ist jedoch in der Trilogie mit keinem Wort erwähnt. Was die Eingliederung der Juden in die Trilogie angeht, muss bemerkt werden, dass ihre Geschichte nicht einmal in der sozialistischen Historiographie ein beliebtes Thema darstellte,87 und sie waren auch in keinem der Nachfolgerstaaten in master narratives der Nationalgeschichte eingegliedert worden.88 Vor diesem Hintergrund ist es als sehr positiv einzustufen, dass Winter das Bemühen Kindermanns um einen kulturellen Dialog mit den Juden erwähnt.89 Die Haskalah, die messianischen Strömungen und weitere Probleme der jüdischen Ideen- und Religionsgeschichte sind allerdings unerwähnt geblieben. Dies ist zu bedauern, denn wir wissen, dass der Kreis um Baruch Jeitteles in Prag sowie der Zensor in Hebraicis Karl Fischer dem Kreis der Mitarbeiter von Karl Heinrich Seibt angehörten.90 Dieser Aspekt würde Seibt in ein neues Licht stellen.

III Zur Resonanz von Winters Werken in Tschechien In der sozialistischen Tschechoslowakei haben beide Versionen von Winters Josefinismus kaum Beachtung gefunden. Winter hatte hier tatsächlich zahlreiche Freunde; in dieser 84 Hancke, Geistesgeschichtliche Entwicklung des Liberalsimus, wie Anm. 23, 27; Id., Über das Wesen der Aufklärung. In: Id., Beiträge, wie Anm. 23, 28–65, hier 57; Id., Deismus als Denkform. In: Ebd., hier 76–77. 85 Josef Volf, Kdy byla založena v Čechách první zednářská lóže? In: Český časopis historický 39, 1933, 120–124. 86 Winter, Barock, wie Anm. 73, 191. 87 Zum sozialistischen Antisemitismus und zu den Manipulationen im Hinblick auf die jüdische Geschichte in den sozialistischen Ländern vgl. Lucy Dawidowicz, The Holocaust and the Historians. Cambridge, Mass. 1993, 68–125; Paul Lendvai, Anti-Semitism without Jews. Communist Eastern Europe. New York 1971. 88 Ivo Cerman / Iveta Cermanová, Židé v českých zemích raného novověku. In: Marie Šedivá-Koldinská / Ivo Cerman (Hg.), Základní problémy studia raného novověku. Praha 2013, 335–369. 89 Winter, Barock, wie Anm. 73, 202. 90 Iveta Cermanová / Jindřich Marek, Na rozhraní křeťanského a židovského světa. Příběh hebrejského cenzora a klementinského knihovníka Karla Fischera (1757–1844). Praha 2007.

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Hinsicht sind die Ausführungen in seinen Erinnerungen durchaus zutreffend. Neben den katholisch-gesinnten Historikern wie Zdeněk Kalista, die 1952 im Rahmen des sogenannten Grüne-Internationale Prozess verurteilt wurden, 91 zählten zu seinen Freunden auch kommunistische Historiker, wie Josef Polišenský. Dieser bestätigt in seinen Erinnerungen, dass Eduard Winter zu den versöhnlichen sudetendeutschen Historikern gehörte, den man etwa mit einem Josef Pfitzner nicht vergleichen könne.92 Trotzdem war Winter nach 1945 nicht gerade willkommen, und bei Fahrten von der DDR nach Österreich machte er lieber einen Umweg über die kapitalistische Bundesrepublik. 1958 nahm er an der epochenmachenden Tagung Philosophie in der Geschichte des tschechischen Volkes teil, aber nicht als Vortragender, sondern nur als Diskutant. Da die Diskussionen in dem Tagungsband abgedruckt worden sind, ist dokumentiert, welche Ansichten Winter dabei vertrat.93 Er sorgte etwa für Aufregung, als er sehr polemisch gegen den Vortrag des offiziellen kommunistischen Philosoph Jiří Černý auftrat. Černýs Beitrag war wohl der wichtigste, da er darin eine marxistisch-leninistische Interpretation der tschechischen Aufklärung unternahm.94 Winter tadelte ihn allerdings, da das von ihm gezeichnete Bild der böhmischen Aufklärung zu schwarz sei. Die Anfänge reichten Winter zufolge bereits zu Valeriano Magni und Jan Marek Marci von Kronland zurück. Das wichtigste Element der böhmischen Aufklärung sei „die Teilnahme der breiten Massen des Volkes“ gewesen, die sich bereits in den Bauernaufständen kundgetan hatte. Da diese Aufstände zum Zerfall des Feudalismus am meisten beigetragen hatten, bildeten sie die Grundlagen der böhmischen Aufklärung. Die soziale Basis der Aufklärung habe das tschechische Bürgertum gebildet, das nur vorübergehend germanisiert worden sei. Die Immigration der gesunden Volksmassen aus dem Lande habe dessen tschechischen Charakter wieder gefestigt. Interessant war auch das darauffolgende Referat des Philosophen Jan Patočka, der sich mit der Stellung von Bernard Bolzano in der tschechischen Philosophie auseinandersetzte. Winter ist bereits 1938 in einen Streit mit Patočka geraten, als der damals junge tschechische Dozent dagegen protestierte, dass der deutschsprachige Winter zur Teilnahme an der Generalversammlung der nationalen Kommissionen für geistige Zusammenarbeit in Paris als Delegierter für die Tschechoslowakei entsandt worden war.95 „Mein Dienst an der Völ91 Es handelte sich um einen Prozess gegen katholische Intellektuelle und agrar-konservative Politiker aus der Zeit der ersten Republik. Sie waren angeklagt, eine Verschwörung gegen die Tschechoslowakische Republik geplant zu haben, deren Ziel es war, die volksdemokratische Regierung niederzuwerfen. Vgl. Petr Anev, Procesy s údajnými přisluhovači zelené internacionály. In: Paměť a dějiny 4 (2012), 23–34. 92 Josef Polišenský, Historik v měnícím se světě. Praha 2001, 66. 93 Jiřina Popelová-Otáhalová / Karel Kosík (Hg.), Filosofie v dějinách českého národa. Protokol celostátní konference o dějinách české filosofie v Liblicích ve dnech 14.–17. dubna 1958. Praha 1958. 94 Jiří Černý, K některým problémům osvícenského filosofického myšlení v Čechách. In: Jiřina Popelová-Otáhalová / Karel Kosík (Hg.), Filosofie v dějinách českého národa. Protokol celostátní konference o dějinách české filosofie v Liblicích ve dnech 14.–17. dubna 1958. Praha 1958, 90–110. Zur Zusammenfassung vgl. Ivo Cerman, Osvicenstvi v českých zemích. In: Marie Šedivá-Koldinská / Ivo Cerman (Hg.), Základní problémy studia raného novověku. Praha 2013, 714–768. 95 Winter, Mein Leben, 1, wie Anm. 74, 99f.

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kerverständigung wurde mir nicht leicht gemacht“, bemerkt Winter dazu in seinen Erinnerungen.96 In den 1950er Jahren war Patočka als Forscher im Jan-Amos-Comenius-Institut für Geschichte der Pädagogik angestellt worden, während Winter seine große Karriere in der DDR machte. Kurz vor der Tagung, im Jahre 1957, war Patočka in die Akademie aufgenommen worden97 und nun wagte er es, seinen ehemaligen Konkurrenten indirekt zu kritisieren, indem er Winter Auffassung, der Josephinismus sei das „humanistische Element des Katholizismus“, als irrig ansprach.98 Im Übrigen folgte Patočkas Referat den vorgegebenen ideologischen Linien. Er stellte fest, Bolzanos Ansichten seien den Interessen der „regierende[n] Feudalklasse“ zuwider gewesen. Die Diskussion zu Patočkas Beitrag ist im Tagungsband nicht abgedruckt. Die Auseinandersetzung mit Jiří Černý in Liblice zieht nun die Frage nach sich, ob Winters Josefinismus in die zusammenfassenden Darstellungen und Gesamtinterpretationen der böhmischen Aufklärung aufgenommen wurde. Die Antwort auf diese Frage ist jedoch schwierig, weil die Aufklärung ebenso wie die Kirchengeschichte keine beliebten Themen der neuen marxistisch-leninistischen Historiographie darstellten. In Václav Husas Darstellung der tschechischen Geschichte aus dem Jahr 1949, die als Anleitung zur neuen ideologischen Geschichtsschreibung diente, war das 17. und 18. Jahrhundert auf „Aufstände der Leibeigenen“ (also Klassenkampf ) und auf Gründungen der Manufakturen (also Protoindustrialisierung) reduziert worden.99 Fragen der Wissenschafts- und Philosophiegeschichte wurden nicht behandelt. Wenn die Aufklärung überhaupt angesprochen wurde, dann lediglich als eine „moralische Vorbereitung auf die tschechische nationale Wiedergeburt“, wie es der Bildungsminister Zdeněk Nejedlý im Vorwort zur offiziösen Ausgabe der historischen Romane von Alois Jirásek formulierte.100 Eine Ausnahme von diesem Trend bildet das Werk Das religiöse Denken in der tschechischen Wiedergeburt101 des evangelischen Theologen Jan Milíč Lochman aus der Tschechoslowakischen Evangelischen Kirche. Lochman verschleierte nicht, dass er seine Darstellung als eine Kompilation aus den Büchern von Ernst Cassirer und Eduard Winter sowie aus 96 Winter, Mein Leben, 1, wie Anm. 74, 100. 97 Karel Mácha, Glaube und Vernunft. Die böhmische Philosophie in geschichtlicher Übersicht, Teil IV/2: 1953–1989. Brno 1998, 65. 98 Jan Patočka, Bolzanovo místo v dějinách filosofie. In: Jiřina Popelová-Otáhalová / Karel Kosík (Hg.), Filosofie v dějinách českého národa. Protokol celostátní konference o dějinách české filosofie v Liblicích ve dnech 14. – 17. dubna 1958. Praha 1958, 111–124. 99 Václav Husa, Epochy českých dějin. Praha 1949. 100 Nach der kommunistischen Machtübernahme erklärte der Volkspräsident Klement Gottwald, dass es nötig wäre eine Kampagne für die Verbreitung von historischen Romanen von Alois Jirásek in breiten Schichten der Bevölkerung zu initiieren. Es war vorgesehen, dass alle 32 Bände bis zur 100. Wiederkehr seiner Geburt, 1951, erscheinen sollten. Alle Bände wurden mit einem kurzen Grußwort von Präsident Gottwald versehen und in manchen Bänden gab es ein wissenschaftliches Nachwort von Zdeněk Nejedlý. Die Einschätzung der Aufklärung befindet sich im Nachwort zum Roman Na dvoře vévodském. Praha 1951. 101 Jan Milíč Lochman, Náboženské myšlení českého osvícenství. Praha 1952.

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Jaroslav Vlčeks Geschichte der tschechischen Literatur anlegte. Lochman würdigt Winters Antijesuitismus,102 aber im Übrigen nützt er sein Buch nur als eine Sammlung von Daten und Fakten zu den einzelnen Denkern, die er in den Kapiteln seines Buches vorstellt. Grundsätzlich geht es in Lochmans Darstellung darum, Winters Ausführungen über einzelne Denker mit kurzen Darstellungen der Volksaufstände zu mischen, um den Kampf des tschechischen Volkes für Befreiung vom Feudalismus und für die Toleranz gegenüber den protestantischen Konfessionen zu zeigen. Das Ganze ist in einen aus Cassirers Buch entlehnten europäischen Kontext gesetzt. Im zweiten Teil, Das geistige Vermächtnis der tschechischen Wiedergeburt, der 1958 erschienen ist,103 wird Winter im Kapitel über Bernard Bolzano herangezogen. Lochman übernimmt also die Priorität des Kampfes, aber in seiner Auffassung geht es um den Kampf der tschechischen Akatholiken für die Freiheit, sich zum Protestantismus zu bekennen. Der Sinn der Aufklärung wird in der Vorbereitung der tschechischen Wiedergeburt gesehen. Der erste Versuch, eine offizielle Interpretation der böhmischen Aufklärung zu schreiben, wurde erst in den Siebziger Jahren von dem sowjetischen Historiker Aleksandr Sergeevič Myl‘nikov unternommen. Sein Buch Die Entstehung der Ideologie der nationalen Aufklärung in den Böhmischen Ländern des 18. Jahrhunderts ist in der Tschechoslowakei früher als in der Sowjetunion erschienen.104 Das Buch erinnert an Winter nur insofern, als auch hier Interesse an der Olmützer Societas incognitorum und der tschechisch-russischen Wechselseitigkeit besteht. Mylnikov schreibt Seibt eine wichtige Stellung zu, wobei er ihn in Anlehnung an die Sudetendeutsche Geschichtsschreibung als einen Vertreter der großdeutschen Kultur versteht. Im Unterschied zu Winter interessiert sich Myl‘nikov kaum für innerliche religiöse Streitigkeiten. Er arbeitet streng ideologisch von den wirtschaftlichen Voraussetzungen her sowie vom Kampf der unterdrückten Massen der Landbevölkerung für die Befreiung von der Leibeigenschaft, um die wirtschaftlich-sozialen Grundlagen der Veränderungen im Überbau zu erklären. In der Erörterung der Ideologie der Aufklärung beschäftigt er sich ausschließlich mit dem Prozess der Institutionalisierung der Wissenschaften, und seine Darstellung gipfelt in der Darstellung des Streits zwischen Gelasius Dobner und seinen Kritikern über die Böhmische Chronik von Václav Hájek und über die Frage, ob es den Urvater Čech gegeben hätte. Winter wird hier in der ersten Linie wegen seiner Arbeiten aus der DDR-Zeit zitiert. Nur selten wird auf ein nicht näher bestimmtes Buch über den Josephinismus verwiesen, das hier allerdings wieder nur als Referenz für Fakten dient. Eine sehr ähnliche Stellungnahme hat der tschechische Literaturhistoriker Bedřich Slavík vorgenommen. Er äußerte sich zur Geschichte des Josephinismus in seiner 1975 erschienenen Darstellung Von Dobner bis Dobrovsky.105 Vom Inhalt her lässt sich Slavíks Interpretation als Faktensammlung charakterisieren, in welcher der antijesuitische und antikuriale Aspekt 102 Lochman, Náboženské myšlení, wie Anm. 101, 85. 103 Jan Milíč Lochman, Duchovní odkaz obrození. Praha 1958. 104 Aleksandr Sergeevič Myl‘nikov, Vznik národně osvícenské ideologie v českých zemích 18. století. Praha 1974. 105 Bedřich Slavík, Od Dobnera k Dobrovskému. Praha 1975.

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von Winters Interpretation mit der Geschichte der tschechischen Wiedergeburt verknüpft wird. Trotzdem werden weder Winter noch sein Buch über den Josephinismus besonders gewürdigt.106 Slavík schätzt die Auffassungen von Valjavec höher als alle anderen, da er selbst den Josephinismus-Begriff lediglich als Synonym für josephinische Reformen verwendet. Slavíks Darstellung bietet eine Variation des Themas „Aufklärung als geistige Vorbereitung der tschechischen nationalen Wiedergeburt“. Er gebraucht den Josephinismus-Begriff lediglich, um zu zeigen, dass der Wiener Josephinismus, also die Reformen Kaiser Josephs II., eine Reaktion in den Ländern provozierte, aus der dann nationale Spielarten entstanden seien. Der böhmische Josephinismus soll somit den Boden für die tschechische nationale Wiedergeburt bereitet haben. Wiederum als Faktenreferenz dient der Josephinismus in der groß angelegten Darstellung Die tschechische Aufklärung von Josef Haubelt, die 1987 erschien. Dieses Buch fasste die Ergebnisse einer reichen Publikationstätigkeit des Verfassers zusammen, die bereits in den Sechzigerjahren ihren Anfang genommen hatte. Haubelts Unternehmen war neu in dem Sinne, dass er den Schwerpunkt auf die Naturwissenschaften legte. In der älteren Historiographie, bei Josef Kalousek, Josef Hanuš und sogar bei Eduard Winter war dieser Bereich außer Acht gelassen. In Haubelts Darstellung geht es also wieder um die Auffassung der wissenschaftlichen Revolution nach Engels, die hier auf dem tschechischen Gebiet untersucht und in Einklang mit der eschatologischen Auffassung der tschechischen nationalen Wiedergeburt gebracht wird. Es geht um keine Tragödie, sondern um einen triumphalen Marsch zum Sieg des Tschechischen über das Deutsche und des ehrlichen völkischen Hus-Kults über den heuchlerischen falschen Katholizismus. Bei Haubelt geht es nicht um den Kampf gegen die Kurie, sondern um den Kampf gegen die Religion und für die Durchsetzung des Atheismus. Haubelt hat von Winter die Darstellung der barocken Anfänge übernommen; es wird sogar ein Kapitel der Tragödie von Valeriano Magni und ein anderes dem Werk von Hieronymus Hirnhaim gewidmet. Im Übrigen konstruiert jedoch Haubelt sein eigenes Pantheon der fortschrittlichen Personen, in welchem Naturwissenschaftler wie Prokop Diwisch und Ignaz von Born die Führung übernehmen. Die seiner Auffassung nach größte Gestalt ist der Geologe Ignaz von Born, was Haubelt dazu zwang, die Einschätzung von Karl Heinrich Seibt dramatisch zu verändern. Während dieser Lehrer der Moral und schönen Wissenschaften bei Winter noch eine Schlüsselrolle in der ideengeschichtlichen Entwicklung spielte, wird er bei Haubelt als ein oberflächlicher Schöngeist verurteilt. In keiner dieser Darstellungen ist der Josephinismus als ein selbstständiges Thema präsent. In den Lehrbüchern für die Geschichtsstudenten scheint Josephinismus erst 1982 auf, und zwar im klassischen Lehrbuch Überblick der Geschichte der Tschechoslowakei, das von dem Tschechen Jaroslav Purš und dem Slowaken Miroslav Kropilák herausgegeben worden ist.107

106 In einer längeren Fußnote auf Seite 305 fasst Slavík die Debatte über den Josephinismus zusammen. Hier wird paradoxerweise Josephinismus als Synonym für Katholische Aufklärung gebraucht: Slavík, Od Dobnera, wie Anm. 105, 305. 107 Jaroslav Purš / Miroslav Kropilák, Přehled dějin československa, I/2: 1526–1848. Praha 1982.

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Das Kapitel Josef II. und der Josephinismus108 konstruiert einen eigenen Kreis der „Großen aus Wien“, in den Joseph von Sonnenfels, Gottfried van Swieten, Franz Karl Kressel von Qualtenberg und Friedrich Eger aufgenommen werden. Von den böhmischen Gelehrten werden Franz Stephan Rautenstrauch und Johann Leopld Hay diesem Kreis zugerechnet. Der Josephinismus wird jedoch als eine Ideologie bezeichnet, deren Ziel es war, ein einheitliches österreichisches Volk herauszubilden. Winter wurde freilich dabei eher seiner Arbeiten über Bernard Bolzano wegen rezipiert. Dieser ehemalige Josephiner wurde nämlich vom kommunistischen Regime als Vorkämpfer des Sozialismus aufgebaut. Die tschechische Übersetzung des Büchleins vom besten Staate ist in mehreren Auflagen erschienen, stets mit einem ideologischen Vorwort, in dem Bolzano den Lesern als einer aus dem Kreis der „fortschrittlichen Personen“ vorgestellt wird. Die ideologische erste Auflage aus dem Jahr 1948 ist mit einem Vorwort des offiziellen Ideologen Ludvík Svoboda versehen,109 die Vorworte zu weiteren Auflagen hat der umstrittene katholische Priester Josef Plojhar besorgt.110 Plojhar engagierte sich auch in den weiteren Auflagen von Bolzanos sozialkritischen Schriften, um sich selbst in die Tradition der fortschrittlichen katholischen Denker einreihen zu können. Winter wurde in keinem von diesen Texten erwähnt. Er selbst hat jedoch eine Zusammenarbeit mit dem tschechischen Philologen Jaromír Loužil aufgenommen, mit dem er deutschsprachige Editionen von Bolzanos Manuskripten veranstaltet hat. Loužil verwaltete eine Zeit lang Bolzanos Nachlass im Literarischen Archiv in Strahov. Loužil besorgte auch eine neue tschechische Übersetzung des Büchleins vom besten Staate, die in der Reihe ABC des Marxismus-Leninismus erschienen ist.111 Die wichtigste und beste tschechische Arbeit über Bolzano ist allerdings von Marie Pavlíková aus dem Universitätsarchiv zu Prag geschrieben worden.112 Dieses Werk ist auf Grundlage unbekannter Quellen aus dem Bestand des Böhmischen Guberniums im Staatlichen Zentralarchiv Prag (heute Nationalarchiv) und im Universitätsarchiv geschrieben. In der Einleitung wird auch auf Winters Interpretationen eingegangen. Die Autorin verweist dabei auf Winters Edition der Quellen zum Bolzano-Prozess, die noch in der Reihe Geistesgeschichte der böhmischen Länder 1944 erschienen sind.113 Sie beklagt dabei, dass die Edition Transkriptionsfehler beinhaltet und Winters Interpretation nicht genau und zuverlässig seien.114 Die Autorin hat überdies festgestellt, dass zahlreiche Quellen aus dem Universitätsarchiv zu Ende des Weltkriegs verschwunden sind, was die weiteren Forschungen über Bolzano erheblich erschwert hat. Die genaue Aufzählung der verschollenen Quellen ist sehr wertvoll und verdient auch, von ausländischen Forschern beachtet zu werden. 108 Purš / Kropilák, Přehled, wie Anm. 107, 413f. 109 Ludvík Svoboda, Předmluva. In: Bernard Bolzano, O nejlepším státě. Praha 1948, 11–19. 110 Josef Plojhar, Předmluva. In: Bernard Bolzano, O nejlepším státě. Praha 1951, 3–7. – Zu Plojhars Rolle im kommunistischen Regime vgl. Stanislav Balík / Jiří Hanuš, Katolická církev v Československu 1945–1989. Brno 2007, 20, 127–130. 111 Bernard Bolzano, O nejlepším státě, übers. von Vojtěch Bláha, Nachwort von Jaromír Loužil. Praha 1981. 112 Marie Pavlíková, Bolzanovo působení na pražské univerzitě. Praha 1985. 113 Eduard Winter, Der Bolzanoprozess. Brünn 1944. 114 Pavlíková, Bolzanovo působení, wie Anm. 112, 11.

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Es ist nicht erstaunlich, dass es in der ersten Linie katholisch orientierte Forscher waren, die sich für Winters Forschungen zum Josephinismus interessierten. An der ersten Stelle ist Stanislav Sousedík zu erwähnen. Dieser katholische Philosoph, der zur Zeit der kommunistischen Herrschaft eine persona non grata war, hat Winters Interpretation offensichtlich intensiv studiert. Bereits seine erste Monographie, eine Biographie von Valeriano Magni, ist eigentlich von Winters Werk inspiriert. Im Unterschied zu diesem hat sich Sousedík die Zeit genommen, um die Quellen gründlich zu lesen und zu einem überlegten Urteil zu kommen. Seine Biographie geht von Winters Ansicht aus, dass es zwei unterschiedliche Einstellungen zur Rekatholisierung Böhmens gab; die erste Linie wollte die Bevölkerung mit Gewalt bekehren, die andere wollte die Menschen überzeugen. Natürlich sei die erste Linie von den Jesuiten repräsentiert worden, während die zweite von dem Kapuziner Valeriano Magni vertreten wurde. Sousedík ging dieser Spur nach und erforschte aus den Quellen, welche theologischen Ansichten der unruhige Kapuziner eigentlich vertrat.115 In einer Reihe von Aufsätzen hat sich Sousedík auch mit anderen von Winter erwähnten Denkern auseinandergesetzt. Seine Arbeiten sind in einem schmalen Buch zusammengefasst, das eigentlich eine große Bedeutung für die Ideen- und Religionsgeschichte Böhmens hat. Es ist erst nach der Wende erschienen und sein wenig aussagekräftiger Titel lautet Philosophie in den böhmischen Ländern zwischen Mittelalter und Aufklärung,116 doch handelt es sich um eine grundlegende Arbeit, in der eine quellenkundige Rekonstruktion des philosophischen Denkens geboten wird. Die meisten Gestalten dieser Untersuchung sind eigentlich aus Winters Josefinismus übernommen; im Unterschied zu Winter hat Sousedík die untersuchten Texte aber tatsächlich gelesen. Seine Schlussfolgerungen, etwa im Hinblick auf Barockphilosophie, sind überaus wertvoll. Die Forschungsbemühungen Winters im Bereich der josephinischen Theologie sind allerdings von dem Emigranten František Kopecký aufgenommen worden, der an der Philosophisch-Theologischen Hochschule der Salesianer Don Bosco in Benediktbeuern unterrichtete. Seine Arbeit über die josephinische Moraltheologie ist 1990 erschienen.117 Diese Untersuchung ist der breiteren Öffentlichkeit nicht bekannt, obwohl es sich um eine quellenmäßig begründete Darstellung handelt, in welcher die moraltheologischen Ansichten der josephinischen Schule erstmals rekonstruiert werden. Was Eduard Winter auf knappen drei Seiten überblickt hat, hat Kopecký als erster ausführlich untersucht. Der Autor geht moraltheologischen Fragen des Zeitalters nach und rekonstruiert insbesondere den Streit um das oberste Sittengesetz. 115 Stanislav Sousedík, Valerian Magni. Kapitola z kulturních dějin Čech 17. století. Praha 1983. In der neuen Biographie des Prager Erzbischofs Ernst Adalbert von Harrach hat Alessandro Catalano nicht bestätigt, dass Harrach und Magni eine bewusst friedvolle Rekatholisierung vertreten hätten. Vgl. Alessandro Catalano, Zápas o svědomí. Kardinál Arnošt Vojtěch z Harrachu (1598–1667) a protirerformace v Čechách. Praha 2008. Catalano scheint sich jedoch nicht bewusst zu sein, dass diese These auf Winter zurückgeht. 116 Stanislav Sousedík, Filosofie v českých zemích mezi středověkem a osvícenstvím. Praha 1997. Deutsche Übersetzung: Philosophie der frühen Neuzeit in den böhmischen Ländern Stuttgart-Bad Canstatt 2009. 117 František Kopecký, Moraltheologie im aufgeklärten theresianisch-josephinischen Zeitalter: Sittliche Bildung und Ausgestaltung der Morallehre zum selbständigen systematischen Lehrfach. St. Ottilien 1990.

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Erst nach der Wende, als die ideologischen Beschränkungen aufgehoben wurden, war es möglich, den Fragen der josephinischen Theologie frei nachzugehen. Es hat dennoch lange gedauert, bis erste Arbeiten über dieses Thema erschienen sind, und die meisten von ihnen haben die eingeschränkten Grenzen von Spezialthemen nicht überschritten. Zu erwähnen ist die Arbeit des älteren Theologen Alois Křišťan aus der theologischen Fakultät der Südböhmischen Universität zur josephinischen Pastoraltheologie118. Er hat darin nicht nur das praktische Wirken, sondern auch die theoretischen Prinzipien, wie sie in den Lehrbüchern der Pastoraltheologie aufgestellt sind, untersucht. Weitere Arbeiten kommen von jüngeren Forschern. Josef Táborský hat sich mit dem theologischen Gedankengut von Josef Dobrovský auseinandergesetzt, wobei Winters Josefinismus seine wichtigste Inspiration war.119 Die Arbeit ist ursprünglich als eine Dissertation an der Hussitischen Fakultät der Karls-Universität in Prag entstanden. Zuletzt ist die Dissertation des katholischen Theologen Jaroslav Lorman zu erwähnen, der sich mit der Moraltheologie von Augustin Zippe beschäftigt hat. Seine Ergebnisse sind als Aufsätze in theologischen Zeitschriften erschienen, und ich habe eine aktualisierte Fassung in den englischsprachigen Band The Enlightenment in Bohemia aufgenommen.120 Bedauerlicherweise hat Táborský in weiterer Folge seine Aufmerksamkeit auf das Barock gelenkt und Lorman widmet sich neuerdings der gegenwärtigen Moraltheologie. Zurzeit gibt es in Tschechien keinen Theologen, der sich systematisch mit der josephinischen Theologie beschäftigen würde. Als der neueste Beitrag zur tschechischen Diskussion über den Josephinismus mag die Arbeit des Kirchenhistorikers Rudolf Svoboda über den Budweiser Bischof Prokop von Schaffgotsch gelten.121 Diese Arbeit enthält eine wertvolle vergleichende Darstellung der Typologie der josephinischen Bischöfe.122 Aufgrund dieses Vergleichs wäre es möglich zu fragen, welche neue Merkmale in Bildungsgang, theologischen Interessen und sozialem Umfeld diese josephinischen Bischöfe von ihren Vorgängern unterschieden haben. Die Rekonstruktion von Schaffgotschs Leben und seiner amtlichen Tätigkeit stellt selbstverständlich einen wichtigen Beitrag zu unserer Kenntnis der josephinischen Kirche dar. Svobodas Interpretation von Winters Werk bleibt bedauerlicherweise ohne jegliche kritische Bewertung. Winter habe den Josefinismus, so Svoboda, als einen „Versuch, die barocke Kirche im rationalistischen Geist zu reformieren“ verstanden.123 Die ideologischen Einflüsse auf Winters Deutungsmuster sind also in diesem Buch überhaupt nicht wahrgenommen worden.

118 Alois Křišťan, Počátky pastorální teologie v českých zemích. Praha 2004. 119 Josef Táborský, Reformní katolík Josef Dobrovský. Brno 2007. 120 Jaroslav Lorman, The Concept of Moral Theology of Augustin Zippe, a Moral Theologian at the Turn of the Epoch. In: Ivo Cerman / Rita Krueger / Susan Reynolds (Hg.), The Enlightenment in Bohemia. Religion, Morality and Multiculturalism. Oxford 2011, 209–231. 121 Rudolf Svoboda, Johann Prokop Schafgotsch. Das Leben eines böhmischen Prälaten in der Zeit des Josephinismus. Frankfurt am Main 2015. Es handelt sich um eine erweiterte Übersetzung der tschechischsprachigen Biographie: Jan Prokop Schafgotsche. První biskup českobudějovický. Brno 2009. 122 Svoboda, Schafgotsch (wie Anm. 120), 81–101. 123 Svoboda, Schafgotsch (wie Anm. 120), 55.

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Glücklicherweise floriert hingegen die Forschung zu Klöstern und Klosterleben. Martin Gaži von der Südböhmischen Universität zu Budweis124 und Veronika Čapská von der Universität Opava (Troppau)125 haben diese Fragen in einer Reihe innovativen Arbeiten behandelt und die von Winter erhobenen Vorwürfe widerlegt. Insbesondere Gažis These von der Aufklärung „von unten“ verdient die Aufmerksamkeit der europäischen Forschung.126 Darüber hinaus hat er seine These eben am Beispiel des Klosters Goldenkorn zur Zeit des Abtes Gottfried Bylansky belegt, das Eduard Winter so manipulativ ausgenützt hatte.127 Selbst habe ich neue Untersuchungen zu Karl Heinrich Seibts Moralphilosophie unternommen.128 In dem englischsprachigen Band The Enlightenment in Bohemia, der von der Voltaire Foundation in Oxford herausgegeben worden ist, habe ich versucht, eine quellenkundige Interpretation der wichtigsten Linien der böhmischen Aufklärung vorzulegen.129 Die Untersuchung zu Karl Heinrich Seibt, die unerwartete Ergebnisse gebracht hat, wäre ohne die Quellenhinweise aus Winters Josefinismus nicht möglich gewesen. Obwohl es sich zugleich herausgestellt hat, dass diese Quellenbefunde seinen Thesen widersprechen, haben unsere Forschungen zugleich gezeigt, wie nützlich seine Arbeit immer noch ist. Im Vergleich mit anderen Arbeiten aus den Dreißiger- oder Vierzigerjahren schneidet Winters Josefinismus sehr gut ab. Ebenso haben die misslungenen Versuche der neueren Forschungen, das Bild der josephinischen Theologie zu vervollständigen, doch sehr augenscheinlich gezeigt, wie groß Winters Leistung war. Seine Darstellung ist immer noch unentbehrlich für jeden Forscher zur Aufklärung in der Habsburgermonarchie. Winter hat damals augenscheinlich versucht, seine Darstellung der NS-Deutung anzupassen, aber es verändert nichts an deren Bedeutung. Wir müssen dies nur im Auge behalten, wenn wir sein Buch lesen.

124 Martin Gaži, The Enlightenment from Below, wie Anm. 40. 125 Veronika Čapská / Ellinor Forster / Janine Christine Maegraith (Hg.), Between Revival and Uncertainty. Monastic and Secular Female Communities in Central Europe in the Long Eighteenth Century. Opava 2012. 126 Neuerdings: Gaži, The Enlightenment from Below, wie Anm. 40. 127 Šárka Belšínková / Martin Gaži / Jarmila Hansová (Hg.), Opat Bylanský a obrazy zlatokorunské školy. Osvícenství zdola v okrsku světa. České Budějovice 2013. 128 Ivo Cerman, Secular Moral Philosophy: Karl Heinrich Seibt. In: Ivo Cerman / Susan Reynolds (Hg.), The Enlightenment in Bohemia. Religion, Morality and Multiculturalism. Oxford 2011, 147–168. 129 Ivo Cerman / Rita Krueger / Susan Reynolds (Hg.), The Enlightenment in Bohemia. Religion, Morality and Multiculturalism. Oxford 2011.

Olga Khavanova und András Forgó

Die Rezeption der Werke von Fritz Valjavec und Eduard Winter in den ungarischen Geisteswissenschaften „A német tudomány magas feljettsége senkinek sem szolgálhat háttérül alaptalan leckéztetésekre.“1 Domokos Kosáry

Eduard Winter und Fritz Valjavec sind zwei Autoren, deren Namen in den Werken von ungarischen Historikerinnen und Historikern über die (frühe) Aufklärung, den Aufgeklärten Absolutismus und besonders die Reformen von Joseph II. oft nebeneinander stehen. Die vorliegende Studie untersucht, wie die Theorien des Josephinismus, oder allgemein Werke zur Geschichte des 18. Jahrhunderts von Winter und Valjavec mit einer starken nationalen Tradition der Erforschung dieses Problemkreises koexistierten, inwieweit sich die ungarische Geschichtsschreibung die Theorien beider Autoren aneignete und ob man von einer breiten und tiefen Rezeption ihrer Werke in Ungarn in den Jahrzehnten vor und nach dem Zweiten Weltkrieg und bis zur Wende 1990 sprechen kann.

I Josephs System und die ungarische Verfassung Das josephinische Jahrzehnt in Ungarn wurde in der nationalen Historiographie erst im späten 19. Jahrhundert wissenschaftlich beleuchtet. Ein ausgewogenes Bild des Höhepunkts des Aufgeklärten Absolutismus vermittelten erst die Werke des größten Kenners des Zeitalters, des liberalen Historikers Henrik Marczali (1856–1940). Unter Josephinismus verstand er, der Terminologie der Zeit entsprechend, die Kirchenpolitik Josephs II., stellte sie aber nicht ins Zentrum seiner Analyse und thematisierte in erster Linie, was er selbst „das josephinische System“ nannte. Die Maßnahmen des Kaisers erklärte Marczali nicht mit dem Einfluss der Philosophie der Aufklärung, sondern mit der puren Staatsraison. Dessen ungeachtet stellte der Historiker fest, dass Joseph eine gewisse Sympathie für die vom Heiligen Stuhl verfolgten, aber ihren Idealen treu gebliebenen Jansenisten fühlte und z. B. das öffentliche Vorlesen der alten, gegen die Jansenisten gerichteten Bullen verbot.2 1

„Das hohe Wachstum der deutschen Wissenschaft sollte niemandem dazu dienen, sich dahinter versteckend andere gegenstandslos zu schulmeistern”. Domokos Kosáry, Megjegyzés egy ismertetésre [Bemerkung zu einer Rezension]. In: Századok 74/1–3 (1940), 464. 2 Henrik Marczali, Magyarország története a szatmári békétől a bécsi congressusig (1711–1815) [Geschichte Ungarns vom Sathmárer Frieden bis auf den Wiener Kongress (1711–1815)]. Budapest 1898, 377–402. Vgl. Henrik Marczali, Nagy képes világtörténet [Die große Weltgeschichte in Bildern], 10:

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Marczali konzentrierte sich auf den Konflikt zwischen dem ungekrönten König und der politischen Nation (dem Adel), in dessen Mittelpunkt die Zielsetzung Josephs stand, im Namen der Idee eines gemeinsamen Reichsstaates, die historischen Rechte der Länder zu zerstören. Da in Ungarn die historische Einheit am stärksten von den Ständen verteidigt wurde, traf Joseph dort auf konsequente Ablehnung seiner Reformagenda, die das politische System des Königreichs, die Omnipotenz des Adels und der katholischen Kirche bedrohte.3 Aus dem späten 19. Jahrhundert gesehen, nahm sich der Konflikt wie eine Kollision zwischen Zweck und Mitteln aus. Die progressiven Reformen wurden auf dem Wege der Verletzung der Landesverfassung durchgeführt, der Adel, der seine feudalen Privilegien verteidigte, stellte sich als Vertreter der ganzen Nation dar.4 Es ist kein Zufall, dass die liberale Presse der 1890er Jahre Leopold II. verherrlichte, der alle ungesetzlichen Dekrete seines älteren Bruders (das berühmte Toleranzpatent inklusive) auf dem Landtag5 von 1790/1791 als Gesetze legitimierte. Marczali schrieb sein Buch in einer Zeit, als die ungarische Staatsnation ihre Blütezeit erlebte. Der ungarische Nationalismus dualistischer Prägung fasste nicht-magyarische Natio­ nalitäten des Königreichs unter der kulturellen Suprematie der Magyaren zusammen und garantierte jedem einzelnen Staatsbürger rechtlich-politische Gleichheit, ungeachtet der Muttersprache und Religion.6 Nach 1920, als Ungarn aufgrund des Friedensvertrags von Trianon wesentliche Teile seines Territoriums und seiner Bevölkerung verloren, eine turbulente Periode des roten und weißen Terrors überlebt hatte und sich von feindlichen Nachbarn umzingelt sah, verwandelte sich die ethnisch viel homogener gewordene Bevölkerung des Landes in eine Kulturnation, die ihre Einheit durch die gemeinsame Sprache, materielle Kultur, kolForradalom és Napoleon kora [Das Zeitalter der Revolution und Napoleons]. [Budapest 1904], 53f. 3 Henrik Marczali, Magyarország története II. József korában [Geschichte Ungarns im Zeitalter Josephs II.]. 3 Bde., Budapest 1882–1888. 4 Vgl. Olga Khavanova, Nacija, otečestvo, patriotizm v vengerskoj političeskoj kul’ture : dviženie 1790 goda [Nation, Heimat, Patriotismus in der politischen Kultur Ungarns: die Opposition des Jahres 1790]. Moskva 2000. 5 Es existiert eine beinahe zweihundert Jahre lange Debatte in der Historiographie, ob die ungarische Ständeversammlung (ungarisch „Országgyűlés“, lateinisch „Diaeta“ oder „Comitia Regni Hungariae“) mit dem deutschen Begriff „Landtag“ oder vielmehr mit „Reichstag“ wiedergegeben werden sollte. Die Verfechter des zweiten Terminus argumentieren so, dass die ungarische Ständeversammlung für die Länder der Ungarischen Krone (von 1526 bis 1848 bzw. 1867 ohne das Fürstentum, später Großfürstentum Siebenbürgen) zuständig war, während die österreichischen Landtage nur die Stände einzelner österreichischer Erblande vertraten. Der Begriff „Reichstag“ wird aber in der deutschen Geschichtsschreibung für die Ständeversammlung des Heiligen Römischen Reiches verwendet, weswegen irreführend ist, wenn wir auch ein anderes Gremium mit diesem Terminus bezeichnen. Außerdem bedeutet das ungarische Wort „ország“ im ungarischen Terminus „Országgyűlés“ auf Deutsch „Land“ und nicht „Reich“. Letztlich darf nicht übersehen werden, dass auch die zeitgenössischen deutschsprachigen Quellen die ungarische Ständeversammlung in der Regel „Landtag“ nannten. Vgl. Moritz Csáky, Von der Aufklärung zum Liberalismus. Studien zum Frühliberalismus in Ungarn. Wien 1981, 41, Anm. 8; bzw. zum anderen Standpunkt: Géza Pálffy, The Kingdom of Hungary and the Habsburg Monarchy in the Sixteenth Century. Boulder, Colorado / Budapest 2009, 20. 6 Robert Evans, Der ungarische Nationalismus im internationalen Vergleich. In: Ulrike von Hirschhausen (Hg.), Nationalismen in Europa: West- und Osteuropa im Vergleich. Göttingen 2001, 291–305.

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lektive Erinnerungen, Symbole und Mythen pflegte. Es ist kein Wunder, dass in Ungarn in der Zwischenkriegszeit zwei methodologische Schulen ihren Einfluss geltend machten – die Geistesgeschichte mit ihrem Hauptproponenten Gyula Szekfű (1883–1955) und die Volksgeschichte mit deren Vertreter Elemér Mályusz (1898–1989).7

II Geist und Volk Was die Geistesgeschichte betrifft, entdeckte die jüngere Generation der ungarischen Historiker, vormals Studenten der großen Positivisten (unter anderem auch Marczalis), eine synthetische Forschungsmethode, welche die Vergangenheit nicht als eine Abfolge von Ereignissen, sondern als einen konsequenten Wechsel der großen Epochen (Renaissance, Barock, Aufklärung) mit ihrem immanenten eigenen Zeitgeist betrachtete. Ein Anhänger dieser Strömung, der ungarische Historiker Csaba Csapodi (1910–2004), schrieb in seinem Buch über den Barock: Wir reden nicht von einem abstrakten, außer der Ordnung der Dinge und von dem Menschen frei existierenden Geist, der „sich objektiviert“ und dadurch seinen Einfluss auf einen Menschen einsetzt. Genauso wie die Menschheit eine Einheit der einzelnen Menschen ist, so bilden die gemeinen Züge, die im Bewusstsein der Menschen der Epoche leben, den „Geist der Epoche“. Diese Züge entstehen nicht über Nacht; neue Ideen, eine neue Lebensphilosophie dringen in verschiedene Bereiche der Kultur und Kunst mit verschiedenem Tempo ein, aber im Moment der Verwirklichung bleiben einzelne Teile in vollem Gleichgewicht und erreichen den Höhepunkt in voller stilistischer Übereinstimmung.8

In den Dreißigerjahren verfasste Gyula Szekfű zusammen mit dem Mediävisten Bálint Hóman (1885–1951) die mehrbändige Ungarische Geschichte, in der die Geschichte der Nation in den Kategorien des sich ändernden, eine nationale Spezifik besitzenden, sich aber als Bestandteil Europas verwirklichenden Geistes dargestellt wurde. Der Barock spielte in Szekfűs Bild der nationalen Geschichte eine zentrale Rolle. Als frommer Katholik und skeptischer Beobachter des ethnisch-sprachlichen Nationalismus zählte er das 18. Jahrhundert zu den besonders fruchtbaren und harmonischen Zeiten in der ungarischen Geschichte. Die Barockkultur gab reiche Inspirationen und ließ genug Raum für eine höhere – spirituelle und sinnliche – Form der nationalen Gemeinschaft. Ihre Sprache, das Lateinische, erleichterte die Vermittlung der hohen Kultur, die in ihrem Kern ungarisch, sogar magyarisch war, an die neu eingewanderten sowie im Königreich schon jahrhundertelang lebenden fremden „Ethnien“.9

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Zur Polemik zwischen Mályusz und Szekfű siehe: Vilmos Erős, Historia Regum – Historia Populorum. A Szekfű – Mályusz vita kialakulása [Entstehung der Polemik zwischen Szekfű und Mályusz]. In: Századok 129/3 (1995), 573–596. 8 Csaba Csapodi, A magyar barokk [Das ungarische Barock]. Budapest 1942, 6. 9 Bálint Hóman / Gyula Szekfű, Magyar történet [Ungarische Geschichte], 5. Budapest 31935, 366.

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Laut Szekfű vernichtete die Ausbreitung der europäischen Aufklärung die wundersame Barockwelt und vernichtete letzten Endes die vormoderne ungarische Nation. Den Platz der spirituellen Gemeinsamkeit nahm der Individualismus ein, und die Religiosität wurde durch Teilnahmslosigkeit ersetzt. In diesem Prozess spielte Kaiser Joseph eine widersprüchliche Rolle. Einerseits hatte er den intellektuellen Horizont des Ungarntums erweitert und ihm gezeigt, dass außer der ständischen Welt auch andere, bessere gesellschaftliche Einrichtungen vorstellbar waren.10 Andererseits teilten die „ungarischen Anhänger der Aufklärung nicht nur das Reformprogramm Josephs, sondern auch seinen antiungarischen Inhalt und richteten ihre Bemühungen darauf, die ungarische Kultur im Sinne der neuen Ideen umzubilden“.11 Die schlimmsten Folgen zog laut Szekfű die „amoralische“ Kirchen- und Religionspolitik des Kaisers nach sich. Der Einfluss der Aufklärung auf die Nationsbildung verdient besondere Aufmerksamkeit, denn mehrere ungarische Wissenschaftler waren von der Dialektik der kosmopolitischen Aufklärung und Erweckung der nationalen Gefühle fasziniert. Die Prinzipien der Geistesgeschichte kennend schrieb Gyula Kornis (1885–1958): „Die kosmopolitische Ausstrahlung der europäischen Aufklärung kam von oben, aus den Wiener Kreisen, wandelte sich aber – durch das Prisma der nationalen Seele durchgegangen – in nationales Licht um.“12 Weder der Herrscher noch die Gesellschaft wussten, was sie mit der neuen Wirklichkeit des entstehenden Nationalismus anfangen sollten. Szekfű meinte, dass sich die Aufklärung im Rahmen jedes einzelnen Volkes unweigerlich in eine nationale Kultur umwandelte. Mályusz opponierte: „Der Geist der Aufklärung stand weit weg vom nationalen Gedanken. Dass Joseph seine Zeit nicht überholen konnte, kann man ihm nicht zur Last legen. Ebensowenig wie die Aufklärung sollte er dafür die Verantwortung übernehmen müssen.“13 Andere Autoren der Zwischenkriegszeit gingen weiter und beschuldigten die Aufklärung, für den Zerfall von „Großungarn“ verantwortlich zu sein. Die französische Aufklärung und ihre Nachfolgerin, die Revolution, verkündeten das Zusammenfallen der ethnischen und politischen Grenzen, und dies wurde im ethnisch homogenen und administrativ zentralisierten Frankreich verwirklicht. In Mitteleuropa wurden die Völker im Gegenteil so hektisch gemischt, dass dieses Prinzip überall in der Region verletzt wurde, und das Hauptopfer dieser Verletzung war das multiethnische Königreich Ungarn.14 Die geistigen Wurzeln der Kirchen- und Religionspolitik Josephs II. ortete Szekfű im Einfluss der tief antiklerikalen französischen Aufklärung:

10 Hóman / Szekfű, Magyar történet 6, wie Anm. 9, 9–37. 11 Hóman / Szekfű, Magyar történet 6, wie Anm. 9, 49. 12 Gyula Kornis, A magyar művelődés eszményei, 1777–1848 [Ideale der ungarischen Zivilisation], 1. Budapest 1927, 90. 13 Elemér Mályusz, Magyarország története a felvilágosodás korában [Geschichte Ungarns im Zeitalter der Aufklärung], hg. von István Soós. Budapest 2002, 103. 14 Vgl. Tibor Joó, A magyar nemzeteszme. Budapest 1939, 168.

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Josephs Kirchenpolitik, die unter dem Namen des Josephinismus lange Zeit bis zur Ära Franz Josephs die ungarische sowie österreichische Kirchenpolitik beeinflusst hatte, wurde zum direkten Nachkommen des französischen Gallikanismus und zum Blutsbruder des im Reich wirksamen Febronianismus; mit anderen Worten war der Kaiser einer der agilsten Fürsprecher der rationalistischen Staatsraison, der das geistige Leben der Gläubigen mit derselben Taubheit und Blindheit jeder sinnlichen Regung gegenüber steuern wollte, wie ein Waisen- oder Arbeitshaus.15

Als Anhänger der Volksgeschichte ging Elemér Mályusz von der Prämisse aus, dass die Funktion und Mission der Geisteswissenschaften die Beibehaltung und möglicherweise Festigung der ethnisch-kulturellen Einheit und des nationalen Bewusstseins sei, um die Lebensformen des in mehrere Staaten aufgeteilten Magyarentums zu fördern. Mályusz war kein prinzipieller Gegner der Geistesgeschichte. Im Gegenteil, er erkannte: „Wir dürfen uns mit der einfachen Registrierung der politischen Ereignisse, mit einer mechanistischen Bindung der Ursachen eines Ereignisses an das andere nicht mehr zufrieden geben.“ Aber in der Suche nach der geistigen Bedingungen des sozialen, wirtschaftlichen oder politischen Lebens sollten Historiker die nationale Geschichte nicht (nur) als einen Teil des zivilisatorischen westeuropäischen Prozesses, sondern als „Schöpfung des ungarischen Geistes sehen“.16 Als Lutheraner war Mályusz die Verbindung von Barock und Katholizismus, die Gyula Szekfű begeisterte, völlig gleichgültig.17 In seinem fundierten Buch Das Toleranzpatent betonte er: Die Wurzeln des Josephinismus liegen weder im Gallikanismus, noch in dem alten Patronatsrecht des Herrschers […], sondern in den naturrechtlichen Ansichten des späten 17. Jahrhunderts. Jansenisten übten keinen Einfluss auf Joseph aus. Die Wiener Jansenisten konnten bestenfalls seine Entfremdung von den Jesuiten verschärfen oder ihn in der Meinung bestärken, dass man zur Erlangung von Aufrichtigkeit und Echtheit im katholischen Glauben die Zeremonien und alles, was Ignatius von Loyola so hoch geschätzt hatte, weglassen musste.18

III Aus kirchlicher Sicht Die katholische Kirchengeschichtsschreibung schaltete sich ebenfalls in das Bestreben ein, den Josephinismus zu definieren und zu beurteilen. Einer ihrer bedeutendsten Vertreter, An15 Hóman / Szekfű, Magyar történet 6, wie Anm. 9, 44. 16 Elemér Mályusz, Irányelvek a magyar történelem tanulmányozásánál [Richtlinien zum Studium der ungarischen Geschichte]. In: Id., Klió szolgálatában. Válogatott történelmi tanulmányok. Budapest 2003, 469. 17 Mályusz, Felvilágosodás, wie Anm. 13. 18 Elemér Mályusz, A türelmi rendelet. II. József és a magyar protestantizmus [Das Toleranzpatent. Joseph II. und der ungarische Protestantismus]. Budapest 11939; Máriabesnyő – Gödöllő 22006, 118.

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tal Meszlényi (1894–1984), Professor für Kirchengeschichte an der Universität Budapest, später Domherr, schließlich Propst im Domkapitel der Metropolitankirche Gran/Esztergom, arbeitete in seinem programmatischen Werk Das Zeitalter des Josephinismus in Ungarn (1780– 1846) aus dem Jahr 1934 den katholischen Standpunkt des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts über den Ursprung und das Wesen des Josephinismus aus. Seine Darstellung folgt den Gedankengängen Szekfűs, der, wie im Vorwort zu lesen ist, als Fachlektor für Meszlényis Buch fungierte. Die Entstehung des Josephinismus wird von Meszlényi aus sehr frühen Wurzeln, aus dem Zeitalter der ungarischen Staatsgründung, abgeleitet. Im Mittelpunkt stehen die Beziehungen Ungarns mit dem Heiligen Stuhl. Bei Meszlényi war das Mittelalter das goldene Zeitalter: „In dieser Epoche war das Papsttum jener Baum mit einem üppigen Laub, dessen Schatten von den europäischen Herrschern gerne aufgesucht wurde.“ Die dem Hl. Stephan von Sylvester II. geschickte Krone symbolisierte nach Meszlényi die göttliche Abstammung der königlichen Würde, die keine Unterwerfung, sondern eine Erhebung ins Reich Christi bedeutete und zugleich eine goldene Spange zwischen Ungarn und dem Apostolischen Stuhl verkörperte. Der Humanismus und die Reformation ebneten den Weg für die Konflikte zwischen dem Königreich und dem Heiligen Stuhl. „Nach der Niederlage bei Mohács zerfiel unsere Nation sowohl politisch als auch religiös.“ Meszlényi führt diesen Gedanken nicht aus, doch verbirgt sich hinter den Zeilen die weit verbreitete Auffassung der katholisch gesinnten Geschichtsschreibung: Die Reformation und die osmanische Besetzung waren für den Zerfall des Königreichs Ungarn im 16. Jahrhundert gleichermaßen verantwortlich. Gestützt auf die Forschungen des renommierten Kirchenhistorikers Vilmos Fraknói (1843–1924) zeigt Meszlényi, welch eine große finanzielle Hilfe der Heilige Stuhl für die Türkenkriege zur Verfügung stellte. Nach der Befreiung des Landes von der Osmanenherrschaft lockerten laut Meszlényi auch die Lehren des Gallikanismus das Verhältnis zwischen dem Königreich und Rom, die zwar anfänglich vom Klerus widerlegt, dann aber doch graduell in die königliche Administration eingeführt wurden. Als nächster Schritt steht auch bei Meszlényi der Febronianismus, der vom Wiener Hof für seine eigenen Zwecke verwendet wurde, obwohl er ursprünglich nicht die königliche, sondern die bischöfliche Macht betonte. Die Maßnahmen Maria Theresias „bereiteten schon die Traueranzeige des guten, alten Barockkatholizismus vor“. Meszlényi erklärt die Kluft zwischen der Religiosität der Kaiserin und ihren aufgeklärten Reformen damit, dass „das öffentliche Leben mit den Werken der westlichen Rationalisten infiziert wurde, die jegliche positive Religion und Kirche angriffen“. Auch bei ihm kam der Topos der verdorbenen Räte Maria Theresias vor, als „Anhänger des Lagers westlicher Deisten und Atheisten“. Er definiert den Josephinismus folgendermaßen: Er ist eine von Joseph geschaffene neue Richtung des kirchlichen Lebens nach dem Gallikanismus und Febronianismus, die viele Elemente der zwei erwähnten Richtungen und des Jansenismus übernahm. Meszlényi hebt auch die Wichtigkeit der Ratgeber Josephs hervor, die Anhänger des Jansenismus waren, wie u. a. Karl Anton von Martini, Franz Stephan Rautenstrauch oder Markus Anton Wittola. Von den Bestrebungen Josephs unterstreicht Mesz-

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lényi den Ausbau einer Gesamtmonarchie, die Zurückdrängung des Einflusses des Heiligen Stuhls und die inneren kirchenpolitischen Reformen. Bezüglich des Toleranzpatents erwähnt Meszlényi zwar, dass Joseph hier die Prinzipien des Humanismus und der Gleichheit vor Augen hat, drückt aber gleichzeitig aus, dass das Patent einen weiteren Schritt zur Einschränkung der Rechte der katholischen Kirche darstellte. In seinem Werk beschäftigt sich Meszlényi nur im ersten, einleitenden Kapitel mit der Kirchenpolitik Josephs II. Sein Buch arbeitet eigentlich die ungarische Kirchengeschichte bis zum Tod Gregors XVI. im Jahr 1846 auf. Aber auch diesen Zeitpunkt betrachtete er nicht als das Ende des josephinischen Zeitalters, lediglich aus praktischen Gründen habe er seine diesbezüglichen Forschungen nicht weiterzuführen vermocht: Die Untersuchung der späteren Jahre war damals wegen der Sperrfristauflagen in den Vatikanischen Archiven nicht möglich.19 Meszlényi schloss sich also der auch von Szekfű vertretenen Auffassung von Josephinismus an; zugleich spiegeln seine Ausführungen die Formulierungen der ultramontanen deutschsprachigen katholischen Kirchengeschichtsschreibung, vertreten etwa von Heinrich Brück oder Jacob Marx.20 Dass Brück im Kreis der ungarischen Theologen bekannt war, zeigt die Veröffentlichung zweier seiner Werke in ungarischer Übersetzung.21 Seit Meszlényi betrachtete die katholische Kirchengeschichtsschreibung auch die Jahrzehnte nach dem Tod Josephs II. als einen Bestandteil des josephinischen (später postjosephinischen) Zeitalters.22 Wie Meszlényi, so rechneten auch die späteren katholischen Kirchenhistoriker den Josephinismus zu den negativen Faktoren in der Geschichte der katholischen Kirche, denn die Unterordnung des Klerus unter den absolutistischen Staat entkräftete nach ihrer Auffassung die geistige Stärke des Glaubens.23 Ein weiteres wichtiges Merkmal dieser Schule war, dass sie den Josephinismus als eine Strömung betrachtete, welche die katholische Kirche ausschließ19 Antal Meszlényi, A jozefinizmus kora Magyarországon (1780–1846) [Das Zeitalter des Josephinismus in Ungarn]. Budapest 1934, 4–30. 20 Peter Walter, „Weil nicht sein kann, was nicht sein darf.“ Zum schweren Stand der katholischen Aufklärung. In: Hubert Wolf (Hg.), Inquisition und Buchzensur im Zeitalter der Aufklärung. Paderborn 2011, 89–110. 21 Henrik [sic] Brück, Egyháztörténelem. Akadémiai felolvasásokra és magán használatra Budapest 1876 [Originalausgabe: Heinrich Brück, Lehrbuch der Kirchengeschichte. Für akademische Vorlesungen und zum Selbststudium. Mainz 1874]; Id., A keresztény történelem kézikönyve [Handbuch der christlichen Kirchengeschichte]. Budapest 1877. Bei dem letzten Werk konnte das Original nicht ausfindig gemacht werden, laut der ungarischen Ausgabe wurde das Vorwort zur deutschen Erstauflage in Mainz am 15. Juli 1872 verfasst. 22 Siehe die wichtigsten Kompendien wie: Egyed Hermann, A katolikus egyház története Magyarországon 1914-ig [Geschichte der katholischen Kirche in Ungarn bis 1914]. München 1973, 374-455; Konrád Szántó, A katolikus egyház története [Geschichte der katholischen Kirche], 2. Budapest 1985, 398408; Jenő Gergely / József Kardos / Ferenc Rottler, Az egyházak Magyarországon. Szent Istvántól napjainkig [Die Kirchen in Ungarn. Vom Hl. Stephan bis heute]. Budapest 1997, 114–130; Gabriel Adriányi, Geschichte der Katholischen Kirche in Ungarn. Köln – Weimar – Wien 2004, 162–174. 23 László Tóth, A vallásos szellem [Der religiöse Geist]. In: Magyar művelődéstörténet, 5: Az új Magyarország. [Budapest 1942], 283–306.

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lich von außen her bedrohte. Auf die inneren Reformkräfte wurde sehr wenig geachtet. Der ungarische Kirchenhistoriker Gabriel Adriányi (geb. 1935), der seit 1961 in der Bundesrepublik Deutschland wirkte, formuliert: „Der ungarische Klerus, der hohe wie der niedere, blieb aber vorerst von den Irrtümern der Zeit, vom Geiste des Episkopalismus (‚Febronianismus‘) und vom Jansenismus im großen und ganzen verschont. So traf ihn die neue Kirchenpolitik Josephs II. (1780–1790), das aufgeklärte österreichische Staatskirchentum, ‚Josephinismus‘ genannt, völlig unvorbereitet.“24 Abgesehen von einigen früheren Beiträgen25 versucht erst die kirchenhistorisch ausgerichtete Forschung der letzten Jahre gezielt auch auf die inneren Beweggründe der Reformen Rücksicht zu nehmen und die Unterstützer der josephinischen Politik im Kreis des Klerus sowie überhaupt die Motoren der Reformgedanken zu identifizieren.26 Die protestantische Kirchengeschichtsschreibung konzentrierte sich hingegen hauptsächlich auf das Toleranzpatent und begnügte sich in der Regel mit einer kurzen Aufzählung der anderen wesentlichen Verordnungen Josephs II.27 Nur wenige gingen wie Mályusz so weit, die josephinische Kirchenpolitik zu verteidigen. Er versuchte nämlich mithilfe der Lehren Samuel Pufendorfs in seinem bereits erwähnten Standardwerk über das Toleranzpatent zu beweisen, dass sich Josephs Kirchenpolitik auf die protestantische Naturrechtslehre stützte und seine Maßnahmen eigentlich nicht die Schwächung der Kirche, sondern des Klerus zum Ziel gehabt hätten. Laut Mályusz konnten die Angriffe Josephs gegen die katholische Hierarchie letzten Endes auf die Lehren Luthers und seine Auffassung von der Rolle der weltlichen Macht in der Verwaltung des Kirchenregiments zurückgeführt werden.28 Es ist ebenfalls nicht verwunderlich, dass diese Schule, an deren Spitze in Ungarn Mályusz stand, auch der Politik Josephs und im Allgemeinen der Aufklärung gegenüber erheblich mehr Verständnis zeigte, als Meszlényi und die anderen katholischen Historiker. Mályusz betonte sogar in seinem programmatischen Werk Geschichte Ungarns im Zeitalter der Aufklärung, gestützt auf die Ausführungen Ernst Troeltschs,29 die Rolle des Protestantismus in der Genese der Aufklärung. 24 Gabriel Adriányi, Beiträge zur Kirchengeschichte Ungarns. München 1986, 18. 25 Wie z. B. László Kádár, Eszterházy Károly racionalizmusa [Der Rationalismus Karl Eszterházys]. In: Vigilia 64 (1999), 443–452; sowie die Ergebnisse der literaturhistorischen Forschung, die später noch behandelt wird. 26 Siehe u. a. Dániel Bárth, Katolikus felvilágosodás és népi kultúra a 18. századi Magyarországon [Katholische Aufklärung und Volkskultur im Ungarn des 18. Jahrhunderts]. In: István Hermann (Hg.), Padányi Biró Márton veszprémi püspök emlékezete. Veszprém 2014, 39–58; András Forgó, Katolikus felvilágosodás és politikai reformmozgalom. Szerzetesek a megújulás szolgálatában [Katholische Aufklärung und politische Reformbewegung. Ordensmänner im Dienst der Erneuerung]. In: István M. Szijártó / Zoltán Gábor Szűcs (Hg.), Politikai elit és politikai kultúra a 18. század végi Magyarországon. Budapest 2012, 120–146; Zoltán Lukácsi, Szószék és világosság. A magyar katolikus prédikáció a felvilágosodás korában [Kanzel und Helligkeit. Die ungarische katholische Predigt im Zeitalter der Aufklärung]. Győr 2013; Julia Anna Riedel, Bildungsreform und geistliches Ordenswesen im Ungarn der Aufklärung. Die Schulen der Piaristen unter Maria Theresia und Joseph II. Stuttgart 2012. 27 Siehe u. a. Mihály Bucsay, Der Protestantismus in Ungarn 1521–1978. Ungarns Reformationskirchen in Geschichte und Gegenwart, 2: Vom Absolutismus bis zur Gegenwart. Wien – Köln – Graz 1979, 21–25. 28 Mályusz, Türelmi rendelet, wie Anm. 18, 119. 29 Ernst Troetsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt. München – Berlin 51928.

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Er argumentierte so, dass, während der mittelalterliche Katholizismus die Akzeptanz seiner Dogmen gestützt auf die päpstliche Autorität forderte, sich der Protestantismus bei der Richtigkeit der Glaubenslehren auf die Bibel bezog, und er hob dabei die Bedeutung der persönlichen Überzeugung hervor. Damit wurde einerseits die alte kirchliche Kultur zurückgedrängt, andererseits die Rolle des Individuums in den Vordergrund gerückt. Dieser religiöse Individualismus wurde laut Mályusz im Laufe des 17. Jahrhunderts durch den sozialen und wirtschaftlichen Individualismus erweitert. Den Radikalismus erbte die Aufklärung in der Auffassung Mályusz’ von den protestantischen Sekten, die sowohl vom katholischen Klerus als auch von Luther und Calvin verfolgt wurden und für eine radikale Umstrukturierung des Staates und der Gesellschaft kämpften. Der Kampf zwischen den einzelnen Konfessionen brachte paradoxerweise die Relativierung des absoluten Wertes der Religion mit sich, da die einzelnen Glaubenslehren von der anderen Partei dauernd angefochten wurden. Dies wurde auch ein wichtiges Merkmal der Aufklärung, so Mályusz.30

IV Für eine erweiterte Interpretation In der einen oder anderen Form pflegten also ungarische Historiker der Vor- sowie der Nachkriegszeit eine umfassende Annährung an die Reformtätigkeit Josephs II. Wie Szekfűs Schüler Kálmán Benda (1913–1994) im Jahr 1965 schrieb: „Das Überwiegen der Aufmerksamkeit für kirchlich-politische Aspekte, ihre Betonung auf Kosten anderer Bereiche der kaiserlichen Tätigkeit, vermittelt, gewollt oder ungewollt, den Eindruck, als ob man den Schlüssel und Kern der Politik Josephs dort suchen sollte.“31 Der andere Schüler Szekfűs, Domokos Kosáry (1913–2007), schrieb 1971: Dieser Begriff [Josephinismus] wurde längere Zeit als Bezeichnung für Kirchenpolitik verwendet, teils aus dem Grund, dass er in diesem Bereich länger andauerte als der Aufgeklärte Absolutismus selbst. Heutzutage ist es manchmal immerhin sinnvoll, den Unterschied zwischen der engeren und der weiteren Deutung zu beachten, aber die Geschichtsschreibung entwickelt sich dahin, die Tendenz im Ganzen zu definieren, deswegen redet man über den josephinischen Staat, die josephinische Steuer- oder Bildungspolitik.32

30 Mályusz, Felvilágosodás, wie Anm. 13, 56-88. 31 Kálmán Benda, A jozefinizmus és jakobinusság kérdései a Habsburg Monarchiában (Eredmények és feladatok a legújabb kutatások türkében) [Die Fragen des Josephinismus und Jakobinismus in der Habsburgermonarchie (Ergebnisse und Aufgaben im Spiegel der neuesten Forschungen)]. In: Történelmi Szemle 8/4 (1965), 388-422, hier 389. Den Nachdruck siehe in: Kálmán Benda, Emberbarát vagy hazafi? Tanulmányok a felvilágosodás korának magyar történetéből [Philanthrop oder Patriot? Studien aus der ungarischen Geschichte der Zeit der Aufklärung]. Budapest 1978, 232–282. 32 Domokos Kosáry, Felvilágosult abszolutizmus – felvilágosult rendiség [Aufgeklärter Absoutismus – Aufgeklärtes Ständetum]. In: Történelmi szemle 29/4 (1976), 675-720, hier 688.

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In diesem Zusammenhang war der Standpunkt von Fritz Valjavec, der den Josephinismus für eine umfassende politische und geistige Strömung hielt und den kirchlich-politischen Aspekten keinen zentralen Platz einräumte, der ungarischen Historiographie viel zugänglicher als die Theorie von Eduard Winter, der nicht nur hauptsächlich die kirchlichen Maßnahmen des Kaisers thematisierte, sondern sie auch zu früheren reformatorischen Bestrebungen der katholischen Kirche in Beziehung setzte. Der einzige bedeutende Proponent Winters in Ungarn blieb Béla Zolnai (1890–1969), der mit ihm das Interesse an der Jansenismus-Forschung teilte.33 Die Position Winters in der ungarischen Geschichtsschreibung ist zweideutig. Einerseits war er im Westen ein renommierter Historiker, der sich nach dem Weltkrieg in einem sozialistischen Land etablierte. Er wurde zu Vorträgen in Ungarn eingeladen,34 seine Bücher wurden schnell rezensiert, seine Teilnahmen an Historikertagungen wurden in wissenschaftlichen Berichten erwähnt. Andererseits blieben seine Werke über den Reformkatholizismus der Mehrheit der ungarischen Historikerinnen und Historiker (mit bedeutungsvollen Ausnahmen) fremd und nur oberflächlich bekannt. Zu den Verdiensten von Domokos Kosáry gehört seine detaillierte Analyse der Werke Winters, besonders der Bestätigung, dass zwischen 1740 und 1848 der österreichische Josephinismus in der Form des Reformkatholizismus existierte. Kosáry zufolge hatte Winter keine plausible Erklärung, „wie sich der Josephinismus, der – ohne irgendwelche Anknüpfung an Zeit und Raum – ein Kapitel im inneren Dialog der Kirche darstellen sollte, sich mit dem Josephinismus, der an Zeit, Raum und Umstände gebunden war, besser gesagt: mit dem Aufgeklärten Absolutismus vereinigte“.35 Wenn der Jansenismus aus der dringenden Notwendigkeit der inneren Kirchenreform seinen Anfang nahm, war die Aufklärung eine außerkirchliche, weltliche Bewegung, die auf die Verdrängung der Kirche gerichtet war, die Toleranz (verstanden als Gleichgültigkeit gegen die Dogmen) förderte. Der Historiker hielt Winters Argumentation, dass Gérard van Swieten eine besondere Rolle in der Verbreitung des Jansenismus in Österreich gespielt hatte, für ungenügend und fand den Tod van Swietens als Kriterium der Periodisierung zumindest bizarr. Die Schlussfolgerung Kosárys lautet: 33 Béla Zolnai, A janzenizmus európai útja [Der europäische Weg des Jansenismus]. Budapest 1933; Béla Zolnai, A janzenizmus kutatása Középeuropában [Die Erforschung des Jansenismus in Mitteleuropa], 1. Budapest 1944. Die Rezension von Endre Angyal in: Irodalomtörténeti Közlemények 56/1 (1948), 78–80. Als Zeichen der langjährigen Freundschaft dienen seine Aufsätze in Sammelbänden, die von Winter redigiert wurden oder die Winter gewidmet waren. Vgl. Béla Zolnai, Ungarn und die Erforschung des Jansenismus. In: Joachim Tetzner (Hg.), Deutsch-slawische Wechselseitigkeit in sieben Jahrhunderten. Gesammelte Aufsätze. Berlin 1956, 107–156; Béla Zolnai, Über Frühaufklärung in Ungarn. In: Eduard Winter (Hg.), E. W. von Tschirnhaus (1651–1708) und die Frühaufklärung in Mittel- und Ost-Europa: ein Leben im Dienste des Akademiegedankens. Berlin 1959, 154–176. 34 Z. B. nahm er an der Tagung „Fragen der frühen Aufklärung“ im Oktober 1971 mit einem Vortrag teil: Eduard Winter, A Habsburg-Monarchia reformkatolicizmusa és a felvilágosodás [Der Reformkatholizismus der Habsburgermonarchie und die Aufklärung]. In: MTA Filozófiai és Történettudományi Osztály Közleményei. 21/1–2 (1972), 115–123. 35 Kosáry, Abszolutizmus, wie Anm. 32, 693.

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Die Aufklärung in Österreich war keine Bestrebung der Kirche selbst, keine Frucht ihrer inneren Erneuerung, die – von eben der Kirche ausgehend – dann die Gesellschaft und den Staat durchdrang. Ganz im Gegenteil: Die Gesellschaft und der Staat traten in eine neue Phase, die unter dem Zeichen des Josephinismus zu verlaufen hatte […] Nicht die Kirche erneuerte die Gesellschaft und den Staat, sondern umgekehrt.36

Im Gegensatz zu den Historikern beschäftigte sich die Literaturgeschichte seit den 1970er Jahren viel intensiver mit der von Winter als Reformkatholizismus angesprochenen Erscheinung. Im Mittelpunkt dieses Interesses stand die Rezeption der Werke Lodovico Antonio Muratoris in ungarischen gelehrten Kreisen des 18. Jahrhunderts. Der Reformkatholizismus als eine „klerikale“ Erscheinung wurde nämlich auf dem Feld der historischen Forschung viel weniger geduldet als unter den „weichen“ Themen der Literaturgeschichte. Bereits József Szauder (1917–1975) betonte in einem Aufsatz aus dem Jahr 1973 die Wichtigkeit der Lehren Muratoris in den Gedanken ungarischer Kirchenfürsten des 18. Jahrhunderts und hob ihre Hebelwirkung für die Verbreitung der Anschauungen des italienischen Denkers in Ungarn hervor. Er verwendete aber den Begriff Reformkatholizismus nicht, und dementsprechend finden wir auch keine Verweise auf Winters Schriften in seiner diesbezüglichen Publikation.37 György Hölvényi (1922–2011) ordnet in seinem Beitrag über die Wirkung Muratoris in Ungarn den katholischen Reformdenker folgendermaßen ein: A. L. Muratori gehörte zu denjenigen kirchlichen Persönlichkeiten – von den anonymen Priestern, über die gelehrten Theologen und Bischöfe bis zum Papst Benedikt XIV. – die solche antikirchlichen Bestrebungen, die der Idee der Aufklärung entstammten, nicht von Anfang an ablehnten, sondern sie als eine Herausforderung betrachteten. Indem sie die Glaubenslehren in allen Zeiten und unter allen Umständen zu bewahren trachteten, beurteilten sie diese „Angriffe“, und gaben auf sie zeitgemäße Antworten. Diese Bewegung wird heute katholische Aufklärung genannt.38

Auch bei ihm finden wir also den Begriff Reformkatholizismus nicht, sondern die Bezeichnung „katholische Aufklärung“, die übrigens in der ungarischen Forschung in den letzten Jahren bereits öfters auftaucht.39

36 Kosáry, Abszolutizmus, wie Anm. 32, 698. 37 József Szauder, Muratori két erkölcstani műve a XVIII. századi magyar irodalomban [Zwei moraltheologische Werke Muratoris in der ungarischen Literatur des 18. Jahrhunderts]. In: Irodalomtörténeti Közlemények 77 (1973), 171–179. 38 György Hölvényi, Antonio Lodovico Muratori hatása Magyarországon [Die Wirkung Antonio Lodovico Muratoris in Ungarn]. In: József Jankovics / István Monok / Judit Nyerges (Hg.), A magyar művelődés és a kereszténység. A IV. Nemzetközi Hungarológiai Kongresszus előadásai. Róma–Nápoly, 1996. szeptember 9–14. Budapest – Szeged 1998, 882–891, Zitat 882. 39 Siehe Anm. 26.

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Erst der Bibliothekar und Literaturhistoriker György Kókay (1929–2007) schilderte Winters These über den Reformkatholizismus: „Winter stellte Muratori als eine determinierende Persönlichkeit der österreichischen katholischen Aufklärung vor, er sprach sogar über den Josephinismus im Allgemeinen als Reformkatholizismus, und Letzteren identifizierte er mit dem Josephinismus.“40 Die Vertreter der aufgeklärten Kirchlichenreform wurden auch später häufig als Anhänger des Reformkatholizismus bezeichnet, ohne dass damit eine Auseinandersetzung mit den Thesen Winters einhergegangen wäre, und der Begriff wurde manchmal mit der „katholischen Aufklärung“ gleichgesetzt. Dass Winter bei diesen Ausführungen nicht erwähnt wird, ist deswegen bemerkenswert, weil die Autoren diejenige Intellektuellen zum Reformkatholizismus zählen, die – wie auch der bereits zitierte Hölvényi formuliert – der katholischen Glaubenslehre treu geblieben seien, nicht also die Jansenisten und Anhänger des Josephinismus, die mit Rom in Konflikt standen.41 Also verwenden sie den Begriff „Reformkatholizismus“ in einem erheblich engeren Sinn als Winter.42 Es muss hinzugefügt werden, dass abgesehen von wenigen Ausnahmen sich die literaturhistorische Forschung hauptsächlich auf die Verbreitung der Werke Muratoris in Ungarn und auf deren ungarische (und lateinische) Übersetzungen konzentrierte und somit die Analyse der von Winter vorgeschlagenen Thematik für das ungarische Quellenmaterial noch keineswegs erschöpfte. Die Literaturhistoriker setzten sich also nicht mit der These Winters über den Reformkatholizimus auseinander, Domokos Kosáry widerlegte hingegen in seinen bereits zitierten Ausführungen Winters Auffassung, wonach der Josephinismus die österreichische Variante des Reformkatholizismus und eigentlich nicht anders als ein breit gefasster Jansenismus sei. Neben seiner bereits erwähnten Aversion, van Swieten als Schlüsselfigur zu betrachten, wies er darauf hin, dass der Jansenismus zwar ebenfalls gegen die alte Kirche kämpfte, wie die Vertreter der politischen Aufklärung, er aber mit der zuletzt erwähnten Bewegung nicht gleichgesetzt werden kann. Er erwähnt Voltaire, der gleichzeitig ein entscheidender Gegner der Jesuiten und der Jansenisten war. Er betont außerdem die Vielschichtigkeit des Jansenismus, der lediglich in manchen Aspekten mit dem josephinischen Programm übereinstimmte, und unterstreicht, dass der Josephinismus ganz andere Ziele verfolgte als der Jansenismus, der in erster Linie das innere Leben der Kirche zu erneuern versuchte.43 Bezugnahmen auf das Buch Winters waren im Allgemeinen sehr selten. Entweder erschie40 György Kókay, Muratori és Magyarország. Muratori műveinek hazai elterjedtsége a 18. században [Muratori und Ungarn. Die heimische Verbreitung der Werke Muratoris im 18. Jahrhundert], in: Magyar Könyvszemle 114 (1998). 193–206. Zitat: 193. 41 Siehe u. a. László N. Szelestei, Lodovico Antonio Muratori művei Magyarországon a 18. század második felében [Die Werke Lodovico Antonio Muratoris in Ungarn in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts]. In: Magyar Könyvszemle 116 (2000), 27–43; Márton Szilágyi, Vallás, felvilágosodás, irodalom [Religion, Aufklärung, Literatur]. In: Korunk 20 (2009), 12–19. Lukácsi, Szószék, wie Anm. 26, 30, 224. 42 Ob man denn in der behandelten Periode in allen Fällen eindeutig beurteilen würde können, welche Äußerungen dieser Intellektuellen innerhalb und welche außerhalb der offiziellen Linie der katholischen Kirche standen, ist eine bedenkenswerte, aber auf jeden Fall eine zu weit führende Frage. 43 Kosáry, Abszolutizmus, wie Anm. 32, 692–698.

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nen diese Referenzen als Zeichen des guten Informationsstandes der Verfasserin oder des Verfassers über die Forschungslage, oder sie bekamen eine negative Konnotation. So machte etwa die Theaterhistorikerin Edit Császár Mályuszné eine wichtige Bemerkung am Anfang eines ihrer Beiträge: „Ich muss klarstellen, dass ich den Begriff ‚Josephinismus‘ immer in dem Sinne verwende, wie ihn Marczali, Valjavec und Benda verstanden haben.“44 Es war Éva H. Balázs (1915–2006), die Schülerin von Mályusz, die sich mit Winters Theorie der Frühaufklärung einverstanden zeigte. In dem Aufsatz über die Bildungsreformbestrebungen behauptete sie: „Was die Verbreitung der Aufklärung und das Wiener Milieu betrifft, stützt sich diese Skizze auf die Werke von Eduard Winter.“45 Ihre Definition des Josephinismus unterscheidet sich von denen ihrer Kollegen nicht. „Was heißt Josephinismus? Im engeren Sinn war es die zeitgenössische Kirchenpolitik des Habsburger-Staates […]. Im weiteren Sinn umfasst dieser Begriff aufgeklärte und absolutistische reformpolitische Bestrebungen.“46 Ihr Interesse an Winter wurde durch ihre Erforschung der ausländischen Beziehungen der ungarischen „Josephiner“ verstärkt. Im Aufsatz über Ungarn im Kreis August Ludwig von Schlözers (1735–1809) in Göttingen lobt sie Winters Werke zu den russisch-deutschen Beziehungen im 18. Jahrhundert.47 Dass diese Ergebnisse der ungarischen historischen Forschung auch der breiteren wissenschaftlichen Öffentlichkeit bekannt wurden, hat die ungarische Historiographie Béla Köpeczi (1921–2010) zu verdanken. Der renommierte Historiker, der zugleich wichtige politische Positionen innehatte – er bekleidete u. a. zwischen 1982 und 1988 das Amt des Kultusministers –, wirkte aktiv daran mit, im sozialistischen Ungarn der Siebziger- und Achtzigerjahre internationale Symposien zu veranstalten, auf denen ungarische und ausländische Wissenschaftler über den Josephinismus, den Aufgeklärten Absolutismus und die Aufklärung diskutieren konnten. Die Symposien wurden im Ferienort Mátrafüred veranstaltet, der schnell aufgrund der qualitätsvollen wissenschaftlichen Programme bekannt wurde.48 Die schriftlichen Ergebnisse der Kolloquien wurden unter der Schirmherrschaft Köpeczis in mehreren Bänden veröffentlicht.49 44 Edit Császár Mályuszné, A nemzeti színjátszás kezdetei Közép-Kelet-Európában [Anfänge des nationalen Theaterspiels in Ostmitteleuropa]. In: József Szauder / Andor Tarnai (Hg.), Irodalom és felvilágosodás. Budapest 1974, 471–498, hier 471. 45 Éva H. Balázs, A magyaorsági felsőoktatás a felvilágosult abszolutizmus korában [Die ungarische höhere Ausbildung im Zeitalter des Aufgeklärten Absolutismus]. In: Felsőoktatási Szemle 7–8 (1968), 407–413. Siehe auch den Nachdruck in: Éva H. Balázs, Életek és korok. Válogatott írások. Budapest 2005, 104–111. 46 Éva H. Balázs, II. József [Joseph II.]. In: Élet és tudomány 19 (1964), 867–891. Siehe auch den Nachdruck in: Éva H. Balázs, Életek és korok. Válogatott írások. Budapest 2005, 84-89. 47 Éva H. Balázs, A magyar jozefinisták külföldi kapcsolataihoz [Zu den auswärtigen Beziehungen der ungarischen Josephiner]. In: Századok, 97/6 (1963), 1187–1204. 48 Auch der bekannte belgische Literaturhistoriker Roland Mortier lobt in einem – leider nur auf Ungarisch verfügbaren – Essay die anregenden Diskussionen in Mátrafüred. Roland Mortier, A mátrafüredi konferencia és az európai felvilágosodás tanulmányozása [Die Konferenz in Mátrafüred und die Studien über die europäische Aufklärung]. In: Id., Az európai felvilágosodás fényei és árnyai. Válogatott tanulmányok. Budapest 1983, 379–407. 49 Colloque sur les lumières en Hongrie, en Europe Centrale et en Europe Orientale, sous la présidence de Béla Köpeczi. Budapest 1971–1987.

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Eine Synthese der historischen, literaturhistorischen und philosophischen Annäherungen zum Phänomen des Josephinismus (im Sinne Valjavecs) bot in den frühen Achtzigerjahren der Literaturhistoriker István Fried (geb. 1934). Er stützte seinen Essay auf Marczali sowie Kosáry, Benda und H. Balázs, thematisierte eine Fülle von literarischen Texten (Pamphlete, politische Reden und Dichtungen), edierte die Korrespondenz ungarischer Schriftsteller und vieles mehr; und er benützte als Erklärungsmodelle die Werke von Immanuel Kant und Jürgen Habermas. Im Großen und Ganzen präzisiert der Verfasser Kosárys Modell dreier Strömungen in der ungarischen Aufklärung, nämlich die der Anhänger des Aufgeklärten Absolutismus, der Vertreter der ständischen Aufklärung sowie der antifeudalen Reformer. Fried vereinigte somit in einer Gruppe die progressiv denkenden Adeligen (meistens protestantischen Bekenntnisses) und die nichtadeligen Reformer. Sie begrüßten die Reformen Josephs, die die Entstehung der Öffentlichkeit in Ungarn (und in der Habsburgermonarchie) förderten, und in diesem Sinn waren sie Unterstützer des Josephinismus, d. h. „Josephiner“ (ähnliches behauptete auch Éva H. Balázs). Aber diese Parteigänger Josephs waren mit der Unvollständigkeit und Widersprüchlichkeit der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umgestaltung unzufrieden und zählten in den letzten Jahren der Regierung Josephs bereits zu den ideologischen Gegnern des Kaisers.50

V Fritz Valjavec: Missverständnisse in der „alten“ Heimat Der Vergleich der Rezeption von Valjavecs und Winters Werken in Ungarn führt zu lehrreichen Parallelen. Während Winter in den Dreißigerjahren noch kaum in der ungarischen Geschichtsschreibung präsent war, verfolgten die ungarischen Historiker die Veröffentlichungen Valjavecs mit immer größerem Interesse. Bekanntlich verbrachte Valjavec seine Kindheit und Jugend in Ungarn: erst im Banat, danach in Budapest. Dort wurde sein Interesse für die Rolle des Deutschtums im Südosteuroparaum geweckt, dort machte er sich mit den nationalsozia­ listischen Ideen bekannt. Nach seiner Übersiedlung nach Deutschland und der Anstellung am Südosteuropa-Institut in München bemühte er sich, sich als Ungarnexperte zu positionieren und setzte dafür seine Erfahrungen, Sprach- und Fachkenntnisse sowie Bekanntschaften in seiner Heimat ein. Dank Valjavec erschienen in der Zeitschrift Südostforschung Beiträge der zeitgenössischen ungarischen Historiker – von Gyula Szekfű,51 Elemér Mályusz, Béla Iványi (1867–1940) und anderen. Der ungarische Literaturhistoriker László Orosz (geb. 1925) edierte die langjährige Korrespondenz zwischen Valjavec und Elemér Mályusz. Die deutsche Geschichtswissenschaft, die in der Zwischenkriegszeit neue Forschungsmethoden erarbeitete, erregte das Interesse des un50 István Fried, II. József, a josefinisták és a reformerek. (Vázlat a 18.század végének magyar közgondolkodásról) [Joseph II, die Josephinisten und Reformer. (Eine Skizze über das kollektive Denken am Ende des 18. Jahrhunderts)]. In: Széchényi Könyvtár Évikönyve. 1979. Budapest, 1981, 563–591. 51 Karl Nehring, Zu den Anfängen der Südost-Forschungen. Der Briefwechsel von Fritz Valjavec mit Gyula Szekfü 1934–1936. In Südost-Forschungen 50 (1991), 1–30.

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garischen Historikers, der einen ähnlichen Themen- und Problemkreis aus der ungarischen Perspektive erforschte. Beneidenswert fand Mályusz die fast unumschränkten finanziellen und institutionellen Möglichkeiten, die den deutschen Kollegen zur Verfügung standen. Aber beide Wissenschaftler waren weit davon entfernt, eine offenherzige Freundschaft oder gegenseitig vorteilhafte Kooperation zu pflegen. Die „Südostforschung“ postulierte die deutsche kulturelle Hegemonie zulasten der anderen Völker der Region und würdigte den Wert der kulturellen Leistungen der Magyaren oder Slawen herab. Mályusz wollte gegen diesen Theorien mit derselben Methode kämpfen, oder, wie Orosz sich bildlich ausdruckt: „Sie [Valjavec und Mályusz] saßen in einem Boot und ruderten [...] in entgegengesetzte Richtungen.“52 Ungarische Historiker verließen sich mit vollem Recht darauf, dass ihr damaliger Landsmann sich in den Nuancen der frühneuzeitlichen Geschichte Ungarns gut zu orientieren wüsste. Stattdessen förderte Valjavec die Idee des Südostdeutschtums und simplifizierte das ethnisch und kulturell bunte Bild der Region. So war etwa der große Kenner der deutsch-ungarischen Beziehungen und Erforscher der vormodernen Formen des Patriotismus Béla Pukánszky (1895–1950) von Valjavecs Buch über Karl Gottlieb Windisch (1725–1793) tief enttäuscht.53 Der Verfasser bezeichnete den berühmten Gelehrten als südosteuropäischen Deutschen und ignorierte damit völlig das Phänomen der Hungarus-Identität. Gerade im 18. Jahrhundert wählten die in Ungarn lebenden Deutschen den so genannten „partiellen Patriotismus“, das heißt, sie fühlten sich nicht nur als Mitglieder des großen Deutschtums, sondern nahmen sich auch als Landesleute der im Königreich lebenden Ungarn wahr. „Er schieb auf Deutsch, aber diente der Sache des Ungartums“, betonte Pukánszky. Und er kommt zur ungünstigen Schlussfolgerung, Valjavec habe seine Theorie des „Südostdeutschtums“ einfach „versteinert“. 54 Ungarische Historiker blieben immer sehr sensibel gegenüber jeder Äußerung von Valjavec, die sie als ungerecht oder unpassend empfanden, und reagierten dabei nicht einmal auf seine irrigen oder tendenziösen Ansichten. Die Zeile, die diesem Aufsatz als Motto vorangestellt ist, stammt von Domokos Kosáry und bildet den Schlusssatz eines halbseitigen Artikels. Die Vorgeschichte dieses Scharmützels ist folgende. Im Jahre 1937 veröffentlichte Kosáry in der renommierten Zeitschrift der ungarischen Geschichtswissenschaft, Századok, 52 László Orosz, A két világháború közötti német „délkelet-kutatás” és a magyar tudomány kapcsolatához. Fritz Valjavec és Mályusz Elemér levelezése, 1. rész [Zu den Kontakten zwischen der zwischenkriegszeitlichen deutschen „Südostforschung” und der ungarischen Wissenschaft. Korrespondez von Fritz Valjavec und Elemér Mályusz. Teil 1]. In: Levéltári Közlemények 75/1 (2004), 105–137, hier 114. Siehe auch: László Orosz, Népkutatás a nemzeti érdekek ütközőpontjában: a két világháború közötti tudománypolitika Frtz Valjavec és Mályusz Elemér kapcsolatában [An der Kreuzung von Volkskunde und nationalen Interessen: Wissenschaftspolitik zwischen den zwei Weltkriegen in den Beziehungen von Fritz Valjavec und Elemér Mályusz]. In: Századok 137/1 (2004) 43–99. Vgl. auf Deutsch: László Orosz, Die Verbindungen der deutschen Südostforschung zur ungarischen Wissenschaft zwischen 1935 und 1944. In: Márta Fata (Hg.), Das Ungarnbild der deutschen Historiographie. Stuttgrat 2004, 126–167. 53 Fritz Valjavec, Karl Gottlieb von Windisch (1725–1793). Das Lebensbild eines süddeutschen Bürgers der Aufklärungszeit. München 1936. 54 Béla Pukánszky, Rezension Valjavec, Windisch. In: Századok 71/1–3 (1937), 356.

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einen kurzen Beitrag zur Geschichte der Revolution von 1848. Hier zitierte er unter anderem den französischen Gesandten in Wien, De la Cour, der in einem Bericht behauptete, dass die liberale österreichische Regierung im Sommer 1848 gegen die von Kossuth verteidigten veralteten feudalen Privilegien und seine Meinungsgenossen kämpfte. Der ungarische Historiker richtete die Aufmerksamkeit der Leser auf die paradoxe Komik in der Argumentation des Gesandten, in welcher Wien revolutionärer als die ungarische Revolution dargestellt wurde. Valjavec entgegnete in einem Artikel:55 Was der ungarische Kollege für komisch hielt, war in der Tat die offizielle Meinung der deutschen Historiographie. Darüber hinaus stellte er die Sache so dar, als ob Kosáry die liberale Leistungsfähigkeit der Wiener revolutionären Regierung bestritten hätte.56 Eine neue kritische Rezension folgte zwei Jahre später. Diesmal reagierte Csaba Csapodi auf den neuen Band Der deutsche Kultureinfluss im nahen Südosten. Unter besonderer Berücksichtigung Ungarns.57 Valjavec unternahm hier den Versuch, tausend Jahre Geschichte aus allen Sphären der materiellen und geistigen Kultur eines Volkes zu verfolgen und eine breite Palette von Äußerungen des menschlichen Geistes – von den ersten Handschriften über die Mode bis hin zum Nationalismus – zu analysieren. Die erste kritische Bemerkung Csapodis betrifft das Objekt der Forschung. Inwieweit übt eine Kultur ihre Wirkungen auf das materielle und geistige Leben der anderen aus? Aus den von Valjavec vorgebrachten Fakten gewinnen die Leser die Überzeugung, dass Ungarn ausschließlich unter dem Einfluss der deutschen Kultur stand. Gleichzeitig widmet er der Intensität dieser Einflüsse und der Stärke der Gegenreaktion keine Aufmerksamkeit.58 Csapodi hielt es für besonders bedauernswert, dass das 18. Jahrhundert, das der Verfasser am besten kennen sollte, ihm am schlechtesten gelungen war. So widmet er etwa dem wichtigsten Feld des deutschen Kultureinflusses, der Ausbildung, nur sechs Seiten und verliert kein Wort über den epochalen Studienplan Ratio educationis. Im Ergebnis vergleicht Csapodi den Verfasser mit einem Mann, der mit einer Lupe einzelne Linien auf einem riesengroßen Gemälde betrachtet, aber keine Ahnung von dem ganzen Bild hat. Dieses Buch sollte in der Nachkriegszeit mit der bemerkenswerten Änderung im Titel neu erschienen: Es handelte sich nicht mehr um den Kultureinfluss, sondern um die Kulturbeziehungen.59 Valjavec erweiterte nun Südosteuropa bis auf den Balkan, ergänzte die Neuauflage mit neuen Daten und Referenzen zu den Werken der englischen, amerikanischen und französischen Autoren, war viel vorsichtiger mit Ausdrucken wie „südosteuropäische deutsche Mission“. Aber er gab keine Antwort auf die Schlüsselfrage: Welche Gründe, von der geographischen Nähe abgesehen, förderten die deutschen Kultureinflüsse im Südosten Europas? 55 Fritz Valjavec, Quellen zu den Anfängen der deutschen Bewegung in Ungarn. In: Südost-Forschungen 4 (1939), 465–508. 56 Kosáry, Megjegyzés, wie Anm. 1, 464. 57 Fritz Valjavec, Der deutsche Kultureinfluss im nahen Südosten. Unter besonderer Berücksichtigung Ungarns, 1. München 1940. 58 Csaba Csapodi, Rezension Valjavec, Kultureinfluss. In: Századok 76/9–10 (1942), 466. 59 Fritz Valjavec, Geschichte der deutschen Kulturbeziehungen zu Südosteuropa. München 1958.

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Valjavec war auch seiner Meinung treu geblieben, dass die Ungarndeutschen der Frühneuzeit ausschließlich eine deutsche (reichsdeutsche) Kultur vertraten. Der ungarische Literaturhistoriker Andor Tarnai (1925–1994) schrieb in seiner Übersichtsrezension (schon nach dem Tod von Valjavec): „kein Zweifel, dass sein mit den besten Absichten geschriebenes, wiewohl nicht gründlich überarbeitetes Werk dabei helfen kann, mit der Vergangenheit und ihren unrichtigen, manchmal gar schädlichen Theorien abzuschließen; und es kann vielleicht auch dazu beitragen, auf dieser Basis eine neue Verständigung zwischen der westdeutschen Südostforschung und der ungarischen Literaturwissenschaft herzustellen.“60

VI Eduard Winter als renommierter Marxist Im Gegensatz zu Valjavec war Winter in seiner Analyse des kulturellen Austausches zwischen Deutschland und dem näheren Südosten immer sehr vorsichtig. Er sprach nicht mehr von einem Zurückbleiben Ostmitteleuropas, sondern über die Faktoren, die die Entwicklung der Region behindert hatten. Als 1966 sein Buch Frühaufklärung. Der Kampf gegen den Konfessionalismus erschien, wurde es in Ungarn sehr positiv rezipiert. György Mihály Vajda (1914– 2001), der seine Rezension Frühaufklärung betitelte, bemerkte mit Begeisterung: „Da gibt es keine Spur der Kulturträgerideologie, es handelt sich nicht darum, dass kulturelle Leistungen vom Westen nach Osten geliefert worden wären.“61 Darüber hinaus war es Winter gelungen, sich in einen Marxisten zu verwandeln. Vajda betonte: „Eduard Winter ist über die kontroversen Probleme der auf diesem Gebiet existierenden Sprachen, Kulturen und Staatsangehörigkeiten gut informiert, welche ausschließlich mit Hilfe der über Nationen und nationalen Vorurteilen stehenden marxistischen vergleichenden Annäherung lösbar, ja erst begreiflich werden können.“62 Nicht einmal die Tatsache, dass Winter die frühneuzeitliche Geschichte der Region auf dem Reißbrett der modernen Staatsgrenzen betrachtet hatte, brachte den Rezensenten in Verlegenheit. In der DDR machte Winter eine weitere erfolgreiche Karriere. Seine vorkriegszeitliche Untersuchung der antirömischen Strömungen im österreichischen Katholizismus „konvertierte“ er – der offiziösen Dogmatik des historischen Materialismus nach – in die Forschung über die Vertreter der „progressiven“ Tendenzen der Vergangenheit.63 Ehrenfried Walter von Tschirnhaus (1651–1708) – Naturforscher, Aufklärer, Diener des Fortschrittes – zog seine Aufmerksamkeit aus verschiedenen Gründen auf sich. Er lebte in der Epoche, die Winter am besten kannte, stellte eine Schlüsselfigur wissenschaftlichen und kulturellen Austauschs in Ost- und Ostmitteleuropa dar, und dies ermöglichte folglich die Erforschung seines Lebens und seiner Tätigkeit im Rahmen einer internationalen Kooperation mit Winter an der Spitze. 60 Andor Tarnai, Fritz Valjavec és a magyar irodalom [Fritz Valjavec und die ungarische Literatur]. In: Irodalomtörténeti Közlemények 1–2 (1966), 233–240. 61 György Mihály Vajda, Frühaufklärung. In: Irodalomtörténeti Közlemények 2–3 (1969), 376. 62 Vajda, Frühaufklärung, wie Anm. 61, 375. 63 Lajos Hanzó, Rezension Winter, Tschirnhaus. In: Századok 97/2 (1963), 716–718.

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Was ehedem die Frühneuzeit gewesen war, gestaltete sich nun als Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus, was Geistesgeschichte geheißen hatte, wurde nun in „Überbau“ umbenannt. Wäre seine Studie über Bernard Bolzano (1781–1848) in der UdSSR erscheinen, hätte sie vielleicht in die Buchreihe Leidenschaftliche Revolutionäre aufgenommen werden sollen. Diese populäre Reihe wurde 1968 gegründet, um das Lesepublikum mit den im Genre der heroischen Hagiographien geschriebenen Biographien der Revolutionäre aller Zeiten bekannt zu machen. In erster Linie waren dort Revolutionäre aller Prägungen aus dem Sowjetischen Pantheon vertreten, aber auch Robespierre (1758–1794), Sándor Petőfi (1823–1849) oder Ernst Thälmann (1886–1944). Darüber hinaus gehörten zu den Revolutionären auch Anführer von allerlei antifeudalen Bewegungen, wie Wat Tyler (1341–1381) und Stepan (Stenka) Rasin (1630–1671). Schließlich zählten die Herausgeber die „progressiven“ Denker und Aktivisten wie den italienischen Philosophen Tommaso Campanella (1568–1639) oder den amerikanischen Abolitionisten John Brown (1800–1859) zu den Revolutionären. Ihre begeisterte Rezension des Winterschen Bolzanobuchs beginnt Márta S. Lengyel (1929–2009) mit folgender Behauptung: „Die Verfolgung Bolzanos, nachdem dieser große Denker für seine freiheitsliebenden Vorlesungen im Jahre 1819 von der Theologischen Fakultät der Prager Universität entlassen worden war, wurde [...] ein Symbol des Freidenkens in der stickigen Atmosphäre der Regierung des Kaiser Franz.“64 In ähnlicher Weise machte Carlo Ginzburg ein Vierteljahrhundert später mit dem Müller Menocchio eine Randfigur mit eigenwilliger Weltanschauung zum Hauptakteur einer Renaissance „von unten“. 65 Winter machte aus dem Mathematiker Bolzano mit seinen inkohärenten philosophischen Theorien über den vernünftigen Glauben einen Märtyrer, der gegen den offiziösen Katholizismus römischer Prägung kämpfte. Eine zusammenfassende Bilanz der Erforschung des oben benannten Problemkreises unternahm Domokos Kosáry in seiner synthetischen Monographie aus 1980, Bildung im Ungarn des 18. Jahrhunderts. In den ausführlichen Anmerkungen zu den thematisch arrangierten Kapiteln bot der Verfasser die vollständigste Bibliographie zur Aufklärung und zum Josephinismus.66 Das Buch hat mehrere Ausgaben erlebt und dient heute als obligatorische Lektüre für alle, die das Zeitalter des späten Barock und der Aufklärung erforschen. Kosáry hielt es für angebracht, die Hauptthesen seiner Kritik an Winters Konzept des Reformkatholizismus aus dem Aufsatz vom 1976 zu wiederholen und zu den methodologischen Prinzipien der Monographie über die Frühaufklärung einen ausführlichen Kommentar anzubieten. Kosáry würdigte nach Gebühr Winters Bemühungen, die deutsch-slawischen Beziehungen in Ost- und Ostmitteleuropa zu etablieren. Gleichzeitig wies er darauf hin, dass eine ahistorische Betrachtung der Region – der heutigen politischen Landkarte nach – und eine 64 Márta S. Lengyel, Rezension Winter et al., Bolzano. In: Századok 103/1 (1969), 156–159. 65 Vgl. Carlo Ginzburg, The Cheese and the Worms: the Cosmos of a Sixteenth-Century Miller (Baltimore 1980). 66 Domokos Kosáry, Művelődés a 18.-századi Magyarországon [Bildung im Ungarn des 18. Jahrhunderts]. Budapest 1980.

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künstliche Absonderung und Betonung der deutsch-slawischen Beziehungen zulasten des Verständnisses des vielseitigen Charakters der frühneuzeitlichen kulturellen und politischen Wechselbeziehungen eine Situation erzeuge, als ob man über Pressburg (Bratislava in der Slowakei) oder Munkács (Mukatschewo in der Ukraine) rede und Sopron (Ödenburg) oder Debrecen verschweige.67 Was den Begriff „Frühaufklärung“ auf der regionalen Ebene betrifft, betonte Kosáry schließlich, man müsse diesen Begriff wegen der asynchronen Entwicklungen mit Vorsicht verwenden.

VII Fazit In den späten 1980er Jahren zählten zu den guten Kennerinnen und Kennern der Werke von Valjavec und Winter wohl nur Domokos Kosáry, Kálmán Benda, Éva H. Balázs,68 Csaba Csapodi und Andor Tarnai. Die mehrmals erwähnten Bücher von österreichischen Historikern hatten ihren Ehrenplatz in den Fußnoten der Forscherinnen und Forscher zum 18. Jahrhundert. Aber sie standen dort ohne kritische Betrachtung ihrer Unterschiede und ohne Bezug auf Ungarn.69

67 Kosáry, Művelődés, wie Anm. 66, 262. 68 Vgl. Beiträge von Kosáry und Balázs in: Győző Ember / Gusztáv Heckenast (Hg.), Magyarország története 1686–1790 [Geschichte Ungarns, 1686–1790], 4/2. Budapest 1989. 69 Vgl. István Fenyő, A centralisták hazai előzményei 1848 előtt [Die heimischen Anfänge der Zentralisten vor 1848]. In: Irodalomtörténeti Közlemények 96/3 (1992), 295–319, hier 298.

Konrad Clewing

Der Josephinismus als Begriff und Epochenvorstellung in der kroatischen und serbischen Historiographie Bis zum Jahr 2015 hat sich noch niemand die Mühe gemacht, auf Wikipedia einen serbischen Eintrag über den Begriff „Josephinismus“ einzustellen. Für sich allein betrachtet heißt das für den Rang dieses Begriffs in der serbischen Historiographie natürlich nicht allzu viel. Ebenso könnte es wenig aussagekräftig für die Rezeptionsprozess in der kroatischen Historiographie und bloßer Zufall sein, dass der im Herbst 2013 erstellte, ziemlich kurz geratene kroatische Wiki-Artikel „Jozefinizam“ so gut wie ausschließlich auf die katholizismusbezogenen Aspekte eingeht, noch zumal mit antirationalistischem Grundton und im Wesentlichen bloß gestützt auf Artikel aus der vor langen Zeiten, gegen Anfang des 20. Jahrhunderts, im fernen New York erschienenen Catholic Encyclopedia.1 Im Weiteren wird sich allerdings erweisen, dass derlei für unser Thema des kroatischen und serbischen historiographischen Umgangs mit dem Josephinismus-Paradigma doch als Fingerzeig genommen werden kann. Denn tatsächlich ist der Josephinismus – wie auch die Regierungszeit Josephs II. – in den beiden nationalen historischen Forschungstraditionen unterrepräsentiert. Die maßgeblichen internationalen Forschungsdebatten wurden und werden eher zufällig einmal auf individueller Basis rezipiert. „Josephinismus“ als Begriff selbst wird heute kaum je als Epochensignatur (längerer oder kürzerer Dauer) benützt, wie man ihn in der deutschsprachigen Forschungstradition zur Habsburgermonarchie seit langem überwiegend zu begreifen gewillt ist.2 Mehr noch: „Josephinismus“ hat sich als Terminus in der kroatischen und insbesondere in der serbischen Forschung überhaupt nicht wirklich durchgesetzt. Wo heute in der kroatischen Historiographie auf Josephinisches explizit Bezug genommen wird (im engeren katholisch-kirchenpolitischen Sinn, aber auch in der seltenen weiteren Verwendung), dominieren als Formulierungen die „josephinischen Reformen“ oder „Reformen Josephs II.“ (bzw. Maria Theresias). Auch daran sieht man, dass das Josephinische nicht zum Epochenbegriff geworden ist. In der serbischen Historiographie wiederum taucht der Terminus selbst in indirekten Komposita heute kaum noch auf und figuriert dementsprechend einstweilen fast nirgends als heuristisches Konzept.

1 2

http://hr.wikipedia.org/wiki/Jozefinizam [22. 4. 2015]. Als Beispiele möchte ich nur anführen Harm Klueting (Hg.), Der Josephinismus. Ausgewählte Quellen zur Geschichte der theresianisch-josephinischen Reformen. Darmstadt 1995 (siehe etwa Seite IX Kluetings Definition der „josephinisch-theresianischen Reformen als einer die Regierungszeiten Maria Theresias und Josephs II. umspannenden Einheit und ihrer weit über den Bereich der staatskirchlichen Reformen hinausreichenden Breite“); sowie ähnlich im Band von Helmut Reinalter (Hg.), Josephinismus als Aufgeklärter Absolutismus. Wien – Köln – Weimar 2008.

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Die geringe Rezeption des Begriffs sowie die Nichtwahrnehmung des Josephinismus als eigene Epoche in ihrer rezeptionsgeschichtlichen Kontingenz aufzuzeigen, ist das eine Ziel der folgenden Darlegung. Die für die serbische Entwicklung in dieser Hinsicht maßgebliche Figur von Mita Kostić rückt hier als ein prägnantes Fallbeispiel in den Vordergrund. Nach einem anschließenden Blick auf die doch stärker ausgeprägte kroatische Rezeption3 wird es am Ende darum gehen, strukturelle Gründe für die insgesamt schwache Anwendungsneigung gegenüber dem Konzept „Josephinismus“ zu benennen. Der kroatisch-serbische Plural der Historiographien im Titel verlangt eine Vorbemerkung. Eine gemeinsame kroatische und serbische – also eine sie beide und womöglich auch noch weitere der ehemaligen Teilrepubliken umspannende – „jugoslawische Historiographie“ hat es als wissenschaftliches Ziel und politische Vorgabe nach den beiden Weltkriegen zu Beginn der jeweiligen jugoslawischen Staatsgründung jeweils nur kurzfristig gegeben, und selbst dann eher als politisches Projekt denn tatsächlich.4 Auch im sozialistischen Jugoslawien haben kroatische Historiker und Historikerinnen fast durchwegs kroatische Themen, serbische wiederum serbische Themen behandelt. Wissenschaftsgeschichtlich national angelegte Titel wie die „Enzyklopädie der serbischen Historiographie“ (1997) oder, in Widmung an einen lange führenden Zagreber Historiker, „Jaroslav Šidak und die kroatische Historiographie seiner Zeit“ (2012), sind also kein Ausdruck der neuen nationalstaatlichen Verfasstheit des südslawischen Raums in der Zeit nach dem jugoslawischen Staatszerfall von 1991/92.5 3

Einen weiterhin hilfreichen Versuch zu einer entsprechenden Bibliographie der damals großteils schon älteren Literatur und publizierter Quellen hat 1980 unternommen: Ivan Damiš, Prilog bibliografiji: Jozefinizam i crkva među Hrvatima [Ein Beitrag zu einer Bibliographie: Josephinismus und Kirche bei den Kroaten]. In: Croatia christiana periodica [in der Folge: CCP] Jg. IV [Bd. 5] (1980), 155–161. Als Ausgangspunkt hält der Autor für damals noch fest, die Erforschung jenes kirchengeschichtlichen Zeitabschnitts „bei uns“ („u nas“, als in Kroatien) stehe noch in der Anfangsetappe (155). Die Auflistung geht über die Kirchengeschichte hinaus: Nach einem Abschnitt „Allgemein zu Josephinismus in der Kirche“ (wo von den für diesen Sammelband rezeptionsgeschichtlich besonders wichtigen Titeln der von Valjavec in der zweiten Auflage von 1945 genannt wird, nicht aber der von Winter; 155f.), folgt zunächst ein Abschnitt „Allgemein zum Josephinismus in Kroatien“ (156–158), dann kommen „Josephinismus und die Kirche bei den Kroaten“ (158–160) und „Josephinismus und Ordensklerus in Kroatien“ (160f.). – Überaus nützlich für den Zugang zu nahezu allen wissenschaftlichen Periodika des Landes ist das Portal „hrčak: portal znanstvenih časopisa Republike Hrvatske“ (http://hrcak.srce.hr/ [22. 4. 2015]), das ihn schon seit Jahren im Volltext kostenfrei und mit Stichwortsuche ermöglicht. 4 Bezeichnend für das zweite Jugoslawien ist die Nichtvollendung der eigentlich auf vier Bände, gesamtjugoslawisch und historisch-materialistisch angelegten Historija naroda Jugoslavije [Geschichte der Völker Jugoslawiens] im Strudel wachsender nationalhistoriographischer Polemiken vor allem zwischen kroatischen und serbischen Beteiligten und Fachkollegen. Erschienen sind nur Band 1 (Zagreb 1953), herausgegeben von Bogo Grafenauer, Dušan Perović und Jaroslav Šidak, implizit als Vertreter der slowenischen, serbischen und kroatischen Historiographie, und der bis Ende des 18. Jahrhunderts geführte Band 2 (Zagreb 1959), herausgegeben von einem Serben, Branislav Đurđev, von Bogo Grafenauer und dem für die kroatische Geschichtswissenschaft wenig repräsentativen Jorjo Tadić. 5 Sima Ćirković / Rade Mihaljčić (Hg.), Enciklopedija srpske istoriografije. Beograd 1997; Damir Agičić / Branimir Janković (Hg.), Jaroslav Šidak i hrvatska historiografija njegova vremena. Zbornik radova sa znanstvenog skupa održanog u Zagrebu 25. i 26. studenog 2011. Zagreb 2012.

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Vielmehr hatten auch zuvor entsprechende Titel selbst der wenigen Autoren, die überhaupt republiks- und ethnienübergreifend interessiert waren und arbeiteten, in einer Art politischer Korrektheit (und um sonst wohl unvermeidliche Hegemonialpolitik-Vorwürfe zu vermeiden) eben nicht auf eine vermeintlich einheitliche Geschichtsschreibung alludiert, sondern beide Historiographien getrennt aufgeführt.6 Ganz generell war die politische und wissenschaftspolitische Praxis im titoistischen Jugoslawien mit Blick auf dessen südslawische Staatsvölker (die „narodi“ der Theorie und politischen Praxis, in Abgrenzung von den „nicht-staatsvolkhaften“ Nationalitäten, den „narodnosti“) additiv-gleichberechtigend und nicht jugoslawistisch-symbiotisch ausgerichtet. Wie die damit verbundene exakte Absteckung nationaler „Schürfrechte“ und Hoheitsgebiete in der Erforschung und Darstellung der Vergangenheit aussah, illustriert sehr passend der Eintrag „Josephinismus“ in den beiden Ausgaben der Enciklopedija Jugoslavije, der Enzyklopädie Jugoslawiens. Drei nationalhistoriographisch prominente Historiker, nämlich ein Slowene (Bogo Grafenauer), ein Kroate (der schon erwähnte Jaroslav Šidak) und ein Serbe (Kosta Milutinović) beschrieben darunter fein säuberlich getrennt in drei Einzellemmata (bzw. in der zweiten Auflage in deckungsgleiche Unterlemmata) den „Josephinismus bei den Slowenen“, den „Josephinismus bei den Kroaten“ und den „Josephinismus bei den Serben“.7 Auch an diesem einen Beispiel wird sichtbar: Im Allgemeinen sind die innerhalb Jugoslawiens bis 1990/91 existierenden Geschichtsschreibungen in erster Linie getrennte Diskursgemeinschaften und daher in den meisten Zusammenhängen sinnvollerweise gesondert zu untersuchen. Wechselseitige Rezeption und Bezugnahmen auf Forschungen der „anderen Seite“ waren und sind selbst dann selten, wenn es in direkten Überschneidungen um ganz konkret gemeinsame Gegenstände geht.8 Mit Blick auf das allen gemeinsame national fokus6 7

8

Z. B. Kosta Milutinović, Studije iz srpske i hrvatske istoriografije [Studien aus der serbischen und der kroatischen Historiographie]. Novi Sad 1986. Enciklopedija Jugoslavije, 4: Hil-Jugos. Zagreb 1960, 549f., 550f. und 551f., bzw. – textlich etwas neu arrangiert, aber ansonsten abgesehen von aktualisierten Literaturangaben unverändert in Enciklopedija Jugoslavije, 6: Jap-Kat. Zagreb 1990, 123f., 124f. und 125f. Die Neuarrangements in der zweiten Auflage waren geringfügig, sind aber aussagekräftig: Erstens war in der ersten Auflage etwas willkürlich (oder gemäß einer geographischen Abfolge von Nordwest nach Südost?) die Darstellung des „Josephinismus bei den Slowenen“ vorangestanden, vor den Serben kamen dann die Kroaten. In der zweiten spättitoistischen Auflage aus der Hoch- und Endzeit des jugoslawischen Föderalismus wurde noch strikter auf einem objektivierten nationalen Strukturprinzip aufgebaut. Es konnte niemanden mehr bevor- oder benachteiligen, weil es der kroatischen bzw. serbischen alphabetischen Reihenfolge der drei Staatsvölker folgte: erst die Kroaten, dann die Slowenen, dann die Serben. Außerdem war nunmehr anders als in der ersten Auflage durch die Ausgliederung eines kleinen allgemein begriffsbezogenen Abschnitts aus dem Artikel von B. Grafenauer ein kurzer vorangestellter allgemeiner Eintrag „Josephinismus“ entstanden (123). Vgl. mit einem josephinismusbezogenen Beispiel aus der Gegenwart weiter unten, Anm. 42. Einen Durchbruch für mehr bilateralen Austausch versuchte die liberale deutsche Friedrich-Naumann-Stiftung in einem Großunternehmen durch ihr Zagreber Büro in diversen kroatisch-serbischen Historikertreffen während der Jahre 1998–2005 zu arrangieren. Die Ergebnisse liegen (die beiden Teilbände von Band 10 einzeln gerechnet) in elf Bänden vor als: Hans-Georg Fleck u.a. (Hg.), Dijalog povjesničara-istoričara [Dialog der kroatischen und serbischen Historiker]. 10 Bde. Zagreb 2000–2008. Zumindest indivi-

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sierte Interesse und mit Blick auf die nationalgeschichtlichen Hintergründe des Umgangs, den sowohl die kroatische wie die serbische Historiographie mit dem Phänomen Josephinismus und mit der habsburgischen Reichsgeschichte pflegen, zeigen sich freilich strukturelle Parallelen, die tragfähig genug sind, um sie beide in der Folge in einem Zuge zu behandeln.

I Formen und Wege der Rezeption So kurz die übergreifende begriffsbezogene Auseinandersetzung mit dem „Josephinismus“ im Rahmen der drei angeführten Parallelbeiträge in der „Enzyklopädie Jugoslawiens“ ist, so klar macht die überaus knappe Passage, dass von allen drei beteiligten Autoren vorrangig nur das engere religionspolitische Phänomen als Josephinismus bezeichnet wird. „Der Josephinismus umfasst mitunter ein ganzes Bündel an politischen, wirtschaftlichen und religiösen Reformen zur Herrschaftszeit Josephs II., aber in der Regel werden mit ihm als spezifischer Terminus nur die josephinischen kirchenpolitischen Reformen bezeichnet“,9 hielt Grafenauer nämlich stellvertretend für alle fest. Dementsprechend behandelten die Lemmainhalte abgesehen von diesem Einführungssatz für die je betroffene südslawische Nation ausschließlich diesen einen Aspekt. I.1 Eine serbische Rezeptionsgeschichte Serbischerseits hatte bei früherer Gelegenheit ausgerechnet der erste und einzige Autor, der sich ausdrücklich zu den beiden in diesem Band besonders thematisierten Josephinismuskonzepten von Eduard Winter und Fritz Valjavec zu Wort gemeldet hat, der Bereitschaft zu einer Forschungsanwendung des Konzepts (im Sinne eines zumindest auch in josephinischer Zeit zu verortenden Josephinismus) einen harten und offenbar bleibenden Schlag versetzt. Die Rede ist von Mita Kostić, der nach Kriegsende der Erstauflage der Winter’schen Arbeit von 1943 in dem von der Serbischen Akademie der Wissenschaften betreuten Istorijski časopis ebenso eine Rezension gewidmet hat wie bald darauf dem Valjavec’schen Josephinismusbuch in dessen zweiter Auflage von 1945.10 Kostić selbst und seine Stellung gegenüber den beiden duell haben sie die Kontaktherstellung sehr befördert. Die Bände (die auf potentiell besonders strittige Themen abhoben) zeigen zugleich eine gesonderte, höchstens einmal parallele, aber kaum je dialogisch verschränkte bzw. komparative Behandlung der Themen. Das 18. Jahrhundert und die Habsburgermonarchie als solche spielen kaum irgendwo eine Rolle. Eigens thematisiert wurde die fehlende Tradition und Praxis der gegenseitigen (komparativen) Bezugnahme insbesondere durch Ivo Goldstein, Komparativna istraživanje hrvatske i srpske povijesti – puka nostalgija, znanstvena potreba ili čak nužnost? [Eine komparative Erforschung der kroatischen und der serbischen Geschichte – reine Nostalgie, wissenschaftlicher Bedarf oder gar Notwendigkeit?]. In: Hans-Georg Fleck / Igor Graovac (Hg.), Dijalog povjesničara-istoričara, 2. Zagreb 2000, 33–41. 9 Enciklopedija Jugoslavije 4, wie Anm. 7, 549 (1960); 6, wie Anm. 7, 123 (1990). 10 Zu Winter ausführlich in Band 2 (1949/59), 251–256; zu Valjavec knapper in Band 3 (1951/52), 318f. – Für den freundlichen Hinweis auf die beiden Besprechungen bin ich Franz Leander Fillafer sehr zu

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Autoren stehen hier in der Folge für eine Weile im Vordergrund, denn in Kostić verkörpert sich von den 1930er Jahren an bis in die jüngste Zeit der Hauptpunkt der serbischen historiographischen Haltung gegenüber dem Josephinismus-Paradigma.11 Kostić war Jahrgang 1886, gebürtig aus dem seinerzeit also noch südungarischen Ort Sremska Mitrovica, einem sehr kleinen, für die k.u.k. Serben aber als Sitz des 1848 zum Patriarchen erhobenen orthodoxen Metropoliten hochwichtigen Zentrum der ungarnserbischen Kultur. Studiert hat Kostić Geschichte und Philosophie nicht etwa in Ungarn (oder an der damals jungen jenseits der Donau und der Staatsgrenze gelegenen Universität Belgrad), sondern in Wien. Dort promovierte er 1909 mit einer Arbeit über „Einflüsse der Staatsbehörden auf das serbische Geistesleben im XVIIIten Jahrhundert durch die Kurzböck’sche Buchdruckerei“ bei Konstantin Jireček.12 Die wissenschaftliche Leidenschaft für das Thema der Auswirkungen der Wiener Politik auf die gesellschaftlichen und konfessionell-kulturellen Verhältnisse der ungarischen Serben sollte ihn – ungeachtet eines daneben noch weitgespannten Interessensfelds vom Mittelalter bis hin zu serbisch-albanischen Beziehungsaspekten – bis zum Ende seines langen und ergiebigen Arbeitslebens über die Systemwechsel hinweg am meisten bestimmen. Auf dem Höhepunkt der titoistischen Periode bezeichnete ihn die Redaktion der historischen Zeitschrift der traditionsreichen „Matica srpska“ zu Ehren seines 85. Geburtstags als den „Doyen unserer historischen Wissenschaft“ (mit dem „unserer“ ist die der Serben gemeint, wenn nicht speziell auch der Vojvodinaer Serben). Die Redaktion hielt dabei fest, der Geehrte sei dieser Tage gerade dabei, sein Lebenswerk „Die Herrschaft Josephs II. und der Josephinismus bei den Serben“ zu vollenden.13 Dessen Abschluss stand zu diesem Zeitpunkt schon sehr lange in Erwartung, wie noch zu sehen sein wird. Kostić starb indessen 1980, ohne dass sein Lebenswerk erschienen wäre. Dank verpflichtet, dem ich auch sonst viele Anregungen verdanke. Die Besprechung gleich beider dieser überdies ja noch aus den Kriegsjahren stammenden deutschen Titel fällt in jenen Nachkriegsjahrgängen der neuen Zeitschrift ganz aus der Reihe. In Band 2 kam ansonsten neben einer größeren Menge aus Jugoslawien stammender Veröffentlichungen nur noch eine einzige weitere ausländische Publikation zur Rezension (ein sowjetischer Titel). In Band 3 war das Buch von Valjavec unter einer dann guten Handvoll im Ausland (sämtlich im Westen) erschienener besprochener Bücher das einzige in deutscher Sprache. 11 Eine gewisse historiographische Wiederbesinnung auf Kostić scheint sich in der umfangreichen dreibändigen Neuausgabe gesammelter Schriften auszudrücken, die jüngst (herausgegeben von Vlastimir Đokić) durch die kroatienserbische Kulturvereinigung Prosvjeta in Zagreb (und in den Bänden 1 und 2 offenbar parallel auch in Novi Sad) erfolgte: Mita Kostić, Kulturno-istorijska raskrsnica Srba u XVIII veku. Odabrane studije [Die kulturhistorische Wegscheide der Serben im 18. Jh.], hg. von Vlastimir Đokić. Zagreb 2010; Id., Grof Koler. Srpska naselja u Rusiji. Srpske privilegije [Freiherr Koller. Die serbischen Ansiedlungen in Russland. Die serbischen Privilegien]. Zagreb 2011; Id., Iz istorije Srba u Ugarskoj i Austriji XVIII i XIX veka. Odabrane studije [Aus der Geschichte der Serben in Ungarn und Österreich im 18. und 19. Jh.]. Zagreb 2013 [entspricht Izabrana dela Mite Kostića, Bde. 1–3]. 12 Vladimir Stojančević, Šezdeseta godišnjica naučnog rada i osamdeset i pet godina života akademika Mite Kostića [Zum 65. Jubiläum des wissenschaftlichen Wirkens und zum 85. Geburtstag des Akademiemitglieds Mita Kostić]. In: Zbornik Matice srpske za istoriju 4 (1971), 11–24, hier 11. 13 Redaktionelle Vorbemerkung im zitierten Band des Zbornik Matice srpske za istoriju, wie Anm. 12, [nichtpaginierte Seite 9].

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Wäre ihm die Vollendung wirklich geglückt, stünde es um die Rezeption des Josephinismusbegriffs in der serbischen Historiographie vielleicht erheblich anders als nach heutigem Stand der Dinge. Zumindest legt der kolportierte Titel nahe, dass das Buch der Vernachlässigung der Alleinherrschaft Josephs II. ein Ende bereitet hätte, die man für die serbische Geschichtsschreibung zu konstatieren hat. Auch wenn das Lebenswerk nicht zum Abschluss gekommen ist, hatte Kostić doch bereits deutlich vor den rund 13 beziehungsweise sogar 23 Jahre jüngeren Winter und Valjavec für unseren Gegenstand wichtige Studien vorgelegt. Hervorzuheben ist die Monographie „Freiherr Koller als kulturvermittelnder Reformator bei den Serben in Ungarn im 18. Jahrhundert“ von 1932.14 Hier hielt Kostić fest, die Regierungszeit Maria Theresias habe im Zuge ihrer allseitigen Reformen des ganzen Staates, aller seiner Länder und inwohnenden Völker auch den bis dahin ungeordneten privilegierten volkskirchlichen Status der Serben in einem Maße erfasst, dass Maria Theresias Herrschaft auch für die Serben eine Hauptepoche „in ihrem ganzen nationalkirchlichen Leben von [ihrer Ansiedlung im Zuge; K. C.] der Großen Wanderung (1690) bis zum Untergang der Monarchie und ihrer Befreiung (1918)“ gewesen sei.15 Zum Einstieg in das Buch hatte er sogar noch zugespitzt, speziell das Jahrzehnt von 1769 bis 1779, als der Leiter der Illyrischen Hofdeputation Freiherr Franz Xaver Koller von Nagy-Manya die entsprechenden Reformen ausgeführt habe, sei diese „Haupt­epoche“ gewesen, und zwar (also hier der Formulierung nach über den konfessionellen Bereich hinaus) Hauptepoche „im gesamten Leben der Serben“ jenes Zeitabschnitts von 1690 bis 1918. Mit den „von oben“ kommenden theresianischen Reformen, gegen den Willen des Volkes wie des Klerus durchgeführt, hätten die Serben insbesondere ihre vormalige russisch-slawische Orientierung aufgegeben und eine neue, auf den Staat und auf die von ihm kontrollierten Schulen und zensurierten Druckwerke orientierte österreichisch-deutsche Kulturausrichtung angenommen.16 Die Ausdehnung des Josephinismusbegriffs auf vor- (wie nach-)josephinische Zeiten, wie sie später Winter und Valjavec vorgenommen haben, hatte Kostić für seine Fragestellung mit Blick auf die theresianischen Reformen also bereits vorweggenommen. Mit Fritz Valjavec war Kostić bald darauf ab 1935 über sechs Jahre hinweg in durchaus regelmäßigem Schriftkontakt, bis zum letzten jugoslawischen Friedensjahr 1940.17 Der junge 14 Mita Kostić, Grof Koler kao kulturnoprosvetni reformator kod Srba u Ugarskoj u XVIII veku. Beograd 1932. 15 Kostić, Grof Koler, wie Anm. 14, 39. 16 Kostić, Grof Koler, wie Anm. 14, 1–3 (Zitatteil: 1). In der Betonung der Rolle der Produkte der staatlich geförderten Kurzböck’schen Druckerei (3 bzw. 66-82) setzte Kostić offenbar die Analyse aus seiner Wiener Dissertation von 1909 fort, die mir nicht zum Vergleich vorlag. 17 Nicht alle Schreiben haben sich erhalten, es liegen aber immerhin 22 Briefe und Notizkarten von Kostić (zwischen dem 26. 5. 1935 und dem 26. 7. 1940) vor und 16 Schreiben von Valjavec (zwischen dem 11. 10. 1935 und dem 5. 7. 1940). Der frühe Anfang der Korrespondenz ist übrigens ein Beleg dafür, dass Valjavec seine Tätigkeit am Südost-Institut schon vor seinem amtlichen Beschäftigungsbeginn aufgenommen hatte, der am 1. 10. 1935 war: Norbert Spannenberger, Südost-Forschung im Dienst der SS – Zur Biographie von Fritz Valjavec 1909–1945. In: Südosteuropa-Mitteilungen 54/4 (2014), 61–73, hier 66. Die umfangreiche Dienstkorrespondenz von Valjavec ab 1934 steht der Forschung jahr-

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Valjavec hatte als angehender Mitarbeit des 1930 in München gegründeten „Südost-Instituts“ mit einem nicht erhaltenen Schreiben vom 19. Mai 1935 versucht, Kostić als Beiträger für den ersten Band der von ihm begründeten Institutszeitschrift Südostdeutsche Forschungen (1940 umbenannt auf den noch heutigen Titel Südost-Forschungen) zu gewinnen. Kostić sagte von seinem damaligen professoralen Dienstort Skopje, wo er als Dekan der Philosophischen Fakultät amtierte, schon am 25. Mai einen Beitrag über „Serbische Studenten an Deutschlands Hochschulen im XVIII. Jahrhundert“ zu. Wegen einer schweren Erkrankung mit längerer Rekonvaleszenz sowie aufgrund unverhoffter Archivfunde lieferte Kostić seinen Aufsatz allerdings erst mit Schreiben vom 25. Dezember 1936 und damit zu spät sogar für den zweiten Band der Zeitschrift. Der dritte Band sollte laut Valjavec (Schreiben vom 28. 7. 1937) eigentlich Anfang 1938 erscheinen. Kostić nützte die fortdauernde Wartezeit am Ende noch im März 1938 für die Einarbeitung neuer Archivfunde, ehe ihm zwei Monate später der Geduldsfaden riss und er mit 5. Mai 1938 den Aufsatz für eine Veröffentlichung an anderem Orte zurückforderte. Am 13. Juni bestätigte er aber „mit Freude“ den Erhalt der „schon so lange erwartete[n] Korrektur“ und freute sich über die bevorstehende Publikation, die in Band 3 der Südostdeutschen Forschungen wirklich erfolgte.18 Abgesehen von dieser etwas wechselhaften editorischen Beziehung und regelmäßig thematisierten Mühen mit dem beiderseits verfolgten institutionellen Schriftentausch kamen sich der ältere „sehr verehrte Herr Professor“ Kostić und der „sehr geehrte Herr Doktor“ Valjavec auch aus der Ferne durchaus näher.19 Angesichts ihrer parallelen Forschungsinteressen waren beide erpicht darauf, vom Fortgang der auf das habsburgische 18. Jahrhundert bezogenen Arbeiten des Gegenübers zu erfahren und die jeweiligen neuesten Veröffentlichun-

gangsweise und alphabetisch in Konvoluten geordnet im Bayerischen Hauptstaatsarchiv zur Verfügung (BayHStA, Bestand Südost-Institut [SOI], Konvolute 31–75). Der archivalische Behelf zum Gesamtbestand des SOI am BayHStA wird in Kürze digital über die Webseite des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung zur Verfügung stehen. Ein detailliertes Verzeichnis der Korrespondenzpartner bis 1950 liefert Karl Nehring, Der Briefwechsel von Fritz Valjavec 1934–1950. Personen und Institutionen. In: Südost-Forschungen 53 (1994), 323–354. 18 Mita Kostić, Serbische Studenten an den Universitäten Halle, Leipzig und Göttingen im 18. Jahrhundert. In: Südostdeutsche Forschungen 3 (1938), 352–375. Die Umbenennung des Aufsatzes, weg von „Deutschland“, diente dabei der Präzisierung, da Kostić in der Tat ausschließlich diese drei Universitäten des Alten Reiches untersuchte, nicht von ungefähr sämtlich lutherisch geprägt, denn nur auf solche deutschen Universitäten hin richtete sich der Zufluss der zuvor in Ungarn auf evangelisch-lutherischen Mittelschulen ausgebildeten orthodoxen serbischen Studenten (vgl. ebd., 355f.). Sie spiegelte darüber hinaus aber wohl auch den am Erscheinungsort München durch den „Anschluss“ von 1938 gerade schon verändert gültigen neuen Deutschland-Begriff wider, denn die anderweitige Studentenmigration nach Wien hatte Kostić nur am Rande und in einem Zug mit den anderen von Serben frequentierten habsburgischen Universitäten in Pest und in Tyrnau behandelt (Ebd., 353f.). 19 Eine eigene Reise nach Wien, die Valjavec am 21. 8. 1937 zum Zweck des Kennenlernens gegenüber Kostić angekündigt hatte, der sich dort gerade zu Arbeiten im Haus-, Hof- und Staatsarchiv aufhielt, kam zum „wirklichen“ Bedauern Kostićs (Schreiben vom 9. 9. 1937, Skopje, nach dessen Rückkehr aus Wien) doch nicht zustande. Es blieb damit bei der reinen Briefbekanntschaft.

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gen zu erhalten – wenn möglich sogar vor ihrem offiziellen Erscheinen.20 Bereits in seinem ersten Schreiben hatte Kostić herausgestrichen, dass er außer als Dekan der Philosophischen Fakultät auch „mit Beendigung eines grösseren Werkes: ‚Die Regierung Josephs II und die Serben‘ gänzlich beschäftigt“ sei.21 Wie weiter oben gesehen, ist dieses zwar nie erschienen. Doch auch im Brief Kostićs an Valjavec vom 29. Juni 1936 stand ganz gegenteilig zu lesen: „Ende Juli fahre ich nach Budapest und Wien zwecks Archivstudien und Beendigung meines Buches ‚Kaiser Joseph II und die Serben‘, das mich schon einige Jahre vollkommen occupiert hält.“ Im gleichen Schreiben bat er den Jüngeren um die Zusendung allfälliger neuzeitbezogener Aufsatzveröffentlichungen aus dessen Feder in Fortsetzung einer Valjavec’schen Veröffentlichung zum deutschen Kultureinfluss im Ungarn des Mittelalters. Derlei weitere Aufsatz-Vorveröffentlichungen zu diesem seinerseits in Arbeit befindlichen Buch hatte Valjavec jedoch gar nicht im Sinn, wie er am 2. Juli 1936 Kostić aus München antwortete.22 Am Ende dieses Sommers meldete wiederum Kostić am 7. September per Ansichtskarte aus Slowenien in geradezu privatem Ton, er habe in den vorangegangenen zwei Monaten für seinen „Joseph II.“ in Budapest und Wien „– ganz unverhofft – so viel neues Material […] gefunden (obwohl ich dort schon früher darüber geforscht hatte), dass ich trotz besten Willens nicht dazu kommen konnte, den versprochenen Artikel [über „Die Serben an den deutschen Universitäten“] bis 1. September zu vollenden, da ich jetzt in Bad Neuhaus (Dobrnaj bei 20 BayHStA (wie Anm. 17), Kostić an Valjavec, Skopje 24. 5. 1939: „[…] mit grosser Ungeduld erwarte ich das Erscheinen Ihres angezeigten Buches: Der deutsche Kultureinfluss im nahen Südosten – im Buchhandel, da ich voraussetze, dasselbe in meiner fast schon fertigen Arbeit: ‚Kaiser Josef II. und die Serben‘ vielfach verwenden zu können. Deshalb möchte ich Sie bitten, wenn es möglich wäre, mir gleich nach dem Erscheinen das theresianische und josefinische Zeitalter in Ihren beiden angezeigten Bänden, wenn auch auf paginierten Zensur-Bögen, zuschicken zu wollen. Es täte mir sonst vielleicht leid, Ihre wertvollen Forschungsergebnisse in meinem Buche nicht verwenden zu können.“ Soweit ging die Nähe und das Zutrauen in ein nichtkonkurrierendes Miteinander aufseiten Valjavecs dann doch nicht; erst nach Erscheinen seines ersten Bandes (siehe Anm. 22) sandte er ihn mit seinem letzten im SOI-Bestand an Kostić überlieferten Schreiben vom 5. Juli 1940 zu. In gleichem Maß der Absicherung vor Kostić’scher Kritik wie der Bekundung von Interesse an größerer Nähe und stärkerer Berücksichtigung serbischer Aspekte dürfte dieser Begleitsatz gegolten haben: „Leider habe ich in München Ihre wertvollen Arbeiten nur zum Teil erreichen können. Doch hoffe ich sowieso demnächst einmal zwecks Archivstudien nach Belgrad kommen zu können und dann diese Literaturlücken für eine mögliche zweite Auflage zu ergänzen.“ 21 BayHStA (wie Anm. 17), Kostić an Valjavec, Skoplje 25. 5. 1935. 22 Wobei Valjavec hier zum ersten Mal dieses Buch erwähnte und – in einer zeitweiligen Spiegelbildlichkeit zu Kostić und seinem ewig verzögerten „Joseph II.“ – gleich davon sprach, dass diese Gesamtdarstellung „demnächst in Buchform erscheinen“ solle. Erschienen ist dieses Werk jedoch erst 1940: Der deutsche Kultureinfluß im nahen Südosten. Unter besonderer Berücksichtigung Ungarns. 1. Band. München 1940 (zugleich Band 21 der „Veröffentlichungen des Südostinstituts München“, 1942 umbenannt in „Südosteuropäische Arbeiten“). Die Nachkriegsveröffentlichung von Fritz Valjavec, Geschichte der deutschen Kulturbeziehungen zu Südosteuropa. 5. Bde., München 1953–1970 (Südosteuropäische Arbeiten, 41–45), stellt in den Bänden 1–3 eine erweiterte zweite Auflage des Titels von 1940 dar und behandelt wie dieser die Zeit vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert. Band 4 (19. Jahrhundert) und 5 (Register) erschienen posthum und herausgegeben von Felix von Schroeder. Vgl. den Beitrag von Petra Svatek im vorliegenden Band.

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Celje) das neue Material verarbeite u. meine Neurose heile. Ich fühle mich schuldig u. finde schon keine Worte zur Entschuldigung wegen weiterer Aufschiebung der Einlieferungsfrist. Bitte mich doch verstehen, u. verzeihen zu wollen. Mit Hochachtung Ihr Mita Kostić“.23 Für einen seinerseits als Autor eventuell säumigen Leser hält der Briefwechsel so in verschiedener Hinsicht einigermaßen trostreiche Passagen bereit.24 Übrigens dokumentiert auch eine von Valjavec zuvorkommend erfüllte Recherchebitte (wiederum mit Bezug auf die laufende Vorbereitung der Kostić’schen Monographie über Joseph II.) das einstweilen hergestellte und ziemlich belastbar gute Einvernehmen der beiden generationsmäßig unterschiedlichen Forscherpersönlichkeiten.25 Das Fortdauern des Respekts für das Schaffen des Jüngeren – über die Kriegsereignisse mit der deutschen Besatzungsherrschaft in Serbien und über die für Kostić sicher in begrenztem Umfang erahnbare nationalsozialistische Belastung der Person Valjavec hinweg26 – zeigte sich 23 Am 12. September 1936 reagierte Valjavec wie gewünscht, nämlich unter Ausdruck der Freude über Kostićs reichen Erfolg in den Archiven und mit Verlängerung der – wie sich zeigen sollte, durch Kostić am Ende wiederum nicht eingehaltenen – Abgabefrist des Beitrags für Band 2 bis 1. Dezember 1936. 24 Jenseits des Aufsatzmanuskripts also im Fall von Valjavec das immerhin vier Jahre währende „demnächste“ Erscheinen des Deutschen Kultureinflusses, im Falle Kostićs das Ausbleiben des Lebenswerks auf immer. Bei ihm kam 1941 freilich ein Schicksalsschlag hinzu, der für sein weiteres Leben die Intensität seiner Probleme mit dem nie erreichten Werk-Abschluss auf eine Ebene hob, die mit den heute üblichen auktorialen Hemmungen schwer vergleichbar ist: Mit dem bulgarischen Einmarsch in Makedonien und dessen Hauptort Skopje im Frühjahr 1941 war Kostić zum Flüchtling geworden. Seine reiche Privatbibliothek, die Mehrzahl der über die Jahrzehnte seines Schaffens vorgenommenen Archivabschriften und sonstigen Exzerpte wie auch der Großteil seiner Korrespondenz gingen ihm dabei für immer verloren: Stojančević, Šezdeseta godišnjica naučnog rada, wie Anm. 12, 16. 25 Kostić an Valjavec, 22. 3. 1937, und Valjavec an Kostić, 1. 6. 1937 (seinerseits nun auch mit einer Literaturbitte reagierend). Die Bitte Kostićs hatte sich auf die Inhaltsübermittlung einer kritischen Rezension der deutschen zweibändigen Ausgabe des Werkes von Paul von Mitrofanov über Kaiser Joseph II. bezogen, die in Band 144 (1911) der Preußischen Jahrbücher erschienen war, da dieser Band in den serbischen Bibliotheken nicht vorhanden sei. Das Fehlen dieser im wilhelminischen Deutschland hoch einflussreichen und in deutschsprachigen Bibliotheken entsprechend weitverbreiteten politisch-historischen Monatsschrift zeigt gut auf, wie schwierig in den 1930er Jahren das Funktionieren einer Sprachgrenzen überschreitenden mitteleuropäischen wissenschaftlichen Communitas und wie mühsam der Zugang der serbischen Historikerkollegen zu solchen Materialien war. 26 Abgesehen von den diversen auf ihn bezogenen Beiträgen in dem wissenschaftsgeschichtlichen Pionierwerk zur Südosteuropaforschung in der NS-Zeit: Mathias Beer / Gerhard Seewann (Hg.), Südostforschung im Schatten des Dritten Reiches. Institutionen – Inhalte – Personen. München 2004, nunmehr insbesondere Norbert Spannenberger, Südost-Forschung im Dienst der SS, wie Anm. 17 (vgl. auch weitere Beiträge in jenem Themenheft 2014/4 der Südosteuropa-Mitteilungen, sowie den Beitrag Spannenbergers in diesem Band). Von der SS-Mitgliedschaft von Valjavec (deren Beginn vermutlich mit 1941 zu datieren ist und die ihren Vorlauf in diversen Berichten an SS-Stellen ab 1937 und in der Einverleibung des Südost-Instituts in einen der SS unterstellten Institutionenverbund im Jahre 1940 hatte; vgl. ebd. 70–72) zum Beispiel wird Kostić (wie andere ausländische Kollegen) aber gewiss ebenso wenig gewusst haben wie explizit von seiner schon 1933 begonnenen Mitgliedschaft in der NSDAP. Auf der Tagung im Oktober 2002, die dem Sammelband Südostforschung im Schatten des Dritten Reiches zugrunde lag, kam übrigens durch diverse Wortmeldungen deutlich zum Ausdruck, wie vielschichtig

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in Kostićs Rezension der Valjavec’schen Josephinismusstudie. Es hatte in ihrer früheren Verbindung sicher einen seiner Gründe. Die Besprechung ist allerdings mit in Summe einer Textseite knapp gehalten. Valjavec habe hier ein kenntnisreiches und mit großer Akribie verfasstes Werk geschrieben,27 zu dem Kostić freilich sodann eine seinerseits akribische Korrektur hinsichtlich des josephinischen Broschürenwesens anbringt. Dann kommt aber doch noch über die Hälfte des Textes hinweg deutlichere Kritik. Sie hatte dem serbischen Leser ohne Zweifel auch klarzumachen, bei wem in serbischen Fragen jener Epoche die eigentliche Kompetenz zu suchen war. Valjavec nämlich habe in seinem kapitalen Buch Der deutsche Kultureinfluss im nahen Südosten von 1940 – „für einen Ausländer [kao stranac; Hervorhebung durch K. C.] eine ziemliche Kenntnis unserer Kultur- und Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts gezeigt, wie auch der diesbezüglichen Forschungsliteratur, zudem die eine oder andere neue Angabe aus Wiener Archiven für diese Zeit angeführt“. Umso mehr komme es als Überraschung, dass er zum Beispiel auf Seite 118 seines neuen Buches in Hinblick auf die Verknüpfung von Aufklärung und Bürgertum meine, die Serben hätten bis tief ins 19. Jahrhundert praktisch kein Bürgertum gehabt. Unzutreffend und prätentiös sei insbesondere die Behauptung, Handel und Handwerk hätten sich bei den Serben weitgehend in den Händen fremder Nationalitäten befunden. Der Refutation dieser Behauptung widmete Kostić den Rest seines Textes. Valjavecs Darlegung hatte ihn an diesem Punkt offenkundig bei der nationalen und zudem wohl auch bei der den neuen politischen Verhältnissen angepassten ideologischen Ehre gepackt, der gemäß ihm die Leugnung eines revolutionsrelevanten Bürgertums ein Greuel sein musste. Hinzu kam, dass der Leiter und Herausgeber der Südost-Forschungen Valjavec wohl gar den Kostić-Beitrag von 1938 in seiner eigenen Zeitschrift nicht aufmerksam genug gelesen oder ihm womöglich, horribile dictu, keinen Glauben geschenkt hatte. Dort schon hatte nämlich Kostić an herausgehobener Stelle in aller Deutlichkeit das akkurate Gegenteil dessen herausgestrichen, was Valjavec in seinem Buch zum serbischen Bürgertum zu äußern beliebte.28 Derlei Unbelehrbarkeit konnte der Wissenschaftler und Mensch Kostić einem Jüngeren und Ausländer offenbar doch nicht durchgehen lassen. Der ihm von früher bekannte Valjavec kam aber eigentlich mit seinem anscheinend abgesehen von den serbischen Aspekten „kenntnisreichen Buch“ doch noch ganz gut weg. Das ergibt sich besonders, wenn man zum Vergleich heranzieht, wie Kostić in seiner schon zuvor erschienenen Rezension von Eduard Winters Buch den Autor trotz punktuellem hohen Lob in

und zugleich (da vielleicht nicht zuletzt zur Absicherung in allen Eventualitäten dienend) wohl auch opportunistisch Valjavecs Verhalten gewesen sein dürfte. So unterhielt er offenbar in den Kriegsjahren in München durchaus enge Kontakte zu dortigen bayerisch-partikularistischen Zirkeln passiven Widerstands im Umfeld des Hauses Wittelsbach. 27 So Kostić in seiner bereits angeführte Rezension im Istorijski časopis 3 (1951/52), wie Anm. 10, bis hierher 318, der Rest 319. 28 Kostić, Serbische Studenten, wie Anm. 18, 353, wo er gerade einen raschen Aufschwung der serbischen Kaufmannschaft (die sich „so emporhob, daß um die Mitte des 18. Jh.s die serbischen Handelsleute und Handelskompagnien fast den ganzen Binnenhandel Ungarns in ihre Hände bekamen“) als einen der Hauptfaktoren für den stärkeren Besuch inländischer nichtorthodoxer Mittel- und Hochschulen festgemacht hatte, der dem anschließenden Besuch deutscher Universitäten vorausging.

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seine Kompetenz-Schranken gewiesen hatte.29 Kostićs Einstieg in diese Buchbesprechung ist marxistisch getönte Universalhistorie: „Der Josephinismus in der ehemaligen Habsburgermonarchie stellt womöglich eine der interessantesten Phasen in dem nahezu ununterbrochenen Kampf auf unserer Welt zwischen der reaktionären kirchlichen und der progressiven weltlichen Herrschaft dar, von Kirche und Staat, von ‚sacerdotum‘ und ‚imperium‘.“30 Das zu besprechende Werk Winters, das den Josephinismus und seine Epoche von 1740 bis 1848 behandele, sei auch für „unsere Wissenschaft“ von hoher Bedeutung, weil nämlich in der älteren Literatur (durch Jovan Skerlić) auch die ganze rationalistische Bewegung bei den Serben, mit Dositej (Obradović) an ihrer Spitze, auf die josephinische Bewegung in Österreich zurückgeführt worden sei. Eine spezielle und vollständige Monographie zum Josephinismus gebe es auch in der österreichischen Historiographie bis zu Stunde nicht; Winter wiederum behandle nicht den ganzen Josephinismus, sondern untersuche ihn im Sinne des Reformkatholizismus auf wichtige geistesgeschichtliche Weise. Dagegen träten die staats- und nationalpolitischen Aspekte in den Hintergrund.31 Nach einer Darlegung der Winter’schen Buchstruktur lobt Kostić die „Unmenge“ an verwendeten neuen Quellen und preist das Werk als für die Geschichte des Josephinismus in Böhmen und Mähren ausgezeichnetes wissenschaftliches Werk. Nach diesem zweischneidigen, da auf aus serbischer Sicht enge geographische Grenzen beschränkten Lob gelangt Kostić im Weiteren zu einem eigentlich vernichtenden Urteil. Zum einen störten, so der Rezensent, die ungenügenden Verweise und die ungenügende Diskussion der vorhandenen Literatur. Dies mache es selbst Experten schwer zu erkennen, ob Winter das tatsächlich Vorhandene überhaupt kenne. Da wiederum die Geistesgeschichte des Josephinismus mit besonderem Bezug auf Böhmen und Mähren „für uns von geringerem Interesse ist“, beschränke sich der Rezensent im Weiteren auf die kritische Hinterfragung von Winter’schen Aussagen zur Herkunft der josephinischen Reformideen in der einstigen Monarchie als ganzer und mit der Bedeutung der von Winter dargestellten Josephinismusgeschichte für die serbische Forschung über die Geschichte des Josephinismus bei den Serben.32

29 Während Valjavec und Winter in den für beider Josephinismusstudien wichtigen Kriegsjahren 1942, 1943 und 1944 korrespondiert hatten (vgl. Nehring, a.a.O., S. 337) und Winter ab 1942 in den Kriegsjahren als Mitglied im „Redaktionsausschuss“ der Südost-Forschungen figurierte (1942 hat er auch selbst in ihnen veröffentlicht: Der Jansenismus in Böhmen und Mähren und seine Bedeutung für die geistige Entwicklung Österreich-Ungarns. In: Südostdeutsche Forschungen 7 [1942], S. 440–457), bestand zwischen Kostić und Winter wahrscheinlich keine persönliche Beziehung, auf die Kostić Rücksicht hätte nehmen müssen. In dem freilich erst nach 1945 einsetzenden Nachlassbestand Winters an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (www.archiv-bbaw.findbuch.net) scheint Kostić weder unter den eingehenden noch den ausgehenden Briefen auf (während von Valjavec immerhin ein Briefeingang von 1956 verzeichnet ist). Und auch in der Vorkriegszeit hatte Kostić wahrscheinlich weder Anlass noch Gelegenheit gehabt, mit dem Böhmendeutschen Winter in Kontakt zu sein, da dieser anders als Valjavec ja keinen serbischen bzw. Südosteuropabezug in seiner Forschung hatte und auch noch nicht in dem Maße wie ab 1943 als Josephinismusforscher hervorgetreten war. 30 Kostić, Rezension Winter, Josefinismus, wie Anm. 10, 251. 31 Kostić, Rezension Winter, Josefinismus, wie Anm. 10, 251. 32 Bis hierher Kostić, Rezension Winter, Josefinismus, wie Anm. 10, 252.

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Mit Blick auf Ersteres findet Kostić die von Winter diagnostizierte Konstellation der wichtigsten Beteiligten nicht adäquat analysiert. Vor allem aber kommt er im Zug der Erörterung der (von Winter laut Kostić ja eben zu wenig berücksichtigten) vorhandenen älteren Forschung zum reichsweiten Josephinismus und mit Blick besonders auf ein Werk aus dem Jahre 1914 ganz grundsätzlich zu einem Verdikt. Es kann hier inhaltlich nicht weiter nachgeprüft, sondern nur wiedergegeben werden: „So kommt am Ende heraus, dass Winter in der Frage der Ideen-Herkunft der josephinischen Reformen in seinem, übrigens zur Geschichte des Josephinismus in Böhmen und Mähren hervorragenden Buch, nichts vorgebracht hat, was gegenüber Holzknecht neuer oder besser wäre.“33 Und weiters, nun in puncto Serben: Winter sage, er untersuche den Josephinismus im engeren Sinne des Versuchs einer von Grund auf angelegten Reform der römisch-katholischen Kirche, die unter Joseph II. den Höhepunkt erreicht und nach ihm ihren Namen erhalten habe. Das gelte, so Kostić, für alle Völker der Monarchie, nur nicht für die Serben, weil dort der „Josephinismus“ seinen Höhepunkt nicht unter Joseph, sondern unter Maria Theresia erreicht habe, wie Kostić noch unter Verweis auf sein „Koller-Buch“ von 1932 näher darlegt.34 Kostić schließt: „Insgesamt unterstreicht dieses Winter’sche Buch über den Josephinismus und seine Geschichte vorrangig in Böhmen und Mähren von 1740 bis 1848 die wissenschaftliche Notwendigkeit auch einer ehestmöglichen Spezialmonographie über den Josephinismus bei den Serben, und dies ebenso im Sinne eines vollständigen Verständnisses der josephinischen Bewegung als ganzer in der ehemaligen Gesamtmonarchie, wie auch insbesondere im Sinne eines richtigen Verständnisses der gesamten serbischen rationalistischen Bewegung, die in unserer Forschung fälschlich mit dem Josephinismus in Verbindung gebracht wird.“35 Diesem Eigenauftrag ließ Kostić Taten folgen. 1952 legte er in der renommierten Reihe „Gesonderte Veröffentlichungen“ (Posebna izdanja) der Serbischen Akademie der Wissenschaften seine Monographie über den bekanntesten serbischen Aufklärer vor, Dositej Obradović.36 In der Darstellung von Dositejs Wienaufenthalt der Jahre 1771 bis 1776 vertiefte er dort noch einmal seine Darstellung (bzw. seine angeführten „Beweise“, wie er in der deutschen Zusammenfassung schrieb), „dass die Serben in der Monarchie keinen sogenannten ‚Josephinismus‘ in der zeitlichen Bedeutung dieses Wortes für die Periode 1780–1790 hatten, da die Reformen, die Joseph II. bei allen Völkern der Monarchie (außer bei den Serben) zwischen 1780–1790 durchführte, Maria Theresia bereits ein Dezennium früher durch die 33 Kostić, Rezension Winter, Josefinismus, wie Anm. 10, 255, unter Verweis auf: Georgine Holzknecht, Ursprung und Herkunft der Reformideen Kaiser Josephs II auf kirchlichem Gebiete. Innsbruck 1914. Zu ihrer Studie vgl. in diesem Band die Angaben durch Franz Leander Fillafer, Das Elend der Kategorien, 94. 34 Kostić, Rezension Winter, Josefinismus, wie Anm. 10, 255f. 35 Kostić, Rezension Winter, Josefinismus, wie Anm. 10, 256. 36 Mita Kostić, Dositej Obradović u istoriskoj perspektivi XVIII i XIX veka [D. O. in der historischen Perspektive des 18. und 19. Jh.s]. Beograd 1952 [mit deutscher Zusammenfassung der Ergebnisse 288–291]. Eine kurze, aber sehr positive Besprechung erfuhr dieses Buch durch Fritz Valjavec in den Südost-Forschungen 14 (1955), 304.

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Illyrische Hofdeputation […] ohne wesentliche Mitwirkung Josephs II. unter den Serben (und bei keinen anderen Völkern der Monarchie) durchgeführt hatte.“37 Am Ende galt als Resultat, dass die Kostić’sche Reviersicherung – denn als solche möchte ich seine Einwendungen gegen Valjavec und Winter neben wissenschaftlichen Beweggründen zumindest auch verstehen – qua eigener Rezeptionshegemonie in Sachen Josephinismus innerserbisch zu einem vollständigen Triumph gelangte. Kostić als der beste serbische Kenner der Materie hatte autoritativ bei diversen Gelegenheiten festgestellt, dass es einen eigentlichen Josephinismus – jedenfalls einen solchen wie im allgemein-habsburgischen Sinne – bei den Serben nie gegeben habe. Die Regierungszeit Josephs II. zu untersuchen, hatte er sich in seiner offenbar vielfach und immer wieder angekündigten, freilich letztlich auf ewig ausständigen Großmonographie vorbehalten. Kostić, um 1950 bereits Mitte sechzig, war innerserbisch nicht nur der Kenner der Materie, sondern wurde im Weiteren auch noch unübersehbar ein immer einflussreicherer Fachvertreter: 1955 wurde er korrespondierendes Mitglied in der sozialwissenschaftlichen Klasse der Serbischen Akademie der Wissenschaften, 1958 zum Direktor des „Historischen Instituts“ (der Akademie) gewählt (also zum Leiter der zentralen außeruniversitären historischen Forschungseinrichtung der Teilrepublik Serbien), 1961 auf Vorschlag der Belgrader Universität per Erlass von Präsident Tito mit dem hohen „Orden der Arbeit mit roter Fahne“ ausgezeichnet, 1963 zum ordentlichen Mitglied der Akademie ernannt.38 Unter Berücksichtigung seines abschreckenden Urteils von der Nichtexistenz eines eigentlichen Josephinismus bei den Serben lieferte Kostićs Karriere einen schlagenden Grund für die Mit- und Nachwelt, sich nicht mehr auf den „Josephinismus“ als Thema einzulassen. Im 1959 erschienenen Band 2 der „Geschichte der Völker Jugoslawiens“ behandelte der zuständige Autor Branislav Vranišević (der als bloßer Professor an der Pädagogischen Hochschule in Novi Sad einer Größe wie Kostić gewiss nicht unnötig ins Gehege kommen wollte) die als solche nicht eigens benannten theresianisch-josephinischen Reformen gegenüber der serbischen Orthodoxie nur unter dem Gesichtspunkt der Abschaffung der vormaligen kaiserlichen Privilegien. Dabei widmete er dem theresianischen Zeitabschnitt immerhin knapp vier Seiten, dem josephinischen Jahrzehnt aber bloße 21 Zeilen.39 Die Verwendung von – oder die Auseinandersetzung mit – dem Begriffsfeld „Josephinismus“ scheint in der serbischen Historiographie in den folgenden Jahrzehnten komplett abgekommen zu sein, und fast in gleichem Maß gilt das auch für das gesamte Jahrzehnt 1780–1790. In der relevanten Überblicksdarstellung zur „Geschichte des serbischen Volkes“ 37 In der deutschen Zusammenfassung (wie Anm. 36) 289, mit Bezug auf das entsprechende Kapitel (3659). Gleichsam nebenbei lieferte Kostić hier auch noch in einem dritten Teil der Monographie über „Dositejs Einfluss auf die Rationalisierung unserer Gesellschaft und auf die ideologische Formierung unseres Bürgertums“ (198–288) die Entwicklungsgeschichte des serbischen Kaufmanns- und Handwerkerbürgerstandes, deren Missverständnis er Valjavec vorgeworfen hatte. 38 Auflistung nach Stojančević, Šezdeseta godišnjica naučnog rada, wie Anm. 12. 39 Branislav Đurđev / Bogo Grafenauer / Jorjo Tadić (Hg.), Historija naroda Jugoslavije, 2. Zagreb 1959, 1184–1187 bzw. 1187f. Das Werk war als Kollektivwerk angelegt, ohne eigentliche Ausweisung der Autorenschaften, außer über eine Art Zuweisungsschlüssel (VI-VIII), der für diese Seiten Branislav Vranišević belegt.

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aus der sozialistischen Spätphase betont der mit den habsburgischen Serben im 18. Jahrhundert beschäftigte Autor zwar die Bedeutung der Wiener Politik und des ungarischen Verfassungsrahmens für die Stellung der habsburgischen Serben, er schildert beide Faktoren aber dann doch wieder allein im Sinne ihrer spezifischen „Serbenpolitik“. Analog dazu ordnet er die Vorgänge rund um die Neuordnung des kirchenrechtlichen Status kurz in den Rahmen eines allgemeinstaatlichen Übergangs vom Feudalrecht zu einer absolutistischen Gesetzgebung modernen Typs ein, er nimmt aber auf „Josephinismus“ oder dergleichen Semantik keinen Bezug.40 Bei einer trunkierten Stichwortsuche unter „jozefini*“ (wie jozefinizam – Josephinismus, jozefinistički – josephinistisch etc.) im OPAC der Serbischen Nationalbibliothek (Narodna biblioteka Srbije), der neben Monographien und Sammelbänden auch zahlreiche Aufsatztitel einzeln erfasst, war das Ergebnis auf dem Stand von Mitte April 2015 dann auch ganz konsequent: null Treffer. Nur gleichsam von „halbaußen“, nämlich durch eine nach Großbritannien abgewanderte Historikerin, hellt sich dieses Bild in jüngster Zeit etwas auf.41 Doch hat dies in Serbien selbst noch keine Rückwirkung gezeitigt, wie es scheint. I.2 Kroatische Rezeption Die Zentralposition eines einzelnen Wissenschaftlers, Mita Kostić, der international vernetzt genug war, um in unmittelbarem Bezug zur nichtserbischen Forschung und einzelnen ausländischen Kollegen zu stehen, und der diese Forschung durch eigene Besprechungen gegenüber dem heimischen Fachpublikum autoritativ zu deuten vermochte, fällt unter eine typische Art von kontingenten Faktoren, welche vor allem bei selteneren epochalen oder inhaltlichen Spezialisierungen wie dem „Josephinismus“ die grenz- und sprachüberschreitende Rezeption eines jeden Forschungsparadigmas wesentlich beeinflussen können. So wie es indessen für die serbische schwache Rezeption jenseits der individuellen Kontingenz auch strukturelle Ursachen gibt, von denen noch zu reden sein wird, so gibt es auch innerhalb der gleichfalls immer noch recht geringfügigen, aber doch stärkeren kroatischen historiographischen Verwendung des Josephinismuskonzepts neben strukturellen Aspekten wieder auch individuell-zufällige 40 Aleksandar Forišković, Politički, pravni i društveni odnosi kod Srba u Habsburškoj Monarhiji [Politische, rechtliche und gesellschaftliche Beziehungen bei den Serben in der Habsburgermonarchie]. In: Istorija srpskog naroda [Geschichte des serbischen Volkes], 4/1: Srbi u XVIII veku [Die Serben im 18. Jh.]. Beograd 1986, 233–305, hier insbesondere 280 und 264. 41 Gemeint ist Marija Petrović, deren unveröffentlichte Oxforder Dissertation (Marija Petrovic, Josephinist Reforms and the Orthodox Church Hierarchy in the Habsburg Lands. Diss. Oxford 2010) anders als einst Kostić in seinen Veröffentlichungen auch das Jahrzehnt 1780–1790 behandelt und es als Kernphase auch des kirchenbezogenen Josephinismus bei den Serben herausstellt. In Kapitel 6 (179–199), das mir freundlicherweise durch Franz Leander Fillafer zugänglich gemacht wurde, führt sie die Spur von Kostićs Dissertation über Joseph Kurzböcks Druckerei mit neuen Akzenten fort. Siehe von ihr ansonsten auch knapp: Marija Petrović, Austrian Enlightenment the Orthodox Way. The Church Calendar of the Habsburg Serbs and the Josephinist Reforms. In: Harald Heppner / Eva Posch (Hg.), Encounters in Europe’s Southeast. The Habsburg Empire and the Orthodox World in the Eighteenth and Nineteenth Centuries. Bochum 2012, 45–54.

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Faktoren. Nochmals ist hier mit zu bedenken, dass es sich bei den auf das 18. Jahrhundert (und dessen etwaige Fortwirkungen im 19. Jahrhundert) spezialisierten Forscherkreisen in beiden Ländern um sehr kleine Gruppen handelt. Es kommt also hier wie dort in besonderem Maße auf einen jeden Kostić, auf jede Forscherin, auf jeden Forscher und dessen vielleicht zufällig gewachsene Interessen und Spezialisierungswünsche an. In diesem Sinne würde ich es als „Rezeptionszufall“ bezeichnen, dass Ivana Horbec, eine Forscherin, die in jüngster Zeit mehrfach mit umfassenden Beiträgen zur politischen und administrativen Institutionengeschichte des 18. Jahrhunderts hervorgetreten ist, ihren Schwerpunkt ausdrücklich auf die Regierungszeit Maria Theresias legt. In der von Lovorka Čoralić kürzlich herausgegebenen, eindrucksvoll-innovativen kollektiven Gesamtdarstellung der kroatischen Lande im 18. Jahrhundert beispielsweise hat dies dann eben zur Folge, dass sie in der ausgezeichneten Darstellung der politischen Institutionen mit den 1770er Jahren zum Ende kommt.42 Einen in die gleiche Richtung, nämlich der vergleichsweisen Vernachlässigung der engeren josephinischen Zeit, wirkmächtigen Zufall gab es auch schon früher: Der eingangs zitierte Jaroslav Šidak nämlich hat zwar den Lexikoneintrag „Josephinismus bei den Kroaten“ in der Enciklopedija Jugoslavije übernommen und sich in der Historija naroda Jugoslavije klug und vertieft mit den administrativen Verhältnissen nicht nur der theresianischen Zeit, sondern auch des Jahrzehnts 1780–1790 auseinandergesetzt.43 Sein sonstiges 42 Ivana Horbec, Političke ustanove [Politische Einrichtungen]. In: Lovorka Čoralić (Hg.), U potrazi za mirom i blagostanjem. Hrvatske zemlje u 18. stoljeću [Auf der Suche nach Frieden und Wohlstand. Die kroatischen Lande im 18. Jh.]. Zagreb 2013, 27–52. Es sei betont, dass dies nicht als Vorwurf gemeint ist: Ein etwaiger Experte/eine Expertin für das Jahrzehnt der Alleinregierung Josephs II. hätte umgekehrt sicher ebenso die Neigung, allgemeine Züge des Jahrhunderts anhand des ihm/ihr besonders vertrauten Abschnitts zu behandeln – Zufall eben. In einer weiteren sehr instruktiven Abhandlung über die Institution des kroatischen Banus zu Zeiten Maria Theresias bricht Horbec ihre Betrachtung ebenfalls mit Ausnahme eines Ausblicks von wenigen klugen Zeilen mit 1779 ab, obwohl der letzte „theresianische“ Banus noch bis 1782 amtierte: Ivana Horbec, Homo principis et homino statuum – banska služba u vrijeme Marije Terezije [Der Dienst als Banus zur Zeit Maria Theresias]. In: Povijesni prilozi 37 (2009), 267–316 (der Ausblick auf 313). Das steht im Einklang mit dem Titel – das Verfahren geht dennoch im Effekt zu Lasten einer historiographischen Auseinandersetzung mit den spannenden Auswirkungen der direkt josephinischen Politik auf die kroatische administrative Realverfassung. Gerade weil Horbec zur deutschen Forschung bestens bewandert ist und sogar – als eine Seltenheit! – ungarisches Material heranzieht, liefert sie in dieser Arbeit zugleich ein belastbares Beispiel für die eingangs von mir angesprochene schwache Kommunikation zwischen kroatischer und serbischer Forschung, und zwar wo sie auf das kroatische Reformwirken von Freiherr Franz (Ferenc) Xaver Koller eingeht (307–310), ohne Bezug auf die alten „Parallelforschungen“ von Mita Kostić zu dessen serbischem Wirken zu nehmen. 43 [Jaroslav Šidak,] Jugoslavenske zemlje pod habsburškom vlašću u vrijeme absolutizma. Hrvatska [Die südslawischen Länder unter habsburgischer Herrschaft während der Zeit des Absolutismus. Kroatien]. In: Đurđev / Grafenauer / Tadić (Hg.), Historija naroda Jugoslavije 2, wie Anm. 39, 998–1117, hier 1101–1104. Bemerkenswert ist etwa seine beiläufige „Erledigung“ der Vorstellung von Joseph II. als einem bewussten National-Germanisator (und das, obwohl Šidak in einer Zeit und Umgebung schrieb, in der die Paradigmen der den Kroaten einst gedroht habenden und noch retrospektiv von der Historiographie zu bekämpfenden „Germanisierung“, „Magyarisierung“ oder, an der Küste: „Italianisierung“ und insgesamt der „Entnationalisierung“ allgegenwärtig war!). Zur Einordnung der Sprachenpolitik

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fruchtbares Schaffen hat er aber auf das Mittelalter und vor allem auf das 19. Jahrhundert konzentriert. Das 18. Jahrhundert und die josephinische Zeit blieben Randglossen in seinem Werk. Angesichts seiner zentralen innerdisziplinären Position und seines Zagreber Schülerkreises war das von erheblicher Bedeutung. Vertiefungen im 18. Jahrhundert erfolgten ganz allgemein derart selten, dass der Aufschwung der kroatischen Forschung zu diesem Jahrhundert wohl wirklich erst in jüngster Zeit so ausgeprägt zum Tragen kommen konnte. Dass dieser Aufschwung wenigstens an einem wichtigen Punkt auch der Erforschung der genuin josephinischen Reformen zugutegekommen ist, verdankt sich vorab Alexander Bu­ czynski und seiner Aktenstudie „Es sind ja nur Kroaten! Quellen zur Geschichte der Kantonalreorganisation der Militärgrenze im Jahr 1787“.44 Buczynski hat darin nicht nur im deutschen Originalwortlaut zahlreiche aussagekräftige Akten veröffentlicht, sondern dem auch eine umfassende, ihrerseits fast schon monographische Studie zur Entstehung der einzelnen Reformdokumente und zur allgemeinen Analyse der josephinischen Reform der Militärgrenze vorangestellt. Überzeugend führt der Autor vor, dass eben jene, in der vorherigen Historiographie zur Militärgrenze ganz zu Unrecht vernachlässigte Kantonalreform trotz ihrer nur zwölf Jahre währenden Lebenszeit als eine grundlegende Wegscheide in der Geschichte der „Grenze“ zu betrachten ist.45 Auch allgemein scheint sich die Thematisierung der etwa im kirchlichen und im Verwaltungsbereich so evidenten Reformkulmination mit und unter Joseph II. etwas mehr einzubürgern.46 Auffallend ist an den hier zitierten Beispielen freilich, dass dabei keine Bezugnahme auf die neueste, vor allem österreichische Literatur über den Josephinismus wie auch über die etwaigen analytischen Grenzen dieser Begriffsbildung erfolgt, geschweige denn eine produktive eigentliche Auseinandersetzung mit dieser Literatur. Ansatzweise (nämlich über die Verwendung einer Besprechung eines der relevanten Titel auf H-Soz-Kult, was wiederum die Bedeutung eines funktionierenden Rezensionswesens, nunmehr auch gewiss nicht zuletzt in digitaler Form, für die Rezeption auch der uns betreffenden Forschungsparadigma untermauert) geschieht das hingegen durch Drago Roksandić. In (Einführung des Deutschen als innerer Verwaltungssprache [und, so Šidak irreführend: auch als einzige Sprache des öffentlichen Lebens] mit Erlass vom 26. 4. 1784 mit vorgeschriebener Umsetzung binnen Dreijahresfrist; Einführung von Deutschunterricht auch in den zweiten Klassen der Volksschulen Anfang 1787) schrieb er differenziert (1101; Übersetzung K. C.): „Eine solche Sprachenpolitik hatte nicht die Entnationalisierung der nichtdeutschen Bevölkerung zum Ziel, sondern ging unter den gegebenen Umständen notwendig aus dem kaiserlichen Streben hervor, das System seiner absolutistischen Herrschaft bis zum Ende zu errichten. Dies wird unter anderem durch das Bestreben belegt, zum Schulgebrauch die Rechtschreibung in Kroatien und Slawonien zu vereinheitlichen. In der dafür 1783 eingesetzten Kommission herrschte die Auffassung vor, dass zur Grundlage der einheitlichen Rechtschreibung die Orthographie der slawonischen Autoren verwendet werden möge.“ 44 Alexander Buczynski, Pa to su samo Hrvati! Građa za povijest kantonske reorganizacije Vojne krajine 1787. godine. Zagreb 2011. 45 Buczynski, Pa to su samo Hrvati, wie Anm. 44, 9. 46 Vgl. Maja Katušić, Pregled političkih zbivanja [Überblick zum Politikgeschehen]. In: Čoralić (Hg.), U potrazi za mirom i blagostanjem, wie Anm. 42, 3–26, hier der eigene Abschnitt Hrvatske zemlje u vrijeme vladanja cara Josipa II. (1780–1790) [Die kroatischen Lande in der Regierungszeit Kaiser Josephs II.] (17–21).

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einem spannenden Neuansatz untersucht er im betreffenden Aufsatz die Wahrnehmung der Drau (des Flusses wie der Landschaft und deren Bewohner) mit „josephinistischen Augen“, durch Verwendung etlicher Reiseberichte.47 In dieser umwelt- und reise- bzw. stereotypengeschichtlichen Darlegung hebt Roksandić, meines Erachtens sehr scharfsinnig, die Unterschiede hervor zwischen der theresianischen und der josephinischen Herrschaftsweise in Hinblick auf die in letzterer ungleich gesteigerte Bedeutung der Herrschaftsempirie und der (auch kaiserlichen) Reisekultur.48 Das ist ein wichtiger Aspekt, der uns in diesem Aufsatz auch am Ende noch einmal beschäftigen wird. Deutlich weiter verbreitet als in solch allgemeingesellschaftlichem Sinne ist in der kroatischen Geschichtsschreibung indessen bis heute der Bezug auf „Josephinismus“ als Bezeichnung für die mit ihm verbundene grundlegende Reformpolitik gegenüber der katholischen Kirche. Diese Politik wurde selbstverständlich in den im 18. Jahrhundert habsburgischen Anteilen am heutigen Kroatien zu Josephs Regierungszeiten ebenso radikal vollzogen wie andernorts im josephinischen Herrschaftsgebiet, mit der bekannten Aufhebung zahlloser Klöster, der Neuordnung der Bistümer, der strikten Einschränkung der Kommunikationsmöglichkeiten der kirchlichen Hierarchie mit dem Ausland, insbesondere dem Vatikan etc. – Bereits in der Revolution 1848/49 wurde das damals noch weiter gültige staatliche Zwangssystem ähnlich wie in Wien auch im kroatischen Raum vor allem von Seiten des Klerikernachwuchses heftig angegriffen und als „josephinisches Joch“ tituliert.49 Nicht unbedingt in Tradition dieser Stoßrichtung, aber doch zumindest als in gewissem Umfang auseinandersetzungswürdiges Phänomen erscheint der kirchliche Josephinismus offenbar in Kroatien noch heute. In der knapp 1500 Titel (in erster Linie Aufsätze und Rezensionstitel) umfassenden Bibliographie der grundsätzlich eher kirchenfreundlichen kirchen- und religionshistorischen Zeitschrift Croatica christiana periodica für die Jahre von ihrer Gründung 1977 bis 2012 lassen sich nach meiner Zählung immerhin (oder anders gelesen auch: nur) 20 Titel diesem Themenfeld zuordnen.50 Als Schwerpunkte treten Einzelthemen wie die Gestalt des wichtigen, als überzeugter Josephiner geltenden, 1787 von Joseph II. eingesetzten Bischofs von Zagreb Maksimilijan Vrhovac hervor. Dieser genießt ungeachtet seiner sonstigen ganz erheb47 Drago Roksandić, Drava u očima jozefinista [Die Drau in den Augen der Josephinisten]. In: Ekonomska i ekohistorija 7 (2011), 18–37. 48 Roksandić, Drava, wie Anm. 47, 24 (unter Verwendung/Bezugnahme auf die wichtige Forschung Krisztina Kulcsárs und der besagten Besprechung auf H-Soz-Kult des von Helmut Reinalter herausgegeben Sammelbandes Josephinismus als Aufgeklärter Absolutismus durch Sebastian Hansen). 49 Siehe mit einem Beleg von 1848 (über das „verachtenswerte Joch“, welches „unserer katholischen Kirche die josephinischen Gesetze“ aufgezwungen hätten) aus der Feder des jungen Nachwuchspriesters und Publizisten Šime Ljubić – in späteren Jahren einer der wichtigsten Intellektuellen und historischer Forscher der Provinz Dalmatien: Konrad Clewing, Staatlichkeit und nationale Identitätsbildung. Dalmatien in Vormärz und Revolution. München 2001, 103, Anm. 202 (zum Bild vom „josephinischen Joch“ vgl. in diesem Band Fillafers Beitrag über das „Elend der Kategorien“, 58. 50 Bibliografija. Sadržaj časopisa Croatica christiana periodica. In: CCP Jg. XXXVI [Bd. 70] (2012), 206– 302, hier die laufenden Nummern 133, 162, 224/244/302, 441, 463, 481, 548, 718, 776, 861, 885, 949, 1118, 1195, 1214, 1349, 1374, 1382.

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lichen Bedeutung außer in seinem Wirken als innerkirchlicher Aufklärer auch deshalb so viel Aufmerksamkeit, weil er in einer josephinischen Loge Freimaurer gewesen ist. Diese Tatsache herausgestrichen zu haben, unterscheidet die jüngere Forschung prägnant von ihrer konsequent verfolgten Verneinung durch frühere nationalpatriotisch-kirchengebundene Autoren, die derlei unter einem Missverständnis des Charakters der josephinischen Logen bei einem national- und kirchengeschichtlich verdienten Mann der Kirche für ausgeschlossen gehalten hatten; auch deshalb ist die Forschung zu Vrhovac von wissenschaftsgeschichtlicher Bedeutung. Über ihn wird dabei neuerdings auch außerhalb der besagten Zeitschrift intensiv und verstärkt publiziert.51 Die Bedeutung der Freimaurerei insgesamt im nördlichen Kroatien des 18. Jahrhunderts hat in ihrem Zusammenhang mit der theresianischen und gesteigert mit der josephinischen Epoche Josip Kolanović behandelt.52 Was lange Zeit mit Blick auf Kroatien nur knapp dargelegt, aber nicht näher verfolgt worden war, nämlich die ideengeschichtlichen Ausprägungen und konkreten Realisierungen des katholizismusbezogenen Spätjosephinismus bis Mitte des 19. Jahrhunderts, haben mehrere Forscherinnen und Forscher inzwischen zu inhaltsreichen Einzelstudien ausgebaut. Sichtbar wird hier nicht zuletzt die Ausdehnung der spätjosephinischen Strukturen auf Gebiete, die zur theresianisch-josephinischen Zeit noch nicht zur Monarchie gehört hatten, insbesondere Dalmatien.53 In einer innerkroatischen 51 Vor allem: Josip Kolanović, Jedna sporna epizoda iz života Maksimilijana Vrhovca [Eine strittige Episode aus dem Leben des Maksimilijan Vrhovac]. In: CCP Jg. V [Bd. 7] (1981), 1–28; Franjo Emanuel Hoško, Biskup Vrhovac između baroka i liberalizma [Bischof Vrhovac zwischen Barock und Liberalismus]. Zagreb 2007; Id., Je li biskup Vrhovac bio crkveni obnovitelj po mjeri Tridentskog koncila ili jansenist? [War Bischof Vrhovac ein Kirchenerneuerer nach Maßgabe des Trienter Konzils oder Jansenist?]. In: CCP Jg. XXX (Bd. 58) (2006), 131–152; Josipa Dragičević, Maksimilijan Vrhovac i slobodno zidarstvo u 18. stoljeću [M. V. und das Freimaurertum im 18. Jh.]. In: CCP Jg. XXXIV [Bd. 66] (2010), 49–60; Dubravka Botica, Knjižni fond Metropolitanske knjižnice Zagrebačke nadbiskupije iz 18. stoljeća. Prosvjetiteljske ideje u knjigama biskupa Maksimilijana Vrhovca [Der Buchbestand der Metropolitanbibliothek des Erzbistums Zagreb aus dem 18. Jh. Aufklärerische Ideen in den Büchern des Bischofs M. V.]. In: Tkalčić 16 (2012), 519–542; sowie der Sammelband: Biskup Maksimilijan Vrhovac i njegovo djelo. Zbornik referata sa Znanstvenoga skupa „Biskup Maksimilijan Vrhovac u svome vremenu“ u organizaciji društva Kajkaviane održanog 28. studenoga 2003. u Dvorcu Stubički Golubovec, Donja Stubica [Bischof M. V. und sein Werk. Gesammelte Referate der wissenschaftlichen Konferenz „Bischof M. V. in seiner Zeit“, in Organisation der Gesellschaft Kajkaviane abgehalten am 28. 11. 2003 in Schloss Stubički Golubovec]. Donja Stubica 2006. (Die beiden Buchveröffentlichungen konnten von mir nicht eingesehen werden.) 52 Josip Kolanović, Utjecaj slobodnih zidara na javni život u sjevernoj Hrvatskoj u 18. stoljeću [Der Einfluss der Freimaurer auf das öffentliche Leben in Nordkroatien im 18. Jh.]. In: Dani Hvarskoga kazališta. Građa i rasprave o hrvatskoj književnosti i kazalištu 21/1 (1995), 75–89. 53 Franjo Emanuel Hoško, Franjevci u Slavoniji i Podunavlju u vremenu kasnog jozefinisma [Die Franziskaner in Slawonien und dem Donauraum in der Zeit des Spätjosephinismus]. In: CCP Jg. XXIX [Bd. 55] (2005), 115–161 (der hier mit Fokus auf ein gesamtungarisches Regelwerk des Ordens [Statuta municipalia] vom Jahre 1829 die Fortdauer des [kirchlichen] Josephinismus auch in Ungarn unterstreicht und zugleich die Anpassungsprozesse dieser Art von Spätjosephinismus im Sinne einer Wiedereinfügung in das allgemeine Ordensrecht hervorkehrt); Jelena Lakuš, Jozefinistički duh i katekizmi prve polovine 19. stoljeća u Dalmaciji [Der josephinistische Geist und die Katechismen der 1. Hälfte des 19. Jh.s in

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kirchenhistoriographischen Auseinandersetzung hat schließlich Franjo Emanuel Hoško die direkte Verbindungslinie von spätem Jansenismus und Josephinismus untermauert. Es ging ihm dabei allgemein um die Darlegung nicht bloß staatlicher, sondern auch inner­kirchlicher Gründe für die theresianisch-josephinische Kirchenreform im Gesamtstaat, sowie um den Nachweis entsprechender reformfreundlicher innerklerikaler Akteursnetze insbesondere im kroatischen Bereich.54 Dabei stützt er sich mit deren intensiver Erörterung auf die österreichische Forschung über diesen jansenistisch-josephinistischen Zusammenhang, welche er als „Wiener Schule“ identifiziert und die er von einer von ihm freilich nur sehr knapp angedeuteten „Innsbrucker Schule“ (um H. Reinalter) abgrenzt, die, so Hoško, im Josephinismus nur staatlichen Absolutismus erkenne.55 Zustimmend und gleichsam als einem älteren Teil der „Wiener Schule“ nimmt Hoško in diesem Aufsatz auch unmittelbar auf Valjavec und auf Winter Bezug.56 Erst jüngst wird schließlich ein naheliegender Brückenschlag von der Betrachtung des „kirchengeschichtlichen“ Josephinismus hin zu allgemeineren Aspekten des staatlich-josephinischen Einwirkens auf die Gesellschaft unternommen. Ein Beispiel dafür hat 2010 Stjepan Ćosić geliefert, als er in einem Aufsatz das Verhältnis von staatlicher Verwaltung in Dalmatien und dem dortigen kirchlichen bzw. Diözesanumbau der Jahre 1828–1830 unter dem Gesichtspunkt der dadurch gesteigerten Effizienz der Staatlichkeit vertiefend untersuchte.57

Dalmatien]. In: CCP Jg. XXXI [Bd. 59] (2007), 67–84; Stjepan Sršan, Državni nastavni planovi, programi i propisi na filozofskom i teološkom studiju u Đakovu početkom 19. stoljeća [Staatliche Unterrichtspläne, Programme und Vorschriften für die philosophischen und theologischen Studien in Đakovo zu Beginn des 19. Jahrhunderts]. In: Diacovensia 14 (2006), 259–284. 54 Franjo Emanuel Hoško, Hrvatska crkvena historiografija o tzv. kasnom jansenizmu u idejnom sustavu jozefinizma [Die kroatische Kirchengeschichtsschreibung über den so genannten Spätjansenismus im Ideengefüge des Josephinismus]. In: Scrinia slavonica 5 (2005), 144–161. 55 Hoško, Hrvatska crkvena historiografija, wie Anm. 54, 144–148. 56 Hoško, Hrvatska crkvena historiografija, wie Anm. 54, 147 (Valjavec, gemäß der Buchausgabe von 1944) und 152 (Winter, und zwar nicht auf das Buch von 1943 oder dessen veränderte Neuauflage aus den 1960ern, sondern auf den Artikel von 1942 aus den Südost-Forschungen über die Bedeutung des Jansenismus für Österreich-Ungarn). 57 Stjepan Ćosić, Državna uprava u Dalmaciji i crkveni preustroj 1828./1830. godine [Die staatliche Verwaltung in Dalmatien und die kirchliche Umstrukturierung der Jahre 1828–1830]. In: CCP Jg. XXXIV [Bd. 65] (2010), 51–66. Der Autor streicht hier – in Abkehr von der traditionellen nationalhistorischen Interpretationsweise – die spezifischen Modernisierungseffekte dieses Umbaus hervor, den er in Übernahme eines 2001 durch mich vorgelegten Begriffsvorschlags als „nachholend josephinistisch“ bezeichnet (vgl. Ćosićs Angaben 52).

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II Strukturelle Hemmnisse der Rezeption: territorienspezifische Varianz der Bedeutung des Phänomens, ein nationalisierter Umgang mit imperialer Geschichte und philologisch-pragmatische Herausforderungen Wenn man nach einer Erklärung sucht für die im serbischen Fall besonders ausgeprägte, im kroatischen aber ebenfalls lange Zeit sehr deutliche und allgemeinhistoriographisch immer noch vorhandene Rezeptionsschwäche des Josephinismus und dabei nun nicht mehr auf die weiter oben angesprochenen individuell-zufälligen Gründe abzielt, dann stechen drei Aspekte besonders ins Auge. Für den einen beginnen wir mit einer Art Kameraschwenk: Wer immer eine „kroatische“ oder eine „serbische“ Geschichte schreiben will, wird auf die Herausforderung stoßen, dass diese Geschichten über lange Phasen hinweg eine besondere Abstraktion verlangen. Sie zu schreiben ist in meinen Augen durchaus legitim (denn heute haben wir es mit national verfassten entsprechenden Gesellschaften zu tun, die natürlich Ausdruck geschichtlicher Entwicklungsprozesse sind), aber jedenfalls schwierig. Eine solche Geschichtsschreibung braucht entweder eine bewusste Akzeptanz der für beide Fälle geltenden großen historischen einzelterritorialen Heterogenität oder aber die bewusste Entscheidung für ein bestimmtes Untersuchungsterritorium, das für sich alleine stehen oder wegen seiner Bedeutung vielleicht in gewissen Grenzen pars pro toto genommen werden kann.58 Um es weg von diesem allgemeinen Schwenk auf den josephinismusbezogenen Punkt zu bringen: Der Josephinismus, in welcher Zeitdefinition er auch gefasst werden mag, spielt im serbischen Kontext nur für einen territorialen Teilausschnitt eine konkrete Rolle, nämlich für die Vojvodina als Teil des heutigen Serbiens sowie, wenn man das Ganze stattdessen volksgeschichtlich angehen möchte, auch für den einstigen serbische Bevölkerungsteil in der kroatisch-slawonischen Militärgrenze. In dem um 1800 osmanischen Großteil der für eine als serbisch konzipierbare Geschichte relevanten Gebiete spielt er naturgemäß keine Rolle, außer höchstens bei der so bislang meines Wissens noch nicht geschehenen Analyse spezieller langfristiger Ausstrahlungsformen.59 Sich die entsprechenden relevanten Landkarten vor dem geistigen Auge abzurufen, tut man sich als ausländische Betrachter in Bezug auf den kroatischen Raum vielleicht noch schwerer, weil man sich dafür die Relevanz der bis 1797 venezianischen Gebiete vergegenwärtigen muss: Dalmatien (mitsamt allen Adriainseln) und das westliche Is58 Vgl. mit jeweils gut nuancierter Argumentation einerseits: Iskra Iveljić, Banska Hrvatska i Vojna Krajina od prosvijećenog apsolutizma do 1848. godine [Banalkroatien und die Militärgrenze vom aufgeklärten Absolutismus bis 1848]. Zagreb 2010, 13; und Holm Sundhaussen, Geschichte Serbiens. 19.-21. Jahrhundert. Wien – Köln – Weimar 2007, 14–16. 59 Denkbar wäre ein indirektes verwaltungsgeschichtliches Fortwirken über die große Rolle, welche aus Ungarn stammende serbische Beamte vor allem ab 1830 für einige Jahrzehnte beim Aufbau der staatsserbischen Institutionen spielten (wenn denn diese ungarischen Beamten ihrerseits wie ihre cisleithanischen Kollegen noch josephinistisch geprägt gewesen sind!); mit Blick auf religionskulturelle Fragen gibt es wohl leichter beweisbare Aspekte, wie etwa Marija Petrović für die Übernahme des „josephinischen“ Kalenders auch südlich der Donau aufgezeigt hat (vgl. Anm. 41).

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trien waren, wie serbischerseits die osmanischen Gebiete, ebenfalls außerhalb des genuin theresianisch-josephinischen Reformzugriffs. Auch hier kommt wieder nur das Fortwirken des Josephinismus im 19. Jahrhundert als mitprägend in Betracht, was sich freilich in den beiden 1797 bzw. abschließend 1814/15 österreichisch gewordenen Gebieten in Sachen von Kirche und Verwaltung leichter nachweisen lässt als die schwächeren Ausstrahlungen über die Donaugrenze ins serbische Ausland.60 Diese territorial nur eingeschränkt vorhandene habsburgische Vergangenheit ist der eine Grund dafür, warum die Orientierung an allfälligen habsburgbezogenen epochalen Einteilungen für die kroatische und die serbische Historiographie nicht gleichermaßen wichtig ist wie etwa für eine auf das heutige Österreich oder auf Tschechien konzentrierte Geschichtsbetrachtung. Der zweite, mindestens genauso wichtige Grund ist weniger rational: Ungeachtet vieler Entspannung wirkt noch heute die ab 1918 dominant gewordene Auffassung nach, derzufolge die habsburgische Reichszugehörigkeit eigentlich Fremdherrschaft gewesen ist. Vor allem in der kroatischen Kollegenschaft dürften das so deutlich vielleicht nicht mehr viele Akteure formulieren. Aber wie wirksam die Auffassung subkutan weiterhin ist, soll hier mit dem Beispiel der eigentlich fast unbegreiflichen thematischen Zuordnung untermauert werden, die zwei Kapitel in dem weiter oben mit Grund gepriesenen neuen Sammelband zu den kroatischen Landen im 18. Jahrhundert erfahren haben. Denn im Abschnitt „Kroatien im internationalen Kontext“ stehen dort, vor einer Betrachtung von für das historische Kroatien tatsächlich im Ausland gelegenen Akteuren (nämlich dem Heiligen Stuhl und spezifischen westeuropäischen Gebieten, hier: Frankreich, England und Italien) doch tatsächlich Kapitel zur Habsburgermonarchie und zur Republik Venedig. Sie sind den am Band Beteiligten augenscheinlich gleichermaßen „ausländisch-international-fremd“ geraten wie der Rest der Welt. Ähnlich schlagend als Beispiel für das hartnäckige Fortbestehen nationaler Konzeptionen einer Herauslösbarkeit von Teilgeschichten aus dem imperialen Zusammenhang selbst noch im postmodernen und betont antinationalistischen Gewand ist ein methodisch anspruchsvoller anderer Band aus jüngster Zeit. In ihm werden in Herausgeberschaft durch Drago Roksandić die „Kroaten und Serben in der Habsburger Monarchie im 18. Jahrhundert“ interkulturell betrachtet.61 Mit Ausnahme eines Beitrags des Herausgebers zeigt sich nirgends ein Forschungsinteresse an der Geschichte der „Habsburgermonarchie“, dafür aber allenthalben Interesse an kroatischer und serbischer Geschichte und deren möglicher Verzahnung. Auch wenn es laut Titel um das 18. Jahrhundert und die Habsburgermonarchie ging, blieb also im Kern das ebenso nationalgeschichtlich wie jugoslawistisch gewachsene Analyseraster von „kroatisch“ und „serbisch“ gänzlich unangetastet. Die Orientierung oder gar aktive Teilhabe an der Debatte etwa über das Josephinismusparadigma oder, um diesen Begriff gar 60 So meine ich für Dalmatien im Vormärz das Wirken des in diesen Zusammenhängen greifenden „nachholenden Josephinismus“ herausgearbeitet zu haben: Clewing, Staatlichkeit und nationale Identitätsbildung, wie Anm. 49, 102–104 und 120. 61 Drago Roksandić (Hg.), Hrvati i Srbi u habsburškoj monarhiji u 18. stoljeću. Interkulturni askpekti ‚prosvijećne‘ modernizacije [Kroaten und Serben in der Habsburgermonarchie im 18. Jh. Interkulturelle Aspekte der ‚aufgeklärten‘ Modernisierung]. Zagreb 2014.

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nicht zu bemühen, über den Aufgeklärten Absolutismus in der Habsburgermonarchie lag den Autoren des Bands dementsprechend völlig fern. Der dritte Aspekt, der einer stärkeren grenzüberschreitend gemeinsamen Rezeption von oder einer Teilhabe an Forschungsdebatten zur Habsburgermonarchie entgegensteht, ist die aus linguistischen Gründen ganz real begrenzte Zugänglichkeit der Gesamtheit (oder auch nur der meisten) der potentiell relevanten Historiographien für jeden einzelnen Forscher, für jede einzelne Forscherin. Deutsch lesen zu können ist wahrscheinlich mit Blick auf die vorhandene Literatur, ganz sicher aber angesichts der Rolle des Deutschen als Quellensprache ein Muss für jeden, der sich kompetent zur Geschichte der Habsburgermonarchie vor 1918 äußern will. Das Gleiche gilt aber auch für all die anderen Sprachen der einstigen Monarchie, sobald man sich forschungsmäßig auch nur einen Fußbreit über die heutige österreichische Staatsgrenze hinausbewegt. Das stellt allerdings nicht nur deutsche und österreichische Historikerinnen und Historiker vor eine schwierige Aufgabe, sondern wechselseitig auch die anderen „Nachfolgehistoriographien“ der Monarchie: Sehr selten geschieht es, dass ein südslawischer Kollege rumänische Titel, ein rumänischer polnische, ein polnischer südslawische Titel lesen kann und will. Als nicht bestandener Lackmustest für die eigenen Unzulänglichkeiten schließlich wird, außer bei ungarischen Kolleginnen und Kollegen, in aller Regel die Frage nach magyarischer Lektüre gelten können, wenn man nicht gerade auf Ungarn spezialisiert ist. (Auf jeden Fall gilt das schmerzliche Nichtbestehen dieses Tests für den hier schreibenden Autor.) So gerät westlich der Leitha das Schreiben zum Beispiel über „Verwaltung in der Habsburgermonarchie“ de facto regelmäßig zu einem Schreiben über „Verwaltung in der westlichen Reichshälfte“.62 Man sollte sich daher über diskursive Verengungen auch an anderen Stellen der einstigen Monarchie nicht zu sehr wundern. Abhelfen lässt sich dieser Situation nur mit wechselseitigem Interesse63 und mit weiter verstärkten transterritorialen Gemeinschaftsanstrengungen von der Art des vorliegenden Bandes.

III Schlussgedanken: Vom Nutzen marktgängiger Edelsubstantive der Ideengeschichte „Der ‚Josephinismus‘ ist ein marktgängiges Edelsubstantiv der Ideengeschichte, er gehört zu den wirkmächtigsten Begriffen der zentraleuropäischen Geschichtsschreibung.“64 Wenn ich hier am Ende danach suche, was man aus dem serbischen und dem kroatischen Umgang 62 Als Beispiel neben anderen: Irmgard Plattner, Josephinismus und Bürokratie. In: Helmut Reinalter (Hg.), Josephinismus als Aufgeklärter Absolutismus. Wien – Köln – Weimar 2008, 53–96, oder auch die ausgezeichnete und vor kurzem praktisch unverändert wiederaufgelegte Studie von Waltraud Heindl, Gehorsame Rebellen. Bürokratie und Beamte in Österreich 1780 bis 1848. Wien – Köln – Weimar 1990. 63 Denn an Interesse, nicht an eigentlichen Sprachkenntnissen mangelt es ja auch häufig, wie man etwa an der traditionellen Abgesondertheit der kroatischen und der serbischen Forschung ersehen kann. 64 Fillafer/Wallnig, Einleitung (in diesem Band), 7.

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mit diesem Forschungsparadigma verallgemeinert lernen kann, möchte ich diese einleitenden Worte von Franz Fillafer und Thomas Wallnig zitieren. Es ist vielleicht ein wenig vorwitzig von einem Autor, „seine“ Herausgeber anzuführen, wenn er gleichzeitig beginnt, gedanklich von ihnen abzuweichen. Die Wortprägung vom „Edelsubstantiv“ finde ich aber so verlockend, dass ich dem Begriff und der mit ihm verbundenen Anregung nicht einfach widerstehen kann. Meine Lesart des serbischen und des kroatischen Umgangs mit dem „Josephinismus“ geht dahin, dass wir in der Community der Historikerinnen und Historiker derlei Edelsubstantive dringend brauchen. Wo ein Begriff wie der Josephinismus abhandenkommt, wie es in der serbischen Historiographie unter kräftigem Zutun des faktischen Forschungsmonopolisten Mita Kostić für die längste Zeit der Fall gewesen ist, nimmt offenbar auch der Blick für die damit verbundenen Phänomene und Gegenstände ab. Da hilft es nichts, dass man rein theoretisch all das in dem Begriff Mitschwingende auch unter einem anderen Analyseraster und „Substantiv“ erfassen könnte. Denn das geschieht nicht. Aber selbst wenn es gelänge – wenn also die Nationalhistoriographien oder einzelne Forscherpersönlichkeiten sich auch ohne Edelsubstantive über annähernd gleiche Gegenstände auszutauschen suchen könnten –, würde das Fehlen der gemeinsamen Orientierungsbegriffe doch kommunikativen Mehraufwand bedeuten, oder knapp gesagt: Kommunikation und Austausch behindern, vielleicht sogar unmöglich machen. Historische Analysebegriffe werden natürlich immer unscharf und diskussionsbedürftig sein. Für Begriffe, für welche man eine Tauglichkeit als Epochenmarkierung behauptet, gilt das noch einmal ganz besonders, da nicht nur der Begriff, sondern auch die Konstruktion jeder Epoche stets zu hinterfragen ist. Bei hinreichend kritischem Gebrauch aber sind solche Termini als analytische Hebel und als Interesse strukturierendes wie auch Interesse stiftendes Instrument trotzdem nützlich und wichtig, und zwar sogar gerade wegen ihrer offenkundigen steten Präzisierungswürdigkeit. Wo ein Begriff als ‚eigentlich‘ irreführend komplett de- und wegkonstruiert worden ist, wie im serbischen Fall, leiden ansonsten leicht auch der Zugang zur gemeinten Epoche und die Forscherneugier auf sie selbst. Der Weg in die nationale oder methodische Parzellierung wird so nur noch leichter als ohnedies schon. Vom serbischen wie vom kroatischen Beispiel her gelesen drängt sich zweitens das eventuell verallgemeinerbare Desiderat auf, das „Josephinische“ im Josephismus wieder stärker hervorzukehren und wieder zum Gegenstand der Forschung zu machen, als dies derzeit üblich ist. Nach jahrzehntelanger Lehre, der Josephinismus erweise sich mindestens so sehr als eine Art erweiterter Theresianismus (auch wenn dieser Begriff merkwürdigerweise noch nicht erfunden zu sein scheint?) wie als Josephinismus selbst, tun sich in den beiden südslawischen Fällen die größten Forschungsdesiderata nicht von ungefähr inzwischen mit Blick auf die engere josephinische Epoche auf. Aber abgesehen von dieser unerquicklichen Folgeerscheinung scheint mir auch von der südslawischen Warte her betrachtet der „theresianische“ Anteil am Josephinismus real derzeit eher überbetont. Zum einen dürfte es wenig sinnvoll sein, als „josephinistisch im engeren Sinne“ nur die Zeit der josephinischen Alleinherrschaft zu betrachten und auch auf diesem Wege den „josephinischen“ Anteil am Josephinismus über die Maßen zu relativie-

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ren. Joseph war, wie wohl jeder Leser weiß, römisch-deutscher Kaiser und Mitregent seiner Mutter ab 1765. Und auch wenn der Sohn ihr gegenüber bis 1780 nicht frei gewesen ist in seinem Handlungsspielraum, gibt es doch ausgesprochenen Grund zum Zweifel etwa an der Richtigkeit der Kostić’schen Sicht vom Fehlen65 eines Josephinismus im engeren Sinne bei den Serben. Kostić hatte dies wie gesehen damit begründet, dass die entsprechenden Reformen im Wesentlichen durch die schon 1745 gegründete Illyrische Hofdeputation erfolgt sind, und zwar vor allem im letzten Jahrzehnt von deren Existenz, zwischen 1769 und 1779. In seiner Einschätzung der geringen Auswirkungen der Zeit ab 1780 scheint er inzwischen durch die neuere Forschung von Marija Petrović auf seinem engeren Feld überholt.66 Ich möchte aber auch insgesamt entgegenhalten, dass gerade die Politik gegenüber dem Südosten des Habsburgerreiches und nochmals die Politik gegenüber den dortigen Orthodoxen (rumänischer wie serbischer Sprache) ganz wesentlich schon vom Mitregenten Joseph und von der um ihn gescharten Generation jüngerer administrativer Entscheidungsträger definiert worden ist. Für die Rumänen hat das bereits vor Jahrzehnten Mathias Bernath in seiner Darlegung der „frühjosephinischen Reformpolitik“ und den Übergang zu einer „hochjosephinischen“ Richtung schon vor 1780, der im Vor- und Umfeld der Joseph’schen Siebenbürgenreise von 1773 erfolgte, eindrücklich dargelegt.67 Im Anschluss an seine Reise hatte Joseph selbst in einer „Finalrelation“ tiefgreifende antiständische Reformkonzepte für Siebenbürgen erarbeitet, die er schon vor 1780 betrieb und ab dann und unter dem Eindruck einer erneuten Reise von 1783 zugespitzt umsetzte.68 Der gleiche, ebenso vor wie jenseits von 1780 liegende „josephinische“ Wirkzusammenhang im engeren Sinne lässt sich plausibel auch für den südslawischen Bereich behaupten. Das gilt, um bei unserem Hauptbeispiel zu bleiben, selbst und insbesondere für den engeren Kostić’schen Untersuchungsgegenstand der Reformwirkungen des Freiherrn Koller. Dass dieser nämlich in jener Wirkungsphase ein enger persönlicher Vertrauter Josephs II. war, scheint Kostić entgangen zu sein. Es geht jedoch klar aus Josephs vertrauensvollem Auftrag an eben diesen Koller hervor, anstelle seiner selbst (der Mitregent war nach Polen weitergereist und in seiner Aktenproduktion dadurch behindert) eigenverantwortlich die kaiserlichen persönlichen Reisenotizen über Siebenbürgen 1773 in eine grundlegend neue Gestalt zu bringen, um eine reformorientierte Vorlage bei der mütterlichen Regentin abliefern zu können.69 Schon ein Blick auf das System der Joseph’schen 65 Bei genauerem Hinsehen hätte er eigentlich sagen sollen: von einem konfessionspolitischen und kirchenbezogenen Fehlen, denn das allgemeinadministrative staatliche Wirken etwa hat Kostić gar nicht betrachtet! 66 Vgl. Anm. 41. 67 Mathias Bernath, Habsburg und die Anfänge der rumänischen Nationsbildung. Leiden 1972, 185 (frühjosephinische Reformen und ihr Trägerkreis bei den Zentralstellen und den Militärgrenzbehörden), 190f. (Bedeutung von neuen Landesbeschreibungen der Jahre 1775 und 1781) und 197f. (‚hochjosephinische‘ Richtung um 1773). 68 Bernath, Habsburg, wie Anm. 67, 221–229. 69 Dargestellt bei Bernath, Habsburg, wie Anm. 67, 216f. Seinerseits hat umgekehrt Bernath keinen Bezug auf Kostić genommen, dessen Schriften auch im Literaturverzeichnis fehlen – für sich schon ein weiterer Beleg für die nicht zuletzt auch sprachbedingten Schwierigkeiten einer umfassenden Behandlung.

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Reisen insgesamt oder auch nur im kroatisch-serbischen Bereich – allein in den kroatischen Reichsteilen war der „Reisekaiser“ Joseph II. fünfmal unterwegs: 1768, 1775, 1783, 1786 und 1788 – lässt ähnliche, im engsten Wortsinn josephinische Kontinuitäten über 1780 hinweg vielerorts vermuten.70 Ganz zurecht hat ja, wie weiter oben gesehen, inzwischen auch der Zagreber Forscher Drago Roksandić herausgestrichen, wie sehr sich das Joseph’sche Handeln von dem seiner Mutter durch das Prinzip der Herrschaftsempirie unterschieden hat.71 Dieser Punkt nun gilt für das ganze Reich nicht weniger als für die südslawischen Teile.72 Nimmt man hinzu, welch dauerhafte Modernisierungswirkungen zumindest im westlichen Reichsteil im Bereich der Bürokratie hinzukamen,73 so gäbe es allen Anlass, den entsprechenden Aus- und Fortwirkungen in der transleithanischen Reichshälfte (mitsamt den kroatisch-serbischen Gebietsteilen) forschend nachzugehen. Auf alle Fälle lässt aber allein schon die vorübergehende Zerschlagung der ungarischen Besonderheiten und weitreichenden Eigenständigkeit die Jahre der Alleinherrschaft Josephs als zentralistisches Experiment in der Monarchiegeschichte hervortreten wie sonst nur noch den Neoabsolutismus. Es überzeugt in meinen Augen in keiner Weise, diesen fundamentalen staatspolitischen Aspekt bei der Suche nach allfälligen Unterschieden zwischen Maria Theresias und Josephs Herrschaftspraxis bloß beiläufig zur Kenntnis zu nehmen.74 Ähnliches gilt für die Religionspolitik. Hier hat in besonderem Maße eine große Dame der Forschung zum österreichischen 18. Jahrhundert, Grete Klingenstein, vor Jahren eine anregende Interpretation unterbreitet, die Rechtsetzung durch Joseph II. habe lediglich die grundlegenden Wandlungen zusammengefasst („summarized“), welche die konfessionellen Rechte und Freiheiten in den ihm vorangegangenen Jahrzehnten erlebt hätten.75 So wichtig und anregend der von ihr eingeschlagene genaue Blick auf lokale Einzelbestimmungen aus jenen Jahrzehnten auch ist, so scheint mir doch, dass Klingenstein hier in mindestens zweierlei Hinsicht ein Opfer der historischen Entdeckerfreude geworden ist, die uns allen zu eigen ist 70 Vgl. Ivan Erceg, Dnevnik Josipa II o prilikama u Hrvastkoj i na jadranskoj obali god. 1775. [Das Tagebuch von Joseph II. über die Verhältnisse in Kroatien und an der adriatischen Küste im Jahr 1775]. In: Starine Jugoslavenske akademije nauka i umjetnosti 53 (1966), 223–262, darin 223 zur Datierung der Kroatienreisen und 227–258 mit dem deutschsprachigen Abdruck des Reisetagebuchs der Reyse durch Croatien und das Littorale anno 1775 (von der Abreise aus Wien bis nach Venedig). Zur Einordnung des Zusammenhangs von Josephs Reisetätigkeit und (auch noch-theresianischer) Reformaktivität am Beispiel dieser Reise von 1775 siehe insbesondere Buczynski, Pa to su samo Hrvati, wie Anm. 44, 30f. 71 Vgl. Anm. 47. 72 Der Verfasser arbeitet derzeit an einem digitalen Editionsprojekt, in dem nach einem ausgewählten Erfassungsmuster – die Berichte von Joseph II. und von Franz I. (II.) über zentrale Landeshauptorte der Monarchie außerhalb Wiens – insbesondere die genuin administrative Rolle der monarchischen Bereisung in den Jahrzehnt um 1800 hervortritt. 73 Die schon zitierte Waltraud Heindl lässt ihre grundlegende Untersuchung der Bürokratie in der westlichen Hälfte der Monarchie gewiss nicht von ungefähr mit 1780 beginnen. 74 Plattner, Josephinismus und Bürokratie, wie Anm. 62, 68, etwa widmet diesem Punkt einen ganzen kurzen Absatz. 75 Grete Klingenstein, Modes of Religious Tolerance and Intolerance in Eighteenth-Century Habsburg Politics. In: Austrian History Yearbook 24 (1993), 1–16, hier 15.

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und gelegentlich eben auch in die Irre führt. Zum einen ist die von ihr aufgeführte Vielzahl von lokalen Rechtstiteln von Nichtkatholiken schon in vorjosephinischer Zeit meines Erachtens gerade ein außerordentlicher Unterschied zu der anschließenden Rechtseinheitlichkeit; es ist auf diesem Feld doch wohl genau dies ein typischer grundlegender Unterschied zwischen noch nicht vollmodernem und modernem Territorialstaat. Zum anderen scheint mir die von Joseph eingeräumte grundsätzliche und allgemeingültige Institutionalisierungsmöglichkeit für Protestanten und Juden ein ganz gravierender Schritt voran, welchen Maria Theresia eben in der Tat nicht gegangen ist.76 Der Schritt ist umso bedeutender, weil damit auch das außerordentliche Maß von herrschaftlicher und staatlicher Gewaltanwendung gegenüber Andersgläubigen undenkbar wurde, das unter Maria Theresia fallweise in für Betroffene wie noch für heutige Betrachter atemberaubender Weise und Brutalität zur Anwendung gelangen konnte.77 Klingenstein etwa beschrieb – durchaus beschönigend, finde ich – eine staatspolitisch letztlich anscheinend ganz erklärliche Umsiedlung von alpenländischen Geheimprotestanten weg von strategisch heiklen Randgebieten: „expulsion and emigration ceased to be an expedient of Habsburg politics and the Lutherans were not just driven out, but transported to the fertile hills and plains of Transylvania.“78 Dass diese sogenannte „Transmigration“ der alpenländischen Lutheraner 1774 beendet wurde,79 soll man in Klingensteins Argumentation überdies wohl lesen wie ein „schon 1774“. Das ist dann doch zu viel der Rehabilitierung des vorjosephinischen Diskriminierungssystems. Es ist eben keine Kleinigkeit, dass sich Maria Theresia „auf dem Gebiet der ‚Ketzerbekämpfung‘ nahezu bis an ihr Lebensende unerbittlich und unerschütterlich“ zeigte.80 Welche Folgen das für den fallweisen Repressionscharakter des Staates hatte, lässt sich heute dank der Forschungen von Stephan Steiner wohl einfacher erkennen als vor 20 Jahren. Die von Klingenstein verharmlosend angesprochene Verfrachtung in „die fruchtbaren siebenbürgischen Gefilde“ war alles andere als einfach ein „Transport“ an eine geeignete neue Destination, sondern eine Deportation. Sie endete für viele der Repressionsopfer tödlich, bedeutete die faktische weitreichende Zwangsenteignung, der Staat zerriss die lutherischen Familien und raubte ihre kleinen Kinder (prägnant und begründet einfühlsam nennt Steiner derlei: Angriffe auf Kinder), um sie in katholische Hände zu geben

76 Auch mit Blick auf die südslawische Orthodoxie drückt sich ein erheblicher Wandel darin aus, dass Maria Theresia noch 1777 ein griechisch-katholisches („uniertes“) Bistum in Kreutz / Križevci etablierte und offenbar der Hoffnung auf eine möglichst umfassende Unterstellung der Orthodoxen unter die katholische Ordnung anhing. 77 Auch und gerade weil die angewandten Methoden für diesen vormodernen Zweck konfessioneller Einheitlichkeit und Durchherrschung keineswegs sämtlich „vormodern“ waren, sondern in manchem bis in die Gewaltgeschichte der Gegenwart weisen: Stephan Steiner, Rückkehr unerwünscht. Deportationen in der Habsburgermonarchie der Frühen Neuzeit und ihr europäischer Kontext. Wien – Köln – Weimar 2014, hierzu besonders die Einordnung der Phänomene in eine Analyse der europäischen longue durée 499–520. 78 Klingenstein, Modes of Religious Tolerance and Intolerance, wie Anm. 75, 6. 79 Klingenstein, Modes of Religious Tolerance and Intolerance, wie Anm. 75, 13. 80 Steiner, Rückkehr unerwünscht, wie Anm. 77, 290.

Der Josephinismus als Begriff und Epochenvorstellung

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und so ihr Seelenheil zu retten.81 Von solcher staatlicher Gewalt-Anmaßung waren zwar nicht Abertausende von Menschen betroffen, die unterdrückte Gruppe war recht klein. Jedoch ist der auf Maria Theresia folgende neue Umgang auch mit solchen Randminderheiten ein besonders klares Zeichen dafür, welch ethisches Kapital der josephinische Staat durch die Politik seiner systematischen Toleranz gegenüber den christlichen und jüdischen Nichtkatholiken zu gewinnen im Stande war, obschon diese neue Toleranz des Staates noch lange keine eigentliche Gleichberechtigung der Bekenntnisse in der Habsburgermonarchie bedeutet hat. Nach Jahrzehnten des ertragreichen, perspektiverweiternden Augenmerks auf Kontinuitäten im Reformwerk beider Herrschergestalten sollte also am Ende die künftige Beschäftigung wieder mehr in die Richtung gehen, das „Edelsubstantiv Josephinismus“ auch in seiner engeren Bedeutungswurzel ernst zu nehmen und es für einen analytischen Zugang speziell zu der Reformpolitik Josephs des Zweiten und ihrer effektiven oder ineffektiven Auswirkung auf die gesellschaftliche und administrative Realverfassung in den betroffenen Teilen der Habsburgermonarchie zu schärfen. Ich schließe daher leicht emphatisch mit dem Aufruf: „Mehr Josephinismus, bitte!“

81 Stephan Steiner, Der Augenblick der Gefahr und die Lange Dauer der Geschichte. Die Geburt der Deportation. In: Südost-Forschungen 63/64 (2004/2005), 170–187; und neuerdings mit einer Einbettung auch anderer theresianischer Deportationsformen in einen größeren zeitlichen und räumlichen Zusammenhang Id., Rückkehr unerwünscht.

Antonio Trampus

Der Josephinismus in der italienischen Historiographie Um die Auslegungen und Gebrauchsweisen zu verstehen, mittels deren sich die italienische Geschichtsschreibung des Begriff „Josephinismus“ bedient hat, ist es zunächst nötig festzuhalten, dass dieses Thema innerhalb zweier Problembereiche liegt: jenem der kulturellen und politischen Beziehungen zwischen Italien und Österreich sowie jenem der Auseinandersetzung zwischen italienischer und österreichischer Historiographie. An zweiter Stelle ist anzumerken, dass das Interesse italienischer Historiker am Josephinismus stets stark von den Besonderheiten des italienischen Regionalismus geprägt war. Die italienische Einheit (1861) ist verhältnismäßig jung, und die kulturellen Traditionen der einzelnen Regionen mussten sich mit den politischen, diplomatischen und militärischen Problemen auseinandersetzen, die sich aus der Konfrontation mit ihren Nachbarländern ergaben. Eben darum war die Verwendung des Ausdrucks „giuseppinismo“ niemals neutral und weist somit interessante Unterschiede zur österreichischen Historiographie auf. In den deutschsprachigen Gebieten Europas bürgerte sich der Gebrauch des Begriffes „Josephinismus“ – verstanden als Periodisierungskategorie – schon wenige Jahre nach dem Tod Josephs II. ein, um besonders die von ihm eingeführten und während der kurzen Regentschaft Leopolds II. beibehaltenen Reformen anzusprechen.1 Seit den 1830er Jahren weitete sich der Gebrauch des Begriffes sukzessive aus, um nicht mehr nur die Zeit der Herrschaft Josephs II. zu umfassen, sondern auch einige Phasen der Regentschaft Maria Theresias, vornehmlich jene der angebahnten Veränderungen seit der Mitregentschaft (1765), die durch einen ausgeprägten Jurisdiktionalismus gekennzeichnet waren. In Italien dagegen findet sich das Wort „giuseppinismo“ in seinen verschiedenen Varianten („giuseppinismo“, „gioseffismo“, „giuseppismo“) bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts kaum, und es wird vor allem erst nach 1848 zum Gegenstand der historischen und politischen Auseinandersetzung. Dies geschieht besonders durch zwei Kanäle: die römische Kirche und besonders die Kultur der Jesuiten mit ihrer Zeitschrift Civiltà Cattolica einerseits, die liberalen Strömungen, wie sie in den Reden und Schriften des Premierministers Camillo Benso di Cavour zum Ausdruck kommen, andererseits. Die römische Kirche betrachtete den Josephinismus als Gegner und als Gefahr besonders in dem Augenblick, als das Projekt der italienischen Einheit mit der Eroberung der künftigen Hauptstadt Rom (1870) die Integrität des Kirchenstaates zu bedrohen begann, gerade zu dem Zeitpunkt also, als sich in Europa das Echo des neuen, 1868 veröffentlichten österreichi1

Zu Entstehung und Diskussion des Begriffes „Josephinismus“ vgl. neben den anderen Beiträgen in diesem Band: Roger Bauer, Le Josephisme. In: Critique 14 (1958), 622–639; Derek Beales, Enlightenment and Reform in Eighteenth-Century Europe. London 2005, 288–291; Thomas Wallnig / Johannes Frimmel / Werner Telesko (Hg.), 18th Century Studies in Austria 1945–2010, Bochum 2011.

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schen Ehegesetzes bemerkbar machte. Der Josephinismus wurde als ein Phänomen präsentiert, das direkt mit der Erfahrung der Französischen Revolution verknüpft war, auf Grund seiner antikirchlichen Ausrichtung, die man ebenso mit dem französischen und spanischen Regalismus wie mit dem politischen Projekt des toskanischen Großherzogs Pietro Leopoldo (des späteren Kaisers Leopolds II.) verband, das als „leopoldismo“ angesprochen wurde.2 Bei anderen Gelegenheiten wurde der Ausdruck „giuseppinismo“ gebraucht, um liberale Katholiken zu verunglimpfen und zu bekämpfen, wobei der Begriff synonym zu Jansenismus, Febronianismus, Regalismus und Liberalismus verwendet wurde.3 Auf politischer Ebene findet der Ausdruck „giuseppinismo“ eindeutig zwischen 1855 und 1856 Eingang in die politische Debatte Italiens, und zwar durch die Parlamentsreden des Premierministers Camillo Benso conte di Cavour; er bediente sich des Josephinismus, um seine berühmte Theorie zu untermauern, der zufolge die beiden Hauptziele seiner Politik, die Vereinigung der italienischen Halbinsel und die Abschaffung der weltlichen Herrschaft des Papstes nur miteinander zu vereinbaren wären, wenn beide Bereiche ihren eigenen Aktionsradius behielten (Cavours Schlagwort war die „libera chiesa in libero stato“ – die „freie Kirche im freien Staat“). In seiner Rede Josephinismus und Pressefreiheit stellte Cavour Reflexionen über den Josephinismus an, hier hob er hervor, dass das Hauptmerkmal des Josephinismus die Verstaatlichung der Kirche gewesen sei, er habe in ihren Autonomiebereich eingegriffen, in die Liturgie und in ihre Organisationsform.4 Gegenüber einer solchen staatlichen Einmischung in die religiöse Sphäre galt es jedoch, die Unabhängigkeit beider Mächte, des Staates und der Kirche, zu betonen. Nur angesichts einer unabhängigen und freien Kirche könne man die Freiheiten des Staates einfordern und erwarten, dass auch die Kirche als Garant dieser Freiheiten auftrete. Dieselbe enge Verknüpfung von Geschichte und Politik tritt uns auch in den Schriften der zeitgenössischen Historiker entgegen, wie das Beispiel Cesare Cantù (1804–1895) zeigt. Cantù war einer der bedeutendsten italienischen Historiker des 19. Jahrhunderts, er begründete die Zeitschrift Archivio storico lombardo und war bekannt für seine antiösterreichische Haltung und für seine Überzeugung, dass die nationale Einheit Italiens nur durch eine spezifische politische Philosophie der Nation zu erreichen wäre, die weder auf dem Einfluss aufklärerischer Prinzipien, noch auf jenem der katholischen Tradition beruhen dürfte. In einem Brief an Cavour von 1859 erinnerte Cantù daran, wie sehr die Mailänder den Josephinismus bekämpft hatten und erläuterte den speziellen Charakter des lombardischen Liberalismus, der die Religion mit der Freiheit zu verbinden suchte und in der Kirche selbst einen Garanten dieser Freiheit sehen wollte; der Josephinismus hingegen habe die Kirche unterworfen und sie somit ihrer Handlungsfreiheit beraubt, wobei der Kern seines System, die Unterdrückung, offenbar geworden sei.5 2 La Civiltà cattolica 17 (1867), 19. 3 La Civiltà cattolica 19 (1868), 491. 4 Armando Saitta (Hg.), Camillo Benso di Cavour: Discorsi parlamentari, 11. Firenze 1957, 542f.; Girolamo Cotroneo / Pier Franco Quaglieni (Hg.), Camillo Cavour: Discorsi su Stato e Chiesa. Soveria Mannelli 2011, 48. 5 Camillo Cavour, Lettere edite e inedite di Camillo Cavour (1856–1861), hg. von Luigi Chiala, 7. Torino 1887, 468; Cesare Cantù, Storia di cento anni 1750–1850. Firenze 31855, 512.

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Während der zweiten Hälfte des 19. und der ersten fünfzig Jahre des 20. Jahrhunderts blieb die italienische Geschichtsschreibung generell vom Problem der Beziehungen zwischen Staat und Kirche geprägt: Das galt für die allgemeine Geschichte ebenso wie für jene Werke, die sich besonders mit der Beziehung zu Österreich befassten. Ein weiteres Thema von hoher Relevanz in der Deutung der österreichischen Geschichte war der Nachweis, dass Italien zur nationalen Einheit bestimmt war, daraus folgte die Beschäftigung mit „fremden Machthabern“, beider Themen nahm man sich während des Risorgimento und des Ersten Weltkriegs mit viel Energie an. Der Eintritt Italiens in den Krieg gegen Österreich-Ungarn 1915, der Sieg 1918, der Anspruch auf Gebiete, die ehemals zur Habsburgermonarchie gehört hatten (Trentino, Südtirol, Görz und Triest, Istrien, Fiume und Dalmatien) sowie die Notwendigkeit, die Inbesitznahme eroberter Gebiete auf sprachlicher, politischer und kultureller Ebene zu legitimieren, beschäftigten weite Teile der Geschichtsforschung und prägten substantiell den Blick der italienischen Historiker auf das Schicksal des Hauses Habsburg.6 Gerade in jenen Jahren also, in denen Eduard Winter und Fritz Valjavec ihre Aufmerksamkeit dem Josephinismus zuzuwenden begannen, bedeutete für italienische Historiker die Beschäftigung mit österreichischer Geschichte, ihren Begriffen und Methoden, das Betreten eines ideologisch glühenden, keinesfalls neutralen Terrains. Unter den wenigen Italienern, die sich unmittelbar und ohne nationalistische Vorannahmen, jedoch auch ohne vollständigen Verzicht auf das Erbe des Risorgimento mit österreichischer Geschichte befassten, war Franco Valsecchi. 1903 in Mailand geboren, war er Professor für Geschichte und Kultur Italiens an der Universität Leipzig, ehe er dasselbe Fach zwischen 1934 und 1939 an der Universität Wien vertrat. Die Kenntnis des Deutschen, der Umgang mit österreichischen Historikern und der lange Aufenthalt in Wien ermöglichten Valsecchi einen eigenen Zugang zur österreichischen Geschichte. So konnte Valsecchi seine Aufmerksamkeit auf den Josephinismus richten, der als Verbindungslinie zwischen der Regierungsepoche Maria Theresias und Josephs II. diente, intensiv setzte er sich mit Eugen Guglias Arbeit über die Mutter und Paul von Mitrofanovs Forschungen über den Sohn auseinander. Valsecchi widmete sich zunächst dem politischen und kulturellen Leben seiner Heimatregion, der Lombardei, im 18. und 19. Jahrhundert, um dann die Reformphase in Mailand in einen breiteren habsburgischen Kontext einzubetten und somit die Bedeutung des Wiener kulturellen Erbes in Mailand ins Auge zu fassen.7 Aus diesen Anfängen entwickelte sich dann eine tiefschürfende Studie über Maria Theresia und den Aufgeklärten Absolutismus, die sich schlussendlich nicht auf die Reformen des mittleren 18. Jahrhunderts beschränkte, sondern auch das Verhältnis zwischen der Epoche Maria 6 Silvio Furlani / Adam Wandruszka, Austria e Italia: storia a due voci. Bologna 1974 (österreichische Ausgabe: Österreich und Italien, Wien 1973; neu herausgegeben von Stefan Malfèr (Hg.), Österreich und Italien: ein bilaterales Geschichtsbuch. Wien 2002). 7 Franco Valsecchi, L’assolutismo illuminato in Austria e in Lombardia, 2 Bde. Bologna 1931–1934. Im italienischen Kontext nahm die Erforschung des Aufgeklärten Absolutismus einen polemischen Charakter an: Häufig hoben die Historiker des Aufgeklärten Absolutismus mit antirevolutionären und damit antifranzösischen Untertönen den „indigenen“ Reformismus auf der Halbinsel hervor.

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Theresias und dem Josephinismus thematisierte. Valsecchi kam zu dem Schluss, dass der Josephinismus, obschon er viele Züge der theresianischen Politik aufgenommen und fortgeführt hatte, doch aus anderen intrinsischen Beweggründen entstanden war, die deutliche Merkmale der Aufklärung aufwiesen, zumal sie klarer, einschneidender waren, ja gegenüber der theresianischen Mäßigung sektiererisch wirkten. Valsecchis Joseph II. erschien also moderner als seine Mutter, besonders weil Joseph nicht davor zurückschreckte, das reine Individuum, den Menschen als solchen, zum Adressaten obrigkeitlichen Handelns zu machen, statt ihn wie bisher primär als Teil einer Gruppe, einer Familie oder eines Standes anzusehen.8 Diese Idee eines klaren Bruchs zwischen der Herrschaft Maria Theresias und jener Josephs II., ablesbar vor allem anhand ihrer unterschiedlichen Haltungen gegenüber Rom, sollte auf lange Zeit die italienische Geschichtsschreibung bestimmen. Aus diesem Grund haben sich die Historiker oft auf die Verbindungen zwischen dem theresianischen und josephinischen Reformismus konzentriert, auf die Elemente von Bruch und Kontinuität zwischen den jeweiligen Herrschaftsphasen, und sie haben sich nur selten die Idee zu eigen gemacht, dass am Ende die Kontinuitäten überwogen und die Zäsuren weniger tiefgreifend waren, als dies auf den ersten Blick scheinen mochte. Ungeachtet der Verdienste Valsecchis sollte die in der Zwischenkriegszeit im österreichischen Kontext angelaufenen Debatte9 sowie die folgenden Werke von Winter und Valjavec kein besonderes Echo in Italien hervorrufen, zumindest nicht sofort nach ihrem Erscheinen. Winters These von der spezifischen kulturellen Identität, die sich im Reformkatholizismus ausdrückte, also in dem selbständigen Versuch, ohne Mitwirkung oder Zuhilfenahme Roms eine Reform der Nationalkirche durchzuführen, stieß in Italien auf wenig Interesse. Dasselbe galt für die Studie von Valjavec, die eine Rekonstruktion der „geistigen Entwicklung“ des Josephinismus zum Ziel hatte. Der einzige, der sich in Italien für diese kulturellen Phänomene interessierte, auch weil sie mit der idealistischen Philosophie verbunden waren, war der Triestiner Philosoph Carlo Antoni. Antoni hatte schon zuvor eine umfassende Neubewertung der Politik Josephs II. gegenüber den allzu strengen Urteilen der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts über den Monarchen angeregt. In seinen Considerazioni su Hegel e Marx räumte Antoni der Figur Josephs II. und dessen Kirchen- und Wirtschaftspolitik breiten Raum ein, um das Profil eines nicht-doktrinären Autokraten zu zeichnen, gleichsam eines Vordenkers von Friedrich List.10 Winters und Valjavecs Werke erschienen erstmals 1943 und 1944, in jenen Jahren, als die Gelehrten, die der Faschismus ins Exil gezwungen hatte, nach Italien zurückkehrten. Diese Historiker, unter ihnen der junge Franco Venturi, hatten sich um die Erforschung der Aufklärung als republikanischer und antitotalitärer Ideologie der Freiheit bemüht und jeglichen Kompro8 Franco Valsecchi, Il secolo di Maria Teresa, hg. von Francesco Perfetti. Roma 1991, 223. 9 Vgl. den Beitrag von Franz L. Fillafer im vorliegenden Band. 10 Carlo Antoni, Considerazioni su Hegel e Marx. Milano – Napoli 1946, 274–279. Für das Interesse Antonis an Joseph II. und seiner Zeit spielten auch seine Studien zum Jurisdiktionalismus sowie seine Nähe zum idealistischen Jurisdiktionalismus Benedetto Croces eine Rolle, der sich in Italien klar als Aufklärungsgegner positioniert hatte. Vgl. auch Gennaro Sasso, L’illusione della dialettica, profilo di Carlo Antoni. Roma 1982.

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miss nicht nur mit der faschistischen Diktatur, sondern auch mit der katholischen Kirche abgelehnt, deren Klerus sich in Italien oft dem Faschismus angedient, ja mit dem System kollaboriert hatte. Im Exil, besonders in Paris, hatten diese Gelehrten der Gruppe „Giustizia e libertà“ angehört, zu deren Gründern Persönlichkeiten wie die Brüder Carlo und Nello Rosselli, Aldo Garosci und Leo Valiani zählten. Nach dem Fall des Faschismus sollte sich dieser Kreis im Partito d’Azione neu organisieren.11 Es handelte sich also um Gelehrte, die das politische und nationalistische Projekt des Faschismus bekämpft und die Tätigkeit der Resistenza begleitet hatten. Diese Gelehrten schrieben die Geschichte Europas, also auch Österreichs, nicht in der Absicht, nach jeweils typischen und gegenüber anderen Regionen spezifischen Elementen dieser Länder zu fahnden. Vielmehr zielten sie auf die Rekonstruktion einer kosmopolitischen und föderalistischen Geschichte ante litteram, indem sie nach den verbindenden, universalistischen und transnationalen Elementen des Reformismus und der europäischen Aufklärung fragten. Dringlich war dieses Anliegen nicht nur deshalb, weil es um die Überwindung der bislang vorherrschenden nationalistischen Perspektive ging, sondern auch aufgrund der politischen und kulturellen Herausforderungen der Nachkriegszeit. Es war einerseits notwendig, den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wiederaufbau zu betreiben, andererseits war es geboten, sich um ein einheitliches Bewusstsein zu bemühen, gerade in dem Moment, in dem sich Europa auf einen neuen Konflikt, den „Kalten Krieg“, einließ, der zur weiteren ideologischen Polarisierung beitragen sollte. In der politischen Kultur Italiens machte sich dieses Problem besonders bemerkbar: Nach einer kurzen Phase, in der alle aus dem antifaschistischen Kampf siegreich hervorgegangenen Kräfte in der Regierung zusammenarbeiteten, hatte sich dann die politische Landschaft rasch in zwei Großparteien gebündelt, einerseits in der Democrazia Cristiana, tatkräftig unterstützt von den USA und der Atlantischen Allianz, andererseits im Partito Comunista Italiano, gefördert von der Sowjetunion. Man darf bei dabei nicht vergessen, dass die kommunistische Partei Italiens die größte Westeuropas war. Wie schon zuvor war der Beruf des Historikers in Italien auch 1945 ein militanter, das Engagement der Historiker in Kultur, Politik und Zivilgesellschaft blieb die Regel. Eine Reorientierung und ein Dialog mit der österreichischen Historiographie mussten nach 1945 notwendigerweise von einigen politischen Grundwerten ausgehen, die es erlauben sollten, die älteren und jüngeren Konflikte zugunsten eines neuen, großen und utopischen Projekts zu überwinden: nämlich dem der Förderung der österreichisch-italienischen Forschungen und die Schaffung von bilateralen Kultureinrichtungen im Rahmen einer kosmopolitischen, toleranten und mehrsprachigen europäischen Gesellschaft. Dazu trug das gleichzeitige Lancieren einer noch größeren politischen Utopie bei, jener der europäischen Einigung. All dies spornte die Italiener unweigerlich an, die österreichische Geschichte nicht mehr länger auf charakteristische „österreichische“ oder „deutsche“/„germanische“ Elemente hin zu durchforsten, sondern sie stattdessen als Epizentrum Mitteleuropas zu erfassen, als Vorläufer der europä11 Christof Dipper, Franco Venturi und die Aufklärung. In: Das achtzehnte Jahrhundert 20 (1996), 15– 21; Giuseppe Ricuperati, The Historiographical Legacy of Franco Venturi (1914–1994). In: Journal of Modern Italian Studies 2 (1997), 67–88; Luciano Guerci / Giuseppe Ricuperati (Hg.), Il coraggio della ragione. Franco Venturi intellettuale e storico cosmopolita. Torino 1998.

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ischen Einheit, die sich zuerst im Heiligen Römischen Reich, später in der plurinationalen Monarchie manifestiert habe.12 Innerhalb dieses Feldes ging es darum, den Josephinismus von seiner ideologischen Aufladung zu befreien, ihn zu „entschärfen“ und stattdessen als simple Periodisierungskategorie zu verwenden, die sich zugleich dann hilfreich erwies, wenn es um die Neubewertung der Ergebnisse der italienischen Geschichtsschreibung sowie der vom Risorgimento und von der nationalistischen Deutungskultur präferierten Methoden ging. Es war nötig, den Josephinismus neu zu interpretieren, indem man die negativen Zuschreibungen abbaute, die man ihm während des Risorgimento aufgebürdet hatte; ebenso war es nötig, das Misstrauen zu überwinden, das sich aus der Wahrnehmung des Josephinismus als „fremdem“ und antiklerikalem Modell ergab, welche sich durch die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts so sehr eingebürgert hatte. Diese Entschärfungsmission erklärt den lange relativ schwachen – also theoretisch oder methodologisch unterreflektierten – Umgang mit dem Josephinismus in der italienischen Historiographie nach 1945. Mehr noch, in einigen Fällen wurde sogar das Fehlen starker ideologischer Ausrichtungen im Josephinismus behauptet, die man zugleich an kulturellen Kategorien und Begriffen aus anderen europäischen Kontexten, insbesondere jenem Frankreichs, feststellte. Diese Überzeugung hat sich insbesondere in der Rechtsgeschichte etabliert, wo die rationalisierende Tätigkeit Josephs II. als frei von ideologischen Elementen erschien, wie diese etwa umgekehrt in der Politik der französischen philosophes und der Lumières zu Tage traten: Die Aktivität des Habsburgerherrschers sei im Grunde vom utilitaristischen und funktionalen Streben nach einer umfassenden Bürokratisierung getragen gewesen, sie habe eine einfache legislative und administrative Reorganisation der Monarchie bezweckt.13 Ähnlich wie den Arbeiten von Winter und Valjavec erging es dem monumentalen Werk des Jesuiten Ferdinand Maaß, dem ebenfalls kein unmittelbares Echo in Italien zuteil wurde, obgleich darin die Infragestellung von Winters Darstellung klar erkennbar war. Die Debatte um den Josephinismus spielte sich in den Augen der Italiener somit innerhalb der österreichischen Historiographie ab.14

12 Vgl. Claudio Magris, Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur, Wien 2000 (erste deutsche Ausgabe 1966); Id. / Angelo Ara, Triest: eine literarische Hauptstadt in Mitteleuropa. Wien 1999 (erste deutsche Ausgabe 1987). 13 Giovanni Tarello, Storia della codificazione giuridica moderna: assolutismo e codificazione del diritto. Bologna 1976, 479–480; Mario A. Cattaneo, Il pensiero giuridico. In: Furio Diaz u.a. (Hg.), Immagini del Settecento in Italia. Roma – Bari 1980, 41–61. Vgl. auch die Arbeiten: Carlo Capra, „Il Mosè della Lombardia“. La missione di Carlo Antonio Martini a Milano 1785–1786. In: Cesare Mozzarelli / Giuseppe Olmi (Hg.), Il Trentino nel Settecento fra Sacro Romano Impero e antichi Stati italiani. Bologna 1985, 323–351; Aldo Andrea Cassi, Il „bravo funzionario“ asburgico fra „Absolutismus“ e „Aufklärung“. Il pensiero e l’opera di Karl Anton Martini (1726–1800). Milano 1999. Zu Martini und seinem Verhältnis zu Italien vgl. auch: Maria Rosa Di Simone, Percorsi del diritto tra Austria e Italia (secoli XVII-XX). Milano 2006, 77–85. 14 Umberto Dell’Orto, Concezione e ruolo die sovrani asburgici alla luce della nunziatura di Vienna di Giuseppe Garampi (1776–1785). In: Communio 144 (1995), 50–53.

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Mehr Resonanz erzeugte hingegen von Beginn der Fünfzigerjahre an die Interpretation von François Feijtő. Obwohl seine Biographie Josephs II. erst mit fast vierzig Jahren Verspätung ins Italienische übersetzt worden war, erregte das Buch sofort das Interesse der italienischen Historiker, vielleicht auch, weil das Französische ihnen zugänglicher war als das Deutsche. Freilich kam auch Feijtős Ausrichtung gut an, der den Konflikt zwischen Joseph II. und seiner Mutter und damit die Elemente der Diskontinuität zwischen den theresianischen Reformen und der josephinischen „Revolution“ hervorhob, womit er den zwiespältigen Charakter des Herrschers als Militarist und Liberaler, als Absolutist und Philanthrop zeigen konnte. In einem Kommentar zu Feijtős Buch schrieb der wichtige Verfassungs- und Verwaltungshistoriker Salvatore Francesco Romano, dass mit diesem Werk der Josephinismus nicht mehr nur als Ausdruck einer individuellen Weltsicht des Herrschers verstanden werden sollte, sondern als genereller Erneuerungsprozess des gesellschaftlichen Lebens, als Verwirklichung einer im Sinn des „Allgemeinwohls“ geordneten Gesellschaft.15 Die Herangehensweise Feijtős erschien unter verschiedenen Gesichtspunkten als innovativ. Originell war sie gemessen an der klassischen Darstellung des Josephinismus als religionspolitisches Phänomen, als habsburgisches Streben nach einer Nationalkirche. Diese Darstellung, auf die freilich immer dann zurückgegriffen wurde, wenn es um leicht fassliche Definitionen ging, findet sich etwa noch in den frühen Siebzigerjahren bei dem gleichfalls bedeutenden, aus Istrien stammenden italienischen Historiker Ernesto Sestan.16 Feijtő half dabei, den nachgerade klassischen Mythos von Maria Theresia als Protagonistin des Goldenen Zeitalters der Habsburgermonarchie zu beseitigen und die wenig schmeichelhafte Reputation Josephs II. zurechtzurücken, wie es etwa auch im Werk des jungen Claudio Magris geschah: Magris hatte in seiner 1963 erschienenen Doktorarbeit der mariatheresianischen und josephinischen Epoche einen ganzen Abschnitt gewidmet.17 Die Wertschätzung der italienischen Historiographie für Feijtős Biographie hat jedoch auch andere Wurzeln, namentlich das antifaschistische und sozialdemokratische Engagement des ungarischen Historikers sowie seine Aktivität im Pariser Exil, das er mit vielen italienischen Historikern teilte. Unter ihnen war ein Altersgenosse Feijtős, der bereits erwähnte Franco Venturi (1914–1994), er sollte sich später intensiv mit der österreichischen Geschichte und dem Josephinismus auseinandersetzen. Venturi war fraglos der wichtigste italienische Historiker der Aufklärung im 20. Jahrhundert. Seit seiner Pariser Exilzeit während des Faschismus, und noch verstärkt nach seiner Rückkehr nach Italien, bemühte sich Venturi ein halbes Jahrhundert lang darum, das italienischen Settecento in ein Gesamtbild der europäischen Geschichte zu integrieren. Damit war Venturi auch bestrebt, das Thema seinen nationalen und nationalistischen Interpreten aus dem frühen 20. Jahrhundert zu entreißen.18 15 Salvatore Francesco Romano, La monarchia degli Asburgo d’Austria dalla riforma protestante all’austromarxismo. Udine 1981, 137–162. 16 Ernesto Sestan, Dizionario storico politico italiano. Firenze 1971, 614. 17 Claudio Magris, Il mito asburgico nella letteratura austriaca moderna. Torino 1963, 33–38. 18 Ein biographisches Profil von Venturi bietet: Edoardo Tortarolo, Franco Venturi. In: Raphael Lutz (Hg.), Klassiker der Geschichtswissenschaft, 2: Von Ferdinand Braudel bis Nathalie Z. Davis. München

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Dieser europäische Blick auf die Aufklärung verband Feijtő mit Venturi, die beide einer Generation von Intellektuellen angehörten, die ihre Prägung in der Zwischenkriegszeit erhalten hatte und stark von der Erfahrung des Antifaschismus und Antinationalismus geformt war.19 Venturis Perspektive hat demnach ältere Wurzeln; sie betrachtet die Beschäftigung mit dem 18. Jahrhundert als Rückkehr zu den Idealen der Toleranz, der Gleichheit und des Universalismus, sie waren notwendig für die Neubegründung eines von Zivilcourage und Verteidigung der Demokratie geprägten Bürgersinns in Italien und Europa. Venturis Interesse für den Josephinismus und für typische Probleme der österreichischen Historiographie ist Teil eines großangelegten Reflexionsprozesses, der sich seit den 1950er Jahren über vier Jahrzehnte hinweg entwickelte, Venturi bemühte sich, der Geographie der europäischen Aufklärung und die Mechanismen der Ideenzirkulation („circolazione delle idee“) besser zu verstehen. Der Josephinismus erfährt darin keine eigenständige Behandlung, sondern wird immer dann zum Gegenstand, wenn er in Beziehung zu den großen politischen Transformationen in der Krise des Ancien Régime gesetzt werden kann.20 Im Studienjahr 1981/82 machte Venturi das Zeitalter Josephs II. zum Gegenstand seines Kurses in Neuerer Geschichte an der Universität Turin und veröffentlichte aus diesem Anlass ein eigenes Buch.21 Es handelt sich um eine Vorstudie zu einem folgenden Band seines Werkes Settecento riformatore, zeigt jedoch gleichzeitig den retrospektiven Umgang der italienischen Historiographie mit den Arbeiten von Winter und Valjavec. Für Venturi ist klar, dass Joseph II. seit 1760 in politischer und kultureller Hinsicht gegen seine Mutter aufbegehrt habe, er habe kein Hehl daraus gemacht, dass er imstande war, als Herrscher einen eigenen Weg einzuschlagen; zudem habe er seinen Bildungshorizont von genuin europäischem und kosmopolitischem Zuschnitt unter Beweis gestellt.22 Venturi betonte besonders, dass die Phase nach dem Tod Maria Theresias 1780 weniger durch ein neues Regierungsprogramm als vielmehr durch ein genuin neues „System“ gekennzeichnet war, das die Politik der vorangegangenen dreißig Jahre ersetzen sollte. Das „sistema di Giuseppe II“ und das „sistema dell’imperatore“ sind die von Venturi am häufigsten gebrauchten Ausdrücke. In seinem Buch von 1982 verwendet Venturi an keiner Stelle das Wort „giuseppinismo“, nicht einmal, wenn es um die Beschreibung von Josephs intensivem Programm religiöser Reformen geht. Das war eine bewusste methodologische Entscheidung Venturis, der wenig geneigt war, historiographische Kategorien direkt anzusprechen 2006, 77–96. Vgl. auch Derek Beales, Franco Venturi and Joseph’s II „grande progetto“. In: Rivista Storica Italiana 108 (1996), 742-750. 19 Guerci / Ricuperati (Hg.), Il coraggio della ragione. Franco Venturi intellettuale e storico cosmopolita, wie Anm. 11. 20 Giuseppe Ricuperati, Categoria e identità: Franco Venturi ed il concetto di Illuminismo. In: Rivista Storica Italiana 108 (1996), 550–648; Furio Diaz, Il Settecento di Franco Venturi dalla storia dell’Illuminismo alla storia del mondo. In: ebenda, 649–677. 21 Franco Venturi, L’età di Giuseppe II. Torino 1982. 22 Venturi, L’età, wie Anm. 21, 37. – Vgl. auch die Briefe Winters an Venturi: Giuseppe Rutto, Tra Aufklärung e Illuminismo. Lettere di Eduard Winter a Franco Venturi. In: Quaderni di storia dell’università di Torino 2 (1998), 463–483.

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oder theoretisch durchzuformulieren. Dieser Zugang erlaubte es Venturi, den Josephinismus als interpretativen Rahmen zu verwenden, ohne dabei unmittelbar die historiographische Stichhaltigkeit des Begriffes überprüfen zu müssen. An Joseph II. will Venturi – wiederum auf Basis Feijtős – die persönlichen Eigenschaften herausarbeiten und seine Haltung als aufgeklärter Reformer betonen, aber auch die große Skepsis, mit der Joseph die Möglichkeit einer triumphalen Verselbständigung der Aufklärung (lumi) und der Selbstregulierung der Märkte betrachtete. Gleiches galt für Josephs Vorbehalte gegenüber der Erwartung, dass die Freiheit sicher zur Wahrheit führe. Vielmehr bemerkte Venturi Josephs obsessive Neigung, in alle Angelegenheiten der Staatsverwaltung einzugreifen, und sein ständiges Aushecken von Mechanismen, die Zivilisierung und Fortschritt vermitteln sollten.23 Vergleicht man diese Überlegungen Venturis aus dem Band über Joseph II. mit seinem zweiten großen Werk zum aufgeklärten 18. Jahrhundert, zeigen sich interessante Verschiebungen. In Venturis Settecento riformatore wird dieses Kapitel österreichischer und europäischer Geschichte nicht länger selbständig abgehandelt, ist also nicht mehr länger „Nationalgeschichte“, sondern Teil eines großen europäischen Freskos, das sich – wie der Untertitel des Werkes zeigt – des Sturzes des Ancien Régime als Gesamtproblems annimmt.24 Der Josephinismus erscheint somit nicht mehr nur als ein Bündel an Handlungen und politischen Entscheidungen, die an den Willen Josephs II. zurückgebunden sind. Nunmehr versucht Venturi vielmehr, die Aufmerksamkeit von der Figur des Herrschers auf den Kreis seiner engsten Mitarbeiter zu lenken, also auf jene Gruppe, die in der Praxis das habsburgische Reformprogramm beeinflusste, es jedenfalls erst möglich machte. Folglich erscheint die Debatte über den Josephinismus nicht mehr nur als Binnendiskussion innerhalb der österreichischen Historiographie, sie erlangt plötzlich auch für die italienische eine gewisse Bedeutung, besonders was die habsburgische Herrschaft auf der italienischen Halbinsel betrifft.25 Freilich scheint Venturi in der Einleitung zu diesem Band von Settecento riformatore der Politik Josephs II. noch eine Sonderstellung im europäischen Panorama zusprechen zu wollen; und hier benutzt Venturi in der Tat zum ersten Mal das Wort „giuseppinismo“. Während der letalen Krise des Ancien Régime hatte Joseph II. das Heft in der Hand, in seinen Händen sei laut Venturi die letzte Möglichkeit gelegen, die alte Ordnung zu reformieren und die Probleme zu lösen, die im Rest Europas bereits überhandgenommen hatten. Der „Josephinismus“ wird in Venturis Worten zum letzten, grandiosen und mühevollen Versuch, Wien zur treibenden Kraft in der Vollendungsphase der Reformen des 18. Jahrhunderts, zum Zentrum

23 Venturi, L’età, wie Anm. 21, 261. 24 Franco Venturi, Settecento riformatore, 4/2: La caduta dell’Antico Regime. Torino 1984, 615-778. 25 Dieses Interesse für die josephinische Bürokratie und für die Ausbildung der Beamten in theresianischer und josephinischer Zeit steht wohl auch in einem Verhältnis zu den Arbeiten über die herrschenden Gruppen im Lombardo-Veneto während der Restauration und überhaupt im 19. Jahrhundert, in welchen in gewissem Sinn auch nach dem Erbe des Josephinismus gefragt wurde. Vgl. insbesondere Marco Meriggi, Amministrazione e classi sociali nel Lombardo-Veneto (1814–1848). Bologna 1983; sowie Luca Rossetto, Il commissario distrettuale nel Veneto asburgico. Un funzionario dell’Impero tra mediazione politica e controllo sociale (1819–1848). Bologna 2013.

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all dieser Bemühungen zu machen.26 Freilich liegt in dieser Interpretation eine gewisse Zweideutigkeit, zumal die Entscheidung zwischen zwei möglichen Lesarten des Josephinismus letztlich dem Leser überlassen wird: Zum einen scheint es, als sei diese Darstellung der Herrschaft Josephs II. bei Venturi paradigmatisch für sein nuanciertes Verständnis der öffentlichen Meinung in Europa und Italien; zum anderen hat es den Anschein, als wolle Venturi eine eigenständige Interpretation vorschlagen, indem er Joseph II. als letzten Protagonisten und Erneuerer des Ancien Régime vorstellt.27 Gegen Ende der 1960er Jahre kam eine spezifischere Perspektive auf den Josephinismus hinzu, sie verdankte sich Giuseppe Galasso. Galasso rollte die österreichische Geschichte vom Süden Italiens her auf, bei ihm stand die Rolle der Habsburger in der Geschichte des Königreiches Neapel im Mittelpunkt. Das Material, das er in seinem Buch Austria e Asburgo nella storia dell’Europa moderna28 verarbeitete, war aus Vorlesungen an der Universität Neapel im Studienjahr 1967/68 hervorgegangen. Galasso berücksichtigte dabei, dass der Ausdruck „giuseppinismo“ der Geschichtsschreibung mittlerweile sehr geläufig geworden war und nicht mehr nur auf die Kirchenpolitik des Herrschers bezogen wurde, sondern auf die Gesamtheit der autokratischen Reformen, die in der Habsburgermonarchie umgesetzt worden waren. Galasso bemerkte, dass die Urteile der Historiker über den Kaiser weiterhin widersprüchlich blieben, was oft damit zusammenhing, dass man Josephs Modernität an der europäischen Kultur der Aufklärung maß.29 In den Jahren, in denen Venturi und Galasso ihr Interesse auf die Geschichte Österreichs und die Herrschaft Josephs II. zu konzentrieren begannen, gewann auch der Problemkomplex rund um die Interpretation des Josephinismus in der Geschichte der Lombardei und besonders Mailands an Gewicht. Diese wichtige Debatte dauert bis heute an, auch weil in der italienischen Geschichtsschreibung umstritten ist, ob und inwiefern die lombardische Aufklärung eines Cesare Beccaria und der Brüder Pietro und Alessandro Verri tatsächlich als repräsentativ für die Komplexität und Vielgestaltigkeit der italienischen Aufklärung betrachtet werden kann.30 Mit Blick auf die Geschichtsschreibung über Mailand und die Lombardei stellt man rasch fest, dass durch die Vorentscheidung darüber, wie man den Erfolg der josephinischen Reformen einstuft, die Bewertung der lokalen Aufklärer entsprechend determiniert und geprägt wird. Wenn man den Josephinismus aufwertet, schmälert man die Handlungsfähigkeit und Eigenständigkeit dieser lokalen Aufklärer; das Hervorheben des Werkes und der Regierungstätigkeit von Männern wie Beccaria und den Brüdern Verri wiederum schränkt die Bedeutung und Tiefenwirkung des Josephinismus in den italienischen Territorien der Habsbur26 Venturi, Settecento riformatore, wie Anm. 24, xiii. 27 Ricuperati, Il Settecento. In: Luigi De Rosa (Hg.), La storiografia italiana degli ultimi vent’anni, 2: L’età moderna. Roma–Bari 1989, 121–122. 28 Giuseppe Galasso, Austria e Asburgo nella storia dell’Europa moderna. Napoli 1968. 29 Galasso, Austria e Asburgo, wie Anm. 28, 294–295. 30 Franco Venturi, Illuministi italiani, III. Riformatori lombardi, piemontesi e toscani. Milano –Napoli 1958.

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germonarchie ein. Daraus erklärt sich, warum man seit den 1960er Jahren der Erforschung der lombardischen Aufklärer viel Aufmerksamkeit geschenkt hat, wobei eben nicht nur ihre theoretischen Schriften, sondern auch ihre Regierungstätigkeit Beachtung fanden. Ein wichtiges Resultat dieser Entwicklung war die Relativierung der einschneidenden Wirkung von Josephs Herrschaft in der österreichischen Lombardei, wobei man stärker die Kontinuität des theresianischen Reformprogramms mit den italienischen Institutionen und die Fremdartigkeit des Josephinismus gegenüber den gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen in Norditalien betonte.31 Diese Phänomene traten deutlich in den Arbeiten der 1970er und 1980er Jahre zu Tage, als sich etwa Gian Paolo Brizzi, Xenio Toscani und Paola Vismara32 mit der Gesellschafts- und Ideengeschichte des lombardischen Klerus auseinandersetzten. Festzuhalten ist dabei, dass in der geschichtswissenschaftlichen Debatte in Italien der Begriff „Katholische Aufklärung“ kaum zur Anwendung kam, obwohl sich ein Gelehrter vom Rang eines Mario Rosa um dessen Einführung bemüht hatte.33 Ebenso wenig Resonanz erzeugten die österreichischen Arbeiten zum Verhältnis von Katholizismus und Aufklärung.34 Nun ist es gewiss ein Paradoxon der italienischen Historiographie, die immer sehr sensibel für Fragen der Religionsgeschichte und der Präsenz Roms war, dass das Konzept „Aufklärung cattolica“ nie eine große Rolle spielte. Mittlerweile wurde es durch Kategorien wie etwa „cattolicesimo illuminato“ ersetzt, die der Besonderheit der italienischen Religionsgeschichte besser Rechnung tragen. Tatsächlich handelt es sich hierbei um das Ergebnis von Forschungen, die an erster Stelle den vielfältigen und komplexen Charakter einer europäischen Aufklärung unterstrichen haben, in welcher auch die katholische Welt Platz fand. Weiters machen diese Arbeiten deutlich, dass die tatsächliche Neuerung der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht darin bestand, dass sich die Katholische Aufklärung gegen die europäisch-weltbürgerliche Aufklärung gewandt hätte, sondern vielmehr darin, dass ein Teil der Katholiken sich 31 Aldo De Maddalena / Ettore Rotelli / Gennaro Barbarisi (Hg.), Economia, istituzioni, cultura in Lombardia nell’età di Maria Teresa, 3 Bde. Bologna 1982. 32 Gian Paolo Brizzi, La formazione della classe dirigente nel Sei-Settecento. I seminaria nobilium nell’Italia centro-settentrionale. Bologna 1976; Xenio Toscani, Il clero lombardo dall’Ancien Régime alla Restaurazione. Bologna 1979; Paola Vismara, Settecento religioso in Lombardia. Milano 1994. 33 Vgl. Mario Rosa (Hg.), Cattolicesimo e lumi nel Settecento italiano. Roma 1981; Id., Settecento religioso. Politica della ragione e religione del cuore. Venezia 1999. 34 Wenig bekannt sind in Italien die Studien von Sebastian Merkle, Die katholische Beurteilung des Aufklärungszeitalters. Berlin 1909; Id, Die kirchliche Aufklärung im katholischen Deutschland. Eine Abwehr und zugleich ein Beitrag zur Charakteristik „kirchlicher“ und „unkirchlicher“ Geschichtswissenschaft. Berlin 1910. Vgl. dazu auch den Forschungsbericht: Bernard Schneider, „Katholische Aufklärung“: zum Werden und Wert eines Forschungsbegriffs. In: Revue d’histoire ecclésiastique 93 (1998), 354–395. Wenig Interesse hervorgerufen hat auch der Band: Harm Klueting (Hg.), Katholische Aufklärung – Aufklärung im katholischen Deutschland. Hamburg 1993; mehr Aufmerksamkeit ernteten die Arbeiten von Bernard Plongeron, Théologie et politique au siècle des Lumières (1770–1820). Genève 1973; freilich nicht sein Artikel: Id., Was ist Katholische Aufklärung? In: Elisabeth Kovács (Hg.), Katholische Aufklärung und Josephinismus. Wien 1979, 11–56; und ebenso wenig der Artikel: Id., Les églises au défi de la modernité à la charnière des 18e et 19e siècles. In: Revue d’histoire ecclésiastique 95 (2000), 613–633.

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intensiv mit den Erfordernissen der „Modernisierung“ und ihren Eigenschaften auseinandersetzte.35 Dieser Eindruck fehlender Passgenauigkeit einiger interpretativer Kategorien der österreichischen Geschichtsschreibung für Italien stellt sich auch ein, wenn man das Verhältnis zwischen Josephinismus und Freimaurerei und die Bedeutung der massoneria auf der italienischen Halbinsel betrachtet. Arbeiten von Historikern, die die Freimaurerpolitik Josephs II. gemäß traditioneller Schemata der älteren Freimaurerforschung betrachtet haben, wurden in der Regel als Materialsammlungen herangezogen.36 Aber auch hier ist es mittlerweile möglich, das Verhältnis zwischen Josephinismus und Freimaurerei in einem größeren Rahmen als jenem der österreichischen Geschichte zu situieren: Hier tritt die europäische Dimension der Freimaurerei und insbesondere der Strikten Observanz in den Vordergrund. So wird auch eine ausgewogenere Einschätzung möglich, was Josephs Versuch angeht, die Freimaurerei zentral zu kontrollieren, freimaurerische Gruppen vermochten diesem Vereinheitlichungsdruck in verschiedenen Ländern der Monarchie zu widerstehen, sie bildeten originäre und eigenständige Diskurse aus.37 Die Anbahnung der großen Editionsvorhaben der Schriften Beccarias und Pietro Verris, die auch ihre Entwürfe und Denkschriften zur Verwaltung Mailands beinhalten, haben die Rolle Josephs II. und seiner Minister in Italien allmählich in den Hintergrund treten lassen. Es darf nicht vergessen werden, dass die Vorbereitung dieser Editionsprojekte ebenso wie die Würdigung des regionalen Kontexts eng mit dem enormen ökonomischen, städtebaulichen und gesellschaftlichen Aufschwung Mailands zusammenhängt, der die Stadt zum Motor des italienischen Wirtschaftswachstums machte und zugleich eines der großen europäischen Finanz- und Industriezentren schuf. Daraus erklärt sich auch die Konjunktur der lombardischen Aufklärung: Man verlieh Mailand forschungspragmatisch den Primat gegenüber der „österreichischen Herrschaft“ im Allgemeinen, die Bevorzugung der lombardischen Aufklärer ließ die Politik des „Josephinismus“ als Thema verblassen; damit erwies die Historiografie 35 Vgl. Vincenzo Ferrone / Daniel Roche (Hg.), Le monde des Lumières. Paris 1999; Antonio Trampus, I gesuiti e l’Illuminismo: politica e religione in Austria e nell’Europa centrale 1773–1798. Firenze 2000; Mario Tosti, Una costituzione per la Chiesa. La proposta di un Concilio ecumenico negli anni della Rivoluzione francese. Firenze 2006; Pasquale Palmieri, I taumaturghi della società: santi e potere politico nel secolo dei Lumi. Roma 2010. 36 Hans Wagner, Die Lombardei und das Freimaurerpatent Josephs II. von 1785. In: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 31 (1978), 136–153; Carlo Francovich, Die Regierung Maria Theresias und die Haltung Josephs II. gegen die Freimaurer in der österreichischen Lombardei. In: Österreich im Europa der Aufklärung: Kontinuität und Zäsur in Europa zur Zeit Maria Theresias und Josephs II., 2. Wien 1985, 883-894; Helmut Reinalter, Joseph II. und die Freimaurerei im Lichte der zeitgenössischen Broschüren. Wien – Köln – Graz 1987. Als Materialsammlungen benützte diese Texte Giuseppe Giarrizo, ohne aber ihre interpretativen Leitlinien zu übernehmen: Giuseppe Giarrizzo, Massoneria e illuminismo nell’Europa del Settecento. Venezia 1994. 37 Die umfassendste Darstellung zur Geschichte der Freimaurerei in Italien ist heute: Gian Mario Cazzaniga (Hg.), Storia d’Italia. Annali 21: La Massoneria. Torino 2006. Zu diesem Band: Antonio Trampus, Die Freimaurerei und die Einheit Italiens. In: Florika Griessner / Adriana Vignazia (Hg.), 150 Jahre Italien. Themen, Wege, offene Fragen. Wien 2014, 213–226.

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dem lombardischen Wirtschaftswunder ihre Reverenz, zugleich wurde eine Akzentverschiebung von der Religions- zur Wirtschaftsgeschichte vorgenommen. Es überrascht nicht, dass viele an diesem Projekt beteiligte Historiker eine marxistische Ausbildung genossen hatten und daher besonderen Wert darauf legten, die zeitgenössischen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedingungen für die intellektuelle Tätigkeit der Aufklärer ausfindig zu machen. Im mailändischen Bereich bedeutete also die Erforschung des Josephinismus eine Auseinandersetzung mit der Frage der „milanesità“. Der Josephinismus erschien hier nicht mehr bloß als Rationalisierungs- und Vereinfachungsvorgang, sondern als politisches Projekt, das auf die Beschneidung der lokalen Autonomie, die Lähmung örtlichen Gremien, Organe und Gruppierungen sowie auf die Schwächung der Position der Mailänder Intellektuellen gegenüber der Zentralgewalt abzielte. An diesem Punkt tritt auch die Unterscheidung zwischen theresianischem Reformismus und Josephinismus deutlicher hervor. Während die lombardischen Aufklärer zur Zeit Maria Theresias stark in die Staatsverwaltung involviert gewesen waren, wurden sie unter Joseph II. durch von außen, hauptsächlich aus dem Veneto kommende Intellektuelle ersetzt: von Funktionsträgern also, die keine „nationalen“ Interessen vertraten und möglicherweise mehr Loyalität gegenüber der Monarchie aufbrachten. Auf der interpretativen Ebene bedeutete dies eine Neubewertung des tatsächlichen Gewichts, das den lombardischen Aufklärern im Reformprozess zukam, sowie eine genauere Analyse ihrer Verteidigungsstrategien gegenüber der Wiener Regierung. Besonders Carlo Capra hat sich seit den 1960er Jahren in solche Studien vertieft, sie gipfelten in seiner großen Biographie Pietro Verris.38 Dieser neue Zugang zum Josephinismus machte sich auch in der Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte bemerkbar. Nicht von ungefähr endeten die theresianischen Reformen mit der Abschaffung des Mailänder Senats, also mit dem Versuch, Mailand direkter an das Wiener Zentrum anzubinden. Dasselbe galt für die Kirchenpolitik: Um die Autonomie der Mailänder Kirche war es geschehen, sobald der Josephinismus die Kirche wie den Adel lediglich als eine privilegierte Gruppe unter anderen betrachtete. Der Josephinismus war also nicht nur ein Problem der Religion, sondern auch eines der Politik, ein Problem, das demnach auch eine politische Antwort vonseiten der Historiographie verlangte. Wenn man einräumte, dass es zu einer Schwächung der herrschenden Klasse Mailands zugunsten von Funktionären aus anderen Regionen gekommen war, dann galt es auch zu akzeptieren, dass diese neue Elite sich letztlich nicht von jener in anderen Teilen der Monarchie unterschied.39 Das Problem ist delikat, es birgt reichlich interpretatorische und historiographische Implikationen: Das stellte sich auch anlässlich einer Diskussionsrunde heraus, die von der Fondazione Einaudi in Turin über jenen Band von Venturis Settecento riformatore veranstaltet wurde, der sich den josephinischen Reformen widmete.40 Bei dieser Gelegenheit kritisierte Carlo Capra ausgehend von seinen Arbeiten zu Mailand und zur Lombardei sehr entschieden den Zugang Venturis, dem er vorwarf, an der alten Konzeption des Josephinismus als simple 38 Carlo Capra, I progressi della ragione. Vita di Pietro Verri. Bologna 2002, 249. 39 Maurizio Sangalli, Maria Teresa d’Asburgo. Napoli 2014, 157. 40 Carlo Capra, Immagine e realtà nel „grande progetto“ di Giuseppe II. In: Annali della Fondazione Luigi Einaudi – Torino 19 (1985), 419–426.

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Reaktion auf die theresianische Politik festzuhalten. Der zweite fundamentale Kritikpunkt Capras war, dass Venturi zu stark den Arbeiten von Helen Liebel-Weckowicz und überhaupt der US-amerikanischen und kanadischen Literatur folge, in welcher die konzeptuelle Eigenständigkeit des Josephinismus überbetont werde.41 Für Capra überwogen hingegen zwischen den Epochen Maria Theresias und Josephs II. eindeutig die Elemente der Kontituität.42 Die Studien zur Lombardei im 18. Jahrhundert, die sich in den vergangenen dreißig Jahren hauptsächlich auf Pietro Verri konzentriert haben, behandeln die österreichische Geschichte nur als Kulisse für die Rekonstruktion regionalen politischen und kulturellen Lebens. Ein weiteres Charakteristikum besteht darin, dass man nun die Treue gegenüber der Dynastie als das tragende Element in den Beziehungen zwischen den italienischen Staaten und der Habsburgermonarchie betont.43 Erst im Laufe der Achtzigerjahre erhoben sich Stimmen, die auf die Schwierigkeiten einer solchen Herangehensweise aufmerksam zu machen begannen. Nicht zufällig warnte gerade Giuseppe Ricuperati, ein Schüler Venturis, der sich die kosmopolitische Gelehrsamkeit seines Lehrers zu eigen gemacht hatte, vor einer Unterbewertung der ideellen Wirkabsichten und Ziele Josephs II. und folglich auch davor, die Anregungen zu vernachlässigen, die von den philosophes und anderen Protagonisten europäischer Aufklärungskultur ausgingen. Ricuperati monierte, dass eine monochrome und zu sehr dem Regionalismus verhaftete Darstellung Gefahr laufe, den politischen Kosmos Josephs II. arg zu vereinfachen.44 Ein weiterer Strang der italienischer Geschichtswissenschaft, der sich der Dynamiken der Geschichte der Dynastie und der Monarchie annimmt, ist die Historiographie über die Toskana. Hier ist bemerkenswert, dass trotz des großen Interesses für die Mitherrschaft und die Alleinregierung Josephs II., besonders mit Blick auf sein Verhältnis zu Pietro Leopoldo,45 eine Auseinandersetzung mit der Frage des Josephinismus fast völlig fehlt. In der Toskana hat sich das Interesse an der Habsburgermonarchie auf den „leopoldismo“ beschränkt, verstanden als ein völlig autonomer Bereich intellektueller und politischer Gestaltung, was durch die Arbeiten von Adam Wandruszka und Franz Pesendorfer noch verstärkt wurde.46 41 Helen Liebel-Weckowicz, Count Karl von Zinzendorf and the Liberal Revolt against Joseph’s II Economic Reforms 1785–1790. In: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Sozialgeschichte heute. Göttingen 1974, 69–85; Ead., Free Trade and Protectionism under Maria Theresa and Joseph II. In: Canadian Journal of History 14 (1979), 355–373; Ead., The Physiocrat Tax Reform of Joseph II: the Challenge of Modernisation in the Habsburg Empire 1780–1790. In: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 216 (1983), 287–289. 42 Capra, Immagine, wie Anm. 40, 423; Carlo Capra, Il Settecento. In: Domenico Sella / Carlo Capra, Il Ducato di Milano dal 1535 al 1796. Torino 1984, 491–507. 43 Carlo Capra, La Lombardia austriaca nell’età delle riforme 1706–1796. Torino 1987, 221. 44 Giuseppe Ricuperati, Il Settecento, wie Anm. 27, 131–132; vgl. auch Derek Beales, Christians and „Philosophes“: the Case of the Austrian Enlightenment. In: Derek Beales / Geoffrey Best (Hg.), History, Society and the Churches. Essays in Honour of Owen Chadwick. Cambridge 1985, 169–194. 45 Derek Beales / Renato Pasta (Hg.), Pietro Leopoldo d’Asburgo Lorena, Relazione sullo stato della monarchia. Roma 2013. 46 In dieser Perspektive kam dann auch eine Interpretation der Geschichte der habsburgischen Toskana des

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Hier scheint sich die Epoche Josephs II. fast aufzulösen, wenn man sie mit den großen Reformen und Verfassungsvorhaben vergleicht, die der Bruder in der Zeit seiner toskanischen Herrschaft eingeleitet hatte und in Wien bis zu seinem Tod fortführte. Das interuniversitäre Forschungszentrum zur Geschichte der toskanischen Städte hat unter der Leitung von Marcello Verga ein Editionsprojekt zur so genannten „costituzione“ Pietro Leopoldos lanciert, das intensive Forschungen in Wien und Prag vorsieht und dessen Höhepunkt die Online-Edition der entsprechenden Dokumente aus dem Tschechischen Nationalarchiv darstellt.47 Man sieht also, dass ein Großteil der Reflexionen über die Figur Josephs II. und über den Josephinismus in der italienischen Historiographie seine Begründung in spezifischen regionalen Befindlichkeiten und Interpretationsanliegen hat, die direkt oder indirekt mit dem Einfluss des Hauses Habsburg auf die italienischen Staaten vor der Einigung in Beziehung stehen. In der Folge, möglicherweise auch als Reaktion auf die historischen und politischen Probleme innerhalb Italiens selbst, hat die italienische Geschichtswissenschaft den Josephinismus und die neuzeitliche Habsburgermonarchie schließlich vermehrt vom dynastischen Standpunkt her betrachtet. Der Akzent lag dabei auf der Rolle der herrschenden Schichten, der Bedeutung von Treuebindungen und Identitätslogiken anstatt auf administrativen Fragen oder solchen nach der territorialen Herrschaft. Venturis Arbeiten aus den Achtzigerjahren sowie die Anregung, dem Verhältnis der Reformen Josephs zu den von seiner Mutter geschaffenen Voraussetzungen genauer nachzuspüren, fallen auch in die Jahre unmittelbar nach dem zweihundertsten Todestag Maria Theresias. In den Tagungen und Büchern zu diesem Anlass trat, trotz der Konzentration auf die Figur der Herrscherin, das Problem des Josephinismus häufig hervor, dadurch wurden auch die Unterschiede zwischen den Generationen der italienischen Historiker seit Valsecchi deutlich.48 Einmal mehr jedoch blieben die Begegnungen zwischen italienischer und österreichischer Historiographie Episode, sieht man von einem vereinzelten auf Italienisch erschienenen Aufsatz von Franz J. Szábo ab.49 Umgekehrt hat die Studie von Lorenz Mikoletzky zu Joseph II., die dessen Vermittlerfunktion zwischen zwei historischen Epochen, jener des Ancien Régime und jener der Aufklärung, betonte, sporadisch in der Geschichtsschreibung zur österreichischen Lombardei Erwähnung gefunden, während die große Ausstellung des Klosters Melk über das josephinische Österreich im Jahre 1980 nahezu unbeachtet blieb.50

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19. Jahrhunderts zum Zuge, in welcher diese an den Moderatismus und die Politik Pietro Leopoldos rückgebunden wurde. Vgl. Zeffiro Ciuffoletti, I moderati toscani e la tradizione leopoldina. In: Clementina Rotondi, I Lorena in Toscana. Firenze 1989, 121–138; Thomas Kroll, Die Revolte des Patriziats: der toskanische Adelsliberalismus im Risorgimento. Tübingen 1999. http://www.circit.it/index.php?page=content_types [18. 1. 2015]. Jüngst erschien: Orsola Gori / Diana Toccafondi, Fra Toscana e Boemia. L’archivio di Pietro Leopoldo d’Asburgo Lorena nell’Archivio nazionale di Praga. Inventario. Roma 2013. De Maddalena / Rotelli / Barbarisi (Hg.), Economia, istituzioni, cultura, wie Anm. 31. Franz J. Szabo, Intorno alle origini del giuseppinismo: motivi economico-sociali e aspetti ideologici. In: Società e storia 4 (1979), 155–174. Eine Besprechung erschien in: Società e storia, 15/16 (1982), 412–415.

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Anhaltspunkte, die auf einen gemeinsamen Interessenhorizont verweisen, finden sich schließlich in den 1990er Jahren, als sich in Italien eine methodologische Debatte über die 51 Periodisierungskategorien des Settecento entwickelte. Diese Diskussion wurde eindeutig begünstigt durch die Krise der Sozialwissenschaften und „starker“ Interpretationsmodelle in der Geschichtswissenschaft, zugleich durch das Nachlassen des starken ethischen und politischen Engagements, das die Historiker der Nachkriegsjahrzehnte ausgezeichnet hatte. Teilweise ist all dies bereits umgesetzt worden in dem großen Gemälde des italienischen Settecento von Giuseppe Ricuperati und Dino Carpanetto aus dem Jahr 1986. Hier überwiegt innerhalb eines längeren Periodisierungsbogens, der von der „Krise des europäischen Bewußtseins“ bis zu den atlantischen Revolutionen reicht, ein vergleichender Zugriff auf die österreichische Geschichte. Die beiden Historiker konzentrieren sich auf die Elemente, welche die Erfahrung des Josephinismus in Italien von jener in anderen Teilen Europas unterschieden. Auf der Apenninhalbinsel gelangte demnach der Josephinismus auf kultureller und gesellschaftlicher Ebene nicht zu nachhaltigen Ergebnissen. Er kam plötzlich, war gekennzeichnet durch Formen passiven Widerstandes und mündete schließlich in offene Feindseligkeit zur Verteidigung althergebrachter Werte und lokaler Einrichtungen, die man in Gefahr wähnte.52 Paradoxerweise scheint die Hauptleistung des Josephinismus also nicht darin bestanden zu haben, dass er die italienischen Besitztümer der Habsburger auf den Weg der Modernisierung brachte, vielmehr stärkte er entgegen der Absicht seiner Träger die lokalen und nationalen Identitäten auf der Halbinsel, besonders jene Mailands. In jenen Jahren griff ein weiterer Historiker, wiederum aus Mailand, Maurizio Bazzoli, das Thema des Josephinismus auf. Er ging von der Perspektive der politischen Ideengeschichte aus und ordnete ihn in den breiteren Kontext des absolutistischen politischen Denkens ein.53 Bazzoli, offen für die Tradition Venturis, aber auch der österreichischen Diskussion gegenüber aufgeschlossen, war gemeinsam mit Carlo Capra unter den ersten, die in Italien die Arbeiten von Derek Beales rezipierten. Sein Vorschlag lief darauf hinaus, ein für allemal das Bild Josephs II. von der Bewertung seiner Kirchen-, Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik, abzulösen, so wollte Bazzoli zu einer weniger ideologischen Bewertung von Josephs Regierungshandeln und seiner Übereinstimmung mit dem ésprit des Lumieres vordringen. Aus diesem Zugang ergab sich auch die Notwendigkeit, die Zeit von Josephs Mitregentschaft zwischen 1765 und 1780 nicht als Vorbereitungsphase des Josephinismus zu sehen, sondern als integralen Teil der theresianischen Epoche, die ihrerseits aus sich selbst zu beurteilen war und nicht als Präfiguration oder Antithese des josephinischen Jahrzehnts.54 Eine wichtige Konsequenz, die sich daraus ergab, war die Möglichkeit zur Neubewertung des theresianischen Staates, der nicht länger als „unvollendeter Staat“ oder als schlichtes Ergebnis 51 Giuseppe Ricuperati, Le categorie di periodizzazione e il Settecento. Per una introduzione storiografica. In: Studi settecenteschi 14 (1994), 9–106. 52 Dino Carpanetto / Giuseppe Ricuperati, L’Italia del Settecento: crisi, trasformazioni, lumi. Roma – Bari 1986, 293–296. 53 Maurizio Bazzoli, Il pensiero politico dell’assolutismo illuminato. Firenze 1986, 209–211. 54 Sangalli, Maria Teresa d’Asburgo, wie Anm. 39, 5.

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einer Übergangszeit erschien. Was hingegen die zehn Jahre Herrschaft Josephs II. betraf, so eröffnete ein Zugang, der die Eigenständigkeit und Originalität der Reformen erkannte, die Möglichkeit, sie an die theresianischen Reformen rückzubinden, erlaubte es aber auch, die josephinischen Neuerungen mit der napoleonischen Zeit in Beziehung zu setzen. Freilich ist es in Italien nicht zu einer theoretischen Diskussion des Begriffs und des historiographischen Gebrauchs des „Josephinismus“ gekommen, die etwas voreilige Kritik von François Bluche, wonach der Inhalt des Begriffs „Josephinismus“ sich bis zur Doppeldeutigkeit erweitert habe, hat fast keinen Widerhall gefunden.55 Die jüngere Historiographie hat sich im Wesentlichen an den Ergebnissen der Neunzigerjahre und somit an den Biographien von Derek Beales und Karl Gutkas orieniert, die freilich nicht ins Italienische übersetzt worden sind, sowie an den beiden einschlägigen Werken von Tim Blanning,56 der den Josephinismus innerhalb der Kultur der Aufklärung verortete und ihm damit die Komplexität und Vielgestaltigkeit seiner europäischen Aspekte zurückgab.57 Eine gewisse Leserschaft erreichten die Forschungen von Grete Klingenstein, auch wenn sie nicht unmittelbar dem Josephinismus gewidmet waren, vor allem ihre Überlegung, dass der fieberhafte Aktivismus Josephs symptomatisch für die prekären Bedingungen war, in die der Aufgeklärte Absolutismus und die Aufklärung in den 1770er Jahren geraten waren.58 All diese Perspektiven sind gut zusammengefasst in zwei allgemeinen Überblickswerken, die ihren Stoff im Stil von Studienhandbüchern aufbereiten, namentlich in dem Band von Luciano Guerci über das 18. Jahrhundert in Europa von 1988 sowie in der Storia della società italiana von 1989. Bei Guerci erscheint der Josephinismus wesentlich als Reaktion, er wird von den herrschenden Umständen vorangetrieben. Er ist kein eigenständiges, ausgetüfteltes Projekt, sondern eine notwendige Reaktion auf die letzten Zuckungen des Absolutismus und des Ancien Régime. Weiters, so Guerci, solle man sich nicht täuschen lassen: Die von Joseph evozierte Uniformität und Rationalität dürfen nicht mit Gleichheit, die Erneuerungsbestrebungen im juristischen Sektor nicht mit Modernismus verwechselt werden, also mit der Anerkennung der genuinen Werte der Aufklärung. Wenn also zutrifft, 55 François Bluche, Le despotisme éclairé. Paris 1968, 127; Stefano B. Galli, La „religione“ di Carl’Antonio Pilati. In: Carlo A. Pilati (Hg.), Di una riforma d’Italia ossia dei mezzi di riformare i più cattivi costumi e le più perniciose leggi d’Italia (1767). Torino 2007, 68. 56 Derek Beales, Joseph II: 1. In the Shadow of Maria Theresa 1741–1780. Cambridge 1987; 2: Against the World 1780–1790. Cambridge 2008; Karl Gutkas, Kaiser Joseph II: eine Biographie. Wien 1989. – Timothy Blanning, Joseph II and Enlightened Depotism. London 1970; Id., Joseph II. London 1994. 57 Seltsamerweise haben die Arbeiten von Derek Beales in Italien wenig Widerhall gefunden, obwohl sie auf Englisch, also in einer in Italien zugänglicheren Sprache als Deutsch, erschienen sind und obwohl sie das Interesse von Franco Venturi erregt haben. Beales’ Biographie Josephs II. ist nicht ins Italienische übersetzt worden und fand hauptsächlich bei den Historikern von Mailand und der Lombardei wie Carlo Capra Verwendung. Sie wird nicht zitiert bei: Giarrizzo, Massoneria e illuminismo, wie Anm. 36; ebenso wenig bei: Adriano Prosperi / Paolo Viola, Storia moderna e contemporanea: dalla Rivoluzione inglese alla Rivoluzione francese. Torino 2000. 58 Antonio Trampus, Riforme, giuseppinismo e Lumi: nuovi studi sulla figura del cancelliere Kaunitz. In: Rivista Storica Italiana 110 (1998), 985–1004.

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dass Joseph der am wenigsten typische Herrscher des Ancien Régime war, so ist ebenso richtig, dass der Josephinismus sich, wenn man den Maßstab der Moderne anlegt, in einer Reihe von Fehlschlägen auflöste.59 Dieses Bild entspricht jenem, das im Band zum 18. Jahrhundert der Storia della società italiana geboten wird, zu den Autoren zählt hier wieder Giuseppe Ricuperati.60 Als Cesare Mozzarelli 1993 dem italienischen Publikum fast zwanzig Jahre nach dessen erstem Erscheinen seine Übersetzung von Grete Klingensteins Buch über Den Aufstieg des Hauses Kaunitz präsentierte, stellte er auch fest, wie sehr sich das historiographische Panorama seit den Siebzigerjahren gewandelt hatte. Klingensteins Feststellung aus dem Jahr 1975, der zufolge eine Bilanz der Tätigkeit Josephs II. noch ausstünde und die Diskussion über seine Persönlichkeit neuerlich in Angriff zu nehmen sei, schien Mozzarelli zwanzig Jahre später paradox.61 Mit anderen Worten: Das Kapitel über den Josephinismus erschien deshalb als abgeschlossen, weil sich die Geschichtsschreibung der inneren Grenzen der Reformen des 18. Jahrhunderts bewusst geworden war. In diesem Sinn war die Position Mozzarellis nicht grundlegend anders als jene, die bereits 1981 Pierangelo Schiera vertrat, als er die italienischen Arbeiten anlässlich des zweihundertsten Todestages von Maria Theresia besprach. Dabei argumentierte er nicht nur gegen eine Diskontinuität innerhalb der „österreichischen Staatsdynamik“ („dinamica statale austriaca“) zwischen dem 18. und dem 19. Jahrhundert, sondern behauptete zugleich, dass die authentische Klammer der habsburgischen Erfahrung, die die Regierungen von Maria Theresia, Joseph II. und ihren Nachfolgern miteinander verbindet, in einer Modernisierung ohne Staat zu sehen sei. Die jahrhundertelange Geschichte des neuzeitlichen Österreich sei demnach gekennzeichnet durch die Unfähigkeit, von der Idee einer Modernisierung der bürokratischen und administrativen Apparate hin zur Idee des eigentlichen modernen Staates zu gelangen.62 Auch die italienische Übersetzung von Feijtős Buch, die 1990 – fast 40 Jahre nach dem erstmaligen Erscheinen – herauskam, bot gleichsam eine Bestätigung dieser Perspektive.63 Tatsächlich kam auch Alberto Milanesi bei der Präsentation von Feijtős Buch sowie in der Diskussion in Görz anlässlich des 27. Internationalen Kongresses des Istituto per gli Incontri Culturali Mitteleuropei (1988/1990) auf die Unterscheidung zwischen „Programm“ und „System“ als wesentlich neuem Faktor in der Politik des Josephinismus zurück.64 59 Luciano Guerci, L’Europa del Settecento. Permanenze e mutamenti. Torino 1988, 514-521. 60 Giuseppe Armani u.a., Storia della società italiana, 12: Il secolo dei Lumi e delle riforme. Milano, 1989. 61 Cesare Mozzarelli, Introduzione, in: Grete Klingenstein L’ascesa di casa Kaunitz. Ricerche sulla formazione del cancelliere Wenzel Anton Kaunitz e la trasformazione dell‘aristocrazia imperiale (secoli XVII e XVIII). Roma 1993, 9. 62 Pierangelo Schiera, Introduzione, in: La dinamica statale austriaca nel XVIII e XIX secolo. Bologna 1981, 7–18. 63 François Fejitö, Giuseppe II, un Asburgo rivoluzionario. Gorizia 1990. Hinzuweisen ist auf einen der wenigen Beiträge zu Joseph II. und Neapel: Elisabeth Garms-Cornides (Hg.), Giuseppe II: Cortelazzara. Relazione a Maria Teresa sui Reali di Napoli. Napoli 1992. 64 Alberto Milanesi, Giuseppe II: una biografia. In: Quaderni Giuliani di Storia 9 (1988), 145–158; Id., Governo della ragione e ragione del governo: Vienna e Milano sotto Giuseppe II. In: Alessandra Martina

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Antonio Trampus

Interessant ist schließlich auch ein Blick auf die Art und Weise, wie Joseph II. und der Josephinismus in einigen der gängigsten italienischen Geschichtslehrbücher für die höheren Schulen dargestellt worden ist. In dem 1974 von Adriano Prosperi herausgegebenen Band La storia moderna attraverso i documenti kommt der Josephinismus überhaupt nicht vor.65 Im Handbuch von Gabriele De Rosa, einem engagierten katholischen Historiker mit Empfänglichkeit für den sozialen Katholizismus, der ein aufmerksamer Leser Feijtős war, wird am Josephinismus das ideologische Engagement hervorgehoben, also der gegenüber der theresianischen Regierungszeit deutlichere Einklang mit den theoretischen Voraussetzungen des Aufgeklärten Despotismus.66 In Massimo L. Salvadoris Manuale di storia aus dem Jahr 1990 wurde der Josephinismus in klarem Gegensatz zu Maria Theresia gezeichnet, indem der „Extremismus“ des Sohnes der „Mäßigung“ (moderatismo) der Mutter gegenübergestellt wurde. Erwähnung fanden neben der Kirchenpolitik auch die Freimaurerei und die Reform der Verwaltung. Zur Veranschaulichung wurde diese Darstellung begleitet von einem längeren Original-Lektüretext von Pietro Verri, der sich besonders kritisch mit Joseph II. auseinandersetzt.67 Im Lehrbuch von Giovanni Sabbatucci hingegen, das zwei Jahre darauf erschien, wurde der Josephinismus als eine Zuspitzung der Politik Maria Theresias im Zeichen einer starken Kirchenpolitik und eines akzentuierten Jurisdiktionalismus präsentiert.68 Giuseppe Galasso, der seine dreißig Jahre zuvor begonnenen Studien wieder aufnahm und 1996 eine umfangreiche Storia d’Europa publizierte, hat den Josephinismus in einem großen Kapitel über die Grenzen des Reformismus im 18. Jahrhundert abgehandelt. Der Josephinismus wird definiert als die Reformpolitik Josephs II., insbesondere im Bereich der Kirche und der Religion, und als der Kulminationspunkt der europäischen Reformkultur, also als jener Moment, an dem mit größter Deutlichkeit die Widersprüche zwischen innovativem Impetus und absolutistischer Praxis hervortraten.69 In der jüngsten Ausgabe des Handbuches von Giuseppe Ricuperati, eines Textes, der seit den 1970er Jahren weite Verbreitung gefunden hat, wird die Bewertung des Josephinismus aus den italienischen und österreichischen Bezügen herausgehoben und in den Rahmen der europäischen Aufklärung gerückt: Joseph II. wird als ein Orientierungspunkt für die Aufklärer und aufgeklärten Katholiken in Europa vorgestellt, wobei ein starker Fokus auf Josephs Politik der Bauernbefreiung gegen die grundherrschaftliche Praxis und die persönliche Leibeigenschaft liegt, ebenso auf Josephs Reform des Rechtswesens mit Blick auf das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz. Die Widerstände, mit denen Joseph in den italienischen Herrschaftsgebieten zu kämpfen hatte, finden kaum Erwähnung.70 Tassin (Hg.), Tolleranza e diritti dell’uomo. L’Illuminismo e le sue conseguenze nella Mitteleuropa. Gorizia 1995, 13–29. 65 Adriano Prosperi (Hg.), La storia moderna attraverso i documenti. Bologna 1974, 117. 66 Gabriele De Rosa, Storia moderna. Roma 1982, 248, 256–257. 67 Massimo Salvadori, L’età moderna. Torino 1990, 596-600, 615. 68 Giovanni Sabbatucci, Manuale di storia, 2: L’età moderna. Roma – Bari 1992, 415–416. 69 Giuseppe Galasso, Storia d’Europa. Roma – Bari 2001, 447–448. 70 Giuseppe Ricuperati / Frédéric Ieva, Manuale di storia moderna. L’età moderna (1660–1815). Torino

Der Josephinismus in der italienischen Historiographie

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Das jüngste Handbuch von Mario Rosa und Marcello Verga bietet schließlich ein differenziertes und reflektiertes Bild des Josephinismus, das den gegenwärtigen Stand der italienischen Historiographie gut wiedergibt. Die beiden Historiker gehen von ihrem persönlichen Interesse an dem Gegenstand aus, zumal Mario Rosa sich vor allem mit der Religionsgeschichte und der „Katholischen Aufklärung“ in Italien befasst hat, wohingegen Marcello Verga, der mit Arbeiten zur Geschichte der Toskana im Übergang von den Medici zum Haus Habsburg-Lothringen begonnen hatte, auch zu Themen der österreichischen Geschichte im engeren Sinn und ihrer Resonanz in Italien geforscht hat. Aus diesem Grund gibt es in dem Handbuch auch zahlreiche Bezugnahmen auf die Politik Josephs II., auf die vergleichende Gegenüberstellung mit der Regierung seiner Mutter sowie auf die spezifische Modulation des obrigkeitlichen Handelns in den unterschiedlichen Regionen der Monarchie. Auch der Definition des Begriffes Josephinismus und seiner historiographischen Kontextualisierung wird Raum gegeben. Der Begriff bezeichnet hier ein kohärentes Reformprojekt, das von der Notwendigkeit motiviert war, den Primat der herrscherlichen Autorität zu untermauern, als ein Projekt, das unabdingbar war, um der Zögerlichkeit und Zerfaserung der bisherigen Reformpolitik ein Ende zu bereiten. Im kirchlichen Bereich, so die Autoren, habe Joseph eine Nationalkirche angestrebt, die mit dem Modell eines Polizeistaates kompatibel sein sollte, während auf der eigentlich religiösen Ebene die Überwindung der barocken Religiosität mit Blick auf eine aufgeklärte Frömmigkeit angestrebt war: diese „pietà illuminata“ war die Zielvorgabe.71

2008, 308–309, 312. 71 Mario Rosa, Marcello Verga, Storia dell’età moderna 1450–1815. Milano 1998, 410–412. Zum Problemkomplex der Periodisierung im 18. Jahrhundert siehe auch: Marcello Verga, Tra sei e settecento: Un’età delle pre-riforme? In: Storica 1 (1995), 89–122.

Robert Evans

Nachwort

I Die Geschichte und die Historiographie befinden sich stets in einer engen Verwobenheit, die den tatsächlichen Stand der Dinge sowohl erklären als auch verdunkeln kann. Im gegenwärtigen Buch treffen sich die beiden. Es geht um die Würdigung des „Josephinismus“, des vereinheitlichenden Staatsbildungsprozesses im Österreich des 18. Jahrhunderts, der in der Erinnerung der Nachwelt untrennbar mit der Tätigkeit des revolutionären Kaisers Joseph II. verbunden ist. Die hier unter die Lupe genommenen Arbeiten Eduard Winters und Fritz Valjavecs haben eine andauernde Debatte ausgelöst. Hauptziel dieser Untersuchung war eine genaue Analyse des Entstehens und der Auswirkungen der zwei bekanntesten Bücher über den Josephinismus. Es stellen sich natürlich weitere Fragen: Warum sind beide gleichzeitig erschienen, und gerade zur Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft? Warum gab es überhaupt so eine riesige Forschungslücke, die es damals zu füllen galt? Warum sind diese Werke, trotz ihrer Schwächen, noch immer nicht ersetzt oder überholt? Und letztlich, wie verhielten sich die Prioritäten und Argumente Winters und Valjavecs zu anderen, früheren und späteren, Darstellungen der Gesamtproblematik, die mit dem Terminus „Josephinismus“ umschrieben wurde? In den vorangehenden Kapiteln wurde vieles über die Leistungen unserer zwei Autoren zutage gefördert. Indem sie neue Bahnen eröffneten, haben sie dennoch ‒ um meine eigene Sichtweise in diesen Schlussbetrachtungen vorwegzunehmen ‒ andere Möglichkeiten ausgeschlossen. Während um die Belange der Kirchenpolitik im Sinne Eduard Winters und um das Kulturerbe der „österreichischen Spielart der Aufklärung“ im Sinne Fritz Valjavecs gehadert wurde, schrumpfte der eigentliche Stellenwert des josephinischen Programms zusammen; erst recht, weil die ganze Angelegenheit als eine mehr oder weniger deutschnationale, oder höchstens mitteleuropäische, vorgestellt wurde. Es entstanden daraus schwerwiegende Folgen für die Erforschung der Gesamtstaatsidee josephinischer Prägung, der es lange Zeit an gebührlicher internationaler Resonanz fehlte.

II Selbstverständlich muss man die Errungenschaften von Winter und Valjavec nach dem ihnen vorgegebenen geistesgeschichtlichen Hintergrund bemessen, wozu vieles im vorliegenden

Nachwort

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Buch dargeboten wird, besonders in der umfangreichen Einleitung und in Franz Fillafers eigenem Kapitel. Sie bauten auf Grundlagen früherer Auseinandersetzungen seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts auf. Einerseits gab es den Kampf zwischen Klerikalen und Liberalen, mit der ‒ meist von beiden Parteien abgelehnten ‒ Zwischenstufe der liberalen Kleriker, zu deren Vermächtnis sich Eduard Winter bekannte. Übrigens scheint in diesem Milieu der Ausdruck „Josephinismus“ erstmals ins Spiel gekommen zu sein. Andererseits „kennzeichnete sich der Josephinismus“, nach dem Geschmack Fritz Valjavecs, „als Geist und Gesinnung in tätiger Reflexion“.1 Er stellte die Bewegung als österreichische Variante des „Aufgeklärten Absolutismus“ hin, dieses Zusammenspiels von Zwang und Freiheit, das damals nach Denkkategorien des hegelianischen Zeitalters konzipiert worden war. Beiden Einstellungen gemeinsam war ein Begriff des Josephinismus als deutscher politischer und kultureller Sendung, die den nationalen Ansprüchen anderssprachiger Völker der Region entgegenstand. Wichtig sind in diesem Zusammenhang sowohl die hegemonialen Voraussetzungen als auch die Erkenntnis, dass gegensätzliche Bestrebungen von Anfang an zum selben historischen Vorgang gehörten. Der 1896 geborene Eduard Winter wuchs in einer böhmischen Gegend mit starker deutscher Mehrheit auf; in der unabhängigen Tschechoslowakei hingegen unterhielt er auch enge Kontakte zu tschechischen Kollegen. Seine persönlichen Erlebnisse als Mitglied sudetendeutscher katholischer Jugendbewegungen, besonders des Staffelsteinbundes, paarten sich mit weniger konventionellen Eigenschaften als unbotmäßiger Priester, als Erforscher religiöser Neuerer sowie der deutsch-tschechischen kulturellen Beziehungen. Mithin lernte er Joseph II. als deutschböhmischen Volkshelden kennen, dessen Reformbemühungen als Aufbruch oder Befreiungsprozess der Gemeinschaft insgesamt – ungeachtet ihrer ethnischen Zusammensetzung – galten. Siehe hier die Ausführungen von Ivo Cerman. Fritz Valjavec (Jahrgang 1909) verknüpfte seine Jugenderfahrungen insbesondere mit Trianon-Ungarn und mit den angrenzenden Restgebieten des Stephansreichs. Er nahm das jüngst untergegangene Großungarn ins Blickfeld, nicht als Staat unter magyarischer Vorherrschaft, sondern als „nahen Südosten“,2 wo deutscher Kultureinfluss gewaltet habe und noch walten sollte. Valjavecs Unterstellung dieser Mission war ‒ wie im Falle Eduard Winters ‒ eine Zeiterscheinung, aber er blieb vereinzelt in seiner Konzentration auf das 18. Jahrhundert als Gipfel des Phänomens (dazu sein Erstlingswerk über den Pressburger Kaufmann und Schriftsteller Karl Gottlieb Windisch), unmittelbar bevor die Gegenwirkung einheimischer ethnischer Selbstbesinnung ausgelöst worden sei (dazu der Beitrag von Petra Svatek in diesem Band). Im Zwischenkriegsungarn erlebte Valjavec die Auseinandersetzung um Sinn und Ziel des vormaligen ungarischen Widerstandes gegen den österreichischen Zentralismus zwischen dem herrschenden, von Gyula Szekfű vertretenen Konservatismus katholischer Prägung und dessen eher populistischem Kontrahenten Elemér Mályusz. 1 Fritz Valjavec, Der Josephinismus: Zur geistigen Entwicklung Österreichs im 18. und 19. Jahrhundert. München 19452, 3. 2 So seine zwei Titel: Fritz Valjavec, Karl Gottlieb von Windisch. Das Lebensbild eines südostdeutschen Bürgers der Aufklärungszeit. Budapest 1936; Id., Der deutsche Kultureinfluss im nahen Südosten, unter besonderer Berücksichtigung Ungarns. München 1940.

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Bei unseren beiden Protagonisten bemerken wir eine großenteils geistesgeschichtliche Vorgehensweise. Sprach hier der Geist des Nationalsozialismus? Der Frage wird in mehreren Kapiteln nachgegangen. Was die aktive Beteiligung angeht, war Eduard Winter anscheinend nur ein Rädchen im Getriebe, während Fritz Valjavec sich zusehends kompromittierte. Keiner der beiden scheute sich, mit Institutionen und Förderern des Dritten Reiches zusammenzuarbeiten. Das Maß ihrer intellektuellen Verantwortung ist schwerer zu eruieren. Die Korrespondenz von Valjavec liefert wenige stichhaltige Belege;3 ebensowenig die selbstgefälligen und seichten Memoiren von Winter.4 Keiner der beiden ist reinzuwaschen von einer Begeisterung für die gängigen nationalistischen und gewissermaßen auch die völkischen Vorurteile der Zeit. Bei Winter ‒ wie im Beitrag von Jiří Němec feinfühlig angedeutet wird ‒ handelte es sich um den Angriff des nationalsozialistischen Staats auf die römisch-internationalen Wesenszüge des hergebrachten österreichisch-deutschen Katholizismus; bei Valjavec um seine hegemoniale Südostpolitik und um die Wiederbelebung der ehemaligen Größe des Heiligen Römischen Reichs. Unsere zwei Josephinismusbände erschienen im Abstand von nur einem Jahr im selben Verlag, Rudolf M. Rohrer, einem alteingesessenen Brünner Unternehmen. Gleichzeitig veröffentlichte Rohrer ‒ neben gelehrten Abhandlungen über Kunstdenkmäler und antike Inschriften sowie einigen Texten zur „kämpfenden Ostmark” ‒ die ersten Auflagen von Otto Brunners Land und Herrschaft, einer Pionierarbeit, deren Beziehung zum nationalsozialistischen Gedankengut später ebenfalls zu Ambivalenzen Anlass geben konnte.5 Auf jeden Fall stellen diese Jahre 1943/44 einen Höhepunkt der Instrumentalisierung des josephinischen Vorhabens für die Zwecke deutscher kulturell-politischer Herrschaftsausübung dar.

III Die Forschungsergebnisse in unserem Buch gewähren faszinierende Einblicke sowohl ins akademische Alltagsleben einer sehr unalltäglichen Zeit als auch in die Aufnahme dieser kurzfristigen Hochkonjunktur der Studien über den Josephinismus. Sie deuten indes auch auf große Mankos, die den Interpretationen von Eduard Winter und Fritz Valjavec ebenso anhafteten wie deren Rezeption. Ihre Arbeiten haben die Gesamtbehandlung des „Josephinismus“ eingeengt und beeinträchtigt, gerade weil sie lange Zeit überhaupt die einzigen Standardwerke 3

4

5

Z.B. Karl Nehring, Der Briefwechsel von Fritz Valjavec 1934–1950. Personen und Institutionen. In: Südost-Forschungen 53 (1994), 323–354; László Orosz, Die Verbindungen der deutschen Südostforschung zur ungarischen Wissenschaft zwischen 1935 und 1944. Ein Problemaufriss anhand des Briefwechsels zwischen Fritz Valjavec and Elemér Mályusz. In: Márta Fata (Hg.), Das Ungarnbild der deutschen Historiographie. Stuttgart 2004, 126–167. Ich berücksichtige die zwei selbstzensurierten Titel: Eduard Winter, Mein Leben im Dienst des Völkerverständnisses, nach Tagebuchaufzeichnungen, Briefen, Dokumenten und Erinnerungen. Berlin/Ost 1981; sowie Id., Erinnerungen, 1945–76, hg. von Gerhard Oberkofler, Frankfurt am Main 1994. Vgl. Gadi Algazi, „Konkrete Ordnung“ und Sprache der Zeit. In: Peter Schöttler (Hg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft, 1918–1945. Frankfurt am Main 1997, 166–203.

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zum behandelten historischen Phänomen waren und deshalb weitere Fragestellungen enorm beeinflussten und weitere Stellungnahmen zu den von ihnen umschriebenen Problemfeldern hervorriefen. Zwar hat Eduard Winter später seine böhmisch-zentrierte Sichtweise revidiert, um in den 1960er Jahren ‒ mit marxistischem Anstrich ‒ weitere Aspekte der mitteleuropäischen Aufklärung in den Griff zu bekommen; seine Darstellung des Josephinismus blieb jedoch streng kirchlich-religiös. Folglich forderte er zu ziemlich routinemäßigen Entgegnungen heraus, namentlich zur langwierigen Verteidigung der katholischen Orthodoxie durch den Innsbrucker Jesuitenpater Ferdinand Maaß, der ebensowenig wie Winter die Grundprobleme des josephinischen Staates durchleuchtete.6 Später erfolgte die Bekräftigung und Verschärfung der Winter’schen Thesen durch Peter Hersche und andere.7 Die Endstation dieser Debatte war mehr die europäische Bedeutung des Jansenismus als diejenige des Josephinismus. Zwar hat Fritz Valjavec später die „politischen Strömungen“ der Zeit tiefgründiger und stichhaltiger behandelt;8 sein Ansatz zum Josephinismus blieb jedoch skizzenartig ‒ sogar in der „wesentlich erweiterten“ zweiten Ausgabe, München 1945. Allenfalls betätigte sich diese „österreichische Spielart“ in sehr begrenztem Umkreis, weil diese als peripher zur deutschen Aufklärung hingestellt wurde, welche selber – gemäß einer gängigen Auffassung seit dem 19. Jahrhundert – nur eine Peripherie der mit Hauptsitz in Frankreich gewähnten lumières darstellte. Norbert Spannenberger reflektiert über die Stärken und Schwächen dieser Betrachtungsweise. Valjavecs Bevorzugung des aufklärerischen Denkens leitete dann die Literatur zu Demokraten und Jakobinern ein, die seine eigenen konservativeren Deutungen in Frage stellte. Somit fehlt bei beiden Autoren vieles vom „big picture“, vom Bild des großen Ganzen. Zum ersten fehlt am allermeisten der Namensgeber selbst. Hier gilt die paradoxe Behauptung ‒ wie sie Fritz Valjavec zugespitzt formulierte ‒ „die Regierungszeit Josephs II. [sei] im Verhältnis am schwächsten ‚josephinisch‘“.9 Darüber hinaus fehlt der Sinn für das, was Prinz Eugen einst als das Totum des damaligen Habsburgerreichs bezeichnet hatte.10 Schon der geniale Prager Anton Springer, Vorreiter der modernen historiographischen Erfassung der Problematik der Gesamtmonarchie, erkannte, wie die josephinische Tätigkeit im Nachhinein als einzigartige verpasste Gelegenheit wirken konnte:

6 Ferdinand Maass, Der Josephinismus. Quellen zu seiner Geschichte in Österreich 1760–1790. 5 Bde., Wien 1951–1961. 7 Peter Hersche, Der Spätjansenismus in Österreich. Wien 1977; Béla Zolnai, Ungarn und die Erforschung des Jansenismus. In: Joachim Tetzner (Hg.), Deutsch-slawische Wechselseitigkeit in sieben Jahrhunderten. Gesammelte Aufsätze. Berlin/Ost 1956, 107–156; Id., A janzenizmus kutatása Középeurópában [Die Erforschung des Jansenismus in Mitteleuropa]. Kolozsvár 1944. 8 Fritz Valjavec, Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland, 1770–1815. München 1951. 9 Valjavec, Der Josephinismus, wie Anm. 1, 7. 10 Zuletzt zitiert bei Joachim Whaley, Germany and the Holy Roman Empire, 2: From the Peace of Westphalia to the Dissolution of the Reich, 1648–1806. Oxford 2013, 159.

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„Die Fehler und Missethaten der folgenden Regierungen [...] ihr geringes Verständniß der wahren Volksinteressen ließen das Sprunghafte in den Maßregeln, das Verkehrte in den Mitteln und Wegen Josephs II. völlig vergessen und zeigten das Edle und Volksthümliche seiner Absichten im glänzendsten Lichte.“

Ferner deutete Springer ein Programm an in Worten, die teilweise schon oben in der Einleitung zitiert wurden, die es aber lohnt zu wiederholen:11 Die Anerkennung muß man [der Regierung Josephs II.] zollen, daß sie für die ganze folgende Zeit [...] die Entwickelung Oesterreichs in ihre Spuren bannte, daß sie einen unerschöpflichen Gärstoff in das Leben der österreichischen Völker warf, und alle Parteien auf sie zurückzublicken, an sie anzuknüpfen, in der einen oder anderen Richtung [...] dieselbe fortzusetzen zwang.

Diese Zeilen erschienen 1863, und in den darauffolgenden acht Jahrzehnten bis zum Erscheinen der Bücher Winters und Valjavecs gab es verschiedene Versuche, Springers impliziter Aufforderung nachzukommen und den Begriff Josephinismus zu klären. Die deutsch-liberale Kritik in Österreich von Springer bis Bibl geißelte den Mangel an progressivem Geist unter den Nachfolgern des Volkskaisers. Mittlerweile stellte eine konservativere, archivnahe Überlieferung, die mit Alfred Arneth einsetzte, eine Art von „Maria-Theresianismus“ auf die Beine, welche Joseph als überstürzten Fortsetzer der Initiativen seiner Mutter hinstellte. Dieser offiziöse, administrationsbezogene Einstieg, von den gesamtmonarchischen Arbeiten Hocks und Bidermanns bis zur gewaltigen Serie der Österreichischen Zentralverwaltung, lieferte zwar äußerst wertvolle Quellensammlungen, scheiterte jedoch bei der Bewertung der polyzentrischen Struktur der Monarchie. Aus Budapester Sicht legte Henrik Marczali die erste bahnbrechende Studie vor, nicht bloß zur josephinischen Ungarnpolitik während der 1780er Jahre, sondern auch zur geistigen und weltanschaulichen Lage im Umkreis des Herrschers. Nach dem Zusammenbruch setzten sich der schon erwähnte Szekfű und Daniel Rapant mit den nationalitätspolitischen Implikationen dieser Ereignisse auseinander: Man bemerke besonders Rapants glänzende Auslegung der Folgen der Sprachverordnung von 1784.12 Unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg erschien dann die Untersuchung des gleichfalls schon erwähnten Mályusz über das Toleranzpatent, die ebenso zu den durchaus besten Werken über die Auswirkungen und Grenzen der josephinischen Reformen gehört. In Böhmen zeichnete sich Bohuš Rieger durch tiefste Kenntnisse der staatsrechtlichen Verfassungsansprüche aus, die einen Gegenpol zum josephinischen Streben darstellten, wäh11 Anton Springer, Geschichte Oesterreichs seit dem Wiener Frieden 1809. Leipzig 1863, 22f.; vgl. die Einleitung zu diesem Band, Anm. 51. 12 Daniel Rapant, K počiatkom mad’arizácie, 1: Vývoj rečovej otázky v Uhorsku v rokoch 1740–90 [Die Anfänge der Magyarisierung, 1: Die Entwicklung der Sprachenfrage in Ungarn während der Jahre 1740–1790]. Bratislava 1927– eine der am meisten vernachlässigten Quellen zum Josephinismus.

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rend Josef Hanuš die Aneignung der böhmischen Aufklärung als autochthone Vorstufe zur tschechischen Wiedergeburt akzentuierte und auf diese Weise die gegensätzlichen Entwicklungen im Binnenland herauskehrte. Anderswo in der Region gediehen vereinzelte Versuche, aus weiterer Ferne über Josephs Reformbewegung nachzusinnen, wie hier am Beispiel Mita Kostić dargelegt wird (siehe dazu Konrad Clewing in diesem Band). Trotz der ausdrücklichen Betonung der Verbindung zwischen Josephinismus und österreichischer Aufklärung in der Literatur blieb die intellektuelle Auslegung seiner Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte weit hinter der Qualität der klassischen Arbeiten über die späteren Krisenjahre der Monarchie zwischen 1848 und 1867 zurück. Außer dem fast eingebürgerten Franzosen Louis Eisenmann13 denke ich insbesondere an Heinrich Friedjung und Josef Redlich. Immerhin haben diese, besonders Redlich, wichtige Anhaltspunkte für das Verständnis der früheren „josephinischen“ Reformbewegung als Ursprung eines vereinheitlichten Beamtenstaats geliefert, der bis Mitte des 19. Jahrhunderts in Cisleithanien tiefe Wurzeln schlug, sowie einer Anhänglichkeit gegenüber dem „Gesamtvaterland“ einimpfte, auch wenn ungarische Unbotmäßigkeit lähmend wirkte.14 Diese und ähnliche Forschungsergebnisse schlugen sich in den Arbeiten Eduard Winters und Fritz Valjavecs nur zum Teil nieder; vieles darin fand überhaupt keinen Eingang in ihren Sichtbereich. Wie sah die Lage nach dem Erscheinen ihrer Grundsatzwerke aus? Dank den Umständen, die im vorliegenden Buch ausführlich dargelegt werden, begrenzte sich in Österreich das Interesse weitgehend auf die von ihnen vorprogrammierten Bahnen. Die weitere Geschichte des Josephinismus war verpönt, ausgerechnet in Österreich, wo man sich keine hohen Ziele bezüglich gesamtmonarchischer Historiographie steckte. In den ersten Nachkriegsjahren war es allenfalls Hugo Hantsch, der die hochfliegenden Absichten Josephs anerkannte, ohne dabei freilich je zu versuchen – wie im Kapitel von Johannes Holeschofsky bekräftigt wird – seine eigene beschränkte katholisch-konservative Auffassung zu überwinden. Die Studie Sonia Horns zeigt am Fallbeispiel Erna Lesky, wie eine übermäßige Anlehnung an die Vorgaben Winters und Valjavecs zur Verdrehung der großartigen medizinischen Neugestaltungen des Kaisers führen konnte. Anderwärts in Mitteleuropa gab es kaum mehr Mut zur Lücke, und es herrschten meist gelegentliche Detailbeiträge vor, was in diesem Bande für die Nachfolgestaaten gut belegt wird. In Ungarn (siehe das Kapitel von Olga Khavanova und András Forgó) fand sich weniger Interesse am kirchlichen Bereich; dafür kamen an Marczali anknüpfende solide Forschungen zum politischen Kräftespiel heraus sowie einige feinsinnigen Arbeiten, die Grundsatzfragen der josephinischen Initiativen berühren: Oszkár Sashegyis Zensur und Geistesfreiheit (1958), dann Überblicke von Éva Balázs und Domokos Kosáry und besonders die akribischen und einfühlsamen Untersuchungen von Lajos Hajdu.15 Allerdings war der Blickwinkel 13 Louis Eisenman, Le compromis austro-hongrois de 1867. Étude sur le dualisme. Paris 1904 [Neuauflage 1969]. 14 Besonders Josef Redlich, Das österreichische Staats- und Reichsproblem, 1/1. Leipzig 1920, 26-88. 15 Lajos Hajdu, II. József igazgatási reformjai Magyarországon [Die Verwaltungsreformen Josephs II. in Ungarn]. Budapest 1982; Id., A közjó szolgálatában: a jozefinizmus igazgatási és jogi reformjairól [Im

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hier durchwegs ungarisch staatlich und national. In der tschechischen Fachliteratur fanden die Kontroversen relativ geringen Widerhall. Nicht nur die interne tschechische Kulturgeschichte, sondern auch außenstehende Spezialisten, Aleksandr Myl’nikov und Walter Schamschula, betrachteten die böhmischen Aufklärer weiterhin als Wegbereiter des nationalen Erwachens. Es kommt wohl nicht von ungefähr, dass die originellsten einschlägigen Thesen von einem amerikanisch-tschechischen Gelehrten, Zdeněk David, stammen, dessen jüngste Ausführungen über die Eigenständigkeit des böhmischen Geisteslebens im ausgehenden 18. Jahrhundert bemerkenswerte Ähnlichkeiten mit den Gedankengängen Eduard Winters aufweisen.16 Mehr Interesse konnte Antonio Trampus in Norditalien verzeichnen, wo die allgemeinere Diskussion über Kategorien der europäischen Aufklärung mobilisiert wurde, um die Hauptmerkmale des Josephinismus zu bestimmen, immerhin meist mit Bezug auf die Lombardei und auf die Kontinuitäten einer hier gleichermaßen als fremd stilisierten Habsburgerherrschaft. Unter diesem Gesichtspunkt gewann der Forschungsstand außerhalb Mitteleuropas, und sonderlich im Westen, an Bedeutung. Dort hatte man sich bis ins 20. Jahrhundert hinein mit dem Josephinismus allenfalls punktuell beschäftigt. Es gab Hinweise darauf im verfassungsgeschichtlichen Meisterwerk von Eisenmann sowie in den tendenziöseren, slawophil orientierten Schriften seines Landsmanns Ernest Denis.17 In Großbritannien erschien Henry Wickham Steeds schlagfertige Darstellung der gesamtmonarchischen Entwicklung aus der Sicht von 1913; und in den zwanziger Jahren begann der junge A. J. P. Taylor mit seinen Recherchen, die 1941 zur Veröffentlichung seiner Habsburg Monarchy, 1815–1918 ‒ also wieder einmal mit Fokus auf dem postjosephinischen Verfall ‒ führen sollten. Etwas früher fiel ein englischsprachiges Schlaglicht auf den Hintergrund des Josephinismus in Ungarn mit Harold Temperleys Übersetzung des ersten Bandes von Marczalis Trilogie. Dies blieb eine vereinzelte Erscheinung, die mehr mit magyarischem Patriotismus zu tun hatte (und eben mit der Tatsache, dass Temperley um 1910 in Marczalis Tochter verliebt war).18 Im selben Jahr kam in deutscher Übersetzung die achtunggebietende Darstellung von Pavel Mitrofanov heraus, die aus russischer Perspektive und in der Ära Stolypin (Originalausgabe 1907)19 Josephs Revolution von oben minuziös aufzeichnete. Dienste des allgemeinen Besten. Die Verwaltungs- und Rechtsreformen des Josephinismus]. Budapest 1983. 16 Zdeněk David, Realism, Tolerance, and Liberalism in the Czech National Awakening: Legacies of the Bohemian Reformation. Washington, D.C./Baltimore 2010. 17 Vgl. bes. Ernest Denis, La Bohême depuis la Montagne-Blanche. 2 Bde., Paris 1901–1903; Doubravka Olšáková, Le „culte“ d’Ernest Denis dans la société tchèque aux XIXe et XXe siècles. In: Antoine Marès (Hg), Lieux de mémoire en Europe centrale. Paris 2009, 163–182. 18 Henrik Marczali, Hungary in the Eighteenth Century, with an Introductory Essay by Harold Temperley. Cambridge 1910. Dazu: John Fair, Harold Temperley. A Scholar and Romantic in the Public Realm. Newark, Delaware 1992, bes. 43f., 54-56, 65–67, 80. 19 Pavel Pavlovich Mitrofanov, Политическая дѣятельность Іосифа II., ея сторонники и ея враги 1780–1790. Sankt Petersburg 1907. Dieser Titel („Die politische Tätigkeit Josephs II., seine Anhänger und seine Feinde“) weicht einigermaßen von seiner deutschen Entsprechung ab.

Nachwort

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Erst nach dem Zweiten Weltkrieg eröffnete sich völlig das Feld der mitteleuropäischen Geschichte außerhalb Mitteleuropas, besonders in den USA. Auch dort geschah dies unter Umgehung der kompromittierten Hauptagenda des Josephinismus Winter’scher und Valjavec’scher Prägung. Neben dem einheimischen Arthur J. May steuerte der emigrierte österreichische Rechtshistoriker Robert Kann das meiste dazu bei, die Monarchie in ihrer kulminierenden Spätphase als „multinational empire“ zu würdigen.20 Es entstand ein breitgefächertes Angebot an weiteren Auslegungen; stets blieb der Schwerpunkt jedoch im 19. Jahrhundert, namentlich in dessen zweiter Hälfte, und betraf vornehmlich die Natur des ethnischen Zusammenlebens und die möglichen Auswege aus den sich hier ergebenden Nationalitätenkonflikten. Britische Historiker waren eher dem „enlightened despotism“ verpflichtet, den sie als europäisches Phänomen am Modellfall im Österreich Maria Theresias und Josephs exemplifizierten. Der exilierte Ernst Wangermann entwickelte eine extrem funktionale Interpretation des josephinischen Vorhabens. Es folgten Tim Blannings scharf ziselierte biographische Abrisse des Kaisers und seiner Tätigkeit und Peter Dicksons großangelegter Versuch, die fiskalischen Gegebenheiten der Regierung Maria Theresias als Ausgangspunkt für die Frühphase des Josephinismus bloßzulegen. Am treffendsten fällt die Charakteristik im Meisterwerk von Derek Beales zum Josephinismus als persönlichem System aus, dessen abschließender zweiter Band fast genau ein Jahrhundert nach Mitrofanov erschien. Als Ausgangspunkt bemängelte Beales sowohl in der Winter’schen als in der Valjavec’schen Überlieferung die Konstruktion eines Josephinismus (er schreibt lieber „Josephism“!) ohne Joseph II. Endlich gelang es ihm, ihr kaiserloses Schema zu entkräften, mit weitreichenden Konsequenzen für die künftige Forschung.

V 1968 bezog ein weiterer britischer Historiker Österreichs, C. A. Macartney, Altmeister der gesamtmonarchischen Geschichtsschreibung und Verehrer Springers, maßgebend Stellung. Er nahm die „parochialen“ und „tribalen“ Auffassungen der nationalen Schulen in den ehemaligen Gebieten der Habsburger aufs Korn. Für ihn läutete Josephs Rücknahme seiner Einverleibungspläne in Ungarn den Abstieg der Monarchie ein. Er gebraucht die Metapher von Flut und Ebbe: It is unquestionably correct to speak of an advancing and a retreating tide, and it is not even over-stretching the historian’s licence to name a day as that on which the tide turned in Central Europe: 28 January 1790.21

20 Robert Kann, The Multinational Empire. Nationalism and National Reform in the Habsburg Monarchy, 1848–1918. New York 1950. 21 Carlile Aylmer Macartney, The Habsburg Empire, 1790–1918. London 1968, 1.

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Robert Evans

Letzten Endes steht der Josephinismus als das überhaupt ehrgeizigste und radikalste Unternehmen in der Geschichte des europäischen Absolutismus da, eben weil er seinem disparatesten Staatskörper galt. Freilich schloss er von Anfang an eine Auseinandersetzung mit dem bisherigen kirchlichen Verbündeten mit ein, wie Eduard Winter richtig darlegte; freilich fiel er zusammen mit örtlichen Nebenformen der europäischen Aufklärung als politischer Strömung im Sinne Fritz Valjavecs. Seinem innersten Wesen nach ist er jedoch immer noch nicht genügend hinterfragt worden. Inwiefern hätte es einen österreichischen Einheitsstaat geben können, der imstande gewesen wäre, den zermürbenden zentrifugalen Tendenzen des 19. Jahrhunderts standzuhalten? Die Hauptproblematik des Josephinismus bestand in der Unfähigkeit der Monarchie bis ins 19. Jahrhundert eine „unifying, supra-national, state-wide, civic political culture“ zu begründen, wie es in einer neueren Überblicksdarstellung heißt.22 Und wie kann endlich die Kernfrage des josephinischen übernationalen Systems neutral angeschnitten werden? Der Anlass war kosmopolitisch, aber das Verfassungs- und Verwaltungsreformpaket dürfte unausweichlich eine Art von Germanisierung zur Folge gehabt haben. So verkörperten Eduard Winter und Fritz Valjavec eine Etappe in der Geschichtsschreibung, die ‒ wie aus diesem Bande klar hervorgeht ‒ mehr zur Enthüllung ihrer eigenen Voraussetzungen als zur Lösung der strittigen Hauptpunkte in der Geschichte des österreichischen Gesamtstaats beitrug. Der Josephinismus war ein großer Wurf; er verdient Entsprechendes von seiner Historiographie.

22 Steven Beller, A Concise History of Austria. Cambridge 2007, 21–24.

Autorinnen und Autoren des Bandes Ivo Cerman (České Budějovice) ist Historiker und forscht zum Thema der Adelsgeschichte und Aufklärungsphilosophie in der Habsburgermonarchie. – PhD Dr. Ivo Cerman, Historický ústav, Jihočeská univerzita v Českých Budějovicích, Branišovská 31a, CZ–37005 České Budějovice [email protected] Konrad Clewing (Regensburg) ist Historiker und forscht zur Geschichte Südosteuropas sowie zu Verwaltung und Staatlichkeit der Habsburgermonarchie ab dem späten 18. Jahrhundert. – Dr. Konrad Clewing, Institut für Ost- und Südosteuropaforschung, Landshuter Str. 4, D–93047 Regensburg [email protected] Robert Evans (Oxford) ist emeritierter Professor für Neuere Geschichte (Modern History) in Oxford und hat zahlreiche grundlegende Arbeiten zur Geschichte Zentraleuropas in der Vormoderne, insbesondere der Habsburgischen Länder, vorgelegt. – Prof. Robert John Weston Evans, Faculty of History, George Street, Oxford, OX1 2RL, United Kingdom [email protected] Franz l. Fillafer (Konstanz) ist Historiker und befasst sich mit der Ideengeschichte der Habsburgermonarchie seit dem 18. Jahrhundert. – Mag. Dr. Franz L. Fillafer, Universität Konstanz, Fachbereich Geschichte und Soziologie, Universitätsstraße 10, D-78464 Konstanz [email protected] András Forgó (Budapest) ist Historiker und beschäftigt sich mit der politischen Aktivität des katholischen Klerus im 18. Jahrhundert. – Dr. habil. András Forgó, Történettudományi Intézet, Pázmány Péter Katolikus Egyetem, Egyetem u. 1, H–2087 Piliscsaba [email protected] Johannes Holeschofsky (Neusiedl am See) ist Historiker mit einem Schwerpunkt auf Historiographiegeschichte. – Mag. Dr. Johannes Holeschofsky, A–7100, Neusiedl am See [email protected] Sonia Horn (Wien) ist Medizinhistorikerin und forscht zur Geschichte des Gesundheitswesens in den Habsburgischen Ländern. – PD Dr. Sonia Horn, Institut für Geschichte der Universität Wien, Universitätsring 1, A–1010 Wien [email protected]

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Autorinnen und Autoren dieses Bandes

Jiří Němec (Brno) ist Historiker an der Masaryk-Universität Brno und befasst sich mit Historiographiegeschichte des 20. Jahrhunderts. – Dr. Jiří Němec, Filozofická fakulta, Historický ústav, Masarykova univerzita, Arne Nováka 1/1, CZ–60200 Brno [email protected] Olga Khavanova (Moskau) ist Historikerin und forscht zur Geschichte der Habsburgermonarchie und internationalen Beziehungen im 18. Jahrhundert. - Dr. habil. Olga Khavanova, Institut für Slawischen Studien der Russischen Akademie der Wissenschaften, Leninskij prospekt 32a, RU–119991, Moskau, Russische Föderation [email protected] Norbert Spannenberger ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am GWZO und am Historischen Seminar der Universität Leipzig, sowie an der Universität Bern. Er erfüllte Lehraufträge in Salzburg, Innsbruck, Budapest und Pécs. – PD Dr. Norbert Spannenberger, Historisches Seminar der Universität Leipzig, Beethovenstr. 15, D–04107 Leipzig [email protected] Petra Svatek (Wien) ist Historikerin am Institut für Geschichte der Universität Wien und befasst sich vor allem mit der Geschichte der Kartographie und mit dem geographischen Raumgedanken in unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen während des 19. und 20. Jahrhunderts. – Mag. Dr. Petra Svatek, Universität Wien, Institut für Geschichte, Universitätsring 1, A–1010 Wien [email protected] Antonio Trampus (Venedig) ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Ca’ Foscari in Venedig. Seine Publikationen und seine Lehrtätigkeit umfassen verschiedenste Gebiete der Aufklärung und der europäischen Geschichte des 18. Jahrhunderts. – Prof. Antonio Trampus, Dipartimento di Studi Linguistici e Culturali Comparati, Università Ca’ Foscari, Ca’ Bembo-Dorsoduro 1075, I–30123 Venezia [email protected] Thomas Wallnig (Wien) ist Historiker und forscht zur Geschichte der vormodernen kirchlichen Gelehrsamkeit. – Mag. Dr. Thomas Wallnig MAS, Institut für Österreichische Geschichtsforschung, Universitätsring 1, A–1010 Wien [email protected]

Personenregister A Adam, Karl 122, 123 Adorno, Theodor W. 29, 179 Adriányi, Gabriel 247 Alexander Leopold von Österreich 79 Angyal, Endre 249 Antoni, Carlo 289 Apollinaire, Guillaume 73 Arneth, Alfred von 75, 89, 90, 310 Attenhofer, Ludwig von 193 Aubin, Hermann 164 Auenbrugger, Joseph Leopold von 196 B Baeumler, Alfred 15 Bahlckes, Joachim 24 Balázs, Éva H. 252, 253, 258, 311 Balázs, H. 253 Balbín, Bohuslav 67 Bartenstein, Johann Christoph 229 Barth, Joseph 189 Barth, Karl 226 Basch, Franz 46, 145 Bauer, Roger 44 Bazzoli, Maurizio 301 Beales, Derek 19, 33, 179, 301, 302, 313 Beccaria, Cesare 295, 297 Beck, Christian August 78 Beidtel, Ignaz von 55, 56, 94 Benda, Kálmán 248, 252, 253, 258 Benedikt XIV. 250 Bentham, Jeremy 79 Bernath, Mathias 282 Bernhard, Thomas 28 Beyer, Hans Joachim 102, 111, 113, 148, 166

Bibl, Viktor 30, 52, 66, 68, 69, 91, 93, 310 Bidermann, Hermann Ignaz 310 Billroth, Theodor 211 Bismarck, Otto von 138, 139, 140 Blänkner, Reinhard 22 Blanning, Tim 302, 313 Bleyer, Jakob 46, 49, 86, 142, 143, 144, 145, 156 Bloch, Ernst 43 Bluche, François 302 Bobrzyński, Michał 16 Bodi, Leslie 28, 175 Boehm, Max Hildebert 84 Boerhaave, Hermann 202 Boileau, Nicolas 67 Bolzano, Bernard 36, 39, 40, 42, 43, 71, 72, 73, 96, 103, 105, 120, 125, 126, 127, 128, 129, 130, 131, 132, 133, 134, 135, 136, 208, 215, 217, 218, 219, 221, 227, 228, 230, 232, 233, 234, 236, 257 Bonhoeffer, Dietrich 226 Born, Ignaz von 235 Borodajkewycz, Taras 97, 113, 115 Bossuet, Jacques Bénigne 73 Brambilla, Giovanni Alessandro 191 Brentano, Clemens 42 Brentano, Franz 106 Brizzi, Gian Paolo 296 Brown, John 257 Brück, Heinrich 246 Brunner, Otto 116 Brunner, Sebastian 55, 56, 92, 94, 222 Bubna von Littitz, Ferdinand 69 Buckle, Henry Thomas 60 Buczynski, Aleksandar 274

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Personenregister

Buonaccorsi, Filippo 82 Burgsdorff, Curt von 105 Bylansky, Gottfried 221, 239 C Calderón de la Barca, Pedro 73 Calvin, Johannes 248 Campanella, Tommaso 257 Cantù, Cesare 287 Capra, Carlo 298, 299, 301, 302 Čapská, Veronika 239 Carové, Friedrich Wilhelm 131, 135 Carpanetto, Dino 301 Carstanjen, Helmut 165, 169 Cassirer, Ernst 233, 234 Castle, Eduard 82 Catalano, Alessandro 237 Cavour, Camillo Benso di 286, 287 Čecháček, Jaroslav 66 Čede, Peter 158 Čelakovský, František Ladislav 73 Cerman, Ivo 35, 36, 41, 70, 87, 98, 307 Černý, Jiří 232, 233 Chaloupecký, Václav 62 Chateaubriand, François-René de 73 Chudoba, Bohdan 109, 110 Cinek, František 66 Clewing, Konrad 24, 311 Concha, Győző 78 Coons, Ronald 26 Čoralić, Lovorka 273 Cornova, Ignaz 223 Ćosić, Stjepan 277 Croce, Benedetto 289 Csapodi, Csaba 242, 255, 258 Czermak, Johann 209 Czernin von Chudenitz, Humprecht Johann 73 D Dahn, Felix 139

David, Zdeněk 312 de Haen, Anton 190, 192, 193, 194, 196, 203, 204, 205, 206 Delacour, Edmund 255 Denis, Ernest 312 De Rosa, Gabriele 304 d’Este, Ferdinand 92 Dickson, Peter 313 Dießbach, Nikolaus 91 Dietl, Joseph 198 Dilthey, Wilhelm 82, 223 Diwisch, Prokop 235 Dobner, Gelasius 223, 234 Dobrovský, Josef 66, 67, 68, 82, 231 Dollfuß, Engelbert 91 Dopsch, Alfons 51, 94, 164 Droysen, Gustav 164 Duvergier de Hauranne, Jean 108 Đurđev, Branislav 260 E Ecker, Johann 150 Eckhart, Ferenc 63, 64 Eder, Karl 44, 101 Eger, Friedrich 236 Eisenmann, Charles 312 Engel-Jánosi, Friedrich 95 Engels, Friedrich 235 Engländer, Oskar 37 Eugen von Savoyen-Carignan 229, 309 Evans, Robert 23, 24 Experiens, Callimachus 82 Eybel, Joseph Valentin 11 Eyerel, Joseph 192, 193, 194, 195 F Farkas, Gyula 84 Feijtő, François 292, 293, 294, 303, 304 Ferdinand II. 24 Ferro, Johann Pascal 186 Fesl, Michael Joseph 135, 214

Personenregister

Feyl, Othmar 110, 111, 112, 113 Fischer, Fritz 72 Fischer, Karl (18. Jh.) 231 Fischer, Karl (20. Jh.) 148 Fleck, Dieter 158 Forgó, András 311 Forsthoff, Ernst 214 Fourier, Charles 12 Fraknói, Vilmos 245 Frank, Johann Peter 185, 186 Frank, Karl Hermann 102, 103 Frank, Walter 72 Frank, Wilhelm 45 Franz I. (Franz Stephan von Lothringen) 27, 69, 79, 91, 92, 215, 229, 230, 257 Franz II./I. 21, 29, 152, 283 Franz Joseph I. 69, 75, 136, 178, 244 Franz Ferdinand von Österreich-Este 69, 178 Fried, István 253 Friedjung, Heinrich 90, 311 Friedrich II. (Preußen) 138, 176, 180 Friedrich Wilhelm I. (Preußen) 180 Frind, Wenzel 38, 39 Frings, Theodor 164 Frint, Jacob 126, 127 Funder, Friedrich 42 G Galasso, Giuseppe 295, 304 Garosci, Aldo 290 Gärtl, Wilhelm 214 Gaži, Martin 239 Gentz, Friedrich von 54, 55 Ginzburg, Carlo 257 Goll, Jaroslav 60, 64 Gorani, Giuseppe 20 Görres, Joseph 144 Gottsched, Johann Christoph 86 Gottwald, Klement 233 Grafenauer, Bogo 260, 261, 262

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Graunt, John 185 Gregor XVI. 246 Grillparzer, Franz 82, 95 Groethuysen, Bernhard 84 Groß-Hoffinger, Anton Johann 52 Grossinger, Joseph 19 Grossing, Rudolph 33 Grün, Anastasius (Anton Alexander von Auersperg) 95 Guerci, Luciano 302 Guglia, Eugen 288 Gundling, Nikolaus Hieronymus 218 Gunst, Péter 76 Günther, Anton 39, 73, 91 Gutkas, Karl 302 Gvadányi, József 85 H Haar, Ingo 47, 168 Habermas, Jürgen 253 Hager, Kurt 43 Hajek, Vaclav 234 Haller, Albrecht von 206 Hamann, Johann Georg 224 Hammerstein, Notker 18 Hanák, Péter 100 Hancke, Kurt 224, 225 Hansen, Sebastian 275 Hantsch, Hugo 33, 35, 96, 115, 116, 159, 171, 172, 173, 174, 175, 176, 177, 178, 179, 180, 311 Hanusch, Ignác Jan 130 Hanus, Jan 235 Hanuš, Josef 223, 224, 311 Harling, Christoph von 136 Harrach, Adalbert von 237 Hartl, Albert 120, 121 Hartmann, Moritz 95 Hartung, Fritz 23 Hassinger, Hugo 158, 165, 169 Haubelt, Josef 235

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Personenregister

Haugwitz, Christian August von 87, 176 Havliček, Karel 73 Hay, Johann Leopld 236 Heidler, Jan 51, 70 Heiler, Friedrich 226 Heilig, Konrad Josef 93 Heindl, Waltraud 26, 283 Helbok, Adolf 164, 167 Helfert, Josef Alexander von 53 Henlein, Konrad 105 Herbst, Eduard 55 Herczeg, Ferenc 141 Herder, Johann Gottfried 58, 67 Herrero, Javier 12 Hersche, Peter 179, 309 Herz, Augustin 219 Heydrich, Reinhard 103 Hieronymus 68 Himmler, Heinrich 147 Hirnhaim, Hieronymus 218, 229, 235 Hirsch, Hans 165 Hitler, Adolf 91, 110, 113, 114, 137, 138, 139, 168 Hock, Karl von 310 Hofbauer, Clemens Maria 175 Hoffmann, Leopold Alois 175 Holeschofsky, Johannes 35, 36, 96, 311 Holubar, Karl 194 Hölvényi, György 250, 251 Holzknecht, Georgine 51, 94, 270 Hóman, Bálint 80, 242 Horbec, Ivana 273 Horkheimer, Max 29, 179 Horn, Sonia 311 Horthy, Nikolaus (Miklós) von 81, 141, 143 Hoško, Franjo Emanuel 277 Hugelmann, Karl 137 Humboldt, Alexander von 68 Husa, Václav 233 Hus, Jan 64, 67, 223

I Israel, Jonathan 10 Iványi, Béla 253 J Jacobi, Walter 123 Jäger, Albert 53 Jagoditsch, Rudolf 41 Janković, Branimir 260 Jansen, Cornelius 108 Jeitteles, Baruch 231 Jirásek, Alois 233 Jireček, Konstantin 263 Johann (Erzherzog) von Österreich 92 Joseph I. 25 Jungmann, Josef 65, 73 K Kaindl, Raimund Friedrich 143 Kalista, Zdeněk 72, 73, 232 Kallay, Benjámin 75 Kalousek, Josef 235 Kann, Robert 26, 30, 45, 313 Kant, Immanuel 15, 218, 221, 224, 253 Kardos, Tibor 81, 82 Karl, Ernst 91 Karl (Erzherzog) von Österreich 92 Karl VI. 25, 200 Kaunitz-Rittberg, Wenzel Anton von 36, 174 Khavanova, Olga 311 Khevenhüller-Metsch, Johann Joseph von 88 Kiefl, Franz Xaver 39 Kindermann von Schulstein, Ferdinand 38, 222, 229, 231 Klaar, Adalbert 165 Klaniczay, Tibor 82 Klar, Richard 143 Klebel, Ernst 116 Klingenstein, Grete 28, 283, 284, 302, 303

Personenregister

Klueting, Harm 18 Kókay, György 251 Kolanović, Josip 276 Koldín, Kristián von 219 Koller, Freiherr Franz (Ferenc) Xaver 264, 273, 282 Kolowrat-Liebsteinsky, Franz Anton von 69, 70 Königsegg-Rothenfels, Maximilian Friedrich von 186, 187 Kopecký, František 237 Köpeczi, Béla 252 Kopitar, Jernej 227 Kornis, Gyula 243 Kósa, János 168 Kosáry, Domokos 248, 249, 251, 253, 254, 255, 257, 258, 311 Koschaker, Paul 46 Koser, Reinhold 177 Kossuth, Lajos 255 Kostić, Mita 260, 262, 263, 264, 265, 266, 267, 268, 269, 270, 271, 272, 273, 281, 282, 311 Kostić, Strahinja K. 208 Kostlán, Antonín 220 Kötzschke, Rudolf 164 Krallert, Wilfried 147, 148, 169, 170 Krehl, Alfred 148 Kressel von Qualtenberg, Franz Karl 215, 229, 236 Kretschmayr, Heinrich 87 Křišťan, Alois 238 Krofta, Kamil 63, 64, 104 Krones, Franz von 75, 89 Kropilák, Miroslav 235 Kübeck, Carl Friedrich von 26, 70, 97 Kulcsár, Kristina 275 Kun, Béla 74 Kuranda, Ignaz 95 Kuranda, Peter 95 Kurzböck, Joseph von 263, 264, 272

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Kutnar, František 65 L Lagarde, Paul de 139 Lamberg, Maximilian Joseph von 20 Lamourette, Adrien 11 Lamprecht, Karl 83 Lažanský von Bukowa, Leopold 69 Lemberg, Eugen 72, 73 Lengyel, Márta 257 Lenin, Wladimir Iljitsch 42, 228 Leopold I. 53 Leopold II. (Pietro Leopoldo) 21, 44, 53, 69, 91, 286, 287, 299, 300 Lerin, Vinzenz von 129 Lesky, Albin 181 Lesky, Erna 181, 182, 183, 188, 194, 197, 198, 199, 200, 202, 206, 207, 208, 209, 210, 211, 212, 311 Lessing, Gotthold Ephraim 127 Lhéritier, Michel 22, 63, 177 L’Herminier, Nicolas 220 Lhotsky, Alphons 92 Liebel-Weckowicz, Helen 299 Liguori, Alfons de 230 List, Friedrich 289 Ljubić, Šime 275 Lochman, Jan Milíč 233, 234 Lorman, Jaroslav 238 Loužil, Jaromír 236 Ludvíkovský, Jaroslav 67, 68, 81, 82 Lueger, Karl 138 Luther, Martin 108, 122, 217, 218, 247, 248 Lux, Josef 93 M Maaß, Ferdinand 33, 35, 36, 42, 44, 96, 104, 121, 173, 174, 175, 179, 291, 309 Macartney, Carlyle Aylmer 313 Macaulay, Thomas 76

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Personenregister

Magni, Valeriano 217, 218, 229, 232, 237 Magris, Claudio 292 Malaschofsky, Alfred 165 Mályusz, Elemér 51, 60, 74, 77, 78, 79, 80, 84, 86, 150, 151, 152, 167, 168, 242, 243, 244, 247, 248, 252, 253, 254, 307, 310 Mályuszné, Edit Császár 252 Marci von Kronland, Jan Marek 232 Marczali, Henrik 53, 74, 75, 76, 77, 79, 80, 240, 241, 242, 252, 253, 310, 311, 312 Maria Theresia 28, 55, 59, 88, 89, 90, 92, 118, 162, 173, 176, 179, 190, 196, 212, 214, 215, 223, 245, 259, 264, 270, 273, 283, 284, 285, 286, 288, 289, 292, 293, 299, 300, 303, 304, 313 Markov, Walter 43 Marsilius von Padua 123 Martini, Karl Anton von 118, 215, 219, 221, 229, 245 Martinovics, Ignác 20, 21, 79 Marx, Jacob 246 Marx, Karl 228 Masaryk, Tomáš 51, 60, 64, 65, 66, 67, 78, 104 Maťa, Petr 24 Matl, Josef 208 Matthias Corvinus 82 Maximilian Franz von Österreich 186, 187 May, Arthur 313 Mayer, Hans 43 Meinecke, Friedrich 60, 81, 82 Meinert, Johann Georg 73 Meister, Richard 42 Menéndez y Pelayos, Marcelino 12 Merkle, Sebastian 19, 85, 94, 115, 118, 119, 120, 172, 296 Meszlényi, Antal 151, 245, 246, 247 Metternich, Klemens Wenzel Lothar von 34, 44, 54, 92, 101

Meyer, Arnold Oskar 144, 156 Mihaljčić, Rade 260 Mikoletzky, Lorenz 300 Milanesi, Alberto 303 Milutinović, Kosta 261 Mitrofanov, Paul (Pavel) von 88, 267, 288, 312, 313 Mitrovský, Anton Friedrich von 69 Mortier, Roland 252 Mozzarelli, Cesare 303 Mühlpfordt, Günter 43 Müller, Alexander 131 Müller, Ignaz 215, 229 Müller, Karl Alexander von 46, 144, 146, 156 Muratori, Lodovico Antonio 217, 218, 219, 221, 250, 251 Muvaffak Harawi, Abu Mansur 195 Mylnikov, Aleksandr Sergeiewitsch 234, 312 N Náchodský, Štěpán 68 Nadler, Josef 82, 84 Nagl, Johann Willibald 82 Naumann, Friedrich 158 Nejedlý, Zdeněk 233 Němec, Jiří 40, 70, 213, 308 Németh, Béla 27 Neuburger, Max 206 Neumann, Kaspar 185 Nietzsche, Friedrich 139 Novak, Arné 73 Nygård, Stefan 12 O Oberkofler, Gerhard 227 Obradović, Dositej 269, 270 Okenfuss, Max 14 Opiz, Johann Ferdinand 19, 20, 28 Orosz, László 47, 253, 254

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P

R

Palacký, František 58, 65 Pálffy, Karl von 76 Palucci, Guiseppe Natalis 189 Papritz, Johannes 41 Partsch, Josef 158 Patiniotis, Manolis 13 Patočka, Jan 232, 233 Pavlíková, Marie 236 Pázmány, Péter 82 Pekař, Josef 16, 51, 64, 65, 66, 68, 69, 70, 72, 73, 74, 91 Perović, Dušan 260 Perthaler, Hans 95 Petőfi, Sándor 257 Petrović, Marija 272, 278, 282 Petty, Willam 185 Pfitzner, Josef 70, 232 Philipp, Wolfgang 99 Plenk, Joseph Jakob 189, 190, 194 Plojhar, Josef 236 Plongeron, Bernard 19, 296 Polišenský, Josef 232 Porter, Roy 9 Posch, Alexander 108 Posch, Andreas 94, 115 Příbram, Alfred Francis 95 Probst, Christian 203 Prokeš, Jaroslav 220 Propst, Christian 206 Prosperi, Adriano 304 Puchmajer, Antonín Jaroslav 73 Pufendorf, Samuel 78, 218, 221, 247 Pukánszky, Béla 86, 254 Pulszky, Ferenc 78 Purkyně, Johann Evangelist 208, 209 Purš, Jaroslav 235 Puschmann, Theodor 204, 206

Rákóczi, Ferenc II. 74 Ranke, Leopold von 60 Rapant, Daniel 310 Raschoffer, Heinrich von 113 Rasin, Stepan (Stenka) 257 Ráth, Matthias 160 Rauchberg, Heinrich 37 Rauch, Georg 208 Raumer, Kurt von 148 Raupach, Hans 117 Rautenstrauch, Franz Stephan 28, 215, 222, 229, 236, 245 Redlich, Josef 69, 88, 311 Reinalter, Helmut 22, 179, 275 Rettenwander, Mathias 175 Ribbentrop, Joachim von 148 Ricuperati, Giuseppe 299, 301, 303, 304 Rieger, Bohuš 32, 310 Riegger, Joseph von 118 Rieser, Herbert 173, 175 Robertson, John 10 Robespierre, Maximilien de 257 Rohrer, Rudolf 148, 308 Rokitansky, Carl von 196, 198, 202, 209 Roksandić, Drago 274, 275, 279, 283 Romano, Salvatore Francesco 292 Ronneberger, Franz 146, 147 Rosa, Mario 296, 305 Rosas, Anton von 196, 211 Roscher, Wilhelm 21, 63, 228 Rosenberg, Alfred 103, 117, 121, 122, 139, 216 Rosenstrauch-Königsberg, Edith 20, 45 Rosselli, Carlo 290 Rosselli, Nello 290 Roth, Joseph 93 Rougemont, Joseph 186 Rudolf, Karl 96 Rudolf von Österreich-Ungarn 75

324

Personenregister

S Sabbatucci, Giovanni 304 Sägmüller, Johann Baptist 172 Saint-Simon, Henri de 12 Salvadori, Massimo 304 Sashegyi, Oszkár 311 Saurau, Franz Josef 69 Saure, Wilhelm 103 Schaffgotsch, Johann Prokop von 229, 238 Schaffrath, Leopold von 85 Schamschula, Walter 312 Schellenberg, Walter 148 Scherzberg, Lucia 119 Scherzberg, Sebastian 120 Schieder, Theodor 148 Schiera, Pierangelo 303 Schiessel, Maria Katharine 141 Schlegel, Friedrich 73 Schlitter, Hanns 52, 88 Schlözer, August Ludwig von 252 Schmerling, Anton von 89 Schmidt, Michael Ignaz 215 Schneller, Julius Franz 54, 55 Schönfeld, Walter 122 Schopenhauer, Arthur 139 Schrauf, Karl 197 Schreiber, Rudolf 113 Schroeder, Felix von 145, 266 Schuschnigg, Kurt 137 Seibt, Karl Heinrich von 217, 218, 219, 220, 222, 223, 231, 234, 235, 239 Seligmann, Franz 195 Seligmann, Leopold 195 Seligmann, Romeo 194, 195, 196, 199 Sestan, Ernesto 292 Šidak, Jaroslav 260, 261, 273, 274 Simon, Jordan 215 Six, Franz Alfred 147, 148 Skerlić, Jovan 269 Skoda, Joseph 198

Slavík, Bedřich 234, 235 Soják, Vladimír 109 Sonnenfels, Joseph von 54, 55, 86, 112, 118, 190, 195, 222, 236 Sonnenschein, Carl 37 Sorkin, David 10, 11 Sousedík, Stanislav 220, 237 Spannagel, Gottfried Philipp 173, 229 Spannenberger, Norbert 46, 309 Spann, Othmar 84 Spengel, Kurt 193 Spielmann, Anton von 29 Sporck, Franz Anton 218, 223, 229, 231 Spranger, Eduard 82 Springer, Anton 21, 309, 310, 313 Springer, Julius Franz 54 Srbik, Heinrich von 95, 114, 115, 116, 171 Stadelmann, Rudolf 23 St. Cyran siehe Jean Duvergier de Hauranne Steinacker, Harold 49, 50, 80, 116 Steiner, Stephan 284 Stephan I. (Ungarn) 143, 245 Stern, Leo 43 Stifft, Andreas von 197, 198, 199, 202, 211 Stock, Ambros 28, 215, 229 Stoll, Maximilian 192, 193, 196, 198 Stolypin, Pjotr Arkadjewitsch 312 Stoppani, Anton 120 siehe Johann Stoppani Stoppani, Johann 125, 126, 127, 128, 129, 130, 131, 132, 133, 134, 135 Stoppani (Vater) 125 Störk, Anton von 197, 198 Strakoš, Jan 66 Strang, Johan 12 Süßmilch, Johann Peter 185 Svatek, Petra 35, 46, 94, 307 Svoboda, Ludvík 236

Personenregister

Svoboda, Rudolf 238 Sylvester II. 245 Szábo, Franz 30, 300 Szalay, László 78 Szauder, József 250 Széchenyi, Franz 85 Széchenyi, István 51, 77, 79, 80 Szekfű, Gyula 16, 51, 74, 76, 77, 78, 79, 80, 81, 82, 84, 85, 86, 242, 243, 244, 245, 246, 248, 253, 307, 310 T Táborský, Josef 238 Tacitus 193 Tadić, Jorjo 260 Taine, Hippolyte 75, 76 Tarnai, Andor 256, 258 Taylor, Alan John Percivale 312 Teich, Mikuláš 9 Teleki, József 85 Temperley, Harold 312 Thälmann, Ernst 257 Thaly, Kálmán 74 Thienen-Adlerflycht, Christoph 44 Thomasius, Christian 218 Thukydides 193 Thun-Hohenstein, Leo von 92, 208 Toscani, Xenio 296 Trampus, Antonio 13, 31, 312 Trautson, Johann Joseph von 229 Třeštík, Dušan 63 Troeltsch, Ernst 60, 247 Tschirnhaus, Ehrenfried Walter von 256 Tschuppik, Karl von 93 Turgenjew, Iwan 12 Tyler, Wat 257 V Vajda, György Mihály 256 Valiani, Leo 290 Valjavec, Ludwig August 141

325

Valsecchi, Franco 288, 289, 300 van Swieten, Gérard 28, 108, 151, 182, 190, 195, 196, 197, 199, 200, 201, 202, 203, 204, 205, 206, 207, 210, 211, 215, 218, 229, 249, 251 van Swieten, Gottfried 236 Venturi, Franco 22, 289, 292, 293, 294, 295, 298, 299, 300, 301, 302 Verga, Marcello 300, 305 Verri, Alessandro 20, 295 Verri, Pietro 20, 295, 297, 298, 299, 304 Vierhaus, Rudolf 10 Vismara, Paola 296 Vlček, Jaroslav 234 Voigt, Adaukt 223 Voigt, Mikulàš Adaukt 66 Voltaire (François-Marie Arouet) 65, 176, 251 Voltelini, Hans von 51, 94 Vranišević, Branlislav 271 Vrhovac, Maksimilijan 275, 276 W Wagner, Daniela 203, 207 Wagner, Richard 139 Walter, Friedrich 87 Wangermann, Ernst 20, 45, 179, 180, 313 Warburton, William 10 Wartenberg, Ferdinand Illmer von 204 Wawruch, Andreas Ignaz 193 Wegeler, Franz Gerhard 186 Wehler, Hans-Ulrich 179 Wertheimer, Eduard 89 Wessenberg, Ignaz Heinrich von 130 Wickham Steed, Henry 312 Wiesemann, Claudia 198 Windisch, Karl Gottlieb von 38, 46, 86, 87, 156, 254 Winkelbauer, Thomas 24 Winter, Ernst Karl 91, 92, 93, 177

326

Wittelsbach (Adelshaus) 268 Wittola, Markus Anton 245 Wolf, Adam 223 Wolff, Christian von 99, 220, 221 Wolfsgruber, Cölestin 69 Wosarowitsch, Gligor 162 Wostry, Wilhelm 113 Wundt, Max 15, 84

Personenregister

Z Zängerle, Roman Sebastian 126 Zeidler, Jakob 82 Žemlička, Josef 63 Zippe, Augustin 222, 223, 229, 238 Zöllner, Erich 20 Zolnai, Béla 249 Zwenhoff, Paul Michael von 200 Zwiedineck-Südenhorst, Hans von 89, 90

HELMUT REINALTER (HG.)

JOSEPHINISMUS ALS AUFGEKLÄRTER ABSOLUTISMUS

Dieser Band umfasst die wichtigsten Reformkomplexe Josephs II., wie das Verhältnis von Staat und Kirche, die Bürokratie, Schule und Bildung, die Rechts- und Sozialreformen, die staatliche Wirtschaftspolitik sowie Kunst und Kultur und setzt sich mit den Nachwirkungen des Josephinismus auseinander. Die Autoren/innen zeigen den Josephinismus als spezifisch österreichische Variante des Aufgeklärten Absolutismus und stellen die Wirkungen des Josephinismus im Rahmen des europäischen Absolutismus dar. 2008. 446 S. BR. 170 X 240 MM | ISBN 978-3-205-77777-9

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RAINER BENDEL, NORBERT SPANNENBERGER (HG.)

KATHOLISCHE AUFKLÄRUNG UND JOSEPHINISMUS REZEPTIONSFORMEN IN OSTMITTEL- UND SÜDOSTEUROPA (FORSCHUNGEN UND QUELLEN ZUR KIRCHENUND KULTURGESCHICHTE OSTDEUTSCHLANDS, BAND 48)

Das Verhältnis von Staat und Kirche wurde im Gefolge der Auf klärung und des Josephinismus ebenso neu bestimmt wie das Verhältnis der unterschiedlichen Konfessionen zueinander. Der Staat rückte näher an die Menschen heran. Das kann als Sozialdisziplinierung gedeutet werden, aber auch als Beitrag zur Verbesserung der sozialen und individuellen Sicherheit, zum Ausbau der Sozialfürsorge, des kulturellen Standes, der Bildung und nicht zuletzt der ökonomischen Grundlagen. Die Autoren dieses Bandes untersuchen, wie die Bewohner in den unterschiedlichen Regionen von Franken über Schlesien bis Siebenbürgen auf diese »aufgefangene Revolution« reagierten und wie die Maßnahmen der Auf klärung in ihren Alltag – auch den Alltag des religiösen Lebens – eingriffen. 2015. 397 S. GB. 170 X 240 MM | ISBN 978-3-412-22270-3

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