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German Pages 288 Year 1998
ARND KOCH
Die Entkriminalisierung im Bereich der fahrlässigen Körperverletzung und Tötung
Schriften zum Strafrecht Heft 113
Die Entkriminalisierung im Bereich der fahrlässigen Körperverletzung und Tötung
Von
Dr. Arnd Koch
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme
Koch,Arnd: Die Entkriminalisierung im Bereich der fahrlässigen Körperverletzung und Tötung I von Arnd Koch. - Berlin : Duncker und Humblot, 1998 (Schriften zum Strafrecht; H. 113) Zug!.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 1996 ISBN 3-428-09083-7
Alle Rechte vorbehalten
© 1998 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Ber1in Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 3-428-09083-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 €9
meinen Eltern
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Oktober 1995 abgeschlossen und im Wintersemester 1996/97 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg als Dissertation angenommen. Mein besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Wolfgang Frisch, der die Entstehung der Arbeit mit Interesse und Engagement begleitet und gefördert hat. Herrn Prof. Dr. Rene Bloy gebührt Dank für die Erstellung des Zweitgutachtens. Schließlich habe ich den Justizministerien Baden-Württembergs und Niedersachsens sowie dem Deutschen Anwaltverein fiir ihre Informationen und die Überlassung von Materialien zu danken.
St. Louis/Berlin, im Februar 1997
Arnd Koch
Inhaltsverzeichnis
A.
B.
Einleitung.......... .. ........................................ ...... ... ..... ...............
29
I. Übersicht über die Diskussion um die Entkriminalisierung der fahrlässigen Körperverletzung und Tötung.. .. ... ...................... ..
29
1. Positionen in der Strafrechtswissenschaft und ihre historischen Bezüge .......... ............................... ..... ..................... ....
29
2. Reformvorschläge durch Gesetzgebungskommissionen, Fachtagungen und Vereine................... .. .. .... ................... ... ..
33
3. Ablehnende Haltung des Gesetzgebers... ... ............................
35
li. Entkriminalisierung...................................... ... .........................
37
1. Begriffsklärung "Entkriminalisierung" .... ..... .. ................. .... .
37
2. Entkriminalisierungsbestrebungen in der Strafgesetzgebung
38
a) Reformphase ....... .. .... . ... ......... .......... ................... ......... ... .
38
b) Schwerpunkte der heutigen Entkriminalisierungsdiskussion.. ........ ..... ........ .. ............ .... ..... ..... .. ......... .... .. ......... ... ..
39
c) "Tendenzwende" in der Strafgesetzgebung.......................
40
Geschichtliche Entwicklung der Strafbarkeit fahrlässiger Körperverletzungen und Tötungen ... ... ............ ........ .... .......... .. ..
43
I. Übersicht..... ... ............. .. ... ........... .. ..... ... .... .. ..... ........................
43
li. Fahrlässigkeitsstrafbarkeit im römischen Recht ........................
44
l. Die römische Frühzeit.. ..... ........... .. ... ... ..... ... ....... .................
44
2. Die römische Republik und Kaiserzeit. .. ... .......... .. ..... ...... .....
45
3. Entwicklung hin zur Strafbarkeit der groben Fahrlässigkeit?
47
10
Inhaltsverzeichnis III. Fahrlässigkeitsstrafbarkeit in Deutschland bis zur Constitutio Criminalis Carolina .. .................................. ................. .... .........
49
l. Fahrlässigkeitsstrafbarkeit bis zur fränkischen Zeit............. ..
49
2. Fahrlässigkeitsstrafbarkeit im deutschen Mittelalter..............
50
IV. Fahrlässigkeitsstrafbarkeit nach den Lehren der Glossatoren und Postglossatoren ................... ...............................................
52
V. Fahrlässigkeitsstrafbarkeit nach der Constitutio Criminalis Carolina............................. .......................................................
54
VI. Fahrlässigkeitsstrafbarkeit nach der gemeinrechtlichen Strafrechtswissenschaft......... ................................ ....................... ....
55
VII. Fahrlässigkeitsstrafbarkeit nach den deutschen Partikularstrafgesetzbüchernbis 1851........ ........................... .. ............... .........
56
1. Das Preußische Allgemeine Landrecht...... .......................... ..
56
2. Die außerpreußischen deutschen Strafgesetzbücher...............
57
VIII. Dogmatische Begründung des Fahrlässigkeitsdelikts durch die Lehre des frühen 19. Jahrhunderts ................................... ...... ...
59
l. Das Problem der Schuldbegründung fahrlässigen Verhaltens
59
a) Feuerbach und Klein...................... ............................ .....
59
b) v. Almendingen und Stübel .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .... .. .. . .. .. .. .. .. .. .. .
60
2. Stimmen für die Herausnahme der Fahrlässigkeitsdelikte aus dem Strafgesetzbuch....................... ......................................
62
IX. Straflosigkeit leichter Fahrlässigkeit nach dem preußischen Strafgesetzbuch von 1851 und in den ersten Jahren des Reichsstrafgesetzbuches ......................................................................
64
1. Straflosigkeit leichter Fahrlässigkeit nach dem preußischen Strafgesetzbuch von 1851...................... ............................. ..
64
2. Meinungsumschwung nach Einführung des Reichsstrafgesetzbuches ............................................................................
66
X. Entwicklung bis zum Einsetzen der bundesdeutschen Reformdiskussion .........................................................................
69
Inhaltsverzeichnis
11
XI. Fahrlässigkeitsstrafbarkeit nach dem Strafgesetzbuch der DDR
70
1. Übersicht.... .. .... ... .... .... ... .. ..... .. ... ... ...... ........ .... ....... .... ..... ... ..
70
2. Die gesetzliche Regelung..................... ...... .. ...................... ...
71
3. Die Diskussion um die Einschränkung der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit vor Erlaß des Strafgesetzbuches ............. ... ...... ...
72
a) Anstoß der Diskussion durch Lekschas ........................ ....
72
b) Kontroverse Stellungnahmen bis zum Erlaß des DDRStGB.................... ... ....................... .. .... ... ..................... .. ..
73
c) Die Entscheidung des Gesetzgebers als Kompromiß... ......
75
XII. Zwischenergebnis... ........ .... ........... ... ...... ...... ...... ............. .. ..... ..
75
C.
Gründe für die Entkriminalisierung der fahrlässigen Tötung und Körperverletzung ...... ........................... ... .......................... .
77
I. Entkriminalisierung aufgrund der Justizüberlastung ........... .... ..
77
1. Die Überlastung der Justiz als Argument für die Reform der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit ... ........... .... ..................... ...... ... .. ..
77
2. Kritik an der ,justizökonomischen Argumentation" .............
78
li. Die Täterpersönlichkeit bei den Fahrlässigkeitsdelikten..... ... ....
79
1. Der Täter als "Jedermann"............ ...... ............... ... ......... .. ... ..
79
2. Der Fahrlässigkeitstäter aus der Sicht der Kriminologie........
80
III. Die Unvermeidbarkeil menschlicher Fehlleistungen.................
82
1. Die alltagstheoretische Annahme der Unvermeidbarkeil menschlicher Fehlleistungen................ ..... ... ........ .... ........ ....
82
2. Psychologische Erkenntnisse zur Unvermeidbarkeil menschlicher Fehlleistungen....... ......... ...... ...... ..... ... ........ ...... ..... .. ...
83
3 . Überspannte Sorgfaltsanforderungen .... ..................... .. ..... ....
84
IV. Wertungswiderspruch der ausgedehnten Fahrlässigkeitsstrafbarkeit zu gegenläufigen Tendenzen in anderen Bereichen ... ....
85
1. Wertungswiderspruch zur Arbeitnehmerhaftung .... ........ .. ... .
85
12
Inhaltsverzeichnis
a) Der "praktisch unvermeidbare Fehler" im Arbeitsrecht ....
85
b) Übertragbarkeit des Gedankens der "gefahrgeneigten Arbeit" auf das Strafrecht? ...................... ..... .. ............... ...... .
87
2. Wertungswiderspruch zur strafrechtlichen Behandlung von Sportunfällen ................. .. ........................ ... ... .................... .. .
89
3. Wertungswiderspruch zur Straflosigkeit von Schädigungen innerhalb des erlaubten Risikos ... ........ ...... ... ..... ... ... ............ .
90
V. Das "Zufallsargument" ...... ............................. .. ...................... ..
91
1. Herkunft und Entwicklung des "Zufallsargumentes" ........... ..
91
2. Verstoß der fahrlässigen Erfolgsdelikte gegen das Schuldprinzip? ... ....... ... .... .. .. .......... .. ..... ... .. .. ... .. .. ....... ........... .. ..... .. .
93
3. Das "Zufallsargument" als Appell an die Gleichbehandlung .
94
Vl. Ungleichbehandlung durch die unterschiedliche Praxis der Strafverfolgungsbehörden .................. ......... ... ... .................... ....
95
1. Extensive Auslegung des § 232 StGB durch die Staatsanwaltschaften ...... ... ..... ... .. ......... ... ... ......... .. ........ ...... ... .... .. .... .
95
2. Die regional unterschiedliche Praxis der Staatsanwaltschaften... ........................ ...... ......................... ... ........................ ...
96
3. Kritik an der herrschenden Praxis .. ... .... .............. ............. ....
98
Vll. Nutzlosigkeit und Schädlichkeit der Strafe bei Fahrlässigkeitsdelikten... ........ ....... ...... ...... ....... ................... .... .. ... .... .... ........... .
99
1. Verfehlung des Strafzwecks............... .... ..... ... ................. ... ...
99
2. Schädlichkeit der Strafverhängung für das Strafrecht.. .. .......
101
a) Autoritätsverlust des Strafrechts durch seine Überdehnung .................. .. ...... ............ .... ......... .. .... ..... ..... .... ...... ...
101
b) Autoritätsverlust des Strafrechts durch den Verlust der Aussagekraft der Strafe............................. .................. .... .
102
VIII. Zwischenergebnis......... ... ... ... ..... ............... ... ... .... ....... .. ....... .... .
103
Inhaltsverzeichnis
D.
Gefährdungsdelikte als Alternative zu einer Entkriminalisierung der fahrlässigen Erfolgsdelikte? .................... I. Die Forderung nach Aufstellung von Gefährdungsdelikten
E.
13 105 105
l. Mehrkriminalisierung gefährlicher Handlungen statt Entkriminalisierung fahrlässiger Erfolgsdelikte. ............ .. ........... ....
105
2. Ergänzung oder Ablösung der fahrlässigen Erfolgsdelikte durch konkrete Gefährdungsdelikte? .... ..... .... ................... ....
107
3. Ergänzung oder Ablösung der fahrlässigen Erfolgsdelikte durch abstrakte Gefährdungsdelikte? ............................... .. ...
108
a) Keine Abschaffung des "Zufalls'·.......... ....................... ... ..
109
b) Schädlichkeit der Strafverhängung für das Strafrecht.. .....
109
c) Fehlende Praktikabilität.... .............. ............. .. .............. .. .
110
li. Zwischenergebnis............ .......................... ... ... ... ......................
111
Tatbestandslosigkeit bestimmter Formen fahrlässigen Verhaltens nach geltendem Recht? ......... ..... ...... .... .. .. ........................ .
112
I. Übersicht ...................... .............................. .......................... ....
112
II. Straflosigkeit unbewußter Fahrlässigkeit aufgrund eines Verstoßes gegen das Schuldprinzip?..... .. ........ .......... ............. ....... ..
113
1. Das Bestreiten des Schuldcharakters unbewußter Fahrlässig-
keit........ .... .. ............. ....... ...................... ........................... ... .
113
a) Die Ansicht von Arthur Kaufmann und Bocketmann ... ....
113
b) Kritische Stimmen vor Arthur Kaufmann und Bockelmann ..... .... ............................... ......... ... ......... ............. ....
114
c) Folgerungen aus der Schuldlosigkeit unbewußter Fahrlässigkeit durch Artbur Kaufmann und Bocketmann ... .....
116
2. Die Begründung des Schuldgehalts unbewußter Fahrlässigkeit durch die herrschende Lehre....... ..... ... ... .... .. ............... ...
117
a) Ergebnisorientierte Kritik ................ ...... ..................... .....
117
b) Normative Erweiterung der Willensschuld ........ ..... ..... .. .. .
118
14
Inhaltsverzeich.:·üs
c) Kritik an der normativen Erweiterung der Willensschuld.
121
3. Grenzen rechtspolitischer Argumentation mit dem Schuldprinzip .. ............ .... .... ......... ........... .... ................................ ...
121
III. Straflosigkeit leichter Fahrlässigkeit aufgrund der Subsidiarität des Strafrechts?.............. ...... .................. .... ... .......................... ..
123
1. Unverhältnismäßigkeil der Strafe bei leichter Fahrlässigkeit?
123
2. Grenzen rechtspolitischer Argumentation mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ............................. ... ..................... ..
124
IV. Straflosigkeit leichter Fahrlässigkeit aufgrund des Geringfügigkeitsprinzips?........ .. .... .. . .... ...... .. ...... .. ............... .............. .. ..... ...
125
1. Der Ansatz Roxins: Straflosigkeit aufgrund fehlender "Verantwortlichkeit"?.... ..... ...... ..... ..... ... ...... .. ........ ...... .........
125
a) Überblick............... ... .......................... .. ........ ...................
125
b) Roxins Lehre von der Verantwortlichkeit................ .. .......
126
c) Anwendung der Verantwortlichkeitslehre auf die Reform der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit.... ..... .. ... ... .......... ..... .... ... .. .
128
2. Kritik an der Ansicht Roxins................. ... ... ..... ........... .... .....
129
a) Grundsätzliche Bedenken..................... ... ........................ .
129
b) Weitgehende Unanwendbarkeit des Geringfügigkeilsgedankens auf die Fahrlässigkeitsproblematik..... .. .... ....... ....
130
V. Straflosigkeit leichter Fahrlässigkeit aufgrund eines Unzumutbarkeitskriteriums? ..... ....... .................... .... ....... ................... .. ...
13 1
1. Übersicht... .. .... ....... ..................... ..... .. .. ............................ .. ..
13 1
a) Stimmen für die Entkriminalisierung fahrlässigen Verhaltens aufgrund des Unzumutbarkeitsgedankens. .... .. ...........
131
b) Problematische Reaktivierung einer umstrittenen Rechtsfigur .... ... ...... ...... ......... ....................... ...... ... ........ ...... ..... ..
132
2. Die Unzumutbarkeit als allgemeiner übergesetzlicher Entschuldigungsgrund . ... ....... ............ .. ......................................
13 3
3. Die Unzumutbarkeit bei den Fahrlässigkeitsdelikten......... ... .
135
Inhaltsverzeichnis
15
a) Der Anwendungsbereich des Unzumutbarkeitsgedankens bei den Fahrlässigkeitsdelikten................................
135
aa) Der "Leinenfangerfall" .............................. .. ..............
136
bb) Der "Bügeleisenfall" ................................. .................
137
cc) Straßenverkehr ....................................................... ...
13 8
dd) Rechtsprechung aus der Nachkriegszeit.................. ...
139
b) Unübertragbarkeit des Unzumutbarkeitsgedankens auf Fälle leichter Fahrlässigkeit.................. ...........................
139
4. Die Unzumutbarkeit als regulatives Prinzip... .. .....................
140
VI. Straflosigkeit leichter Fahrlässigkeit aufgrund eines funktionalen Schuldverständnisses?............................................ ........... ..
141
1. Die Ansicht von Jakobs .............................................. ..........
141
a) Jakobs' funktionaler Schuldbegriff.. .. ........ .. .....................
142
b) Anwendung des funktionalen Schuldbegriffs auf die Entkriminalisierung leichter Fahrlässigkeit......................
144
2. Kritik an der Ansicht von Jakobs ........... .............. ............... ..
145
a) Immanente Kritik... ..........................................................
145
b) Grundsätzliche Kritik. .................... ........... .......................
145
VII. Straflosigkeit leichter Fahrlässigkeit aufgrund des Satzes in dubio pro reo?................................ ................ ...................... .....
148
1. Der Ansatz von Stratenwerth.................... ............................
148
2. Kritik........................ ... ........................................................
149
VIII. Straflosigkeit der fahrlässigen Mißhandlung?...... ........ .. ...........
151
1. Der Meinungsstand in der heutigen Literatur........ ............. ..
151
2. Der Meinungsstand nach Erlaß des Reichsstrafgesetzbuches
152
a) Das Bestreiten der Strafbarkeit fahrlässiger Mißhandlungen durch die herrschende Lehre......................................
152
16
F.
Inhaltsverzeichnis b) Einleitung des Meinungsumschwungs durch das Reichsgericht .... ......... ... ................................ .......................... ...
152
3. Stellungnahme....................................... ...... ........................
154
4. Exkurs: Straflosigkeit der fahrlässigen körperlichen Mißhandlung de lege ferenda..................... .. .. ... .. ..................... ...
155
IX. Zwischenergebnis.......... .. ................. .. .......... ............................
157
Einschränkung der Strafbarkeit fahrlässiger Tötungen und Körperverletzungen durch die Anwendung gesetzlich vorhandener Rechtsinstitute? .... ............................... ...... ..................... .
158
I. Übersicht ....................... .. ... .......................... .. ...................... .. .
158
II. Reform der Strafbarkeit fahrlässiger Körperverletzungen durch ein Ansetzen bei§ 232 StGB?............... ....... ...... .... .. ....... ... .. .. ...
159
1. Abschaffung oder Einschränkung der staatsanwaltliehen Anklagebefugnis bei fahrlässigen Körperverletzungen?........ .....
15 9
a) Fahrlässige Körperverletzungen als reine Antragsdelikte.
159
b) Einschränkung der staatsanwaltliehen Eingriffsbefugnisse
160
c) Gründe für die Abschaffung oder Einschränkung der staatsanwaltliehen Eingriffsmöglichkeiten .......................
160
2. Kritik....................... ... ......... ... ........ .... ..... ............ .. ......... ...
161
Ill. Entkriminalisierung leicht fahrlässiger Körperverletzungen und Tötungen durch Anwendung des§ 153a StPO?.. .............. .........
163
1. Ausdehnung des Anwendungsbereichs von§ 153a StPO .. ... .
163
2. Grundsätzliche Bedenken gegen§ 153a StPO........... .. ... .. .. .. .
164
3. Ablehnung einer Reform der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit durch die "prozessuale Lösung" .. .. .. .. ..... .. ... .. ... .. .. .. .. .. .. .. . .. ...
165
a) Anwendbarkeit des § 153a StPO bei schwerem Erfolgsunrecht? .. .................... ........................... .... ......... ... .
165
b) Uneinheitliche Anwendung des§ 153a StPO.... .... .. ........ ..
167
c) Notwendigkeit einer gesetzgebensehen Entscheidung ... ...
167
Inhaltsverzeichnis
17
IV. Verwarnung mit Strafvorbehalt statt Strafe bei leichter Fahrlässigkeit?........... ............................ ... ........................... .. ..
168
1. Anwendung des § 59 StGB zur Entkriminalisierung leichter Fahrlässigkeit?........... ... ....................... .. ... .... ..................
168
2. § 59 StGB als ungeeigneter Ansatzpunkt für eine Reform der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit........................ .... ....................... .
169
a) Die restriktive Anwendung des§ 59 StGB ......... .. ........ ....
169
b) Zwecklosigkeit der Verwarnung bei leichter Fahrlässigkeit...................... ..... ....................... ... ... .. ...................... ..
171
V. Zwischenergebnis..... .... ...... ...................... ...... ........................ ..
171
Die Bedeutung des Erfolgsunrechts für die Reform der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit ...... ..... .... ... .......... .... .. ...... .. ... .. ... ... ........ ..
172
I. Übersicht......................... .... ........................ ...... ...................... .
172
1. Am Handlungsunwert orientierte Reformansätze.............. ... .
172
2. Unzureichende Begründung der am Handlungsunwert orientierten Reformvorschläge.......... .... ..... ... ... .. ... .... .... .. ........ ... ...
173
a) Fehlende Problematisierung der Erfolgsfunktion ........ ...
173
b) Kein Eingehen auf den Strafzweck der positiven Generalprävention sowie auf die symbolische Funktion der Strafe. .. .. ... ............. .. ...... ....... ... .... ..... ... ... ...... ...... ... ......... .
174
c) Keine Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Problematik........... .. . .... ............... ... ... ............. .. .. .. .. . ... ... ...
174
li. Verfassungswidrigkeit einer teilweisen Entkriminalisierung der fahrlässigen Körperverletzung und Tötung?.. .. .... ........ .. ........ ....
175
1. Stimmen für ein verfassungsrechtliches Entkriminalisierungsverbot fahrlässiger Tötungen.. ........ ... ...... ..... .. ...... ..... ...
175
2. Herleitung und Reichweite der verfassungsrechtlichen Pönalisienmgspflicht .. .... .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. ....... .. .. .. ..
176
G.
2 Koch
a) Von den Schutzpflichten zur Pönalisiemngspflicht
176
b) Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers.. ...............
177
18
Inhaltsverzeichnis
aa) Gestaltungsspielraum bei verfassungsrechtlichen Schutzpflichten.......................... ................................
177
bb) Gestaltungsspielraum beim Einsatz des Strafrechts....
178
c) Kein Überschreiten des Gestaltungsspielraums bei der Entkriminalisierung bestimmter Fahrlässigkeitsgrade ......
179
3. Verstoß gegen Artikel 92 GG?................ ..............................
180
a) Der materielle Rechtsprechungsbegriff.... .........................
180
b) Zugehörigkeit jeder Form der fahrlässigen Tötung und Körperverletzung zum Kernbereich des Strafrechts? ........
181
III. Die Bedeutung des Streits um die Unrechtszugehörigkeit des Erfolges für die Reform der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit .............
183
1. Die Diskussion um die Unrechtszugehörigkeit des Erfolges "Glasperlenspiel" oder Anstoß für eine am Handlungsunrecht orientierte Entkriminalisierung fahrlässigen Verhaltens?........................... .................................. ................... ... ..
183
2. Die "monistisch-subjektive Unrechtslehre" ...........................
184
a) Von Welze1 zur "Bonner Schule" ................................... ..
184
b) Rechtspolitische Vorstellungen der Anhänger des "monistisch-subjektiven Unrechtsbegriffs" .......................
186
3. Relevanz des Streits um den Unrechtsbegriff für die Entkriminalisierung fahrlässigen Verhaltens. ................. ............. ...
187
a) Rechtspolitische Zweckentfremdung der "monistischsubjektiven Unrechtslehre".................. ........................... ..
187
b) Die mittelbaren Auswirkungen der unrechtssystematisehen P1azierung des Erfolges ..........................................
188
4. Stellungnahme zur "monistisch-subjektiven Unrechtslehre".
189
a) Unvereinbarkeit mit dem geltenden Recht ........................
190
b) Ablehnung des normentheoretischen Ausgangspunktes ....
191
5. Zusammenfassung ..... ...........................................................
191
Inhaltsverzeiclmis
IV. Grenzen einer am Handlungsunwert orientierten Entkriminalisierung durch den Strafzweck der positiven Generalprävention?
192
I. Übersicht.. .. .............. ... ...... ................... ............................ ....
192
2. Grenzen rechtspolitischer Argumentation mit der positiven Generalprävention..... .......................... .................................
193
a) Die beiden Varianten der positiven Generalprävention .. ...
193
b) Die unterschiedlichen Chancen der empirischen Verifizierbarkeit................ .. .................................. .. ..... ......... ....
194
3. Entkriminalisierung im Fahrlässigkeitsbereich und die "Einstellungen der Bevölkerung" .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .
195
a) Die "Einstellungen der Bevölkerung" als rechtspolitisches Allzweckargument .................... ....... .......................... .... ..
195
b) Annäherung an die "Einstellungen der Bevölkerung" durch die Attributionstheorie?.......... .. ..............................
197
aa) Anwendungsgebiet der Attributionstheorie .. .. .. .. .. .. .. ..
198
bb) Steigende Verantwortungszuschreibung mit steigender Schadenshöhe? .. .. .. .. .. .. .. .. .. .... .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. ..
198
4. Vermutungen über die "Einstellungen der Bevölkerung"...... V. Entkriminalisierung leicht fahrlässiger schwerer Erfolgsverursachungen - ein falsches Signal?.... ............ .. ...... .................... ... l. Der "Urnkehreffekt" als Argument gegen die Entkriminali-
200 202
sierung fahrlässigen Verhaltens.......... ...... .. .. .............. ..........
202
2. Keine schädlichen Nebeneffekte bei der Entkriminalisierung leichter Fahrlässigkeit.. ........................ ............ ....................
203
Vl. Strafbarkeit fahrlässigen Verhaltens und symbolisches Strafrecht. .................................................................................... .. ..
204
1. Übersicht........ ........................ .. ............................................
204
2. hilialt "symbolischer Gesetzgebung·' und ihre Bedeutung für das Strafrecht ...... ................................. ............ ....................
205
a) Aufgreifen des Themas durch die Strafrechtswissenschaft 2*
19
205
20
Inhaltsverzeichnis
b) Merkmale symbolischer Gesetze......... ..............................
206
c) Besondere Bedeutung symbolischer Gesetzgebung für das Strafrecht ............... ............................................... ........ ...
207
3. Strafbarkeit leicht fahrlässig verursachter schwerer Erfolge aus symbolischen Gründen?.................... ......................... .....
208
VII. Strafbarkeit leichter Fahrlässigkeit nur bei der Herbeiführung schwerer Verletzungserfolge? .............................. ...... .. .......... ...
210
1. Übersicht.... .... ....... ...... ............. .. .... .. .. ... ............ ................ ...
210
2. "Kombinationslösungen" zur Reform der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit .. .............. ............................. ............................ ..
211
3. Vorbild Österreich?. ........................ ..... ........... .....................
212
4. Ablehnung der Gradation von Handlungs- und Erfolgsunrecht. ....................................................................................
213
VIII. Zwischenergebnis........ ......................................... .................... H.
215
Reichweite einer Entkriminalisierung ................ .... ... ... .......... ...
217
I. Sektorale Entkriminalisierung?.......... ................................ .. .....
217
1. Übersicht........... ..... .............. .. ............ .......................... ........
217
2. Sonderregelung für "gefahrgeneigte Berufe"? ... ....................
218
3. Sonderregelung für den Bereich des Straßenverkehrs?..... ... ..
219
a) Stimmen für eine sektorale Entkriminalisierung fahrlässigen Verhaltens im Straßenverkehrsbereich.................. .. ...
219
b) Ablehnung einer sektoralen Entkriminalisierung fahrlässigen Verhaltens im Verkehrsbereich ........... ....... .. ...........
220
II. Straflosigkeit "leichtester" oder "geringfügiger" Fahrlässigkeit"? ................. .. .......... .... ............................................. .... ......
221
1. Leichtfertigkeit, "geringfügige Fahrlässigkeit" oder "leichteste Fahrlässigkeit" als Schlüsselbegriffe einer Entkriminalisierung .... ................. ............................. .......................... .....
221
Inhaltsverzeichnis
21
2. "Leichteste" oder "geringfügige" Fahrlässigkeit als ungeeignete Anknüpfungspunkte einer Entkriminalisierung .............
222
III. Beginn der Strafbarkeit fahrlässigen Verhaltens bei Leichtfertigkeit. ........................................................ ..............................
224
1. Argumente für das Abstellen auf Leichtfertigkeit................ ..
224
a) Leichtfertigkeit als Ausdruck qualifizierter Fahrlässigkeit im Strafgesetzbuch...........................................................
224
b) Übereinstimmung mit Wertungen des Zivilrechts.......... ...
225
c) Vorbild USA?........ .. .. ................ ........ .. .. ..........................
226
2. Inhalt der Leichtfertigkeit.................................................. ...
227
a) Begriffsbestimmung durch Rechtsprechung und herrschende Lehre...... ................................. ........................ .. .
227
b) Konkretisierung der Leichtfertigkeit.... .. .. .. .......................
228
aa) Der Verweis auf die grobe Fahrlässigkeit...... ............ .
228
bb) Von der Literatur genannte Konkretisierungskriterien
229
c) Notwendige Unbestimmtheit der Leichtfertigkeit.. ...........
231
IV. Präzisere Umschreibung qualifiziert fahrlässigen Verhaltens durch das Anknüpfen an innere Einstellungen des Täters?.. .... ..
231
1. Gesinnungsmerkmale statt Gradation.... ............................ ...
231
a) Gewissenlosigkeit .. ............................ .. ............. ...............
233
b) Rücksichtslosigkeit .......................... .. .. ............................
234
c) Gleichgültigkeit .......................................... .....................
236
aa) Vorbild DDR? ....................... ................... ............. .. ..
237
(I) Extensive Auslegung des § 8 Abs. 2 DDR-StGB durch Rechtsprechung und Lehre .........................
239
(2) Versuch der Präzisierung von "verantwortungsloser Gleichgültigkeit" .. .... . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. ... ... .. .. ..
240
(3) Kritik an § 8 Abs. 2 DDR-StGB innerhalb der Strafrechtswissenschaft ............... .. ............ .. ... .. ....
242
22
Inhaltsverzeichnis
bb) Keine Einführung der "Gleichgültigkeit" in das Strafgesetzbuch.............. ..... ........................ ...............
243
2. Strafbarkeit lediglich bewußter Fahrlässigkeit?.................. .. .
244
a) Vorteile einer Grenzziehung zwischen bewußter und unbewußter Fahrlässigkeit............................................... .. ...
244
b) Kriminalpolitische Bedenken gegenüber der generellen Straflosigkeit unbewußter Fahrlässigkeit..........................
245
V. Zwischenergebnis.......... .. .........................................................
246
Reformvorschlag ............ ... ..... .................... .. ... .................... .. ... .
248
Literaturverzeichnis.. .......... .............. .. ....... .. ........ ....... .. .. ......... .. ... ..... .
249
Sachregister................................ ........... ............ ... ... ........... ................
284
J.
Abkürzungsverzeichnis
a.A .. .. ...... .... ....... ......... ............. ... . Abs ............. ......... ...... ........ ......... . AcP .......................................... ... . AE .............................................. . a.E . ....... .... ..... .... .. ...... .. .. ....... ..... .. AG ..... ... .......... .. ........ ... .. ... ...... .... . AK/(Bearbeiter) ........................ ... . ALR ............ .. .............................. . Anh.............. .............. ......... ....... .. Anrn............ ............... ......... ..... ... . Annalen ..... ... .......... .......... ... .. .. ... . AnwBl. ............... ..... ... ........... ....... AO ..................... ...................... ... . ArbG .......... .... ... .. .... ..... ... .......... ... ArbRSarnrnl. .. .. .. ... ... .. .... ... .. .... ..... ArchCrirnR.. .. .. .. ......... ... .. .. ......... . Art . ............. ................ ...... .... ...... . AT .............. ....................... ...... ... . Aufl ....... ...... .......................... ...... . BAG................ ....................... ... ...· BaslJurMitt. ...... ...... .. .. ............. ... . BayObLG .... ... ...... ..... .. ... ....... ..... .. Bd . ........ ... ...... .. ........ ........ ............ bes ..... ... ....... .............. ...... .. .... ..... . . BGB ............ ....... ... .................. .. .. . BGBl.I. ..... ...... ... ...................... .... BGH ............ ...... ... ... ... ... ..... ... ... .... BGHSt ... .... ....... .......................... .
anderer Ansicht Absatz Archiv für die civilistische Praxis Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches arnEnde Amtsgericht Alternativkommentar Allgerneines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 Anhang Anmerkung Annalen der Großherzoglichen Badischen Gerichte Anwaltsblatt Abgabenordnung Arbeitsgericht Arbeitsrechtssammlung Archiv des Crirninalrechts Artikel Allgerneiner Teil Auflage Bundesarbeitsgericht Basler Juristische Mitteilungen Bayerisches Oberstes Landgericht Band besonders Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Teil I Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen
24
Abkürzungsverzeichnis
BGHZ ........................ ....... ... .. ER-Drucks ............ ........ .. ........... .. Bsp ............................................. . BT-Drucks .......... ................ ... ..... . BT ................ ............... .... ........... .. BtMG ...................................... .... . BVerfG ....................... .... ......... .... BVerfGE ...... .................... .. ......... . BZRG ........... .. ...... .... ... .......... ... .. .. bzw ............ .............. .. ............. .... . Collatio ........ ..... ... ... .... .... ............ . DAR ............ ......................... ..... .. DDR-StGB ........................ .
ders .......... .............................. ... . dies . ... ...... ......... ........ ... ...... .. ... ..... DJ .. .. ... ....... .......... .. .... ....... ......... .. DJT ...... .. .... ... ........................ .. ... .. DR ........... .. ... ... .... ..... .. ................ . DRiZ .......... ...... ......... ............ ... ... . E 1962 ... ... .... ........ .. ........ ..... .. ... .... ebd .... .... ..... .... ... ..... ... ......... ... ...... . EGStGB ... .. ....... .. .... ... .... .... ... ...... . Einl ............. ..... ...... ... ... ...... ...... ... . EMRK ......... ... ... .... ........ ... .... .. ..... .
f. ....... ... ... .. ............ .. .. ... ... ... .. .. .. ... .
FamRZ ................. ...... .... ... ... ... FAZ ............ ................................ . ff. ......... ....... ............................ .... . FG .... .................... .. .......... ... ........ . FS ... .... ... .. ... .. ... .. .. .. .. .. ...... ..... .. ... . . Fußn ... ..... .. ... ....... .. ........ ..... ... .. ... ..
Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Drucksachen des Bundesrates Beispiel Drucksachen des Deutschen Bundestages Besonderer Teil Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln (Betäubungsmittelgesetz) Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundeszentralregistergesetz beziehungsweise Collatio legum Mosaicarum et Romanarum Deutsches Autorecht Strafgesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik derselbe dieselbe Deutsche Justiz Deutscher Juristentag Deutsches Recht Deutsche Richterzeitung Entwurf eines Strafgesetzbuches 1962 ebenda Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch Einleitung Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten folgende (Seite) Zeitschrift für das gesamte Familienrecht Frankfurter Allgemeine Zeitung folgende Seiten Festgabe Festschrift Fußnote
Abkürzungsverzeichnis
GA ...... ................................ .... ... . . Gbl ......... ....... ........ .... ... ........... .... . GG ........................................... ... . GS ................. ......................... ... .. . GedS ........... .... ........................... . . Hessische Kommission ....... ........ . .
HESt ................................. ...... .. .. .
h.L. ......... ...... .................... .. ....... .. h.M .......................... .. ................ .. HRG............................................. hrsg ... ... .... .... ...... .. ... .. .... .. ..... ..... .. . Hrsg .... ... .................... .. .............. .. i.E . .... ............ .............. ..... .......... . . i.V.m............. .............................. . JA ........ .. ........ .... .. .................. .. ... . Jbl ................. .......................... .... . Jb.RR ........ ..... .. ......... ... ......... .. .... . JOR ........... .. .. .. .. .. .. ....... .. ... .......... . JR............................. .......... .. ...... .. JurA ..... ......... ................ ........ ..... .. JuS ................ ....... ... ................... . . JW ... ... ........ .. ..... .. ..... ... ........... .. .. . JZ .... ........... ............... .. .... .... .... .... . KG ......... ... ... .............. .......... ....... . KK/(Bearbeiter) .......... .. ............... . KrimJ ......................................... .. krit. ....... ... .. .. .. .. ... .. .. ... .. .. ....... .... .. . KritV .... ... ... .... .... ............. ....... .... .
25
Goltdammers Archiv für Strafrecht Gesetzblatt (der DDR) Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Der Gerichtssaal Gedächtnisschrift Albrecht!Hassemer!Voß (Hrsg.), Rechtsgüterschutz durch Entkriminalisierung, Vorschläge der Hessischen Kommission "Kriminalpolitik" zur Reform des Strafrechts, 1992, Baden-Baden Höchstrichterliche Entscheidungen in Strafsachen. Sammlung von Entscheidungen der Oberlandesgerichte in Strafsachen herrschende Lehre herrschende Meinung Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte herausgegeben Herausgeber im Ergebnis in Verbindung mit Juristische Arbeitsblätter Juristische Blätter (Österreich) Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie Jahrbuch für Ostrecht Juristische Rundschau Juristische Ausbildung Juristische Schulung Juristische Wochenschrift Juristenzeitung Kammergericht Karlsruher Kommentar zur Strafprozeßordnung Kriminologisches Journal kritisch Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft
26
Abkürzungsverzeiclmis
Lehrbuch ( 1978) ........ .... .. ... ... .... .. . Lehrbuch (1988) .. .. ....... .. .. .. .. .. .. .. .. LG .. .. .... ... ...... .... ...... ........ .......... .. . LH. .. ..... ................ .. ... .... ... .. ...... ... . LK/(Bearbeiter) .... .. ...... .. ... .. ... ..... . LR/(Bearbeiter) .... ...... ... ... .. .. .... ... . Materialien .. ...... ... ....................... . MDR .. ... ... ..... ......... ....... ..... ... ...... . MedR .. .. ............ .... .. .. ... ...... ....... .. . MSchrKrim ................................. . MSchrKrimPsych .. .. ... ...... ..... .... .. . m.w.N ...... ........ .. .... ............ ........ .. NArchCrimR ........ .......... .. ........... . Niedersächsische Kommission .... . .
Niederschriften ....... .... ......... .. .. .. .. . NJ ... ... .. .. .... ...... ... ..... ...... ... ........ .. . NJW ... .... ......... ....... ... .... .... ........ .. . NJW-RR ... ...... ........ .... ... .... ........ .. . Nr. .... ...... ... ... .... ........ ..... ........... .. . NStZ ....... ..... ....... .. .... ....... ..... .. .. .. . NZV ...... .... ......... ...... .... ... ...... ...... . ÖJZ ... ..................... .... .. ............... . ÖRiZ ...... .. .. ........ ... ......... ... ... ...... .. OG .... .... ..... .... ....... .. ... .... .... .... ... ... OLG .. .... ............. ..... .............. .. ... . . ÖStGB ...... ......... .............. .......... . . OWiG ......................................... . Präsidiumsbericht ... ...... .... .. .. .. .. .. . .
Autorenkollektiv, Strafrecht Allgemeiner Teil, 1978, Berlin (Ost) Autorenkollektiv, Strafrecht der DDR, 1988, Berlin (Ost) Landgericht Lernheft Leipziger Kommentar Löwe/Rosenberg Materialien zur Strafrechtsreform, 15 Bände, 1954-1962 Monatsschrift für Deutsches Recht Medizinrecht Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform mit weiteren Nachweisen Archiv des Criminalrechts, Neue Folge Albrecht, u.a (Hrsg.), Strafrecht ultima ratio, Empfehlungen der Niedersächsischen Kommission zur Reform des Strafrechts, 1992, Baden-Baden. Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission Neue Justiz Neue Juristische Wochenschrift NJW-Rechtsprechungs-Report Zivilrecht Nummer Neue Zeitschrift für Strafrecht Neue Zeitschrift für Verkehrsrecht Österreichische Juristen-Zeitung Österreichische Richterzeitung Oberstes Gericht (der DDR) Oberlandesgericht Strafgesetzbuch der Republik Österreich Gesetz über Ordnungswidrigkeiten Probleme der strafrechtlichen Schuld, Bericht des Präsidiums des Obersten
Abkürzungsverzeichnis
PrStGB .. ... ....... .. .. ........... ............. .
RAG.......... .................................. . RdA ........... ... .............................. . RdO ...................................... ...... .
Rdnr. .......................................... .. RiStBV.......... ................ .... ......... . . RGBl. ............ .......................... ... . . RStGB ........ ................................ . . RVO ........................................ ... . .
S......... ........ ..... ... .... ......... .... ........
Sch/Sch!(Bearbeiter) .................. .. SchlHA ......... ................... .......... . . SchwZStr .............. .. ................... .. SJZ ...... .......... ... ..... ....... ... .... ... ..... . SK/(Bearbeiter) ... ...... ........... ... .. .. . sogen .. ........ ... ............. ... ............. .. StGB ....... .. ................ ................. . . StrÄG ..... .. ..... ...... ..... .. ......... ...... . . StV...... ..... ... ................. .. ....... ... ... . StVG .... ....... ............................. ... . StVO ....... .......... ........ ... ............... . StVZO ... .. ..... .. .. ... ...... ... ....... ..... ... . SZ ............................ .... .............. ..
Triberger Symposium ........ .. .. ... ... .
u.a............ ... ............................. ... .
VAE ............................................ . VersR ..... ... .. .. ................... ..... .... .. .
27
Gerichts an die 6. Plenartagung am 28. März 1973, NJ Beilage 3/73 Strafgesetzbuch für die preußischen Staaten von 1851. Reichsarbeitsgericht Recht der Arbeit Die Rechtsprechung des Königlichen Obertribunals in Strafsachen, Hrsg. von F.C. Oppenhoff Randnummer Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren Reichsgesetzblatt Reichsstrafgesetzbuch Reichsversicherungsordnung Seite Schönke/Schröder Schleswig-Holsteinische Anzeigen Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht Süddeutsche Juristen-Zeitung Systematischer Kommentar sogenannt Strafgesetzbuch Strafrechtsänderungsgesetz Strafverteidiger Straßenverkehrsgesetz Straßenverkehrsordnung Straßenverkehrszulassungsordnung Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte Justizministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Möglichkeiten und Grenzen der Entkriminalisierung, Symposium am 3./4. Dezember in Triberg, Tagungsbericht unter anderem Verkehrsrechtliche Abhandlungen und Entscheidungen Versicherungsrecht
28
Abkürzungsverzeichnis
Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, Allgemeiner Teil V.D.B.T. .... ... ... o.......... oo ... o... o... o.. . Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, Besonderer Teil vergleiche vgl. ............. ... ... Verkehrsgerichtstag VGT ........ .................... .... o.... o... o.. . Verordnung VO ............................ .. .. .. .. ... Vorbemerkung Vorbem......... ... Verkehrsrechts-Sammlung VRS ......... ..... ... o···o·······o·······o····· ·· VVG ........................................... . Gesetz über den Versicherungsvertrag Wehrstrafgesetz ····o·· WStG ....... o···o····o···o··o···oo··o···· z.B . .. ....................... .............. ... ... . zum Beispiel Zeitschrift für Rechtsvergleichung ZfRV ............. o... o... o... o······o······.. o·· Zeitschrift für Schweizerisches Recht ZfSchwR .. .......... ...... ..... o... o... o..... . ZfSozPsych ........ Zeitschrift für Sozialpsychologie Zeitschrift für Verkehrssicherheit ZfV ............. .. .............................. . Ziffer Ziff....... o.. o... .......... oo·oo·o·o········ ······ ZRP ...............oo .. .. .. oo .. o.. . o........ ... .. . Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für die gesamte StrafrechtsZStW .. ......... . oo ........... o... o... o.... .... o. wissenschaft zustimmend zust. ...... .. .... .. ............................ .. . ZVR ..... oo ················o··o······o·····o···o· Zeitschrift für Verkehrsrecht (Österreich) V.D.A.T. ·····o···.. ···o······o···........ . o···
o .. . ...................... . .
o ..... .
o ••• o ••••••••••••••• • • •• • • • •
0 ••••••• 0 ••• 0 ••• 0 ••••••••••
A. Einleitung I. Übersicht über die Diskussion um die Entkriminalisierung der fahrlässigen Körperverletzung und Tötung
1. Positionen in der Strafrechtswissenschaft und ihre historischen Bezüge "Es ist aber eben so wenig zu läugnen, daß das Deutsche System, bey welchem man ... die culpose Handlung nach dem eingetretenen Erfolg straft, durch seine konsequente Anwendung vielfach den gesunden Menschenverstand beleidigt" 1 . Dieses Zitat von Carl Joseph Anton Mittermaier aus dem Jahr 1825 soll hier stellvertretend für den bis in die Nachkriegszeit vorherrschenden Ansatzpunkt rechtspolitischer Kritik an der Strafbarkeit fahrlässiger Erfolgsdelikte stehen. Die bestehende gesetzliche Regelung wurde auf zwei unterschiedlichen Wegen in grundsätzlicher Weise angegriffen. Entweder wurde mit Radbruchs bekanntem Wort die den fahrlässigen Erfolgsdelikten vermeintlich immanente "veschämte Zufallshaftung"2 gerügt oder es wurde der Schuldgehalt jeder unbewußten Fahrlässigkeit bezweifele. Gemeinsam ist der Kritik, daß die Verwirklichung der ihr zugrundeliegenden theoretischen Konzepte zu weitreichenden Folgen führen würde. Wegen eines Verstoßes gegen das Schuldprinzip müßten bei deren konsequenter Umsetzung die fahrlässigen Erfolgsdelikte insgesamt bzw. jede unbewußte Fahrlässigkeit aus dem Strafrecht herausgenommen werden. Im Gegensatz zu diesen Ansätzen ist eine maßgeblich durch v. Savigny eingeleitete preußische Sonderentwicklung in der Strafbarkeit fahrlässigen Verhaltens in Vergessenheit geraten. Vor allem seit dem 1846 erstellten Gutachten4 des damaligen Justizministers "Über die Behandlung der Fahrlässigkeit Mittermaier, C.J.A. , Criminalgesetzgebung, S. 168. Radbruch, V.D.B.T. , Bd. 5, S. 201 Fußn. 2. So heute noch Arthur Kaufmann, JurA 1986, S. 23l f.; ders., Schuldprinzip, S. 162fi 4 v. Savigny, S. 520ff. 1
2
30
A. Einleitung
im Strafgesetzbuch" wurde in Preußen die Herausnahme leichter Grade der Fahrlässigkeit aus dem Strafrecht erörtert und auch durch die Gerichte praktiziert. Obwohl diese durch kriminalpolitische Erwägungen gestützte Ansicht auch noch nach Erlaß des Reichsstrafgesetzbuches vertreten wurde, fand sie in Deutschland lange Zeit keine Nachfolger. Erst über ein Jahrhundert später wurden, ohne daß man sich des rechtshistorischen Vorbilds bewußt war, ähnliche Gedanken erneut aufgegriffen. Eine Wende in der Diskussion um die Fahrlässigkeitsstrafbarkeit zeichnete sich erst in den 60er Jahren ab. Statt der bis dahin ganz überwiegend von schuldtheoretischen Überlegungen geleiteten Argumentation rückten kriminalpolitische Fragestellungen in den Vordergrund. Seither geht es nicht mehr darum, ob die "Zufallshaftung" oder die Bestrafung der unbewußten Fahrlässigkeit gegen das Schuldprinzip verstoßen, sondern um die Frage, ob leichtere Fahrlässigkeitsformen aus dem Strafrecht herausgenommen werden sollen. Nachdem zuerst Peters5 solche Gedanken an etwas entlegener Stelle und weitgehend unbeachtet geäußert hatte, kam es im Anschluß an den Alternativentwurf aus dem Jahr 1966 zu einer Reihe ausführlicher Stellungnahmen, die sich für die Entkriminalisierung bestimmter Formen leicht fahrlässigen Verhaltens aussprachen6 . Nach dem Abebben der Reformphase in der Strafgesetzgebung Mitte der 70er Jahre beruhigte sich die Debatte zunächst7 , doch zu Beginn der 90er Jahre wurde das Thema mit derselben rechtspolitischen Zielsetzung in einer Reihe neuer Veröffentlichungen erneut aufgegriffen8 . Im Ergebnis vertreten heute auch die führenden Lehrbücher des Strafrechts übereinstimmend, wenn auch in den Einzelheiten mit großen Unterschieden, die Ansicht, daß die Fahrlässigkeitsstrafbarkeit eingeschränkt werden sollte9 .
5 Peters, Kriminalpädagogik, S. 307f; ders., FS Eb. Schmidt, S. 495 Fußn. 19. In der DDR setzte die Diskussion um die Reform der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit etwas früher ein. Den Anstoß gab 1958 die Monographie von Lekschas "Über die Strafwürdigkeit von Fahrlässigkeitsverbrechen". 6 Zuerst mit ausführlicher Argumentation Stratenwerth, BaslJurMitt 1966, S. 53ff.; auch Bocke/mann, Verkehrsstrafrechtliche Aufsätze, S. 217; Cramer, DAR 1974, S. 317; Nickel, 14. VGT 1976, S. 59ff; Volk, GA 1976, S. 161fT.; Tröndle, DRiZ 1976, S. 129fT. 7 Aus dieser Zeit zum Thema Mehle, AnwBl1983, S. 381. 8 Frisch, Strafbarkeitsvoraussetzungen, S. 226; ders. , Verwaltungsakzessorietät, S. 130; ders. , FS Stree/Wessels, S. 97f. ; Hoffmann, NZV 1993, S. 209fT.; Janiszewski, DAR 1994, S. ltf.; Müller-Metz, 32. VGT 1994, S. 118fT.; ders. , NZV 1994, S. 89fT.; Weigend, FS Miyazawa, S. 550f.; Zipf, FS Krause, S. 437. 9 Jakobs, AT, 9/26; Jescheck, AT, S. 514 und ebd., Fußn. 40 a.E.; Mau-
I. Diskussionsübersicht
31
Der kurze Überblick über die Stellungnahmen in der Literatur scheint die von Roxin vor zwei Jahrzehnten festgestellte Einigkeit über die Einschränkung der Strafbarkeit für Fahrlässigkeit10 zu bestätigen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, daß jenseits des gemeinsamen Ziels der Reduzierung der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit eine Vielzahl unterschiedlicher und unvereinbarer Ansichten vertreten werden. Die Meinungsunterschiede beziehen sich auf sämtliche für eine Entkriminalisierung fahrlässigen Verhaltens grundlegenden Fragen. So herrscht über den Ansatzpunkt und die Reichweite einer Reform ebenso Uneinigkeit wie über den von ihr zu erfassenden Lebensbereich. Die Spannbreite der Reformvorschläge wird bereits deutlich, wenn man die in der Literatur vorgeschlagenen Ansatzpunkte für eine Entkriminalisierung betrachtet. Die Vorschläge reichen von einem bloßen Appell an die Rechtsprechung, die Sorgfaltsanforderungen herabzusetzen11 bis hin zu einem Eingriff in den Allgemeinen Teil des StGB 12 . Andere Autoren plädieren für die verstärkte Anwendung der §§ 153a StP0 13 bzw. des § 59 StGB 14 oder dafür, Änderungen innerhalb des Strafantragsrechts15 bzw. des Straftatbestandes des § 230 StGB 16 vorzunehmen. Während diese Ansätze entweder nur zu Randkorrekturen führen oder aber das Eingreifen des Gesetzgebers erforderlich machen, wird auch vertreten, daß eine Entkriminalisierung leicht fahrlässiger Handlungen bereits de lege lata über den Rückgriff auf ein bestimmtes Schuldverständnis möglich ist 17 . Auch hinsichtlich der Reichweite der angestrebten Entkriminalisierung bestehen gravierende Meinungsunterschiede. Hier gehen die Ansichten besonrach!Gössel, AT 2, § 44 Rdnr. 35; Roxin, AT 1, § 24 Rdnr. 85f., 119 sowie § 2 Rdnr. 30; Stratenwerth, AT, Rdnr. 1135ff. Zurückhaltender äußern sich die Kommentare. Sofern auf die Problematik eingegangen wird, wird eine Entkriminalisierung für "rechtspolitisch bedenklich" gehalten (so Dreher!Tröndle, § 15 Rdnr. 21) oder festgestellt, § 153a StPO biete ausreichende Möglichkeiten (so AKJZielinski, §§ 15,16 Rdnr. 98; LK!Schroeder, § 16 Rdnr. 215). Lackner!Kühl, § 230 Rdnr. 1 und Sch!Sch!Cramer, § 15 Rdnr. 196, verweisen ohne eigene Stellungnahme auf Literatur zum Streitstand. 10 Roxin, FS Gallas, S. 241. 11 Weigend, FS Miyazawa, S. 551. 12 Niedersächsische Kommission, S. 18. 13 Tröndle, DRiZ 1976, S. 83. 14 Z.B. Dencker, StV 1985, S. 403. 15 Janker, DAR 1993, S. 12; auch Hessische Kommission, S. 14; Gesetzesantrag Hessens, BR-Drucks. 400/93. 16 Hoffmann , NZV 1993, S. 212; Müller-Metz, NZV 1994, S. 90. 17 So mit starken Unterschieden im einzelnen z.B. Jakobs, AT, 9/26; Roxin, AT 1, § 24 Rdnr. 86, 119; Stratenwerth, AT, Rdnr. 1135.
A. Einleitung
32
ders darüber auseinander, ob auch eine durch leicht fahrlässiges Verhalten verursachte schwere Verletzung oder Tötung straflos bleiben kann. Gerade in jüngster Zeit wurde gewissermaßen als Kompromiß vorgeschlagen, unterschiedliche Sorgfaltsanforderungen je nach der Schwere der eingetretenen Verletzung aufzustellen18 . Demnach genügt bei der Verursachung eines schweren Körperverletzungserfolges im Sinne des § 224 StGB 19 jede Fahrlässigkeit, während bei leichteren Verletzungen nur leichtfertiges20 oder grob fahrlässiges21 Verhalten strafbar sein soll. Wird hingegen bei den Reformvorschlägen ausschließlich auf das Handlungsunrecht abgestellt, herrscht Uneinigkeit darüber, wie das strafwürdige fahrlässige Verhalten zu beschreiben ist. Soll zukünftig im Wege einer Gradation die Strafe auf leichtfertiges Handeln22 beschränkt werden oder soll "leichte" 23, "geringfügige" 24 oder "leichteste"25 Fahrlässigkeit straffrei bleiben? Statt der für zu unbestimmt gehaltenen Gradation der Fahrlässigkeit wird auch vorgeschlagen, die strafwürdige "qualifizierte Fehlentscheidung"26 durch die in der Tat zum Ausdruck kommende Gesinnung des Täters zu charakterisieren27 . Unabhängig von den Meinungen über den Ansatzpunkt und die Reichweite einer Reform gehen die Ansichten auch darüber auseinander, ob eine Entkriminalisierung für jeden Lebensbereich anzustreben ist oder ob eine Reform auf
18 Mit Unterschieden im einzelnen z.B. Hof!mann , NZV 1993, S. 212; MüllerMetz, NZV 1994, S. 90; ders., 32 VGT 1994, S. 119; Zipf, FS Krause, S. 442, 447.
19 Die Grenzziehung über die in § 224 StGB genannten Verletzungserfolge wurde in der gegenwärtigen Diskussion zuerst von Hof!mann , NZV 1993, S. 212, vorgeschlagen; ihm folgend Müller-Metz, NZV 1994, S. 90; ders , 32. VGT 1994, S. 119. Vorläufer dieser Ansicht war Lampe, ZStW Bd. 83 (1971 ), S. 200, 202. 20
So Müller-Metz, NZV 1994, S. 90; ders., 32. VGT 1994, S. 119.
21 So Hof!mann , NZV 1993, S. 212.
22 Z.B. Bocke/mann, Verkehrsstrafrechtliche Aufsätze, S. 217; Cramer, DAR 1974, S. 322. 23 Z.B. Stratenwerth, BaslJurMitt 1966, S. 71 ; ders., AT, Rdnr. 1135tl 24 Roxin, AT 1, § 24 Rdnr. 85f., 119.
25 Z.B. Burgstaller, Fahrlässigkeitsdelikt, S. 201. 26 Fn·sch, Strafbarkeitsvoraussetzungen, S. 226; ders. , Verwaltungsakzessorietät;
ders., FS Stree/Wessels, S. 97f. i.V.m. S. 86. 27 Frisch, Strafbarkeitsvoraussetzungen, S. 227; ähnlich Arzt, GedS Schröder, S. 127.
L Diskussionsübersicht
33
bestimmte Bereiche wie etwa den Straßenverkehr28 bzw. "gefahrgeneigte Tätigkeiten"29 beschränkt sein soll. Schon dieser erste Überblick zeigt eine verwirrende Vielzahl von Reformvorschlägen. Die bisherigen Überlegungen zu einer Entkriminalisierung fahrlässigen Verhaltens leiden darunter, daß die jeweiligen Reformziele meist nur kurz in den Raum gestellt werden und eine Auseinandersetzung mit anderen Ansichten kaum stattfindet. Ein besonderer Mangel ist darüber hinaus, daß der für die Reform der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit grundlegenden Frage nach der Rolle des Erfolges aus dem Weg gegangen wird. Unter Berücksichtigung verfassungsrechtlicher, dogmatischer und straftheoretischer Überlegungen muß statt dessen erörtert werden, ob auch schwere Verletzungserfolge bis hin zu Tötungen straflos bleiben können. Ein Fortschritt in der Auseinandersetzung um die Entkriminalisierung der fahrlässigen Tötung und Körperverletzung kann erst erreicht werden, wenn auf sämtliche in die Diskussion eingebrachten Konzepte eingegangen wird und die bisher übergangenen Probleme thematisiert werden.
2. Reformvorschläge durch Gesetzgebungskommissionen, Fachtagungen und Vereine Neben der Strafrechtswissenschaft beschäftigen sich auch Gesetzgebungskommissionen, Fachtagungen und Vereine mit der Entkriminalisierung fahrlässigen Verhaltens30 . Bis auf wenige Ausnahmen herrscht auch hier Einigkeit über die Notwendigkeit von Entkriminalisierungsschritten. Den ersten Gesetzesentwurf zur Entkriminalisierung fahrlässigen Verhaltens legte 1966 der Alternativentwurf zu einem Strafgesetzbuch vor. Nach seinem häufig mißverstandenen 31 § 16 Abs. 2 sollte geringfügig fahrlässiges 28 Z.B. Hoffmann , NZV 1993, S. 211 f. ; Janiszewski, DAR 1994, S. 7; Müller-Metz, NZV 1994, S. 90. 29 Roxin, AT I,§ 24 Rdm. 11 9; besonders im Hinblick auf Ärzte Ratajczak, MedR 1988, S. 92; Ulsenheimer, MedR 1987, S. 215f. 30 Neben den unten Genannten vgl. auch Triherger Symposium 1992, "Möglichkeiten und Grenzen der Entkriminalisierung"; ADAC-Fachgespräch "Entkriminalisierung des Verkehrsstrafrechts" , bei Janker, DAR 1993, S. lltf; These 2b der Arbeitsgemeinschaft "Entlastung der Rechtspflege durch Entkriminalisierung" des 16. Strafverteidigertages, StV 1992, S. 347. 31 Dazu H. 11 2.
3 Koch
A. Einleitung
34
Verhalten zukünftig straffrei bleiben. Dieser Vorschlag regte zwar die Wissenschaft zur weiteren Beschäftigung mit der Problematik an, bei den Beratungen zur Reform des Strafgesetzbuches wurde er jedoch nicht beachtet. Keinen erkennbaren Einfluß auf den Gesetzgeber hatten auch die Empfehlung des Europarates aus dem Jahr 1975 32 sowie die Resolution des XII. Internationalen Strafrechtskongresses33 , die jeweils auf recht unbestimmte Weise die partielle Rücknahme der Strafe bei Fahrlässigkeitsdelikten vorsahen. Anfang der 90er Jahre kam es zu neuen Gesetzesentwürfen, die Entkriminalisierungen im Fahrlässigkeitsbereich enthielten. Die vom Niedersächsischen und Hessischen Justizministerium gebildeteten Kommissionen zur Reform des Strafrechts34 unterbreiteten unterschiedlich weitreichende Vorschläge. Während die Niedersächsische Kommission für die generelle Entkriminalisierung der einfachen Fahrlässigkeit plädierte35 , sollte nach dem Vorschlag der Hessischen Kommission die fahrlässige Körperverletzung lediglich zum reinen Antragsdelikt umgestaltet werden36 . Im Gegensatz zu den vorherigen Reformplänen, die von der Öffentlichkeit unbeachtet blieben, sorgten Ende 1994 Entkriminalisierungsvorschläge des Deutschen Anwaltvereins37 für großes Aufsehen. In ihnen wurde die Straflosstellung der fahrlässigen Körperverletzung in den Raum gestelle8 , ohne
Siehe bei Janiszewski, Verkehrsstrafrecht, Rdnr. 853. Entschließungen des Xll. Internationalen Strafrechtskongresses in Hamburg, Resolution der I. Sektion, Nr.3c: "Zur Vorbeugung und Venninderung der leichtesten fahrlässigen Rechtsverstöße empfiehlt es sich, in weitem Umfang zivil- und verwaltungsrechtliche Sanktionen anzuwenden, wie auch erzieherische Maßnahmen"; ZStW Bd. 92 (1980), S. 1069. 34 Rechtsgüterschutz durch Entkriminalisierung, Vorschläge der Hessischen Kommission "Kriminalpolitik" zur Reform des Strafrechts, 1992; Strafrecht - ultima ratio, Empfehlungen der Niedersächsischen Kommission zur Reform des Strafrechts, 1992. 35 Niedersächsische Kommission, S. 18. 36 Hessische Kommission, S. 14. 37 Vgl. nur FAZ vom 1.11.1994, S. 1 und 2.11.1994, S. 4 sowie den "Tagesspiegel" vom 1.11 .1994, S. 4. Die auch in Fernsehsondersendungen im Anschluß an die Vorschläge des Anwaltvereins gef\ihrte öffentliche Diskussion beschränkte sich fast ausschließlich auf den ebenfalls unterbreiteten Vorschlag einer Entkrirninalisierung des Ladendiebstahls. Auf die Entkriminalisierung der fahrlässigen Körperverletzung wurde kaum eingegangen. Eine Ausnahme macht die ablehnende Leitglosse auf S. 1 der FAZ vom 1. 11.1994. 38 So der Geschäftsführer des Anwaltvereins, Brüssow, im "Tagesspiegel" vom 1.11.1994, S. 4. 32 33
I. Diskussionsübersicht
35
aber auf die einem angekündigten Gesetzesvorschlag39 vorbehaltenen Einzelheiten einzugehen. Eine grundsätzlich ablehnende Haltung gegenüber Entkriminalisierungen nahm lediglich der Deutsche Verkehrsgerichtstag ein, der sich 1994 mit dieser Frage beschäftigte. Im Gegensatz zu den tagungsvorbereitend erschienenen Aufsätzen von Janiszewski 40 und Müller-Metz41 lehnte sein Arbeitskreis III ("Angemessene Reaktionen des Staates auf Verkehrsverstöße") selbst kleine Schritte in Richtung Entkriminalisierung ab und stellte in seinen Beschlüssen knapp fest, daß "derzeit keine Veranlassung zu Änderungen bei den Verkehrsstraftaten nach§ 142 und§ 230 StGB (bestehe, A.K.)" 42 .
3. Ablehnende Haltung des Gesetzgebers
Trotz der entgegenstehenden Auffassungen von Strafrechtswissenschaft und Gesetzgebungskommissionen steht der Gesetzgeber einer Entkriminalisierung der fahrlässigen Tötung und Körperverletzung kritisch gegenüber. Eine Reformfreudigkeit wie in Österreich, wo die Entkriminalisierung in Regierungserklärungen angesprochen43 und durch Gesetzesvorlagen vorangetrieben wird44 , ist in Deutschland derzeit undenkbar. Unterstützung findet die ablehnende Haltung des Gesetzgebers vor allem durch Stimmen aus der Praxis45 . So äußerten sich auf dem Triherger Symposium 1992 vor allem Vertreter aus Reihen der Justiz kritisch gegenüber jeder Form einer Entkriminalisierung.
Schreiben des Deutschen Anwaltvereins an den Verfasser vom 5.1.1995. Janiszewski, DAR 1994, S. lfi 41 Müller-Metz, NZV 1994, S. 89ff.; ders., 32. VGT 1994, S. 118ff. 42 32. VGT 1994, S. 10; ablehnend schon der 14. VGT, DRiZ 1976, S. 83. 43 Regierungserklärung des österreichischen Bundeskanzlers Vranitzky vom 18.12.1990, Stenographische Protokolle über die Sitzungen des Nationalrates der Republik Österreich, XVIll. Gesetzgebungsperiode 1990-1991 , 1. Band, 7. Sitzung, S. 327: "Das Straßenverkehrsrecht soll weiter entkriminalisiert werden" . 44 Entwurf eines Strafrechtsänderungsgesetzes 1992, Bundesministerium für Justiz 318.007/9-Ill/91, S. 1: Ziel ist es, das Straßenverkehrsrecht weiter zu entkriminalisieren, "solange nicht schwere Körperverletzung, Fahrerflucht oder Alkoholisierung eine gerichtliche Strafe unabdingbar machen, soll mit Verwaltungsstrafen und zivilrechtliehen Sanktionen das Auslangen gefunden werden" . 45 Triherger Symposium, S. 104 (Huber-Stentrup); S. 170 (Preisendanz ); S. 85ff., 179 (Rebmann); S. 87ff., 139 (Saiger). 39 40
3*
A. Einleitung
36
Derartige Vorstellungen seien "kriminalpolitisch einfach unvertretbar" 46 ; selbst für Randkorrekturen bestünde "kein Handlungsbedarf' 47 . Lange Zeit fanden die Bemühungen um eine Einschränkung der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit beim Gesetzgeber keine Beachtung. So dikutierte der Ende der 60er Jahre eingerichtete "Sonderausschuß des Bundestages für die Strafrechtsreform" erst gar nicht über die durch § 16 Abs. 2 AE angeregte Entkriminalisierung. Kriminologische Besonderheiten der Fahrlässigkeitstat wurden zwar in den Beratungen kurz angesprochen48 , mit ihnen sollte jedoch lediglich die Einführung der nichtdiskriminierenden Strafart der Strafhaft für FahrlässigkeitstäteT begründet werden. Die auch heute noch ablehnende Haltung des Gesetzgebers gegenüber einer Entkriminalisierung der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit zeigt sich in den Reaktionen des Hessischen und Niedersächsischen Justizministerium auf die Vorschläge der von ihnen eingesetzten Reforrnkommissionen. Die Ergebnisse der Hessischen Kommission wurden teilweise für eine Gesetzesinitiative verwendet. Hinsichtlich der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit blieb der beim Bundesrat eingereichte Entwurf eines Strafrechtsänderungsgesetzes49 allerdings noch hinter den Vorstellungen der Kommission zurück. Statt der ursprünglich vorgesehenen Umgestaltung der fahrlässigen Körperverletzung zu einem reinen Antragsdelikt soll nun die Möglichkeit eines staatsanwaltliehen Eingreifens im Falle grob verkehrswidrigen Verhaltens im Straßenverkehr erhalten bleiben50 . Das Niedersächsische Justizministerium ließ nach Erstellung des Abschlußberichts der Kommission einen Referentenentwurf ausarbeiten. In diesem unveröffentlichten Entwurf wurde die Kommissionsempfehlung, die einfache Fahrlässigkeit zu entkriminalisieren, nicht aufgenommen51 . Statt dessen war eine dem Hessischen Gesetzesentwurf ähnliche Regelung vorgesehen. Weil der Referentenentwurf auf Kritik innerhalb der Niedersächsischen Landesregierung stieß, mußte die Arbeit an ihm eingestellt werden. Saiger, Triherger Symposium, S. 139. Rebmann, Triherger Symposium, S. 86, 179. 48 Güde und Diemer-Nicolaus, Protokolle des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, 5. Wahlperiode, S. 837ff; krit. Arndt, ebd., S. 840. 49 Gesetzesantrag Hessens vom 9.6.1993, Bundesrat-Drucks. 400/93 . 50 Bundesrat-Drucks. 400/93, S. 1f. und 1Off 51 Schreiben des Niedersächsischen Justizministeriums an den Verfasser vom 13.10.1994. 46
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II. "Entkriminalisierung"
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II. Entkriminalisierung 1. Begriffsklärung "Entkriminalisierung"
Trotz der häufigen Verwendung52 des Begriffs "Entkriminalisierung" besteht über seinen Inhalt in der rechtspolitischen Diskussion Unklarheit. Um Mißverständnisse auszuschließen, soll deshalb zunächst das dieser Arbeit zugrundegelegte Begriffsverständnis verdeutlicht werden. In einem weiteren Schritt werden Entwicklung und Schwerpunkt der Bestrebungen zur Entkriminalisierung des Strafgesetzbuches skizziert. Nur vor diesem Hintergrund werden die Besonderheiten und Schwierigkeiten der Reform der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit gegenüber den anderen in der Diskussion stehenden Bereichen deutlich. Nach einem engen Begriffsverständnis ist für eine Entkriminalisierung die Streichung eines Straftatbestandes wesentlich53 . Unerheblich ist dann, ob das bisher strafbare Verhalten sanktionslos bleibt oder ob zivilrechtliche Ersatzreaktionen bzw. das Ordnungswidrigkeitengesetz an die Stelle der Strafe treten. Überwiegend wird der Begriff weiter gefaßt und auch das Absehen von Strafe nach § 153a StPO sowie die Verwarnung mit Strafvorbehalt gemäß § 59 StGB als Entkriminalisierung verstanden54 . Die Vertreter des engeren Begriffsverständnisses würden in diesen beiden Fällen lediglich von "Diversion" (§ 153a StPO) bzw. "Entpoenalisierung" (§ 59 StGB) 55 sprechen. Noch einen Schritt weiter gehen die Autoren, für die auch Änderungen beim Strafantragsrecht eine entkriminalisierende Maßnahme darstellen können56 . In dieser Arbeit wird von einem denkbar weiten Verständnis der "Entkriminalisierung'' ausgegangen. "Entkriminalisierung" wird als Oberbegriff für alle rechtspolitisch motivierten Ansätze zur Einschränkung der Straf-
52 Krüger, Kriminalistik 1995, S. 306, spricht von einem "in Mode gekommenen Schlagwort". 53 Brandt, S. 19; Maurach/Zipf, AT 1, § 2 Rdnr. 16; Schöch, FS SchülerSpringorum, S. 247; noch enger Naucke, GA 1984, S. 212, wonach "wirkliche Entkriminalisierung" vorliegt, wenn der Strailatbestand ohne gleichzeitige Schaffung anderer Sanktionsformen gestrichen wird. 54 Kaiser, FS Klug Bd. 2, S. 582, 594; Vogler, ZStW Bd. 90 (1978), S. 152f; Vormbaum, FS Gmür 1983, S. 331. 55 Schöch, FS Schüler-Springorum, S. 247. 56 Jescheck, AT, S. 95; Waller, Neue Kriminalpolitik 1994, S. 26.
A. Einleitung
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barkeit aus §§ 222, 230 StGB verstanden57 . Über die in der Literatur genannten gesetzgeberischen Eingriffsmöglichkeiten hinaus kann demnach auch die Interpretation des geltenden Rechts mit dem Ziel der Strafbarkeilsreduzierung als Entkriminalisierung aufgefaßt werden.
2. Entkriminalisierungsbestrebungen in der Strafgesetzgebung a) Reformphase
Im Anschluß an den Entwurf eines Strafgesetzbuches aus dem Jahr 1962 und den vier Jahre später erschienenen Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches entwickelte sich eine breite rechtspolitische und wissenschaftliche Diskussion, bei der der Gedanke der Entkriminalisierung des bestehenden Strafrechts eine beherrschende Stellung einnahm58 . Die Früchte der Reformphase waren vor allem das 1. und 2. Strafrechtsreformgesetz59 , in deren Mittelpunkt die Neugestaltung des Sanktionensystems60 sowie der 1975 in Kraft getretene Allgemeine Teil des Strafgesetzbuches standen. Weniger einschneidend waren die vorgenommenen Entkriminalisierungen im Besonderen Teil61 . Durch das 1. Strafrechtsänderungsgesetz wurden beispielsweise die durch den gesellschaftlichen Wandel weitgehend überholten Straftatbestände des Ehebruchs (§ 172 a.F.), der Homosexualität unter Erwachsenen (§§ 175, 175a a.F.), der Sodomie (§ 175b a.F.) sowie der Herausforderung zum Zweikampf(§§ 20lff. a.F.) abgeschafft. Weitere Entkriminalisierungen folgten im Bereich des Staatsschutzstrafrechts62 , des Sexualstraf-
Ähnlich, jedoch beschränkt auf gesetzgeberische Gestaltungsrnöglichkeiten, Roos, S. 3. 58 Roos, S. 14 rn.w.N.; Übersicht über die vorgenommenen Entkrirninalisierungen bei Schöch, Triherger Symposium, S. 32tf., 55. 59 1. Gesetz zur Reform des Strafrechts vorn 25 .6.1969 (BGBl.I, S. 64Stf.); 2. Gesetz zur Reform des Strafrechts vorn 4.7.1969 (BGBl.I, S. 717). 60 Zu nennen sind insbesondere die Schaflimg der Einheitsstrafe, die Zurückdrängung der kurzen Freiheitsstrafe, die Einführung der Institute der Verwarnung mit Strafvorbehalt sowie des Absehens von Strafe, die Umstellung der Geldstrafe auf das Tagessatzsystem und die erweiterte Möglichkeit einer Strafaussetzung auf Bewährung. 61 Siehe dazu den Überblick bei Lenckner, Strafrechtsentwicklung, S. 332ff. und Roos, S. 58-160. 62 8. StrÄG vom 25.6.1968, BGBl.I, S. 741. 57
II. "Entkrirninalisierung"
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rechts63 sowie des Demonstrationsstrafrechts64 . Desweiteren wurde die in §§ 360ff. StGB a.F. geregelte Kategorie der Übertretungen gestrichen65 und der § 248a StGB eingeführt66 . Von großer praktischer Bedeutung war die Reform des Verkehrsstrafrechts67 , in der bis auf wenige Ausnahmen die in verkehrsrechtlichen Nebengesetzen aufgestellten Straftatbestände in Ordnungswidrigkeiten unmgewandelt wurden. Der größte Entkriminalisierungseffekt wurde jedoch nicht durch die Änderung des materiellen Rechts erreicht, sondern durch die Einführung des § 153a StP068 . Die "prozessuale Lösung" des Problems der Bagatellkriminalität sollte sich in den nächsten Jahren zum meistgebrauchten Instrument der Entkriminalisierung entwickeln.
b) Schwerpunkte der heutigen Entkriminalisierungsdiskussion
In der heutigen Entkriminalisierungsdiskussion spielt die Reform der Strafbarkeit für fahrlässiges Verhalten lediglich eine untergeordnete Rolle. In der rechtspolitischen Auseinandersetzung um Entkriminalisierungen standen in den letzten Jahren der § 218 StGB, das Betäubungsmittelstrafrecht sowie der Ladendiebstahl69 im Mittelpunkt des Interesses. Weniger Aufmerksamkeit erhielten die Initiativen zur Rücknahme des Strafrechts bei unerlaubter Unfallflucht70 sowie bei Erschleichung von Leistungen. Ausgehend von dem Problem der Ladendiebstähle gibt es seit den 70er Jahren in der Strafrechtswissenschaft eine breite Diskussion um die Behandlung
63 4. StrÄG vorn 23.11.1973, BGBI.I, S. 645; in diesem Gesetz kam es auch zur Streichung der Straftatbestände der Eheerschleichung ( § 170 a.F. ), des Beiseiteschaf:. fens von Familienhabe ( § 170a a.F.) und des Verlassens Schwangerer ( § I 70c a.F. ). 64 3. StrÄG vorn 20.5.1970, BGBl.I, S. 505. 65 EGStGB vorn 2.3.1974, BGBI.I; S. 469. 66 EGStGB vorn 2.3.1974, BGBl.I, S. 469. 67 Einführungsgesetz zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten vorn 24.5.1968, BGBI.l, S. 503. 68 § I53aStPO wurde durch Art. 21 Nr.44 EGStGB vorn 2.3.1974 eingeführt, BGBI.I, S. 496, 508. Das Gesetz trat arn I. I. I 975 in Kraft. 69 Vgl. nur die Vorschläge der Hessischen und Niedersächsischen Kornmission zur Strafrechtsreform sowie des Deutschen Anwaltvereins in seiner Pressemitteilung vom 7.10. I 994; krit. und m.w.N. Krüger, Kriminalistik 1995, S. 306fT. 70 Vgl. dazu Hessische Kommission, S. I 5f. ; Gesetzesantrag Hessens vorn 9.6.1993, ER-Drucks. 400/93, S. 4ff.; Janiszewski , DAR 1994, S. lfi; Müller-Metz, NZV I 994, S. 9Iff. rn.w.N.; ders, 32. VGT I 994, S. 122ff.
A. Einleitung
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der Bagatellkriminalität71 . Im Zentrum der Veröffentlichungen zum Thema "Entkriminalisierung" steht daher regelmäßig die Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Lösungskonzepten für den Bagatellbereich72 . Dabei wird das Für und Wider der Abschichtung von Bagatelldelikten ins Ordnungswidrigkeitenrecht, der "prozessualen Lösung'' nach § 153a StPO, der Schaffung einer dritten Deliktskategorie, der Aufstellung zivilrechtlicher Ersatzreaktionen oder der Einführung einer materiell-rechtlichen GeringfügigkeitsklauseC 3 ausführlich erörtert. Die Diskussion um die Entkriminalisierung der fahrlässigen Körperverletzung und Tötung kann nicht durch die Wiederholung der zur Reform der Bagatelldelinquenz ausgetauschten Argumente geführt werden, weil dadurch der entscheidende Unterschied der beiden Bereiche übersehen würde: Während bei den Bagatelldelikten das Handlungs- und Erfolgsunrecht nicht schwerwiegend sind, kann bei den Fahrlässigkeitsdelikten eine "geradezu unheimliche Polarität''74 zwischen einem leichten "Jedermann-Versehen" einerseits und den katastrophalen Folgen andererseits entstehen. Eine angemessene Reform kann deshalb nur unter Beachtung der spezifischen Probleme der Fahrlässigkeitsdelikte erfolgen.
c) .. Tendenzwende " in der Strafgesetzgebung
Für die Verwirklichungschancen einer Reform der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit besteht das Problem, daß die Strafgesetzgebung heute nicht von dem Gedanken der Entkriminalisierung, sondern von dem der Mehrkriminalisierung beherrscht wird. Während noch in der Reformphase die Rücknahme des Strafrechts im Vordergrund stand, läßt sich seit der zweiten Hälfte der 70er Jahre eine "Tendenzwende"75 in der Strafgesetzgebung feststellen76 . In immer zunehmenderem Maße neigt der Gesetzgeber zu Neukriminalisierungen oder 71 Umfassend Hirsch , ZStW Bd. 92 (1980), S. 218ff
Zusammenfassend Roos, S. 169ff. Dafür die Niedersächsische Kommission, S. 15tr., mit folgendem Formulierungsvorschlag: "Eine Tat ist nicht strafbar, wenn die Schuld des Täters gering ist und die Tat nur zu einer unbedeutenden Rechtsgutsverletzung oder Gefährdung geführt hat"; zustimmend Schöch , FS Schüler-Springorum, S. 255. 74 Burgstaller, ZVR Sonderhell 1978, S. 20. 75 So zuerst Ebert, JR 1978, S. 136, 142. 76 Lenckner, Strafrechtsentwicklung, S. 331; Roxin, JA 1980, S. 547; ablehnend Achenbach, JuS 1980, S. 88; widersprüchlich Roos, S. 283 . 72
73
ll. "Entkriminalisierung"
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Verschärfungen bestehender Strafgesetze. Ließen sich die Gesetze zur Bekämpfung der Wirtschafts-77 und Umweltkriminalitäe8 noch als eine Reaktion auf wirtschaftliche und technische Neuerungen erklären, so hat sich seit Beginn der 90er Jahre die Tendenz zur Ausdehnung des Strafrechts deutlich verstärkt. Ein Grund für die zunehmende Aufstellung von Straftatbeständen ist, daß sich die Kriminalisierung als Mittel in der politischen Auseinandersetzung eignet und auch als solches benutzt wird79 . In einer Reihe von Gesetzen wurden neue Straftatbestände geschaffen, der Anwendungsbereich bestehender Normen ausgedehnt oder ihr Strafrahmen erweitert80 . Von den Strafschärfungen wurden auch Fahrlässigkeitsdelikte betroffen, indem das Zweite Gesetz zur Bekämpfung der Umweltkriminalität die Strafrahmen der fahrlässigen Begehungsweisen der §§ 324ff. StGB von zwei auf drei Jahre Freiheitsstrafe erweiterte.
Erstes Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität vom 29. 7.1976, BGBl.I, S. 2034; u.a. Einführung der §§ 264,265b sowie des Konkursstrafrechts, §283fT. Zweites Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität vom 15.5.1986, BGBl.I, S. 721 ; u.a. Einführung bzw. Neufassung der §§ 152a, 266b; 202a, 263a, 269, 270, 303a, 303b; 264a; 266a. 78 Gesetz zur Bekämpfung der Umweltkriminalität (18. StÄG) vom 28.3.1980, BGBI.I, S. 373; darin Einführung des Abschnitts "Straftaten gegen die Umwelt". 79 Lenckner, Strafrechtsentwicklung, S. 342ff; Roxin, JA 1980, S. 547. Mit der Kriminalisierung einer Verhaltensweise oder der Schärfung bestehender Gesetze kann der Gesetzgeber der Öffentlichkeit schnell und kostengünstig zeigen, daß er auf Gefahren reagiert. 80 Die wichtigsten Gesetzesänderungen der letzten Zeit: - Verbrechensbekämpfungsgesetz vom 28.10.1994, BGBl.I, S. 3186ff. u.a. Neufassung der §§ 86, 86a, 130 StGB (§ 130 Abs. 3 zur "Auschwitzlüge") sowie Strafschärfungen bei den §§ 223, 223a, 223b, 225 StGB. - Zweites Gesetz zur Bekämpfung der Umweltkriminalität vom 27.6.1994, BGBl.I, S. 1440ff; darin die Neueinführung der §§ 324a, 325a StGB sowie Strafschärfungen bei den fahrlässigen Begehungsweisen der §§ 324fT. StGB. - Eintuhrung des § 108e StGB (Abgeordnetenbestechung) durch das 28 . StrÄG vom 13.1.l994, BGBl.I, S. 84. - Änderung des § 184 StGB (Kinderpornographie) durch das 27. StrÄG vom 23.7.1993, BGBI.I, S. 1346. - Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität vom 15.7.1992, BGBLI, S. 1302; darin z.B. die Einfügung der§§ 244a, 260a, 261 StGB. Von großer Bedeutung ist außerdem die Einführung des § 73d (Erweiterter Verfall). 77
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A. Einleitung
In dem gegenwärtig vorherrschenden kriminalpolitischen Klima haben es Gedanken einer Entkriminalisierung schwer; sie sind "unzeitgemäß" 81 . Angesichts der grundsätzlichen Ablehnung des Gesetzgebers gegenüber einer Entkriminalisierung fahrlässiger Körperverletzungen und Tötungen bedarf es einer genauen Aufstellung der Gründe, die für einen solchen Schritt sprechen. Nur so kann der Gesetzgeber vielleicht davon überzeugt werden, den in der Reformphase versäumten Schritt hin zu einer Entkriminalisierung trotz einer nunmehr veränderten kriminalpolitischen "Großwetterlage" nachzuholen.
81 Schöch, FS Schüler-Springorum, S. 245; Stangl, Neue Kriminalplitik 1994, S. 38, spricht von einer derzeit herrschenden "Kultur der Kriminalisierung". Die ablehnende Haltung des Gesetzgebers gegenüber Entkriminalisierungen wird besonders durch die heftigen Reaktionen von Politikern auf die Vorschläge des Anwaltvereins aus dem Herbst 1994 deutlich. So wies Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger die Reformziele zurück, weil das StGB kein "Experimentierfeld für Schnellschüsse" sei ("Tagesspiegel" vom 1.11.1994, S. 2). Die Beobachtung, daß Vorschläge zur Entkriminalisierung in besonderem Maße geeignet sind, Emotionen freizulegen (Stangl, Neue Kriminalpolitik 1994, S. 37), bestätigte der Baden-Württembergische Ministerpräsident Teufel durch seine Reaktion: "Es ist geradezu pervers, wenn eine auf Wahrung des Rechts verpflichtete Institution dazu aufruft, Umecht nicht mehr als Unrecht zu bezeichnen und zu behandeln" (FAZ vom 2.11 .1994, S. 4).
B. Geschichtliche Entwicklung der Strafbarkeit fahrlässiger Körperverletzungen und Tötungen I. Übersicht Jede Rechtsordnung steht vor der Frage, wie auf unbeabsichtigte Tötungen und Körperverletzungen strafrechtlich reagiert werden soll. Die Antworten auf dieses zeitlose Problem werden im folgenden anband eines historischen Rückblicks dargestellt, wobei auf jede Epoche der deutschen Strafrechtsgeschichte zumindest kurz eingegangen wird1 . Bei der Übersicht sollen zwei Schwerpunkte gesetzt werden. Besonderes Interesse verdient zum einen die Entwicklung im 19. Jahrhundert. Grund hierfür ist zunächst, daß unsere heutige Fahrlässigkeitsdogmatik auf den Ideen dieser Zeit basiert und einige der heute vertretenen Vorschläge zur Entkriminalisierung fahrlässigen Verhaltens erst vor dem Hintergrund dieser Lehren verständlich werden. Wichtiger aber ist, daß in dieser Epoche bereits rechtspolitische Ziele verwirklicht worden sind, die gegenwärtig in der Auseinandersetzung um die Entkriminalisierung fahrlässigen Verhaltens verfolgt werden. Diese heute in Vergessenheit geratene zeitlich und regional begrenzte Entwicklung gilt es in Erinnerung zu rufen. Der andere Schwerpunkt liegt auf der Entstehung der dem Strafgesetzbuch der DDR zugrundeliegenden Fahrlässigkeitskonzeption. Die in der bundesdeutschen Literatur weitgehend unbeachtet gebliebene Regelung der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit in der DDR kann eventuell für die Reform des nunmehr gesamtdeutschen Strafgesetzbuches wertvolle Anregungen geben. Bei dem historischen Rückblick darf nicht übersehen werden, daß das Recht vergangeuer Epochen nicht den Weg zu einer Reform der Strafbarkeit fahrlässigen Verhaltens vorgeben kann2 . Der Glaube, mit rechtsgeschichtlichen Erkenntnissen konkrete rechtpolitische Ziele einfordern zu können, muß als 1 Der Forschungsstand zur Geschichte des Fahrlässigkeitsdelikts ist defizitär; weil neuere Arbeiten weitgehend fehlen, mußte häutig auf ältere Literatur zulilckgegriffen werden. 2 Anders Klee, GA Bd. 62 (1 916), S. 455. Bezüglich der künftigen Strafbarkeit fahrlässigen Verhaltens erklärte er: "Die Geschichte erklärt nicht nur das Gewordene, sie zeigt auch, wohin der Weg führt" .
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B. Geschichtliche Entwicklung der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit
überholt gelten3 ; zu unterschiedlich sind die gesellschaftlichen Verhältnisse, als daß eine bloße Übernahme vergangener Lösungsmodelle möglich wäre. So kann beispielsweise die weitgehende Straflosigkeit der Fahrlässigkeit im römischen Recht die "Risikogesellschaft"4 des ausgehenden 20. Jahrhunderts offensichtlich nicht dazu veranlassen, entsprechende Reformen einzuleiten. Die Reform der§§ 222, 230 StGB kann nur befürwortet werden, wenn sie mit gegenwärtigen Bedürfnissen begründet wird. Dennoch kommt der geschichtlichen Betrachtung für die gegenwärtige rechtspolitische Diskussion Bedeutung zu. Durch den Blick auf die rechtsgeschichtliche Entwicklung können Erfahrungen bei Problemlösungen vermittelt werden und Anregungen gegeben werden, über die Richtigkeit und Verbesserungsfahigkeit des geltenden Rechts nachzudenken5 . Ein Anstoß, der gerade dann notwendig ist, wenn der Gesetzgeber einem Reformvorhaben kritisch gegenüber steht.
II. Fahrlässigkeitsstrafbarkeit im römischen Recht 1. Die römische Friihzeit
Schon in der römischen Frühzeit deutete sich die von unserem heutigen Verständnis grundlegend abweichende Fahrlässigkeitskonzeption der Römer an. Das Stadium der Erfolgshaftung schien bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt der gesellschaftlichen Entwicklung überwunden worden zu sein. Nach dem Gesetz des Königs Numa, der frühesten Überlieferung, die über die Fahrlässigkeitsstrafbarkeit im altrömischen Recht Auskunft gibt, konnte eine strafbare Tötung nur vorsätzlich begangen werden6 . Weil es allerdings unwahrscheinlich ist, daß es sich bei diesem Gesetz tatsächlich um eine authentische Quelle aus der römischen Königszeit handelt7 , können über die Bestrafung der Fahrlässigkeit vor den Zwölftafeln nur spekulative Urteile abgegeben werden8 . Dazu Ogorek, S. 23ff. m.w.N. Begriffsprägend Ulrich Beck, Risikogesellschaft- Auf dem Weg in eine andere Modeme, 1986, Frankfurt. 5 Mitteis!Lieberich, S. lf.; Schlosser, S. 223; Thieme, S. 280f. 6 "Si qui hominem librum dolo sciens morti duit, paricidas esto"; zitiert nach Bruns, C. G., S. 10. 7 Honseli/Mayer-Maly!Selb, S. 4 ; Wieacker, S. 307f; fiiiher bereits Beschütz, S. 30. Heute wird überwiegend angenommen, daß die Ieges regiae, zu denen das Gesetz 3
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II. Römisches Recht
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In den zwischen den Jahren 451 bis 449 v. Chr. entstandenen Zwölftafeln9 zeigte sich hinsichtlich der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit kein einheitliches Bild. Während im Bereich der Körperverletzung eine Erfolgshaftung festgeschrieben war10 , wurde dieses Prinzip bei der Tötung nicht konsequent verwirklicht. Hier nannte das Gesetz eine bestimmte Konstellation der unbeabsichtigten Tötung, bei der keine Strafe erfolgen sollte 11 . Dagegen wurde etwa bei der unvorsätzlichen Brandstiftung allgemein auf Strafe verzichtet12 . Die Parallelität von reiner Erfolgshaftung, der Regelung eines Ausnahmefalles sowie der Verschuldenshaftung wird damit erklärt, daß die Zwölftafeln in einer kulturellen Umbruchphase geschrieben worden sind, die sich auch in dem Übergang von der Erfolgshaftung hin zu einer Schuldhaftung widerspiegelte13.
2. Die römische Republik und Kaiserzeit
Während der folgenden Jahrhunderte entwickelte sich die Strafrechtsauffassung der Römer erheblich weiter. Manifestiert wurde der Fortschritt in den Gesetzen des Sulla, die nachMommsen 14 als erstes überhaupt erlassenes Strafgesetzbuch angesehen werden können. Für die Fahrlässigkeitsstrafbarkeit ist die nach den Bürgerkriegswirren und dem Sieg des Sulla 15 zwischen den Jahren 82 bis 80 v.Chr. erlassene lex des Numa gehört, eine Sammlung aus der Zeit der Republik ist, die den Rechtszustand der Königszeit nicht zutreffend wiedergibt. 8 Eine Erfolgshaftung wird von Jhen'ng, Schuldmoment, S. 165 und Löffler, S. 63, angenommen. Dagegen Wacke, Fahrlässige Vergehen, S. 514 m.w.N. 9 Zu der sehr umstrittenen Frage der Authenzität der Zwölftafeln Wieacker, S. 290ff 10 Beschütz, S. 37; Löffler, S. 92; Pemice, S. 240f ; Wacke, Fahrlässige Vergehen, S. 549; a.A., jedoch ohne Begründung, Mommsen, Strafrecht, S. 85. 11 "Si telum manu fugit, magis quam iecit, aries subicitur"; dazu Wacke, Fahrlässige Vergehen, S. 514f, der mit dieser Wendung das unbeabsichtigte Verfehlen des Zieles beim Wurf mit einer Waffe umschrieben sieht. 12 So unter Berufung auf einen Kommentar des Gaius (D.47. 9. 9) die überwiegende Ansicht, z.B. Pemice, S. 241; Wacke, Fahrlässige Vergehen, S. 553; a.A. Beschütz, S. 41. 13 Beschütz, S. 39; Löffler, S. 92; Wacke, Fahrlässige Vergehen, S. 550. 14 Mommsen , Römische Geschichte, Bd. 2, S. 360. 15 Zu Sulla ausführlichMommsen, Römische Geschichte, Bd. 2, 304ff.
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B. Geschichtliche Entwicklung der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit
Cornelia de sicariis et veneficis von entscheidender Bedeutung. Entgegen des auf der Entstehungsgeschichte beruhenden Namens 16 galt dieses Gesetz nicht nur für Dolchträger und Giftmischer, sondern für alle Tötungsverbrechen und gemeingefahrliehe Straftaten. Bis zum Ende des weströmischen Reiches bildete die Iex Cornelia die Gesetzesgrundlage für die Strafbarkeit solcher Handlungen. Die Iex Cornelia bestimmte nicht ausdrücklich, daß nur vorsätzliche Tötungen strafbar sind. Trotzdem ist es allgemeine Ansicht17 , daß nur die dolose Tötung nach diesem Gesetz bestraft wurde, wobei zur Begründung auf einen aus den Digesten überlieferten Kommentar des Paulus verwiesen wird18 . Daß über die grundsätzliche Straflosigkeit der fahrlässigen Tötung bei der Gesetzesanwendung keine Zweifel bestanden, belegen auch Reskripte 19 der Kaiser Hadrian 20 , Caracal/a21 , Alexander Severui2 und Dioc/etian23 aus denen folgt, daß nur die Tötungsabsicht eine Strafe nach den Gesetzen des Sulla begründen konnte. Der entscheidende Anknüpfungspunkt des römischen Strafrechts war der Wille zur Erfolgsverwirklichung. Fehlte es an ihm, so erfolgte selbst dann keine Strafe, wenn die Handlung zum Tod eines Menschen geführt hatte. Andererseits wurde nach der Iex Cornelia als Konsequenz der Willensorientierung der bloße Versuch gleich der vollendeten Tat bestraft24 . Nur vorsätzliches Handeln war strafbar; was nicht unter den dolus fiel, war strafloser casus25 . Damit unterschieden die Römer streng zwischen den Voraussetzungen der Strafe und der zivilrechtliehen Haftung. Nach der Iex Aquilia aus dem
Dazu Brunnenmeister, Tötungsverbrechen, S. 224. Z.B. Binding, Normen IV, S. 66; Hitzig, S. 30 ; Löffler, S. 58; Pemice, S. 240; Wacke, Fahrlässige Vergehen, S. 517. 18 "In lege Cornelia dolus pro facto accipitur, neque in hac lege culpa lata pro dolo accipitur" (D.48.8.7.). Vgl. die "übersetzung von Wacke, Fahrlässige Vergehen, S. 516: "Bei der Iex Cornelia wird der Vorsatz für die Tat selbst genonunen. Grobe Schuld aber wird in diesem Gesetz nicht zum Vorsatz gerechnet". 19 Dazu Hitzig, S. 31 sowie Wacke, Fahrlässige Vergehen, S. 535fT. 20 Ulpian, Collatio I,6; Paulus, Collatio I,7,1; aus der collatio legum Mosaicarum et Romanarum wird jeweils nach Wacke, Fahrlässige Vergehen, S. 535ff., zitiert. Zu Herkunft und Bedeutung dieser vm:justinianischen Quelle, ders. , JuS 1980, S. 203. 21 Collatio I,8, 1. 22 Collatio I, 9, l. 23 Collatio I, 10, l. 24 Hitzig, S. 30f. 25 Beschütz, S. 48; Wacke, Fahrlässige Vergehen, S. 544. 16
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ll. Römisches Recht
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Jahre 286 v.Chr. 26 , der grundlegenden Vorschrift für den Ersatz bei Sachbeschädigungen, mußte nicht nur bei vorsätzlicher, sondern auch bei jeder Form von fahrlässiger Beschädigung Ersatz geleistet werden27 .
3. Entwicklung hin zur Strafbarkeit der groben Fahrlässigkeit? Von der völligen Straflosigkeit unvorsätzlichen Verhaltens wurde in späterer Zeit abgewichen. Zunächst bildete sich für bestimmte gefährliche Tätigkeiten wie das Baumverschneiden oder den Verkauf von Heil-, Liebes- und Abtreibungsmitteln die Strafbarkeit fahrlässiger Verhaltensweisen heraus28 . Daneben gab es Anzeichen dafür, daß die fahrlässige Tötung zumindest in groben Fällen ebenfalls bestraft wurde. Ein betiihmtes und viel erörtertes29 Beispiel für eine Strafbarkeit trotz fehlenden Vorsatzes ist ein von Ulpian überlieferter30 tödlicher Unfall beim damals populären Volksbrauch des Prellens31 . Dabei wurde der Hochgeworfene so schlecht aufgefangen, daß er zu Boden fiel und kurz darauf verstarb. Der Statthalter der südspanischen Provinz, in der sich das Geschehen ereignete, wollte die Beteiligten für fünf Jahre verbannen, weil er glaubte," .. . die aus Übermut (begangene, A.K.) Fahrlässigkeit bestrafen zu müssen, damit die übrigen jungen Leute dieses Alters gebessert würden" 32 . Obwohl eine Strafe bei unvorsätzlicher Erfolgsherbeiführung nach dem Gesetz des Su/la nicht möglich war, hätte der Statthalter schon aufgrund der ihm anvertrauten Strafkompetenz ein entsprechendes Urteil fallen können33 . Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache wandte er sich jedoch zuvor an Kaiser Hadrian 34 , der in seinem Reskript das Strafurteil des Statthalters bestätigte.
Dazu Kaser, S. 234. Die zivilrechtliche Haftung erstreckte sich auch auf culpa levissima, Wacke, Fahrlässige Vergehen, S. 531 ; Mayer-Maly, AcP Bd. 163 (1964), S. 124. 28 Hitzig, S. 35f.; Wacke, Fahrlässige Vergehen, S. 520f., 531fT. 29 Beschütz, S. 63f.; Löffler, S. 83f., 104fT.; Wacke, Fahrlässige Vergehen, S. 525fT.; ders., JuS 1980, S. 202fT. 3 Collatio I, 11 ,5. 31 Dabei wurde eine Person auf einem aufgespannten Mantel oder Tuch trampolinähnlich emporgeschleudert Zur Geschichte des Prellens Wacke, JuS 1980, S. 206fT. 32 Übersetzung von Wacke, JuS 1980, S. 203 . 33 Wacke, JuS 1980, S. 204f; ders., Fahrlässige Vergehen, S. 528f. 34 Regierungszeit 11 7-13 8 n.Chr. 26
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B. Geschichtliche Entwicklung der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit
Obwohl die kaiserlichen Reskripte für ähnliche Prozesse eine gesetzesähnliche Verbindlichkeit hatten35 , blieb es auch weiterhin bei dem Grundsatz, daß fahrlässige Tötungen nicht strafbar sind36 . Der eingeschlagene Weg, bestimmte Fälle wegen - modern gesprochen - präventiver Notwendigkeiten zu bestrafen, wurde offensichtlich nicht weiter beschritten. Statt dessen bestätigten die bereits erwähnten späteren Reskripte 37 der Kaiser Caracalla, Alexander Severus und Diokletian sowie eine Novelle der Kaiser Theodosus II. und Va/entinian III. aus dem Jahr 445 n. Chr. 38 die weiterhin bestehende Straflosigkeit der unbeabsichtigten Tötung. Vor diesem Hintergrund muß die These, seit Hadrian habe sich eine Bestrafung der grob fahrlässigen Tötung herausgebildet und nur die leichte Fahrlässigkeit sei straflos geblieben39 , als bloße Vermutung zurückgewiesen werden, die anhand der heute bekannten Quellen nicht belegt werden kann. Auf das römische Strafrecht geht die grundlegende Unterscheidung zwischen absichtlicher und unbeabsichtigter Tat zurück. Eine Differenzierung, die in Deutschland erst gut ein Jahrtausend nach dem Untergang des weströmischen Reiches wieder aufgegriffen werden sollte. Die scharfe Trennung zwischen dolus und casus führte dazu, daß die Fahrlässigkeit für den Bereich des Strafrechts dogmatisch nicht erfaßt werden konnte. Schon der Begriff der culpa wurde im Strafrecht, im Gegensatz zum Zivilrecht, nicht klar herausgearbeitet40 . Eine Notwendigkeit hierfür bestand nicht, weil es für die Strafverhängung nur wichtig war, ob eine Handlung dolos vorgenommen wurde. Fehlte es am dolus, so sprach man unabhängig von der Schwere des Erfolges oder seiner Vermeidbarkeil von casus, der Zufall und Fahrlässigkeit umfaßte und für den allenfalls zivilrechtlich gehaftet werden mußte41 .
Wacke, JuS 1980, S. 205. Hitzig, S . 32. 37 Collatio 1,8-10,1; dazu Löffler, S. 86; Wacke, Fahrlässige Vergehen, S. 535-540. 38 Dazu Wacke, Fahrlässige Vergehen, S. 540; auch in Byzanz galt die grundsätzliche Straflosigkeit der unbeabsichtigten Tötung fort, vgl. Sinogowitz, SZ 74 (1957), 336fT., 340. 39 So Himmelreich, S. llf.; Löffler, S. 86. Wacke, Fahrlässige Vergehen, S. 564, zweifelt, "ob der gleiche liberale Geist, wie ihn die schriftlichen Rechtsquellen bezeugen, auch immer die Praxis beseelte". 40 Pernice, S. 243f. 41 Wacke, Fahrlässige Vergehen, S. 530. 35
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ID. Bis zur Constitutio Criminalis Carolina
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111. Fahrlässigkeitsstrafbarkeit in Deutschland bis zur Constitutio Criminalis Carolina 1. Fahrlässigkeitsstrafbarkeit bis zur fränkischen Zeit
Das germanische Strafrecht knüpfte die Strafe im Gegensatz zum römischen Strafrecht nicht an den Willen, sondern grundsätzlich an den Erfolg an. Ob man das germanisch-mittelalterliche Strafrecht deshalb als Erfolgsstrafrecht bezeichnen kann, ist seit langer Zeit umstritten42 . Die Ansichten reichen von der Auffassung, daß die Germanen ihr Strafrecht auf dem Schuldgedanken autbauten43 , bis hin zu der Annahme eines reinen Erfolgsstrafrechts44 . Überwiegend wird der von Brunner begründeten vermittelnden Meinung gefolgt, wonach das germanische Strafrecht auf einer Erfolgshaftung gründete, trotzdem aber die Tendenz gehabt haben soll, den verbrecherischen Willen zu strafen45 ' 46 . Einigkeit herrscht darüber, daß das germanische Recht vom eingetretenen Erfolg ausging47 . Nur wenn es zu einem Schaden kam, hatte sich der Täter zu verantworten. Blieb der Schaden aus, war der Versuch in der Regel straflos48 . Von einem reinen Erfolgsstrafrecht kann aber nicht gesprochen werden, weil auch im germanischen Recht absichtliche und unabsichtliche Tat zu unter42 Übersichten zum Meinungsstand finden sich bei Mikat, S. lOf. und E. Kaufmann, HR..G Bd. 1, Sp. 990ff. Diese Frage dürfte deshalb auf so großes Interesse gestoßen sein, weil mit der Entscheidung zwischen Erfolgs- und Schuldstrafrecht auch eine Bewertung über die germanische Rechtskultur insgesamt getroffen wird; dazu Mikat, S. 10. 43 E. Kaufmann, HR..G Bd. I, Sp. 992. 44 Mitteis/Lieberich, S. 43. 45 Brunner, Aufsätze, S. 488; ders., Lehrbuch, S. 213; Eb. Schmidt, Strafrechtsgeschichte, S. 31 . 46 Die Meinungsunterschiede beruhen zu einem erheblichen Teil auf dem unterschiedlichen Verständnis, wann von einer Schuldhaftung gesprochen werden kann. Dies wird bei E. Kaufmann , HR..G Bd. 1, Sp. 992, deutlich. Er will ein Strafrecht, das den verbrecherischen Willen in irgendeiner Form berücksichtigt, als Schuldstrafrecht bezeichnen, auch wenn der Schuldgedanke in unserem Verständnis noch unbekannt ist. 47 Eb. Schmidt, Stratrechtsgeschichte, S. 31. Als Beleg hierfür werden regelmäßig die Rechtssätze "Die Tat tötet den Mann" und "Man kann falschen Mut nicht sehen, die Tat sei denn dabei" herangezogen. Kritisch hierzu E. Kaufmann , Erfolgshaftung, S. 28ff 48 Bnmner, Aufsätze, S. 488; Mitteis/Lieberich, S. 43; zur späteren Herausbildung typischer Versuchsdelikte, Eb. Schmidt, Strafrechtsgeschichte, S. 34.
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B. Geschichtliche Entwicklung der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit
schiedlichen Folgen führten. Schon sprachlich wurde zwischen der Missetat und dem Ungefährwerk, das Zufall und Fahrlässigkeit49 einschloß 50 , getrennt. Die subjektive Tatseite wurde dabei rein formell und ohne Prüfung des Einzelfalles behandele 1 . Bei bestimmten typischen Sachverhalten, bei denen man gewöhnlich auf das Fehlen einer Absicht schließen konnte, wurde stets ein Ungefährwerk angenommen52 . Konsequenz der fehlenden Einzelfallbeurteilung war, daß sowohl zufällige Verletzungen als auch vorsätzliches Handeln als Ungefährwerk gesühnt werden konnten. Lag dagegen kein typisches Ungefährwerk vor, so wurde auf eine Missetat geschlossen, auch wenn der Erfolg tatsächlich ungewollt war. Die Ahndung des Ungefährwerkes war milder, weil es nicht als Friedbruch angesehen wurde. Statt Rache, Fehde oder Friedensgeld kam deshalb nur die Zahlung des Wergeldes in Betracht53 .
2. Fahrlässigkeitsstrafbarkeit im deutschen Mittelalter Gegenüber dem in der fränkischen Zeit erreichten Rechtszustand stellte die Entwicklung der Strafbarkeit für fahrlässiges Verhalten im Mittelalter einen deutlichen Rückschritt dar54 . So belegten viele Stadt- und Landrechte die un49 Seit dem 14. Jahrhundert findet sich das Wort "hinlässig" in den Quellen. Erst Ende des 15. Jahrhunderts wurden die Wörter "fahrlässig" und "Fahrlässigkeit" -zunächst in nichtjuristischen Werken - verwendet. Zur Begriffsgeschichte des Wortes "Fahrlässigkeit" His, Mittelalter, S. 91 Fußn. 5; Brunner, Lehrbuch, S. 214 Arun. 20. 50 Brunner, Lehrbuch, S. 214; Mitteis!Lieberich, S. 43; Eb. Schmidt, Strafrechtsgeschichte, S. 32f. 51 Brunner, Lehrbuch, S. 215; Friese, S. 46; E. Kaufmann, HRG Bd. 1, Sp. 996; Eb Schmidt, Strafrechtsgeschichte, S. 32f. 52 Beispielsfalle flir das Vorliegen eines Ungefahrwerkes sind die Tötung eines Menschen beim Baumfallen oder durch das Abprallen eines Geschosses an einem Stein; vgl. mit weiteren Bsp. Brunner, Lehrbuch, S. 215. 53 Brunner, Lehrbuch, S. 216; ders., Aufsätze, S. 505; E. Kaufmann, HRG Bd. 1, Sp. 996; Mitteis/Lieberich, S. 43. Zu weitgehend dürfte die These von E. Kaufmann sein, die Ungefahrwerke seien aufgrund ihrer milderen Behandlung nicht strafrechtlich, sondern nur durch Zahlung eines Schadensersatzes geahndet worden. Dem germanischen Recht war die Trennung zwischen Strafe und Schadensersatz fremd, weshalb auch bei Zahlung des Wergeldes durchaus von Strafe gesprochen werden kann; dazu Brunner, Lehrbuch, S. 216; ders., Aufsätze, S. 505f.; Rüping, S. 5; auch E. Kaufmann, Erfolgshaftung, S. 83f. 54 His, Mittelalter, S. 94; ders., Geschichte, S. 11f.; E. Kaufmann, HRG Bd. 1, Sp. 1000; Löffler, S. 117. ln der Behandlung des Ungefahrwerkes wird ein Symptom für die "Verrohung des spätmittelalterlichen Rechts" gesehen, His, Geschichte, S. 12.
Ill. Bis zur Constitutio Criminalis Carolina
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gewollte Tötung nunmehr mit Strafen für Leib und Leben55 . Auch die Differenzierung zwischen Missetat und Ungefährwerk wurde vielfach zugunsten einer Erfolgshaftung aufgegeben56 . In den beiden bedeutensten Rechtsbüchern des deutschen Mittelalters, dem Sachsenspiegel und dem Schwabenspiegel, wird diese Entwicklung deutlich. Der Sachsenspiegel ging vom Grundsatz der Strafe jeder Erfolgsherbeiführung aus57 . Eine Ausnahme wurde nur für die Fälle der fehlerhaften Brunneneinfriedung, der unterlassenen Beaufsichtigung eines Feuers und der Tötung eines Menschen beim Zielen auf einen Vogel gemache8 . Als neuer Begriff zur Kennzeichnung eines ungewollten, aber vermeidbaren Erfolges wurde bei diesen Konstellationen der Begriff "Warlose" eingeführt. Der bedeutende Fortschritt des Sachsenspiegels bestand darin, daß hier erstmals in einem deutschen Rechtsbuch, wenn auch nur für die drei genannten Fallgruppen, zwischen Zufall und fahrlässigem Verhalten unterschieden wurde59 . Für fahrlässige Verhaltensweisen innerhalb der Ausnahmekonstellationen büßte der Täter nicht mit Leib- oder Lebensstrafen; allerdings mußte - und insofern wird auch hier ein Rückschritt gegenüber dem frühmittelalterlichen Recht deutlich60 - bei jeder Erfolgsherbeiführung das Gewedde, das an die Stelle des alten Friedensgeldes getreten war61 , gezahlt werden. Der Schwabenspiegel griff die drei Fallgruppen des Sachsenspiegels auf, aber löste die Frage nach ihrer Strafbarkeit auf andere Weise62 . An die Stelle der nicht erwähnten "Warlose" trat eine kasuistische Aufzählung von zu strafenden Verhaltensweisen. Straflos blieb nach dem Schwabenspiegel nur der E. Kaufmann, HRG Bd. 1, Sp. 1000. His, Mittelalter, S. 99fT., mit Bsp. aus dem Rechtskreis des Schwabenspiegels; Löffler, S. 123. 57 Friese, S. SOff.; eine Ausnahme von diesem Grundsatz besteht bei Missetaten, die die böse Absicht begrifllich erfordern sowie dem Handeln von Kindern oder "Schuldunfahigen", Friese, S. 46fl'. 58 Sachsenspiegel, Zweites Buch, Artikel 38: Wie man sal gelden den schaden, der van warlosunge zu kumt. Ein man sal gelden den schaden, der von siner verwarlosunge geschit anderen luten, ez si von brande ader von burnen, de man nicht bewirkit eines kniez hoch hoben der erden, adir ab her schusit adir wirft einem man adir vie, alse her ramet eines vogeles. Hir umme verteilet man im nicht sinen lip noch sin gesunt, ab der man wo! stirbit. Wen her muz en gelden, alse sin wergelt stet. Zitiert nach Ebel. 59 His, Mittelalter, S. 94. 60 His, Mittelalter, S. 94; Löffler, S. 118. 61 His, Geschichte, S. 12. 62 Schwabenspiegel, Artikel 181-183. 55
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B. Geschichtliche Entwicklung der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit
Zufall. In allen anderen Fällen kam es zur vollen Strafe63 , was zur Folge hatte, daß auch fahrlässiges Verhalten mit der Todesstrafe geahndet werden konnte. Zu einem Fortschritt bei der Pönalisierung fahrlässigen Verhaltens sollte es erst durch die Constitutio Criminalis Carolina kommen, deren Inhalt allerdings entscheidend von den Lehren der Glossatoren und Postglossatoren beeinflußt wurde64 .
IV. Fahrlässigkeitsstrafbarkeit nach den Lehren der Glossatoren und Postglossatoren Die Lehren der Glossatoren und Postglossatoren waren für die Entwicklung der deutschen Fahrlässigkeitsdogmatik in den folgenden Jahrhunderten wegweisend. Im Vergleich zum römischen Strafrecht wurde die Strafbarkeit für fahrlässiges Verhalten von den Italienern erheblich ausgedehnt. War bei den Römern die ungewollte Erfolgsherbeiführung nur in ganz wenigen Ausnahmefällen strafbar, so traten die Postglossatoren für die allgemeine Strafbarkeit der culposen Deliktsverwirklichung ein. Jedes Delikt, sofern es seiner Art nach nicht zwingend Vorsatz voraussetzte, konnte danach culpos begangen werden65 . Darüber hinaus verlangten die Glossatoren im Gegensatz zum römischen Strafrecht nicht mehr den Willen zur Erfolgsherbeiführung als Anknüpfungspunkt der Strafe. Es kam zur Aufhebung der strengen Unterscheidung zwischen den Voraussetzungen der zivilrechtliehen Haftung und der Strafe, indem die Iex Aquilia entsprechend auf das Strafrecht angewandt wurde66 . Durch die Übernahme der von den Römern für die zivilrechtliche Haftung entwickelten Kategorien gelangte man mit der culpa lata, der culpa levis und der culpa levissima zu drei unterschiedlich schweren Formen culposen Verhaltens67. Ein einheitlicher Begriff der Fahrlässigkeit, der von Vorsatz und Zufall abgegrenzt werden konnte, wurde nicht entwickelt. Statt dessen wurde ver-
His, Mittelalter, S. 99; Löffler, S. 121 . Zur Vorbildfunktion der Italiener f\ir die Erfassung der Fahrlässigkeit v. Hippe/, Deutsches Strafrecht, Bd. I , S. 190; Eb. Schmidt, Strafrechtsgeschichte, S. 11 7. 65 Enge/mann, S. 224; einschränkend Binding, Normen IV, S. 113 . 66 Beschütz, S. 88f., S. 105fT.; Dahm, S. 257; Enge/mann, S. 186. 67 Beschütz, S. 105; Enge/mann, S. 186. 63
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IV. Glossatoren und Postglossatoren
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sucht, die unterschiedlichen Grade der culpa untereinander abzugrenzen und zu definieren68 . Wenn in der heutigen Diskussion um die Entkriminalisierung fahrlässigen Verhaltens die Forderung nach Straflosstellung leichtester oder einfacher Fahrlässigkeit erhoben wird, ist damit eine Streitfrage berührt, die seit den Lehren der Glossatoren immer wieder aufgeworfen worden ist: Das Problem besteht darin, ob jede Fahrlässigkeit unter das Strafrecht fallen soll, oder ob bestimmte leichte Grade aus ihm herausgenommen werden können. Wie zuvor die Glossatoren69 vertrat die überwiegende Ansicht der Postglossatoren unter Führung von Bartofus zunächst die Ansicht, alle Grade der culpa seien strafbar70. Demgegenüber befürwortete Cinus die Beschränkung der Strafe auf culpa lata71, während Baldus lediglich die culpa levissima aus dem Strafrecht herausnehmen wollte72 . In der Wissenschaft gewann die Ansicht von Cinus allmählich die Oberhand73 , mit der Konsequenz, daß nur grob fahrlässiges Verhalten strafbar sein sollte. Der Streit hatte allerdings keinen Einfluß auf die Praxis der Gerichte, die aufgrund der germanisch beeinflußten Kriminalstatute der oberitalienischen Städte daran festhielten, jede Erfolgsherbeiführung zu bestrafen74 .
Enge/mann, S. 187. Beschütz, S. 88; Enge/mann, S. 225. 70 Ausführlich zu der Auseinandersetzung mit Quellenbelegen Enge/mann, S. 225fT. 71 Enge/mann, S. 225. 72 Enge/mann, S. 225. 73 Brunnenmeister, Bambergensis, S. 248; Enge/mann, S. 229. 74 Enge/mann, S. 229; Dahm, S. 258; Schaffstein, Allgemeine Lehren, S. 147. 'In den Kriminalstatuten wurden für bestimmte Erfolgsherbeiführungen Strafen festgelegt. Zwischen gewollter und ungewollter Tat wurde nicht unterschieden. Aufgrund des den Richtern auferlegten Auslegungs- und Interpretationsverbotes wurde es lange abgelehnt, die Fahrlässigkeit milder als den Vorsatz zu strafen; dazu Dahm, S. 276; Engelmann, S. 236fT. Unter diesen Voraussetzungen mag man die Glossatoren gegenüber den Römern als rückständig betrachten; gegenüber dem geltenden Recht ihrer Zeit stellten ihre Lehrenjedoch einen bedeutenden Fortschritt dar. 68
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B. Geschichtliche Entwicklung der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit
V. Fahrlässigkeitsstrafbarkeit nach der Constitutio Criminalis Carolina Unter dem Einfluß der italienischen Lehren kam es in Deutschland allmählich zur Durchsetzung der Schuldhaftung. Zuerst wurde 1425 in dem "populärwissenschaftlichen" Rechtsbuch des Klagspiegels scharf zwischen dolus, culpa und casus getrenne 5 . Die gleiche Unterscheidung fand sich 1507 in der Constitutio Criminalis Bambergensis76 , deren wichtigste Bestimmungen nahezu wortgleich in der Constitutio Criminalis Carolina von 1532 übernommen worden sind. Die Carolina stellte gegenüber dem Recht des Mittelalters einen großen Fortschritt dar. In ihr wurde die Schuld als Voraussetzung einer staatlichen Strafe festgeschrieben77 . Grundsätzlich war für die Schuld ein auf den Erfolg gerichteter Wille erforderlich78 • Das Gesetz enthielt aber auch mit den Artikeln 134, 136, 146 und 180 vier Bestimmungen, nach denen fahrlässiges Verhalten für die Strafverhängung ausreichte79 . Für die in der Carolina genannten Fahrlässigkeitsverbrechen war eine gegenüber der jeweils vorsätzlichen Begehungsweise mildere Strafe vorgesehen80 . Umstritten war lange Zeit, ob entsprechend der Lehren der Postglossatoren jedes Delikt fahrlässig begangen werden konnte, oder ob der Kreis der Fahrlässigkeitsdclikte auf die Artikel 134, 136, 146 und 180 beschränkt war. Die zweite Ansicht hat sich durchgesetzt81 , mit der Konsequenz, daß nach der Beschütz, S. 130f.; Binding, Nonnen IV, S. 125fT.; Brunnenmeister, Bambergensis, S. 172. 76 Zur culposen Tötung in der Constitutio Criminalis Bambergensis Brunnenmeister, Bambergensis, S. 246ft'. 77 Beschütz, S. 137; v. Hippe!, Deutsches Strafrecht, Bd. 1, S. 190; Löjjler, S. 162; Eb. Schmidt, Strafrechtsgeschichte, S. 117. 78 Eb. Schmidt, Stratrechtsgeschichte, S. 118. Um dies zu verdeutlichen bediente sich die Carolina einer Vielzahl von Ausdrücken wie z.B. geverde, geferlich, wissentlich, böslich, williglich, fürsetzlich; dazu Löjjler, S. 163. 79 Artikel 134: Fahrlässige Tötung durch einen Arzt; Art. 136: Tötung oder Verletzung durch ein Tier; Art. 146: Allgemeine fahrlässige Tötung; Art. 180: Fahrlässiges Entweichenlassen von Gefangenen. 80 In Artikel 146 heißt es beispielsweise: "... Aber dannacht ist mer barmhertzigkeit bei solchen entleibungen, die vngeuerlich auß geylheit oder vnfürsichtigkeyt, doch wider des thätters willen geschehen, zuhaben, dann was arglistig und mit Willen geschieht. .. "; zitiert nach Arthur Kaufmann (Hrsg.), Peinliche Gerichtsordnung. 81 Beschütz, S. 145; Binding, Nonnen IV, S. 13611'.; v. Hippe!, Deutsches Straf~ recht, Bd. 1, S. 204; Köhler, Fahrlässigkeit, S. 8; Scha.ffstein , Allgemeine Lehren, 75
VI. Gemeinrechtliche Strafrechtswissenschaft
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Carolina z.B. fahrlässige Körperverletzungen oder Brandstiftungen nicht strafbar gewesen sein sollen. Die eingeschränkte Strafbarkeit fahrlässigen Verhaltens wurde in der Gerichtspraxis jedoch nicht in vollem Maße umgesetzt. Ein Grund hierfür waren die abweichenden Ansichten der Wissenschaftler des gemeinen Strafrechts, deren Meinung als "radt der verstendigen" zur Beurteilung von Fahrlässigkeitsfällen nach jedem der vier genannten Artikel ausdrücklich herangezogen werden sollte.
VI. Fahrlässigkeitsstrafbarkeit nach der gemeinrechtlichen Strafrechtswissenschaft Die Strafrechtswissenschaft des gemeinen Rechts dehnte den Bereich strafbaren fahrlässigen Verhaltens ganz erheblich aus. In Abweichung zur Constitutio Criminalis Carolina wurde entsprechend der Ansicht der Postglossatoren die allgemeine Strafbarkeit culposer Deliktsverwirklichungen angenommen82. In einem anderen Punkt wurde noch über das Vorbild der Italiener hinausgegangen. Während dort unter Berufung auf Cinus schließlich die Begrenzung der Strafbarkeit auf culpa lata die Oberhand gewonnen hatte, erstreckte die ganz überwiegende Ansicht der deutschen gemeinrechtlichen Strafrechtswissenschaft die Strafe auch auf culpa levis und culpa levissima83 . Die gemeinrechtliche Wissenschaft setzte den Gedanken der Schuld im Sinne einer Willensschuld als Voraussetzung der Strafe endgültig durch84 . Um die Fahrlässigkeit dennoch strafen zu können, wurde ganz überwiegend dem dolosen Verbrechen als verum delictum das fahrlässige Verbrechen als quasi delictum gegenübergestellt85 . Allerdings konnte bei einem Quasi-Delikt S. 147; a.A. Kollmann, ZStW Bd. 34 (1913), S. 633f. m.w.N. 82 Boldt, S. 418; Rüping, S. 44; Schaflstein, Allgemeine Lehren, S. 153. 83 Binding, Normen IV, S. 161 , 165; Schaflstein, Allgemeine Lehren, S. 155 . In der späteren Zeit des gemeinen Rechts wurden die Culpagrade nicht mehr als absolute und voneinander abgrenzbare Kategorien aufgefaßt, sondern - falls sie überhaupt noch erwähnt wurden - lediglich als relative Begriffe gesehen; Schaflstein, Allgemeine Lehren,S. l50. 84 Rüping, S. 44; Schaflstein, Allgemeine Lehren, S. 94f. 85 Binding, Normen IV, S. 174; Rüping, S. 44; Schaflstein, Allgemeine Lehren, S. 96f. Im Anschluß an die Lehren Christian Wolfls wurde die Fahrlässigkeit vereinzelt auch als Verstandsfehler aufgefaßt; dazu Schaflstein, Allgemeine Lehren, S. 97.
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B. Geschichtliche Entwicklung der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit
nur eine gegenüber der vorsätzlichen Begehungsweise gemilderte poena extraordinaria verhängt werden86 . Die grundsätzlich mildere Bestrafung der culpa wurde aber dadurch unterlaufen, daß der Bereich des dolus auf fahrlässige Verhaltensformen ausgedehnt wurde. Von prägendem Einfluß waren die Lehren Carpzows87 , die gegenüber der bis dahin überwiegenden Ansicht zu einer massiven Strafverschärfung für fahrlässiges Verhalten führten88 . Nach Carpzows Lehre vom dolus indirectus wurde jeder Erfolg als gewollt betrachtet, wenn der Täter die objektiv gefährlichen Tatumstände gekannt hatte89 . Bei einem versari in re illicitia lag nach Carpzow dolus vor, wenn der konkrete Erfolg möglich oder wahrscheinlich war. War der Erfolg dagegen ein zufälliges Ergebnis eines versari in re illicitia, sollte kein strafloser casus, sondern culpa angenommen werden. Folge dieser Lehre war, daß die Fahrlässigkeit gleich dem Vorsatz bestraft werden konnte und deshalb häufig mit der Todestrafe geahndet wurde.
VII. Fahrlässigkeitsstrafbarkeit nach den deutschen Partikularstrafgesetzbüchern bis 1851 1. Das Preußische Allgemeine Landrecht
Das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 war gesetzestechnisch weit weniger entwickelt als die späteren Strafgesetzgebungen der deutschen Staaten90. Im 20. Titel seines II. Teils wurde das Strafrecht in einer unübersichtlichen, "riesenhaften Kombination aus Straf-, Polizei- und Disziplinargesetzbuch"91 in 1577 Paragraphen kodifiziert. Auch wenn das ALR für die exakte Erfassung der Fahrlässigkeitstatbestände keine Impulse geben konnte, kam ~6 Boldt, S. 386, 417; Schaffstein , Allgemeine Lehren, S. !54; Eb. Schmidt, Straf~ rechtsgeschichte, S. 167. 87 Carpzows Nachfolger übernahmen seine Ansicht wortgleich oder zumindest der Sache nach; dazu Löffler, S. 170; Schaffstein, Allgemeine Lehren, S. 149f. 88 Binding, Normen IV, S. 159; Löffler, S. 167ff.; Rüping, S. 44f. ; Eb. Schmidt, Strafrechtsgeschichte, S. 173. Die Lehre vor Carpzow rechnete dem Täter, der "res illicitia" handelte, alle gewöhnlichen oder wahrscheinlichen Folgen seiner Handlung als culpa zu. Handelte der Täter "res licita" wurde ihm der Erfolg nur bei einem Sorgfa.ltsverstoß als culpa zugerechnet; dazu Schaffstein, Allgemeine Lehren, S. 148. 89 Rüping, S. 45; Eb. Schmidt, Straffechtsgeschichte, S. 172. 90 Allgemein zum ALR Rüping, S. 71 ; Eb. Schmidt, Strafrechtsgeschichte, S. 251 f. 91 Binding, Normen IV, S. 238.
Vll. Partikularstrafgesetzbücher vor 1851
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ihm in einem anderen Punkt richtungweisende Bedeutung zu. Erstmals waren nach einem deutschen Strafgesetzbuch bestimmte leichte Grade der fahrlässigen Tötung und Körperverletzung nicht strafbar. Damit gab das ALR den Anstoß für die vor allem in Preußen geführte, bis zum Ende des 19. Jahrhunderts andauernde Diskussion um die Straflosigkeit leichter Fahrlässigkeit. In § 28 II 20 ALR wurde die Fahrlässigkeit definiert und durch die Bezugnahme auf die zivilrechtliehen §§ 17ff. I 3 ALR in grobes, mäßiges und geringes Versehen unterteilt. Nach § 23 I 3 ALR sollte geringes Versehen regelmäßig nicht zu vertreten sein. Daraus wurde gefolgert, daß leicht fahrlässige Tötungen und Körperverletzungen nicht strafrechtlich verfolgt werden konnten92. Wegen der Formulierung des § 777 II 20 ALR93 war es sogar umstritten, ob nicht ausschließlich grob fahrlässige Tötungen und Körperverletzungen strafbar sein sollten94 . So vertrat beispielsweise Klein, einer der Mitverfasser des strafrechtlichen Teils des ALR, mit modern anmutender Argumentation die Auffassung, nur die grobe Fahrlässigkeit sei strafbar, weil im Fall der bloßen Fahrlässigkeit "keine dem Gesetz entgegensirebene Kraft zu befürchten (sei, A.K.), da der Trägheit schon durch die Furcht vor dem Schadensersatz entgegengewürkt wird" 95 .
2. Die außerpreußischen deutschen Strafgesetzbücher Durch die Strafgesetzbücher der deutschen Staaten kam es auch hinsiehtlieh der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit zu einem Bruch mit den Lehren des gemeinen Rechts. Augenfällig ist zunächst, daß nahezu alle Strafgesetzbücher auf eine Gradeinteilung der Fahrlässigkeit verzichteten. Eine Ausnahme bildeten nur die Strafgesetzbücher von Bayern96 , Oldenburg97 und Hannover98 , die Klee, GA Bd. 62 (1916), S. 432fT.; v. Savigny, S. 521 , 523. Die Umsetzung durch die Gerichte scheint uneinheitlich gewesen zu sein. Neben Freisprüchen bei Tötungen autgrund mäßigen Versehens zeigte sich die Tendenz, auch leichte Unachtsamkeitenzu bestrafen; dazu Klee, GA Bd. 62 (191 6), S. 394ff, bes. S. 432fT. 93 § 777 ll 20 ALR: Ist aber durch die Uebertretung Jemand an seiner Gesundheit oder an seinem Leibe wirklich verletzt worden: so wird der Uebertreter noch ausserdem als einer, der den Schaden aus grober Fahrlässigkeit zugefügt hat, angesehen. 94 v. Savigny, S. 522. 95 Klein, Grundsätze, S. 164 . 96 Bayerisches Strafgesetzbuch von 1813, Art. 65fT. 97 Oldenburgisches Strafgesetzbuch von 1814, Art. 59fT. 98 Hannoveraner Strafgesetzbuch von 1840, Art. 48fT. 92
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B. Geschichtliche Entwicklung der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit
zwar nicht für die Strafbarkeit, wohl aber hinsichtlich der Strafzumessung zwischen grober und leichter Fahrlässigkeit unterschieden. Nachdem sich die Abwendung von der Gradation der Fahrlässigkeit schon in der Wissenschaft des 18. Jahrhunderts abgezeichnet hatte, wurde sie ab Mitte des 19. Jahrhunderts einhellig verworfen99 . Begründet wurde dies damit, daß die Fixierung von Fahrlässigkeitsgraden wegen der unendlichen Abstufungen schlichtweg unmöglich sei100 . Die jahrhundertealte Auseinandersetzung um die Fahrlässigkeitsstufen geriet derart in Mißkredit, daß v. Kirchmann diesen Streit in seinem berühmten Vortrag über "Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft" zum Beweis für seine Thesen heranzogtot. Die neuen Strafgesetzbücher beschränkten den Bereich strafbaren fahrlässigen Handeins auf die normierten Fahrlässigkeitsdelikte. Eine Ausnahme machte nur das von Feuerbach entworfene bayerische Strafgesetzbuch von 1813, das in seinem Artikel 64 jede fahrlässige Deliktsbegehung unter Strafe stellte. Die Strafrahmen für fahrlässige Tötungen und Körperverletzungen waren deutlich niedriger als die der jeweiligen vorsätzlichen Begehungsweisen. Auch im Vergleich zum geltenden Recht fielen die angedrohten Strafen recht gering aus. Bei einer fahrlässigen Körperverletzung betrug die zugelassene Höchststrafe ein Jahr102 , häufig noch weniger103 . Für fahrlässige Tötungen waren bis zu zwei Jahre Gefängnisstrafe zulässig104 , wobei aber in manchen Gesetzbüchern, wie regelmäßig bei fahrlässigen Körperverletzungen, die Möglichkeit einer Geldbuße eröffnet wurde105 .
99 Zu dieser Entwicklung mit Nachweisen Storch, S. 56-60; Feuerbach folgte in seinem Lehrbuch bis zur 8. Auflage der herkömmlichen Dreiteilung der Fahrlässigkeit. Ab der 9. Aufl. (1832) gab er diese Einteilung auf 100 Z.B. Köstlin, System, S. 173. 101 v. Kirchmann, S. 28fT. 102 § 198 Preußisches StGB; Art. 175 Sächsisches StGB. 103 6 Monate nach Art. 269 Hessisches StGB; 8 Monate nach Art. 267 Württembergisches StGB. 104 § 211 Badisches StGB; Art. 255 Hessisches StGB; § 187 Preußisches StGB; Art. 165 Sächsisches StGB. 105 Z.B. Art. 251 Württembergisches StGB.
VIIT. Dogmatische Begründung des Fahrlässigkeitsdelikts
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VIII. Dogmatische Begründung des Fahrlässigkeitsdelikts durch die Lehre des frühen 19. Jahrhunderts 1. Das Problem der Schuldbegründung fahrlässigen Verhaltens
Die Partikularstrafgesetzbücher sahen übereinstimmend die Strafbarkeit bestimmter Fahrlässigkeitsdelikte vor. Trotz der eindeutigen gesetzgebensehen Entscheidung hatte die Strafrechtswissenschaft große Schwierigkeiten, die Strafe bei Fahrlässigkeit mit dem Schuldprinzip in Einklang zu bringen106. Einigkeit bestand darin, daß eine Strafe nur bei schuldhaftem Handeln des Täters verhängt werden durfte. Weil Schuld übereinstimmend als Willensschuld aufgefaßt wurde 107 , entstand das Problem, wie die vom Gesetzgeber angedrohte Strafe bei ungewollten Erfolgsherbeiführungen gerechtfertigt werden konnte. Theoretisch denkbar waren drei Lösungswege, die auch alle vertreten wurden. Im Anschluß an Klein und Feuerbach konnte mit der überwiegenden Meinung nach einem Willensmoment in der Fahrlässigkeit gesucht werden. Wurde die "Jagd nach dem Vorsatz in der Fahrlässigkeit" 108 als aussichtslos aufgegeben, blieben zwei Auswege: Entweder konnte man die Strafbarkeit der Fahrlässigkeitsdelikte mit v. Almendingen und Stübel durch eine Ausnahme rechtfertigten oder die Fahrlässigkeitsdelikte mußten wegen ihres fehlenden Schuldgehaltes aus dem Strafrecht herausgenommen werden.
a) Feuerbach und Klein Zunächst hatte es den Anschein, als wollte Feuerbach unbeabsichtigte Pflichverletzungen nicht strafrechtlich ahnden109 , doch schon bald empfand er seine Ansicht als zu eng110 . Um die für notwendig gehaltene Strafe bei onbewußter Fahrlässigkeit zu rechtfertigen und mit seiner Theorie des "psycholo106 Dazu ausführlich Exner, S. 12-44; Storch, bes. S. 3-41; neuerdings noch einmal Hol!, bes. S. 1-95. 107 v. Almendingen, S. 9; Feuerbach, Betrachtungen, S. 229; Klein, Grundsätze, S 99; ders , ArchCrimR Bd. 3 (1800), 1. Stück, S. 120; Stübel, NArchCrimR Bd. 8 (1826), S. 285. 108 Binding, Normen IV, S. 328. 109 Feuerbach, Revision II, S. 56. 11 Feuerbach, Betrachtungen, S. 215.
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B. Geschichtliche Entwicklung der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit
gischen Zwangs"' in Einklang zu bringen, konstruierte Feuerbach einen "positiv-bösen Willen" des Täters bezüglich der Verletzung seiner Aufmerksamkeitspflicht111 . Weil ein Wille zur Unaufmerksamkeit jedoch undenkbar ist112 , hat Feuerbachs Lehre in der Literatur kaum Anhänger gefunden113 . Bis heute richtungsweisend ist dagegen die Begründung der Fahrlässigkeitsschuld durch Klein. Er unterschied zwischen dem beim dolus vorhandenen positiv-bösen Willen und dem negativ-bösen Willen bei der culpa. Der negativ-böse Wille liege vor "bei einem Mangel des guten Vorsatzes, die zur Vermeidung gesetzwidriger Handlungen erforderliche Fähigkeit und Aufmerksamkeit auszubilden oder anzustrengen" 114 . Kleins Begründungsansatz fand in den folgenden Jahrzehnten die meisten Anhänger115 . Weil statt eines tatsächlich vorhandenen Willens das Fehlen eines normativ geforderten Willens genügte, war mit dieser Theorie der Grundstein für eine wertende Schuldbegründung gelegt.
b) v. Almendingen und Stübel v. Almendingen war der Ansicht, daß sich bei der unbewußten Fahrlässigkeit ein willentlicher Verstoß gegen ein Strafgesetz nicht konstruieren läße 16 . Solche Erfolgsverursachungen stünden "unter keinen Voraussetzungen unter der Oberherrschaft des Strafgesetzes"117 . Unter Berufung auf den "gemeinen Menschenverstand" und das "Bedürfnis der Rechtssicherheit" wollte v. Al~ mendingen jedoch ausnahmsweise dennoch strafenu 8 . Bei der Fahrlässigkeit 111 Feuerbach, Betrachtungen, S. 227; nach Feuerbach hat jeder Bürger die "obligatio ad diligentiarn", Revision li, S. 64; Betrachtungen, S. 209. Diese verlange, "daß vom Erkenntnisvermögen derjenige Gebrauch zu machen ist, durch dessen Unterlassung gegen die Absicht des Subjekts, eine gesetzwidrige Willensbestimmung verursacht werden kann", Betrachtungen, S. 217. 112 Die Annahme einer willentlichen Unaufmerksamkeit ist schon von Feuerbachs Zeitgenossen scharfkritisiert worden. Z.B. Klein, ArchCrimR, Bd. 3 (1800), 1. Stück, S. 134: "Ich glaube, daß, solange die Welt steht, ein solcher Vorsatz nicht gefaßt worden sey". 113 Storch, S. 15ff. 114 Klein, Grundsätze, S. 100. 115 Köhler, Fahrlässigkeit, S. 38ff.; Mohnnann , S. 36ff. 116 v. Almendingen, S. 20, 28ff., 57 (gegen Feuerbach ); S. 26 (gegen Klein ). 117 v. Almendingen, S. 82. 118 v. Almendingen, S. 85. Wegen dieser Inkonsequenz wurde v. Almendingen scharf von Binding, Normen IV, S. 227, kritisiert, der u.a. von einer "Bankrotterklärung"
VIIT. Dogmatische Begrundung des Fahrlässigkeitsdelikts
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liege eine Verstandsschuld vor; der Staat trete bei ihrer Bestrafung als Erzieher auf und forme den Verstand des Täters durch Züchtigung119 , damit er sich künftig in vergleichbaren Situationen anders verhält. Zu einer ausnahmsweisen Strafbarkeit kam auch Stübel, für den bereits die gefährliche Handlung als solche Grund für die Fahrlässigkeitsstrafbarkeit war120 . Probleme machteStübel die Bestrafung der sog. inneren gefährlichen Unterlassungen. Hierunter verstand er Handlungen, bei deren Ausführung man sich nicht über deren Gefährlichkeit bewußt ist121 . Weil es in diesem Fall an einer Geistestätigkeit des Täters fehle, könne eine Strafe "in der eigentlichen Bedeutung des Wortes" 122 nicht verhängt werden. Wegen der generellen Gefährlichkeit des Täters müsse der Staat aber einen "Denkzettel" austeilen, damit der Täter die Aufmerksamkeit in Zukunft weniger leicht mißachtet123 . Stübel begründete die Ausnahme nicht wie v. Almendingen mit dem "gesunden Menschenverstand", sondern damit, daß das Strafrecht nur ein Unterfall eines allgemeinen Schutzrechtes sei, welches auch dann eingreifen könne, wenn Strafe im eigentlichen Sinne nicht möglich sei124 . Das verhängte Übel bezeichnete Stübel in diesen Fällen als Strafe in ihrer "uneigentlichen Bedeutung des Wortes125 .
sprach. v. Almendingens Ansatz wurde überwiegend abgelehnt, weil geistige Unzulänglichkeiten entlasten und nicht zu strafrechtlicher Schuld führen. Außerdem kann eine erfolgreiche Erziehung nur stattfinden, wenn der Täter trotz Verstandsdefiziten zu einer Willensbildung in der Lage ist; dazu Exner, S. 95fT., 108; Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, S. 149; Köhler, Fahrlässigkeit, S. litT. , 15; zu vereinzelt gebliebenen Nachfolgern v. Almendingens, ebd., S. 18fT. 119 v. Almendingen, S. 102. 120 Stübel setzte sich in seiner Abhandlung intensiv mit den Argumenten auseinander, die für das Abstellen auf die gefährliche Handlung sprechen (S. 254-262). Dabei thematisierte er fast alle der auch heute noch diskutierten Aspekte. 121 Stübel, NArchCrimR Bd. 8 (1826), S. 281. 122 Stübel, NArchCrimR Bd. 8 (1826), S. 285 . 123 Stübel, NArchCrimR Bd. 8 (1826), S. 286. 124 Stübel, NArchCrimR Bd. 8 {1826), S. 286. 125 Stübel, NArchCrimR Bd. 8 ( 1826), S. 287.
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B. Geschichtliche Entwicklung der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit
2. Stimmen für die Herausnahme der Fahrlässigkeitsdelikte aus dem Strafgesetzbuch Schon 1786 vertrat Hammel die Ansicht, daß die Fahrlässigkeit aus dem Strafgesetzbuch herauszunehmen sei126 . Er unterschied zwischen Taten aus "Bosheit" und solchen aus Fahrlässigkeit. Nur bei Taten mit Willen und böslichem Vorsatz jemanden zu schädigen, könne von einem Verbrechen gesprochen werden. Bei fahrlässig herbeigeführten Verletzungen habe der Täter dem Geschädigten "bürgerlich" den Schaden zu ersetzen127 , ein "wahres Verbrechen" sei jedoch nicht gegeben128 . Unabhängig von der Höhe des angerichteten Schadens komme bei fahrlässigen Verletzungen nur eine Polizeistrafe in Betrache 29 . Hammels Ansicht blieb jedoch weitgehend unbeachtet. In den folgenden Jahrzehnten waren sich die Gesetzgeber der deutschen Staaten und nahezu die gesamte Strafrechtswissenschaft darüber einig, daß fahrlässige Tötungen und Körperverletzungen mit Kriminalstrafe zu ahnden seien. Nur vereinzelt wurden im 19. Jahrhundert Stimmen laut, die den Schuldcharakter der Fahrlässigkeit bestritten130 . Gemeinsamer Ausgangspunkt dieser Autoren war ein Schuldverständnis, daß einen verbrecherischen, auf den Erfolg bezogenen Willen als Voraussetzung der Strafe verlangte131 . Die Versuche der überwiegenden Ansicht, ein Willensmoment in der Fahrlässigkeit zu finden, wurden ebenso abgelehnt wie die Bestrafung durch die Schaffung einer Ausnahme. Konsequenterweise forderten sie die Herausnahme zumindest der unbewußten Fahrlässigkeit aus dem Strafgesetzbuch132 . Weil es aber dem "materiellen Hammel, S. XXV. Hammel, S. XXV. 128 Hammel, S. XXVI. 129 Hammel, S. XXVI. 130 Hertz, S. 153; Temme, Lehrbuch, S. 151, !52, 235ff; Roßhirt, Grundsätze, S. 165; ders., NArchCrimR Bd. 8 (1826), S. 28fT (bezüglich der fahrlässigen Körperverletzung); Zerbst, NArchCrimR 1856, S. 422. v. Jagemann, NArchCrimR 1845, S. 234, meinte, vom philosophischen Standpunkt aus gesehen dürfe es keine fahrlässigen Verbrechen geben. Wegen der Gemeingefahrlichkeit will er dem Staat trotzdem das Recht zur Strafe grober Unaufinerksarnkeiten zubilligen. 131 Roßhirt, Grundsätze, S. 165; Temme, Lehrbuch, S. 151fT., S. 235fT.; Zerbst, NArchCrimR 1856, S. 422. 132 Roßhirt, NArchCrimR, Bd. 8 (1826), S. 28, 35; ders. , Grundsätze, S. 165; Temme, Lehrbuch, S. 152, 239; Zerbst, NArchCrimR 1856, S. 422. Hertz, S. 163, lehnte dagegen den Satz sine poena sine culpa ausdrücklich ab und wollte trotz fehlender Schuld eine Strafe verhängen. Storch, S. 8, meint, Gönner habe 1810 als erster die 126
127
Vlll. Dogmatische Begründung des Fahrlässigkeitsdelikts
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Rechtsgefühl" 133 oder dem "allgemeinen Rechtsbewußtsein der Bevölkerung"134 widerspreche, schwere Rechtsgutsverletzungen ungesühnt zu lassen, sollte nicht auf eine staatliche Reaktion verzichtet werden. Deshalb traten Roßhirt, Temme und Zerbst in Anlehnung an das Österreichische Strafgesetzbuch von 1803 135 für die Überweisung der Fahrlässigkeitsvergehen in das Gebiet der Sicherheitspolizei ein136 . Polizeiliche Maßregeln sollten die Strafen ersetzen. Gemeinsam ist diesen Überlegungen, daß sie nur als Vorschläge de lege ferenda verstanden wurden. An die Entscheidung des Gesetzgebers, die culpa als Schuldform auszugestalten, sah man sich gebunden137 .
Ansicht vertreten, culpose Verbrechen könne es gar nicht geben. Zwar trat Gönner gegen die "doktrinelle Künstelei" ein, im culposen Delikt einen bösen Vorsatz konstruieren zu wollen (S. 39) und erklärte, gegen die Annahme eines Verbrechens aus Fahrlässigkeit sträube sich das Gefühl (S. 39). Doch dies kann nur vor dem Hintergrund verstanden werden, daß Gönner ein später Anhänger der Lehre des indirekten dolus war. Hinsichtlich der Strafbarkeit der culpa bestand im Ergebnis zwischen Gönner und der überwiegenden Anzahl seiner Zeitgenossen, wie er selbst einräumte (S. 27), Einigkeit. 133 Zerbst, NArchCrimR 1856, S. 423. D 4 Temme, Lehrbuch, S. 239. 135 In Art. II des Österreichischen Strafgesetzbuches von 1803 wurden Verbrechen definiert als "gesetzwidrige Handlungen und Unterlassungen, beywelchen die Absicht eigens auf das gerichtet ist, was die Sicherheit im gemeinen Wesen verletzt". Die Fahrlässigkeitsdelikte werden - unzureichend abgegrenzt von Gefahrdungsdelikten als Polizeiübertretungen behandelt; dazu Moos, Verbrechensbegriff, S. 231 ff. 136 Temme, Lehrbuch, S. 152, 239; Zerbst, NArchCrimR 1856, S. 423f.; ähnlich Roßhirt, Grundsätze, S. 170. 137 Temme, Lehrbuch, S. 240; Roßhirt, Grundsätze, S. 165, stellt resignierend fest: "Der positive Gesetzgeber kann alles. Also auch einen Thäter ohnedolus zum Verbrecher machen".
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B. Geschichtliche Entwicklung der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit
IX. Straflosigkeit leichter Fahrlässigkeit nach dem preußischen Strafgesetzbuch von 1851 und in den ersten Jahren des Reichsstrafgesetzbuches 1. Straflosigkeit leichter Fahrlässigkeit nach dem preußischen Strafgesetzbuch von 1851
Nach der Absicht des Gesetzgebers sollte die leichte Fahrlässigkeit im preußischen Strafgesetzbuch von 1851 nicht bestraft werden. Von großem Einfluß auf die Gesetzgebung war das 1846 erstellte Gutachten "Über die Behandlung der Fahrlässigkeit im Strafgesetzbuch" 138 des damaligen Justizministers v. Savigny. Darin ging v. Savigny der Frage nach, wie auf Fahrlässigkeitstaten zukünftig angemessen strafrechtlich zu reagieren sei. Zu mild sei es, nur die grobe Fahrlässigkeit zu strafen, zu streng dagegen die Strafbarkeit auch der leichten Fahrlässigkeit139 . Er begründete seine Auffassung mit der Regelung des geringen Versehens im Allgemeinen Landrecht, das zivilrechtlieh nur in AusnahmefeHlen zu vertreten war sowie entsprechenden strafrechtlichen Vorschriften140 . Von der Straflosigkeit der leichten Fahrlässigkeit ging v. Savigny in seinem Gutachten wie selbstverständlich aus141 . In dieser Frage fand er bei den Gesetzesberatungen keinen Widerspruch142 ; statt dessen wurden dort sogar Vorschläge laut, die Strafbarkeit auf grobe Fahrlässigkeit zu beschränken 1 43 . Trotz des eindeutigen Willens des Gesetzgebers wurde die Frage nach der Straflosigkeit leichter Fahrlässigkeit schon wenige Jahre nach Erlaß des PrStGB strittig. Während sich ein Teil der Lehre auf die Entstehungsgeschichte berief 44 , konnten eine andere Literaturmeinung145 und die Praxis146 v. Savigny, S. 520fT. v. Savigny , S. 521. 140 v. Savigny, S. 520-523. 141 v. Savigny, S. 521 , 523; in Erwiderung auf Vorschläge, lediglich die grobe Fahrlässigkeit zu strafen, ging es v. Savigny in seinem Gutachten auch um den Nachweis, daß dies nicht dem ALR entsprach, S. 522. Er verwies auf die §§ 778, 781 ALR, 138 139
wonach die Strafbemessung nach dem Grad der Fahrlässigkeit zu erfolgen habe. Diese Regelung sei überflüssig, wenn die Strafbarkeit nur beim äußersten Grad der Fahrlässigkeit eintreten würde. Das Wort "grob" ist nach v. Savigny nur eingefügt worden, um das Tadelnswerte der Handlung besonders hervorzuheben. 142 Bem er, Lehrbuch, 3. Aufl., S . 156 Fußn. 2; Beseler, S. 363. 143 Goltdammer, Materialien, Band 2, S. 395; v. Savigny, S. 524. 144 Bemer, Lehrbuch, 3. Aufl., S. 156; Beseler, S. 363; Goltdammer, Materialien,
IX. Straflosigkeit leichter Fahrlässigkeit in Preußen
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geltend machen, daß der Gesetzeswortlaut der Strafbarkeit leichter Fahrlässigkeit nicht im Wege stand. Im Gegensatz zu allen wichtigen Partikularstrafgesetzbüchern enthielt das PrStGB keine allgemeine Definition der Fahrlässigkeit. Die Staatsratskommission von 1846 hatte noch die Aufahme einer ausdrücklichen Vorschrift beschlossen, wonach geringe Fahrlässigkeit nicht strafbar sein sollte147 . Aufgrund von Formulierungsschwierigkeiten, nicht wegen inhaltlicher Bedenken, folgte man jedoch schließlich der in v. Savignys Gutachten ausgesprochenen Empfehlung148 und verzichtete auf eine ausdrückliche gesetzliche Regelung. v. Savigny ging davon aus, daß "kein Richter im Zweifel sein (kann, A.K.)", die geringe Fahrlässigkeit nicht zu bestrafen, wenn im Strafrecht nur die Fahrlässigkeit, ohne nähere Bestimmung des Grades, unter Strafe stünde149 . Hierin sollte eine folgenschwere Fehleinschätzung liegen. In einer Entscheidung aus dem Jahr 1866 150 zog das Preußische Obertribunal aus der allgemeinen Strafbarkeit der fahrlässigen Tötung im Gegensatz zu ihrer beschränkten Strafbarkeit im Allgemeinen Landrecht den Umkehrschluß, daß nun auch die geringe Fahrlässigkeit strafbar sei. Der Nichtigkeitsbeschwerde gegen das sich auf die Entstehungsgeschichte stützende erstinstanzliehe Urteil wurde entgegengehalten, daß die "Existenz des Vergehens nicht durch das Vorhandensein eines voraus bestimmten Maaßes der Ver-
Band 2, S. 395f.; Goltdanuners Archiv, Kausalzusanunenhang, GA Bd. 15 (1867), S 21; Goltdanuners Archiv, Urteilsanmerkung, GA Bd. 14 (1866), S. 299. 145 Hälschner, Preußisches Strafrecht, S. 74; Oppenho.ff, Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten,§ 184 Nr. I ; Temme, Glossen, S. 245. 146 Hervorzuheben ist das Urteil des Preußischen Obertribunals in GA Bd. 14 (1866), S. 299f.; gekürzt findet sich die Entscheidung auch in RdO Bd. 7 (1866), S. 35f.; vgl. auch RdO II (1870), S. 526; krit. zur Praxis der Gerichte Goltdanuners Archiv, Kausalzusanunenhang, GA Bd. 15 (1867), S. 21 ; Goltdanuners Archiv, Urteilsanmerkung, GA Bd. 14 (1866 ), S 299. Angesichts dieser Praxis ist Bindings Ansicht, Normen IV, S. 264, im Anschluß an Savignys Gutachten "bürgerte sich in die preußische Praxis der Grundsatz ein, die kriminelle Haftung für Fahrlässigkeit beschränke sich auf grobe und mäßige", nur für einen kurzen Zeitraum zutreffend. 147 Dazu Klee, GABd. 62 (1916), S. 434. 148 v. Savigny, S. 524. 149 v. Savigny, S. 521; ähnlich Goltdanuners Archiv, Strafbarkeit der Fahrlässigkeit, GA Bd. 7 (1859), S. 590. 150 Preußisches Obertribunal GA Bd. 14 (1866), S. 299f (= RdO Bd. 7 (1866), S. 35f). 5 Koch
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B. Geschichtliche Entwicklung der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit
schuldung (abhängig ist, A.K.)" 151 . Das geringe Verschulden könne nur als Strafzumessungsfaktor durch den Richter berücksichtigt werden1s2 . Der Verzicht auf eine allgemeine Formulierung der Fahrlässigkeit hat demnach hinsichtlich der Strafbarkeit leicht fahrlässigen Verhaltens zu einer Entwicklung geführt, die dem Ziel des Gesetzgebers widersprach. Ohne die Fehleinschätzung der Schöpfer des preußischen Strafgesetzbuches von 1851, "Vorbild und Grundlage" 1s3 für das Strafgesetzbuch des Norddeutschen Bundes und damit für das Reichsstrafgesetzbuch1s4 , wäre die leichte Fahrlässigkeit vielleicht bis heute straflos.
2. Meinungsumschwung nach Einführung des Reichsstrafgesetzbuches Nach 1871 überwog in der Literatur zunächst weiterhin die Ansicht, daß die leichte Fahrlässigkeit nicht strafbar sei1ss. Noch 1898, in der letzten Auflage seines Lehrbuchs, sprach sich Berner vehement für deren Straflosigkeit nach geltendem Recht aus, weil es anderenfalls "zu einer grausamen Ausdehnung der Strafbarkeit" käme1s6 . Mit modern anmutender Argumentation betonten Berner und v. Jagemann die unterschiedlichen Grenzen strafrechtlicher und zivilrechtlicher Fahrlässigkeit. Bei geringer Fahrlässigkeit liege zwar Schuld vor, dennoch sei ihre Bestrafung unverantwortlich1s7 . Das Strafrecht
Preußisches Obertribunal GA Bd. 14 (1866), S. 300. Preußisches Obertribunal GA Bd. 14 (1866), S. 300. 153 Motive zum Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund, S. 28, in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages des Norddeutschen Bundes, Session 1870, Dritter Band, Anlagen, Berlin 1870. 154 Zur Kodifikationsgeschichte Eb. Schmidt, Strafrechtsgeschichte, S. 314f.; Rüping, S. 81f. 155 Bemer, Lehrbuch, 18. Auflage, S. 129f; v. Prittwitz/Gaffron, GA Bd. 30 (1882), S. 156; Rüd01:/J, § 222 Nr. 7; Schaper, S. 181 ; v. Schwarze, 5. Aufl, S. 18 und § 222 Nr. 7. 156 Bemer, Lehrbuch, 18. Aufl, S. 130 Fußn. 2. 157 Bemer, Lehrbuch, 18. Aufl, S. 130 Fußn. 2; v. Jagemann, Criminallexikon, S. 279f.; hier zeigen sich deutliche Parallelen zu der Auffassung von Roxin, AT 1, § 24 Rdnr. 85, für den die geringfügige Fahrlässigkeit zwar schuldhaU ist, eine Strafverhängung jedoch aus kriminalpolitischen Gründen für unangemessen gehalten wird. 151
152
IX. Straflosigkeit leichter Fahrlässigkeit in Preußen
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sei lediglich ein Ausnahmegebiet, weshalb sein Anwendungsbereich in engsten Schranken gehalten werden müsse158 . Auch die Gerichte setzten sich mit dem Streit um die Strafbarkeit leichter Fahrlässigkeit auseinander. Am ausführlichsten ging das oberste badische Gericht auf diese Frage ein159 . Anlaß war die Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft gegen ein erstinstanzliebes Urteil 160 . In diesem Verfahren war es
zu einem Freispruch mit der Begründung gekommen, die Tötung sei nur durch die nach der Ansicht des Gerichts nicht strafbaren culpa levissima erfolgt. Dagegen wandte die Staatsanwaltschaft ein, die Fahrlässigkeit müsse generell, bis zur Grenze zum Zufall, bestraft werden. Das oberste badische Gericht lehnte die Beschwerde der Staatsanwaltschaft ab. In seinem Leitsatz stellte es fest, daß "nach dem Reichsstrafgesetzbuch nicht jedes, auch noch so leichte, Versehen strafrechtlich zur Fahrlässigkeit zuzurechnen (ist, A .K. )" 161 . Zur Begründung berief sich das Gericht zunächst auf einige Vertreter der damals in der Wissenschaft noch überwiegenden Ansicht sowie zusätzlich auf die Autoritäten Mittermaier und Feuerbach, die bei der Auslegung des gemeinen Rechts die Straflosigkeit leichtester Fahrlässigkeit vertreten hatten162 . Ein weiteres Argument war die Regelung der Fahrlässigkeit in einigen Partikularstrafgesetzbüchern, die dem Reichsstrafgesetzbuch vorausgegangen waren. Das dort aufgestellte Erfordernis der "gewöhnlichen Aufmerksamkeit" 163 sowie der Verzicht auf Strafe bei Nichteinhaltung "ungewöhnlicher Bedachtsamkeit"164 wurde vom Gericht, wie auch in der Literatur165 , als Ausschluß v. Jagemann , Criminallexikon, S. 280. Annalen der Großherzoglichen Badischen Gerichte, Bd. 34 (1873), S. 129-131. 160 Annalen, S. 129. 161 Annalen, S. 129. 162 Feuerbach, Lehrbuch, 14. Auflage, S. 110: "Die Pflicht zur Beflissenheit ist überall nur beschränkt auf die Beachtung mäßiger Sorgfalt". Dazu die Anmerkung von Mittermaier: "Also keine über die culpa levis hinausgehende culpa levissima". Bauer, S. 288ff., wollte nur die bewußte und die grobe unbewußte Fahrlässigkeit strafen; weitergehend v. Jagemann, Criminallexikon, S. 280, nach dem nur culpa lata strafbar sein sollte. 163 Strafgesetzbuch für das Großherzogtum Hessen von 1841 , Art. 57; wortgleich Art. 54 des Strafgesetzbuches für das Herzogtum Nassau von 1849; ähnlich§ 101 des Strafgesetzbuches für das Großherzogtum Baden von 1845 und Art. 30 des sogen. Thüringer Strafgesetzbuches (Das gemeinsame Strafgesetzbuch flir mehrere Kleinstaaten in Thüringen). 164 Art. 48 des Strafgesetzbuches fur das Königreich Sachsen von 1855. 165 So Berner, Lehrbuch, 18. Aufl , S. 130 Fußn. 2; Hälschner, Preußisches Straf~ recht, S. 74 Fußn. 4. 158
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B. Geschichtliche Entwicklung der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit
der leichten Fahrlässigkeit aus dem Strafrecht interpretiert166 . Außerdem berief man sich auf die Entstehungsgeschichte des Reichsstrafgesetzbuches und des preußischen Strafgesetzbuches167 . Das historische Argument hatte jedoch nach 1871 an Überzeugungskraft verloren, weil sich der Gesetzgeber anders als 1851 nicht mit der Fahrlässigkeitsproblematik auseinandergesetzt hatte. v. Schwarze sprach von einer "Lücke im Bundesgesetzbuch" 168 , die durch die Nichtdefinition der Fahrlässigkeit und ihrer Grenzen entstanden sei. Ähnlich wie zuvor schon andere Autoren169 befürchtete er, daß "gegenwärtig, wo eine solche Beschränkung im Gesetzbuche nicht verlautbart worden ist, ... die Gefahr naheliegt, daß eine zu weitgehende Bestrafung der Fahrlässigkeit eintreten werde" 170 . Die Befürchtungen sollten sich bestätigen. Die Gegenmeinung171 , die für die Bestrafung jeder Fahrlässigkeit bis zur Grenze des Zufalls eintrat, setzte sich durch. Als Argument verwiesen ihre Verfechter auf die Unmöglichkeit der genauen Bestimmung der culpa levissima172 und auf den Wortlaut des Reichsstrafgesetzbuches, der für die Strafbarkeit jedes Fahrlässigkeitsgrades spreche. Nach der Jahrhundertwende verstummten die Stimmen der ehemals überwiegenden Ansicht173 . Sie wurden nicht mehr zitiert oder lediglich in Fußno-
Annalen, S. 130. Annalen, S. 130. 168 v. Schwarze, S. 18. 169 Goltdammers Archiv, Strafbarkeit der Fahrlässigkeit, GA Bd. 7 (1859), S. 590. 170 v. Schwarze, S. 18. 171 Binding, Nonnen IV, S. 460 Fußn. 4; Hälschner, Das gemeine deutsche Strafrecht, S. 322; Oppenhoff, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, 2. Aufl., § 222 Nr. 3; deutlicher ders., 14. Aufl. ; Schütze, S. 124. Beispielhaft war die Interpretation des bayerischen Strafgesetzbuches von 1861, in dem die Fahrlässigkeit nicht definiert worden war. In seinem Kommentar stellte Dollmann, S. 81 , fest: "Da das Gesetzbuch keine Grade der Fahrlässigkeit unterscheidet und die Haftung derselben auch sonst keiner Beschränkung unterliegt, so ist die Fahrlässigkeit bis zur Gränze des Zufalls strafrechtlich zu prästieren, und die Einwendung, daß die Fahrlässigkeit nur eine leichte und entschuldbare gewesen ist, findet nicht statt". 172 Hälschner, das gemeine Deutsche Strafrecht, S. 322. 173 Rechtshistorisch wird das Problem bei Klee, GA Bd. 62 (1916), S. 394ft'., erörtert. In Anbetracht der überspannten Sorgfaltsanforderungen wollte er aus der Geschichte Anregungen für eine bessere Regelung de lege ferenda gewinnen, S. 434, 455; v. Bar, S. 475, spielt kurz in einem Nebensatz auf die frühere mildere Behandlung der Fahrlässigkeit an. 166
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X. Bis zur bundesdeutschen Reformdiskussion
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ten "als ganz aus der Luft gegriffen" 174 abgetan; schließlich geriet die Auseinandersetzung um die Strafbarkeit der leichten Fahrlässigkeit in Vergessenheit175 . Erst in der heutigen Diskussion um die Entkriminalisierung der Fahrlässigkeit werden damals formulierte Argumente, wenn auch in Unkenntnis ihrer Historie, erneut aufgegriffen.
X. Entwicklung bis zum Einsetzen der bundesdeutschen Reformdiskussion Erst in den 60er Jahren meldeten sich in der Strafrechtswissenschaft erneut Autoren zu Wort, die bestimmte Formen leicht fahrlässigen Handeins aus dem Strafrecht herausnehmen wollten176 . Wenn bis dahin eine Beschäftigung mit der Strafwürdigkeit des Fahrlässigkeitsdelikts überhaupt noch stattgefunden hatte, dann lediglich im Rahmen von Erörterungen über den Schuldgehalt der unbewußten Fahrlässigkeit. Der Gesetzgeber befaßte sich in diesem Zeitraum nicht mit der Entkriminalisierung der Fahrlässigkeit. Statt dessen erweiterte er durch eine Verordnung aus dem Jahr 1940 den Strafrahmen für fahrlässige Tötungen und Körperverletzungen deutlich177 . Fahrlässige Tötungen konnten nunmehr mit fünf statt bisher drei Jahren, fahrlässige Körperverletzungen mit drei statt bisher zwei Jahren Gefängnis bestraft werden. Die Strenge des Gesetzgebers gegenüber den Fahrlässigkeitsdelikten zeigt sich auch darin, daß erst durch das 2. Strafrechtsänderungsgesetz aus dem
174 So Binding, Normen IV, S. 460 Fußn. 7, zu Berner. 175 Nur ganz selten finden sich noch Bemerkungen wie die von Maurach , AT, 4. Aufl. 1971 , S. 536: "Stets hat der Täter jedes Maß an Fahrlässigkeit, auch culpa levissima zu vertreten". 176 Zuerst Peters, Kriminalpädagogik, S. 307f.; ders., FS Eb. Schmidt, S. 495 Fußn. 19; zuerst mit ausf\ihrlicher Argumentation Stratenwerth, BaslJurMitt 1966, S. 53ff.
177 Verordnung zur Änderung der Strafvorschriften über fahrlässige Tötung, Körperverletzung und Flucht bei Verkehrsunfällen vom 2.4.1940, RGBl.I, S. 606; amtliche Begründung in DJ 1940, S. 508. Wie schon in den Entwürfen seit 1909 regelmäßig gefordert, wurde § 222 Abs. 2, der eine Strafschärfung bei der Verletzung besonderer beruflicher, gewerblicher oder amtlicher Aufmerksamkeitspflichten vorsah, gestrichen. Die bei Abs. 2 vorgesehene Strafdrohung wurde für den nun einheitlichen Tatbestand übernommen.
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B. Geschichtliche Entwicklung der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit
Jahr 1969 bei fahrlässigen Tötungen die Möglichkeit der Verhängung einer Geldstrafe eröffnet wurde178 .
XI. Fahrlässigkeitsstrafbarkeit nach dem Strafgesetzbuch der DDR 1. Übersicht
Am l. Juli 1968 trat das Strafgesetzbuch der DDR in Kraft17 9 , womit die Rechtseinheit der beiden deutschen Staaten auf dem Gebiet des Strafrechts engültig beendet wurde. Obwohl im Allgemeinen Teil des neuen Strafgesetzbuches eine weitgehende Einschränkung der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit vorgesehen war180 , blieb der Ansatz des DDR-StGB in der westdeutschen Diskussion um die Entkriminalisierung der Fahrlässigkeit nahezu unbeachtet'~' . Ein Grund hierfür könnte neben dem praktisch nicht existierenden wissenschaftlichen Austausch zwischen den beiden deutschen Staaten die in der DDR gerade zu Beginn der Auseinandersetzung vorherrschende enge Anlehnung an sozialistische Terminologie gewesen sein. So wurde beispielsweise versucht, den Klassencharakter der bürgerlichen Fahrlässigkeitsdogmatik nachzuweisen 182 , die zu einem "Fe-
178 BGBl.I, S. 717, 741; 2. Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 4.7.1969, Art. 2, § 2 Abs. 1. Die Möglichkeit einer Geldstrafe bei fahrlässigen Tötungen wurde schon 1909 von Vertretern bestimmter beruflicher Interessengruppen in die Diskussion eingebracht (Bund Deutscher Dachdecker-lnnungen und der Innungsverband Deutscher Baugewerksmeister), ohne aber Gehör gefunden zu haben; vgl. Reichs-Justizamt (Hrsg.), Zusammenstellung der gutachterliehen Äußerungen über den Vorentwurf zu einem Deutschen Stafgesetzbuch, 1911, Berlin, S. 326. Der E 1962 sah in seinem § 138 Absatz 3 selbst für minderschwere Fälle der fahrlässigen Tötung noch Geflingnisstrafe bis zu zwei Jahren oder Strafhaft vor. 179 GBl. DDR I, S. I . 180 Einen Gegensatz zur Entkriminalisierung der Fahrlässigkeit im Allgemeinen Teil bildeten die Strafhöhen des Besonderen Teils. So konnte eine fahrlässige Tötung gemäß § 114 Abs. 2 DDR-StGB mit einer Freiheitsstrafe bis zu 8 Jahren bestraft werden. 181 Eine Ausnahme machen z.B. Frisch, FS Stree/Wessels, S. 98 Fußn. II! ; ders., Strafbarkeitsvoraussetzungen, S. 227 Fußn. 60; LK!Schroeder, § 16 Rdnr. 21 5 und vor § I 5 Rdnr. 9 sowie in Österreich Burgstaller, Fahrlässigkeitsdelikt, S. 20 I. 182 Lekschas, StrafWürdigkeit, S. 20fT.
XI. Strafgesetzbuch der DDR
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tischismusder Fahrlässigkeitsstrafe" 183 geführt habe. Der bis in die 60er Jahre vertretenen "Rudimenttheorie" 184 folgend, wurde fahrlässiges Verhalten zunächst als "Rudiment kleinbürgerlicher oder bürgerlicher Lebensgewohnheit"185 bezeichnet. Ziel der neuen Fahrlässigkeitskonzeption müsse es sein, die für die sozialistische Umwälzung notwendige Disziplin durchzusetzen helfen186. Auch nach Erlaß des DDR-StGB wurde die durch §§ 7, 8 StGB erfolgte ideologische Abkehr von bürgerlichen Denkmodellen hervorgehoben, die bei der Interpretation stets zu berücksichtigen sei187 . Trotz ihrer ideologischen Einkleidung stimmten die in der DDR für die Reform der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit herausgearbeiteten Argumente, wie noch zu zeigen sein wird, weitgehend mit denen bundesdeutscher ReformbefürworteT überein.
2. Die gesetzliche Regelung
Das DDR-StGB kannte in seinen §§ 7 und 8 drei verschiedene Arten strafbaren fahrlässigen Verhaltens188 . Daneben sah § 10 einen allgemeinen Schuldausschluß für bestimmte Extremsituationen vor189 . Lekschas/Loose!Renneberg, S. 119. Demnach sollen Straftaten dort auftreten, "wo im Lebens- und Wirkungsbereich noch Beziehungen bestehen, die das Weiterwirken rückständiger bürgerlicher und kleinbürgerlich-anarchistischer Denk- und Lebensgewohnheiten zulassen", Lekschas, NJ 1960, S. 499. 185 Lekschas, NJ 1960, S. 505. 186 Lekschas, NJ 1960, S. 504. 187 Schlegel, NJ 1973, S. 255f.; Schröder, NJ 1973, S. 262. 188 §.]_: Fahrlässig handelt, wer voraussieht, daß er die im gesetzlichen Tatbestand bezeichneten Folgen verursachen könnte und diese ungewollt herbeiführt, ohne diese vorauszusehen, obwohl er sie bei verantwortungsbewußter Prüfung der Sachlage hätte voraussehen und bei pflichtgemäßem Verhalten vermeiden können. § 8 Abs.l : Fahrlässig handelt auch, wer sich in bewußter Verletzung seiner Pflichten zum Handeln entscheidet und dadurch die im gesetzlichen Tatbestand bezeichneten Folgen herbeiführt, ohne diese vorauszusehen, obwohl er sie bei verantwortungsbewußter Prüfung der Sachlage hätte voraussehen und bei pflichtgemäßem Verhalten vermeiden können. Abs. 2: Fahrlässig handelt auch, wer sich zur Zeit der Tat der Pflichtverletzung nicht bewußt ist, weil er infolge verantwortungsloser Gleichgültigkeit sich seine Pflichten nicht bewußt gemacht oder weil er sich auf Gnmd einer disziplinlosen Einstellung an pflichtwidriges Verhalten gewöhnt hat und dadurch die im gesetzlichen 183 184
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B. Geschichtliche Entwicklung der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit
In den beiden Lehrbüchern zum DDR-StGB aus den Jahren 1978 und 1988 wurde die milde Behandlung der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit hetvorgehoben. Ein momentanes Versagen in einer kritischen Situation sei bei einem Menschen schlechterdings nicht auszuschließen190 ; deshalb akzeptiere das sozialistische Strafrecht, "daß der einzelne sich in einer Schwächesituation fehlerhaft verhalten hat" 191 . Die Bestrafung eines leichten Versagens würde von den Werktätigen als Überspitzung empfunden und zu Unverständnis und Unsicherheit führen 192 . Nur solche unbewußten Pflichtverletzungen sollen strafbar sein, die in einer sozial-negativen Haltung zu den Pflichten ihre Grundlage haben193 . Im Strafverfahren seien deshalb die Gründe für die unbewußte Pflichtverletzung genau zu untersuchen194 . Keinesfalls dürfe die bloße Feststellung des Vermeidenkönnens für die Strafbarkeit genügen195 .
3. Die Diskussion um die Einschränkung der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit vor Erlaß des Strafgesetzbuches a) Anstoß der Diskussion durch Lekschas
Den Anstoß für die Diskussion um die Einschränkung der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit in der DDR gab Lekschas durch seine Monographie "Über die Strafwürdigkeit von Fahrlässigkeitsverbrechen" aus dem Jahre 1958. In dieser Schrift sowie in seinen folgenden Publikationen zur Fahrlässigkeitsproblema-
Tatbestand bezeichneten, bei pf1ichtgemäßem Verhalten voraussehbaren und vermeidbaren schädlichen Folgen herbeiführt. 189 .§_J_Q: Schuldhaft (vorsätzlich oder fahrlässig) handelt nicht, wem die Erfüllung seiner Pflichten objektiv nicht möglich ist oder wer dazu nicht imstande ist, weil er wegen eines nicht zu verantwortenden persönlichen Versagens oder Unvermögens die Umstände oder Folgen seines Handeins nicht erfassen oder ihm unter den gegebenen Umständen obliegenden Pflichten nicht erkennen kann. 190 Lehrbuch (1978), S. 321 ; Lehrbuch (1 988), S. 255. 191 Lehrbuch (1978), S. 321 ; ähnlich S. 310: "Für das sozialistische Strafrecht ist der Mensch nicht mit einem Computer vergleichbar, der bestimmte vorprogrammierte Aufgaben in Bruchteilen von Sekunden löst und bis in die feinsten Verästelungen zu berechnen vermag" . Ein ähnliches Bild findet sich bei Roxin, AT I, § 24 Rdnr. 119. 192 Lehrbuch (1978), S. 309. 193 Lehrbuch (1 978), S. 321 ; Lehrbuch (1 988), S. 246. 194 Lehrbuch ( 1988), S. 254f 195 Lehrbuch (1 988), S. 254f ; auch OG NJ 1983, S. 169.
XI. Strafgesetzbuch der DDR
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tik196 nahm Lekschas eine Reihe von Argumenten vorweg, die sich später in der westdeutschen Auseinandersetzung um die Entkriminalisierung der Fahrlässigkeit wiederfinden. 1958 plädierte Lekschas für eine weitreichende Einschränkung der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit. Nach seiner Ansicht sollte die "kriminelle Fahrlässigkeit nur dann (vorliegen, A.K.), wenn der Täter vorsätzlich bestimmten Rechtspflichten zuwiderhandelt" 197 . Nur in Fällen des bewußten Verstoßes gegen gesetzlich geregelte Sorgfaltspflichen liege eine verbrecherische Einstellung des Täters vor198 , die es rechtfertige, das einschneidende Mittel der Strafe anzuwenden199 . Der unbewußte Verstoß gegen Rechtspflichten konnte dagegen nach Lekschas keine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit begründen. Die bisherige Gesetzesanwendung führe dazu, daß menschliches Unglück als ein Verbrechen behandelt werde, wodurch das Strafrecht Ansehen und Rückhalt bei den Werktätigen verliere und dadurch seine Erziehungsfunktion einbüße2oo.
b) Kontroverse Stellungnahmen bis zum Erlaß des DDR-StGB
Die Thesen von Lekschas stießen schon bald auf entschiedene Kritik201 . Abgelehnt wurde insbesondere die vorgeschlagene Straflosigkeit der unbewuß196 Lekschas variierte seine Ansicht mehrfach; dazu ders., Neuregelung der Schuld; ders., Zu einigen Fragen der Neuregelung der Schuld, NJ 1960, S. 498ff.; Lekschas/Loose/Renneberg, Verantwortung und Schuld im neuen Strafgesetzbuch, 1964. 197 Lekschas, Strafwürdigkeit, S. 48. 198 Lekschas, Strafwürdigkeit, S. 45 . 199 Ohne das Prinzip beim Namen zu nennen, argumentierte Lekschas, Strafwürdigkeit, S. 29, 45, mit dem ultima-ratio-Grundsatz: "daß ein sozialistischer Staat nur solche gesellschaftsgefahrliehen Handlungen unter Strafe stellen darf, die - da man sie mit außerstrafrechtlichen Mitteln nicht ausreichend bekämpfen kann - unumgänglich .. . mit Strafe .. . belegt werden müssen" . 200 Lekschas, Strafwürdigkeit, S. 46; ders., Neuregelung der Schuld, S. 36; Lekschas/Loose/Renneberg, S. 121 ; vgl. dazu die ähnlichen Gedanken bei Stratenwerth, BaslJurMitt 1966, S. 67. 201 Sahre/Koch/Linaschk, NJ 1959, S. 490ff.; ablehnend auch eine zur Diskussion der Grundfragen eines neuen Strafrechts eingesetzte Kommission, Schmidt, NJ 1958, S. 633: "Es scheint aber, daß der Vorschlag von Lekschas ... noch nicht voll gelungen ist" . Zustimmend zu Lekschas jedoch Dörschel, Der Schäfte 1958, S. 384f. Übersicht über die Diskussion aus bundesdeutscher Sicht bei Schroeder, JOR Bd. 14 (1973), S. 19ti
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B. Geschichtliche Entwicklung der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit
ten Fahrlässigkeit. Dadurch werde die erzieherische Wirkung des Strafrechts außer acht gelassen202 , kriminalstrafwürdige Handlungen blieben zu einem erheblichen Teil unbestraft203 , das Rechtsbewußtsein der Werktätigen werde verletzt204 und- als schwerwiegendster Vorwurf- der Vorschlag stimme nicht mit den Interessen der sozialistischen Gesellschaftsordnung überein und werde der bewußtseinsfördernden Rolle des Rechts nicht gerecht205 . Angesichts dieser Kritik schränkte Lekschas seinen Vorschlag ein. Nicht mehr nur die bewußte Verletzung von Pflichten sollte strafbar sein, weil es anderenfalls einen "Freibrief für Pflichtvergessenheit" gebe206 . Um bestimmte Formen der unbewußten Fahrlässigkeit strafen zu können, schlug er zunächst das Kriterium der "Mißachtung" vor. Danach sollte eine irgendwann vor der Tat getroffene Willensentscheidung des Täters, seine Pflichten nicht ernst zu nehmen, genügen207 . Wenig später plädierte er für eine Differenzierung nach der Schwere des Verschuldens, die sich jedoch nicht in dem Begriffspaar leichte und grobe Fahrlässigkeit erschöpfen sollte208 . Vielmehr müßten die bei der Fahrlässigkeit auftretenden unterschiedlichen ideologischen Haltungen des Täters zu den sozialistischen Verhältnissen näher charakterisiert werden209 . Es sei deshalb zu unterscheiden, ob die fahrlässige Tat in rücksichtsloser Einstellung, in gleichgültigem oder verantwortungslosem Verhalten oder aus gelegentlicher Unachtsamkeit oder Oberflächlichkeit begangen wurde210 . Für eine weitgehendere Einschränkung der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit plädierten Lekschas, Loose und Renneberg in einem Vorschlag, den sie 1964 der Kommission zur Ausarbeitung des Strafgesetzbuches unterbreiteten. Demnach sollte überlegt werden, ob die Fahrlässigkeit im Strafrecht nicht auf die Fälle der bewußten Pflichtverletzung eingeschränkt werden sollte211 . Wie der erste Sahre!Koch/Linaschk, NJ 1959, S. 491. Sahre/Koch/Linaschk, NJ 1959, S. 491. 204 Sahre!Koch/Linaschk, NJ 1959, S. 492. 205 Sahre!Koch/Linaschk, NJ 1959, S. 492; auf diesen Vorwurf wird erwidert, die Autoren seien in alten Vorstellungen befangen und huldigten einem Strafenfetischismus, Lekschas/Loose/Renneberg, S. 120 Fußn. 75. 206 Lekschas, NJ 1960, S. 505. 207 Lekschas, Neuregelung der Schuld, S. 36f. 208 Lekschas, NJ 1960, S. 505. 209 Lekschas, NJ 1960, S. 505. 210 Lekschas, NJ 1960, S. 504. 211 Lekschas/Loose!Renneberg, S. 137; als bewußte Pflichtverletzung wurde dabei auch die Gewöhnung an pflichtwidriges Verhalten angesehen, das dem Täter als solches nicht mehr bewußt ist, Lekschas/Loose/Renneberg, S. 138. 202 203
Xll. Zwischenergebnis
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Vorstoß aus dem Jahr 1958 stieß auch dieser weitreichende Reformvorschlag rasch auf Widerspruch. Erneut wurde die zu weit reichende Straflosigkeit der unbewußten Fahrlässigkeit bemängelt. Nach anderen vor der Einführung des neuen Strafgesetzbuches unterbreiteten Vorschlägen sollte es deshalb praktisch bei der bisherigen umfassenden Strafbarkeit fahrlässiger Verletzungen bleiben212.
c) Die Entscheidung des Gesetzgebers als Kompromiß Der Gesetzgeber entschied sich hinsichtlich der Strafbarkeit unbewußter Fahrlässigkeit für einen Kompromiß zwischen den Forderungen nach völliger Straflosigkeit einerseits und Beibehaltung des bisherigen Zustandes andererseits. Im Ergebnis lehnte man sich an den Vorschlag von Lekschas aus dem Jahr 1960 an213 . In Anknüpfung an die seinerzeit in die Diskussion eingeführten Begriffe sollte die unbewußte Pflichtverletzung nach § 8 Abs. 2 DDRStGB nur dann strafbar sein, wenn der Täter aufgrund "verantwortungsloser Gleichgültigkeit" handelte oder sich durch "disziplinlose Einstellung an das pflichtwidrige Verhalten gewöhnt hat". In diesen beiden Fällen liege eine sozial-negative Haltung gegenüber den Pflichten vor214 . Ob sich die Übernahme des Begriffspaares oder einer ähnlichen Umschreibung der Einstellung des Täters für eine Reform der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit eignet, soll an anderer Stelle der Arbeit überlegt werden215 .
XII. Zwischenergebnis Der Rückblick in die Geschichte der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit hat gezeigt, daß die im geltenden Recht bestehende Tatbestandsmäßigkeit jeder fahrlässigen Tötung und Körperverletzung nicht selbstverständlich ist. In ansonsten kaum vergleichbaren Rechtssystemen wurden statt der vollständigen tatbestandliehen Kriminalisierung andere Wege gefunden, um auf ungewollte Rechtsgutsverletzungen strafrechtlich zu reagieren. Zu erinnern sei hier noch 212 Vgl. etwa die Vorschläge von Lischke!Schröder, NJ 1965, S. 350 und Mürbe/Schmidt, NJ 1965, S. 610. 213 Lekschas, NJ 1960, S. 504. 214 Lehrbuch (1988), S. 246. 215 Vgl. H. IV. l. c) aa).
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B. Geschichtliche Entwicklung der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit
einmal an die grundsätzliche Straflosigkeit der Fahrlässigkeit im römischen Recht, die Straflosstellung leichter Fahrlässigkeitsgrade nach dem Allgemeinen Landrecht von 1794 und dem preußischen Strafgesetzbuch von 1851 sowie den Versuch einer Umschreibung der strafwürdigen Einstellung des Täters im Strafgesetzbuch der DDR. Diese Konzepte geben ebenso Anregungen für eine Reform des geltenden Rechts wie die in Vergessenheit geratenen Argumente führender Strafrechtswissenschaftler des 19. Jahrhunderts.
C. Gründe für die Entkriminalisierung der fahrlässigen Tötung und Körperverletzung I. Entkriminalisierung aufgrund der Justizüberlastung 1. Die Überlastung der Justiz als Argument für die Reform der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit In der gegenwärtigen rechtspolitischen Diskussion wird die Entkriminalisierung bestimmter Bereiche regelmäßig mit der dringend erforderlichen Entlastung der Strafjustiz begründet 1 . Um die Beanspruchung der Gerichte und Strafverfolgungsbehörden zu verringern, sollen vor allem Massenbagatellen wie der Ladendiebstahl oder der Drogenbesitz aus dem Strafrecht herausgenommen werden. Auch die Notwendigkeit einer Entkriminalisierung fahrlässigen Verhaltens wird immer wieder mit der Überlastung der Justiz, vor allem im Bereich der Verkehrsdelikte, begründee. Drastisch wird das Schlagwort vom "drohenden Justizinfarkt" 3 gebraucht, oder wegen der Verfolgung der Fahrlässigkeitsdelikte von einem heute bereits bestehenden "partiellen Stillstand der Rechtsprechung" 4 gesprochen. Die begrenzten Mittel und Kapazitäten seien auf wirklich wichtige Gebiete wie den Kampf gegen die Schwerkriminalität oder das organisierte Verbrechen zu konzentrieren5 , weshalb es nötig sei, "Ballast abzuwerfen" 6 .
Albrecht, NJ 1994, S. 199. Z.B. Hamm, Triherger Symposium, S. 126; Hoffmann , NZV 1993, S. 210; Janiszewski, DAR 1994, S. 1; Deutscher Anwaltverein, Pressemitteilung vorn 7.10.1994. 3 Janker, ADAC-Fachgespräch, DAR 1993, S. 11. Zur Begründung einer allgemeinen Justizreform wird diese Wendung auch vorn rheinland-pf!ilzischen Justizminister Caesar gebraucht, FAZ vorn 27.4.1994, S. 5. 4 Hoffmann , NZV 1993, S. 21 0; auch Müller-Metz, NZV 1994, S. 89f.; ders., 32. VGT 1994, S. 118. 5 Hund, ZRP 1994, S. 7. 6 Hund, ZRP 1994, S. 7. 1
2
C. Gründe für die Entkriminalisierung
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2. Kritik an der "justizökonomischen Argumentation"
Eine nur auf die Arbeitsentlastung der Gerichte abzielende Argumentation kann nicht begründen, warum mit einer Entkriminalisierung gerade bei den Fahrlässigkeitsdelikten angesetzt werden soll. So weisen andere Delikte wie beispielsweise Diebstahl und Betrug höhere Verurteilungszahlen als fahrlässige Körperverletzungen und Tötungen auf7 . Selbst innerhalb der Verkehrsdelikte, die mit ihren im Jahre 1990 allein im früheren Bundesgebiet 258691 Verurteilungen8 und der ungefähr doppelt so hohen Zahl der Ermittlungsverfahren9 eine starke Belastung der Justiz darstellen, entfallen auf die Fahrlässigkeitsdelikte nicht einmal ein Fünftel der Verurteilungen10 • Die Entlastung der Justiz kann für eine Entkriminalisierung nie das entscheidende Argument sein11 . Wenn bisher pönalisierte Verhaltensweisen aus dem Strafrecht herausgenommen werden sollen, genügt der Hinweis auf Statistiken zur Begründung eines solchen Schrittes nicht. Mit gleichem Recht könnte aus der Bestrafungshäufigkeit auf die Notwendigkeit der effektiven Verfolgung und die Schaffung von mehr Richterstellen geschlossen werden. Statt dessen müssen die Gründe, weshalb ein bestimmtes Verhalten nicht mehr als strafwürdig angesehen wird, offengelegt werden. Für die Verwirklichungschancen von Reformvorhaben darf eine Wirkung der ,justizökonomischen Argumentation" allerdings nicht unterschätzt werden. Der Gesetzgeber, der auch im Bereich der Rechtspflege mit knappen Mitteln baushalten muß, wird sich zu Reformschritten, die zu einer Justizentlastung und damit zu Einsparungen führen, leichter entschließen. Das ,justizökonomische Argument" hat insofern auch die Bedeutung, dem Gesetzgeber einen Anreiz zu Entkriminalisierungen zu geben. Die notwendige Dis1990 kam es wegen Diebstahls zu 91982 Verurteilungen und wegen Betrugs zu 43572 Verurteilungen; auf die fahrlässige Tötung und Kötperverletzung im Straßenverkehr entfielen im selben Jahr 1698 bzw. 39971 Verurteilungen; Zahlen aus dem Statistischen Jahrbuch 1993, S. 408f. 8 Statistisches Jahrbuch 1993, S. 408. Als Straßenverkehrsdelikte werden zusammengefaßt: §§ 142, 222, 230, 323a, 315c, 315b, 316 StGB sowie Verstöße gegen die Strafnormen des Straßenverkehrsgesetzes. 9 Ho.ffmann, NZV 1993, S. 210. 10 Auf die Gefahrdung im Straßenverkehr(§§ 315b, 315c, 316 StGB) entfielen 1990 139324 Verurteilungen; Statistisches Jahrbuch 1993, S. 408. 11 Ob eine Entkriminalisierung tatsächlich zu einer effektiven Entlastung führt, ist dann zweifelhaft, wenn der Straftatbestand durch eine Ordnungswidrigkeit ersetzt wird; dazu Seiler, FS Maurach, S. 75f.; Volk, 14. VGT 1976, S. 73. 7
li. Täterpersönlichkeit bei den Fahrlässigkeitsdelikten
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kussionüber die Vor- und Nachteile der Straflosstellung fahrlässigen Verhaltens kann durch bloße Kostenrechnungen jedoch nicht ersetzt werden.
II. Die Täterpersönlichkeit bei den Fahrlässigkeitsdelikten 1. Der Täter als "Jedermann"
In der strafrechtlichen Literatur wird die Notwendigkeit einer Reform der §§ 222, 230 StGB häufig mit der Persönlichkeitsstruktur des Fahilässigkeitstäters begründet. Dabei wird von der Alltagserfahrung ausgegangen, daß jeder Mensch, gerade im Straßenverkehr, Unachtsamkeiten und Fehler begeht. Auf diese Beobachtung gründet sich die These, der Täter bei der einfachen Fahrlässigkeit sei "der sozial unauffällige, nichtkriminelle Jedermann" 12 bzw. "ein rechtschaffender Mensch mit prinzipiell intakter Verhaltenssteuerung"13 . Die Behauptung, der Täter einer einfachen Fahrlässigkeitstat entspreche regelmäßig dem "prinzipiell rechtstreuen" 14 Bürger, wird in der Reformdiskussion nicht durch kriminologische Forschungsergebnisse untermauert. Sollte dieser Befund jedoch durch die Kriminologie bestätigt werden können, so ist der spezial- und generalpräventive Nutzen einer Strafverhängung bei nicht grob fahrlässigem Verhalten zweifelhaft15 . Auch ließe sich die Strafe kaum mehr als Ausdruck eines schweren sozialethischen Tadels begreifen, wenn sie schon für ein Verhalten verhängt würde, das auch dem um Nonneinhaltung bemühten Bürger unterlaufen kann16 •
Gössel, ZStW Bd. 91 (1979), S. 270, 276. Roxin, FS Henkel, S 193; ähnlich ders , AT 1, § 24 Rdnr. 85; Baumann, Weitere Streitschriften, S. 195; Burgstaller, ZVR Sonderheil 1978, S. 20; Frisch, Strafbarkeitsvoraussetzungen, S. 227; ders., FS Stree/Wessels, S. 227; Janiszewski, DAR 1994, S. 1; vgl. auch AE, AT, Begründung zu§ 16, S. 53; aus der älteren Literatur schon v. Bar, S. 446, 473 und v. Hippel, V.D.A.T., Bd. 3, S. 597: "Fahrlässige Handlungen werden täglich und stündlich massenhafl und oft genug von den ehrenwertesten Menschen begangen". 14 Fn·sch, Strafbarkeitsvoraussetzungen, S. 227. 15 Roxin, FS Henkel, S. 193; Stratenwerth, AT, Rdm. 1140. 16 Frisch , FS Stree/Wessels, S. 97; Roxin, AT 1, § 24 Rdm. 85, 119. Stratenwerth , AT, Rdm. 1140; ders., BaslJurMitt 1966, S. 67. 12
13
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C. Gründe für die Entkriminalisierung
2. Der Fahrlässigkeitstäter aus der Sicht der Kriminologie In der Kriminologie hat man sich bisher kaum mit dem Fahrlässigkeitstäter beschäftigt. Vereinzelte Ansätze zu einer eingehenderen Untersuchung seiner Persönlichkeitsstruktur finden sich nur für den Bereich der Straßenverkehrsdelikte. Aber auch hier wird eingeräumt, daß man zur Persönlichkeit des Fahrlässigkeitstäters aufgrund des äußerst unvollständigen Materials kaum differenzierte Aussagen machen könne 17 . In Anbetracht der besonderen praktischen Relevanz der Fahrlässigkeitsdelikte bezeichnet es Middendorff als "grotesk", daß man über deren Täter im Grunde nichts wisse18 . Die einzig erfolgversprechende Methode, sich derzeit ein Bild über die fahrlässig Handelnden zu machen, ist der Blick auf die Vorbelastungsquote der jeweiligen Täter19 . Dabei werden die Vorstrafen der Fahrlässigkeitstäter mit denjenigen anderer Straftäter und der durchschnittlichen Vorbelastungsquote der Bevölkerung verglichen. Nach diesen Untersuchungen liegt die Vorbestrafungsquote bei fahrlässigen Erfolgsdelikten im Straßenverkehr sowohl bei der fahrlässigen Tötung als auch bei der fahrlässigen Körperverletzung bei ungefähr 20-23%20 . Dieser Prozentsatz entspricht in etwa der Vorbestraftenqoute des männlichen Bevölkerungsdurchschnitts, die nach überwiegender Ansicht zwischen 18-25% beträgt21 . Für eine Ausnahmestellung der Fahrlässigkeitstäter spricht auch, daß die Fahrlässigkeitsdelikte hinsichtlich der Vorbelastungsquote selbst innerhalb der auch in diesem Punkt von der sonstigen Kriminalität abweichenden Verkehrsdelikte eine Sonderrolle einnehmen. Der Anteil der Vorbestraften steigt dort von den fahrlässigen Erfolgsdelikten über die Unfallflucht (30%) bis zu den 17 Kaiser, Kriminologie, § 97 Rdnr. 3; ders., Verkehrsdelinquenz, S. 215, 220; Middendor:IJ, DAR 1979, S. 155. 18 Middendorff, DAR 1979, S. 156; schon zuvor stellte Cramer, DAR 1974, S. 317, fest, es gebe "kaum einen Komplex im Bereich des Sanktionsrechts, der heftiger umstritten, aber auch kriminologisch weniger erforscht wäre als die Fahrlässigkeitsdelikte". 19 Eisenberg, § 46 Rdnr. 19 sowie § 48 Rdnr. 31 ; Kaiser, Kriminologie, § 97 Rdnr. 3tf.; ders., Verkehrsdelinquenz, S. 218; Middendorff, DAR 1979, S. 155; ders., Verkehrskriminalität, S. 421; Schultz, S. 498. 20 Eisenberg, § 46 Rdnr. 19, dessen Prozentzahlen aus den Jahren 1985-1987 durch die neueren Statistiken bestätigt werden. 21 Eisenberg, § 44 Rdnr. 11 ; Kaiser, Kriminologie, § 42 Rdnr. 49; ausführlich zum Problem der allgemeinen Vorbestraftenquote Keske, MSchrKrim 1979, S. 257ff. Keske kommt auf einen Anteil von über 30% bei der 30jährigen männlichen Bevölkerung.
li. Täterpersönlichkeit bei den Fahrlässigkeitsdelikten
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Verstößen gegen das Straßenverkehrsgesetz (52%) an, wobei sich besonders die Täter des Fahrens ohne Führerschein und der Trunkenheitsfahrt in ihrer Vorstrafenbelastung dem normalen Kriminellen annähern22 . Ein weiteres Indiz dafür, daß der typische Fahrlässigkeitstäter eher dem "Normalbürger" als dem Kriminellen entspricht, ergibt sich aus dem Vergleich der Vorbelastungsquote des Täters einer fahrlässigen Körperverletzung außerhalb des Straßenverkehrs (36%) 23 mit der eines Täters einer vorsätzlichen Körperverletzung (60%). Aus diesen Zahlen kann nicht nur die vielfach konstatierte Sonderrolle des Verkehrsstrafrechts24 gegenüber den klassischen Verbrechenstatbeständen abgeleitet werden, sondern man kann auch der Schlußfolgerung Kaisers zustimmen, wonach die Vorbelastungsquoten "ein breites Gefälle von der Fahrlässigkeits- zur Vorsatzdelinquenz erkennen (lassen, A .K. )"25 . Zumindest für den Bereich des Straßenverkehrs bestätigen die Vorbelastungsquoten die These, daß der Fahrlässigkeitstäter bei einem leichten Fehlverhalten26 dem "Normalbürger" entspricht. Die immer wieder geäußerte Vermutung, fahrlässiges Verhalten beruhe zu einem großen Teil auf einer Überforderung der Kraftfahrer27 , scheint sich zu bestätigen. Der FahrlässigkeitstäteT ist in der Regel kein Mensch, der die Verhaltensanforderungen der Gemeinschaft mißachtet, sondern er ist vielfach einer plötzlichen, unerwarteten Situation nicht gewachsen. Bei den Fahrlässigkeitsdelikten im Straßenver-
22 Eisenberg, § 46 Rdnr. 19, aufBasisder Zahlen zwischen 1985 und 1987; Kaiser, Kriminologie, § 97 Rdnr. 6. 23 Prozentangaben errechnet aus: Statistisches Jahrbuch 1992, Strafverfolgung, Statistik 7.1. , S. 318fT Daß die Vorbelastungsquote bei Vergehen aus§ 230 StGB außerhalb des Straßenverkehrs höher ist als im Verkehrsbereich, dürfte daran liegen, daß dort nicht im selben Umfang von den Einstellungsmöglichkeiten nach §§ 153a StPO Gebrauch gemacht wird. Nr. 243 Abs. 3 RiStBV, der die Bejahung des "öffentlichen Interesses" im Sinne des § 232 StGB einschränken soll, gilt nur für fahrlässige Körperverletzungen innerhalb des Straßenverkehrs. 24 Dazu z.B. Eisenberg, § 46 Rdnr. 2; Göppinger, Kriminologie, S. 672. 25 Kaiser, Kriminologie, § 97 Rdnr. 6; ähnlich Schultz, S. 498; vorsichtiger Eisenberg, § 48 Rdnr. 31, der wegen des begrenzten statistischen Materials für diese These nur "Anhaltspunkte" sieht. 20 Weil keine zwischen Fahrlässigkeitsgraden differenzierenden Statistiken existieren, ist man auf Vermutungen angewiesen. 27 Eisenberg, § 46 Rdnr. 2; Kaiser, Verkehrsdelinquenz, S. 218f; Middendoiff, DAR 1979, S. !55; ders., Verkehrskriminalität, S. 411.
6 Koch
82
C. Gründe für die Entkriminalisierung
kehrshereich wirkt sich besonders aus, daß sich dort jeder Fahrer "fast ständig in einer potentiellen Deliktssituation"28 befindet. Die Möglichkeit der strafrechtlichen Verfolgung für jede zu einer Verletzung führenden Unachtsamkeit ist vor dem Hintergrund der kriminologischen Erkenntnisse über die Persönlichkeitsstruktur der Täter in dem bisherigen Ausmaß nicht mehr angebracht.
111. Die Unvermeidbarkeit menschlicher Fehlleistungen 1. Die alltagstheoretische Annahme der Unvermeidbarkeit
menschlicher Fehlleistungen
Neben der These vom Fahrlässigkeitstäter als "Jedermann" wird in der strafrechtlichen Literatur davon ausgegangen, daß dem Fahrlässigkeitstäter nur geschehen ist, was jedem Bürger nahezu unvermeidbar ebenfalls unterlaufen kann. Das "Jedem-Einmal-Argument" ergänzt das "Jedermann-Argument"29. Für die Notwendigkeit der Entkriminalisierung wird geltend gemacht, daß gerade im Bereich automatisierten Verhaltens nahezu zwangsläufig Fehler entstünden, die auch durch alle Anstrengungen nicht zu vermeiden seien30 . Geht man von einer praktisch unvermeidbaren Fehlerquote aus, so liegen die Bedenken hinsichtlich des Sinns der Strafe auf der Hand: Die Bestrafung leichter Fahrlässigkeit muß als zwecklos erscheinen, sofern ein effektiver Rechtsgüterschutz beabsichtigt wird31 .
Zuerst Göppinger, Kriminologie, S. 672; auch Eisenberg, § 42 Rdnr. 2; Kaiser, Kriminologie; § 97 Rdnr. 10; Middendor:ff, DAR 1979, S. 146; Niedersächsische Kommission, S. 18. 29 Ganz ähnliche Überlegungen wurden schon im Sonderausschuß für die Strafrechtsreforrn Ende der 60er Jahre angestellt, um die Einführung der nichtdiskriminierenden Strafart der Strafhaft für Fahrlässigkeitstäter zu begtünden; Güde und DiemerNicolaus, Protokolle des Sonderausschusses für die Strafrechtsreforrn, 5. Wahlperiode, S. 837ff.; krit. Arndt, ebd., S. 840. 3 Frisch, FS Stree/Wessels, S. 97; ders., Verwaltungsakzessorietät, S. 130; Hamm , Triherger Symposium, S. 126f.; Müller-Metz, 32. VGT 1994, S. 119; Peters, Kriminalpädagogik, S. 308; Stratenwerth, AT, Rdnr. 1137; Zipf, Kriminalpolitik, S. 112. 31 Zu der Frage, ob eine ausschließlich symbolische Strafverhängung zu rechtfertigen ist, siehe G. VI. 3. 28
°
III. Unvermeidbarkeit menschlicher Fehlleistungen
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Parallel zur strafrechtlichen Problematik finden sich für das Zivilrecht Überlegungen, bei Dauerbelastungen die Sorgfaltsanforderungen durch einschränkende Interpretation des § 276 BGB generell zu senken32 . Konsequenz dieser Ansicht ist, daß bei leichten Sorgfaltsverstößen aufgrund deren Unvermeidbarkeit sogar die Schadensersatzpflicht entfallen soll33 . Ähnlich der "Jedermann-Argumentation" beruht die These von den nahezu unvermeidbaren Fehlern auf Alltagserfahrungen. Diese plausibel erscheinenden Beobachtungen würden in der Reformdiskussion an Überzeugungskraft gewinnen, wenn sie durch wissenschaftliche Erkenntnisse der Psychologie erhärtet werden könnten.
2. Psychologische Erkenntnisse zur Unvermeidbarkeit menschlicher Fehlleistungen
Die These von der Unvermeidbarkeit menschlicher Fehlleistungen in bestimmten Lebensbereichen kann durch psychologische Forschungsergebnisse untermauert werden34 . Zu Beginn der 30er Jahre wurde in der Psychologie ein mit "Blockierung" beschriebenes Phänomen entdecke5 , das eine besondere Form der Ermüdung umschreibt. Danach kommt es einerseits bei Tätigkeiten, die eine dauernde Aufmerksamkeit verlangen, andererseits aber auch bei eintönigen, monotonen Beschäftigungen schon nach relativ kurzer Zeit zwangsläufig zu Aufmerksamkeitsunterbrechungen36. Ohne daß ein bestimmter äußerer Reiz oder ein subjektiv wahrnehmbares Motiv dafür unmittelbar verantwortlich gemacht werden könnte, tritt eine kurzzeitige Unterbrechung von Gedankengängen
32 Esser!Schmidt, S. 87f.; Gnmsky, JZ 1975, S. 111 ; ablehnend Staudinger/Löwisch, § 276 Rdnr. 57, mit dem Hinweis, daß dadurch langfristig die Sorgfaltsanforderungen aufgeweicht werden könnten. 33 Nach Esser!Schmidt, S. 88, soll der Ersatz gegenüber denjenigen entfallen, die den gefahrträchtigen Dauerzustand veranlaßt haben oder die sich freiwillig in einen solchen begeben haben. 34 Insbesondere über arbeitspsychologische Erkenntnisse Reinhardt, S. 140f. Allgemein zu automatisiert und hochroutiniert vorgenommenen Handlungen auch Heckhausen, S. 155fT.; zum Straßenverkehrsbereich Luff, DAR 1959, S. 90, 94. 35 Zur Entwicklung Bäum/er, S. 12ff 36 Allgemein Bäum/er, S. 10fT.; Dorsch, Stichwort "Block/Blockierung"; auch Haider, S. 32, 77, 97f.; Hentschel!Eher, S. 226; Rüssel, S. 210f.
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C. Gründe für die Entkriminalisierung
oder fortlaufender Reiz-Reaktions-Tätigkeiten ein37 . Charakteristisch für eine Blockierung ist die plötzliche Unmöglichkeit der Ausführung einer kurz zuvor noch korrekt durchgeführten Reaktion38 . Die Blockierungsdauer beträgt meist nur wenige Sekunden39 , danach stellt sich die normale Aufmerksamkeit wieder ein. Gerade im Bereich des Straßenverkehrs, der immer wieder als Beispiel für das Auftreten einer Blockierung genannt wird40 , kann es während dieses kurzen Zeitraums zu folgenreichen Unfällen kommen. Wichtig für die strafrechtliche Beurteilung ist, daß das Auftreten einer Blockierung willentlich weder gesteuert noch verhindert werden kann41 . Eine Fehlleistungaufgrund einer Blockierung kann also jedem, auch dem stets um Aufmerksamkeit Bemühten, unterlaufen.
3. Überspannte Sorgfaltsanforderungen Unter Berücksichtigung der kriminologischen und psychologischen Forschungsergebnisse sind die derzeit von der Rechtsprechung zur Einhaltung der Sorgfaltspflichten gestellten Anforderungen überzogen42 . Besonders für den Bereich des Straßenverkehrs wird den Gerichten vorgeworfen, daß sie mit einem "fast schon zur Erfolgshaftung denaturierten Fahrlässigkeitsbegriff"43 arbeiteten und bei rückblickender Betrachtung allzuleicht einen Verstoß gegen die Sorgfaltspflichten fanden44 . Die Rechtsprechung geht von der unrealistischen Prämisse aus, der Mensch könne stets ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit erbringen. Dagegen wurde Amold/Eysenck/Meili, S. 301. Amold/Eysenck/Meili, S. 301. 39 Nach Dorsch sowie Amold!Eysenck/Meili, S. 301 , beträgt die Blockierungsdauer zwischen 0,5 bis 10 Sekunden. 40 Bäum/er, S. 299; Haider, S. 77, 97; Reinhardt, S. 140. 41 Amold!Eysenck/Meili, S. 301 . 42 So i.E. auch Arzt/Weber, LH 2, Rdnr. 274; Bocke/mann, Verkehrsstrafrechtliche Aufsätze, S. 252: "geradezu übermenschliche Anforderungen" würden von der Rechtsprechung verlangt; Cramer, DAR 1974, S. 322; Jakobs, AT, 9/26; Niedersächsische Kommission, S. 18; Luff, DAR 1959, S. 90, 94; Roxin, FS Henkel, S. 190f.; Stratenwerth, BaslJurMitt 1966, S. 65fT.; ders., AT, Rdnr. 1137; Vogler, ZStW Bd. 90 (1978), S. 150; Weigend, FS Miyazawa, S. 550; Zipf, FS Würtenberger, S. 164; ders., FS Krause, S. 438; krit. schon v.Bar, S. 475 . 43 Zipf, FS Krause, S. 438. 44 Arzt/ Weber, LH 2, Rdnr. 274; krit. schon v.Bar, S. 475f. 37 38
IV. Wertungswidersprüche
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gezeigt, daß jeder Bürger, auch wenn er die an ihn gestellten Verhaltensanforderungen erfüllen will, irgendwann eine Unaufmerksamkeit begehen kann. Selbst wenn nur ein kleiner Teil der Fehlleistungen auf das Phänomen der "Blockierung" zurückzuführen sein wird, muß von der praktischen Unvermeidbarkeit einer Unaufmerksamkeit ausgegangen werden. Treffend stellte schon Stratenwerth zu Beginn der Reformdiskussion fest, daß es niemand vermag, "die Idealforderungen ständiger, gespanntester Aufmerksamkeit und raschester, zweckmäßigster Reaktion zu verwirklichen"45 . Aus diesen Erkenntnissen, die schon von den führenden Interpreten des preußischen Strafgesetzbuches beherzigt wurden, muß der Gesetzgeber Konsequenzen ziehen. Nicht überzeugend ist dagegen der Vorschlag, mit Reformen abzuwarten bis alle zur Fahrlässigkeitstat führenden psychischen Vorgänge restlos geklärt sind46 . Ob dies überhaupt jemals der Fall sein wird, muß stark bezweifelt werden. Jedenfalls darf der Gesetzgeber mit einer normativen Entscheidung nicht zögern, wenn es gilt, eine ausgeuferte Kriminalisierung zu beseitigen.
IV. Wertungswiderspruch der ausgedehnten Fahrlässigkeitsstrafbarkeit zu gegenläufigen Tendenzen in anderen Bereichen 1. Wertungswiderspruch zur Arbeitnehmerhaftung
a) Der "praktisch unvermeidbare Fehler " im Arbeitsrecht Eine realistischere Sicht bei der Beurteilung menschlicher Leistungsfähigkeit findet sich in der Rechtsprechung zur Arbeitnehmerhaftung. Schon 1936 stellte das Arbeitsgericht Plauen in einer für die weitere Entwicklung der moStratenwerth, AT, Rdnr. 1137; der Sache nach schon ders., BaslJurMitt 1966, S. 67. Ähnlich findet sich dieser Gedanke z.B. bei Cramer, DAR 1974, S. 322; Jakobs, AT, 9/26; Niedersächsische Kommission, S. 18; ähnlich schon zuvor für das Arbeitsrecht Nikisch, RdA 1948, S. 106: "Macht z.B. ein Kraftfahrer einen Fehler, den er bei gespanntester Aufmerksamkeit hätte vermeiden können, so wird man ihm trotzdem keine Fahrlässigkeit vorwerfen dürfen, wenn man feststellen muß, daß kein Mensch in der Lage ist, viele Stunden hintereinander eine gespannte Aufmerksamkeit zu beobachten. Ultra posse nemo obligatur". 46 So aber Schroeder, S. 119, in: Jescheck (Hrsg.), Kongreßakten; ähnlich Gössel, S. 91f, in: Jescheck (Hrsg.), Kongreßakten. 45
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difizierten Arbeitnehmerhaftung grundlegenden Entscheidung fest, "die Unvollkommenheit der menschlichen Natur (bringt es, A.K.) mit sich, daß bei dauernd gespannter Aufmerksamkeit auch bei dem gewissenhaftesten Menschen hie und da einmal ein Nachlassen der geistigen Anspannung, ein Außerachtlassen der im Verkehr an sich erforderlichen Sorgfalt eintritt"47 • Der Gedanke wurde bald daraufvom RAG übernommen48 , das im Zusammenhang mit der Tätigkeit des Kraftfahrers sogar von "praktisch unvermeidbaren leichten Versehen" 49 sprach. Schließlich führte der Große Senat des BAG in seinem Grundsatzurteil zur Haftungseinschränkung bei "gefahrgeneigter Arbeit" aus 50 : "Wenn die Eigenart der von dem Arbeitnehmer geleisteten Dienste es mit großer Wahrscheinlichkeit mit sich bringt, daß auch dem sorgfaltigen Arbeitnehmer gelegentlich Fehler unterlaufen, die - für sich allein betrachtet zwar jedesmal vermeidbar waren, also fahrlässig herbeigeführt worden sind, mit denen aber angesichts der menschlichen Unzulänglichkeiten .. . erfahrungsgemäß zu rechnen ist, kann der Arbeitgeber .. . keinen oder jedenfalls keinen vollen Schadensersatz erlangen" 51 . In der arbeitsrechtlichen Literatur wird übereinstimmend die Ansicht vertreten, bei länger andauernden oder sich wiederholenden Tätigkeiten sei ein gelegentliches Außerachtlassen der Sorgfalt praktisch unvermeidbar52 . Daraus wird für die zivilrechtliche Haftung eine Schlußfolgerung gezogen, die aus dem strafrechtlichen Schrifttum zur Reform der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit bekannt ist: " .. . dem Arbeitnehmer (darf, A.K.) nicht ein Verhalten angelastet werden, daß jedem einmal passieren kann'' 53 .
ArbG Plauen, ArbRSamml, Bd. 29, S. 62ff. RAGE 24,202f. 49 RAGE 24,204. 5 Für die Haftung des Arbeitnehmers gegenüber seinem Arbeitgeber entwickelte die Rechtsprechung die bekannte Stufimg nach Fahrlässigkeitsgraden: Bei leichtester Fahrlässigkeit haftet der Arbeitnehmer überhaupt nicht, bei mittlerer Fahrlässigkeit findet eine anteilmäßige Teilung des Schadens statt und bei Vorsatz sowie grober Fahrlässigkeit tritt in der Regel die volle Haftung des Arbeitnehmers ein; Übersicht bei Staudinger/Richardi, § 611 Rdnr. 502ff. 51 BAG NJW 1958, S. 235. 52 Z .B . Zöllner/Loritz, S. 226. 53 Brox, Rdnr. 100. 47
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b) Übertragbarkeit des Gedankens der "gefahrgeneigten Arbeit" auf das Strafrecht?
Auf den ersten Blick scheint die unterschiedliche arbeitsrechtliche und strafrechtliche Behandlung der leichten Fahrlässigkeit widersprüchlich zu sein. Ist es nachvollziehbar, daß bei demselben "praktisch unvermeidbaren leichten Versehen" 54 einerseits die Freistellung von zivilrechtliehen Ersatzansprüchen die Folge ist, andererseits aber wegen eines solchen "unvermeidbaren" Versehens strafrechtliche Sanktionen verhängt werden? Müßte nicht eher umgekehrt die als ultima ratio verstandene strafrechtliche Sanktion entfallen55, während es bei der Schadensersatzpflicht des Verursachers bleibt? Zur Beseitigung dieses vermeintlichen Mißverhältnisses wurde vereinzelt die Übernahme der Regeln der "gefahrgeneigten Arbeit" für das Strafrecht gefordert56 , was die Straflosigkeit leichtester Fahrlässigkeit de lege lata zur
Konsequenz hätte. Begründet wird diese Auffassung damit, daß durch die gewaltigen technischen Neuerungen seit Erlaß des Strafgesetzbuches eine Modifikation des Fahrlässigkeitsmaßstabes dringend geboten sei. Im Gegensatz zum Zivilrecht, wo die Arbeitsgerichte den Veränderungen durch Schaffung der Figur der "gefahrgeneigten Arbeit" Rechnung getragen hätten, sei die "Entwicklung der letzten 90 Jahre am Strafrecht vorbeigegangen" 57 . Dies sei unhaltbar, weil dadurch die strafrechtliche Verantwortlichkeit für Fahrlässigkeit weiter reiche als die zivilrechtliche58 .
Eine einfache Übertragung der für das Arbeitsrecht entwickelten Gedanken auf das Strafrecht ist jedoch nicht möglich59 . Schon das RAG betonte, daß leichte Fahrlässigkeit auch bei "gefahrgeneigter Arbeit" nicht aus dem Bereich des haftungsbegründenden Verschuldeos herausfallt60 . Zivilrechtlicher und 54 RAGE 24,204.
55 Zum Strafrecht als ultima ratio: BVertG NStZ 1989, S. 478; BVerfGE 88,203(258); BVertGE 90, 145( 172f. ). Dazu näherE. ill. 1. 56 Ostler, NJW 1962, S. 1229ff.; Gunzert, S. 119, 128. 57 Ostler, NJW 1962, S. 1231 ; ganz ähnlich Gunzert, S. 119, 128. 58 Ostler, NJW 1962, S. 1231; Gunzert, S. 128. 59 So auch Bocke/mann, Verkehrsstrafrechtliche Aufsätze, S. 254; Kaiser, Verkehrsdelinquenz, S. 36. Dazu, ob de lege ferenda an die "Gefahrgeneigtheit" angeknüpfl werden sollte, H. I. 2. 60 RAGE 24,203. Die Rechtsprechung droht sich durch die Bejahung der Schuld bei leichter Fahrlässigkeit in Widersprüche zu verwickeln; dazu Reinhardt, S. 75f. Kann noch von einer schuldhaflen Fehlleistung gesprochen werden, wenn gleichzeitig ein "praktisch unvermeidbares Versehen" oder ein "entschuldigendes Verständnis" für
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strafrechtlicher Haftungsmaßstab unterscheiden sich somit nicht voneinander61 . Zu beachten ist weiter, daß die Annahme eines "praktisch nicht vermeidbaren Fehlers" die Haftungserleichterung nicht trug, sondern nur den Anlaß darstellte, spezifisch zivil- oder arbeitsrechtliche Begründungen für ein sozialpolitisch gerecht empfundenes Ergebnis zu suchen. So wurde versucht, die Haftungserleichterung des Arbeitnehmers aus einer Treue- und Fürsorgepflicht des Arbeitgebers, einem stillschweigenden Haftungsausschluß, dem Gedanken der Betriebsgemeinschaft, der spezifischen Risikoverteilung im Arbeitsrecht oder dem Gedanken des Betriebsrisikos herzuleiten62 . Allen Konstruktionen ist gemeinsam, daß sie auf dem besonderen Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer beruhen und deshalb nicht auf die zufällige Beziehung zwischen Schädiger und Opfer im Strafrecht angewendet werden können. Daß eine direkte Übernahme der Regeln der "gefahrgeneigten Arbeit" in das Strafrecht ausgeschlossen ist, zeigt sich auch durch die Entwicklung der neuesten arbeitsgerichtliehen Rechtsprechung. Nachdem der Gemeinsame Senat der Obersten Gerichtshöfe des Bundes in dieser Sache angerufen worden war, sind sich der BGH63 und das BAG64 über die Verabschiedung des Begriffs der "gefahrgeneigten Arbeit" einig. Die modifizierte Haftung des Arbeitnehmers gilt nunmehr für alle betrieblich veranlaßten und aufgrund eines Arbeitsverhältnisses geleisteten Arbeiten. Durch die Einbeziehung jeder Art von Arbeit wird die Unabhängigkeit der Haftungserleichterung von dem Gedanken der "praktisch unvermeidbaren Fehler" deutlich. Obwohl die Regeln der Arbeitnehmerhaftung wegen ihrer spezifisch zivilrechtlichen Begründung nicht auf das Strafrecht übertragen werden können, muß auch hier die Erkenntnis der Unvermeidbarkeit menschlicher Fehlleistungen, ähnlich wie vor 60 Jahren im Arbeitsrecht, den Anstoß für Reformen geben.
gelegentliches Versagen festgestellt wird (RAGE 24,203f; BAGE 7,298f.)? Wegen dieses Widerspruchs ist der Schuldgehalt der leichten Fahrlässigkeit des Arbeitnehmers bei "gefahrgeneigter Arbeit" wiederholt bestritten worden; dazu Staudinger/Richardi, § 611 Rdnr. 488. 61 Kaiser, Verkehrsdelinquenz, S. 36. 62 Dazu zusammenfassend Staudinger/Richardi, § 611 Rdnr. 487-501 . Die Rechtsprechung stellt den Gedanken des Betriebsrisikos sowie der Organisationsbefugnis des Arbeitgebers in den Vordergrund, BAG NJW 1995, S. 211. 63 BGH NJW 1994, S. 856. 64 BAG NJW 1995, S. 21011".
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2. Wertungswiderspruch zur strafrechtlichen Behandlung von Sportunfällen Im Bereich des Sports wird auf eine Strafbarkeit fahrlässiger Körperverletzungen weitgehend verzichtet. Hier ist es im Ergebnis einheitliche Ansicht, daß Kriminalstrafen bei Verletzungen, die durch einen leicht fahrlässigen Regelverstoß verursacht werden, nicht in Betracht kommen65 . Unabhängig davon, ob dieses Ergebnis dogmatisch aus einer Einwilligung des Verletzten66 , einem erlaubten Risiko 67 oder dem Gedanken der Sozialadäquanz68 hergeleitet wird, ist der Grund für die Sonderbehandlung identisch: Bei bestimmten Sportarten werden gelegentliche Körperverletzungen durch Regelverstöße als unvermeidbar angesehen. Ausgangspunkt der Privilegierung ist demnach wie schon für die modifizierte Arbeitnehmerhaftung der Gedanke des "praktisch unvermeidbaren Fehlers". Für die strafrechtliche Zurückhaltung bei Verletzungen im Sport wird vorgebracht, daß es widersprüchlich sei, wenn der Staat einerseits bestimmte Sportarten zulasse und fördere, andererseits aber schon leichte Regelwidrigkeiten, die nach der Natur dieser Sportarten immer wieder vorkommen müssen, unter Strafe stelle69 . Die Übertragbarkeit dieser Argumentation auf den Straßenverkehrsbereich ist offensichtlich, wenngleich sie selten gesehen wird70 • Obwohl fast jeder Bürger zum Opfer des Straßenverkehrs werden kann, und nicht nur derjenige, der sich, wie beim Sport, freiwillig zur Teilnahme an einer gefährlichen Veranstaltung entschieden hat, bleibt eine entscheidende Gemeinsamkeit beider Bereiche. Ohne eine bestimmte Zahl von fahrlässigen Verletzungen ist der Straßenverkehr in Anbetracht der herausgearbeiteten praktischen Unvermeidbarkeit menschlichen Fehlverhaltens ebensowenig durchführbar wie bestimmte Sportarten. Die einzige Möglichkeit zur Vermeidung von Rechtsgutsverletzungen wäre ein generelles Verbot. Weil 65 Z.B. Dölling, ZStW Bd. 96 (1 984), S 37fT.; Eser, JZ 1978, S. 368; LKJHirsch, § 226a Rdnr. 12; Roxin, AT 1, § 24 Rdnr. 20; Sch!Sch!Stree, § 226a Rdnr. 16; BayObLG NJW 196 1, S. 2072ff.; BayObLG JR 1961, S. 73 . 66 So die h.L.; z.B. BayObLG NJW 1961, S. 2072ff.; LK/Hirsch, § 226a Rdnr. 12; Sch!Sch!Stree, § 226a Rdnr. 16. Gute Übersicht bei Dölling, ZStW Bd. 96 (1984 ), S. 40fT. 67 So Eser, JZ 1978, S. 373; Roxin, AT 1, § 24 Rdnr. 20. 68 So Dölling, ZStW Bd. 96 (1 984), S. 55. 69 Dölling, ZStW Bd. 96 (1984), S. 6 1. 70 Die Parallele sehen Zipf, Kriminalpolitik, S. 112 und Maurach!Gössel, AT 2, § 44 Rdnr. 35fT.
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aber der Straßenverkehr insgesamt als nützlich betrachtet wird, muß ein bestimmtes Maß an Verletzungen in Kauf genommen werden71 . Insofern ist es durchaus berechtigt, Fahrlässigkeitsdelikte als einen "Tribut, den der Mensch für seine Entwicklung zahlt" 72 , anzusehen. Vor diesem Hintergrund wäre es jedoch verfehlt, diesen "Tribut" durch ineffektive Strafnormen kompensieren zu wollen.
3. Wertungswiderspruch zur Straflosigkeit von Schädigungen innerhalb des erlaubten Risikos Insbesondere für den Bereich des Straßenverkehrs wird eine Straflosigkeit leichter Fahrlässigkeitsformen aufgrund des fließenden Übergangs von Verfehlung und Handeln in Wahrnehmung eines erlaubten Risikos gefordert73 . Kommt es bei Wahrung aller Sorgfaltsanforderungen und Verkehrsregeln zu Verletzungen anderer, wird dem Fahrer dieser Erfolg nicht zugerechnee 4 • Das Autofahren unter Einhaltung der Verkehrsregeln gilt als "Prototyp des erlaubten Risikos" 75 . Unter Berücksichtigung des menschlichen Leistungsvermögens muß jedoch mit Jakobs festgestellt werden, daß die Verkehrsteilnahme als Wahrnehmung eines erlaubten Risikos in der Praxis "nicht ohne ein unerlaubtes Risiko zu haben (ist, A.K.)" 16 . Wenn der Straßenverkehr als nützlich angesehen wird, obwohl es selbst bei Einhaltung der Regeln durch alle Verkehrsteilnehmer zu einer Vielzahl von Opfern kommt, so ist hinsichtlich der strafrechtlichen Verfolgung von Fehlleistungen, die wegen der Komplexität der grundsätzlich erlaubten Tätigkeit aufs Ganze gesehen unvermeidbar sind, Zurückhaltung geboten. Dies gilt um so mehr, als der fahrlässig verursachte Schadenseintritt auch vom Opfer als "Unfall'' aufgefaßt werden kann, der als Folge des Gesamtbetriebes "Straßenverkehr" eingetreten ise 7 . Nicht nur die Hamm, Triherger Symposium, S. 126f.; Maurach!Gössel, AT 2, § 44 Rdnr. 35. Welzel, Fahrlässigkeit und Verkehrsdelikte, S. 6. 73 Roxin, AT 1, § 24 Rdnr. 119; Presslauer, ZVR 1992, S. 192. 74 Die dogmatische Einordnung des erlaubten Risikos ist umstritten. Eine gute Übersicht zur dogmengeschichtlichen Entwicklung und zum Streit um die verbrechenssystematische Einordnung bietet Prittwitz, S. 274ff. Richtigerweise ist davon auszugehen, daß eine Tätigkeit innerhalb des erlaubten Risikos bereits die Zurechnung zum objektiven Tatbestand ausschließt, so Jakobs, AT, 7/39; Roxin, AT 1, § II Rdnr. 56. 75 Roxin, AT 1, § 11 Rdnr. 56. 76 Jakobs, FS Bruns, S. 32. 77 Dencker, GedS Armin Kaufmann, S. 455; Kindhäuser, GA 1994, S. 218; Presslauer, ZVR 1992, S. 192; Jakobs, FS Bruns, S. 40ff., spricht wegen der steten Mög71
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V. Das "Zufallsargument"
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Verletzung ohne Sorgfaltswidrigkeit, sondern zumindest auch die leicht fahrlässig herbeigeführte Beeinträchtigung kann zu einem guten Teil als systembedingt angelegter Unglücksfall verstanden werden. Die Straflosigkeit wird vom Opfer in diesem Fall nicht als ungerechte Bevorzugung des Schädigers begriffen, sondern als Maßnahme, die sich in Zukunft auch zum eigenen Nutzen auswirken kann78 .
V. Das "Zufallsargument" 1. Herkunft und Entwicklung des "Zufallsargumentes"
Seit dem bekannten und vielzitierten Wort Radbruchs, "die Fahrlässigkeit ist verschämte Zufallshaftung"79 , wird immer wieder kritisiert, daß sowohl das "Ob" als auch das "Wie" der Strafe bei den fahrlässigen Erfolgsdelikten von Umständen abhängen, die außerhalb der Einflußsphäre des Täters liegen80 . Bei einer gleichermaßen schweren unerlaubten Gefahrschaffung entscheide der "bald eintretende, bald ausbleibende, also zufällige Erfolg"81 über die Strafbarkeit. Bestraft werde der, der "Pech" gehabt habe, während derjenige, dem das Glück zur Seite stand, straflos bleibe82 . Der Sache nach ist das "Zufallsargument" aber noch wesentlich älter. Schon 1819 machte Mittermaier auf die Zufallsabhängigkeit der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit aufmerksam83 . Er benutzte dafür ein - angeblich tatsächlich lichkeit, den Bereich des erlaubten Risikos zu überschreiten, von einer "Risikogewöhnung", die das fehlerhafte Verhalten als irrelevant erscheinen läßt. 78 Diese Überlegungen sprechen zwingend für eine Reform der Strafbarkeit bei leichten Fahrlässigkeitsformen. Eine andere Frage ist aber, ob Jakobs zu folgen ist, der durch die "Umdefmition des Geschehenen in Unglück in Form des erlaubten Risikos" bereits de lege lata eine Straflosigkeit der leichten Fahrlässigkeit annimmt. Siehe dazu E. VI. 79 Radbruch, V.D.B.T., Bd. 5, S. 201 Fußn. 2. 80 Exner, S. 83; Hold von Femeck, ZStW Bd. 32 (1911), S. 256; Jescheck, AT, S. 526; Kadecka, MSchrKrimPsych Bd. 22 (1931), S. 64, 69fi; Krauß, ZStW Bd. 76 (1964), S. 62. Aus der neueren Literatur zur Reform der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit Cramer, DAR 1974, S. 317; Hessische Kommission, S. 13; Hoffmann, NZV 1993, S. 212; Müller-Metz, 32. VGT 1994, S. 119; Nickel, 14. VGT, S. 62f.; Niedersächsische Kommission, S. 18; Weigend, FS Miyazawa, S. 551. 81 Radbruch, V.D.B.T., Bd. 5, S. 201 Fußn. 2. 82 Kadecka, MSchrKrimPsych Bd. 22 ( 1931 ), S. 71 . 83 Mittermaier, C.J.A., Grundfehler. S. 116[.; ders., Criminalgesctzgebung, S. 168f
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so geschehenes - in seiner Anschaulichkeit unübertroffenes Beispiel: Drei von einem Platzregen überraschte Jäger suchen Schutz in einem Wirtshaus. Sie stellen ihre Flinten an eine Wand, wobei sie aber in der Eile vergessen, die Gewehre zu entsichern. Durch einen Stoß an die Wand fallen die Flinten um, wodurch sich jeweils ein Schuß löst. Ein Gast wird tödlich getroffen, ein anderer verletzt, während die dritte Kugel zum Fenster hinauspfeift Die Jäger werden nun je nach Erfolg für die gleiche Unvorsichtigkeit völlig unterschiedlich bestraft84 . Der schon vor der Jahrhundertwende geläufige "Zufallseinwand" hat in neuerer Zeit Unterstützung durch die Autoren erfahren, für die der Erfolgseintritt nicht mehr zum Unrechtstatbestand gehört85 . Die Richtigkeit dieser Auffasung soll neben Argumenten aus dem Bereich der versuchten Begehungsdelikte vor allem mit dem fahrlässigen Erfolgsdelikt belegt werden. Weil der Eintritt des Erfolges weitgehend vom Zufall abhängig sei, dürfe er für das strafrechtliche Unrechtsurteil nicht berücksichtigt werden86 . Nimmt man das zweite Hauptargument dieser Lehre hinzu, daß nur Handlungen, nicht aber Erfolge durch eine Norm verboten werden können87 , würden sich bei einer konsequenten rechtspolitischen Umsetzung dieses Ansatzes für die Fahrlässigkeitsstrafbarkeitweitreichende Konsequenzen ergeben88 . Letztlich müßten die fahrlässigen Erfolgsdelikte aus dem Strafrecht herausgenommen und durch abstrakte Gefährdungsdelikte ersetzt werden89 .
84 Vgl. auch das Beispiel von Kohlrausch, S. 208f.; einen anschaulichen Fall, der auf die Problematik des Erfolgseintritts als Voraussetzung der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit aufmerksam macht, bildete jüngst Burckardt, bei Bloy, S. 77: Zwei Personen verursachen fahrlässig je einen Unfall und verletzen dabei zwei Menschen jeweils lebensgefährlich. Der Notarzt kann sich aber nur um eines der Opfer kümmern. Hier entscheidet die Willkür des Arztes, wer wegen fahrlässiger Tötung bestraft wird. 85 Z.B. Domseifer, GedS Armin Kaufmann, S. 439; Lüderssen, FS Bockelmann, S. 182ff.;Annin Kaufmann, ZtRV 1964, S. 42fT.; ders., FS Welzel, S. 410fT.; Zielinski, S. 138. Ablehnend zu dieser Ansicht die h.L., vgl. nur Mylonopoulos, S. 66fT. ; Jakobs, AT, 6/96ff.; Roxin, AT 1, § 10 Rdnr. 94fT. 86 Zielinski, S. 142. 87 Lüderssen, FS Bockelmann, S. 182f. 88 Zu den Konsequenzen dieser Lehre für die Reform der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit eingehend G. ill. Ursprünglich sollte mit ihr eine Ausdehnung des Strafbarkeitsbereiches ermöglicht werden. Jedoch wurde die Lehre später "zweckentfremdet" und von den Anhängern einer weitgehenden Entkriminalisierung fahrlässigen Verhaltens auf:. gegritlen. 89 Eine Konsequenz, die nur ganz vereinzelt und unbeeinflußt von der neuen Lehre vom Unrechtstatbestand gezogen wurde. In diese Richtung Dubs, SchwZStr Bd. 78
V. Das "Zufallsargument"
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2. Verstoß der fahrlässigen Erfolgsdelikte gegen das Schuldprinzip? Wegen der Zufallskomponente ist die Strafbarkeit der fahrlässigen Erfolgsdelikte als "Relikt der Erfolgshaftung"90 oder "Atavismus"91 bezeichnet worden, womit die Legitimation der §§ 222, 230 StGB in einem auf das Schuldprinzip aufgebauten Strafrecht grundsätzlich in Frage gestellt ist. Wenn bei diesen Delikten tatsächlich "das dem Schuldgrundsatz entgegenstehende Prinzip der Erfolgshaftung die Strafbarkeit weitgehend bestimmt" 92 , würde ein Verstoß gegen das Schuldprinzip vorliegen93 . Die fahrlässigen Erfolgsdelikte müßten wegen der Verletzung des verfassungsrechtlich verankerten Grundsatzes "keine Strafe ohne Schuld" 94 aus dem Strafrecht herausgenommen werden. Eine gegen das Schuldprinzip verstoßende Erfolgshaftung wäre aber nur dann gegeben, wenn sich der Erfolgseintritt nicht als Folge der vorausgegangenen unsargfaltigen Handlung erklären ließe95 . Davon kann bei den fahrlässigen Erfolgsdelikten schon deshalb keine Rede sein, weil dem Täter überhaupt nur solche Umstände zugerechnet werden, die nicht zufallig sind96 . Der Erfolgseintritt beim Fahrlässigkeitsdelikt ist demnach immer nur die Realisierung des in der unerlaubten Gefahrschaffung enthaltenen Erfolgsrisikos97 . Weil der Täter gewissermaßen "dem Zufall das Feld bereitet"98 hat, ist es un(1962), S. 45ff.; Nickel, 14. VGT, S. 67ff.; auch Radbroch, V.D.B.T., Bd. 5, S. 201 Fußn. 2. 90 Dubs, SchwZStr Bd. 78 ( 1962 ), S. 42; ähnlich Bocke/mann, Materialien, Band I, S. 33 Fußn. 16: "Stück echter Erfolgshaftung"; ders., Verkehrsstrafrechtliche Aufsätze, S. 207: "Rest der alten, jedes urtümliche Recht beherrschende ... Erfolgshaftung"; Germann, S. 95; P. Hoffmann, S. 128f; Weigend, FS Miyazawa, S. 551. 9 1 Germann, S. 95. 92 Krauß, ZStW Bd. 76 (1964), S. 62. 93 Dubs, SchwZStr Bd. 78 (1962), S. 40: Die Fahrlässigkeitsdelikte bilden einen Fremdkörper im Schuldstrafrecht, "den die Dogmatik bis heute nicht verdauen konnte", S. 42, 46; Kadecka, MSchrKrimPsych Bd. 22 (1931), S. 65, 76; Plack, S. 260; Salm, S. 17; in diese Richtung auch AE, BT, Halbband 2, S. 57. 94 BVerfGE 20,323(331); BVerfGE 23,127(132); BVerfGE 45,187(228); BVerfGE 90, 145(173); Jesckeck, AT, S. 19; Maunz!Dürig!Herzog, Art. 1 Rdnr. 32; Sch!Sch!Lenckner, vor§§ 13 Rdnr. 103; SKJRudolphi, vor§ 19 Rdnr. 1; ausführlich Frister, der diesen Satz nicht wie üblich aus dem Rechtsstaatsprinzip oder Art. 1 GG ableitet, sondern als Folge der Grundrechtsgewährung ansieht, S. 37f. QS Jakobs, AT, 9/27; Armin Kaufmann, ZfRV 1964, S. 53. 96 Roxin,AT1 , §10Rdnr. 98. 97 Hirsch, ZStW Bd. 93 (1982), S. 254. 98 Wimmer, NJW 1958, S. 522.
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C. Gründe für die Entkriminalisierung
erheblich, daß er die weiteren Umstände, die zu einem Erfolg oder dessen Ausbleiben führen, nicht steuern kann99 . Er muß sich alle Folgen seiner Handlung, die innerhalb der allgemeinen Lebenserfahrung liegen und deshalb nicht über die Lehren der Zurechnung ausgesondert werden können, zuschreiben lassen100 . Mit Roxin und Jakobs kann die Stoßrichtung des "Zufallsarguments" umgedreht werden: Weil zufällige Erfolge nicht zugerechnet werden, kann der Zufall nur für das Ausbleiben des Erfolges nach einer unerlaubten Gefahrschaffung, nicht aber für dessen Eintritt eine Rolle spielen101 . Wenn es bei einer sorgfaltswidrigen Handlung nicht zum Erfolgseintritt kommt, hat der Handelnde Glück gehabt und nicht derjenige, der zurechenbar ein Rechtsgut verletzt, "Pech" 102 . Der Einwand der "verschämten Zufallshaftung·· bedeutet somit nicht, daß die fahrlässigen Erfolgsdelikte gegen das Schuldprinzip verstoßen103 . Das "Zufallsargument" geht de lege lata ins Leere; es verdeutlicht lediglich die gesetzgeberische Entscheidung, folgenlos gebliebene Unaufmerksarnkeiten grundsätzlich nicht unter Strafe zu stellen104 .
3. Das "Zufallsargument" als Appell an die Gleichbehandlung Der Erfolgseintritt bei den Fahrlässigkeitsdelikten ist nicht "zufällig" im Sinne seiner schuldlosen Verursachung durch den Täter. Trotzdem dürfen die berechtigten rechtspolitischen Fragestellungen, die hinter dem "Zufallsargument" stehen, nicht übersehen werden.
99 So kann sich z. B. ein Kraftfahrer, der wegen eines unterlassenen "Schulterblicks" beim Abbiegen einen Fußgänger überfahrt, nicht darauf berufen, seine Unachtsamkeit hätte genausogut folgenlos bleiben können. 100 Mylonopoulos, S. 73; gegen das Zufallsargument außerdem Degener, ZStW Bd. 103 (1991), S. 363; Maiwald, Erfolgsunwert, S. 69; Bottke, Wieacker und Kreuzer bei Bloy, S. 75; Stratenwerth, FS Schaffstein, S. 183. 101 Jakobs, AT, 9/27; Roxin, AT 1, § 10 Rdnr. 98. 102 Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 280; ähn!ichJescheck, AT, S. 526. 103 Zum gleichen Ergebnis gelangt man, wenn der Erfolg aus dem Unrechtstatbestand verbannt wird. Die Handlung, auf die es flir das Unrechtsurteil dann allein ankommt, ist auf jeden Fall schuldhaftbegangen worden. 104 AK/Z,elinski, §§ 15,16 Rdnr. 96.
V. Das "Zufallsargument"
95
Der Zufallseinwand macht auf das Problem der mitunter willkürlich erscheinenden Ungleichbehandlung gleichermaßen unwertiger Handlungen aufmerksam105 . Es kann nicht bestritten werden, daß die Strafbarkeit aus §§ 222, 230 StGB häufig von Umständen abhängt, auf die der Täter keinen Einfluß hat. Dabei können sich Konstellationen ergeben, die an der Gerechtigkeit der Strafverhängung zweifeln lassen können. Nach der heutigen Gesetzeslage stehenjedem wegen fahrlässiger Tötung oder Körperverletzung Verurteilten eine hohe Zahl Unverfolgter gegenüber, die genauso unvorsichtig handelten. Dadurch kann in der Bevölkerung der für das Ansehen des Strafrechts verhängnisvolle Eindruck entstehen, "daß die Bestrafung wegen eines solchen Delikts nichts anderes als ein Unglücksfall und eigentlich kein Akt der Gerechtigkeit ist" 106 . Das immer wieder geäußerte "Pechvogelargument"107 drückt das Gefühl der Ungerechtigkeit darüber aus, daß einzelne Personen für ein massenhaft vorkommendes Verhalten herausgegriffen und strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Ziel einer Reform der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit muß es daher sein, die strafrechtlichen Folgen für gleichermaßen unwertige Handlungen soweit wie möglich anzugleichen. Dies kann durch die Mehrkriminalisierung unsargfaltiger Handlungen108 oder durch Entkriminalisierung fahrlässiger Erfolgsdelikte erreicht werden.
VI. Ungleichbehandlung durch die unterschiedliche Praxis der Strafverfolgungsbehörden 1. Extensive Auslegung des § 232 StGB
durch die Staatsanwaltschaften
Für die Reformbedürftigkeit der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit spricht die extensive und regional uneinheitliche Verfolgung der Fahrlässigkeitsdelikte durch die Staatsanwaltschaften. Ob aufgrund einer fahrlässigen Erfolgsherbeiführung ein Strafprozeß stattfindet, hängt entscheidend von der Staatsan105 106
450.
Degener, ZStW Bd. 103 (1991 ), S. 363. Bocke/mann, DAR 1964, S. 298; ähnlich Dencker, GedS Annin Kaufmann, S.
107 VgL schon Kadecka, MSchrKrimPsych Bd. 22 (1931), S. 70: "Der Pechvogel wird eingesperrt und der vom Zufall Begünstigte bleibt ungeschoren". 108 Dazu D. I. 1.
96
C. Gründe für die Entkriminalisierung
waltschaft ab. Nach § 232 StGB wird bei einer fahrlässigen Körperverletzung ein Verfahren ohne Strafantrag nur dann eingeleitet, wenn die Strafverfolgungsbehörde dies aufgrund eines "besonderen öffentlichen Interesses" für geboten hält. Selbst bei Stellung eines Strafantrages erhebt die Staatsanwaltschaft gemäß § 376 StPO lediglich dann Klage, wenn dies im "öffentlichen Interesse" liegt109 . Zu Recht wird kritisiert, daß die allein über das Vorliegen des "öffentlichen Interesses" entscheidenden Staatsanwaltschaften bei fahrlässigen Körperverletzungen zu schnell Anklage erheben110 . Gegen die "ausgeuferte Strafverfolgungspraxis"111 spricht der Wortlaut des § 232 StGB. Aus ihm ergibt sich eindeutig, daß die Anklageerhebung bei fahrlässigen Körperverletzungen die Ausnahme sein soll, weshalb in der Literatur schon seit Jahrzehnten bislang erfolglos eine restriktive Auslegung der Vorschrift gefordert wird112 .
2. Die regional unterschiedliche Praxis der Staatsanwaltschaften
Rechtsstaatlich bedenklicher als die geschilderte Überdehnung des Gesetzeswortlautes ist die regional unterschiedliche Verfahrensweise bei der Anklageerhebung durch die Staatsanwaltschaften113 . Die zur Behebung der Un-
109 Für die Annalune eines "öffentlichen Interesses" sind die Anforderungen geringer als für das "besondere öffentliche Interesse", Kleinknecht!Meyer-Goßner, § 376 Rdnr. 3. 110 Mehle, AnwBl 1983, S. 382, 387; Gontard, bei Janker, DAR 1993, S. 14, spricht von der regelmäßigen Bejahung des besonderen öffentlichen Interesses durch die Praxis bei Körperverletzungen im Straßenverkehr; speziell zur Beteiligung von Ärzten Ulsenheimer, MedR 1987, S. 213. 111 Janiszewski, DAR 1994, S. 6. 112 Havekost, DAR 1977, S. 289; Hessische Kommission, S. 10; Lackner/Kühl, § 232 Rdnr. 4; LK!Hirsch, § 232 Rdnr. 9; Mehle, AnwBl 1983, S. 387; Mühlhaus, JZ 1952, S. 170; Preisendanz, DRiZ 1989, S. 367; Rebmann, DAR 1978, S. 304; Sch!Sch!Stree, § 232 Rdnr. 6; Tröndle, DRiZ 1976, S. 132; mit einer Ausnalune für bestimmte Konstellationen ärztlicher Kunstfehler auch Günter, DRiZ 1992, S. 96ff. 113 Kritisch dazu Havekost, DAR 1977, S. 289; Janiszewski, Verkehrsstrafrecht, Rdnr. 457; ders., DAR 1994, S. 7~ Kellner, .MDR 1977, S. 626; LK/Hirsch, § 232 Rdnr. 9; Mühlhaus, JZ 1952, S. 170; Rebmann, DAR 1978, S. 304. Dieser unhaltbare Zustand wurde schon 1976 in einer Untersuchung der Zeitschrift "ADAC Motorwelt" (Heft 11/1976, S. 74) auf die ebenso plakative wie treffende Formel gebracht: "Für eine Prellung gibt's in Harnburg Bußgeld, in Stuttgart einen Prozeß" .
VI. Unterschiedliche Praxis der Strafverfolgungsbehörden
97
gleichbehandlung geforderten 114 und schließlich 1977 erlassenen bundeseinheitlichen "Richtlinien für das Strafverfahren und Bußgeldverfahren" konnten diesen Zustand bis heute nicht ändern. In den auf einer Übereinkunft des Bundes mit den Ländern beruhenden Richtlinien, die als Venvaltungsvorschriften für die Staatsanwälte bindend sind, wird u.a. geregelt, wann das "öffentliche" bzw. "besondere öffentliche Interesse" in §§ 232 StGB, 376 StPO zu bejahen ist. Nach Nr. 86 Abs. 2 RiStBV soll bei Privatklagen ein öffentliches Interesse in der Regel vorliegen, wenn der Rechtsfrieden über den Lebenskreis des Verletzten hinaus gestört und die Strafverfolgung ein gegenwärtiges Anliegen der Allgemeinheit ist, z.B. wegen des Ausmaßes der Rechtsverletzung, wegen der Roheit oder Gefahrlichkeit der Tat, der niederen Beweggründe des Täters oder der Stellung des Täters im öffentlichen Leben. Praktisch weitaus bedeutender ist Nr. 243 Abs. 3 RiStBV, der festlegt, wann der Staatsanwalt bei Körperverletzungen im Straßenverkehr ein "besonderes öffentliches Interesse" nach § 232 StGB anzunehmen hat. Dies ist "vor allem dann der Fall", wenn der Täter einschlägig vorbestraft ist, besonders leichtfertig gehandelt oder die Tat unter Einwirkung von Alkohol oder anderen berauschenden Mitteln begangen oder wenn der Unfall nicht unerhebliche Folgen für andere gehabt hat. Für die unterschiedliche Anwendung des § 232 StGB durch die Praxis dürfte die hinsichtlich der "nicht unerheblichen Folgen" zu unbestimmte Fassung115 der Richtlinien und besonders die Wendung "vor allem dann" verantwortlich sein11 6. Aus dieser Formel kann gefolgert werden, daß eine Strafverfolgung grundsätzlich bei jeder fahrlässigen Körperverletzung im Straßenverkehr zu erfolgen hat, auf jeden Fall aber bei Vorliegen einer der aufgeführten Fallgruppen.
114 Vgl. nur die Empfehlungen des 14. VGT 1976, DRiZ 1976, S. 83. 115 Dazu Hoffmann, NZV 1993, S. 211. 116 Havekost, DAR 1977, S. 290; LKJHirsch, § 232 Rdm. 9; Hoffmann , NZV 1993 ,
S. 21 L Janiszewski, Verkehrsstratrecht, Rdm. 457; ders ., DAR 1994. S. 7. 7 Koch
98
C. Gründe für die Entkrirninalisierung
3. Kritik an der herrschenden Praxis Die geschilderte unterschiedliche Praxis ist nicht akzeptabel, weil es durch sie zu nicht vertretbaren Ungleichbehandlungen kommen kann. Im Straßenverkehrsbereich weichen die Folgen einer Verurteilung aus § 230 StGB von denen einer Bußgeldverhängung erheblich voneinander ab. Nach §§ l3 Ziff. 2d StVZO werden rechtskräftige Verurteilungen wegen Straftaten, die im Zusammenhang mit der Teilnahme am Straßenverkehr begangen worden sind, in das Verkehrszentralregister eingetragen. Dabei ist die Zahl der verhängten Punkte bei einer Veurteilung regelmäßig höher als bei einer Geldbuße. Gravierender sind die Unterschiede hinsichtlich eines Eintrags in das Bundeszentralregister. Eine Verurteilung aus § 230 StGB wird - im Gegensatz zu der nicht einttagungsfähigen Verhängung einer Geldbuße - gemäß § 4 Ziff. 1 BZRG in das Zentralregister aufgenommen und stellt bis zur Löschung frühestens 5 Jahre später(§ 46 BZRG) einen Makel dar, der sich etwa bei Berufsbewerbungen des Täters negativ auswirken kann117 . Außerdem ist die Höhe der Geldbuße, anders als die der Geldstrafe, bei einer nach§ 24 StVG verfolgbaren Verkehrsordnungswidrigkeit durch § 17 Abs. 2 OWiG auf 500.- DM begrenzt. Die Bedeutung der Anklageerhebung zeigt sich besonders bei fahrlässigen Körperverletzungen außerhalb des Straßenverkehrs, bei denen regelmäßig keine Ordnungswidrigkeit begangen worden ist. Hier entscheidet die Beurteilung der Staatsanwaltschaft nicht nur über Art und Schwere einer möglichen Sanktion, sondern bereits darüber, ob eine Sanktion überhaupt verhängt werden kann. Der Eintritt der für den Betroffenen möglicherweise erheblichen Konsequenzen darf nicht von einer regional unterschiedlichen Übung der Staatsanwaltschaften bei der Anklageerhebung abhängig sein. Hierin liegt ein Verstoß gegen die Einheitlichkeit der Rechtsausübung und damit gegen die Gerechtig-
117 Tröndle, DRiZ 1976, S. 131, sieht in einer Vorstrafeaufgrund einer leicht fahrlässigen Erfolgsherbeiführung keinen Makel. Niemand werde dadurch gesellschaftlich diskriminiert, "daß er sich wegen einer geringen Fahrlässigkeitsschuld im Straßenverkehr verantworten mußte". Ob dies beispielsweise potentielle Arbeitgeber ähnlich sehen, ist doch sehr zweifelhaft, zumal sich dem Führungszeugnis die Geringftlgigkeit der Schuld nicht entnehmen läßt.
Vll. Nutzlosigkeit und Schädlichkeit der Strafe
99
keit118 . Mit einer Reform der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit muß deshalb auch die Möglichkeit einer einheitlichen Rechtsanwendung angestrebt werden.
VII. Nutzlosigkeit und Schädlichkeit der Strafe bei Fahrlässigkeitsdelikten 1. Verfehlung des Strafzwecks
Blickt man auf die bisher genannten Gründe für die Notwendigkeit einer Reform der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit zurück, so ergeben sich erhebliche Bedenken, ob die zur Zeit bestehende ausgedehnte Pönalisierung fahrlässigen Verhaltens mit den Zwecken des Strafrechts vereinbar ist. Wie festgestellt wurde, handelt es sich bei dem Täter einer leicht fahrlässigen Tat zumeist um einen "normalen Bürger", dem ein Fehler unterlaufen ist, der jedem jederzeit ebenfalls passieren kann. Unter Umständen wurde das Fehlverhalten sogar in einer Situation begangen, in der vom psychologischen Standpunkt her gesehen eine richtige Reaktion überhaupt nicht möglich war. Der präventive Nutzen der Strafe für ein Verhalten, daß auch unter bewußter Anstrengung der Normeinhaltung nicht vermieden werden kann, ist zweifelhaft119. Jedenfalls eine spezialpräventive oder (negativ-) generalpräventive
118 Dieser Vorwurfkann nicht dadurch entkräftet werden, daß das Verfahren wegen einer fahrlässigen Körperverletzung in der Regel nach§ 153a StPO eingestellt wird, so daß die Unterschiede zur Verhängung einer Geldbuße nicht groß seien (so aber wohl Preisendanz, DRiZ 1989, S. 367). Richtig ist zwar, daß eine Verfahrenseinstellung nach§ 153a StPO weder in das Verkehrs- noch in das Bundeszentralregister eingetragen wird. Es muß aber beachtet werden, daß die Höhe der regelmäßig als Auflage verhängten Zahlung eines Geldbetrages gewöhnlich über der einer Geldbuße liegt. Außerdem ist ein Verfahren nach § 153a StPO ftir den Betroffenen eine größere Belastung und birgt ein größeres Risiko als die im Verwaltungsweg auferlegte Geldbuße; zu der besonderen Belastung eines gerichtlichen Verfahrens auch der Österreichische Entwurf eines Strafrechtsänderungsgesetzes von 1992, Bundesministerium für Justiz 318.007/9IIl/91, S. 42. 119 Die grundsätzlichen Bedenken gegenüber der spezial- und negativ generalpräventiven Wirkung der Strafe sollen hier außer Betracht bleiben; dazu jüngst Prittwitz, S. 209-213; ausführlich zum Forschungsstand, Eisenberg, § 41 Rdnr. 1-11 und § 42 Rdnr. 1-37. Speziell zur Abschreckungsprävention Dölling, ZStW Bd. 102 (1990), S. 2-8; zur Spezialprävention Baratta, FS Arthur Kaufmann, S. 407ff.
7*
100
C. Gründe für die Entkriminalisierung
Funktion der Strafe ist bei leichter Fahrlässigkeit nicht ersichtlich120 . Als gescheitert müssen insbesondere die Bemühungen gelten, in Sondervollzugsanstalten gezielt auf Fahrlässigkeitstäter einzuwirken. Bevor die kurzzeitige Freiheitsstrafe zurückgedrängt wurde, ordnete die Mehrzahl der Landesjustizverwaltungen in den 60er Jahren den Bau solcher Sondergefängnisse an121 . In ihnen saßen "Verkehrssünder" und Fahrlässigkeitstäter ein, die zu einer kurzen, i.d.R. nicht mehr als dreimonatigen Freiheitsstrafe verurteilt worden waren. Durch "intensive und ständige Belehrungen der Gefangenen" 122 im Bereich der Verkehrserziehung sowie manuelle Präzisionsarbeiten123 sollte der erhoffte Erziehungseffekt eintreten124 . Diese vom Erziehungsoptimismus der Zeit geprägten Vorstellungen konnten angesichts der unvermeidbaren Fehlerquote zumindest bei Tätern einer leichten Fahrlässigkeit keinen Erfolg haben. Auch ein (negativ-) generalpräventiver Nutzen der Strafe ist in solchen Fällen nicht ersichtlich. Von einem Schutz der Rechtsgüter durch Abschreckung kann bei leichten, fast immer unbewußten Unaufmerksamkeiten keine Rede sein. Dagegen könnte der Strafzweck der positiven Generalprävention die Bestrafung leichter Fahrlässigkeit bei der Verursachung gravierender Verletzungserfolge rechtfertigen. Diese Frage soll hier nur angedeutet werden; beantwortet werden kann sie erst, wenn über die Rolle des Erfolges für die Fahrlässigkeitsstrafbarkeit Klarheit gewonnen ist125 .
°
12 Für die spezial- oder negativ generalpräventive Nutzlosigkeit der Strafe bei leichter Fahrlässigkeit z.B. Bocke/mann, Verkehrsstrafrechtliche Aufsätze, S. 218; Burgstaller, Fahrlässigkeitsde1ikt, S. 201; Roxin, FS Henkel, S. 193; Stratenwerth, BaslJurMitt 1966, S. 72; ders., AT, Rdnr. 1140; für den Bereich des Straßenverkehrs auch Cramer, DAR 1974, S. 322; ders., Unfallprophylaxe, S. 21f. , S. 49f.; in diese Richtung auch Kaiser, Verkehrsdelinquenz, S. 414. 121 In Baden-Württemberg wurden Anstalten flir Verkehrs- bzw. Fahrlässigkeitstäter in Oberkirch (1963), Schopfheim (1964) und Sinsheim (1965) eingerichtet; vgl. dazu Rebmann, Kraftfahrt und Verkehrsrecht 1968, S. 264. Auch § 43 des E 1962 sah mit der Strafhaft eine nichtdiskriminierende Strafe für Täter mit geringer Schuld, insbesondere für Fahrlässigkeitstäter, vor; krit. damals z.B. Kaiser, Verkehrsdelinquenz, S. 410. 122 Rebmann, Kraftfahrt und Verkehrsrecht 1968, S. 265; ähnlich Fratzscher, SchlHA 1968, S. 203. 123 Jescheck, Fahrlässigkeit, S. 28. 124 Inwiefern die tatsächlich ausgeübten Arbeiten der Gefangenen - wie etwa das Bemalen von Donald-Duck-Figuren (!) - zu einer Erhöhung der Verkehrssicherheit beitragen können, bleibt unverständlich. 125 Dazu G. IV.
Vll. Nutzlosigkeit und Schädlichkeit der Strafe
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2. Schädlichkeit der Strafverhängung für das Strafrecht a) Autoritätsverlust des Strafrechts durch seine Überdehnung Die nach geltendem Recht mögliche Verhängung einer Kriminalstrafe für jede fahrlässige Körperverletzung und Tötung ist in vielen Fällen nicht nur ineffektiv, sondern sie kann darüber hinaus schädlich für die Wirkung und das Ansehen des Strafrechts insgesamt sein126 . Die Autorität des Strafrechts und damit seine Möglichkeit zur Verhaltenssteuerung leidet, wenn die Strafverhängung als ungerecht empfunden wird. Dieser Effekt tritt zunächst durch die geschilderte unterschiedliche Verfolgungspraxis der Staatsanwaltschaften bei Fahrlässigkeitstaten ein. Darüber hinaus spricht viel dafür127 , daß die Strafverhängung von der Bevölkerung jedenfalls dort, wo der eingetretene Schaden gering ist und dem Täter nur eine leichte Unaufmerksamkeit unterlief, nicht mehr als gerecht empfunden wird128 . Hier dürfte beim Bürger das Bewußtsein überwiegen, daß er wegen des gleichen Delikts jederzeit ebenfalls bestraft werden könnte. Wenn aber aufgrund dieses Bewußtseins die Verurteilung als "Schicksalsschlag"129 für den Betroffenen empfunden wird oder die Bürger sich gar mit dem Täter "solidarisch"130 fühlen, ist der Schaden für das Strafrecht offensichtlich. Unter dem Aspekt des andernfalls drohenden Autoritätsverlustes sollten jedenfalls leicht fahrlässige Handlungen, die zu keinem schweren Erfolg führten, aus dem Strafrecht herausgenommen werden. Ob dies generell für jede leichte Fahrlässigkeit ohne Berücksichtigung der Erfolgsschwere gelten kann, wird noch zu untersuchen sein.
126 Burgstaller, Fahrlässigkeitsdelikt, S. 201 ; Frisch, Stratbarkeitsvoraussetzungen, S. 224; ders., FS Stree/Wessels, S. 97f.; Roxin, FS Henkel, S. 193; Stratenwerth, BaslJurMitt 1966, S. 72; ders., AT, Rdnr. 1140. 127 Werden die "Einstellungen der Bevölkerung" als rechtspolitisches Argument herangezogen, darf nie übersehen werden, daß es sich hierbei nicht um empirisch belegbare Tatsachen handelt. Bestenfalls hat dieser Hinweis den Charakter einer plausiblen Vermutung, oft aber dient er lediglich zur Aufwertung der rechtspolitischen Ansicht des jeweiligen Verfassers; näher zu den "Einstellungen innerhalb der Bevölkerung" G. IV. 3. 128 Weitergehend meint Bocke/mann, Verkehrsstrafrechtliche Aufsätze, S. 218, jede leichte Fahrlässigkeit sei unabhängig von der Schwere des Erfolges nicht mehr zu bestrafen, weil dies von der Bevölkerung nicht mehr als gerecht empfunden werde. 129 Stratenwerth, BaslJurMitt 1966, S. 67. 130 Stratenwerth, BaslJurMitt 1966, S. 67; ähnlich ders. , AT, Rdnr. 1140, Burgstaller, Fahrlässigkeitsdelikt, S. 201.
102
C. Gründe fur die Entkriminalisierung
b) Autoritätsverlust des Strafrechts durch den Verlust der Aussagekraft der Strafe
Der für das gesamte Strafrecht schädliche Effekt einer überdehnten Fahrlässigkeitsstrafbarkeit wird deutlich, wenn als eine Funktion der Strafe die Kennzeichnung besonders gravierenden Unrechts hervorgehoben wird131 . Grundlage dieses Ansatzes ist das in Rechtsprechung132 und Literatur133 vorherrschende Verständnis der Strafe als sozialethisches Unwerturteil über die Handlung des Täters. Weil die Strafe das letzte Mittel des Staates ist, um auf ein Fehlverhalten zu reagieren, dürfe sie nur verhängt werden, wenn der unstreitige Kernbereich des Strafrechts betroffen sei 134 . Der Kernbereich ist danach berührt, wenn objektiv ein besonders wichtiges Gut verletzt worden ist und die Verletzung subjektiv den "Ausdruck einer qualifizierten Fehlentscheidung" gegenüber dem Rechtsgut darstellt135 . Nur wenn die Strafe als Reaktionsmittel auf diesen engen Kreis beschränkt bleibe 136 , könne sie ihre Kennzeichnungsfunktion für besonders verwerfliche Handlungen behalten. Die Sorge um die "Reinhaltung der Strafe" 137 hat nicht nur theoretische Bedeutung. Durch jede Bestrafung einer nicht als schwerwiegend empfundenen Tat droht der "Ernst der Strafe" 138 verlorenzugehen 139 . Die Pönalisierung eines nicht zum Kernbereich des Strafrechts gehörenden Verhaltens wird im Einzelfall nicht nur als ungerecht empfunden, sondern das staatliche Sankti-
131 Frisch, FS Stree/Wessels, S. 86; ders., Strafbarkeitsvoraussetzungen, S. 222; Kindhäuser, GA 1989, S. 505. 132 BVerfGE 9,167(171); BVerfGE 22,49(79); BVerfGE 25,269(286); BVerfGE 27,18(29); BVerfGE 43,101(105); BVerfGE 90,145(172); vgl. auch das Sondervotum von Graßhof, ebd., S. 200; BGHSt 5,28(32); BGHSt 11,263(266). 133 Bockelmann!Volk, S. 2f.; Jescheck, AT, S. 58; Kindhäuser, GA 1989, S. 493ft~; ders., Universitas 1992, S. 230; Noll, Begründung der Strafe, S. 17f., aufS. 18 Fußn. 37 Hinweise auf das ältere Schrifttum; weitergehend Frisch, Strafbarkeitsvoraussetzungen, S. 223; ders., Verwaltungsakzessorietät, S. 130, 139, wonach die Strafe einen "qualifizierten rechts- oder sozialethischen Tadel" darstellt. 134 Frisch, FS Stree/Wessels, S. 86; ders. , Strafbarkeitsvoraussetzungen, S. 222. 135 Frisch, FS Stree/Wessels, S. 87; ders., Strafbarkeitsvoraussetzungen, S. 223; ders., Verwaltungsakzessorietät, S. 130. 136 Noch enger Kindhäuser, GA 1989, S. 505; nur sokhe Normverletzungen, die ein "empörendes Maß an Inhumanität indizieren", sollen mit Strafe belegt werden. 137 Frisch, Strafbarkeitsvoraussetzungen, S. 227. 138 BVer!GE 9,1 67(171); BVerfGE 43,101(105). 139 Frisch, Strafbarkeitsvoraussetzungen, S. 224.
VIJI. Zwischenergebnis
103
onsinstrument "Strafrecht" wird als Ganzes abgewertet140 . Dieser Zusammenhang zeigt sich auch bei der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit Wird die leichte Fahrlässigkeit, bei der regelmäßig kein sozialethisch vorwertbares Fehlverhalten vorliegt141 , bestraft, so muß befürchtet werden, daß die Bevölkerung die Strafe wegen einer groben Unaufmerksamkeit nicht mehr als Reaktion auf wirkliches Unrecht wahrnimmt. Die überdehnte Bestrafung verhindert die Ausbildung eindeutiger sozialethischer Urteile142 . Ob leichte Fahrlässigkeit aufgrund des Fehlens einer "qualifizierten Fehlentscheidung" auch bei schweren Rechtsgutsverletzungen aus dem Strafrecht herausgenommen werden soll, kann erst entschieden werden, wenn die Bedeutung des Erfolgseintritts für die Strafbarkeit der Fahrlässigkeit geklärt ist. Festzuhalten ist aber, daß zumindest die Bestrafung leichter Fahrlässigkeit bei leichten Erfolgen für das Strafrecht insgesamt schädlich ist.
VIII. Zwischenergebnis Aus den für die Einschränkung der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit herausgearbeiteten Gründen lassen sich folgende Richtpunkte für eine Reform ableiten: Das Strafrecht muß zukünftig die praktische Unvermeidbarkeil menschlichen Fehlverhaltens angemessen berücksichtigen. Die Strafbarkeit für ein Verhalten, daß "Jedermann" ,jederzeit" unterlaufen kann, muß eingeschränkt werden. Es darf nur solches Verhalten mit Strafe belegt werden, das von der Bevölkerung als eindeutig kriminell empfunden wird. Auf gleichermaßen unvorsichtige Handlungen soll die gleiche Rechtsfolge eintreten, soweit nicht schwere Erfolgseintritte berücksichtigt werden müssen. Eine Reform der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit muß die Gleichmäßigkeit der Rechtsanwendung durch die Strafverfolgungsbehörden sicherstellen.
Dazu mit anschaulichen Beispielen Kindhäuser, GA I 989, S. 505. Schultz, S. 498. 142 Stratenwerth, BaslJurMitt 1966, S. 67; ähnlich Burgstaller, FahrlässigkeitsdeIikt, S. 201 ; Roxin, FS Henkel, S. 193 . 140
141
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C. Gründe für eine Entkrirninalisierung
Die Reform der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit sollte zu einer Entlastung der Justiz führen. Keine Neuregelung kann zugleich alle Ziele optimal verwirklichen. In dieser Arbeit soll jedoch versucht werden, eine gegenüber dem reformbedürftigen geltenden Recht angemessenere Konzeption der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit zu entwickeln.
D. Gefährdungsdelikte als Alternative zu einer Entkriminalisierung der fahrlässigen Erfolgsdelikte? I. Die Forderung nach Aufstellung von Gefährdungsdelikten 1. Mehrkriminalisierung gefährlicher Handlungen statt Entkriminalisierung fahrlässiger Erfolgsdelikte
Die bisher bestehende umfassende Strafbarkeit der fahrlässigen Tötung und Körperverletzung hat sich als reformbedürftig erwiesen. Um die herausgearbeiteten Zielvorgaben für eine Neuregelung zu verwirklichen, sind zwei gegensätzliche Wege denkbar. Neben der heute favorisierten Entkriminalisierung bestimmter Formen der fahrlässigen Erfolgsdelikte könnte auch eine Neupönalisierung gefahrlieber Handlungsweisen in Betracht gezogen werden. In der Vergangenheit ist als kriminalpolitische Alternative zu den fahrlässigen Erfolgsdelikten immer wieder vorgeschlagen worden, diese durch Gefährdungsdelikte zu ersetzen' oder zu ergänzen2 . Besonders in den 60er Jahren wurde diese Ansicht im Rahmen der Diskussion um die Reform des Verkehrsstrafrechts vertreten. Im Kern ist dieser Ansatz jedoch wesentlich älter. Nachdem schon Mittermaier und Stübe/ vor über 150 Jahren entsprechende Zielsetzungen hatten3 , waren es Anfang des Jahrhunderts namhafte Autoren,
1 Dubs, SchwZStr Bd. 78 (1962), S. 45ff.; Fincke, S. 85f., in: Jescheck (Hrsg.), Kongreßakten; Gennann, S. 94f.; Nickel, 14. VGT 1976, S. 67ff.; vgl. auch schon Kadecka, MSchrKrimPsych Bd. 22 (1931 ), S. 69, 78. 2 Baumann, Kleine Streitschriften, S. 151; ders. , Weitere Streitschriften, S. 196; Bocke/mann, Niederschriften, Bd. 5, S. 49; ders., DAR 1964, S. 298; ders. , Verkehrsstrafrechtliche Aufsätze, S. 218; Frey, Universitas 1962, S. 261 ; Horn, Konkrete Gefahrdungsdelikte, S. 215; Seiler, FS Maurach, S. 85; ders., ÖJZ 1974, S. 179; Volk, GA 1976, S. 173f.; Zipf, Kriminalpolitik, S. 113. 3 Mittennaier, C.J.A., Criminalgesetzgebung, S. 170; Stübel, NArchCrimR Bd. 8 (1826), S. 314.
106
D. Gefahrdungsdelikte statt Entkriminalisierung?
die diesen Gedanken aufgriffen und die Schaffung eines allgemeinen Gefährdungsdelikts anstrebten4 . In der Forderung nach Aufstellung von Gefahrdungsdelikten vereinen sich zwei Richtungen. Einerseits ist es Ziel einer auf die Abschreckungswirkung der Strafe vertrauenden konservativen Kriminalpolitik, die "Abwehrfront gegen die Hochflut der Verkehrsunfalle"5 vorzuverlegen und möglichst alle gefahrlichen Handlungen zu strafen; andererseits ergibt sich die Mehrkriminalisierung der gefahrliehen Handlungen aus der rechtspolitischen Umsetzung der "monistisch-subjektiven Unrechtslehre", für die das tatbestandliehe Unrecht beim Fahrlässigkeitsdelikt bereits mit Vornahme der sorgfaltswidrigen Handlung voll erfüllt ist6 . Die Befürworter einer Mehrkriminalisierung gefahrlieber Handlungen versprechen sich von ihrem Vorschlag die weitgehende Beseitigung oder zumindest Milderung der zur Reformbedürftigkeit der fahrlässigen Erfolgsdelikte führenden Probleme. So soll durch Gefahrdungsdelikte unter Ausschaltung des Zufallsmomentes mehr Gerechtigkeit durch eine strafrechtliche Gleichbehandlung gleichermaßen gefahrlieber Handlungen erreicht werden. Ziel müsse es sein, jedes unerlaubte Verhalten zu strafen7 , auch wenn der Täter "das Glück hatte, gerade kein Opfer zu finden" 8 . Das Einschreiten bei jeder Verkehrsgefahrdung sei gerechter und vor allem präventiv wirksamer9 als die durch fahrlässige Erfolgsdelikte verursachte "exemplarische Strafe" 10 in seltenen Fällen. Die Einführung von Gefährdungsdelikten entspreche im übrigen dem "neuen Bewußtsein der Bevölkerung", nach dem schon die Sorgfaltswidrigkeit als kriminell empfunden werde, während man den Erfolgseintritt eher als
4 Miricka, S. 192f.; Radbruch, V.D.B.T., Bd. V, S. 201; v. Liszt, V.D.B.T., Bd. V, S. 152, jedoch nur für die Schaffung der Gefahr des Todes oder einer schweren Körperverletzung; für eine Strafbarkeit der gefahrliehen Handlung auch Sturm, ZStW Bd. 59 (1940), S. 31f., der de lege ferenda auch die Strafbarkeit eines fahrlässigen Versuchs für bestimmte schwere Fälle bejahte. 5 Frey, Universitas 1962, S. 261f. 6 Horn, Konkrete Gefahrdungsdelikte, S. 77; Armin Kaufmann, FS Welzel, S. 410; Lüderssen, FS Bockelmann, S. 182f.; Schöne, GedS Hilde Kaufinann, S. 654; Zielinski, S. 143. 7 Bocke/mann, DAR 1964, S. 298. 8 Baumann, Kleine Streitschriften, S. 151. 9 Germann, S. 95. 10 Germann, S. 94.
I. Vermehrung der Gefahrdungsdelikte?
107
Unglück ansehe11 . Außerdem wird vereinzelt die Ansicht vertreten, daß die fahrlässigen Erfolgsdelikte gegen das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG verstoßen12 . Die Ablösung der §§ 222, 230 StGB durch Gefährdungsdelikte wäre danach nicht nur aus Gerechtigkeitsgründen anzustreben, sondern verfassungsrechtlich zwingend geboten.
2. Ergänzung oder Ablösung der fahrlässigen Erfolgsdelikte durch konkrete Gefährdungsdelikte?
Unter den Befürwortern der Vorverlegung des Strafrechts auf gefährliche Handlungen wird überwiegend der Ausbau abstrakter Gefährdungsdelikte angestrebt. Nur vereinzelt finden sich Vorschläge, nach denen die Zahl der konkreten Erfolgsdelikte, etwa durch die Erweiterung der "7 Todsünden" in § 315c Abs. 1 Ziff. 213 , erhöht werden soll14 . Die Neuaufstellung von konkreten Gefährdungsdelikten eignet sich lediglich zur Ergänzung des geltenden Rechts. Als grundsätzliche Alternative zu den fahrlässigen Erfolgsdelikten kommen konkrete Gefährdungsdelikte nicht in Betracht, weil durch sie keines der bei einer Reform anzustrebenden Ziele verwirklicht werden kann. Dies gilt gerade hinsichtlich der eingeforderten Ausschaltung des Zufallsmomentes, da auch der Eintritt eines konkreten Gefährdungserfolges "zufallsabhängig" ist15 . Im Gegensatz zu den abstrakten Gefährdungsdelikten käme es somit selbst unter einer nur theoretisch möglichen optimalen Überwachung nicht zu der beabsichtigten gleichen Strafbarkeit 11 Fincke, S. 85f. und S. 122; in: Jescheck (Hrsg.), Kongreßakten. Kritisch zum "Volksüberzeugungsargument" Hassemer, Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik, S. 94; ausfuhrlieh zur Fragwürdigkeit einer solchen Argumentation G. IV. 3. 12 Fincke, S. 121, in: Jescheck (Hrsg.), Kongreßakten; diese Ansicht wird zurecht von der überwiegenden Meinung abgelehnt. Art. 103 Abs. 2 GG kann nicht mehr verlangen als dem Gesetzgeber möglich ist. Die Konkretisierung aller Sorgfaltspflichten für sämtliche Lebensbereiche ist für den Gesetzgeber schlichtweg unmöglich. Ablehnend auch Bocke/mann, Verkehrsstrafrechtliche Aufsätze, S. 208fT.; Jescheck, AT, S. 509; ders., Fahrlässigkeit, S. 10; Roxin, AT 1, § 24 Rdnr. 87ff.; Schöne, GedS Hilde Kaufmann, S. 656ff.; ausführlich Bohnen, ZStW Bd. 94 (1982), S. 68ff. 13 Für den Ausbau der "Todsünden" vgl. den Vorschlag des 5. Verkehrsjuristentages des HUK-Verbandes 1972, zitiert nach Cramer, DAR 1974, S. 318 und Mehle, AnwBl 1983, S. 383. 14 Für einen Ausbau der konkreten Gefährdungsdelikte Zipf, Kriminalpolitik, S. 113. 15 Lackner, Konkrete Gefahrdungsdelikte, S. 7.
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D. Gefahrdungsdelikte statt Entkriminalisierung?
für gleich gefährliche Handlungen. Ein weiterer Nachteil gegenüber den abstrakten Gefahrdungsdelikten besteht darin, daß die Gerichte zur Feststellung gezwungen sind, ob die Handlung tatsächlich eine konkrete Gefährdung verursacht hat. Die dabei entstehenden Schwierigkeiten sind ein Grund für die recht geringe Effektivität der heute bereits bestehenden konkreten Gefährdungstatbestände. In der Gerichtspraxis wird häufig von dem eingetretenen Erfolg auf die konkrete Gefährdung zurückgeschlossen, weshalb im Falle einer Verurteilung, z.B. aus § 315c StGB, meist auch ein Verletzungserfolg verursacht worden ist16 .
3. Ergänzung oder Ablösung der fahrlässigen Erfolgsdelikte durch abstrakte Gefährdungsdelikte?
Als Konsequenz daraus, daß die Fahrlässigkeitsdelikte wegen ihres Zufallsmomentes als ein "Fremdkörper im Schuldstrafrecht"17 angesehen werden, wird vereinzelt gefordert, die fahrlässigen Erfolgsdelikte in allen Lebensbereichen durch abstrakte Gefährdungsdelikte zu ersetzen18 . Die Mehrzahl der Autoren will demgegenüber keinen radikalen Bruch mit dem tradierten Strafrecht und spricht sich lediglich für die vermehrte Aufstellung abstrakter Gefährdungsdelikte neben den bestehenden Erfolgsdelikten aus19 . Besonders gefährliche Verhaltensweisen20 sollen unter Strafe gestellt werden, bis der
16 Cramer, Unfallprophylaxe, S. 36ff.; Maurach!Zipf, AT 1, § 17 Rdm. 29; Volk, GA 1976, S. 172; ders. , 14. VGT, S. 77; unter Auswertung von Gerichtsentscheidungen weitgehend bestätigt durch Berz, S. 61f. Kritisch zu der begrenzten Wirkung der konkreten Erfolgsdelikte auch Dubs, SchwZStr Bd. 78 (1962), S. 47f.; Fincke, S. 86, in: Jescheck (Hrsg.), Kongreßakten. 17 Dubs, SchwZStr Bd. 78 (1962), S. 46. 18 Dubs, SchwZStr Bd. 78 (1962), S. 47f.; Fincke, S. 86, in: Jescheck (Hrsg.), Kongreßakten; krit. zu diesen Vorschlägen Cramer, Unfallprophylaxe, S. 42; Kaiser, Verkehrsdelinquenz, S. 429. 19 Baumann, Weitere Streitschriften, S. 196; Horn , Konkrete Gefahrdungsdelikte, S. 215; Seiler, FS Maurach, S. 89; Volk, GA 1976, S. 173; der AE wollte in seinem § 167 die "Todsünden" als abstrakte Gefahrdungsdelikte fassen und zugleich deren Zahl auf zehn erhöhen, AE, BT, Halbband 2, S. 113. In diese Richtung auch, wenngleichaufgrundrechtsstaatlicher Bedenken vorsichtiger, Armin Kaufmann, ZfRV 1964, S. 54; ders., FS Welzel, S. 413. 20 In der Literatur konzentrieren sich die Überlegungen dabei auf den Bereich des Straßenverkehrs.
I. Vermehrung der Gefahrdungsdelikte?
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"Grenznutzen" ereicht ist und die "plakative Wirkung" der Straftatbestände verloren geht21 .
a) Keine Abschaffung des " Zufalls"
Durch die Aufstellung abstrakter Gefährdungsdelikte würden die von den Befürwortem dieser Maßnahme angestrebten Ziele nicht erreicht. Weder die Zufallskomponente könnte ausgeschaltet werden noch käme es zu mehr Strafgerechtigkeit durch die gleiche Strafbarkeit gleich gefährlicher Handlungen. Dieses Ziel ließe sich nur bei einer totalen Überwachung aller Lebensbereiche verwirklichen22 . Weil selbst in Teilbereichen wie dem Straßenverkehr eine flächendeckende Kontrolle undenkbar ist, bleibt die Bestrafung jeder gefährlichen Handlung utopisch. Angesichts einer unabsehbar hohen Zahl begangener Gefährdungen erschiene die Bestrafung weniger entdeckter Fälle als völlig willkürlich23 . Das durch den "Zufallseinwand" aufgeworfene Problem der mangelnden Strafgerechtigkeit würde nicht beseitigt, sondern drastisch verschärft.
b) Schädlichkeit der Strafverhängungfiir das Strafrecht
Bei den fahrlässigen Erfolgsdelikten besteht das Problem, daß ein Täter auf Handlungen anderer verweisen kann, die beinahe ebenfalls den Fahrlässigkeitstalbestand verwirklicht hätten. Bei einer Ersetzung oder Ergänzung der fahrlässigen Erfolgsdelikte durch abstrakte Gefährdungsdelikte würde sich das Problem zuspitzen. Es käme trotz der vollen Erfüllung des (Gefährdungs-) Tatbestandes in überwältigend vielen Fällen zu keiner Sanktion. Gerade für den praktisch besonders wichtigen Verkehrsbereich kommt hinzu, daß sich die Verstöße regelmäßig unter Beobachtung anderer Verkehrsteilnehmer abspielen24 . Für die Glaubwürdigkeit eines auf die Gefährdung abstellenden Straf21 Volk, GA 1976, S. 173f. 22 Die angestrebte totale Gerechtigkeit läßt sich nur durch totale ÜbeJWachung er-
reichen. Die Befürchtung von Schünemann , JA 1975, S. 512, ein auf abstrakte Gefährdungsdelikte aufgebautes Strafrecht könnte polizeistaatliehen Charakter annehmen (ähnlich Moos, JR 1977, S. 315), eJWeist sich somit nicht als übertrieben. 23 Ähnlich Annin Kaufmann, ZfRV 1964, S. 54; M ehle, AnwBl 1983, S. 383; krit. auch Bocke/mann, Verkehrsstrafrechtliche Aufsätze, S. 207. 24 Hierzu Schultz, S. 490.
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D. Gefahrdungsdelikte statt Entkriminalisienmg?
rechts wäre es verhängnisvoll, wenn die Bürger sehen, daß die große Mehrzahl der Straftaten nicht verfolgt wird. Jede Ausdehnung abstrakter Gefährdungsdelikte führt zu einer nicht hinnehmbaren massenhaften Unverfolgbarkeit tatbestandliehen Unrechts. Nur durch das Beibehalten des Erfolgserfordernisses kann verhindert werden, daß die "Spanne zwischen Normbruch und realer Strafreaktion normdiskreditierende Ausmaße annimmt"25 .
c) Fehlende Praktikabilität
Ein Strafrechtssystem, das auf das Erfolgserfordernis verzichtet und nur Handlungen mittels abstrakter Gefährdungsdelikte straft, würde sich nicht als praktikabel erweisen26 . Die Umstellung auf die Pönalisierung gefährlicher Handlungen würde zu einer massiven Ausweitung des Strafrechts führen. Eine solche Reform könnte von der Justiz mit ihrem heutigen Personalstand nicht bewältigt werden27 . Das Schlagwort vom "Justizinfarkt"28 droht Wirklichkeit zu werden. Gefährliche Handlungen für alle Lebensbereiche zu normieren, ist unmöglich29 . Ein solcher Versuch würde nicht nur den Rahmen des Strafgesetzbuches sprengen, sondern auch angesichts der unermeßlichen Vielzahl der Lebenssituationen zum Scheitern verurteilt sein30 . Selbst wenn man nur für be25 So treffend Degener, ZStW Bd. 103 (1991 ), S. 380; selbst bei der theoretischen Möglichkeit einer totalen Überwachung würde bald fast jeder Verkehrsteilnehmer zum Vorbestraften. Die Strafe würde ihre Aussagekraft verlieren und der Normgeltungsanspruch wäre schwer beeinträchtigt; ähnlichMoos, JR 1977, S. 313. 26 Burgstaller, ZVR Sonderheft 1978, S. 29; Krümpelmann, S. 94. 27 Ähnlich Annin Kaufmann, ZfRV 1964, S. 54; Lüderssen, ZStW Bd. 85 (1973), S.294f. 28 Janker, DAR 1993, S. 11. 29 So auch Cramer, DAR 1974, S. 319f.; Exner, S. 67 Fußn. 2; Hirsch , ZStW Bd. 83 (1971), S. 164; Schroeder, ZStW Bd. 91 (1979), S. 260. Auch Miricka, S. 192f., war der Auffassung, daß "der Versuch einer Aufzählung auch nur der wichtigsten Gefahrdungen einen Torso zur Welt (bringt, A.K.)". Gerade deshalb plädierte er für die Schaffi.mg einer allgemeinen Gefahrdungsnorm. 30 Es bliebe nur die Aufstellung eines allgemeinen Gefahrdungsdelikts. Dieser Schritt ist nicht nur wegen der oben genannten rechtspolitischen Bedenken abzulehnen, sondern er wäre wegen eines Verstoßes gegen den Bestimmtheitsgrundsatz als verfassungswidrig einzustufen; abl. auch Cramer, DAR 1974, S. 320; Jakobs, AT, 6/87; Annin Kaufmann, ZfRV 1964, S. 54; Mehle AnwBl 1983, S. 383; Volk, 14. VGT, S. 78; ders., GA 1976, S. 173f.; auch E 1962, S. 270. Aus der älteren Literatur gegen
ll. Zwischenergebnis
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stimmte Bereiche abstrakte Gefahrdungsdelikte aufstellen wollte, entstünde das Problem der Perfektionierung. Trotz der Schaffung neuer Straftatbestände käme es immer wieder zu strafwürdigen gefährlichen Handlungen, die noch nicht pönalisiert worden sind. Wegen der angestrebten Gleichbehandlung der gefährlichen Handlungen müßten immer mehr Gefährdungstatbestände aufgestellt werden, um die Glaubwürdigkeit und Akzeptanz des Systems nicht zu gefährden31 . Dadurch nähme nicht nur die "plakative Wirkung" der Strafnormen ab, sondern auch die Verfolgungsgerechtigkeit ginge immer weiter verloren.
II. Zwischenergebnis Durch die Aufstellung von Gefährdungsdelikten können die durch die fahrlässigen Erfolgsdelikte entstehenden Probleme nicht beseitigt werden. Wegen des Erfordernisses eines Gefährdungserfolges erweisen sich die konkreten Gefährdungsdelikte für dieses Ziel von vornherein als ungeeignet. Auch die Einführung abstrakter Gefährdungsdelikte würde gegenüber den fahrlässigen Erfolgsdelikten keine Verbesserung bringen. Statt dessen käme es zu einer Mehrbelastung der Justiz, der Verschärfung des "Zufallsproblems" und einem durch Strafungleichheit verursachten Ansehensverlust für das Strafrecht. Die angestrebte Gleichbehandlung aller gefährlichen Handlungen ist durch die Ausweitung abstrakter Gefährdungsdelikte nicht zu erreichen. Der Versuch, in diesem Punkt eine absolute Gerechtigkeit zu verwirklichen, muß scheitern32 . Im Ergebnis ist v. Bar zuzustimmen, der schon zu Beginn des Jahrhunderts erkannte, daß "mit der Bestrafung der gefährlichen Handlung als solcher der Strafjustiz eine Aufgabe gestellt (würde, A .K. ), die sie tatsächlich nicht bewältigen könnte, an der sie Schiffbruch leiden und zugrunde gehen würde" 33 .
ein allgemeines Gefahrdungsdelikt Binding, Normen IV, S. 387; Exner, S. 67 Fußn. 2; Köhler, Fahrlässigkeitsdelikt, S. 149f. 31 Volk, GA 1976, S. 173; Dubs, SchwZStr Bd. 78 (1962), S. 48, nimmt ohne weitere Problematisierung an, sein Reformvorschlag berge nicht die Gefahr der Schaffung vieler neuer Straftatbestände. 32 So auch Burgstaller, S. 123, in: Jescheck (Hrsg.), Kongreßakten. 33 v. Bar, S. 444; zu beachten ist, daß v. Bar zu diesem Ergebnis kam, bevor die Fahrlässigkeitsdelikte aufgrund der allgemeinen Motorisierung ihre heutige überragende Relevanz erhielten.
E. Tatbestandslosigkeit bestimmter Formen fahrlässigen Verhaltens nach geltendem Recht? I. Übersicht Von einer Reihe namhafter Autoren wird die Ansicht vertreten, daß bestimmte Formen der fahrlässigen Tötung und Körperverletzung schon nach geltendem Recht nicht mehr strafbar sind. Nach Arthur Kaufmann soll der gesamte Bereich der unbewußten Fahrlässigkeit wegen eines Verstoßes gegen das Schuldprinzip aus dem Strafrecht herausgenommen werden. Jakobs, Roxin und Stratenwerth unterscheiden nicht zwischen bewußter und unbewußter Fahrlässigkeit, sondern nach der Schwere der Sorgfaltsverletzung. Sie treten für die Straflosigkeit der leichten bzw. leichtesten oder geringfügigen Fahrlässigkeit de lege lata ein. Während Jakobs und Roxin zu diesem Resultat auf der Grundlage ihrer jeweiligen Schuldlehren gelangen, beruft sich Stratenwerth auf den Grundsatz in dubio pro reo. Darüber hinaus könnte die Straflosigkeit leichter Fahrlässigkeitsformen aus dem Gedanken der Subsidiarität des Strafrechts abgeleitet werden. Neben diesen Ansätzen, die zu grundsätzlichen Überlegungen führen, wird eher zur Randkorrektur die Meinung geäußert, daß die fahrlässige körperliche Mißhandlung nach geltendem Recht nicht strafbar ist. Trotz ihrer überwiegend erheblichen praktischen Konsequenzen sind diese Ansichten in der gegenwärtigen Diskussion um die Entkriminalisierung der fahrlässigen Tötung und Körperverletzung nicht aufgegriffen worden. Dabei ist der Gedanke, einschneidende Veränderungen bei der Strafbarkeit fahrlässigen Verhaltens auch ohne das Eingreifen des Reformen ablehnend gegenüberstehenden Gesetzgebers erreichen zu können, verlockend. Ob die vorgeschlagene Entkriminalisierung durch die Interpretation des bestehenden Rechts möglich ist, soll im folgenden geprüft werden.
ll. Unbewußte Fahrlässigkeit und Schuldprinzip
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II. Straflosigkeit unbewußter Fahrlässigkeit aufgrundeines Verstoßes gegen das Schuldprinzip? 1. Das Bestreiten des Schuldcharakters unbewußter Fahrlässigkeit
a) Die Ansicht von Artbur Kaufmann und Bockelmann Arthur Kaufmann und Bocke/mann sind der Ansicht, daß die unbewußte Fahrlässigkeit keine kriminelle Schuld enthäle . Dies ist die Konsequenz eines Verständnisses von Schuld als "bewußte und gewollte Entscheidung zum Unrecht, d.h. zur Verletzung oder Gefährdung eines Rechtsguts" 2 . Für den Schuldvorwurf wird eine positive Beziehung des Täters zum Erfolg verlangt, weil nur "der böse Wille tauglicher Gegenstand für das Prädikat der Schuldhaftigkeit" sein könne3 .
Alle Versuche der Vergangenheit, in der unbewußten Fahrlässigkeit ein Willensmoment nachzuweisen4 oder die Schuld als Charakter-, Verstandsoder Gefühlsschuld zu begründen5 , werden als gescheitert angesehen. Zwar sei der Wille des Täters bei der unbewußten Fahrlässigkeit nicht so wie er sein
1 Bocke/mann, Verkehrsstrafrechtliche Aufsätze, S. 213; Arthur Kaufmann, Unrechtsbewußtsein, S. 98f.; ders., Schuldprinzip, S. 162fT.; ders., FS Wassermann, S. 895; ders., JurA 1986, S. 231f.; knapp auch Göppinger, NJW 1959, S. 2282; zweifelnd neuerdings auch Schüler-Springontm, FS Rasch, S. 176, der den Schuldvorwurf bei der unbewußten Fahrlässigkeit als Resultat eines "Moralunternehrnertums" ansieht; ganz ähnlich wie Arthur Kaufmann argumentiert Hall, Columbia Law Review 1963, S. 632fT. Vgl. auch den Ansatz in der DDR, z.B. Lekschas, Strafwürdigkeit, S. 45; Lekschas!Loose!Renneberg, S. 137; Lehrbuch (1988), S. 257fT. Den Schuldgehalt der unbewußten Fahrlässigkeit bestreitet auch Haft, Schulddialog, S. 87fT., der die Straflosigkeit jedoch unter dem Hinweis auf das Rechtsgefühl der Allgemeinheit ablehnt (S. 92); Haft will die Lösung über einen "Schulddialog" finden: "Wenn es überhaupt Schuld bei der unbewußten Fahrlässigkeit geben kann, dann läßt sich diese allein in einem kommunikativen Prozeß umkreisen, bei der das (nie zu erreichende) Ziel die individuelle Schuld des Täters ist und der Diskussionsstoff sich aus einem Vergleich mit anderen, ähnlichen Fällen ergibt" (S. 95); krit. zum "Schulddialog" Roxin, AT 1, § 19 Rdm. 30; ders. , ZStW 96 (1984), S. 649; Würtenberger, JZ 1980, S. 624. 2 Arthur Kaufmann, JurA 1986, S. 232; ähnlich ders., Schuldprinzip, S. 153; ders., Umechtsbewußtsein, S. 99. 3 Bocke/mann, Verkehrsstrafrechtliche Aufsätze, S. 212. 4 DazuArthur Kaufmann, Schuldprinzip, S. 158-162. 5 Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, S. 149f. 8 Koch
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E. Tatbestandslosigkeit fahrlässigen Verhaltens de lege lata?
sollte6 , doch könne von krimineller Schuld erst dann gesprochen werden, wenn der Täter bewußt "dem Bösen vor dem Guten den Vorzug gibt" 7 . Einem Täter, dem die Gefahrdung anderer durch sein Handeln nicht in das Bewußtsein kommt, kann danach kein Schuldvorwurf gemacht werden. Durch den so verstandenen Schuldbegriff soll die Anwendung des Strafrechts auf eindeutig kriminelles Verhalten beschränkt werden8 , zu dem die unbewußte Fahrlässigkeit nicht gezählt wird.
b) Kritische Stimmen vor Artbur Kaufmann und Sockelmann
Mit ihren Thesen zum fehlenden Schuldcharakter der unbewußten Fahrlässigkeit stehen Arthur Kaufmann und Bocke/mann in einer Traditionslinie zu Autoren des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Die Begründung des Schuldgehaltes der unbewußten Fahrlässigkeit hat seit ihrer "Entdeckung" durch Feuerbach9 Generationen von Strafrechtswissenschaftlern beschäftigt. Nur wenige Autoren traten im letzten Jahrhundert in Ablehnung10 der Konstruktionen der ganz überwiegenden Lehre für die Herausnahme der unbewußten Fahrlässigkeit aus dem Strafrecht und ihre Überweisung in das Polizeirecht ein11 . Zu Beginn unseres Jahrhunderts mehrten sich die Stimmen, die den Schuldgehalt der unbewußten Fahrlässigkeit bestritten12 . Wie schon ihre Vorgänger gingen Baumgarten, Galliner, Germann und Kohlrausch von einem Schuldverständnis aus, das eine positive psychische Beziehung des Täters zum Erfolg voraussetzte13 . Auch sie zogen aus den ihrer Ansicht nach fehlgeschlagenen Versuchen, diese Beziehung zu konstruieren, die Konsequenz, daß die Bocke/mann, Verkehrsstrafrechtliche Aufsätze, S. 212. Bocke/mann, Verkehrsstrafrechtliche Aufsätze, S. 213. 8 Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, S. 232. 9 Zuerst findet sich die Unterscheidung zwischen unbewußter und bewußter Fahrlässigkeit in der 9. Auflage von Feuerbachs Lehrbuch. Dort nannte er das Begriffspaar auf Seite 52f. (§ 56) noch unmittelbare und mittelbare Fahrlässigkeit. 10 Hertz, S. 153; Roßhirt, Grundsätze, S. 165; ders., NArchCrimR Bd. 8 (1826), S. 28fT.; Zerbst, NArchCrimR 1856, S. 422. Näher dazu B. VIII. 2. 11 Temme, Lehrbuch, S. 152, 239f.; Zerbst, NArchCrimR 1856, S. 423f. 12 Baumgarten, SchwZStr Bd. 34 (1921), S. 66, 68; ders., Verbrechenslehre, S. 116, 120f.; Galliner, S. 29; Gennann, S. 88f.; Kohlrausch, S. 208; Messer, MSchrKrim Psych, Bd. 8, (1911/12), S. 62fT.; vgl. auch Busch, für den Gemwnns Vorschläge "größte Beachtung" verdienen. 13 Baumgarten, SchwZStr Bd. 34 (1 921 ), S. 68; Galliner, S. 18; Gennann, S. 89; Kohlrausch, S. 197. 6 7
II. Unbewußte Fahrlässigkeit und Schuldprinzip
115
unbewußte Fahrlässigkeit keine schuldhafte Handlung darstellen kann. Trotz der festgestellten Schuldlosigkeit unbewußter Fahrlässigkeit wurde eine Reaktion des Staates in diesen Fällen weiterhin für erforderlich gehalten. Baumgarten betrachtete die Fahrlässigkeit als "Quasiverbrechen"14 , das keine echte Strafe, sondern einen "Denkzettel" 15 zur Folge hat, durch den der Täter erzogen werden soll 16 . In Fällen, in denen eine Erziehung zur Aufmerksamkeit keinen Erfolg verspricht, müsse der Täter freigesprochen werden17 . Galliner18 , Germann 19 und Kohlrausch 20 zogen dagegen nurFolgerungende lege ferenda. Ga/liner schlug eine im "Verwaltungswege aufzuerlegende Buße"21 vor, die nicht als Strafe zu verstehen sei, sondern als "Schaffung eines sozialen Ausgleichs" 22 . Germann plädierte für einen polizeirechtlichen Schutz mit ergänzenden sichernden Maßnahmen23 . Die Möglichkeit eines Eingreifens sollte auch bei fahrlässigem Verhalten gegeben sein, das nicht zu einem Schaden führte 24 . Ga/liner, Germann und Kohlrausch räumten der ständigen Praxis und dem Willen des Gesetzgebers den Vorrang vor dem Satz sine poena sine culpa ein. Es blieb bei der Feststellung, die Praxis habe durch die Bestrafung der unbewußten Fahrlässigkeit "den Standpunkt der reinen Schuldhaftung"25 verlassen, sowie dem Appell, diesen Zustand in einer künftigen Strafgesetzgebung zu korrigieren. Konsequenzen für das geltende Recht wurden nicht gezogen.
Baumgarten, SchwZStr Bd. 34 (1921) S. 66. Baumgarten, Verbrechenslehre, S. 121 ; Kohlrausch, S. 211; ähnlich Messer, MSchrKrimPsych, Bd. 8 (1911112), S. 80. 16 Baumgarten, Verbrechenslehre, S. 122; bei Fahrlässigkeitsdelikten sei im Gegensatz zu den Vorsatzdelikten nicht die absolute, sondern die relative Straftheorie anzuwenden, Baumgarten, ebd. , S 116. Ähnlich zuvor bereits Sturm, GS Bd. 74 (1909), S. 224. 17 Baumgarten, SchwZStr Bd. 34 (1921 ), S. 70. 18 Galliner, S. 30. 19 Germann, S. 94. 2 Kohlrausch, S. 209, hielt es 1910 für ausgeschlossen, daß "eine völlige Heransnahme der unbewußten Fahrlässigkeit aus den Schuldformen und ihre Behandlung als delictum sui generis durchzusetzen wäre". 21 Ga/liner, S. 30. 22 Ga/liner, S. 31. Ganz ähnlichArthur Kaufmann, JurA 1986, S. 232. 23 Germann , S. 94. 24 Germann , S. 95; zu Germanns Position vgl. auch D. I. 25 Kohlrausch , S. 209. 14 15
°
g•
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E. Tatbestandslosigkeit fahrlässigen Verhaltens de lege lata?
c) Folgerungen aus der Schuldlosigkeit unbewußter Fahrlässigkeit durch Arthur Kaufmann und Bocketmann Unter der Geltung des Grundgesetzes kommt dem Schuldprinzip Verfassungsrang zu26 , weshalb eine Strafverhängung ohne Schuld verfassungswidrig wäre. Bocke/mann und Arthur Kaufmann können es deshalb im Gegensatz zu ihren Vorgängern nicht bei einem bloßen Appell an den Gesetzgeber belassen. Als einzig mögliche Konsequenz ihrer Auffassung müßten sie die Straflosigkeit der unbewußten Fahrlässigkeit nach geltendem Recht erklären.
Bocke/mann schreckt vor dieser "ungeheuerlichen Konsequenz" 27 seiner Überlegungen zurück, weil sich hiergegen sein "Rechtsgefühl mit Leidenschaft empört" 28 . Folgerungen will er nur de lege ferenda ziehen, indem er nach dem Gesetzgeber ruft und ihn auffordert, die Fahrlässigkeitsstrafbarkeit soweit wie möglich einzuschränken29 . Aber auch bei seinen rechtspolitischen Vorschlägen besteht er nicht auf einer vollkommenen Durchsetzung seines Schuldverständnisses, da er nur die einfache unbewußte Fahrlässigkeit, nicht aber die grobe unbewußte Fahrlässigkeit aus dem Strafrecht herausnehmen will30 . Folge des Kompromisses zwischen Rechtsgefühl und Prinzipientreue ist, daß Bocke/mann in Fällen grober unbewußter Fahrlässigkeit eine Strafe ohne Schuld für zulässig hält. Auch Arthur Kaufmann wollte zunächst aus der von ihm festgestellten fehlenden Schuld bei unbewußter Fahrlässigkeit keine Konsequenzen für das geltende Recht ziehen31 . Es sei nicht möglich, das Schuldprinzip im Strafrecht rein zu verwirklichen, weil man an geschichtliche Voraussetzungen und an das Bewußtsein innerhalb der Gesellschaft gebunden see2 . 1961 erschien es Arthur Kaufmann noch als sicher, daß der gesellschaftliche Zustand nicht bestand, der es erlaubt hätte, die unbewußte Fahrlässigkeit lediglich mit einer Buße zu belegen. Arthur Kaufmann fragte sich damals noch, ob dieser Gesell26 BVerfGE 20,323(331); BVerfGE 23,127(132); BVerfGE 45,187(228); BverfGE 90,145(173); Jescheck, AT, S. 19; Maunz/Dün'g!Herzog, Art. 1 Rdnr. 32; SchiSchi Lenckner, vor§§ 13 Rdnr. 103; SK!Rudolphi, vor§ 19 Rdnr. 1. 27 Bocke/mann, Verkehrsstrafrechtliche Aufsätze, S. 213 . 28 Bocke/mann, Verkehrsstrafrechtliche Aufsätze, S. 213 . 29 Bocke/mann, Verkehrsstrafrechtliche Aufsätze, S. 216. ~0 Bocke/mann, Verkehrsstrafrechtliche Aufsätze, S. 217f. ~ 1 Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, S. 163f.; zuvor hatte sichArthur Kaufmann jedoch für einen Freispruch in Fällen unbewußter Fahrlässigkeit ausgesprochen, Arthur Kaufmann, Unrechtsbewußtsein, S. 99. 32 Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, S. 164.
ll. Unbewußte Fahrlässigkeit und Schuldprinzip
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schaftszustand überhaupt jemals zu erreichen see3 . 25 Jahre später änderte Arthur Kaufmann seine Ansiche 4 . Nun stellt er knapp fest, daß bei der unbewußten Fahrlässigkeit keine Schuld vorliegt35 , " . . . und wo man keinen Schuldvorwurf erheben kann, darf man nicht strafen"36 . Ausnahmen vom Grundsatz sine poena sine culpa werden nicht mehr zugelassen. Für Arthur Kaufmann kommen als Reaktion auf unbewußt fahrlässiges Verhalten nur "Akte sozialer Wiedergutmachung in Betracht", die keinen Strafcharakter haben und auch nicht durch ein Strafurteil verhängt werden sollen37 • Arthur Kaufmann zieht damit als erster Autor die Konsequenz, daß schon nach geltendem Recht jede Form der unbewußten Fahrlässigkeit straflos sein soll. Der Verwirklichung des von ihm in einer bestimmten Weise interpretierten Schuldprinzips wird der Vorrang vor dem Willen des Gesetzgebers38 und einer generationenalten Praxis39 eingeräumt. Die Umsetzung von Arthur Kaufmanns Ansicht hätte einschneidende Folgen, weil nicht nur jährlich Zehntausende von fahrlässigen Rechtsgutsverletzungen aus dem Bereich des Strafrechts fielen, sondern auch die bisherige Praxis der Strafgerichte als verfassungswidrig qualifiziert werden müßte.
2. Die Begründung des Schuldgehalts unbewußter Fahrlässigkeit durch die herrschende Lehre a) Ergebnisorientierte Kritik Arthur Kaufmanns These vom fehlenden Schuldcharakter der unbewußten Fahrlässigkeit wird in der Literatur fast einhellig abgelehnt40 . Dabei hat sich Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, S. 164. Arthur Kaufmann, JurA 1986, S. 232. 35 Arthur Kaufmann, JurA 1986, S. 232. 36 Arthur Kaufmann, JurA 1986, S. 232. 37 Arthur Kaufmann, JurA 1986, S. 232. 38 Voin Schuldgehalt bzw. der Strafbarkeit der unbewußten Fahrlässigkeit gingen die Entwürfe aus den Jahren 1913 (§ 19), 1919 (§ 14), 1927 (§ 19; Begründung, S. 18), 1962 (§ 18) sowie der AE von 1966 (§ 18; Begründung, S. 54) ganz selbstverständlich aus. 39 VgL nur RGSt 6,249(250); RGSt 29,218(220); RGSt 30,25(27); RGSt 56,343 (349); RGSt 58,130(134); RGSt 61 ,318(320); RGSt 67, 12,(18). 40 Kritisch z.B. Jakobs, AT, 9/3 Fußn. 5;Jescheck, AT, S. 511; ders., Fahrlässigkeit, S. 26; Armin Kaufmann , ZfRV 1964, S. 41f., 44; LKJSchroeder, § 16 Rdnr. 121 ; Lenckner, Strafe, Schuld und Schuldf!i.higkeit, S. 60; Maurach!Gössel, AT 2, § 43 33
34
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E. Tatbestandslosigkeit fahrlässigen Verhaltens de lege lata?
die Argumentationsebene der Kritik gegenüber der entsprechenden Auseinandersetzung im letzten Jahrhundert verschoben. Statt schuldtheoretischer Überlegungen sind nun kriminalpolitische Erwägungen in den Vordergrund gerückt. Gegen Arthur Kaufmann wird ähnlich argumentiert wie seinerzeit gegen die vergleichbare Auffassung Kohlrauschs, dem man entgegenhielt, daß "eine These, die zu solchen Resultaten führt, ... sich selbst (richte, A.K.)"41 . Ganz offen wird die Ergebnisorientierung von Lenckner ausgesprochen, der Arthur Kaufmanns Schuldverständnis ablehnt, "weil es dann nicht mehr möglich ist, die unbewußte Fahrlässigkeit als Schuld anzusehen"42 • Die Strafbarkeit auch unbewußter Fahrlässigkeit sei eine unbedingte Notwendigkeit, weshalb die Diskussion um ihren Schuldgehalt als "unfruchtbar" 43 bezeichnet wird. Durch kriminalpolitische Überlegungen kann der Nachweis des Schuldcharakters der unbewußten Fahrlässigkeit nicht ersetzt werden44 . Wenn die Schuldkategorie nicht ganz in Kriminalpolitik aufgehen soll, muß versucht werden, den Schuldgehalt der unbewußten Fahrlässigkeit eigenständig zu begründen.
b) Normative Erweiterung der Willensschuld
Das heute herrschende Schuldverständnis basiert auf den Gedanken von Feuerbach 45 und Klein 46 . Beide Autoren gingen zu Anfang des letzten Jahrhunderts davon aus, daß alle Schuld Willensschuld sein muß. Deshalb könne
Rdnr. 122; Maurach/Zipf, AT 1, § 30 Rdnr. 17; Roxin, AT 1, § 24 Rdnr. 62; Schmidhäuser, AT, Lehrbuch, 10/97 Fußn. 69; Sch!Sch!Cramer, § 15 Rdnr. 203; Sch!Sch!Lenckner, vor§ 13 Rdnr. 104 und 118; Stratenwerth, AT, Rdnr. 1106. 41 zu Dohna, ZStW Bd. 32 ( 1911 ), S. 324; Kohlrauschs Ansicht \Vllrde "alle tief im Volksbewußtsein wurzelnden ethischen Vorstellungen um einer doktrinären Formel willen auf den Kopf stellen", S. 326; ähnlich v. Hippe/, Deutsches Strafrecht, Bd. 2, wonach mit dem Bestreiten des Schuldgehalts der Fahrlässigkeit der "völlig zweifellosen Lebens- und Rechtsauffassung widersprochen" werde, S. 371. 42 Sch!Sch!Lenckner, vor§§ 13 Rdnr. 118. 43 Maurach!Gössel, AT 2, § 43 Rdnr. 122. 44 Zur Frage, ob die unbewußte Fahrlässigkeit aus kriminalpolitischen Gründen de lege ferenda straflos bleiben sollte, vgl. H. IV. 2. 45 Feuerbach, Betrachtungen, S. 207. 46 Klein , Grundsätze, S. 91.
II. Unbewußte Fahrlässigkeit und Schuldprinzip
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auch die "culpa ohne Willensfehler nicht gedacht werden" 47 . Bis in die Gegenwart wird daran festgehalten, daß die unbewußte Fahrlässigkeit Willensschuld ist48 . Die früheren Versuche, den Schuldgehalt der unbewußten Fahrlässigkeit als Verstandes-49 , Charakter-50 oder Gefühlsschuld51 zu begründen, werden heute einhellig abgelehnt. Die unbewußte Fahrlässigkeit enthält kein positives Willensmoment Alle dahingehenden Konstruktionsbemühungen der Vergangenheit wie Feuerbachs "willentliche Unaufmerksarnkeit"52 , Bindings "unbewußt rechtswidriger Willen"53, Köhlers "gewollte Verdrängung" 54 oder Mezgers "Vorverlagerung des Wollens" 55 sind gescheitert. Um dennoch den Schuldgehalt der unbewußten Fahrlässigkeit begründen zu können, muß man sich von einem streng naturalistischen Ansatz lösen und Wertungen zulassen. Es geht dann nicht mehr um tatsächliche psychische Vorgänge "im" Täter, sondern um Wertungen über unterlassene Willensanstrengungen. Richtungsweisend für eine wertende Betrachtung war das von Klein begründete Schuldverständnis, wonach die Nichtexistenz eines richtigen Willens zur Schuldbegründung ausreichen sollte. Der Willensfehler lag für Klein bereits in "einem Mangel des guten Vorsatzes, die zur Vermeidung gesetzwidriger Handlungen erforderliche Fähigkeit und Aufmerksamkeit auszubilden oder anzustrengen" 56 . Dieser wertende Ansatz konnte sich schon 47 Klein, ArchCrimR Bd. 3, I. Stück, S. 120. 48 Vgl. nur Maurach/Zipf, AT 1, § 35 Rdnr. 16; Sch!Sch!Lenckner, vor§§ 13 Rdnr.
108; SKJRudolphi, vor§ 19 Rdnr. 1; ähnlich Jescheck, AT, S. 384; zur Entwicklung der h.L. Köhler, Fahrlässigkeit, S. 44fT.; Mohnnann, S. 35fT. m.w.N. Zur älteren Literatur siehe Exner, S. 25 Fußn. 2. 49 v. Almendingen, S. 102. Krit. Exner, S. 95fT. , 108; Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, S. 149; Köhler, Fahrlässigkeit, S. llff., 15. 50 v. Bar, S . 444; Engisch, Willensfreiheit, S. 52; Kadecka, ZStW Bd. 48 (1928), S. 609; Welzel, Deutsches Strafrecht," S. 150; aus der neueren Lit. Figueiredo Dias, ZStW Bd. 95 (1983), S. 242. Krit. Jescheck, AT, S. 380; Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, S. ISO; Maurach/Zipf, AT 1, § 35 Rdnr. 16; Roxin, AT 1, § 19 Rdnr. 27; Sch!Sch!Lenckner, vor§§ 13 Rdnr. 109a. 51 Exner, S . 170; ähnlich auch Engisch, Vorsatz und Fahrlässigkeit, S. 460ff Krit. Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, S. 149f; Köhler, Fahrlässigkeit, S. 31; Mohnnann, S. 59f 52 Feuerbach, Betrachtungen, S. 227; vgl. dazu auch B. VIII. 1. a). 53 Binding, Normen IV, S. 366. 54 Köhler, Fahrlässigkeit, S. 96. 55 Mezger, Strafrecht, S. 355. 56 Klein, Grundsätze, S. 100.
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E. Tatbestandslosigkeit fahrlässigen Verhaltens de lege lata?
bald durchsetzen57 und bildet bis heute die Basis für die Schuldbegründung bei der unbewußten Fahrlässigkeit. Eine pflichtwidrige Willensbetätigung ist demnach für den Schuldvorwurf nicht erforderlich. Es genügt bereits eine fehlerhafte Willensbildung58 , die im Unterlassen der erforderlichen Willensanspannung liegt. Das Nichtfassen eines pflichtgemäßen Willens soll Ausdruck einer fehlerhaften Beschaffenheit des menschlichen Willens sein. Durch die Unterscheidung zwischen konkretem Willensakt und fehlerhafter - weil unterbliebener richtiger - Willensbetätigung gelingt es der herrschenden Lehre mühelos, den Schuldgehalt der unbewußten Fahrlässigkeit zu begründen, ohne von dem Grundsatz "alle Schuld ist Willensschuld" abrücken zu müssen. Allerdings wird durch das weite und vom allgemeinen Sprachgebrauch abweichende Willensverständnis verdeckt, daß das Schuldurteil in diesen Fällen auf einer reinen Wertung basiert. Auch das verbale Anknüpfen an die Gesinnung59 des Täters oder das Nicht-Ernst-Nehmen fremder Rechtsgüter60 kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Schuldurteil bei der unbewußten Fahrlässigkeit unabhängig von tatsächlich vorhandenen Einstellungen des Täters gefällt wird. 57 Hierzu mit vielen Nachweisen zur älteren Literatur Köhler, Fahrlässigkeit, S. 38ff; Mohrmann , S. 36ff. Von Feuerbach wurde zur Begründung der Fahrlässigkeitsschuld der Gedanke der Sorgfaltspflichtverletzung übernommen; von Klein der Ansatz, daß ein Willensfehler bereits in einer fehlerhaften Willensbestimmung liegen kann. 58 Sch!Sch!Lenckner, vor§§ 13 Rdnr. 108; aus der älteren Literatur Al/feld, S. 134; v. Hippe/, Deutsches Strafrecht, Bd. 2, S. 130, 373. Deutlich v. Hippe/, V.D.A.T., Bd. 3, S. 567 Fußn. 5: "Pflichtwidrige Unvorsichtigkeit ist eine fehlerhafte Willensbestimmung, die Fahrlässigkeit daher Willensschuld". 59 Jescheck, AT, S. 512; Wessels, AT, § 15 III. Nach Jescheck zeigt sich der Gesinnungsfehler bei der unbewußten Fahrlässigkeit in "der...Unterschreitung des Mindestmaßes an Aufmerksamkeit, das die Rechtsordnung zur Vermeidung von Verlusten und Schäden an Werten und Gütern der Gemeinschaft objektiv fordern muß". Jescheck geht es nicht um die Feststellung einer tatsächlichen inneren Einstellung. Statt dessen wird von der Unaufmerksamkeit auf die fehlerhafte Gesinnung geschlossen. 60 Schmidhäuser, AT, 10/6, 10/100. Nach Schmidhäuser besteht strafrechtliche Schuld dann, wenn der Täter das Rechtsgut "durch sein Willensverhalten ... im geistigen Kontakt verletzt, d.h. nicht ernst genommen hat", AT, 10/6. Für den "geistigen Kontakt" verlangt er kein aktuelles Bewußtsein im Tatzeitpunkt Es soll genügen, wenn "der Täter den verletzten Wert, wenn auch unbewußt, als Person zur Tatzeit vertugbar hat", FS Jescheck, S. 493. Daß es Schmidhäuser um normative Erwartungen geht, wird durch folgende Aussage deutlich: "Wir gehen davon aus, daß jemand, der die Rechtsansprüche ernstnimmt, sein Handeln diesen aus der Umwelt herangetragenen Verhaltensanforderungen entsprechend kontrolliert, ferner, daß er die unrechte Tat erkennt, wenn sie überhaupt erkennbar ist", AT, 10/100.
li. Unbewußte Fahrlässigkeit und Schuldprinzip
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c) Kritik an der normativen Erweiterung der Willensschuld An dem Schuldverständnis der herrschenden Meinung ist seit seiner Herausbildung Kritik geübt worden61 . Schon gegen Klein wurde der Einwand erhoben, der negative Willen sei ein "Phantom"62 , weil bei Nichtausbildung eines richtigen Willens überhaupt kein Wille vorliege63 . Hauptkritikpunkt aller Zweifler am Schuldgehalt unbewußter Fahrlässigkeit ist bis heute, daß die bloße Vorhersehbarkeit des Erfolges für einen Schuldvorwurf nicht ausreichen könne. Das "unselige hätte, können und sollen"64 eigne sich allenfalls zu einer "vulgären Charakterisierung des Geschehens" 65 • Die Möglichkeit der Voraussicht sei lediglich die Voraussetzung für die schuldhafte tatsächliche Willensbidung, auf die es allein ankomme66 . Ist dem Täter die gefahrliehe Situation aber gar nicht bewußt geworden, so könne ihm ein falscher Handlungsentschluß nicht zum Vorwurf gemacht werden67 .
3. Grenzen rechtspolitischer Argumentation mit dem Schuldprinzip In der Auseinandersetzung um den Schuldcharakter der unbewußten Fahrlässigkeit stehen sich die Meinungen noch immer in den Fronten des frühen 19. Jahrhunderts gegenüber. Dabei befinden sich Arthur Kaufmann und seine Vorgänger in der Tradition zu den von Feuerbach begründeten Ansichten, wonach sich für den Schuldvorwurf auch bei der unbewußten Fahrlässigkeit ein tatsächlich vorhandener Wille finden lassen muß. Die Gegenauffassung beruht auf der normativen Erweiterung der Willensschuld durch Klein.
61 Bocke/mann, Verkehrsstrafrechtliche Aufsätze, S. 212; Gennann, S. 89; Hertz, S. 154; Arthur Kaufmann, S. 160fT., 223ff.; Köhler, Fahrlässigkeit, S. 44; Kohlrausch, S. 208; auch Exner, S. 86, vom Standpunkt seiner "Gefühlstheorie" aus. 62 Zuerst Exner, S. 74. Vgl. auch Binding, Normen IV, S. 188f., gegen Klein, dessen "negativ böser Wille das Fehlen alles bösen Willens beim fahrlässigen Verbrechen wie ein geschickt gelegtes Leichentuch über ein Phantom verdeckt hatte". 63 v. Almendingen, S. 26; Binding, Normen li, S. 148 Fußn. 182; Feuerbach, Revision li, S. 50; Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, S. 160; Köhler, Fahrlässigkeit, S. 37; Stübel, NArchCrimR Bd. 8 (1826), S. 282. 64 Kohlrausch, S. 214. 65 Köhler, Fahrlässigkeit, S. 44. 66 Hertz, S. !54; ähnlich Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, S. 176. 67 Bocke/mann , Verkehrsstrafrechtliche Aufsätze, S. 212; Exner, S. 74.
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E. Tatbestandslosigkeit fahrlässigen Verhaltens de lege lata?
Der festgefahrene Streit um den Schuldgehalt der unbewußten Fahrlässigkeit ist für die aktuelle Diskussion um die Entkriminalisierung fahrlässigen Verhaltens nicht weiterführend. Zwar erscheint die von der herrschenden Meinung vorgenommene Wertung zur Schuldbegründung der unbewußten Fahrlässigkeit gerechtfertigt zu sein, weil die allgemeine Erfahrung besteht, daß jeder Mensch grundsätzlich in der Lage ist, möglicherweise durch ihn ausgehende Gefahren zu bedenken68 . Dadurch wird das eigene Schuldverständnis jedoch nur plausibel gemacht, nicht aber die Gegenauffassung widerlegt. Auch weiterhin werden sich die wertende Auffassung der herrschenden Meinung und die auf das Vorhandensein eines "realen Substrats" 69 beharrende Ansicht unversöhnlich gegenüberstehen. Der Streit ist argumentativ nicht zu lösen, weil es bei dem Verständnis eines philosophischen Begriffs wie dem der "Schuld" keine "richtige" oder "falsche" Auffassung geben kann. Ob eine "bewußte und gewollte Entscheidung zum Unrecht" 70 für die strafrechtliche Schuld erforderlich ist, kann abstrakt und ohne Berücksichtigung des Ergebnisses der angestellten Überlegungen auf strafrechtlicher Ebene nicht entschieden werden. Die bald 200 Jahre alte Diskussion um den Schuldgehalt der unbewußten Fahrlässigkeit erweist sich somit als nicht geeignet, um konkrete Entkriminalisierungsmaßnahmen zu begründen. In einer bestimmten Weise interpretierte philosophische Begriffe können allein nicht den Anstoß zu Strafrechtsreformen geben. Nur wenn die rechtspolitischen Konsequenzen überzeugen, wird sich der Gesetzgeber zu einer Entkriminalisierung im Bereich der Fahrlässigkeitsdelikte entschließen.
Roxin, AT 1, § 24 Rdnr. 62; Schmidhäuser, AT, 1Oll 00. Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, S. 161. 70 Arthur Kaufmann , JurA 1986, S. 232; ähnlich ders., Schuldprinzip, S. 153; ders. , Unrechtsbewußtsein, S. 99. 68
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Ill. Subsidiarität des Strafrechts
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111. Straflosigkeit leichter Fahrlässigkeit aufgrund der Subsidiarität des Strafrechts? 1. Unverhältnismäßigkeil der Strafe bei leichter Fahrlässigkeit?
Das Verhältnismäßigkeitsprinzip wird vom BVerfG und der staatsrechtlichen Literatur als Verfassungsgrundsatz anerkanne 1 . Unumstritten ist, daß auch der Straftatbestand als solcher einer Verhältnismäßigkeitskontrolle unterliegt72 . Im Verhältnismäßigkeilsprinzip ist der Grundsatz der ultima ratio bzw. der Subsidiarität des Strafrechts enthalten73 , der auf der Stufe der "Erforderlichkeit" geprüft wird74 . Danach darf das Strafrecht als "schärfstes Schwert" des Staates erst dann zum Einsatz kommen, wenn der Schutz des jeweils bedrohten Rechtsgutes durch andere Maßnahmen nicht gewährleistet werden kann75 . Hiervon ausgehend könnte argumentiert werden, daß leichte Fahrlässigkeit nicht des Einsatzes des Strafrechts bedarf, weil die Androhung eines zivilrechtliehen Schadensersatzes oder eines Bußgeldes die gleiche (geringe) präventive Wirkung wie ein Straftatbestand entfalten würde76 . Aus dieser Einschätzung müßte die Konsequenz gezogen werden, daß die bisherige Strafbarkeit leichter Fahrlässigkeit einen verfassungswidrigen Verstoß gegen den Grundsatz des Strafrechts als ultima ratio darstellt.
71 Die Herleitung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erfolgt überwiegend aus dem Rechtsstaatsprinzip: BVerfGE 6,389(439); BVerfGE 22,127(133); BVerfGE 35,382(400); BVerfGE 38,348(368); BVerfGE 49,34(58); BVerfGE 69,1(35); Maunz/Dürig/Herzog, Art. 20 Abs. VII Rdnr. 72; teilweise auch direkt aus den Grundrechten: BVerfGE 19,342(348); v. Mangoldt/Klein/Stark, Art. 5 Rdnr. 83. Neuerdings werden auch beide Gesichtspunkte zur verfassungsrechtlichen Fundierung herangezogen, BVerfGE 90,145(173). 72 Z.B. Degenhart, Rdnr. 334 ; Hamann, S. 28, 31 ; Hilf, S. 1316; Gallwas, MDR 1969, S. 894; Zipf, Kriminalpolitik, S 101ff.; auch BVerfG NStZ 1989, S. 478; BVerfGE 88,203(258); BVerfGE 90,145(172f.). 73 Hier werden Subsidiaritätsprinzip und ultima ratio gleichgesetzt; so auch Günther, JuS 1978, S. 11; Roxin, AT 1, § 2 Rdnr. 28ff.; Schmidhäuser, AT, 2/14; weitergehend verstehen das Subsidiaritätsprinzip Brandt, S. 152; Jescheck, AT, S. 47 Fußn. 7; grundlegend Arthur Kaufmann, FS Henkel, S. 89ff. Demnach soll das Subsidiaritätsprinzip auch einen positiven, "sozialen" Gedanken enthalten. Statt Strafe müsse dem Täter vom Staat eine Hilfe zur Besserung angeboten werden. 74 Hilf, S. 1316; Roos, S. 215 m.w.N.; SK!Rudolphi, vor § I Rdnr. I4. 75 SK!Rudolphi, vor§ I Rdnr. I4. 76 Roxin , AT I, § 2 Rdnr. 30.
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E. Tatbestandslosigkeit fahrlässigen Verhaltens de lege lata?
2. Grenzen rechtspolitischer Argumentation mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Vieles spricht dafür, daß die spezial- und generalpräventive Wirkung der Strafe bei leichten Fahrlässigkeitsformen gering ist. Ob aber der Verzicht auf Strafe bei leichter Fahrlässigkeit tatsächlich nicht zu einer Verringerung des Rechtsgüterschutzes führt, ist empirisch nicht belegt. Hier kann nur mit Vermutungen gearbeitet werden, die wissenschaftlich weder verifizierbar noch falsifizierbar sind. Angesichts der nie auszuräumenden Unsicherheiten über die Präventivwirkung des Strafrechts gesteht das BVerfG dem Gesetzgeber eine Einschätzungsprärogative zu77 . Der eingeräumte Gestaltungsspielraum gestattet es ihm, die Vor- und Nachteile einer Pönalisierung in eigener Verantwortung abzuwägen und sich dabei auch über in der Wissenschaft geäußerte kriminalpolitische Bedenken hinwegzusetzen78 . Eine Verfassungswidrigkeit wird erst ausgesprochen, wenn die Grenzen der Gerechtigkeit überschritten sind, was von den Gegnern der Regelung dargelegt werden muß 79 . Im Gegensatz zum Bereich der Sanktionsgestaltung, wo dem BVerfG eine "tatkräftige Kontroll- und Entscheidungsfreudigkeit" attestiert wird80 , ist die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers auf der Tatbestandsebene bisher vom BVerfG nicht ernsthaft auf ihre Grenzen hin kontrolliert worden81 . So ist kein Urteil bekannt, in dem ein Straftatbestand ganz oder teilweise für verfassungswidrig erklärt worden ist, weil der gleiche Schutz des Rechtsgutes auch auf andere, mildere Art und Weise erreicht werden könnte82 . Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die Herausnahme bestimmter Formen fahrlässigen Verhaltens aus dem Strafrecht unter Berufung auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht möglich ist. Wird dieses Prinzip dennoch in die Diskussion eingebracht, handelt es sich lediglich um ein rechtspolitisches "Argument mit Autoritätsanspruch"83 , das die Entscheidungsfreiheit des Gesetzgebers nicht beschränken kann. 77 BVerfGE 50,205(213); BVerfGE 88,203(262f.); BVerfGE 90,145(173); BVerfG NStZ 1989, S. 478; aus der Literatur auch Kaiser, FS Klug, Bd. 2, S. 593; Kuhlen, S. 184ff.; Müller-Dietz, Strafe und Staat, S. 30ff.; Tiedemann, Verfassungsrecht, S. 35, 59. 78 Roos, S. 222. 79 Gallwas, :MDR 1969, S. 894. 80 Tiedemann, Verfassungsrecht, S. 35. 81 Tiedemann, Verfassungsrecht, S. 59. 82 So auch Frisch, FS Stree/Wessels, S. 77. 83 Naucke,S . lOl.
IV. Geringfügigkeitsprinzip
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IV. Straflosigkeit leichter Fahrlässigkeitaufgrund des Geringfügigkeitsprinzips? 1. Der Ansatz Roxins: Straflosigkeit aufgrund fehlender "Verantwortlichkeit"? a) Überblick
In einer Vielzahl von Veröffentlichungen vertritt Roxin die Ansicht, daß die Strafbarkeit bei lediglich geringfügig fahrlässigem Verhaltende lege lata ausgeschlossen ist84 . Diese Auffassung ist angesichts der entgegenstehenden Praxis der Gerichte sowie des abweichenden Willens des Gesetzgebers zunächst überraschend. Ohne eine Gesetzesänderung soll unter Aufgabe des Grundsatzes der Tatbestandsmäßigkeit jedes Fahrlässigkeitsgrades eine weitreichende Entkriminalisierung verwirklicht werden. 1974 wollte Roxin die Straflosigkeit bestimmter Fahrlässigkeitsformen aus dem Geringfügigkeitsprinzip ableiten, das er als ein allgemeines Rechtsprinzip betrachtete85 . In seinen neueren Veröffentlichungen erreicht er das gleiche Resultat über den "Entschuldigungsgrund der Unzumutbarkeit"86 . Gemeinsam ist beiden Begründungsansätzen, daß die zur Reform der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit geltend gemachten kriminalpolitischen Argumente von Roxin bereits zur Auslegung des geltenden Rechts herangezogen werden87 , was erst vor dem Hintergrund seines Konzepts zur Neubestimmung des Schuldbegriffs verständlich wird.
84 Roxin, FS Henkel, S. 192; ders., AT 1, § 24 Rdnr. 86, 119 sowie § 2 Rdnr. 30; ders., FS Arthur Kaufmarm, S. 522; kriminalpolitisch auch ders., JuS 1973, S. 201; ZStW Bd. 84 (1972), S. 1014; SchwZStr Bd. 104 (1987), S. 374. Roxin verwendet regelmäßig den Begriff "geringfügige Fahrlässigkeit" . Im Gegensatz zu der gleichlau-
tenden Wendung in§ 16 Abs. 2 AE bezieht er die "Geringfügigkeit" ausschließlich auf das Handlungsunrecht, was beispielsweise in AT 1, § 2 Rdnr. 30 deutlich wird. 85 Roxin, FS Henkel, S. 192. R6 Roxin, AT 1, § 24 Rdnr. 86. 87 Roxin schließt sich den Gründen für eine Reform weitgehend an, vgl. Roxin, FS Henkel, S. 192f.; ders., SchwZStr Bd. 104 (1987), S. 374; ders., AT 1, § 24 Rdnr. 85; ders. , FS Arthur Kaufmarm, S. 522.
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E. Tatbestandslosigkeit fahrlässigen Verhaltens de lege lata?
b) Roxins Lehre von der Verantwortlichkeit
Grundlegend neu und richtungsweisend für die bis heute andauernde Diskussion um die Neubestimmung des Schuldbegriffs war, daß Roxin die Schuld von der Strafzwecklehre her bestimmen wollte88 . In der Frühform seiner Lehre schien es, als wollte Roxin den überkommenen Schuldbegriff ganz durch den Präventionsgedanken ersetzen89 . Dementsprechend trat er zunächst für die Umbenennung der bisherigen Schuldkategorie in "Verantwortlichkeit" ein90 . Entscheidend für die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Täters sollten kriminalpolitische Gesichtspunkte und vor allem die Strafzwecklehre91 sein. Ziel war es, über die Kategorie der Verantwortlichkeit "täterbezogene Kriminalpolitik unmittelbar in die Strafrechtsdogmatik eindringen" zu lassen92 und dadurch den Gegensatz zwischen Kriminalpolitik und Dogmatik zu überwinden93 . Befürchtungen, nach denen dieses Konzept die Gefahr eines unbegrenzten Utilitarismus in sich berge, hielt Roxin entgegen, daß der Richter nicht nach seinen eigenen kriminalpolitischen Vorstellungen entscheiden dürfe. Bei der Interpretation und der "behutsamen Fortentwicklung" der Schulddogmatik gehe es vielmehr darum, "die gesetzgeberischen Strafzweckerwägungen zur Richtschnur der Rechtsfindung zu machen" 94 .
Zuerst in Roxin, Kriminalpolitik, S. 33ff.; ausführlicher ders., FS Henkel, S. 181fT. Vorläufer fur Roxins Konzept waren Noll, FS H. Mayer, S. 233 sowie F Kaufmann, S. 72, 112. 89 Roxin, FS Henkel, S. 180; ders., FS Bockelmann, S. 297. Lediglich als Prinzip der Strafbegrenzung hielt Roxin innerhalb der Strafzumessung an der Schuld fest, um spezial- oder generalpräventiven Mißbräuchen vorzubeugen; vgl. dazu Roxin, MschrKrim 1973, S. 319, 321 ; ders. , FS Henkel, S. 186; ders., FS Bockelmann, S. 297. 90 Roxin, FS Henkel, S. 18lf.; ders., FS Schaffstein, S. 126; ders. , FS Bockelmann, S. 284; ders. , SchwZStr Bd. 104 (1987), S. 374; vorsichtiger noch ders. , Kriminalpolitik, S. 34: "vielleicht". Durch die Umbenennung sollte verdeutlicht werden, daß die Möglichkeit des Andershandelnkönnens nur auf einer "normativen Setzung" des Gesetzgebers beruht, nicht aber auf einer Entscheidung in dem Streit um die menschliche Willensfreiheit; dazu Roxin, FS Henkel, S. 184; ders., SchwZStr Bd. 104 (1987), S. 369;ders.,AT 1, § 19Rdnr. 35; ders., FSArthurKaufmann, S. 521. 91 Roxin, FS Henkel, S. 182. 92 Roxin, FS Henkel, S. 182. 9 ~ Roxin , Kriminalpolitik, S. 40. 94 Roxin, Kriminalpolitik, S. 48. 88
IV. Geringfügigkeitsprinzip
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Nachdem seine Neuinterpretation der Schuld in ersten Stellungnahmen zum Teil heftig kritisiert worden war95 , entwickelte Roxin seine Lehre weiter96 . Er betonte nun weniger die Möglichkeiten präventiven Zweckdenkens zur Fortentwicklung der Strafrechtsdogmatik, sondern stellte die "rechtsstaatliche Schutzfunktion" 97 sowie die "Errungenschaften des Schuldprinzips"98 in den Vordergrund. In Abweichung zu seiner früheren Ansicht ist Roxin heute der Meinung, daß sich die positiven Leistungen des Schuldprinzips99 nicht über präventive Erwägungen erreichen lassen100 . Die herkömmlich verstandene Schuld wird nunmehr als eine Voraussetzung der Strafbarkeit angesehen101 . Sie soll zusammen mit dem Präventionsbedürfnis die Kategorie der Verantwortlichkeit bilden102 . Nur wenn Schuld und Präventionsbedürfnis gemeinsam gegeben seien, dürfe gestraft werden 103 . Über dieses Konzept soll ein "größeres Maß an rechtsstaatlicher Straflimitierung"104 erreicht werden, weil auch bei bestehender Schuld nicht zwangsläufig eine Strafe verhängt werden müsse105 . Auf der anderen Seite verhindere das Festhalten an der Schuld eine Strafe aus rein präventiven Gesichtspunkten. Roxin faßt die strafbarkeilsbegrenzende Wirkung seines Konzepts griffig 95 Gössel, JA 1975, S. 322f., sah in Roxins Konzeption "die große Gefahr der Auf. Iösung der gesamten Strafrechtssystematik"; weitere Nachweise bei Roxin, AT 1, § 19 Rdm. 4 Fußn. 2. 96 Roxin, FS Bockelmann, S. 279ff.; ders., ZStW Bd. 96 (1984), S. 641fT.; ders., SchwZStr Bd. 104 (1987), S. 356fT.; ders., AT 1, § 19 Rdm. 3ff.; ders., FS Arthur Kaufinann, S. 521. 97 Roxin, AT 1, § 19 Rdm. 6, 42. 98 Roxin, SchwZStr Bd. 104 (1987), S. 358, 361 ; ders. , FS Arthur Kaufmann, S. 521 . 99 Dazu Roxin, SchwZStr Bd. 104 (1987), S. 358-36 1. Als Leistungen des Schuldprinzips nennt Roxin beispielsweise die Ausschaltung der Erfolgshaftung, die Entwicklung genauer Zurechnungskriterien, die feine Abstufung im Strafrahmen sowie die Herausarbeitung des unvermeidbaren Verbotsirrtums. 100 Roxin, ZStWBd. 96 (1984), S. 645; ders., SchwZStr, Bd. 104 (1987), S. 361. 101 So seit Roxin, FS Bockelmann, S. 285 . 102 Roxin, FS Bockelmann, S. 285 . 103 Roxin, FS Bockelmann, S. 185; ders., ZStW Bd. 96 (1 984), S. 654; ders., SchwZStr Bd. 104 (1987), S. 374; ders., AT 1, § 19 Rdm. 4. 104 Roxin, FS Bockelmann, S. 296. 105 Dies bedeutet zugleich eine Abkehr von der "Zweiseitigkeit" des Schuldstrafrechts, wonach die Strafe nicht nur der Schuld entsprechen muß, sondern Schuld die Strafe auch unabhängig von allen Zweckerwägungen notwendig macht; so noch Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, S. 202, 206; dazuRoxin, SchwZStr Bd. 104 (1987), S. 372; ders. , ZStW Bd. 96 (1 984), S. 654.
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E. Tatbestandslosigkeit fahrlässigen Verhaltens de lege lata?
mit der Formel "Schuld und Prävention begrenzen sich gegenseitig" 106 zusammen.
c) Anwendung der Verantwortlichkeitslehre auf die Reform der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit Roxin begnügt sich nicht damit, mit seiner Konzeption die gesetzlich normierten Entschuldigungsgründe von der Strafzwecklehre her zu erklären107 , sondern er wendet seine Verantwortlichkeitslehre auch zur Lösung einer Vielzahl von Streitfragen des Allgemeinen Teils an108 .
Die strafbarkeilslimitierende Wirkung von Roxins Schuldkonzept wird durch seine Ansicht zur Entkriminalisierung fahrlässigen Verhaltens deutlich. Für ihn steht fest, daß auch die geringfügige Fahrlässigkeit isoliert betrachtet schuldhaftesUnrecht darstellt109 . Trotzdem soll sie nicht strafbar sein, weil es aus kriminalpolitischen Gründen an der präventiven Bestrafungsnotwendigkeit fehle. Roxin verweist dabei auf die Täterpersönlichkeit sowie auf die praktische Unvermeidbarkeil leichter Fahrlässigkeiten110 • Um bereits de lege lata zur Straflosigkeit leichter Fahrlässigkeitsformen zu kommen, muß Roxin nachweisen, daß sich die von ihm angestellten kriminalpolitischen Erwägungen dem Gesetz selbst entnehmen lassen111 . Gelingt dies, ist auf der Grundlage seiner Schuldkonzeption die Verantwortlichkeit und damit die Strafbarkeit geringfügiger Fahrlässigkeit ausgeschlossen.
106 Roxin, SchwZStr Bd. 104 (1987), S. 372; ders., ZStW Bd. 96 (1984), S. 654; ders., FS Arthur Kaufmann, S. 522. 107 So vor allem den entschuldigenden Notstand, z.B. Roxin, Kriminalpolitik, S. 33; ders., FS Bockelmann, S. 282; ders , AT 1, § 19 Rdm. 536. 108 Anwendungsgebiete sind der Erlaubnistatbestandsintum (Roxin, Kriminalpolitik, S. 34f.), der Rücktritt (ders., Kriminalpolitik, S. 35ff.; ders. , FS Heinitz, S. 251293), der Verbotsintum (ders., FS Henkel, S. 187; ders., FS Bockelmann, S. 288), der Notwehrexzeß (ders., FS Henkel, S. 189f.; ders., FS Schaffstein, S. 105-127; ders., ZStW Bd. 96 (1984), S. 656), der übergesetzliche entschuldigende Notstand (ders., FS Henkel, S. 194ff.), die Strafzumessung (ders, FS Schultz, S. 463ff.; ders. , FS Bruns, S. 183ff.)und § 20 StGB (ders., FS Bockelmann, S. 290ff.). 109 Roxin, SchwZStrBd. 104 (1987), S. 374; ders.,AT 1, § 24 Rdm. 85. 110 Roxin, FS Henkel, S. 193; ders. , AT 1, § 24 Rdm. 85. 111 Roxin, Kriminalpolitik, S. 48; ders., FS Henkel, S. 193; ders., AT 1, § 19 Rdm. 5; ders., FS Arthur Kaufmann, S. 522.
IV Geringfügigkeitsprinzip
129
2. Kritik an der Ansicht Roxins a) Grundsätzliche Bedenken
Roxins Verantwortlichkeitslehre hat von zwei Seiten Kritik erfahren. Sie wird sowohl von Autoren abgelehnt, die eine Auffüllung der Schuldkategorie durch Strafzweckerwägungen generell ablehnen112 als auch von denen, die die Schuld ganz in Strafzweckerwägungen aufgehen lassen wollen113 . Hier ist nicht der Ort, sich in grundsätzlicher Weise mit den Ansichten zur Neuinterpretation der Schuld auseinanderzusetzen114 . Statt dessen soll im folgenden gezeigt werden, daß die geringfügige Fahrlässigkeit selbst unter Zugrundelegung von Roxins Verantwortlichkeitslehre nicht de lege lata straflos sein kann. Nur zwei prinzipielle Bedenken gegenüber Roxins Schuldkonzeption seien hier erwähnt: Irritierend ist zunächst, daß sich bei Roxin keinerlei Aussagen darüber finden, welche kriminalpolitischen Maßstäbe vorrangig anzuwenden sind. Von ihm werden nicht nur spezial- und (negativ-) generalpräventive Aspekte herangezogen, sondern darüber hinaus auch solche der positiven Generalprävention115. Es droht die Gefahr, daß sich die präventive Argumentation in einer gewissen Beliebigkeit auflöst 116 . Hinsichtlich der Straflosstellung geringfügiger Fahrlässigkeit ist weiterhin problematisch, daß Roxin das geltende Recht unter Anwendung dem Gesetz vermeintlich zugrundeliegender präventiver Erwägungen des Gesetzgebers fortbilden will. Wenn der Gesetzgeber eine Fragestellung übersehen oder bewußt offengelassen hat, kann diese Methode sinnvoll sein. Bei der Regelung der Strafbarkeit fahrlässigen Verhaltens liegen die Dinge hingegen anders. Der Gesetzgeber ist bei der Reform des Strafrechts Ende der 60er Jahre den schon damals formulierten Entkriminalisierungsvorschlägen bewußt nicht gefolgt. Eine gesetzgeberische Entscheidung durch dem Gesetz vermeintlich zu entnehmende allgemeine Grundsätze korrigieren zu wollen, ist methodisch zweifelhaft.
112 Hirsch , ZStW Bd. 106 (1 994), S. 755il".; Sch!Sch!Lenckner, vor § 13ff Rdnr. 117 m.wN. 113 Jakobs, AT, 17/18 Fußn. 45; Streng, ZStW Bd. 101 (1991), S. 305. 114 Einen Überblick über den Meinungsstand geben z.B. Jakobs, AT, 17/18, Fußn. 45 ; Sch!Sch!Lenckner, vor §§ 13 Rdnr. 117. 11 5 Zuerst in Roxin, FS Bocke1mann, S. 305f; ders., SchwZStr Bd. 104 (1987), S. 374; ders., ZStW Bd. 96 (1 984), S. 654. Roxin übernimmt jedoch bewußt nicht die Sprache der Systemtheorie; dazu ders., FS Bocke1mann, S. 303 Fußn. 75. 116 Krit. dazu Streng, ZStW Bd. 101 ( 1991 ), S. 307.
9 Koch
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E. Tatbestandslosigk:eit fahrlässigen Verhaltens de lege lata?
b) Weitgehende Unanwendbarkeit des Geringfügigkeilsgedankens auf die Fahrlässigkeitsproblematik
In der Literatur wird versucht, das Geringfügigkeitsprinzip als allgemeines Rechtsprinzip aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit abzuleiten117. Die Straflosigkeit bestimmter tatbestandsmäßiger Handlungen soll sich aufgrund der ultima ratio bzw. der "Subsidiarität" des Strafrechts ergeben. Doch selbst wenn dieses Prinzip als allgemeiner Rechtsgrundsatz mit "tatbestandsaufbrechender"118 Funktion begrundet werden könnte, ließe sich die von Roxin gezogene Folgerung der Straflosigkeit leichter Fahrlässigkeitsformen nicht rechtfertigen. In der strafrechtlichen Literatur wird das Geringfügigkeitsprinzip regelmäßig auf den Erfolg bezogen119 . Auch Roxin selbst stellte bei seiner Herausarbeitung des Geringfügigkeitsprinzips als soziales Ordnungsprinzip darauf ab, "ob die Beeinträchtigung ernstlich ins Gewicht fällt" 120 . Später schied er durch einschränkende Interpretation solche Handlungen mit diesem Grundsatz aus dem Tatbestand aus, durch die das durch die jeweilige Bestimmung geschützte Rechtsgut nicht verletzt wird121 . Wegen seiner Erfolgsbezogenheit ist ein Rückgriff auf das Geringfügigkeitsprinzip bei leicht fahrlässigen Tötungen sowie schwerwiegenden Körperverletzungen auch bei geringem Handlungsunwert von vornherein ausgeschlossen122. Anwendung kann es nur dort finden, wo Handlungs- und Erfolgsunwert gering sind. Somit könnte unter Zugrundelegung des Geringfügigkeitsprinzips de lege lata allenfalls die Straflosigkeit leicht fahrlässig verursachter leichter Körperverletzung bejaht werden, nicht aber die von Roxin ursprunglieh aus ihm abgeleitete generelle Straflosigkeit leichter Fahrlässigkeitsformen.
OLG Hanun NJW 1980, S. 2537; Ostendoif, GA 1982, S. 342; Roxin, AT 1, § 2 Rdnr. 28ff.; Tiedemann, JuS 1970, S. 112; ders., Tatbestandsfunktionen, S. 211 . 118 Ostendoif, GA 1982, S. 334. 119 Z.B. Ostendoif, GA 1982, S. 342, 345; Roxin, AT 1, § 10 Rdnr. 40; auch OLG Harnm NJW 1980, S. 2557. 120 Roxin, JuS 1964, S. 377. 121 Roxin, AT 1, § 10 Rdnr. 41, spricht von einer "streng rechtsgutsbezogenen Betrachtung". Als Beispiel zieht er das vielzitierte Neujahrsgeschenk an den Postboten heran. Der § 331 StGB sei zwar seinem Wortlaut nach erfüllt, daß von der Norm geschützte Vertrauen der Bevölkerung in die Integrität der Beamtenschaft werde aber nicht verletzt, ders., ebd. , Rdnr. 40. 122 Krümpelmann, S. 94, 109, 128; Kunz, Bagatellprinzip, S. 207; Mylonopoulos, S. 57. 117
V. Unzumutbarkeit
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V. Straflosigkeit leichter Fahrlässigkeitaufgrund eines Unzumutbarkeitskriteriums? 1. Übersicht a) Stimmen for die Entkriminalisierung fahrlässigen Verhaltens aufgrunddes Unzumutbarkeitsgedankens
In jüngerer Zeit ist mit unterschiedlichen Begründungen wiederholt versucht worden, die Straflosigkeit der leichtesten oder geringfügigen Fahrlässigkeit über den Gedanken der Unzumutbarkeit zu begründen123 . Zuerst führte BurgstaUer diese Rechtsfigur für das Österreichische Strafrecht in die Diskussion ein, indem er mit dem "Schuldelement der Unzumutbarkeit" Fälle leichtester Fahrlässigkeit aus dem Strafbarkeitsbereich ausscheiden wollte124 . BurgstaUer verwies zur Begründung für dieses aus kriminalpolitischen Gründen für erforderlich gehaltene, gesetzlich jedoch nicht vorgesehene Ergebnis auf die erläuternden Bemerkungen des Gesetzgebers zu § 6 ÖStGB sowie auf das materiell zu verstehende Schuldprinzip125 . Zu einem ähnlichen Ergebnis kam wenig später Zip/ 26 . Ausgehend von der fahrlässigen Tötung kritisierte er den schematisierten und übersteigerten Fahrlässigkeitsmaßstab der Rechtsprechung 127 . Als Relikt eines einseitig erfolgsorientierten Strafrechtsverständnisses werde ein Unfall in rückblickender Betrachtung zu schnell als vermeidbar angesehen128 . Durch die stärkere Berücksichtigung der individuellen Zumutbarkeit bei der Prüfung des Sorgfaltspflichtverstoßes könne das Problem der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit bei ganz
123 Burgstaller, Fahrlässigkeitsdelikt, S. 201; Roxin, AT 1, § 24 Rdnr. 86, 119; Zipf, FS Würtenberger, S. 164f.; für die Straflosstellung leichterunbewußter Fahrlässigkeit über den Gedanken der Unzumutbarkeit auch Kntmme, ZfV Bd. 14 (1968), S. 123. 124 Burgstaller, Fahrlässigkeitsdelikt, S. 201 ; kürzer auch ders., ZVR Sonderheft 1978, S. 24; Burgstallerfo1gendKienapfel, § 81 Rdnr. 171; Triffterer, S. 307. 125 Burgstaller, Fahrlässigkeitsdelikt, S. 201. In den Bemerkungen des Österreichischen Gesetzgebers wurde hinsichtlich von Fehlleistungen im Rahmen gefahrgeneigter Arbeit kurz auf die Möglichkeit der Entschuldigung aufgrund von Unzumutbarkeit hingewiesen. 126 Zipf, FS Würtenberger, S. 164f. 127 Zipf, FS Würtenberger, S. 164. 128 Zipf, FS Würtenberger, S. 164.
9*
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E. Tatbestandslosigkeit fahrlässigen Verhaltens de lege lata?
leichten Versehen bis zum notwendigen Eingreifen des Gesetzgebers befriedigend im Sinne der Straffreiheit gelöst werden129 . Auch Roxin begründet in seiner jüngsten Auseinandersetzung mit der Fahrlässigkeitsproblematik die Straflosigkeit geringfügiger Fahrlässigkeit mit dem "Entschuldigungsgrund der Unzumutbarkeit" 130 . Auf der Grundlage seiner Lehre von der Verantwortlichkeit stellt er erneut fest, daß geringfügige Fahrlässigkeit zwar eine schuldhafte Handlung darstelle131 , es aber in solchen Fällen, zumindest für den Straßenverkehrsbereich und bei gefahrgeneigter Arbeit, an einem präventiven Strafbedürfnis und damit an der Verantwortlichkeit fehle132 .
b) Problematische Reaktivierung einer umstrittenen Rechtsfigur
Mit dem Verweis auf die Unzumutbarkeit wird auf eine umstrittene und dogmengeschichtlich äußerst belastete Rechtsfigur Bezug genommen, deren Inhalt auch heute noch weitgehend ungeklärt ist. Erstaunlich ist die Reaktivierung dieses schillernden Begriffs um so mehr, als daraus erhebliche Konsequenzen abgeleitet werden. Die praktischen Auswirkungen überträfen die Vorstellungen der Vordenker des Unzumutbarkeitsgedankens bei weitem. Während Freudenthai seinerzeit eine Entschuldigung aufgrund von Unzumutbarkeit nur in außergewöhnlich gelagerten Einzelfällen zulassen wollte133 , soll nun der zahlenmäßig bedeutende Bereich leichter Fahrlässigkeitsformen insgesamt aus dem Strafrecht herausgenommen werden. Die Problematik der Auffassungen von Burgstaller, Roxin und Zipf wird nur vor dem dogmenhistorischen Hintergrund deutlich, weshalb zunächst die Geschichte des Zumutbarkeitsgedankens skizziert werden soll. Um den Allwendungsbereich der Unzumutbarkeit zu veranschaulichen, wird dann auf die Fallgruppen innerhalb der Fahrlässigkeitsdelikte eingegangen, in denen diese Rechtsfigur auch heute noch diskutiert wird. Anschließend ist zu fragen, ob die leichte Fahrlässigkeit mit den von Rechtsprechung und Literatur herausge-
Zipf, FS Würtenberger, S. 165. Roxin, AT 1, § 24 Rdnr. 86. 131 Roxin, AT 1, § 24 Rdnr. 85. 132 Für Roxin, AT 1, § 24 Rdnr. 119, ist "das Verlangen einer lebenslänglichen maschinenhaften Präzision ... unzumutbar" . 133 Freudenthal, S. 18f. 129
130
V. Unzumutbarkeit
133
arbeiteten Anwendungsgebieten des Unzumutbarkeitsgedankens vergleichbar ist.
2. Die Unzumutbarkeit als allgemeiner übergesetzlicher Entschuldigungsgrund In den 20er und 30er Jahren wurde eine leidenschaftliche Diskussion über die Anerkennung der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens als allgemeiner Entschuldigungsgrund geführt134 . Bereits 1877 hatte Geyer die Zumutbarkeit in die Diskussion eingeführt135 , doch erst nachdem Frank in seinem berühmten Aufsatz "Über den Aufbau des Schuldbegriffs'" 36 die Schuld als Vorwerfbarkeit bezeichnet hatte, wurde dieser Gedanke erneut aufgenommen. Nach Freudentha/137 sollte die Vorwerfbarkeit und damit die Schuld bei Unzumutbarkeit entfallen. Der Täter müsse straflos bleiben, wenn die Nichtbegehung der Straftat in der konkreten Situation ein derartiges Maß an Widerstandskraft erfordert hätte, wie man es niemandem zumuten könne. Die Unzumutbarkeit als allgemeiner übergesetzlicher Schuldausschließungsgrund fand rasch Anhänger und dürfte Mitte der 20er Jahre herrschend gewesen sein138 . Bald mehrten sich jedoch die kritischen Stimmen139 . Nachdem das Reichsgericht140 , das zuvor teilweise für die Ausdehnung des Unzumutbarkeitsgedankens in Anspruch genommen worden war141 , ausdrücklich 134 Zusanunenfassend Henkel, FS Mezger, S. 251-266; Achenbach, Schuldprinzip, S. 143-1 62;Röwer, S. 120-156. 135 Geyer, S. 94; er empfand die gesetzlichen Bestimmungen über den Notstand als zu eng und wollte schon dort Straflosigkeit eintreten lassen, wo es bei einer Notlage nicht zurnutbar ist, aufMittel zur Abwehr zu verzichten. 136 Frank, FG jur. Fakultät Gießen, S. 519-547. 137 Freudenthal, S. 6, 10f. , 17. 138 Z.B. v. Liszt/Schmidt, 26. Autl , S. 283ff ; Mezger, Strafrecht, S. 373f. ; a.A ders. seit Grundriß, S. 102. 139 Ablehnend z.B. Drost, GA Bd. 77 (1 933), S. 175ff ; Grünhut, ZStW Bd. 51 (1931 ), S. 455fT; v. Hippe!, Deutsches Strafrecht, Bd. 2, S. 275; Kitzinger, JW 1933, S. 405fT; Liepmann, ZStW Bd. 43 (1922), S. 405fT; Maurach , Notstandslehre, S. 132; Schaffstein, Nichtzurnutbarkeit, S. 78. 140 RGSt 66,397(399). 141 So z.B. v. Liszt/Schmidt, 26. Aufl , S. 225 Nr. 5; Mezger, Strafrecht, S. 373; Goldschmidt, FG Frank, S. 452. Dabei stützte man sich auf Entscheidungen des
134
E. Tatbestandslosigkeit fahrlässigen Verhaltens de lege lata?
festgestellt hatte, daß es einen umfassenden Schuldausschließungsgrund der Unzumutbarkeit nicht anerkenne, verlor diese Lehre rasch an Boden. Gegen den Unzumutbarkeitsgedanken wurde geltend gemacht, im Gesetz seien die Fälle ausgeschlossener Schuld abschließend geregelt. Der Richter dürfe bei der Bewertung, was unzumutbar ist, nicht an die Stelle des Gesetzgebers treten142 . Es komme nicht darauf an, ob ein "Herr Jedermann" 143 einen Vorwurf erheben würde, sondern allein darauf, ob der Staat einen Schuldvorwurf erhebt. Letztlich führe die unbestimmte Zumutbarkeitsklausel144 zu einer "Verweichlichung staatsbürgerlicher Pflichten" 145 . In der Nachkriegszeit kam es nur zu vereinzelten Bestrebungen, die Unzumutbarkeit als allgemeinen Schuldausschließungsgrund aus dem "Dornröschenschlaf ... zu erwecken" 146 . Die Versuche, diesen Gedanken unter Berufung auf das Verfassungsgebot nulla poena sine culpa147 oder gar mittels einer analogen Anwendung des§ 242 BGB148 wiederzubeleben, sind zu Recht auf entschiedene Kritik gestoßen149 . Heute ist es nahezu einhellige Meinung, daß die Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens nicht als allgemeiner übergesetzlicher Schuldausschließungsgrund betrachtet werden kann150 . Wie schon in den 20er Jahren wird zur Begründung auf den Ausnahmecharakter der Entschuldigungsgründe verwiesen, die nicht analogiefahig seien 151 . Auch drohe anderenfalls die generalpräventive Wirkung des Strafrechts verloren zu Reichsgerichts zur Kuppelei, RGSt 58,97(98); RGSt 58,226(227) und zur Selbstbegünstigung, RGSt 60,101(103); RGSt 63,233(237). Dort wurde wegen Unzumutbarkeit von einer Strafbarkeit aus denjeweiligen Tatbeständen abgesehen. 142 Drost, GA Bd. 77 ( 1933), S. 180; Kitzinger, JW 1933, S 408; Schaffsie in, Nichtzumutbarkeit, S. 46ff. 143 Drost, GA Bd. 77 (1933), S. 181. 144 v. Hippe!, Deutsches Strafrecht, Bd. 2, S. 275; Drost, GA Bd. 77 (1933), S. 179f. 145 Liepmann, ZStW Bd. 43 (1922), S. 713. 146 Eh. Schmidt, SJZ 1949, Sp. 568. 147 Wittig, JZ 1969, S. 546ff. 148 Lücke, JR 1975, S. 55ft~ 149 Achenbach, JR 1975, S. 492ff.; Roxin, AT 1, § 22 Rdnr. 139ff.; Sch!Sch!Lenckner, vor §§ 32ff. Rdnr. 122; vernichtende Kritik kommt von Blei, JA 1969, S. 665 und JA 1975, S. 238, der im Zusammenhang mit Lückes Ausführungen von einem "Aprilscherz" spricht. 150 Z.B. Jescheck, AT, S. 454f.; Lackner, vor§ 32 Rdnr. 40; LK/Hirsch, vor§ 32 Rdnr. !84; Maurach/Zipf, AT 1, § 33 Rdnr. 15; Roxin, AT 1, § 22 Rdnr. 139ff.; Sch!Sch!Lenckner, vor §§ 32 Rdnr. 110; SK/Rudolphi, vor § 19 Rdnr. I 0; Statenwerth , AT, Rdnr. 603. 151 Jescheck, AT, S. 455.
V. Unzurnutbarkeit
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gehen152 . Außerdem fehle an einem brauchbaren Maßstab für die Unzumutbarkeit153, weshalb Rechtsunsicherheit154 sowie Kollisionen mit dem Gewaltenteilungsprinzip155, dem Gleichheitsgebot156 und dem Bestimmtheitsgrundsatz157 zu befürchten seien.
3. Die Unzumutbarkeit bei den Fahrlässigkeitsdelikten a) Der Anwendungsbereich des Unzumutbarkeitsgedankens bei den Fahrlässigkeitsdelikten Obwohl sich die Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens nicht als allgemeiner Entschuldigungsgrund durchsetzen konnte, ist es heute wie schon in den 20er Jahren158 ganz herrschende Meinung, daß der Unzumutbarkeitsgedanke bei fahrlässigen Delikten Anwendung findet 159 . Die Einzelheiten sind jedoch heftig umstritten. So besteht weder über den Anwendungsbereich der Unzumutbarkeit noch über ihre dogmatische Einordnung Einigkeit. Im folgenden werden die in der Literatur diskutierten Anwendungsbereiche des Unzumutbarkeitsgedankens kurz dargestellt. Dadurch soll jenseits des verwirrenden Streits über die Einzelfragen versucht werden, Gemeinsamkeiten der Fallkonstellationen herauszuarbeiten. Im Anschluß daran soll überlegt werden, ob die Unzumutbarkeit über die bisherigen Fallgruppen hinaus auch zur umfassenden Entkriminalisierung leichter Fahrlässigkeitsformen verwendet werden kann.
152 Jescheck, AT, S. 455; früher bereits Schaffstein, Nichtzurnutbarkeit, S. 41ff.; Maurach, Notstandslehre, S. 153. 153 Jescheck, AT, S. 455; SKJRudolphi, vor§ 19 Rdnr. 10. 154 SKJRudolphi, vor§ 19 Rdnr. 10. 155 Roxin, AT 1, § 22 Rdnr. 140. 156 Jescheck, AT, S. 455 . 157 Roxin, AT 1, § 22 Rdnr. 40. 158 Z.B. Freudenthal, S. 13-15; Grünhut ZStW Bd. 51 (1931 ), S. 467; v. Lisztl Schmidt, 26. Autl , S. 225 Nr. 5; Mezger, Strafrecht, S . 372f. 159 Jakobs, AT, 20/35ff.; Jescheck, AT, S. 539; LK/Hirsch, vor § 32 Rdnr. 195; Roxin, AT 1, Rdnr. 115fT.; Sch!Sch!Cramer, § 15 Rdnr. 204. Abgelehnt wird der Unzurnutbarkeitsgedanke bei der Fahrlässigkeit von AK/Zielinski, §§ 15,16 Rdnr. 134f.; Maurach!Gössel, AT 2, § 44 Rdnr. 42; Schünemann, JA 1975, S. 791.
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E. Tatbestandslosigkeit fahrlässigen Verhaltens de lege lata?
aa) Der "Leinenfängerfall" Im Mittelpunkt der Erörterungen zur Unzumutbarkeit steht in der Literatur nach wie vor der 1897 vom Reichsgericht entschiedene "Leinenfangerfall" 160 . Das Reichsgericht kam unter Berücksichtigung der Zwangslage des Handelnden zu einem Freispruch vom Vorwurf der fahrlässigen Körperverletzung. Es sei, so das Reichsgericht, "zu erwägen, ob es dem Angeklagten als Pflicht zugemutet werden konnte, eher dem Befehle seines Dienstherren sich zu entziehen, als durch die Benutzung des ihm zugewiesenen Pferdes zum Fahren bewußterweise die Möglichkeit der körperlichen Verletzung eines anderen zu setzen... " 161 . Bis heute ist die Lösung des Falles umstritten. So wird beispielsweise aufgrund der Unzumutbarkeit eine "behutsame Analogie" des § 35 StGB auf andere Rechtsgüter, wie etwa die Bedrohung der wirtschaftlichen Existenz, bejaht162. Andere Autoren lehnen die Anwendung des Unzumutbarkeitsgedankens auf den "Leinenfangerfall" ab163 , weil dies zu einer unzulässigen Erweiterung des § 35 StGB auf dort nicht genannte Rechtsgüter führe 164 . Statt dessen soll der Fall über das erlaubte Risiko 165 , eine Risikoabwägung166 , die 160 RGSt 30,25. Dort hatte ein Kutscher auf Befehl seines Dienstherrn ein Pferd, das die Fahrleine schon öfter während der Fahrt mit dem Schweif eingeklemmt hatte, an eine Droschke gespannt. Bei Bemühungen, die Leine freizubekommen, entsteht die Gefahr, daß die Pferde durchgehen und dadurch Menschen gefahrden. Dies sah der Kutscher voraus, widersprach dem Befehl aus Furcht um seine Stellung aber nicht. Es kam wie es kommen mußte: Der Leinenfänger kniff die Leine ein, die Pferde gingen durch und verletzten dabei einen Passanten. 161 RGSt 30,25(28); in RGSt 36,78(80), RGSt 36,334(341f.) und RGSt 58,27(30) wurde an diese Formulierung angeknüpft. 162 Roxin, AT 1, § 24 Rdnr. 116; vorher schon Stratenwerth, AT, Rdnr. 1132; i.E. auch Sch!Sch!Lenckner, vor§§ 32 Rdnr. 126. 163 Jakobs, AT, 20/38; ders., Studien, S. 147 Fußn. 19; SK!Samson, Anh. § 16 Rdnr. 36; angesichtsder Entscheidung des Gesetzgebers (BT-Drucks. IV, S. 161), andere als die in § 35 genannten Rechtsgüter nicht als notstandsfahig gelten zu lassen, erscheint mir diese Ansicht als zutretlend. 164 Jakobs, AT, 20/38; Maiwald, FS Schüler-Springorum, S. 477, 491 ; der Motivationsdruck könne nur bei der Strafzumessung berücksichtigt werden, so Maiwald, FS Schüler-Springorum, S. 487. 165 Jakobs, AT, 20/38; SK!Samson , Anh. § 16 Rdnr. 36; auch schon Scha.ffstein, Nichtzumutbarkeit, S. 77 (i.E. ablehnend); Maiwald, FS Schüler-Springorum, S. 49 1, prüft die Unzumutbarkeit bei der bewußten Fahrlässigkeit sowohl bei der Schuld als auch über das erlaubte Risiko auf der Unrechtsebene.
V. Unzumutbarkeit
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analoge Anwendung des § 34 StGB 167 oder die Annahme einer entschuldigenden Pflichtenkollision168 gelöst werden.
bb) Der "Bügeleisenfall" Die Unzumutbarkeitsproblematik wird häufig anhand eines von Nowakowski gebildeten Schulbeispiels erörtert169 . Eine Frau erhält beim Bügeln die Nachricht, daß es in der Kohlegrube, in der ihr Mann arbeitet, zu einem schweren Unglück kam. Sie eilt zur Unglücksstelle, ohne das Bügeleisen abzustellen, wodurch ein Brand verursacht wird. Auch zur Lösung dieses Falles findet sich ein breites Meinungsspektrum, wobei im Ergebnis ganz überwiegend die Straflosigkeit der Frau angenommen wird170 . Für manche Autoren liegt hier ein typischer Fall des Unzumutbarkeitsgedankens vor, weil an die Gefährdung fremder Rechtsgüter bei einer Erregung aus nachvollziehbaren und verständlichen Gründen nicht mehr gedacht werden kann 171 . Anders als beim "Leinenfängerfall" kommt es dem Handelnden wegen der Drucksituation überhaupt nicht in das Bewußtsein, daß er Rechtsgüter gefährdet.
166 LK!Hirsch, vor § 32 Rdnr. 195; Sch!Sch!Lenckner, vor §§ 32 Rdm. 126; Welzel, Deutsches Strafrecht, S. 183f. 167 AK/Zielinski, §§ 15,16, Rdnr. 134. 168 Maurach/Gössel, AT 2, § 44 Rdm. 50. 169 Nowakowski, JB1. 1953, S. 509; einen ähnlichen Fall bildetlakobs, AT, 20/36. 170 Anders Maurach/Gössel, AT 2, § 44, Rdm. 50; Straffreiheit soll nur unter den Voraussetzungen des § 20 StGB möglich sein; Härten könnten über das Strafmaß berücksichtigt werden. 171 Jakobs, Studien, S. 144f.; ders., AT, 20/36; SK!Samson, Anh. § 16 Rdnr. 36. Demgegenüber lehnen andere den Unzumutbarkeitsgedanken in Fällen unbewußter Fahrlässigkeit ab, so Eggert, S. 143fT.; Engisch, Vorsatz und Fahrlässigkeit, S. 443; lobst, S. 36. Die Unzumutbarkeit sei nur denkbar, wenn der Handelnde den Konflikt zwischen Rettungswunsch und normgemäßem Verhalten in sich austrägt.
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E. Tatbestandslosigkeit fahrlässigen Verhaltens de lege lata?
cc) Straßenverkehr Nach ständiger Rechtsprechung des Reichsgerichts172 und des Bundesgerichtshofs173 kann einem Kraftfahrer, der "in einer ohne sein Verschulden plötzlich auftretenden erheblichen Gefahrenlage, die sofortiges Handeln gebietet, irrfolge Schreckens, Verwirrung oder Überraschung außerstande ist, das richtige Mittel zur Abwendung der Gefahr zu ergreifen ... dieses Versagen nicht als Fahrlässigkeit angerechnet werden" 174 . Die Anforderungen an die Sorgfaltspflichten wären überspannt, wenn man das aufverständlicher Bestürzung beruhende objektive Fehlverhalten als Fahrlässigkeit bewerten würde175 . Ob eine Situation gegeben ist, in der ein Fahrlässigkeitsvorwurf entfallen kann, ist eine Einzelfallentscheidung. Von der Rechtsprechung wird ein strenger Maßstab angelegt, weil ein Verkehrsteilnehmer grundsätzlich verpflichtet ist, auch bei unvorhergesehenen Ereignissen angernessen zu reagieren176 . Eine Straflosigkeit kommt deshalb nur bei einem Fehlverhalten in Extremsituationen in Betracht177 . In der strafrechtlichen Literatur werden diese Entscheidungen vereinzelt mit der Unzurnutbarkeit begründet178 , während Rechtsprechung und verkehrsrechtliche Literatur nicht auf diesen Gedanken zurückgreifen. Statt dessen wird von fehlender Vorwerfbarkeit gesprochen179 oder einfach festgestellt, eine Fehlreaktion in solchen Situationen könne nicht als Fahrlässigkeit gewertet werden180 .
Z.B. RG VAE 1939, S. 70; RG VAE 1939, S. 128; RG VAE 1941 , S. 121 . Z.B. BGH VRS Bd. 6, S. 449; BGH VRS Bd. IO, S. 214; BGH VRS Bd. 23, S. 369; BGH VRS Bd. 33, S. 358; BGH VRS Bd. 34, S. 434; BGH VersR 1971, S. 909; BGH NJW 1976, S. 1504. 174 BGH VRS Bd. 10, S. 214. 175 BGH NJW 1976, S. 1504. 176 Cramer, Straßenverkehrsrecht, § 1 StVO Rdnr. 107; Jagusch!Hentschel, Ein!. Rdnr. 144. 177 Aus der umfangreichen Kasuistik nur BGH NJW 1976, S. 1504 (geplatzter Autoreifen); BGH VRS Bd. 33, S. 358; BGH VRS Bd. 26, S. 203; BGH VersR 1971, S. 909 Ueweils zum falschen Ausweichen vor einem plötzlich auftauchenden Hindernis). Weitere Beispiele bei Cramer, Straßenverkehrsrecht, § 1 StVO Rdnr. 108. 178 Jakobs, Studien, S. 150; LK!Hirsch, vor § 32 Rdnr. 195; Welzel, Deutsches Strafrecht, S. 183. 179 BGH VRS Bd. 26, S. 203, 205; Jagusch!Hentschel, Einl. Rdnr. 144. 180 BGH VRS Bd. 4, S. 91, 92; BGH VRS Bd. 10, S. 213, 214; BGH VRS Bd. 23, S. 368. 172 173
V. Unzumutbarkeit
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dd) Rechtsprechung aus der Nachkriegszeit Die Rechtsprechung ging nach dem Krieg nur in wenigen Entscheidungen auf den Unzurnutbarkeitsgedanken ein. Zumeist wurde der Begriff der Zurnutbarkeit in diesen Urteilen lediglich beiläufig und formelhaft bei der Bestimmung der zu verlangenden Sorgfalt erwähnt181 . Nur in zwei Entscheidungen finden sich etwas längere Ausführungen. Gerneinsam ist den zugrundeliegenden Sachverhalten, daß den Angeklagten in einer Ausnahmesituation eine objektive Sorgfaltspflichtverletzung, die zur Tötung bzw. Verletzung eines anderen führte, nicht zum Vorwurf gernacht wurde. In einem Fall182 drohte ein Fernfahrer wegen eines Bremsversagens auf ein Bundeswehrfahrzeug aufzufahren, was für ihn wahrscheinlich schwerste Verletzungen zur Folge gehabt hätte. Aufgrund von Zurnutbarkeitserwägungen, so das Gericht, durfte der Fahrer nach rechts in eine Tankstelleneinfahrt ausweichen, obwohl dadurch vorhersehbar Passanten gefährdet wurden. In dem Sachverhalt einer jüngeren Entscheidung183 erlitt ein Kraftfahrer in einer abgelegenen Gegend einen sogen. Spontanpneumothorax (plötzlicher Zusammenfall eines Lungenflügels). Hier entschied das BayObLG, daß es trotz der dadurch entstehenden Gefährdung des Straßenverkehrs unzurnutbar sei, die Weiterfahrt zu einem Arzt zu unterlassen.
b) Unübertragbarkeit des Unzumutbarkeitsgedankens auf Fälle leichter Fahrlässigkeit
Jenseits des Streits um die Lösung der Einzelfälle läßt sich eine Gemeinsamkeit aller in Rechtsprechung und Literatur zur Unzurnutbarkeit diskutierter Fallgruppen feststellen. In jeder der Konstellationen wird durch äußere Ereignisse Druck auf den Handelnden ausgeübt. Es besteht eine Extrernsituation, in der dem Täterangesichts einer unmittelbaren Bedrohung seines Lebens184 oder seiner wirtschaftlichen Existenz ein Fehlverhalten nachgesehen wird. In der Regel sind die Umstände bei leicht fahrlässigen Verhaltensweisen anders. 181 So z.B. in BGHSt 3,62(64); BGHSt 12,75(80); in OLG Hamm HESt 2, S. 283 und BGH MDR 1972, S. 570, geht es um die Sorgfaltsanforderungen von Arbeitern bei einem Fehlverhalten von übergeordneten Stellen. 182 OLG Frankfurt VRS Bd. 41, S. 32. 183 BayObLG VRS Bd. 79, S. 364. 184 1n Betracht kommt der Unzumutbarkeitsgedanke auch bei der Bedrohung des Lebens eines nahen Angehörigen.
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E. Tatbestandslosigkeit fahrlässigen Verhaltens de lege lata?
Hier handelt der Täter fehlerhaft, ohne dem Druck einer konkreten Gefahr ausgesetzt zu sein. Er verhält sich aufgrund eines individuellen Fehlers in einer Situation sorgfaltswidrig, obwohl ihm regelgerechtes Verhalten nicht durch äußere Umstände erschwert worden ist. Der Unzumutbarkeitsgedanke kann nur verwendet werden, um in Notsituationen oder bei einer "anormalen Beschaffenheit der äußeren Umstände" 185 zu einem gerechten Urteil zu kommen. Auf alltägliche Situationen, mit denen jeder Bürger konfrontiert wird, ist der Gedanke nicht übertragbar. Die generelle Herausnahme leichter Fahrlässigkeit könnte somit selbst dann nicht über den Rückgriff auf die Unzumutbarkeit erreicht werden, wenn sich dieser Gedanke als allgemeines Rechtsprinzip begründen ließe.
4. Die Unzumutbarkeit als regulatives Prinzip Ein weiteres Argument gegen die vorgeschlagene Straflosigkeit leichter Fahrlässigkeitsformen ergibt sich aus der Beantwortung der alten Streitfrage nach dem dogmatischen Standort der Unzumutbarkeit. Eine generelle Herausnahme leichter Fahrlässigkeit käme nur in Betracht, wenn die Unzumutbarkeit zumindest bei den Fahrlässigkeitsdelikten als übergesetzlicher Schuldausschließungsgrund anerkannt werden könnte. Während eine Reihe von Autoren dieser Qualifizierung zustimmt186 , wollen andere die Unzumutbarkeit auf der Ebene der subjektiven Sorgfaltspflicht prüfen187 . Vereinzelt wird auch für eine "doppelte Funktion" in Form einer nach Fallgruppen differenzierten dogmatischen Verortung eingetreten1ss . Jescheck, AT, S. 539. Baumann/Weber, AT, S. 455; Bocke/mann/Volk, AT, Rdnr. 168; Jakobs, AT, 20/36; Stratenwerth, AT, Rdnr. 301 ; Welzel, Deutsches Strafrecht, S. 193. Aus der Weimarer Zeit z.B. Grünhut, ZStW Bd. 51 (1931), S. 467; v. Liszt/Schmidt, 26. Aufl, S. 225 Nr. 5; Mezger, Strafrecht, S. 372f. 187 Burgstaller, Fahrlässigkeitsdelikt, S. 198; Henkel, FS Mezger, S. 282 (jedoch zusätzlich auch Anwendung auf die objektiven Sorgfaltspflichten); Jescheck, AT, S. 539; LKJHirsch, vor § 32 Rdnr. 194; BayObLG, VRS Bd. 79, S. 364; OLG Frankfurt, VRS Bd. 41, S. 35; OLG Hamm HESt Bd. 2, S. 283 . Aus der Weimarer Zeit z.B. Drost, GA Bd. 77 (1933), S. 182; Freudenthal, S. llf. 188 Sch!Sch!Cramer, vor§ 15 Rdnr. 204; Sch!Sch!Lenckner, vor§§ 32fT. Rdnr. 126; danach soll die Unzumutbarkeit bei der Konstellation des "Leinenfangerfalles" einen übergesetzlichen Schuldausschließungsgrund darstellen, ansonsten aber bei der Bestimmung der subjektiven Sorgfaltsanforderungen zu prüfen sein. Für eine doppelte Verankerung auchRoxin, AT l , § 24 Rdnr. 121. 185 186
VI. Funktionales Schuldverständnis
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Zuzustimmen ist der Ansicht, die in Anschluß an Henkel die Unzumutbarkeit als bloßes regulatives Prinzip betrachtet189 . Regulative Prinzipien sind völlig wertfrei und können folglich keinen Wertmaßstab für richterliche Entscheidungen bilden190 . Dem Richter bleibt es in gesetzlich nicht regelbaren Grenzbereichen überlassen, eine gerechte Einzelfallentscheidung herbeizuführen191. Ein Rückblick auf die Fallkonstellationen, in denen der Unzumutbarkeitsgedanke Anwendung findet, bestätigt diese Charakterisierung. Die Unzumutbarkeit dient als Aufforderung an den Richter, die subjektiven Sorgfaltsanforderungen in gewissenhafter Abwägung der besonderen Umstände zu konkretisieren. Weil die Unzumutbarkeit als inhaltsloses regulatives Prinzip zu verstehen ist, kann die allgemeine Straffreiheit leichter Fahrlässigkeitsformen nicht auf diesen Gedanken gestützt werden. Die Ansicht von Burgstaller, Roxin und Zipf ist somit im Ergebnis abzulehnen. Der Wille des Gesetzgebers, grundsätzlich jeden Grad bestimmter fahrlässiger Rechtsgutsverletzungen unter Strafe zu stellen, kann nicht durch die Reaktivierung der "Zauberformel"192 von der Unzumutbarkeit unterlaufen werden.
VI. Straflosigkeit leichter Fahrlässigkeitaufgrund eines funktionalen Schuldverständnisses? 1. Die Ansicht von Jakobs Jakobs kommt unter Anwendung seines funktionalen Schuldverständnisses193 zu einer Einschränkung der Strafbarkeit fahrlässigen Verhaltens nach 189 Henkel, FS Mezger, S. 249, 28lf.; Jescheck, AT, S. 455; Sch!Sch!Lenckner, vor §§ 32ff. Rdnr. 110 sowie vor§§ 13 Rdnr. 116; Watzka, S. 55; BayObLG, VRS Bd. 79, S. 364, 366; OLG Frankfurt, VRS Bd. 41, S. 32, 34. Früher auch Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, S. 115; ders., FS Henkel, S. 173. 190 Henkel, FS Mezger, S. 303; kritisch zur Wertfreiheit Eggert, S. 37; Frey, S. 40; Röwer, S. 21. 191 Henkel, FS Mezger, S. 303. ln Henkel, FS Mezger, S. 251. 193 Grundlegend Jakobs, Schuld und Prävention; auch ders., Willensfreiheit, S. 69ff.; ders, ZStW Bd. 101 (1989), S. 516; ders, AT, 17. Abschnitt; ders. , Schuldprinzip, S. 24ff
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E. Tatbestandslosigkeit fahrlässigen Verhaltens de lege lata?
geltendem Recht194 . Dieses Ergebnis wird erreicht, indem er bei fahrlässigen Erfolgsdelikten eine Konfliktverarbeitung durch Umdefinition des Geschehens in Unglück in Form des erlaubten Risikos für möglich hält195 . Könnten Erkenntnisse zur Risikovermeidung nur unter unverhältnismäßigem Aufwand gewonnen werden196 , so sei eine Strafe unnötig, weil bei solchen Konstellationen das Normvertrauen der Bevölkerung nicht verletzt werde. Jakobs' Ansicht wird erst vor dem Hintergrund seines funktionalen Schuldverständnisses deutlich.
a) Jakobs 'funktionaler Schuldbegriff Jakobs geht einen Schritt über Roxins Schuldkonzept hinaus. Anders als bei Roxin werden Zweckerwägungen und herkömmlich verstandene Schuld nicht in einer neuen Kategorie der Verantwortlichkeit gleichrangig nebeneinander gestellt. Indem die Schuld für Jakobs nur noch ein "Derivat der Generalprävention"197 ist, wird ihr Inhalt allein von ihrer Aufgabe abhängig gemacht198 . Zweck der Schuldzuschreibung sei die Stabilisierung des jeweiligen Systems durch positive Generalprävention199 . Durch die Strafe soll das allgemeine Normvertrauen erhalten und die Verbindlichkeit der Ordnung gegenüber den Bürgern bestätigt werden200 . Konsequenterweise sieht Jakobs als Adressaten einer so verstandenen Schuldstrafe nicht den Täter, sondern den "guten", "rechtstreuen" Bürger201 . Der Blick bei der Schuldbeurteilung richtet sich Jakobs, AT, 9/26. Jakobs, AT, 9126; auch ders., Schuld und Prävention, S. 25. 196 Jakobs, AT, 9/26. 197 Jakobs, Schuld und Prävention, S. 32. 198 Jakobs, AT, 17/18. 199 Den Begriff derpositiven Generalprävention übernahm Jakobs von Neumann, in: Neumann/Schroth , S. 33. Schon vorher bezeichnete das BVerfG die Erhaltung und Stärkung des Vertrauens in die Bestands- und Durchsetzungskraft der Rechtsordnung als "positiven Aspekt der Generalprävention", BVerfGE 45,187(256). hn 2. Abtreibungsurteil argumentierte das BVerfG ausdrücklich mit dem Strafzweck der positiven Generalprävention, BVerfGE 88,203(272). Der BGH zog der Sache nach Gedanken der positiven Generalprävention in BGHSt 24,40(44f.,50) und BGHSt 24,64(68f.) heran. 200 Jakobs, AT, 17/18; ders., Schuld und Prävention, S. 9; in Hinblick aufdie Prozesse zur "Bewältigung der Vergangenheit" betont Jakobs, daß Zweck der Strafe bereits die bloße Darstellung der Enttäuschung sein könne, Schuldprinzip, S. 24f. 201 Jakobs, ZStW Bd. 101 (1987), S. 51 6f. ; ders., Schuld und Prävention, S. 33. 194 195
VI. Funktionales Schuldverständnis
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nicht mehr zurück auf die Tat und den einzelnen Täter, sondern in die Zukunft und auf die gesamte Gesellschaft. Trotz des Festhaltens an dem Begriff "Schuld" bedeutet Jakobs' Neuinterpretation einen radikalen Bruch mit dem traditionellen Schuldverständnis202 . Mit seinem funktionalen Schuldverständnis wendet Jakobs die Systemtheorie Luhmanns auf den Bereich des Strafrechts an, wobei er sich dessen soziologischer Terminologie bedient203 : Durch die Verletzung eines Strafgesetzes werden Erwartungen der Bevölkerung enttäuscht. Diese Enttäuschung muß kompensiert werden, wozu Jakobi 04 im Anschluß an Luhmann 205 zwei Möglichkeiten der Enttäuschungsverarbeitung unterscheidet. Im Fall der sogen. "normativen Erwartungen" wird bei einem Normbruch von der Bevölkerung an der Erwartung der Normgeltung "kontrafaktisch" festgehalten, "indem das enttäuschende Verhalten als Fehler thematisiert wird"206 . Das Strafrecht hat dann die Aufgabe der Stabilisierung von Verhaltenserwartungen. Der Konflikt wird strafrechtlich erledigt, indem einem anderen die Normverletzung als schuldhaft zugerechnet wird207 . Die Strafe richtet sich allein danach, was zur Normstabilisierung notwendig iseos. Bei den sogen. "kognitiven Erwartungen" setzt der Enttäuschte dagegen bei sich an und ändert in einem Lernprozeß seine Erwartungen, indem er sie der Wirklichkeit anpaßt. Jakobs nennt hierfür als Beispief09 etwa den Vertrauensverlust in die Normgeltung, die Weigerung der Kenntnisnahme oder, was für die Fahrlässigkeitsproblematik von besonderer Bedeutung ist, die Definition des Ereignisses als Zufall210 .
202 Um diesen Bruch zu verdeutlichen, wollen Anhänger von Jakobs auf den Begriff der Schuld zukünftig verzichten, so z.B. Achenbach, Grundfragen, S. 151. 203 Krit. dazuRoxin, FS Bockelmann, S. 303 Fußn. 75. 204 Jakobs, Schuld und Prävention, S. 9f.; ders., AT, 1/Sf. 205 Luhmann, Rechtssoziologie, S. 42. 206 Jakobs, Schuld und Prävention, S. 10; ders. , Willensfreiheit, S. 72; vgl. Luhmann, Rechtssoziologie, S. 55. 207 Jakobs, Schuld und Prävention, S. 11; ders., Willensfreiheit, S. 73. 208 Jakobs, AT, 17/31 ; Jakobs, Schuld und Prävention, S. 33. 209 Zu den Beispielen Jakobs, AT, 1/13aff. ; ders., Schuld und Prävention, S. 9; ders. , Willensfreiheit, S. 72. 210 Jakobs, Schuld und Prävention, S. 25.
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E. Tatbestandslosigkeit fahrlässigen Verhaltens de lege lata?
b) Anwendung des funktionalen Schuldbegriffs auf die Entkriminalisierung leichter Fahrlässigkeit Jakobs hat seine Theorie zur Interpretation des geltenden Strafrechts entwickelt211 . Außerhalb der gesetzlichen Entschuldigungsgründe kommt für Jakobs nur dort eine Exkulpation in Betracht, wo eine anderweitige Verarbeitung des Konflikts möglich ist21 2 . Bei fahrlässiger Erfolgsherbeiführung hält Jakobs eine Strafe zur Festigung des Normvertrauens nur dort für sinnvoll und akzeptabel, wo die Herbeiführung einer Enttäuschung mit gutem Willen vermeidbar war213 . An dieser Stelle greift Jakobi 14 unter Berufung auf Stratenwerth das Argument von der praktisch nicht zu vermeidenden menschlichen Fehlerquote auf, wonach "niemand die Idealforderung ständiger gespanntester Aufmerksamkeit und raschester, zweckmäßigster Reaktion"215 verwirklichen könne. Als Kompensationsmöglichkeit verweist Jakobs auf die Verarbeitungsmechanismen bei kognitiven Erwartungen. Das Geschehen könne bei bestimmten Fahrlässigkeitsarten als Unglück in Form des erlaubten Risikos aufgefaßt werden216 . Erlaubtes Risiko liegt nach Jakobs dann vor, wenn ein sanktionsfreies Verhalten nur mit unverhältnismäßigem Aufwand vermieden werden kann217 . Unverhältnismäßig sei auch die Forderung nach Einhaltung der höchstmöglichen Sorgfalt, weil dieses Verlangen angesichts der praktischen Unvermeidbarkeil menschlichen Fehlverhaltens letztlich bedeuten würde, daß der Mensch seine ganze Energie zur Schadensvermeidung einsetzen oder auf Sozialkontakte verzichten müsse218 . Die Umdefinition in Unglück falle um so leichter, weil die Annahme eines erlaubten Risikos durch die Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten jedem einmal zu Gute kommen könne21 9 .
211 Jakobs, Schuld und Prävention, S. 32; ders. , Willensfreiheit, S. 74; ders., ZStW Bd. 101 (1989), S. 51 6. 212 Jakobs, Schuld und Prävention, S. 25 . 213 Jakobs, Schuld und Prävention, S. 24. 214 Jakobs, AT, 9/26. 215 Stratenwerth, AT, Rdnr. 1137; ders., BaslJurMitt 1966, S. 67. 216 Jakobs, Schuld und Prävention, S. 25. 217 Jakobs, Schuld und Prävention, S. 25; ders., AT, 9/26. 218 Jakobs, AT, 9/26. 219 Jakobs , AT, 9/35.
VI. Funktionales Schuldverständnis
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2. Kritik an der Ansicht von Jakobs a) Immanente Kritik
Die Richtigkeit von Jakobs' Ansicht ist schon bei Zugrundelegung seines Schuldkonzepts zweifelhaft. Jakobs geht davon aus, daß in Fällen leichter Fahrlässigkeit eine außerstrafrechtliche Enttäuschungsverarbeitung durch die Bevölkerung möglich ist, ohne daß das Normvertrauen darunter leidet. Es bleibt bei dieser These, die weder durch empirische Nachweise noch durch Untersuchungen zur Konfliktverarbeitung bei fahrlässigen Rechtsgutsverletzungen belegt wird. Ob die Bevölkerung in allen Fällen leicht fahrlässigen Handeins eine Straflosigkeit hinnehmen würde, ist gerade bei einem gravierenden Erfolgsunwert nicht sicher. Hinter Jakobs'anspruchsvoller Argumentation verbirgt sich letztendlich nur eine Vermutung über die "Einstellungen der Bevölkerung". Dieses in der Reformdiskussion zur Fahrlässigkeitsstrafbarkeit zur Untermauerung fast jeden Standpunktes bemühte Argument220 ist wegen seiner Unbestimmtheit schon rechtspolitisch von geringem Wert. Zur Straflosstellung leichter Fahrlässigkeitsgrade de lege lata kann es nicht verwendet werden.
b) Grundsätzliche Kritik
Mit der empirischen Nachweisbarkeil des zur Stabilisierung des Normvertrauens Notwendigen ist zugleich die "Gretchenfrage" 221 für den funktionalen Schuldbegriff angesprochen. Wird die Schuldzuschreibung von gesellschaftlichen Erwartungen und Vorstellungen abhängig gemacht, ohne daß diese auch nur ansatzweise verifiziert werden können222 , so ist ein funktionales Schuldverständnis für die Strafrechtsdogmatik wertlos223 . Diesem Einwand kann nicht durch die Behauptung entgangen werden, die gesamte allgemeine Siehe dazu G. IV. 3. a). Bock, ZStW Bd. 103 (1991), S. 654. 222 Zu den Schwierigkeiten empirischer Erforschung der Wirkungen positiver Generalprävention und zum bisherigen lückenhaften Forschungsstand Dölling, ZStW Bd. 102 (1990), S. 3, 8, 18f.; Schünemann, Grundfragen, S. 180. 223 AK!Schild, vor § 13 Rdnr. 40 sowie §§ 20,21 Rdnr. 73; Bock, ZStW Bd. 103 (1991), S. 654, 656; Hörnle/v. Hirsch, GA 1995, S. 262; Kim, Y.-W., S. 98; Roxin, SchwZStr Bd. 104 (1987), S. 366; ders., AT 1, § 19 Rdm. 33; Schünemann, Grundfragen, S. 180. 220
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10 Koch
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E. Tatbestandslosigk.eit fahrlässigen Verhaltens de lege lata?
Strafrechtstheorie sei empirisch nicht abgesichert224 , weshalb aus einem allgemeinen Defizit kein Argument gegen ein funktionales Schuldverständnis gefolgert werden könne225 . Dabei wird übersehen, daß es in der Praxis immerhin möglich ist, sich mittels Psychiatrie und Psychiologie der herkömmlich verstandenen Schuld des Einzeltäters anzunähern, während die Erfordernisse der Vertrauensstabilisierung völlig unbekannt sind. Bisher wurde noch nicht einmal der Versuch unternommen, praktikable Richtlinien für die Anwendung des funktionalen Schuldverständnisses zu entwickeln226 . Die Gefahr einer Schuldzuschreibung auf Basis der positiven Generalprävention liegt, wie sich auch bei der Fahrlässigkeitsproblematik zeigt, in der Beliebigkeit des Ergebnisses227 . So gleichen "die Erwartungen der Bevölkerug" in der Lehre von Jakobs dem berühmten Zauberhut der Naturrechtslehre, aus dem man bekanntlich das herausholt, was man zuvor hineingelegt hae28 . Gegen Jakobs' Schuldverständnis werden außerdem verfassungsrechtliche Bedenken wegen der "totalen Instrumentalisierung des Individuums"229 erhoben230 . Auf den Täter kommt es bei der Schuldzuschreibung nach dieser "sozialtechnologischen Theorie"231 nicht mehr an; statt dessen wird seine "Schuld" ausschließlich nach fremden gesellschaftlichen Bedürfnissen bemessen, weshalb ein Verstoß gegen die Menschenwürde naheliegt. Anknüpfend hieran wird als weiterer Kritikpunkt die Gefahr der Schrankenlosigkeit, des Mißbrauchs und der "völligen Manipulierbarkeit" 232 durch eine funktionale So Achenbach, Gnmdfragen, S. 143; Streng, ZStW Bd. 101 (1989), S. 293. Achenbach, Gnmdfragen, S. 143. 226 Auch Streng, ZStW Bd. 101 (1989), S. 297, räumt die bisher fehlende Diskussion um praktisch handhabbare Kriterien einer Schuldzuschreibung mittels eines funktionalen Schuldverständnisses ein. 227 Bock, ZStW Bd. 103 (1991 ), S. 636, spricht in Bezug auf die positive Generalprävention von "präventiver Phraseologie", hinter der sich jedwede kriminalpolitische Wertungen verbergen können. 228 Vgl. Kim, Y.-W., S. 29. 229 Roxin, SchwZStrBd. 104 (1987), S. 365. 23°Kim, Il-Su, S. 382; Kunz, ZStW Bd. 98 (1986), S. 827; Otto, GA 1981 , bes. S. 491 , 494; Roxin, SchwZStr Bd. 104 (1987), S. 365; ders., AT 1, § 19 Rdnr. 33; Schünemann, Grundfragen, S. 171. Jakobs, ZStW Bd. 101 (1989), S. 536; ders., AT 1, 17118 Fußn. 4 5, erwidert gegen dieses Argument lediglich, daß ein Verfassungsverstoß schon deshalb nicht vorliegen könne, weil er mit seinem Schuldverständnis nur das geltende Strafrecht beschreibe. Der Vorwurf der Instrumentalisierung treffe nicht, weil es ihm nur um die Deskription der Funktionsbedingungen von Gesellschaft ginge, so Jakobs, Schuldprinzip, S. 30. 231 Schünemann, Japan, S. 159. 232 Hirsch, ZStW Bd. 106 (1994), S. 753. 224
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VI. Funktionales Schuldverständnis
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Schuldzuschreibung angeführt233 . Stellt man ausschließlich auf die positive Generalprävention ab, so lassen sich eine Vielzahl von Maßnahmen denken, die trotz ihrer Inhumanität sehr gut geeignet sind, das allgemeine Normvertrauen zu festigen. Gedacht werden könnte beispielsweise an die Bestrafung Schuldloser, Sippenha:ft, Exempelstrafen oder auch - als argurnenturn ad absurdum - an inszenierte, über das Fernsehen verbreitete, Musterprozesse234 . Diese Auswüchse lassen sich nur vermeiden, wenn das Schuldprinzip mit seiner Schutzfunktion für den Täter erhalten bleibe35 . Als weiterer Einwand gegen das alleinige Abstellen auf die positive Generalprävention bei der Schuldzuschreibung läßt sich geltend machen, daß dadurch die beabsichtigte Stabilisierung des Normvertrauens gerade nicht erreicht wird. Die positive Generalprävention nach Jakobs' Verständnis kann nur funktionieren, wenn die Bürger über den eigentlichen Zweck der Strafe getäuscht werden. Sobald die Bevölkerung erfährt, daß eine Strafe nicht mehr auf Grundlage eines individuellen Schuldurteils, sondern aufgrund vager gesellschaftlicher Bedürfnisse erfolgt, dürfte dies zu einer Destabilisierung des Normvertrauens führen236 . Während bei der negativen Generalprävention die Strafe zu Lasten des Täters wenigstens unter Offenlegung der Ziele instrumentalisiert wird, kann die positive Generalprävention, wenn überhaupt, nur unter Verheimlichung der wahren Motive der Strafverhängung funktionieren237 . Mit der Ablehnung eines ausschließlich funktionalen Schuldverständnisses ist Jakobs' These von der Straflosigkeit bestimmter Fahrlässigkeitsgrade nach Kunz, ZStW Bd. 98 (1986), S. 837; Arthur Kaufmann, FS Wassermann, S. 895; ders., JurA 1986, S. 226, 229; SK/Rudolphi, vor§ 19 Rdnr. Ia. Streng, ZStW Bd. 101 (1990), S. 292ff. und Achenbach, Grundfragen, S. 143, wenden ein, daß nur eine als gerecht empfundene Strafe von den Bürgern akzeptiert wird, weshalb Strafexzesse ausgeschlossen seien. Abgesehen davon, daß auch unterhalb eines Exzesses zu harte Strafen verhängt werden können, kann ich das Vertrauen auf das schwankende Gerechtigkeitsempfmden der Bevölkerung nicht teilen. 2 ~ 4 AK!Schild, vor § 13 Rdnr. 41. 2 ~ 5 Hirsch , ZStW Bd. 106 (1994), S. 753; Kim, 11-Su, S. 381 ; Roxin, SchwZStr Bd. 104 (1987), S. 366; ders. , AT I,§ 19 Rdnr. 33; Schünemann, Grundfragen, S. 175; ders. , Japan, S. 158; SK/Rudolphi, vor§ 19 Rdnr. Ia; Sch!Sch!Lenckner, vor§ 13 Rdnr. 117. 236 Baurmann, GA 1994, S. 384; Bock, ZStW Bd. 103 (1991), S. 651, 653; ders., JuS 1994, S. 97; Arthur Kaufmann, FS Wassermann, S. 891; Kunz, ZStW Bd. 98 (1986), S. 827; Prittwitz, S. 235; Roxin, SchwZStr Bd. 104 (1987), S. 366; ders. , AT I, § 19 Rdnr. 33. 237 Hömle/v. Hirsch, GA 1995, S. 269, sprechen in diesem Zusammenhang vom "Zynismus der Theorie der positiven Generalprävention". 233
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E. Tatbestandslosigkeit fahrlässigen Verhaltens de lege lata?
geltendem Recht das Fundament genommen. Jakobs' Argumentation kann somit lediglich als Anregung für eine zukünftige gesetzliche Regelung dienen. De lege lata ist es nicht möglich, die überdehnte Fahrlässigkeitsstrafbarkeit durch ein funktionales Schuldverständnis zu korrigieren.
VII. Straflosigkeit leichter Fahrlässigkeit aufgrund des Satzes in dubio pro reo? 1. Der Ansatz von Stratenwerth
Stratenwerth plädierte als erster Autor in der neueren Reformdiskussion für die Straflosigkeit der leichten Fahrlässigkeit nach geltendem Reche38 . Ihm kommt darüber hinaus das Verdienst zu, denAnstoß zu einer mit kriminalpolitischen Argumenten geführten Auseinandersetzung um die Fahrlässigkeitsstrafbarkeit gegeben zu haben. Während zuvor die abstrakte Frage nach dem Schuldgehalt der unbewußten Fahrlässigkeit im Mittelpunkt des Interesses stand, verlagerte sich der Diskussionsschwerpunkt seither auf die Herausnahme bestimmter Fahrlässigkeitsgrade aus dem Strafrecht.
Der Ausgangspunkt von Stratenwerths Überlegungen war kriminalpolitische Kritik an der zu schnellen Verhängung von Fahrlässigkeitsstrafen im Verkehrsbereich. Die Ahndung leichter Fahrlässigkeit sei nicht nur spezialund generalpräventiv unnötig239 , sondern sogar schädlich, weil dadurch die Ausbildung sozialethischer Werturteile im Verkehrsstrafrecht verhindert werde240 . Eine Verurteilung aufgrund einer leichten Fahrlässigkeit im Straßenverkehr werde als ein "Schicksalsschlag" empfunden, der jeden treffen könne241 . Damit werde die generalpräventive Eindruckskraft der Strafe entwertee42 . Die Strafdrohung könne nur gegen leichtfertiges, rücksichtsloses oder gleichgültiges Verhalten wirken, nicht aber gegen Fehler, die auch einem gewissenhaften Autofahrer trotz Konzentration unterlaufen können. Hier sei das Strafrecht machtlos, weil sich Unfehlbarkeit nicht erzwingen lasse243 . 238 Stratenwerth, BaslJurMitt 1966, S. 59ff.; ders., AT, 1. Aufl. 1971, Rdnr. 1209ff.; zuletzt ders., AT, 3. Aufl. 1980, Rdnr. 1135ff. 239 Stratenwerth, BaslJurMitt 1966, S. 72. 240 Stratenwerth, BaslJurMitt 1966, S. 67, 59; ders., AT, Rdnr. 1140. 241 Stratenwerth, Bas1JurMitt 1966, S. 67. 242 Stratenwerth, BaslJurMitt 1966, S. 67; ders., AT, Rdnr. 1140. 243 Stratenwerth, BaslJurMitt 1966, S. 73; ders., AT, Rdnr. 1140.
vn. In dubio pro reo
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Dogmatisch will Stratenwerth die Straflosigkeit leichter Fahrlässigkeit de lege lata erreichen, indem er den Grundsatz in dubio pro reo auf die Frage anwendet, ob der Erfolg in der konkreten Situation für den Täter vermeidbar war244 . Im nachhinein ließe sich nicht mehr feststellen, ob ein Unfall auf vermeidbare Nachlässigkeit zurückgehe oder auf Fehler, dietrotzaller guten Vorsätze durch keine Anstrengung ganz auszuschließen seien245 . Ein solcher praktisch unvermeidbarer Fehler könne nicht als schuldhafte Handlung zugerechnet werden. Weil der Zweifel an der Vermeidbarkeit des Fehlers nicht zu beheben sei, zwinge der Grundsatz in dubio pro reo dazu, die Schuldform der leichten Fahrlässigkeit aus dem Strafrecht zu verabschieden246 .
2. Kritik
Stratenwerths kriminalpolitische Argumente zur fehlenden Strafwürdigkeit der leichten Fahrlässigkeit sind häufig übernommen worden247 . Im Gegensatz dazu hat sein Rückgriff auf den Grundsatz in dubio pro reo wenig Beachtung248 und keine Zustimmung gefunden249 . Grundlage für Stratenwerths in dubio Schluß ist die Annahme, daß auch der praktisch unvermeidbare Fehler nicht als schuldhafte Handlung betrachtet werden könne. Regelmäßig sind jedoch selbst solche Fehler vermeidbar, die auch der Gewissenhafteste einmal begehen kann. In der konkreten Situation ist die Unaufmerksamkeit schuldhaft, auch wenn die Wahrscheinlichkeit dafür spricht, daß anderen ähnliche Fehler unterlaufen250 . Die statistische Häufigkeit eines Fehlers sowie die Möglichkeit, daß jeder eine ähnliche Unaufmerk-
Stratenwerth, BaslJurMitt 1966, S. 71 ; ders., AT, Rdnr. 1139. Stratenwerth, BaslJurMitt 1966, S. 66; ders., AT, Rdnr. 1138. 246 Stratenwerth, BaslJurMitt 1966, S. 71 ; ders., AT, Rdnr. 1139. 247 Vgl. nur Cramer, DAR 1974, S. 322; Jakobs, AT, 9/26; Roxin, FS Henkel, S. 193;Roxin, AT 1, § 24 Rdnr. 85; Sch!Sch!Cramer, § 15 Rdnr. 195; Schünemann, JA 1975, S. 792. 248 Knappe Stellungnalunen finden sich bei Roxin, ZStW Bd. 84 (1972), S. 1014; ders., FS Henkel, S. 193 Fußn. 81 und Volk, GA 1976, S. 176f. 249 Schünemann, JA 1975, S. 792, stimmt nur dem Ergebnis Stratenwerths zu, ohne jedoch auf dessen Begründung einzugehen. 250 Ähnlich Roxin, FS Henkel, S. 193 Fußn. 81 . 244 245
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E. Tatbestandslosigk.eit fahrlässigen Verhaltens de lege lata?
samkeit begehen kann, sagt nichts über die Unvermeidbarkeil in der konkreten Situation aus251 . Stratenwerths Konstruktion ließe sich nur aufrechterhalten, wenn der Satz in dubio pro reo auf die Frage angewendet würde, ob das leichte Versehen nicht auf einer "Blockierung" beruhte, während derer, wie psychologische Forschungen ergeben haben, das Fehlverhalten tatsächlich unvermeidbar ist252 . Doch selbst mit dieser Modifikation müßte der Ansatz von Stratenwerth abgelehnt werden. Bedenken bestehen schon deshalb, weil er den Zweifelssatz in das materielle Recht überträgt253 , indem sämtliche Fälle leichter Fahrlässigkeit durch seine Anwendung aus dem Strafrecht heraugenommen werden sollen. In dubio pro reo kann jedoch erst dann zum Einsatz kommen, wenn das Gericht in einem Strafverfahren alle Beweismittel erschöpft und gewürdigt hae 54 . Problematisch ist außerdem, daß Stratenwerth in dubio pro reo anwenden will, weil "der Zweifel an der Vermeidbarkeil des Fehlers ... nicht zu beheben (ist, A.K.)"255 . Wenn tatsächlich nie geklärt werden könnte, ob eine vermeidbare Nachlässigkeit vorlag oder nur ein Fehler, der trotz aller Anstrengung immer geschehen kann, so würde in dubio pro reo auf einen unaufklärbaren Umstand bezogen. Der Zweifelssatz kann jedoch nur herangezogen werden, wenn es grundsätzlich, nicht aber in der konkreten Situation möglich ist, einen Sachverhalt aufzuklären256 . Bei unaufklärbaren Umständen kann eine Lösung nur durch eine vorher erfolgte Wertung gewonnen werden257 . Stratenwerths Vorschlag hat somit zu Recht keine Anhänger gefunden. Durch die Anwendung des Satzes in dubio pro reo ist die Herausnahme jeder leichten Fahrlässigkeit aus dem Strafrecht nicht möglich.
251 Eine andere Frage ist der kriminalpolitische Sinn der Strafe für fehlerhafte Handlungen, die jedem unterlaufen können. Dieses Problem kann nur de lege ferenda gelöst werden. 252 Vgl. dazu C. Ill. 2. 253 ÄhnlichRoxin, FS Henkel; ders., ZStW Bd. 84 (1972), S. 1014. 254 KJ