Zweckbindung und -änderung präventiv und repressiv erhobener Daten im Bereich der Polizei [1 ed.] 9783428488483, 9783428088485


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German Pages 408 Year 1996

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Zweckbindung und -änderung präventiv und repressiv erhobener Daten im Bereich der Polizei [1 ed.]
 9783428488483, 9783428088485

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MARCUS WALDEN

Zweckbindung und -änderung präventiv und repressiv erhobener Daten im Bereich der Polizei

Schriften zum Recht des Informationsverkehrs und der Informationstechnik Herausgegeben von Prof. Dr. Horst Ehmann und Prof. Dr. Rainer Pitschas

Band 14

Zweckbindung und -änderung präventiv und repressiv erhobener Daten im Bereich der Polizei

Von

Dr. Marcus Waiden

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Waiden, Marcus: Zweckbindung und -änderung präventiv und repressiv erhobener Daten im Bereich der Polizei / von Marcus Waiden. Berlin : Duncker und Humblot, 1996 (Schriften zum Recht des Infonnationsverkehrs und der Infonnationstechnik ; Bd. 14) Zug!.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 1996 ISBN 3-428-08848-4 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten © 1996 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Wemer Hildebrand, Berlin Printed in Gennany ISSN 0940-1172 ISBN 3-428-08848-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 9

Für Ursula und meine Eltern

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 1995/96 von der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg als Dissertation angenommen. Später erschienene Literatur konnte für die Drucklegung noch bis Ende 1995 berücksichtigt werden. Mein besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Thomas Würtenberger für die fachliche Betreuung der Arbeit und für die vielfältige und großzügige Förderung. Seine wertvollen Anregungen waren sowohl für die Anfertigung der Arbeit als auch für die Mitarbeit an seinem Lehrstuhl hilfreich und prägend. Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Albin Eser, M.C.J. danke ich für die Erstellung des Zweitgutachtens. Zu Dank bin ich ferner der Konrad-Adenauer-Stiftung verpflichtet, die die Arbeit mit einem Promotionsstipendium gefördert hat. Danken möchte ich schließlich dem Bundesministerium des Innern, das die Veröffentlichung der Arbeit mit einem Druckkostenzuschuß unterstützte. Die Arbeit ist meiner Frau Ursula und meinen Eltern gewidmet.

Offen burg, im Februar 1996 Marcus WaIden

Inhaltsverzeichnis Einleitung

19

A.

Infonnationsgesellschaft und Polizei ................... . . . . . . . . . . . . . . .. 19

B.

Problemstellung und Gang der Untersuchung ................. . ........... 26

Erster Teil

VerfassungsrechtIiche Grundlagen

29

A.

Vorüberlegungen ................................................ 30

B.

Verfassungsrechtliche Entwicklung des Persönlichkeitsschutzes in der Zeit vor dem Volkszählungsurteil ............................................... 32 I.

Die allgemeine Handlungsfreiheit ............................... 32

11.

Das allgemeine Persönlichkeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34

111.

I.

Herleitung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ................ 34

2.

Schutzbereichsbestimmung ................................ 35 a)

Rollentheoretischer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

b)

Die Theorie der autonomen Selbstdarstellung ............... 37

c)

Kommunikationstheorie .............................. 38

d)

Sphären theorie ............. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 (I)

Unantastbarer Innenbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

(2)

Privatsphäre ................................. 40

(3)

Öffentlichkeitsbereich .......................... 41

3.

Auswirkung der Theorien auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ......................................... 42

4.

Bewertung der dargelegten Theorien zur Schutzbereichsbestimmung . . . 43 a)

Kritik an den Einzeltheorien .......................... 43

b)

Bedeutung der Einzeltheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44

Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in der Zeit vor dem Volkszählungsurteil nach Fallgruppen unter besonderer Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ..................... 45 1.

Infonnationserhebung beim Betroffenen selbst .................. 46

10

Inhaltsverzeichnis

2.

a)

Mikrozensus-Beschluß .............................. 46

b)

Gemeinschuldner-Beschluß ..................... . ..... 48

c)

Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49

Informationserhebung beim Dritten .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 a)

3.

c.

Drogenberatungsstellen-Beschluß ....................... 52

c)

Sozialarbeiter-Beschluß .............................. 53

d)

Tierarzt-Beschluß. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54

e)

Bewertung ....................................... 55

Informationserhebung unter Einsatz technischer Mittel ............ 56 a)

Tonbandaufnahme-Beschluß. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

b)

Bewertung ................... . ................... 58

Das Volkszählungsurteil als Kristallisationspunkt der Entwicklungen zum Schutz des Selbstbestimmungsrechts ........................................ 58 I.

Anerkennung eines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung durch das Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 I.

H.

Entwicklungen im Vorfeld des Volkszählungsurteils .............. 58

2.

Das Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts ........... 59

3.

Schutzobjekte des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung . . . . . . 61

4.

Einschränkungsmöglichkeiten des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung .......................................... 62

Folgerungen aus den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts für den Bereich der polizeilichen Datenerhebung .......................... 63 I.

Eingriffsqualität und Schutzbereichsweite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 a)

D.

E.

Krankenaktenbeschiagnahme-Beschluß. . . . . . . . . . . . . . . . . .. 50

b)

Abgrenzung zwischen bloßen Wahrnehmungen und Informationserhebungen ...................................... 66

b)

Die Behandlung von Trivialdaten ......... . ............. 67

c)

Ergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71

2.

Abschied von der Sphärentheorie? ........................... 73

3.

Datensammlung auf Vorrat ................................ 75

4.

Zweckbindung ........................................ 76

5.

Zusammenfassung der Konsequenzen für die polizeiliche Datenerhebung und -verarbeitung ...................................... 78

Nachfolgende verfassungsrechtliche Rechtsprechung ........................ 79 I.

Flick-Urteil ............................................... 79

II.

Tagebuch-Beschluß. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80

Der Interessenkonflikt bei Eingriffen in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82

Inhaltsverzeichnis

11

I.

Privilegierung des Rechts auf infonnationelle Selbstbestimmung? ......... 82

11.

Infonnationsverarbeitung und -vorsorge als Voraussetzung für die staatliche Funktionsfähigkeit ...................................... 84

III.

Die Legitimation staatlicher Infonnationserhebung und -verarbeitung in Einzelbereichen .............................................. 85 1. 2.

Politischer Planungsprozeß und Sozialstaatsprinzip ............... 85 Rechtsstaatliche Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 a)

Allgemeine Betrachtung .............. . ..... . ........ 86

b)

Die Bedeutung der inneren Sicherheit .................... 87

Zweiter Teil Zweck und Datenerhebungen durch die Polizei A.

Zum Wesen des Begriffs ,,Zweck" .................................... 91 I.

Sprachwissenschaftliche Betrachtung ............................. 91

11.

Der Zweck im klassischen Verständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91

III.

Der Zweck im juristischen Bereich .............................. 92 1.

Vorüberlegungen zur Aufstellung eines Zweckgesetzes ............ 92

2.

Überprüfung der Gesetzmäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 a)

IV.

B.

90

Der Grund als Handlungsmotiv ........................ 94

b)

Bewußt-und absichtsloses Handeln .... . ................ 95

c)

Ergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96

Systemorientierte Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 1.

Das Wesen des Zweckbegriffs ........ . ........... . ........ 97

2.

Die Zweckfunktion ..................................... 98

3.

Die Zweckfunktion in Systemen ........................... 100

4.

Der Zweck im Kontext öffentlicher Stellen ................... 101

5.

Konsequenzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 102

Konsequenzen für die polizeiliche Datenverarbeitung ...................... 103 I.

Zweckinhalt von polizeilichen Datenerhebungen .................... 104 1.

Einwand der gesetzlichen Handlungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . .. 106

2.

Einwand des unbewußten Handeins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 106

3.

"Beamtenwillen" und "Behördenwillen" ..................... 107 a)

Der Wille des handelnden Beamten als maßgeblicher Faktor . .. 108

b)

Bestimmung anhand des Behördenwillens bzw. der objektiven Rechtsnormen ................................... 110

c)

Stellungnahme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 110

12

Inhaltsverzeichnis

11.

C.

Bestimmbarkeit des Zweckinhalts von polizeilichen Datenerhebungen 1.

Kennzeichen für das Vorliegen einer Datenerhebung ............. 112

2.

Befragung des Polizeibeamten ....................... . .... 113

3.

Objektive oder subjektive Bestimmungsmethode? . . . . . . . . . . . . . .. 114

Das Zweckbindungsgebot ......................................... 116 I.

Die Geschichte des Zweckbindungsgedankens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 118 1.

Entwicklungen in der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 119 a)

2.

11. D.

112

Mikrozensus-Beschluß. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 119 (l)

Erfordernis der Normenklarheit .................. 120

(2)

Grundsatz der Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . .. 120

b)

Erster Scheidungsakten-Beschluß ...................... 121

c)

Gemeinschuldner-Beschluß. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 122

Entwicklungen in der Literatur ..... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 123 a)

Die Zweckbindung im anglo-amerikanischen Vergleich ...... 123

b)

Bewertung der frühen Verfassungsrechtsprechung in der Literatur ....................................... 124

c)

Privatsphäre und "Persönlichkeitsprofil" ......... . ....... 125

Bedeutung der Erkenntnisse aus Literatur und Rechtsprechung .......... 127

Die Zulässigkeit von Generalklauseln im Datenerhebungs- und -verarbeitungsbereich, insbesondere zur Festlegung des Zweckbindungsgrundsatzes durch den Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 130 I.

11.

Annahme eines möglichst weitreichenden und fallgruppenorientierten Präzisierungsbedarfs durch den Gesetzgeber ......................... 131 1.

Bestandsaufnahme der Datenerhebungen durch den Staat . . . . . . . . .. 131

2.

Die Erwartungshaltung des Bürgers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 133

3.

Das Gebot der Normenklarheit ........ . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 135

4.

Verminderung der Leistungsfähigkeit der Verwaltung ... . . ....... 137

5.

Unantastbarer Kernbereich der Verwaltung ................... 138

Die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 139 1.

Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 139

2.

Der Ansatzpunkt des Bundesverfassungsgerichts. . . . . . . . . . . . . . .. 140

3.

Bisherige Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 140

4.

Die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts in der konkreten Überprüfung des Volkszählungsgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 142

5.

Die beanstandeten Regelungen im Volkszählungsurteil ........... 143 a)

Kombination der Volkszählung für statistische Zwecke mit einem Melderegisterabgleich nach § 9 Abs. 1 S. 1 des Volkszählungsgesetzes 1983 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 144

Inhaltsverzeichnis

111.

l3

b)

Übermittlung von Volkszählungsdaten an die fachlich zuständigen obersten Bundes- und Landesbehörden nach § 9 Abs. 2 des Volkszählungsgesetzes 1983 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 144

c)

Benutzung der Volkszählungsdaten im kommunalen Bereich nach § 9 Abs. 3 S. 1 des Volkszählungsgesetzes 1983 ........... 145

d)

Konsequenzen ................................... 145

Ergebnis

146

Dritter Teil Präventive und repressive Maßnahmen im Bereich der Polizei A.

Abgrenzung des Bereichs der Gefahrenabwehr vom Bereich der Verfolgung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 150

I.

Maßnahmen im Vorfeld eines konkreten Tat- oder Gefahrenverdachts ..... 151

1.

Die allgemeine Verhinderungsvorsorge als Bestandteil der vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten ........................... 153

2.

Die allgemeine Verfolgungsvorsorge als Bestandteil der vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten .............................. 156

3. 11.

a)

Die herrschende Meinung ........................... 158

b)

Die Mindermeinung und Replik ....................... 160

c)

Die vorbeugende Verbrechensbekämpfung als "dritte Säule" polizeilicher Aufgaben ............................. 162

Zusammenfassung ..................................... 165

Maßnahmen bei sich abzeichnendem Gefahr- oder Tatverdacht und im konkreten Strafverfahren ....................................... 165

1.

B.

148

Der Anfangsverdacht für eine Straftat nach § 152 Abs. 2 StPO ..... 166

2.

Verfahren zur Herausbildung eines Anfangsverdachts ............ 166

3.

Erhebungen von Daten im Strafverfahren und ihre Weiterverwendung

169

Die Behandlung der doppelfunktionalen Maßnahmen ................... . .. 170

I.

Vorrang der Repression vor der Prävention? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 173

11.

Die Fallkonstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 175

111.

1.

Die Aufspaltung von Maßnahmenbündeln .................... 175

2.

Die Aufgabenkollision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 176

3.

,,Echte" und "unechte" doppelfunktionale Maßnahmen? ........... 179

4.

Die doppelfunktionalen Maßnahmen ........................ 180

Die rechtliche Behandlung von doppelfunktionalen Maßnahmen ......... 180

1.

Die herrschende Meinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 180 a)

Generalisierende Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 182

b)

Subjektive Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 183

14

Inhaltsverzeichnis

2.

3. 4.

c)

Objektive Bestimmung ............................. 183

d)

Das Auswahlrecht der Polizei ...... . ....... . ......... 185

Die Kritik an der Schwerpunkttheorie ....................... 186 a)

Kritik am Auswahlrecht der Polizei .................... 186

b)

Kritik an der Bestimmung nach der Art der Maßnahme .. . ... 188

c)

Kritik an der Schwerpunktsetzung ..................... 189

Lösungsansätze

190

Stellungnahme

193

a)

Doppelte Rechtmäßigkeitsüberpriifung ............. . .... 196

b)

Rechtsweg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 197

c)

Streitgegenstand bei Eröffnung sowohl des Verwaltungsrechtsweges als auch des ordentlichen Rechtsweges ............. 197

d) C.

Bedeutung der Streitgegenstandsbestimmung . . . . . . . .. 198

(2)

Bestimmung des Streitgegenstandes ......... . ..... 199

Ergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203

Das Verhältnis von Strafverfolgung und Gefahrenabwehr ................... 204 I.

Die relevanten Fallkonstellationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205

11.

Lösungsansätze ........................................... 206

III.

I.

Einheit der Staatsgewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206

2.

Der funktionale Stellenbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208

3.

Der Grundzweck "Innere Sicherheit" ........................ 210

Strukturvergleich von Gefahrenabwehr und Strafverfolgung ............ 212 I.

2.

3. D.

(I)

Die Gemeinsamkeiten von Gefahrenabwehr und Strafverfolgung .... 214 Die Unterschiede von Gefahrenabwehr und Strafverfolgung ........ 216 a)

Strafrecht als ultima ratio ........................... 216

b)

Gefahr und Straftatverdacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217

c)

Adressaten der staatlichen Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

d)

Legalitäts- und Opportunitäts prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 220

e)

Der Herrschaftsbereich der Staatsanwaltschaft ........ . .... 222

f)

Materielle Anforderungen ........................... 224

Ergebnis: Gefahrenabwehr und Strafverfolgung als zwei voneinander zu trennende Zwecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224

Das Verhältnis von Strafverfolgung, Gefahrenabwehr und Ordnungswidrigkeitenverfolgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228

Inhaltsverzeichnis

15

Vierter Teil Zweckbindung und -änderung im präventiven Tätigkeitsbereich der Polizei

A.

231

Die Zweckbindung im Gefahrenabwehrbereich der Polizei .................. 232 1.

Die Bedeutung der Zweckbindung bei polizeilichen Gefahrenabwehrmaßmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 232 1.

2.

3. 11.

2.

IV.

Die Zweckhierarchie ................................... 234 a)

Weitreichende Ansätze zur Zweckbindung ................ 234

b)

Grundbereiche und Grundaufgaben polizeilicher Tätigkeiten ... 235

c)

Zusammenfassung von Einzelfällen nach Fallgruppen ........ 236

d)

Beziehung auf den konkreten Einzelfall ................. 236

e)

Aufgliederung des konkreten Einzelfalles nach Einzelaspekten

f)

Ergebnis ....................................... 238

236

Die praxisrelevanten Fallkonstellationen .......... . .......... 239

Die gesetzlichen Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 1.

III.

Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232

VEMEPoIG. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 a)

Verarbeitung der Daten von Personen nach § 8a Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 Nr. 1 VEMEPolG ........................ 243

b)

Verarbeitung der Daten von anderen als den in § 8a Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 Nr. 1 VEMEPolG genannten Personen . . . . . . . . . . 244

Vergleich der Ländergesetze zum Polizeirecht ............. . ... 245

Bisherige Lösungsansätze zur Frage der Zweckbindung ..... . . . . . . . . .. 249 1.

Die Zweckbestimmung unter Orientierung an polizeilichen AufgabensteIlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 249

2.

Weitergehende Bestimmung der Zweckbindung ................ 252

3.

Stellungnahme ....................................... 253

Eigener Lösungsansatz ...................................... 255 1.

Die Zweckbindung unter Bezug auf die polizeilichen Aufgabenbereiche .............................................. 255 a)

2.

Originäre polizeiliche Gefahrenabwehr als Gesamtaufgabe .... 257

b)

Der Schutz privater Rechte .......................... 257

c)

Eilkompetenz der Polizei nach § 2 Abs. 1 PolG ........ . ... 258

d)

Vollzugshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 260

e)

Ergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261

Die Zweckbindung unter Bezug auf die Eingriffsintensität der Datenerhebung ........................................... 262 a)

Die Stufung der Datenerhebungsmaßnahmen nach ihrer Eingriffsintensität ....................................... 263

16

Inhaltsverzeichnis b)

B.

Die Zweckänderung im Gefahrenabwehrbereich der Polizei ............... . .. 269 I.

H.

Die gesetzlichen Regelungen zur Zweckänderung ................... 270 1.

Vergleich der Ländervorschriften .......................... 270

2.

Die Vorschriften im baden-württembergischen PolG ............. 274

Die Zweckänderung nach § 37 Abs. 2 S. 2 PolG BW ................ 276 1. 2.

3. C.

Die Bedeutung der Eingriffsintensität für die Zweckbindungsfrage .......................................... 265

Die Prüfung einer hypothetischen Erhebung nach § 37 Abs. 2 S. 2 PolG BW ........................................... 276 Die Zweckänderung auf gleicher Stufe ...................... 278 a)

Der für die hypothetische Erhebung maßgebliche Zeitpunkt ... 278

b)

Behördenleiter- und Richtervorbehalt ................... 279

c)

Methodik, Erhebungsvoraussetzungen und Eingriffstiefe ...... 280

Die Zweckänderung auf verschiedenen Stufen

281

Zweckbindung und Datenübermittlung ................................ 283 I.

H.

Die Datenübermittlung innerhalb der Polizei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 1.

Der Begriff der Datenübermittlung ......................... 284

2.

Die Ländervorschriften zur Datenübermittlung innerhalb der Polizei .. 285

Die Datenübermittlung innerhalb der Polizei nach dem PolG BW .. . . . . . . 289 1.

Allgemeine Voraussetzungen

289

2.

Der Zweckbindungsgrundsatz

289

Fünfter Teil

Verarbeitung präventiv erhobener Daten zu repressiven Zwecken und repressiv erhobener Daten zu präventiven Zwecken

A.

293

Die Verarbeitung präventiv erhobener Daten zu repressiven Zwecken ... . ....... 293 I.

H.

Die Regelung im baden-württembergischen Polizeigesetz . . . . . . . . . . . . . . 294 I.

Anwendung der Zweckänderungsvorschrift des § 37 Abs. 2 S. 2 PolG BW ........................................... 294

2.

Die Regelungsweite des § 37 Abs. 2 S. 2 PolG BW ............. 296

Die Zweckänderung zur Strafverfolgung nach § 37 Abs. 2 S. 2 PolG BW .. 298 I.

Eingriffsvoraussetzungen für Datenerhebungsmaßnahmen der Gefahrenabwehr und der Strafverfolgung im Vergleich ................. 298 a)

Befragung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301

b)

Einfache Datenerhebungsmaßnahmen ................... 301

c)

Observation ..................................... 302

d)

Einsatz besonderer technischer Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . .. 303

Inhaltsverzeichnis

2. 3.

B.

17

e)

Bild- und Tonaufzeichnungen in offener Vorgehensweise

f)

Verdeckte Bildaufzeichnung ......................... 306

303

g)

Tonaufnahmen und -aufzeichnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 308

h)

Einsatz von Verdeckten Ennittlem ..................... 310

i)

Ausschreibung zur polizeilichen Beobachtung .......... . .. 312

j)

Datenabgleich und Rasterfahndung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313

k)

Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314

Die Zweckänderung bei vergleichbaren Eingriffsvoraussetzungen . . .. 315 Die Zweckänderung bei unterschiedlichen Eingriffsvoraussetzungen .. 316 a)

Unterschiedliche Eingriffsvoraussetzungen für dieselbe Maßnahme ......................................... 317

b)

Die Zweckänderung bei unterschiedlich intensiven Datenerhebungsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 319

c)

Die Zweckänderung bei Datenerhebungsmaßnahmen mit speziellen Grundrechtseingriffen ........................... 322

Die Verarbeitung repressiv erhobener Daten zu präventiven Zwecken ........... 325 I.

11.

Die gesetzlichen Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 326 1.

Regelungen im Strafprozeßrecht .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326

2.

Regelungen in den Länderpolizeigesetzen .................... 327

Die Verwendung präventiv erhobener Daten zu repressiven Zwecken nach dem PolG BW . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 1.

Allgemeine Voraussetzungen ............................. 330

2.

Der Spezialfall der Verwendung von Erkenntnissen aus einer Überwachung des Femmeldeverkehrs nach § l00a StPO ............. 333

Wesentliche Ergebnisse ............................................... 339 Synopse Vergleichende Gegenüberstellung der Datenerhebungs- und -verarbeitungsvorschriften in den Polizeigesetzen der Länder

345

A.

Zitierte Gesetze und Abkürzungen ................................... 345

B.

Regelungen zur Zweckbindung und -änderung präventiv erhobener Daten ........ 348

C.

Regelungen zur Zweckänderung repressiv erlangter Daten zu präventiven Zwecken . 355

D.

Besondere Regelungen zur Verarbeitung von Daten zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten und zum Schutz mitbetroffener Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 361

E.

Hauptregelungen zur Datenübennittlung ............................... 368

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 2 Waiden

Einleitung A. Informationsgesellschaft und Polizei Nachdem die Bedrohung durch extremistische Aktivitäten in der Bundesrepublik Deutschland zumindest dem Anschein nach abgenommen hat', sind andere Felder der Kriminalität verstärkt in das Licht des öffentlichen Interesses gerückt. Als eine der zentralen Herausforderungen an die Kriminalpolitik der Zukunft wird von vielen Seiten die Bekämpfung der sogenannten Organisierten Kriminalität angesehen2• Auch der Begriff der inneren Sicherheit findet im tagespolitischen Geschehen immer stärkere Verwendung 3 • Die Aufrechterhaltung von innerem Frieden und innerer Sicherheit stellt nach wie vor einen der zentralen Legitimationsgründe für den modernen Staat und das staatliche Gewaltmonopol dar4 • Innere Sicherheit kann aber nur dann gewährleistet sein, wenn die geltende Rechtsordnung von dem Staat und seinen Bürgern eingehalten wird - eine Voraussetzung, die auch in friedvollen Zeiten in der Diskussion nicht vergessen werden sollte5 • Die innere Sicherheit in der Bundesrepublik weist in den letzten Jahren eine negative Entwicklungstendenz auf. Ein Blick auf die Straftatenstatistik der vergangenen Jahre zeigt einen deutlichen Anstieg bei Straftaten vor allem gegen das Eigentum und auch gegen Personen6 • So wies die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) des Bundeskriminalamts im Berichtsjahr 1992 für die alten

I

Vgl. hierzu Kanther, in: Innere Sicherheit, S. 13 f.

2

Vgl. Glauben, DRiZ 1993,41 ff.

Kanther, in: Innere Sicherheit, S. 7 ff.; Leutheusser-Schnarrenberger, Innere Sicherheit, S. 1 ff.; zur europäischen Dimension vgl. Pitschas, NVwZ 1994, 625 ff. 3

4 Würtenberger, in: Zeitschrift zur politischen Bildung 2/1993, S. 10 ff.; Pitschas, JZ 1993, 857 f.

5

Würtenberger, in: Innere Sicherheit im ländlichen Raum, S. 4.

Zachert, in: Zeitschrift zur politischen Bildung 2/ 1993, S. 15 ff.; vgl. auch die Übersicht bezüglich der Veränderungen von Bevölkerungszahl, Gesamtzahl der registrierten Straftaten und Gesamthäufigkeitszahl seit 1963, in: PKS 1993, S. 15. 6

20

Einleitung

Bundesländer? insgesamt rund 5,21 Millionen Straftaten aus, was eine Steigerung gegenüber dem Vorjahr von 9,6 % bedeutet8 • Im Berichtsjahr 1993 wurden in den alten Bundesländern rund 5,35 Millionen Straftaten registriert, eine Steigerung gegenüber dem Vorjahr von 2,7 %9. Mit dieser Kriminalitätsentwicklung geht eine zunehmende Gewaltbereitschaft in der Bevölkerung eil}her, deren Wurzeln in Faktoren wie den Versuchen der Rechtfertigung politisch motivierter Gewalt seit den 70er Jahren, der permanenten Präsentation von Gewalt in den Medien, sozialen Problemen (z.B. Arbeitslosigkeit), mangelnder Toleranz oder fehlendem Rechtsbewußtsein zu finden sind lO • Bei dieser Entwicklung mag es kaum verwundern, daß sich in Teilen der Bevölkerung offensichtlich der Eindruck gebildet hat, Straftätern werde nicht immer mit der gebotenen Entschlossenheit entgegengetreten 11. In der B undesrepublik läßt sich in diesem Sinne eine wachsende Verbrechensangst feststellen. Das Gefühl der Unsicherheit stieg von 1990 bis 1993 fast auf das Dreifache. Während 1990 nur 23,2 Prozent der Bevölkerung ein Angstgefühl vor Kriminalität bekundeten, waren es drei Jahre später schon 63,7 Prozent 12 • Das Thema der inneren Sicherheit erhält bei dieser Tendenz besondere politische Spreng-

1 Bei den seit dem 1. Januar 1991 auch für die neuen Bundesländer erstellten Kriminalstatistiken sind die PKS-Daten wegen Anlaufschwierigkeiten in den Berichtsjahren 1991 und 1992 viel zu niedrig ausgefallen, so daß sie keine brauchbare Basis für einen Vergleich mit den Daten der Folgejahre bieten, PKS 1992, S. 14, PKS 1993, S. 14. Im Vergleich wird sich daher im nachfolgenden nur auf die Zahlen der alten Bundesländer bezogen.

• Bundeskriminalamt, PKS 1992, S. 14. • Bundeskriminalamt, PKS 1993, S. 14. 10 Vgl. zum Nachweis der zunehmenden Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft die Untersuchungen der Gewaltkommission der Bundesregierung: Schwind / Baumann u.a. (Hg.), Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt. Analysen und Vorschläge der unabhängigen Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt (Gewaltkommission), Bde. 1-4. Zu den Ursachen vgl. ebenda, insbesondere Bd. I, S. 76 ff.; Würtenberger, in: Innere Sicherheit im ländlichen Raum, S. 4 (5) m.Nw.

11

Zachert, in: Zeitschrift zur politischen Bildung 2/1993, S. 15 (16 f.).

So eine Studie der Forschungsgruppe Kriminologie am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg, vgl. Artikel "Verbrechen ängstigen Deutsche immer mehr" in der Badischen Zeitung vom 18. Januar 1995, S. 1. Als Grund für diese Entwicklung wird aber nicht nur die vor allem gestiegene Zahl an Straftaten in Ostdeutschland seit dem Fall der Mauer angeführt, sondern auch die Berichterstattung "mit reißerischen Aufmachern über Straftaten wie schwere Körperverletzung und Vergewaltigung". Zum Bedrohtheitsgefühl vgl. auch schon Schwind / Baumann u.a. (Hg.), Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt. Analysen und Vorschläge der unabhägigen Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt (Gewaltkommission), Bd. I, S. 44 f. 12

A. Informationsgesellschaft und Polizei

21

kraft. Denn wenn der Bürger nicht mehr auf eine wirksame polizeiliche Tätigkeit vertraut, gerät das rechtsstaatliche Gewaltmonopol in Gefahr 13 • Erforderlich sind daher Wege für eine wirkungsvolle Gefahrenabwehr und Bekämpfung der Kriminalität zur Stärkung der inneren Sicherheit. Durch veränderte Kriminalitätsstrukturen einerseits sowie gesteigerte Datenschutzbelange andererseits entstandene Lücken in der geltenden Gesetzeslage werden mit neuen Gesetzen geschlossen 1\ wie es beispielsweise das Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalitäe S, das Verbrechensbekämpfungsgesetz 1994 16 oder zuletzt der Entwurf eines Strafverfahrensänderungsgesetzes 1994 des Bundesrates 17 zeigen. Ansonsten bieten die für die Wahrung der inneren Sicherheit relevanten bestehenden Gesetze bei einer konsequenten und effektiven Anwendung eine umfassende Handlungsgrundlage für Reaktionen des Staates 18. Eine zentrale Rolle kommt in diesem Bereich der Polizei zu, die in ihrer doppelfunktionalen Tätigkeit sowohl der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung als auch der Strafverfolgung verpflichtet ist. Die Tätigkeit der Polizei läßt sich heutzutage aber nicht mehr allein aus dem Blickwinkel "Bürger gegen gefahren abwehrender Staat" betrachten. Aus den Grundrechten ergeben sich für den Staat Pflichten, sich schützend vor die durch die Grundrechte gewährleisteten Rechtsgüter seiner Bürger zu stellen 19. Schützt die Polizei beispielsweise den Demonstranten vor gewalttätigen Gegendemonstranten, so werden diesem de facto durch das polizeiliche Tätigwerden staatliche

13 Schwind / Baurnann u.a. (Hg.), Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt. Analysen und Vorschläge der unabhängigen Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt (Gewaltkommission), Bd. I, S. 49 ff. (insbesondere S. 51, Rdnr. 83-85). Vorformen der Selbstjustiz zeichnen sich bereits heutzutage bei dem immer mehr an Bedeutung gewinnendem privaten Bewachungsgewerbe ab, vgl. Würtenberger / Heckmann / Riggert, Rdnr. 28 m.Nw. 14

Leutheusser-Schnarrenberger, Innere Sicherheit, S. 7 f.

IS

In der Fassung der Bekanntmachung vom 15. Juli 1992 (BGBI. I S. 1302).

16

In der Fassung der Bekanntmachung vom 4. November 1994 (BGBI. I S. 3186).

17

Beschluß vom 14. Oktober 1994, Drs. 620/94.

IR Kanther, in: Innere Sicherheit, S. 7; Leutheusser-Schnarrenberger, Innere Sicherheit, S. VI, S. 7; vgl. auch Würtenberger, in: Zeitschrift zur politischen Bildung 2/1993, S. 10 (12 f.); zur europäischen Perspektive vgl. Pitschas, ZRP 1993, 174 ff.; NVwZ 1994, 625 ff. 19 Vgl. zu den grundrechtlichen Schutzpflichten BVerfGE 39, 1 (42, 47); 46, 160 (164); 49, 89 (140 ff.); 53, 30 (57); 56, 54 (73 ff.); Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992; Herrnes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987; Klein, DVBI. 1994, 489 ff.

22

Einleitung

Leistungen zuteieo. Der Polizei obliegt damit auch der Schutz von Rechtspositionen des einzelnen gegenüber Dritten, so daß polizeiliche Tätigkeit auch aus dem Blickwinkel "Bürger gegen Mitbürger" betrachtet werden muß 21 . Spricht man heutzutage von einem Tätigwerden der Polizei, so kann dies eben nicht nur einen Eingriff zu Lasten eines Bürgers (z.B. des Störers), sondern gleichzeitig auch einen Eingriff zugunsten eines Bürgers (z.B. des Gestörten) bedeuten 22 . In einer Zeit, in der die Informationserhebung und -weiterverarbeitung in der Gesellschaft eine immer größere Rolle spielt und eine immer ausgereiftere Technologie einen quantitativ als auch qualitativ gesteigerten Umgang mit Daten ermöglicht, kann auch der Polizei der Rückgriff auf neue Informationstechniken zum Zweck der Gefahrenabwehr und Strafverfolgung nicht verwehrt bleiben. Nicht umsonst wird heutzutage allgemein von einer "Transformation unserer Industriegesellschaft in eine sogenannte Informationsgesellschaft"23 gesprochen. Insbesondere die Organisierte Kriminalität arbeitet heute mit Hilfe konspirativer Methoden und dringt mit ihren straff geführten, hierarchisch gegliederten und arbeitsteilig vorgehenden kriminellen Organisationen immer tiefer in das Wirtschafts- und Gesellschaftssystem ein. Hier zeichnen sich gravierende Strukturveränderungen ab, denen mit den tradierten Instrumenten kaum beizukommen ist, will man befriedigende Aufklärungs- und Abschreckungserfolge erzielen 24 . Daten, im speziellen die Datenerhebung und die Datenverarbeitung im präventiven und repressiven polizeilichen Tätigkeitsbereich, sind danach für die Wahrnehmung der polizeilichen Aufgaben unverzichtbar und daher Gegenstand der nachfolgenden Untersuchungen.

20 Würtenberger / Heckmann / Riggert, Rdnr. 22; von Unruh, DVBI. 1972, 469 (473 ff.); vgl. auch Martens, DÖV 1982,89 (90). 21 Würtenberger, in: Innere Sicherheit im ländlichen Raum, S. 4 (10); Martens, DÖV 1982, 89 (96).

22 Insofern überzeugt es auch nicht, wenn vor allem im Hinblick auf die vorbeugenden Maßnahmen der Poilzei der Weg hin zu einem Präventions- oder Überwachungs staat als geebnet angesehen wird. In diese Richtung allerdings weisen Bö/sehe, Der Weg in den Überwachungsstaat, 1979 (insbesondere S. 35 ff.); Hund, NJW 1992, 2118 ff. Vielmehr muß man sich vergegenwärtigen, daß selbst in Übergangszeiten verstärkter Rechtsdurchsetzung der Einsatz (polizeilichen) Zwanges zumindest eine mittelbare Legitimation darin findet, IIaß den gesetzlich festgelegten Verhaltensnormen im Interesse eines gemeinverträglichen Zusammenlebens Geltung verschafft wird, Würtenberger, in: Innere Sicherheit im ländlichen Raum, S. 4 (10). 23

Lübbe, Die politische Meinung, Nr. 302 (1 I 1995), 45.

Kanther, in: Innere Sicherheit, S. 8; vgl. auch Leutheusser-Schnarrenberger, Innere Sicherheit, S. 14 ff. 24

A. Infonnationsgesellschaft und Polizei

23

Besteht über die Notwendigkeit der Datenerhebung und -verarbeitung im Bereich der Polizei grundsätzlich Einigkeit, so herrscht in der konkreten Umsetzung doch ein nicht endender Streit mit nahezu gegenläufigen Positionen. Dies mag nur auf den ersten Blick verwundern: Gerade im Datenerhebungs- und -verarbeitungsbereich treffen Individualinteressen und Interessen der Allgemeinheit beinahe unauflöslich zusammen. Auf der einen Seite steht das Geheimhaltungsinteresse des einzelnen an seinen persönlichen Daten. Auf der anderen Seite gibt es ein umfassendes Informationsbedürfnis des Staates an entsprechenden Daten seiner Bürger, um Gefahren wirksam abzuwehren und Straftaten aufklären zu können. Wird davon gesprochen, daß datenschutzrechtliche Bestimmungen nicht das Ziel haben können, den Straftäter oder Verdächtigen zu schützen25 , oder daß der "anständige Bürger" keinen Datenschutz brauche, weil er nichts zu verbergen habe, so verdeutlichen solche Positionen zunächst nur eine Seite der insgesamt zu berücksichtigenden Aspekte 26 • Denn wenn einerseits im demokratischen Rechtsstaat die innere Sicherheit gewährleistet sein muß, darf andererseits die Gewährleistung aber auch nur mit rechtsstaatlichen Mitteln erfolgen. Hier kann es zu Kollisionen innerhalb des Rechtsstaatsprinzips kommen, wobei die unterschiedlichen Anforderungen aus dem gleichen Verfassungsprinzip im Sinne einer praktischen Konkordanz gewichtet und begrenzt werden müssen 27 • Letztendlich spielt sich die Diskussion dabei zwischen zwei Polen ab: Ein Maximum an innerer Sicherheit ließe sich erreichen, wenn die persönliche Freiheit des einzelnen und die Liberalität in der Gesellschaft verstärkt beschränkt würden. Hier würde sich staatliches Handeln an dem Grundsatz "im Zweifel für die Sicherheit" ausrichten. Das Gegenstück hierzu würde der Grundsatz "im Zweifel für die Freiheit" darstellen, nach dem Maxime staatlichen Handeins die größtmögliche Gewährleistung persönlicher und gesellschaftlicher Freiheit wäre. Weder mit dem Extrem "Freiheit in Unsicherheit" noch mit dem Extrem "Unsicherheit in Freiheit" wird man letztendlich jedoch den Anforderungen des demokratischen Staatswesens gerecht, so daß Kompromisse geschlossen werden müssen 28 •

25

Vgl. Bäumler, Kriminalistik 1992,75.

2. Vgl. nur die Widerlegung der These, daß der "anständige Bürger" keinen Datenschutz brauche, bei Heußner, ArbuR 1985, 309 (312). 27 Würtenberger, in: Innere Sicherheit im ländlichen Raum, S. 4 (12), unter Bezug auf Hesse, Rdnr. 317 ff.

2. Würtenberger, in: Innere Sicherheit im ländlichen Raum, S. 4 (12).

Einleitung

24

Polizeirecht und Strafprozeßrecht stellen inzwischen eine Reihe von Ermächtigungsgrundlagen zur Datenerhebung und -verarbeitung zur Verfügung, bei denen der so notwendige Ausgleich zwischen Sicherheits- und Freiheitsbelangen getroffen wurde. Aufgrund der Anforderungen, die das Bundesverfassungsgericht im Volkszählungsurteil vorn 15. Dezember 1983 29 zur Berücksichtigung des Persänlichkeitsschutzes an gesetzliche Regelungen zur Datenerhebung und -verarbeitung aufstellte, waren dabei umfangreiche Neuregelungen durch den Bundesgesetzgeber und die Landesgesetzgeber notwendig. In den Gesetzesmaterialien läßt sich so zumeist auch der deutliche Hinweis finden, daß die Gesetzesnovellierungen auf die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts im Volkszählungsurteil zurückzuführen sind30 • Insbesondere der Zweckbindungsgrundsatz hat Eingang in die einschlägigen gesetzlichen Normen gefunden. Den Aussagen des Volkszählungsurteils zufolge ist der Gesetzgeber gehalten, bei gesetzlichen Grundlagen für Eingriffe in das informationelle Selbstbestimmungsrecht den Verwendungszweck der erhobenen Daten bereichsspezifisch und präzise zu bestimmen 3l • So ist in Baden-Württemberg nach § 37 Abs. 2 S. 1 PoIG32 "die Speicherung, Veränderung und Nutzung personenbezogener Daten nur zu dem Zweck zulässig, zu dem die Daten auch erlangt worden sind". Nach § 37 Abs. 2 S. 2 PolG ist die Verwendung von Daten zu einern anderen Zweck als dem Erhebungszweck (Zweckänderung) zulässig, "soweit die Polizei die Daten zu diesem Zweck erheben dürfte". Von zentraler Bedeutung und dennoch weitgehend ungeklärt ist aber die Frage, wie

29 Urteil zum Gesetz über eine Volks-, Berufs-, Wohnungs- und Arbeitsstättenzählung (Volkszählungsgesetz 1983) vom 25. März 1982 (BGBI. I S. 369) - VZG 1983 -, BVerfGE 65, I ff.; vulgo: Volkszählungsurteil.

30 So für die Novellierung des Polizeigesetzes in Baden-Württemberg im Jahr 1991 LT-Drs. 10 I 5230, S. 30; vgl. zuletzt auch den Entwurf eines Strafverfahrensänderungsgesetzes 1994 (StV ÄG 1994) des Bundesrates vom 14. Oktober 1994, Drs. 620 I 94, S. 1 ["Mit dem Gesetzentwurf soll der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, insbesondere dem Urteil vom 15. Dezember 1983 zum Volkszählungsgesetz 1983 (BVerfGE 65, S. I ff.), Rc;chnung getragen werden."].

31

BVerfGE 65, I (46).

Polizeigesetz (PoIG) in der Fassung vom 13. Januar 1992 (GBI. S. I, berichtigt S. 596; GBI. 1993, S. 55; geändert durch Art. 10 RBerG vom 7. Februar 1994, GBI. S. 73). Das Polizeigesetz des Landes Baden-Württemberg wird im nachfolgenden mit PolG bezeichnet; Vorschriften anderer Bundesländer sind entsprechend gesondert ausgewiesen. Vgl. für eine Übersicht über die neuen Datenerhebungs- und -verarbeitungsvorschriften im PolG die Darstellungen bei Heckmann, VBIBW 1992,164 ff., 203 ff.; Je/den / Fischer, BWVP 1992, 79 ff.; Messner, BWVP 1992, 193 ff., 228 ff.; Mußmann, Rdnr. 390 ff.; Reichert / Ruder, Rdnr. 395 ff.; Wolf / Stephan, §§ 19 ff. PoIG; Würtenberger / Heckmann / Riggert, Rdnr. 353 ff.; Würz, Rdnr. 74 ff., 302 ff. J2

A. Informationsgesellschaft und Polizei

25

weit die Zweckbindung einer Datenerhebung reicht, und ab wann von einer Zweckänderung gesprochen werden muß 33 • Ziel dieser Untersuchung ist es, Lösungswege für diese auch in der Praxis bedeutsame Frage aufzuzeigen. Den Untersuchungen ist jedoch grundsätzlich vorauszuschicken, daß die Regelungen zur Zweckbindung in Kombination mit den gesetzlichen Ermächtigungen zur Zweckänderung im Ergebnis nicht für die Polizei zu einem umfangreichen Befassungsverbot mit Daten führen dürfen. Der überwiegende Teil polizeilicher Tätigkeit setzt personenbezogene Daten voraus. Da trotz Gefahrenabwehr und entsprechenden Vorbeugemaßnahmen das Auftreten von neuen Gefahren zu den gesellschaftlichen Realitäten gehört, genau wie trotz Strafrecht und Strafverfolgungsmaßnahmen die Kriminalität eine nicht völlig ausschaltbare Begleiterscheinung des gesellschaftlichen Zusammenlebens darstellt34, wird auch die Polizei stets auf ein gewisses Datenreservoir angewiesen sein. Eine zu restriktive Handhabung der Zweckbindungs- und Zweckänderungsfrage im Datenschutzbereich darf nicht zu einer generellen Staatsverhinderung führen 35 • Bei einer extensiven Auslegung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung würde man auf ein Grundproblem extensiver Verfassungsinterpretationen stoßen: Verfassungsrechtliche Verbürgungen, die auf spezielle Problemlagen abgestimmt sind, werden in ihrem Anwendungsbereich zunächst stark ausgeweitet. Zur Vermeidung unhaltbarer und unrealistischer Resultate (ein solches wäre beispielsweise die Verhinderung polizeilicher Tätigkeit durch ein umfangreiches Befassungsverbot mit personen bezogenen Daten) müssen die konkreten Garantieinhalte im Anschluß jedoch abgeschwächt werden. Im Endergebnis wird damit die weite Ursprungsverbürgung wieder hinfällig36 • Eine zu restriktive Handhabung der Zweckbindungs- und Zweckänderungsfrage ist daher vor allem dann bedenklich, wenn sie zu dem unverhältnismäßigen Ergebnis führt, daß der Polizei der Großteil der notwendigen Daten vorenthalten werden soll. Ferner müssen die Zweckbindungs- und Zweckänderungsvorschriften für die Polizei auch vollziehbar sein. Hat der Gesetzgeber umfassende Regelungen zur Zweckbindung und insbesondere auch zur Zweckänderung vorgesehen, muß die Poli~ei für ihre Umsetzung in die Praxis sorgen. Werden aufgrund einer zu restriktiven Interpretation angemessene Maßnahmen der Datenverwendung un-

33 Vgl. Würtenberger / Heckmann / Riggert, Rdnr. 418a; eine ähnliche Fragestellung ergibt sich im europäischen Bereich für das Schengener Informationssystem, vgl. Scheller, JZ 1992, 904 (910). 34

Würtenberger, in: Innere Sicherheit im ländlichen Raum, S. 4 (13).

35

Vgl. Kloepfer, Datenschutz als Grundrecht, S. 23.

36

Ebenda.

26

Einleitung

terlassen, stößt das auf erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken. Denn unterläßt die Polizei an sich erforderliche Maßnahmen, werden zwangsläufig die zu schützenden Rechtsgüter der Bürger wie Leben, Gesundheit und Eigentum zur Disposition gestellt. Sowohl der Gesetzgeber als auch die vollziehende Verwaltung sind jedoch verpflichtet, die sich aus den Grundrechten und dem Rechtsstaatsprinzips ergebenden Schutzpflichten wahrzunehmen3?; Lösungen zu den Fragen der Zweckbindung polizeilicher Datenerhebungen und der Möglichkeiten der Zweckänderung lassen sich daher nur zwischen diesen Eckpunkten finden.

B. Problemstellung und Gang der Untersuchung Die vorliegende Arbeit nähert sich dem Problemfeld der Zweckbindung und -änderung präventiv und repressiv erhobener Daten bei der Polizei in fünf Untersuchungsschritten: 1. Die Rechtsentwicklung im Polizeirecht ist durch das Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts maßgeblich geprägt worden. Da die überkommenen Regelungen zum Datenschutzrecht den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts zumeist nicht entsprachen, wurden als Reaktion auf das Volkszählungsurteil auf Bundes- und Landesebene umfangreiche Neuregelungen zum Datenschutz vorgenommen. Eine Untersuchung der einschlägigen Normen kann daher nur innerhalb des verfassungsrechtlichen Bezugsrahmens erfolgen, der in einem ersten Teil der Arbeit näher analysiert wird. Dabei wird insbesondere Augenmerk darauf zu richten sein, wie das Bundesverfassungsgericht das bereits angesprochene Spannungsverhältnis zwischen den Interessen des einzelnen und der Gemeinschaft gelöst sehen will. 2. In einem zweiten Teil wird zunächst der Begriff ,,zweck" und die Funktion des Zwecks im menschlichen Handlungsablauf näher untersucht. Dabei werden Kriterien zu entwickeln sein, wie der Zweckinhalt einer polizeilichen Datenerhebung gerichtlich nachprüfbar bestimmt werden kann. In diesem Zusammenhang wird besonders auf das Zweckbindungsgebot des Bundesverfassungsgerichts im Volkszählungsurteil eingegangen. Hier wird auch zu fragen sein, ob

37 Würtenberger, in: Innere Sicherheit im ländlichen Raum. S. 4 (13) mit Verweis auf den von Canaris, AcP 184 (1984), 201 (228), geprägten rechtsdogmatischen Begriff des Untermaßverbotes.

B. Problemstellung und Gang der Untersuchung

27

die Zweckbindungslehre erst seit dem Volkszählungsurteil Bedeutung besitzt, oder ob ihre Anfänge wesentlich weiter zurückreichen. Mit der Anforderung des Bundesverfassungsgerichts an den Gesetzgeber, in seinen Gesetzen den Verwendungs zweck von Daten bereichs spezifisch und präzise zu bestimmen38 , stellt sich zudem die Frage, welcher Grad der Präzision erforderlich ist. Ist dem Gesetzgeber nunmehr die Verwendung generalklauselartiger Ermächtigungsgrundlagen versagt? Auch hierauf wird eine Antwort zu finden sein. 3. Im dritten Teil stehen die doppelfunktionalen Maßnahmen der Polizei im Mittelpunkt des Interesses. Neben einer Einordnung polizeilicher Maßnahmen im Vorfeld der konkreten Gefahrenabwehr und Strafverfolgung wird zunächst geklärt werden, unter welchen Umständen von einer doppelfunktionalen Maßnahme der Polizei gesprochen werden kann. Daran schließt sich die Untersuchung an, ob die Polizei eine doppelfunktionale Maßnahme gleichzeitig sowohl auf das Recht der Gefahrenabwehr als auch auf das Strafverfolgungsrecht stützen kann. Die Antwort hierauf kann entscheidende Bedeutung besitzen, da die Festlegung des anzuwendenden Rechts möglicherweise auch Konsequenzen für die nachfolgenden Phasen der Datenverarbeitung (insbesondere für die Zweckänderung) haben kann. Auch wird näher zu überprüfen sein, ob Gefahrenabwehr und Strafverfolgung grundsätzlich zwei unterschiedliche Zwecke bei der Datenerhebung und -verarbeitung darstellen. 4. Durch § 37 Abs. 2 S. 1 PolG wird die Speicherung, Veränderung und Nutzung personenbezogener Daten zunächst nur zu dem Zweck für zulässig erklärt, zu dem die Daten erlangt worden sind. Weitgehend ungeklärt ist dabei bislang aber die notwendige Bestimmung der Reichweite der Zweckbindung von Datenerhebungen. Die speichernde Stelle kann den mit der Datenerhebung verfolgten Zweck sehr weit und damit sehr allgemein fassen (so daß die Wahrscheinlichkeit einer Zweckänderung gering ist) oder auch sehr eng und konkret (so daß die Stufe einer Zweckänderung relativ schnell erreicht ist). Eine inhaltliche Eingrenzung der Zweckbindung ist gedanklich auf mehreren Stufen möglich 39 • Die Datenerhebung im Rahmen eines Diebstahlversuchs kann beispielsweise auf einer weiten ersten Stufe der generellen Gefahrenabwehr oder Strafverfolgung dienen. Eine nähere Konkretisierung des Zwecks läßt sich dadurch erreichen, daß man auf die Gruppe der Gefahr oder Straftat, im Beispiel also auf die

38

Vgl. BVerfGE 65, 1 (46).

39

Vgl. Würtenberger / Heckmann / Riggert, Rdnr. 418a.

28

Einleitung

Gruppe der Diebstähle abstellt. Noch konkreter ist die Begrenzung des Zwecks auf den Einzelfall, im Beispiel auf den konkret versuchten Diebstahl. Innerhalb dieses Einzelfalles ließe sich wiederum eine Unterteilung nach Teilzwecken wie Beweissicherung oder Selbstschutz des handelnden Beamten durchführen. Während eine weite Auslegung die Wahrnehmung staatlicher Aufgaben im Bereich der Gefahrenabwehr und Strafverfolgung erleichtert, bringt dies zugleich einen weitgehenden Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung mit sich. Die entgegengesetzte Fallkonstellation einer möglichst engen Zweckbindung gewährleistet zwar einen ausgeprägten Schutz des Selbstbestimmungsrechts, sie darf jedoch nicht zu einer starken Behinderung oder gar Verhinderung präventiver und repressiver Polizeitätigkeit führen. Erforderlich sind also praktikable Kriterien zur Durchführung der notwendigen Interessenabwägung, die im 4. Teil entwickelt werden sollen. Sieht das Gesetz die Möglichkeit einer Zweckänderung unter der Voraussetzung vor, daß die Polizei die Daten auch zu dem geänderten Zweck erheben dürfte (§ 37 Abs. 2 S. 2 PoIG), so stellt sich die Frage, inwieweit bei einer entsprechenden Anwendung die Art bzw. Methode der Erstdatenerhebung mit zu berücksichtigen ist. Behandelt wird die Frage, ob es bei einer Zweckänderung einen Unterschied macht, wenn das Datum durch eine einfache Befragung oder verdeckt unter Einsatz technischer Mittel gewonnen wurde. 5. Beschränken sich die Untersuchungen im vorangehenden 4. Teil auf die Frage der Zweckbindung und -änderung allein im präventiven Tätigkeitsbereich der Polizei, so ist abschließend zu untersuchen, unter welchen Bedingungen präventiv erhobene Daten zu repressiven Zwecken und umgekehrt repressiv erhobene Daten zu präventiven Zwecken verwendet werden können. Neben einer Analyse der Rechtsgrundlagen zur Zweckänderung bedarf es einer Klärung, ob formelle und materielle Unterschiede zwischen präventiven und repressiven Erhebungsnormen bestehen, und welche Folgen dies gegebenenfalls für eine spätere Zweckänderung hat.

Erster Teil

Verfassungsrechtliche Grundlagen Die datenschutzrechtliche Entwicklung im Polizeirecht ist durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Volkszählungsgesetz vom 15. Dezember 1983 1 maßgeblich geprägt worden2 • Da die bis zu diesem Zeitpunkt auf das

I

BVerfGE 65, I ff.

1 Vgl. zu den Auswirkungen des Urteils Amelung, Infonnationsbeherrschungsrechte im Strafprozeß, S. 30 ff.; Bäumler, Das Recht auf infonnationelle Selbstbestimmung im Sicherheitsbereich und der maschinenlesbare Ausweis, in: Freiheitssicherung durch Datenschutz, S. 235 ff.; ders., ÖVD 1985, 120 ff.; ders., JR 1984,361 ff.; ders., eR 1989, 1008 ff.; Benda, HdBdVerfR, § 6, Rdnr. 36; Brossette, Der Wert der Wahrheit im Schatten des Rechts auf infonnationelle Selbstbestimmung, Berlin 1991; Bull (Hg.), Sicherheit durch Gesetze, 1987; ders., Vom Datenschutz zum Infonnationsrecht - Hoffnungen und Enttäuschungen, in: Freiheitssicherung durch Datenschutz, S. 173 ff.; Dammann, NVwZ 1991, 640 ff.; Denninger, Das Recht auf infonnationelle Selbstbestimmung, in: Freiheitssicherung durch Datenschutz, S. 127 ff.; ders., Das Recht auf infonnationelle Selbstbestimmung und Innere Sicherheit, Rechtsgutachten erstattet im Auftrag des Hessischen Ministerpräsidenten, in: Infonnationsgesellschaft oder Überwachungsstaat, 285 ff.; ders., KJ 1985, 215 ff.; ders., eR 1988, 51 ff.; Deutsch, Die heimliche Erhebung von Infonnationen, S. 67 ff.; Ehmann, eR 1988,575 ff.; Fuckner, eR 1988, 411 ff.; Graulich, NVwZ 1991,648 ff.; Heußner, RDV 1988,7 ff.; Hohmann (Hg.), Freiheitssicherung durch Datenschutz, 1987; Hessische Staatskanzlei (Hg.), Infonnationsgesellschaft oder Überwachungsstaat, Symposium der Hessischen Landesregierung, Bd. I: Gutachten, Bd. 11: Protokolle, 1984; Karaus, Der Grundrechtliche Schutz der Privatsphäre bei der Erhebung, Verarbeitung und Weitergabe von statistischen Daten, Diss. Tübingen 1985; Knemeyer, NVwZ 1988, 193 ff.; Kniesei / Tegtmeyer / Vahle, Handbuch des Datenschutzes, S. 130 ff.; Kniesei / Vahle, Polizeiliche Informationsverarbeitung und Datenschutz im künftigen Polizeirecht, 1990; Kowalczyk, Datenschutz im Polizeirecht, S. 7 ff.; Krause, JuS 1984,268 ff.; Krüger, DÖV 1990,641 ff.; Langer, Infonnationsfreiheit als Grenze infonnationeller Selbstbestimmung, Berlin 1992; Lisken, NWVBL 1990,325 ff.; ders., ZRP 1990, 15 ff.; Lisken / Mokros, NVwZ 1991,609 ff.; Mandelartz, DVBI. 1989,704 ff.; Merten / Merten, ZRP 1991,213 ff.; Pitschas / Aulehner, NJW 1989,2353 ff.; Rachor, Vorbeugende Straftatenbekärnpfung, S. I ff., S. 224 ff.; Riegel, RiA 1984, 121 ff.; ders., eR 1986, 138 ff.; ders., DuD 1988,277 ff.; ders., Die Polizei 1991, I ff.; ders., RDV 1990,232 ff.; Riotte / Tegtmeyer, NWVBL 1990, 145 ff.; Simitis, NJW 1984,398 ff.; ders., NJW 1986, 2795 ff.; ders., eR 1987,602 ff.; Simitis / Fuckner, NJW 1990,2713 ff.; Schlink, Der Staat 25 (1986), 233 ff.; Schneider, DÖV 1984,161 ff.; Scholz/ Pitschas, Infonnationelle Selbstbestimmung, S. II ff.; Schoreit, ZRP 1987, 153 ff.; Schwan, Auf dem Weg zum Überwachungsstaat? Plädoyer für eine rechtsstaatliche Datenverarbeitung der Polizei, in: Freiheitssicherung durch Datenschutz, S. 276 ff.; Schweckendieck, ZRP 1989, 125 ff.; Steinmüller u.a., Grundfragen des Datenschutzes - Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums des Innem, BT-Drs. VI/ 3826; Vogelgesang, Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, 1987; ders.,

1. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlagen

30

überkommene Polizeirecht gestützte Datenerhebung und -verarbeitung nicht mehr den vom Bundesverfassungsgericht im Volkszählungsurteil skizzierten Anforderungen an einen personenbezogenen Datenumgang entsprach, wurden umfangreiche Neuregelungen im Polizeirecht erforderlich. Für das Land Baden-Württemberg wurden mit dem Gesetz zur Änderung des Polizeigesetzes vom 22. Oktober 1991 3 entsprechende Neuregelungen zur polizeilichen Datenerhebung und -verarbeitung in der Form von nicht weniger als zwanzig neuen Paragraphen mit ca. hundert Absätzen in das Polizeigesetz eingefügt. Wenn schon in den Gesetzgebungsmaterialien kein Zweifel daran gelassen wird, daß bei der Novellierung des Polizeigesetzes ausdrücklich auf das Volkszählungsurteil zurückgegriffen wurde4 , so verdeutlicht dies, daß eine Analyse der Neuregelungen zur polizeilichen Datenerhebung und -verarbeitung - insbesondere zum Aspekt der Zweckbindung - kaum ohne den verfassungsrechtlichen Bezugsrahmen möglich ist. Somit werden zunächst die Aussagen des Bundesverfassungsgerichts im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen.

A. Vorüberlegungen Mit der Anerkennung eines "informationellen Selbstbestimmungsrechts" des einzelnen, d.h. der "aus dem Gedanken der Selbstbestimmung folgenden Befugnis des Einzelnen, grundSätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden"s, stellt das Bundesverfassungsgericht neue Maßstäbe im Datenschutz auF. Zwar wurde kein neues Grundrecht geschaffen 7 , denn das informationelle Selbstbestim-

DVBI. 1989,962 ff.; Wellbrock, eR 1986, 149 ff.; Weßlau, Vorfeldennittlungen, 1989; Wolter, GA 1988, 49 ff., 129 ff.; zu den Auswirkungen im speziellen für das bad.-württ. PolG Heckmann, VBIBW 1992, 164 (165); Mußmann, Rdnr. 390; Reichert / Ruder, Rdnr. 395; Würtenberger / Heckmann / Riggert, Rdnr. 353; Würz, Rdnr. 1. 3

GBI. S. 625; Neubekanntmachung vom 13. Januar 1992, GBI. S. 1.

4

LT-Drs. 10 /5230, S. 30.

s BVerfGE 65, 1 (42). 6 Heckmann, VBIBW 1992, 164 (165) hält zu Recht fest, daß die Verwendung des Begriffs "Datenschutz" ungenau ist, da der Schutz von Persönlichkeit und Privatsphäre eigentlich Inhalt des sogenannten Datenschutzes ist. Wegen des allgemeinen Gebrauchs des Begriffs "Datenschutz" oder auch "datenrelevante Maßnahme" wird entsprechende Terminologie aber im Fortgang weiter angewandt.

1

Benda, DuD 1984, 86 (89); Heußner, ArbuR 1985,309 (313).

A. Vorüberlegungen

31

mungsrecht wurde aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG abgeleitet. Dennoch erlangte der Datenschutz mit dem Volkszählungsurteil in besonderem Maße verfassungsrechtliche Bedeutung8 • Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung wird nicht schrankenlos gewährt. So sehr eine größtmögliche Autonomie des einzelnen in datenrechtlicher Hinsicht erstrebenswert ist, muß dennoch berücksichtigt werden, daß der einzelne nicht isoliert lebt, sondern Teil der Gesellschaft ist. Das Bundesverfassungsgericht läßt daher Einschränkungen des informationellen Selbstbestimmungsrechts im überwiegenden Allgemeininteresse zu9 • Damit wird an dieser Stelle schon deutlich: Das informationelle Selbstbestimmungsrecht bewegt sich für die polizeiliche Datenerhebung und -verarbeitung zwischen zwei Polen. Einerseits besteht das Interesse des einzelnen an einem möglichst umfassenden Schutz seiner Daten (was mit einer deutlichen Einschränkung der polizeilichen Datenerhebung und -verarbeitung einhergehen müßte). Andererseits existiert aber auch ein Allgemeininteresse an einer effektiven Gefahrenabwehr und Strafverfolgung durch die Polizei (wozu weitreichende Möglichkeiten zur Datenerhebung und -verarbeitung förderlich wären). Die Frage der Rechtfertigung von Eingriffen in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung hängt letztendlich von einer ausgewogenen Interessenabwägung in diesem Spannungsfeld ab. Einschränkungen dürfen nur aufgrund eines Gesetzes erfolgen. Dieses muß verfassungsgemäß sein, d.h. es muß insbesondere dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen lO • Insofern wird besondere Aufmerksamkeit darauf zu legen sein, ob und nach welchen konkreten Maßstäben das Bundesverfassungsgericht diese Abwägung im Einzelfall vornehmen will. Da sich das Bundesverfassungsgericht im Volkszählungsurteil nicht auf die Prüfung der konkret vorliegenden Fallkonstellation beschränkte, sondern allgemeine Ausführungen zu den Problembereichen Datenerhebung und -verarbeitung vornahm, ergibt sich eine ungewöhnliche Reichweite in den Aussagen des Urteils. Dies hat zur Konsequenz, daß bei der unabschätzbaren Vielzahl von Fallkonstellationen nicht alle Fragen erschöpfend beantwortet werden können. Dies ist nicht ohne Kritik geblieben 11. Der sich hieraus ergebende Interpre-

R

Vgl.

9

BVerfGE 65, 1 (42 f.).

Küpferle, DuR 1987,427.

10

Ebenda, S. 44.

11

Deutsch, Die heimliche Erhebung von Informationen, S. 76.

32

1. Teil: Verfassungs rechtliche Grundlagen

tationsspielraum führte in der Literatur beinahe zwangsläufig dazu, tendenziell die Aussagen des Bundesverfassungsgerichts in ihrer Bedeutung entweder einseitig aufzuwerten oder abzuschwächen 12 • Doch nicht das Volkszählungsurteil allein bietet Anhaltspunkte für die gerade aufgeworfene Frage der Interessenabwägung. Das Volkszählungsurteil erfolgte mit seinen Anforderungen an einen modernen Datenschutz nicht überraschend 13 • Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung wurde aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht abgeleitet, was bedeutet, daß das Volkszählungsurteil argumentativ bereits durch frühere Entscheidungen zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht vorbereitet wurde l4 • Im Text des Volkszählungsurteils wird in diesem Sinne gerade zur Frage des Spannungsverhältnisses zwischen Individuum und Gemeinschaft auch auf vorangegangene Entscheidungen Bezug genommen l5 . Für eine Darstellung des verfassungsrechtlichen Bezugrahmens der datenschutzrechtlichen Neuregelungen im Polizeigesetz, insbesondere zur Interessenabwägung zwischen Individualinteressen einerseits und Allgemeininteressen andererseits, ist es daher notwendig, sich in der Betrachtung nicht nur auf das Volkszählungsurteil zu beschränken, sondern auch die Herleitung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung aus der allgemeinen Handlungsfreiheit und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht näher zu beleuchten l6 •

B. Verfassungsrechtliche Entwicklung des Persönlichkeitsschutzes in der Zeit vor dem Volkszählungsurteil I. Die allgemeine Handlungsfreiheit

Art. 2 Abs. 1 GG garantiert das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. Allerdings wird dieses Recht nicht schrankenlos gewährt, sondern innerhalb der sogenannten "Schrankentrias" in Form der Rechte anderer, der verfassungsmäßigen Ordnung und des Siuengesetzes. Dies entspricht einem Grundprinzip

12

Vgl. Denninger, eR 1988,51 ff. m.Nw.

IJ

Bäumler, in: Lisken I Denninger, Kap. J, Rdnr. I.

14

Ebenda.

15

BVerfGE 65, I (44).

16 Durch die informationelle Tätigkeit der Polizei können ferner auch weitere Grundrechte tangiert sein wie beispielsweise die politischen Grundrechte (Art. 5, 8 und 9 GG) oder die Kommunikationsfreiheit (Art. 5, lO GG), vgl. vertiefend zu diesem Themenkomp1ex bereits die Darstellung bei Weichert, Informationelle Selbstbestimmung, S. 180 ff.

B. Entwicklung vor dem Volkszählungsurteil

33

der demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes: Die grundrechtlich gewährleistete Freiheit wird nicht im Sinne einer "natürlichen" Freiheit verstanden, die inhaltlich abstrakt und unbegrenzt wäre. Vielmehr handelt es sich um eine rechtliche, d.h. eine begrenzte Freiheit, die dafür innerhalb ihrer Grenzen verfassungsrechtlich gewährleistet ist 17 • Schwierigkeiten bereitete seit Geltungsbeginn des Grundgesetzes die Bestimmung des konkreten Schutzbereiches von Art. 2 Abs. 1 GG: Nach der vor allem aus den fünfziger Jahren stammenden Persönlichkeitskemtheorie 18 wurde nur der "Kembereich des Persönlichen"19, bzw. die "engere persönliche Lebenssphäre"20 geschützt. Danach findet Art. 2 Abs. 1 GG nur Anwendung auf begrenzte Lebensbereiche. Diese restriktive Interpretation ermöglichte es, die Schranke der "verfassungsmäßigen Ordnung" des Art. 2 Abs. 1 GG ebenfalls eng auszulegen 21 . Die Verfassungsrechtsprechung und die überwiegende Literatur sind diesem restriktiven Ansatz jedoch nicht gefolgt. Vorrangig unter Berufung auf die Entstehungsgeschichte und die Entwurfsfassung22 wird durch Art. 2 Abs. 1 GG die allgemeine Handlungsfreiheit als grundrechtlieh garantiert angesehen23 • Nach überwiegender Ansicht wird von Art. 2 Abs. 1 GG jegliches menschliches Verhalten erfaße4 • Das Bundesverfassungsgericht führt im Rahmen seiner

17

Hesse, VerfR, Rdnr. 425; Maunz / Dürig, Art. 2 Abs. 1 GG, Rdnr. 4.

Vgl. v. Münch / Kunig, Art. 2 GG, Rdnr. 14; Erichsen, HdBdStR, Bd VI, § 152, Rdnr. 20. Für eine Beschränkung der Entfaltung des Menschen im Sinne einer christlich-abendländischen Kulturauffassung Peters, in: FS-Laun, S. 669 (673); ders., Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, S. 16 f.; vgl. ferner Müller, Auswirkungen der unterschiedlichen Auffassungen zum Rechtscharakter des Art. 2 Abs. 1 und zu dessen Schranken, Hamburg 1963, S. 13, Fn. 41. IR

19 Vgl. nur Peters, in: FS-Laun, S. 669 (673); ders., Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, S. 49. 20

Hesse, VerfR, Rdnr. 425; Schmidt, AöR 91 (1966),42 ff.

21

V gl. Pieroth / Schlink, Rdnr. 400.

Nach der ursprünglichen Fassung des Art. 2 Abs. 1 GG hatte jeder das Recht, "zu tun und zu lassen, was er will"; siehe JöR n.F. 1 (1951), S. 54 ff.; Dehler, JZ 1960,727 ff.; a.A. Grimm, in abweichender Meinung zu BVerGE 80, 137 ff. [Reiten im Wald), BVerfGE 80, 164 (165), der darauf hinweist, daß diese Formel gerade nicht Verfassungsrecht wurde. 22

2J Ständige Rspr. seit BVerfGE 6, 32 [Elfes-Urteil); v. Münch / Kunig, Art. 2 GG, Rdnr. 9 ff.; Schmidt-Bleibtreu / Klein, Art. 2 GG, Rdnr. 4.

24 Erichsen, HdBdStR, Bd. VI, § 152, Rdnr. 20; Pieroth / Schlink, Rdnr. 401; a.A. Grimm, in abweichender Meinung zu BVerfGE 80, 137 ff. [Reiten im Wald), BVerfGE 80, 164 ff., nach dem das "individuelle Verhalten, das mangels spezieller Grundrechtsgarantien den Schutz von Art. 2

3 Waiden

34

1. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlagen

Rechtsprechung zur allgemeinen Handlungsfreiheit aus, daß ein Mensch in seiner Handlungsfreiheit nur durch solche Vorschriften mit einem Nachteil belastet werden dürfe, die formell und materiell der Verfassung entsprechen25 •

11. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht

J. Herleitung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts

In seiner Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht im weiteren die Bedeutung des Art. 2 Abs. 1 GG in einzelnen Lebensbereichen näher konkretisiere6 • Maßgebliches Ergebnis dabei ist die Herausbildung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts 27 • Diese Entwicklung ist durch die Tatsache gekennzeichnet, daß es bestimmte Verhaltensformen gibt, die einen besonderen Bezug zu der in Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Menschenwürde aufweisen 28 • Die Entwicklungstendenzen in der modernen Gesellschaft, insbesondere auf technischem Gebiet, berühren und gefährden zunehmend die engere persönliche Lebenssphäre des einzelnen 29 • Deshalb wird bei in diesem Bereich anzusiedelnden Verhaltensformen ein stärkerer Schutz benötigt als bei sonstigen Verhaltensweisen, die bereits von den traditionellen konkreten Freiheitsgarantien abschließend erfaßt werden. Dieser besondere Schutz wird gewährleistet durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht, als dessen Grundlage das Bundesverfassungsgericht "Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG" anführeo. Nach verfassungsgerichtlicher Auffassung ist es Aufgabe des allgemeinen Persönlichkeitsrechtes, eine Sphäre der Intimität

Abs. I GG beanspruchen will, eine gesteigerte, dem Schutzgut der übrigen Grundrechte vergleichbare Relevanz für die Persönlichkeitsentfaltung besitzen" muß (S. 165), so daß nicht jede Betätigungsmöglichkeit - gerade im Freizeitbereich (z.B. Reiten im Wald, Taubenfültem) - dem Schutzbereich unterfällt (S. 170). Vgl. zu BVerfGE 80, 137 ff. auch die Besprechung von Kunig, Jura 1990,523 ff.; v. Münch / Kunig, Art. 2 GG, Rdnr. 14. 25

BVerfGE 29, 402 (408).

Vgl. BVerfGE 27, 1 (6); 27, 344 (350 f.); 32, 373 (379); 33, 367 (374 f.); 39, I (43); 44, 353 (372); 47, 46 (73); 49, 286 (298); 60, 123 (134). 26

27 Vgl. zur Entwicklung Schmitt Glaeser, HdBdStR, Bd. VI, § 129, Rdnr. 7; v. Münch / Kunig, Art. 2 GG, Rdnr. 30 ff.; Vogelgesang, Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, S. 39 ff.

"Jarass, NJW 1989,857; Jarass / Pierolh, Art. 2 GG, Rdnr. 25. 2.

Vgl. BVerfGE 54, 148 (153).

JII

SO etwa BVerfGE 72, 155 (170).

B. Entwicklung vor dem Volkszählungsurteil

35

für den einzelnen sowie entsprechende Grundbedingungen zu gewährleisten und damit Bereiche abzudecken, die mit den traditionellen konkreten Freiheitsgarantien nicht abschließend erfaßt werden können 3l •

2. Schutzbereichsbestimmung Der Schutz des Privatbereichs des Menschen findet im Grundgesetz an unterschiedlichen Stellen Anknüpfungspunkte. Bei den in den Art. 4 Abs. 1 und 2, 10, 13 GG verbürgten Grundrechten liefert das Grundgesetz eine verfassungsrechtliche Tatbestandsumschreibung. Dies erleichtert es, den entsprechenden Normbereich durch die bekannten Methoden der Interpretation festzulegen. Beim allgemeinen Persönlichkeitsrecht bereitet eine klare Abgrenzung dessen, was zum schutzbedürftigen Bereich der Persönlichkeitsentfaltung gehört, erhebliche Schwierigkeiten. Diese Schwierigkeiten sind verursacht durch die Konturenlosigkeit und Reichweite des allgemeinen Persönlichkeitsrechts 32 • Bereits die Schutzbereichsbestimmung gestaltet sich wertungsgebunden, da sie maßgeblich von nachfolgenden Überlegungen abhängt: Bis zu welchem Umfang ist der Schutz des individuellen Privatbereichs zu gewährleisten? Wie stark ist eine mögliche Bedrohung durch neue Informationstechnologien? Und wie gewichtet man das Schutzbedürfnis des einzelnen gegenüber einer staatlichen Befassung mit seinem Privatbereich? Überblicksmäßig lassen sich die Lösungsansätze zur Bestimmung und zur Abgrenzung des schutzbedürftigen Bereichs der Persönlichkeitsentfaltung in vier Gruppen unterteilen 33 :

a) Rollentheoretischer Ansatz Der rollentheoretische Ansatz34 baut auf Erkenntnissen der Soziologie auf. Das menschliche Verhalten zeichnet sich dadurch aus, daß der Mensch ver-

31

BVerfGE 54, 148 (153); vgl. Jarass, NJW 1989,857; Scholz, AöR 100 (1975), 265.

J2

Schmitt Glaeser, HdBdStR. Bd. VI, § 129, Rdnr. 10.

" Vgl. zum nachfolgenden Schmitt Glaeser, HdBdStR, Bd. VI, § 129, Rdnr. 14. 34 Insbesondere Müller, Gefährdungen der Privatsphäre durch Datenbanken, S. 65 ff.; ders., DVR 1975, 107 ff.; ders., in: Krauch, Erfassungsschutz, S. 141 ff.; vgl. ferner Mal/mann, Zielfunktionen des Datenschutzes, S. 35 ff.

36

1. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlagen

schiedene Rollen in den unterschiedlichen sozialen Beziehungen ausfüllt. Für die Umwelt wird der einzelne nur segmentiv sichtbar, nämlich in der Ausübung von unterschiedlichen Rollen (z.B. als Vereinsmitglied, Arbeitskollege, Vertragspartner, Familienmitglied), durch rollenspezifische Kommunikation und Informationsverteilung 35 • Kernaussage der Rollentheorie ist, daß es für den Schutz der Persönlichkeitsentfaltung wichtig sei, rollengebundene Informationen nicht unbegrenzt auf verschiedene Kommunikationspartner zu verteilen. Übt ein Mensch eine bestimmte Rolle aus, so muß er die Möglichkeit haben, seinen Kommunikationspartnern nur die Informationen zuzuspielen, die für die Ausübung dieser einen Rolle notwendig sind. Er muß Einfluß darauf haben, daß Informationen aus anderen Rollenbereichen, die möglicherweise im Widerspruch zur Ausübung der ersten Rolle stehen, nicht weiter verbreitet werden und dadurch ein unterschiedliches Rollenhandeln erschwert, bzw. unmöglich gemacht wird 36 • Entscheidend ist, daß Informationen nicht unbegrenzt, sondern sektorweise (entsprechend den jeweiligen Rollen) verteilt werden müssen und nicht dysfunktional weitergegeben werden dürfen. Nach diesem Ansatz läßt sich der Privatbereich nicht von der Sphäre der Öffentlichkeit abschließen oder ausgrenzen. Die Persönlichkeit des einzelnen zeigt sich durch Interaktion in Form der Rollenausübung in der Öffentlichkeit37 • Das Bedürfnis nach einer entsprechend begrenzten Informationsverteilung besteht auch gegenüber dem Staat. Ein Grundrechtseingriff liegt danach vor, wenn Informationen von einem Rollenbereich dysfunktional in einen anderen Rollenbereich weitergegeben werden 38 •

35 Müller, Gefährdungen der Privatsphäre durch Datenbanken, S. 65 ff.; ders., in: Krauch, Erfassungsschutz, S. 141. 36 Müller, Gefährdungen der Privatsphäre durch Datenbanken, S. 77; ders., DVR 1975, 107 (108); vgl. auch Mallrrumn, Zielfunktionen des Datenschutzes, S. 36 ff. 37

Vgl. Schmitt Glaeser, HdBdStR, Bd. VI, § 129, Rdnr. 14.

3'

Müller, Gefährdungen der Privatsphäre durch Datenbanken, S. 83.

B. Entwicklung vor dem Volkszählungsurteil

37

b) Die Theorie der autonomen Selbstdarstellung In der Theorie der autonomen Selbstdarstellung39 steht die private und politische Entscheidungsfreiheit im Mittelpunkt der Überlegungen. Ausgangspunkt ist dabei der Gedanke, daß der Persönlichkeitsschutz der Selbstverwirklichung des einzelnen dienen S01l4O. Seine Persönlichkeit kann der einzelne aber nicht nur im privaten unpolitischen Bereich entfalten, sondern auch und gerade in der Öffentlichkeit41 • Eine zentrale Rolle spielt so nach Schmidt die private und politische Autonomie des Bürgers. Anknüpfungspunkt ist jedoch nicht der traditionelle Autonomiebegriff (z.B. die "Privatautonomie" im Zivilrecht), den Schmidt als wenig hilfreich ansieht, da Freiheit und Freiwilligkeit bei ihm weitgehend fingiert werden und faktische Zwänge in die rechtliche Wertung keinen Eingang finden 42 • Nach Schmidt besteht Entscheidungsfreiheit darin, daß der einzelne politische Freiheit gegenüber dem Staat besitzt, aber auch private Freiheit gegenüber sonstigen gesellschaftlichen Mächten 43 • Geschützt wird die Selbstdarstellung nach außen, die Wirkung des einzelnen in der Umwelt44 • Entscheidungsfreiheit bedeutet daher, daß der einzelne einen "autonomen Bereich" besitzt, in dem er "seine Entscheidungen in eigener Verantwortung" treffen kann 45 . Nach dem Verständnis von Schmidt setzt Autonomie "die Möglichkeit des Auch-anderskönnens voraus". Der fortentwickelte Persönlichkeitsschutz hat so zum Ziel, mögliche Fremdsteuerungen des Entscheidungsverhaltens (z.B. durch offene Einschüchterung oder durch Verstrickung in offene wie verborgene Abhängigkeiten) abzuwehren 46 •

" Schmidt, JZ 1974,241 ff.; ders., in: Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften, S. 89 ff.; ferner ders., AöR 101 (1976),24 ff. 4n

Schmidt, JZ 1974, 241 (246).

41

Vgl. Roh(f, Der grundrechtliehe Schutz der Privatsphäre, S. 47.

42 Schmidt, JZ 1974, 241 (243, 245); vgl. auch ders., AöR 101 (1976), 24; ferner Roh(f, Der grund rechtliche Schutz der Privatsphäre, S. 47. 41 Schmidt, JZ 1974,241 (247); im Gegensatz zum Ansatz von Schmidt soll hier der Aspekt der privaten Freiheit nicht näher vertieft werden. 44

Schmitt Glaeser, HdBdStR, Bd. VI, § 129, Rdnr. 14.

45

Schmidt, JZ 1974,241 (246), unter Bezug auf BVerfGE 34,269 (281); 35, 202 (220).

46

Schmidt, JZ 1974, 241 (246).

38

1. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlagen

Für den Schutz des Privatbereichs sind letztendlich zwei Komponenten entscheidend. Der einzelne besitzt zum einen eine innere Entscheidungsfreiheit47 • Zum anderen hat er nach außen die Freiheit zu entscheiden, welche Informationen er zur Selbstdarstellung seiner Entscheidungsergebnisse an andere Personen weitergeben will 48 •

c) Kommunikationstheorie In der Kommunikationstheorie 49 wird der Privatbereich durch eine Unversehrtheit der (sprachlichen) Kommunikation geschützt. Dem liegt die Überlegung zugrunde, daß für die menschliche Sozialisation und Persönlichkeitsbildung eine Unversehrtheit der Kommunikation unabdingbar ist. Die schwerste Form des Eingriffs ist hiernach die "Privatheitsdurchbrechung" mittels der offenen und heimlichen Gesprächsüberwachung50 • In einer weiteren Kategorie wird unter dem Begriff der "erzwungenen Vergemeinschaftung" eine Situation verstanden, in der ein neu hinzutretender Partner an einer Kommunikation teilnimmt, ohne daß man sich dieser Teilnahme entziehen könnte5t • Eine dritte und letzte Eingriffskategorie umfaßt die "Privatheitsbindung" und "Privatheitsunterwanderung". Die "Privatheitsbindung", die in einer Parallele zur Sozialbindung beim Eigentum entwickelt wurde, besagt, daß auch die Privatheit Schranken unterworfen ist52 . Derartige Schranken (Privatheitsbindung) können beispielsweise einzelne Auskunfts- oder Berichtspflichten sein53 • Mit "Privatheitsunterwanderung" wird eine Situation bezeichnet, in der sich für einen Gesprächsteilnehmer die Identität seines Gesprächspartners (also der Kontext) nicht nur aus der Einzelkommunikation ergibt, sondern der Gesprächsteilnehmer bereits Vorinformationen über die Identität seines Gesprächspartners

47 Innere Entscheidungsfreiheit ist zu verstehen als die Freiheit, Informationen zu verarbeiten, Alternativen zu erkennen sowie abschließend eine Entscheidung im Inneren über mögliche Alternativen herbeizuführen.

4. Schmidt, JZ 1974,241 (246). 49

Vgl. Rüpke, Der verfassungsrechtliche Schutz der Privatheit, insbesondere S. 75 ff.

so

Ebenda, S. 88 f.

SI Ebenda, S. 96 ff. Als Beispiel kann hier die Kasernierung von Wehrpflichtigen oder die Fürsorgeerziehung genannt werden. S2

Ebenda, S. 117 und 136.

51

Vgl. ebenda, S. 120 ff.

B. Entwicklung vor dem Volkszählungsurteil

39

erhalten hat. Durch dieses Informationsungleichgewicht kann eine Kommunikation nicht mehr unbefangen stattfinden 54 • Für den Schutz des Privatbereichs und der Persönlichkeit sind daher in der Kommunikationstheorie nicht Art und Inhalt der Kommunikation entscheidend, sondern die Kommunikationskonstellationen 55 •

d) Sphärentheorie Zum Schutz des Bürgers vor einem unbegrenzten staatlichen Umgang mit personenbezogenen Informationen wurde sich auch eines aus dem Zivilrecht übernommenen sphärentheoretischen Ansatzes bedient56 . Der menschliche Verhaltensraum wird dabei in unterschiedliche Geheimhaltungsbereiche aufgeteilt57 • Nach der Sphärentheorie gibt es verschiedene Sphären der Persönlichkeitsentfaltung, in denen sich die Privatheit des einzelnen als unterschiedlich schutzwürdig erweist. Die Privatsphäre im allgemeinen Sinn unterscheidet sich dabei vom Verhaltensraum Öffentlichkeit in qualitativer Hinsicht und ist grundsätzlich von diesem zu trennen 58 • In einem kurzen Überblick lassen sich drei verschiedene Sphären unterscheiden:

(1) Unantastbarer Innenbereich Die innerste Sphäre wird als ein unantastbarer Bereich verstanden, in den keinerlei Eingriffe zulässig sind (unantastbarer Intimbereich)59. Dieser Bereich soll von jeglichen äußeren Einwirkungen frei sein. Charakteristisch für den unantastbaren Innenbereich ist die Nicht-Kommunikation60 •

54

Ebenda, S. 141.

55

Schmitt Glaeser, HdBdStR, Bd. VI, § 129, Rdnr. 14.

56

Vgl. Dürig, AöR 81 (1956), 117 (129 f.); Wintrich, BayVBI. 1957, 137 (138).

Die Aufteilung kann dabei differieren, vgl. nur die Darstellung von Scha/z, AöR 100 (1975), 265 (266); Vage/gesang, Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, S. 42 ff. 57

5.

Vgl. Schmitt Glaeser, HdBdStR, Bd. VI, Rdnr. 14.

59

Kritisch zum absolut geschützten Bereich: Kamlah, DÖV 1970,361 (362).

"" Rah(t. Der grundrechtliche Schutz der Privatsphäre, S. 123; Vogelgesang, Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, S. 42 f.

1. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlagen

40

Für das Bundesverfassungsgericht besitzt dieser Innenraum seine besondere Bedeutung dadurch, daß er notwendig für die freie und selbstverantwortliche Entfaltung des einzelnen, d.h. für die Entfaltung seiner individuellen Persönlichkeit, ist61 • Auch wird in diesem Bereich der Anspruch des einzelnen anerkannt, in Ruhe gelassen zu werden 62 • Der Innenbereich hat absoluten Geheimnischarakter, so daß sich jeder Eingriff verbietet. Selbst eine Abwägung bei möglichen Eingriffen nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz soll nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts unterbleiben 63 •

(2) Privatsphäre Umgeben ist dieser innere, absolut geschützte Kern des Innenbereichs von einer weiteren Privatsphäre64 • In dieser Sphäre kommuniziert der Mensch bereits mit seiner Umwelt65 • Charakteristisch für die Privatsphäre und gleichzeitig Unterschied zur unantastbaren Intimsphäre ist der Sozialbezug. Als Konsequenz hieraus wird die Privatsphäre nur relativ geschützt. Der Mensch wird in diesem kommunikativen Privatbereich nicht als isoliertes, sondern als gemeinschaftsbezogenes und gemeinschaftsgebundenes Wesen betrachtet. Eingriffe in diesen Bereich sind grundsätzlich möglich, allerdings nur unter restriktiven Voraussetzungen66 • Die Eingriffe müssen aus überwiegendem Allgemein-

" BVerfGE 27, 1 (6) [Mikrozensus); 33, 367 (377) [Zeugnisverweigerung). " BVerfGE 34, 269 (281) [Soraya); 35, 202 (220) [Lebach). hJ BVerfGE 34, 238 (245) [Tonband). Der unantastbare Innenbereich war bislang nur in der Theorie von Bedeutung. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Praxis über Fälle aus dieser Sphäre nicht zu entscheiden gehabt. Auch im sog. Tagebuch-Beschluß (BVerfGE 80, 367 ff.; vgl. dazu auch die folgenden Ausführungen unter D II) ordnete das Bundesverfassungsgericht den Fall der Verwertung von tagebuchartigen Aufzeichnungen in einem Strafverfahren nicht in den absolut geschützten Bereich privater Lebensgestaltung ein. Der BGH hat allerdings für das Strafverfahren den Schutz für den unantastbaren Intimbereich bestätigt; vgl. BGHSt 31, 296 (299). 64

Vogelgesang, Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, S. 43.

BVerfGE 6,389 (433) [Homosexualität); 33, 367 (377) [Zeugnisverweigerung); 35, 202 (220) [Lebach) . _5

.. Scholz, AöR 100 (1975), 265 (266), siedelt eine "Intimsphäre" zwischen dem absoluten Kernbereich und der weiteren Privatsphäre an. Diese könne unter Umständen zum absolut geschützten Kern gehören, bei einsetzender Kommunikation aber auch zum Privatbereich. Das bedeutet: Je größer das Maß der Kommunikation ist, desto größer ist auch die potentielle Einschränkbarkeit.

B. Entwicklung vor dem Volkszählungsurteil

41

interesse erfolgen. Daher ist insbesondere der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten67 •

(3) Öffentlichkeitsbereich Die Anerkennung eines absolut unantastbaren Kerns der Persönlichkeitsentfaltung und einer weiteren Privatsphäre legt es nahe, daß jenseits dieser beiden Sphären auch ein Öffentlichkeitsbereich existieren muß 68 • Der Öffentlichkeitsbereich wurde vom Bundesverfassungsgericht weder ausdrücklich umschrieben oder eingegrenzt, noch hat er bei den Fallkonstellationen, über die das Bundesverfassungsgericht bislang zu entscheiden hatte, eine Rolle gespielt. Die Existenz eines Öffentlichkeitsbereichs ergibt sich jedoch als logische Konsequenz aus einer Fortentwicklung des Intimbereichs und der Privatsphäre69 • Genießt der absolute Kernbereich noch einen absoluten Schutz vor Eingriffen, wird der Privatsphäre bereits ein nur relativer Schutz vor Eingriffen zugebilligt. Führt man diese Abstufung nach Schutzintensitäten konsequent fort, muß sich dem absoluten Kernbereich und der Privatsphäre ein nicht geschützter Öffentlichkeitsbereich anschließen 70. Ableiten läßt sich diese Annahme auch aus der Rechtsprechung zum Schutz des gesprochenen Wortes gegen unbefugte Aufnahme und Verwertung auf Tonband. Das gesprochene Wort ist an sich zumindest der Privatsphäre zuzurechnen. Beim geschäftlichen Verkehr ist es jedoch üblich, das gesprochene Wort in Form fernmündlicher Durchsagen, Bestellungen und Börsennachrichten auf Tonband mitzuschneiden. In diesen Fällen aus dem Öffentlichkeitsbereich stellt der objektive, d.h. der sachliche Aussagegehalt der Mitteilung (z.B. die Art der Bestellung, das Bilanzergebnis, der Geschäftsabschluß) so derartig im Vorder-

67 BVerfGE 27, 344 (351) [Scheidungsakten]; 32, 373 (379) [Patientenkartei]; 35, 35 (39) [Briefkontrolle]; 38, 312 (321) [Zeugnisverweigerung]; 44, 353 (373) [Drogenberatungsstelle]. 68 Vgl. Gusy, VerwArch 74 (1983), 91 (96 f.); Rohlf, Der grundrechtliche Schutz der Privatsphäre, S. 76 f.; Schmidt, lZ 1974, 241 (242). 69

Vogelgesang, Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, S. 44.

70

Ebenda.

42

1. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlagen

grund, daß das gesprochene Wort keinen privaten Charakter mehr besitzt und das persönliche Interesse am Schutz des gesprochenen Wortes zurücktritt7l .

3. Auswirkung der Theorien auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

Sowohl die Sphärentheorie als auch die Theorie autonomer Selbstdarstellung sind in die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eingegangen72 • Insbesondere die Sphärentheorie wird für die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als bedeutsam angesehen 73 • In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann dabei eine permanente Fortentwicklung bis hin zum Volkszählungsurteil nachvollzogen werden, bei der materielle Grundlagen für das spätere Urteil vorbereitet wurden. So teilt Vogelgesang diese Gesamtentwicklung in drei Phasen ein 74 : In einer ersten Phase erfolgte die Anerkennung der eingangs dargestellten Schutzsphären durch das Bundesverfassungsgerichr7 s. In einer zweiten Phase erkannte das Gericht ein Recht auf Selbstbestimmung über persönliche Güter innerhalb der geschützten Intim- und Privatsphäre an 76 • In einer dritten und letzten Phase wurde ein Recht auf Selbstdarstellung ohne Beschränkung auf einzelne Schutzsphären bestätigt77 • In dieser letzten Phase wird teilweise eine Abkehr des Bundesverfasssungsgerichts von der Sphärentheorie gesehen 78 •

7\ BVerfGE 34, 238 (247); vgl. auch BGHZ 27, 284 (286); BGH NJW 1964, 165 (166); ferner Vagelgesang, Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, S. 44 f. Zum Teil wird auch im Öffentlichkeitsbereich ein gewisser Schutz der Persönlichkeit und damit eine Einschränkbarkeit nur unter bestimmten Voraussetzungen angenommen, vgl. Gusy, VerwArch 74 (1983), 91 (96 ff.).

n Schmitt Glaeser, HdBdStR, Bd. VI, § 129, Rdnr. 16. Vgl. nur Deutsch, Die heimliche Erhebung von Informationen, S. 37; Pieroth / Schlink, Rdnr. 414. Vom Bundesverfassungsgericht wurde ausdrücklich die Existenz eines unantastbaren Kernbereichs der Privatsphäre anerkannt, vgl. erstmals BVerfGE 6,32 (41) [Elfes]; ferner BVerfGE 27, I (6) [Mikrozensus]; 33, 367 (377) [Zeugnisverweigerung]. Festgestellt wurde ferner, daß dieser absolute Kern von einer weiteren Privatsphäre umgeben ist, vgl. BVerfGE 32, 373 (381) [Patientenkartei]; 35, 35 (39) [Briefkontrolle]; 35, 202 (220) [Lebach]; 38, 312 (320) [Zeugnisverweigerung]. 73

74

Voge/gesang, Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, S. 41 f.

75

Ebenda, S. 42 ff. mit Fallbeispielen.

76

Ebenda, S. 45 ff. mit Fallbeispielen.

77

Ebenda, S. 47 ff. mit Fallbeispielen.

7R

Ebenda, S. 47.

B. Entwicklung vor dem Volkszählungsurteil

43

Bereits im Eppler-Beschluß79 liegt ein Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht vor, wenn Äußerungen einer Person weitergegeben und verbreitet werden, die diese nicht getan (oder nicht so getan 80 ) haben wollte. Eine Entscheidungsfreiheit des einzelnen, ob und wie er seine Persönlichkeit Dritten und der Öffentlichkeit gegenüber darstellen will, wird ohne Beschränkung auf die Privatsphäre anerkannt81 • Jedoch geht das Bundesverfassungsgericht auch in dieser dritten Phase zunächst von seinem sphärentheoretischen Ansatz aus und entwickelt daraus den Gedanken der Selbstbestimmung - dann auch ohne Beschränkung auf die Privatsphäre82 • Deutlich wird an dieser Stelle, daß Grundlagen für das Volkszählungs urteil bereits in der früheren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts argumentativ vorbereitet wurden. Wird das Bundesverfassungsgericht zumindest bis zum Volkszählungsurteil als typischer Vertreter der Sphärentheorie angesehen, handelt es sich um eine pauschalisierende Betrachtung.

4. Bewertung der dargelegten Theorien zur Schutzbereichsbestimmung

a) Kritik an den Einzeltheorien Eine abschließende Umschreibung des schutzbedürftigen Bereichs zur Entfaltung der Persönlichkeit ist nach keiner der dargestellten· Theorien vollständig möglich. Jede Theorie weist sowohl Vor- als auch Nachteile auf, und so sind die theoretischen Ansätze nicht ohne Kritik geblieben 83 • Die Sphärentheorie bereitet in der praktischen Anwendung Schwierigkeiten, da die Grenzen zwischen den einzelnen Sphären fließend sind und die Sphären nicht klar voneinander abgegrenzt werden können. Zudem ist der Inhalt der

79

BVerfGE 54, 148 ff.; vgl. ferner auch das Verfahren Bölll Waiden, BVerfGE 54, 208 ff.

RO

SO im Verfahren Bölll Waiden, BVerfGE 54, 208 ff.

RI

BVerfGE 54, 148 (155).

R2

Vgl. Benda, DuD 1984,86 (88).

Vgl. zum nachfolgenden die ausflihrliche Darstellung von Rohlf, Der grundrechtliche Schutz der Privatsphäre, 1980. RJ

44

1. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlagen

Privatsphäre nur relativ bestimmbar und kann bei verschiedenen Personengruppen inhaltlich variieren84 • Bestimmungsschwierigkeiten ergeben sich auch bei der Rollentheorie 85 • Als problematisch erweist sich die Definition und Abgrenzung einer Rolle sowie die Bestimmung, welche und wieviele Informationen zur Ausübung einer bestimmten Rolle erforderlich sind. Die Kommunikationstheorie ist Bedenken ausgesetzt, da sich die menschliche Persönlichkeit nicht allein in der sprachlichen Kommunikation zeigt86 • Schwierig in der Behandlung erweisen sich so vor allem die schutzbedürftigen Fälle, in denen sich die Persönlichkeit ohne Kommunikation und damit ohne ausdrücklichen Sozialbezug entfaltet. Auch die Theorie der autonomen Selbstdarstellung stellt weitestgehend auf kommunikative Elemente ab. Der Persönlichkeitsschutz zielt vornehmlich auf die Wahrung der privaten und insbesondere auch der politischen Entscheidungsfreiheit und damit auf die Selbstdarstellung nach außen ab. Der Übergang zwischen privatem und öffentlichem Bereich wird dabei fließend und schwer feststellbar 87 •

b) Bedeutung der Einzeltheorien Trotz der berechtigten Kritikpunkte kann jede Theorie für sich in Anspruch nehmen, einige wichtige Teilaspekte bei der Bestimmung des Persönlichkeitsschutzes aufzuzeigen. Bemerkenswert ist jedoch, daß alle Theorien einen gemeinsamen Ausgangspunkt haben: Das Individuum Mensch besitzt eine ihm eigene Persönlichkeit. Die Persönlichkeitsentfaltung erfolgt jedoch zu großen Teilen nicht im freien und leeren

H4 Vgl. Steinmüller u.a., Gutachten, S. 48 ff.; Starck, in: v. Mangoldt I Klein I Starck, Art. 2 Abs. I GG, Rdnr. 11, 65, der die Aufteilung in verschiedene räumliche Bereiche für dogmatisch unklar und praktisch nicht verwertbar hält; ferner Scholz / Pitschas, Informationelle Selbstbestimmung, S. 67.

H5 Die Rollentheorie wird von der h.L. abgelehnt; vgl. Deutsch, Die heimliche Erhebung von Informationen, S. 60; Meyer, Polizeiliche Beobachtungsmaßnahmen, S. 34; Rohi{' Der grundrechtliche Schutz der Privatsphäre, S. 56 ff.; Schmidt, JZ 1974, 241 (246); Vogelgesang, Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung; Woertge, Prinzipien des Datenschutzes, S. 70. H6

Rohi{' Der grundrechtliche Schutz der Privatsphäre, S. 64.

H7

Vgl. Schmitt Glaeser, HdBdStR, Bd. VI, § 129, Rdnr. 15.

B. Entwicklung vor dem Volkszählungsurteil

45

Raum, sondern mit Gesellschaftsbezug. Innerhalb der Sphärentheorie zeichnet sich die Privatsphäre durch ihren Sozialbezug aus. Der Mensch kommuniziert hier bereits mit seiner Umwelt. Die Rollentheorie bezieht sich auf die segmentive Sichtbarkeit der Persönlichkeit durch die Ausübung von Rollen. Dem liegt die Auffassung zugrunde, daß nach den Erkenntnissen der Soziologie der Mensch verschiedene Rollen in den entsprechenden sozialen Beziehungen ausübt. In der Theorie der autonomen Selbstdarstellung zeichnet sich der Persönlichkeitsschutz dadurch aus, daß der einzelne eine Entscheidungsfreiheit darüber besitzt, wie er sich nach außen seinen Mitmenschen gegenüber präsentieren will. Und in der Kommunikationstheorie ist die Unversehrtheit der sprachlichen Kommunikation unverzichtbar für die menschliche Sozialisation und Persönlichkeitsbildung. Alle Theorien entsprechen damit der Sozial gebundenheit des Menschen. Der Mensch ist zur Entfaltung seiner Persönlichkeit auf die soziale Gemeinschaft, auf Kommunikation angewiesen. Wenn einerseits zu Recht versucht wird, die Persönlichkeit des einzelnen vor überzogenen Auskunftsbelangen der Allgemeinheit zu schützen und auf diese Weise das Spannungsverhältnis Individuum - Gemeinschaft zu lösen, darf andererseits nicht vergessen werden, daß sich Individuum und Gesellschaft grundsätzlich auch gegenseitig bedingen.

III. Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in der Zeit vor dem Volkszählungsurteil nach Fallgruppen unter besonderer Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit

Das Bundesverfassungsgericht hatte in seiner Rechtsprechung in der Zeit vor dem Volkszählungsurteil mehrfach über den Persönlichkeitsschutz, insbesondere über eine Interessenabwägung im Spannungsfeld Individuum - Gemeinschaft, zu befinden. In diesen Entscheidungen werden vom Bundesverfassungsgericht argumentativ bereits Grundlagen für das Volkszählungsurteil entwickelt88 .

gg Dies entspricht dem bereits dargelegten Ansatz von Voge/gesang, Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, S. 41 ff., der die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in drei Phasen unterteilt: Anerkennung verschiedener Schutzsphären (S. 42 ff.), Anerkennung eines Rechts auf Selbstbestimmung über' persönliche Güter innerhalb der geschützten Intim- und Privatsphäre (S. 45 ff.), Recht auf Selbstbestimmung und Selbstdarstellung ohne Beschränkung auf die Schutz-

46

1. Teil: Verfassungsrechtliche Grundlagen

Den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts liegen unterschiedliche Fallkonstellationen zugrunde, in denen Informationen sowohl dem Betroffenen selbst als auch Dritten abverlangt wurden. Auch über Datenerhebungen unter Einsatz technischer Mittel hatte das Bundesverfassungsgericht zu befinden. Diese Fallgruppen aus der Praxis spiegeln wider, unter welchen verschiedenen Modi Daten erhoben werden können. In den entsprechenden Fallgruppen werden die Kriterien deutlicher, nach denen das Bundesverfassungsgericht der Gemein schaftsgebundenheit des einzelnen Rechnung trägt und eine Abwägung der Individual- und Gemeinschaftsinteressen vornimmt89 • Die dabei entwickelten Kriterien werden im Volkszählungs urteil wieder aufgegriffen.

1. Informationserhebung beim Betroffenen selbst a) Mikrozensus-Beschluß Erstmalig hatte sich das Bundesverfassungsgericht ausführlich mit der Zulässigkeit einer Datenerhebung beim Betroffenen im sogenannten Mikrozensus-

sphären (S. 47 ff.). Im nachfolgenden soll jedoch die Betonung auf den Interessenabwägungen des Bundesverfassungsgerichts im Spannungsfeld von Individualinteressen und Gemeinschaftsinteressen liegen. 89 Da die Datenerhebung und -weiterverarbeitung begrenzt auf den Polizeibereich im Mittelpunkt des Interesses steht, sollen die Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen zur Datenübermittlung zwischen Behörden mit unterschiedlicher AufgabensteIlung sowie zur Informationsverbreitung in der Öffentlichkeit nicht vertieft behandelt werden. Vgl. zur ersten Fallkonstellation nur den sogenannten ersten Scheidungsaktenbeschluß, BVerfGE 27, 344 ff., bei dem die Übermittlung von Scheidungsakten eines betroffenen Ehegatten an seine Dienststelle zur Feststelllung eines Dienstvergehens nur unter strikter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes möglich war, was im vorliegenden Fall nicht bejaht werden konnte [vgl. hierzu die Anmerkung von Becker, NJW 1970, 1075f.; ferner Kamlah, DÖV 1970,361 ff.; Krause, DVR 1980,229 (241 0; Rohlf, Der grundrechtliche Schutz der Privatsphäre, S. 90 ff.; Schlink, Amtshilfe, S. 174 ff.; Seidel, NJW 1970, 1581 (1582)]. Vgl. ferner zu der erwähnten zweiten Fallkonstellation BVerfGE 35, 203 ff. [Lebach], BVerfGE 54, 148 ff. [Eppler], BVerfGE 54, 208 ff. [Böll / Waiden], in denen grundsätzlich ein Selbstbestimmungsrecht des einzelnen anerkannt wurde, wie er sich Dritten und der Öffentlichkeit gegenüber darstellen wolle; vgl. hierzu Schlink, Amtshilfe, S. 187 f.; Voge/gesang, Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, S. 47 ff. Es handelt sich aber nicht um einen absoluten Schutz. Einschränkungen bedürfen einer Güterabwägung im Einzelfall, vgl. schon BVerfGE 35, 203 (220 f.).

B. Entwicklung vor dem Volkszählungsurteil

47

Beschluß90 auseinanderzusetzen 91 . In einer Erhebung zu einer Repräsentativstatistik waren die Betroffenen zu Auskünften u.a. bezüglich Urlaubs- und Erholungsreisen verpflichtet. Das Bundesverfassungsgericht hielt diese Regelung im Ergebnis für unbedenklich. Zwar führte es aus, daß dem einzelnen zur freien und selbstverantwortlichen Entfaltung seiner Persönlichkeit ein Innenraum verbleiben müsse, in den er sich zurückziehen kann und zu dem die Umwelt kein Zutrittsrecht hat92 . Doch nicht jede Datensammlung zu statistischen Zwecken berührt das Selbstbestimmungsrecht des Menschen in seinem innersten Lebensbereich. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn Anknüpfungspunkt nur ein Verhalten des Menschen in der Außenwelt ist93 . Das Bundesverfassungsgericht sah es als Abgrenzungskriterium zum innersten Lebensbereich an, daß sämtliche Daten auch ohne Befragung hätten ermittelt werden können, wenngleich dies nur unter erheblich größeren Schwierigkeiten möglich gewesen wäre 94 . Das Bundesverfassungsgericht ist der Ansicht, daß der einzelne "als gemeinschaftsbezogener und gemeinschaftsgebundener Bürger"95 die Notwendigkeit einer statistischen Erhebung hinnehmen müsse, da eine statistische Erhebung eine unerläßliche Vorbedingung für die Planmäßigkeit staatlichen HandeIns sei. Den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sah das Bundesverfassungsgericht im Mikrozensus - Beschluß gewahrt. Zur ordnungsgemäßen Erfüllung der währungs-, wirtschafts-, sozial- und verkehrspolitischen Aufgaben ist es für den Staat erforderlich, bei der zunehmenden Bedeutung des Tourismus auch Daten über den Urlaubs- und Erholungsreiseverkehr zu erheben, um so gesellschaftliche Entwicklungsprozesse besser analysieren zu können 96 .

90 BVerfGE 27, I ff. Vgl. hierzu Benda, in: FS-Geiger, S. 23 (28 fO; Deutsch, Die heimliche Erhebung von Informationen, S. 43 ff.; Kamlah, DÖV 1970,361 ff.; Krause, DVR 1980,229 (2390; Roh!f, Der grundrechtliche Schutz der Privatsphäre, S. 120 ff.; Schlink, Die Amtshilfe, S. 172 ff.; Seidel, NJW 1970, 1581.

0' Streng genommen wurde bereits in einer vorangegangenen Entscheidung, BVerfGE 18, 146 ff., die Frage der Verwertbarkeit von Tagebuchaufzeichnungen in einem Strafverfahren aktuell. In der dort ergangenen einstweiligen Anordnung machte das Bundesverfassungsgericht jedoch zu dem hier interessanten Themenkomplex keine Angaben. 92

BVerfGE 27, I (6).

0' Ebenda, S. 7. 04

Ebenda, S. 8.

os Ebenda, S. 7; vgl. auch schon BVerfGE 4, 7 (15 0; 7, 198 (205); 24, 119 (\44).

o. BVerfGE 27, I (9).

48

1. Teil: Verfassungs rechtliche Grundlagen

b) Gemeinschuldner-Beschluß Dem Gemeinschuldner-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts97 lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der Beschwerdeführer sollte als Gemeinschuldner im Konkursverfahren Auskünfte nach § 100 KO geben, mit denen er sich auch selbst einer strafbaren Handlung bezichtigen müßte. Als er ein Aussageverweigerungsrecht geltend macht, wird Beugehaft nach § 101 KO angeordnet. Das Bundesverfassungsgericht sah in der erzwingbaren Auskunftspflicht einen Eingriff in die Handlungsfreiheit sowie eine Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts i.S.d. Art. 2 Abs. 1 GG. Zudem wird die Würde des Menschen durch den Zwang zur Selbstbezichtigung berührt98 • Es führt weiter aus, daß Art. 2 Abs. 1 GG allerdings keinen lückenlosen Schutz gegen Selbstbezichtigungen gewährt. Grenzen der in Art. 2 Abs. 1 GG gewährleisteten Rechtsposition sind die Rechte anderer99 • Zwar kennt die Rechtsordnung für die Personengruppe der Beschuldigten, Zeugen und Prozeßparteien ein Schweige- oder Aussageverweigerungsrecht. Der Gemeinschuldner unterscheidet sich von dieser Personengruppe dadurch, daß er zu den im Konkurs geschädigten Gläubigern in einem besonderen Pflichtverhältnis steht HXI. Der Gemeinschuldner stellt im Konkursverfahren einen der wichtigsten Informationsträger dar. Würde man ihm ein Aussageverweigerungsrecht zubilligen, würde dies allein zu Lasten der Gläubiger gehen. Bevorzugt würde im Ergebnis derjenige, dessen Handeln zum Nachteil der Gläubiger besonders verwerflich ist. Die Auskunftspflicht im Konkursverfahren beruht daher nicht nur auf einem staatlichen oder öffentlichen Informationsbedürfnis, sondern auch auf Interessen Privater, nämlich der betroffenen Gläubiger lO1 • Im Ergebnis bestätigt das Bundesverfassungsgericht die gängige Auslegung der Konkursvorschriften, daß die Gläubigerinteressen gegenüber dem Interesse des Gemeinschuldners an einem Selbstbezichtigungsschutz überwiegen lO2 • Zur Wahrung des Grundsatzes der

.7 BVerfGE 56, 37 ff.; vgl. hierzu Deutsch, Die heimliche Erhebung von Informationen, S. 44 ff. •• Ebenda, S. 41 f. •• Ebenda, S. 49. 100

Ebenda, S. 48.

101

Ebenda, S. 50.

102

Vgl. ebenda, S. 48.

B. Entwicklung vor dem Volkszählungsurteil

49

Verhältnismäßigkeit beim Zwang zur Selbstbezichtigung leitet das Bundesverfassungsgericht aber ein strafrechtliches Verwertungsverbot ab 103 •

c) Bewertung Bis zum Volkszählungsurteil wird mit den beiden oben vorgestellten Entscheidungen der Themenkomplex "Informationserhebung mit Auskunftspflicht beim Betroffenen" abschließend behandele 04 • Das Bundesverfassungsgericht bestätigt ein "Selbstbestimmungsrecht im innersten Lebensbereich"lOS, das gegen Eingriffe resistent ist, siedelt jedoch die entsprechenden Sachverhalte nicht in diesem Bereich an 106. Über einen sphärentheoretischen Ansatz hinaus spricht das Bundesverfassungsgericht bereits von einem "Selbstbestimmungsrecht,