Zur strafrechtlichen Beurteilung der Rettungsfolter [1 ed.] 9783428520565, 9783428120567

Im Zentrum der Arbeit steht die Frage, ob die Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Herbeiführung einer Aussage durch einen

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German Pages 213 Year 2006

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Zur strafrechtlichen Beurteilung der Rettungsfolter [1 ed.]
 9783428520565, 9783428120567

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Schriften zum Strafrecht Heft 173

Zur strafrechtlichen Beurteilung der Rettungsfolter Von

Georg Wagenländer

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

GEORG WAGENLÄNDER

Zur strafrechtlichen Beurteilung der Rettungsfolter

Schriften zum Strafrecht Heft 173

Zur strafrechtlichen Beurteilung der Rettungsfolter

Von

Georg Wagenländer

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Die Bucerius Law School hat diese Arbeit im Herbsttrimester 2005 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 3-428-12056-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Herbsttrimester 2005 von der Bucerius Law School als Dissertation angenommen. Die mündliche Prüfung fand am 14. Oktober 2005 in Hamburg statt. Mein herzlicher und tiefer Dank gilt meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Hans Kudlich. Bereits während meines Studiums an der Universität Würzburg wurde er mir ein Mentor und Förderer, der mein Interesse an der Materie des Strafrechts durch seine ständige Diskussionsbereitschaft in hohem Maße gefördert hat. Die Entstehung dieser Arbeit unterstützte er in einer Weise, wie man sie sich als Doktorand nicht besser wünschen kann. Dass ich nun sein erster „fertiger“ Doktorand bin, ist mir eine große Ehre. Ich danke weiterhin Herrn Professor Dr. Michael Fehling, LL.M. (Berkeley) für die Erstellung des Zweitgutachtens, dem ich noch manchen wertvollen Hinweis für die Drucklegung entnehmen konnte. Dank schulde ich auch Herrn Professor Dr. Dieter Blumenwitz, der – kurz vor Fertigstellung der Arbeit – am 2. April 2005 viel zu früh verstarb. Während meiner Zeit als studentische Hilfskraft an seinem Lehrstuhl lernte ich Herrn Blumenwitz als jemanden kennen, der aufgrund seiner offenen und herzlichen Art viele Menschen für sich gewinnen konnte. Seine Studenten und Mitarbeiter unterstützte er jederzeit. Auch während der Erstellung der vorliegenden Arbeit konnte ich stets auf ihn zählen. Ich danke der Konrad-Adenauer-Stiftung für die Gewährung eines Studienstipendiums und der Hanns-Seidel-Stiftung für die Gewährung eines Promotionsstipendiums, durch welches die Erstellung dieser Arbeit maßgeblich gefördert wurde. Großen Dank schulde ich meinen Eltern, die mich während meines Studiums und der Erstellung der vorliegenden Arbeit jederzeit uneingeschränkt unterstützt haben. Zuletzt danke ich Robert für die gemeinsame Zeit in München. München, im Oktober 2005

Georg Wagenländer

Inhaltsübersicht Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

Erster Teil Rechtfertigung aufgrund hoheitlicher Eingriffsbefugnisse

29

A. Zum Verhältnis öffentlichrechtlicher Ermächtigungsnormen zum Strafrecht . .

29

B. Polizeirechtliche Eingriffsbefugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

C. Eingriffsbefugnisse aus Regelungen außerhalb des Polizeirechts . . . . . . . . . . . .

78

Zweiter Teil Rechtfertigung aufgrund strafrechtlicher Erlaubnisnormen A. Anwendungsbereich der strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe . . . . . . . . . . . . .

93 93

B. Tatbestandliche Voraussetzungen der strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe . . 113 C. Höherrangige Vorgaben und Grenzen für die strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Zusammenfassung und Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 Sachwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210

Inhaltsverzeichnis Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

A. Zur Aktualität des Themas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

B. Zum Begriff der Rettungsfolter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

C. Zur Zielsetzung der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

Erster Teil Rechtfertigung aufgrund hoheitlicher Eingriffsbefugnisse A. Zum Verhältnis öffentlichrechtlicher Ermächtigungsnormen zum Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Hoheitliche Eingriffsgrundlagen als Rechtfertigungsgründe im Strafrecht . 1. Die Lehre vom einheitlichen Begriff der Rechtswidrigkeit . . . . . . . . . . . 2. Die Lehre vom rechtsgebietsspezifischen Begriff der Rechtswidrigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Landesrechtliche Eingriffsbefugnisse als Rechtfertigungsgründe im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zur Möglichkeit eines Eingriffs in das Bundesstrafrecht durch landesrechtliche Eingriffsbefugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Legitimation landesrechtlicher Eingriffsbefugnisse durch eine ungeschriebene Ermächtigungsgrundlage im Bundesstrafrecht . . . . . . . . . . . . B. Polizeirechtliche Eingriffsbefugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Aufgabeneröffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Dualismus von Gefahrenabwehr und Strafverfolgung in Entführungsfällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die „Gefahr“ in Entführungsfällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Polizeirechtliche Befugnisnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Befugnis zur unverbindlichen Befragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gesetzlich geregelte Auskunftspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Anknüpfung der Auskunftspflicht an die Befugnis zur Befragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Anknüpfung der Auskunftspflicht an die polizeirechtliche Verantwortlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Unterscheidung zwischen personenbezogenen und sachbezogenen Angaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Sachbezogene Auskunftspflichten bei Vorliegen einer Gefahr

29

29 30 30 31 33 33 36 37 38 38 41 43 44 46 47 47 48 48

10

Inhaltsverzeichnis bb) Sachbezogenen Auskunftspflichten bei Bestehen einer gesetzlichen Handlungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Zum Begriff „gesetzliche Handlungspflicht“ . . . . . . . . . . . . (2) Die einzelnen gesetzlichen Handlungspflichten des mutmaßlichen Entführers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Nichtanzeige geplanter Straftaten (§ 138 StGB) . . . . . (b) Unterlassene Hilfeleistung (§ 323c StGB) . . . . . . . . . . (c) Ingerenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Grenzen der Auskunftspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Uneingeschränktes Aussageverweigerungsrecht des Beschuldigten b) Eingeschränktes Aussageverweigerungsrecht des Beschuldigten . . . c) Kein Aussageverweigerungsrecht des Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . d) Folgen einer Auskunftsverpflichtung für das Strafverfahren . . . . . . III. Anwendbarkeit unmittelbaren Zwangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zur Möglichkeit einer teleologischen Reduktion der Vorschriften über das Verbot unmittelbaren Zwangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Argumentation Bruggers für den Einsatz der Rettungsfolter in Entführungsfällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Zulässigkeit der Rettungsfolter nach Polizeirecht . . . . . . . . . . . . b) Die Vereinbarkeit der Rettungsfolter mit dem Grundgesetz . . . . . . . c) Die Überprüfung der Rettungsfolter anhand völkerrechtlicher Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Stellungnahme zu der Argumentation Bruggers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Fehlen einer Regelungslücke in den Polizeigesetzen . . . . . . . . . . . . . b) Erfordernis einer klaren Regelung der Voraussetzungen des Verwaltungszwangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Systematische Einwände aus den verschiedenen Ebenen polizeilichen Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

C. Eingriffsbefugnisse aus Regelungen außerhalb des Polizeirechts . . . . . . . . . I. Eingriffsbefugnisse auf verfassungsrechtlicher Grundlage . . . . . . . . . . . . . . II. Eingriffsbefugnisse aufgrund strafrechtlicher Rechtfertigungsgründe . . . . . 1. Entstehungsgeschichtliche Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Begrenzung staatlicher Gewalt als ursprüngliche Normfunktion der §§ 32, 34 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zur Entstehungsgeschichte des § 34 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verfassungsrechtliche Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) §§ 32, 34 StGB und das Bestimmtheitsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) §§ 32, 34 StGB und der Vorbehalt des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . c) §§ 32, 34 StGB und die bundesstaatliche Kompetenzverteilung . . .

49 50 53 54 54 55 58 59 60 61 62 65 66 68 68 70 72 74 75 75 76 77 78 79 83 85 85 87 87 88 90 91

Inhaltsverzeichnis

11

Zweiter Teil Rechtfertigung aufgrund strafrechtlicher Erlaubnisnormen A. Anwendungsbereich der strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe . . . . . . . . . I.

Zur Frage der Anwendbarkeit strafrechtlicher Rechtfertigungsgründe auf Amtsträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zur Notwendigkeit eines rechtsgebietsspezifischen Rechtswidrigkeitsbegriffs aufgrund teleologischer Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zur Notwendigkeit eines rechtsgebietsspezifischen Rechtswidrigkeitsbegriffs aufgrund formaler Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Fehlende Befugnis der Landesgesetzgeber zur Suspendierung strafrechtlicher Rechtfertigungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93 93 93 94 98

98 b) Divergierendes Rechtswidrigkeitsurteil aufgrund Art. 103 Abs. 2 GG 99 II. Die Bedeutung des § 343 StGB für die Frage einer Rechtfertigungsmöglichkeit der Rettungsfolter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 1. Die Abwägungsfestigkeit des § 343 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 a) Die Rechtspflege als geschütztes Rechtsgut des § 343 StGB . . . . . . 102 b) Die Einbeziehung gefahrenabwehrrechtlicher Befragungen in den Schutzzweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 2. Die von § 343 StGB geschützten Verfahrensarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 a) Die in der Literatur vertretenen Auffassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 b) Zur Notwendigkeit einer einheitlichen Beurteilung von objektivem und subjektivem Tatbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 c) Zur Frage der Einbeziehung präventiv-polizeilicher Befragungen in den Tatbestand des § 343 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 aa) Zum Erfordernis einer einheitlichen Beurteilung von strafverfahrens- und gefahrenabwehrrechtlichen Befragungen (weite Auslegung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 bb) Die Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen strafverfahrens- und gefahrenabwehrrechtlichen Befragungen (enge Auslegung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 B. Tatbestandliche Voraussetzungen der strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 I. Rechtfertigende Pflichtenkollision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 II. Nothilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 1. Gegenwärtiger rechtswidriger Angriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 2. Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 a) Geeignetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 b) Mildestes Mittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 3. Gebotenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 III. Rechtfertigender Notstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131

12

Inhaltsverzeichnis

C. Höherrangige Vorgaben und Grenzen für die strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Verfassungsrechtliche Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die herrschende Meinung: Abwägungsfestigkeit der betroffenen Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Keine Rechtfertigungsmöglichkeit eines Eingriffs in die Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG als absolute Schranken-Schranke des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abweichender Ansatz: Zur Relativierbarkeit des Menschenwürdesatzes a) Dogmatische Ansätze zur Begründung einer Relativierbarkeit des Art. 1 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Herdegens Ansatz einer „normimmanenten Konkretisierung des Würdeanspruchs“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Möllers Ansatz einer qualifizierten Abwägbarkeit des Art. 1 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Stellung des Lebensgrundrechts über den Würdeschutz . . dd) Die Koppelung von Würde- und Lebensschutz . . . . . . . . . . . . . . ee) Eigene Ansicht: Die Schutzpflichtdimension des Art. 1 Abs. 1 GG als Schranke des Achtungsanspruchs der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Gleichrangigkeit von Schutzpflicht und Achtungsanspruch bei Art. 1 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Kein Vorrang der Abwehrfunktion aufgrund der liberalabwehrrechtlichen Grundrechtstradition . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Kein Vorrang der Abwehrfunktion aufgrund des Wortlauts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Kein Ausschluss der Relativierbarkeit aufgrund Art. 79 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bedeutung der Relativierbarkeit des Menschenwürdesatzes für Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zur Einschränkbarkeit des Art. 1 Abs. 1 GG in Entführungsfällen aa) Die Entführung als Würdebeeinträchtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Abwägung zwischen Täter- und Opferwürde . . . . . . . . . . . . . . . II. Völkerrechtliche Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Völkerrechtliche Verpflichtungen der Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . a) Wichtige völkervertragliche Folterabkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Verbot der Folter als zwingendes Völkerrecht (ius cogens) . . . 2. Relevanz der völkerrechtlichen Folterverbote für die Auslegung des innerstaatlichen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zum Unterschied zwischen Rettungsfolter und völkerrechtlichem Folterbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

134 134 135 135 136 138 138 138 144 148 151

155 155 158 158 160 160 163 164 165 167 171 171 171 172 172 173

Inhaltsverzeichnis b) Zur verfassungsrechtlichen Verpflichtung des Staates zur Anwendung der Rettungsfolter in Extremsituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Exkurs: Zum subjektiven Recht des Opfers auf Anwendung der Rettungsfolter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zum Verhältnis der völkerrechtlichen Folterverbote zum deutschen Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Stellung des Vertragsvölkerrechts in der Normenhierarchie der Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Zum grundsätzlichen Rang völkerrechtlicher Verträge . . . (2) Zur Besonderheit der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Unmittelbare innerstaatliche Geltung . . . . . . . . . . . . . . . (b) Mittelbare innerstaatliche Geltung . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Stellung des Völkergewohnheitsrechts in der Normenhierarchie der Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Dispositives Völkergewohnheitsrecht (ius dispositivum) . . (2) Zwingendes Völkergewohnheitsrecht (ius cogens) . . . . . . . 3. Zur Möglichkeit zweckbezogener Ausnahmen vom Folterverbot . . . . . . a) Die Berücksichtigung der Opferwürde im Rahmen des Art. 3 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Berücksichtigung der Opferwürde im Rahmen des völkergewohnheitsrechtlichen Folterverbotes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13 176 180 182 183 183 184 184 186 189 189 190 191 191 195

Zusammenfassung und Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 Sachwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210

Abkürzungsverzeichnis a. A. Abs. Abschn. a. F. AK GG AMRK AöR Art. AT AVR BayPAG BayVBl. BayVwVfG BbgPolG BerlASOG BGB BGBl. BGH BGHSt BK GG BPolG BremPolG BT BT-Drucks. BVerfG BVerfGE BVerfSchG BVerwG BVerwGE BWPolG bzw. ders. d.h. DÖV

anderer Ansicht Absatz Abschnitt alte Fassung Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (Reihe Alternativkommentare) Amerikanische Menschenrechtskonvention Archiv des öffentlichen Rechts Artikel Allgemeiner Teil des Strafgesetzbuchs Archiv des Völkerrechts Bayerisches Polizeiaufgabengesetz Bayerische Verwaltungsblätter Bayerisches Verwaltungsverfahrensgesetz Brandenburgisches Polizeigesetz Allgemeines Gesetz zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in Berlin Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Bonner Kommentar zum Grundgesetz Bundespolizeigesetz Bremisches Polizeigesetz Besonderer Teil des Strafgesetzbuchs Bundestagsdrucksache Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverfassungsschutzgesetz Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts Polizeigesetz für Baden-Württemberg beziehungsweise derselbe das heißt Die Öffentliche Verwaltung

Abkürzungsverzeichnis E 1925 E 1962 EGGVG EGMR EMRK EU EuGH EUV EuGRZ f. ff. FS Fn. GA gem. GG ggf. GS GVG HambPolDVG HambSOG HandwO HdbStR HessSOG HessVerf h. M. Hrsg., hrsg. i. e. S. IGH, ICJ IPbpR i. S. d. i. V. m. i. w. S. JA JR Jura JuS JZ KJ KritV

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Amtlicher Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs nebst Begründung 1925 Entwurf eines Strafgesetzbuches 1962 (BT-Drucks. 4/650) Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Europäische Menschenrechtskonvention Europäische Union Europäischer Gerichtshof Vertrag über die Europäische Union Europäische Grundrechtezeitschrift folgende Seite folgende Seiten Festschrift, Festgabe Fußnote(n) Goltdammer’s Archiv für Strafrecht gemäß Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland gegebenenfalls Gedächtnisschrift Gerichtsverfassungsgesetz Hamburgisches Gesetz über die Datenverarbeitung der Polizei Hamburgisches Gesetz zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung Handwerksordnung Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland Hessisches Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung Verfassung des Landes Hessen herrschende Meinung Herausgeber, herausgegeben im engeren Sinne Internationaler Gerichtshof Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte im Sinne des, im Sinne der in Verbindung mit im weiteren Sinne Juristische Arbeitsblätter Juristische Rundschau Juristische Ausbildung Juristische Schulung Juristenzeitung Kritische Justiz Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft

16 LG lit. LK StGB MDR MEPolG MVSOG m. w. N. NdsGefAG NdsVBl. NJW NK StGB Nr. NStZ NStZ-RR NVwZ NWPolG NWVBl. NWVwVfG OLG OWiG PdW Rn. RGSt RhPfPOG Rs. RuP S. Slg. SPolG SächsPolG SchlHLVwG SK StGB SOGLSA StGB StPO str. StV ThürPAG u. a. UN

Abkürzungsverzeichnis Landgericht litera Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch Monatsschrift für Deutsches Recht Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes des Bundes und der Länder Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung in Mecklenburg-Vorpommern mit weiteren Nachweisen Niedersächsisches Gefahrenabwehrgesetz Niedersächsische Verwaltungsblätter Neue Juristische Wochenschrift Nomos Kommentar zum Strafgesetzbuch Nummer(n) Neue Zeitschrift für Strafrecht NStZ-Rechtsprechungsreport Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Polizeigesetz des Landes Nordrhein-Westfalen Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter Nordrhein-Westfälisches Verwaltungsverfahrensgesetz Oberlandesgericht Gesetz über Ordnungswidrigkeiten Prüfe dein Wissen Randnummer(n) Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen Polizei- und Ordnungsbehördengesetz von Rheinland-Pfalz Rechtssache Recht und Politik Seite(n) Sammlung Saarländisches Polizeigesetz Sächsisches Polizeigesetz Allgemeines Verwaltungsgesetz für das Land Schleswig-Holstein Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung des Landes Sachsen-Anhalt Strafgesetzbuch Strafprozessordnung streitig Strafverteidiger Thüringer Gesetz über die Aufgaben und Befugnisse der Polizei und andere United Nations (Vereinte Nationen)

Abkürzungsverzeichnis VBlBW VerfBW VGH vgl. VollzB BayPAG WVRK ZaöRV z. B. ZPO ZStW

17

Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg Verfassung des Landes Baden-Württemberg Verwaltungsgerichtshof vergleiche Vollzugsbekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums des Innern zum Bayerischen Polizeiaufgabengesetz Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht zum Beispiel Zivilprozessordnung Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft

Einführung A. Zur Aktualität des Themas „Welches Recht ist wohl höher einzuschätzen – das eines kaltblütigen Kindermörders oder das eines Kindes, dessen Tod hier leider nicht mehr zu verhindern war? Wenn diese Debatte geführt werden muss, dann geht irgendetwas schief für mich. Als Vater zweier Kinder stellt sich diese Frage überhaupt nicht – für mich ist jedes Mittel erlaubt, um eventuell das Leben eines Kindes zu retten. Das Recht des Täters auf körperliche Unversehrtheit steht hier in keiner Weise zur Debatte. Leider wieder ein trauriges Beispiel dafür, dass in unserem Land das Recht des Täters höher gewertet wird als das eines Opfers. Schande über die, die diesen Kriminalbeamten in dieselbe Ecke stellen wie den Gewalttäter.“ Friedhelm Neyer „Wie kann es sein, dass Polizisten und Politiker laut über die Abschaffung von Menschenrechten nachdenken und danach noch frei herumlaufen? Daschners Tabubruch wirkt nur auf den ersten Blick als sympathischer Affekt. Er war wohl überlegt – darin liegt das Ungeheuerliche. Vielleicht sollte man Schönbohm und Konsorten einmal sanft am Ohrläppchen ziehen, um sie – sozusagen physisch – davon zu überzeugen. Das Letzte, was wir brauchen, sind Folterknechte, die die Welt verbessern wollen und dabei die Zivilisation zu Grabe tragen. Saddam lässt grüßen!“ Kay Meiners

Für die einen ist jedes Mittel erlaubt, um das Leben eines Kindes zu retten, für andere wird die Zivilisation dabei zu Grabe getragen: Diese beiden Leserbriefe1 spiegeln die Breite einer Diskussion wider, die zu Beginn des Jahres 2003 auf Leserbriefseiten, in Kommentaren und im Feuilleton bundesdeutscher Zeitungen2 lebhaft geführt wurde. – Was war geschehen?

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Aus: Der Spiegel Nr. 11/2003 vom 10.3.2003, S. 8, 12. Vgl. z. B. Lüderssen, Ein bösartiger Wellenkamm, in: Süddeutsche Zeitung vom 25.2.2003, S. 13; Pawlik, Deutschland, ein Schurkenstaat?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1.3.2003, S. 35; Brugger, Das andere Auge, in: Frankfurter Allgemeine 2

20

Einführung

Am 27. September 2002 entführte Magnus Gäfgen den elfjährigen Bankiersohn Jakob von Metzler, um von dessen Familie ein Lösegeld von einer Million Euro zu erpressen.3 Nachdem die Polizei den Tatverdächtigen, den sie bei der Geldübergabe beobachtet hatte und durch weitere Ermittlungen identifizieren konnte, am 30. September 2002 gegen 16.20 Uhr festgenommen hatte, erfolgte gegen 18.20 Uhr die erste Vernehmung. Im Laufe der Befragungen durch die Polizei, die bis nach Mitternacht andauerten, machte der mutmaßliche Entführer wiederkehrend falsche Angaben: Er behauptete, er habe mit der Entführung nichts zu tun, bezichtigte wahrheitswidrig andere Personen als Mittäter und hielt die Polizei, die um das Leben des Kindes fürchtete, immer wieder hin. Als die Polizei auch am Morgen des nächsten Tages das entführte Kind noch nicht gefunden hatte, ordnete der Frankfurter Polizeivizepräsident Wolfgang Daschner in Sorge um das Leben des seit mittlerweile vier Tagen vermissten Jungen an, unmittelbaren Zwang gegen den mutmaßlichen Entführer anzuwenden, um diesen so zur Preisgabe des Aufenthaltsortes zu zwingen. Der Festgenommene – so lautete die Anweisung – sei nach vorheriger Androhung unter ärztlicher Aufsicht durch Zufügung von Schmerzen zu befragen.4 Zum Zeitpunkt der Gewaltandrohung gingen die Ermittler davon aus, dass Jakob von Metzler noch lebt: Magnus Gäfgen hatte in der Nacht zuvor ausgesagt, dass das Kind noch am Leben sei und unter Aufsicht stehe. Als nun Magnus Gäfgen die Zufügung von Schmerzen angedroht wurden, teilte dieser den Beamten mit, dass er Jakob von Metzler bereits am 27. September getötet hatte, und nannte den Aufenthaltsort der Leiche. In der Folge wurde der Entführer Magnus Gäfgen vom Landgericht Frankfurt am Main durch Urteil vom 28. Juli 2003 wegen Mordes in Tateinheit mit erpresserischem Menschenraub mit Todesfolge zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Es wurde zudem die besondere Schwere der Schuld festgestellt. Die gegen das Urteil des Landgerichts und die Revisionsentscheidung des Bundesgerichtshofs5 eingelegte Verfassungsbeschwerde, mit der Magnus Gäfgen rügte, dass Zeitung vom 10.3.2003, S. 8; vgl. auch Prantl, Zur Not ein bisschen Foltern, in: Süddeutsche Zeitung vom 25.2.2004, S. 13. 3 Vgl. zum Sachverhalt den Artikel „Held oder Verbrecher?“, in: Der Spiegel Nr. 9/ 2003 vom 24.2.2003, S. 22 ff. sowie die Presseinformation des Landgerichts Frankfurt am Main vom 15.2.2005 zu den schriftlichen Urteilsgründen in der Strafsache gegen Wolfgang Daschner. 4 Zu der Art der Schmerzzufügung, die von ihm ins Auge gefasst wurde, äußert sich Daschner, in: Der Spiegel Nr. 9/2003 vom 24.2.2003, S. 24: „Es gibt, was jeder Sportler weiß, Dinge, die körperlich sehr wehtun. Ausdrücklich von mir untersagt war die Zufügung von Verletzungen und die Benutzung von Hilfsmitteln. Vor der Anwendung von Gewalt hätte ich nach Beratung mit dem Polizeiarzt und Sportübungsleitern festgelegt, was gemacht werden kann. Wenn Sie beispielsweise das Handgelenk überdehnen, tut es irgendwann mal weh. Da tritt noch keine Verletzung ein. Druckstellen am Ohrläppchen tun weh, irgendwann tut es so weh, dass man eine Aussage macht. Das war grob ins Auge gefasst.“

A. Zur Aktualität des Themas

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Am 30.9.2002, gegen 22.45 Uhr, teilte mir KOR E. mit, dass der Tatverdächtige Magnus Gäfgen weiterhin keine Angaben zum Verbleib des vermissten Kindes gemacht habe. Für den Fall der weiteren Weigerung habe ich die Anwendung unmittelbaren Zwangs angeordnet. Nach Sachlage ist davon auszugehen, dass sich Jakob M., sofern er noch am Leben ist, in akuter Lebensgefahr befindet (Entzug von Nahrung und Flüssigkeit, Außentemperatur). Am 1.10.2002 um 6.15 Uhr, teilten mir KOR E. und KOR Mü. mit, dass G. mittlerweile freiwillig ausgesagt habe. Nach seinen Angaben seien weitere Tatverdächtige festgenommen und Wohnungen – ohne Erfolg – durchsucht worden. Angeblich werde Jakob M. in einer Hütte am Langener Waldsee festgehalten (der Beschreibung nach könnte es auch der Walldorfer Badesee sein). Dort werden zur Zeit mehrere Hundertschaften zusammengezogen. Wegen des ausgedehnten Geländes und fehlender Eingrenzungsmöglichkeiten ist mit einer langen Suchaktion zu rechnen. Der Vernehmungsbeamte des G. sei der Ansicht, dass dieser die Wahrheit gesagt habe. Im Gegensatz dazu vertrete der Polizeipsychologe S. die Auffassung, dass es sich um ein Lügengebäude handele. Zur Rettung des Lebens des entführten Kindes habe ich angeordnet, dass G. – nach vorheriger Androhung – unter ärztlicher Aufsicht – durch Zufügung von Schmerzen (keine Verletzungen) erneut zu befragen ist. Die Feststellung des Aufenthaltsortes des entführten Kindes duldet keinen Aufschub; insoweit besteht für die Polizei die Pflicht, im Rahmen der Verhältnismäßigkeit alle Maßnahmen zu ergreifen, um das Leben des Kindes zu retten. Parallel dazu wurde der Polizeiführer Mü. beauftragt, zu prüfen, ob ein „Wahrheitsserum“ beschafft werden kann. Die Befragung des G. dient nicht der Aufklärung der Straftat, sondern ausschließlich der Rettung des Lebens des entführten Kindes. Die von KOR W. erhobenen moralischen Bedenken wurden in einer weiteren Besprechung mit AD R., KOR W. und KOR Mü. zurückgestellt (8.00 Uhr). KHK E. wurde angewiesen, den Beschuldigten G. auf die bevorstehenden Verfahren vorzubereiten. Um 8.25 Uhr teilte Herr E. mit, dass G. „im Konjunktiv“ eingeräumt habe, dass Jakob M. tot sei. Später ergänzte er diese Aussage durch den Hinweis auf eine Hütte im Bereich des Langener Waldsees und den Fundort der Leiche bei Birnstein. Durch das inzwischen abgelegte Geständnis war die Maßnahme entbehrlich.

Abbildung 1: Auszug aus dem schriftlichen Vermerk Daschners vom 1. Oktober 2002

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Einführung

sich aus den infolge der Gewaltandrohung vom 1. Oktober 2002 massiven und nicht zu rechtfertigenden Grundrechtseingriffen ein Verfahrenshindernis und eine Fernwirkung des Beweisverbotes ergäben, wurde durch Beschluss der 3. Kammer des 2. Senats nicht zur Entscheidung angenommen.6 Das Landgericht Frankfurt am Main hatte vorher mit Beschluss vom 9. April 2003 die unter der Folterandrohung zustande gekommenen Aussagen des Entführers ausdrücklich nur mit einem Beweisverwertungsverbot belegt7 und mit Beschluss vom gleichen Tage die Annahme eines Verfahrenshindernisses abgelehnt.8 Eine am 15. Juni 2005 von Magnus Gäfgen beim EGMR erhobene Beschwerde hat die III. Kammer des Gerichtshofs für zulässig erklärt und die Bundesrepublik Deutschland zur Stellungnahme aufgefordert.9

Wolfgang Daschner wurde wegen der Folterandrohung durch Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 20. Dezember 2004 der Verleitung eines Untergebenen zu einer Nötigung im Amt für schuldig befunden.10 Zwar seien die Voraussetzungen für einen besonders schweren Fall i. S. d. § 240 Abs. 4 Nr. 3 StGB mit dem Regelbeispiel, dass der Täter seine Befugnisse oder seine Stellung als Amtsträger missbraucht hat, erfüllt. Angesichts massiver mildernder Umstände, insbesondere wegen des Motivs der Lebensrettung, das das Handeln des Angeklagten bestimmte, sei aber die Vermutung, dass der Fall insgesamt als besonders schwerwiegend anzusehen ist, widerlegt. Auch bleibe die Verurteilung Daschners zu einer Geldstrafe in Höhe von 90 Tagessätzen zu je 120 Euro nach § 59 StGB vorbehalten. Aufgrund der günstigen Sozialprognose für den Angeklagten, der Gesamtwürdigung der Tat und der Persönlichkeit des Täters sowie der Tatsache, dass die Verteidigung der Rechtsordnung zwar einen Schuldspruch, nicht aber eine Bestrafung erforderte, seien die Voraussetzungen des § 59 StGB erfüllt.11 5

BGH, 2 StR 35/04 vom 21.5.2004. BVerfG, 2 BvR 1249/04 vom 14.12.2004. 7 LG Frankfurt a. M. StV 2003, 325. 8 LG Frankfurt a. M. StV 2003, 327. Vgl. zu den strafprozessualen Konsequenzen eines Verstoßes gegen § 136a StPO (Beweisverwertungsverbot/ Fortwirkung und Fernwirkung des Beweisverwertungsverbotes/ Verfahrenshindernis) am Beispiel des Frankfurter Falles ausführlich Saliger, Absolutes im Strafprozeß?, ZStW 116 (2004), 35, 50 ff. 9 Nach Angaben seines Anwaltes geht es Gäfgen mit der Beschwerde zum EGMR weder um eine Aufhebung des Urteils des Landgerichts Frankfurt a. M. vom 28.7.2003 noch um eine finanzielle Entschädigung. Vielmehr führe Gäfgen die Beschwerde mit dem Ziel, für die Zukunft Folter im Strafverfahren prinzipiell durch eine Leitentscheidung von weit reichender symbolischer Bedeutung zu verhindern; vgl. Süddeutsche Zeitung vom 17.10.2005, S. 12. 10 Ein Mitangeklagter, der die Weisung Daschners unmittelbar ausgeführt hatte, wurde wegen Nötigung im Amt verurteilt. Auch seine Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 60 Euro wurde nach § 59 StGB vorbehalten. 11 Vgl. LG Frankfurt a. M. NJW 2005, 692, 695 f. Kritisch zu der seiner Ansicht nach zu geringen Bestrafung Daschners Scharnweber, Warum Daschner sich strafbar gemacht hat, Kriminalistik 2005, 161, 164 f. Vgl. auch Kühl, AT, § 7 Rn. 156a, der sich allerdings für eine Rechtfertigung des Polizeibeamten nach § 32 StGB ausspricht: 6

A. Zur Aktualität des Themas

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Das öffentliche Bekanntwerden der Vorgänge im Frankfurter Entführungsfall im Februar 2004 löste eine zum Teil heftig geführte rechtspolitische Diskussion in Deutschland darüber aus, ob die Zufügung von Schmerzen zur Herbeiführung einer Aussage zulässig bzw. gerechtfertigt sein soll, wenn sie der Rettung von Menschenleben dient. Bereits vorher hat es in der Bundesrepublik immer wieder Denkansätze gegeben, die Anwendung von Gewalt zuzulassen, um ein schweres Verbrechen zu verhindern. So schrieb bereits 1976 der damalige niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht in seiner Dissertation „Der Staat – Idee und Wirklichkeit“, es könne sittlich geboten sein, Informationen über ein geplantes schweres Verbrechen auch durch Folter zu erzwingen.12 Aber weder diese Abhandlung noch der Terrorismus der RAF in den 70er Jahren13 oder die in juristischen Fachzeitschriften erfolgte Auseinandersetzung mit diesem Thema in den 90er Jahren14 führte zu derart intensiven Diskussionen. Es blieb über Jahrzehnte hinweg eine theoretische Erörterung. Nun wurde sie Realität: Das Thema stand im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Wie empfindlich die Öffentlichkeit auf die Frankfurter Vorgänge reagierte, zeigt sich beispielhaft in den Reaktionen auf Äußerungen des damaligen Vorsitzenden des Deutschen Richterbundes Geert Mackenroth zum Vorgehen des Frankfurter Polizeivizepräsidenten. Mackenroth hatte gegenüber der Berliner Zeitung „Der Tagesspiegel“ erwähnt, dass für ihn Fälle vorstellbar sind, „in denen auch Folter oder ihre Androhung erlaubt sein können, nämlich dann, wenn dadurch ein Rechtsgut verletzt wird, um ein höherwertiges Rechtsgut zu retten“.15 Nach dieser Äußerung sah sich Mackenroth mit einer Reihe von Rücktrittsforderungen und auch einer Dienstaufsichtsbeschwerde konfrontiert. Der innenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion sagte, es sei „empörend“, dass Mackenroth Folter überhaupt ins Gespräch gebracht habe und warf ihm „einen absoluten Tabubruch“ vor. Mackenroth kündige eine „Rechtsidee auf, indem er Dinge erlauben will, die bisher sakrosankt waren.“16 Nach diesen „[. . .] dass der Polizeibeamte trotz des Verstoßes gegen das Folterverbot und trotz Antastung der Menschenwürde – bei Schuldigsprechung – nur unter Strafvorbehalt nach § 59 verurteilt wurde, steht in auffälligem Kontrast zu diesen angeblichen schweren Verstößen.“ 12 Albrecht, Der Staat – Idee und Wirklichkeit, S. 174. 13 Lüderssen, Die Folter bleibt tabu, in: FS Rudolphi, S. 691, 694 beschreibt, dass anlässlich der Entführung Hanns-Martin Schleyers und der Lufthansa-Maschine „Landshut“ nach Mogadischu im Krisenstab der Bundesregierung „andeutungsweise theoretische Erörterungen aufgekommen seien, ob man nicht mit Gewalt bei Inhaftierten ein wenig nachhelfen solle.“ Selbst die konservativen Mitglieder des Stabes seien aber eindeutig davor zurückgeschreckt. 14 Vgl. insbesondere die Abhandlungen von Brugger, Würde gegen Würde, VBlBW 1995, 414, 446 ff.; ders., Darf der Staat ausnahmsweise foltern?, Der Staat 35 (1996), 67 ff. 15 Vgl. Der Tagesspiegel vom 20.2.2003, S. 32. 16 Vgl. Die Welt vom 21.2.2003, S. 4.

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Einführung

Reaktionen relativierte Mackenroth seine Aussagen. Er veröffentlichte eine Erklärung, wonach „jede Art von Gewalt – auch deren Androhung – zur Erzwingung einer Aussage verboten ist.“17 Die vorliegende Arbeit versucht, einen Beitrag zu der rechtlichen Diskussion um die Frage der Zulässigkeit der Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Herbeiführung einer Aussage im präventiv-polizeilichen Bereich zu leisten. Eine Tabuisierung des Themas, wie sie in den Reaktionen auf die Äußerungen Mackenroths zu Tage tritt, darf es in einer aufgeklärten Gesellschaft nicht geben.18 Eine Auseinandersetzung dient insbesondere den Polizeibeamten, von denen oft in kürzester Zeit weitreichende Entscheidungen abverlangt werden, und die sich bei der Androhung bzw. Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Herbeiführung einer Aussage in einer rechtlichen Grauzone bewegen.19 Die Frage, ob sich ein Amtsträger bei der Androhung bzw. Anwendung von Gewalt zur Herbeiführung einer Aussage in Extremsituationen strafbar macht, steht im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung. Dabei geht es nicht so sehr um eine rechtsphilosophische Annährung an das Thema,20 sondern um eine am geltenden Recht orientierte Untersuchung des Komplexes, bei der eine Lösung innerhalb der regulären Rechtsordnung gesucht wird.21

17

Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 25.2.2003, S. 6. So zu Recht Fahl, Angewandte Rechtsphilosophie – „Darf der Staat foltern?“, JR 2004, 182, 189 f. 19 Vgl. Kinzig, Not kennt kein Gebot?, ZStW 115 (2003), 791: „Kontroverse Stellungnahmen von Politikern sowie ganz unterschiedliche Kommentare von Journalisten und Rechtsgelehrten offenbarten in der Folge ein erhebliches Maß an Ungewissheit, wie die Folterandrohung des besagten Polizisten zu beurteilen ist. Nicht einmal ein Rudiment an gesicherten Erkenntnissen scheint hier zu existieren. So reichen die Bewertungen des Verhaltens Daschners von einer Forderung nach Verhängung einer Freiheitsstrafe bis zum Vorschlag, ihn mit dem Bundesverdienstkreuz auszuuzeichnen.“ 20 Rechtsphilosophischen Annährungen an den Problemkreis der Rettungsfolter erfolgen bei Fahl, Angewandte Rechtsphilosophie – „Darf der Staat foltern?“, JR 2004, 182 und Hilgendorf, Folter im Rechtsstaat?, JZ 2004, 331. Vgl. zur Möglichkeit einer rechtsphilosophischen Neuinterpretation des Folterverbotes am Beispiel des Art. 3 EMRK auch Gaede, Die Fragilität des Folterverbotes, in: Angst und Streben nach Sicherheit in Gesetzgebung und Praxis, S. 155, 171 ff. 21 Die Orientierung am geltenden Recht führt zwangsläufig dazu, Fälle der Anwendung der Rettungsfolter zur Beseitigung eines drohenden Staatsnotstandes, wie sie etwa die Gefährdung der Existenz der Bundesrepublik Deutschland durch Terroristen darstellt, in der vorliegenden Untersuchung auszuklammern. Denn für die Beurteilung der Zulässigkeit der Rettungsfolter zum Schutz vor derartigen Bedrohungsszenarien muss möglicherweise auch auf außerhalb der regulären Rechtsordnung angesiedelte Wertungen zurückgegriffen werden; vgl. hierzu die Ausführungen von Pawlik, § 14 Abs. 3 des Luftsicherheitsgesetzes – ein Tabubruch?, JZ 2004, 1045, 1051 ff. für Fälle des Abschusses eines Zivilflugzeuges bei existenzieller Bedrohung der Rechtsgemeinschaft. 18

B. Zum Begriff der Rettungsfolter

25

B. Zum Begriff der Rettungsfolter Der schon im Titel der Arbeit verwendete Begriff der Rettungsfolter hat sich im rechtswissenschaftlichen Schrifttum eingebürgert als Bezeichnung für Fälle der zwangsweisen Herbeiführung einer Aussage auf dem Gebiet der Gefahrenabwehr.22 Dieser Begriff soll die Gewaltanwendung zu Präventionszwecken abgrenzen vom historischen Folterbegriff, der spezifisch nur die Geständniserzwingung zum Zwecke der Verurteilung als Folter qualifizierte. Seit dem 20. Jahrhundert hat sich der Folterbegriff allerdings von seiner spezifisch strafverfahrensbezogenen Funktion gelöst. Er umfasst mittlerweile – wie sich etwa aus Art. 1 Abs. 1 UN-Folterübereinkommen ergibt23 – auch die Gewaltanwendung als Mittel zur Herbeiführung einer nicht strafverfahrensbezogenen Aussage. Teilweise wird sogar noch darüber hinausgehend im Sinne eines objektiven Folterbegriffs auf jegliche Zweckbezogenheit der Schmerzzufügung verzichtet, so dass es auf ein Motiv des Folterers gar nicht mehr ankommt.24 Aufgrund dieser Wandlung des Folterbegriffs ist es durchaus gerechtfertigt, Gewaltanwendung zur Informationsgewinnung im präventiv-polizeilichen Bereich unter den Begriff der Folter zu subsumieren.25 Zur Klarstellung, dass es sich hierbei aber nicht um eine Folter zu Inquisitionszwecken handelt, bietet sich – trotz der Bedenken, dass die stigmatisierende Wirkung des Begriffs der Objektivität einer juristischen Abhandlung entgegenstehen kann – die Bezeichnung als Rettungsfolter an. Fraglich könnte allenfalls sein, ob auch die bloße Androhung von Folter vom Folterbegriff erfasst wird. So war im historischen Inquisitionsprozess die Einordnung der wörtlichen Folterandrohung (territio verbalis26) noch uneinheitlich. Teilweise wurde hier die Androhung als Foltergrad und damit als Bestandteil der Tortur klassifiziert, überwiegend aber aus dem auf das Zufügen physischer Leiden begrenzten Folterbegriff ausgeklammert.27 Da in heutiger Zeit die Freiheit der Willensentschließung 22 Der Begriff wird etwa verwendet von Hecker, Relativierung des Folterverbots in der BRD?, KJ 2003, 210, 211 und Hilgendorf, Folter im Rechtsstaat?, JZ 2004, 331, 335. Jerouschek/Kölbel, Folter von Staats wegen?, JZ 2003, 613, 614 schlagen die Bezeichnung „Präventionsfolter“ bzw. „Gefahrabwendungsfolter“ vor. 23 Art. 1 Abs. 1 UN-Folterübereinkommen nennt die Erlangung eines Geständnisses ausdrücklich nur als Beispielsfall der Folter. 24 Vgl. zum Folterbegriff näher unten Zweiter Teil C. II. 2. a). 25 So auch Jerouschek/Kölbel, Folter von Staats wegen?, JZ 2003, 613, 614; Saliger, Absolutes im Strafprozeß?, ZStW 116 (2004), 35, 41 f. 26 Die Verbalterrition bildete regelmäßig die erste Stufe auf der Torturskala. Als zweite Stufe folgte häufig – noch vor dem Zufügen physischer Leiden – die sog. Realterrition (territio realis). Diese umfasste das Vorweisen der Folterinstrumente in der Folterkammer, mit der dem Inquisiten noch ohne dem sinnlichen Eindruck von den zu erwartenden Qualen die Folter in Aussicht gestellt wurde; vgl. Jerouschek, Gefahrenabwendungsfolter – Rechtsstaatliches Tabu oder polizeirechtlich legitimierter Zwangseinsatz?, JuS 2005, 296, 297. 27 Saliger, Absolutes im Strafprozeß?, ZStW 116 (2004), 35, 41 f.

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Einführung

auch durch psychische Einwirkungen erheblich beeinträchtigt werden kann, sollte die Definition von Folter richtigerweise nicht allein am Maß der zugefügten körperlichen Schmerzen ausgerichtet werden.28 Weil zudem die Androhung der Folter unmittelbar zur eigentlichen Folter gehört und erst mit der Drohung die Intention, ein Geständnis oder eine Aussage erzwingen zu wollen nach außen hervortritt, sollte der Folterbegriff weit ausgelegt werden und auch bereits die Androhung von Leiden erfassen.29

Wenn im Rahmen dieser Arbeit von Rettungsfolter die Rede ist, so ist damit also die Androhung oder Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Herbeiführung einer Aussage im Bereich der Gefahrenabwehr gemeint. In der Regel wird die Gewaltanwendung zum Zwecke der Informationsgewinnung auch die völkerrechtlichen Folterverbote berühren, was aber nicht gänzlich ausschließt, dass leichtere Formen der Zwangsanwendung nicht vom völkerrechtlichen Folterbegriff erfasst werden. Da aber auch Schmerzzufügungen unterhalb der Schwelle von Folter als erniedrigende und unmenschliche Behandlung von den entsprechenden völkerrechtlichen Normen untersagt werden,30 kommt es für eine völkerrechtliche Beurteilung letztlich nicht darauf an, ob die Gewaltanwendung zum Zwecke der Informationsgewinnung im Einzelfall die Anforderungen, die an den Begriff der Folter zu stellen sind, erfüllt.31 Gleiches gilt für eine Bewertung der Rettungsfolter nach deutscher Rechtslage. Denn das deutsche Recht gebraucht im Zusammenhang mit der zwangsweisen Herbeiführung einer Aussage den Begriff „Folter“ an keiner Stelle. So ist in den Polizeigesetzen der Länder davon die Rede, dass unmittelbarer Zwang zur Abgabe einer Erklärung ausgeschlossen ist.32 § 343 Abs. 1 StGB verbietet einem Amtsträger, jemanden körperlich zu misshandeln, gegen ihn Gewalt anzuwenden, ihm Gewalt anzudrohen oder ihn seelisch zu quälen, um ihn zu nötigen, in einem Verfahren etwas auszusagen. Und auch Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG spricht lediglich davon, dass festgehaltene Personen weder körperlich noch seelisch misshandelt werden dürfen, verwendet aber den Begriff der Folter nicht. Damit ist auch nach deutscher Rechtslage die Zulässigkeit der Rettungsfolter unabhängig davon zu beurteilen, ob die Gewaltanwendung bereits die Grenze der Folter er28

Kinzig, Not kennt kein Gebot?, ZStW 115 (2003), 791, 801. Kinzig, Not kennt kein Gebot?, ZStW 115 (2003), 791, 801; a. A. Herzberg, Folter und Menschenwürde, JZ 2005, 321, 325 f., der unter Hinweis auf den Wortlaut des Art. 1 Abs. 1 UN-Folterübereinkommen („zugefügt werden“, nicht „zugefügt oder angedroht werden“) klar zwischen Folterandrohung und Folterzufügung unterscheidet. 30 Vgl. z. B. Art. 3 EMRK, Art. 7 IPbpR. Dass die völkerrechtlichen Folterverbote zwischen Folter und anderen unmenschlichen Behandlungen unterscheiden, mag daran liegen, dass mit der speziellen Erwähnung der Folter vorsätzliche Misshandlungen, die sehr starke und grausame Leiden verursachen, als besonders schändlich gebrandmarkt werden sollten; vgl. Guckelberger, Zulässigkeit der Polizeifolter?, VBlBW 2004, 121, 123. 31 Vgl. hierzu auch unten Zweiter Teil C. II. 2. a). 32 Vgl. z. B. Art. 58 Abs. 2 BayPAG. 29

C. Zur Zielsetzung der Arbeit

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reicht hat. Die Frage, ob das Verhalten des Frankfurter Polizeivizepräsidenten gegenüber dem Entführer als Folter zu klassifizieren ist, stellt folglich nur ein zweitrangiges terminologisches Problem dar, das zwar für die öffentliche Diskussion bedeutsam sein mag, für die rechtliche Beurteilung des Falles aber letztlich nicht relevant ist.

C. Zur Zielsetzung der Arbeit Im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung steht die Frage, ob die Anwendung oder Androhung unmittelbaren Zwangs zur Herbeiführung einer Aussage durch einen Amtsträger strafbar ist, wenn diese nicht im strafprozessualen Rahmen zur Erlangung eines Geständnisses, sondern auf dem Gebiet der Gefahrenabwehr – insbesondere zur Rettung eines Menschenlebens – erlangt wird. Bei der Androhung bzw. Anwendung von Gewalt kommt die Verwirklichung einer Reihe von Straftatbeständen in Betracht; zu denken ist etwa an (versuchte) Körperverletzung im Amt, (versuchte) Nötigung und Aussageerpressung. Diesen Tatbeständen ist allen die Frage nach einer etwaigen Rechtfertigungsmöglichkeit gemein. Die vorliegende Arbeit hat ihren Schwerpunkt daher darin, die diversen in Betracht kommenden Rechtfertigungsgründe daraufhin zu untersuchen, ob sie das strafrechtliche Unrecht der Anwendung der Rettungsfolter in Extremsituationen auszuschließen vermögen. Da möglicherweise auch hoheitliche Eingriffsbefugnisse als strafrechtliche Rechtfertigungsgründe in Betracht kommen können, ist innerhalb der Abhandlung auch auf die Frage der öffentlichrechtlichen Zulässigkeit der Rettungsfolter einzugehen, die sich nach den Polizeigesetzen der Länder richtet. Hieraus ergibt sich die Zweiteilung der Arbeit: Der erste Hauptteil behandelt die Frage, ob sich der Amtsträger bei der zwangsweisen Herbeiführung einer Aussage zur Gefahrenabwehr auf eine öffentlichrechtliche Befugnis stützten kann. Der zweite große Abschnitt untersucht anschließend spezifisch strafrechtliche Rechtfertigungsgründe dahingehend, ob sie als Erlaubnisnormen die Anwendung der Rettungsfolter rechtfertigen vermögen. Eine besondere Zielsetzung der vorliegenden Untersuchung besteht zudem darin, das Zusammenwirken der unterschiedlichen für die Beantwortung der Sachfrage relevanten Rechtsgebiete aufzuzeigen. Denn die Frage der Strafbarkeit der Rettungsfolter berührt nicht nur das Strafrecht, sondern ebenso die Bereiche des Polizei-, Verfassungs-, Europa- und Völkerrechts: So ist es beispielsweise umstritten, ob sich ein Amtsträger für seine strafrechtliche Rechtfertigung überhaupt auf die Erlaubnisnormen des Strafgesetzbuches berufen kann oder ob hoheitliche (im vorliegenden Fall polizeiliche) Eingriffsbefugnisse nicht nur die öffentlichrechtliche Zulässigkeit, sondern auch eine mögliche strafrechtliche Rechtfertigung des Amtsträgers abschließend regeln. Der Frage, ob und wie

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Einführung

weit das Verfassungsrecht auf die Auslegung der strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe Einfluss nimmt, wird ebenso nachzugehen sein, wie der Frage, ob und wie weit völkerrechtliche Normen im Range den Vorgaben des Grundgesetzes vorgehen und somit für die Auslegung der Verfassung herangezogen werden können. Die Erörterung dieser Problemkreise ist von entscheidender Bedeutung, um die Frage nach der Strafbarkeit der Rettungsfolter umfassend beantworten zu können.

Erster Teil

Rechtfertigung aufgrund hoheitlicher Eingriffsbefugnisse Bei der Androhung bzw. Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Herbeiführung einer Aussage sind wegen der damit verbundenen Eingriffe in die körperliche Integrität und wegen der Zwangswirkung beim Eingriffsopfer als Straftatbestände insbesondere Körperverletzungsdelikte sowie Delikte gegen die persönliche Freiheit in Erwägung zu ziehen. Da der Einsatz der Rettungsfolter zudem auf Veranlassung eines Amtsträgers erfolgt, wirken sich Qualifikationen bzw. Regelbeispiele, die an das Handeln eines Amtsträgers anknüpfen, strafschärfend aus. Die zwangsweise Herbeiführung einer Aussage durch einen Amtsträger kann damit insbesondere die Tatbestände der Körperverletzung im Amt (§ 340 Abs. 1 und 3 StGB i. V. m. §§ 223, 224, 226 StGB), der Nötigung in einem besonders schweren Fall (§ 240 Abs. 4 Nr. 3 StGB), der Aussageerpressung1 (§ 343 StGB) und – wird die Rettungsfolter von einem Vorgesetzten angeordnet – der Verleitung eines Untergebenen zu einer Straftat (§ 357 StGB) verwirklichen.2

A. Zum Verhältnis öffentlichrechtlicher Ermächtigungsnormen zum Strafrecht Die Verwirklichung der genannten Straftatbestände kann gerechtfertigt sein, wenn sich der Amtsträger bei der Androhung bzw. Anwendung der Rettungsfolter auf eine öffentlichrechtliche Erlaubnisnorm stützen kann. Im vorliegend zu untersuchenden Bereich der zwangsweisen Herbeiführung einer Aussage kommen insbesondere die Vorschriften über Befragung, Datenerhebung und Vorladung in den Polizei- und Sicherheitsgesetzen der Länder in Betracht. Bevor die polizeilichen Zwangsbefugnisse unter dem Gesichtspunkt der Möglichkeit der Erzwingung einer Aussage geprüft werden, muss allerdings zunächst kurz auf

1 Der Terminus „Aussageerpressung“ ist missverständlich. Der korrekte strafrechtliche Terminus für die Straftat des § 343 StGB wäre eigentlich „Aussagenötigung“; vgl. Kuhlen, in: NK StGB, § 343 Rn. 1. 2 Jahn, Gute Folter – schlechte Folter?, KritV 2004, 24, 39 Fn. 77 zieht zusätzlich eine Strafbarkeit des Amtsträgers nach §§ 239 ff. StGB und § 174a StGB in Betracht.

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1. Teil: Rechtfertigung aufgrund hoheitlicher Eingriffsbefugnisse

die vorgelagerte Frage eingegangen werden, ob das öffentlichrechtliche Erlaubtsein eines Verhaltens auch im Strafrecht die Rechtswidrigkeit eines tatbestandsmäßigen Verhaltens auch tatsächlich auszuschließen vermag. Nur dann wäre der Polizeibeamte bei Vorliegen einer öffentlichrechtlichen Befugnis auch strafrechtlich gerechtfertigt.3

I. Hoheitliche Eingriffsgrundlagen als Rechtfertigungsgründe im Strafrecht Die Auswirkungen zivil- bzw. öffentlichrechtlicher Erlaubnisnormen auf das strafrechtliche Rechtswidrigkeitsurteil bzw. die umgekehrte Fragestellung nach dem Umfang des Einflusses strafrechtlicher Rechtfertigungsgründe auf die übrigen Rechtsgebiete wird in der Wissenschaft unter dem Topos der „Einheit der Rechtsordnung“ behandelt. Hier lassen sich im Wesentlichen zwei große Strömungen ausmachen: Die Vertreter, die von einem einheitlichen, rechtsgebietsspezifische Besonderheiten nivellierenden Begriff der Rechtswidrigkeit ausgehen,4 stehen denjenigen gegenüber, die einen nach Rechtsgebieten divergierenden Begriff der Rechtswidrigkeit für erforderlich halten.5 1. Die Lehre vom einheitlichen Begriff der Rechtswidrigkeit Nach der Lehre vom einheitlichen Rechtswidrigkeitsbegriff unterliegt jede Handlung einer einheitlichen Rechtswidrigkeitsbeurteilung: Die Rechtsordnung bewerte entweder ein Verhalten als insgesamt rechtmäßig oder als insgesamt rechtswidrig.6 Für die Rechtfertigung straftatbestandmäßigen Verhaltens ergeben sich hieraus Konsequenzen in dreifacher Hinsicht:7 3 Bei dem hier zu klärenden Problem geht es noch nicht darum, dass im konkreten Fall ein Amtsträger handelt. Es soll vielmehr die Frage geklärt werden, ob ein außerstrafrechtlicher Erlaubnissatz generell – d.h. für Amtsträger wie für Privatpersonen – auch die Strafrechtswidrigkeit beseitigt. 4 Vgl. z. B. Gössel, Über die Rechtmäßigkeit befugnisloser strafprozessualer rechtsgutsbeeinträchtigender Maßnahmen, JuS 1979, 162, 165; Jescheck/Weigend, AT, § 31 III 1. Vgl. zu den Befürwortern eines einheitlichen Begriffs der Rechtswidrigkeit in Zivilrecht und öffentlichem Recht die Darstellung von Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, S. 66, 72 ff. 5 Als maßgeblicher Vertreter einer eigenen Strafrechtswidrigkeit sei Günther und seine Habilitationsschrift über „Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß“ genannt. 6 Vgl. Jescheck/Weigend, AT, § 31 III 1: „Es gilt das Prinzip der Einheit der Rechtsordnung. [. . .] Das bedeutet, daß z. B. ein nach bürgerlichem oder öffentlichem Recht bestehender Rechtfertigungsgrund unmittelbar auch im Strafrecht anzuwenden ist und daß spezifisch strafrechtliche Rechtfertigungsgründe (z. B. § 193) die Tat auch für alle anderen Rechtsgebiete rechtfertigen.“ 7 Vgl. hierzu Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, S. 2.

A. Verhältnis öffentlichrechtlicher Ermächtigungsnormen zum Strafrecht

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(1) Zum einen sind strafrechtliche Rechtfertigungsgründe nicht nur dem StGB, sondern der gesamten Rechtsordnung zu entnehmen. So rechtfertigen etwa die §§ 228, 904 BGB nicht nur unerlaubte Handlungen i. S. d. § 823 BGB, sondern auch Straftaten. (2) Des Weiteren entfalten strafrechtliche Rechtfertigungsgründe nicht nur Wirkungen im Binnenbereich des Strafrechts, sondern müssen konsequenterweise auch im Zivil- und öffentlichen Recht gelten. Demnach würde etwa § 34 StGB nicht nur Strafdelikte, sondern auch unerlaubte Handlungen nach § 823 BGB oder hoheitliche Eingriffe in Grundrechte des Bürgers rechtfertigen.8 (3) Schließlich dürfte das Strafrecht nicht Verhaltensweisen rechtfertigen, die das Zivil- oder öffentliche Recht als rechtswidrig einstufen. Das zivil- oder öffentlichrechtliche Verbotensein eines Verhaltens würde – erfüllt es zugleich den Tatbestand eines Strafgesetzes – strafrechtliches Unrecht darstellten. Die genannten drei Konsequenzen verdeutlichen, dass die Lehre vom einheitlichen Rechtswidrigkeitsbegriff einem Rechtfertigungsgrund eine umfassende – rechtsgebietsübergreifende – rechtfertigende Wirkung zuerkennt, unabhängig davon, ob er dem Gebiet des Strafrechts, Zivilrechts oder öffentlichen Rechts entstammt. Nach der Lehre von der Einheitlichkeit des Rechtswidrigkeitsbegriffs versteht sich die Geltung außerstrafrechtlicher Rechtfertigungsgründe auch für den Strafunrechtsausschluss damit gleichsam von selbst. 2. Die Lehre vom rechtsgebietsspezifischen Begriff der Rechtswidrigkeit Aber auch diejenigen Autoren, die einen speziellen, rechtsgebietsspezifischen Begriff der Rechtswidrigkeit fordern und damit die Möglichkeit eines nach Rechtsgebieten aufgespaltenes Rechtswidrigkeitsurteils für erforderlich halten,9 erkennen die Tatsache an, dass strafrechtliche Rechtfertigungsgründe der Gesamtrechtsordnung und damit auch dem öffentlichen Recht entstammen können. Sie begründen die Geltung von zivil- und öffentlichrechtlichen Erlaubnissätzen auch für den Bereich des Strafrechts teleologisch: Die Geltung zivil- und öffentlichrechtlicher Erlaubnissätze auch für den Strafunrechtsausschluss ergibt sich „aus dem Stufenverhältnis, in dem ,Strafrechtswidrigkeit‘ einerseits, allgemeines, zivilrechtliches und öffentlichrechtliches Rechtswidrigkeitsurteil andererseits zueinander stehen. Entfällt sogar die Rechtswidrigkeit einer Handlung auf Grund des Eingreifens besonderer Erlaubnissätze des Zivil- oder Öf8 Vgl. zur Problematik der Heranziehung strafrechtlicher Rechtfertigungsgründe als öffentlichrechtliche Erlaubnisnormen ausführlich unten Erster Teil C. II. 9 Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß; Klose, Notrecht des Staates aus staatlicher Rechtsnot, ZStW 89 (1977), 61, 78 f.; Sydow, Forum: § 34 StGB – kein neues Ermächtigungsgesetz!, JuS 1978, 222, 224.

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1. Teil: Rechtfertigung aufgrund hoheitlicher Eingriffsbefugnisse

fentlichen Rechts, muß Gleiches erst recht für die ,Strafrechtswidrigkeit‘ des betreffenden Verhaltens zutreffen. Denn eine Straftatbestandsverwirklichung, die die Rechtsordnung in zivil- oder öffentlichrechtlichen Rechtssätzen billigt, kann sie um so weniger zugleich sogar gesteigert, nämlich strafrechtlich, missbilligen. Auch das Urteil der ,Strafrechtswidrigkeit‘ muß die Wertungen der gesamten Rechtsordnung berücksichtigen und ist in die Einheit der Rechtsordnung einbezogen, wenn es darüber befindet, ob eine Straftatbestandsverwirklichung die qualifizierte rechtliche Verhaltensmissbilligung verdient, die eine Verhaltenskriminalisierung ausdrückt.“10

Auf die Schwierigkeiten, die die Lehre vom einheitlichen Begriff der Rechtswidrigkeit mit den oben genannten drei Konsequenzen verursacht,11 und ob ein nach Rechtsgebieten divergierender Begriff der Rechtswidrigkeit vorzugswürdig ist, muss daher an dieser Stelle noch nicht eingegangen werden.12 Denn die strafunrechtsausschließende Wirkung außerstrafrechtlicher Rechtfertigungsgründe – und allein hierum geht es in diesem Kapitel – wird, wie gezeigt, auch von denjenigen Vertretern anerkannt, die einen nach Rechtsgebieten divergierenden Rechtswidrigkeitsbegriffs für erforderlich halten: „Zu den wenigen Grundsätzen, die sich in der neueren strafrechtlichen ,Rechtfertigungsdogmatik‘ eines einhelligen Konsenses erfreuen, gehört die Erkenntnis, daß Rechtfertigungsgründe, die das straftatbestandliche Unrechtsindiz auszuräumen vermögen, nicht nur im Strafrecht geregelt sind, sondern sich in allen Rechtsgebieten finden.“13

10 Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, S. 362 f. [Hervorhebungen im Original]. Ähnlich Roxin, AT 1, § 14 Rn. 31: „Es wäre ein unerträglicher Wertungswiderspruch und würde auch der Subsidiarität des Strafrechts als des äußersten Mittels der Sozialpolitik widersprechen, wenn ein in irgendeinem Rechtsgebiet gestattetes Verhalten gleichwohl bestraft würde.“ Vgl. auch Baumann/Weber/Mitsch, AT, § 16 Rn. 7. 11 Zu nennen ist etwa die Problematik, dass ein zivil- oder öffentlichrechtlicher Rechtfertigungsgrund strengere Anforderungen aufstellt als der strafrechtliche Erlaubnissatz, aber nur dessen, nicht auch die engeren Voraussetzungen der zivil- oder öffentlichrechtlichen Rechtfertigungsgrundes erfüllt sind. So stellt etwa das Zivilrecht für die Wirksamkeit einer Einwilligung bei Eingriffen in Vermögensrechte auf die Geschäftsfähigkeit des Einwilligenden ab, während es nach der h. M. im Strafrecht genügt, dass der Einwilligende nach seiner Verstandesreife die Tragweite des seine Interessen berührenden Eingriffs voll erfasst, was nicht eine Geschäftsfähigkeit im zivilrechtlichen Sinne erfordert. Um einen Normwiderspruch zu vermeiden, muss hier die Lehre vom einheitlichen Begriff der Rechtswidrigkeit die differierenden Erlaubnissätze entweder durch Auslegung einander anpassen oder aber einen der Rechtfertigungsgründe aus Konkurrenzgründen hinter den anderen zurücktreten lassen, wobei sich dann hierbei die Frage stellt, nach welchen Kriterien sich die Spezialität oder Subsidiarität des eines Rechtfertigungsgrundes bestimmt; vgl. Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, S. 3, 365. 12 Vgl. hierzu unten Zweiter Teil A. I. 13 Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, S. 362 [Hervorhebungen im Original].

A. Verhältnis öffentlichrechtlicher Ermächtigungsnormen zum Strafrecht

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II. Landesrechtliche Eingriffsbefugnisse als Rechtfertigungsgründe im Strafrecht Erkennt man die generell strafunrechtsausschließende Wirkung zivil- und öffentlichrechtlicher Erlaubnissätze an, so ist aber noch auf ein Problem einzugehen, das auf der innerstaatlichen Kompetenzverteilung gründet: Da hoheitliche Eingriffsermächtigungen – wie etwa die Befugnis zur Herbeiführung einer Aussage als Bestandteil der Polizeigesetze – in erster Linie in Landesgesetzen zu finden sind, würde durch Landesrecht in die bundesrechtlich geregelte Strafrechtsmaterie eingegriffen, falls polizeiliche Eingriffsbefugnisse weiter gefasst sind als die strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe.14 Das Problem der grundgesetzlichen Gesetzgebungszuständigkeiten stellt sich – worauf Pawlik zu Recht hinweist – dann nicht, wenn aufgrund der strafrechtlichen Struktur der Rechtfertigungsgründe diese Amtsträgern grundsätzlich nicht offen stehen.15 Denn sollten die (bundes-)strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe von vornherein nicht auf Amtsträger anwendbar sein, so können öffentlichrechtliche Befugnisse aus dem Landesrecht diese auch nicht modifizieren (erweitern oder beschränken) und damit in die Gesetzgebungskompetenz des Bundes eingreifen. Wie aber zu zeigen sein wird, ist es durchaus möglich und auch geboten, zum Ausschluss der Strafbarkeit eines Amtsträgers auf die strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe zurückzugreifen,16 so dass ein Eingriff in das Bundesstrafrecht aufgrund der rechtfertigenden Wirkung landesrechtlicher hoheitlicher Eingriffsbefugnisse nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann.

1. Zur Möglichkeit eines Eingriffs in das Bundesstrafrecht durch landesrechtliche Eingriffsbefugnisse Die bundesstaatliche Kompetenzverteilung wird oft als Argument gebraucht, wenn es um die Frage der Anwendbarkeit der allgemeinen Rechtfertigungsgründe des Strafgesetzbuches (§§ 32, 34 StGB) bei Amtsträgern geht. Die polizeirechtliche Lösung17 sieht hier vor, dass auch zur strafrechtlichen Rechtfertigung eines Amtsträgers sein Handeln stets von einer hoheitlichen Eingriffsgrundlage gedeckt sein muss. Gegen diese Lösung wird etwa von Beisel vorgebracht, dass hoheitliche Eingriffsgrundlagen auch dem Landesrecht ent14 Die Problematik würde entschärft, wenn im Strafgesetzbuch eine Ermächtigungsgrundlage für die Schaffung landesrechtlicher Erlaubnissätze enthalten wäre. Vgl. etwa E 1925 § 20: „Eine strafbare Handlung liegt nicht vor, wenn die Rechtswidrigkeit der Tat durch das öffentliche oder bürgerliche Recht ausgeschlossen ist.“ Eine derartige Regelung könnte als Ermächtigung an den Landesgesetzgeber gelesen werden. 15 Pawlik, Der rechtfertigende Notstand, S. 194. 16 Vgl. hierzu unten Zweiter Teil A. I. 17 Vgl. zu den einzelnen Theorien ausführlicher unten Erster Teil C. II.

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1. Teil: Rechtfertigung aufgrund hoheitlicher Eingriffsbefugnisse

stammen können und diese landesrechtlichen Vorschriften (beispielsweise die Polizeigesetze der Länder) die bundesrechtlichen Vorschriften der §§ 32, 34 StGB nicht brechen können, weil der Bund durch die Schaffung der §§ 32, 34 StGB von seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG Gebrauch gemacht habe.18 Bei der hier zu erörternden Frage geht es nun nicht darum, dass die polizeilichen Befugnisse als Rechtfertigungsgründe an Stelle der §§ 32, 34 StGB, sondern unabhängig von §§ 32, 34 StGB anwendbar sind; es geht also nicht um eine Einschränkung der Notwehrrechte eines Amtsträgers, wie sie die polizeirechtliche Lösung vorsieht, sondern um eine Erweiterung. Gleichwohl könnte auch dies einen unzulässigen Eingriff in Bundesrecht darstellen, weil die Existenz landesrechtlicher Eingriffsbefugnisse mit einer Ausdehnung der Notwehrrechte des Amtsträger einhergeht, wodurch Straftatbestände des Bundesstrafrechts eingeschränkt würden. Nach Beisels Argumentation, wonach der Bund durch die Regelung der Rechtfertigungsgründe im Strafgesetzbuch von seiner Gesetzgebungskompetenz abschließend Gebrauch gemacht und damit die Länder auf diesem Gebiet von der Gesetzgebung ausgeschlossen hat, dürfte auch dies nicht möglich sein.19 Zwar sind in der Regel die polizeilichen Befugnisse enger als die generalklauselartig gefassten Notwehr- und Notstandsregelungen des Strafgesetzbuches. Daher wird in den meisten Fällen ein Handeln aufgrund einer hoheitlichen Ermächtigungsgrundlage immer auch von den §§ 32, 34 StGB erfasst sein, so dass öffentlichrechtliche Befugnisse hinsichtlich ihrer rechtfertigenden Wirkung für den handelnden Amtsträgers meist rein tatsächlich keine Erweiterung des Bundesrechts zur Folge haben.20 Es gibt jedoch auch Fälle, die von einer landesrechtlichen hoheitlichen Eingriffsbefugnis umfasst werden, nicht aber von den allgemeinen strafrechtlichen Rechtfertigungsgründen der §§ 32, 34 StGB. In solchen Konstellationen ist dann ein möglicherweise unzulässiger Eingriff in Bundesrecht durch Landesrecht vorstellbar, d.h. die landesrechtlichen Eingriffsgrundlagen zeichnen hier nicht nur einen bundesrechtlichen Rechtfertigungsgrund nach, sondern konstituieren neue und eigenständige Erlaubnissätze.

18 Beisel, Straf- und verfassungsrechtliche Problematiken des finalen Rettungsschusses, JA 1998, 721, 722. Ähnlich Spendel, in: LK StGB, § 32 Rn. 278. 19 Unproblematisch ist hingegen die Normierung polizeilicher Befugnisse etwa in der Strafprozessordnung oder im Bundespolizeigesetz. Zwar handelt es sich auch hier um Rechtfertigungsgründe, die außerhalb des Strafgesetzbuches geregelt sind. Zweifelsfrei fallen aber beide Regelungsmaterien in die Zuständigkeit des Bundes. 20 Dies gilt freilich nur, wenn man bei der Frage der Anwendbarkeit der §§ 32, 34 StGB auf Amtsträger nicht der polizeirechtlichen Lösung folgt. Denn nach der polizeirechtlichen Lösung ist das Vorliegen einer hoheitlichen Eingriffsbefugnis konstitutive Voraussetzung für eine strafrechtliche Rechtfertigung des Amtsträgers.

A. Verhältnis öffentlichrechtlicher Ermächtigungsnormen zum Strafrecht

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Zu denken ist beispielsweise an die Fälle einer Anscheinsgefahr, in denen sich eine zunächst angenommene Gefahrenlage letztendlich als unbegründet erweist. In einem solchen Fall sind die von der Polizei getroffenen Maßnahmen nach verbreiteter Ansicht rechtmäßig, auch wenn sich die Annahme einer Gefahr im Nachhinein als Fehleinschätzung darstellt.21 Während damit das Vorliegen einer Anscheinsgefahr aus polizeirechtlicher Sicht nach der herrschenden Meinung wie das tatsächliche Bestehen einer Gefahr behandelt wird und den Polizeibeamten rechtfertigt, kann die strafrechtliche Beurteilung einer solchen Situation nach den §§ 32, 34 StGB von dieser Bewertung abweichen. Teilweise wird zwar auch hier vertreten, dass ein objektives Urteil ex ante über das Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes entscheidet.22 Die wohl herrschende Meinung hält aber daran fest, dass eine Rechtfertigungslage nur dann vorliegt, wenn die den Rechtfertigungsgrund ausfüllenden Umstände auch tatsächlich vorliegen.23 Der Meinungsstreit gründet auf einer unterschiedlichen Deutung der Erlaubnissätze: Sieht man die Rechtfertigungsgründe in erster Linie als Verhaltensregeln (Bestimmungsnormen), so ist das Urteil ex ante maßgeblich. Stellt man die Perspektive des Opfers sowie die Gewährleistung des Rechtsguts gegenüber unbegründeten Eingriffen in den Vordergrund, ist das tatsächliche Bestehen einer Rechtfertigungslage für eine Rechtfertigung erforderlich.24 Fordert man das tatsächliche Vorliegen einer Rechtfertigungslage, so befindet sich der Täter – wenn objektiv keine Rechtfertigungslage bestanden hat – in einem Erlaubnistatbestandsirrtum, der nach einer verbreiteten Meinung keinen Unrechts-, sondern lediglich einen Schuldausschluss zur Folge hat.25 Es stellt sich dann die Frage, ob in einem solchen Fall die durch Landesrecht festgeschriebene und auch – wie oben dargelegt26 – teleologisch gebotene Rechtfertigungswirkung der Eingriffsbefugnis nicht unzulässig in Bundesrecht eingreift.

21 Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 95; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 80 f. m. w. N. Vgl. darüber hinaus – auch zur Gegenansicht – unten Erster Teil B. I. 2. 22 Pawlik, Der rechtfertigende Notstand, S. 171 ff. 23 So etwa Jahn, Das Strafrecht des Staatsnotstandes, S. 252 ff.; Tröndle/Fischer, StGB, § 34 Rn. 3; Bockelmann/Volk, AT, S. 97. 24 Vorzugswürdig dürfte die Auffassung sein, die auf ein objektives Urteil ex ante abstellt. Denn es wäre – worauf Pawlik, Der rechtfertigende Notstand, S. 171, zu Recht hinweist – ungereimt, wenn die Rechtsordnung einerseits Eingriffe, die sich auf prognostische Einschätzungen stützen müssen, ausdrücklich zulässt, auf der anderen Seite aber denjenigen, der von der betreffenden Eingriffsbefugnis Gebrauch macht, einem unkalkulierbaren Prozessrisiko aussetzt. 25 So jedenfalls, wenn man der von vielen Autoren vertretenen rechtsfolgenverweisenden Schuldtheorie folgt. Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen und die eingeschränkte Schuldtheorie führen dagegen bereits zu einer Verneinung des Unrechtsvorsatzes; vgl. zu den einzelnen Theorien ausführlich Roxin, AT 1, § 14 Rn. 51 ff. 26 Vgl. oben A. I. 2.

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1. Teil: Rechtfertigung aufgrund hoheitlicher Eingriffsbefugnisse

Ein zusätzliches Beispiel für eine weitere Fassung der im Polizeigesetz geregelten Handlungsbefugnisse gegenüber §§ 32, 34 StGB führt Spendel an: So darf nach Art. 66 Abs. 2 Satz 2 BayPAG eine Person zur Abwehr einer gegenwärtigen Lebens- oder schweren Körpergefahr erschossen werden. Da der Begriff der Lebensund Leibesgefahr weiter ist als der Begriff des gegenwärtigen Angriffs bei der Notwehr, ist insbesondere bei Dauergefahren, die noch keinen rechtswidrigen Angriff i. S. d. § 32 StGB darstellen, unter Umständen ein Schusswaffeneinsatz der Polizei erlaubt.27 Privaten ist dagegen zwar unter dem Gesichtspunkt des Defensivnotstandes auch die vorbeugende Abwehr eines noch nicht gegenwärtigen Angriffs gestattet; diese schließt jedoch nicht Tötungen oder schwere Verletzungen mit ein.28

2. Legitimation landesrechtlicher Eingriffsbefugnisse durch eine ungeschriebene Ermächtigungsgrundlage im Bundesstrafrecht Die Möglichkeit einer Einschränkung der Tatbestände des Bundesstrafrechts durch hoheitliche Befugnisse auch aus dem Landesrecht kann aus dem Wesen und der Aufgabe des Strafrechts als Mittel des subsidiären Rechtsgüterschutzes abgeleitet werden. Wenn es nämlich – wie von Roxin formuliert29 – der Subsidiarität des Strafrechts widersprechen würde, wenn ein durch öffentliches Recht erlaubtes Verhalten strafrechtlich sanktioniert werden würde, so kann dies nicht nur für bundesrechtliche, sondern muss auch für landesrechtliche Eingriffsermächtigungen gelten. Folglich ist es dem Strafrecht als Bundesmaterie immanent, auch durch außerstrafrechtliche landesrechtliche Eingriffsbefugnisse Tatbestandseinschränkungen zuzulassen.30 Aus der Subsidiarität des Strafrechts als das äußerste staatliche Sanktionsmittel folgt damit, dass dem Strafrecht gleichsam eine ungeschriebene Ermächtigungsgrundlage zu entnehmen ist, die den Landesgesetzgebern mit der Schaffung hoheitlicher Eingriffsgrundlagen gleichzeitig auch die strafrechtliche Rechtfertigung straftatbestandmäßigen Verhaltens gestattet. Das Bundesstrafrecht ist damit offen für außerstrafrechtliche Rechtfertigungsgründe aus dem Landesrecht, was aber nicht zwangsläufig bedeutet, dass strafrechtliche Rechtfertigungsgründe, die im StGB normiert sind, durch das Landesrecht desavouiert werden können, wie dies die polizeirechtliche Lösung vorsieht.31 27

Spendel, in: LK StGB, § 32 Rn. 276. Vgl. Roxin, AT 1, § 16 Rn. 73 ff. 29 Roxin, AT 1, § 14 Rn. 31. 30 Die im E 1925 vorgesehene Vorschrift, wonach eine strafbare Handlung nicht vorliegt, wenn die Rechtswidrigkeit der Tat durch das öffentliche oder bürgerliche Recht ausgeschlossen ist, hätte demnach eine rein deklaratorische Regelung dargestellt. 31 Denn der für eine Offenheit des Strafrechts gegenüber landesrechtlichen Rechtfertigungsgründen maßgebliche Grund, wonach aufgrund der Subsidiarität des Strafrechts Tatbestandseinschränkungen auch seitens des Landesrechts möglich sein müssen, erfordert lediglich, dass hoheitliche Eingriffsgrundlagen neben die allgemeinen 28

B. Polizeirechtliche Eingriffsbefugnisse

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Der Bundesgerichtshof scheint dagegen die Zulässigkeit der strafunrechtsausschließenden Wirkung landesrechtlicher Erlaubnisnormen nicht aus einer ungeschriebenen Ermächtigungsgrundlage im Bundesstrafrecht zu folgern, sondern die Ermächtigung zur Einschränkung der Bundesstraftatbestände der den Ländern nach den Art. 70 ff. GG eingeräumten Gesetzgebungsbefugnis zu entnehmen, wenn er die strafunrechtsausschließende Wirkung landesrechtlicher Eingriffsbefugnisse aus der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung ableitet.32 Eine den Ländern nach den Art. 70 ff. GG eröffnete Gesetzgebungskompetenz ist damit wohl gleichsam als Spezial- bzw. Ausnahmeregelung zu der dem Bund auf dem Gebiet des Strafrechts nach Art. 72, 74 Abs. 1 Nr. 1 GG grundsätzlich zustehenden (konkurrierenden) Gesetzgebungsbefugnis zu verstehen. Diese Sichtweise ist allerdings mit der Systematik der Art. 70 ff. GG nicht in Einklang zu bringen. Indem nämlich dem Bund nach Art. 74 Abs. 1 GG auf dem Gebiet des Strafrechts eine selbständige Gesetzgebungsbefugnis eingeräumt wurde, hat der Grundgesetzgeber einer Akzessorietät dergestalt, dass den Ländern mit der Befugnis zur Regelung einer Sachmaterie gleichzeitig die Kompetenz zur Normierung der mit dieser Materie in Zusammenhang stehenden Straftatbestände und Rechtfertigungsnormen eingeräumt wird, eine Absage erteilt.33

B. Polizeirechtliche Eingriffsbefugnisse Da also einem öffentlichrechtlichen Erlaubnissatz generell auch im Strafrecht rechtfertigende Wirkung zukommt, kann sich eine strafrechtliche Rechtfertigung des Polizeibeamten aus den Eingriffsbestimmungen der Polizei- und Sicherheitsgesetze der Länder ergeben. Stünde daher die Rettungsfolter im vorliegenden Fall mit dem Polizeirecht im Einklang, so wäre der handelnde Polizeibeamte auch strafrechtlich gerechtfertigt. Soll bei einer zwangsweisen Herbeiführung einer Aussage zugunsten des Beamten ein Erlaubnissatz aus dem Polizeirecht eingreifen, so ist erforderlich, dass bei der Befragung des Festgehaltenen der präventiv-polizeiliche AufgabenRechtfertigungsgründen des StGB treten, diese aber nicht ersetzen. Die polizeirechtliche Lösung, wonach zur strafrechtlichen Rechtfertigung eines Amtsträgers stets auch eine öffentlichrechtliche Eingriffsbefugnis gegeben sein muss, kann also weiterhin einen Eingriff in Bundesrecht darstellen; vgl. hierzu unten Zweiter Teil A. I. 2. a). 32 Vgl. BGHSt 11, 241, 244 zum damals noch gewohnheitsrechtlich geltenden Züchtigungsrecht des Lehrers, das als Rechtfertigungsgrund des Landesrechts zur Einschränkung des Bundesstrafrechts führte. 33 Umgekehrt steht dem Bund allein durch die Einräumung einer Gesetzgebungskompetenz für das Zivil- und Strafrecht in Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 StGB keine Kompetenz zu, hoheitliche Eingriffsbefugnisse durch die Regelungen der §§ 32, 34 StGB, 228 BGB zu schaffen; vgl. näher unten Erster Teil C. II. 2. c).

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1. Teil: Rechtfertigung aufgrund hoheitlicher Eingriffsbefugnisse

raum eröffnet ist [vgl. sogleich I.], dass die Befragung sich auf eine polizeiliche Befugnis stützen lässt, die mit einer Aussagepflicht des Entführers korrespondiert [vgl. unten II.], und dass zuletzt die Aussagepflicht mit Mitteln des Verwaltungszwangs durchsetzbar ist [vgl. unten III. und IV.].

I. Aufgabeneröffnung 1. Der Dualismus von Gefahrenabwehr und Strafverfolgung in Entführungsfällen In Fällen der Geiselnahme und Entführung steht neben der Aufgabe der Aufklärung der Tat die polizeiliche Verpflichtung, das Leben und die körperliche Unversehrtheit des Opfers zu schützen: Gefahrenabwehr und Strafverfolgung erscheinen fast untrennbar miteinander verbunden. Dennoch muss untersucht werden, ob die Polizei bei der Erzwingung einer Aussage im konkreten Fall präventiv oder repressiv tätig wird. Dies ist deshalb von Bedeutung, weil sich nach der Zielsetzung polizeilichen Handelns die Rechtsgrundlage bestimmt, auf die sich die Polizei im Einzelfall stützen kann: Handelt die Polizei zur Abwehr einer Gefahr, so ergibt sich die Zulässigkeit polizeilicher Maßnahmen aus den Befugnisnormen des jeweiligen Landespolizeigesetzes. Handelt die Polizei dagegen repressiv – über Brückenvorschriften in den Polizeigesetzen34 wird etwa der Weg in die Aufgaben der Strafverfolgung nach § 163 Abs. 1 StPO eröffnet – kann ein Rückgriff auf die Befugnisse der Polizeigesetze ausgeschlossen sein. Denn ein Zugriff auf die Ermächtigungsgrundlagen der Polizeigesetze ist nur dann zulässig, wenn eine abschließende Regelung in anderen Gesetzen fehlt.35 In der StPO ist aber für die repressiv-polizeiliche Tätigkeit mittels eines eigenen Systems an Eingriffsbefugnissen eine abschließende Regelung erfolgt; ein Rückgriff auf die Regelungen der Polizeigesetze und ihrer Befugnisse ist daher in diesem Bereich nicht möglich.36 Die Klärung des Rechtscharakters polizeilicher Aktivitäten ist auch deshalb von großer Bedeutung, weil sich die Handlungsermächtigungen des Strafverfolgungsrechts teilweise erheblich von denen des Polizeirechts unterscheiden. So 34 Vgl. § 1 Abs. 4 MEPolG: „Die Polizei hat ferner die Aufgaben zu erfüllen, die ihr durch andere Rechtsvorschriften übertragen sind.“ Identische Regelungen finden sich in allen Polizeigesetzen; vgl. z. B. § 1 Abs. 2 BWPolG; Art. 2 Abs. 4 BayPAG; § 1 Abs. 2 BerlASOG; § 1 Abs. 4 BbgPolG; § 1 Abs. 4 BremPolG; § 1 Abs. 2 HessSOG; § 2 Abs. 2 MVSOG; § 1 Abs. 5 NdsGefAG; § 1 Abs. 4 NWPolG; § 1 Abs. 2 RhPfPOG; § 1 Abs. 2 SächsPolG; § 1 Abs. 3 SOGLSA; § 163 Abs. 2 Satz 1 SchlHLVwG; § 2 Abs. 4 ThürPAG. 35 Vgl. § 8 Abs. 2 Satz 2 MEPolG: „Soweit solche Rechtsvorschriften Befugnisse der Polizei nicht regeln, hat sie die Befugnisse, die ihr nach diesem Gesetz zustehen.“ Ebenso die Regelung in Art. 11 Abs. 3 Satz 2 BayPAG. 36 Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 121.

B. Polizeirechtliche Eingriffsbefugnisse

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besteht beispielsweise im präventiv-polizeilichen Bereich keine Weisungsunterworfenheit der Polizei unter die Lenkungsgewalt der Staatsanwaltschaft nach §§ 161 StPO, 152 GVG;37 und die zwangsweise Herbeiführung einer Aussage ist nur auf dem Gebiet der Strafverfolgung gem. § 136a StPO explizit verboten. Die Anwendung unmittelbaren Zwangs kann daher von vornherein nur außerhalb eines Strafverfahrens in Betracht kommen, wo die Vorschrift des § 136a StPO keine unmittelbare Anwendung findet. Dies setzt voraus, dass im vorliegenden Fall zumindest das Schwergewicht38 polizeilichen Handelns präventiven Charakter aufweist und damit der Weg in die Polizeigesetze offen ist. Wie dieser Schwerpunkt explizit zu bestimmen ist, ist in der Literatur umstritten: Objektive Ansätze stehen hier Lösungsvorschlägen, die eher auf eine subjektive Betrachtung abstellen, gegenüber. Knemeyer verweist etwa darauf, dass es nicht auf das vom Polizeibeamten subjektiv Gewollte ankommt, sondern der ex ante und ex situatione objektiv erkennbare Zweck entscheidend ist.39 Freilich handelt es sich hier nicht um eine ausschließlich auf objektive Gesichtspunkte abstellende Abgrenzung, da die Bestimmung des Zwecks einer polizeilichen Maßnahme wohl (zumindest auch) auf subjektive Kriterien zurückgreifen muss. Schenke, der die Schwerpunkttheorie ablehnt, qualifiziert die polizeiliche Maßnahme allein anhand der mit ihr verfolgten Zielsetzung, also nach rein subjektiven Kriterien.40 Nach seiner Auffassung kann die Polizei die Stoßrichtung ihrer Maßnahmen damit selbst frei bestimmen. Er stellt die Frage, wo der Unterschied einer auf den von der Polizei gewollten Schwerpunkt des Handelns abstellenden Betrachtungsweise zu jener Auffassung liege, die die Abgrenzung allein danach vornimmt, welche Ziele die polizeiliche Tätigkeit verfolgt.41 Letztendlich besteht daher zwischen objektiven und subjektiven Ansätzen kein allzu großer Unterschied, da auch bei einer eher objektiven Abgrenzung das Ziel, das der jeweilige Polizist verfolgt, bei einer Bewertung nicht gänzlich außen vor gelassen werden kann.

In Fällen wie dem vorliegenden ist zwar prinzipiell eine repressive Zielsetzung vorstellbar, da die Verhaltensweise des Festgehaltenen aus Sicht der Polizei eine Vielzahl strafbarer Delikte beinhaltet. So kann die Entführung einer Person die Straftatbestände der Freiheitsberaubung (§ 239 StGB), des erpresserischen Menschenraubes (§ 239a StGB), der räuberischen Erpressung (§§ 253, 255 StGB), der Nötigung (§ 240 StGB), der Körperverletzung (§§ 223 ff. StGB) sowie eines versuchten Tötungsdeliktes (§§ 211, 212, 22, 23 Abs. 1

37 Haurand/Vahle, Rechtliche Aspekte der Gefahrenabwehr in Entführungsfällen, NVwZ 2003, 513, 514. 38 Ist der Handlungszweck der Polizei sowohl präventiv als auch repressiv (sog. doppelfunktionale Maßnahme), bestimmt sich die Rechtsgrundlage nach dem Schwergewicht polizeilichen Handelns; vgl. Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 122. Kritisch zur Schwerpunkttheorie Saliger, Absolutes im Strafprozeß?, ZStW 116 (2004), 35, 44 sowie Schlink, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 423. 39 Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 122. 40 Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 423. 41 Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 423.

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1. Teil: Rechtfertigung aufgrund hoheitlicher Eingriffsbefugnisse

StGB)42 erfüllen; und die gewünschte Aussage des Entführers durchaus auch die Aufklärung der von ihm begangenen Straftaten erleichtern. Hinzu kommt, dass Strafverfolgung und Gefahrenabwehr in der gegebenen Situation nicht leicht trennbar sind, da sich der Beschuldigte, sobald er den Aufenthaltsort des Entführten bekannt gibt, zwangsläufig als Täter entlarven muss. Allerdings kann man den Schwerpunkt der Befragung dann als präventiv einstufen, wenn es der Polizei ausschließlich darum geht, das aktuelle Versteck des Entführungsopfers zu erfahren, um die entführte und unter lebensbedrohlichen Umständen vermutete Person zu retten. Aus dieser Sicht stellt sich das Handeln der Polizei als Maßnahme zur Beseitigung einer Gefahr – des Todes des Entführungsopfers – dar. Noch deutlicher wird der präventive Charakter des polizeilichen Handelns, wenn bereits andere Beweismittel auf eine Täterschaft des Festgehaltenen hinweisen, so dass ein etwaiges Geständnis im Rahmen der polizeilichen Befragung nicht mehr das einzige Beweismittel wäre, und wenn der Inhalt der Befragung sich nur auf den Aufenthaltsort des Entführten bezieht, andere Umstände wie Tathergang und mögliche Beteiligte aber außen vor bleiben.43 In einem solchen Fall muss ein Rückgriff auf die polizeirechtlichen Befugnisse möglich sein. Denn wenn hier auch eine Gemengelage vorliegt, bei der präventiv- und repressiv-polizeilicher Zwecke zusammentreffen,44 so ist angesichts der Dominanz des zu schützenden Rechtsguts Leben gegenüber der Aufgabe der Strafverfolgung davon auszugehen, dass die präventiv-polizeilichen Zwecke das Interesse an der Strafverfolgung überwiegen. Im Entführungsfall von Metzler ist sowohl nach einer eher auf objektive Kriterien abstellenden als auch nach einer die polizeiliche Zielsetzung in den Mittelpunkt stellenden Betrachtungsweise der polizeiliche Aufgabenraum eröffnet: Die polizeiliche Zielsetzung lässt sich relativ eindeutig aufgrund des schriftlichen Vermerks Daschners vom 1. Oktober 200245 sowie aufgrund seiner Äußerungen in der Zeitschrift „Der Spiegel“ vom 24. Februar 200346 als präventiv einstufen. Durch die inhaltliche Ausgestaltung der Befragung des mutmaßlichen Entführers, die nur auf den Aufenthaltsort des Kindes zielte, trat dieser Zweck zudem offen zutage, so dass nicht nur subjektiv, sondern auch objektiv erkennbar von einer präventiv-polizeilichen Situation auszugehen ist. 42 Die Polizei darf nur von einem versuchten Tötungsdelikt ausgehen, da ein vollendetes Tötungsdelikt der Annahme einer Gefahr entgegenstehen würde [vgl. unten Erster Teil B. I. 2.]. 43 Vgl. hierzu auch die Aussage des Frankfurter Polizeivizepräsidenten Wolfgang Daschner, in: Der Spiegel Nr. 9/2003 vom 24.2.2003: „Meine ausdrückliche Weisung war: Keine Befragung im strafprozessualen Sinne. Keine Fragen nach Täterschaft, Teilnahme und so weiter. Die einzige Frage, die gestellt werden musste und gestellt werden durfte, lautete: Wo ist das Kind?“ 44 Haurand/Vahle, Rechtliche Aspekte der Gefahrenabwehr in Entführungsfällen, NVwZ 2003, 513. 45 Vgl. S. 21. 46 Vgl. Fn. 43.

B. Polizeirechtliche Eingriffsbefugnisse

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Hinzu kommt noch ein weiterer Aspekt: Der Schutz der durch das Präventivrecht geschützten Rechtsgüter darf nicht deshalb geringer ausfallen, weil es sich um besonders gravierende Gefahren für besonders hochrangige Rechtsgüter handelt und dem Täter deswegen auch eine strafrechtliche Verfolgung droht. Ansonsten stünde derjenige Störer besser, der sich – da sein Verhalten zugleich eine Straftat darstellt – in besonderer Weise sozialschädlich verhält. Der Konflikt zwischen den beiden Rechtsgebieten – der Strafverfolgung auf der einen und der Gefahrenabwehr auf der anderen Seite – kann vielmehr dadurch gelöst werden, dass Auskünfte, die zur Abwehr einer Gefahr im präventiv-polizeilichen Bereich erlangt wurden, mit einem Beweisverwertungsverbot belegt werden.47 Dadurch würde man sowohl der polizeilichen Aufgabe der Gefahrenabwehr als auch dem Recht des Täters auf Schutz vor Selbstbezichtigung gerecht werden. Das Ergebnis wird auch nicht durch die Annahme in Frage gestellt, die Aufgabe der Gefahrenabwehr müsse – da vom Opportunitätsgrundsatz beherrscht48 – gegenüber dem Interesse der Allgemeinheit an der Strafverfolgung, welche unter dem Legalitätsprinzip steht, zurücktreten. Denn das Opportunitätsprinzip des Polizeirechts findet dort seine Grenze, wo bei schweren Gefahren für Leib und Leben der Entschluss zum Tätigwerden die einzig rechtmäßige Handhabung des Entschließungsermessens49 darstellt.50 Die Polizei ist damit bei Entführungsfällen – in denen regelmäßig eine Gefahr für Leib und Leben des Opfers besteht – auch im Bereich der Gefahrenabwehr praktisch dem Legalitätsprinzip unterworfen.51 2. Die „Gefahr“ in Entführungsfällen Die Beeinträchtigung polizeilicher Schutzgüter lässt sich in Entführungsfällen meist relativ einfach bejahen – ist mit dem Festhalten des Entführungsopfers doch ein Eingriff in die Freiheit und in der Regel auch in die körperliche Unversehrtheit des Opfers verbunden.52 47 Vgl. zu dieser Konstruktion BVerfGE 56, 37 sowie näher unten Zweiter Teil A. II. 2. c) bb). 48 Vgl. Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 126. 49 Der Begriff „Entschließungsermessen“ bezeichnet die Frage, ob Maßnahmen zur Gefahrenabwehr ergriffen werden, während sich der Begriff „Auswahlermessen“ darauf bezieht, wie die polizeilichen Zwecke erreicht werden. 50 Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 128. Vgl. auch Nr. 5.2. VollzB BayPAG: „Handelt es sich um schwere Sicherheitsgefahren, insbesondere um Gefahren für Leib oder Leben oder für erhebliche Vermögenswerte, oder ist sonst die Intensität der Gefahr besonders groß, so ist die Polizei zum Einschreiten gegen die Gefahr verpflichtet.“ 51 So Haurand/Vahle, Rechtliche Aspekte der Gefahrenabwehr in Entführungsfällen, NVwZ 2003, 513.

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1. Teil: Rechtfertigung aufgrund hoheitlicher Eingriffsbefugnisse

Unsicherheit besteht aber häufig darüber, ob das Opfer zum Zeitpunkt der polizeilichen Maßnahmen noch lebt, d.h. eine Gefahr für Freiheit und Leben des Opfers überhaupt noch besteht. So hat sich auch bei der Entführung Jakob von Metzlers im Nachhinein gezeigt, dass der Junge zu dem Zeitpunkt, als dem mutmaßlichen Entführer unter der Verantwortung des damaligen Frankfurter Polizeivizepräsidenten Daschner mit Folter gedroht wurde, bereits tot war. Stellt sich heraus, dass das Entführungsopfer zum Zeitpunkt der Androhung der Folter nicht mehr gelebt hat oder bereits freigelassen worden ist, ändert dies aber nach verbreiter Ansicht an der Rechtmäßigkeit der polizeilichen Maßnahmen nichts. Denn es ist anerkannt, dass sie Polizei auch in Fällen der sog. Anscheinsgefahr einschreiten darf.53 Eine solche Anscheinsgefahr liegt vor, wenn im Entscheidungszeitpunkt objektive Anhaltspunkte für eine Gefahr bestehen, auch wenn sich später herausstellt, dass eine Gefahr in Wirklichkeit nicht vorlag. Die Tatsache, dass bei Entführungsfällen durch einen unvorhergesehenen Verlauf oft schwerwiegende Folgen für das Opfer hervorgerufen werden können, wird regelmäßig die Annahme einer Gefahr aufgrund eines Urteils ex ante rechtfertigen – zumal auch niedrige Wahrscheinlichkeiten eines drohenden Schadens dennoch Maßnahmen rechtfertigen, wenn der Grad des Schadens besonders hoch erscheint.54 Eine in jüngerer Zeit wieder verstärkt in den Vordergrund tretende Ansicht stellt diesem sog. subjektiven Gefahrbegriff, der auf das Urteil ex ante abstellt, einen sog. objektiven Gefahrbegriff gegenüber:55 Das polizeirechtliche Handeln ist nach dem objektiven Gefahrbegriff nur dann gerechtfertigt, wenn eine Gefahrenlage bei nachträglicher Beurteilung auch tatsächlich vorgelegen hat.56 Die Terminologie ist dabei allerdings nicht glücklich gewählt. Auch beim sog. subjektiven Gefahrbegriff kommt es nicht darauf an, ob der jeweils handelnde Polizist vom Bestehen einer Gefahr ausgegangen ist, sondern darauf, wie ein gewissenhafter, besonnener und sachkundiger Amtswalter die Lage zum Zeitpunkt des polizeilichen Handelns eingeschätzt hätte.57 Nur dann ist die tatsächlich nicht vorliegende Gefahr als Anscheinsgefahr wie eine echte Gefahr zu behandeln. Anderenfalls läge nur eine Putativgefahr vor, die das Handeln der Polizei nicht rechtfertigt.58 Es geht also nicht darum, dass in einem Fall die Gefahr subjektiv und im anderen Fall die Gefahr objektiv ermittelt würde, sondern ob 52 Vgl. Haurand/Vahle, Rechtliche Aspekte der Gefahrenabwehr in Entführungsfällen, NVwZ 2003, 513, 514. 53 Vgl. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 80 f.; Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 95; Kretschmer, Folter in Deutschland: Rückkehr einer Ungeheuerlichkeit?, RuP 2003, 102, 104. 54 Haurand/Vahle, Rechtliche Aspekte der Gefahrenabwehr in Entführungsfällen, NVwZ 2003, 513, 514. 55 Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht, § 4 Rn. 39 ff. 56 Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht, § 4 Rn. 67. 57 Schlink, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 82.

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die Frage nach dem Vorliegen einer Gefahr objektiv ex ante oder objektiv ex post beantwortet werden muss.59 Unabhängig von den terminologischen Ungenauigkeiten ist jedenfalls der Meinung, die auf ein objektives Urteil ex ante abstellt, der Vorzug zu geben. Dies deshalb, weil es widersprülich wäre, wenn die Rechtsordnung einerseits Eingriffe, die sich auf prognostische Einschätzungen stützen müssen, ausdrücklich zulässt, die Richtigkeit dieser Entscheidungen aber anhand ex post gewonnener Erkenntnisse wieder in Frage stellt.60

II. Polizeirechtliche Befugnisnormen Neben der allgemeinen Aufgabeneröffnung ist für die Bejahung der Rechtmäßigkeit polizeilichen Handelns nach den Polizeigesetzen erforderlich, dass die zu untersuchende Maßnahme von einer polizeilichen Befugnisnorm erfasst wird. Daher ist als nächstes der Frage nachzugehen, ob in den Polizei- und Sicherheitsgesetzen der Länder Befugnisse zu finden sind, welche die Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Herbeiführung einer Aussage ermöglichen: In den Vorschriften über Befragung, Datenerhebung und Vorladung in den Polizeigesetzen sind die Anforderungen an eine Auskunftspflicht des Bürgers fixiert. Diese teilweise sehr detaillierten61 (in Folge des Volkszählungsurteils des Bundesverfassungsgerichts62 in die Polizeigesetze aufgenommenen) Regelungen stehen im Widerspruch zu der Vielzahl und Verschiedenartigkeit von Kommunikationsbedingungen, die sich im Kontakt zwischen Polizei und Bürger ergeben und einer Formalisierung nur eingeschränkt zugänglich sind: Das Gespräch zwischen Bürger und Polizei lässt sich, anders als standardisierte Vorgänge wie Identitätsfeststellung oder erkennungsdienstliche Behandlung, nur 58 Knemeyer, Polizei- und Ordungsrecht, Rn. 98; Schlink, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 82. 59 Zu Recht stellt Schlink, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 82 fest: „[. . .] es gibt keinen ,subjektiven Gefahrbegriff‘.“ 60 Schlink, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 80. 61 Vgl. Rachor, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, Kap. F Rn. 255: „[. . .] schwer durchschaubare Gesetzestechnik mit Grundsätzen, Ausnahmen und Rückausnahmen [. . .].“ 62 BVerfGE 65, 1. In diesem Urteil wurde das Recht auf „informationelle Selbstbestimmung“ als Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG erstmals anerkannt. Einschränkungen dieses Rechts, das den Schutz des Einzelnen vor unbegrenzter Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten umfasst, bedürfen demnach einer gesetzlichen Grundlage. – Die im Hinblick auf das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung geltenden Beschränkungen gelten lediglich für personenbezogene Daten. Sachbezogene Angaben, die auch Gegenstand einer polizeilichen Befragung sein können, unterfallen hingegen nicht dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Ihre Erhebung ist damit nicht an die gleichen engen Grenzen gebunden, die das Bundesverfassungsgericht im Volkszählungsurteil hinsichtlich der Erhebung personenbezogener Auskünfte aufgestellt hat.

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1. Teil: Rechtfertigung aufgrund hoheitlicher Eingriffsbefugnisse

schwer auf wenige geläufige und zugleich rechtlich relevante Muster reduzieren.63 Trotzdem muss gerade in einem sensiblen Bereich hoheitlichen Handelns auf der Grundlage von Befehl und Zwang wie dem Polizeirecht, wo der Anwendung von Zwangsmitteln in der Regel keine vorherige gerichtliche Klärung hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Maßnahme vorausgehen, eine genaue Auseinandersetzung darüber erfolgen, wie weit die Befugnisse der Polizei gehen und wie weit die Auskunftspflicht des Bürgers im Einzelfall reicht. Bei der Kommunikation zwischen Bürger und Polizei ist zunächst zu unterscheiden zwischen der Befugnis zur Befragung und einer – davon unabhängigen – Auskunftspflicht des Betroffenen. Ob eine Auskunftspflicht besteht und welchen Umfang sie hat, ist in den meisten Gesetzen neben der Befugnis zur Befragung und ihr gegenüber in der Regel unter eingeschränkten Voraussetzungen normiert.64 1. Befugnis zur unverbindlichen Befragung Der durch die Vorschriften über die Befragung gesteckte Rahmen für eine Informationserhebung seitens der Polizei ist sehr weit: In den meisten Polizeigesetzen wird vorausgesetzt, dass die Befragung zur Erfüllung einer „bestimmten polizeilichen Aufgabe“ erforderlich ist.65 Andere Polizeigesetze sprechen allgemeiner von der Erfüllung „polizeilicher Aufgaben“66 oder machen die Befragung davon abhängig, dass sie zur Aufklärung des Sachverhalts in einer bestimmten „polizeilichen Angelegenheit“67 erforderlich ist. Die unterschiedlichen Formulierungen haben aber keine großen praktischen Auswirkungen. Bezug genommen wird in allen Fällen auf die Aufgabenzuweisungsnormen in den Polizeigesetzen: Handelt die Polizei im Rahmen ihrer Aufgabe, kann sie den Bürger zu einem bestimmten Sachverhalt befragen. Den sich hieraus ergebenden geringen Eingriffsvoraussetzungen – neben der Gefahrenabwehr wurde der Polizei in den letzten Jahren auch die Aufgabe der Gefahrenvorsorge übertragen – wird durch das Erfordernis eines „bestimmten Anlasses“68 und die in manchen Polizeigesetzen ausgesprochene Erwartung, dass eine Person „sachdienliche Anga63

Rachor, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, Kap. F Rn. 255. Rachor, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, Kap. F Rn. 257. Die Auskunftspflicht stellt damit gegenüber der Befugnis zur Befragung den größeren Eingriff in die Rechte des Bürgers dar. 65 § 20 Abs. 1 BWPolG; § 11 Abs. 1 BbgPolG; § 12 Abs. 1 NdsGefAG; § 9 Abs. 1 NWPolG; § 18 Abs. 1 SächsPolG; § 13 Abs. 1 ThürPAG. 66 § 28 Abs. 1 SOGMV; § 11 Abs. 1 SPolG. 67 § 18 Abs. 1 BerlASOG; § 12 Abs. 1 HessSOG. 68 Müller, Polizeiliche Datenerhebung durch Befragung, S. 60 ff., folgert aus der Formulierung „bestimmte polizeiliche Aufgabe“ in § 9 Abs. 1 Satz 1 NWPolG, dass sich bereits zum Zeitpunkt der Befragung eine einzelne Aufgabe aus dem Katalog der Aufgabenzuweisungsnorm hinreichend konkretisiert haben muss. 64

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ben“ machen kann,69 nur teilweise entgegengewirkt. Voraussetzungen und Personenkreis der Befragung bleiben sehr weit gefasst: Weder muss eine Gefahr vorliegen,70 noch muss der Befragte Störer sein.71 Entscheidend ist aber, dass das unverbindliche Befragen keine Duldungspflicht beinhaltet.72 Der Betroffene muss weder stehen bleiben noch Auskunft erteilen.73 Die schlichte Befragung stellt daher – im Gegensatz zum verbindli69 Vgl. etwa § 20 Abs. 1 BWPolG; § 9 Abs. 1 NWPolG. Rachor, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, Kap. F Rn. 268, spricht insoweit von einer „selbstverständliche[n] Voraussetzung“. Auch Müller, Polizeiliche Datenerhebung durch Befragung, S. 68, misst dem Tatbestandsmerkmal „sachdienliche Angaben“ in erster Linie deklaratorischen Charakter bei. Auch dem Tatbestandsmerkmal der „Erforderlichkeit“ komme nur Signalwirkung zu, da eine Erfragung von Angaben, die für die Erfüllung einer polizeilichen Aufgabe nicht erforderlich ist, ohnehin gegen das Übermaßverbot verstoße, dem jegliches Polizeihandeln unterworfen sei; vgl. Müller, Polizeiliche Datenerhebung durch Befragung, S. 69. 70 Rachor, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, Kap. F Rn. 269, verweist auf den Umkehrschluss aus § 12 Abs. 1 Satz 2 HessSOG, wo es heißt: „Im Fall der Abwehr einer Gefahr kann sie [die befragte Person] zum Zwecke der Befragung angehalten werden.“ Der gleiche Umkehrschluss lässt sich auch § 11 Abs. 1 Satz 2 SPolG entnehmen: „Eine Auskunftspflicht besteht nur, soweit die Angaben des Betroffenen zur Abwehr einer Gefahr erforderlich sind.“ [Hervorhebungen durch den Verfasser]. 71 Vgl. Nr. 12.1 VollzB BayPAG, wo darauf hingewiesen wird, dass Befragungen auch unbeteiligter Dritter zulässig und nicht auf die Ausnahmefälle des polizeilichen Notstands (Art. 10 BayPAG) beschränkt sind. Als Beispiel werden der Zufallszeuge oder der Nachbar eines Störers genannt. Einschränkend Müller, Polizeiliche Datenerhebung durch Befragung, S. 78 f.: „Zulässigerweise kann mithin nur derjenige befragt werden, der in räumlicher und auch materieller Hinsicht in einem hinreichenden Näheverhältnis zu der polizeilichen Gefahrenlage steht. Eine Heranziehung bzw. Befragung von Personen jenseits dieser Markierungen – im Sinne einer ,Jedermann-Polizeipflicht‘ – lässt sich mit den dem Polizeirecht seit jeher immanenten Prinzipien der Störer- und Notstandsverantwortlichkeit zur Eingrenzung des Adressatenkreises nicht vereinbaren.“ 72 Teilweise wird daher angenommen, dass ein freiwilliges Gespräch zwischen Bürger und Polizei (bei welchem keinerlei Auskunftspflicht besteht) mangels Rechtseingriffs keiner gesetzlichen Grundlage bedarf (in diesem Sinne Schmidbauer, in: Schmidbauer/Steiner/Roese, BayPAG, Art. 12 Rn. 2, 24). Zwar ist es richtig, dass nicht jede Befragung in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung eingreift, wie etwa das Verlangen sachbezogener Auskünfte. Die Ansicht, die einer unverbindlichen Befragung den Charakter eines Rechtseingriffs abspricht, übersieht allerdings, dass bereits durch die Form der Datenerhebung (zu der auch das „bloße“ Befragen einer Person gehört) in das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) eingreift und daher einer entsprechenden Befugnisnorm bedarf; vgl. Müller, Polizeiliche Datenerhebung durch Befragung, S. 80. 73 Rachor, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, Kap. F Rn. 273. A. A. wohl Gusy, Polizeiliche Befragung am Beispiel des § 9 NRWPolG, NVwZ 1991, 614, 615, der von einer Duldungspflicht des Bürgers ausgeht, aber mehr auf die äußeren Umstände der Befragung abstellt: „Er [der Bürger] kann den Fragen nicht ausweichen; sei es, weil er auf der Wache festgehalten wird und nicht weggehen kann; sei es, weil die Befragung in seiner Wohnung stattfindet und die Beamten nicht weggehen wollen; sei es, weil die Fragen unter freiem Himmel gestellt werden und

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chen Auskunftsverlangen – mangels Regelungscharakters keinen Verwaltungs-, sondern einen Realakt dar,74 und hilft daher in Fällen der zwangsweisen Herbeiführung einer Aussage nicht weiter, da die Anwendung von Verwaltungszwang das Vorliegen eines Verwaltungsaktes, der ein verbindliches Gebot oder Verbot enthält, zur Voraussetzung hat.75 2. Gesetzlich geregelte Auskunftspflichten Weiterhelfen kann insofern nur eine gesetzlich statuierte Auskunftspflicht des Befragten. Nach dem Volkszählungsurteils des Bundesverfassungsgerichts kann zur Begründung einer Auskunftspflicht nicht mehr auf die polizeiliche Generalklausel zurückgegriffen werden. Denn diese wird den detaillierten Forderungen, die das Gericht für Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung formuliert hat,76 nicht gerecht.77 Da die Anforderungen an eine Auskunftsverpflichtung aber mittlerweile in den Polizeigesetzen in Spezialbefugnissen geregelt sind, kann ohnehin aus systematischen Gründen ein Rückgriff auf die Generalklausel zur Begründung einer Auskunftspflicht nicht mehr erfolgen. Denn die Normierung einer Spezialbefugnis verwehrt den Rückgriff auf die Generalklausel.78 Eine Auskunftspflicht besteht damit nur bei Vorliegen der in den Spezialbefugnissen formulierten Voraussetzungen. Die einzelnen Polizeigesetze folgen hinsichtlich der Anforderungen, bei deren Vorliegen eine Auskunftspflicht besteht, allerdings unterschiedlichen Konzeptionen:

die Beamten den Betroffenen anhalten (§ 9 I 2 NRWPolG) oder ihm folgen.“ Dieser auf dem Bürger lastende „psychische Druck“ (so die Formulierung Gusys) sagt aber nichts darüber aus, ob der Betroffene auch rechtlich zur Duldung verpflichtet ist. Zudem vermag auch der Verweis Gusys auf die Befugnis der Polizei, den Betroffenen anzuhalten (§ 9 Abs. 1 Satz 2 NWPolG), als Argument für eine Duldungspflicht nicht zu überzeugen, denn diese Regelung stellt eine selbständige Eingriffsgrundlage neben der Befugnis zur Befragung dar. Es spricht vielmehr einiges dafür, dass die Befugnis zur Befragung für sich betrachtet gerade keine Duldungspflicht auslöst, da sonst eine dem § 9 Abs. 1 Satz 2 NWPolG entsprechende Norm überflüssig wäre. 74 Schmidbauer, in: Schmidbauer/Steiner/Roese, BayPAG, Art. 12 Rn. 25; Rachor, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, Kap. F Rn. 273. 75 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 20 Rn. 5. Vgl. auch Art. 53 Abs. 1 BayPAG: „Der Verwaltungsakt der Polizei, der auf die Vornahme einer Handlung oder auf Duldung oder Unterlassung gerichtet ist, kann mit Zwangsmitteln durchgesetzt werden [. . .].“ [Hervorhebung durch den Verfasser]. 76 Vgl. hierzu BVerfGE 65, 1, 44 ff. 77 Müller, Polizeiliche Datenerhebung durch Befragung, S. 52. 78 Vgl. Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 157.

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a) Die Anknüpfung der Auskunftspflicht an die Befugnis zur Befragung Sehr weitgehende Auskunftspflichten der Bürger sind in den Sicherheitsgesetzen der Länder Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein statuiert. Nach den Vorschriften des § 28 Abs. 2 MVSOG und des § 180 Abs. 2 SchlHLVwG ist jeder, an den die Polizei Fragen stellen darf, auch zur Auskunft verpflichtet. Indem das Befragungsrecht der Polizei auch in diesen Ländern lediglich an die Erwartung geknüpft ist, dass die Angaben des Bürgers zur Erfüllung einer polizeilichen Aufgabe erforderlich sind, können mittels dieser Regelungen auch Unbeteiligte sehr weitgehend zur Zusammenarbeit mit der Polizei verpflichtet werden. Dies ist angesichts des Grundsatzes, dass Nichtstörer – als Ultima Ratio79 – nur unter den Voraussetzungen des polizeilichen Notstandes in Anspruch genommen werden dürfen, höchst bedenklich.80 Der Täter einer Entführung kann auf der Grundlage des MVSOG und des SchlHLVwG von der Polizei über den Aufenthaltsort des Entführten befragt werden und ist auch zur Auskunft verpflichtet, da die Rettung des Opfers als Maßnahme der Gefahrenabwehr eine polizeiliche Aufgabe ist. b) Die Anknüpfung der Auskunftspflicht an die polizeirechtliche Verantwortlichkeit Sehr weit gehen auch die Polizeigesetze der Länder Hessen, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt. Nach den Bestimmungen dieser Polizeigesetze sind Störer und – unter den Voraussetzungen des polizeilichen Notstands81 – auch Nichtstörer zur Auskunft verpflichtet.82 Der Verweis auf die Regelung über die polizeirechtliche Verantwortlichkeit besagt, dass eine Auskunftspflicht des Befragten nur bei Vorliegen einer konkreten Gefahr existieren kann83 – Befragungen zur Gefahrenvorsorge sind damit zwar rechtlich zulässig,84 verpflichten jedoch nicht zur Auskunftserteilung. Im Unterschied zu den Regelungen der Länder Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern wird in diesen Polizeigesetzen der Kreis der Auskunftsverpflichteten dadurch eingegrenzt, dass Unbetei79

Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 347. So die berechtigte Kritik von Rachor, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, Kap. F Rn. 280. 81 Zu Recht kritisch zu dem Begriff: Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 347. Umschrieben werden soll damit die Situation, bei deren Bestehen die Polizei ausnahmsweise Maßnahmen gegen nicht verantwortliche Personen (Nichtstörer) richten kann. Vgl. z. B. § 6 Abs. 1 Nr. 1–4 MEPolG; Art. 10 Abs. 1 Nr. 1–4 BayPAG. 82 § 12 Abs. 2 HessSOG; § 14 Abs. 2 SOGLSA; § 12 Abs. 3 NdsGefAG. 83 Rachor, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, Kap. F Rn. 278. 84 Vgl. oben B. II. 1. 80

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1. Teil: Rechtfertigung aufgrund hoheitlicher Eingriffsbefugnisse

ligte nur unter den Voraussetzungen des polizeilichen Notstands zur Auskunftserteilung verpflichtet werden können. Auch nach diesen Gesetzen, die eine Auskunftspflicht an die polizeirechtliche Verantwortlichkeit knüpfen, ist der Entführer zur Auskunft gegenüber der Polizei verpflichtet, da er als Handlungsstörer verantwortlich ist. c) Die Unterscheidung zwischen personenbezogenen und sachbezogenen Angaben Eine dritte Gruppe von Polizeigesetzen (Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Rheinland-Pfalz, Hamburg, Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Thüringen) unterscheidet zunächst zwischen der Pflicht zur Angabe von Personalien und „weiteren Auskünften“.85 Die Personalien (Name, Vorname, Tag und Ort der Geburt, Wohnanschrift und Staatsangehörigkeit) können demnach bereits erhoben werden, wenn die Voraussetzungen einer Befragung [vgl. oben B. II. 1.] vorliegen.86 aa) Sachbezogene Auskunftspflichten bei Vorliegen einer Gefahr Eine weitergehende Auskunftspflicht, die sich auf personenbezogene Angaben über einen Dritten und – für den vorliegenden Fall relevant – sachbezogene Angaben bezieht, besteht dagegen nur bei Vorliegen zusätzlicher Voraussetzungen:87 Einige Länder (Baden-Württemberg, Sachsen) stellen hier darauf ab, dass die Angaben des Betroffenen zur Abwehr einer Gefahr für Leben, Leib oder Gesundheit einer Person oder für bedeutende fremde Sach- oder Vermögenswerte erforderlich sind.88 Nach § 9a Abs. 2 Satz 2 RhPfPOG genügt für die Verpflichtung zu sachbezogenen Angaben hingegen bereits das Vorliegen einer 85 Art. 12 BayPAG; §§ 27 Abs. 4 i. V. m. 20 Abs. 1 BWPolG; § 11 Abs. 2 BbgPolG; § 18 Abs. 3 BerlASOG; § 13 Abs. 2 BremPolG; § 9 Abs. 2 NWPolG; § 18 Abs. 6 i. V. m. Abs. 3 SächsPolG; § 13 Abs. 2 ThürPAG. 86 Die Bestimmungen über die Befragung überschneiden sich teilweise mit der Befugnis zur Identitätsfeststellung. Die Identitätsfeststellung ist ebenso auf Erlangung der Personalien gerichtet und schließt auch die Befragung des Betroffenen mit ein (vgl. z. B. Art. 13 Abs. 2 Satz 2 BayPAG). Da die Regelungen über Identitätsfeststellung teilweise enger sind als die Vorschriften zur Befragung, wird teilweise vertreten, dass Letztere insoweit zurücktreten (in diesem Sinne Rachor, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, Kap. F Rn. 281). 87 Erstaunlich ist, dass sachbezogene Angaben nur unter engeren Voraussetzungen erhoben werden können als personenbezogene Auskünfte. Das Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgericht ließe eigentlich eine umgekehrte Regelung erwarten, da die im Hinblick auf das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung geltenden Beschränkungen für sachbezogene Angaben gerade nicht gelten (vgl. Fn. 62). Einzig § 180 Abs. 2 SchlHLVwG macht hiervon eine Ausnahme und gestattet die Erhebung von Personalien nur unter engeren Voraussetzungen als sachbezogene Angaben.

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„einfachen“ Gefahr; eine drohende Beeinträchtigung hochrangiger Rechtsgüter wie Leib, Leben oder bedeutende Sach- oder Vermögenswerte – wie in den Polizeigesetzen von Baden-Württemberg oder Sachsen vorausgesetzt – ist hier nicht erforderlich.89 Auch nach diesen Regelungen besteht eine Pflicht des Entführers zu sachbezogenen Angaben, da aufgrund des unkalkulierbaren Verlaufs von Entführungsfällen in der Regel eine Lebensgefahr – jedenfalls aber eine Gesundheitsgefahr – für das Opfer zu bejahen sein wird. bb) Sachbezogenen Auskunftspflichten bei Bestehen einer gesetzlichen Handlungspflicht In den Ländern Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, NordrheinWestfalen und Thüringen, die ebenfalls zwischen der Angabe von Personalien und „weiteren Auskünften“ unterscheiden, wird eine qualifizierte Auskunftspflicht hingegen an das Vorliegen einer „gesetzlichen Handlungspflicht“ geknüpft (vgl. Art. 12 Satz 2 BayPAG ; § 18 Abs. 3 Satz 4 BerlASOG; § 11 Abs. 2 Satz 2 BbgPolG; § 13 Abs. 2 Satz 2 BremPolG; § 3 Abs. 2 HambPolDVG;90 § 13 Abs. 2 ThürPAG; § 9 Abs. 2 Satz 2 NWPolG).91 88 Z. B. § 18 Abs. 6 Satz 1 i. V. m. Abs. 5 Nr. 1 SächsPolG. § 27 Abs. 4 i. V. m. Abs. 3 Nr. 1 BWPolG. Rachor, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, Kap. F Rn. 286, lobt die baden-württembergische Regelung, weil sie in § 20 Abs. 1 BWPolG lediglich eine Pflicht zur Angabe der Personalien, nicht aber eine Pflicht zur Mitteilung sonstiger Informationen statuiere. Damit trage – so Rachor – allein das baden-württembergische Polizeirecht dem Bedürfnis Rechnung, in die Kommunikationssphäre zwischen Bürger und Polizeibeamten möglichst nicht hoheitlich einzugreifen. – Dabei übersieht Rachor, dass das baden-württembergische Polizeigesetz in Zusammenhang mit den Vorschriften über die Vorladung in § 27 Abs. 4 BWPolG eine zusätzliche – sachbezogene – Auskunftspflicht statuiert. Diese ist, wie in anderen Polizeigesetzen auch, an das Vorliegen einer Gefahr für Leben, Gesundheit oder Freiheit einer Person geknüpft. Wendet man den § 27 Abs. 4 BWPolG für Befragungen ohne Vorladung und außerhalb der Dienststelle zumindest in den Fällen, in denen eine Vorladung möglich wäre, analog an (so Wolf/Stephan, BWPolG, § 27 Rn. 13), ergibt sich kein Unterschied zu den Regelungen anderer Polizeigesetze. 89 Auch § 11 Abs. 1 Satz 2 SPolG knüpft wie § 9a Abs. 2 Satz 2 RhPfPOG eine Auskunftspflicht an das Vorliegen einer „einfachen“ Gefahr. § 11 Abs. 1 SPolG differenziert jedoch nicht zwischen personen- und sachbezogenen Angaben. Das bedeutet, dass eine Verpflichtung zu personenbezogenen Angaben nach saarländischem Recht ebenfalls nur bei Vorliegen einer Gefahr besteht. 90 In Hamburg kann die Personalienfeststellung, Identitätsfeststellung und die Befragung einer Person nach den §§ 3, 4 HambPolDVG in Konkurrenz treten zu der Vorschrift des § 12 HambSOG. Nach allen Normen ist die Feststellung der Personalien zulässig. Da in §§ 3, 4 HambPolDVG jedoch die bereichsspezifischere Normierung der Datenerhebung zu sehen ist, verdrängen diese Normen für die Polizei die Vorschrift des § 12 HambSOG; vgl. Alberts/Merten/Rogosch, HambSOG, § 12 Rn. 3. 91 Eine Besonderheit besteht in Bremen: Nach § 13 Abs. 2 Satz 2 BremPolG BremPolG besteht eine qualifizierte Auskunftspflicht mittels Verweises auf die polizeirecht-

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(1) Zum Begriff „gesetzliche Handlungspflicht“ Während in den anderen Polizeigesetzen die Voraussetzungen hinsichtlich einer Pflicht zur Angabe sachbezogener Daten relativ klar umrissen sind, führt hier das Merkmal „gesetzliche Handlungspflicht“ zu Abgrenzungsproblemen und Auslegungsschwierigkeiten. Während eine enge Auslegung der Norm nur Handlungspflichten außerhalb der Polizeigesetze heranziehen will,92 wird teilweise angenommen, dass eine derartige Pflicht bereits besteht, wenn der Befragte auf polizeirechtlicher Grundlage in Anspruch genommen werden kann.93 Auf Grundlage dieser Auffassung käme auch der Störer i. S. d. §§ 4, 5 MEPolG bzw. unter besonderen Voraussetzungen auch der Nichtstörer (vgl. § 6 MEPolG) als Adressat der „gesetzlichen Handlungspflicht“ in Betracht. Die Regelung würde in dieser weiten Auslegung damit fast den Bestimmungen derjenigen Polizeigesetze entsprechen, die – wie § 12 Abs. 2 Satz 1 HessSOG – mit der Verweisung auf den Verhalten- oder Zustandsstörer unmittelbar auf die polizeirechtliche Verantwortlichkeit Bezug nehmen.94 Gegen eine Einordnung der §§ 4 ff. MEPolG als gesetzliche Handlungspflichten sprechen allerdings sowohl grammatische als auch systematische Bedenken: Schon aus der Formulierungen der Polizeigesetze, die – indem sie diejenige Personen zu einer Auskunft verpflichten, für die gesetzliche Handlungspflichten bestehen – klar zwischen Handlungs- und Auskunftspflicht unterscheiden, lässt sich ableiten, dass die Konzeption des Gesetzes davon ausgeht, dass für den Auskunftspflichtigen bereits außerhalb des Polizeirechts spezielle Pflichten zum Einschreiten in Gefahrensituationen bestehen müssen, an die das Polizeirecht lediglich anknüpft und diese Pflichten um eine Auskunftspflicht gegenüber der Polizei erweitert.95 liche Verantwortlichkeit für den Störer bzw. – unter den Voraussetzungen des polizeilichen Notstandes – für den Nichtstörer, sowie für Personen, für die gesetzliche Handlungspflichten bestehen. Das Bremer Recht stellt damit eine Mischform zwischen den in B. II. 2. b) und den in B. II. 2. c) bb) genannten Polizeigesetzen dar. 92 Rachor, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, Kap. F Rn. 282; Habermehl, JA 1990, 333; Lisken, Polizeigesetz NW 1990, NWVBl. 1990, 325, 327. 93 Vgl. Haurand, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht in Nordrhein-Westfalen, S. 114 m. w. N. 94 Genau genommen geht die Regelung, die auf eine gesetzliche Handlungspflicht Bezug nimmt, in dieser weiten Auslegung noch über die Polizeigesetze hinaus, die eine qualifizierte Auskunftspflicht an die polizeirechtliche Verantwortlichkeit als Verhaltens- oder Zustandsstörer knüpfen. Denn Letztere erfassen lediglich gesetzliche Handlungspflichten der Polizei, Erstere – in der weiten Auslegung – gesetzliche Handlungspflichten von Polizei und Bürger. In der Regel wird aber die Nichtbeachtung einer Handlungspflicht des Bürgers einen polizeiwidrigen Zustand darstellen und damit auch eine polizeiliche Handlungspflicht begründen, so dass die Reichweite beider Regelungen weitgehend deckungsgleich ist. 95 Vgl. Müller, Polizeiliche Datenerhebung durch Befragung, S. 92.

B. Polizeirechtliche Eingriffsbefugnisse

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Aber auch in systematischer Hinsicht lassen sich die §§ 4 ff. MEPolG nur schwer als gesetzliche Handlungspflichten klassifizieren: Denn eine gesetzlich statuierte Handlungspflicht legt dem Bürger als Adressaten die Pflicht zur Vornahme einer gesetzlich bestimmten Handlung auf. Die Regelungen über die Polizeipflichtigkeit einer Person geben dagegen der Polizei lediglich – unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes – die Möglichkeit, bei Bestehen einer Eingriffsbefugnis gegen den Verursacher eines polizeiwidrigen Zustandes vorzugehen. Sie begründen aber keine originären Verpflichtungen des Bürgers zum Handeln. Diese müssen erst durch bestimmte polizeiliche Verfügungen konkretisiert werden.96 Die Handlungspflicht macht den Bürger also zum Subjekt einer eigenen Pflicht, die Polizeipflichtigkeit des Bürgers ist dagegen ein Anknüpfungspunkt für polizeiliches Einschreiten gegen den Bürger, der in diesem Zusammenhang nur Objekt hoheitlichen Handelns ist. Stoßrichtung und Adressat der beiden Begriffe sind damit unterschiedlich und können nicht einfach gleichgesetzt werden. Etwas anderes würde nur dann gelten, wenn man in den Adressatenkreis der „gesetzlichen Handlungspflicht“ auch die Polizei mit einbezieht.97 Denn die Regelungen über die Polizeipflichtigkeit begründen zwar – wie dargelegt – keine Handlungspflichten für den Bürger, sind aber ein Anknüpfungspunkt für ein Einschreiten der Polizei und damit Grundlage für eine polizeiliche Handlungspflicht. Für eine derartige Auslegung könnte sprechen, dass manche Polizeigesetze die Handlungspflicht ausdrücklich der befragten Person zuordnen (vgl. Art. 12 Satz 2 BayPAG: „Zu weiteren Auskünften gegenüber der Polizei ist die Person nur verpflichtet, soweit für sie gesetzliche Handlungspflichten bestehen.“98), andere Polizeigesetze aber – indem sie auf die Worte „für sie“ verzichten – den Adressatenkreis der Handlungspflicht nicht von vornherein auf den Bürger beschränken (vgl. § 11 Abs. 2 Satz 2 BbgPolG; § 9 Abs. 2 Satz 2 NWPolG).99 Dies könnte darauf hindeuten, dass in letzteren Gesetzen eine qualifizierte Auskunftspflicht bereits auf eine polizeirechtliche Grundlage gestützt werden kann, da hier gerade die Beschränkung der gesetzlichen Handlungspflicht auf die befragte Person unterblieb.

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Vgl. Müller, Polizeiliche Datenerhebung durch Befragung, S. 89. Diese Frage wird von Gusy, Polizeiliche Befragung am Beispiel des § 9 NRWPolG, NVwZ 1991, 614, 617 aufgeworfen. 98 Hervorhebung durch den Verfasser. Ebenso die Regelung in § 18 Abs. 3 Satz 4 BerlASOG. 99 Die Worte „für sie“ greifen das Subjekt „Person“ des voranstehenden Hauptsatzes wieder auf. Wäre mit den Worten „für sie“ das Objekt „Polizei“ gemeint, müsste dieser Subjektswechsel durch „für jene“, nicht durch „für sie“ markiert werden. Damit beziehen sich die Regelungen in Art. 12 Satz 2 BayPAG und § 18 Abs. 3 Satz 4 BerlASOG eindeutig auf gesetzliche Handlungspflichten des Bürgers und nicht der Polizei. 97

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1. Teil: Rechtfertigung aufgrund hoheitlicher Eingriffsbefugnisse

Auf der anderen Seite ist fraglich, ob eine derart geringe begriffliche Abweichung in den Polizeigesetzen eine so unterschiedliche Auslegung der Formulierung „gesetzliche Handlungspflicht“ zu begründen vermag oder es sich nicht vielmehr um eine unbewusste Formulierungsunschärfe des Gesetzgebers handelt. Hinzu kommt, dass im Polizeirecht – als Ausfluss des Opportunitätsgrundsatzes – nahezu alle Normen Ermessensbestimmungen sind. Es stellt sich demnach die Frage, wann überhaupt eine „gesetzliche Handlungspflicht“ der Polizei bestehen soll: Bereits dann, wenn die Polizei zum Einschreiten berechtigt ist, oder aber erst, wenn das Entschließungsermessen der Polizei auf Null reduziert ist, wenn die Polizei also zum Einschreiten verpflichtet ist.100 Aufgrund dieser offenen Frage ist es naheliegend, dass der Gesetzgeber – wie in den unter B. II. 2. b) genannten Polizeigesetzen erfolgt – unmittelbar auf die Regeln über die polizeirechtliche Verantwortlichkeit verwiesen hätte, wenn er eine qualifizierte Auskunftspflicht auf polizeirechtlicher Grundlage hätte statuieren wollen. Wenn auch nicht unmittelbar für die Auslegung der übrigen Polizeigesetze heranziehbar, so sprechen zuletzt auch die Regelungen des § 13 Abs. 2 Satz 2 BremPolG und des § 22 Abs. 2 BPolG gegen die weite Auslegung des Tatbestandsmerkmals der „gesetzlichen Handlungspflicht“. Denn indem in diesen Vorschriften die „gesetzlichen Handlungspflichten“ neben den Vorschriften über die Verhaltens- und Zustandsverantwortlichkeit (§§ 5, 6 BremPolG; §§ 17, 18 BPolG) bzw. die Inanspruchnahme nichtverantwortlicher Personen (§ 7 BremPolG; § 20 BPolG) als Anknüpfungspunkt für eine Auskunftspflicht des Bürgers aufgeführt sind, wird deutlich, dass das Merkmal der „gesetzlichen Handlungspflicht“ nicht die Verpflichtungen, die dem Störer nach den Vorschriften über die polizeirechtliche Verantwortlichkeit auferlegt werden können, mit umfasst. Hält man sich zudem vor Augen, dass die Regelungen über die Befragung und Auskunftspflicht im BPolG an den entsprechenden Bestimmungen der Landespolizeigesetze orientiert wurde,101 so fällt der im BPolG zum Ausdruck kommenden Auslegung des Merkmals „gesetzliche Handlungspflicht“ eine starke Indizwirkung für die Interpretation der entsprechenden landespolizeirechtlichen Regelungen zu.

100 Vgl. Gusy, Polizeiliche Befragung am Beispiel des § 9 NRWPolG, NVwZ 1991, 614, 617. Würde man hier – innerhalb der weiten Auslegung – der Auffassung folgen, nur bei einer Ermessensreduktion auf Null bestehe eine „gesetzliche Handlungspflicht“ der Polizei, so kommt diese Regelung denjenigen Polizeigesetzen sehr nahe, die eine qualifizierte Auskunftspflicht an eine Gefahr für Leben, Leib, Gesundheit oder bedeutende fremde Sach- und Vermögenswerte knüpfen. Denn gerade in diesen Fällen ist das Ermessen der Polizei zum Tätigwerden regelmäßig auf Null reduziert; vgl. Nr. 5.2. VollzB BayPAG. 101 Vgl. Müller, Polizeiliche Datenerhebung durch Befragung, S. 90.

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(2) Die einzelnen gesetzlichen Handlungspflichten des mutmaßlichen Entführers Zur Begründung einer gesetzlichen Handlungspflicht wird regelmäßig auf drei Tatbestände verwiesen, die eine Person zu sachbezogenen Auskünften verpflichten: (a) Die Nichtanzeige geplanter Straftaten gem. § 138 StGB, (b) die unterlassene Hilfeleistung gem. § 323c StGB sowie (c) die Handlungspflichten, die sich aus einer strafrechtlichen Garantenstellung ergeben.102 Müller erkennt hingegen die Straftatbestände der §§ 138, 323c StGB nicht als „gesetzliche Handlungspflichten“ i. S. d. Polizeigesetze an.103 Er begründet dies damit, dass den genannten Tatbeständen lediglich die Aufgabe zukomme, einen Verstoß gegen bestimmte Gebotsnormen mit Strafe zu bewehren. Derartige Gebotsnormen entsprüngen aber nicht dem Strafrecht selbst, sondern würden in dessen Geltungsbereich vielmehr als bestehend vorausgesetzt: „Es handelt sich hierbei um soziale Grund- und Hilfspflichten, die ihre Wurzeln in der Gemeinschaftsbezogenheit des Menschen haben und – wenn überhaupt – nur an Aussagen der Verfassung festgemacht werden können.“ – Fraglich an Müllers Ausführungen bleibt, ob sich seine Feststellungen auch auf unechte Unterlassungsdelikte und damit auf Handlungspflichten beziehen, die sich aus einer strafrechtlichen Garantenstellung ergeben können. Seine oben dargelegte Argumentation rekurriert ausdrücklich nur auf echte Unterlassungsdelikte. Auf der anderen Seite erwähnt er, dass das Strafrecht generell keine unmittelbaren Verpflichtungen zum Handeln schaffe.104 Demnach dürften auch aus einer strafrechtlichen Garantenstellung keine originären Handlungspflichten entspringen. Selbst wenn man aber mit Müller davon ausgeht, dass die (echten) Unterlassungsdelikte des StGB nur an außerstrafrechtliche Handlungspflichten anknüpfen und keine unmittelbaren Verpflichtungen zum Handeln schaffen, so muss man doch konstatieren, dass die Verwirklichung eines (echten) Unterlassungsdeliktes immer auch mit der Verletzung einer außerstrafrechtliche Handlungspflicht einhergeht, da ja die (echten) Unterlassungsdelikte nach Müller gerade an die Verletzung einer Handlungspflicht anknüpfen und diese damit gerade voraussetzen. Wenn damit die §§ 138, 323c StGB auch selbst keine „gesetzlichen Handlungspflichten“ i. S. d. Polizeigesetze begründen, so ist die Verwirklichung dieser Straftatbestände ein Beleg dafür, dass gegen eine (außerstrafrechtliche) Handlungspflicht verstoßen wurde. Daher können sie auch bei der Beurteilung der Frage, ob für den Befragten eine gesetzliche Handlungspflicht und damit eine Auskunftspflicht besteht, herangezogen werden.

Der mutmaßliche Täter einer Entführung kann zunächst einmal Adressat aller genannten Handlungspflichten sein: Die Lage, in der er das Opfer gebracht hat, kann einen Unglücksfall i. S. d. § 323c StGB darstellen, der erpresserische Menschenraub ist in § 138 Abs. 1 Nr. 7 als anzeigepflichtige Straftat aufgenommen,

102 Vgl. Nr. 12.2 VollzB BayPAG; Schmidbauer, in: Schmidbauer/Steiner/Roese, BayPAG, Art. 12 Rn. 16. 103 Müller, Polizeiliche Datenerhebung durch Befragung, S. 93 f. 104 Müller, Polizeiliche Datenerhebung durch Befragung, S. 93.

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und eine Garantenstellung des Entführers kann sich aufgrund pflichtwidrigen Vorverhaltens ergeben (Ingerenz). Im Folgenden sollen daher die genannten Tatbestände genauer darauf hin untersucht werden, ob sie im Einzelfall eine Handlungspflicht für den Täter einer Entführung begründen: (a) Nichtanzeige geplanter Straftaten (§ 138 StGB) Für den Tatbestand des § 138 StGB ist weithin unstreitig, dass für den an der Straftat oder ihrer Vorbereitung beteiligten Täter, Gehilfen oder Anstifter keine Anzeigepflicht besteht.105 Freilich ergibt sich dies nicht erst aus der grundsätzlichen Straflosigkeit der Selbstbegünstigung, sondern bereits aus dem Wortlaut des § 138 StGB: Denn der Beteiligte erfährt nicht – wie in § 138 StGB verlangt – von der geplanten Straftat, sondern ist infolge seiner Mitwirkung informiert.106 Insoweit kann eine gesetzliche Handlungspflicht des mutmaßlichen Entführers nicht auf diesen Tatbestand gestützt werden.107 (b) Unterlassene Hilfeleistung (§ 323c StGB) Die Gefahr einer drohenden Strafverfolgung sowie die Straflosigkeit der Selbstbegünstigung kann sich auch im Rahmen der allgemeinen Hilfspflicht des § 323c StGB niederschlagen. Hier könnte man bereits daran zweifeln, ob eine vorsätzlich herbeigeführte Rechtsgutsverletzung überhaupt begrifflich einen Unglücksfall i. S. d. § 323c StGB darstellt.108 Angesichts der Definition des Unglücksfalls als plötzliches äußeres Ereignis109 erscheint eine solche Annahme bei Ausführung eines geplanten Verbrechens – zumindest aus der Sicht des Täters – zweifelhaft.110 Teilweise wird ein Entfallen der Hilfspflicht auch damit 105

BGHSt 36, 167, 169; 39, 164, 167; Lackner/Kühl, StGB, § 138 Rn. 6. So Cramer/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, § 138 Rn. 20. 107 A. A. aber Jerouschek/Kölbel, Folter von Staats wegen?, JZ 2003, 613, 616, die hinter der fehlenden Verpflichtung des Tatbeteiligten zu einer Anzeige ein kriminalpolitisches Motiv erkennen, demzufolge der Tatbereite von seinem Vorhaben einfach abrücken können soll: Seiner Straffreiheit soll nicht das Ansinnen im Wege stehen, der Behörde etwaige Mittäter zu nennen, da dies ihm von der Lossagung abhalten und zum Nachteil des betroffenen Rechtsguts ausschlagen könnte. Wenn der Tatbeteiligte aber überschaut, dass er in den Augen der Behörde ohnehin bereits als Tatverdächtiger gilt, entfalle der Anlass zur Suspendierung der Anzeigepflicht, da ihm dann die geforderte Kontaktaufnahme nicht mehr schrecken kann. 108 Haurand/Vahle, Rechtliche Aspekte der Gefahrenabwehr in Entführungsfällen, NVwZ 2003, 513, 516. 109 Lackner/Kühl, StGB, § 323c Rn. 2. 110 Geradezu selbstverständlich – ohne Anschein irgendeines Zweifels – dagegen der Bundesgerichtshof in BGHSt 39, 164 (Leitsatz): „Bleibt unaufklärbar, ob der Angeklagte sich in strafbarer Weise an der einen Unglücksfall bildenden Straftat beteiligt hat [. . .].“ [Hervorhebung durch den Verfasser]. 106

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begründet, dass es widersinnig bzw. unzumutbar111 wäre, von einem Täter zu verlangen, seinen noch nicht ganz ausgeführten Tatplan aufzugeben.112 Dagegen lassen Rechtsprechung und herrschende Lehre die Gefahr eigener Strafverfolgung bei schuldhafter Herbeiführung eines Unglücksfalls für den Entfall der Hilfspflicht aus § 323c StGB nicht genügen.113 Lediglich in den Fällen, in denen die Straftat in keinem Zusammenhang mit dem Unglücksfall steht, wird teilweise angenommen, dass dem Täter wegen der Gefahr eigener Strafverfolgung keine Hilfspflicht trifft.114 Eine solche Sachlage liegt aber bei der Befragung des mutmaßlichen Entführers nicht vor – hier stellt die begangene Straftat gleichzeitig den Unglücksfall dar: Dem Täter trifft damit eine gesetzliche Handlungspflicht nach § 323c StGB. (c) Ingerenz Selbst wenn man aber – entgegen der Ansicht der Rechtsprechung und großen Teilen der Lehre – eine Hilfspflicht nach § 323c StGB verneint, so kann sich eine gesetzliche Handlungspflicht zuletzt auch aus einer Garantenstellung des Täters aufgrund gefährdenden Vorverhaltens (Ingerenz) ergeben:115 Der Täter hat hier durch die Entführung und Einsperrung des Opfers eine Gefahr für die Gesundheit und das Leben des Opfers geschaffen, die grundsätzlich eine Garantenstellung und damit eine Pflicht zur Abwendung des drohenden Erfolges begründet. Fraglich ist allerdings, ob eine Garantenstellung des Täters auch dann angenommen werden kann, wenn er das Opfer von vornherein mit Tötungsvorsatz gefangen genommen hat. Die Bestrafung allein aus dem Begehungsdelikt in einer solchen Konstellation kann zum einen auf Konkurrenzerwägungen beruhen. Sie könnte aber zum anderen auch darauf hindeuten, dass hier eine Garantenstellung des Täters von vornherein zu verneinen ist. In der Tat wird in Fällen, in denen bereits die Vorhandlung des Täters eine vorsätzliche verwirklichte 111 Das Merkmal der Zumutbarkeit ist nach dem Wortlaut der Vorschrift wohl der richtige Anknüpfungspunkt für die Behandlung der Problematik eigener Strafverfolgung. Denn die Konkretisierung, dass die Hilfe zumutbar, „insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr möglich“ sein muss, führt letztendlich zu der Frage, ob als solche Gefahr auch die Gefahr eigener Strafverfolgung anzusehen ist. 112 Vgl. die Nachweise bei Ulsenheimer, Zumutbarkeit normgemäßen Verhaltens bei Gefahr eigener Strafverfolgung, GA 1972, 1, 18. 113 BGHSt 11, 353; 39, 164, 166; Cramer/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, § 323c Rn. 23; Lackner/Kühl, StGB, § 323c Rn. 7; Tröndle/Fischer, StGB, § 323c Rn. 7; Krey, BT 1, Rn. 808 b. 114 Vgl. Rengier, BT 2, § 42 Rn. 10 ff.; Cramer/Sternberg-Lieben, in: Schönke/ Schröder, StGB, § 323c Rn. 23 m. w. N. 115 Vgl. zu den Voraussetzungen einer Garantenpflicht aus Ingerenz Jescheck/Weigend, AT, § 59 IV 4 a.

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Straftat darstellt, eine Garantenstellung nur dann allgemein bejaht, wenn der über den durch das Vorverhalten hervorgerufenen Zustand hinausgehende Schaden ungewollt eintritt. So ist derjenige, der jemanden mit Körperverletzungsvorsatz attackiert und anschließend liegen lässt, als Garant für die Abwehr von Lebensgefahren für das Opfer verantwortlich. Stirbt der Angegriffene, ist der Täter – wenn er schließlich die Lebensgefahr erkennt – wegen vorsätzlicher Körperverletzung mit Todesfolge in Tateinheit mit vorsätzlicher Tötung durch Unterlassen bestrafen.116 Umstritten ist dagegen, ob dem Täter in gleicher Weise eine Garantenstellung erwächst, wenn er bereits die Verletzungshandlung mit Tötungsvorsatz begangen hat. Armin Kaufmann hat gegen die Annahme einer Garantenpflicht in einer solchen Situation sehr nachdrücklich Stellung bezogen: „Es ist schwer zu sagen, was an dieser Konstruktion am meisten befremdet: Das Bild vom Mörder, der dadurch, daß er auf sein Opfer lauert, zu dessen Garanten wird. Oder das Gebot: Wenn Du mit Tötungswillen alles zur Herbeiführung des Todes eines anderen Notwendige getan hast, dann wende diesen Erfolg ab! Oder die Tatsache, daß sich dieses Gebot nicht an diejenigen wendet, deren Tatplan gar keine Möglichkeit zur tätigen Reue einkalkuliert. Oder die Eilfertigkeit, mit der das mühsam konstruierte unechte Unterlassungsdelikt des Unterlassens der tätigen Reue im Wege der Konkurrenz seiner Bedeutung wieder beraubt wird! Oder der Gedanke, daß sich auch Anstifter oder Gehilfen wegen Unterlassung der Verbrechensverhinderung durch tätige Reue verantwortlich gemacht haben und auf diese Weise vielleicht zu Tatherren avancieren. Oder endlich die Konsequenz dieser Konstruktion, daß nicht nur die Untätigkeit nach Beendigung des Versuchs, sondern auch schon vorher als unechtes Unterlassungsdelikt erfasst werden müsste, wenn der Täter es unterlassen hat, sich die Tat selbst unmöglich zu machen. Aus diese Weise lässt sich letzten Endes jedes Begehungsdelikt in ein Unterlassungsdelikt auflösen [. . .].“117

Trotz der Einwände Kaufmanns ist es aber auch bei einer solchen Sachlage richtig, eine Garantenstellung des Täters anzunehmen und das Unterlassungsdelikt erst auf Konkurrenzebene zurücktreten zu lassen,118 als von vornherein eine Hilfeleistungspflicht des Täters zu verneinen. Dies ermöglicht nicht nur die Bestrafung von Teilnehmern am nachfolgenden Unterlassungsdelikt.119 Es ist auch nicht ersichtlich, warum eine fahrlässige Vorhandlung haftungsbegründend wir116 BGH NStZ 2000, 29 f. Der Todeserfolg verknüpft die Taten zur Tateinheit. Vgl. auch NStZ-RR 2000, 329 f. 117 Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, S. 229 Fn. 301 (Beginn der Fn. auf S. 228) [Hervorhebungen im Original]. 118 So auch Mitsch, Strafrechtsschutz gegen gewaltsame Verhinderung eines Mordes?, Die Polizei 2004, 254, 256; Roxin, AT 2, § 32 Rn. 193; Stein, Garantenpflichten aufgrund vorsätzlich-pflichtwidriger Ingerenz, JR 1999, 265, 271 ff.; Welp, Vorangegangenes Tun als Grundlage einer Handlungsäquivalenz der Unterlassung, S. 321 ff. 119 Kühl, AT, § 18 Rn. 105a; Roxin, AT 2, § 32 Rn. 194.

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ken soll,120 eine vorsätzliche aber nicht.121 Zuletzt wird durch die Berücksichtigung des unechten Unterlassungsdelikts zumindest auf Konkurrenzebene ermöglicht, das zurücktretende Unterlassungsdelikt bei der Strafzumessung zu berücksichtigen.122 Denn wenn für den Täter auch nach Vornahme der Tathandlung noch die Möglichkeit bestanden hat, das Opfer zu retten,123 so stellt das Untätigbleiben eine über das Begehungsdelikt hinausgehende – selbständige – Rechtsgutsbeeinträchtigung dar, der bei der Strafzumessung Rechnung zu tragen ist. Damit kommt dem Täter also auch dann eine Garantenstellung zu, wenn er das Opfer bereits mit Tötungsvorsatz gefangen genommen hat. Auch die Entscheidung BGH NStZ-RR 1996, 131 kann nicht von vornherein als Auffassung gegen die Begründung einer Garantenstellung angeführt werden.124 Zwar stellt der Bundesgerichtshof in dieser Entscheidung fest: „[. . .] der Täter, der vorsätzlich oder bedingt vorsätzlich einen Erfolg anstrebt oder billigend in Kauf nimmt, ist nicht zugleich verpflichtet, ihn abzuwenden.“ Im konkreten Fall ging es jedoch um das Verhältnis zwischen dem Verletzungsdelikt des § 211 StGB als potentiell haftungsbegründenden Tatbestand und dem Gefährdungsdelikt des § 221 StGB. Die Aussage des Bundesgerichtshofs, in einem solchen Fall erfolge die strafrechtliche Ahndung ausschließlich durch das Verletzungsdelikt, deutet jedenfalls darauf hin, dass im Verhältnis Verletzungs-/Gefährdungsdelikt andere Grundsätze gelten (können), als im Verhältnis zweier aufeinanderfolgender Verletzungsdelikte, wie es sich beispielsweise bei einer versuchte Begehungstötung als haftungsauslösendes Delikt und anschließender Unterlassungstötung darstellt.

Eine Garantenstellung ist aber darüber hinaus auch deshalb anzunehmen, weil der Täter einer Entführung regelmäßig auch die Dauerdelikte der Freiheitsberaubung bzw. des erpresserischen Menschenraubes verwirklicht. Da ein Dauerdelikt mit der Verwirklichung des Tatbestandes nicht abgeschlossen ist, sondern durch die Aufrechterhaltung der unrechtmäßigen Lage dem betroffenen Rechtsgut andauernd neuer Schaden zugefügt wird,125 besteht hier eine fortwährende Garantenpflicht des Täters, die auf die Wiederherstellung der Freiheit des Entführten gerichtet ist.

120 Für Roxin, AT 2, § 32 Rn. 191 ist die Begründung einer Erfolgsabwendungspflicht aufgrund fahrlässigen Vorverhaltens „geradezu ein Prototyp der neueren Ingerenzrechtsprechung“. 121 Roxin, AT 2, § 32 Rn. 193. 122 Die Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs hat es auch stets für möglich gehalten, eine straflose Nachtat bei der Strafzumessung zu berücksichtigen. Vgl. RGSt 26, 312, 313 f.; 59, 147, 148; BGHSt 1, 152, 155; 19, 189; 33, 142, 147. 123 Besteht nach der Vorhandlung keine Rettungschance mehr für das Opfer, kommt eine Strafbarkeit wegen des unechten Unterlassungsdelikts nicht in Betracht, da es dann an der hypothetischen Kausalität zwischen Unterlassen und Erfolgseintritt als notwendige Voraussetzung für den Tatbestand des unechten Unterlassungsdelikts fehlt. 124 So aber Roxin, AT 2, § 32 Rn. 192. 125 Stree, in: Schönke/Schröder, StGB, § 13 Rn. 35 f.

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(d) Ergebnis Nach alldem lässt sich für den Festgehaltenen eine Pflicht zu sachbezogenen Angaben aus seiner Garantenstellung für das Opfer sowie der allgemeinen Hilfspflicht des § 323c StGB ableiten, durch welche gesetzliche Handlungspflichten begründet werden.126 Es ist auch nicht erforderlich, dass sich die jeweilige gesetzliche Handlungspflicht im konkreten Fall gerade als Auskunftspflicht darstellt.127 Denn indem in den polizeilichen Regelungen klar zwischen „Handlungspflichten“ und „Auskunftspflichten“ differenziert wird, können beide Begriffe in ihrer Bedeutung nicht gleichgesetzt werden.128 In der Bezugnahme auf eine gesetzliche Handlungspflicht liegt damit nicht eine bloße Verweisung auf Aussagepflichten außerhalb der Polizeigesetze. 129 Vielmehr begründet das Polizeirecht selbständige Auskunftspflichten und setzt solche nicht nur voraus: Die Handlungspflichten, die außerhalb des Polizeirechts nicht unbedingt eine Pflicht zur Auskunftserteilung gegenüber der Polizei beinhalten,130 werden also durch das Polizeirecht um eben diese Auskunftspflicht ergänzt.131 Probleme können höchstens darin zu sehen sein, dass die Polizeigesetze eine Auskunftspflicht bei Vorliegen gesetzlicher Handlungspflichten festschreiben, 126 Zwar wird – was die Strafbarkeit des Täters betrifft – sowohl § 323c als auch das unechte Unterlassungsdelikt von dem vorsätzlich vollendeten Begehungsdelikt verdrängt. Dies ändert aber nichts daran, dass eine gesetzliche Handlungspflicht – und damit eine qualifizierte Auskunftspflicht – auf Grundlage der allgemeinen Hilfspflicht bzw. einer Garantenstellung besteht. Dies ist eine von der Beurteilung der Strafbarkeit unabhängige Frage. 127 So aber Rachor, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, Kap. F Rn. 283. 128 Vgl. hierzu bereits oben B. II. 2. c) bb) (1). 129 Gusy, Polizeiliche Befragung am Beispiel des § 9 NRWPolG, NVwZ 1991, 614, 617. 130 So aber Honnacker/Beinhofer, BayPAG, Art. 12 Rn. 4, die in Bezug auf Art. 12 Satz 2 BayPAG feststellen, dass die Auskunftspflicht der befragten Person gegenüber der Polizei Teil ihrer gesetzlichen Handlungspflicht ist. Ebenso Jerouschek/Kölbel, Folter von Staats wegen?, JZ 2003, 613, 615: „Eine Informierungspflicht resultiert [. . .] vornehmlich aus dem strafgesetzlichen Tatbestand, dessen Vollendung einzutreten droht. Die dort enthaltene Verbotsnorm [. . .] untersagt die jeweilige Erfolgsverwirklichung noch nach Beginn der Tatausführung. Statt von der Straftat überhaupt abzusehen, wird ihrem Adressaten dann abverlangt, wenigstens die Nichtschädigung durch seine Umkehr (Rücktritt) einzulösen. Die faktischen Bedingungen im vorliegenden Fall verengen diese Erfolgsabwendungspflicht auf Mitteilungen zum Opferverbleib [. . .].“ Diese Ansicht würde aber bedeuten, dass die Bestimmungen der Polizeigesetze über die sachbezogene Auskunftspflicht rein deklaratorischer Natur wären, da eine Auskunftspflicht bereits auf strafgesetzlicher Grundlage begründet wäre. Auch würden damit die Bestimmungen der Polizeigesetze, die eine qualifizierte Auskunftspflicht an eine Gefahr für Leben, Leib und Gesundheit knüpfen und damit teilweise über die Voraussetzungen einer gesetzlichen Handlungspflicht hinausgehen, unterlaufen. 131 In diese Richtung Schmidbauer, in: Schmidbauer/Steiner/Roese, BayPAG, Art. 12 Rn. 17.

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durch das Instrument der Befragung aber erst die Informationen erlangt werden, ob im Einzelfall die Tatbestandsmerkmale einer Handlungspflicht auch tatsächlich verwirklicht sind. Denn der Befragte ist zu dem Zeitpunkt der polizeilichen Befragung lediglich mutmaßlicher Täter – über seine Schuld wird erst durch eine Entscheidung in einem möglicherweise später stattfindenden Strafverfahren entschieden. Kurz gesagt: Die Auskunftspflicht setzt nach dem Gesetzeswortlaut voraus, was durch sie erst ermittelt werden soll.132 Ein enges Verständnis dahingehend, dass nur bei vollkommener Sicherheit über die Täterschaft eine Befragung zulässig ist, würde aber zur völligen Sinnlosigkeit der Regelung führen. Die Vorschrift muss daher in Übereinstimmung mit der Aufgabe der Polizei als Gefahrenabwehrbehörde gebracht werden und dahingehend ausgelegt werden, dass der Bürger (auch schon) dann zur Auskunft verpflichtet ist, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass eine gesetzliche Handlungspflicht besteht.133 Dies bedeutet, dass der handelnde Amtsträger eine Prognoseentscheidung treffen muss, die ausschließlich auf Tatsachen gestützt werden darf. Die Entscheidung muss damit auf rein tatsächlichen Umständen beruhen, die dem Beweis zugänglich, also nachprüfbar sind; bloße Verdachtsmomente oder Vermutungen reichen nicht aus.134 Auch wenn die Entscheidung des handelnden Amtsträgers sehr stark von dessen subjektiver Einschätzung geprägt ist, ist der dem Amtsträger eingeräumte Beurteilungsspielraum der gerichtlichen Kontrolle nicht entzogen.135 3. Grenzen der Auskunftspflicht Besteht somit nach den Polizeigesetzten der Länder zunächst eine Verpflichtung des Entführers zu sachbezogenen Angaben, so wird diese Pflicht in vielen Ländern durch die Normierung von Auskunftsverweigerungsrechten begrenzt. Hinsichtlich des Umfangs dieser Aussageverweigerungsrechte bestehen allerdings zwischen den Ländern erhebliche Unterschiede:

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Gusy, Polizeiliche Befragung am Beispiel des § 9 NRWPolG, NVwZ 1991, 614,

617. 133 Ähnlich Gusy, Polizeiliche Befragung am Beispiel des § 9 NRWPolG, NVwZ 1991, 614, 617. 134 So Müller, Polizeiliche Datenerhebung durch Befragung, S. 66 für die Regelung des § 9 Abs. 1 Satz 1 NWPolG. Auch diese Vorschrift stellt auf eine derartige Prognoseentscheidung des Amtsträgers ab, indem er die Befugnis zur Befragung einer Person an die Voraussetzung knüpft, dass Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass die befragte Person sachdienliche Angaben machen kann, die für die Erfüllung einer bestimmten polizeilichen Aufgabe erforderlich sind. 135 Müller, Polizeiliche Datenerhebung durch Befragung, S. 67.

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a) Uneingeschränktes Aussageverweigerungsrecht des Beschuldigten In vielen Ländern sind Auskunftsverweigerungsrechte unmittelbar in die jeweiligen Polizeigesetze aufgenommen worden. Am umfassendsten sind diese Aussageverweigerungsrechte in den Ländern Baden-Württemberg, Berlin, Hamburg, Rheinland-Pfalz, Saarland und Sachsen-Anhalt normiert: So verweist § 18 Abs. 6 BerlASOG ebenso wie § 27 Abs. 4 Satz 2 BWPolG, § 3 Abs. 3 HambPolDVG, § 9a Abs. 3 Satz 1 RhPfPOG, § 11 Abs. 1 Satz 4 SPolG und § 14 Abs. 2 Satz 2 SOGLSA auf eine entsprechende Anwendung der Zeugnis- und Auskunftsverweigerungsrechte der §§ 52–55 StPO. Diese Regelungen betreffen zwar ausdrücklich nur Zeugen im Strafverfahren und äußern sich nicht zum Schweigerecht des Beschuldigten. Es spricht aber vieles dafür, dass auch das Schweigerecht des potentiellen Täters einer Straftat – des Beschuldigten in einem späteren Strafverfahren – von den §§ 52–55 StPO erfasst wird. Dies folgt schon daraus, dass die im Strafverfahrensrecht notwendige Differenzierung zwischen „Zeugen“ und „Beschuldigten“ nicht auf das Polizeirecht übertragbar ist: Im Polizeirecht gibt es keine „Beschuldigten“.136 Die Verweisung in den Polizeigesetzen auf die §§ 52–55 StPO kann damit – da es sich bei den Verfahren nach den Polizeigesetzen um keine Verfahren mit Beschuldigtem und Zeugen handelt – ohnehin nur eine Rechtsfolgen- (und keine Rechtsgrund-)Verweisung sein, so dass dem Tatbestandsmerkmal des Zeugen keine große Bedeutung zukommt. Haurand/Vahle führen zudem an, dass es bei der Befragung im präventivpolizeilichen Rahmen nicht um die Verfolgung eines potentiellen Straftäters, sondern um die Aufklärung eines Sachverhalts geht, um bei Bestehen einer Gefahr mit Gegenmaßnahmen reagieren zu können. Und in einem solchen Zusammenhang äußert sich auch der mutmaßliche Täter nicht in der Rolle eines Beschuldigten, sondern quasi in der Rolle eines Zeugen.137 Zuletzt wäre es auch nicht vertretbar, einem Angehörigen des mutmaßlichen Täters als Zeuge eine Berufung auf das Zeugnisverweigerungsrecht des § 52 StPO zu ermöglichen, vom Täter aber gleichzeitig zu verlangen, dass dieser sich selbst einer Straftat bezichtigt.138 Daher darf man den Begriff „Zeuge“, 136 So Gusy, Polizeiliche Befragung am Beispiel des § 9 NRWPolG, NVwZ 1991, 614, 615. 137 Haurand/Vahle, Rechtliche Aspekte der Gefahrenabwehr in Entführungsfällen, NVwZ 2003, 513, 517. 138 Haurand/Vahle, Rechtliche Aspekte der Gefahrenabwehr in Entführungsfällen, NVwZ 2003, 513, 517. Für das HessSOG weisen Haurand/Vahle zudem darauf hin, dass bei Nichteinbeziehung des Beschuldigten in die Zeugnisverweigerungsrechte der §§ 52–55 StPO ein großer Teil der über §§ 6 und 7 HessSOG erfassten Personen nicht in die Regelung einbezogen wäre, da die vermutete Tatbeteiligung ja gerade die Verantwortlichkeit und damit die Auskunftspflicht begründet. Die §§ 52–55 StPO wür-

B. Polizeirechtliche Eingriffsbefugnisse

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wie er in den §§ 48 ff. StPO gebraucht wird, bei entsprechenden Anwendungen der Vorschriften im Polizeirecht nicht technisch verstehen, sondern im Sinne von „Befragter“. Somit besteht in den Ländern, in denen in den Vorschriften über die Befragung auf die entsprechende Anwendung der §§ 52–55 StPO verwiesen wird, ein Auskunftsverweigerungsrecht des Tatverdächtigen. Er kann hier Auskunft auf Fragen wie den Aufenthaltsort des Entführungsopfers unter entsprechender Anwendung des § 55 StPO verweigern, weil die Beantwortung einer solchen Frage ihm die Gefahr zuziehen würde, wegen einer Straftat verfolgt zu werden. b) Eingeschränktes Aussageverweigerungsrecht des Beschuldigten In den Polizeigesetzen der Länder Hessen, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Schleswig-Holstein sind eingeschränkte Aussageverweigerungsrechte des Beschuldigten normiert. So gelten die §§ 52–55 StPO gem. § 12 Abs. 2 Satz 3 HessSOG nicht, „wenn die Auskunft für die Abwehr einer Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person erforderlich ist.“ Eine entsprechende Formulierung findet sich in § 12 Abs. 5 Satz 2 NdsGefAG, § 28 Abs. 2 Satz 4 MVSOG, § 180 Abs. 2 Satz 4 SchlHLVwG, § 18 Abs. 6 Satz 3 SächsPolG. Eine solche Offenbarungspflicht bei Vorliegen einer qualifizierten Gefahr – die zur Folge haben kann, dass sich der Betroffene selbst einer Straftat bezichtigen muss – ist außerhalb eines Strafverfahrens nicht grundsätzlich unzulässig. So hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass es dem Gesetzgeber erlaubt sei, auch die Interessen derjenigen Personen, die auf eine Aussage angewiesen seien, in einer Abwägung zu berücksichtigen.139 Voraussetzung sei, dass zwischen dem Auskunftspflichtigen und dem Nutznießer der Auskunft ein „besonderes Pflichtenverhältnis“ bestehe.140

den damit praktisch leer laufen. Dies Argument gilt freilich nur für die Polizeigesetze der Länder, die eine Auskunftspflicht an die Störereigenschaft knüpfen [vgl. oben B. II. 2. b)]. Bei allen anderen Polizeigesetzen ist eine Vielzahl an Fällen denkbar, in denen eine Pflicht zur Aussage besteht, der Auskunftspflichtige aber gleichzeitig für die Entstehung der Gefahr nicht verantwortlich und damit auch nicht zur Aussageverweigerung entsprechend §§ 52–55 StPO berechtigt ist. So ist in den sehr weitgehenden Polizeigesetzen der Länder Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern auch der Zufallszeuge zur Auskunft verpflichtet. Auch kann eine gesetzliche Handlungspflicht – Anknüpfungspunkt für eine Aussagepflicht in vielen Polizeigesetzen [vgl. oben B. II. 2. c) bb)] – nicht nur den mutmaßlichen Täter, sondern auch die aus § 138 StGB (der ja gerade nicht für den Täter gilt) und § 323c StGB verpflichteten Personen treffen. 139 BVerfGE 56, 37. 140 BVerfGE 56, 37, 48.

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1. Teil: Rechtfertigung aufgrund hoheitlicher Eingriffsbefugnisse

Ein solches Pflichtenverhältnis zwischen Auskunftspflichtigem und Nutznießer lässt sich in Entführungsfällen bejahen: Die strafrechtliche Garantenstellung des Täters141 stellt den Rechtsgrund dar, der in manchen Polizeigesetzen nicht nur die Auskunftspflicht des Entführers begründet, sondern auch gleichzeitig das Nichtbestehen von Auskunftsverweigerungsrechten in den oben genannten Polizeigesetzen zu rechtfertigen vermag.142 Der Entführer ist damit in den Ländern, welche das Auskunftsverweigerungsrecht bei Vorliegen einer Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person einschränken, zur Nennung des Aufenthaltsortes des Kindes verpflichtet. c) Kein Aussageverweigerungsrecht des Beschuldigten Neben den zwei oben dargestellten Regelungen eines Aussageverweigerungsrechts gibt es auch Polizeigesetze, in welchen die Grenzen einer Aussagepflicht des Befragten nicht normiert sind. So äußern sich die Polizeigesetze der Länder Bayern, Brandenburg, Bremen, Nordrhein-Westfalen und Thüringen nicht zu einem Auskunftsverweigerungsrecht bei einer Selbstbelastung des Befragten. Es stellt sich hier dann die Frage, ob zur Begründung eines Schweigerechts auf andere Rechtsnormen – außerhalb des Polizeirechts – zurückgegriffen werden kann: Obwohl eine erzwingbare Auskunftspflicht als Eingriff in die Handlungsfreiheit bzw. als Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts i. S. d. Art. 2 Abs. 1 GG anzusehen ist, hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zur Konkursordnung143 daraus nicht den Schluss gezogen, dass ein Auskunftsverweigerungsrecht unmittelbar aus den Grundrechten herzuleiten sei – und dies, obwohl der Zwang zur Selbstbezichtigung zugleich die Würde des Menschen berühre, dessen Aussage als Mittel gegen ihn selbst verwendet wird.144 Vielmehr erlaubt das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber, zum Schutze höherrangiger Rechtsgüter das Auskunftsverweigerungsrecht innerhalb der Schranken des Art. 2 Abs. 1 GG auszuschließen. Ein Schweigerecht des Befragten kann damit nur aus einfachgesetzlichen Normen hergeleitet werden. Von einigen Autoren wird hier auf die Auskunftsverweigerungsrechte der Verwaltungsverfahrensgesetze der Länder verwiesen,145 die mangels spezieller 141

Vgl. oben B. II. 2. c) bb) (2) (c). Rachor, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, Kap. F Rn. 291, nennt als Beispiel eines „besonderen Pflichtenverhältnis“ die Garantenstellung, die aufgrund Gesetzes im Verhältnis des einen Ehepartner zum anderen (§ 1353 BGB) besteht. Es ist aber kein Grund ersichtlich, ein besonderes Pflichtverhältnis nicht bei jeder Art von Garantenstellung – unabhängig vom Entstehungsgrund – anzunehmen. 143 BVerfGE 56, 37. 144 BVerfGE 56, 37, 41 f. 142

B. Polizeirechtliche Eingriffsbefugnisse

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Regelung in den Polizeigesetzen zur Anwendung kommen sollen.146 Andere wollen sich auf die §§ 136 Abs. 1 Satz 2, 163a Abs. 3 StPO und §§ 46 Abs. 1, 53 Abs. 1 Satz 2, 55 Abs. 1 OWiG stützen147 oder ein Schweigerecht als Ausdruck eines allgemeinen Rechtsprinzips heranziehen.148 Die Anwendung der allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetze zur Begründung eines Auskunftsverweigerungsrechts wäre gegenüber einer entsprechenden Heranziehung von Normen der Strafprozessordnung bzw. dem Abstellen auf ein allgemeines Rechtsprinzip sachnäher: Denn die Vorschriften der Strafprozessordnung gelten für die Polizei als Strafverfolgungsbehörde; bei der Befragung nach den Polizeigesetzen wird die Polizei jedoch als Gefahrenabwehrbehörde tätig: Wenn angesichts der unterschiedlichen Reichweite der polizeilichen Befugnisse aus Strafprozessordnung einerseits und Sicherheitsgesetzen andererseits der Frage der Aufgabeneröffnung große Relevanz eingeräumt werden muss [vgl. oben B. I. 1.], so ist es wenig überzeugend, durch Heranziehung von Normen aus der Strafprozessordnung den Umfang der Befugnisse nach Polizeirecht zu beeinflussen und damit die Entscheidung zugunsten eines präventiv-polizeilichen Handelns auf der Ebene der Aufgabeneröffnung zu konterkarieren – ganz abgesehen davon, dass durch die Einschränkung oder Erweiterung der Landespolizeigesetze durch die analoge Heranziehung von Vorschriften der Strafprozessordnung in die diesbezügliche Gesetzgebungszuständigkeit der Länder eingegriffen würde.149 Auch der Rückgriff auf ein allgemeines Rechtsprinzip zur Begründung eines Auskunftsverweigerungsrechts vermag nicht zu überzeugen: Denn der Schutz vor Selbstbezichtigung – nemo tenetur se ipsum accusare – gilt uneingeschränkt nur im Strafverfahren oder ähnlichen Verfahren.150 Er gilt nicht in gleicher 145 In § 26 Abs. 2 Satz 4 NWVwVfG wird dem Auskunftspflichtigen ein Recht zur Auskunftsverweigerung auf solche Fragen eingeräumt, „wenn deren Beantwortung ihm selbst [. . .] der Gefahr strafgerichtlicher Verfolgung oder eines Verfahrens nach dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten aussetzen würde.“ Das bayerische Verwaltungsverfahrensgesetz gesteht dem Befragten ebenso ein Auskunftsverweigerungsrecht zu, indem es in Art. 65 Abs. 1 und 2 BayVwVfG auf die entsprechende Anwendung der Vorschriften über die Zivilprozessordnung verweist. Dort ist in § 384 Nr. 2 ZPO ein Zeugnisverweigerungsrecht „über Fragen, deren Beantwortung dem Zeugen [. . .] die Gefahr zuziehen würde, wegen einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit verfolgt zu werden“ normiert. 146 So für das nordrhein-westfälische Polizeigesetz Haurand/Vahle, Rechtliche Aspekte der Gefahrenabwehr in Entführungsfällen, NVwZ 2003, 513, 517 und Gusy, Polizeiliche Befragung am Beispiel des § 9 NRWPolG, NVwZ 1991, 614, 618. 147 So Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, § 12, 4b. 148 Müller, Polizeiliche Datenerhebung durch Befragung, S. 109 f. 149 Etwas anderes ist es natürlich, wenn in den Polizeigesetzen selbst die entsprechende Anwendung der §§ 52–55 StPO angeordnet wird. Denn in diesem Fall verzichten die Landesgesetzgeber ausdrücklich auf ihr diesbezüglich zustehendes Gesetzgebungsrecht. 150 Rachor, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, Kap. F Rn. 289.

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1. Teil: Rechtfertigung aufgrund hoheitlicher Eingriffsbefugnisse

Weise für Personen, die – so das Bundesverfassungsgericht – „aus besonderen Gründen rechtsgeschäftlich oder gesetzlich verpflichtet sind, einem anderen oder einer Behörde die für diese notwendigen Informationen zu erteilen.“151 Die – je nach Verfahrensart – unterschiedliche Reichweite eines Auskunftsverweigerungsrechts steht der Annahme eines Auskunfts- oder Schweigerechts aufgrund eines allgemeinen Rechtsprinzips entgegen. Aber auch die Herleitung eines Auskunftsverweigerungsrechts aus den Verwaltungsverfahrensgesetzen der Länder ist letztendlich abzulehnen. Denn die Regelungen der Polizeigesetze zur Befragung stellen eine abschließende Spezialregelung dar, die einen Rückgriff auf die Auskunftspflicht nach den allgemeineren Verwaltungsverfahrensgesetzen der Länder ausschließt.152 Zwar weist Gusy darauf hin, dass die Sperrwirkung kraft Spezialität nur dann eingreifen kann, wenn dem Schweigen des Polizeirechts hinsichtlich eines Auskunftsverweigerungsrechts zwingend die Bedeutung beigelegt werden müsste, dass solche Rechte bei einer Befragung ausgeschlossen sein sollten, wofür es keine Anhaltspunkte gebe.153 Gegen diese Einschätzung Gusys spricht aber, dass in anderen Spezialgesetzen des Verwaltungsrechts – etwa in § 17 Abs. 3 HandwO – Auskunftsverweigerungsrechte bei Selbstbelastung des Befragten ausdrücklich fixiert sind. Fehlt eine solche Normierung eines Schweigerechts im Polizeigesetz, so legt dies den Schluss nahe, dass der Gesetzgeber bewusst auf dieses verzichtet hat. Auch ist eine solche Entscheidung inhaltlich nachvollziehbar, da auf dem Gebiet des Polizeirechts oft unaufschiebbare Entscheidungen154 über gefahrenintensive Sachverhalte getroffen werden müssen. Ein Auskunftsverweigerungsrecht – auch bei drohender Selbstbelastung des Befragten – kann hier einer effektiven Gefahrenabwehr entgegenstehen.155

151

BVerfGE 56, 37, 45. Vgl. Scholler/Schloer, Polizei- und Ordnungsrecht, S. 104 und für das bayerische Recht Schmidbauer, in: Schmidbauer/Steiner/Roese, BayPAG, Art. 12 Rn. 19. 153 Gusy, Polizeiliche Befragung am Beispiel des § 9 NRWPolG, NVwZ 1991, 614, 618. 154 Vgl. die Subsidiaritätsklauseln in den Polizeigesetzen. So bestimmt beispielsweise Art. 3 BayPAG: „Die Polizei wird tätig, soweit ihr die Abwehr der Gefahr durch einen andere Behörde nicht oder nicht rechtzeitig möglich erscheint.“ 155 Der Polizei ist es aufgrund der Dringlichkeit der Gefahr oft nicht möglich, anderweitig Informationen über den Sachverhalt einzuholen. Dagegen haben Ordnungsbehörden in der Regel die Zeit und die Möglichkeit, auch auf andere Beweismittel zurückzugreifen. Dies erlaubt es, bei der Frage der Normierung eines Auskunftsverweigerungsrechts zwischen polizeilichen und ordnungsbehördlichen Sachverhalten zu unterscheiden. Insofern ist auch der Einwand Gusys, Polizeiliche Befragung am Beispiel des § 9 NRWPolG, NVwZ 1991, 614, 618, es könne nicht richtig sein, dass für die Befragung bei der Gewerbeaufsicht oder nach der Handwerksordnung Auskunftsverweigerungsrechte bestehen sollen, hingegen ausgerechnet bei der Polizei nicht, nicht überzeugend. Denn bei der Gewerbeaufsicht und bei Maßnahmen nach der Handwerksordnung handelt es sich um ordnungsbehördliche Sachverhalte, bei denen 152

B. Polizeirechtliche Eingriffsbefugnisse

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Weiterhin würde ein Rückgriff auf das Verwaltungsverfahrensgesetz zur Folge haben, dass eine Einschränkung des Aussageverweigerungsrechts zum Schutze bestimmter hochrangiger Rechtsgüter, wie sie in einigen Ländern erfolgt ist,156 in den Ländern, die kein Aussageverweigerungsrecht in ihren Polizeigesetzen normiert haben, dann nicht zur Anwendung käme. Dies hätte zur Folge, dass gerade in den Ländern, in denen eine polizeirechtliche Regelung des Auskunftsverweigerungsrechts fehlt, dieses wegen des Rückgriffs auf die Verwaltungsverfahrensgesetze – welche keine Rückausnahmen kennen – unbegrenzt gälte.157 Damit besteht auch in den Ländern, deren Polizeigesetze kein Auskunftsverweigerungsrecht enthalten, eine Pflicht des Befragten zur Nennung des Aufenthaltsortes des Entführungsopfers. d) Folgen einer Auskunftsverpflichtung für das Strafverfahren Die Pflicht des Befragten zur Selbstbelastung korrespondiert mit einem Beweisverwertungsverbot der Aussage in einem späteren Strafverfahren.158 Einige Landesgesetzgeber haben diese Zweckbindung der Datenerhebung ausdrücklich in die Vorschriften über die Befragung aufgenommen: So bestimmt etwa § 12 Abs. 2 Satz 4 HessSOG: „Auskünfte, die gemäß Satz 3 [der die Ausnahme vom Auskunftsverweigerungsrecht zum Schutz hochrangiger Rechtsgüter regelt] erlangt wurden, dürfen nur zu Zwecken der Gefahrenabwehr [. . .] verwendet werden.“ Identische Regelungen finden sich z. B. in § 28 Abs. 2 Satz 5 MVSOG, § 12 Abs. 5 Satz 3 NdsGefAG oder § 180 Abs. 2 Satz 5 SchlHLVwG.159 Nach Rachor muss sich die Zweckbindung der Datenerhebung nicht nur als Beweisverwertungsverbot, sondern sogar als ein Strafverfahrenshindernis auswirken: „Soll das Verwendungsverbot [. . .] seinen Zweck erfüllen, den Auskunftspflichtigen vor strafrechtlicher Verfolgung zu bewahren, so muss es als Strafverfolgungshindernis verstanden werden. [. . .] Dieses Verbot [der Strafverfolgung] ist der Preis für die polizeirechtliche Verpflichtung zur Selbstbezichtigung. Nur die strikte Beachtung dieses Verbots kann im übrigen gewährleisten, dass der zur Auskunft Verpflichtete auch wahrheitsgemäße Mitteilungen macht das Auskunftsverweigerungsrecht einer effektiven Gefahrenabwehr in der Regel nicht entgegensteht. 156 Vgl. B. II. 3. b). 157 Gusy, Polizeiliche Befragung am Beispiel des § 9 NRWPolG, NVwZ 1991, 614, 618 nennt dieses Ergebnis „nahezu paradox“, ohne daraus freilich den Schluss zu ziehen, dass ein Rückgriff auf das Verwaltungsverfahrensgesetz abzulehnen ist. 158 Vgl. hierzu – für den Fall einer Auskunftspflicht des Gemeinschuldners in einem Konkursverfahren – BVerfGE 56, 37. 159 Diese Zweckbindungsklauseln sind wegen der Geltung des nemo-tenetur-Grundsatzes im Strafverfahren allerdings lediglich deklaratorischer Natur.

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1. Teil: Rechtfertigung aufgrund hoheitlicher Eingriffsbefugnisse

und auf diese Weise zur Abwehr von Schäden für Leib, Leben und Freiheit einer Person beiträgt.“160 Rachor geht damit hinsichtlich der Zweckbindung einer mit einer Selbstbelastung einhergehenden Datenerhebung noch deutlich über die Forderung des Bundesverfassungsgerichts hinaus. Die Forderung eines Verfahrenshindernisses dürfte aber zu weit gehen, da selbst bei einem Verstoß gegen § 136a StPO das Gesetz lediglich ein Beweisverwertungsverbot vorsieht.

III. Anwendbarkeit unmittelbaren Zwangs Die Tatsache, dass damit in vielen Ländern eine Pflicht des Entführers zu sachbezogenen Angaben besteht, sagt aber noch nichts darüber aus, ob diese Pflicht auch – und das ist entscheidend – mit Mitteln des Verwaltungszwangs durchsetzbar ist.161 Bei der Anwendung von Verwaltungszwang kommen als Zwangsmittel zunächst drei Möglichkeiten in Betracht: Zwangsgeld, Ersatzzwangshaft bei Uneinbringlichkeit des Zwangsgeldes sowie unmittelbarer Zwang.162 Die Ersatzvornahme scheidet hingegen aus, da die von dem Befragten zu erzwingende Aussage keine vertretbare Handlung darstellt.163 Aber auch das Zwangsgeld – bzw. bei dessen Uneinbringlichkeit Ersatzzwangshaft – wird mangels Effektivität und wegen Unaufschiebbarkeit der zu erzwingenden Aussage regelmäßig ausscheiden. Berner/Köhler halten für das bayerische Recht die Anwendung von Verwaltungszwang zur Durchsetzung des Fragerechts nach Art. 12 BayPAG grundsätzlich für unzulässig. Sie folgern dies aus der Zusammenschau des Art. 12 BayPAG mit Art. 15 BayPAG: Da Art. 15 Abs. 1 Nr. 1 BayPAG die Zulässigkeit einer Vorladung an die – gegenüber Art. 12 BayPAG strengere – Voraussetzung knüpfe, dass das Fragerecht der Polizei tatsachengestützt ist, und die Zwangsanwendung bei einer Vorladung in Art. 15 Abs. 3 BayPAG besonders geregelt sei und damit ein Rückgriff auf die Art. 53 Abs. 2, 54 BayPAG ausscheide, folge aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip, dass die Anwendung des Verwaltungszwangs auch bei dem gegenüber der Vorladung schwerwiegenderen Eingriff der Befragung ausscheiden müsse.164 Zu Recht wendet Schmidbauer hiergegen ein, dass diese Sicht die Voraus160

Rachor, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, Kap. F Rn. 293. Die hier in Frage stehende zwangsweise Durchsetzung der Auskunftspflicht ist zu unterscheiden von der Durchsetzung der Anhörungspflicht. Letztere kann erfolgen, indem die betroffene Person zum Zwecke der Befragung angehalten wird (in den meisten Polizeigesetzen ist eine entsprechende Befugnis in Zusammenhang mit der Regelung der Befugnisse zur Befragung normiert). Sollte die Person der in dieser Form vermittelten „Anhörungspflicht“ nicht Folge leisten, besteht die Möglichkeit, die Person vorzuladen und diese Vorladung ggf. in Gestalt der Vorführung zwangsweise durchzusetzen; vgl. Müller, Polizeiliche Datenerhebung durch Befragung, S. 120. 162 Vgl. z. B. Art. 54 ff. BayPAG. 163 Müller, Polizeiliche Datenerhebung durch Befragung, S. 121. 164 Berner/Köhler, BayPAG, Art. 12 Rn. 7. 161

B. Polizeirechtliche Eingriffsbefugnisse

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setzungen der allgemeinen Eingriffsbefugnis mit den Voraussetzungen der Zwangsbefugnisse vermengt. Zudem wäre es konsequenter, vor diesem Hintergrund die Anwendung von Verwaltungszwang bei Art. 12 BayPAG nicht vollständig auszuschließen, sondern wenigstens dann zuzulassen, wenn auch die strengeren Voraussetzungen des Art. 15 Abs. 3 Nr. 1 BayPAG für die Zwangsanwendung bei einer Vorladung erfüllt sind. Zuletzt spricht auch der Umkehrschluss aus Art. 58 Abs. 2 BayPAG für die grundsätzliche Anwendbarkeit der Vorschriften über den Verwaltungszwang.165

Dagegen wäre die Anwendung unmittelbaren Zwangs, die in den Polizeigesetzen detailliert und ausdifferenziert geregelt ist (vgl. z. B. Art. 60 ff. BayPAG), praktikabel. Jedoch ist dies für Fälle der vorliegenden Art in sämtlichen Polizeigesetzen der Länder ausgeschlossen. Hinsichtlich des Verbots der Rettungsfolter lassen sich hier im Wesentlichen zwei Konzeptionen ausmachen: (a) In manchen Ländern wird § 136a StPO von den polizeilichen Befugnisnormen über die Befragung für entsprechend anwendbar erklärt.166 Das in dieser Norm ausdrücklich statuierte Verbot der Beeinflussung der Willensentschließung und Willensbetätigung durch Misshandlung, körperliche Eingriffe und Quälerei schließt die Anwendung von Zwangsmaßnahmen zur Herbeiführung einer Aussage aus. Darüber hinaus untersagt § 136a Abs. 1 Satz 3 StPO auch die Androhung derartiger Zwangsmaßnahmen im Rahmen einer Befragung.167 (b) In anderen Ländern erfolgt der Ausschluss der Rettungsfolter in systematischen Zusammenhang mit den Regelungen über den unmittelbaren Zwang. So enthalten die Vorschriften über den unmittelbaren Zwang ein explizites Verbot, unmittelbaren Zwang zur Abgabe von Erklärungen168 bzw. Aussagen anzuwenden.169 165

Schmidbauer, in: Schmidbauer/Steiner/Roese, BayPAG, Art. 12 Rn. 22. Vgl. z. B. § 18 Abs. 6 BerlASOG; § 11 Abs. 1 Satz 3 SPolG; § 18 Abs. 9 SächsPolG. 167 Über dieses Verbot der Zwangsanwendung zur Herbeiführung einer Aussage geht § 136a StPO aber noch hinaus, indem es auch die Täuschung und das Versprechen eines nicht vorgesehenen Vorteils untersagt. Rachor, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, Kap. F Rn. 296, weist zu Recht darauf hin, dass sich die Polizei infolge dieser weiten Fassung der verbotenen Vernehmungsmethoden in § 136a StPO eines Teils ihres Handlungsinstrumentariums begibt, das insbesondere bei Verhandlungen mit Geiselnehmern ansonsten gebräuchlich ist. So kann beispielsweise die Zusage von Straffreiheit als Versprechen eines gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteils außerhalb eines Strafverfahrens und dann, wenn es um die Abwehr von Gefahren für Leib und Leben einer Person geht, ein geeignetes Mittel der Gefahrenabwehr sein, wenn es den Gebrauch von Schusswaffen verhindern kann. Kritisch hinsichtlich des Einsatzes von Täuschung außerhalb eines Strafverfahrens hingegen Haurand/Vahle, Rechtliche Aspekte der Gefahrenabwehr in Entführungsfällen, NVwZ 2003, 513, 518 und Müller, Polizeiliche Datenerhebung durch Befragung, S. 112 f. 168 Soweit in den Polizeigesetzen die Formulierung „Abgabe einer Erklärung“ gebraucht wird, wird diese Wortwahl teilweise als zu eng kritisiert. So weist Rachor, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, Kap. F Rn. 259 darauf hin, dass unter einer Erklärung nach sprachlichem Empfinden vor allem „solche Äußerungen verstan166

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1. Teil: Rechtfertigung aufgrund hoheitlicher Eingriffsbefugnisse

In vielen Ländern kommen auch beide Modelle kumulativ zur Anwendung.170 Das Verbot der Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Abgabe einer Erklärung tritt dann in der Bedeutung hinter die entsprechende Anwendbarkeit des § 136a StPO zurück, da § 136a StPO weiterreichende Verbote enthält und das Verbot der zwangsweisen Herbeiführung einer Aussage umfasst. Damit scheint die Anwendung der Rettungsfolter generell ausgeschlossen: Selbst diejenigen Polizeigesetze, die auf Befugnisebene eine Pflicht des Täters zur Angabe sachbezogener Daten statuieren, schließen die Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Durchsetzung dieser Befugnis letztendlich aus. Obwohl letztendlich alle Polizeigesetze auf der Ebene des Verwaltungszwangs die zwangsweise Herbeiführung einer Aussage verbieten, ist es – nicht nur aus Gründen der wissenschaftlichen Systematisierung des Problemkreises – von Bedeutung, wenn im Vorhergehenden genau untersucht wurde, ob nicht bereits eine Pflicht zur Auskunftserteilung mangels einer entsprechenden Befugnis zu verneinen ist. Wird nämlich die Zulässigkeit der Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Herbeiführung einer Aussage über eine Auslegung der Vorschriften über den Verwaltungszwang zu erreichen versucht,171 so ist dies von vornherein nur in den Ländern möglich, die eine Pflicht des Täters zur Angabe sachbezogener Daten nicht bereits auf Befugnisebene ausschließen.172

IV. Zur Möglichkeit einer teleologischen Reduktion der Vorschriften über das Verbot unmittelbaren Zwangs 1. Die Argumentation Bruggers für den Einsatz der Rettungsfolter in Entführungsfällen In der wissenschaftlichen Diskussion vertritt namentlich Brugger die Auffassung, dass die zwangsweise Herbeiführung einer Aussage auf polizeirechtlicher Grundlage nicht von vornherein unzulässig ist.173 Die genannten polizeirechtliden werden, die, zum Beispiel als Willenserklärungen, in bindender Form abgegeben werden.“ 169 Vgl. z. B. Art. 58 Abs. 2 BayPAG; § 58 Abs. 2 BbgPolG; § 55 Abs. 2 NWPolG; § 56 Abs. 2 ThürPAG. § 35 Abs. 1 BWPolG, wonach die Polizei bei „Vernehmungen“ zur Herbeiführung einer Aussage keinen Zwang anwenden darf, gilt auch für Befragungen nach § 20 Abs. 1 und § 27 Abs. 4 BWPolG. Eine Unterscheidung zwischen einer Befragung nach § 20 Abs. 1 und § 27 Abs. 1 BWPolG einerseits und einer Vernehmung im Sinne von § 35 Abs. 1 BWPolG lässt sich mangels inhaltlicher Abgrenzbarkeit wohl kaum vornehmen, vgl. Wolf/Stephan, BWPolG, § 27 Rn. 14. 170 Vgl. z. B. §§ 13 Abs. 4, 41 Abs. 5 Satz 2 BremPolG; §§ 12 Abs. 4, 52 Abs. 2 HessSOG; §§ 14 Abs. 5, 58 Abs. 7 SOGLSA. 171 Vgl. hierzu unten Erster Teil B. IV. 1. 172 Vgl. näher unten Erster Teil B. IV. 2. c). 173 Vgl. Brugger, Würde gegen Würde, VBlBW 1995, 414, 446 ff.; ders., Darf der Staat ausnahmsweise foltern?, Der Staat 35 (1996), 67 ff.; ders., Vom unbedingten

§ 28 Abs. 2

Thüringen

SchleswigHolstein

§ 13 Abs. 2

§ 9 Abs. 2

§ 14 Abs. 2

§ 11 Abs. 1

§ 9a Abs. 3

§ 3 Abs. 3

§ 18 Abs. 6

§ 27 Abs. 4

umfassend

§ 180 Abs. 2

§ 18 Abs. 6

§ 12 Abs. 5

§ 28 Abs. 2

§ 12 Abs. 2

eingeschränkt

(+)

(+)

(+)

(+)

(+)

nicht bestehend

Auskunftsverweigerungsrecht des Beschuldigten

Abbildung 2: Die verschiedenen Regelungen der Länder zur Auskunftspflicht im Überblick

§ 18 Abs. 6

Sachsen

§ 180 Abs. 2

§ 11 Abs. 1 (einfache Gefahr)

Saarland

Sachsen-Anhalt

§ 9a Abs. 2 (einfache Gefahr)

§ 14 Abs. 2

§ 12 Abs. 3

Rheinland-Pfalz

NordrheinWestfalen

Niedersachsen

MecklenburgVorpommern

Hessen

§ 12 Abs. 2

Bremen § 3 Abs. 2

§ 11 Abs. 2 § 13 Abs. 2

Brandenburg

Hamburg

§ 18 Abs. 3

gesetzlicher Handlungspflicht

Art. 12 Satz 2

§§ 20 Abs. 1 i. V. m. 27 Abs. 4

qualifizierter (einfacher) Gefahr

Berlin

§ 13 Abs. 2

polizeirechtlicher Verantwortlichkeit

Bayern

BadenWürttemberg

Befugnis zur Befragung

Auskunftspflicht aufgrund

B. Polizeirechtliche Eingriffsbefugnisse 69

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1. Teil: Rechtfertigung aufgrund hoheitlicher Eingriffsbefugnisse

chen Bestimmungen verhindern nach seiner Ansicht nicht grundsätzlich die Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Erzwingung einer Aussage. a) Die Zulässigkeit der Rettungsfolter nach Polizeirecht Ansatzpunkt für Bruggers Standpunkt ist die Tatsache, dass das Polizeirecht unmittelbaren Zwang zur Durchsetzung einer polizeirechtlichen Pflicht generell zulässt, und zwar in nach Art und Intensität der drohenden Gefahr abgestufter Weise. Hinter diesen gestuften Eingriffsbefugnissen, die bis zur Anwendung des Schusswaffengebrauchs gegen Personen reicht, werden zwei Maximen des Polizeirechts deutlich: Polizeirecht habe Gefahren effektiv abzuwehren. Und die Polizei habe Gesetz und Recht zu schützen und denjenigen, der deren Grenzen überschreitet, in seine Schranken zu verweisen.174 Ein schwerwiegender Eingriff in Persönlichkeitsrechte – wie ihn die Rettungsfolter darstellt – müsse aber an ganz enge Voraussetzungen gebunden werden. Die engsten Voraussetzungen im Polizeirecht biete die Vorschrift über den finalen Todesschuss, denn dieser sei nur zulässig zur Abwehr einer gegenwärtigen Lebensgefahr oder der gegenwärtigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der körperlichen Unversehrtheit.175 Als in der Stufung der Eingriffsbefugnisse intensivstes Mittel sollen die Tatbestandsvoraussetzungen dieser Norm dann auch für die Aussageerpressung gelten.176 Verbot der Folter zum bedingten Recht auf Folter?, JZ 2000, 165 ff.; ders., Das andere Auge, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10.3.2003, S. 8; ders., Freiheit und Sicherheit, S. 56 ff. Die Ausführungen Bruggers beziehen sich teilweise explizit auf das baden-württembergische Polizeirecht. Sie lassen sich aber ebenso auf andere Länder übertragen. 174 Brugger, Der Staat 35 (1996), 67, 76. 175 Vgl. z. B. Art. 66 Abs. 2 BayPAG; § 54 Abs. 2 BWPolG. Soweit eine explizite Vorschrift über den finalen Rettungsschuss nicht existiert, wäre nach Brugger an die Gesamtheit der Vorschriften der Befugnisse zum unmittelbaren Zwang, verbunden mit einer strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung zu denken; vgl. Brugger, Würde gegen Würde, VBlBW 1995, 446, 448 Fn. 27. 176 Brugger, JZ 2000, 165, 168. In JZ 2000, 165, 167 formuliert Brugger acht Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, um die Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Aussageerpressung zu rechtfertigen: Es liegt eine (1) klare, (2) unmittelbare, (3) erhebliche Gefahr für (4) das Leben und die körperliche Integrität einer unschuldigen Person vor. (5) Die Gefahr ist durch einen identifizierbaren Störer verursacht. (6) Der Störer ist die einzige Person, die die Gefahr beseitigen kann, indem er sich in die Grenzen des Rechts zurückbewegt. (7) Dazu ist er auch verpflichtet. (8) Die Anwendung körperlichen Zwangs ist das einzig erfolgversprechende Mittel zur Informationserlangung. Diese acht Charakteristika sind noch enger gefasst als die Voraussetzungen, die für den Einsatz des finalen Rettungsschusses gelten, um – so Brugger in JZ 2000, 165, 168 – „die Verhältnismäßigkeit auszubalancieren und um eine zu weitgehende Entwertung des § 35 BWPolG [der das Verbot der Aussageerpressung festschreibt] zu verhindern.“ In der Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10.3.2003, S. 8 grenzt Brugger die Voraussetzungen für den Einsatz der Rettungsfolter auch negativ ab: Es genügt

B. Polizeirechtliche Eingriffsbefugnisse

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Problematisch an einer Heranziehung der Vorschriften über den finalen Rettungsschuss sei aber, dass die Rechtsfolge dieser Regelung eine andere sei als die Herbeiführung einer Aussage. In Betracht zieht Brugger daher zunächst eine analoge Anwendung der Vorschriften über den Todesschuss aufgrund eines Erst-recht-Schlusses: Die Aussageerpressung könnte als Minus gegenüber dem Rettungsschuss anzusehen sein, da der Störer zwar in seiner willensmäßigen Entscheidungsfreiheit beeinträchtigt werde, aber trotz möglicherweise zugefügten Verletzungen noch lebe.177 Da aber die Aussageerpressung ein aktives Bekennenmüssen des Störers erfordere, beim Todesschuss der Störer hingegen die Kugel lediglich passiv „hinnehmen“ müsse, kommt Brugger zu dem Schluss, dass die Aussageerpressung ein Aliud gegenüber den Regelungen über den Todesschuss darstellt.178 Brugger zieht deshalb keine Analogie aufgrund eines Erst-recht-Schlusses, sondern eine teleologische Reduktion der Vorschriften über das Verbot der Aussageerpressung aufgrund einer gesetzlichen Wertungslücke in Betracht. Eine solche kann vorzunehmen sein, wenn das Gesetz ein Problem auf eine bestimmte Weise regelt und damit eine rechtliche Bewertung vorgibt, die im Lichte anderer Normen, die die betreffende Rechtsordnung ebenfalls enthält, als höchst unangemessen und ungerecht erscheint – etwa dadurch, dass die gesetzliche Anordnung zu weit oder zu eng gefasst ist. Nach Brugger stellen sich die Vorschriften der Polizeigesetze, die die Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Herbeiführung einer Aussage verbieten, in „ticking time bomb situations“179 als zu weit dar. Hinter diesen Vorschriften stecke nämlich die Überlegung des Gesetzgebers, Personen, die durch den polizeilichen Zugriff bei Vernehmungen in eine hilflose Lage geraten sind, besonders zu schützen. Im Falle einer Geiselnahme sei die Typik des Sachverhalts aber eine andere: Der Entführer habe die nicht, wenn (1) ein bloßer Verdacht einer Gefahr vorliegt oder die Gefahr (2) lediglich mittelbar oder (3) unerheblich ist oder (4) ein nicht so gewichtiges Rechtsgut – wie Eigentum – betrifft oder wenn (6) die Polizei die Gefahr selbst oder (8) mit geringer eingreifenderen Mitteln beseitigen kann. (5) Gegen bloß Verdächtige oder dritte Personen – etwa Verwandte – darf nicht vorgegangen werden. Vgl. ferner Brugger, Der Staat 35 (1996), 67, 74, wo Brugger noch geringfügig abweichende Voraussetzungen für den Einsatz der Rettungsfolter aufgestellt hat. 177 Brugger, Der Staat 35 (1996), 67, 77; ders., Würde gegen Würde, VBlBW 1995, 446, 448. 178 Brugger, Würde gegen Würde, VBlBW 1995, 446, 448. 179 Der Begriff wird von Brugger, Vom unbedingten Verbot der Folter zum bedingten Recht auf Folter?, JZ 2000, 165, 168 Fn. 20 aufgegriffen. Er umschreibt die Situation, in welcher (1) eine unmittelbare Lebensbedrohung Unschuldiger von einem Störer ausgeht, der (2) die Gefahr beseitigen kann. Auf andere Konstellationen, etwa, wenn nicht so klar ist, dass eine Bedrohung existiert, oder die Bedrohung von einem Minderjährigen oder Unzurechnungsfähigen ausgeht, will Brugger seinen Lösungsvorschlag ausdrücklich nicht angewendet wissen: „Über die Lösung all dieser Fallvarianten gibt die obige Alternativlösung keine ausreichende Antwort.“ Vgl. Brugger, Der Staat 35 (1996), 67, 81 Fn. 4.

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1. Teil: Rechtfertigung aufgrund hoheitlicher Eingriffsbefugnisse

Situation insoweit in der Hand, als nur er weiß, wo sich sein Opfer, das sich in einer extremen Notlage befindet, versteckt sei. Dieser Situation werde mit dem generellen Verbot der Aussageerpressung nicht Rechnung getragen. Bei einem solchen Sachverhalt sei die allgemeine Wertung der gestuften polizeilichen Eingriffsbefugnisse angemessener – die Vorschriften über das Verbot der Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Herbeiführung einer Aussage sind insoweit teleologisch zu reduzieren.180 b) Die Vereinbarkeit der Rettungsfolter mit dem Grundgesetz Hält Brugger demnach die zwangsweise Herbeiführung einer Aussage auf polizeirechtlicher Grundlage für zulässig, so stellt sich für ihn als nächstes die Frage, ob dieses Ergebnis mit den Gewährleistungen des Grundgesetzes vereinbar ist. Verletzt sein können durch die Zulässigkeit der Zwangsmaßnahmen die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG), sowie das Verbot körperlicher Misshandlung von Festgenommen (Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG).181 Da Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG zum einen als – deklaratorische – Konkretisierung des Menschenwürdesatzes anzusehen sei,182 zum anderen eine spezielle Konstellation des Rechts auf körperliche Unversehrtheit mit einer gegenüber Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG engeren Formulierung der Schrankenseite regelt, gehe Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG in der vorliegenden Situation Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG als lex specialis vor.183

180 Brugger, Vom unbedingten Verbot der Folter zum bedingten Recht auf Folter?, JZ 2000, 165, 168 f. Auch Hilgendorf, Folter im Rechtsstaat?, JZ 2004, 331, 338, scheint eine Wertungslücke in den Polizeigesetzen auszumachen: „Im Rahmen des allgemeinen polizeilichen Handelns sind Zwangsmaßnahmen bis hin zum ,finalen Todesschuss‘ zulässig. Es ist nicht ohne weiteres einsichtig, weshalb dann, wenn es um die Erlangung von Informationen geht, eine Einschränkung der körperlichen Unversehrtheit nicht einmal dann zulässig sein soll, wenn es um die Rettung von Menschenleben geht.“ Anders als Brugger hält Hilgendorf aber für den Einsatz der Rettungsfolter eine gesetzliche (Neu-)Regelung im Polizeirecht für erforderlich. Gegen einen Analogieschluss aber Jerouschek/Kölbel, Folter von Staats wegen?, JZ 2003, 613, 617 Fn. 42: „Tötung und Folter sind kaum vergleichbar und die Rettungsschusserlaubnis ist ein nicht verallgemeinerbarer Ausnahmefall wegen seiner uneinheitlich-partikularen Positivierung [. . .] und der Besonderheit, just einen Intensiveingriff ohne richterliche Beteiligung vorzunehmen.“ 181 Hingegen geht es nicht um die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG), da die Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Herbeiführung einer Aussage nicht die Frage betrifft, ob eine Freiheitsbeschränkung zulässig ist, sondern den Problemkreis, wie ein Festgehaltener behandelt werden darf. 182 Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG III, Art. 104 Rn. 55. 183 Brugger, Würde gegen Würde, VBlBW 1995, 446, 449. Vgl. auch Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG III, Art. 104 Rn. 64.

B. Polizeirechtliche Eingriffsbefugnisse

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Zwar scheint Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG, der die körperliche und seelische Misshandlung von festgehaltenen Personen ohne Einschränkungsvorbehalt verbietet, zunächst der Anwendung von Zwangsmaßnahmen zur Herbeiführung einer Aussage entgegenzustehen. Brugger hält diesem Verbot aber die vom Bundesverfassungsgericht in einer Reihe von Entscheidungen184 entwickelte Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten entgegen. Danach dienen Grundrechte nicht nur zur Abwehr unzulässiger Eingriffe des Staates, sondern verpflichten den Staat, den einzelnen Bürger vor Übergriffen Privater zu bewahren und durch das Ergreifen geeigneter Maßnahmen Rechtsgutsverletzungen zu vermeiden.185 Da Brugger davon ausgeht, dass das Verhalten des Entführers gegenüber seinem Opfer als Würdeverletzung zu kategorisieren ist, weil das Opfer als Mittel zum Zweck missbraucht und als bloßes Objekt benutzt wird, liegt für ihn eine Kollision im Rahmen des Art. 1 Abs. 1 GG vor.186 In einem solchen Fall könne die Anwendung von Zwang zur Herbeiführung einer Aussage – trotz Fehlens eines Eingriffsvorbehalts in Art. 1 Abs. 1, 104 Abs. 1 Satz 2 GG – als Ergebnis einer Abwägung ausnahmsweise gerechtfertigt sein, wenn für die Rettung des Opfers ein milderes zumutbares Mittel nicht ersichtlich ist:187 Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG sei demnach im Lichte des Art. 1 Abs. 1 GG im gleichen Umfang teleologisch zu reduzieren wie die Vorschriften der Polizeigesetze, die ihrem Wortlaut nach die Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Herbeiführung einer Aussage ausnahmslos verbieten.188

184 Hervorgehoben seien an dieser Stelle die Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch, BVerfGE 39, 1; 88, 203 sowie zur Schleyer-Entführung, BVerfGE 46, 160. 185 Dreier, in: Dreier, GG I, Vorb. Rn. 101 ff. 186 Brugger, Würde gegen Würde, VBlBW 1995, 446, 450. 187 Brugger, Würde gegen Würde, VBlBW 1995, 446, 450 f., hält es für geboten, bei der Abwägung zwischen Achtung der Würde des Täters und Schutz der Würde des Opfers insbesondere Gesichtspunkte von rechtmäßigem und rechtswidrigem Bürgerverhalten heranzuziehen und beruft sich hierbei auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Kontaktsperre-Gesetz, BVerfGE 49, 24, 53, wo es heißt: „Das menschliche Leben stellt innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung einen Höchstwert dar. Demgemäß folgt aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG die umfassende, im Hinblick auf den Wert des Lebens besonders ernst zu nehmende Pflicht des Staates, jedes menschliche Leben zu schützen, es vor allem vor rechtswidrigen Eingriffen von seiten anderer zu bewahren[. . .].“ Als weiteren Gesichtspunkt, dass der Staat im Zweifel den Interessen des Opfers Vorrang geben darf, führt Brugger, JZ 2001, 165, 169 Fn. 17 an, dass durch das Dazwischentreten der Staatsgewalt in Form der Polizei das Lebensschutzniveau erheblich absinkt, da vorher dem Bürger aus dem Notwehrrecht des § 32 StGB jede zur Gefahrabwendung notwendige Maßnahme erlaubt war, auch eine durch Zwang herbeigeführte Aussage zur Rettung des Opfers; vgl. hierzu aber auch unten Zweiter Teil B. II. 3. 188 Brugger, Vom unbedingten Verbot der Folter zum bedingten Recht auf Folter?, JZ 2000, 165, 169.

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1. Teil: Rechtfertigung aufgrund hoheitlicher Eingriffsbefugnisse

c) Die Überprüfung der Rettungsfolter anhand völkerrechtlicher Normen Zuletzt überprüft Brugger die aus seiner Sicht auf polizei- und verfassungsrechtlicher Grundlage zulässige Rettungsfolter auf die Übereinstimmung mit völkerrechtlichen Normen, wobei er als Beispiel die Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) wählt.189 Auch hier plädiert Brugger in Ausnahmefällen – ähnlich wie bei der Erörterung auf polizei- und verfassungsrechtlicher Ebene – für eine teleologische Reduktion des Folterverbots, wie es in Art. 3 und 15 EMRK190 niedergeschrieben ist, und spricht sich in unvermeidbaren Konfliktfällen, in welchen die Würde des Täters gegen die Würde des Opfers steht, für die Heranziehung des Art. 2 EMRK aus, welcher eine Einschränkung des Rechts auf Lebens zulässt, „um die Verteidigung eines Menschen gegenüber rechtswidriger Gewaltanwendung sicherzustellen“ (Art. 2 Abs. 2 lit. a EMRK).191 Brugger begründet dies damit, dass Art. 3 EMRK sich vorrangig gegen autoritäre politische Systeme wendet, deren Repressionsinstrumente die Anwendung von Folter umfasst haben, und nicht die Sachlage trifft, in denen der Bürger privater Gewalt ausgeliefert und auf staatliche Hilfe und staatlichen Schutz angewiesen ist. In einem solchen Fall sei der auf Tatbestandsseite wesentlich differenziertere Art. 2 EMRK passender, da er zugeschnitten sei auf Aggressionsakte Dritter. Zudem bekenne sich die EMRK in Art. 2 EMRK zu einer staatlichen Schutzpflicht für das Leben Unschuldiger für den Fall, dass Private rechtswidrige Gewalt gegen diese anwenden.192 Brugger zieht hier also die gleiche Argumentationslinie wie im Polizeirecht heran: Auch dort dient das Verbot der Aussageerpressung nach Brugger dem besonderen Schutz des Festgehaltenen in einer hilflosen Lage. Ist die Situation eine andere, weil vom Festgehaltenen selbst eine Gefahr für Dritte ausgeht, besteht eine Wertungslücke, die geschlossen werden kann, wenn man – entsprechend der Vorgehensweise im Polizeirecht – den Anwendungsbereich des Art. 3 EMRK in einem solchen Fall zugunsten einer streng an Verhältnismäßig189 Daneben kommen als völkerrechtliche Vorschriften – worauf auch Brugger, Würde gegen Würde, VBlBW 1995, 446, 451 Fn. 64 hinweist – insbesondere Art. 5 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948, Art. 7 Satz 1, Art. 10 Abs. 1 und Art. 4 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte vom 19.12.1966 und das Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10.12.1984 in Betracht. 190 Art. 3 EMRK lautet: „Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“ In Art. 15 Abs. 2 EMRK ist festgelegt, dass Art. 3 auch im Notstandsfall nicht außer Kraft gesetzt werden darf. 191 Brugger, Würde gegen Würde, VBlBW 1995, 446, 451 f.; ders., Vom unbedingten Verbot der Folter zum bedingten Recht auf Folter?, JZ 2000, 165, 169 f. 192 Brugger, Der Staat 35 (1996), 67, 82.

B. Polizeirechtliche Eingriffsbefugnisse

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keitsgesichtspunkten orientierten Regelung beschränkt, die die Anwendung von Gewalt zur Herbeiführung einer Aussage im Extremfall zulässt. 2. Stellungnahme zu der Argumentation Bruggers Gegen die Argumentation Bruggers, wonach eine öffentlichrechtliche Eingriffsbefugnis für die zwangsweise Herbeiführung einer Aussage den Polizeigesetzen der Länder entnommen werden kann, lassen sich insbesondere drei Gründe anführen: a) Fehlen einer Regelungslücke in den Polizeigesetzen Gegen die Argumentation Bruggers spricht zunächst der methodische Ansatz, mit dem er sich für die Zulässigkeit des Einsatzes der Rettungsfolter auf polizeirechtlicher Grundlage ausspricht. Brugger begründet eine teleologische Reduktion der Vorschriften, die die Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Herbeiführung einer Aussage ausnahmslos verbieten, mit der bei Geiselnahmen anderen Typik des Sachverhaltes, als sie dem Gesetzgeber bei der Normierung der Vorschriften vor Augen stand: Der Gesetzgeber wollte – so Brugger – mit dem Verbot der Zwangsanwendung bei Vernehmungen Personen, die aufgrund des polizeilichen Zugriffs in eine hilflose Lage geraten sind, besonders schützen. Bei einer Entführung befinde sich nun aber nicht der von der Polizei gefasste Entführer, sondern seine Geisel in einer hilflosen Lage. Der Entführer hat dagegen, da nur er den Aufenthaltsort des Opfers kennt, die Situation in der Hand. Diese Konstellation berücksichtigten die Regelungen über das Verbot der zwangsweisen Herbeiführung einer Aussage nicht (Regelungslücke) und müssten daher in einer solchen Situation zurücktreten.193 Gegen die Einbeziehung der Opferlage bei der Auslegung der Vorschriften über die Unzulässigkeit der Anwendung unmittelbaren Zwangs bei Vernehmungen, wie sie Brugger vornimmt, spricht allerdings, dass es sich hierbei um Normen handelt, die einseitig im Interesse des Zwangsadressaten und nicht auch des Opfers erlassen wurden. Es ist daher problematisch, aus diesen Vorschriften aufgrund einer immanenten Teleologie, die die Lage des Opfers in den Vordergrund stellt, eine Eingriffsbefugnis zu Lasten des Entführers und zugunsten des Opfers gewinnen zu wollen. Zudem ließen sich im Polizeirecht – nicht zuletzt aufgrund der Voraussetzung einer „Gefahr“ in den meisten Eingriffstatbeständen – so gut wie immer Interessen Dritter benennen, die innerhalb einer Abwägung Berücksichtigung finden könnten. Vor diesem Hintergrund deutet die ausdrückliche Normierung des Verbots der Zwangsanwendung bei der Befragung von Personen darauf hin, dass dem Rechtsanwender hier gerade keine Definitions193

Vgl. oben B. IV. 1. a).

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1. Teil: Rechtfertigung aufgrund hoheitlicher Eingriffsbefugnisse

macht hinsichtlich der kollidierenden Interessen eingeräumt werden sollte. Eine gesetzliche Wertungslücke als Voraussetzung einer teleologischen Reduktion der Vorschriften über das Verbot der Zwangsanwendung bei Vernehmungen ist damit in den polizeilichen Vorschriften nicht zu ersehen.194 Für eine Berücksichtigung der Situation des Opfers bietet sich demnach nicht das Polizeirecht, sondern das Verfassungsrecht an: Die Grundrechte ermöglichen hier, die Interessen des Täters auf der einen und die Belange des Opfers auf der anderen Seite in einer Abwägung zu berücksichtigen und einer sachgerechten Lösung zuzuführen. b) Erfordernis einer klaren Regelung der Voraussetzungen des Verwaltungszwangs Selbst wenn man aber – wie Brugger – eine gesetzliche Wertungslücke annimmt, wäre eine genaue und unmissverständliche Regelung, in welcher Voraussetzungen und Grenzen der Anwendung der Rettungsfolter umrissen sind, ein unabweisbares Bedürfnis. Denn gerade in einem sensiblen Bereich wie dem Verwaltungszwang kann nur der Gesetzgeber mit der Normierung einer Ausnahme von dem Verbot der Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Herbeiführung einer Aussage in den Polizeigesetzen das nötige Maß an Rechtssicherheit und Rechtsklarheit schaffen, um einen Eingriff auf polizeirechtlicher Grundlage zu rechtfertigen. Die Rettungsfolter bedürfte demnach einer eindeutigen und klaren gesetzlichen Grundlage.195 Auch im Hinblick auf die rechtfertigende Wirkung von öffentlichrechtlichen Eingriffsnormen wäre das Fehlen einer klaren Regelung bedenklich. Dies gilt insbesondere, wenn man die Perspektive des Eingriffsopfers vor Augen hat. Denn die Erlaubnissätze rechtfertigen nicht nur das Handeln des Berechtigten, sondern sie begründen auch Eingriffsrechte, die mit einer Duldungspflicht des Betroffenen einhergehen: Dem Eingriffsopfer ist nicht nur die Notwehr gegen das Handeln des Berechtigten versagt, sondern er muss es auch sonst hinneh-

194 Ebenso Wilhelm, Folter – verboten, erlaubt oder gar geboten?, Die Polizei 2003, 198, 202: „Als Voraussetzungen einer Analogie sind weder eine Regelungslücke noch ein vergleichbarer Sachverhalt und mit der Ausnahmeregelung des Rettungsschusses auch keine analogiefähige Regelung gegeben.“ Ähnlich Jerouschek/Kölbel, Folter von Staats wegen?, JZ 2003, 613, 617 Fn. 42: „Ein Norminterpret, der jene Verbote [. . .] teleologisch reduziert und ihnen die Bedingungen des finales Rettungsschuss als Verbotsausnahme einschreibt [. . .], übergeht mit dieser Operation einen eindeutiger nicht formulierbaren Normtext.“ 195 Hilgendorf, Folter im Rechtsstaat?, JZ 2004, 331, 338 schlägt als Formulierung in den Polizeigesetzen etwa vor: „Dies [das Verbot der Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Herbeiführung einer Aussage] gilt nicht, soweit die Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Rettung eines Menschenlebens oder zur Vermeidung schwerer gesundheitlicher Schäden eines Anderen erforderlich ist.“

B. Polizeirechtliche Eingriffsbefugnisse

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men, ohne sich auf andere Rechtfertigungsgründe – etwa den rechtfertigenden Notstand – berufen zu können.196 Eine derartige Duldungspflicht ist dem Betroffenen nur schwer zuzumuten, wenn ein Eingriffsrecht sich zwar aus einer teleologischen Reduktion aufgrund einer festgestellten gesetzlichen Wertungslücke ableiten lässt, der ausdrückliche Wortlaut aber die zwangsweise Herbeiführung einer Aussage untersagt. c) Systematische Einwände aus den verschiedenen Ebenen polizeilichen Handelns Ein dritter Schwachpunkt in Bruggers Ansatz liegt schließlich darin, dass seine Argumentation, wonach die zwangsweise Herbeiführung einer Aussage aufgrund einer gesetzlichen Wertungslücke in Ausnahmefällen zulässig sein soll, auf der zweiten Ebene polizeilichen Handelns – dem Verwaltungszwang – ansetzt. Voraussetzung für die Anwendung einer Maßnahme der zweiten Ebene – beispielsweise der hier in Frage stehende unmittelbare Zwang – ist aber das Vorliegen einer Primärmaßnahme in Form eines Verwaltungsakts.197 Es ist jedoch in manchen Polizeigesetzen bereits die Auskunftspflicht des Täters hinsichtlich sachbezogener Angaben durch die Normierung eines umfassenden Auskunftsverweigerungsrecht ausgeschlossen (so in den Ländern Baden-Württemberg, Berlin, Hamburg, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen-Anhalt).198 Für diese Länder kommt demnach die Anwendung unmittelbaren Zwangs von vornherein nicht in Betracht. Zwar sieht auch Brugger – der seine Darstellung am baden-württembergischem Polizeirecht orientiert – dieses Problem. Er scheint aber dem polizeirechtlichen Auskunftsverweigerungsrecht in diesen Ländern keinen hohen Stellenwert einzuräumen: „Der Terrorist hat hier durch den Erpressungsversuch und die Aktivierung des Zündmechanismus der Bombe zweifellos schon strafbare Taten begangen, doch würde eine Aussage von ihm keine neuen Straftaten hinzutreten lassen, sondern, wenn überhaupt, den Weg zur Strafmilderung eröffnen.“199 Zudem beruft er sich auf die hessische Regelung, wonach das Auskunftsverweigerungsrecht eingeschränkt ist, „wenn die Auskunft für die Abwehr einer Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person erforderlich ist“ (§ 12 196

Roxin, AT 1, § 14 Rn. 105. Ausnahmsweise kann von einer vorausgehenden Primärmaßnahme im Rahmen des sog. Sofortvollzugs abgesehen werden (vgl. z. B. Art. 53 Abs. 2 BayPAG; § 50 Abs. 2 NWPolG). Aber auch hier ist Voraussetzung, dass alle Bedingungen für den Erlass eines Verwaltungsakts vorliegen, d.h. die Polizei muss innerhalb ihrer Befugnisse handeln, so dass eine Primärmaßnahme überhaupt rechtlich zulässig ist; vgl. Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 359. 198 Vgl. hierzu oben B. II. 3. a). 199 Brugger, Der Staat 35 (1996), 67, 70. 197

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1. Teil: Rechtfertigung aufgrund hoheitlicher Eingriffsbefugnisse

Abs. 2 Satz 3 HessSOG). In dieser Vorschrift sieht Brugger einen allgemeinen Rechtsgedanken, der im gesamten Polizeirecht gelten sollte.200 Bereits oben wurde darauf hingewiesen, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Auskunftspflicht – auch bei drohender Selbstbelastung des Betroffenen – außerhalb eines Strafverfahrens nicht grundsätzlich unzulässig ist.201 Die verschiedenen Regelungen in den Polizeigesetzten, die von einer uneingeschränkten Auskunftspflicht bis zu einem umfassenden Auskunftsverweigerungsrecht des Tatverdächtigen reichen, zeigen aber, dass ein allgemeines Rechtsprinzip, das eine Offenbarungspflicht – auch zur Abwehr einer Lebens- oder Leibesgefahr – verlangt, nicht besteht. Durch die Regelung eines umfassenden Auskunftsverweigerungsrechts haben die betreffenden Länder dem Schutz des Täters vor einer Selbstbezichtigung Vorrang eingeräumt gegenüber der Rettung des Opfers. Über diese polizeirechtliche Wertung kann man nicht hinweggehen.202 Die Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Herbeiführung einer Aussage scheitert damit in den Ländern Baden-Württemberg, Berlin, Hamburg, Rheinland-Pfalz, Saarland und Sachsen-Anhalt schon an der fehlenden Zulässigkeit der Primärmaßnahme.

C. Eingriffsbefugnisse aus Regelungen außerhalb des Polizeirechts Kann damit die zwangsweise Herbeiführung einer Aussage nicht auf eine Befugnis in den Polizeigesetzen der Länder gestützt werden, so ist fraglich, ob sich nicht aus Regelungen anderer Rechtsgebiete eine Eingriffsermächtigung zur Anwendung der Rettungsfolter ableiten lässt. In diesem Zusammenhang wird insbesondere diskutiert, ob grundrechtliche Schutzpflichten oder strafrechtliche Rechtfertigungsgründe als hoheitliche Eingriffsermächtigungen herangezogen werden können.

200 Brugger, Der Staat 35 (1996), 67, 71; ders., Vom unbedingten Verbot der Folter zum bedingten Recht auf Folter?, JZ 2000, 165, 166. Zu Recht kritisch Jerouschek/ Kölbel, Folter von Staats wegen?, JZ 200, 613, 616 Fn. 37: „Den Vorbehalt des (Eingriffs-)Gesetzes übergeht, wer dieses Modell nicht nur de lege ferenda bevorzugt, sondern als ,allgemeinen Rechtsgedanken‘ begreift und aussagepflichtbegründend auf jene Aussageverweigerungsrechte überträge, bei denen kein Ausnahmevorbehalt vorgesehen wurde.“ 201 Vgl. Erster Teil B. II. 3. b). 202 Eine andere Frage ist, ob die betreffenden Länderregelungen, die ein Auskunftsverweigerungsrecht umfassend statuieren, gegen grundrechtliche Gewährleistungen verstoßen. Vgl. hierzu unten Zweiter Teil C. II. 2. b).

C. Eingriffsbefugnisse aus Regelungen außerhalb des Polizeirechts

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I. Eingriffsbefugnisse auf verfassungsrechtlicher Grundlage Nur wenn sich aus den grundrechtlichen Schutzpflichten, die nach Bruggers Ansatz die Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Herbeiführung einer Aussage verfassungsrechtlich rechtfertigen können, unmittelbar eine Eingriffsermächtigung für die Exekutive begründen lässt, muss bereits an dieser Stelle auf die verfassungsrechtliche Argumentation Bruggers eingegangen werden. Falls nämlich aus den grundrechtlichen Schutzpflichten keine unmittelbare Eingriffsbefugnis für staatliche Eingriffe in Grundrechte des Bürgers abgeleitet werden können, wäre eine strafrechtliche Rechtfertigung des handelnden Amtsträgers selbst dann ausgeschlossen, wenn auf Grundlage einer verfassungsrechtlichen Prüfung des Sachverhaltes die Anwendung der Rettungsfolter in Extremsituationen erlaubt (oder sogar geboten) wäre. Die Frage, ob sich aus den grundrechtlichen Schutzpflichten unmittelbare Eingriffsermächtigungen ergeben können, ist damit – soweit es um die strafrechtliche Rechtfertigung des Amtsträgers geht – einer materiellen verfassungsrechtlichen Prüfung des Sachverhaltes vorgelagert. In der Literatur wird teilweise angenommen, dass verfassungsrechtliche Schutzpflichten ausnahmsweise direkte Eingriffsbefugnisse verleihen können. So sind nach Isensee „nicht von vornherein Grenzfälle auszuschließen, daß jedwede gesetzliche Grundlage fehlt, grundrechtlichen Gütern gegenwärtige Gefahr droht, daß ohne staatliches Eingreifen private Notwehr legitim wäre und die Staatsorgane vor dem Dilemma stehen, entweder legal zu handeln und die grundrechtliche Schutzpflicht zu verletzen oder grundrechtlich legitim, aber ohne legale Befugnis.“203 Die Frage einer auf eine grundrechtliche Schutzpflicht gestützte Eingriffsbefugnis wurde insbesondere anlässlich zweier Gerichtsentscheidungen aus dem Jahr 1989 eingehend und kontrovers diskutiert: Im ersten Fall hat das Bundesverwaltungsgericht die Erlaubnis der Bundesregierung zur Warnung vor „Jugendreligionen“, die einen faktischen Eingriff in die Religionsfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG darstellt, auf die ungeschriebene, aber verfassungsunmittelbare Aufgabe zur Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung gestützt, die auch Warnungen zum Schutz der Bürger umfasse: „Da sich die Befugnis der Bundesregierung zu öffentlichen Warnungen aus der Verfassung selbst ergibt, ist eine weitergehende (einfach-)gesetzliche Regelung dieser Befugnis nicht erforderlich.“204 Im zweiten Fall hat der VGH Kassel die Errichtung gentechnischer Anlagen für vorläufig unzulässig erklärt, obwohl es an einem entsprechenden Eingriffsgesetz gefehlt hat.205 Der VGH hat in dieser Entscheidung die Grundrechte des Anlagenbetreibers aus den Art. 5 Abs. 3, 12 Abs. 1 und 14 Abs. 1 GG dem Schutzanspruch Dritter aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gegenübergestellt: Bei 203 Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und Staatliche Schutzpflicht, in: HdbStR, Band V, § 111 Rn. 161; vgl. auch Brugger, Darf der Staat ausnahmsweise foltern?, Der Staat 35 (1996), 67, 78. 204 BVerwG JZ 1989, 997, 999. 205 VGH Kassel JZ 1990, 87.

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1. Teil: Rechtfertigung aufgrund hoheitlicher Eingriffsbefugnisse

einer solchen „Konkurrenz“ der Grundrechte „kehrt sich [. . .] das Verhältnis von prinzipieller Forschungs-, Berufs- und Gewerbefreiheit und damit einhergehender besonders begründungsbedürftiger Beschränkung angesichts der überragenden Bedeutung des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit um mit der Folge, daß die Nutzung einer Technologie wegen ihrer weitreichenden Auswirkungen auf die Menschen einer besonderen Zulassung durch den Gesetzgeber bedarf.“206 In beiden Fällen haben die Gerichte damit nicht nur einen Anspruch an den Gesetzgeber auf Erlass eines entsprechenden Eingriffsgesetzes, sondern darüber hinausgehend die unmittelbare Geltung der Schutzdimension festgestellt. Das Eingriffsgesetz wird damit der Sache nach überflüssig; es ist – wie Wahl/Masing zu Recht feststellen – nicht nur inhaltlich, sondern auch als Eingriffstitel lediglich deklaratorisch.207

Eine solche Sicht, die auf den Vorbehalt der gesetzlichen Ermächtigung verzichtet, ist aber selbst in Extremsituationen abzulehnen. Denn der Verzicht auf eine einfachgesetzliche Eingriffsbefugnis zur Erfüllung des staatlichen Schutzauftrags relativiert wichtige formalrechtsstaatliche Anforderungen an hoheitliches Handeln:208 (1) Die staatliche Schutzpflicht steht immer in Konflikt mit Freiheitsinteressen Dritter. Wollte man nun eine Eingriffsermächtigung unmittelbar aus grundrechtlichen Schutzpflichten ableiten, so würde dies einen Eingriff in Grundrechte Dritter ohne gesetzliche Grundlage bedeuten. Die grundrechtliche Gesetzesvorbehalte wären damit ihrer Funktion beraubt – der Vorbehalt des Gesetzes wäre faktisch abgeschafft. (2) Mit dem Verzicht auf ein konkret-spezifisches Eingriffsgesetz entfällt die behördliche Last zum Nachweis genauer Eingriffsvoraussetzungen. Staatliche Behörden sind nicht mehr an konkrete tatbestandliche Merkmale gebunden, sondern können (bzw. müssen) – wie gerade auch die Entscheidung des VGH Kassel gezeigt hat – ein Verbot auf das unscharfe Merkmal eines „ungeklärten Risikos“ stützen. Damit ist die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung im Sinne einer Bindung an konkrete Tatbestandsmerkmale aufgehoben. (3) Eine weitere Folge des Verzichts auf ein Eingriffsgesetz ist, dass auch das Verbot, von der Kompetzenz bzw. Aufgabe auf die Befugnis zu schließen – Schenke spricht von „einem heute allgemein anerkannten rechtsstaatlichen Grundsatz“209 –, nicht mehr gilt: Erfordert die Verfassung Schutzmaßnahmen, so muss auch die Befugnis hierfür gegeben sein. (4) Weiterhin wird durch die Ableitung von Eingriffsbefugnissen aus grundrechtlichen Schutzpflichten die bundesstaatliche Kompetzensverteilung unterlau-

206

VGH Kassel JZ 1990, 87, 89. Wahl/Masing, Schutz durch Eingriff, JZ 1990, 553, 555. 208 Vgl. zu den nachfolgenden Ausführungen die Darstellung von Wahl/Masing, Schutz durch Eingriff, JZ 1990, 553, 555 f. 209 Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 36. 207

C. Eingriffsbefugnisse aus Regelungen außerhalb des Polizeirechts

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fen. Liegt die Zuständigkeit der allgemeinen Gefahrenabwehr in der Zuständigkeit der Länder und wären damit sie etwa zur Abwehr von Jugendreligionen berufen, so wird aus der verfassungsrechtlichen Verantwortung der Bundesregierung für das Gemeinwohl auch ihre Kompetzenz. (5) Auch leidet durch den Verzicht auf ein Eingriffsgesetz die Rechtssicherheit: Wann sich die prinzipielle allgemeine Handlungsfreiheit aufgrund verfassungsrechtlicher Schutzpflichten umdreht in ein Handlungsverbot, ist nicht vorhersehbar: Ob ein Handlungsverbot besteht, kann nicht mehr anhand konkreter Tatbestandsmerkmale eines Eingriffsgesetzes nachvollzogen werden, sondern liegt an der Gewichtung gegenüberstehender Schutzgüter, die – da sie einer (einfachgesetzlichen) Konkretisierung bedarf – vom einzelnen Bürger nicht vorhersehbar ist. (6) Aufgegeben ist damit auch das rechtsstaatliche Verteilungsprinzip, das für den einzelnen alles für erlaubt erklärt, was nicht ausdrücklich verboten ist. Wenn es aus der Verfassung unmittelbar abgeleitete Handlungsverbote gibt, die der Gesetzgeber erst aufheben muss,210 besteht eine prinzipielle Vermutung der Freiheit nicht mehr. Geboten wäre eine Überlagerung der dargestellten rechtsstaatlichen Grundsätze durch sie ersetzende Schutzpflichten nur dann, wenn sich Schutz- und Eingriffsseite der Grundrechte unvermittelt einander gegenübertreten und die beiden grundrechtlich gewährleisteten Rechtspositionen Schutzgewährung und Handlungsfreiheit direkt miteinander in Konkurrenz treten würden. In diesem Fall träfe das Gebot, nur auf gesetzlicher Grundlage Freiheitsrechte Dritter zu beschneiden, alle staatlichen Instanzen in gleicher Weise und nicht durchgreifender als das Gebot, grundrechtliche Rechtsgüter zu schützen: Das Erfordernis des Gesetzesvorbehaltes geriete in unmittelbaren Konflikt mit der Schutzverpflichtung, weil Art. 1 Abs. 3 GG auch für die Schutzpflicht die unmittelbare Geltung anordnet. Zu fragen ist daher danach, ob die objektiv-rechtliche Bedeutung des Schutzanspruchs in gleich spezifischer Weise wirkt wie die subjektivabwehrrechtliche Bedeutung, mit dem Ergebnis, dass dann gem. Art. 1 Abs. 3 GG jede staatliche Instanz dem Abwehranspruch des einen immer auch den grundrechtlichen Schutzanspruch des anderen entgegenhalten kann bzw. muss.211 Dies ist zu verneinen: Der Abwehrcharakter der Grundrechte hat eine fest umrissene Ausgestaltung. Er verlangt die Beachtung bestimmter, konkret-spezifischer Grenzen und damit kein staatliches Handeln, sondern ein Unterlassen eines seinerseits genau bestimmten Eingriffsaktes: „Als Unterlassen ist das

210 211

Vgl. hierzu nochmals VGH Kassel JZ 1990, 87, 89. Wahl/Masing, Schutz durch Eingriff, JZ 1990, 553, 557 f.

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1. Teil: Rechtfertigung aufgrund hoheitlicher Eingriffsbefugnisse

,staatlich Geschuldete‘ eindeutig und klar bestimmt, nämlich als Unterlassen genau des konkreten Eingriffsaktes.“212 Auf der anderen Seite ist der Schutzanspruch seinem Inhalt nach unbestimmt und unspezifisch. Während verfassungswidriges staatliches Handeln durch ein Aufheben des konkreten Eingriffsaktes rückgängig gemacht werden kann, existiert bei Verletzung einer Schutzpflicht meist eine Vielzahl verfassungsmäßiger Alternativen: „Auch wenn Schutz verfassungsverbindlich zu gewährleisten ist und auch wenn dieses im Einzelfall zwangsläufig mit einer Freiheitsbeschränkung Dritter einhergehen muß, so sind die Schutzmaßnahmen selbst doch inhaltlich nie verfassungsmäßig genau vorgezeichnet [. . .].“213 Hinzu kommt, dass über die inhaltliche Unbestimmtheit hinaus die Schutzpflichten auch keine Aussage drüber treffen, wer funktional zur Umsetzung des jeweiligen Schutzanspruchs berufen ist: Die Schutzpflicht trifft zwar nach Art. 1 Abs. 3 GG alle Gewalten als unmittelbar geltende Verpflichtung; sie begründet aber keine neuen Kompetenzen, sondern trifft die einzelnen Staatsgewalten jeweils nach Maßgabe ihres spezifischen Funktionskreises als Gesetzgeber, Verwaltung oder Gericht.214 Abwehr- und Schutzanspruch stehen sich folglich nicht gleichgeordnet gegenüber. Der Abwehranspruch wirkt als Bewahranspruch spezifisch-konkret, der Schutzanspruch ist dagegen auf einen Vollzug, über den er selbst nichts aussagt, angewiesen und kann daher nicht unmittelbar wirken. Dies steht auch nicht in Widerspruch zu Art. 1 Abs. 3 GG: Die dort garantierte unmittelbare Bindung aller Gewalten an die Grundrechte verpflichtet diese nur funktionsspezifisch und nur soweit, als der Gehalt der Grundrechte reicht.215 Ist damit ihrem Wesen nach die Schutzdimension umsetzungs- und vollzugsbedürftig, so kann sich auch über Art. 1 Abs. 3 GG keine unmittelbare Geltung der Schutzdimension ableiten lassen. Eine Eingriffsbefugnis kann daher nicht auf eine grundrechtliche Schutzpflicht des Staates gestützt werden.

212

Wahl/Masing, Schutz durch Eingriff, JZ 1990, 553, 558. Wahl/Masing, Schutz durch Eingriff, JZ 1990, 553, 558. 214 Vgl. Wahl/Masing, Schutz durch Eingriff, JZ 1990, 553, 559; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deuschland, Band 3/1, S. 950 f. Die grundrechtlichen Schutzpflichten sind damit zwar weitgehend, aber nicht ausschließlich gesetzesmediatisiert. Ebenso wie der Bundes- oder Landesgesetzgeber können – je nach Zuständigkeit – auch die Bundes-, Landes- oder Kommunalverwaltung als Adressaten der Schutzdimension in Betracht kommen. 215 Wahl/Masing, Schutz durch Eingriff, JZ 1990, 553, 559. 213

C. Eingriffsbefugnisse aus Regelungen außerhalb des Polizeirechts

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II. Eingriffsbefugnisse aufgrund strafrechtlicher Rechtfertigungsgründe Lässt sich damit weder auf Grundlage des Polizeirechts noch aus den grundrechtlichen Schutzpflichten eine Befugnis zur zwangsweisen Herbeiführung einer Aussage in Extremsituationen ableiten, so kann sich eine öffentlichrechtliche Eingriffsbefugnis des Amtsträgers zuletzt auf Grundlage der Rechtfertigungsgründe der §§ 32, 34 StGB ergeben. Ob strafrechtliche Rechtfertigungsgründe polizeiliche Befugnisnormen ergänzen oder erweitern können, ist allerdings umstritten: Da die Voraussetzungen des strafrechtlichen Notwehrrechts und die Vorschriften über das polizeiliche Einschreiten nicht deckungsgleich sind – in der Regel sind die polizeilichen Befugnisse enger formuliert als die §§ 32, 34 StGB216 – kommt es zwischen den Regelungsbereichen des Polizeirechts und des Strafrechts zu Friktionen, die einer befriedigenden Lösung kaum zugänglich sind. So lässt sich in der Literatur eine kaum noch überschaubare Vielzahl an Meinungen ausmachen,217 die sich zwischen den Extrempositionen einer rein strafrechtlichen und einer rein polizeirechtlichen Lösung bewegen: Nach diesen Ansätzen stehen die strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe der Polizei für ihr Amtshandeln als Eingriffsbefugnisse entweder ergänzend (rein strafrechtliche Lösung218) bzw. nicht einmal als strafrechtlicher Rechtfertigungsgrund für den handelnden Amtsträger (rein polizeirechtliche Lösung219) zur Verfügung.220

216

Siehe aber Spendel, in: LK StGB, § 32 Rn. 276. Vgl. die umfangreichen Nachweise bei Hirsch, in: LK StGB, § 34 vor Rn. 6. Eine Zusammenfassung des Meinungsstandes findet sich bei Pawlik, Der rechtfertigende Notstand, S. 186 ff. Eine gute tabellarische Übersicht zu den verschiedenen Theorien findet sich bei Jahn, Das Strafrecht des Staatsnotstandes, S. 272. 218 Vgl. Lenckner/Perron in: Schönke/Schröder, StGB, § 32 Rn. 42 b f.; Spendel, in: LK StGB, § 32 Rn. 263 ff.; Herzberg, Folter und Menschenwürde, JZ 2005, 321 f. 219 Vgl. Hirsch, in: LK StGB, § 34 Rn. 6 ff., der aber eine Rechtfertigung nach § 34 StGB dort für möglich hält, wo es nicht um Eingriffe in die Freiheitssphäre des Einzelnen geht, sondern ausschließlich staatliche Rechtsgüter oder solche der Allgemeinheit betroffen sind. Die polizeirechtliche Lösung ist in letzter Zeit im Vordringen begriffen; vgl. Jahn, Das Strafrecht des Staatsnotstandes, S. 416 ff. (rein polizeirechtliche Lösung); Pawlik, Der rechtfertigende Notstand, S. 214 f. (eingeschränkt polizeirechtliche Lösung). 220 Die Rechtsprechung verfolgt bei der Frage, ob die strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe dem Amtsträger als hoheitliche Eingriffsbefugnisse zur Seite stehen, keine einheitliche Linie. BVerfGE 33, 1, 17 verneint für den Fall, dass ein Anstaltsleiter beleidigende Briefe von Strafgefangenen unter Berufung auf Nothilfe zurückhält, das Bestehen einer Eingriffsbefugnis: „Die staatlichen Organe dürfen [. . .] nicht [. . .] ohne spezielle Ermächtigung in den grundrechtsgeschützten Raum der Bürger eindringen.“ BGHSt 27, 260 hat dagegen im Entführungsfall Schleyer die Anordnung einer „Kontaktsperre“ – gestützt auf § 34 StGB – als zulässig erachtet. 217

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1. Teil: Rechtfertigung aufgrund hoheitlicher Eingriffsbefugnisse

Innerhalb der rein strafrechtlichen Lösung wird wiederum differenziert: Nach der den Anwendungsbereich der §§ 32, 34 StGB am weitesten ausdehnenden Meinung sollen die strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe unbeschränkt anwendbar sein, sofern die entsprechenden Eingriffsbefugnisse nicht schon durch spezielle öffentlichrechtliche Befugnisse gewährt werden.221 Andere lehnen einen Rückgriff auf strafrechtliche Rechtfertigungsgründe zumindest dort ab, wo ein bestimmter Interessenkonflikt bereits durch eine öffentlichrechtliche Spezialvorschrift abschließend geregelt ist.222 Die engste Richtung innerhalb der die Anwendbarkeit der §§ 32, 34 StGB bejahenden Auffassung will einen Rückgriff auf diese Normen nur dann zulassen, wenn eine vorher vom Gesetzgeber nicht bedachte und geregelte Eingriffsbefugnis für staatliche Organe zur Abwehr eines schweren Schadens unabweisbar ist, die Anwendbarkeit der §§ 32, 34 StGB also auf Fälle beschränken, die nicht typisierbar und damit nicht kodifizierbar sind.223

Weit verbreitet ist in der Literatur auch die differenzierende Lösung, wonach die strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe zwar hoheitliche Eingriffe erfassen können, jedoch in ihren Wirkungen auf die strafrechtlichen Rechtsfolgen beschränkt sind, so dass die Beurteilung der Rechtmäßigkeit für das öffentliche Recht hiervon unberührt bleibt.224 Daneben sind in der Literatur noch häufig folgende Ansichten anzutreffen: Nach der sog. gemischt polizeirechtlich-strafrechtliche Lösung darf der Beamte trotz entgegenstehender polizeirechtlicher Bestimmungen Nothilfe leisten, wird hier aber als Privatperson und nicht hoheitlich tätig: Damit tritt der dem polizeilichen Sonderrecht unterliegende Polizist in Fällen der Nothilfe in die Rolle des Privatmannes hinein, der sich auf die weitergehenden Rechte aus dem StGB berufen kann.225 Nach der eingeschränkten polizeirechtlichen Lösung gelten die strafrechtlichen Ermächtigungsnormen im Polizeirecht nur in Situationen der persönlichen Notwehr oder des persönlichen Notstands des Amtsträgers, also ausschließlich zur Selbstverteidigung.226

Die Zielsetzung dieses Kapitels, nämlich die Untersuchung der öffentlichrechtlichen Zulässigkeit der zwangsweisen Herbeiführung einer Aussage im präventiv-polizeilichen Bereich, erfordert zunächst nur zu prüfen, ob die Recht221 Gössel, Über die Rechtmäßigkeit befugnisloser strafprozessualer rechtsgutsbeeinträchtigender Maßnahmen, JuS 1979, 162, 165. 222 Roxin, AT 1, § 16 Rn. 89 f. 223 Maurach/Zipf, AT 1, § 27 Rn. 33. 224 Böckenförde, Der verdrängte Ausnahmezustand, NJW 1978, 1881, 1883; Kirchhof, Polizeiliche Eingriffsbefugnisse und private Nothilfe, NJW 1981, 969, 972. Sydow, Forum: § 34 StGB – kein neues Ermächtigungsgesetz!, JuS 1978, 222, 224. Vgl. auch Klose, Notrecht des Staates aus staatlicher Rechtsnot, ZStW 89 (1977), 61, 79. 225 Kinnen, Notwehr und Nothilfe als Grundlagen hoheitlicher Gewaltanwendung, MDR 1974, 631, 633 f.; Rupprecht, Die tödliche Abwehr des Angriffs auf menschliches Leben, JZ 1973, 263, 265. 226 Maurach/Zipf, AT 1, § 26 Rn. 34; Amelung, Erweitern allgemeine Rechtfertigungsgründe, insbesondere § 34 StGB, hoheitliche Eingriffsbefugnisse des Staates?, NJW 1977, 833, 839 f.; Pawlik, Der rechtfertigende Notstand, S. 214 f.

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fertigungsgründe der §§ 32, 34 StGB im Sinne der strafrechtlichen Lösung als ergänzende öffentlichrechtliche Ermächtigungsnormen neben die polizeirechtlichen Bestimmungen treten können. Man kann sich an dieser Stelle die Frage stellen, ob es für die Beurteilung der Strafbarkeit des Amtsträgers nicht gleichgültig ist, ob sein Handeln – gestützt auf die §§ 32, 34 StGB – im Sinne der strafrechtlichen Lösung sogar hoheitlich erlaubt ist, oder ob der Amtsträger „lediglich“ strafrechtlich gerechtfertigt ist, sein Handeln aber polizeirechtswidrig bleibt, wie es die differenzierende Lösung vorsieht. Die Beantwortung dieser Frage ist aber deshalb von Bedeutung, weil das öffentlichrechtliche Erlaubtsein eines Verhaltens generell zu einer strafrechtlichen Rechtfertigung des Amtsträgers führt,227 während eine strafrechtliche Rechtfertigung des Amtsträgers, sollte sein Verhalten nicht vom öffentlichen Recht gedeckt sein, noch aufgrund strafrechtssystematischer und -teleologischer Erwägungen ausscheiden könnte. So könnte beispielsweise für den Fall der Rettungsfolter § 343 StGB eine „Sperrwirkung“ hinsichtlich der Anwendbarkeit der allgemeinen Rechtfertigungsgründe der §§ 32, 34 StGB entfalten.228 Diese Möglichkeit einer „Sperrwirkung“ entfällt, wenn das Handeln des Amtsträgers bereits öffentlichrechtlich zulässig sein sollte.

1. Entstehungsgeschichtliche Erwägungen Bereits die Entstehungsgeschichte der Rechtfertigungsgründe in Deutschland spricht gegen eine Heranziehung der strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe als hoheitliche Eingriffsermächtigungen. a) Die Begrenzung staatlicher Gewalt als ursprüngliche Normfunktion der §§ 32, 34 StGB Eine Interpretation der §§ 32, 34 StGB als öffentlichrechtliche Eingriffsbefugnisse würde sich über die ursprüngliche Normfunktion dieser Vorschriften hinwegsetzen. Bei den Rechtfertigungsgründen handelt es sich nämlich um Ausnahmen zu den gesetzlichen Tatbeständen, die sich aber hinsichtlich der allgemeinen Handlungsfreiheit als Gegenausnahmen darstellen und zum Grundsatz einer pressionsfreien Betätigung des Einzelnen zurückführen.229 Indem sie die im gesetzlichen Tatbestand vorgesehen Rechtsfolgen ausschließen, drängen die Rechtfertigungsgründe die Möglichkeit der strafrechtlichen Ahndung als der „Ultima Ratio“ staatlicher Machtausübung zurück.230 Dieser freiheitserweiternde Gehalt der Rechtfertigungsnormen als Wiederherstellung der allgemeinen 227 228 229

Vgl. oben A. I. Vgl. hierzu unten Zweiter Teil A. II. 1. Sydow, Forum: § 34 StGB – kein neues Ermächtigungsgesetz!, JuS 1978, 222,

224. 230

224.

Sydow, Forum: § 34 StGB – kein neues Ermächtigungsgesetz!, JuS 1978, 222,

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1. Teil: Rechtfertigung aufgrund hoheitlicher Eingriffsbefugnisse

Handlungsfreiheit würde in sein Gegenteil verkehrt, wenn man diese als auch den Hoheitsträger ermächtigende Eingriffsgrundlagen ansieht, die staatliche Befugnisse zu Lasten der Freiheit des Einzelnen erweitern, weil damit hoheitlicher Zwang zur Repression unerwünschter Ausübung freiheitlicher Betätigung zugelassen wird.231 Zwar weist Pawlik darauf hin, dass eine Veränderung der ursprünglichen Normfunktion nicht notwendig unzulässig sein muss.232 Die Annahme einer solchen Unzulässigkeit bedürfe vielmehr einer zusätzlichen Begründung: Für die Notwehr führt Pawlik als zusätzliche Begründung an, dass die Schärfe, die dieser Rechtfertigungsgrund in Deutschland erhalten hat, sich in erster Linie aus dem liberalen Anliegen erklärte, die Rechtsstellung des einzelnen Bürgers möglichst stark zu gestalten. Das gleiche Ziel drückte sich auch in dem Bestreben der liberalen Bewegung aus, die Macht des Staates mittels der Lehre vom Gesetzesvorbehalt einzugrenzen. Dieses Anliegen würde in das Gegenteil verkehrt, wollte man es der Exekutive erlauben, sich auf die Notwehrvorschriften zu berufen, um über sondergesetzliche Regelungen hinausgehend in die Rechtssphäre des Bürgers einzugreifen.233 Hinzu kommt, dass die strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe bei einem derartigen Verständnis den Charakter einer Ausnahmevorschrift verlören. So kommen die meisten Bürger nur in Ausnahmefällen in die Lage, sich auf einen allgemeinen Rechtfertigungsgrund berufen zu müssen. Auch stellen sich die Rechtfertigungsgründe für den Bürger weniger als Handlungsermächtigungen, denn als nachträglicher Beurteilungsmaßstab für die Abwicklung eines Sozialkonflikts dar.234 Anders sieht es aus, wenn es dem Staat erlaubt ist, zur Erfüllung seiner Aufgaben in Individualrechtsgüter einzugreifen. Solche Eingriffsnormen beziehen sich dann nicht nur auf die Handlung eines Einzelnen, sondern immer auf die Maßnahmen einer öffentlichen Organisation. Diese Organisation ist auf Entscheidungen in ihrem jeweiligen Sachbereich spezialisiert und kommt daher häufig in die Lage, in der die Erlaubnisnorm angewendet werden kann.235 Dürfte sich die Verwaltung zur Erfüllung ihrer hoheitlichen Tätigkeit auf die §§ 32, 34 StGB berufen, so würden sich daher diese Normen vom Beurteilungsmaßstab für eine Ausnahmelage zum staatlichen Entscheidungsprogramm für einen Regelfall wandeln.236 Dies zeigt sich praktisch an den wiederholten Ver-

231

Sydow, Forum: § 34 StGB – kein neues Ermächtigungsgesetz!, JuS 1978, 222,

224. 232

Pawlik, Der rechtfertigende Notstand, S. 196. Pawlik, Der rechtfertigende Notstand, S. 196. 234 So Amelung, Erweitern allgemeine Rechtfertigungsgründe, insbesondere § 34 StGB, hoheitliche Eingriffsbefugnisse des Staates?, NJW 1977, 833, 837. 235 Amelung, Erweitern allgemeine Rechtfertigungsgründe, insbesondere § 34 StGB, hoheitliche Eingriffsbefugnisse des Staates?, NJW 1977, 833, 837. 233

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suchen von Behörden, sich im Anschluss an anderweitig nicht gedeckte hoheitliche Eingriffe zu deren Rechtfertigung auf § 34 StGB zu berufen.237 b) Zur Entstehungsgeschichte des § 34 StGB Zumindest im Hinblick auf den Rechtfertigungsgrund des § 34 StGB lässt sich zudem sagen, dass eine Deutung dieser Vorschrift als öffentlichrechtliche Ermächtigungsnorm den Intentionen des Gesetzgebers entgegenläuft. Objektiv ergibt sich dies daraus, dass § 34 StGB schon formell den an eine Eingriffsbefugnis zu stellenden Anforderungen nicht genügt, da der Gesetzgeber darauf verzichtet hat, dem Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG zu entsprechen und diejenigen Grundrechte, die durch § 34 StGB tangiert werden können, zu benennen.238 Des Weiteren ist bei den Gesetzesberatungen der Gedanke, mit der Normierung des rechtfertigenden Notstands gleichzeitig eine die öffentliche Gewalt berechtigende Eingriffsbefugnis zu schaffen, zu keinem Zeitpunkt erörtert worden. Angesichts der weitreichenden Konsequenzen einer solchen Interpretation des § 34 StGB für die gesamte Rechtsordnung deutet dies auf einen entgegenstehenden Willen des Gesetzgebers hin.239 Hirsch verweist zudem darauf, dass in einer den Beratungen des E 1962 zugrunde liegenden Vorlage des Bundesjustizministeriums klargestellt wird, dass Art. 2 EMRK für die Neufassung der Bestimmungen über Notwehr und Notstand deshalb ohne Bedeutung sei, weil diese hoheitliche Eingriffe nicht beträfen und dass der Sonderausschuss in seinen Beratungen zu § 34 StGB von einer lediglich mittelbaren Grundrechtseinschränkung ausging.240 2. Verfassungsrechtliche Erwägungen Die Heranziehung der strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe als hoheitliche Eingriffsermächtigungen ist aber nicht nur aus entstehungsgeschichtlicher, sondern auch aus verfassungsrechtlicher Sicht problematisch. So sprechen insbe236 Amelung, Erweitern allgemeine Rechtfertigungsgründe, insbesondere § 34 StGB, hoheitliche Eingriffsbefugnisse des Staates?, NJW 1977, 833, 837. 237 Hirsch, in: LK StGB, § 34 Rn. 8. 238 Hirsch, in: LK StGB, § 34 Rn. 10. Jahn, Das Strafrecht des Staatsnotstandes, S. 359 ff. Für § 32 StGB gilt hingegen das Zitiergebot nicht, da es sich bei dieser Norm – anders als bei § 34 StGB – um vorkonstitutionelles Recht handelt. Zu weiteren Ausnahmen vom Zitiergebot vgl. Dreier, in: Dreier, GG I, Art. 19 I Rn. 21 ff. Bockelmann, Notrechtsbefugnisse der Polizei, in: FS Dreher, S. 235, 241 sieht dagegen unrichtigerweise in den §§ 32, 32 StGB, 227, 228, 229, 904 BGB „durchweg vorkonstitutionelles Recht“. 239 Hirsch, in: LK StGB, § 34 Rn. 10. 240 Hirsch, in: LK StGB, § 34 Rn. 10.

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1. Teil: Rechtfertigung aufgrund hoheitlicher Eingriffsbefugnisse

sondere die in Art. 20 GG niedergelegten Prinzipien des Rechtsstaates241 und des Bundesstaates242 gegen die Begründung öffentlichrechtlicher Eingriffsbefugnisse auf Grundlage der §§ 32, 34 StGB. a) §§ 32, 34 StGB und das Bestimmtheitsgebot Das in Art. 20 GG niedergelegte Prinzip der Rechtsstaatlichkeit verlangt eine ausreichende Bestimmtheit von Gesetzen. Dem parlamentarischen Gesetzgeber ist es aufgegeben, „sich zu den hoheitlichen Eingriffen zu ,bekennen‘, deren Duldung dem betroffenen Bürger kraft seiner Friedens- und Gehorsamspflicht abverlangt wird.“243 Dies bedeutet, dass der Gesetzgeber bei der Regelung staatlichen Eingriffshandelns nicht in beliebigem Maß auf Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe zurückgreifen darf.244 Erfolgen Eingriffe in die Rechtssphäre des Bürgers durch die öffentliche Gewalt, so müssen die Voraussetzungen hierfür möglichst klar und für den Bürger erkennbar umschrieben werden.245 Es muss „verlangt werden, daß der Gesetzgeber wenigstens seinen Grundgedanken, das Ziel seines gesetzgeberischen Wollens, vollkommen deutlich macht [. . .].“246 Diesen im Bestimmtheitsgebot angelegten Anforderungen werden die strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe nicht gerecht.247 Die nach Art einer Generalklausel gestalteten §§ 32, 34 StGB enthalten keine präzisen Handlungsanweisungen für staatliche Organe, sondern sind allgemein und relativ unbestimmt gehalten. Teilweise wird allerdings darauf verwiesen, dass Gleiches auch für die polizeiliche Generalklausel gelte, die an Unbestimmtheit dem § 34 StGB nicht nachstehe.248 Dieser Vergleich der strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe mit der polizeilichen Generalklausel ist allerdings problematisch. Denn die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung nimmt desto eher die Vereinbarkeit einer relativ unbestimmt gehaltenen Norm mit dem Bestimmtheitsgrundsatz an, je länger die Gerichte an ihrer Konkretisierung gearbeitet hätten.249 Eine solche 241

Vgl. sogleich a) und b). Vgl. unten c). 243 Pawlik, Der rechtfertigende Notstand, S. 198. 244 Vgl. Dreier, in: Dreier, GG II, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 121; Pawlik, Der rechtfertigende Notstand, S. 200. 245 BVerfGE 17, 306, 314. 246 BVerfGE 17, 306, 314. 247 So für § 34 StGB Spirakos, Folter als Problem des Strafrechts, S. 217 ff. 248 So Schaffstein, Die strafrechtlichen Notrechte des Staates, in: GS Schröder, S. 97, 116. 249 Pawlik, Der rechtfertigende Notstand, S. 200 Fn. 97. An dieser Rechtsprechung ist jedoch zu kritisieren, dass die Verfassungsmäßigkeit einer Vorschrift ja gerade die Voraussetzung für die Anwendung einer Norm durch die Gerichte und damit für die Herausbildung einer Rechtsprechungstradition ist. Auch die §§ 32, 34 StGB können – 242

C. Eingriffsbefugnisse aus Regelungen außerhalb des Polizeirechts

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Konkretisierung hat die polizeiliche Generalklausel – im Gegensatz zu den strafrechtlichen Rechtfertigungsgründen – aufgrund einer hundertjährigen Rechtsprechungstradition erfahren.250 Zwar gibt es auch zu den strafrechtlichen Notrechten eine umfassende Judikatur, da auch diese schon sehr lange Zeit existieren. Da die §§ 32, 34 StGB aber von den Gerichten nur in seltenen Fällen in Zusammenhang mit hoheitlichem Handeln diskutiert werden, konnten diese eine der polizeilichen Generalklausel vergleichbare Konkretisierung durch die Rechtsprechung – jedenfalls für Problemlagen der vorliegenden Art – (bislang) nicht erlangen. Auch gewinnt die polizeiliche Generalklausel gerade als Auffangtatbestand gegenüber den Spezialbefugnissen inhaltliche Kontur: Der Dualismus von Generalklausel und Standardmaßnahmen, der bei den §§ 32, 34 StGB nicht besteht, trägt damit in besonderem Maße zur Berechenbarkeit staatlichen Handelns bei.251 Hinzu kommt – und hierin unterscheiden sich die §§ 32, 34 StGB entscheidend von der polizeilichen Generalklausel –, dass die Heranziehung der strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe als öffentlichrechtliche Ermächtigungsnormen mit einem Aufbrechen des geltenden Organisations- und Kompetenzrechts einhergehen würde. Das Gesetz als Basis der Verwaltungstätigkeit muss eine strenge und ausschließliche Zuständigkeitsverteilung gewährleisten, damit die rechtsstaatlichen Anforderungen des Prinzips der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung erfüllt werden können.252 Grundsätzlich legt der Gesetzgeber daher bei Eingriffen in grundrechtlich geschützte Individualrechtsgüter fest, welches Staatsorgan hierzu berechtigt sein soll. Wegen der rein materiellrechtlichen Struktur der §§ 32, 34 StGB entsteht bei der Heranziehung dieser Rechtfertigungsgründe als Eingriffsnormen eine Generalermächtigung, die es jedem Staatsorgan ermöglicht, sich über die bestehenden öffentlichrechtlichen Kompetenzzuweisungen hinwegzusetzen. Dies widerspricht gerade dem Sinn und Zweck der Zuständigkeitsverteilung, die Verwaltungstätigkeit zu begrenzen.253 Wichtige politische Entscheidungen wie die, dem Verfassungsschutz keine polizieht man sie als hoheitliche Eingriffsermächtigungen erst einmal heran – eine Konkretisierung im Staat-Bürger-Verhältnis durch Gerichte erfahren. Zudem lässt diese Vorgehensweise der Konkretisierung einer Norm durch eine hinreichend gesicherte Rechtsprechung außer Acht, dass das Bestimmtheitserfordernis nicht nur auf dem Rechtsstaatsprinzip, sondern auch auf dem Demokratieprinzip gründet; vgl. Pawlik, Der rechtfertigende Notstand, S. 200 Fn. 97. 250 Hirsch, in: LK StGB, § 34 Rn. 9; Spirakos, Folter als Problem des Strafrechts, S. 220. Vgl. auch BverfGE 54, 143, 144 f.: Die Verwendung der polizeirechtlichen Generalklausel ist unter dem Aspekt des Bestimmtheitsgebotes unbedenklich, „weil sie in jahrzehntelanger Entwicklung durch Rechtsprechung und Lehre nach Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichend präzisiert, in ihrer Bedeutung geklärt und im juristischen Sprachgebrauch verfestigt ist [. . .].“ 251 Jahn, Das Strafrecht des Staatsnotstandes, S. 353. 252 Spirakos, Folter als Problem des Strafrechts, S. 216. 253 Spirakos, Folter als Problem des Strafrechts, S. 216.

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1. Teil: Rechtfertigung aufgrund hoheitlicher Eingriffsbefugnisse

zeilichen Befugnisse einzuräumen (vgl. § 8 Abs. 3 BVerfSchG), könnten etwa unter Berufung auf die §§ 32, 34 StGB umgangen werden.254 Das Problem des Fehlens einer Zuständigkeitsregelung in den §§ 32, 34 StGB löst auch die Ansicht nicht zufriedenstellend, die davon ausgeht, dass ein Rückgriff auf die strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe die sachliche und örtliche Zuständigkeit des Handelnden bereits voraussetze.255 Denn wenn auch eine Aufgabenzuweisung an einem Träger hoheitlicher Gewalt nicht bereits die betreffende Befugnis zur Erfüllung dieser Aufgabe beinhaltet, gilt umgekehrt, dass eine erteilte Ermächtigung immer auch die Verleihung der entsprechenden Zuständigkeit umfasst: „Wer zu bestimmten Handlungen ermächtigt wird, den kann man schwerlich für unzuständig zu ihrer Durchführung halten. Einer Jedermannsermächtigung, wie sie der § 34 StGB nach üblichem Verständnis darstellt, korrespondiert dementsprechend konsequenterweise eine Jedermannszuständigkeit.“256 b) §§ 32, 34 StGB und der Vorbehalt des Gesetzes Könnten sich staatliche Organe für hoheitliche Eingriffe in den Freiheitsbereich des Bürgers auf die §§ 32, 34 StGB berufen, so könnten auch alle speziellen hoheitlichen Eingriffsregelungen zugunsten dieser Generalklauseln überwunden werden. Damit würde eine Relativierung aller öffentlichrechtlichen Vorschriften einhergehen, die staatliche Gewaltausübung begrenzen und an besondere Voraussetzungen knüpfen, weil diese Vorschriften dann immer unter einem generellen Vorbehalt einer Interessenabwägung und eines sich daraus ergebenden Vorrangs abweichender Interessen stehen.257 Die öffentlichrechtlichen Eingriffsbefugnisse hätten bei einem solchen Verständnis nahezu keine Bedeutung mehr, da sie durch einen Rückgriff auf die §§ 32, 34 StGB stets umgangen werden können.258 Der im Rechtsstaatsprinzip fußende Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes wäre damit nahezu ausgehebelt.

254 Amelung, Erweitern allgemeine Rechtfertigungsgründe, insbesondere § 34 StGB, hoheitliche Eingriffsbefugnisse des Staates?, NJW 1977, 833, 837. 255 So aber Huber, § 34 StGB als Rechtfertigungsgrund für hoheitliches Handeln, S. 103. 256 Pawlik, Der rechtfertigende Notstand, S. 206 [Hervorhebungen im Original]. 257 Hirsch, in: LK StGB, § 34 Rn. 13; Schwabe, Zur Geltung von Rechtfertigungsgründen des StGB für Hoheitshandeln, NJW 1977, 1902, 1907. 258 In diesem Sinne Pawlik, Deutschland, ein Schurkenstaat?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1.3.2003, S. 35. Schwabe, Zur Geltung von Rechtfertigungsgründen des StGB für Hoheitshandeln, NJW 1977, 1902, 1907 Fn. 55 führt allerdings an, dass zur Verwirklichung des Spezialitätsgrundsatzes im föderalen Staat eine Subsidiaritätsklausel in die Bundesrechtsnorm der §§ 32, 34 StGB eingebaut werden müsste, weil ansonsten das spezielle Landesrecht nichts ausrichten könnte.

C. Eingriffsbefugnisse aus Regelungen außerhalb des Polizeirechts

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Auch diejenige Ansicht, welche einen Rückgriff auf die strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe zumindest dort verneint, wo ein bestimmter Interessenkonflikt durch öffentlichrechtliche Sondervorschriften abschließend geregelt ist, weil die Interessenabwägung in solchen Fällen durch das öffentliche Recht vorweggenommen wurde,259 löst das Problem des Spezialitätsgrundsatzes nur scheinbar. Denn häufig ist, wenn gesetzliche Bestimmung nicht ausdrücklich ein Eingriffsverbot begründen, nicht feststellbar, ob und in welchem Umfang der entsprechende Regelungsbereich durch die bestehenden Vorschriften abschließend umfasst wird.260 Hirsch verweist in diesem Zusammenhang auf die Tendenz mancher Autoren, vor Einführung der Art. 31 ff. EGGVG den Geltungsbereich des § 148 StPO, der eine Sperrwirkung hinsichtlich der Anordnung von Kontaktsperren darstellte, zugunsten einer Ausweitung zusätzlicher Eingriffsbefugnisse über § 34 StGB zu verengen: Diese Auffassung – so Hirsch – berge noch subtilere Gefahren als die rein strafrechtliche Lösung, die den Anwendungsbereich des § 34 StGB überhaupt nicht durch abschließende Sonderregelung beschränkt ansieht: „Sie erweckt nämlich den Eindruck, als seien Normwidrigkeiten nicht vorhanden und damit der Bereich des rechtlich Außergewöhnlichen noch gar nicht erreicht, während die von vornherein weitere Ansicht ausdrücklich die Verletzung entgegenstehender Vorschriften einräumt.“261

Zudem hätte das Anknüpfen an die sperrende Wirkung hoheitlicher Sonderregelungen auch zur Folge, dass Eingriffsbefugnisse geringerer Intensität, weil sie öffentlichrechtlich geregelt sind, strengeren formellen und sachlichen Voraussetzungen unterliegen als Eingriffe größerer Ausmaßes, die nicht ausdrücklich normiert sind.262 So kann es nach Hirsch nicht richtig sein, dass zwar ein Eingriff in das Fernmeldegeheimnis durch das Gesetz zu Art. 10 GG und den §§ 100a f. StPO nur unter engen Voraussetzungen zulässig ist, aber der Grundrechte wesentlich stärker einschränkende heimliche Lauschangriff auf die Privatsphäre von diesen rechtlichen Sicherungen nicht berührt bleiben und allein unter den in der praktischen Handhabung dehnbaren Voraussetzungen des § 34 StGB zulässig sein soll.263

c) §§ 32, 34 StGB und die bundesstaatliche Kompetenzverteilung Weiterhin fehlt dem Bundesgesetzgeber die Zuständigkeit zur Regelung öffentlichrechtlicher Eingriffsbefugnisse, soweit sich diese nicht auf die bundeseigene Verwaltung beziehen.264 Gerade im Polizeirecht handelt es sich um eine 259 260 261 262 263 264

Vgl. Roxin, AT 1, § 16 Rn. 89 f. Hirsch, in: LK StGB, § 34 Rn. 14. Hirsch, in: LK StGB, § 34 Rn. 14. Hirsch, in: LK StGB, § 34 Rn. 14. Hirsch, in: LK StGB, § 34 Rn. 14. Hirsch, in: LK StGB, § 34 Rn. 11.

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1. Teil: Rechtfertigung aufgrund hoheitlicher Eingriffsbefugnisse

Materie, für die die Länder nach Art. 70 ff. GG die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz haben und damit allein befugt sind, die inhaltliche Gestaltung der Verwaltungstätigkeit mit ihren Wirkungen gegenüber dem Bürger vorzunehmen. Eine Zuständigkeit im Polizeirecht kann dem Bundesgesetzgeber auch nicht unter dem Gesichtspunkt eines mit dem Straf- oder Zivilrecht (worauf sich nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes erstreckt) bestehenden Sachzusammenhangs eingeräumt werden: Die straf- oder zivilrechtliche Gestaltung von Ausnahmetatbeständen des Bürgers (§§ 32, 34 StGB, §§ 227 ff., 904 BGB) ist nämlich eine von der Regelung hoheitlicher Eingriffsbefugnisse gegenüber dem Bürger zu unterscheidende Materie, die weder einen unauflöslichen Sachzusammenhang noch zwangsläufige Überschneidungen aufweist. Auch würde es zu Kollisionen führen, wenn in bestimmten Materien sowohl der Bund als auch die Länder zur Gestaltung von Fällen hoheitlicher Eingriffstätigkeit in Notstandssituationen berufen wären.265 Die fehlende Kompetenz des Bundes auf dem Gebiet des Polizeirechts lässt sich schließlich auch nicht mittels der in den Polizeigesetzen der Länder enthaltenen Notrechtsvorbehalte überbrücken. Die Bestimmung, wonach die zivil- und strafrechtlichen Wirkungen nach den Vorschriften über Notwehr und Notstand bei der Ausübung unmittelbaren Zwangs durch die Polizei unberührt bleiben,266 lässt sich weder als ergänzende Verweisung interpretieren, durch welche die Notrechte dem Polizeirecht inkorporiert und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip unterworfen werden,267 noch kann man dem Wort „unberührt“ eine positive Geltungsanordnung im Sinne einer Erweiterung hoheitlicher Eingriffsbefugnisse durch die §§ 32, 34 StGB entnehmen. Vielmehr treffen die Notrechtsvorbehalte, indem sie die Wirkungen von Notwehr und Notstand unberührt lassen, selbst keine Aussage darüber, ob sich hoheitliche Eingriffsbefugnisse aus den §§ 32, 34 StGB ergeben oder aber nicht schon aus anderen Überlegungen ausscheiden.268 Die strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe stellen damit keine taugliche Grundlage für die Begründung hoheitlicher Eingriffsbefugnisse dar; die Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Herbeiführung einer Aussage kann nicht auf die §§ 32, 34 StGB als öffentlichrechtliche Eingriffsermächtigung gestützt werden.

265

Hirsch, in: LK StGB, § 34 Rn. 11. Vgl. z. B. § 35 Abs. 2 MEPolG; Art. 60 Abs. 2 BayPAG. 267 So Lerche, Der gezielt tödlich wirkende Schuß nach künftigem einheitlichen Polizeirecht, in: FS von der Heydte, Band 2, S. 1033, 1046 f. 268 Hirsch, in: LK StGB, § 34 Rn. 18. 266

Zweiter Teil

Rechtfertigung aufgrund strafrechtlicher Erlaubnisnormen Scheidet damit eine strafrechtliche Rechtfertigung der Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Herbeiführung einer Aussage aufgrund einer öffentlichrechtlichen Eingriffsermächtigung aus, weil sich dem Polizeirecht keine dementsprechende Befugnis entnehmen lässt und das Verfassungs- sowie das Strafrecht keine taugliche Quelle für hoheitliche Eingriffe in den Freiheitsbereich des Bürgers bilden, so kann sich eine Rechtfertigung schließlich noch aus den allgemeinen strafrechtlichen Rechtfertigungsgründen ergeben. Im folgenden Kapitel soll daher zunächst der Frage nachgegangen werden, ob sich ein Amtsträger zur Rechtfertigung der Rettungsfolter überhaupt auf die strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe berufen kann [vgl. sogleich A.]. Anschließend werden einzelne in Betracht kommende Rechtfertigungsgründe daraufhin untersucht, ob ihre Tatbestandsmerkmale in Extremsituationen wie Entführungen oder terroristischen Bedrohungen grundsätzlich erfüllt sind [vgl. unten B.], bevor abschließend verfassungs- und völkerrechtliche Aspekte in die Bewertung mit einbezogen werden [vgl. unten C.].

A. Anwendungsbereich der strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe Voraussetzung für eine Rechtfertigung des Amtsträgers nach den §§ 32, 34 StGB ist zunächst, dass einem Amtsträger überhaupt die allgemeinen Rechtfertigungsgründe des StGB zur strafrechtlichen Rechtfertigung seines Handelns zur Seite stehen [vgl. sogleich I.], und – falls dies bejaht wird – dass nicht für den Fall der Rettungsfolter ausnahmsweise etwas anderes gilt [vgl. unten II.].

I. Zur Frage der Anwendbarkeit strafrechtlicher Rechtfertigungsgründe auf Amtsträger Geht man der Frage nach, ob die Anwendung der Rettungsfolter durch einen Amtsträger der strafrechtlichen Rechtfertigung nach den §§ 32, 34 StGB zugänglich ist, so muss zunächst geklärt werden, ob sich ein Amtsträger zur

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2. Teil: Rechtfertigung aufgrund strafrechtlicher Erlaubnisnormen

Rechtfertigung seines Verhaltens grundsätzlich auf die strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe berufen kann. Nach der sog. polizeirechtlichen Lösung soll dies nicht möglich sein, die strafrechtliche Rechtfertigung eines Amtsträgers vielmehr stets von der Zulässigkeit seines Handelns nach dem öffentlichen Recht (Verwaltungs-, Polizeirecht) abhängen.1 Zur Begründung ihrer Auffassung verweisen die Vertreter der polizeirechtlichen Lösung darauf, dass sich eine Aufspaltung in eine strafrechtliche und eine öffentlichrechtliche Rechtswidrigkeit deshalb verbietet, „weil die Frage, ob ein Amtsträger eine bestimmte Eingriffshandlung vornehmen darf, sich nur für die gesamte Rechtsordnung einheitlich und daher im öffentlichen Recht nicht anders als im Strafrecht beantworten lässt. Der Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung gilt auch für das gesamte öffentliche Recht [. . .].“2 Lehnt man – auf Grundlage der oben genannten Argumente – die Heranziehung der §§ 32, 34 StGB als hoheitliche Eingriffsgrundlagen ab, so bleibt, um ein einheitliches Rechtswidrigkeitsurteil zu erreichen, tatsächlich nur die Möglichkeit, die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Amtsträgers an die öffentlichrechtliche Zulässigkeit seines Handelns zu binden. Die Frage ist jedoch, ob die Argumentation aus der „Einheit der Rechtsordnung“, wonach das Urteil der Rechtswidrigkeit für alle Rechtsgebiete nur einheitlich ausfallen könne, so unumstößlich ist, wie sie die Vertreter eines einheitlichen Rechtswidrigkeitsbegriffs darstellen, oder ob nicht die „Einheit der Rechtsordnung“ die Möglichkeit rechtsgebietsspezifischer Differenzierungen durchaus zulässt.3 1. Zur Notwendigkeit eines rechtsgebietsspezifischen Rechtswidrigkeitsbegriffs aufgrund teleologischer Erwägungen Nach Günther ist bei der Diskussion um die „Einheit der Rechtsordnung“ insbesondere das Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG zu berücksichtigen. Dieses Gleichbehandlungsgebot fordert innerhalb des Geltungsbereichs 1 Hirsch, in: LK StGB, § 34 Rn. 6 ff. Nur dort, wo es nicht um staatliches Eingriffshandeln in die Rechts- und Freiheitssphäre des Bürgers geht, sondern ausschließlich staatliche Rechtsgüter oder solche der Allgemeinheit betroffen sind, soll § 34 StGB anwendbar sein; vgl. Hirsch, in: LK StGB, § 34 Rn. 20. 2 Hirsch, in: LK StGB, § 34 Rn. 16. 3 Teilweise fordern auch die Anhänger eines einheitlichen Rechtswidrigkeitsbegriffs in einer Reihe konkreter Einzelfragen aus teleologischen Erwägungen differenzierende Rechtswidrigkeitslösungen, so dass sie ihr Hauptargument für die Forderung nach einer Einheitlichkeit des Rechtswidrigkeitsbegriffs, nämlich die „Einheit der Rechtsordnung“, selbst in Frage stellen. Diese Einzelfragen betreffen z. B. das Züchtigungsrecht des Lehrers, § 34 StGB als hoheitliche Eingriffsermächtigung, die Verwerflichkeitsklausel der §§ 240 Abs. 2, 253 Abs. 2 StGB, die Rechtmäßigkeit der Diensthandlung nach § 113 Abs. 3 StGB, die zivilrechtliche und strafrechtliche Einwilligung, mutmaßliche Einwilligung und Geschäftsführung ohne Auftrag (§§ 677 ff. BGB); vgl. zur Behandlung dieser Einzelfragen in der Strafrechtswissenschaft die Darstellung bei Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluss, S. 46 ff.

A. Anwendungsbereich der strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe

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einer Rechtsordnung die einheitliche Behandlung gleicher Sachverhalte und verbietet ihre Verschiedenbehandlung.4 Auf das Prinzip der „Einheit der Rechtsordnung“ übertragen, folgt aus dem Prinzip des Gleichbehandlungsgebots: „Die ,Einheit‘ ist verletzt, wenn sich die durch Gesetz, Richterspruch oder Maßnahmen der vollziehenden Gewalt vorgenommenen rechtsgebietsspezifischen Differenzierungen an sachwidrigen Kriterien ausrichtet, wenn sich kein vernünftiger Grund für die rechtsgebietsverschiedene Behandlung eines Sachverhalts finden lässt, wenn die ungleiche Handhabung nicht mehr mit einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise vereinbar ist.“5 Hieraus folgt, dass der Gleichheitssatz eine rechtsgebietsspezifische Relativität der Rechtsbegriffe höchstens ausnahmsweise ausschließen kann. Denn als sachliche Gründe für voneinander abweichende Regelungen eines Sachverhaltes lassen sich etwa die Unterschiede in den Teilaufgaben und die Verschiedenheit der Rechtsfolgen der einzelnen Rechtsgebiete nennen. So fragt etwa das Polizeirecht nach der Gefährlichkeit eines Vorgangs, das Strafrecht nach der Strafwürdigkeit des Täters. Und es ist nicht willkürlich, wenn etwa die Verhängung von Strafe, der Erlass von Verwaltungsakten oder aber die Verpflichtung von Schadensersatz von unterschiedlichen Voraussetzungen abhängig gemacht werden.6 Gerade im Hinblick auf die von der polizeirechtlichen Lösung geforderte Bindung der strafrechtlichen Rechtfertigung eines Amtsträgers an das Vorliegen einer hoheitlichen Eingriffsbefugnis ist auf den – bereits oben angesprochen7 – Unterschied zwischen strafrechtlicher Rechtfertigungsnorm und öffentlichrechtlicher Eingriffsgrundlage zu verweisen. Indem die strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe den Freiheitsbereich des Bürgers erweitern und sich für den Bürger weniger als Handlungsermächtigungen, sondern als nachträglicher Beurteilungsmaßstab für die Abwicklung eines Sozialkonflikts darstellen,8 unterscheiden sie sich grundlegend von hoheitlichen Eingriffsbefugnissen, die als Grundlage von Eingriffen in fremde Rechtsgüter dienen. Würde man die strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe mit den öffentlichrechtlichen Erlaubnisnormen auf eine Stufe stellen, beschränkte sich das Strafrecht nicht mehr darauf, mittels Ge- und Verboten Rechtsgüter zu schützen, sondern erhielte die gegenläufige Funktion, Eingriffe in Rechtsgüter Dritter zu erlauben.9 Da die Normie4 Vgl. BVerfGE 49, 280, 283: „Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts enthält der Gleichheitssatz für den Gesetzgeber die allgemeine Weisung, bei steter Orientierung am Gerechtigkeitsgedanken, Gleiches gleich, Ungleiches seiner Eigenart entsprechend verschieden zu behandeln. Er ist erst verletzt, wenn sich ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonstwie sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht finden läßt.“ 5 Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, S. 92. 6 Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, S. 92. 7 Vgl. Erster Teil C. II. 1. a). 8 Vgl. näher oben Erster Teil C. II. 1. a).

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2. Teil: Rechtfertigung aufgrund strafrechtlicher Erlaubnisnormen

rung von Eingriffsrechten aber keine originär strafrechtliche Aufgabe ist,10 bedeutet es nicht notwendig einen Widerspruch, wenn eine zwischen öffentlichem Recht und Strafrecht divergierende Behandlung der Rechtswidrigkeit vorgenommen wird. Denn der Gleichheitssatz verbietet nicht nur, wesentlich Gleiches willkürlich ungleich zu behandeln, sondern umfasst auch das Gebot, wesentlich Ungleiches nicht gleich zu behandeln. Hält man sich dies vor Augen, „so verpflichtet die ,Einheit‘ der Rechtsordnung nicht zu größtmöglicher Gleichmacherei, ist sie kein ,Vereinheitlichungsprinzip‘, sondern bedeutet im Gegenteil, daß eine gerechte, relativ ,gleiche‘ Behandlung mehrerer Tatbestände in einer der Natur ihrer Abweichungen entsprechenden Verschiedenbehandlung bestehen kann.“11 Diese Verschiedenbehandlung darf sich auch nicht allein auf die Rechtsfolgen beschränken, wie dies von manchen Autoren im Hinblick auf ein Festhalten an der Einheitlichkeit des Rechtswidrigkeitsurteils vertreten wird.12 Denn wenn der Gesetzgeber zur Kriminalisierung als der Ultima Ratio des ihm zur Verfügung stehenden Instrumentariums greift, so genügt es nicht nur, dass sich die strafrechtliche Sanktion lediglich als erforderlich erweist. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip gebietet es vielmehr, dass auch an die Straftatvoraussetzungen strengere Anforderungen gestellt werden als dort, wo es nur um den Einsatz zivil- oder öffentlichrechtlicher Rechtsfolgen geht.13 Als Konsequenz hieraus ist nach Günther zwischen dem allgemeinen Rechtswidrigkeitsbegriff der Rechtstheorie, Rechtsphilosophie und Allgemeinen Rechtslehre und dem Begriff der „Strafrechtswidrigkeit“ zu unterscheiden. Ersterer bezeichnet mit Wirkung für die Gesamtrechtsordnung und einheitlich für alle Rechtsgebiete die Grenze zwischen Recht und Unrecht. Aufgabe der „Strafrechtswidrigkeit“ ist es hingegen, aus dem Kreis der im Sinne der Gesamtrechtsordnung „rechtswidrigen“ Verhaltensweisen diejenigen auszuwählen, die strafwürdiges Unrecht darstellen.14 Dabei unterscheidet sich das Urteil „strafrechtswidrig“ vom allgemeinen Rechtswidrigkeitsurteil dadurch, dass es einen gesteigerten Unrechtsgrad ausdrückt. Allgemeine Rechtswidrigkeit und „Strafrechtswidrigkeit“ stehen damit in einem Stufenverhältnis: Ein „allgemein rechtswidriges“ Verhalten kann „strafrechtswidrig“ sein, muss es aber nicht.15 9

Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, S. 60. Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, S. 60. 11 Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, S. 93 [Hervorhebung im Original]. 12 Hirsch, in: LK StGB, vor § 32 Rn. 10; Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, S. 58. 13 Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, S. 56 f. 14 Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluss, S. 83 ff., 99 ff. 15 Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluss, S. 101. Als Konsequenz hieraus unterscheidet Günther zwischen unechten Strafunrechtsausschließungs10

A. Anwendungsbereich der strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe

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Auch lässt sich ein nach Rechtsgebieten gespaltenen Rechtswidrigkeit auf der Ebene des Tatbestandes nicht ernsthaft bestreiten. So können etwa die zivilrechtlichen Vorschriften der §§ 823, 1004 BGB viele rechtswidrige Taten erfassen, die keinen Straftatbestand erfüllen und daher keine Strafrechtswidrigkeit begründen. Beispielsweise kann der im Strafrecht grundsätzlich nicht rechtswidrige „furtum usus“ (Ausnahmen: §§ 248b, 290 StGB) eine Eigentumsverletzung i. S. d. § 823 Abs. 1 BGB sein und einen Schadensersatzanspruch nach sich ziehen. Wenn aber auf Tatbestandsebene eine Unterscheidung der Rechtswidrigkeit nach Rechtsgebieten zweifelsfrei zu konstatieren ist, so stellt sich die Frage, warum sich die Besonderheiten des strafrechtlichen Unrechts allein hier, nicht aber auf der Ebene der Rechtswidrigkeit niederschlagen sollen.16 Pawlik hält den Vertretern, die ein divergierendes Rechtswidrigkeitsurteil damit begründen, dass die Sanktion der Strafe auf besonders schwerwiegende Rechtsgutsbeeinträchtigungen beschränkt bleiben müsse, vor, sie bewegten sich in einem Zirkel. Denn um dieses Argument – so Pawlik – gebrauchen zu können, müssten die Vertreter eines gespaltenen Rechtswidrigkeitsurteils „[. . .] voraussetzen, daß die allgemeinen Rechtfertigungsgründe unter strafrechtlichen Gesichtspunkten indifferent gegenüber den öffentlichrechtlichen Anforderungen seien.“17 Mit dieser Behauptung geht Pawlik allerdings zu weit. Denn selbst wenn die strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe bei Amtsträgern – beispielsweise aufgrund beruflicher Gefahrtragungspflichten18 – restriktiver zur Anwendung kommen können als beim Bürger, bedeutet dies noch nicht, dass an die strafrechtliche Rechtfertigung der Handlung eines Amtsträgers exakt die gleichen (hohen) Anforderungen gestellt werden müssten wie etwa an die öffentlichrechtliche Zulässigkeit dieser Handlung. Kurz gesagt: Das Stufenverhältnis zwischen „allgemeiner Rechtswidrigkeit“ und „Strafrechtswidrigkeit“ bleibt auch dann (noch) erhalten, wenn die Amtsträgereigenschaft ggf. zu einer restriktiveren Auslegung der strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe führt.

Für die Frage der strafrechtlichen Rechtfertigung des Amtsträgers folgt aus der Anerkennung eines eigenen, strafrechtsspezifischen Rechtswidrigkeitsbegriffs, dass die §§ 32, 34 StGB – unabhängig von der Beurteilung der öffentlichrechtlichen Zulässigkeit der Rettungsfolter – zu einem Strafunrechtsausschluss führen können (differenzierende Lösung). Die Unterschiede in den Zielsetzungen der einzelnen Rechtsgebiete vermögen nicht nur eine abweichende Beurteilung der Rechtswidrigkeit zu rechtfertigen, sondern gebieten diese auch

gründen, die das Unrecht für die gesamte Rechtsordnung ausschließen, und echten Strafunrechtsausschließungsgründe, die festlegen, unter welchen Voraussetzungen das Strafrecht auf seine strafrechtsspezifische, gesteigerte Mißbilligung der Tat verzichtet. Letztere setzen nicht die Billigung durch die Gesamtrechtsordnung voraus, sondern negieren lediglich den Strafwürdigkeitsgehalt des Unrechts; vgl. Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluss, S. 257 ff. 16 Baumann/Weber/Mitsch, AT, § 16 Rn. 37. 17 Pawlik, Der rechtfertigende Notstand, S. 212 [Hervorhebung im Original]. 18 Vgl. hierzu Pawlik, Der rechtfertigende Notstand, S. 215 ff.

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2. Teil: Rechtfertigung aufgrund strafrechtlicher Erlaubnisnormen

(wenn die Voraussetzungen der strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe im Einzelnen vorliegen). 2. Zur Notwendigkeit eines rechtsgebietsspezifischen Rechtswidrigkeitsbegriffs aufgrund formaler Erwägungen a) Fehlende Befugnis der Landesgesetzgeber zur Suspendierung strafrechtlicher Rechtfertigungsgründe Neben teleologischen Gründen sprechen auch formellrechtliche Überlegungen für einen rechtsgebietsspezifischen Rechtswidrigkeitsbegriff: Denn ebenso wenig wie dem Bundesgesetzgeber die Kompetenz zur Regelung öffentlichrechtlicher Eingriffsbefugnisse zusteht (soweit sich diese nicht auf die bundeseigene Verwaltung beziehen),19 fehlt es den Landesgesetzgebern an der Zuständigkeit, die bundesrechtlichen Vorschriften der §§ 32, 34 StGB zu suspendieren.20 Dies aber ist die Folge der polizeirechtlichen Lösung, indem sie die strafrechtliche Rechtfertigung des Amtsträgers an das öffentlichrechtliche Erlaubtsein seines Handelns knüpft. Da ein Eingriff aufgrund hoheitlicher Eingriffsbefugnisse in der Regel an engere Voraussetzungen gebunden ist als eine Rechtfertigung nach den §§ 32, 34 StGB, würden an eine strafrechtliche Rechtfertigung höhere Anforderungen gestellt, als dies die §§ 32, 34 StGB vorsehen. Die Kompetenz zu einem derartigen Eingriff in Bundesrecht steht – da das Strafrecht nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG zur konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes zählt und dieser durch die Vorschriften der §§ 32, 34 StGB von dieser Kompetenz Gebrauch gemacht hat21 – dem Landesgesetzgeber allerdings nicht zu.22 Auch lässt sich dem Strafgesetzbuch keine Ermächtigung dergestalt entnehmen, dass dem Landesgesetzgeber die generelle Befugnis zur Regelung der strafrechtlichen Rechtfertigung von Amtsträgern eingeräumt wird. Die Einschränkung des Bundesstrafrechts im Wege der Ergänzung strafrechtlicher Rechtfertigungsgründe durch öffentlichrechtliche Eingriffsermächtigung aufgrund einer ungeschriebenen Ermächtigungsgrundlage im Strafrecht23 findet in der Ersetzung der §§ 32, 34 StGB durch hoheitliche Eingriffsbefugnisse keine Parallele. Denn die Ergänzung der §§ 32, 34 StGB durch hoheitliche Eingriffsgrundlagen auch aus dem Landesrecht hat seinen Grund in der Subsidiarität des Strafrechts als äußerstes staatliches Sanktionsmittel (Ultima-Ratio-Funktion). Dieser Grund ge19

Vgl. oben Erster Teil C. II. 2. c). Jerouschek/Kölbel, Folter von Staats wegen?, JZ 2003, 613, 620; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 562. 21 Vgl. Beisel, Straf- und verfassungsrechtliche Problematiken des finalen Rettungsschusses, JA 1998, 721, 722. 22 Beisel, Straf- und verfassungsrechtliche Problematiken des finalen Rettungsschusses, JA 1998, 721, 722. 23 Vgl. oben Erster Teil A. II. 2. 20

A. Anwendungsbereich der strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe

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bietet aber nur die Anerkennung öffentlichrechtlicher Erlaubnisnormen auch für den Strafunrechtsausschluss, nicht aber die Ersetzung der §§ 32, 34 StGB (und damit eine Erweiterung des Verbotsbereichs gegenüber der Rechtslage nur nach dem StGB) durch landesrechtliche Eingriffsbefugnisse. Für Letzteres lässt sich dem Strafgesetzbuch keine ungeschriebene Ermächtigungsgrundlage entnehmen. Für dieses Ergebnis streiten auch die Notrechtsvorbehalte in den Polizeigesetzen. Die Regelungen, wonach die zivil- und strafrechtlichen Wirkungen nach den Vorschriften über Notwehr und Notstand bei der Ausübung unmittelbaren Zwangs durch die Polizei unberührt bleiben,24 statuieren ausdrücklich die Möglichkeit, eine von der Frage der öffentlichrechtlichen Bewertung abweichende zivil- oder strafrechtliche Beurteilung des polizeilichen Handelns vorzunehmen. Sie haben allerdings nur deklaratorischen Charakter, da dem Landesgesetzgeber – wie gezeigt – mit der Schaffung hoheitlicher Eingriffsbefugnisse ohnehin nicht die Kompetenz zukommt, durch die Kreation derartiger Eingriffsermächtigungen die Rechtfertigungsgründe des Bundesstrafrechts zu suspendieren. b) Divergierendes Rechtswidrigkeitsurteil aufgrund Art. 103 Abs. 2 GG Nach Jung kann die Geltung des Art. 103 Abs. 2 GG für den Bereich des Strafrechts zu einer Aufspaltung des Rechtswidrigkeitsurteils aus formalen Gründen führen:25 Zwar schließt nach Jung das zivil- oder öffentlichrechtliche Erlaubtsein eines Verhaltens auch die Rechtswidrigkeit eines straftatbestandsmäßigen Verhaltens aus. Jedoch muss umgekehrt das Strafrecht nicht die durch das Zivil- oder öffentliche Recht vorgenommene Bewertung eines Verhaltens als rechtswidrig übernehmen.26 Der Grund hierfür liege in Art. 103 Abs. 2 GG, der auch für außerstrafrechtliche Rechtfertigungsgründe Geltung beanspruche.27 Da aber die Schaffung eines Rechtfertigungsgrundes die Strafbarkeit des Täters einschränke, müssten die Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG nur bei der Aufhebung eines Rechtfertigungsgrundes beachtet werden.28 Dies hat zur Folge, dass außerstrafrechtlich entstandene Rechtfertigungsgründe generell auch die Strafbarkeit des Täters auszuschließen vermögen, eine Aufhebung eines außerhalb des Strafrechts entstandenen Rechtfertigungsgrundes allerdings für den Bereich des Strafrechts nur wirksam ist, wenn sie den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG entspricht.28 a Fehlt es hieran, so ist der Rechtfertigungsgrund zwar 24

Vgl. z. B. § 35 Abs. 2 MEPolG; Art. 60 Abs. 2 BayPAG. Vgl. Jung, Das Züchtigungsrecht des Lehrers, S. 56 ff. 26 Jung, Das Züchtigungsrecht des Lehrers, S. 64. 27 Jung, Das Züchtigungsrecht des Lehrers, S. 63. 28 Jung, Das Züchtigungsrecht des Lehrers, S. 63. 28a Würde etwa ein gewohnheitsrechtlich anerkannter zivilrechtlicher Rechtfertigungsgrund durch die Bildung entgegenstehenden Gewohnheitsrechts aufgehoben, so würde dieser Rechtfertigungsgrund als strafrechtlicher Rechtfertigungsgrund fortbeste25

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2. Teil: Rechtfertigung aufgrund strafrechtlicher Erlaubnisnormen

für den jeweiligen Bereich des Zivil- oder öffentlichen Rechts entfallen, besteht aber als strafrechtlicher Rechtfertigungsgrund fort.29 Eine Aufspaltung der Rechtswidrigkeit lässt sich aber nicht nur in den von Jung beschriebenen Fällen der Aufhebung außerstrafrechtlicher Rechtfertigungsgründe konstatieren, die wegen der auf das Strafrecht beschränkten Geltung des Art. 103 Abs. 2 GG nicht für den Strafunrechtsausschluss gelten, sondern auch für Konstellationen, bei denen das nur im Strafrecht geltende Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG eine unterschiedliche Auslegung desselben Rechtfertigungsgrundes in verschiedenen Rechtsgebieten bedingt. So wird etwa von einigen Autoren vertreten, dass die von Rechtsprechung und Lehre entwickelten sozialethischen Einschränkungen des Notwehrrechts im Strafrecht wegen des Analogieverbotes des Art. 103 Abs. 2 GG unbeachtlich seien, weil sie die Strafbarkeit des Angegriffenen entgegen des Wortlauts des § 32 StGB erweitern.30 Da im Zivilrecht mangels Geltung des Art. 103 Abs. 2 GG eine entsprechende Einschränkung des Notwehrrechts aus § 227 BGB erlaubt wäre, könnte dies zu einer von der strafrechtlichen Beurteilung der Rechtswidrigkeit abweichenden zivilrechtlichen Rechtswidrigkeitsbewertung führen.31 hen, da die gewohnheitsrechtliche Aufhebung nicht den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG genügt. 29 Jung, Das Züchtigungsrecht des Lehrers, S. 65 f. Die Prämissen, von denen Jung ausgeht, sind allerdings nicht unumstritten. So werden hinsichtlich der Geltung des Art. 103 Abs. 2 GG für Rechtfertigungsgründe auch abweichende Meinungen vertreten. Roxin, AT 1, § 5 Rn. 42 geht etwa davon aus, dass Art. 103 Abs. 2 GG auf (strafrechtliche wie außerstrafrechtliche) Rechtfertigungsgründe generell keine Anwendung findet. Andere Autoren knüpfen dagegen auch die Entstehung eines Rechtfertigungsgrundes an die Voraussetzung, dass die Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG erfüllt sind. So ist für Kudlich, Die Unterstützung fremder Straftaten durch berufsbedingtes Verhalten, S. 265 die Nichtgeltung des Art. 103 Abs. 2 GG für die Anerkennung von Straffreistellungsgründen „auf einen zweiten Blick“ nicht unproblematisch, „als u. U. durch die ungeschriebene Begründung einer Straffreiheit für einen Beteiligten die Strafbarkeit des anderen Beteiligten wegen des Entfallens eines Notrechts begründet werden könnte.“ – Auf der Grundlage dieser beiden abweichenden Ansätze wäre eine Spaltung des Rechtswidrigkeitsurteils aufgrund der Aufhebung eines außerstrafrechtlichen Rechtfertigungsgrundes kaum noch denkbar: Nach Roxins Ansatz schon deshalb nicht, weil die Aufhebung eines außerstrafrechtlichen Rechtfertigungsgrundes wegen der generellen Nichtgeltung des Art. 103 Abs. 2 GG für Rechtfertigungsgründe auch den Entfall des Rechtfertigungsgrundes für den Strafunrechtsausschluss bedeutet. Nach der Ansicht, die Art. 103 Abs. 2 GG auch für die Entstehung eines Rechtfertigungsgrundes heranzieht, sind lediglich noch Fälle denkbar, in denen ein geschriebener außerstrafrechtlicher Rechtfertigungsgrund durch dauernde Nichtanwendung gewohnheitsrechtlich derogiert würde. Eine solche Konstellation dürfte aber praktisch kaum vorkommen. 30 Vgl. z. B. Kratzsch, § 53 StGB und der Grundsatz nullum crimen sine lege, GA 1971, 65, 72 f.; Spendel, in: LK StGB, § 32 Rn. 308. Gegen einen Verstoß gegen die Wortlautgrenze des Art. 103 Abs. 2 GG spricht freilich, dass das nach Aussage der Gesetzesmaterialien gerade zu diesem Zweck eingefügte Merkmal der „Gebotenheit“ die sozialethischen Einschränkungen des Notwehrrechts rechtfertigt; vgl. Roxin, AT 1, § 15 Rn. 54 sowie unten B. II. 3. mit Fn. 129.

A. Anwendungsbereich der strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe

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Die Anerkennung eines speziellen, rechtsgebietsspezifischen Begriffs der Rechtswidrigkeit ist damit nicht nur aus teleologischen Gründen geboten, sondern ergibt sich zwangsläufig auch aus der innerstaatlichen Kompetenzverteilung und die auf das Strafrecht begrenzte Geltung des Art. 103 Abs. 2 GG.32 Damit stehen dem Amtsträger grundsätzlich die strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe als potentielle das Strafunrecht beseitigenden Normen zur Verfügung: Die Frage des Strafunrechtsausschlusses ist unabhängig von der öffentlichrechtlichen Unzulässigkeit der zwangsweisen Herbeiführung einer Aussage zu beurteilen.

II. Die Bedeutung des § 343 StGB für die Frage einer Rechtfertigungsmöglichkeit der Rettungsfolter Die Anwendbarkeit der §§ 32, 34 StGB zum Zwecke der Rechtfertigung der Rettungsfolter kann allerdings – trotz der grundsätzlichen Anwendbarkeit der strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe auf Amtsträger – noch an Gründen scheitern, die dem Binnenbereich des Strafrechts entstammen. Die Androhung bzw. Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Herbeiführung einer Aussage kann eine Vielzahl von Straftatbeständen erfüllen. In Betracht kommen neben dem Tatbestand der Körperverletzung im Amt (§ 340 Abs. 1 und 3 StGB i. V. m. §§ 223, 224, 226 StGB) insbesondere die Tatbestände der Nötigung (§ 240 StGB) bzw. der Aussageerpressung (§ 343 StGB).33 Dabei ist für die Frage der Rechtfertigungsmöglichkeit einer zwangsweisen Herbeiführung einer Aussage insbesondere von Bedeutung, ob sich ein Amtsträger mit dem Einsatz der Rettungsfolter lediglich wegen einer Nötigung nach § 240 StGB strafbar macht oder ob er das Delikt der Aussageerpressung nach § 343 StGB verwirklicht,34 31

Vgl. Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, S. 65. Die generelle Nichtgeltung des Art. 103 Abs. 2 GG für den Bereich der Rechtfertigungsgründe begründet Roxin, AT 1, § 5 Rn. 42 mit der „Einheit der Rechtsordnung“, die gefährdet wäre, wenn das Strafrecht einen Rechtfertigungsgrund aus einem außerstrafrechtlichen Rechtsgebiet (für den Art. 103 Abs. 2 GG nicht gilt) nicht in gleichem Umfang anerkenne. Nach der vom Verfasser vertretenen Ansicht ist aber eine nach Rechtsgebieten divergierende Beurteilung der Rechtswidrigkeit aus teleologischen Gründen geboten. Damit besteht kein Grund, die Geltung des Art. 103 Abs. 2 GG um der „Einheit der Rechtsordnung“ willen für Rechtfertigungsgründe generell zu verneinen. 33 Wird die Rettungsfolter von einem Vorgesetzten angeordnet, ist daneben noch eine Strafbarkeit nach § 357 StGB in Erwägung zu ziehen. Jahn, Gute Folter – schlechte Folter?, KritV 2004, 24, 39 Fn. 77 zieht zusätzlich eine Strafbarkeit des Amtsträgers nach §§ 239 ff. StGB und § 174a StGB in Betracht. 34 Das Verhältnis von § 240 StGB zu § 343 StGB ist nicht endgültig geklärt. Manche sehen in § 343 StGB einen Qualifikationstatbestand zum Grunddelikt der (versuchten) Nötigung und damit ein uneigentliches Amtsdelikt. Die herrschende Meinung nimmt dagegen – zum einen unter Verweis auf die teils weitere Fassung des § 343 StGB, der anders als § 240 StGB auch Fälle seelischen Quälens erfasst, zum anderen 32

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2. Teil: Rechtfertigung aufgrund strafrechtlicher Erlaubnisnormen

da eine Rechtfertigung aufgrund allgemeiner Rechtfertigungsgründe wie Notwehr (§ 32 StGB) oder Notstand (§ 34 StGB) bei Handlungen, die unter den Tatbestand des § 343 StGB fallen, ausgeschlossen sein könnte. 1. Die Abwägungsfestigkeit des § 343 StGB Zwar fehlt in § 343 StGB eine etwa dem griechischen Strafgesetzbuch vergleichbare Regelung, welches in seinem § 137d Abs. 1 ausdrücklich die Berufung auf Notstand als Rechtfertigungsgrund für die Anwendung von Folter und andere Verletzungen der Menschenwürde untersagt.35 Dennoch könnte auch die Verwirklichung des Tatbestandes des § 343 StGB eine Berufung auf die Rechtfertigungsgründe der Notwehr oder des Notstands verwehren. Ein diesbezügliches Verbot könnte sich aber, da eine Berufung auf Notwehr bzw. Notstand zur Rechtfertigung der Aussageerpressung im deutschen Recht nicht ausdrücklich ausgeschlossen wurde, allein aus dem Schutzzweck der Norm – dem von ihr geschützten Rechtsgut – ergeben: a) Die Rechtspflege als geschütztes Rechtsgut des § 343 StGB Sieht man mit der herrschenden Meinung von § 343 StGB (neben der Willensfreiheit des Tatbetroffenen) vornehmlich die Rechtspflege und damit in erster Linie das Strafverfahren als geschützt an,36 so wird man eine Abwägungsfestigkeit des § 343 StGB nicht verneinen können. Denn mit diesem Schutzzweck stellt § 343 StGB das „materiellrechtliche Spiegelbild des § 136a StPO“37 dar, der in Absatz 3 nicht nur die Einwilligung des Beschuldigten für die Zulässigkeit der in den Absätzen 1 und 2 genannten Vernehmungsmethoden für irrelevant erklärt, sondern in Absatz 1 Satz 2 Zwang nur erlaubt, soweit dies das Strafverfahrensrecht ausdrücklich zulässt.

wegen der gegenüber § 240 StGB besonderen Schutzrichtung des § 343 StGB, der neben dem Schutz der Willensfreiheit des Tatbetroffenen insbesondere dem Schutz der Rechtspflege dient – ein eigenständiges Delikt (eigentliches Amtsdelikt) an; vgl. etwa Kuhlen, in: NK StGB, § 343 Rn. 18. Zu beachten ist auch, dass zur Vollendung des § 343 StGB ein Nötigungserfolg nicht erforderlich ist (sog. Delikt mit „überschießender Innentendenz“). Dies bedeutet, dass aus Klarstellungsgründen Tateinheit mit einer tatbestandlich vollendeten Nötigung anzunehmen ist; vgl. Horn/Wolters, in: SK StGB, § 343 Rn. 16. 35 Vgl. Spirakos, Folter als Problem des Strafrechts, S. 207. 36 Die Frage, ob bei § 343 StGB die Schutzgüter der Rechtspflege und der Willensfreiheit des Tatbetroffenen gleichrangig gegenüberstehen, wird nicht einheitlich beantwortet. Von einer Gleichrangigkeit geht Cramer, in: Schönke/Schröder, StGB, § 343 Rn. 1 aus. Einen vorrangigen Schutz der Rechtspflege nehmen dagegen Jescheck, in: LK StGB, § 343 Rn. 1 und Tröndle/Fischer, StGB, § 343 Rn. 1 an. 37 So Horn/Wolters, in: SK StGB, § 343 Rn. 2.

A. Anwendungsbereich der strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe

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Da ein wirkungsvoller strafrechtlicher Schutz von Verstößen gegen das Verbot des § 136a StPO durch § 343 StGB nur dann erreicht wird, wenn § 136a StPO und § 343 StGB hinsichtlich der Möglichkeit einer Rechtfertigung übereinstimmen und § 343 StGB nicht durch zusätzliche Rechtfertigungsgründe eingeschränkt werden kann, kommen für das Delikt der Aussageerpressung im Hinblick auf § 136a Abs. 1 Satz 2 StPO damit nur Prozess- und Amtsnormen,38 nicht aber die Erlaubnissätze der §§ 32, 34 StGB als Rechtfertigungsgründe in Betracht.39 Das Verfahrensrecht bestimmt damit abschließend, wann ein Verfahrensbeteiligter aussagepflichtig ist und mit welchen prozessualen Mitteln diese Pflichten erzwungen werden können.40 b) Die Einbeziehung gefahrenabwehrrechtlicher Befragungen in den Schutzzweck Selbst wenn man aber den Schutzzweck des § 343 StGB weiter zieht und – wie etwa Spirakos – die Teilnahme des Bürgers am Staat in jeder Verfahrensart, die Interessen des Einzelnen betrifft, sichern will41 (wozu dann auch die Befragung im präventiv-polizeilichen Bereich zu zählen hat), erfordert diese weitere Grenzziehung nicht zwangsläufig eine Öffnung des § 343 StGB für Abwägungsgesichtspunkte: So soll nach Spirakos der Bürger durch § 343 StGB in die Lage versetzt werden, mit den staatlichen Organen zu kommunizieren und damit Einfluss auf staatliche Entscheidungen zu nehmen.42 Dieses Recht korrespondiert mit der Pflicht der zuständigen Organe, die Meinung des Bürgers zu hören, sie zu berücksichtigen, die notwendigen Entscheidungen zu erläutern und ohne die Einräumung eines Mitwirkungsraums nicht weiter zu handeln.43 38 Z. B. §§ 177 GVG, 247 StPO (zwangsweise Entfernung des Angeklagten aus der Sitzung). 39 So Horn/Wolters, in: SK StGB, § 343 Rn. 12. Kuhlen, in: NK StGB, § 343 Rn. 12, 16 schließt dagegen bereits die Nötigungsabsicht – d.h. den subjektiven Tatbestand – aus, wenn der Amtsträger die Gewaltandrohung bzw. -anwendung auf eine verfahrensrechtlich zulässige Maßnahme stützt, indem er § 240 Abs. 2 StGB auch im Falle des § 343 StGB angewendet wissen will und die Verwerflichkeit in dieser Situation verneint. Rogall, Bemerkungen zur Aussageerpressung, in: FS Rudolphi, S. 511, 540 verneint bei einer verfahrensrechtlich zulässigen Maßnahme ebenso bereits die Nötigungsabsicht, indem er für die Bejahung der Nötigungsabsicht darauf abstellt, dass der Betroffene in dem Verfahren zu einem bestimmten Aussageverhalten veranlasst wird, zu dem er verfahrensrechtlich nicht verpflichtet ist. 40 Sog. Verfahrensakzessorietät der Aussageerpressung; vgl. Rogall, Bemerkungen zur Aussageerpressung, in: FS Rudolphi, S. 511, 541. 41 Vgl. Spirakos, Folter als Problem des Strafrechts, S. 205. Vgl. zur Kritik an Spirakos’ Rechtsgutskonzeption unten A. II. 2. c) bb). 42 Spirakos, Folter als Problem des Strafrechts, S. 231. 43 Spirakos, Folter als Problem des Strafrechts, S. 196.

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2. Teil: Rechtfertigung aufgrund strafrechtlicher Erlaubnisnormen

Das Rechtsgut der Teilnahme des Einzelnen am Staat stellt allerdings keine Fähigkeit des Einzelnen dar, die bereits aufgrund seiner natürlichen Freiheit besteht. Vielmehr ist für die Interaktion zwischen Staat und Bürger die Bindung des Staates an öffentlichrechtliche Eingriffsbefugnisse konstitutiv, da nur so dem Einzelnen ein Handlungsspielraum überlassen wird, Einfluss auf die staatliche Aufgabe zu nehmen.44 Die durch öffentlichrechtliche Normen ermöglichte Kommunikation zwischen Staat und Bürger muss aber stets gewährleistet sein, auch dann, wenn dadurch höhere Interessen verletzt werden sollten. Das Rechtsgut der Teilnahme am Staat schließt damit die Freiheit des Bürgers ein, auf den Staat Einfluss zu nehmen, auch wenn sie Gefahren für andere Rechtsgüter bedeutet.45 Das bedeutet, dass eine Umgehung öffentlichrechtlicher Eingriffsbefugnisse, durch welche das Recht der Teilnahme des Einzelnen am Staat erst ermöglicht wird, unter Berufung auf § 34 StGB ausgeschlossen ist. Indem Spirakos dieses öffentlichrechtliche Handlungsverbot – d.h. die strikte Bindung des Staates an die öffentlichrechtlichen Eingriffsbefugnisse bei der Kommunikation mit dem Bürger unter Ausschluss einer Berufung auf § 34 StGB – in das von § 343 StGB geschützte Rechtsgut der Teilnahme am Staat einfügt, leitet er daraus unter Rückgriff auf das Prinzip der Spezialität ein strafrechtliches Handlungsverbot ab. Dies ermöglicht Spirakos – unabhängig von der Beantwortung der Frage, ob sich ein Amtsträger für den Ausschluss seiner Strafbarkeit grundsätzlich auf die allgemeinen Rechtfertigungsnormen der §§ 32, 34 StGB berufen kann46 – zumindest im Hinblick auf den Tatbestand der Aussageerpressung ein konkretes Abwägungsverbot abzuleiten: „Die allgemeine Norm von § 34 StGB bestimmt, dass das erheblich weniger wichtige Interesse zum Schutz eines höheren verletzt werden darf. Dagegen schützt der Gesetzgeber in § 343 StGB die Freiheit des einzelnen, mit dem Staat auch dann zu kommunizieren, wenn andere Interessen verletzt werden sollten. [. . .] Das Rechtsgut der Teilnahme am Staat schließt also in sich seine Abwägungsfestigkeit ein.“47 Sollte also die zwangsweise Herbeiführung einer Aussage im Bereich der Gefahrenabwehr unter eine in § 343 StGB genannte Verfahrensart fallen, ist eine Rechtfertigung des handelnden Amtsträgers hinsichtlich des Deliktes der Aussageerpressung von vornherein nicht denkbar.48 44 Vgl. Spirakos, Folter als Problem des Strafrechts, S. 230: „Die öffentlichrechtlichen Normen stellen das Gefüge des Rechtsgutes dar, indem sie bestimmen, wann und wie der Bürger die staatlichen Organe aktiv beeinflussen kann.“ 45 Spirakos, Folter als Problem des Strafrechts, S. 230. 46 Spirakos hält eine unterschiedliche Betrachtung der Rechtswidrigkeit zwischen öffentlichem Recht und Strafrecht im Sinne der differenzierenden Lösung grundsätzlich mit dem Prinzip der Einheit der Rechtsordnung für vereinbar; vgl. Spirakos, Folter als Problem des Strafrechts, S. 226 ff. 47 Spirakos, Folter als Problem des Strafrechts, S. 231.

A. Anwendungsbereich der strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe

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2. Die von § 343 StGB geschützten Verfahrensarten Zu den von § 343 StGB geschützten Verfahrensarten zählt nach § 343 Abs. 1 Nr. 1 StGB das Strafverfahren. Dies schließt die auf die Einleitung eines Strafverfahrens gerichteten polizeilichen oder staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsund Vorermittlungsverfahren mit ein.49 Erforderlich ist lediglich, dass sich gegen die befragte Person ein Anfangsverdacht (§§ 152 Abs. 1, 160 Abs. 1, 163 Abs. 1 StPO) richtet. Ein solcher Verdacht ist wegen der bei einer Entführung in Betracht kommenden Straftatbestände relativ unproblematisch anzunehmen.50 Zusätzlich bedarf es eines formellen Inkulpationsaktes, der in der Herbeiführung einer Aussage im Rahmen der Vernehmung gesehen werden kann.51 Damit können Ermittlungen und Befragungen der Polizei grundsätzlich von § 343 StGB erfasst sein. Nicht abschließend geklärt ist jedoch, ob eine ausschließlich der Gefahrenabwehr dienende Befragung im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens dem Tatbestand des § 343 StGB unterfällt. a) Die in der Literatur vertretenen Auffassungen In der Literatur werden zu dieser Frage drei Ansätze vertreten: (1) Weit verbreitet ist die Auffassung, die bei einer gefahrenabwehrrechtlichen Befragung durch die Polizei zwar den objektiven Tatbestand des § 343 StGB als erfüllt ansieht, indem sie auf die Stellung des Befragten als Beschuldigten verweist,52 gleichzeitig aber den subjektiven Tatbestand verneint, da es

48 Neuhaus, Die Aussageerpressung zur Rettung des Entführten: strafbar!, GA 2004, 521, 527 schließt hingegen nur die Möglichkeit einer Rechtfertigung nach § 32 StGB aus, während er den Rückgriff auf § 34 StGB zur Rechtfertigung einer Aussagenötigung für zulässig erachtet. Den Ausschluss des § 32 StGB begründet er damit, dass § 343 StGB in erster Linie die Rechtspflege schütze und ein Eingriff in Rechtsgüter der Allgemeinheit nicht durch Notwehr gerechtfertigt werden könne. Diesem ist zwar zuzustimmen. Nicht gesagt ist damit allerdings, ob nicht darüber hinaus eine Heranziehung des § 34 StGB ausscheidet, weil § 343 StGB – wovon auch der Verfasser ausgeht – eine abschließende, auch den Rückgriff auf § 34 StGB ausschließende, Interessenabwägung vornimmt. 49 Horn/Wolters, in: SK StGB, § 343 Rn. 4. 50 So kommt insbesondere die Verwirklichung der Tatbestände der Kindesentziehung (§ 235 StGB), der Freiheitsberaubung (§ 239 StGB), des erpresserischen Menschenraubes (§ 239a StGB), der räuberischen Erpressung (§§ 253, 255 StGB), der Nötigung (§ 240 StGB) der Körperverletzung (§§ 223 ff. StGB) sowie des versuchten Mordes (§§ 211, 212, 22, 23 Abs. 1 StGB) in Betracht. Jahn, Gute Folter – schlechte Folter, KritV 2004, 24, 39 Fn. 77 scheint hingegen die Strafbarkeit des Amtsträgers mit derjenigen des Entführers zu verwechseln, wenn er bei der Frage, ob sich ein Strafverfahren i. S. d. § 343 Abs. 1 Nr. 1 StGB gegen den Entführer richtet, auf die §§ 343, 357, 340 StGB verweist. 51 Jahn, Gute Folter – schlechte Folter?, KritV 2004, 24, 39.

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2. Teil: Rechtfertigung aufgrund strafrechtlicher Erlaubnisnormen

an der strafverfahrensbezogenen Nötigungsabsicht fehle, wenn die festgehaltene Person ausschließlich zum Zwecke der Gefahrenabwehr befragt werde.53 (2) Eine weitere Ansicht lehnt hingegen im Hinblick auf präventiv-polizeiliche Befragungen bereits den objektiven Tatbestand ab.54 Demnach fallen nur strafverfahrensbezogene Vernehmungen unter den Anwendungsbereich des § 343 StGB. (3) Eine dritte Ansicht legt hingegen die in § 343 Abs. 1 Nr. 1–3 StGB aufgeführten Verfahrensarten weit aus und sieht auch bei gefahrenabwehrrechtlichen Befragungen den objektiven und subjektiven Tatbestand der Vorschrift als verwirklicht an.55 b) Zur Notwendigkeit einer einheitlichen Beurteilung von objektivem und subjektivem Tatbestand Die Auffassung, die im Hinblick auf das Tatbestandsmerkmal „Verfahren“ bei einer zwangsweisen Herbeiführung einer Aussage im präventiv-polizeilichen Bereich zwischen objektiven und subjektiven Tatbestand differenziert, indem sie den objektiven Tatbestand als erfüllt ansieht, während sie eine Nötigungsabsicht des Amtsträgers und damit den subjektiven Tatbestand verneint, ist mit der Binnenstruktur des § 343 StGB schwer zu vereinbaren. So widerspricht es Wortlaut und Systematik der Vorschrift, wenn man von dem in § 343 Abs. 1 Nr. 1 StGB genannten Merkmal des Strafverfahrens sowohl strafverfahrens- als auch gefahrenabwehrbezogene Befragungen erfasst sieht, eine Nötigungsabsicht aber nur dann bejaht, falls es sich um eine strafverfahrensbezogene Aussage handelt. Diese Differenzierung widerspricht dem Wortlaut und der Struktur der Vorschrift, da die Formulierung der Nötigungsabsicht in § 343 Abs. 1 StGB – „[. . .] um ihn zu nötigen, in dem Verfahren etwas auszusagen oder zu erklären oder dies zu unterlassen [. . .].“ – sich unmittelbar auf die in § 343 StGB Abs. 1 Nr. 1–3 StGB genannten Verfahrensarten bezieht. 52 Vgl. Ebel, Notwehrrecht der Polizei bei Vernehmungen (Befragungen) zum Zwecke der Gefahrenabwehr, Kriminalistik 1995, 825. 53 Jeßberger, „Wenn Du nicht redest, füge ich Dir große Schmerzen zu“, Jura 2003, 711, 712; Jerouschek/Kölbel, Folter von Staats wegen?, JZ 2003, 613, 619; Ebel, Notwehrrecht der Polizei bei Vernehmungen (Befragungen) zum Zwecke der Gefahrenabwehr, Kriminalistik 1995, 825, 825 f.; Ziegler, Das Folterverbot in der polizeilichen Praxis, KritV 2004, 50, 52; wohl auch Lackner/Kühl, StGB, § 343 Rn. 4. 54 Steinke, Kann die Androhung von Gewalt straflos sein?, Kriminalistik 2004, 325, 326; Haurand/Vahle, Rechtliche Aspekte der Gefahrenabwehr in Entführungsfällen, NVwZ 2003, 513, 519; Rogall, Bemerkungen zur Aussageerpressung, in: FS Rudolphi, S. 511, 538 f. 55 Jahn, Gute Folter – schlechte Folter?, KritV 2004, 24, 38 ff.; Müller/Formann, Die opferschützende Folterandrohung, Die Polizei 2003, 313, 316; Kinzig, Not kennt kein Gebot?, ZStW 115 (2003), 791, 795 f.

A. Anwendungsbereich der strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe

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Eine unterschiedliche Auslegung des Begriffs des „Verfahrens“ innerhalb der Vorschrift des § 343 StGB lässt sich auch teleologisch nicht begründen, zumal eine unterschiedliche Auslegung des gleichen Begriffs bereits bei verschiedenen Tatbeständen des StGB äußerst selten vorkommt.56 Dass bei der Formulierung der Nötigungsabsicht in § 343 StGB allgemein von dem „Verfahren“ die Rede ist, während in § 343 Abs. 1 Nr. 1 StGB konkret vom „Strafverfahren“ gesprochen wird, rechtfertigt keine unterschiedliche Auslegung der Begriffe. Durch die allgemeine Formulierung des „Verfahrens“ innerhalb der Nötigungsabsicht wurde lediglich der Tatsache Rechnung getragen, dass in § 343 Abs. 1 Nr. 1–3 StGB eine Vielzahl verschiedener Verfahrensarten unter einer Vorschrift zusammengefasst werden, auf die sich jeweils die Nötigungsabsicht beziehen kann. Mit der gewählten Formulierung der Nötigungsabsicht vermied es der Gesetzgeber, die in § 343 Abs. 1 Nr. 1–3 StGB genannten Verfahrensarten ein weiteres Mal aufführen zu müssen. Die unterschiedlichen Begriffe beruhen daher allein auf redaktionellen Gründen und implizieren keine unterschiedliche Auslegung.

c) Zur Frage der Einbeziehung präventiv-polizeilicher Befragungen in den Tatbestand des § 343 StGB Somit bleibt zu entscheiden, ob die zwangsweise Herbeiführung einer Aussage im präventiv-polizeilichen Bereich den objektiven und subjektiven Tatbestand des § 343 Abs. 1 StGB verwirklicht, oder ob bei einer derartigen Befragung bereits die Erfüllung des objektiven Tatbestandes zu verneinen ist. aa) Zum Erfordernis einer einheitlichen Beurteilung von strafverfahrensund gefahrenabwehrrechtlichen Befragungen (weite Auslegung) Jahn führt für seine Auffassung, dass eine Zwangsanwendung nicht nur bei strafverfahrensrechtlichen, sondern auch bei gefahrenabwehrrechtlichen Befragungen unter den Tatbestand des § 343 Abs. 1 StGB zu subsumieren ist, insbesondere an, dass die überkommene Abgrenzung zwischen präventivem und repressivem Staatshandeln angesichts der Aktivität des modernen Gesetzgebers nicht mehr überzeuge. So unterscheide der Gesetzgeber im Grenzbereich von Strafprozess- und Polizeirecht nicht mehr klar anhand einer gedachten Grenzlinie über die Begriffe „Verdacht“ und „Gefahr“. Vielmehr sei der Gesetzgeber auch im Strafrecht dazu übergegangen, neben der Intervention die Prävention als Zielbestimmung seiner Aktivität zu stärken.57

56 Zu denken ist etwa an die von der herrschenden Meinung vorgenommene unterschiedliche Auslegung des Begriffs der „Wegnahme“ in § 242 StGB und § 289 StGB, der bei § 289 StGB nach h. M. weiter zu verstehen ist als bei § 242 StGB. 57 Jahn, Gute Folter – schlechte Folter?, KritV 2004, 24, 39.

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2. Teil: Rechtfertigung aufgrund strafrechtlicher Erlaubnisnormen

Als Beispiel nennt Jahn, dass Eingriffstatbestände und Aufgabennormen in den letzten Jahren immer weiter in den Vorfeldbereich verlagert wurden, um eine Notsituation erst gar nicht entstehen zu lassen. Ein evidenter Ausdruck dieser Entwicklung sei die Überantwortung vorbeugender Verbrechensbekämpfung im Polizeirecht. Aufgrund dieser Entwicklung entspreche die Hoffnung auf eine klare Abgrenzung zwischen Gefahrenabwehr und Verbrechensbekämpfung nicht mehr dem aktuellen Stil der Gesetzgebung.58 Als praktisches Beispiel einer Vermischung der Tätigkeitsbereiche Gefahrenabwehr und Verbrechensbekämpfung führt Jahn auch an, dass bei der Entführung Jakob von Metzlers der Aktenvermerk des Polizeivizepräsidenten Daschner über die Folterandrohung in die Ermittlungsakte gegeben wurde und nicht allein in der polizeilichen Handakte verblieb.59 Mit dieser Konzeption einer weiten Auslegung des § 343 StGB negiert Jahn im Ergebnis die von der herrschenden Meinung im Hinblick auf den Tatbestand der Aussageerpressung vorgenommene Rechtsgutskonzeption, die von § 343 StGB das Rechtsgut der (Straf-)Rechtspflege (mit)geschützt sieht. Indem er nicht nur strafverfahrens-, sondern auch gefahrenabwehrrechtliche Befragungen unter § 343 StGB subsumiert, nähert sich Jahn der von Spirakos vorgenommenen Rechtsgutskonzeption an, der – wie erwähnt – den Anwendungsbereich des Tatbestandes des § 343 StGB auch auf Verfahren außerhalb des Strafverfahrens, soweit Interessen des Einzelnen betroffen sind, angewendet wissen will.60 In der von Spirakos vorgebrachten Kritik an der von der herrschenden Meinung hinsichtlich des Tatbestandes der Aussageerpressung vertretenen Rechtsgutskonzeption zeigen sich auf der anderen Seite auch Parallelen zu der Auffassung Jahns, der eine scharfe Trennung der Bereiche Gefahrenabwehr und Verbrechensbekämpfung infolge der Aktivität des modernen Gesetzgebers nicht mehr für möglich hält. Denn auch Spirakos kritisiert die mangelnde Klarheit, die dem Allgemeinbegriff der Rechtspflege zukommt: „Es bleibt fraglich, ob der Umfang des Begriffs mit dem Strafverfahren anfängt oder über das Urteil hinaus auch den Strafvollzug mit einschließt.“61 bb) Die Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen strafverfahrensund gefahrenabwehrrechtlichen Befragungen (enge Auslegung) Gegen eine nivellierende Betrachtung von strafverfahrensrechtlichen und gefahrenabwehrrechtlichen Befragungen bzw. Vernehmungen, wie sie Jahn und Spirakos im Hinblick auf § 343 StGB vornehmen, spricht der besondere Schutz 58 59 60 61

Jahn, Gute Folter – schlechte Folter?, KritV 2004, 24, 39. Jahn, Gute Folter – schlechte Folter?, KritV 2004, 24, 40. Vgl. Spirakos, Folter als Problem des Strafrechts, S. 205. Spirakos, Folter als Problem des Strafrechts, S. 169.

A. Anwendungsbereich der strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe

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vor Selbstbezichtigungen, den das Bundesverfassungsgericht nur auf dem Gebiet der Strafverfolgung ausnahmslos betont. In seinem Beschluss zur Konkursordnung62 stellte das Gericht fest: Die Rechtsordnung kenne „kein ausnahmsloses Gebot, daß niemand zu Auskünften oder zu sonstigen Handlungen gezwungen werden darf, durch die er eine von ihm begangene strafbare Handlung offenbart. Vielmehr unterscheiden sich die Regelungen und die darin vorgesehenen Schutzvorkehrungen je nach der Rolle der Auskunftsperson und der Zweckbestimmung der Auskunft.63 [. . .] Am weitesten reicht der Schutz gegen Selbstbezichtigung für Zeugen, Prozeßparteien und insbesondere für Beschuldigte im Strafverfahren oder in entsprechenden Verfahren.64 [. . .] Während das geltende Recht Zeugen, Prozeßparteien und Beschuldigten durchweg ein Schweige- und Auskunftsverweigerungsrecht für den Fall der Selbstbezichtigung zubilligt, gilt dies nicht in gleicher Weise für solche Personen, die auch besonderen Rechtsgründen rechtsgeschäftlich oder gesetzliche verpflichtet sind, einem anderen oder einer Behörde die für diese notwendigen Informationen zu erteilen. Hier kollidiert das Interesse des Auskunftspflichtigen mit dem Informationsbedürfnis anderer, deren Belange in unterschiedlicher Weise berücksichtigt werden.“65

Wenn damit dem Beschuldigten im Strafverfahren ein gegenüber anderen Verfahrensarten herausgehobener Schutz vor Selbstbezichtigungen von Verfassungs wegen66 zuteil werden muss, der durch das Schweigerecht des Beschuldigten (§§ 136, 163a StPO) und dem strafprozessualen Verwertungsverbot von erzwungenen Aussagen (§ 136a StPO) umfassend sichergestellt wird, so ist es erforderlich, Verstöße gegen das strafprozessuale Schweigerecht auch materiellstrafrechtlich mittels der Strafnorm des § 343 StGB auf besondere Weise abzusichern. Bei anderen Verfahrensarten ist der Gesetzgeber hingegen verfassungsrechtlich nicht gehalten, ein uneingeschränktes Auskunftsverweigerungsrecht 62 In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde eines Gemeinschuldners in einem Konkursverfahren wendet sich der Beschwerdeführer mittelbar gegen Normen der Konkursordnung, die ihm eine umfassende Auskunftspflicht gegenüber dem Konkursverwalter auferlegen und bei Weigerung auch die Anordnung von Zwangsmitteln zur Einhaltung der ihm obliegenden Verpflichtung vorsehen. 63 BVerfGE 56, 37, 42. 64 BVerfGE 56, 37, 42. 65 BVerfGE 56, 37, 45. 66 Das Bundesverfassungsgericht sieht in der erzwingbaren Auskunftspflicht einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht im Sinne des Art. 2 Abs. 1 GG. Da die durch Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistete Rechtsposition ihre Grenze in den Rechten Dritter finden, gebietet das Grundrecht keinen lückenlosen Schutz gegen Selbstbezichtigungen ohne Rücksicht darauf, ob dadurch schutzwürdige Belange Dritter beeinträchtigt werden. Nur ein Zwang, durch eigene Aussagen die Voraussetzungen für eine strafgerichtliche Verurteilung zu liefern, wäre nicht mehr von den Grundrechtsschranken des Art. 2 Abs. 1 GG gedeckt. Insofern ist auch erforderlich, eine Auskunftsverpflichtung außerhalb eines Strafverfahrens mit einem strafrechtlichen Verwertungsverbot zu verknüpfen; vgl. BVerfGE 56, 37, 49 f.

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2. Teil: Rechtfertigung aufgrund strafrechtlicher Erlaubnisnormen

und damit einen umfassenden Schutz des Auskunftspflichtigen vor Selbstbezichtigungen festzuschreiben. Dies gilt insbesondere dann, wenn es nicht allein um ein staatliches Informationsbedürfnis, sondern zugleich um die Interessen geschädigter Dritter geht.67 Hat damit das Schweigerecht des Auskunftspflichtigen außerhalb eines Strafverfahrens oder eines ähnlichen Verfahrens68 nicht die gleiche herausragende Stellung, so erscheint es unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit geboten (jedenfalls aber nach wie vor zulässig), erzwungene Aussagen außerhalb eines Strafverfahrens nicht in gleichem Umfang zu bestrafen: Ein abgestufter materiellstrafrechtlicher Schutz, der eine Ahndung einer unzulässigen Aussageerpressung im Strafverfahren nach § 343 StGB,69 außerhalb eines Strafverfahrens nach § 240 StGB70 vorsieht, ist angesichts des unterschiedlichen Umfangs, das dem Schweigerecht des Auskunftspflichtigen in den verschiedenen Verfahrensarten zukommt, angemessen. Auch der Bundesgerichtshof hat in einer frühen Entscheidung festgestellt, dass Untersuchungen eines Polizeibeamten zur Beseitigung eines „polizeiwidrigen Zustands“ nicht von § 343 StGB erfasst werden.71 Diese Entscheidung erging zwar noch zu § 343 StGB a. F., der – weniger klar als die jetzige Fassung – darauf abstellte, ob der Amtsträger „in einer Untersuchung Zwangsmittel anwendet oder anwenden lässt.“ Jedoch zeigt sich aus einer Gegenüberstellung derjenigen Verfahrensarten, die der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung unter den Begriff der „Untersuchung“72 subsumiert und der in der aktuellen Fassung des § 343 StGB aufgeführten Verfahrensarten, dass der Gesetzgeber den Anwendungsbereich der Vorschrift nicht erweitern wollte.73 Dies ergibt sich auch aus den Gesetzesmaterialien, wonach mit der Änderung des § 343 StGB keine Ausweitung der Aussageerpressung auf weitere Verfahrensarten bezweckt wurde.74 Wenn in § 343 StGB auch das Verfahren zur Anordnung einer 67

BVerfGE 56, 37, 50. BVerfGE 56, 37, 43 nennt als Verfahrensarten, bei dem dem Schweigerecht des Betroffenen eine ähnliche Bedeutung zukommt wie im Strafverfahren, das Disziplinarverfahren oder das berufsgerichtliche Verfahren, weil dem Betroffenen dort dem Strafverfahren vergleichbare Sanktionen drohen. 69 Regelstrafrahmen nach § 343 Abs. 1 StGB: Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren; in minder schweren Fällen nach § 343 Abs. 2 StGB Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. 70 Regelstrafrahmen nach § 240 Abs. 1 StGB: Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe; in besonders schweren Fällen nach § 240 Abs. 4 StGB Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. – Dabei kommt für einen Amtsträger insbesondere das Regelbeispiel des § 240 Abs. 4 Nr. 3 StGB in Betracht, wonach ein besonders schwerer Fall in der Regel vorliegt, „wenn der Täter seine Befugnisse oder seine Stellung als Amtsträger missbraucht.“ 71 BGHSt 6, 144. 72 Vgl. zum Begriff der „Untersuchung“ Rogall, Bemerkungen zur Aussageerpressung, in: FS Rudolphi, S. 511, 517 f. 73 Haurand/Vahle, Rechtliche Aspekte der Gefahrenabwehr in Entführungsfällen, NVwZ 2003, 513, 519. 68

A. Anwendungsbereich der strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe

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„behördlichen Verwahrung“ aufgeführt ist, das die Abschiebehaft oder die Verwahrung nach den landesrechtlichen Polizei- und Ordnungsgesetzen umfasst,75 so bedeutet dies noch nicht, dass dies auf sämtliche Situationen ausgedehnt werden kann, in denen polizeiliche Ermittlungen zum Zwecke der Gefahrenabwehr erfolgen.76 Für eine enge Auslegung des § 343 StGB spricht zudem, dass nicht alle ungesetzlichen Vernehmungsmethoden im Sinne von § 136a StPO vom Tatbestand der Aussageerpressung erfasst werden.77 Der Tatbestand des § 343 StGB erfordert vielmehr eine körperliche Misshandlung, Anwendung sonstiger Gewalt, die Androhung von Gewalt oder seelisches Quälen. Wenn aber nicht einmal alle unlauteren Methoden des § 136a StPO von dem Tatbestand der Aussageerpressung erfasst werden, so ist die Vorschrift eng auszulegen und kann nicht auf Maßnahmen in anderen Bereichen angewendet werden.78 Auch hat die von Jahn konstatierte zunehmende Vermischung von Gefahrenabwehr und Strafverfolgung durch den Gesetzgeber in den letzten Jahren noch nicht den Grad erreicht, der eine Unterscheidung zwischen den beiden Bereichen unmöglich und daher eine Subsumtion auch der gefahrenabwehrrechtlichen Aussageerpressung unter § 343 StGB unumgänglich macht. So wird darauf verwiesen, dass im Entführungsfall von Metzler der Einsatzabschnitt „Ermittlungen“ streng getrennt war von den Maßnahmen der Gefahrenabwehr.79 Der Polizeivizepräsident Daschner hatte in einem Vermerk vom 1. Oktober 2002 festgelegt: „Die Befragung des G. dient nicht der Aufklärung der Straftat, sondern ausschließlich der Rettung des Lebens des entführten Kindes.“80 Auch war der Beamte, der die Befragung des Entführers durchführte, angewiesen, alle Fragen zu strafprozessualen Ermittlungen zu unterlassen.81 Aber selbst wenn eine organisatorische Trennung von Gefahrenabwehr und Strafverfolgung bei der Polizei nicht erfolgen sollte, kann dennoch zwischen 74 Vgl. BT-Drucks. 7/550, S. 278: „Den Kreis der Verfahrensarten grenzt der Entwurf aus Gründen der Klarheit des Tatbestandes im einzelnen ab, ohne jedoch insoweit das geltende Recht, wie es in der Rechtsprechung und dem Schrifttum ausgelegt wird, sachlich zu ändern.“ 75 Cramer, in: Schönke/Schröder, StGB, § 343 Rn. 5. 76 Haurand/Vahle, Rechtliche Aspekte der Gefahrenabwehr in Entführungsfällen, NVwZ 2003, 513, 519. 77 BT-Drucks. 7/550, S. 278; Kuhlen, in: NK StGB, § 343 Rn. 6. 78 Haurand/Vahle, Rechtliche Aspekte der Gefahrenabwehr in Entführungsfällen, NVwZ 2003, 513, 519. 79 Steinke, Kann die Androhung von Gewalt straflos sein?, Kriminalistik 2004, 325, 326. 80 Vgl. hierzu den Auszug aus dem Vermerk Daschners vom 1.10.2002, abgedruckt auf S. 21. 81 Steinke, Kann die Androhung von Gewalt straflos sein?, Kriminalistik 2004, 325, 326.

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2. Teil: Rechtfertigung aufgrund strafrechtlicher Erlaubnisnormen

einer gefahrenabwehrrechtlichen Befragung und einer strafprozessualen Vernehmung unterschieden werden – selbst dann, wenn sogar dieselbe Person beide Ziele verfolgt.82 So zeigt das Bundesverfassungsgericht in dem oben zitierten Beschluss zur Konkursordnung83 selbst den Weg, wie in einem solchen Fall mit der gewonnenen Aussage umzugehen ist: Die im Rahmen eines Konkursverfahrens erlangte selbstbelastende Aussage des Gemeinschuldners muss zum Schutze seines durch Art. 2 Abs. 1 GG garantierten Persönlichkeitsrechts mit einem strafrechtlichen Verwertungsverbot belegt werden.84 Diese Forderung des Bundesverfassungsgerichts, eine umfassende Auskunftspflicht außerhalb eines Strafverfahrens mit einem strafrechtlichen Verwertungsverbot zu verknüpfen, ist in zahlreichen Polizeigesetzen ausdrücklich aufgegriffen worden. So ist etwa in § 12 Abs. 2 Satz 4 HessSOG festgelegt, dass eine selbstbelastende Aussage, die aufgrund der im hessischen Polizeigesetz normierten Auskunftspflicht gewonnen wurde, nur zu Zwecken der Gefahrenabwehr im Sinne der Aufgabennorm verwendet werden darf.85 Dies zeigt, dass – anders als von Jahn behauptet – eine Trennung zwischen Strafverfolgung und Gefahrenabwehr im Rahmen der Durchsetzung einer Auskunftspflicht möglich, vom Gesetzgeber gewollt und auch erforderlich ist. Zuletzt lässt auch der Hinweis darauf, dass der Vermerk über die Folterandrohung im Entführungsfall von Metzler nicht allein in der polizeilichen Handakte verblieb, sondern auch in die Ermittlungsakte gegeben wurde, keinen Schluss darauf zu, dass in der polizeilichen Praxis die Bereiche Strafverfolgung und Gefahrenabwehr im Zusammenhang mit der Durchsetzung einer Auskunftspflicht unzulässig vermischt werden.86 So kann eine Aufnahme des Vermerks in die 82 So ausdrücklich Haurand/Vahle, Rechtliche Aspekte der Gefahrenabwehr in Entführungsfällen, NVwZ 2003, 513, 519 [Hervorhebungen im Original]. 83 BVerfGE 56, 37. 84 Vgl. BVerfGE 56, 37, 50 ff. Die Senatsmehrheit stellt zudem fest, dass der Gesetzgeber zum Schutze des Persönlichkeitsrechts des Gemeinschuldners ein Offenbarungsverbot gegenüber den Strafverfolgungsbehörden gesetzlich normieren kann. Dagegen hält der Richter Heußner in seinem Sondervotum ein Offenbarungsverbot sogar für zwingend erforderlich, da bereits die Weitergabe an die Strafverfolgungsbehörden eine unzulässige Beeinträchtigung des Grundrechts des Gemeinschuldners aus Art. 2 Abs. 1 GG darstelle, weil die Weitergabe angesichts des bestehenden Verwertungsverbotes der Aussagen des Gemeinschuldners im strafrechtlichen Verfahren nicht erforderlich sei und daher das Verhältnismäßigkeitsprinzip verletze (vgl. BVerfGE 56, 37, 52 ff.). 85 Eine ähnliche Regelung findet sich etwa in § 28 Abs. 2 Satz 5 MVSOG und § 12 Abs. 5 Satz 3 NdsGefAG. Nicht ausgeschlossen erscheint damit eine Verwendung der Aussage zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten – eine Zweckänderung, die das Bundesverfassungsgericht im Volkszählungsurteil aus dem Jahre 1983 (BVerfGE 65, 1) für verfassungswidrig erklärt hat. Für eine einschränkende, die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts beachtende Auslegung der § 12 Abs. 2 Satz 4 HessSOG, § 28 Abs. 2 Satz 5 MVSOG und § 12 Abs. 5 Satz 3 NdsGefAG Rachor, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, Kap. F Rn. 295.

B. Tatbestandliche Voraussetzungen der Rechtfertigungsgründe

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Ermittlungsakte allein deshalb erfolgt sein, um zu gewährleisten, dass die aufgrund der Folterandrohung gewonnene Aussage in einem späteren Strafprozess nicht zu Lasten des Entführers verwertet wird, was nach § 136a Abs. 3 Satz 2 StPO unzulässig wäre. Um die Unverwertbarkeit der erzwungenen Aussage – die damit ja immerhin einmal in der Welt ist! – mit größtmöglicher Sicherheit sicherzustellen, könnte man es im Hinblick auf das Persönlichkeitsrecht des Auskunftspflichtigen verfassungsrechtlich sogar für geboten halten, in der Ermittlungsakte die Art und Weise der Herbeiführung der Aussage aufzuführen. Ein Amtsträger verwirklicht damit bei der Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Herbeiführung einer Aussage im präventiv-polizeilichen Bereich nicht den Tatbestand des § 343 StGB. Andere in Betracht kommende, idealkonkurrierende Tatbestände wie Nötigung (§ 240 StGB) bzw. Körperverletzung im Amt (§ 340 Abs. 1 und 3 StGB i. V. m. §§ 223, 224, 226 StGB) werden von diesem Ausschluss einer Rechtfertigungsmöglichkeit nach den §§ 32, 34 StGB nicht erfasst, da für sie die obigen Überlegungen in Bezug auf § 343 StGB nicht gelten.87

B. Tatbestandliche Voraussetzungen der strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe Im Folgenden sollen nun spezifisch strafrechtliche Rechtfertigungsgründe daraufhin untersucht werden, ob ihre Voraussetzungen bei der zwangsweisen Herbeiführung einer Aussage im präventiv-polizeilichen Bereich erfüllt sind 86 So aber Kretschmer, Folter in Deutschland: Rückkehr einer Ungeheuerlichkeit?, RuP 2003, 102, 103. 87 Mitsch sieht hingegen bereits den Tatbestand des § 240 StGB nicht als verwirklicht an, wenn sich die Nötigungshandlung gegen einen rechtlich nicht zulässigen Erfolg richtet. Er sieht die Handlungsfreiheit des Einzelnen mit Rücksicht auf vorrangige Belange der Gemeinschaft oder anderer Mitglieder dieser Gemeinschaft von vornherein durch limitierende Normen beschränkt: „Wer daran gehindert wird, ein Verbot zu übertreten, wird nicht zum Verzicht auf rechtlich zugeteilte Freiheit gezwungen. Dieser Zwangseffekt hat nicht den Erfolgsunwert einer Nötigung, das Unterlassen der Verbotsübertretung ist also kein tatbestandlicher Nötigungserfolg. Schon aus diesem Grund ist die gewaltsame Hinderung eines Mörders an der Tat keine strafbare Nötigung.“ Vgl. Mitsch, Strafrechtsschutz gegen gewaltsame Verhinderung eines Mordes?, Die Polizei 2004, 254, 256. Problematisch an dieser Sichtweise ist allerdings, dass die strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe bei einer im Sinne Mitschs erfolgenden Tatbestandsbeschränkung des § 240 StGB in diesem Bereich nahezu überflüssig würden. Zudem sollte demjenigen, der in die Freiheitssphäre eines anderen eingreift, nicht die Begründungslast für diesen Eingriff genommen werden. Die Ausklammerung einer einen rechtlich nicht zulässigen Erfolg verhindernden Nötigungshandlung aus dem Tatbestand des § 240 StGB würde zuletzt dazu führen, dass auch Nötigungshandlungen, die Angriffe auf Rechtsgüter der Allgemeinheit unterbinden, von § 240 StGB nicht erfasst und damit erlaubt wären. Dies würde dem Grundsatz entgegenlaufen, dass Rechtsgüter der Allgemeinheit nicht notwehrfähig sind und nicht vom Einzelnen, sondern nur von der Polizei verteidigt bzw. geschützt werden sollen (vgl. hierzu Roxin, AT 1, § 15 Rn. 36 ff.).

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2. Teil: Rechtfertigung aufgrund strafrechtlicher Erlaubnisnormen

und somit das Strafunrecht einer mit der Anwendung der Rettungsfolter einhergehenden tatbestandlich verwirklichten Nötigung bzw. Körperverletzung auszuschließen vermögen.88 Für eine Rechtfertigung der Rettungsfolter kommen insbesondere die Strafunrechtsausschließungsgründe der rechtfertigenden Pflichtenkollision, der Nothilfe und des Notstandes in Betracht. Dabei steht in diesem Abschnitt die Untersuchung der „harten“ Voraussetzungen der einzelnen Rechtfertigungsgründe im Vordergrund. Dem Einfluss des Verfassungs- und Völkerrechts auf die Auslegung der „weichen“ Voraussetzungen der „Gebotenheit“ in § 32 StGB bzw. „Angemessenheit“ in § 34 StGB ist ein eigenes Kapitel gewidmet [vgl. unten C.].

I. Rechtfertigende Pflichtenkollision Wittreck schlägt vor, körperliche Eingriffe in die Integrität des Täters bei Konstellationen, in welchem die Sicherheitsbehörden vor der Wahl stehen, entweder die Würde des Täters zu verletzen oder eine dem Täter zurechenbare Würdeverletzung des Opfers fortdauern zu lassen, im Sinne einer rechtfertigenden Pflichtenkollision als rechtmäßig anzusehen.89 Es ist aber fraglich, ob der Anwendungsbereich der rechtfertigenden Pflichtenkollision in der vorliegenden Konstellation überhaupt eröffnet ist. Man wird nämlich von einer Pflichtenkollision nur dort ausgehen können, wo zwei (oder mehrere) verschiedene Handlungspflichten bestehen, von denen aber nur eine erfüllt werden kann.90 Kollidiert hingegen – wie im Fall der Rettungsfolter – eine Handlungspflicht (die Pflicht, die Würde des Entführungsopfers zu schützen) mit einer Unterlassungspflicht (die Pflicht, Eingriffe in die körperliche Integrität des Täters zu unterlassen), so ist dies eine Situation, die nicht als Pflichtenkollision angesehen werden kann, sondern unter Rückgriff auf § 34 StGB zu lösen ist. Denn der durch § 34 StGB unter bestimmten Voraussetzungen gerechtfertigte Eingriff in ein fremdes Rechtsgut zum Schutze eines höherrangigen Interesses betrifft gerade die Konstellation einer Kollision von Handlungsund Unterlassungspflicht: Ein Eingriff in ein fremdes Rechtsgut und der damit verbundene Verstoß gegen eine Unterlassungspflicht ist nur dann erlaubt, wenn das dadurch geschützte Interesse das beeinträchtige wesentlich überwiegt. Der Konflikt zwischen beeinträchtigtem und geschütztem Interesse ist damit in § 34 StGB dergestalt geregelt, dass die Unterlassungspflicht bei Gleichwertigkeit der Rechtsgüter vorgeht.91 Diese gesetzliche Wertung würde umgangen werden, 88 Das Merkmal der „Verwerflichkeit“ der Nötigung nach § 240 Abs. 2 StGB muss erst im Anschluss an die Prüfung möglicher Rechtfertigungsgründe untersucht werden, da eine positive Rechtfertigung der Tat immer auch deren Verwerflichkeit ausschließt; vgl. Erb, Notwehr durch Folter, Jura 2005, 24; Lackner/Kühl, StGB, § 240 Rn. 17. 89 Wittreck, Menschenwürde und Folterverbot, DÖV 2003, 873, 882. 90 So die herrschende Meinung; vgl. Roxin, AT 1, § 16 Rn. 102 m. w. N.

B. Tatbestandliche Voraussetzungen der Rechtfertigungsgründe

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wenn die Kollision von Handlungs- und Unterlassungspflicht unter dem Gesichtspunkt einer rechtfertigenden Pflichtenkollision behandelt wird, weil dann bereits die Gleichwertigkeit von geschütztem und beeinträchtigtem Interesse eine Rechtfertigung ermöglichen würde. Die Herbeiführung einer Aussage durch die Anwendung unmittelbaren Zwangs kann daher nicht unter Rückgriff auf das Institut der rechtfertigenden Pflichtenkollision als rechtmäßig angesehen werden. Gintzel hält hingegen einen Rückgriff auf die rechtfertigende Pflichtenkollision in der vorliegenden Konstellation von vornherein nicht für denkbar. Dies deshalb, weil – so Gintzel – bei der rechtfertigenden Pflichtenkollision die Verpflichtung zur Erfüllung zweier nicht miteinander vereinbarer Handlungspflichten aus zwei verschiedenen Rechtssätzen entspringe, während im Falle der Rettungsfolter nur aufgrund eines einzigen Rechtssatzes – Art. 1 Abs. 1 GG – zwei miteinander konfligierende Handlungspflichten (die Pflicht, die Würde des Täters zu achten; die Pflicht, die Würde des Entführungsopfers zu schützen) kollidierten.92 Gintzel schlägt vor, diese „unlösbare“ Pflichtenkollision, bei der die Polizei rechtlich keine Möglichkeit hat, sich für eine der beiden aus demselben Rechtssatz folgenden Handlungspflichten zu entscheiden, als Rechtfertigungsgrund (Unmöglichkeit normgerechten Verhaltens) anzuerkennen.93 – Problematisch an Gintzels Annahme ist allerdings, dass er die Pflicht, die Würde des Täters zu achten, als Handlungsgebot charakterisiert. Es handelt sich hier nämlich um eine Unterlassungspflicht, da Art. 1 Abs. 1 GG dem Amtsträger Eingriffe in die körperliche Integrität zum Zwecke der Informationsgewinnung untersagt, also ein Unterlassen verlangt. Darüber hinaus bedürfte es für die Konstellation der Rettungsfolter keines Rückgriffs auf ein eigenständiges Institut der „unlösbaren“ Pflichtenkollision. Denn es ist auch die Lösung von Fallgestaltungen, bei der zwei (oder mehrere) Handlungsgebote aus demselben Rechtssatz entspringen, mittels des Instituts der rechtfertigenden Pflichtenkollision problemlos möglich. So ist anerkannt, dass beispielsweise ein Vater zweier Kinder, wenn er nicht beide zugleich vor dem Ertrinkungstod retten kann, bereits dann aufgrund rechtfertigender Pflichtenkollision gerechtfertigt ist, wenn er wenigstens eines rettet.94 Beide Handlungsgebote entspringen hier aber aus demselben Rechtssatz, einer Garantenstellung des Vaters gegenüber den Kindern aufgrund Gesetzes (§§ 1626 ff. BGB) bzw. familiärer Schutzbeziehung.95 Die vorliegende Konstellation ließe sich also unproblematisch über das Institut der rechtfertigenden Pflichtenkollision lösen, wenn diese nicht bereits wegen des Fehlens einer Kollision zweier Handlungspflichten ausscheiden würde.

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Roxin, AT 1, § 16 Rn. 103. Gintzel, Die „unlösbare“ Pflichtenkollision – ein Beitrag zur „Folterdiskussion“ und zugleich eine Abgrenzung von Verwaltungszwang und Aussageerpressung, Die Polizei 2004, 249, 251, 253. 93 Gintzel, Die „unlösbare“ Pflichtenkollision – ein Beitrag zur „Folterdiskussion“ und zugleich eine Abgrenzung von Verwaltungszwang und Aussageerpressung, Die Polizei 2004, 249, 254. 94 Roxin, AT 1, § 16 Rn. 104. 95 Vgl. Roxin, AT 2, § 32 Rn. 33. 92

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2. Teil: Rechtfertigung aufgrund strafrechtlicher Erlaubnisnormen

II. Nothilfe Greift die rechtfertigende Pflichtenkollision in der vorliegenden Konstellation nicht zugunsten des Amtsträgers ein, so könnte sein Handeln gleichwohl durch § 32 StGB gerechtfertigt sein. Voraussetzung ist, dass die Entführung einer Person eine Notwehrlage begründet und die Anwendung der Rettungsfolter als Notwehrhandlung den Erfordernissen des § 32 StGB genügt. 1. Gegenwärtiger rechtswidriger Angriff Problematisch an den drei Voraussetzungen der Notwehrlage (Angriff auf ein rechtlich geschütztes Interesse, Gegenwärtigkeit des Angriffs, Rechtswidrigkeit des Angriffs) kann zunächst das Vorliegen eines Angriffs sein. Man könnte das Verschweigen des Aufenthaltsortes des Entführungsopfers durch den Täter als Unterlassen ansehen und mit der Argumentation, dass ein Angriff stets aktives Tun verlange,96 das Vorliegen dieses Tatbestandsmerkmals verneinen. So spricht auch Kretschmer dem Verschweigen des Aufenthaltsortes den Charakter eines Angriffs i. S. d. § 32 StGB ab. Denn die Notlage des Opfers – so Kretschmer – bestehe bei einer Entführung auch dann unvermindert fort, wenn der Entführer oder eine sonstige Person, die ihren Aufenthaltsort kennt, verstirbt. Dies zeige, dass das Opfer nicht mehr durch dynamisches menschliches Verhalten bedroht werde, sondern statisch durch die äußeren Umstände der durch früheres Verhalten bewirkten Gefahrensituation.97 Eine solche Sichtweise, die einem Unterlassen die Angriffsqualität abspricht, ist aber mit der Existenz der unechten Unterlassungsdelikte nicht zu vereinbaren: Wenn nämlich ein Garant eine Person durch Unterlassen töten bzw. verletzen kann, so ist nicht nachzuvollziehen, warum eine solche Tötungs- oder Verletzungsbehandlung kein Angriff i. S. d. § 32 StGB darstellen soll.98 Daher kann auch bloße Untätigkeit einen Angriff darstellen, wenn der Täter zum Handeln rechtlich verpflichtet ist, d.h. als Garant für die Abwendung des Erfolgs einzustehen hat,99 was im Falle einer Entführung aufgrund einer Garantenstellung aus Ingerenz zu bejahen ist.100

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So etwa Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, § 32 Rn. 10. Kretschmer, Folter in Deutschland: Rückkehr einer Ungeheuerlichkeit?, RuP 2003, 102, 112. Gegen Kretschmer überzeugend Perron, Foltern in Notwehr?, in: FS Weber, S. 143, 147 f. 98 Roxin, AT 1, § 15 Rn. 11. 99 So die h. M.; vgl. Lackner/Kühl, StGB, § 32 Rn. 2; Roxin, AT 1, § 15 Rn. 11, jeweils m. w. N. Ob ein echtes Unterlassen einen notwehrfähigen Angriff darstellt, ist dagegen zu bezweifeln: Da der echte Unterlassungstäter nicht wegen der Rechtsgutverletzung (Köperverletzung, Tötung) belangt werden kann, begründet das echte Unterlassen auch keinen Rechtsgutsangriff; vgl. Roxin, AT 1, § 15 Rn. 13. 97

B. Tatbestandliche Voraussetzungen der Rechtfertigungsgründe

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Auf der anderen Seite scheint es auch möglich, gar nicht auf ein Unterlassen des Täters – das Verschweigen des Aufenthaltsortes des Opfers bei der polizeilichen Befragung – abzustellen, sondern vielmehr an die Entführung selbst anzuknüpfen: Denn die Freiheitsberaubung, die zum Zeitpunkt der Befragung durch den Amtsträger – zumindest aus dessen Sicht – noch fortbesteht, beruht ja auf einer Handlung: Das Verschleppen und Einsperren des Opfers, welches der Täter durch aktives Tun begangen hat, und das in der andauernden Freiheitsberaubung noch fortwirkt.101

Auch die Gegenwärtigkeit des Angriffs ist angesichts der Tatsache, dass es sich bei einer Freiheitsberaubung um ein Dauerdelikt handelt, zu bejahen.102 Denn bei einem Dauerdelikt ist die Rechtsgutsverletzung mit der Vollendung nicht abgeschlossen. Vielmehr wird hier dem betroffenen Rechtsgut mit der Aufrechterhaltung der unrechtmäßigen Lage andauernd neuer Schaden zugefügt, die Rechtsgutsverletzung mithin ständig vertieft.103 Unbedeutend ist hierbei auch, ob der Angreifer nach der Entführung noch weitere aktive Handlungen vornimmt oder einfach untätig bleibt, um den rechtswidrigen Zustand aufrechtzuerhalten.104 Ist das Opfer zum Zeitpunkt der Anwendung der Rettungsfolter bereits tot oder freigelassen, so liegt kein gegenwärtiger Angriff mehr vor. Der Amtsträger befindet sich dann – fordert man für eine Rechtfertigung nach § 32 StGB mit der herrschenden Meinung das tatsächliche Vorliegen eines Angriffs und stellt nicht auf eine objektive Perspektive ex ante ab105 – in einem Erlaubnistatbestandsirrtum, der nach den in der Literatur vertretenen Auffassungen in (analoger) Anwendung des § 16 StGB entweder bereits den Vorsatztatbestand oder zumindest die Vorsatzschuld ausschließt. Nur die strenge Schuldtheorie kommt über die Anwendung von § 17 StGB zu einer Strafbarkeit des Täters aus dem Vorsatzdelikt, falls der Irrtum vermeidbar war.106 Es stellt sich dann die Frage, welche Anforderungen an die Unvermeidbarkeit eines solchen Irrtums zu stellen sind, um im Falle des § 16 StGB eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Begehung (§§ 340, 229 StGB) bzw. im Falle des § 17 StGB eine Strafbarkeit wegen vorsätzlicher Begehung auszuschließen: Da es der Entführer beim Irrtum über die Gegenwärtigkeit des Angriffs selbst in der Hand hat, den Irrtum aufzuklären, indem er etwa darlegt, dass das Opfer bereits tot bzw. freigelassen

100 Vgl. zur Garantenstellung des Entführers aus Ingerenz oben Erster Teil B. II. 2. c) bb) (2) (c). 101 Ähnlich Erb, Nothilfe durch Folter, Jura 2005, 24 f., der in Fällen einer Entführung die Elemente aus Tun und Unterlassen, mit denen der Entführer die fortschreitende Rechtsgutsverletzung bewirkt, als soziale Sinneinheit ansieht, die in ihrer Gesamtheit den rechtswidrigen Angriff darstellt. Anders als bei einem „reinen Unterlassen“ sei hier für den Einwand, Untätigkeit sei begrifflich kein „Angriff“, von vornherein kein Raum. 102 Fahl, Angewandte Rechtsphilosophie – „Darf der Staat foltern?“, JR 2004, 182, 186. 103 Perron, Foltern in Notwehr?, in: FS Weber, S. 143, 148. 104 Erb, Nothilfe durch Folter, Jura 2005, 24. 105 Vgl. hierzu bereits oben Erster Teil A. II. 1. 106 Vgl. zu den einzelnen Theorien Roxin, AT 1, § 14 Rn. 51 ff.

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2. Teil: Rechtfertigung aufgrund strafrechtlicher Erlaubnisnormen

ist, sollte der Irrtum hier nur dann als vermeidbar und fahrlässig angesehen werden, wenn sich dem Amtsträger die Unrichtigkeit der Annahmen aufdrängen musste.107

2. Erforderlichkeit Nach § 32 Abs. 2 StGB ist nur die „erforderliche“ Verteidigung gerechtfertigt. Erforderlich ist jede geeignete, unter mehreren zur Verfügung stehenden Verteidigungsarten mildeste Abwehr.108 a) Geeignetheit Das Merkmal der „Erforderlichkeit“ verlangt also zunächst einmal ein geeignetes Verteidigungsmittel zur Beendigung des Angriffs. Jerouschek/Kölbel weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Anwendung der Rettungsfolter kein taugliches Mittel zur Wahrheitserforschung sei: „Wo rührt denn, so möchte man fragen, ihre verfassungsrechtliche Gefahrabwendungseignung her, wenn die Pein, je milder sie ausfällt, als Einlassungsstimulans nicht taugt, sie aber bei hochgradiger Schmerzzufügung umso häufiger Falschaussagen provoziert.“109 Diese Einschätzung mag bei der Inquisitionsfolter – der Erfolterung eines Geständnisses – richtig sein, denn hier ist das (falsche) Geständnis aus der Sicht des Gefolterten das einzig erfolgversprechende Mittel, um die Folterung zu beenden: „Entweder schwieg oder leugnete der Angeklagte und mußte weitere Folter erdulden, oder er gestand und lieferte damit das entscheidende Beweismittel zu seiner Verurteilung, selbst wenn das Geständnis falsch war. Wie auch immer er sich verhielt, er konnte seinem Unglück nicht mehr entrinnen.“110 Bei der Anwendung unmittelbaren Zwangs im präventiven Bereich ist jedoch eine Falschinformation auch aus der Sicht des Entführers kein taugliches Mittel, um der Folter zu entgehen. Nach Überprüfung der Angaben durch die Polizei würde die Folter – sollten sich die Angaben als falsch erweisen – fortgesetzt werden.111 Durch diese Möglichkeit der kurzfristigen Überprüfbarkeit der Angaben bei der Rettungsfolter entsteht ein maximaler Zwang zur Preisgabe wahrer Informationen.112 Wenn es dabei auch nicht ausgeschlossen ist, 107

So überzeugend Erb, Nothilfe durch Folter, Jura 2005, 24, 30. Roxin, AT 1, § 15 Rn. 42. 109 Jerouschek/Kölbel, Folter von Staats wegen?, JZ 2003, 613, 617 f. 110 Perron, Folter in Notwehr?, in: FS Weber, S. 143, 148 f. 111 Erb, Nothilfe durch Folter, Jura 2005, 24, 25; Fahl, Angewandte Rechtsphilosophie – „Darf der Staat foltern?“, JR 2004, 182, 186; Wittreck, Menschenwürde und Folterverbot, DÖV 2003, 873, 881. 112 So Erb, Nothilfe durch Folter, Jura 2005, 24, 25; Perron, Folter in Notwehr?, in: FS Weber, S. 143, 149. 108

B. Tatbestandliche Voraussetzungen der Rechtfertigungsgründe

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dass der Betroffene im Einzelfall auch unter Hinnahme großer Schmerzen immer wieder falsche Angaben macht oder gar nichts sagt, steht dies der Geeignetheit der Rettungsfolter nicht entgegen, da die Gewaltanwendung ex ante große Chancen eröffnet, die zur Rettung notwendigen Informationen zu erlangen.113 Hinzu kommt, dass hinsichtlich der Geeignetheit der Rettungshandlung dem Nothelfer in der Regel eine weite Einschätzungsprärogative eingeräumt wird114 und nur völlig aussichtslose Maßnahmen einer Rechtfertigung nach § 32 StGB entzogen werden.115 Weiterhin wird als Argument gegen die Geeignetheit der Rettungsfolter angeführt, dass sich hier – im Gegensatz zum finalen Rettungsschuss – der Störer nicht zweifelsfrei ermitteln lasse und eine große Gefahr bestehe, dass sich die Gewalt gegen eine unschuldige Person richtet.116 Diese Gefahr lässt sich aber mittels der Behandlung des Erlaubnistatbestandsirrtums, in welchem sich der Amtsträger bei einem Irrtum über den Adressaten der Nothilfehandlung befindet, minimieren: Zwar steht der Erlaubnistatbestandsirrtum nach ganz herrschender Meinung einer Bestrafung des Amtsträgers aus einem vorsätzlichen Delikt entgegen. Um zu vermeiden, dass sich die Rettungsfolter gegen einen Unbeteiligten richtet, sollte man hier aber von einem vermeidbaren Irrtum, der zu einer Strafbarkeit wegen fahrlässiger Begehung führt, immer schon dann ausgehen, wenn es an einer absoluten Evidenz der Verantwortlichkeit des Adressaten der Nothilfehandlung fehlt.117 Die zu erwartende Strafbarkeit wegen fahrlässiger Körperverletzung im Amt (§§ 340, 229 StGB) im Falle einer Fehleinschätzung wird den Amtsträger davon abhalten, die Rettungsfolter gegen Personen anzuwenden, deren Verantwortlichkeit nicht mit größter Sicherheit feststeht. Damit ist der Gefahr vorgebeugt, dass Unsicherheiten hinsichtlich der Verantwortlichkeit der zu folternden Person einseitig zu Lasten des „allem Anschein nach“ schuldigen Täters und zugunsten des unschuldig leidenden Opfers berücksichtigt werden.118 Zudem zeigen die Vorgänge im Entführungsfall von Metzler, dass in der Praxis keineswegs immer nur die Zweifelsfälle auftreten, 113 Vgl. Kretschmer, Folter in Deutschland: Rückkehr einer Ungeheuerlichkeit?, RuP 2003, 102, 106 und Erb, Nothilfe durch Folter, Jura 2005, 24, 25, der darauf verweist, dass im Entführungsfall von Metzler der Tatverdächtige nach Androhung von Gewalt das Versteck des entführten Jungen schließlich preisgab, was gerade zeige, dass die Rettungsfolter nicht als von vornherein ungeeignetes Verteidigungsmittel qualifiziert werden darf. 114 Kudlich, Anmerkung zu LG Frankfurt a. M. NJW 2005, 692, JuS 2005, 376, 378. 115 Erb, Nothilfe durch Folter, Jura 2005, 24, 25. 116 Gebauer, Zur Grundlage des absoluten Folterverbots, NVwZ 2004, 1405, 1408 f.; Kinzig, Not kennt kein Gebot?, ZStW 115 (2003), 791, 806 f.; Norouzi, Folter in Nothilfe – geboten?!, JA 2005, 306, 310. 117 So Erb, Nothilfe durch Folter, Jura 2005, 24, 29. 118 So aber Gebauer, Zur Grundlage des absoluten Folterverbots, NVwZ 2004, 1405, 1408.

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2. Teil: Rechtfertigung aufgrund strafrechtlicher Erlaubnisnormen

die viele zur Grundlage ihrer Ablehnung der Rettungsfolter machen. Denn Magnus Gäfgen war derjenige, der von der Polizei bei der Lösegeldübergabe beobachtet wurde, der sich am selben Tag einen Mercedes kaufte und in dessen Wohnung ein großer Teil des Lösegeldes und ein Zettel, auf dem Einzelheiten der Tatvorbereitung notiert waren, gefunden wurde.119 Wer würde angesichts dieser Sachlage noch davon ausgehen, dass es sich bei Magnus Gäfgen nicht um den tatsächlichen Täter handelt? b) Mildestes Mittel Was das Merkmal des „mildesten Mittels“ angeht, so zeigen sich auch hier Unterschiede zwischen der Rettungsfolter und der Folterung zu Inquisitionszwecken: Da der Wahrheitsgehalt der gewünschten Information sofort überprüfbar ist, ist eine Stufung der Eingriffsintensität im präventiven Bereich problemlos möglich.120 Dies hat der Frankfurter Entführungsfall exemplarisch gezeigt: Nachdem andere Mittel der Befragung nicht mehr zur Verfügung standen, hatte der Polizeivizepräsident, um vom Entführer die verlangte Auskunft zu erlangen, die Folter zunächst nur angedroht, was – wie sich herausstellte – bereits ausreichend war. Ein milderes Mittel und damit vorrangig gegenüber einer Gewaltandrohung bzw. -anwendung können aber Hinweise auf Konsequenzen sein, die der Tod des Entführungsopfers bzw. dessen Freilassung nach sich zieht (massive Strafschärfung bei wenigstens leichtfertiger Verursachung des Todes gem. § 239a Abs. 3 StGB: Lebenslange Freiheitsstrafe oder Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren; Möglichkeit der Strafmilderung gem. §§ 239a Abs. 4, 49 Abs. 1 StGB, wenn der Täter das Opfer freilässt).121 Sollten sich aber diese Hinweise als nicht zielführend erweisen, so ist nach der Androhung zuletzt auch die Anwendung von Gewalt als erforderliche Verteidigungshandlung zu qualifizieren, da das Merkmal der Erforderlichkeit nur das Fehlen eines wirksamen milderen Mittels, aber keine Güterproportionalität oder Obergrenze der Intensität von Verteidigungshandlungen bezeichnet.122 Dementsprechend können auch massive Folterungen nicht von vornherein als unzulässig qualifiziert werden, wenn im Einzelfall jede mildere Maßnahme erfolglos bleibt.123 Das Landgericht Frankfurt am Main stützt hingegen die Verurteilung Daschners maßgeblich darauf, dass die Folterandrohung durch den Polizeivizepräsidenten nicht 119

Vgl. LG Frankfurt a. M. NJW 2005, 692. Vgl. Fahl, Angewandte Rechtsphilosophie – „Darf der Staat foltern?“, JR 2004, 182, 186: „So schwierig und wenig handhabbar die Dosierung im Falle der Inquisitionsfolter ist, so ,passgenau‘ und ,schonend‘ ist sie im Präventionsbereich einsetzbar, weil die gewünschte Information ad hoc überprüfbar ist.“ 121 Hierauf weist Hamm, Schluss der Debatte über Ausnahmen vom Folterverbot!, NJW 2003, 946 zu Recht hin. 122 Erb, Nothilfe durch Folter, Jura 2005, 24, 26. 123 Erb, Nothilfe durch Folter, Jura 2005, 24, 26. 120

B. Tatbestandliche Voraussetzungen der Rechtfertigungsgründe

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das mildeste Mittel gewesen sei. Ein Polizeipsychologe habe nämlich, nachdem sich herausstellte, dass die Angaben des mutmaßlichen Entführers Magnus Gäfgen nicht zielführend seien, am Abend des 30. September 2002 vorgeschlagen, diesen stufenweise zunächst mit seiner Mutter, den beiden Geschwistern Jakob von Metzlers und gegebenenfalls mit den Eltern des entführten Jungen zu konfrontieren. Insbesondere die Zusammenführung mit den beiden Geschwistern Jakob von Metzlers wurde als erfolgversprechend eingeschätzt, da Magnus Gäfgen immer deren Nähe gesucht, sie bewundert und ihre Anerkennung angestrebt habe. Dagegen schätzte der Polizeipsychologe die Androhung unmittelbaren Zwanges nicht als erfolgversprechend ein. Die Umsetzung dieses Stufenplans hätte nach Ansicht des Landgerichts einer Gewaltandrohung vorausgehen müssen.124 – Hierzu ist Folgendes zu sagen: Angesichts der Tatsache, dass seit der Entführung Jakob von Metzlers am Morgen des 1. Oktober 2002 mittlerweile vier Tage vergangen waren und jede weitere Verzögerung das Leiden des Kindes intensiviert und sein Leben in zunehmend größere Gefahr gebracht hätte, zudem die Erfolgsaussichten des Stufenplans unsicher waren (bei einer Konfrontation mit seiner Mutter am Morgen des 1. Oktober 2002 kurz vor der Folterandrohung machte Magnus Gäfgen keine Angaben zum Verbleib des Kindes)125 und sich der Nothelfer zuletzt auch nicht auf ein Mittel mit unsicheren Erfolgsaussichten einlassen muss, erscheint die Bewertung des Gerichts in diesem Punkt äußerst angreifbar.126 Vielmehr dürfte am Morgen des 1. Oktober 2002 der Zeitpunkt erreicht gewesen sein, an dem die Erforderlichkeit eines kompromisslosen Vorgehens gegen den Täter zum effektiven Schutz des Opfers zu bejahen ist.127

Die Verteidigungshandlung darf sich zuletzt nur gegen Rechtsgüter des Angreifers richten.128 Maßnahmen gegen Zeugen oder Angehörige des Täters scheiden damit als zulässige Notwehrhandlung von vornherein aus. 124

LG Frankfurt a. M. NJW 2005, 692, 693. Erb, Stellungnahme zum „Fall Daschner“, Abschn. 4 weist zu Recht darauf hin, dass die skeptische Beurteilung des Polizeipsychologen zu den Aussichten, den Täter durch Androhung von Gewalt zum Reden zu bringen, durch die nachfolgende Realität widerlegt wurden. Warum hätte sich – so Erb – seine positive Prognose für den Fall einer Gegenüberstellung des Täters mit den Geschwistern des Opfers als zuverlässiger erweisen sollen? Äußerst kritisch zum Stufenplan auch Jerouschek, Gefahrenabwendungsfolter – Rechtsstaatliches Tabu oder polizeirechtlich legitimierter Zwangseinsatz?, JuS 2005, 296, 301: „Im Fall Daschner hat sich die Staatsanwaltschaft auf den Standpunkt gestellt, die von Daschner angeordnete Bedrohung mit Gewalt sei nicht erforderlich gewesen, weil man zur Preisgabe des Verstecks noch die verfügbare Schwester der Geisel als Druckmittel hätte einsetzen können, die ganz den Appetenzen Gäfgens – jung, reich, schön – entsprochen habe. Hierfür hat Gisela Friedrichsen im Spiegel dem ,Herrn Psychologen‘, der diesen unsäglichen Vorschlag gemacht hatte, zu Recht die Leviten gelesen: Was hätte man in dem Mädchen anrichten können, wenn es ihm nicht gelungen wäre, den Entführer ihres Bruders zu ,knacken‘, wie es im Polizeijargon hieß? Den Vorschlag sollte man also besser vergessen, und die Staatsanwaltschaft hätte gut daran getan, auf ihn als argumentative Schützenhilfe zu verzichten. Eine psychologische Großtat war er jedenfalls nicht.“ 126 Kritisch auch Kudlich, Anmerkung zu LG Frankfurt a. M. NJW 2005, 692, JuS 2005, 376, 379, der die strengen Maßstäbe, die das Landgericht Frankfurt a. M. bei der Beurteilung der Erforderlichkeit der Notwehrhandlung Daschners herangezogen hat, als unüblich bezeichnet. 127 So Erb, Stellungnahme zum „Fall Daschner“, Abschn. 4. 125

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2. Teil: Rechtfertigung aufgrund strafrechtlicher Erlaubnisnormen

3. Gebotenheit a) Kann somit die Anwendung der Rettungsfolter zur Abwendung eines Angriffs auf Leib oder Leben des Opfers erforderlich sein, so können sich noch Einschränkungen aus den sozialethischen Grenzen des Notwehrrechts ergeben. Die Begriffe der „Erforderlichkeit“ und der „Gebotenheit“ werden häufig als gleichbedeutend behandelt, so dass eine zur Abwehr nötige, aber aus sozialethischen Gründen nicht gebotene Notwehr als nicht erforderlich charakterisiert wird. Nachdem der Gesetzgeber mit der Wiedereinfügung des vom E 1962 gestrichenen Merkmals der „Gebotenheit“ aber ausdrücklich sozialethische Einschränkungen des Notwehrrechts erreichen wollte,129 sollten diese Begrenzungen des Notwehrrechts unter dem Topos der Gebotenheit und getrennt von der Erforderlichkeitsprüfung behandelt werden.130

Unter dem Gesichtspunkt der Gebotenheit stellt sich die Frage, ob neben den „klassischen“131 Fällen sozialethischer Einschränkungen des Notwehrrechts (Fälle schuldloser, provozierter, unerheblicher Angriffe sowie Angriffe im Rahmen von Garantieverhältnissen) auch verfassungsrechtliche Wertentscheidungen bei der Bewertung einer Verteidigungshandlung mit einbezogen werden können.132 Letzteres hätte zur Folge, dass der Rechtfertigungsgrund der Notwehr beim Handeln eines Amtsträgers neben den „herkömmlichen“ sozialethischen Einschränkungen zusätzlichen – unmittelbar aus der Verfassung abgeleiteten – Restriktionen unterliegt. Für den Fall der Rettungsfolter könnten sich so in Anbetracht der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG Begrenzungen des Notwehrrechts ergeben.133 128

Roxin, AT 1, § 15 Rn. 106. Vgl. die Begründung des Sonderausschusses, auf den die heutige Gesetzesfassung beruht, BT-Drucks. 5/4095, S. 14: „Nach der Ansicht des Ausschusses bedarf das Notwehrrecht aus sozial-ethischen Gründen einer Begrenzung, durch die Fälle ausgeschlossen werden, die keine Rechtfertigung verdienen. Das gilt etwa bei einer Verteidigung gegenüber Angriffen von Kindern und Geisteskranken, wo man auch nach allgemeinen Wertvorstellungen dem ,Angriff‘ durch Flucht ausweichen kann, ohne sich damit in seiner Ehre etwas zu vergeben. Ferner ist an ,Angriffe‘ zu denken, die so geringfügig sind, daß ihre Hinnahme zugemutet werden kann. Hinzu kommen die Fälle, in denen der ,Verteidiger‘ den ,Angriff‘ selbst provoziert hatte. Durch die Wiedereinführung des Erfordernisses des Gebotenseins soll die Möglichkeit eröffnet werden, in derartigen Fällen eine Rechtfertigung zu verneinen.“ Fraglich ist, ob diese abschließende Aufzählung der Fallgruppen (Einschränkungen des Notwehrrechts bei schuldlosen, unerheblichen bzw. provozierten Angriffen) in den Gesetzesmotiven einer Ausweitung der sozialethischen Einschränkungen über die genannten Situationen hinaus durch die Gerichte entgegensteht. Die Rechtsprechung jedenfalls sieht sich nicht gehindert, den vorhandenen Fallgruppen neue hinzuzufügen; vgl. Fahl, Angewandte Rechtsphilosophie – „Darf der Staat foltern?“, JR 2004, 182, 187. 130 Roxin, AT 1, § 15 Rn. 56. 131 So die Bezeichnung von Fahl, Angewandte Rechtsphilosophie – „Darf der Staat foltern?“, JR 2004, 182, 187. 132 Vgl. zur Möglichkeit der Auslegung von Strafnormen unter Berücksichtigung der Grundrechte Kudlich, Grundrechtsorientierte Auslegung im Strafrecht, JZ 2003, 127. 129

B. Tatbestandliche Voraussetzungen der Rechtfertigungsgründe

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Nur wenn bei der Prüfung der Gebotenheit der Notwehr verfassungsrechtliche Gesichtspunkte herangezogen werden, kann dies überhaupt noch zum Ausschluss der (strafrechtlichen) Rechtfertigung der zwangsweisen Herbeiführung einer Aussage führen. Denn die „klassischen“ sozialethischen Einschränkungen des Notwehrrechts liegen bei der der Rettungsfolter zugrunde liegenden Konstellation erkennbar nicht vor. Und was Einschränkungen des Notwehrrechts jenseits dieser „herkömmlichen“ sozialethischen Gesichtspunkte angeht, weist Fahl zu Recht darauf hin, dass damit der „gesicherte Bereich“ verlassen ist und „unbekanntes Terrain“ betreten wird.134 Da es sich bei den „herkömmlichen“ sozialethischen Einschränkungen des Notwehrrechts um strafrechtsimmanente Schranken handelt, die dem Notwehrrecht durch das Rechtsbewährungsprinzip gezogen sind,135 bedarf die Anbindung hoheitlicher Nothilfe an das Verfassungsrecht und damit an außerstrafrechtliche Vorgaben zudem einer besonderen Begründung, die von den Befürwortern dieser Ansicht aber meist nicht geleistet wird.136

Für Fälle privater Notwehr bzw. Nothilfe dürfte einleuchtend sein, dass ein unter dem generellen Vorbehalt einer Vereinbarkeit mit verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen stehendes Notwehrrecht bereits mit dem Grundgedanken des Notwehrrechts konfligiert. Denn das Verfassungsrecht untersteht – da es wie das gesamte öffentliche Recht vom Verhältnismäßigkeitsprinzip geprägt ist – dem Notwehrrecht entgegenlaufenden Maximen, da dieses als Ausfluss des Rechtsbewährungsprinzips eine Verteidigung gerade nicht nur im Rahmen der Verhältnismäßigkeit, sondern grundsätzlich ohne Rücksicht darauf in der Weise gewährt, dass der angerichtete Schaden erheblich größer sein darf als der abgewehrte.137 Zudem würde eine direkte Anbindung privater Notwehr an das Verfassungsrecht sich den Vorwurf gefallen lassen müssen, den Grundrechten unmittelbare Drittwirkung in einer Rechtsbeziehung zukommen zu lassen, die nach ganz verbreiteter Auffassung von einer lediglich mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte geprägt ist.138 So steht nach herrschender Lehre auch Art. 2 133 Für eine Begrenzung des Notwehrrechts durch verfassungsrechtliche Vorgaben Ebel, Notwehrrecht der Polizei bei Vernehmungen (Befragungen) zum Zwecke der Gefahrenabwehr, Kriminalistik 1995, 826 f.; Kinzig, Not kennt kein Gebot?, ZStW 115 (2003), 791, 811; Jeßberger, „Wenn Du nicht redest, füge ich Dir große Schmerzen zu“, Jura 2003, 711, 713 f., Saliger, Absolutes im Strafprozeß?, ZStW 116 (2004), 35, 48 f. Gegen eine Begrenzung Erb, Nothilfe durch Folter, Jura 2005, 24, 26 ff.; Fahl, Angewandte Rechtsphilosophie – „Darf der Staat foltern?“, JR 2004, 182, 186 ff.; Jerouschek/Kölbel, Folter von Staats wegen?, JZ 2003, 613, 619 f. 134 Fahl, Angewandte Rechtsphilosophie – „Darf der Staat foltern?“, JR 2004, 182, 187. 135 Erb, Nothilfe durch Folter, Jura 2005, 24, 26 spricht von Schranken, die im Grundgedanken des Notwehrrechts angelegt sind. 136 Vgl. etwa Jeßberger, „Wenn Du nicht redest, füge ich Dir große Schmerzen zu“, Jura 2003, 711, 713 f.; Ebel, Notwehrrecht der Polizei bei Vernehmungen (Befragungen) zum Zwecke der Gefahrenabwehr, Kriminalistik 1995, 826 f.; Saliger, Absolutes im Strafprozeß?, ZStW 116 (2004), 35, 48 f.; Wilhelm, Folter – verboten, erlaubt oder gar geboten?, Die Polizei 2003, 198, 203. 137 Vgl. Roxin, AT 1, § 15 Rn. 2, 47.

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2. Teil: Rechtfertigung aufgrund strafrechtlicher Erlaubnisnormen

Abs. 2 lit. a EMRK der Rechtfertigung einer Tötung aus Notwehr zur Verteidigung von Sachwerten (soweit diese Tötungshandlung „erforderlich“ i. S. d. § 32 Abs. 2 StGB ist) nicht entgegen, da die EMRK nur das Verhältnis der Staatsgewalt zu den Bürgern regeln will und keine Drittwirkung entfaltet.139 Nichts anderes gilt aber für die Grundrechtsgewährleistungen des Grundgesetzes. b) Damit stellt sich die Frage, ob man das auf § 32 StGB gestützte Handeln eines Amtsträgers schon allein dadurch, dass man es als nichthoheitlich charakterisiert, vor dem Hintergrund der vorstehenden Ausführungen von einer verfassungsrechtlichen Anbindung freistellen kann. So gehen manche Autoren davon aus, dass ein Amtsträger, soweit er im Rahmen hoheitlicher Ermächtigungsgrundlagen handelt, dienstlich tätig ist, es ihm aber unbenommen bleibt, sich über diese Vorschriften hinwegzusetzen, indem er sich in einen Privatmann verwandelt und dann von seinem Notstands- und Nothilferecht Gebrauch macht.140 Die Notwehrbefugnis des Amtsträgers sehen diese Autoren konsequenterweise nicht von öffentlichrechtlichen Vorschriften determiniert: „Wenn auch die ausschließlich der Privatperson zustehenden Notbefugnisse ein hoheitliches Einschreiten nicht decken können, so folgt hieraus noch nicht, daß ein staatliches Vollzugsorgan während der Ausübung hoheitlicher Tätigkeit daran gehindert ist, Notwehr zu üben und Nothilfe zu leisten. Der mit der Durchsetzung des staatlichen Willens Betraute darf vielmehr ohne jede Einschränkung unter den allgemeinen, für jedermann geltenden Voraussetzungen von diesen Notbefugnissen Gebrauch machen. Insoweit handelt er aber dann stets als Privatperson (anlässlich hoheitlicher Tätigkeit) und übt keine staatliche Funktion aus. Besondere Einschränkungen, insbesondere für Polizeibeamte bestehen nicht, da der Entschluß des staatlichen Vollzugsorgans, Notwehr zu üben oder Nothilfe zu leisten, sein ganz persönlicher Entschluß ist, und der Vollzugsbeamte ausschließlich als Privatperson tätig wird, so daß Vorschriften, die ihn in seiner Eigenschaft als staatliches Organ betreffen, sowie typische Berufspflichten außer Betracht bleiben müssen.“141

Man muss aber gar nicht unbedingt den Notstands- bzw. Nothilfe leistenden Amtsträger als Privatperson ansehen, um ihn von einer verstärkten Bindung an das Verfassungsrecht freizustellen. So kann man auch dann, wenn man das auf 138 Vgl. Jerouschek/Kölbel, Folter von Staats wegen?, JZ 2003, 613, 619: „Allerdings muss sich eine solche [das Notwehrrecht durch verfassungsrechtliche Wertungen einschränkende] Argumentation wiederum fragen lassen, worin denn die dogmatische Basis dafür liege, die nach § 32 StGB inter privatos bestehenden Befugnisse derartig strikt an das Verfassungsrecht anzubinden und den Rechtfertigungsausschluss grundrechtsdogmatisch zu determinieren.“ 139 Vgl. etwa Bockelmann, Notrechtsbefugnisse der Polizei, in: FS Dreher, S. 235, 249 f.; Spendel, in: LK StGB, § 32 Rn. 259; Maurach/Zipf, AT 1, § 26 Rn. 31; Jescheck/Weigend, AT, § 32 V. 140 Vgl. Kinnen, Notwehr und Nothilfe als Grundlagen hoheitlicher Gewaltanwendung, MDR 1974, 631, 633 f.; Rupprecht, Die tödliche Abwehr des Angriffs auf menschliches Leben, JZ 1973, 263, 265. 141 Kinnen, Notwehr und Nothilfe als Grundlagen hoheitlicher Gewaltanwendung, MDR 1974, 631, 634.

B. Tatbestandliche Voraussetzungen der Rechtfertigungsgründe

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§§ 32, 34 StGB gestützte Handeln eines Amtsträgers als hoheitlich charakterisiert, zu dem Ergebnis kommen, dass die Notwehrbefugnis des Amtsträgers nicht in stärkerer Weise an das Verfassungsrecht angebunden werden darf als die des Privatmannes. Als Argument hierfür wird vorgebracht, dass es kein Bürger verstehen würde, wenn ihm der herbeigerufene Polizist weniger Beistand leisten dürfe als ein Privatmann: Es sei „nicht einzusehen, dass dem Polizisten in der amtlichen Rolle versagt sein soll, was man dem Jedermann und unter anderen (privaten) Umständen auch ihm selbst erlaubt.“142 Die These, dass die hoheitliche Nothilfebefugnis nicht hinter der Privater zurückbleiben dürfe, wird teilweise auch philosophisch untermauert. So verweist Fahl auf das Konzept des Gesellschaftsvertrags:143 Von den Anhängern dieser Idee ist – so Fahl – stets hervorgehoben worden, dass der Zusammenschluss unter dem Dach des Rechts nötig ist, um die Rechtsgüter des Menschen besser zu schützen und die Mängel des „Naturzustandes“, der durch die Unsicherheit der Rechtsbestimmung und Rechtsdurchsetzung geprägt ist, zu überwinden.144 Der „rechtliche“ Zustand nimmt den Bürger zwar die Möglichkeit, Gewalt anzuwenden; diese wird aber im Gegenzug beim Staat monopolisiert, weil dieser über effektivere Möglichkeiten verfügt, den Bürger zu schützen. Wenn aber der Staat den Bürger nicht mehr ausreichend Schutz gewähren kann, so gilt dieser Gesellschaftsvertrag nicht mehr; der Einzelne ist in diesem Fall wieder in den „Naturzustand“ zurückgeworfen.145 Um diese Rückkehr zum „Naturzustand“, den niemand wollen kann,146 zu verhindern, muss der Staat in der Lage sein, den Bürger auf effektive Weise zu schützen. Wenn aber hoheitliche Nothilfe im Umfang hinter privater Nothilfe zurückbleibt, ist dieser Schutz nicht mehr ausreichend gewährt.147

c) Was ist nun von der Behauptung, kein Bürger würde es einsehen, wenn ihm der herbeigerufene Polizist weniger Beistand leisten dürfe als der Nachbar, zu halten? – Diese These weist nur auf den ersten Blick auf einen Widerspruch hin. Denn die grundsätzliche Subsidiarität privater Notwehr im Verhältnis zu 142 143

Jerouschek/Kölbel, Folter von Staats wegen?, JZ 2003, 613, 620. Fahl, Angewandte Rechtsphilosophie – „Darf der Staat foltern?“, JR 2004, 182,

189. 144 Differenzierter zur Bedeutung von Gesellschaftsvertrag/Zusammenschluss gegenüber dem „Naturzustand“ bei den verschiedenen Naturrechtstheoretikern zuletzt Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, S. 19 ff. 145 So Fahl, Angewandte Rechtsphilosophie – „Darf der Staat foltern?“, JR 2004, 182, 189 unter Hinweis auf Kant: „Daher kann mir der Staat gebieten, weil er mir Schutz gibt. Er verbietet mir Gewalt, weil er mir verspricht, mich gegen Gewalt sicher zu stellen“. Dies gelte aber nur, solange der Schutz durch den Staat funktioniere. Kant: „Wenn der Staat mich [. . .] nicht verteidigen kann, so kann er mir auch nichts befehlen.“ 146 Fahl, Angewandte Rechtsphilosophie – „Darf der Staat foltern?“, JR 2004, 182, 189 verweist in diesem Zusammenhang auf Russland, wo die Sicherheit faktisch allein in privaten Händen liegt. 147 Vgl. Fahl, Angewandte Rechtsphilosophie – „Darf der Staat foltern?“, JR 2004, 182, 189: „Anstatt zu beten, dass die Entführer gefasst werden, muss das Entführungsopfer inständig hoffen, dass seine Verwandten seine Peiniger in die Finger bekämen.“

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2. Teil: Rechtfertigung aufgrund strafrechtlicher Erlaubnisnormen

hoheitlicher Gefahrenabwehr hat zur Folge, dass der Vorrang staatlicher Verfahren auch die Notrechte Privater erheblich einschränkt: „Wo ein Amtsträger eine an rechtlichen Maßstäben orientierte Entscheidung über den Umgang mit der Gefahr getroffen hat, dort ist für privates Tätigwerden grundsätzlich kein Raum mehr. Der soeben erwähnte Nachbar darf nach dem Hinzukommen des Polizisten also nicht etwa mehr tun als dieser, sondern er darf in der Regel überhaupt nichts (mehr) tun.“148 Aber auch die Auffassung, die im Falle einer Berufung auf die strafrechtlichen Notrechte von einer Verwandlung des Amtsträgers in eine Privatperson ausgeht, ist nicht haltbar. Denn „für die Beurteilung des Verhaltens eines Amtsträgers als hoheitlich oder nicht-hoheitlich ist die Zurechnung des Handelns zur öffentlichen Gewalt entscheidend, nicht aber seine (vorgebliche) Legitimation.“149 Und der Polizeibeamte handelt, auch wenn er seine Befugnisse überschreitet, gleichwohl im Rahmen seiner polizeilichen Aufgabe, der Gefahrenabwehr – also in dienstlicher Angelegenheit.150 Zu Recht stellt Spendel fest, dass es eine reine Fiktion sei, den im Polizeieinsatz stehenden Beamten, sobald dieser über seine hoheitlichen Befugnisse hinausgeht, seiner dienstlichen Stellung zu entkleiden und als Privatmann auftreten zu lassen151 – ganz abgesehen von den praktischen Problemen, die eine solche Sicht bereitet.152 148

Pawlik, Der rechtfertigende Notstand, S. 195 f. Pawlik, Der rechtfertigende Notstand, S. 189 Fn. 39 [Hervorhebungen im Original]. Zu Recht stellt auch Schwabe, Zur Geltung von Rechtfertigungsgründen des StGB für Hoheitshandeln, NJW 1977, 1902, 1903 fest, die Ansicht, dass hoheitliches Handeln seine Qualifizierung als öffentlichrechtliche Tätigkeit verliert, sobald es sich nicht mehr rechtfertigen lässt, sei eine Fehlvorstellung früherer Zeiten. 150 Zum hoheitlichen Charakter des polizeilichen Todesschusses prononciert Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluss, S. 5: „Nach allen je zur Abgrenzung von Privatem und Öffentlichem Recht vertretenen Theorien handelt es sich bei dem von einem Polizeibeamten im Dienst abgegebenen tödlichen Rettungsschuß um die hoheitliche Tätigkeit par excellence.“ [Hervorhebungen im Original]. 151 Spendel, in: LK StGB, § 32 Rn. 271. Vgl. auch Schwabe, Zur Geltung von Rechtfertigungsgründen des StGB für Hoheitshandeln, NJW 1977, 1902, 1903: „Die Vorstellung, im rasend schnellen Ablauf eines Schußwechsels könne ein Polizist abwechselnd als Hoheitsträger und – obzwar im Einsatz, in Uniform und mit Dienstpistole – als Privatmann handeln, wobei diese wundersame Verwandlung in Sekundenbruchteilen mehrfach erfolgen kann, sich dies aber oft erst nach einer umfangreichen Beweisaufnahme feststellen lässt (lag ein ,Verbrechen‘ vor?), setzt uns Juristen zu Recht dem Spott der Umwelt aus.“ 152 Vgl. hierzu Schwabe, Zur Geltung von Rechtfertigungsgründen des StGB für Hoheitshandeln, NJW 1977, 1902, 1903, der die Frage aufwirft, ob ein Polizist Ansprüche aus den beamtenrechtlichen Versorgungsbestimmungen in gleichem Umfang wie als hoheitlich Handelnder geltend machen kann, wenn er zwar im Polizeieinsatz, aber unter Rückgriff auf die §§ 32, 34 StGB als Privatmann agierend, verletzt wird. Oder ob der Bürger, wenn er den Ersatz von Schäden geltend macht, im Falle des als Privatmann handelnden Polizisten Ansprüche gegen den Staat nach Art. 34 GG, § 839 BGB richten kann oder er sich allein am Polizisten schadlos halten muss. Dies hätte zur Folge, dass der Bürger gerade dann, wenn der Amtsträger seine Befugnisse über149

B. Tatbestandliche Voraussetzungen der Rechtfertigungsgründe

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Lässt sich damit die Nichtanbindung der Nothilfebefugnis eines Amtsträgers an das Verfassungsrecht nicht über dessen Stellung als Privatperson begründen, so sprechen aber materielle Erwägungen für die grundsätzliche Unbeachtlichkeit verfassungsrechtlicher Wertungen auch bei hoheitlicher Nothilfe. Denn es handelt sich bei dem Verhältnis Staat – Angreifer (in der Rolle als Störer im polizeirechtlichen Sinn) und dem für die Strafbarkeit maßgeblichen Verhältnis Amtsträger (in der Rolle als Notwehrtäter) – Angreifer um völlig verschiedene Rechtsbeziehungen:153 Bei der hier vorzunehmenden strafrechtlichen Beurteilung geht es allein um die persönliche Verantwortlichkeit des Beamten und nicht um die Rechtmäßigkeit des behördlichen Eingriffs, welcher sich – wie gezeigt154 – allein nach dem Verwaltungsrecht und nicht nach den §§ 32, 34 StGB bestimmt. Wenn es aber nicht die Aufgabe des Strafrechts ist, über die öffentlichrechtliche Zulässigkeit des Eingriffs zu entscheiden, so ist nicht einzusehen, eine strafrechtliche Rechtfertigung des Amtsträgers von öffentlichrechtlichen und damit auch verfassungsrechtlichen Vorgaben abhängig zu machen.155 Als Folge hieraus kann beispielsweise die Tötung eines mit der Beute fliehenden Einbrechers polizeirechtswidrig sein und disziplinarrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen,156 während sie aus strafrechtlicher Sicht gerechtfertigt ist, da die auf § 32 StGB gestützte Notwehrhandlung des Polizisten nicht den Voraussetzungen eines Eingriffs in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG – insbesondere nicht den Anforderungen der Verhältnismäßigkeitsprüfung i. e. S. – entsprechen muss. d) Eine Ausnahme von der grundsätzlichen Unabhängigkeit der strafrechtlichen Rechtfertigung eines Amtsträgers von verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen könnte aber für Nothilfehandlungen gelten, die – wie der Einsatz der Gewaltanwendung zur Informationsgewinnung – die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG berühren. Denn der Menschenwürdesatz unterscheidet sich von anderen Grundrechten dadurch, dass er eine nicht auf den Staat beschränkte Verbindlichkeit aufweist.157 Diese Allgemeinverbindlichkeit des Art. 1 Abs. 1 GG zeigt sich in erster Linie darin, dass in Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG der schreitet, wegen fehlender Staatshaftung schlechter stünde, obwohl ihm gerade in einer solchen Situation objektives staatliches Unrecht widerfährt. Und zuletzt müsste auch ein Verwaltungsgericht in einem solchen Fall eine Klage auf Feststellung der Rechtswidrigkeit des Polizeihandelns als unzulässig abweisen, weil nur ein Privatmann gehandelt habe. Vgl. zur Kritik auch Jahn, Das Strafrecht des Staatsnotstandes, S. 275 ff. 153 Erb, Nothilfe durch Folter, Jura 2005, 24, 29. 154 Vgl. oben Erster Teil C. II. 155 Ebenso spielt Art. 2 Abs. 2 lit. a EMRK für die strafrechtliche Rechtfertigung eines Nothilfe leistenden Amtsträgers keine Rolle. Für eine Geltung des Art. 2 Abs. 2 lit. a EMRK bei staatlicher Nothilfe aber Jescheck/Weigend, AT, § 32 V. 156 Nach Art. 66 Abs. 2 Satz 2 BayPAG ist ein mit Sicherheit tödlich wirkender Schuss nur zulässig zur Abwehr einer gegenwärtigen Lebensgefahr bzw. einer gegenwärtigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der körperlichen Unversehrtheit. 157 So Dreier, in: Dreier, GG I, Art. 1 I Rn. 137.

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2. Teil: Rechtfertigung aufgrund strafrechtlicher Erlaubnisnormen

Staat nicht nur zur Achtung, sondern explizit – und damit in Abweichung von sämtlichen anderen Grundrechten – auch zum Schutz der Menschenwürde verpflichtet wird. Die in Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG normierte Schutzpflicht158 verlangt damit staatliche Vorkehrungen, die sicherstellen, dass auch einem Privatmann die Herbeiführung einer Aussage mittels Anwendung von Zwangsmitteln nur unter Berücksichtigung der Grenzen des Art. 1 Abs. 1 GG erlaubt ist.159 Ein wirksamer Schutz wird sich diesbezüglich nur über das Strafrecht herstellen lassen, indem eine über das zulässige Maß hinausgehende nichthoheitliche Rettungsfolter als nicht geboten i. S. d. § 32 Abs. 1 StGB behandelt wird.160

158 Teilweise wird die Bindung privater Notwehr an Art. 1 Abs. 1 GG nicht aus der Schutzpflichtdimension, sondern aus der unmittelbaren Drittwirkung dieser Norm abgeleitet; vgl. z. B. Hecker, Relativierung des Folterverbots in der BRD?, KJ 2003, 210, 214 Fn. 19. Allerdings käme der unmittelbaren Drittwirkung des Art. 1 Abs. 1 GG (wie auch jeden anderen Grundrechts) nur bei Fällen, in denen Rechtspositionen ohne Beteiligung des Staates durchgesetzt werden könnten, eine über den Umfang der Schutzpflicht hinausgehende praktische Bedeutung zu, da mit jedem staatlichen Einschreiten die Allgemeinverbindlichkeit des Art. 1 Abs. 1 GG bereits über die Schutzpflichtfunktion sichergestellt wird. Wegen des Gewaltmonopols des Staates ist aber eine Durchsetzung privater Rechtspositionen ohne Hilfe von Exekutive, Legislative oder Judikative nicht denkbar. Dies bedeutet, dass das Abwehrrecht gegenüber menschenwürdeverletzenden Handlungen Dritter stets staatsgerichtet ist: „Es wird zum Recht auf staatlichen Schutz vor Eingriffen Dritter. Die ,Drittwirkung‘ der Menschenwürde ist eine mittelbare Konsequenz der Schutzpflicht des Staates [. . .], nicht umgekehrt.“ So Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 95. – Ähnlich wohl Dreier, in: Dreier, GG I, Vorb. Rn. 100, der es für nicht ausgeschlossen hält, alle Drittwirkungsfragen entweder abwehrrechtlich oder schutzrechtlich zu konstruieren: So lasse sich auch die dem Lüth-Urteil (BVerfGE 7, 198) zugrunde liegende Konstellation, Ausgangspunkt der Lehre von der mittelbaren Drittwirkung in der Rechtsprechung, als abwehrrechtliche Fallgestaltung konstruieren: Das aus der zwingenden Norm des § 826 BGB abgeleitete Verbot des Boykottaufrufs stelle sich als rechtfertigungsbedürftiger Eingriff in die Meinungsfreiheit dar. – Vgl. zur engen Beziehung zwischen Drittwirkung und Schutzpflicht auch Maurer, Staatsrecht I, § 9 Rn. 40: „Der Rückgriff auf die Grundrechte und ihre Ausstrahlungswirkung wird in der Regel dann aktuell, wenn es um den Schutz des Schwächeren geht. Das zeigt zugleich den engen Zusammenhang zwischen der Drittwirkung der Grundrechte und der grundrechtlichen Schutzpflicht.“ 159 Dass die Beurteilung der Gebotenheit der Nothilfehandlung nur im Falle von Art. 1 Abs. 1 GG von verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen determiniert ist, im Übrigen aber die Grundrechte für die Bewertung der im Rahmen des § 32 StGB zulässigen Verteidigung nicht relevant sind, weist Parallelen zu einer Fragestellung aus dem Strafprozessrecht auf: Auch rechtswidrig erlangte Beweismittel von Privatpersonen sind hier nach ganz h. M. grundsätzlich verwertbar, solange ihre Erlangung nicht in eklatanter Weise gegen die Menschenwürde verstößt; vgl. Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 479; Meyer-Goßner, StPO, § 136a Rn. 3; vgl. auch BGHSt 44, 129. 160 So auch Perron, Folter in Notwehr?, in: FS Weber, S. 143, 152; im Ergebnis wie hier auch Jahn, Das Strafrecht des Staatsnotstandes, S. 305; a. A. aber Fahl, Angewandte Rechtsphilosophie – „Darf der Staat foltern?“, JR 2004, 182, 187 und Jerouschek/Kölbel, Folter von Staats wegen?, JZ 2003, 613, 619: „Einesteils muss der Staat seine Bürger zwar vor nichthoheitlicher Folter schützen, doch dass dies von Verfassungs wegen nur durch Strafrecht geschehen kann, lässt sich füglich bezweifeln.“

B. Tatbestandliche Voraussetzungen der Rechtfertigungsgründe

129

Ist damit eine Rechtfertigung nach § 32 StGB auch bei der Nothilfe Privater von Art. 1 Abs. 1 GG determiniert, so kann hinsichtlich des Strafbarkeitsausschlusses eines Nothilfe leistenden Amtsträgers nichts anderes gelten: Auch hier wirkt sich die Allgemeinverbindlichkeit des Art. 1 Abs. 1 GG auf die grundsätzliche Unabhängigkeit der strafrechtlichen Rechtfertigung eines Amtsträgers von verfassungsrechtlichen Vorgaben aus und hebt die Autonomie der strafrechtlichen Rechtfertigung vom öffentlichen Recht in diesem Bereich auf. Für die Beurteilung einer möglichen Rechtfertigung der Rettungsfolter kommt es daher maßgeblich auf die Grenzen an, die Art. 1 Abs. 1 GG der Gewaltanwendung zur Herbeiführung einer Aussage zieht. Diese verfassungsrechtlichen Grenzen werden – wie einleitend bereits angekündigt – in einem eigenen Abschnitt näher untersucht.161 e) Teilweise wird hingegen die Zulässigkeit hoheitlicher Notwehr nicht nur im Falle des Art. 1 Abs. 1 GG, sondern – unter Berufung auf das dem Notwehrgedanken zugrunde liegenden Rechtsbewährungsprinzip – generell unter den Vorbehalt der Vereinbarkeit mit übergeordneten Verfassungsgrundsätzen gestellt.162 Dabei bleibt allerdings häufig unklar, wie weit eine derartige Anbindung an das Verfassungsrecht gehen soll. Die Begrenzung des Notwehrrechts eines Amtsträgers mit dem Verweis auf das Rechtsbewährungsprinzip dürfte bei konsequenter Auslegung eine Verteidigung nur dann zulassen, wenn das Handeln des Amtsträgers von einer hoheitlichen Eingriffsbefugnis gedeckt ist. Denn das Rechtsbewährungsprinzip will eine Verteidigung nur im Rahmen der Rechtsordnung gestatten, zu dem aber gerade auch gehört, dass ein Amtsträger nur dann in die Rechtsphäre des Bürgers eingreifen darf, wenn er durch eine spezielle Eingriffsbefugnis legitimiert wird (Vorbehalt des Gesetzes). Eine solche Sicht muss sich dann aber fragen lassen, warum sie die strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe überhaupt für hoheitliches Handeln öffnet. Denn wo liegt, wenn man die strafrechtliche Rechtfertigung nach § 32 StGB unter Verweis auf das Rechtsbewährungsprinzip generell von öffentlichrechtlichen Vorgaben abhängig macht, der verbleibende Anwendungsbereich dieser Norm? Ein Unterschied zur polizeirechtlichen Lösung besteht dann jedenfalls nicht mehr. Aber auch, wenn man über die Anbindung an die Grundrechte die Verteidigungshandlung des Amtsträgers lediglich allgemein dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz unterwerfen will, besteht letztlich kein großer Unterschied zur polizeirechtlichen Lösung. Zwar ist die Verhältnismäßigkeit nur erforderliche, nicht aber hinreichende Bedingung für die öffentlichrechtliche Rechtmäßigkeit eines 161

Vgl. unten C. I. So Norouzi, Folter in Nothilfe – geboten?!, JA 2005, 306, 309, der den Polizisten als Teil der ausführenden und den Grundrechten verpflichtenden Staatsgewalt (Art. 1 Abs. 3 GG) bei Nothilfehandlungen offenbar generell und nicht nur im Falle des Art. 1 Abs. 1 GG an die Gewährleistungen des Grundgesetzes binden will; vgl. auch Kudlich, Anmerkung zu LG Frankfurt a. M. NJW 2005, 692, JuS 2005, 376, 379 Fn. 10. 162

130

2. Teil: Rechtfertigung aufgrund strafrechtlicher Erlaubnisnormen

Eingriffs, da hierfür außer der Verhältnismäßigkeit eine dieses Vorgehen deckende Ermächtigungsnorm erforderlich ist. Diese könnte im Polizeirecht fehlen, während die Verteidigungshandlung die Voraussetzungen des § 32 StGB erfüllt. Da aber zumindest die polizeirechtliche Generalklausel wegen ihres weiten Wortlauts in der Regel auch alle Handlungen decken dürfte, die von § 32 StGB erlaubt werden könnten, würde in beiden Fällen eine allgemeine Verhältnismäßigkeitsprüfung zum letztentscheidenden Maßstab. f) Gegen eine Anbindung des Notwehrrechts auch nur an Art. 1 Abs. 1 GG hat sich jüngst mit gewichtigen Argumenten Erb ausgesprochen. Er verweist darauf, dass eine Versagung des Notwehrrechts im Hinblick auf Art. 1 Abs. 1 GG einen Verzicht auf eine effektive Gegenwehr gegen existentielle Bedrohungen des Lebens und der Menschenwürde des Angegriffenen darstellt und damit mit den herkömmlichen Fallgruppen der sozialethischen Einschränkungen, in er es lediglich um eine Abmilderung der Schärfe des Notwehrrechts geht, nichts zu tun habe.163 Durch die Pflicht zur widerstandslosen Hinnahme einer rechtswidrigen Vernichtung der physischen Existenz des Angegriffenen sei der naturrechtliche Kern des Notwehrrechts betroffen.164 Des Weiteren entspreche auch die Einschätzung, wonach eine Missachtung der Menschenwürde schwerer wiege als alles andere, was man Menschen antun kann, außerhalb der Beziehung Staat – Bürger nicht der Realität unserer Rechtsordnung: Obwohl die Menschen auch untereinander verpflichtet seien, die Würde des anderen zu respektieren, und der Staat nach Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG dazu verpflichtet sei, auf die gegenseitige Achtung der Würde hinzuwirken, beanspruche diese Pflicht für den Einzelnen ganz offensichtlich nicht die gleiche Absolutheit wie für die öffentliche Hand. So käme niemand auf die Idee, etwa für die Abnötigung einer Information durch vis compulsiva gegen eine Person einen höheren Strafrahmen zu verlangen als für die Begehung eines Mordes. Dies müsste aber geschehen, wenn der Respekt vor dem Leben dem Respekt vor der Würde auch dort nachgeordnet wäre, wo nicht die Staatstätigkeit, sondern das Verhalten eines Individuums zu beurteilen ist.165 Kann dann – so Erb – „für die Annahme, der Einzelne müsse bei der Ausübung des Notwehrrechts dem rechtswidrig angegriffenen (!) Leben eines Menschen einen geringeren Stellenwert beimessen als dem Verbot, einen anderen durch körperliche Gewalt zur Preisgabe von Informationen zu zwingen, vor diesem Hintergrund etwas anderes gelten?“166 – Hierzu ist Folgendes zu sagen: Auch wenn Erb zuzustimmen ist, dass eine völlige Versagung des Notwehrrechts in der vorliegenden Situation den naturrechtlichen Kern des Notwehrrechts berührt und deshalb abzulehnen ist, so ist es zur Vermeidung dieses Ergebnisses keineswegs erforderlich, die Verteidigungshandlung des Amtsträgers gänzlich von einer Bindung an Art. 1 Abs. 1 GG freizustellen. Denn auch der Rückgriff auf Art. 1 Abs. 1 GG im Rahmen der Gebotenheitsprüfung schließt eine Rechtfertigung des Amtsträgers nicht zwangsläufig aus, wenn man – wie im Folgenden näher dargestellt – den Menschenwürdesatz einer Abwägung für zugänglich hält.167

163 164 165 166

Erb, Erb, Erb, Erb,

Nothilfe Nothilfe Nothilfe Nothilfe

durch durch durch durch

Folter, Folter, Folter, Folter,

Jura Jura Jura Jura

2005, 2005, 2005, 2005,

24, 24, 24, 24,

26. 27. 26 f. 27.

B. Tatbestandliche Voraussetzungen der Rechtfertigungsgründe

131

III. Rechtfertigender Notstand Eine Rechtfertigung des Amtsträgers kann sich aber nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Nothilfe, sondern auch auf Grundlage des rechtfertigenden Notstands (§ 34 StGB) ergeben. § 34 StGB kann zwar neben § 32 StGB zur Anwendung kommen, wenn die Tatbestandsvoraussetzungen beider Rechtfertigungsgründe vorliegen.168 Da § 32 StGB aber wegen des Verzichts auf eine Güterabwägung regelmäßig weitreichendere Verteidigungsmaßnahmen erlaubt als § 34 StGB und damit der Rückgriff auf § 34 StGB in diesen Fällen für eine Rechtfertigung des Amtsträgers nicht konstitutiv ist, sind die Fälle von größerer Bedeutung, bei denen man eine Notwehr ablehnen muss, weil etwa der Angriff noch nicht „gegenwärtig“ i. S. d. § 32 StGB ist (1) oder in Rechtsgüter eines Unbeteiligten eingegriffen wird (2). Die Ablehnung der Notwehr in diesen Konstellationen findet ihren Grund darin, dass hier das für § 32 StGB konstitutive Rechtsbewährungsprinzip, wonach das Recht dem Unrecht nicht zu weichen braucht, (noch) keine Geltung beansprucht. Da aber die Rechtsbewährung keine Voraussetzung des § 34 StGB ist, ist es möglich, diese Sachverhalte daraufhin zu untersuchen, ob hier die größerer Differenzierung zugänglichen Abwehrmittel des § 34 StGB zugelassen werden können.169 (1) Als Beispiel für das Fehlen eines gegenwärtigen Angriffs nennt Jahn die ticking time bomb-Situation. Zwar könne – so Jahn – in einer solchen Konstellation ein gegenwärtiger Angriff vorliegen. Regelmäßig werde es sich aber um Gefahren handeln, bei denen der genaue Zeitpunkt des Schadenseintritts noch ungewiss ist. Damit sei baldiges, nicht aber sofortiges Handeln geboten. Diese Dauergefahr falle nur in den Anwendungsbereich der Notstandsvorschrift des § 34 StGB, nicht aber in den von § 32 StGB.170 (2) Die Notwendigkeit eines Eingriffs in Rechtsgüter eines Unbeteiligten kann sich etwa in einer Situation ergeben, in der der Täter seiner Freundin nach der Tat den Aufenthaltsort des Entführungsopfers nennt. Gegen die Freundin käme hier – sollte sie nicht freiwillig Auskunft über den Aufenthaltsort geben – eine Rechtfertigung der Rettungsfolter von vornherein nur nach § 34 StGB in Betracht, da von ihr kein Angriff i. S. d. § 32 StGB ausgeht; das Unterlassen der Nennung des Aufenthaltsortes erfüllt – da die Freundin nicht als Garant für das Leben des Entführungsopfers einzustehen hat – allenfalls den Tatbestand eines echten Unterlassungsdelikts. Ein echtes Unterlassen stellt aber im Gegensatz zum unechten Unterlassen keinen Angriff auf ein Rechtsgut i. S. d. § 32 StGB dar.171

167

Vgl. hierzu unten C. I. 2. a) ee). Vgl. Roxin, AT 1, § 14 Rn. 50. 169 Roxin, AT 1, § 14 Rn. 50. 170 Jahn, Das Strafrecht des Staatsnotstandes, S. 249 f. 171 Vgl. Fn. 99. Vgl. auch den ähnlichen Fall bei Kudlich, PdW AT, S. 84 (Fall 103), der ebenfalls nur eine Rechtfertigung nach § 34 StGB für denkbar hält. 168

132

2. Teil: Rechtfertigung aufgrund strafrechtlicher Erlaubnisnormen

Auch wenn in beiden aufgeführten Konstellationen eine Notstandslage vorliegt, wird hier letztendlich eine Rechtfertigung nach § 34 StGB zu verneinen sein: Die zwangsweise Herbeiführung einer Aussage wird man wegen des damit verbundenen Grundrechtseingriffs in Art. 1 Abs. 1 GG nur für erforderlich halten können, wenn sich die Situation derartig zugespitzt hat, dass keine anderen Mittel mehr zur Verfügung stehen als die Gewaltandrohung als Ultima Ratio. Die Gefahr muss also zum Angriff auf das Opferleben angewachsen sein, bevor die Maßnahme erforderlich erscheint.172 Die fehlende Gegenwärtigkeit des Angriffs bedeutet damit im Falle der Rettungsfolter immer den Ausschluss einer Rechtfertigung nach § 32 StGB und § 34 StGB. Im Falle eines Eingriffs in Rechtsgüter eines Unbeteiligten wird man angesichts der fehlenden Verantwortlichkeit des Eingriffsopfers für das Entstehen der Gefahr ein Überwiegen des Lebensrechts der von einem Dritten bedrohten Person aufgrund der hervorgehobenen Stellung des Art. 1 Abs. 1 GG wohl kaum annehmen können.173 Dagegen erscheint eine Rechtfertigung der Zwangsanwendung gegen den Verantwortlichen nach § 34 StGB grundsätzlich möglich. Dies deshalb, weil sich die Verantwortlichkeit des Adressaten der Notstandshandlung für die Entstehung der Gefahr auf die Abwägung der widerstreitenden Interessen auswirkt: Während im Normalfall des aggressiven Notstandes zur Rechtfertigung nach § 34 StGB ein wesentliches Überwiegen des geschützten gegenüber dem beeinträchtigten Interesse verlangt wird, führt der Defensivnotstand, bei dem sich der Notstandstäter gegen eine vom Opfer der Notstandshandlung ausgehende Gefahr wehrt, zu einer Anforderungssenkung hinsichtlich der Notstandshandlung. So wird in Teilen der Lehre vertreten, dass in Fällen des durch Menschen ausgelösten Defensivnotstandes nicht der Abwägungsmaßstab des § 34 Satz 1 StGB, sondern des § 228 BGB heranzuziehen sei.174 Dieser fordert für eine Rechtfertigung nicht mehr ein wesentliches Überwiegen des geschützten gegenüber dem beeinträchtigtem Interesse, sondern lediglich, dass der angerichtete Schaden „nicht außer Verhältnis“ zu der drohenden Gefahr stehen dürfe. Unabhängig davon, ob man Fälle des Defensivnotstandes über eine analoge Anwendung des § 228 BGB zu lösen versucht, oder die Regelung des § 34 StGB auch zur Lösung dieser Konstellation für sachgerecht und ausreichend hält,175 besteht 172 So Jerouschek, Gefahrenabwendungsfolter – Rechtsstaatliches Tabu oder polizeirechtlich legitimierter Zwangseinsatz?, JuS 2005, 296, 302. 173 So auch Wittreck, Menschenwürde und Folterverbot, DÖV 2003, 873, 876. 174 Hruschka, Extrasystematische Rechtfertigungsgründe, in: FS Dreher, S. 189, 203 ff. 175 Roxin, AT 1, § 16 Rn. 66 weist zu Recht darauf hin, dass die Ansicht, die eine analoge Anwendung des § 228 BGB für Fälle des Defensivnotstandes in Betracht zieht, übersieht, dass § 34 Satz 1 StGB nicht ein wesentliches Überwiegen des geschützten Rechtsguts verlangt, sondern ein wesentliches Überwiegen des geschützten Interesses. Bereits die Begründung des E 1962 hat die Möglichkeit gesehen, „daß unter Umständen einmal ein Rechtsgut, das seinem absoluten Rang nach höherwertig ist,

B. Tatbestandliche Voraussetzungen der Rechtfertigungsgründe

133

Übereinstimmung darin, dass der defensive gegenüber dem aggressiven Notstand geringere Anforderungen an eine rechtmäßige Notstandshandlung stellt: „Der Umstand, der beim Defensivnotstand auch bei nicht wertvollerem Rechtsgut die Interessenabwägung vielfach zugunsten des Erhaltungsgutes ausfallen lässt, ist die Herkunft der Gefahr aus der Sphäre des Eingriffsgutes: Niemand braucht von außen auf ihn zukommende Bedrohungen [. . .] wehrlos hinnehmen; denn der Gefährdende hat kein Eingriffsrecht.“176 Freilich ist – wie bereits erwähnt – die Anwendung von § 34 StGB im Falle der Anwendung unmittelbaren Zwangs gegen den Entführer für eine Rechtfertigung des Amtsträgers nicht konstitutiv, da hier bereits der umfassendere Rechtfertigungsgrund des § 32 StGB eingreift. Bedeutsam wird der Rückgriff auf § 34 StGB im Falle der Rettungsfolter allerdings dann, wenn man – entgegen der Ansicht des Verfassers und der herrschenden Meinung – in dem Verschweigen des Aufenthaltsortes des Opfers keinen Angriff des Entführers i. S. d. § 32 StGB sieht.177

Innerhalb der Interessenabwägung des § 34 StGB spielt insbesondere das Wertgefälle der Rechtsgüter eine bedeutende Rolle.178 Hier wird teilweise ein Überwiegen des Lebensrettungszwecks gegenüber der Körperverletzung, die mit der zwangsweisen Herbeiführung einer Aussage einhergehen kann, angenommen.179 Außen vor bleiben bei einer derartigen Gegenüberstellung allerdings verfassungsrechtliche Vorgaben. Insbesondere die Tatsache, dass die Anwendung der Rettungsfolter eben nicht „nur“ eine Körperverletzung darstellt, sondern auch den Menschenwürdesatz des Art. 1 Abs. 1 GG berührt, kann bei der Bestimmung des Wertgefälles der Rechtsgüter nicht unberücksichtigt bleiben. So führt Roxin am Beispiel der zwangsweisen Blutentnahme – die zunächst auch einmal „nur“ eine Körperverletzung darstellt – zutreffend aus: „Und wenn eine zwangsweise Blutentnahme zur Rettung eines Menschenlebens gegen die Menschenwürde verstößt, wie die h. M. – freilich zu Unrecht – behauptet, kann man auch das Interesse an der Blutentnahme nicht als wesentlich überwiegend ansehen; denn selbstverständlich dürfen die widerstreitenden Interessen nur unter Respektierung der Menschenwürde abgewogen werden.“180 Die Abwägung gegenüber einem – absolut betrachtet – geringerwertigeren Gut dann zurücktritt, wenn das Interesse, das letztere zu schützen, nach den Besonderheiten des einzelnen Falles gegenüber dem Interesse, das andere unbeeinträchtigt zu lassen, wesentlich überwiegt.“ Vgl. BT-Drucks. 4/650, S. 159. Damit können aber auch die Fälle des Defensivnotstandes durch Anwendung des § 34 StGB gelöst werden; einen Rückgriff auf § 228 BGB mit seinen gegenüber § 34 StGB modifizierten Abwägungsanforderungen bedarf es hierbei nicht. 176 Roxin, AT 1, § 16 Rn. 66. 177 Vgl. hierzu oben Zweiter Teil B. II. 1. 178 Roxin, AT 1, § 16 Rn. 66. 179 Jerouschek/Kölbel, Folter von Staats wegen?, JZ 2003, 613, 620. 180 Roxin, AT 1, § 16 Rn. 81. – Von einer verbreiteten Ansicht wird die Menschenwürde dagegen erst über die Angemessenheitsklausel des § 34 Abs. 2 StGB in die Notstandsprüfung einbezogen; vgl. z. B. Neumann, in: NK StGB, § 34 Rn. 118; Lenck-

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2. Teil: Rechtfertigung aufgrund strafrechtlicher Erlaubnisnormen

Körperverletzung auf der einen und Lebensrettung auf der anderen Seite greift also zu kurz. Innerhalb der Interessenabwägung ist vielmehr auch die verfassungsrechtliche Positionen des Geiselnehmers, aber ebenso die des Entführungsopfers mit zu berücksichtigen. Nur nach einer auch das Verfassungsrecht zugrunde legenden Bewertung lässt sich der Rang der Rechtsgüter damit endgültig festlegen. Wie bei der Notwehr ist damit auch bei § 34 StGB eine Rechtfertigung des Amtsträgers von einer verfassungsrechtlichen Beurteilung der Rettungsfolter determiniert.

C. Höherrangige Vorgaben und Grenzen für die strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe Im vorangehenden Kapitel wurde dargelegt, dass eine Rechtfertigung des Amtsträgers bei der zwangsweisen Herbeiführung einer Aussage sowohl nach § 32 StGB als auch nach § 34 StGB von grundgesetzlichen Wertungen determiniert ist. Daher sind im Folgenden die Vorgaben, die das Grundgesetz hinsichtlich einer Rechtfertigungsmöglichkeit der Rettungsfolter aufstellt, näher zu untersuchen [vgl. sogleich I.]. Auch völkerrechtliche Gesichtspunkte können hierbei für die Auslegung des Grundgesetzes von Relevanz sein [vgl. unten II.].

I. Verfassungsrechtliche Vorgaben Bei einer die verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen berücksichtigenden Rechtfertigungsprüfung hängt die Beantwortung der Frage, ob die Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Herbeiführung einer Aussage aufgrund Notwehr bzw. rechtfertigenden Notstands gerechtfertigt sein kann, maßgeblich von der Interpretation des Art. 1 GG ab, der in diesem Zusammenhang eine Zentralstellung einnimmt: Die Anwendung von Folter tangiert nämlich den Schutzbereich des Art. 1 Abs. 1 GG.181 Bedeutsam für eine mögliche Rechtfertigung des handelnner/Perron, in: Schönke/Schröder, StGB, § 34 Rn. 41e; Ebel, Notwehrrecht der Polizei bei Vernehmungen (Befragungen) zum Zwecke der Gefahrenabwehr, Kriminalistik 1995, 825, 827. Diese Autoren sehen in der Angemessenheitsklausel damit eine selbständige zweite Wertungsstufe, die nach der Gesetzesbegründung gewährleisten soll, „daß das Verhalten des Notstandstäters auch nach den anerkannten Wertvorstellungen der Allgemeinheit als eine sachgemäße und dem Recht entsprechende Lösung der Konfliktlage erscheint.“ Vgl. BT-Drucks. 4/650, S. 159 f. Diese Sicht übersieht allerdings, dass schon im Rahmen des § 34 Satz 1 StGB die widerstreitenden Interessen nur unter Berücksichtigung der Wertvorstellungen der gesamten Rechtsordnung abgewogen werden können. Gegen eine Gesamtbetrachtung auch Pawlik, Der rechtfertigende Notstand, S. 129 ff. 181 Dreier, in: Dreier, GG I, Art. 1 I Rn. 139; Höfling, in: Sachs, GG, Art. 1 Rn. 20; Jarass/Pieroth, GG, Art. 1 Rn. 7; Zippelius, in: BK GG, Art. 1 Rn. 58; Podlech, in: AK GG, Art. 1 Rn. 73; Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 1 Rn. 71.

C. Höherrangige Vorgaben und Grenzen für die Rechtfertigungsgründe

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den Amtsträgers ist somit die Antwort auf die Frage, ob ein Eingriff in den Schutzbereich des Art. 1 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden kann. Da ebenso wie die Anwendung von Folter auch die Verabreichung eines „Wahrheitsserums“182 den Schutzbereich des Art. 1 Abs. 1 GG berührt,183 ergeben sich hinsichtlich der Zulässigkeit dieser verschiedenen Instrumente zur Informationsgewinnung aus verfassungsrechtlicher Sicht keine Unterschiede. Die folgenden Ausführungen treffen damit in gleichem Maße auch für die Zuführung einer Wahrheitsdroge an einen Tatverdächtigen zu.184

1. Die herrschende Meinung: Abwägungsfestigkeit der betroffenen Grundrechte a) Keine Rechtfertigungsmöglichkeit eines Eingriffs in die Menschenwürde Die Anwendung von Folter – auch im präventiven Bereich – tangiert den Schutzbereich des Art. 1 Abs. 1 GG sowie, wenn sie mit physischen Beeinträchtigungen einhergeht und damit als Maßnahme in den menschlichen Körper eingreift, den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Die herrschende Meinung geht nun davon aus, dass jeder Eingriff in die Menschenwürde gleichzeitig eine nicht zu rechtfertigende Würdeverletzung darstellt.185 Begründet wird diese Auffassung zunächst mit dem Wortlaut der „Unantastbarkeit“ der Menschenwürde. Poscher erwähnt, dass schon aus der sprachlichen Fassung die Menschenwürdegarantie als Tabu ausgestaltet wurde, da sie auf den sonst im Grundgesetz nicht erwähnten Begriff der „Unantastbarkeit“ zurückgreift und dieser Begriff den Übersetzungen des Tabubegriffs entspreche.186 Der aus dem polynesischen Tonga stammende Begriff „ta pu“ stelle den Gegenbegriff zu 182 Auch im Entführungsfall von Metzler wurde erwogen, mit Hilfe eines „Wahrheitsserums“ den Tatverdächtigen zur Preisgabe des Aufenthaltsortes des Opfers zu bewegen; vgl. das Interview mit Wolfgang Daschner, in: Der Spiegel Nr. 9/2003 vom 24.2.2003, S. 24. 183 Vgl. Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 45. 184 A. A. aber Fahl, Angewandte Rechtsphilosophie – „Darf der Staat foltern?“, JR 2004, 182, 190, der die Zulässigkeit der Verabreichung eines Wahrheitsserums nicht an Art. 1 Abs. 1 GG, sondern lediglich am Maßstab des Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG misst, und sie mit dieser Vorschrift für vereinbar hält, da die Zuführung einer Wahrheitsdroge keine Misshandlung festgehaltener Personen darstellt, wie sie von Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG verboten wird. Anders Wilhelm, Folter – verboten, erlaubt oder gar geboten?, Die Polizei 2003, 198, 203, der das Verabreichen einer Wahrheitsdroge wegen der durch sie erfolgende Beeinträchtigung der freien Willensbildung als seelische Misshandlung i. S. d. Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG bewertet. 185 Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 81 ff.; Kunig, in: von Münch/Kunig, GG I, Art. 1 Rn. 4; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 365; Höfling, in: Sachs, GG, Art. 1 Rn. 10. 186 Poscher, „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“, JZ 2004, 756, 758.

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2. Teil: Rechtfertigung aufgrund strafrechtlicher Erlaubnisnormen

„noa“, dem Gewöhnlichen, dar, und werde mit dem Außerordentlichen, dem Geheiligten, dem Gekennzeichneten, dem kräftig Markierten und dem Unantastbaren übersetzt.187 Aus dieser Anlehnung des Begriffs der „Unantastbarkeit“ an dem Tabubegriff folgert Poscher, dass die Menschenwürdegarantie nicht wie sonstige Rechtsnormen behandelt werden darf: „Die Menschenwürdegarantie enthält kein einfaches Unterlassungsgebot wie die anderen Grundrechte, das grundsätzlich einer Einschränkung durch zweckrationale Überlegungen zugänglich ist, sondern ein Tabu, dessen absolute Geltung keiner abwägungsdogmatischen Rechtfertigung unterliegt und ihrer als Regelungsform auch nicht bedarf.“188 Auch der besondere Schutz, der Art. 1 GG durch seine Aufnahme in die Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG zukommt, soll den Menschenwürdesatz einer verfassungsimmanenten Abwägung entziehen: Da Art. 1 GG nicht einmal bei einer Verfassungsänderung berührt werden dürfe, wäre eine Eingriffsrechtfertigung durch kollidierendes Verfassungsrecht nach Pieroth/Schlink nur denkbar, wenn die Menschenwürde mit ihrerseits durch Art. 79 Abs. 3 GG der Verfassungsänderung entzogenen Verfassungsgrundsätzen kollidiere.189 In der Deklarierung der Menschenwürde als den obersten Wert in der freiheitlichen Demokratie190 komme aber zum Ausdruck, dass die anderen von Art. 79 Abs. 3 GG erfassten Grundsätze gerade um der Menschenwürde willen bestehen. Sie kommen daher ebenfalls als Eingriffsrechtfertigung nicht in Betracht.191 b) Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG als absolute Schranken-Schranke des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG Auch das Recht auf körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG wird durch Folterhandlungen nach der herrschenden Meinung unzulässig eingeschränkt. Zwar steht Art. 2 Abs. 2 GG unter dem einfachen Gesetzesvorbehalt des Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG, so dass eine gesetzliche Schranke grundsätzlich vorstellbar wäre. Die spezielle Regelung des Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG,192 der die körperliche und seelische Misshandlung von festgehaltenen Personen verbietet, stellt aber nach der herrschenden Meinung auf der Ebene der Schranken-

187

Poscher, „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“, JZ 2004, 756, 758 f. Poscher, „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“, JZ 2004, 756, 762. 189 Vgl. Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 365. 190 Vgl. BVerfGE 5, 85, 204. 191 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 365. 192 Vgl. zu Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG, der in Zusammenhang mit der Frage der Zulässigkeit der Rettungsfolter meist nur am Rande behandelt wird, ausführlich Guckelberger, Zulässigkeit der Polizeifolter?, VBlBW 2004, 121, 122 ff. 188

C. Höherrangige Vorgaben und Grenzen für die Rechtfertigungsgründe

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Schranken193 ein abwägungsfestes und absolutes Verbot auf, dessen Missachtung sich grundsätzlich nicht im Wege einer Abwägung rechtfertigen lässt.194 Da Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG eine „Konkretisierung des Menschenwürdesatzes“195 darstellt, dürfte im Ergebnis zwischen Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG im Hinblick auf den Schutzumfang gegen Folterhandlungen kein Unterschied bestehen.196 Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG erfasst hierbei – ebenso wie von Art. 1 Abs. 1 GG – auch schon die Androhung von Folter,197 da die Schutzwirkung dieser Normen zu sehr eingeschränkt würde, wenn nur die tatsächliche Ausübung der Folter verboten würde: Lässt nämlich der Adressat bereits infolge der Folterdrohung seinen Willen brechen, so würden die Folterverbote ins Leere laufen und keinen ausreichenden Schutz der freien Willensbetätigung des Betroffenen mehr erwarten.198 Nach der herrschenden Meinung lassen damit weder Art. 1 Abs. 1 GG noch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG eine Ausnahme vom Folterverbot zu. Eine diesen verfassungsrechtlichen Befund berücksichtigende Rechtfertigungsprüfung müsste folglich eine Rechtfertigung des Amtsträgers nach den §§ 32, 34 StGB verneinen.

193

Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 399. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG III, Art. 104 Rn. 54; Podlech, in: AK GG, Art. 104 Rn. 40. Für die Möglichkeit einer Einschränkung des Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG kraft kollidierenden Verfassungsrechts aber Jerouschek/Kölbel, Folter von Staats wegen?, JZ 2003, 613, 615 Fn. 18, 617 und Herzberg, Folter und Menschenwürde, JZ 2005, 321, 326. Anders auch Miehe, Nochmals: Die Debatte über Ausnahmen vom Folterverbot, NJW 2003, 1219, 1220, der die Erzwingung einer Aussage bereits tatbestandlich nicht von Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG erfasst sieht, indem er das in Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG statuierte Verbot der Zwangsanwendung vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit Praktiken totalitärer Regime des 20. Jahrhunderts stärker an den Freiheitsentzug binden will: Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG verbietet dann – so Miehe – die Verschärfung der Einsperrung; er verbietet, aus der Freiheitsstrafe eine Leibesstrafe zu machen. Die Erzwingung einer Aussage falle damit, weil sie mit einem Freiheitsentzug in der Regel zu tun habe, nicht zwangsläufig in den Anwendungsbereich des Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG. 195 So Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG III, Art. 104 Rn. 54. 196 Vgl. Merten, Folterverbot und Grundrechtsdogmatik, JR 2003, 404, 406. Ähnlich Guckelberger, Zulässigkeit der Polizeifolter?, VBlBW 2004, 121, 124, die Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG im Lichte des Art. 1 Abs. 1 GG auslegen will und die Zulässigkeit einer Einschränkung des Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG an die Zulässigkeit einer Beschränkung des Art. 1 Abs. 1 GG knüpft. 197 So etwa Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG III, Art. 104 Rn. 55; Kinzig, Not kennt kein Gebot?, ZStW 115 (2003), 791, 803; Müller/Formann, Die opferschützende Folterandrohung, Die Polizei 2003, 313. 198 Müller/Formann, Die opferschützende Folterandrohung, Die Polizei 2003, 313. 194

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2. Teil: Rechtfertigung aufgrund strafrechtlicher Erlaubnisnormen

2. Abweichender Ansatz: Zur Relativierbarkeit des Menschenwürdesatzes a) Dogmatische Ansätze zur Begründung einer Relativierbarkeit des Art. 1 Abs. 1 GG In der Wissenschaft gibt es aber auch verschiedene Ansätze, die von einer Relativierbarkeit des Art. 1 Abs. 1 GG ausgehen und Interessen Dritter innerhalb einer Abwägung einbeziehen wollen. Auf Grundlage dieser Konzeptionen, die sich hinsichtlich Methodik und Begründung unterscheiden, wäre eine Rechtfertigung des Amtsträgers denkbar, wenn man der Würde bzw. dem Leben des Opfers Vorrang einräumt vor den Belangen des Entführers. aa) Herdegens Ansatz einer „normimmanenten Konkretisierung des Würdeanspruchs“ Herdegens Ansatz geht zwar formal nicht von einer Relativierbarkeit des Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG aus. Vielmehr vertritt Herdegen – im Einklang mit der herrschenden Meinung199 – die Auffassung, dass der Wortlaut des Art. 1 Abs. 1 GG einer Rechtfertigung für Eingriffe – ähnlich der bei anderen Grundrechten bekannten Güterabwägung aufgrund verfassungsimmanenter Schranken – keinen Raum lässt.200 Für Herdegen ist aber der Menschenwürdesatz durchaus für Abwägungen und Wertungen offen:201 Diese erfolgen nicht auf der Rechtfertigungsebene (was dem Absolutheitscharakter des Art. 1 Abs. 1 GG widersprechen würde), sondern innerhalb des Tatbestands des Art. 1 Abs. 1 GG: „Die gebotene Abwägung hat sich hier nicht auf der inter-normativen Ebene (Kollision) von Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu vollziehen, sondern ,normimmanent‘ bei der Konkretisierung des Würdeanspruchs.“202 Erst diesem konkretisierten Würdeanspruch komme dann absolute Geltung zu.203 Ausgangspunkt von Herdegens Ansatz ist die Feststellung, dass dem Begriff „Menschenwürde“ eine „wertend-bilanzierende Konkretisierung“204 von vornherein immanent ist. Eine abstrakte Definition einer Menschenwürdeverletzung – losgelöst vom Einzelfall und nur gestützt auf die Art und Weise der Behandlung – sei nur in seltenen Fällen und für schwerste Würdeverletzungen möglich.205 199

Vgl. die in Fn. 185 genannten Autoren. Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 69. 201 Daher ist es durchaus gerechtfertigt, Herdegens Begründungsansatz neben die übrigen Auffassungen, die von einer Relativierbarkeit des Menschenwürdesatzes ausgehen, zu stellen. 202 Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 45. 203 Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 69. 204 Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 43. 200

C. Höherrangige Vorgaben und Grenzen für die Rechtfertigungsgründe

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Dies zeigt sich deutlich an dem hier im Zentrum stehenden Problem der Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Erlangung einer Aussage. Während die herrschende Meinung die Rettungsfolter wegen eines nicht zu rechtfertigenden Eingriffs in die Grundrechte des Betroffenen aus Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG für unzulässig hält, ist unbestritten, dass die Anwendung körperlicher Gewalt in anderen Fällen präventiv-polizeilichen Handelns – man denke an die Auflösung einer nicht genehmigten Demonstration oder an das Wegtragen von an Bahnstrecken angeketteten Gegnern von Castor-Transporten bzw. im Bereich repressiv-polizeilichen Handelns an die Festnahme eines Tatverdächtigen – zulässig ist. Hier offenbart sich, dass die Bewertung einer Maßnahme losgelöst von ihrer Finalität in den meisten Fällen nicht möglich ist: Das Verdrehen der Arme im Polizeigriff kann in einem Fall eine Würdeverletzung darstellen, im anderen Fall eine zulässige polizeiliche Maßnahme sein. Dies zeige – so Herdegen –, dass es außerhalb eines Würdekerns, bei dem allein schon der Modus oder die Finalität der Maßnahme eine Würdeverletzung darstellt, einen „peripheren, abwägungsoffenen Schutzbereich“206 gibt, der Raum lässt für eine Zweck-Mittel-Relation bei der Feststellung eines Menschenwürdeverstoßes. Je niedriger dabei der Abstraktionsgrad der die Würdeverletzung tragenden Merkmale sei, desto offener wird das Verletzungsurteil für Abwägungsprozesse.207 Verzichtete man auf eine Schutzbereichszone, die für eine bilanzierende Würdigung der für die Schwere des Eingriffs und des verfolgten Zwecks maßgeblichen Umstände offen ist, so bleiben nur die allein aufgrund Modi oder Finalität als Menschenwürdeverletzung zu charakterisierenden Eingriffe „schwerer Erniedrigung, schwerer körperlicher Misshandlung und ethnisch-rassischer Diskriminierung“208 als Verletzung des Art. 1 Abs. 1 GG übrig. Hierin könne sich der Menschenwürdeschutz aber nicht erschöpfen. Die Abschichtung zwischen einem „Würdekern“, bei dem eine Würdeverletzung bereits allein aufgrund der Art der Behandlung begründet sei, und einem „peripheren, abwägungsoffenen Schutzbereich“ ermögliche es auch, innerhalb der abwägungsoffenen Randzonen des Schutzbereichs bei körperlichen und seelischen Eingriffen die damit verbundenen präventiven Zwecke zu berücksichtigen.209 Als Ergebnis einer solchen würdeimmanenten Konkretisierung könne 205 Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 43 nennt als Beispiele eines „Würdekerns“, dessen Verletzung allein durch die Art der Behandlung – in Abstraktion von der Finalität der Maßnahme – begründet ist, den Genozid oder die Massenvertreibung. Daneben gebe es auch Maßnahmen, die bereits aufgrund ihrer Finalität eine Würdeverletzung darstellen. Die Diskriminierung aufgrund der Rasse stelle ein Beispiel hierfür dar. 206 Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 44. 207 Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 43. 208 Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 44. 209 Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 45.

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2. Teil: Rechtfertigung aufgrund strafrechtlicher Erlaubnisnormen

sich ergeben, „daß die Androhung oder Zufügung körperlichen Übels, die sonstige Überwindung willentlicher Steuerung oder die Ausforschung unwillkürlicher Vorgänge wegen der auf Lebensrettung gerichteten Finalität eben nicht den Würdeanspruch verletzen.“210 Obwohl Herdegens Ansatz auf teilweise harsche Ablehnung gestoßen ist,211 begründet seine Konzeption einer normimmanenten Konkretisierung des Würdeanspruchs keineswegs eine Abkehr von der bisherigen Lehre. Denn die Deklarierung der Menschenwürde als unabwägbar versteht die herrschende Meinung ebenfalls nicht zwingend als absolutes Verbot jeglicher Abwägung auch in der Sache: Häufig wird nämlich die Abwägung lediglich auf die Ebene der Definition der Menschenwürde verlagert, d.h. der jeweilige Gewährleistungsgehalt der Würdegarantie im Wege einer Güterabwägung bestimmt.212 So stellte etwa das Bundesverfassungsgericht erst jüngst die Garantie der Menschenwürde ausdrücklich unter den Vorbehalt einer Abwägung mit höheren Interessen, wenn es in seiner Entscheidung zur Zulässigkeit der Sicherungsverwahrung die Menschenwürde bei einer langdauernden Unterbringung nur dann als verletzt ansieht, soweit sie nicht wegen einer fortdauernder Gefährlichkeit des Untergebrachten notwendig ist.213 Zu Recht stellt Herzberg fest: „Die Abwägungsfestigkeit des Wertes der Menschenwürde ist bloßer Verbalismus. Sie erschöpft sich darin, dass wir selbst schwerwiegende, vom Opfer nachfühlbar als tief entwürdigend empfundene Demütigungen, die unsere Prüfung für sowohl gesetzlich gestattet wie verfassungskonform befindet, nicht zu erlaubten Antastungen, sondern zu Nichtantastungen erklären.214 [. . .] Man könnte das ,Entwürdigende‘, welches jeder vom demütigende Hoheitsakt Betroffene empfindet, auch ehrlich anerkennen als einen Eingriff in seine Würde und dann den Eingriff offen 210 Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 45. – Trotz dieser Überlegungen spricht sich Herdegen letztendlich gegen die Rettungsfolter aus: „Bei alledem bleibt jede Relativierung des Folterverbots grundsätzlichen Bedenken ausgesetzt. Die geringe praktische Relevanz unausweichlicher Konflikte zwischen personalem Achtungsanspruch und Lebensschutz mag die mit jeder Abwägung verbundene Rechtsunsicherheit als allzu hohen Preis für die Lockerung des Foltertabus ausweisen. Der Schutz vor der Zufügung willensbeugenden Leides gehört zu den wenigen modal definierten Mißhandlungen, die nach einem traditionellen Konsens ohne jeden Vorbehalt als Würdeverletzung gedeutet werden. Jedoch zerbricht dieser Konsens leicht bei jedem konkreten Szenario, an dem sich ein abwägungsfreier Würdeschutz der Rettung von Menschenleben in den Weg zu stellen scheint.“ 211 Vgl. insbesondere Böckenförde, Die Würde des Menschen war unantastbar, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3.9.2003, S. 33, 35. 212 Vgl. Neuhaus, Die Aussageerpressung zur Rettung des Entführten: strafbar!, GA 2004, 521, 531. 213 BVerfGE 109, 133 (1. Leitsatz). Vgl. zu weiteren Beispielen, bei denen das Bundesverfassungsgericht die Garantie der Menschenwürde einer Abwägung zugänglich gemacht hat, Neuhaus, Die Aussageerpressung zur Rettung des Entführten: strafbar!, GA 2004, 521, 530 f. 214 Herzberg, Folter und Menschenwürde, JZ 2005, 321, 324 [Hervorhebungen im Original].

C. Höherrangige Vorgaben und Grenzen für die Rechtfertigungsgründe

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rechtfertigen mit den höheren Werten und Interessen, die ihn notwendig machen. An dieser Sicht und Handhabung des Menschenwürdegrundrechts hindern uns nur Denkgewohnheiten, die Ehrfurcht vor einer ,allgemeinen Lehre‘ und der sehnsuchtsvolle, aber ganz und gar trügerische Glaube, die verbale Postulierung mache den Wert der Menschenwürde auch in der Sache abwägungsfest.“215

Letztlich kann damit die Konzeption der herrschenden Meinung mit ihrem Widerspruch zwischen formalem Festhalten an der Unabwägbarkeit der Menschenwürde auf der einen Seite und Freigabe der Menschenwürde für Abwägungen in der Sache auf der anderen Seite nicht überzeugen. Es ist – so Lüderssen – die große Lebenslüge des Verfassungsrechts, dass es begrifflich die Menschenwürde aus jedem Prozess der Abwägung heraushalte.216 Kritik a) Aber auch Herdegens Ansatz einer normimmanenten Konkretisierung des Würdeanspruchs vermag nicht zu überzeugen. Zwar vermeidet er die Widersprüche der herrschenden Meinung, indem er sich ausdrücklich für eine ZweckMittel-Relation und damit für eine Abwägung bei der Bestimmung des Gewährleistungsgehalts der Würdegarantie ausspricht. Jedoch führt der Verzicht auf eine Aufgliederung der Grundrechtsprüfung in Tatbestand und Schranken – wie sie üblicherweise erfolgt217 – zugunsten der von Herdegen vorgenommenen Zusammenführung von Gewährleistungsbereich und Verletzungsgrenze zu einem „Zwang zur Tatbestandsbeschränkung“.218 Die Folge ist, dass oft bereits die Eingriffsqualität staatlichen Handelns verneint wird und so die Auseinandersetzung mit möglicherweise bestehenden Grundrechtsschranken umgangen wird. Die Verabsolutierung des Schutzes des Art. 1 Abs. 1 GG führt damit im Ergebnis zu einer Schutzreduktion.219

215 Herzberg, Folter und Menschenwürde, JZ 2005, 321, 323 [Hervorhebungen im Original]. 216 Lüderssen, Die Folter bleibt tabu, in: FS Rudolphi, S. 691, 702 f. 217 Das Bundesverfassungsgericht unterscheidet die Definition des Schutzbereichs in der Regel von der Bestimmung der Grundrechtsschranken; vgl. BVerfGE 32, 54, 72: Es ist „bedenklich [. . .], den Wirkungsbereich des Grundrechts vom Schrankenvorbehalt her zu bestimmen und etwa zu argumentieren: weil bei weiter Auslegung die Schrankenziehung praktische Schwierigkeiten bereite, sei die engere Auslegung zu wählen, bei der die Schranken gegenstandslos würden. Vielmehr ist zunächst die materielle Substanz des Grundrechts zu ermitteln; erst danach sind unter Beachtung der grundsätzlichen Freiheitsvermutung und des Verfassungsgrundsatzes der Verhältnismäßigkeit und Zumutbarkeit die rechtsstattliche vertretbaren Schranken der Grundrechtsausübung zu fixieren.“ 218 So Kloepfer, Leben und Würde des Menschen, in: FS 50 Jahre BVerfG, Band 2, S. 77, 97. 219 Kloepfer, Leben und Würde des Menschen, in: FS 50 Jahre BVerfG, Band 2, S. 77, 101.

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2. Teil: Rechtfertigung aufgrund strafrechtlicher Erlaubnisnormen

Dies zeigt sich beispielhaft anhand der Auseinandersetzung Hilgendorfs mit der Problematik der Folter in Extremsituation. Hilgendorf schlägt hier als einen möglichen Lösungsweg vor, „wirksame Droh- und Zwangsmittel unterhalb der Schwelle von Folter von Rechts wegen zuzulassen, wenn es um die Abwehr von Gefahren für das Leben oder erhebliche Verletzungen der körperlichen Unversehrtheit geht. Diese Droh- und Zwangsmittel müssten körperlichen Zwang einschließen, aber unterhalb der Schwelle einer – nicht zu rechtfertigenden – Menschenwürdeverletzung bleiben.“220 Es ist hier nicht die – auch von Hilgendorf zugegebene221 – Schwierigkeit einer Grenzziehung, was in einem so sensiblen Bereich gerade noch zulässig sein soll und was nicht, die gegen eine enge Auslegung des Schutzbereichs des Art. 1 Abs. 1 GG spricht. Denn dieses Problem besteht auch, wenn man etwa – wie Kloepfer222 – von einer weiten Auslegung des Schutzbereichs bei gleichzeitiger Beschränkbarkeit des Art. 1 Abs. 1 GG ausgeht. Auch dieser zweistufige Prüfungsansatz erfordert schließlich eine Abwägung, in welcher andere hochrangige Verfassungsgüter oder auch die Würde und das Leben anderer zu berücksichtigen sind. Eine enge Auslegung des Schutzbereichs von Art. 1 Abs. 1 GG, zu dem eine Gleichsetzung von Schutzbereich und Verletzungsgrenze führt, widerspricht aber dem Prinzip, dass Schutzbereiche von Grundrechten freiheitssichernd weit auszulegen sind.223 Gerade in der argumentativen Auseinandersetzung mit den Grundrechtsschranken, die durch eine weite Schutzbereichinterpretation erst ermöglicht wird, zeigt sich die freiheitssichernde Funktion einer abgeschichteten Prüfung von Grundrechtsverbürgung und Grundrechtsbegrenzung: Nur eine weite Auslegung des Schutzbereichs des Art. 1 Abs. 1 GG zwingt zur Erörterung möglicher Grundrechtsschranken und sichert damit die Relevanz dieses Grundrechts.224 Dagegen birgt der Ansatz Hilgendorfs, von Anfang an bestimmte Zufügungen körperlichen Schmerzes aus dem Tatbestand des Art. 1 Abs. 1 GG auszublenden, die Gefahr einer Schutzreduktion, da eine Aus220 Hilgendorf, Folter im Rechtsstaat?, JZ 2004, 331, 338. Hilgendorf scheint eine Würdeverletzung rein gegenständlich-modal durch die Art der Behandlung begründen zu wollen, wenn er als Beispiele für körperliche Schmerzen unterhalb der Schwelle einer nicht zu rechtfertigenden Menschenwürdeverletzung „schmerzhafte Kniffe, das Verdrehen der Arme im Polizeigriff oder eben auch das Überdehnen des Handgelenks“ anführt. Dabei lässt sich aber nur in seltenen Fällen eine Würdeverletzung rein gegenständlich-modal begründen; vgl. Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 43. 221 Vgl. Hilgendorf, Folter im Rechtsstaat?, JZ 2004, 331, 339: „Allerdings wirft dieser Weg erhebliche Abgrenzungsprobleme zwischen ,leichteren‘ und ,schwereren‘ Formen der Anwendung unmittelbaren Zwangs auf.“ 222 Vgl. unten C. I. 2. a) cc). 223 Dreier, in: Dreier, GG I, Vorb. Rn. 120; Kudlich, Grundrechtsorientierte Auslegung im Strafrecht, JZ 2003, 127, 128. 224 Kloepfer, Leben und Würde des Menschen, in: FS 50 Jahre BVerfG, Band 2, S. 77, 101.

C. Höherrangige Vorgaben und Grenzen für die Rechtfertigungsgründe

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einandersetzung mit der Rechtfertigung des staatlichen Eingriffs auf Schrankenebene hier von vornherein umgangen wird. Zudem scheint Hilgendorf außer Acht zu lassen, dass das Grundgesetz bei der Frage der Zulässigkeit der Schmerzzufügung gegenüber festgehaltenen Personen nicht auf die Folteradäquanz der Gewaltanwendung abstellt: Der Wortlaut des Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG verbietet jegliche Schmerzzufügung, nicht nur die Verursachung großer körperlicher oder seelischer Schmerzen, wie sie die Definition der „Folter“ verlangt. Das Verbot des Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG ist damit umfassender als es der umgangssprachliche Begriff der Rettungsfolter suggeriert. Da Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG zudem als deklaratorische Konkretisierung des Menschenwürdesatzes angesehen wird, ist es konsequent, auch den Tatbestand des Art. 1 Abs. 1 GG schon bei geringfügiger Schmerzzufügung als erfüllt anzusehen, und nicht erst dann, wenn diese Schmerzzufügung die Schwelle der Folter erreicht. Hält man sich dies vor Augen, ist es schwer vertretbar, bestimmte Arten der Schmerzzufügung zur Geständniserlangung unterhalb der Schwelle zur Menschenwürdeverletzung anzusiedeln. Hilgendorf scheint dagegen der Auffassung zu sein, die Menschenwürde sei erst berührt, wenn Zwangsmittel gegen die festgehaltene Person die Qualität von Folter erreichen. Dafür geben Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG und Art. 1 Abs. 1 GG aber keinerlei Anhaltspunkte.

Zuzugeben ist, dass erst die Beschränkbarkeit es ermöglicht, den Schutzbereich von Art. 1 Abs. 1 GG auszudehnen. Wer dies, wie die Vertreter der oben dargestellten herrschenden Meinung, aus entstehungsgeschichtlichen, textlichen und teleologischen Gründen nicht für möglich hält, muss den Schutzbereich enger ziehen. Dass aber bei Freiheitsgrundrechten ein weiter Schutzbereich einen erhöhten Grundrechtsschutz bedeuten soll, indem er „vorschnelle Ausblendung von Grundrechten vermeidet und zum systematischen Abarbeiten von Begründungslasten für staatliche Maßnahmen zwingt“,225 bei Art. 1 Abs. 1 GG aber eine Relativierbarkeit und Abwägungsoffenheit – wie sie nur bei einem weiten Schutzbereichverständnis möglich ist – im Ergebnis zu seiner Schwächung führen soll,226 stellt einen gewissen Widerspruch dar: Auch wenn man Art. 1 GG nicht als Grundrecht einordnet, so ist er doch in seiner Abwehrfunktion227 den Freiheitsgrundrechten vergleichbar, so dass eine weite Ziehung des Schutzbereichs in Parallele zu den Freiheitsgrundrechten durchaus einer einheitlichen Grundrechtsdogmatik entspricht. b) Bestimmt man den sachlichen Gewährleistungsgehalt eines Grundrechts von den Grundrechtsschranken her, wie es bei einer einstufigen Prüfung notwendig der Fall ist, so führt dies weiterhin zu einem Verlust der Bestimmtheit der Reichweite des Schutzbereichs. Die Reichweite des Schutzbereichs kann dann nicht mehr generell festgelegt werden, sondern ist vom Einzelfall abhängig. Darunter leidet die Berechenbarkeit und Nachvollziehbarkeit verfassungsrechtlicher Einzelfalllösungen, zumal die Grundrechte sich in besonderem Maße 225 226 227

So Dreier, in: Dreier, GG I, Vorb. Rn. 121. So ebenfalls Dreier, in: Dreier, GG I, Art. 1 I Rn. 127. Vgl. hierzu Dreier, in: Dreier, GG I, Art. 1 I Rn. 139 ff.

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2. Teil: Rechtfertigung aufgrund strafrechtlicher Erlaubnisnormen

durch die Verwendung sehr weiter und flexibler Begriffe auszeichnen und die Grundrechtsinterpretation daher von einer normativen Unvollständigkeit des geschriebenen Verfassungstextes geprägt ist: Vor diesem Hintergrund läuft eine „[. . .] totale In-Eins-Sicht aller verfassungsrechtlichen Aspekte faktisch auf eine nicht kontrollierbare, sondern allenfalls registrierbare politische Willensentscheidung mit juristischer Subsumtionsfassade“ hinaus.228 Die herkömmliche Grundrechtsprüfung über die Stufen des Schutzbereichs, der Grundrechtsschranken und der Schranken-Schranken führt dagegen zu einer berechenbaren Prüfung, die zudem eine „Disziplinierung und Vervollständigung des verfassungsrechtlichen Argumentierens durch stufende, systematisierende Ordnung des Vordringens zur verfassungsrechtlichen Erkenntnis“ zur Folge hat.229 c) Zuletzt führt eine Aufgliederung in Schutzbereich und Schranken zu einer ausgewogenen Berücksichtigung gegenläufiger Interessen bei der Grundrechtsprüfung. Da bei der Fixierung des Schutzbereichs von einem weiten Freiheitsbegriff, von „natürlicher“ Freiheit (Freiheit schlechthin, Freiheit subjektiven Beliebens230) auszugehen ist, werden auf dieser Ebene in stärkerem Maße die individualbegünstigenden Gesichtspunkte berücksichtigt, während die Schrankeninterpretation stärker die Allgemeininteressen zum Tragen kommen lässt. Das tritt insbesondere bei den verfassungsimmanenten Schranken der vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte deutlich zu Tage, die unter dem Gesichtspunkt der Einheit der Verfassung gerade in den kollidierenden Grundrechten Dritter und in den mit Verfassungsrang ausgestatteten Rechtsgütern ihre Grenzen finden.231 Durch diese Hintereinanderschaltung der beiden zu berücksichtigenden Interessen kann auch hinsichtlich der Schranken-Schranken ein möglichst schonender Interessenausgleich herbeigeführt werden.232 bb) Möllers Ansatz einer qualifizierten Abwägbarkeit des Art. 1 Abs. 1 GG Im Gegensatz zu Herdegen spricht sich Möller für eine Abwägbarkeit des Art. 1 Abs. 1 GG im Rahmen einer zweistufigen Prüfung aus: Er folgert aus einer Gegenüberstellung des Begriffs der „Unantastbarkeit“ mit dem Begriff der „Unverletzlichkeit“ bei anderen Grundrechten, dass an die Rechtfertigung eines Eingriffs in ein unantastbares Recht höhere Anforderungen zu stellen sind als 228 Kloepfer, Grundrechtstatbestand und Grundrechtsschranken, in: FS 25 Jahre BVerfG, Band 2, S. 405, 407. 229 Kloepfer, Grundrechtstatbestand und Grundrechtsschranken, in: FS 25 Jahre BVerfG, Band 2, S. 405, 407. 230 Dreier, in: Dreier, GG I, Vorb. Rn. 120. 231 Vgl. z. B. BVerfGE 28, 243, 261. 232 Kloepfer, Grundrechtstatbestand und Grundrechtsschranken, in: FS 25 Jahre BVerfG, Band 2, S. 405, 407.

C. Höherrangige Vorgaben und Grenzen für die Rechtfertigungsgründe

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bei einem bloß unverletzlichen Recht.233 Diesen höheren Anforderungen kann man nach Möller dadurch gerecht werden, dass bei Art. 1 Abs. 1 GG nicht einfach die jeweiligen Rechtseingriffe (Menschenwürde auf der einen Seite, Menschenwürde oder Leben auf der anderen Seite) nach Zahl und Schwere gegeneinander abgewogen werden (einfache Abwägung), sondern in die Abwägung eine weitere – überindividuelle – Komponente eingeführt wird (qualifizierte Abwägung): „Schon die bloße (abstrakte) Erlaubnis zur Folter wird einen Einfluss auf die öffentliche Kultur eines Landes nehmen und muss daher gegen die Zulässigkeit von Folter in die Waagschale geworfen werden.“234 Der Begriff der Antastung des Art. 1 Abs. 1 GG sei damit im Sinne eines Verbots der einfachen Abwägung zu verstehen. Ein Menschenwürdeeingriff stelle immer dann eine Antastung der Menschenwürde dar, wenn zu seiner Rechtfertigung lediglich die verschiedenen Rechtspositionen der beteiligten Grundrechtsträger gegeneinander abgewogen werden. Die Würde werde dagegen nicht angetastet, wenn der Eingriff durch eine qualifizierte Abwägung gerechtfertigt wird, in deren Rahmen die Besonderheiten der Menschenwürdegarantie als Statusrecht berücksichtigt werden.235 Dieser Konzeption Möllers ähnlich wollen Jerouschek/Kölbel ebenfalls eine überindividuelle Komponente in eine Folgenbewertung einstellen: „Die westlichen Demokratien halten sich einiges auf den zivilisatorischen Standard ihrer Staatswesen zugute, die gegenüber der Folter von Staats wegen einen zivilisatorischen Vorbehalt angemeldet haben. Rückt man davon angesichts einer extremen Notlage ab, wird damit nicht einmal der instrumentellen Logik das Wort geredet, denn die rechtliche Billigung eines Folteraktes begründet durch seine Symbolkraft für die Rechtskultur einen basalen Normgeltungseinbruch, hinter dem die konkrete Dramatik des singulären Folteranlasses zu verblassen droht.“236 Für ihre Bedenken berufen sich Jerouschek/Kölbel auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Schleyer-Entführung, wonach bei einer Abwägung nicht nur die konkret-individuelle Position des Entführten, sondern auch Belange der Allgemeinheit zu berücksichtigen seien.237 Dabei lassen sie jedoch außer Acht, dass das Bundesverfassungsgericht im SchleyerUrteil ausdrücklich nur konkret-überindividuelle Interessen in den Abwägungsvorgang mit einbezogen hat, indem es der staatlichen Schutzpflicht hinsichtlich des Schutzes des Lebens des Einzelnen die staatliche Pflicht zum Schutz der Gesamtheit der Bürger gegenübergestellt hat.238 Die Bewahrung der Zivilität, die Jerou233

Möller, Menschenwürderecht und Folter, IV. 2. Möller, Menschenwürderecht und Folter, III. 4. 235 Möller, Menschenwürderecht und Folter, IV. 2. 236 Jerouschek/Kölbel, Folter von Staats wegen?, JZ 2003, 613, 618 f. [Hervorhebung im Original]; ähnlich Roxin, Kann staatliche Folter im Ausnahmefall zulässig oder wenigstens straflos sein?, in: FS Eser, S. 461, 466 ff., der ebenfalls dafür plädiert, nicht nur den individuellen Fall zu betrachten, sondern die Folgen für die gesamte Rechtsordnung mit einzubeziehen. 237 Vgl. Jerouschek/Kölbel, Folter von Staats wegen?, JZ 2003, 613, 618 Fn. 60. 238 Vgl. BVerfGE 46, 160, 164. 234

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2. Teil: Rechtfertigung aufgrund strafrechtlicher Erlaubnisnormen

schek/Kölbel als Grund gegen die Anwendung der Rettungsfolter auch in Extremsituationen anführen, bezieht sich aber nicht unmittelbar auf den Schutz von Rechtsgütern Dritter. Es handelt sich hierbei vielmehr um ein abstrakt-überindividuelles Interesse – Jerouschek/Kölbel führen selbst an, dass es beim absoluten Verbot der Folter „ums Prinzip“ gehe.239 Für die Einbeziehung solcher prinzipiellen Einwände in eine Abwägung gibt das Schleyer-Urteil aber keinen Anhaltspunkt.

Als Ergebnis der Konzeption Möllers ist eine Menschenwürdeverletzung und damit der Einsatz der Rettungsfolter ausgeschlossen, wenn es – wie etwa bei einer Entführung – nur um die Verhinderung einer einzigen Menschenwürdeverletzung geht.240 Zwar weist Möller darauf hin, dass nicht nur die Zahl, sondern auch die Schwere der jeweiligen Menschenwürdeverletzungen in Betracht zu ziehen sind. Jedoch lehnt er auch die Folterung zur Verhinderung oder Beendigung einer Entführung mit Todesgefahr ab, da dies dann in gleicher Weise für alle Verbrechen mit ähnlicher Schwere gelten müsste. Ein Katalog von Straftaten, zu deren Abwendung Folter erlaubt wäre, wäre die Folge. Dies hätte erhebliche Auswirkungen auf die öffentliche Kultur des Landes; der hohe moralische Status von Personen wäre gefährdet. Die Menschenwürdegarantie als Statusrecht steht damit der Anwendung der Rettungsfolter entgegen.241 Anders wäre nach Möller die Situation im Falle eines terroristischen Angriffs zu beurteilen. Zwar würde, wenn man hier Folter zulässt, der moralische Status von Personen im Vergleich zu dem Fall, dass Folter uneingeschränkt verboten ist, geringer sein. Jedoch sei eine gewisse Einbuße der Unverletzlichkeit einer Person zur Verhinderung der Tötung einer ganzen Stadt hinzunehmen. Dafür spreche insbesondere, dass die Foltererlaubnis den Charakter einer Ausnahmeregelung für Fälle äußersten Notstandes habe. Situationen, in denen danach Folter erlaubt ist, seien so singulär, dass dadurch der hohe moralische Status von Personen nur unwesentlich angetastet würde.242 Zugleich würden mit seiner Konzeption – so Möller – Widersprüche vermieden, die bei einer einfachen Abwägung von Täter- gegen Opferwürde auftreten. So wäre im Falle einer einfachen Abwägung die Anwendung der Folter zur Rettung einer einzigen entführten Person zulässig, während sie zur Rettung einer von der Auslöschung bedrohten Großstadt verboten wäre, wenn etwa die Bombe alle Menschen einer Stadt ohne Schmerzen und Leiden töten würde und sich die Bedrohung damit nur als Angriff auf das Lebens- und nicht auch auf das Würderecht der Bewohner erweist.243 239

Jerouschek/Kölbel, Folter von Staats wegen?, JZ 2003, 613, 618. Möller, Menschenwürderecht und Folter, III. 5. 241 Möller, Menschenwürderecht und Folter, III. 5. 242 Möller, Menschenwürderecht und Folter, III. 5. 243 Vgl. Möller, Menschenwürderecht und Folter, II.: Es ist „nicht einzusehen, warum die Zulässigkeit der Folter in einem Fall, in dem eine Großstadt von der Auslöschung bedroht wird, ausgerechnet davon abhängen soll, ob ein paar der Opfer bei 240

C. Höherrangige Vorgaben und Grenzen für die Rechtfertigungsgründe

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Kritik Problematisch an Möllers Ansatz ist zunächst, dass er keine Lösung dafür liefert (und sich eine solche wohl auch nur schwer finden lässt), ab wann ein Eingriff in Art. 1 Abs. 1 GG gerechtfertigt sein soll. Steht die Menschenwürdegarantie als Statusrecht der Rechtfertigung eines Eingriffs in die Menschenwürde einer Person schon dann nicht mehr entgegen, wenn die Würde oder das Leben zweier Personen dadurch gerettet wird, oder müssen es zehn, 1.000 oder gar 100.000 Menschen sein? Muss man, wenn das Leben von 999 Personen bedroht ist, auf eine Rettung verzichten, weil die einzig erfolgversprechende Möglichkeit, die Bombe mittels Anwendung der Rettungsfolter zu finden, erst ab einer Zahl von 1.000 gefährdenden Leben eingesetzt werden darf? Möllers Ansatz führt damit zu ungerechten Ergebnissen, die bei einer einfachen Abwägung vermieden würden. Auch erweist sich sein Ansatz in der Praxis als nur schwer umsetzbar. So wird sich bei einer Bombendrohung häufig gar nicht feststellen lassen, wie groß die Sprengkraft der Bombe ist und wie viele Menschen somit durch sie gefährdet werden. Auch der Handlungsdruck, dem die Polizei bei einem Bombenanschlag ausgesetzt ist, wird häufig kaum die Zeit lassen, die genaue Zahl der potentiellen Opfer festzustellen. Daneben vermag Möllers Ansatz aber auch inhaltlich nicht zu überzeugen. Indem nämlich eine Einschränkung des Art. 1 Abs. 1 GG zwar nicht zur Rettung eines einzigen Menschenlebens, wohl aber zur Rettung einer großen Zahl von Menschen zulässig sein soll, misst Möller dem Lebensrecht einer Vielzahl von Menschen einen höheren Rang zu als dem einer einzelnen Person. Dies ist nicht mit dem Grundsatz vereinbar, dass jedes menschliche Leben gleichen Rang hat:244 Ebenso, wie bei § 34 StGB eine Abwägung nach der Zahl der im Widerstreit stehenden Menschenleben unzulässig ist und die Opferung eines Menschenlebens auch zugunsten einer größeren Zahl an Menschenleben nicht gerechtfertigt werden kann,245 müssen Differenzierungen hinsichtlich der Zahl der in Frage stehenden Menschenleben bei Art. 1 Abs. 1 GG unzulässig sein. Demnach muss – hält man an einer Einschränkbarkeit der Menschenwürdegarantie zum Schutz des Lebensrechts Dritter fest – die Relativierung des Art. 1 Abs. 1 GG bereits dann möglich sein, wenn es um die Rettung einer einzelnen Person geht.

der Auslöschung menschenunwürdig leiden. Oder anders: Nach dem Menschenwürdekollisionsansatz müsste die Folter eines Menschen zur Abwehr des menschenunwürdigen Todes von drei anderen erlaubt sein, während sie zur Abwehr des schnellen, schmerzlosen Todes einer Million Menschen verboten wäre. Darin liegt ein gravierender Wertungswiderspruch, der die Attraktivität der These von der Menschenwürdekollision schwer beschädigt.“ 244 Vgl. Roxin, AT 1, § 16 Rn. 29. 245 Roxin, AT 1, § 16 Rn. 30.

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2. Teil: Rechtfertigung aufgrund strafrechtlicher Erlaubnisnormen

Zuletzt führt auch der Ansatz einer einfachen Abwägung bei Würdekollisionen nicht zu den von Möller skizzierten Widersprüchen. So lässt sich bei einem geplanten Terroranschlag, bei dem ein Terrorist glaubhaft damit droht, er habe den Zünder einer Bombe aktiviert, die in wenigen Stunden eine Großstadt zerstören wird, eine Beeinträchtigung der Menschenwürde der potentiellen Terroropfer nur schwer bestreiten. Es kommt hier für eine Würdebeeinträchtigung nämlich gar nicht darauf an, ob die Opfer der Bombenexplosion eines besonders qualvollen Todes sterben würden.246 Denn in der menschenverachtenden Instrumentalisierung der Opfer, die allein um der Verbreitung von Schrecken willen getötet werden sollen, liegt eine derart massive Missachtung des Achtungsanspruchs, dass schon dies eine Menschenwürdeverletzung zu begründen vermag.247 Damit ist auch bei einer einfachen Abwägung von Täter- gegen Opferwürde eine Einschränkbarkeit des Menschenwürdesatzes nicht nur bei einer Entführung, wo es um die Würde einer einzelnen Person geht, sondern ebenso bei terroristischen Angriffen, wo die Würde tausender Menschen bedroht ist, möglich. Der von Möller dargelegte Wertungswiderspruch besteht nicht. cc) Die Stellung des Lebensgrundrechts über den Würdeschutz Einige Autoren stellen den Lebens- dem Würdeschutz gleich oder ordnen jenen diesem sogar über, um so eine Einschränkbarkeit des Art. 1 Abs. 1 GG zum Schutze vor Lebensgefahren zu begründen. Herdegen verweist zur Begründung einer Gleichrangigkeit von Würdeschutz und Lebensgrundrecht etwa auf das systematische Zusammenwirken zwischen Menschenwürde und speziellen Freiheits- und Gleichheitsrechten, durch die erst der dem Menschen als Individuum und der Menschheit als Gattung zukommende Würdestandard konturiert werde: „Nicht nur der Kerngehalt der speziellen Grundrechte, sondern auch die Typik ihrer Ausübung, ziehen den mit menschlicher Würde begründeten Achtungsansprüchen Grenzen.“248 Die Ausstrahlung der Grundrechte auf die Konturen der Menschenwürde entspreche zudem der historischen Entwicklung, da sich die Menschenwürdegarantie erst spät in der Entwicklungsgeschichte der Grund- und Menschenrechte herausgebildet hat: „Eine ,Konstruktion‘ der Grundrechte allein von der Menschenwürde her wäre deshalb geradezu ahistorisch.“249 Gerade im Verhältnis zum Grundrecht auf Leben komme dem Men-

246 So aber Möller, Menschenwürderecht und Folter, II.; wohl auch Brugger, Darf der Staat ausnahmsweise foltern?, Der Staat 35 (1996), 67, 79. 247 Erb, Nothilfe durch Folter, Jura 2005, 24, 27. A. A. Jahn, Das Strafrecht des Staatsnotstandes, S. 550: „Auch in der ticking-time-bomb-Konstellation steht nur Würde gegen Lebensrecht. Die Explosion der Bombe könnte nach der hier vertretenen Ansicht ebensowenig die Würde der Opfer antasten wie bei einem Totschlag die Würde des Opfers durch die Handlung oder Unterlassung des Täters angetastet wird.“ 248 Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 21.

C. Höherrangige Vorgaben und Grenzen für die Rechtfertigungsgründe

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schenwürdesatz daher trotz der Erklärung als „unantastbar“, der Schutzpflicht aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG und des besonderen Schutzes durch Art. 79 Abs. 3 GG keine absolute Dominanz zu: „Schon der entstehungsgeschichtliche Kontext des Bekenntnisses zur Menschenwürde – die Reaktion auf die Greuel des Dritten Reiches – legt nahe, daß der Schutz vor physischer Vernichtung [. . .] a priori keine geringere Valenz hat als die Achtung der Menschenwürde. Menschliche Würde ist in Abstraktion vom menschlichen Leben nicht denkbar.“250 Für diese Sicht eines der Menschenwürde gleichrangigen bzw. sogar höherrangigen Wertes des Lebens251 wird häufig auf die erste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch abgestellt. Darin heißt es: „Das menschliche Leben stellt, wie nicht näher begründet werden muss, innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung einen Höchstwert dar; es ist vitale Basis der Menschenwürde und die Voraussetzung aller anderen Grundrechte.“252 Aus dieser Bewertung des Bundesverfassungsgerichts folgert Kloepfer, dass das menschliche Leben als „allgemeinste, elementarste Grundrechtsvoraussetzung“ der höchste Wert des Grundgesetzes ist: „In dieser Funktion als umfassende Grundrechtsvoraussetzung, bei der jeder Lebenseingriff zugleich ein Eingriff auf die hierauf bauenden Grundrechte ist, muß die Beschränkung des Lebens das Schrankenminimum der gesamten Grundrechtsordnung enthalten, d.h. das am geringsten zu beschneidende Grundrecht sein. Das Lebensgrundrecht kann nicht stärker einschränkbar sein als ein das Leben voraussetzendes Grundrecht, weil dies der essentiellen Hintereinanderschaltung des Rechts auf Leben und der übrigen Grundrechte widerspräche.“253 Eine solche Reduzierung möglicher Lebenseinschränkungen auf das grundrechtliche Schrankenminimum kann methodisch auf zweierlei Weise vollzogen werden: Zum einen durch die Behandlung des Lebensgrundrechts als schrankenfreies Grundrecht. Hiergegen stehen

249

Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 21 [Hervorhebung im Origi-

nal]. 250 Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 22 [Hervorhebung im Original]. Ähnlich Kloepfer, Leben und Würde des Menschen, in: FS 50 Jahre BVerfG, Band 2, S. 77, 79: „Bei richtiger Erkenntnis der notwendigen Relativierbarkeit auch der Menschenwürde durch Einpassung in die Wertewelt der Verfassung kann nicht von einem per-se-Vorrang der Menschenwürde ausgegangen werden.“ 251 Kloepfer, Grundrechtstatbestand und Grundrechtsschranken, in: FS 25 Jahre BVerfG, Band 2, S. 405, 412 stellt das Recht auf Leben über die Unantastbarkeit der Menschenwürde: „Wenn überhaupt die Frage nach dem höchstrangigen Verfassungsgut sinnvoll ist [. . .], dann ist dies das Leben und nicht die Menschenwürde.“ 252 BVerfGE 39, 1, 42. Das Bundesverfassungsgericht verfolgt hinsichtlich des Schutzes des ungeborenen Lebens keine konsequente Linie. So stützt das Gericht die Schutzpflicht gegenüber ungeborenem Leben auf Art. 1 Abs. 1 GG, entnimmt aber den Umfang der gebotenen Schutzpflicht Art. 2 Abs. 2 GG, vgl. BVerfGE 88, 203, 251 ff. 253 Kloepfer, Grundrechtstatbestand und Grundrechtsschranken, in: FS 25 Jahre BVerfG, Band 2, S. 405, 412 [Hervorhebung im Original].

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2. Teil: Rechtfertigung aufgrund strafrechtlicher Erlaubnisnormen

freilich der Wortlaut des Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG sowie die systematischen Erwägungen, dass die Schranken-Schranke des Todesstrafenverbotes (Art. 102 GG) überflüssig wäre und die Legalisierung staatlichen Tötens (etwa durch den finalen Rettungsschuss) nicht mehr unmittelbar auf einen grundgesetzlichen Gesetzesvorbehalt gestützt werden könnte.254 Daher soll die notwendige Schrankenminimierung beim Recht auf Leben dergestalt erfolgen, „dass der Gesetzesvorbehalt von Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG zwar wegen des Ranges des menschlichen Lebens stark eingeschränkt ist, aber die nach sorgfältiger Güterabwägung noch verbleibenden Beschränkungsmöglichkeiten menschlichen Lebens entsprechend (mindestens) auch analog auf vermeintlich schrankenfreie Grundrechte anwendbar sein müssen. Diese [. . .] Sicht würde dann auch eine entsprechende, vorsichtige Beschränkbarkeit des Menschenwürdeprinzips rechtfertigen.“255 Kritik Die Annahme einer Höherwertigkeit des Lebens gegenüber der Menschenwürde, mit der Folge, dass die Menschenwürdegarantie (mindestens) den gleichen Beschränkungen unterliegen müsse wie das Lebensgrundrecht, lässt sich nur schwer begründen. Denn dass das Leben nicht der Höchstwert der Verfassung ist, ergibt sich bereits aus dieser selbst, indem das Grundgesetz in Art. 1 Abs. 1 GG die Menschenwürdegarantie an seine Spitze stellt, die anders als das Lebensgrundrecht in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gerade keinem Schrankenvorbehalt unterliegt.256 Auch wenn dieses verfassungsrechtliche Rangverhältnis von Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu teilweise schwer erträglichen Ergebnissen führen kann, die jeder rechtlichen Intuition widersprechen (wie sich gerade in der breiten öffentlichen Zustimmung des Vorgehens des Frankfurter Polizeivizepräsidenten Daschner im Entführungsfall von Metzler zeigt), ist die verfassungsrechtliche Wertentscheidung, dass Art. 1 Abs. 1 GG auch nicht zugunsten der Rettung eines Lebens eingeschränkt werden kann, „der Preis, den wir für die Entscheidung zur Aufnahme des Art. 1 Abs. 1 GG in die Verfassung und für den darin ausgesprochenen feierlichen Verzicht auf bestimmte Handlungsoptionen zu zahlen haben.“257 Eine Übertragung des Schrankenvorbehalts des Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG auf Art. 1 Abs. 1 GG, wie sie Kloepfer vertritt, ist damit vor dem Hintergrund der dem Grundgesetz in systematischer Hinsicht zu-

254 Kloepfer, Grundrechtstatbestand und Grundrechtsschranken, in: FS 25 Jahre BVerfG, Band 2, S. 405, 412 f. 255 Kloepfer, Grundrechtstatbestand und Grundrechtsschranken, in: FS 25 Jahre BVerfG, Band 2, S. 405, 413. 256 Saliger, Absolutes im Strafprozeß?, ZStW 116 (2004), 35, 46; Wittreck, Menschenwürde und Folterverbot, DÖV 2003, 873, 879. 257 Wittreck, Menschenwürde und Folterverbot, DÖV 2003, 873, 879.

C. Höherrangige Vorgaben und Grenzen für die Rechtfertigungsgründe

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grunde liegende Wertung des Rangverhältnisses von Menschenwürdegarantie und Lebensgrundrecht nicht haltbar.258 dd) Die Koppelung von Würde- und Lebensschutz Teilweise wird in der Literatur für eine funktionale Verbindung der Schutzbereiche des Menschenwürdesatzes und des Lebensgrundrechts plädiert, um einer Entkräftung des Schutzes der Lebensgüter vorzubeugen.259 So weist Picker darauf hin, dass die Entvitalisierung der „Würde“ die Gefahr eines nicht mehr berechenbaren Umgangs mit dem menschlichen Leben befördert.260 Aktuelle Tendenzen hierzu seien in der Diskussion um die rechtliche Qualifikation des Daseins eines Kindes als Schadensquelle bzw. in der Debatte um die Zulässigkeit forschungsbezogener oder gentechnischer Eingriffe in die physische Integrität des Menschen zu sehen.261 Um zu verhindern, dass das menschliche Leben einer totalen Relativierung freigegeben wird, die die elementare Aufgabe des staatlichen Lebensschutzes gefährdet, sind – so Picker – die „zunehmend voneinander abgekoppelten und gegeneinander abgeschotteten Werte [. . .] wieder in eine Beziehung zu setzen, die die Kluft zwischen emphatischer Tabuisierung hier, permissiver Instrumentalisierung dort überwindet. ,Würde‘ und Leben des Menschen sind also [. . .] wieder betonter als Teile einer einheitlichen Wertordnung zu begreifen.“262 Auch das Bundesverfassungsgericht scheint die Schutzbereiche des Lebensgrundrechts und der Menschenwürdegarantie zu einem einheitlichen Schutzbereich zusammenzuführen, wie sich in den Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch263 zeigt. Dies betrifft zunächst einmal die Frage der personalen Reichweite der beiden Schutzbereiche: Mit der Feststellung, wo menschliches Leben existiere, komme ihm menschliche Würde zu,264 weist das Gericht dem Träger des Lebensgrundrechts stets auch den Schutz aus Art. 1 Abs. 1 GG zu. 258

Wittreck, Menschenwürde und Folterverbot, DÖV 2003, 873, 879. Picker, Menschenwürde und Menschenleben, in: FS Flume, S. 154, 239 ff. 260 Picker, Menschenwürde und Menschenleben, in: FS Flume, S. 154, 184. 261 Picker, Menschenwürde und Menschenleben, in: FS Flume, S. 154, 185 ff. 262 Picker, Menschenwürde und Menschenleben, in: FS Flume, S. 154, 239. Es sei aber ausdrücklich betont, dass Picker mit seinem Ansatz einer Revitalisierung der Würde die Wertunterschiede zwischen Würde- und Lebensgrundrecht nicht gänzlich nivellieren will. So weist er ausdrücklich darauf hin, „daß keineswegs jede Entscheidung gegen das Lebensgut eines Menschen zugleich eine Entscheidung gegen seine ,Würde‘ bedeutet, daß vielmehr noch ein weiteres und eben spezifisches Moment hinzukommen muß, um den Tatbestand einer solchen äußersten, unter allen Umständen zu bekämpfenden Beeinträchtigung der Person zu begründen.“ Vgl. Picker, Menschenwürde und Menschenleben, in: FS Flume, S. 154, 240. 263 BVerfGE 39, 1; 88, 203. 264 BVerfGE 39, 1, 41. 259

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2. Teil: Rechtfertigung aufgrund strafrechtlicher Erlaubnisnormen

Gesagt ist damit freilich noch nicht – und dies ist für die Frage einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigungsmöglichkeit der Rettungsfolter vornehmlich relevant –, dass das Gericht einen Eingriff in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG stets auch als Beeinträchtigung der Menschenwürdegarantie interpretiert, d.h. ob es auch hinsichtlich des sachlichen Schutzbereichs eine Überschneidung zwischen beiden Grundrechten sieht. Indem das Gericht aber zur Begründung der staatlichen Schutzpflicht zugunsten des ungeborenen Lebens ausdrücklich auf Art. 1 Abs. 1 GG abstellt,265 scheint es auch die sachlichen Schutzbereiche des Lebensgrundrechts und der Menschenwürdegarantie zu koppeln. Eine Beeinträchtigung des Lebens würde auf Grundlage dieser Sichtweise immer auch eine Verletzung der Würde darstellen. Kritik Die Zusammenführung der Schutzbereiche von Lebens- und Würdegrundrecht – wie sie das Bundesverfassungsgericht vornimmt – konfligiert mit der unterschiedlichen Ausgestaltung der Rechtfertigungsmöglichkeiten eines Eingriffs in die Menschenwürde auf der einen und in das Recht auf Leben auf der anderen Seite. Wenn nämlich jede Beeinträchtigung des Lebens stets auch eine Würdeverletzung darstellen soll, wäre der weite Schrankenvorbehalt des Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG hinfällig, da die mit jedem Eingriff in das Lebensgrundrecht einhergehende Würdeverletzung nach herrschender Meinung wegen der Uneinschränkbarkeit des Art. 1 Abs. 1 GG ohnehin nie gerechtfertigt werden kann. Die Ausgestaltung der beiden Grundrechte mit voneinander divergierenden Schrankenvorbehalten erwiese sich also als sinnlos. Um die Verknüpfung von Würde- und Lebensgrundrecht mit der Systematik der Schrankenvorbehalte in Einklang zu bringen, müsste man daher auch bei den Rechtfertigungsmöglichkeiten eines Eingriffs in das Lebens- bzw. Würdegrundrecht zu einem Gleichklang kommen. Da eine Behandlung des Lebensgrundrechts als schrankenfreies Grundrecht ausscheidet,266 bliebe nur die Möglichkeit, den Schrankenvorbehalt des Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG auch auf Art. 1 Abs. 1 GG anzuwenden und somit auch die Menschenwürdegarantie einer Relativierung freizugeben. Das Bundesverfassungsgericht scheint in seinen Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch diesen Weg zu gehen. So leitet es zwar die staatliche Schutzpflicht zugunsten des ungeborenen Lebens aus Art. 1 Abs. 1 GG ab, schwenkt aber bei der

265 BVerfGE 88, 203, 251. Ganz ähnlich Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art 1 Abs. 1 Rn. 84: „Das Recht auf Leben, das in Art. 2 Abs. 2 gegen staatliche Eingriffe gewährleistet ist, wird auch vom Würdeschutz des Art. 1 Abs. 1 erfaßt. Daher ist der Staat gemäß Art. 1 Abs. 1 S. 2 verpflichtet, das menschliche Leben auch gegen Angriffe Dritter zu schützen.“ [Hervorhebungen durch den Verfasser]. 266 Vgl. hierzu nochmals Kloepfer, Grundrechtstatbestand und Grundrechtsschranken, in: FS 25 Jahre BVerfG, Band 2, S. 405, 412 sowie oben Zweiter Teil C. I. 2. a) cc).

C. Höherrangige Vorgaben und Grenzen für die Rechtfertigungsgründe

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Bestimmung des Umfangs der gebotenen Schutzpflicht für das ungeborene Leben unvermittelt von Art. 1 Abs. 1 GG auf Art. 2 Abs. 2 GG um: „Ihren Grund hat diese Schutzpflicht in Art. 1 Abs. 1 GG, der den Staat ausdrücklich zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde verpflichtet; ihr Gegenstand und – von ihm her – ihr Maß werden durch Art. 2 Abs. 2 GG näher bestimmt.“267

Die Übertragung des Schrankenvorbehalts des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG auf Art. 1 Abs. 1 GG ist aber – wie bereits erwähnt – nicht mit der dem Grundgesetz zugrunde liegende Wertung des Rangverhältnisses von Menschenwürdegarantie und Lebensgrundrecht vereinbaren, das gerade die Menschenwürde als Höchstwert der Verfassung an seine Spitze stellt.268 Darüber hinaus lässt sich eine Verknüpfung von Lebens- und Würde aber auch materiell nur schwer begründen. Dies betrifft zum einen den sachlichen Schutzbereich: Art. 1 Abs. 1 GG ächtet anders als das Recht auf Leben nicht nur den Erfolg, sondern gerade auch den spezifischen Modus eines Verhaltens.269 Herdegen weist zu Recht darauf hin, dass sich Menschenwürdeverletzungen in den seltensten Fällen allein aufgrund der Art und Weise der Behandlung oder der Finalität der Maßnahme, sondern meist nur als Ergebnis einer Zweck-Mittel-Relation feststellen lassen.270 Dies hat zur Folge, dass nicht zwingend jede Lebensbeeinträchtigung eine Beeinträchtigung auch der Menschenwürde darstellen muss. Menschenwürdesatz und Lebensgrundrecht stellen keine Grundrechtseinheit dar, sondern stehen zunächst einmal selbständig nebeneinander: Die Schutzbereiche können sich überschneiden, wenn ein Eingriff in das Recht auf Leben gleichzeitig auf eine den Menschenwürdesatz tangierende Art und Weise erfolgt – sie müssen es aber nicht.271 Eine Verknüpfung von Lebens267 BVerfGE 88, 203, 251. Hierin erschöpft sich aber die von Inkonsistenz und Wertungswidersprüchen geprägte Rechtsprechung des Gerichts nicht: So scheint das Gericht bei der Bestimmung der Reichweite der Schutzpflicht die Schranke des Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG auszuschalten und Art. 2 Abs. 2 GG wie ein schrankenlos gewährleistetes Grundrecht zu behandeln: So heißt es in BVerfGE 39, 1, 46: „Keine rechtliche Regelung kann daran vorbeikommen, daß mit dieser Handlung [dem Schwangerschaftsabbruch] gegen die in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verbürgte grundsätzliche Unantastbarkeit und Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens verstoßen wird.“ [Hervorhebung durch den Verfasser]. Auf der anderen Seite wiederum hat das Bundesverfassungsgericht Einschränkungen des embryonalen Lebens durch Zulassung der embryopathischen und kriminologischen Indikation akzeptiert. Dies ist aber weder auf Grundlage einer Schutzpflicht aus Art. 1 Abs. 1 GG noch bei einer Interpretation des Art. 2 Abs. 2 als ein das Leben umfassend schützendes Grundrecht möglich. Vgl. zur Kritik Dreier, in: Dreier, GG I, Art. 1 I Rn. 69 sowie das Sondervotum in BVerfGE 39, 1, 78 f. 268 Vgl. oben Zweiter Teil C. I. 2. a) cc). 269 Vgl. Höfling, in: Sachs, GG, Art. 1 Rn. 6: „[. . .] modal ausgerichtete Generalklausel [. . .].“ 270 Vgl. oben Zweiter Teil C. I. 2. a) aa). 271 Besonders prägnant Dreier, in: Dreier, GG I, Art. 1 I Rn. 67: „Leben (auch vergangenes) ist conditio sine qua non, aber nicht conditio per quam des Art. 1 I GG. Menschenwürde ist nicht mit Lebensschutz, Menschenwürdeverletzung nicht mit der

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2. Teil: Rechtfertigung aufgrund strafrechtlicher Erlaubnisnormen

schutz und Menschenwürde, dergestalt, dass jede Tötungshandlung zwingend und automatisch eine Menschenwürdeverletzung darstellt, verbietet sich daher.272 Eng verknüpft mit den Differenzen zwischen Menschenwürdegarantie und Lebensgrundrecht im Hinblick auf den sachlichen Schutzbereich ist der Unterschied hinsichtlich des persönlichen Schutzbereichs: Da die Kategorisierung eines Verhaltens als Menschenwürdeverletzung nahezu immer auf der Verurteilung einer bestimmten Art und Weise einer Behandlung (Modus) beruht, und nicht allein den Erfolg (Finalität) einer Handlung verurteilt,273 kommt etwa einem Embryo – entgegen der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts274 – nicht der Schutz aus Art. 1 Abs. 1 GG zugute: Die Verurteilung einer bestimmten Art und Weise einer Behandlung als menschenwürdewidrig setzt notwendig einen gewissen – über den embryonalen Zustand hinausgehenden – Entwicklungsstand menschlichen Lebens voraus: „Dem Embryo fehlt es [aber] an allen Voraussetzungen (Ich-Bewußtsein, Vernunft, Fähigkeit zur Selbstbestimmung), die für die Menschenwürde konstitutiv sind. [. . .] Verletzungstatbestände im Sinne der Objektformel wie Erniedrigung, Verächtlichmachung, Brandmarkung kommen schon der Natur der Sache wegen nicht in Betracht [. . .].“275 Die Aussage des Bundesverfassungsgerichts, wo menschliches Leben existiere, komme ihm Menschenwürde zu, ist vor diesem Hintergrund nicht haltbar. Die strukturellen Unterschiede zwischen Menschenwürdegarantie und Lebensgrundrecht hinsichtlich Umfang und Reichweite ihres Schutzes erlauben es damit nicht, Eingriffe in das Recht auf Leben mit Menschenwürdeverletzungen gleichzusetzen und somit eine Relativierbarkeit des Menschenwürdesatzes zu begründen.

Verletzung (scil. Vernichtung) menschlichen Lebens identisch. Menschenwürdegarantie und Lebensschutz sind daher zu entkoppeln.“ [Hervorhebungen im Original]. 272 Dreier, in: Dreier, GG I, Art. 1 I Rn. 67. 273 Vgl. oben Zweiter Teil C. I. 2. a) aa). 274 Vgl. BVerfGE 39, 1, 41: „Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu; es ist nicht entscheidend, ob der Träger sich dieser Würde bewußt ist und sie selbst zu wahren weiß. Die von Anfang an im menschlichen Sein angelegten potentiellen Fähigkeiten genügen, um die Menschenwürde zu begründen.“ Ähnlich BVerfGE 88, 203, 252: „Diese Würde des Menschseins liegt auch für das ungeborene Leben im Dasein um seiner selbst willen.“ Zu Recht kritisch Dreier, in: Dreier, GG I, Art. 1 I Rn. 67 Fn. 197: „Das ist natürlich keine rational nachvollziehbare Begründung, sondern der offen ausgesprochene Verzicht auf eine solche oder die nicht offen ausgewiesene Anlehnung an eine philosophische Autorität.“ 275 Dreier, in: Dreier, GG I (1996), Art. 1 I Rn. 50.

C. Höherrangige Vorgaben und Grenzen für die Rechtfertigungsgründe

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ee) Eigene Ansicht: Die Schutzpflichtdimension des Art. 1 Abs. 1 GG als Schranke des Achtungsanspruchs der Menschenwürde (1) Die Gleichrangigkeit von Schutzpflicht und Achtungsanspruch bei Art. 1 Abs. 1 GG Neben Abwehrrechten, die dem Einzelnen einen Unterlassungsanspruch gegenüber rechtswidrigen Eingriffen seitens des Staates einräumen, lassen sich aus den Grundrechten auch staatliche Schutzpflichten ableiten: „Die grundrechtliche Wertordnung soll vom Staat nicht nur die Unterlassung, sondern auch die vorbeugende Verhinderung von Grundrechtsverletzungen verlangen. [. . .] Das gilt sowohl, wenn Grundrechtsverletzungen von Seiten des Staates selbst als auch wenn sie von Seiten des einzelnen drohen.“276 Weil Grundrechtsverletzungen im Bereich des Rechts auf Leben stets irreparabel wären und daher ein erst im Zeitpunkt der Grundrechtsverletzung ansetzender Schutz zu spät käme und uneffektiv wäre,277 bejaht das Bundesverfassungsgericht eine Schutzpflicht hinsichtlich Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG mit besonderem Nachdruck: „Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG verpflichtet den Staat, jedes menschliche Leben zu schützen. Diese Schutzpflicht ist umfassend. Sie gebietet dem Staat, sich schützend und fördernd vor dieses Leben zu stellen; das heißt vor allem, es auch vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren[. . .].“278

276 Pieroth/Schlink, Grundrechte (1996), Rn. 92 [Hervorhebung durch den Verfasser]. – Das Bundesverfassungsgericht hat die grundrechtlichen Schutzpflichten des Staates zunächst aus Art. 1 Abs. 1 GG hergeleitet, bevor es in BVerfGE 39, 1, 41 zusätzlich eine eigenständige Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG anerkannt hat: „Die Pflicht des Staates, jedes menschliche Leben zu schützen, läßt sich deshalb bereits unmittelbar aus Art. 2 Abs. 1 Satz 1 GG ableiten. Sie ergibt sich darüber hinaus auch aus der ausdrücklichen Vorschrift des Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG [. . .].“ Später ging das Gericht dazu über, die staatliche Schutzpflicht allgemein aus den Charakter der Grundrechte als objektivrechtliche Wertentscheidungen zu folgern. Vgl. BVerfGE 49, 89, 141 f.: „[. . .] die grundrechtlichen Verbürgungen [enthalten] nicht lediglich subjektive Abwehrrechte des Einzelnen gegen die öffentliche Gewalt, sondern stellen zugleich objektivrechtliche Wertentscheidungen der Verfassung dar, die für alle Bereiche der Rechtsordnung gelten und Richtlinien für Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung geben. [. . .] Daraus können sich verfassungsrechtliche Schutzpflichten ergeben, die es gebieten, rechtliche Regelungen so auszugestalten, daß auch die Gefahr von Grundrechtsverletzungen eingedämmt bleibt.“ 277 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 98. 278 BVerfGE 46, 160, 164. Vgl. auch die nahezu identische Formulierung in BVerfGE 39, 1, 42: „Die Schutzpflicht des Staates ist umfassend. Sie verbietet nicht nur – selbstverständlich – unmittelbare staatliche Eingriffe in das sich entwickelnde Leben, sondern gebietet dem Staat auch, sich schützend und fördernd vor dieses Leben zu stellen, das heißt vor allem, es auch vor rechtswidrigen Eingriffen von seiten anderer zu bewahren.“

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2. Teil: Rechtfertigung aufgrund strafrechtlicher Erlaubnisnormen

Nach verbreiteter Auffassung liegen die Grenzen der staatlichen Schutzpflicht aber in dem Verbot von Menschenwürdebeeinträchtigungen. So schreibt Welsch unter Bezugnahme auf Bruggers verfassungsrechtliche Argumentation: „Der Ansatz, dass – wenn auch auf den extremen Einzelfall beschränkt – eine auf die Menschenwürde bezogene Unterlassungs- und eine auf die Schutzpflicht bezogene Handlungspflicht kollidieren, so dass eine Abwägung stattfinden müsse, geht von der unrichtigen Annahme abwägungsfähiger und grundsätzlich gleichwertiger Pflichten aus.“279 Ähnlich äußert sich Merten: „Das Schlagwort ,Würde gegen Würde‘ suggeriert eine grundrechtsdogmatische Symmetrie, die so nicht gegeben ist. Es führt zu einer Gleichsetzung von staatlichem ,Geschehenlassen‘ privater Würdeverletzungen mit aktivem staatlichen Handeln in Form von Folter.“280 Die Annahme einer gegenüber der Achtungspflicht der Menschenwürde nachrangigen Schutzpflicht mag für Fälle zutreffend sein, in welchen der Staat zum Schutz hochrangiger Rechtsgüter, die keinen unmittelbaren Bezug zur Menschenwürde aufweisen,281 verpflichtet ist. Geht es aber um den Schutz der Menschenwürde, so lässt sich aus dem Wortlaut des Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG kein Vorrang der Achtungspflicht vor der Schutzpflichtdimension der Menschenwürde ableiten. Der Satz „Sie zu achten und zu schützen ist Aufgabe aller staatlichen Gewalt.“ geht von einer Gleichrangigkeit von Achtungs- und Schutzpflicht in Bezug auf die Menschenwürde aus.282 Durch die fehlende ausdrückliche Normierung einer staatlichen Schutzpflicht bei anderen Grundrechten wird deutlich, dass der Verfassungsgeber der Schutzpflichtfunktion im Hinblick auf den Menschenwürdesatz eine besondere – der Achtungspflicht gleichrangige – Bedeutung zugemessen hat. Zirkulär ist in diesem Zusammenhang der Hinweis darauf, der Staat dürfe sich zur Erfüllung der Schutzpflicht nur verfassungskonformer Mittel bedienen.283 Denn ob die Anwendung von Folter in Extremsitua-

279 Welsch, Die Wiederkehr der Folter als das letzte Verteidigungsmittel des Rechtsstaats?, BayVBl. 2003, 481, 484 [Hervorhebung durch den Verfasser]. 280 Merten, Folterverbot und Grundrechtsdogmatik – Zugleich ein Beitrag zur aktuellen Diskussion um die Menschenwürde, JR 2003, 404, 407. 281 Das Bundesverfassungsgericht hat eine Schutzpflicht nicht nur bei Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, sondern auch bei Art. 5 Abs. 3 GG (BVerfGE 55, 37, 58), Art. 6 Abs. 1 und 4 GG (BVerfGE 6, 55, 77; 52, 357, 365), Art. 7 Abs. 4 GG (BVerfGE 75, 40, 62) und Art. 12 Abs. 1 GG (BVerfGE 81, 242, 255; 92, 26, 46) angenommen. 282 So auch Gebauer, Zur Grundlage des absoluten Folterverbots, NVwZ 2004, 1405, 1407; Leifer/Korte, Öffentlich-rechtliche Klausur: „Die polizeiliche Aussageerpressung“, NdsVBl. 2004, 315, 319; Wittreck, Menschenwürde und Folterverbot, DÖV 2003, 873, 880; Götz, Das Urteil gegen Daschner im Lichte der Werteordnung des Grundgesetzes, NJW 2005, 953, 955. 283 Merten, Folterverbot und Grundrechtsdogmatik – Zugleich ein Beitrag zur aktuellen Diskussion um die Menschenwürde, JR 2003, 404, 408; Norouzi, Folter in Nothilfe – geboten?!, JA 2005, 306, 309.

C. Höherrangige Vorgaben und Grenzen für die Rechtfertigungsgründe

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tionen mit der Verfassung in Einklang steht oder nicht, muss ja gerade geklärt werden.284 Eine gegenüber anderen Grundrechten stärkere Ausprägung der Schutzpflichtfunktion bei Art. 1 Abs. 1 GG zeigt sich zusätzlich daran, dass manche Autoren in Bezug auf Art. 1 Abs. 1 GG – in Abweichung von anderen Grundrechten285 – von einer unmittelbaren Drittwirkung ausgehen.286 Zwar ist fraglich, ob einer unmittelbaren Drittwirkung im Rahmen des Art. 1 Abs. 1 GG (bzw. generell bei Grundrechten) eine gegenüber der Schutzpflichtdimension eigenständige Bedeutung zukommt.287 Selbst wenn aber die unmittelbare Drittwirkung keine gegenüber der Schutzpflicht weiterreichende Funktion aufweist, so ist die Verpflichtung privater Dritter, Eingriffe in die Würde anderer zu unterlassen, die nicht bereits aufgrund der Schutzpflichtdimension des Art. 1 Abs. 1 GG besteht,288 sondern erst Ausfluss der unmittelbaren Drittwirkung ist, ein weiteres Indiz dafür, dass der Allgemeinverbindlichkeit des Art. 1 Abs. 1 GG eine herausgehobene – und wegen des Gewaltmonopols des Staates nur durch diesen zu schützende – Stellung zukommt.289 Was die Frage der Strafbarkeit des Amtsträgers angeht, ist zudem festzustellen, dass die persönliche Rechtfertigung des Nothelfers als solche gerade keinen aktiven staatlichen Eingriff, sondern nur ein sanktionsloses Geschehenlassen individuellen menschlichen Verhaltens bedeutet.290 Würde der Staat hingegen die Rettungsmaßnahmen des Amtsträgers mittels strafrechtlicher Sanktionen unterbinden, so stellte dies eine aktive staatliche Beeinträchtigung der Menschenwürde des rechtswidrig Angegriffenen im Wege einer Vereitelung des Rettungs284

Gebauer, Zur Grundlage des absoluten Folterverbots, NVwZ 2004, 1405, 1407. Die herrschende Lehre und Rechtsprechung gehen grundsätzlich von einer mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte aus; vgl. Dreier, in: Dreier, GG I, Vorb. Rn. 98 m. w. N. 286 Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 70; Kunig, in: von Münch/ Kunig, GG I, Art. 1 Rn. 27; Hecker, Relativierung des Folterverbots in der BRD?, KJ 2003, 210, 214 Fn. 19. 287 Vgl. Fn. 158. 288 Vgl. Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 94. 289 Die Schutzpflichtdimension des Art. 1 Abs. 1 GG wirkt sich aber nicht nur zugunsten des Entführungsopfers aus, sondern auch zugunsten des Täters. Denn in gleicher Weise, wie der Staat verpflichtet ist, die Würde des Opfers zu schützen, kommt ihm die Aufgabe zu, die Würde des Täters nicht über das Maß hinaus, das für eine Rettung des Opfers erforderlich ist, zu beeinträchtigen. Letzteres bedeutet aber, dass auch (falls hoheitliche Hilfe nicht rechtzeitig zur Stelle ist) Private nicht in beliebiger Weise – gestützt auf die §§ 32, 34 StGB – unmittelbaren Zwang zur Herbeiführung einer Aussage anwenden dürfen. Die Schutzpflicht aus Art. 1 Abs. 1 GG erfordert vielmehr, dass der Staat die Anwendung privater Rettungsfolter nur unter den Voraussetzungen zulässt, die auch für die hoheitliche Rettungsfolter erfüllt sein müssen, d.h. ausschließlich als Mittel zum Schutz der Würde eines anderen. Vgl. hierzu bereits oben Zweiter Teil B. II. 3. 290 Erb, Nothilfe durch Folter, JZ 2005, 24, 27. 285

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2. Teil: Rechtfertigung aufgrund strafrechtlicher Erlaubnisnormen

erfolges dar.291 Konsequenterweise müssten daher auch diejenigen Autoren, die einen Vorrang des Eingriffsverbots vor einer etwaigen Handlungspflicht annehmen, eine strafrechtliche Rechtfertigung des Amtsträgers bejahen. (2) Kein Vorrang der Abwehrfunktion aufgrund der liberal-abwehrrechtlichen Grundrechtstradition Teilweise wird den Schutzpflichtfunktionen der Grundrechte auch deshalb eine schwächere Wirkung beigemessen als der abwehrrechtlichen Dimension, weil die Abwehrfunktion der Grundrechte die „klassische“ – gemeint ist: ursprüngliche – sei. Dieses Argument ist in Bezug auf Art. 1 Abs. 1 GG in zweierlei Hinsicht angreifbar: Zum einen enthält die Einstufung der abwehrrechtlichen Funktion der Grundrechte als „klassisch“ kein historisches, sondern ein systematisches Urteil. Grundrechte waren in Kontinentaleuropa nie als reine Abwehrrechte entwickelt worden, da mit ihrer Hilfe eine vormoderne Staats- und Gesellschaftsordnung erst überwunden werden musste und auf eine neue Basis zu stellen war.292 Zum anderen steht durch die ausdrückliche Normierung der Schutzpflicht in Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG diese der Abwehrfunktion von Anbeginn – d.h. seit Inkrafttreten des Grundgesetzes – gegenüber. Die Abwehrdimension kann daher zumindest hinsichtlich Art. 1 Abs. 1 GG gar nicht als die ursprüngliche angesehen werden. (3) Kein Vorrang der Abwehrfunktion aufgrund des Wortlauts Wenn Welsch schreibt, die staatliche Schutzpflicht dürfe die Menschenwürde nicht einschränken, weil sonst die besonders geschützte Menschenwürde, die jedweder Abwägung entzogen sei, antastbar würde,293 so stellt dies eine unzulässige Begrenzung des Wortes „unantastbar“ allein auf die Abwehrfunktion des Art. 1 Abs. 1 GG dar. In systematischer Zusammenschau mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG ist aber kein Grund ersichtlich, warum die Unantastbarkeit nur für die Achtungspflicht, nicht bzw. nur in geringerem Maße aber für die staatliche Schutzpflicht gelten soll.294 291

Erb, Nothilfe durch Folter, JZ 2005, 24, 27. Vgl. Dreier, in: Dreier, GG I, Vorb. Rn. 85: „Im revolutionären Frankreich nicht anders als im süddeutschen Konstitutionalismus sollten Grundrechte nicht als negative, antistaatliche Abwehrwaffe, sondern als zumeist legislatives Instrument gesamtgesellschaftlichen Umbaus dienen.“ 293 Welsch, Die Wiederkehr der Folter als das letzte Verteidigungsmittel des Rechtsstaats?, BayVBl. 2003, 481, 484 [Hervorhebung durch den Verfasser]. 294 Vgl. besonders deutlich Brugger, Würde gegen Würde, VBlBW 1995, 446, 450: „Art. 1 Abs. 1 GG enthält aber auch ein nicht einschränkungsfähiges Gebot für den 292

C. Höherrangige Vorgaben und Grenzen für die Rechtfertigungsgründe

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Vor diesem Hintergrund verliert auch das von der herrschenden Meinung für die Abwägungsfestigkeit des Menschenwürdesatzes angeführte Wortlautargument an Bedeutung: Die Menschenwürde ist nur so lange seitens des Staates „unantastbar“, so lange diese Unterlassungspflicht nicht mit einer gleichrangigen – nach Art. 1 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. Satz 2 GG ebenfalls unantastbaren – Schutz- und damit Handlungspflicht kollidiert. Konfligieren unantastbare Achtungspflicht und unantastbare Schutzpflicht, hat der Staat einen angemessenen Ausgleich zwischen beiden Positionen herbeizuführen, bei dem nicht notwendigerweise die Schutzpflicht zurücktreten muss, sondern als dessen Ergebnis auch eine Einschränkung der Achtungspflicht in Betracht kommen kann. Das von der herrschenden Meinung aus dem Wortlaut des Art. 1 Abs. 1 GG abgeleitete Verbot jeglichen Eingriffs in die Menschenwürde verkennt, dass das Wort „unantastbar“ funktional auf Achtungs- und Schutzpflicht bezogen ist. Auch ist der Verweis auf den Wortlaut der „Unantastbarkeit“ als Begründung für die Uneinschränkbarkeit der Menschenwürde generell kein sehr durchschlagendes Argument. Vergleicht man ihn nämlich mit der Formulierung anderer vorbehaltlos gewährleisteter Grundrechte, die vom Verfassungsgeber als „unverletzlich“ garantiert wurden (etwa die Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit in Art. 4 Abs. 1 GG), so ist der Unterschied in der Bedeutung der Worte „unantastbar“ und „unverletzlich“ zu gering, um eine (verfassungsimmanente) Abwägung bei den schrankenlosen Grundrechten generell zuzulassen, bei Art. 1 Abs. 1 GG aber die Möglichkeit jeglicher Relativierung vehement zu bestreiten.295 Der größere Tabubruch dürfte wohl – geht man nur vom Wortlaut aus – in der Zulassung der Beschränkbarkeit eines dem Wortlaut nach „unverletzlichen“ Grundrechts liegen, als in der Relativierbarkeit der „unantastbaren“ Menschenwürde vor dem Hintergrund der allseits akzeptierten Einschränkbarkeit vorbehaltlos garantierter Grundrechte durch verfassungsimmanente Schranken. Eine Einschränkung der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG bei der Kollision von Achtungs- und Schutzpflicht liegt letztendlich sogar näher als

Staat, die Würde aller Menschen zu schützen, also positive Vorkehrungen zu deren Schutz zu treffen.“ [Hervorhebung im Original]. 295 Ähnlich Herzberg, Folter und Menschenwürde, JZ 2005, 321, 322 f.; A. A. Kloepfer, Grundrechtstatbestand und Grundrechtsschranken, in: FS 25 Jahre BVerfG, Band 2, S. 405, 411: „Der Schluss von der Höchstwertigkeit auf die fehlende Beschränkbarkeit der Menschenwürde scheint bereits angesichts des Wortlauts der Verfassung nahezuliegen, wenn Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG die Würde des Menschen für ,unantastbar‘ erklärt und nicht für ,unverletzlich‘ wie die in Art. 1 Abs. 2, 2 Abs. 2 Satz 2, 4 Abs. 1, 10 Abs. 1, 13 Abs. 1 genannten Freiheiten, deren Beschränkbarkeit sich ja teilweise aus dem Grundgesetz selbst ergibt.“ – Dabei lässt Kloepfer aber außer Acht, dass die Beschränkbarkeit des Menschenwürdesatzes ja ebenfalls aus dem Grundgesetz folgt, nämlich aus der der Achtungspflicht gleichrangig gegenübergestellten Schutzpflichtdimension in Art. 1 Abs. 1 GG.

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2. Teil: Rechtfertigung aufgrund strafrechtlicher Erlaubnisnormen

eine Beschränkung vorbehaltlos gewährleisteter Grundrechte durch kollidierendes Verfassungsrecht als immanente Schranken. Denn bei der Menschenwürde ist die Beschränkung der Achtungspflicht aufgrund der Schutzpflichtdimension bereits in der Binnenstruktur des Art. 1 Abs. 1 GG angelegt, während die Beschränkung vorbehaltlos garantierter Grundrechte durch Grundrechte Dritter bzw. anderer mit Verfassungsrang ausgestatteten Rechtsgütern erst aus dem Sozialbezug der Grundrechtsausübung und dem Grundsatz der Einheit der Verfassung abgeleitet werden kann.296 (4) Kein Ausschluss der Relativierbarkeit aufgrund Art. 79 Abs. 3 GG Auch das von einigen Autoren vorgebrachte Argument, eine Einschränkung der Menschenwürde sei wegen des besonderen Schutzes des Art. 1 GG durch Art. 79 Abs. 3 GG nicht möglich, steht der Anerkennung einer der Achtungspflicht gleichrangigen Schutzpflicht und damit einer Abwägungsoffenheit des Menschenwürdesatzes nicht im Wege. Es ist zwar die These überzeugend, dass wegen Art. 79 Abs. 3 GG eine Abwägung der Menschenwürdegarantie nur mit den ebenfalls der Verfassungsänderung entzogenen Verfassungsgrundsätzen denkbar wäre, dass aber die anderen in Art. 79 Abs. 3 GG genannten höchsten Verfassungsgüter für eine Eingriffsrechtfertigung ausscheiden, weil sie gerade um der Menschenwürde willen bestehen.297 Damit sind aber nur die in Art. 20 GG genannten Verfassungsprinzipien298 als abwägungsrelevante Kriterien ausgeschlossen. Art. 79 Abs. 3 GG verbietet hingegen nicht eine Abwägung bei einem Konflikt innerhalb des Art. 1 Abs. 1 GG, da nicht nur die Achtungspflicht, sondern auch die Schutzpflichtdimension des Menschenwürdesatzes am besonderen Schutz des Art. 79 Abs. 3 GG teilhat: Ein gegenüber der Schutzpflicht höherer Rang der Achtungspflicht lässt sich Art. 79 Abs. 3 GG nicht entnehmen. (5) Ergebnis Daraus lässt sich folgendes Ergebnis ableiten: Kollidieren Handlungs- und Unterlassungspflicht des Staates hinsichtlich Art. 1 Abs. 1 GG, so liegt ein Fall konfligierender Grundrechtsinteressen verschiedener Grundrechtsträger vor. Das jeweilig gegenläufige Interesse ist als Schranke auf der Rechtfertigungsebene zu berücksichtigen: Die Achtungspflicht der Menschenwürde findet ihre Grenzen 296

Vgl. Dreier, in: Dreier, GG I, Vorb. Rn. 139. Vgl. Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 365. 298 Vgl. zur Terminologie der in Art. 20 GG niedergelegten Prinzipien Dreier, in: Dreier, GG II, Art. 20 (Einführung) Rn. 6 ff. 297

C. Höherrangige Vorgaben und Grenzen für die Rechtfertigungsgründe

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in der staatlichen Pflicht zum Schutz der Menschenwürde und umgekehrt. Dies bedeutet, dass die Schutzpflichtdimension der Menschenwürde bei Beeinträchtigungen der Achtungspflicht einen Schrankenvorbehalt bildet. Obwohl die Menschenwürdegarantie damit beschränkbar ist, bleibt die besondere Stellung dieses Grundrechts gegenüber den übrigen Grundrechten gewahrt. Denn die Eingriffsvoraussetzungen sind bei Beeinträchtigungen der Menschenwürde deutlich höher als bei den übrigen Grundrechten. Dies gilt sogar gegenüber vorbehaltlos garantierten Grundrechten. Während diese nämlich ihre Grenzen in den kollidierenden Grundrechten Dritter und in den mit Verfassungsrang ausgestatteten Rechtsgütern finden,299 kann die Achtungspflicht des Art. 1 Abs. 1 GG ausschließlich bei der Kollision mit der Menschenwürde eines anderen eingeschränkt werden.300 Zu beachten ist, dass die Beschränkbarkeit des Art. 1 Abs. 1 GG auf der Rechtfertigungsebene eine normimmanente Konkretisierung des Würdebegriffs – wie sie Herdegen vorschlägt – nicht notwendig überflüssig macht. Diese kann vielmehr einer inter-normativen Abwägung vorgeschaltet sein:301 Die normimmanente Abwägung stellt sich nach der hier vertretenen Auffassung dann aber als nicht so umfassend wie in Herdegens Ansatz dar, in welchem auch die gegenläufigen Interessen verschiedener Grundrechtsträger in einem Schritt zusammengefasst und abgewogen werden. Sie ist vielmehr auf die Untersuchung jeweils eines Grundrechtsträgers beschränkt: So ist bei der Kollision von Achtungsanspruch und Schutzpflicht innerhalb des Art. 1 Abs. 1 GG in einem ersten Schritt – ggf. aufgrund einer Zweck-Mittel-Relation (normimmanenten Abwägung) – zu prüfen, ob der Eingriff des Staates eine Menschenwürdeverletzung darstellt, der die Abwehrfunktion des Art. 1 Abs. 1 GG aktiviert.302 Gleichzeitig muss untersucht werden, ob das Handeln des Eingriffsopfers zu 299

Vgl. z. B. BVerfGE 28, 243, 261. Für eine Beschränkbarkeit des Art. 1 Abs. 1 GG bei Kollision von Achtungsund Schutzpflicht auch Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 1 Abs. 1 Rn. 31, 71; Brugger, Würde gegen Würde, VBlBW 1995, 446, 450. 301 Auch Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 45, würde die Möglichkeit einer inter-normativen Abwägung des Achtungsanspruchs aus Art. 1 Abs. 1 GG mit der Schutzpflicht gegenüber der Würde theoretisch für denkbar halten, „wenn dieses Abwägungsszenario nicht die juristische Vorstellungskraft überfordern würde.“ 302 Bereits oben [Zweiter Teil C. I. 2. a) aa)] wurde darauf hingewiesen, dass bei Einsatz staatlicher Gewalt in der Regel nur die Zusammenschau mit dem verfolgten Zweck eine Bewertung der Maßnahme hinsichtlich Art. 1 Abs. 1 GG zulässt. So greift die Gewaltanwendung zur Erlangung einer Aussage in den Grundrechtstatbestand des Art. 1 Abs. 1 GG ein, während etwa die Anwendung unmittelbaren Zwanges zur Auflösung einer rechtswidrigen Demonstration (z. B. Wegtragen der Demonstranten durch die Polizei) regelmäßig nicht den Schutzbereich des Art. 1 Abs. 1 GG berührt. – Nicht konsequent erscheint in diesem Zusammenhang die Beurteilung „willensbeugender oder willenskontrollierender Eingriffe“ als „rein modal“ durch Herdegen, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 45. Die Begriffe „willensbeugend“ und „willenskontrollierend“ enthalten doch ein deutlich finales Element. 300

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Lasten eines Dritten den Menschenwürdesatz tangiert, wodurch die Schutzpflichtfunktion des Art. 1 Abs. 1 GG aktiviert wird. Steht als Ergebnis fest, dass in beiden Fällen der Schutzbereich des Art. 1 Abs. 1 GG berührt wird, muss schließlich in einer inter-normativen Abwägung303 ein möglichst schonender Ausgleich zwischen den gegenläufigen Interessen hergestellt werden.304 Für das Ergebnis einer Einschränkbarkeit des Menschenwürdesatzes streiten zuletzt auch rechtsphilosophische Erwägungen. Brugger bezieht sich für seine Ansicht, die Anwendung unmittelbaren Zwangs in Extremsituationen zuzulassen, etwa auf den Gesellschaftsvertrag im Sinne Kants: Zweck der Staatshervorbringung sei nach Kant die Sicherung größtmöglicher Freiheit aller; Zwang dürfe innerhalb des Staatsverbandes nur so weit angewendet werden, als er sich auf ein Hindernis der Freiheit beziehe und dieses Hindernis beseitige. Zu fragen sei daher, ob die Absolutheit des Folterverbotes der größtmöglichen Freiheit der Bürger entgegenstehe. Brugger bejaht dies: „Hier würde die Absolutheit des Folterverbots zu schweren Eingriffen in andere Rechtswerte und Grundrechte führen; die Kaltblütigkeit und die Raffinesse des Erpressers würden belohnt; so wird allgemeine Freiheit nicht gefördert, sondern gefährdet.“305 Der Zwang zur Preisgabe des Aufenthaltsortes des Bedrohten stelle sich damit als Beseitigung eines Hindernisses der Freiheit dar und sei folglich auf Grundlage der Gesellschaftsvertragstheorie Kants gerechtfertigt.306 Zum Zweiten rekurriert Brugger auf den Gerechtigkeitsutilitarismus Trapps.307 Dieser stellt den dem klassischen Utilitarismus zugrunde liegenden Gedanken der Nutzenmaximierung unter bestimmte einschränkende Bedingungen. Hierzu zählen insbesondere diejenigen Überzeugungen, die im Rahmen einer jeweiligen Gesellschaft für ihr Personenverständnis und ihre Gerechtigkeitsüberzeugungen konstitutiv sind. Bezieht man diese einschränkenden Bedingungen in den klassischen Utilitarismus mit ein, so ändert dies aber im Falle der Rettungsfolter an dem Überwiegen der Interessen des Opfers nichts. Denn der Erpresser hat das Recht überschritten, nicht der Bedrohte; nur der Erpresser kann die Gefahr rückgängig machen, das Opfer nicht.308 Somit handelt es sich auf Seiten des Bedrohten um die weitaus größeren Interessen. Zwar könne das positive Recht bei der Gewährung von Individualinte303 Auch wenn nach der hier favorisierten Lösung Art. 1 Abs. 1 GG in seiner Abwehrfunktion mit Art. 1 Abs. 1 GG in seiner Schutzpflichtfunktion kollidiert, kann – obwohl es sich um den gleichen Grundgesetzartikel handelt – von einer inter-normativen Abwägung gesprochen werden, weil sich Achtungsanspruch und Schutzpflicht in der Abwägung als gegenläufige Positionen verschiedener Grundrechtsträger selbständig gegenüberstehen. 304 Die normimmanente Abwägung Herdegens spaltet sich damit in zwei normimmanente Abwägungen, einmal bezogen auf die Achtungs- und einmal bezogen auf die Schutzpflichtfunktion, sowie eine inter-normative Abwägung, in der ein schonender Ausgleich zwischen Handlungs- und Unterlassungspflicht gefunden werden muss, falls als Ergebnis beider normimmanenten Abwägungen ein Eingriff in die Menschenwürde bejaht wird. 305 So Brugger, Darf der Staat ausnahmsweise foltern?, Der Staat 35 (1996), 67, 88 für den Fall eines Bombenlegers. 306 Brugger, Darf der Staat ausnahmsweise foltern?, Der Staat 35 (1996), 67, 88. 307 Vgl. Brugger, Darf der Staat ausnahmsweise foltern?, Der Staat 35 (1996), 67, 91 ff.

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ressen weiter gehen als die moralische Reflexion, solange Situationen wie terroristische Bedrohungen reine Fiktion seien. „Sollte sich dies jedoch ändern und nuklearer Terror jener Art durch Erpresser, Politikfanatiker oder Großkriminelle technisch möglich und üblich werden, so läge es im Allgemeininteresse, selbst die Individualrechte auf Aussageverweigerung und körperliche Integrität unter präziser Benennung jener Fallklasse einzuschränken.“309

b) Bedeutung der Relativierbarkeit des Menschenwürdesatzes für Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG Die Relativierbarkeit des Art. 1 Abs. 1 GG zum Schutz der Würde einer Person hat auch Konsequenzen für die Auslegung des Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG. Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG beansprucht nicht nur im Staat-Bürger-Verhältnis, sondern als Konkretisierung des Menschenwürdesatzes auch inter privatos Geltung. Mit der Statuierung eines generellen Verbots der körperlichen und seelischen Misshandlung von festgehaltenen Personen stünde diese Vorschrift damit ihrem Wortlaut nach der „Gebotenheit“ der Notwehrhandlung und damit einer strafrechtliche Rechtfertigung des Amtsträgers entgegen. Brugger schlägt hier im Hinblick auf die staatliche Pflicht zum Schutz der Menschenwürde des Opfers eine teleologische Reduktion dieser Vorschrift vor, um die zwangsweise Herbeiführung einer Aussage in bestimmten Situationen zu ermöglichen.310 Man könnte aber auch daran denken, Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG – da diese Vorschrift in unzulässiger Weise in die durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützte Schutzpflichtfunktion des Menschenwürdesatzes eingreift – als verfassungswidriges Verfassungsrecht zu qualifizieren. Das Bundesverfassungsgericht hat zwar die Möglichkeit verfassungswidriger Verfassungsnormen, auch originärer – d.h. auf den ursprünglichen Verfassungsgeber (pouvoir constituant) zurückgehender – verfassungswidriger Verfassungsnormen, wie sie Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG eine darstellt, anerkannt.311 Solange 308 Trapp, Individualrechte ernst – aber nicht unangemessen ernst genommen, in: Ethische und politische Freiheit, S. 447, 463. 309 Trapp, Individualrechte ernst – aber nicht unangemessen ernst genommen, in: Ethische und politische Freiheit, S. 447, 463. 310 Vgl. oben Erster Teil B. IV. 1. b). 311 BVerfGE 3, 225, 231 ff. Zugleich hält das Gericht aber das Vorliegen originärer verfassungswidriger Verfassungsnormen für äußerst unwahrscheinlich, vgl. BVerfGE 3, 225, 233: „Die Wahrscheinlichkeit, daß ein freiheitlich demokratischer Verfassungsgeber diese Grenzen irgendwo überschritte, ist freilich so gering, daß die theoretische Möglichkeit originärer ,verfassungswidriger Verfassungsnormen‘ einer praktischen Unmöglichkeit nahezu gleichkommt.“ Für eine Bindung nur des verfassungsändernden Gesetzgebers hingegen Dreier, in: Dreier, GG II, Art. 79 III Rn. 11 unter Berufung auf BVerfGE 89, 155, 180. – BVerfGE 89, 155, 180 kann allerdings nicht als Argument gegen die Möglichkeit originärer verfassungswidriger Verfassungsnormen herangezogen werden. Wenn das Gericht anführt, dass Art. 79 Abs. 3 GG der verfassungs-

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aber die verfassungskonforme Auslegung einer Norm möglich ist, kommt dieser Vorrang zu: Die Grenzen der Auslegung liegen auch im Bereich des Verfassungsrechts erst dort, „wo einer nach Wortlaut und Sinn eindeutigen Vorschrift ein entgegengesetzter Sinn verliehen, der normative Gehalt der auszulegenden Norm grundlegend neu bestimmt oder das normative Ziel in einem wesentlichen Punkt verfehlt würde.“312 Dies ist bei Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG nicht der Fall. Dieser verliert durch eine Einschränkung, um die Anwendung von Zwang zur Aussageerzwingung zum Schutz von Leib und Leben zu ermöglichen, nicht seinen grundsätzlichen normativen Gehalt, eine festgehaltene Person in hilfloser Lage besonders zu schützen. Nur in einzelnen Fällen, in denen der Entführer bzw. Erpresser durch sein Wissen das Leben von Menschen in seiner Hand hat, ist Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG in systematischer Interpretation mit Art. 1 Abs. 1 GG, insbesondere im Lichte der Schutzpflichtfunktion der Menschenwürdegarantie, auszulegen und teleologisch zu reduzieren: Das Festhalten am ausdrücklichen Wortlaut des Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG auch in solchen Extremsituationen würde der Abwehrfunktion des Menschenwürdesatzes, aus der die Schranken-Schranke des Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG in erster Linie entsprungen ist, in unzulässiger Weise zu Lasten der Schutzpflichtfunktion Vorrang einräumen. Daher ist diese Schranken-Schranke in Extremsituationen ihrerseits einzuschränken. c) Zur Einschränkbarkeit des Art. 1 Abs. 1 GG in Entführungsfällen Nachdem also die Achtungspflicht des Art. 1 Abs. 1 GG bei Kollisionen mit der Menschenwürde eines anderen einschränkbar ist, stellt sich die Frage nach den Auswirkungen dieser Relativierbarkeit des Menschenwürdesatzes für die Fälle einer zwangsweisen Herbeiführung einer Aussage im präventiv-polizeilichen Aufgabenbereich.

ändernden Gewalt Grenzen zieht, so kann das nicht im Sinne einer Ausschließlichkeit verstanden werden, dass nur dem verfassungsändernden Gesetzgeber Grenzen gezogen sind. – Gegen die Möglichkeit originären verfassungswidrigen Verfassungsrechts spricht freilich der Wortlaut des Art. 79 Abs. 3 GG („Änderung dieses Grundgesetzes“), der ausschließlich den verfassungsändernden Gesetzgeber an die Vorgaben des Art. 79 Abs. 3 GG bindet. 312 BVerfGE 109, 279, 316 f. Das Bundesverfassungsgericht scheint der Annahme verfassungswidrigen Verfassungsrechts äußerst reserviert gegenüberzustehen. So betont das Gericht in BVerfGE 109, 279, 310, Art. 79 Abs. 3 GG sei eine eng auszulegende Ausnahmevorschrift. Wie schon bei den Änderungen zu Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 10 Abs. 2 GG hat das Gericht auch bei Art. 13 Abs. 3 GG eine verfassungskonforme Auslegung vorgenommen und die Verfassungswidrigkeit der Verfassungsänderung verneint. Kritisch das Sondervotum in BVerfGE 109, 279, 382 ff.

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aa) Die Entführung als Würdebeeinträchtigung Eine Einschränkbarkeit des Art. 1 Abs. 1 GG zugunsten einer Anwendbarkeit der Rettungsfolter ist – wie soeben festgestellt – nur dann möglich, wenn die Anwendung von Zwang zur Herbeiführung einer Aussage der Erfüllung der staatlichen Schutzpflicht aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG dient. Dies ist nur dann der Fall, wenn man die Beeinträchtig des Opfers, die von dem Aggressor ausgeht (die Entführung, Geiselnahme etc.), als Menschenwürdeverletzung qualifizieren kann. Während die zwangsweise Herbeiführung einer Aussage übereinstimmend als Würdebeeinträchtigung kategorisiert wird,313 bestreitet ein Teil der Lehre, dass die Entführung eines Menschen den Schutzbereich des Art. 1 Abs. 1 GG berührt. So stellt Merten fest: „Das von privaten Aggressoren ausgehende Verhalten stellt sich bei genauer Betrachtung als Bedrohung des Lebensgrundrechts in Form der zu befürchtenden Tötung von Menschen dar. Es handelt sich damit nicht um eine Konstellation ,Würde gegen Würde‘, sondern ,Würde gegen Leben‘.“314 Auch Pieroth/Schlink sehen in einer Geiselnahme keinen Eingriff in Art. 1 Abs. 1 GG, wenn sie feststellen, dass bei einem Entführten „eben nur das Leben und nicht die Menschenwürde bedroht“ ist.315 Eine Begründung für ihre Einschätzung führen die genannten Autoren allerdings nicht an. Sieht man sich die Situation bei einer Entführung genau an, so spricht indes vieles dafür, das Verhalten des Aggressors gegenüber dem Opfer ebenfalls als Eingriff in die Menschenwürde zu beurteilen. Bereits auf Grundlage der trotz vielfältiger Kritik noch oft herangezogenen sog. „Objektformel“, die eine Verletzung des Art. 1 Abs. 1 GG daran festmacht, dass der „konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird,“316 lässt sich eine Menschenwürdebeeinträchtigung des Entführten begründen. Denn dieser wird schon durch die Art seiner Behandlung zum bloßen Objekt erniedrigt: Er wird gegen seinen Willen für unbestimmte Zeit festgehalten, möglicherweise körperlich misshandelt, er weiß nicht, ob und wann er wieder freigelassen wird, sein Leben und die Wiedererlangung der Freiheit ist allein vom Willen des Entführers abhängig. Hinzu kommt seine Instrumentalisie313 Vgl. Wittreck, Menschenwürde und Folterverbot, DÖV 2003, 873, 874: „Tatsächlich wird ganz unabhängig von der zugrunde gelegten ,Würdetheorie‘ der Schutz vor massiven Eingriffen in die körperliche Integrität und damit vor jeder Art von Zwang zur Erpressung von Aussagen einhellig als ebenso evidenter wie zentraler Gehalt des Menschenwürdesatzes ausgewiesen.“ 314 Merten, Folterverbot und Grundrechtsdogmatik, JR 2003, 404, 407. In diesem Sinne auch Kretschmer, Folter in Deutschland: Rückkehr einer Ungeheuerlichkeit?, RuP 2003, 102, 108. 315 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 366. Kritisch Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 22. 316 Dürig, Der Grundsatz von der Menschenwürde, AöR 81 (1956), 117, 127.

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2. Teil: Rechtfertigung aufgrund strafrechtlicher Erlaubnisnormen

rung für die Zwecke des Entführers. Das Opfer ist für ihn nur Mittel zur Erlangung eines bestimmten Zieles. Seine Selbstbestimmung und sein sozialer Achtungsanspruch werden in massiver Weise negiert.317 Aber auch wer die Objektformel als zu unbestimmt ablehnt,318 wird letztendlich eine Menschenwürdeverletzung nicht verneinen können. Die Wahrung der Individualität und Integrität der menschlichen Persönlichkeit stellt nämlich eine aus Art. 1 Abs. 1 GG abgeleitete Grundaussage dar, über die weitgehender Konsens besteht.319 Diese sich aus Art. 1 Abs. 1 GG ergebende Pflicht besteht nicht nur im Verhältnis Staat – Bürger, sondern wegen der nicht auf den Staat beschränkten Verbindlichkeit des Art. 1 Abs. 1 GG auch im Verhältnis der Bürger untereinander. Erniedrigende Behandlungsformen, wie sie eine Gefangennahme darstellt, sind damit als Eingriff in Art. 1 Abs. 1 GG zu charakterisieren.320 Erfolgte eine ähnliche Behandlung von staatlicher Seite, würde eine Menschenwürdebeeinträchtigung wohl von keinem geleugnet werden.321 Dann kann aber im Verhältnis zwischen Privaten nichts anderes gelten. Da auch die Drohung eines Terroristen, er habe den Zünder einer Bombe aktiviert, die in wenigen Stunden eine Großstadt zerstören wird, die potentiellen Opfer in ihrer Würde beeinträchtigt, 322 ergeben sich aus verfassungsrechtlicher Sicht keine Unterschiede bei der Bewertung der Zulässigkeit der Rettungsfolter bei einer Entführung auf der einen bzw. einem geplanten Terroranschlag auf der anderen Seite.

317 Vgl. auch Lüderssen, Die Folter bleibt tabu, in: FS Rudolphi, S. 691, 702: „Dass die Menschenwürde eines eingesperrten, jeden Moment um sein Leben fürchtenden Menschen verletzt ist, sollte man ohne weiteres annehmen.“ 318 Vgl. zur Kritik Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 360; Dreier, in: Dreier, GG I, Art 1 I Rn. 53. Hinzu kommt, dass die Objektformel bei wortwörtlichem Verständnis nicht zur Bestimmung von Menschenwürdeverletzungen geeignet ist. Denn der Mensch wird in vielen Situationen des Lebens ganz unvermeidlich als Mittel und nicht als Zweck von anderen Menschen oder der staatlichen Gewalt behandelt: Ist etwa eine Person, die bei der Auflösung einer rechtswidrigen Versammlung von der Polizei weggetragen wird, weniger „Objekt“ als jemand, der mittels Gewalt zur Preisgabe von Informationen gezwungen wird, die zur Rettung eines Menschenlebens notwendig sind? 319 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 361; Dreier, in: Dreier, GG I, Art 1 I Rn. 60. 320 Vgl. auch Erb, Nothilfe durch Folter, Jura 2005, 24, 27: „Neben den entwürdigenden Umständen, die den Tod eines Kindes durch Ersticken, Verdursten oder Verhungern in einem dunklen Loch zwangsläufig [. . .] prägen, kommt hier der menschenverachtenden Instrumentalisierung des Opfers entscheidendes Gewicht zu: Eine deutlichere Missachtung der Personalität eines Menschen als dadurch, dass man ihn wie ein Stück Vieh einsperrt, um ihn zum Objekt eines verbrecherischen Geschäfts zu machen, [. . .] dürfte kaum vorstellbar sein.“ 321 Erb, Nothilfe durch Folter, Jura 2005, 24, 27. Wittreck, Menschenwürde und Folterverbot, DÖV 2003, 873, 880 Fn. 65 weist in diesem Zusammenhang auf die Entscheidung des OLG Frankfurt NStZ 1985, 572 hin, das eine Unterbringung von drei Gefangenen auf 11,54 m2 als Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 GG qualifiziert hat. 322 Vgl. oben Zweiter Teil C. I. 2. a) bb).

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Würde des Täters steht damit gegen Würde des Opfers.323 Ein Eingriff in Art. 1 Abs. 1 GG, wie sie die Rettungsfolter darstellt, kann damit zur Beendigung der Würdeverletzung des Entführten gerechtfertigt sein. bb) Abwägung zwischen Täter- und Opferwürde Die grundsätzliche Möglichkeit einer Abwägbarkeit zwischen Achtungs- und Schutzpflicht aus Art. 1 Abs. 1 GG bedeutet aber noch nicht, dass der Einsatz der Rettungsfolter im konkreten Einzelfall zulässig ist. Wie in jeder Grundrechtsprüfung ist auch im Falle des Art. 1 Abs. 1 GG die jeweilige eingriffsbegründende Maßnahme einer Verhältnismäßigkeitsprüfung zu unterziehen, die angesichts der Ausnahmesituation mit „äußerster Strenge“324 durchzuführen ist. Innerhalb einer solchen Abwägung wird zugunsten des Entführers teilweise vorgebracht, dass der Einsatz der Inquisitions-Folter325 als Mittel zur Wahrheitsfindung grundsätzlich nicht geeignet sei, da sie häufig Falschangaben provoziere.326 Diese Behauptung wurde bereits oben widerlegt: Wegen der Möglichkeit einer kurzfristigen Überprüfbarkeit der Angaben des mutmaßlichen Täters im präventiven Bereich besteht für diesen ein maximaler Zwang zur Preisgabe wahrer Informationen. Die Situation bei der Rettungsfolter unterscheidet sich damit grundlegend von der Sachlage bei der Inquisitionsfolter.327 Häufig wird auch ein vielfach als „Dammbruch-Argument“ bezeichneter Gesichtspunkt gegen die Anwendung der Rettungsfolter ins Feld geführt:328 Die zunächst nur in Einzelfällen erfolgende Relativierung – so die Argumentation – könne zu einer langsamen Aushöhlung des Folterverbots führen, so dass die Gefahr bestehe, dass die Rettungsfolter auch jenseits der beschriebenen Extremsituationen mehr und mehr zum Einsatz komme. Es ist allerdings fraglich, ob die Gefahr einer Aushöhlung des Folterverbots in einem rechtsstaatlich orientierten Staat wie der Bundesrepublik tatsächlich besteht. Größer erscheint die Gefahr einer Aushöhlung durch eine ausnahms323

So im Ergebnis auch Brugger, Würde gegen Würde, VBlBW 1995, 446, 450. So Wittreck, Menschenwürde und Folterverbot, DÖV 2003, 873, 881. 325 So der von Jerouschek/Kölbel, Folter von Staats wegen?, JZ 2003, 613, 614 gewählte Begriff für die strafprozessuale Folter in Abgrenzung zur Rettungsfolter, die von Jerouschek/Kölbel als Präventionsfolter bezeichnet wird. 326 Jerouschek/Kölbel, Folter von Staats wegen?, JZ 2003, 613, 617 f. 327 Vgl. Zweiter Teil B. II. 2. 328 Vgl. etwa Gebauer, Zur Grundlage des absoluten Folterverbots, NVwZ 2004, 1405, 1409; Jerouschek/Kölbel, Folter von Staats wegen?, JZ 2003, 613, 619; Jeßberger, „Wenn Du nicht redest, füge ich Dir große Schmerzen zu“, Jura 2003, 711, 714; Kretschmer, Folter in Deutschland: Rückkehr einer Ungeheuerlichkeit?, RuP 2003, 102, 114; Raess, Der Schutz vor Folter im Völkerrecht, S. 112; Welsch, Die Wiederkehr der Folter als das letzte Verteidigungsmittel des Rechtsstaats?, BayVBl. 2003, 481, 484 f. 324

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weise erfolgende Relativierung in nicht so rechtsstaatlich geprägten Staaten.329 Bei der Befürchtung, nach einer Rechtfertigung der Zwangsanwendung in der hier in Frage stehenden Konstellation gebe es kein Halten mehr, handelt es sich also um eine reine Spekulation: „Warum sollte eine Rechtfertigung der hier zur Debatte stehenden Maßnahmen, die an die engen Voraussetzungen der Notwehrlage i. S. von § 32 StGB gebunden ist und deshalb nur ganz ausnahmsweise zum Tragen kommt, einen Beamten motivieren, sich außerhalb einer Notwehrlage zu solchen Verhaltensweisen hinreißen zu lassen – also in einem Fall, in dem an der absoluten Verbotenheit und Strafbarkeit überhaupt kein Zweifel besteht? Die Vorstellung, die Rechtsordnung insgesamt oder einzelne Beamte hätten so wenig Differenzierungsvermögen, daß die ,Enttabuisierung‘ des Folterverbots im klar umrissenen Sonderfall der Notwehrlage zur Ursache dafür werden könnte, daß in Zukunft das Folterverbot durch Interessenabwägungen (um die es bei der Notwehr gerade nicht geht!) relativiert würde, entbehrt jeder Plausibilität. So löst ja auch die Zulassung tödlicher Notwehrhandlungen, mit der das andere zentrale ,Tabu‘ unserer Zivilisation (nämlich das Tötungsverbot) legitimer- und notwendigerweise durchbrochen wird, keinen ,Dammbruch‘ aus, wie man ihn etwa im Sine eines rücksichtsloser werdenden Schußwaffengebrauchs durch die Polizei bis hin zur Bildung von ,Todesschwadronen‘ an die Wand malen könnte.“330

Auch zeigt der Vergleich mit dem in den Polizeigesetzen von sechs Ländern normierten finalen Rettungsschuss, dessen Einführung von großen Diskussionen begleitet war,331 dass die Regelung selbst weitreichendster Eingriffe in Grundrechte des Bürgers in Ausnahmesituationen nicht zwangsläufig zu einem Missbrauch führt. Die Seltenheit der Anwendung des polizeilichen Todesschusses macht deutlich, dass die engen Voraussetzungen, unter denen der Einsatz dieses Zwangsmittels nur zulässig ist, von der Polizei respektiert und auch nicht durch eine Berufung auf die §§ 32, 34 StGB umgangen werden. Ebenso wenig, wie zu erwarten ist, dass Schusswaffen durch die Polizei unter Missachtung der tatbestandlichen Voraussetzungen beispielsweise zur Auflösung einer rechtswidrigen Demonstration eingesetzt werden, ist zu befürchten, dass die Rettungsfolter etwa zum Schutz bloßer Sachwerte angewendet wird. Lässt man also das nicht zu beweisende und nur auf unsicheren Vermutungen beruhende Missbrauchsargument außer Acht und stellt nur die beiden in einem Alternativverhältnis stehenden Würdeverletzungen des Opfers und des Täters in einer Abwägung gegenüber, ergibt sich nicht nur aufgrund der Tatsache, dass das Opfer sich rechtstreu verhält, während der Täter die Grenzen des Rechts überschritten hat, ein übergeordnetes Interesse des Entführten auf Wahrung sei329

Brugger, Darf der Staat ausnahmsweise foltern?, Der Staat 35 (1996), 67, 84 f. Erb, Stellungnahme zum „Fall Daschner“, Abschn. 11. 331 Ausgangspunkt der Debatte war das Münchner Geiseldrama vom 4.8.1971 und die missglückte Befreiungsaktion auf dem Flughafen Fürstenfeldbruck während der Olympischen Spiele 1972; vgl. Jahn, Das Strafrecht des Staatsnotstandes, S. 328. 330

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ner Würde gegenüber der Beeinträchtigung der Würde des Täters.332 Auch die Dauer und Intensität der dem Entführungsopfer zugefügten Würdeverletzung wird regelmäßig als die schwerere einzustufen sein, wenn man sich vor Augen hält, dass das Entführungsopfer möglicherweise tage- oder sogar wochenlang festgehalten wird, und mit der Ungewissheit leben muss, ob es jemals wieder lebend freikommt.333 Dagegen erscheint die dem Entführer durch die Rettungsfolter drohende Würdeverletzung als die weniger intensive, zumal eine an Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten orientierte Steigerung der Einsatzmittel geboten ist und gegebenenfalls bereits eine Androhung von Zwangsmittel zu dem gewünschten Erfolg der Preisgabe von Informationen führen kann.334 Eine Abwägung zwischen einer Würdebeeinträchtigung des Täters durch Anwendung der Rettungsfolter und einer Würdeverletzung des Entführungsopfers durch Vernachlässigung der Schutzpflicht infolge Nichtanwendung von Zwangsmitteln muss dann zu Lasten des Entführers ausfallen. Seine Würdebelange treten gegenüber dem Würdeschutz des Opfers zurück.335 Nicht ausreichend dürfte es sein, wenn der Staat, um der Schutzpflicht für das Entführungsopfer zu genügen, lediglich auf der Strafzumessungsebene einen weitgehenden Verzicht auf Bestrafung ermöglicht. Das Landgericht Frankfurt am Main ist in seinem Urteil gegen Wolfgang Daschner im Ergebnis diesen Weg gegangen, indem es für die Folterdrohung gegen Magnus Gäfgen die relativ geringe Strafe von 90 Tagessätzen zu 120 Euro sogar noch gem. § 59 StGB vorbehalten hat, um so das Motiv der Lebensrettung, das den Angeklagten zu der Tat verleitet hat, im Strafmaß zum Ausdruck zu bringen.336 Durch eine Lö332 So Brugger, Vom unbedingten Verbot der Folter zum bedingten Recht auf Folter?, JZ 2000, 165, 169. 333 Götz, Das Urteil gegen Daschner im Lichte der Werteordnung des Grundgesetzes, NJW 2005, 953, 956 spricht von einer qualifizierten Form der Würdeverletzung beim Opfer, weil sowohl sein Lebensrecht als auch die menschenunwürdigen Umstände seiner Einsperrung, verbunden mit Todesangst, zu berücksichtigen sind. 334 In diesem Sinne auch Wittreck, Menschenwürde und Folterverbot, DÖV 2003, 873, 880. 335 Brugger, Vom unbedingten Verbot der Folter zum bedingten Recht auf Folter?, JZ 2000, 165, 169 Fn. 17 führt als weiteres Argument für einen Vorrang der Würde des Entführungsopfers gegenüber der Würde des Täters an, dass durch das Dazwischentreten der Polizei das Lebensschutzniveau erheblich absinkt. Denn vorher konnte sich der Bürger – so Brugger – auf das Notwehrrecht aus § 32 StGB berufen, das jede zur Gefahrabwendung notwendige Maßnahme rechtfertigt, auch eine durch Zwang herbeigeführte Aussage. – Hier lässt Brugger allerdings außer Acht, dass die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG allgemeinverbindlich ist, d.h. auch zwischen Privaten Geltung beansprucht. Lediglich über die Konstruktion der universalen Geltung bestehen unterschiedliche Ansichten. Vorzugswürdig ist, eine Allgemeinverbindlichkeit des Art. 1 Abs. 1 GG aufgrund der Schutzpflichtdimension der Menschenwürdegarantie anzunehmen und nicht auf eine unmittelbare Drittwirkung des Art. 1 Abs. 1 GG abzustellen; vgl. Fn. 158. Damit ist es auch dem Bürger nicht erlaubt, unter Berufung auf § 32 StGB ungerechtfertigte Eingriffe in die Würde des Entführers vorzunehmen, um an Informationen zur Rettung des Opfers zu gelangen.

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sung auf der Strafzumessungsebene337 ließe sich zwar das „Tabu“ des absoluten Folterverbots aufrecht erhalten und es bliebe die Entscheidung zum Rechtsbruch im Extremfall vollständig dem Gewissen des handelnden Beamten überantwortet. Auf der anderen Seite besitzt der Beamte keine Garantie, ob ein Gericht in gleichem Ausmaß wie das Landgericht Frankfurt am Main das Motiv der Lebensrettung strafmildernd berücksichtigt. So wurde auch das Urteil gegen Wolfgang Daschner teilweise als deutlich zu milde kritisiert.338 Somit ist der Beamte – will er Leben und Würde des Entführungsopfers retten – nicht nur gezwungen, eine Straftat zu begehen. Ihm kann darüber hinaus nicht garantiert werden, in einem späteren Prozess mit einer relativ milden Bestrafung bedacht zu werden. Hinzu kommt – von der Höhe des Strafmaßes unabhängig – die stigmatisierende Wirkung eines Strafprozesses, der für jeden Angeklagten eine erhebliche Belastung darstellt, die durch die Aufmerksamkeit, die ein solcher Prozess in der Öffentlichkeit erregt, noch stark anwachsen dürfte. Dies alles geht zu Lasten des Opfers, da die Unwägbarkeiten hinsichtlich des Strafmaßes und die Belastungen, die ein Strafprozess mit sich bringt, einen Beamten in der Regel davon abhalten werden, die Rettungsfolter zum Schutz der Würde des Opfers einzusetzen. Der Schutzpflichtdimension des Menschenwürdesatzes wird man demzufolge nicht gerecht, wenn man die Würdekollision nicht auf der Rechtfertigungs-, sondern lediglich auf der Strafzumessungsebene zu lösen versucht. Unabhängig von der zu erfüllenden Schutzpflicht stellt sich die grundsätzliche Frage, ob eine derartige Extremsituation der Gewissensentscheidung eines Beamten überantwortet werden soll: Dieser hat nur die Alternative, eine Straftat zu begehen, um möglicherweise das Entführungsopfer zu retten, oder sich rechtskonform zu verhalten, aber dadurch eine aussichtsreiche Chance auf Rettung der Würde und des Lebens des Opfers aus der Hand zu geben. Hierbei ist der Amtsträger zudem großen Druck der Angehörigen des Opfers auf der einen Seite und Erwartungen der Öffentlichkeit auf der anderen Seite ausgesetzt, die ihm die ohnehin schon schwierige Entscheidung zu einer massiven Belastung werden lassen. Die Rechtfertigungslösung vermeidet es, den Beamten einem derartigen schweren Gewissenskonflikt auszusetzen.

Der Menschenwürdesatz steht folglich einer Rechtfertigung des Amtsträgers nach § 32 StGB bei der zwangsweisen Herbeiführung einer Aussage nicht entgegen; das Zurücktreten des Achtungsanspruchs der Menschenwürde des Täters gegenüber der staatlichen Pflicht zum Schutze der Menschenwürde des Opfers bedeutet, dass die erforderliche Nothilfehandlung des Beamten auch „geboten“ i. S. d. § 32 Abs. 1 StGB ist. 336

Vgl. LG Frankfurt a. M. NJW 2005, 692, 695 f. sowie bereits oben Einleitung A. Hält man eine Lösung auf der Strafzumessungsebene im Fall Daschner und in ähnlichen Konstellationen für ausreichend, dürfte mit § 59 StGB bereits eine adäquate Regelung existieren, um einen weitgehenden Verzicht auf Bestrafung zu ermöglichen. 338 Vgl. etwa Scharnweber, Warum Daschner sich strafbar gemacht hat, Kriminalistik 2005, 161, 164 f. 337

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II. Völkerrechtliche Vorgaben Zuletzt ist zu untersuchen, ob das innerstaatliche Recht, das eine Relativierung des Menschenwürdesatzes und damit des Folterverbotes in Extremsituationen erlaubt, mit dem Völkerrecht in Einklang steht. Sollten nämlich völkerrechtliche Vorgaben – abweichend vom Grundgesetz – keine Relativierung des Folterverbotes zulassen, so kann dies einer Auslegung des Art. 1 Abs. 1 GG als bei Würdekollisionen einschränkbares Grundrecht und damit einer Rechtfertigung des Amtsträgers entgegenstehen. 1. Völkerrechtliche Verpflichtungen der Bundesrepublik a) Wichtige völkervertragliche Folterabkommen Das Verbot der Folter ist zunächst in Art. 3 EMRK statuiert. Neben der Folter verbietet Art. 3 EMRK auch die unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung. An völkervertraglichen Übereinkommen, die die Anwendung der Folter für die Vertragsstaaten verbieten, ist darüber hinaus der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) zu nennen. In Art. 7 IPbpR ist – ähnlich wie in Art. 3 EMRK – neben der Folter die grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe untersagt. Auch das Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984 (UN-Folterübereinkommen), das in seiner Präambel ausdrücklich auf Art. 7 IPbpR Bezug nimmt, verpflichtet in Art. 2 Abs. 1 die Vertragsstaaten zu wirksamen gesetzgeberischen, verwaltungsmäßigen, gerichtlichen oder sonstigen Maßnahmen, um Folterungen in allen seiner Hoheitsgewalt unterstehenden Gebieten zu verhindern.339 Allen drei Übereinkommen ist gemein, dass das Verbot der Folter notstandsfest ausgestaltet wurde. So legt etwa Art. 4 Abs. 2 IPbpR fest, dass das Verbot der Folter und der grausamen, unmenschlichen oder erniedrigender Behandlung nach Art. 7 IPbpR auch in Fällen des öffentlichen Notstands nicht außer Kraft gesetzt werden darf. Vergleichbare Regelungen finden sich in Art. 2 Abs. 2 UN-Folterübereinkommen und Art. 15 Abs. 2 EMRK.

339 Daneben ist Folter auch nach Art. 5 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948 untersagt. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte hat allerdings als Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen gem. Art. 10 UN-Charta nur empfehlenden Charakter und ist damit nicht unmittelbar rechtsverbindlich für die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen.

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b) Das Verbot der Folter als zwingendes Völkerrecht (ius cogens) Daneben kann das Verbot der Folter eine Norm des zwingenden Völkerrechts darstellen. Nach Art. 53 WVRK ist eine zwingende Norm des allgemeinen Völkerrechts eine Norm, die von der internationalen Staatengemeinschaft in ihrer Gesamtheit angenommen und anerkannt wird als eine Norm, von der nicht abgewichen werden darf und die nur durch eine spätere Norm des allgemeinen Völkerrechts derselben Rechtsnatur geändert werden kann.340 Aus diesem Wortlaut ergibt sich, dass zwingendes Völkerrecht universell akzeptiert sein muss. Angesichts der Tatsache, dass Folterungen in vielen Staaten auch heute noch verbreitet sind, könnte man an der universellen Akzeptanz und damit am Charakter des Folterverbots als ius cogens zweifeln.341 Jedoch ist in keinem Staat Folter offiziell erlaubt. Vielmehr verurteilt die Staatengemeinschaft Folter und Misshandlungen in vielen Fällen.342 An diesem Verhalten zeigt sich, dass trotz einer Vielzahl von Verstößen das Verbot der Folter ein besonderes Interesse der Staaten in ihrer Gesamtheit darstellt und somit zum zwingenden Völkerrecht gezählt werden kann.343 2. Relevanz der völkerrechtlichen Folterverbote für die Auslegung des innerstaatlichen Rechts Bei der Frage nach der Bedeutung der völkerrechtlichen Folterverbote für die Auslegung des innerstaatlichen Rechts müssen die internationalen Folterverbote zunächst unter folgenden Blickwinkeln genauer betrachtet werden:

340 Vgl. zu den Voraussetzungen zwingenden Völkerrechts auch BVerfGE 18, 441, 448 ff. 341 Vgl. auch Jahn, Gute Folter – schlechte Folter, KritV 2004, 24, 33 f.: „Die entscheidende Frage ist, ob es für diese Anerkennung genügt, dass sich die Staatengemeinschaft zum Verbot der Folter bekennt, auch wenn das Verbot in zahlreichen Staaten stillschweigend durchbrochen wird. [. . .] Zumindest seit der Kosovo-Intervention von 1999 scheint sich nunmehr der Standpunkt durchzusetzen, der von der ius cogens-Qualität des Folterverbots ausgeht.“ 342 Ebenso hat die UN-Menschenrechtskommission viele Fälle eines Verstoßes gegen das Verbot der Folter untersucht und in schärfster Form verurteilt; vgl. Hannikainen, Peremptory Norms (Jus Cogens) in International Law, S. 502. 343 So die wohl mittlerweile h. M; vgl. Raess, Der Schutz vor Folter im Völkerrecht, S. 83 f.; Marx, Folter: eine zulässige polizeiliche Präventionsmaßnahme?, KJ 2004, 279, 280; Wittreck, Menschenwürde und Folterverbot, DÖV 2003, 873, 875; Schöbener, Die humanitäre Intervention im Konstitutionalisierungprozeß der Völkerrechtsordnung, KJ 2000, 557, 574; Bryde, Verpflichtungen Erga Omnes aus Menschenrechten, in: Kälin, Walter: Aktuelle Probleme des Menschenrechtsschutzes, S. 165, 169; Hannikainen, Peremptory Norms (Jus Cogens) in International Law, S. 508 ff. Zurückhaltender Jahn, Gute Folter – schlechte Folter?, KritV 2004, 24, 33 f.

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(1) Zum einen stellt sich die Frage, ob und wie weit die völkerrechtlichen Verbote inhaltlich über die dargestellte innerstaatliche Rechtslage hinausgehen [vgl. unten a)]. Denn nur, wenn die völkerrechtlichen Folterverbote gleiche oder strengere Anforderungen an das Verbot der Aussageerpressung stellen als das innerdeutsche Recht, sind sie bei der Auslegung des bundesdeutschen Rechts zu berücksichtigen. Werden von den innerstaatlichen Verboten der Zwangsanwendung hingegen auch Verhaltensweisen untersagt, die von den völkerrechtlichen Folterverboten nicht erfasst werden, so kann das Völkerrecht auf die Auslegung dieser strengeren innerdeutschen Regelungen von vornherein keinen Einfluss ausüben. (2) Des Weiteren ist auf das formale Rangverhältnis zwischen Völkerrecht und nationalem Recht einzugehen [vgl. unten d)]. Denn nur bei einem Vorrang des Völkerrechts kann sich dieses gegen möglicherweise entgegenstehendes innerstaatliches Recht durchsetzen. (3) In Zusammenhang mit dieser Frage ist zudem zu diskutieren, ob ein Eingriff in Art. 1 Abs. 1 GG zum Schutz der Menschenwürde des Entführten nach dem Grundgesetz nicht nur zulässig, sondern auch verfassungsrechtlich geboten wäre, d.h. eine Pflicht des Staates zur Anwendung der Rettungsfolter in Extremsituationen besteht [vgl. unten b)]. Steht das Grundgesetz der zwangsweisen Herbeiführung einer Aussage nämlich lediglich nicht entgegen, so kann ein völkerrechtliches Verbot der Rettungsfolter eine Rechtfertigung des Amtsträgers bereits dann verhindern, wenn es im Rang höher als die einfachgesetzlichen Normen der §§ 32, 34 StGB steht. Ist hingegen die Anwendung der Rettungsfolter in Extremsituationen grundgesetzlich geboten, so muss sich ein völkerrechtliches Verbot gegen die Normen der Verfassung durchzusetzen vermögen, um eine Rechtfertigung des Amtsträgers auszuschließen. a) Zum Unterschied zwischen Rettungsfolter und völkerrechtlichem Folterbegriff Der völkerrechtliche Begriff der Folter wird in Art. 1 UN-Folterübereinkommen definiert. Danach ist Folter eine dem Staat zurechenbare Handlung, durch die einer Person vorsätzlich große körperliche Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, um von dieser oder einer dritten Person eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen.344 Die UN-Folterkonvention geht damit von einem subjektiven Folterbegriff aus, der über das Ziel des Verhaltens definiert ist (Aussageerpressung, Bestrafung, Einschüchterung).345 Dem Verbot der Folter werden im 344 Neben der „Aussageerpressung“ ist in Art. 1 UN-Folterübereinkommen auch noch die Gewaltanwendung zum Zwecke der Bestrafung und Einschüchterung untersagt. 345 Jahn, Gute Folter – schlechte Folter, KritV 2004, 24, 36.

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IPbpR und der EMRK die unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung als ebenfalls unzulässige Verhaltensweisen zur Seite gestellt. Während der Bundesgerichtshof die Abgrenzung zwischen Folter und unmenschlicher bzw. erniedrigender Behandlung dergestalt vornimmt, dass er nur die zweckbezogene Zufügung von großen Schmerzen als Folter qualifiziert, während für die unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung keine derartige Absicht erforderlich ist,346 kann auch eine objektive Abgrenzung zwischen den einzelnen Verboten erfolgen.347 Bei einer objektiven Abgrenzung stellt sich der Übergang zwischen den einzelnen in den Konventionen aufgeführten Verhaltensweisen stellt als fließender dar: Als unmenschliche Behandlung ist bei einer derartigen Auslegung die Zufügung schwerer physischer oder psychischer Leiden zu qualifizieren, ohne dass dem Eingriff die Intensität zukommt, welche die Folter kennzeichnet.348 Die in Art. 3 EMRK genannten Tatbestände können bei einer objektiven Auslegung demnach als „konzentrische, sich stets erweiternde Kreise aufgefasst werden, wobei die Folter dem engsten Kreis und die erniedrigende Behandlung dem weitesten Kreis angehört.“349 Das Grundgesetz enthält – im Gegensatz zu den genannten Konventionen – kein ausdrückliches Verbot der Folter oder unmenschlichen Behandlung. Der umgangssprachlich gebrauchte Begriff der Rettungsfolter kann daher zu Missverständnissen führen, wird er in Zusammenhang mit der grundgesetzlichen Zulässigkeit der Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Herbeiführung einer Aussage gebraucht. So ist bei einigen Autoren die Tendenz feststellbar, dass sie die Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Herbeiführung einer Aussage nur dann als unzulässigen Eingriff in die von Art. 1 Abs. 1 GG bzw. 104 Abs. 1 Satz 2 GG geschützte Menschenwürde ansehen, wenn die Intensität der Gewaltanwen346

Vgl. BGHSt 46, 292, 303. In diesem Sinne Jahn, Gute Folter – schlechte Folter, KritV 2004, 24, 37; Raess, Der Schutz vor Folter im Völkerrecht, S. 44. Der Verzicht auf eine Zweckbezogenheit der Gewaltanwendung stellt eine Erweiterung des Folterbegriffs in dem Sinne dar, dass auch bei Fehlen eines über die Schmerzzufügung hinausgehenden Zieles von Folter gesprochen werden kann. Der Verzicht bedeutet hingegen nicht, dass die Anwendung von Gewalt, sobald sie einen weitergehenden Zweck verfolgt, nicht mehr als Folter zu kategorisieren ist; so aber Daschner, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.2.2003, S. 61, der den Standpunkt vertritt, Folter sei [ergänze: nur] „die Zufügung von Schmerzen um der Schmerzen willen, nicht um ein Ziel zu erreichen, das man zwingend erreichen muss.“ Wenn es Daschner mit dem geäußerten Satz darum geht, die Gewaltanwendung zu Präventionszwecken wegen ihrer vorgeblichen Legitimität aus dem Folterbegriff auszuklammern, so vermischt er – worauf Saliger, Absolutes im Strafprozeß?, ZStW 116 (2004), 35, 41 zu Recht hinweist – die Frage nach den Merkmalen des Folterbegriffs mit der davon unabhängigen Frage der Rechtfertigung einer Gewaltanwendung: „Aber genauso wie die Tötung in Notwehr eine Tötung bleibt, so bleibt auch die Folter zur Rettung von Geiseln oder allgemein zur Gefahrenabwehr (Rettungs- oder Gefahrenabwehrfolter) begrifflich Folter.“ 348 Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 20 Rn. 19. 349 Guckelberger, Zulässigkeit von Polizeifolter?, VBlBW 2004, 121, 123. 347

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dung ein Maß erreicht hat, das dem der völkerrechtlichen Definition des Begriffs „Folter“ entspricht.350 Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG untersagt aber – als Konkretisierung des Menschenwürdesatzes351 – jegliche Form der Schmerzzufügung, während nach der Definition in Art. 1 des UN-Folterübereinkommens „Folter“ nur eine solche Handlung ist, durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden. Das innerstaatliche Recht geht damit im Bereich der Herbeiführung einer Aussage durch die Anwendung unmittelbaren Zwangs über die völkerrechtlich geltenden Folterverbote hinaus, indem manche Verhaltensweisen von Art. 104 Abs. 1 Satz 2 erfasst sein können, die nicht dem völkerrechtlichen Begriff der Folter unterfallen.352 Jedoch dürfte die Zahl derartiger Konstellationen sehr gering sein: Zwar fordert die Folterdefinition des Art. 1 UN-Folterabkommen die Zufügung „großer Schmerzen oder Leiden“. Die Orientierung am zweckgerichteten Einsatz von Schmerzen oder Leiden zur Willensbrechung in der Folterdefinition legt jedoch nahe, eine Schwere an Schmerzen als ausreichend zu betrachten, die substantiell zur Willensbrechung geeignet ist.353 Selbst wenn nach dieser Definition einzelne Grenzfälle nicht als Folter zu qualifizieren sind, würden jedenfalls die Kategorien der erniedrigenden und unmenschlichen Behandlung in den Konventionen eingreifen, und nur noch eindeutig minder schwere Eingriffe in die körperliche Integrität aus dem Anwendungsbereich des Folterverbotes herausfallen.354 Da bei der zwangsweisen Herbeiführung einer Aussage darüber hinaus nicht ausgeschlossen ist, dass eine Abwägung zwischen den Interessen des Entführers und des Opfers als Ergebnis auch das Erfordernis einer schwereren Schmerzzufügung zur Folge haben kann, um von dem Entführer die zur Rettung des Opfers notwendigen Informationen zu erlangen, muss untersucht werden, ob in ei-

350 Hilgendorf, Folter im Rechtsstaat?, JZ 2004, 331, 338 scheint etwa auf die völkerrechtliche Definition der Folter als Anhaltspunkt für einen Eingriff in die durch Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Menschenwürde abzustellen. 351 Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG III, Art. 104 Rn. 55. 352 Die Abkommen über die Folterverbote enthalten Regelungen, wonach weitergehende nationale Bestimmungen durch die Verträge unberührt bleiben, vgl. etwa Art. 1 Abs. 2 UN-Folterübereinkommen, Art. 5 Abs. 2 IPbpR. In den Fällen, in denen die Schmerzzufügung nicht das nach den internationalen Folterverboten erforderliche Minimum erreicht, haben die völkerrechtlichen Vorgaben von vornherein keinen Einfluss auf die Auslegung des Grundgesetzes. 353 Gaede, Die Fragilität des Folterverbotes, in: Angst und Streben nach Sicherheit in Gesetzgebung und Praxis, S. 155, 164. 354 So Jahn, Gute Folter – schlechte Folter, KritV 2004, 24, 37. Wer hingegen – wie Herzberg, Folter und Menschenwürde, JZ 2005, 321, 325 f. – die Folterandrohung nicht von den völkerrechtlichen Folterverboten erfasst sieht, muss – soweit es bei der bloßen Drohung bleibt – nicht auf die völkerrechtlichen Verpflichtungen eingehen. Zur anderen Ansicht des Verfassers vgl. oben Einleitung B.

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2. Teil: Rechtfertigung aufgrund strafrechtlicher Erlaubnisnormen

nem solchen Fall die Anwendung von Gewalt mit dem völkerrechtlichen Folterverbot im Einklang steht. b) Zur verfassungsrechtlichen Verpflichtung des Staates zur Anwendung der Rettungsfolter in Extremsituationen Wird die zwangsweise Herbeiführung einer Aussage also regelmäßig von den völkerrechtlichen Folterverboten erfasst, so muss geklärt werden, in welchem Umfang diese Verbote auf die Auslegung des innerdeutschen Rechts Einfluss zu nehmen vermögen. Sollte sich im innerstaatlichen Recht eine Verpflichtung zur Anwendung der Rettungsfolter in Extremsituationen unmittelbar aus der Verfassung ableiten lassen, so kann das Völkerrecht nur dann, wenn es im Rang über dem Grundgesetz steht, eine von grundgesetzlichen Vorgaben abweichende Auslegung der §§ 32, 34 StGB bedingen. Eine Pflicht zur Anwendung der Rettungsfolter lässt sich aber nicht bereits aus dem Überwiegen der Schutzpflicht der Menschenwürde des Opfers gegenüber der Achtungspflicht der Menschenwürde des Täters ableiten. Denn dem Gesetzgeber steht bei der Erfüllung der staatlichen Schutzpflicht mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts grundsätzlich ein „weiter Einschätzungs-, Wertungs-, und Gestaltungsbereich“ zu.355 Auch in seinem Urteil zur SchleyerEntführung stellt das Gericht fest: „Wie die staatlichen Organe ihre Verpflichtung zu einem effektiven Schutz des Lebens erfüllen, ist von ihnen grundsätzlich in eigener Verantwortung zu entscheiden. Sie befinden darüber, welche Schutzmaßnahmen zweckdienlich und geboten sind, um einen wirksamen Lebensschutz zu gewährleisten.“356 Bereits im nächsten Satz schränkt das Gericht aber diesen staatlichen Ermessungsspielraum wieder ein: „Ihre Freiheit in der Wahl der Mittel zum Schutz des Lebens kann sich in besonders gelagerten Fällen auch auf die Wahl eines bestimmten Mittels verengen, wenn ein effektiver Lebensschutz auf andere Weise nicht zu erreichen ist.“357 355 Vgl. z. B. BVerfGE 77, 170, 214. Die weiteren Ausführungen des Gerichts (S. 215), wonach der mit einer Schutzpflicht verbundene grundrechtliche Anspruch nur darauf gerichtet ist, „daß die öffentliche Gewalt Vorkehrungen zum Schutze des Grundrechts trifft, die nicht gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind“, dürfen nicht als Schutzminimum interpretiert werden. So stellt BVerfGE 88, 203, 262 f. klar: „Die im Beschluß des Senats vom 29. Oktober 1987 (vgl. BVerfGE 77, 170 [214 f.]) enthaltenen Ausführungen zur Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde gegen staatliches Unterlassen dürfen nicht dahin verstanden werden, als genügten der Erfüllung der Schutzpflicht des Staates gegenüber menschlichem Leben schon Maßnahmen, ,die nicht gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind‘.“ – In Widerspruch zu der dem Gesetzgeber gewährten Einschätzungsprärogative stehen freilich die detaillierten Vorgaben, die das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Beratungskonzepts zum Schutze des ungeborenen Lebens macht; vgl. BVerfGE 88, 203, 270 ff. 356 BVerfGE 46, 160, 164.

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Ein solcher besonders gelagerter Fall lag nach Ansicht des Gerichts bei der Schleyer-Entführung nicht vor. Die Ablehnung der einstweiligen Anordnung, mit der die Bundesregierung gezwungen werden sollte, den Forderungen der Entführer stattzugeben und gefangene Terroristen freizulassen,358 begründete das Gericht damit, dass angesichts der Vielzahl singulärer Lagen bei terroristischen Erpressungen eine wirksame Wahrnehmung der Schutzpflicht nur möglich ist, wenn die staatlichen Organe in der Lage sind, auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls angemessen zu reagieren und nicht von vornherein auf ein bestimmtes Mittel beschränkt sind. Eine bestimmte Festlegung auf ein Mittel würde die Reaktion des Staates für Terroristen von vornherein kalkulierbar und damit den Schutz der Gesamtheit aller Bürger unmöglich machen.359 Das Gericht stellte damit den Schutz von Leib und Leben der Gesamtheit der Bürger über den konkret-individuellen Schutz Schleyers. Diese Erwägungen des Gerichts sind bei der Frage nach der Zulässigkeit der Anwendung der Rettungsfolter nicht einschlägig. Dies schon deshalb, weil die Rettungsfolter – anders als die „Freipressung“ von Gefangenen durch Terroristen – von vornherein keine unmittelbaren oder mittelbaren Gefahren für die Gesamtheit der Bürger, die nach dem Schleyer-Urteil in eine Abwägung mit einbezogen werden müssen, mit sich bringt. Denn die Anwendung der Rettungsfolter stellt nicht – wie die Freilassung von Gefangenen – ein Nachgeben des Staates gegenüber den Entführern dar, durch das diese zu weiteren Straftaten verleitet würden. Die Pflicht zur Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Herbeiführung einer Aussage wird im Gegenteil abschreckend auf potentielle Entführer wirken, wenn für sie vorhersehbar ist, dass sie im Falle einer Festnahme ggf. durch körperliches Einwirken zur Preisgabe von Informationen gezwungen werden. Die Kalkulierbarkeit führt damit im Falle der Rettungsfolter nicht zu einem Weniger, sondern zu einem Mehr an Sicherheit für jeden einzel357

BVerfGE 46, 160, 164 f. Der Wortlaut des Antrags auf Erlass der einstweiligen Anordnung lautete: „Die Antragsgegner sind gehalten, die Forderungen der Entführer des Dr. Hanns-Martin Schleyer auf Freilassung und Gewährung freier Ausreise aus der Bundesrepublik Deutschland von namentlich von den Entführern benannten Häftlingen als unabdingbare Voraussetzung zur Abwehr einer gegenwärtigen, drohender Gefahr für das Leben des Antragstellers stattzugeben. Hilfsweise: Die Antragsteller haben es zu unterlassen, die Freilassung und Gewährung freier Ausreise aus der Bundesrepublik Deutschland von namentlich von den Entführern des Antragstellers benannten Häftlingen zu verweigern, die zur Abwendung der gegenwärtigen, nicht anders zu beseitigenden Gefahr für Leben und Leib des Antragstellers unabdingbar erforderlich sind.“ Vgl. BVerfGE 46, 160, 161 f. 359 BVerfGE 46, 160, 164. Teilweise wird der Verweis auf den Schutz der Gesamtheit der Bürger durch das Bundesverfassungsgericht im Schleyer-Urteil – wohl fälschlicherweise – dahingehend verstanden, dass bei Freilassung der Gefangenen eine Vielzahl von Menschen diesen bei späteren Terroranschlägen zum Opfer fallen könnten (so Roellecke, Dem Ganzen geopfert, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16.2. 2005, S. 37). 358

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nen Bürger. Es ist daher kein Grund ersichtlich, warum die staatlichen Organe – falls die Anwendung der Rettungsfolter der einzig erfolgversprechende Weg zur Rettung des Entführten ist – nicht verpflichtet werden sollen, auf eben dieses Mittel zurückzugreifen.360 Zu beachten ist ferner, dass die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in welchen es dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der Schutzpflicht einen weiten Ermessensspielraum eingeräumt hat, häufig die staatliche Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zum Gegenstand hatten.361 Hier erscheint es angesichts des Schrankenvorbehalts des Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG möglich, staatlichen Organen eine Einschätzungsprärogative bei der Erfüllung des „Wie“ der Schutzpflicht einzuräumen, da der Staat umgekehrt auch auf der Eingriffsseite das Ausmaß des von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ausgehenden Schutzes aufgrund des weiten Schrankenvorbehalts des Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG relativ frei – unter Achtung der Verhältnismäßigkeit i. w. S. – bestimmen kann.362 Da bei Art. 1 Abs. 1 GG der Umfang des Schutzes gegen Eingriffe des Staates im Vergleich zu Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG viel weitreichender ist – nach der hier favorisierten Lösung ist Art. 1 Abs. 1 GG nur bei einer Kollision mit einer auf die Menschenwürdegarantie bezogenen Schutzpflicht einschränkbar –, erscheint es folgerichtig, umgekehrt auch den weiten Entscheidungsspielraum bei der Erfüllung der staatlichen Schutzpflicht bei Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG dahingehend einzugrenzen, dass der Gesetzgeber seiner Schutzpflichtaufgabe auf möglichst effektive Weise nachkommen muss. Damit müssen die völkerrechtlichen Folterverbote im Rang über dem Grundgesetz stehen, um eine von den verfassungsrechtlichen Vorgaben abweichende rechtliche Bewertung der Strafbarkeit der Rettungsfolter zu bedingen. Die verfassungsrechtliche Verpflichtung staatlicher Organe zur Anwendung der Rettungsfolter in Extremsituationen konfligiert mit den ausdrücklichen Verboten der Zwangsanwendung zur Herbeiführung einer Aussage in den Polizeigesetzen. Dies bedeutet, dass die geltenden Polizeigesetze wegen Verstoßes gegen das Untermaßverbot363 verfassungswidrig sind; sie gewähren dem Opfer einer Entführung nicht 360 So im Ergebnis auch Brugger, Vom unbedingten Verbot der Folter zum bedingten Recht auf Folter?, JZ 2000, 165, 171 und Götz, Das Urteil gegen Daschner im Lichte der Werteordnung des Grundgesetzes, NJW 2005, 953, 956. 361 Vgl. z. B. BVerfGE 77, 170, 214 ; 79, 174, 202. 362 In BVerfGE 53, 30, 58 heißt es, für den Umfang der gebotenen Schutzpflicht können nicht weniger strenge Maßstäbe gelten als bei der Prüfung staatlicher Eingriffsgesetze. – Zu beachten ist aber, dass diese Aussage nicht unmittelbar auf den Fall der Rettungsfolter übertragbar ist, da es in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts um eine atomrechtliche Errichtungsgenehmigung ging, die im Allgemeininteresse erfolgte und für die der Staat eine Mitverantwortung übernommen hat. 363 Die Forderung des Untermaßverbots verlangt einen angemessenen Mindestschutz durch gesetzgeberisches Handeln im Zusammenhang mit der Erfüllung von Schutzpflichten. Es ist damit das Gegenstück zum Übermaßverbot (Verhältnismäßigkeitsprinzip), das dem freiheitsbeschränkenden Staatshandeln Grenzen zieht.

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den grundrechtlichen Schutz, der von Verfassungs wegen geboten wäre. Die Landesgesetzgeber sind daher gehalten, dem absoluten Verbot der Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Herbeiführung einer Aussage eine Ausnahme für den Fall hinzuzufügen, dass die Aussage des Entführers zum Schutz der Würde des Entführungsopfers notwendig ist.364 Hilgendorf hat vorgeschlagen, den Bestimmungen der Polizeigesetze über das Verbot der Herbeiführung einer Aussage mittels unmittelbaren Zwangs folgende Regelung hinzuzufügen: „Dies [das Verbot der zwangsweisen Herbeiführung einer Aussage] gilt nicht, soweit die Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Rettung eines Menschenlebens oder zur Vermeidung schwerer gesundheitlicher Schäden eines Anderen erforderlich ist.“365 Diese Regelung wäre insoweit nicht verfassungskonform, als sie von einer Einschränkung des Menschenwürdesatzes auch zugunsten des Lebensgrundrechts ausgeht. Eine Einschränkung des Art. 1 Abs. 1 GG ist aber nach der hier favorisierten Auslegung dieser Vorschrift nur zulässig, wenn sie zum Schutz der Menschenwürde eines anderen erforderlich ist.366 Eine entsprechende Ausnahmeregelung in den Polizeigesetzen könnte demnach lauten: „Das Verbot der Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Herbeiführung einer Aussage gilt nicht, soweit die Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Wahrung der Würde und des Lebens eines Dritten zwingend erforderlich ist.“ Einer solchen Ergänzung der Polizeigesetze stehen auch nicht die Grundrechtsgewährleistungen der Landesverfassungen entgegen. Zwar gibt es auch in den Verfassungen der Länder Vorschriften zum Schutze der Menschenwürde (vgl. etwa Art. 3 HessVerf: „Leben und Gesundheit, Ehre und Würde des Menschen sind unantastbar.“). Soweit diese Landesgrundrechte allerdings einen gegenüber dem dargestellten grundgesetzlichen Standard umfangreicheren Schutz der Würde des Täters gegenüber der Würde des Opfers erlauben, sind diese Mehrgewährleistungen durch die Länder gem. Art. 31 GG nichtig.367 Die Auffassung, dass nur Mindergewährleistungen in den Landesverfassungen der Kollisionsnorm des Art. 31 GG zum Opfer fallen sollen, während Mehrgewährleistungen von dieser Vorschrift unberührt bleiben,368 verkennt, dass die Einräumung einer Mehrgewährleistung durch Landesrecht immer auch die Schmälerung einer bundesgrundrechtlichen Position bedeuten kann.369 Solches zeigt sich gerade auch an dem Beispiel des Einsatzes der „Rettungsfolter“: Eine Mehrgewährleistung zugunsten des Täters im Sinne eines absoluten Verbots der Herbeiführung einer Aussage im Wege unmittelbarer Zwangsanwendung führt hier automatisch zu einer Mindergewährleistung zu Lasten des Opfers, 364 Auch die Polizeigesetze, die dem Beschuldigten bereits auf Primärebene ein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht einräumen [vgl. oben Erster Teil B. II. 3. a)], sind in diesem Punkt verfassungswidrig. 365 Hilgendorf, Folter im Rechtsstaat?, JZ 2004, 331, 338. 366 Vgl. oben Zweiter Teil C. I. 2. a) ee). 367 Vgl. hierzu Dreier, in: Dreier, GG II, Art. 31 Rn. 53. 368 Vgl. die Nachweise bei Dreier, in: Dreier, GG II, Art. 31 Rn. 52. 369 Dreier, in: Dreier, GG II, Art. 31 Rn. 53. Keine Probleme ergeben sich freilich dann, wenn in eine Landesverfassung die Grundrechsgewährleistungen des Grundgesetzes unmittelbar inkorporiert werden; vgl. etwa Art. 2 Abs. 1 VerfBW: „Die im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland festgelegten Grundrechte und staatsbürgerlichen Rechte sind Bestandteil dieser Verfassung und unmittelbar geltendes Recht.“

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da dessen Position – die vom Staat im Rahmen der Schutzpflichtdimension des Art. 1 Abs. 1 GG zu schützende Menschenwürde – beschränkt würde. Die Beschränkbarkeit des Art. 1 Abs. 1 GG im Falle einer Würdekollision stellt somit auch einen Höchststandard dar, über den die Grundrechtsgewährleistungen der Landesverfassungen nicht hinausgehen können.370

c) Exkurs: Zum subjektiven Recht des Opfers auf Anwendung der Rettungsfolter An dieser Stelle soll kurz auch der Frage nachgegangen werden, ob die Verpflichtung des Staates zur Anwendung der Rettungsfolter in Extremsituationen mit einem subjektiven, einklagbaren Recht des Opfers korrespondiert.371 Bei der Beantwortung dieser Frage sind zwei Ebenen zu unterscheiden: Zum einen geht es um die generelle Frage, ob Art. 1 Abs. 1 GG als Grundrecht anzusehen ist und damit in Parallele zu den anderen Grundrechten ein klagbarer Anspruch des Bürgers bei Verletzung der Menschenwürdegarantie besteht. Zum anderen stellt sich unabhängig hiervon die Frage, ob sich bei einem Verstoß gegen die objektiv-rechtliche Schutzpflichtfunktion eine subjektiv-rechtliche Grundrechtsverletzung ableiten lässt. Nur wenn man beides bejaht, lässt sich ein subjektiver Anspruch des Bürgers gegen die Verletzung der staatlichen Schutzpflicht aus Art. 1 Abs. 1 GG begründen: Art. 1 Abs. 1 GG entspricht nach der hier favorisierten Lösung in seiner Struktur den übrigen Freiheitsgrundrechten: Art. 1 Abs. 1 verfügt – wie auch die nachfolgenden Grundrechte – über einen definierbaren Schutzbereich: Eingriffe in die Menschenwürdegarantie sind zur Rechtfertigung des Schutzes der Menschenwürde anderer erlaubt. Es ist daher kein Grund ersichtlich, Art. 1 Abs. 1 GG nicht als Grundrecht zu behandeln und dem Einzelnen einen subjektiven Anspruch auf Wahrung seiner Menschenwürde einzuräumen.372 370 Die gleiche Problematik stellt sich mittlerweile auch auf anderer Ebene: Nach Art. 52 Abs. 3 EU-Charta sollen die Grundrechte der EU-Charta die gleiche Bedeutung haben wie die in der EMRK garantierten Rechte, soweit sie diesen entsprechen. Die Möglichkeit eines weitergehenden Schutzes der EU-Grundrechte gegenüber den Gewährleistungen der EMRK wird dabei aber ausdrücklich für möglich erklärt. Auch bei dieser Regelung wurde nicht berücksichtigt, dass wegen der Mehrdimensionalität der Grundrechte, insbesondere durch die Anerkennung grundrechtlicher Schutzpflichten, Mehrgewährleistungen immer auch Mindergewährleistungen bei einem anderen Grundrechtsträger nach sich ziehen können, so dass auch hier die Gewährleistung des Mindestniveaus in dem meisten Fällen wohl zugleich das Höchstniveau darstellt; vgl. Dreier, in: Dreier, GG I, Vorb. Rn. 50. 371 Ein etwaiger Anspruch wäre – wie im Falle der Schleyer-Entführung – von Angehörigen des Opfers einzuklagen, da der Entführte aufgrund der Situation, in der er sich befindet, nicht in der Lage ist, selbst den Rechtsweg zu beschreiten. 372 A. A. etwa Dreier, in: Dreier, GG I, Art. 1 I Rn. 127 ff., der Art. 1 Abs. 1 GG als Grundprinzip, nicht als Grundrecht ansieht. Er stützt sich für seine Ansicht in ers-

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Zudem würde ein Absprechen der Grundrechtsqualität im Falle einer Verletzung der Schutzpflicht aus Art. 1 Abs. 1 GG zu einem Rechtsschutzdefizit führen. Es ist zwar richtig, dass jede Berührung der Menschenwürde auch gleichzeitig eine Verletzung eines anderen – einklagbaren – Freiheits- oder Gleichheitsrechts darstellt373 und somit in der Regel kein Rechtsschutzdefizit besteht. Auch im Falle einer Entführung wird neben der Schutzpflicht aus Art. 1 Abs. 1 GG regelmäßig die staatliche Schutzpflicht zum Schutze des Lebens aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG aktiviert. Eine Verletzung der Schutzpflicht wäre damit – gestützt auf Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG – einklagbar. Zu beachten ist aber, dass eine Schutzpflichtverletzung aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht notwendig in gleicher Weise zu einer (objektiv-rechtlichen) Verpflichtung zur Anwendung der „Rettungsfolter“ führt wie eine Verpflichtung aus Art. 1 Abs. 1 GG. Damit bliebe aber auch ein möglicher subjektiv-rechtlicher Anspruch aus der Schutzpflichtdimension des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in seiner Reichweite hinter demjenigen aus Art. 1 Abs. 1 GG zurück. Ein Rechtsschutzdefizit wäre damit bei Ablehnung des Grundrechtscharakters des Art. 1 Abs. 1 GG gegeben. Was die Frage einer Klagbarkeit der Schutzpflichten angeht, so wird diese in der Literatur überwiegend bejaht.374 Das Bundesverfassungsgericht verfolgt hingegen keine klare Linie.375 In BVerfGE 56, 54, 71 stellt das Gericht fest, dass die gegen einen Verstoß gegen eine staatliche Handlungs- und Schutzpflicht gerichtete Verfassungsbeschwerde nicht ohne weiteres zulässig ist. Dagegen geht es in BVerfGE 77, 170, 214 ausdrücklich von einem einklagbaren Anspruch auf Erfüllung der objektiv-rechtlichen Schutzpflicht aus: „Daß Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht lediglich ein subjektives Abwehrrecht verbürgt, sondern zugleich eine objektivrechtliche Wertentscheidung der Verfassung darstellt, die für alle Bereiche der Rechtsordnung gilt und verfassungsrechtliche Schutzpflichten begründet, ist in ständiger Rechtsprechung beider Senate des Bundesverfaster Linie auf die besondere normative Struktur der Menschenwürdegarantie im Vergleich zu den übrigen Grundrechten (kein Schutzbereich im üblichen Sinne, Absolutheitscharakter). – Nach der hier vertretenen Auffassung ist Art. 1 Abs. 1 GG jedoch einschränkbar und daher in seiner Struktur den nachfolgenden Grundrechten ähnlich, so dass die Argumentation Dreiers nicht greift. 373 Dreier, in: Dreier, GG I, Art. 1 I Rn. 129. 374 Vgl. die Nachweise bei Dreier, in: Dreier, GG I, Vorb. Rn. 95. 375 Zur Verwirrung mag auch beitragen, dass das Bundesverfassungsgericht die Frage der (subjektiven) Durchsetzbarkeit der Schutzpflichten mit der Frage der Justiziabilität verknüpft. So äußert das Gericht in BVerfGE 56, 54, 71 bedenken, dass eine umfassende Klagbarkeit der Schutzpflichten die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers zugunsten der Gerichte verschieben könnte. Das Gericht lässt hierbei aber außer Acht, dass ein einklagbarer Anspruch nicht notwendig zu einer vollständigen Überprüfbarkeit staatlichen Unterlassens führen muss. Auch dann, wenn dem Einzelnen ein subjektives Recht zusteht, kann dem Gesetzgeber aufgrund der besonderen Struktur der zu treffenden Entscheidung ein Beurteilungsspielraum zustehen; vgl. Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 98, die auf den verwaltungsrechtlichen Beurteilungsspielraum bei der Entscheidung über Prüfungsleistungen verweist.

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sungsgerichts anerkannt [. . .] Werden diese Schutzpflichten verletzt, so liegt darin zugleich eine Verletzung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, gegen die sich der Betroffene mit Hilfe der Verfassungsbeschwerde zur Wehr setzen kann.“

In manchen Entscheidungen wiederum unterließ das Gericht eine Auseinandersetzung mit der Frage der Klagbarkeit der Schutzpflichten, da der Schutzanspruch dort wegen der prozessualen Konstellation nicht bereits Zulässigkeitsvoraussetzung war.376 Die Frage der generellen Einklagbarkeit staatlicher Schutzpflichten muss hier nicht beantwortet werden. Jedenfalls für Art. 1 Abs. 1 GG wird man wegen der ausdrücklichen Normierung der Schutzpflicht in Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG eine subjektiv-rechtliche Qualität der Schutzpflichtdimension annehmen müssen, da die staatliche Pflicht zum Schutz der Würde dem Achtungsanspruch hier gleichrangig gegenübersteht. Etwas anderes würde einen Wertungswiderspruch darstellen, der insbesondere beim Aufeinandertreffen von staatlicher Achtungs- und Schutzpflicht deutlich zu Tage tritt: Es wäre nicht hinnehmbar, wenn etwa der Entführer die Verletzung seines Achtungsanspruches aus Art. 1 Abs. 1 GG geltend machen könnte, umgekehrt aber dem Opfer eine Berufung auf die staatliche Pflicht zum Schutz seiner Würde versagt bliebe. Dies würde eine (prozessuale) Bevorzugung der Achtungspflicht bedeuten, die Wortlaut und Systematik des Art. 1 Abs. 1 GG nicht entnommen werden kann. Damit steht dem Opfer einer Entführung eine subjektives, einklagbares Recht zu, dem Täter durch die Androhung bzw. Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Preisgabe von Informationen zu zwingen, die zur Rettung des Entführten beitragen (können). d) Zum Verhältnis der völkerrechtlichen Folterverbote zum deutschen Verfassungsrecht Da die Anwendung der Rettungsfolter in Extremsituationen von Verfassungs wegen nicht nur zulässig, sondern sogar geboten ist, müssen die völkerrechtlichen Verbote, um eine gegenüber den Vorgaben des Grundgesetzes abweichende Beurteilung der Rechtswidrigkeit herbeizuführen, nicht nur den einfachgesetzlichen §§ 32, 34 StGB, sondern auch dem Grundgesetz vorgehen. Daher ist nun noch zu prüfen, inwieweit völkerrechtliche Verträge bzw. (zwingendes) 376 Vgl. z. B. die Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch (BVerfGE 39, 1, 41), die im Rahmen einer abstrakten Normenkontrolle erging. Auch im Kalkar-Beschluss (BVerfGE 49, 89, 124) durfte eine Auseinandersetzung mit der Problematik unterbleiben, da Anlass dieses Beschlusses eine konkrete Normenkontrolle war. Sowohl den Antrag auf einstweilige Anordnung beim Schleyer-Urteil (BVerfGE 46, 160, 163 f.) als auch die Klage bei der Fluglärm-Entscheidung (BVerfGE 56, 54, 72) hat das Bundesverfassungsgericht wegen der „erheblichen Bedeutung“ der Frage inhaltlich entschieden.

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völkerrechtliches Gewohnheitsrecht überhaupt Einfluss auf die Auslegung auf Normen des Grundgesetzes nehmen bzw. diese derogieren können: Nur wenn man hier eine vorrangige Geltung völkerrechtlicher Verträge bzw. des Völkergewohnheitsrechts gegenüber dem Grundgesetz bejaht, kann dies überhaupt das Ergebnis einer verfassungsrechtlichen Beurteilung über die Zulässigkeit der Rettungsfolter entscheidend beeinflussen. Die Bindungswirkung völkerrechtlicher Normen divergiert – abhängig von ihrem Entstehungsgrund – allerdings stark: aa) Stellung des Vertragsvölkerrechts in der Normenhierarchie der Bundesrepublik (1) Zum grundsätzlichen Rang völkerrechtlicher Verträge Das sog. Vertragsgesetz nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG enthält nicht nur die Ermächtigung zur Ratifikation des Vertrages, sondern auch den Rechtsanwendungsbefehl, durch den der völkerrechtliche Vertrag in innerstaatliches Recht umgesetzt wird.377 Unabhängig von der Konstruktion des innerstaatlichen Geltungsgrundes völkerrechtlicher Verträge378 kann durch das Vertragsgesetz das Vertragsvölkerrecht nur dessen Rang einnehmen.379 Die Bestimmungen eines völkerrechtlichen Vertrages stehen damit hierarchisch auf der Stufe einfachen Bundesrechts. Vertragsrechtliche Folterabkommen können damit nicht einer bestehenden verfassungsrechtlichen Verpflichtung zur Anwendung der Rettungsfolter in Extremsituationen entgegengehalten werden; unabhängig vom rechtlichen Blickwinkel stellt sich freilich die Frage, ob aufgrund der internationalen

377 Vgl. zum Doppelcharakter des Vertragsgesetzes bereits BVerfGE 1, 396, 410 f.: „Das Vertrags-Gesetz hat einen doppelten Charakter. Es stellt sich zunächst als Beschluß der gesetzgebenden Körperschaften dar, der den Bundespräsidenten ermächtigt, den Vertrag für die Bundesrepublik endgültig abzuschließen. Es hat weiterhin aber auch die Bedeutung, dem Inhalt des völkerrechtlichen Vertrages die Geltung als innerstaatliches deutsches Recht zu verleihen (Transformation).“ 378 Während Einigkeit darüber besteht, dass es zur innerstaatlichen Geltung völkerrechtlicher Verträge eines besonderen Rechtsakts nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG bedarf und somit die Adoptionstheorie, wonach völkerrechtliche Verträge unmittelbar Teil des innerstaatlichen Rechts werden, im Grundgesetz keine Verankerung gefunden hat, ist in Rechtsprechung und Literatur nicht letzten Endes geklärt, ob die Umsetzung von Vertragsvölkerrecht in innerdeutsches Recht nach der Transformationslehre, wonach das Vertragsgesetz die Umwandlung des Vertrags in nationales Recht bewirkt, oder nach der Vollzugstheorie, die das Völkerrecht durch einen innerstaatlichen Vollzugsbefehl zur Anwendung bringt, erfolgt. Das Bundesverfassungsgericht scheint einmal der Transformationslehre (BVerfGE 1, 396, 411), ein anderes mal der Vollzugstheorie (BVerfGE 75, 223, 244) zu folgen. Die Konstruktion des „Rechtsanwendungsbefehls“ durch das Bundesverfassungsgericht (erstmalig erwähnt in BVerfGE 46, 342, 363) spricht freilich für eine Umwandlung des Vertragsvölkerrechts in nationales Recht nach der Vollzugstheorie. 379 Pernice, in: Dreier, GG II, Art. 59 Rn. 48.

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Einbindung der Bundesrepublik eine willkürliche Missachtung völkerrechtlicher Verträge politisch möglich ist. (2) Zur Besonderheit der EMRK (a) Unmittelbare innerstaatliche Geltung Obwohl die EMRK – wie andere völkerrechtliche Verträge auch – durch ein Zustimmungsgesetz gem. Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG380 in innerstaatliches Recht transformiert wurde und damit den Rang einfachen Bundesrechts hätte, wird von einigen Autoren versucht, die Geltung der EMRK aufzuwerten, da nur so die Bedeutung der in der Konvention gewährleisteten Menschenrechte dauerhaft gesichert werden könne. So werden die Regelungen der EMRK teilweise als regionales Völkergewohnheitsrecht eingestuft,381 mit der Folge, dass ihnen damit nach Art. 25 Satz 2 GG Vorrang vor den einfachen Bundesgesetzen zukäme. Unabhängig von der Frage, ob regionales Völkergewohnheitsrecht das Merkmal der „Allgemeinheit“ in Art. 25 GG erfüllt und somit überhaupt in dessen Anwendungsbereich fällt,382 ist zweifelhaft, ob die Gewährleistungen der EMRK in Gänze die Voraussetzungen, die an die Entstehung von Völkergewohnheitsrecht gestellt werden, erfüllen. So kann etwa dem Recht auf Eheschließung (Art. 12 EMRK) nicht die gleiche Bedeutung eingeräumt werden wie etwa der Verbot der Folter, dem Grundsatz „Keine Strafe ohne Gesetz“ (Art. 7 EMRK) oder der Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 EMRK).383 Teilweise wird auch vertreten, dass die EMRK – unabhängig von der Frage, ob sie eine Kodifizierung (regionalen) Völkergewohnheitsrechts darstellt – auf der Ebene zwischen den formellen Bundesgesetzen und der Verfassung anzusie380

Vgl. BGBl. 1952 II, 685, 953. Bleckmann, Verfassungsrang der Europäischen Menschenrechtskonvention?, EuGRZ 1994, 149, 154 f. 382 Da sich regionales Völkergewohnheitsrecht nur an eine bestimmte Anzahl regional zusammengefasster Staaten richtet, ist fraglich, ob diesem die Qualität einer allgemeinen Regel des Völkerrechts i. S. d. Art. 25 GG zukommt. In BVerfGE 75, 1, 26 spricht das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf das Merkmal der Allgemeinheit von der „erforderlichen weltweiten Breite“. Ob das Gericht in BVerfGE 95, 96, 129 hinter diese Anforderung zurückweicht, indem es nur noch von „einer allgemeinen, gefestigten Übung zahlreicher Staaten“ spricht und auf das Merkmal der weltweiten Verbreitung verzichtet (so Pernice, in: Dreier, GG II, Art. 59 Rn. 20 Fn. 89), ist zweifelhaft, da das Gericht auch in dieser Entscheidung stets von universellem Völkergewohnheitsrecht in Bezug auf Art. 25 GG spricht. 383 Auch Pernice, in: Dreier, GG II, Art. 59 Rn. 21, 36, spricht lediglich davon, dass die in der EMRK niedergelegten Rechte als Indiz für regionales Völkergewohnheitsrecht in Betracht kommen. Gegen die Anwendbarkeit der EMRK über Art. 25 GG ausdrücklich BVerwGE 52, 313. 381

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deln sei,384 wie dies sonst nur bei den allgemeinen Regeln des Völkerrechts i. S. d. Art. 25 GG der Fall ist. Andere wollen der EMRK sogar Verfassungsrang verleihen, indem sie die Menschenrechtsstandards der EMRK dem Wesensgehalt des Art. 2 Abs. 1 GG zuordnen385 oder eine Inkorporation der EMRK in das Grundgesetz über Art. 1 Abs. 2 GG annehmen.386 Abgesehen davon, dass derartige Konstruktionen mit zahlreichen praktischen Problemen verbunden sind,387 lassen sich diese Ansätze nicht mit der Systematik des Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG in Einklang bringen, da durch das (einfache) Vertragsgesetz höherrangiges Recht geschaffen würde. Es ist daher mit dem Bundesverfassungsgericht von einem einfachen Gesetzesrang der EMRK auszugehen: In BVerfGE 74, 358, 370 spricht das Gericht in Zusammenhang mit Art. 6 Abs. 2 EMRK vom „Rang eines Bundesgesetzes“ und lehnt den „Rang von Verfassungsrecht“ ausdrücklich ab. Gleichzeitig stellte das Gericht jedoch fest, dass „Inhalt und Entwicklungsstand“ der EMRK für die „Auslegung des Grundgesetzes“ und von Gesetzen, auch wenn sie nach InKraft-Treten der EMRK erlassen wurden, verbindlich sind. Auch die Rechtsprechung des EGMR komme „als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes“ in Betracht.388 Mit einem Rang der EMRK als einfaches Bundesrecht ist schon die vom Bundesverfassungsgericht vorgenommene Heranziehung der EMRK bei der Auslegung einfachen Bundesrechts, das nach der EMRK in Kraft getreten ist, heikel: Der Grundsatz „lex posterior derogat legi priori“ steht der Berücksichtigung eines früher erlassenen Gesetzes bei der Interpretation eines späteren Gesetzes der gleichen Rangstufe entgegen. Als äußerst problematisch erweist es sich aber, wenn das Bundesverfassungsgericht die EMRK und Entscheidungen des EGMR zur Auslegung des Grundgesetzes heranziehen will. Hier scheint das Gericht der EMRK sogar einen Überverfassungsrang einzuräumen, der ihr angesichts der Umwandlung in innerstaatliches Recht durch ein Vertragsgesetz nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG keinesfalls zukommen kann.

384 Menzel, Die Einwirkung der Europäischen Menschenrechtskonvention auf das deutsche Recht, DÖV 1970, 509, 512 ff. 385 Frowein, Das Bundesverfassungsgericht und die Europäische Menschenrechtskonvention, in: FS Zeidler, Band 2, S. 1763, 1770 f. 386 So Model/Müller, GG, Art. 1 Rn. 7. 387 So wendet Walter, Die Europäische Menschenrechtskonvention als Konstitutionalisierungsprozeß, ZaöRV 59, 961, 972 f. ein, dass die Gewährleistungen der EMRK bei der Zuordnung der EMRK zum Wesensgehalt des Art. 2 Abs. 1 GG an sich nur bei Eröffnung des Auffangtatbestandes des Art. 2 Abs. 1 GG zur Anwendung kämen, nicht aber, wenn der Schutzbereich eines Spezialgrundrechts einschlägig ist. 388 BVerfGE 74, 358, 370.

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2. Teil: Rechtfertigung aufgrund strafrechtlicher Erlaubnisnormen

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss vom 14. Oktober 2004389 hinsichtlich der Bedeutung von Entscheidungen des EGMR für deutsche Gerichte allerdings eine gegenüber dem oben erwähnten Beschluss (BVerfGE 74, 358) restriktivere Position eingenommen. Das Bundesverfassungsgericht stellt in dem Beschluss vom 14. Oktober 2004 klar, dass sowohl die fehlende Auseinandersetzung mit einer Entscheidung des Gerichtshofs als auch deren gegen vorrangiges Recht verstoßende schematische „Vollstreckung“ durch ein innerdeutsches Gericht gegen Grundrechte in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verstoßen können.390 Besondere Zurückhaltung hinsichtlich der Heranziehung von Entscheidungen des EGMR fordert das Bundesverfassungsgericht, wenn in einem Fall Grundrechtspositionen verschiedener Grundrechtsträger in Widerstreit geraten, wie dies gerade auch im Falle der Rettungsfolter der Fall ist, wo die staatliche Pflicht zur Achtung der Menschenwürde des Festgehaltenen der staatlichen Pflicht zum Schutz der Menschenwürde des Entführten gegenübersteht: „Gerade in Fällen, in denen staatliche Gerichte wie im Privatrecht mehrpolige Grundrechtsverhältnisse auszugestalten haben, kommt es regelmäßig auf sensible Abwägungen zwischen verschiedenen subjektiven Rechtspositionen an, die bei einer Änderung der Subjekte des Rechtsstreits oder durch eine Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse im Ergebnis anders ausfallen können. Es kann insofern zu verfassungsrechtlichen Problemen führen, wenn einer der Grundrechtsträger im Konflikt mit einem anderen einen für ihn günstigen Urteilsspruch des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gegen die Bundesrepublik Deutschland erstreitet und deutsche Gerichte diese Entscheidung schematisch auf das Privatrechtsverhältnis anwenden, mit der Folge, dass der insofern ,unterlegene‘ und möglicherweise nicht im Verfahren vor dem Gerichtshof beteiligte Grundrechtsträger gar nicht mehr als Verfahrenssubjekt wirksam in Erscheinung treten könnte.“391

Billigt man also den Gewährleistungen der EMRK nicht nur formell, sondern konsequenterweise auch materiell nur den Rang eines formellen Bundesgesetzes zu, dann können ihre Regelungen nicht einer grundgesetzlichen Verpflichtung zur Anwendung der Rettungsfolter entgegenstehen. (b) Mittelbare innerstaatliche Geltung Neben einer unmittelbaren innerstaatlichen Geltung der EMRK über das Zustimmungsgesetz nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG könnte sich eine Geltung der EMRK aber auch mittelbar über die Mitgliedschaft der Bundesrepublik in den Europäischen Gemeinschaften ergeben: Sollten die Gemeinschaftsorgane unmittelbar an die EMRK gebunden sein, so könnte dies zur Konsequenz haben, dass 389 390 391

BVerfGE 111, 307. BVerfGE 111, 307, 323 f. [Hervorhebung durch den Verfasser]. BVerfGE 111, 307, 324 f.

C. Höherrangige Vorgaben und Grenzen für die Rechtfertigungsgründe

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dann die EMRK am Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor nationalem Recht teilhat. Seit der Entscheidung in der Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251 (Costa/ENEL) vom 15. Juli 1964 geht der EuGH von einem generellen (Anwendungs-)Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor nationalem Recht – auch nationalem Verfassungsrecht – aus. Das Bundesverfassungsgericht sieht dagegen Schranken im Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber dem deutschen Verfassungsrecht. Vgl. etwa – noch zur Ermächtigungsgrundlage des Art. 24 GG – BVerfGE 73, 339, 375 f.: „Die Ermächtigung auf Grund des Art. 24 Abs. 1 GG ist indessen nicht ohne verfassungsrechtliche Grenzen. Die Vorschrift ermächtigt nicht dazu, im Wege der Einräumung von Hoheitsrechten für zwischenstaatliche Einrichtungen die Identität der geltenden Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland durch Einbruch in ihr Grundgefüge, in die sie konstituierenden Strukturen, aufzugeben. [. . .] Dies gilt namentlich für Rechtsetzungsakte der zwischenstaatlichen Einrichtung, die, gegebenenfalls zufolge entsprechender Auslegung oder Fortbildung des zugrundeliegenden Vertragsrechts, wesentliche Strukturen des Grundgesetzes aushöhlten. Ein unverzichtbares, zum Grundgefüge der geltenden Verfassung gehörendes Essentiale sind jedenfalls die Rechtsprinzipien, die dem Grundrechtsteil des Grundgesetzes zugrundeliegen [. . .].“ Klargestellt ist damit, dass Art. 79 Abs. 3 GG sowohl für den Integrationsgesetzgeber als auch für Rechtsakte der Gemeinschaft eine unüberwindbare Schranke bildet. Solange aber der EuGH in seiner Rechtsprechung insbesondere den erforderlichen Grundrechtsstandard gewährleistet, übt das Bundesverfassungsgericht auf diesem Gebiet seine Rechtsprechung nicht mehr aus, sondern weist Vorlagen oder Verfassungsbeschwerden als unzulässig ab.392

Die Rechte der EMRK entfalteten bislang keine unmittelbare Bindungswirkung für die Gemeinschaftsorgane: Weder können die Europäischen Gemeinschaften als Rechtsnachfolger der Nationalstaaten gesehen werden, wodurch eine Bindung der Gemeinschaftsorgane an die EMRK eintreten würde, noch kann eine Bindung der Gemeinschaft damit begründet werden, dass die Organe nur von den Mitgliedsstaaten abgeleitete Hoheitsrechte ausüben, diese aber wiederum nach Art. 1 EMRK unmittelbar zur Einhaltung der EMRK verpflichtet sind. Auch der EuGH hat bei der Entwicklung der Gemeinschaftsgrundrechte die EMRK nicht unmittelbar zugrunde gelegt, sondern – im Hinblick auf Art. 6 Abs. 2 EUV – lediglich als Rechtserkenntnisquelle herangezogen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den Regelungen der EU-Grundrechtecharta. In Art. 4 EU-Charta wurde zwar das Folterverbot des Art. 3 EMRK übernommen, mit der Folge, dass ihm nach Art. 52 Abs. 3 EU-Charta393 die 392 Vgl. besonders nachdrücklich BVerfGE 102, 147 (1. Leitsatz): „Verfassungsbeschwerden und Vorlagen von Gerichten, die eine Verletzung in Grundrechten des Grundgesetzes durch sekundäres Gemeinschaftsrecht geltend machen, sind von vornherein unzulässig, wenn ihre Begründung nicht darlegt, dass die europäische Rechtsentwicklung einschließlich der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nach Ergehen der Solange II-Entscheidung (BVerfGE 73, 339 [378 bis 381]) unter den erforderlichen Grundrechtsstandard abgesunken sei.“

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2. Teil: Rechtfertigung aufgrund strafrechtlicher Erlaubnisnormen

gleiche „Bedeutung und Tragweite“ wie in der EMRK zukommt. Die EMRK stellt damit nach dem formellen Inkrafttreten der EU-Charta als Teil II eines Vertrags über eine Verfassung für Europa nicht mehr lediglich eine Rechtserkenntnisquelle für die Gemeinschaftsgrundrechte dar, sondern garantiert einen verbindlichen Mindeststandard für die in der Grundrechte-Charta niedergelegten Gemeinschaftsgrundrechte.394 Jedoch stellt Art. 51 Abs. 1 Satz 1 der EU-Charta in der Fassung des Vertrags über eine Verfassung für Europa klar: „Diese Charta gilt für Organe, Einrichtung, Ämter und Agenturen der Union unter Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedsstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union.“ Sinn der EU-Charta ist es damit ausschließlich, die unmittelbare (Handeln der EU-Organe) bzw. mittelbare (Vollzug des Gemeinschaftsrechts durch die Mitgliedsstaaten) Gewaltausübung der Union zu begrenzen.395 Ein Vorrang der EMRK vor nationalem (Verfassungs-)Recht lässt sich damit für den Fall der Rettungsfolter nicht über eine Bindung der EU-Organe an die EMRK über Art. 52 Abs. 3 EU-Charta begründen: Die Frage der Zulässigkeit der Anwendung unmittelbaren Zwangs in Extremsituationen berührt nicht den Anwendungsbereich des Unionsrechts. Aus dem gleichen Grund scheitert auch eine direkte Berufung des Festgehaltenen auf das Folterverbot des Art. 4 EU-Charta.396 393 Art. 52 Abs. 3 EU-Charta lautet: „Soweit diese Charta Rechte enthält, die den durch die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird. Diese Bestimmung steht dem nicht entgegen, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewährt.“ Vgl. zur Problematik solcher „Günstigkeitsklauseln“ Dreier, in: Dreier, GG I, Vorb. Rn. 50. 394 Mit einem formellen Inkrafttreten der EU-Charta ist nach den gescheiterten Referenden über den EU-Verfassungsvertrag in Frankreich und den Niederlanden freilich – zumindest in nächster Zeit – nicht mehr zu rechnen. 395 Vgl. Wuermeling, Europa neu verfasst. Der Vertrag für eine europäische Verfassung vom 19. Juni 2004, BayVBl. 2004, 577, 579: Die EU-Grundrechte gelten „nur im Verhältnis der Europäischen Union zu den Bürgern, nicht aber für rein innerstaatliche Sachverhalte.“ 396 Selbst wenn Art. 4 EU-Charta in einem Fall mal zur Anwendung kommen sollte, genügt es, insoweit das Folterverbot der EMRK auf die Möglichkeit präventiv begründeter Ausnahmen zu untersuchen, da Art. 4 EU-Charta wegen Art. 52 Abs. 3 EU-Charta die gleiche Reichweite zukommt wie Art. 3 EMRK. Sollte sich hierbei die Möglichkeit einer Einschränkung des Folterverbotes des Art. 3 EMRK in Extremsituationen als möglich erweisen, so kann auch Art. 4 EU-Charta keinen weitergehenden Schutz einräumen. Zwar legt Art. 52 Abs. 3 EU-Charta ausdrücklich fest, dass das Recht der Union einen weitergehenden Schutz gewähren kann als die EMRK. Bei der Ausgestaltung mehrpoliger Grundrechtsverhältnisse – und hierum handelt es sich bei der Rettungsfolter – muss aber die Gewährung des Mindeststandards gleichzeitig den Höchststandard darstellen, da die Einräumung eines weitergehenden Schutzes zugunsten eines Grundrechtsträgers notwendig mit der Beschneidung von Grundrechten eines anderen Grundrechtsträgers einhergeht, die dieser nach Art. 52 Abs. 3 EU-Charta ebenfalls nicht hinzunehmen braucht; vgl. hierzu bereits oben Fn. 370.

C. Höherrangige Vorgaben und Grenzen für die Rechtfertigungsgründe

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Das Vertragsvölkerrecht kann somit nicht die verfassungsrechtliche Pflicht zur Anwendung der Rettungsfolter in Extremsituationen suspendieren. bb) Stellung des Völkergewohnheitsrechts in der Normenhierarchie der Bundesrepublik (1) Dispositives Völkergewohnheitsrecht (ius dispositivum) Entgegen den Intentionen des Verfassungsgebers397 nimmt die herrschende Lehre398 und Rechtsprechung399 einen Rang des Völkergewohnheitsrechts unterhalb der Verfassung, aber über den einfachen Gesetzen an. Tatsächlich lässt sich ein Verfassungsrang oder gar Überverfassungsrang des dispositiven Völkergewohnheitsrechts weder aus dem Wortlaut des Art. 25 GG ableiten, noch ist eine derartige Stellung systematisch geboten, da dispositives Völkergewohnheitsrecht bereits durch eine entgegenstehende vertragliche Norm aufgehoben oder abgeändert werden kann.400

397 Im Parlamentarischen Rat wurde zunächst beschlossen, das allgemeine Völkerrecht „zum Bestandteil des Bundesverfassungsrechts“ zu erklären. Um auszuschließen, dass das Völkergewohnheitsrecht durch verfassungsänderndes Gesetz abgeändert wird, einigte man sich schließlich auf die heutige Fassung. Durch die Änderung sollte aber nichts am Rang des Völkergewohnheitsrechts innerhalb der Normenhierarchie der Bundesrepublik geändert werden. Vielmehr wollte man am Primat des Völkerrechts festhalten. Das Völkerrecht sollte unter allen Umständen dem Bundesrecht und dem Bundesverfassungsrecht vorgehen. Vgl. zur Entstehungsgeschichte des Art. 25 GG Pernice, in: Dreier, GG II, Art. 25 Rn. 3 f. 398 Vgl. Rojahn, in: von Münch/Kunig, GG II, Art. 25 Rn. 37; Papadimitriu, Die Stellung der allgemeinen Regeln des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht, S. 94. Für Verfassungsrang des disposiviten Völkergewohnheitsrechts hingegen Pernice, in: Dreier, GG II, Art. 25 Rn. 25. 399 Vgl. BVerfGE 6, 309, 363, wo sich das Gericht gleichzeitig zum unterschiedlichen Rangverhältnis von Völkergewohnheitsrecht und Vertragsvölkerrecht innerhalb der deutschen Rechtsordnung äußert: „Das Grundgesetz überläßt die Erfüllung der bestehenden völkerrechtlichen Vertragspflichten der Verantwortung des zuständigen Gesetzgebers. Art. 25 GG räumt nur den ,allgemeinen Regeln des Völkerrechts‘ den Charakter innerstaatlichen Rechts und den Vorrang vor den Gesetzen ein. Diese Bestimmung bewirkt, daß diese Regeln ohne ein Transformationsgesetz, also unmittelbar, Eingang in die deutsche Rechtsordnung finden und dem deutschen innerstaatlichen Recht – nicht dem Verfassungsrecht – im Range vorgehen. Diese Rechtssätze brechen insoweit jede Norm aus deutscher Rechtsquelle, die hinter ihnen zurückbleibt oder ihnen widerspricht. Besondere vertragliche Vereinbarungen, auch wenn sie objektives Recht setzen, genießen diese Vorrangstellung nicht. Der Gesetzgeber hat also die Verfügungsmacht über den Rechtsbestand auch dort, wo eine vertragliche Bindung besteht, sofern sie nicht allgemeine Völkerrechtssätze zum Gegenstand hat.“ 400 Dies würde bedeuten, dass durch ein einfaches Vertragsgesetz nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG gleichsam das Grundgesetz geändert werden könnte.

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2. Teil: Rechtfertigung aufgrund strafrechtlicher Erlaubnisnormen

(2) Zwingendes Völkergewohnheitsrecht (ius cogens) Anders sieht es aber für die Normen des ius cogens aus, wozu auch das Folterverbot zählt.401 Hier ist angesichts der Tatsache, dass das zwingende Völkergewohnheitsrecht nach Art. 53 WVRK der Disposition der einzelnen Vertragsstaaten entzogen ist, eine Verletzung einer ius cogens-Norm mithin die Verletzung einer Rechtspflicht erga omnes beinhaltet,402 auf die andere Staaten möglicherweise im Wege der Repressalie reagieren können,403 von einer (gegenüber dem dispositiven Gewohnheitsrecht) herausgehobenen Stellung des zwingenden Völkergewohnheitsrechts auszugehen. Eine Stellung des ius cogens unterhalb des Ranges der Verfassung würde dem Charakter des zwingenden Völkerrechts nicht gerecht, das ohne Ansehen des jeweiligen Verfassungsrechts und der „Souveränität“ des verfassungsändernden Gesetzgebers404 Geltung beansprucht. So ist auch der verfassungsändernde Gesetzgeber an das zwingende Völkerrecht gebunden.405 Ob diese Konsequenz freilich aus Art. 25 GG abgeleitet werden kann,406 erscheint angesichts des eindeutigen Wortlauts dieser Norm fraglich. Vorzugswürdig erscheint es, die Regeln des Völkerrechts als „Recht“ i. S. d. Art. 20 Abs. 3 GG anzusehen,407 womit auch der Vorrang zwingenden Völkerrechts vor dem Verfassungsrecht mittels Art. 79 Abs. 3 GG gewährleistet ist.408

401

Vgl. oben Zweiter Teil C. II. 1. b). Im Barcelona-Traction-Fall (ICJ Rep. 1970, 3) unterscheidet der IGH zwischen Rechtspflichten, die einem Staat gegenüber der Staatengemeinschaft als Einheit, und solchen, die ihm nur gegenüber einem einzelnen Staat obliegen. Die erstgenannten Pflichten (erga omnes-Pflichten) umfassen derart bedeutende Rechte, dass alle Staaten ein rechtliches Interesse an ihrem Schutz haben. Auch wenn der IGH im BarcelonaTraction-Fall an keiner Stelle den Begriff des ius cogens verwendet, wird dennoch deutlich, dass er die von ihm genannten Rechtssätze, die eine erga omnes-Pflicht auslösen, zum zwingenden Völkergewohnheitsrecht zählt. 403 Hannikainen, Peremptory Norms (Jus Cogens) in International Law, S. 724 ff. Zurückhaltender Ipsen, Völkerrecht, § 15 Rn. 58: Repressalie als Reaktion auf einen Verstoß gegen ius cogens nur in „extremen Ausnahmefällen“. 404 So Pernice, in: Dreier, GG II, Art. 25 Rn. 25. 405 Dogmatisch lässt sich dies lösen, indem man das zwingende Völkergewohnheitsrecht entweder dem Bestand der änderungsfesten Verfassungsprinzipien zuordnet oder ihm den Charakter von Überverfassungsrang zubilligt; vgl. Pernice, in: Dreier, GG II, Art. 25 Rn. 24. 406 So Pernice, in: Dreier, GG II, Art. 25 Rn. 25. 407 Vgl. Bleckmann, Der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit, DÖV 1996, 137, 140. 408 Vgl. Pernice, in: Dreier, GG II, Art. 25 Rn. 26. 402

C. Höherrangige Vorgaben und Grenzen für die Rechtfertigungsgründe

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3. Zur Möglichkeit zweckbezogener Ausnahmen vom Folterverbot Auch wenn somit normhierarchisch nur das zwingende Völkergewohnheitsrecht Einfluss auf die Auslegung des Grundgesetzes nehmen kann und sich die Heranziehung des Völkervertragsrechts und damit auch des Art. 3 EMRK bei der Auslegung des Begriffs der „Gebotenheit“ in § 32 StGB und insbesondere bei der Definition der Reichweite der staatlichen Schutzpflicht aus Art. 1 Abs. 1 GG, die die staatlichen Organe zur Anwendung der Rettungsfolter in Extremsituationen verpflichtet, als problematisch erweist, weil der EMRK innerstaatlich lediglich die Rangstufe einfachen Bundesrechts zukommt,409 soll auch kurz auf die Möglichkeit der Einschränkung des Art. 3 EMRK durch Berücksichtigung präventiver Zwecke eingegangen werden. Denn es wäre der Bundesrepublik aus politischen Gründen nur schwer möglich, sich von den in der EMRK übernommenen völkerrechtlichen Verpflichtungen zu lösen. a) Die Berücksichtigung der Opferwürde im Rahmen des Art. 3 EMRK Was die Auslegung des Art. 3 EMRK angeht, weist Gaede darauf hin, dass die Literatur in Art. 3 EMRK eine der „auslegungs- und konkretisierungsbedürftigsten Bestimmungen der gesamten Konvention“ sieht.410 Auch der EGMR nimmt bei der Auslegung des Art. 3 EMRK eine umfassende Bewertung des Einzelfalls vor: Ob eine unmenschliche Behandlung oder Folter vorliegt, hängt nach der Rechtsprechung des EGMR von allen Umständen des Falles ab: Beachtlich seien insbesondere die Intensität oder Dauer der Behandlung, ihre physischen und psychischen Folgen sowie Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Opfers.411 Diese Einbeziehung der Einzelfallumstände bedeutet nun aber nicht, dass der Schutzbereich des Art. 3 EMRK aufgrund bestimmter präventiver Zwecke wie etwa die Bekämpfung des Terrorismus eingeschränkt werden könnte. Die Einzelfallprüfung bezieht sich nämlich ausschließlich auf die Frage, ob die zugefügten körperlichen oder seelischen Leiden im jeweiligen Fall bereits die Schwere erreicht haben, um sie als unmenschliche Behandlung oder Folter zu qualifizieren, und nicht darauf, ob sich ein einmal als Folter qualifiziertes Verhalten durch die Einbeziehung präventiver Zwecke im Rahmen einer Abwägung rechtfertigen lässt.412 Auch Jahn hält eine Einschränkung des Folterverbots auf 409

Vgl. oben Zweiter Teil C. II. 2. d) aa) (2). Gaede, Die Fragilität des Folterverbotes, in: Angst und Streben nach Sicherheit in Gesetzgebung und Praxis, S. 155, 164. 411 Vgl. die Rechtsprechungsnachweise bei Gaede, Die Fragilität des Folterverbotes, in: Angst und Streben nach Sicherheit in Gesetzgebung und Praxis, S. 155, 164. 412 Gaede, Die Fragilität des Folterverbotes, in: Angst und Streben nach Sicherheit in Gesetzgebung und Praxis, S. 155, 164. 410

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Grundlage des objektiven Folterbegriffs, von dem auch der EGMR ausgeht,413 nicht für möglich. Da dieser Folter nicht mehr über die Zielrichtung des Verhaltens definiert (Aussageerpressung, Bestrafung, Einschüchterung), sondern allein voraussetzt, dass einer in staatlichem Gewahrsam befindlichen Person bewusst große körperliche Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, also bereits der einfache Tatvorsatz genügt, ist der Begriff der Folter nach Jahn von vornherein gegen die Einbeziehung irgendwelcher Zwecke resistent.414 In der Tat ist der Folterbegriff in seiner objektiven Auslegung nicht in gleicher Weise für begriffsimmanente Abwägungen offen wie der Begriff der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG: Die Definition der Folter als Zufügung großer körperlicher und seelischer Schmerzen ermöglicht es zwar, Einzelumstände wie die Intensität oder Dauer der Behandlung oder das Alter des Gefolterten bei der Bestimmung des Minimums an Schwere mit einzubeziehen. Eine darüber hinausgehende Berücksichtigung (präventiver) Zwecke ist aber in weit geringerem Ausmaß möglich als bei dem weit abstrakteren Begriff der Menschenwürde, der außerhalb eines Würdekerns, wo bereits die Art der Behandlung eine Würdebeeinträchtigung begründet, einer Präzisierung durch Einbeziehung der Finalität der Maßnahme zugänglich ist.415 Dieser Befund bedeutet aber lediglich, dass es nicht möglich ist, den Schutzbereich des Folterverbotes aufgrund einer Zweck-Mittel-Relation bereits tatbestandlich in dem Sinne einzuschränken, wie es Herdegen bei Art. 1 Abs. 1 GG im Rahmen einer normimmanenten Konkretisierung des Würdeanspruchs vornimmt. Offen bleibt, ob Art. 3 EMRK außerhalb einer normimmanenten Einschränkung mit anderen Rechtspositionen abgewogen werden kann. Eine solche Abwägung erscheint möglich, wenn man berücksichtigt, dass aus den Garantien der EMRK auch Schutzpflichten des Staates abgeleitet werden können, die insbesondere das Recht auf Leben aus Art. 2 EMRK betreffen.416 Der bundesdeutschen Verfassungsrechtslage entsprechend ließe sich damit – setzt sich die staatliche Schutzpflicht zugunsten des Entführungsopfers gegen das Folterverbot des Art. 3 EMRK durch – eine Einschränkung des Folterverbotes in Extremsituationen rechtfertigen. Einen ähnlichen Ansatz wählt Brugger.417 Er deutet Fälle, in denen das Leben einer oder mehrerer Personen durch einen Entführer oder von Terroristen bedroht ist, als immanente Wertungslücke, für die Art. 3 EMRK eine Beschränkung hätte vorsehen müssen. Der auf Tatbestandsseite wesentlich differenziertere Art. 2 EMRK soll daher in solchen Fäl413

Jahn, Gute Folter – schlechte Folter?, KritV 2004, 24, 37. Jahn, Gute Folter – schlechte Folter?, KritV 2004, 24, 37. 415 Vgl. Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 43 ff. 416 Gaede, Die Fragilität des Folterverbotes, in: Angst und Streben nach Sicherheit in Gesetzgebung und Praxis, S. 155, 169 m. w. N. 417 Vgl. oben Erster Teil B. IV. 1. c). 414

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len anstelle des Art. 3 EMRK herangezogen werden, da er zugeschnitten ist auf Aggressionsakte Dritter und eine staatliche Schutzpflicht für den Fall anerkennt, dass Private rechtswidrige Gewalt gegen das Leben Unschuldiger anwenden.418 Gaede nennt allerdings zwei Gründe, warum die Schutzpflichten nicht aus sich heraus so weit reichen, um eine Einschränkung des Art. 3 EMRK zu rechtfertigen. Zum einen führt er an, dass die absolute Stellung des Art. 3 EMRK, der sich im Gegensatz zu Art. 2 EMRK auch in Notstandsfällen vollumfänglich durchsetzt, einer zu weiten Interpretation der Schutzpflichten aus Art. 2 EMRK einen Riegel vorschiebt: „Der EGMR und das Schrifttum haben [. . .] mit Recht kein Menschenrecht auf Sicherheit erfunden, das die Sicherheit von einer auf die Freiheit bezogenen Grösse zu einem gleichrangigen eigenständigen Gegenspieler der abwehrrechtlichen Menschenrechte macht.“419 Des Weiteren weist Gaede darauf hin, dass Art. 3 EMRK nicht nur formal, sondern auch inhaltlich eine gegenüber Art. 2 EMRK herausgehobenere Stellung zukommt: „Mit seinem Rekurs auf die nicht durch frühere oder drohende Taten verlorene Würde jedes Menschen wird auch eine materiell besondere Stellung reflektiert, welche der herausgehobenen Ausgestaltung im Vertragstext seinen materiellen Grund gibt.“420 Die Würde eines jeden Menschen, auf welcher die Regelung des Art. 3 EMRK basiert,421 kann sich aber auch als Anknüpfungspunkt erweisen, um Art. 3 EMRK in Fällen, in denen in einer nicht anders zu lösenden Konfliktsituation entweder die Würde des Entführers oder die Würde des Bedrohten verletzt werden muss, einer Abwägung zu öffnen. Das in Art. 3 EMRK formulierte Folterverbot stellt sich zwar als Konkretisierung der Menschenwürde des Entführers dar. Auf der anderen Seite findet die Menschenwürde des Bedrohten seine Ausprägung in den übrigen in der EMRK – und insbesondere in Art. 2 EMRK – normierten Menschenrechten.422 Damit steht der Schutz des Entführten vor Menschenwürdebeeinträchtigungen dem Verbot der Folter gleichberechtigt gegenüber: Ebenso, wie vorbehaltlos gewährten Grundrechten kein genereller Vorrang gegenüber einschränkbaren Grundrechten zukommt,423 kann man 418

Brugger, Darf der Staat ausnahmsweise foltern?, Der Staat 35 (1996), 67, 82. Gaede, Die Fragilität des Folterverbotes, in: Angst und Streben nach Sicherheit in Gesetzgebung und Praxis, S. 155, 170. 420 Gaede, Die Fragilität des Folterverbotes, in: Angst und Streben nach Sicherheit in Gesetzgebung und Praxis, S. 155, 171. 421 So auch Brugger, Würde gegen Würde, VBlBW 1995, 414, 452. 422 Dass die Würde des Menschen Ausgangspunkt aller Menschenrechte ist, wird in der Präambel des IPbpR deutlich: „Die Vertragsstaaten diese Paktes, [. . .] in der Erkenntnis, daß sich diese Rechte aus der dem Menschen innewohnenden Würde herleiten, [. . .] vereinbaren folgende Artikel:“ 423 Vgl. Dreier, in: Dreier, GG I, Vorb. Rn. 141: „Eine gewissermaßen abstrakte Höherwertigkeit der vorbehaltlos gewährten Grundrechte gegenüber den mit einfachem oder qualifiziertem Gesetzesvorbehalt versehenen ist nicht zu begründen.“ 419

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dem schrankenlos gewährleisteten Folterverbot des Art. 3 EMRK keine Höherwertigkeit gegenüber dem einschränkbaren Art. 2 EMRK zusprechen.424 Auch ist zu berücksichtigen, dass Art. 2 EMRK ebenso wie Art. 3 EMRK gem. Art. 15 Abs. 2 EMRK zu den notstandsfesten Rechten zählt.425 Die Notstandsfestigkeit des Art. 3 EMRK kann daher schon von vornherein kein Grund sein, diesem Recht einen abstrakten Vorrang vor Art. 2 EMRK einzuräumen.426 Hält man sich dies vor Augen, dann ist nicht ersichtlich, warum im Falle einer Würdekollision die Menschenwürde des Bedrohten gegenüber der Menschenwürde des Aggressors zurücktreten soll,427 und sich nicht in einem solchen Fall die von Art. 2 EMRK ausgehende staatliche Schutzpflicht zugunsten des Bedrohten gegen das Folterverbot des Art. 3 EMRK durchsetzt.428 Darüber hinaus ist fraglich, ob die Notstandsfestigkeit der Folterverbote einer Relativierung dieser Verbote in den hier diskutierten Fällen überhaupt entgegensteht. So weist etwa Erb darauf hin, dass Art. 2 Abs. 2 UN-Folterübereinkommen, der die Berufung auf außergewöhnliche Umstände gleich welcher Art, sei es Krieg oder Kriegsgefahr, innenpolitische Instabilität oder ein sonstiger öffentlicher Notstand, zur Rechtfertigung von Folter ausschließt, nicht zwangsläufig eine Rechtfertigung der Rettungsfolter verbietet.429 Sinn dieser Vorschriften ist nämlich vorwiegend, zu verhindern, dass eine Rechtfertigung von Folter auf übergeordnete Belange des Gemeinwesens gestützt wird, da hier die Grenzen aufgrund der Vielfältigkeit der in Betracht kommenden Bedrohungsszenarien fast völlig verschwimmen würden.430 Eine unkontrollierte Ausbreitung der Folter in Notzeiten wäre die Folge. Dagegen hat man es in einer Situation, die den 424 Damit ist auch das Argument Gaedes entkräftet, der die Absolutheit des Folterverbotes formal mit dem Vorrang des schrankenlos formulierten Art. 3 EMRK gegenüber dem einschränkbaren Art. 2 EMRK zu begründen versucht; vgl. Gaede, Die Fragilität des Folterverbotes, in: Angst und Streben nach Sicherheit in Gesetzgebung und Praxis, S. 155, 170. Als formales Argument spricht eigentlich die systematische Stellung des Rechts auf Leben als erstgenanntes Menschenrecht in der Aufzählung der EMRK vor dem Folterverbot für eine größere Bedeutung des Art. 2 EMRK. 425 Dies scheint Gaede, Die Fragilität des Folterverbotes, in: Angst und Streben nach Sicherheit in Gesetzgebung und Praxis, S. 155, 170 zu verkennen, wenn er ausführt, dass sich Art. 3 EMRK im Gegensatz zu Art. 2 EMRK auch im Krieg und im gesellschaftlichen Notstand vollumfänglich durchsetzt: Notstandsfestigkeit bedeutet nicht notwendig Uneinschränkbarkeit. Beide Begriffe sind streng voneinander zu unterscheiden. 426 So aber anscheinend Gaede, Die Fragilität des Folterverbotes, in: Angst und Streben nach Sicherheit in Gesetzgebung und Praxis, S. 155, 170, der die Notstandsfestigkeit des Art. 3 EMRK besonders herausstellt. 427 Vgl. bereits die verfassungsrechtliche Abwägung unter Zweiter Teil C. I. 2. c) bb). 428 Vgl. auch Brugger, Würde gegen Würde, VBlBW 1995, 446, 451 f.; ders., Vom unbedingten Verbot der Folter zum bedingten Recht auf Folter?, JZ 2000, 165, 169 f. 429 Erb, Nothilfe durch Folter, Jura 2005, 24, 28. 430 Erb, Nothilfe durch Folter, Jura 2005, 24, 28.

C. Höherrangige Vorgaben und Grenzen für die Rechtfertigungsgründe

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Einsatz der Rettungsfolter erfordert, mit „einer punktuell zugespitzten Konfliktlage des einzelnen zu tun, der im Kampf gegen einen akuten Rechtsbruch mit ganz konkreten verheerenden Auswirkungen konfrontiert wird, wobei [. . .] eine Rechtfertigung durch die Bindung an die engen Voraussetzungen einer Notwehrlage auch definitiv auf extrem gelagerte Ausnahmefälle beschränkt bleibt.“431 Diese Situation unterscheidet sich so grundlegend von Fällen eines öffentlichen Notstandes, dass sich die Notstandsfestigkeit der Folterverbote nur schwerlich gegen die Zulässigkeit einer Relativierung der Folterverbote in den hier diskutierten Fällen ins Feld führen lassen. b) Die Berücksichtigung der Opferwürde im Rahmen des völkergewohnheitsrechtlichen Folterverbotes Entscheidender für die Auslegung innerdeutschen Rechts ist aber – wie gezeigt – die Frage, ob das zum zwingenden Völkergewohnheitsrecht zählende Folterverbot auch Einschränkungen zur Berücksichtigung präventiver Zwecke erlaubt. Eine solche Einschränkung wäre zu erwägen, wenn sich dem zwingenden Völkergewohnheitsrecht des Folterverbotes ein Recht des Bedrohten auf Achtung seines Lebens oder seiner Würde gegenüberstellen lässt, das auch zum ius cogens zählt:432 Das Recht auf Leben beansprucht zum einen durch seine Normierung in Art. 6 IPbpR, Art. 2 EMRK, Art. 4 AMRK universellen Anspruch. Hinzu kommt, dass es ebenso in zahlreichen nationalen Verfassungen, die wie die genannten Verträge die Staatenpraxis ausdrücken, und im humanitären Völkerrecht fest verankert ist. Auch aus seiner systematischen Stellung im IPbpR, der EMRK und der AMRK als jeweils erstgenanntes Menschenrecht sowie aus der Formulierung des Art. 6 Abs. 1 IPbpR, der vom „angeborenen“ Recht auf Leben spricht, ergibt sich seine besondere Bedeutung für die Staatengemeinschaft,433 die zusätzlich dadurch betont wird, dass es nach Art. 4 Abs. 2 IPbpR, Art. 15 Abs. 2 EMRK und Art. 27 Abs. 3 AMRK auch im Notstandsfall nicht außer Kraft gesetzt werden darf. Daher kann davon ausgegangen werden, dass das Recht auf Leben von der Staatengemeinschaft universell akzeptiert und als eine zum zwingenden Völkergewohnheitsrecht gehörende Norm angenommen wurde.434 Es bedarf daher hier gar nicht mehr des Rekurses auf die Menschenwürde, die nach Wittreck ebenso wie das Folterverbot als zentraler und schran431 Erb, Nothilfe durch Folter, Jura 2005, 24, 28 [Hervorhebungen im Original]. Kritisch Herzberg, Folter und Menschenwürde, JZ 2005, 321, 324 Fn. 13. 432 Für eine Abwägbarkeit zwischen Täter- und Opferwürde auf der Ebene des Völkergewohnheitsrechts ausdrücklich Wittreck, Menschenwürde und Folterverbot, DÖV 2003, 873, 881. 433 Hobe/Tietje, Schießbefehl an der DDR-Grenze und ius cogens, AVR 32 (1994), 130, 141.

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2. Teil: Rechtfertigung aufgrund strafrechtlicher Erlaubnisnormen

kenloser Bestandteil des Völkergewohnheitsrechts gelten muss,435 um eine Abwägbarkeit zwischen der (durch das Folterverbot begründeten) Rechtspositionen des Entführers und der (durch das Recht auf Leben begründeten) Rechtsposition des Bedrohten zu begründen. Damit steht fest, dass die völkerrechtlichen Folterverbote Ausnahmen zur Berücksichtigung präventiver Zwecke zulassen; eine Rechtfertigung des handelnden Amtsträgers scheitert damit auch nicht an internationalen Vorgaben. Die Anwendung der Rettungsfolter zum Schutz der Würde einer Person in Extremsituationen ist „geboten“ i. S. d. § 32 Abs. 1 StGB.

434 Vgl. Hobe/Tietje, Schießbefehl an der DDR-Grenze und ius cogens, AVR 32 (1994), 130, 142. 435 Wittreck, Menschenwürde und Folterverbot, DÖV 2003, 873, 881.

Zusammenfassung und Fazit Die vorliegende Abhandlung zeigt im ersten Hauptteil, dass sich die Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Herbeiführung einer Aussage nicht auf eine hoheitliche Eingriffsbefugnis, die das Handeln des Amtsträgers auch strafrechtlich rechtfertigen würde,1 stützen lässt: Grundsätzlich ist zwar bei einer Befragung im präventiv-polizeilichen Bereich der polizeiliche Aufgabenbereich und damit der Weg in die Polizeigesetze geöffnet;2 auch sind in allen Landespolizeigesetzen Auskunftspflichten statuiert, die im strengsten Falle an das Bestehen einer Gefahr für Leben, Leib oder Gesundheit einer Person anknüpfen und somit bei einer Entführung oder einer terroristischen Bedrohung – Situationen, bei denen der Einsatz der Rettungsfolter meist diskutiert wird – regelmäßig vorliegen.3 Jedoch sehen einige Polizeigesetze ein Auskunftsverweigerungsrecht bei drohender Selbstbelastung des Befragten vor, das eine Auskunftsverpflichtung bereits auf Befugnisebene entfallen lässt.4 Polizeigesetze, die ein Auskunftsverweigerungsrecht nicht schon auf Befugnisebene ausschließen oder Ausnahmen hiervon bei Vorliegen einer Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person zulassen,5 schließen aber letztendlich auf der zweiten Ebene polizeilichen Handelns die Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Herbeiführung einer Aussage aus, so dass die geltenden Polizeigesetze keine Befugnis zur Anwendung der Rettungsfolter enthalten.6 Der Ansicht Bruggers, der sich in Fällen einer Entführung oder einer terroristischen Bedrohung für eine teleologische Reduktion der polizeilichen Vorschriften über das Verbot der Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Herbeiführung einer Aussage ausspricht, weil das ausnahmslose Verbot der Gewaltanwendung zur Informationsgewinnung eine gesetzliche Wertungslücke darstelle,7 ist nicht zu folgen: Durch die ausdrückliche Normierung des Verbotes der Zwangsanwendung soll dem Rechtsanwender in diesem Fall gerade keine Definitionsmacht hinsichtlich der kollidierenden Interessen Dritter – etwa der entführten

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Person – eingeräumt werden, die zu einer Einschränkung des absoluten Verbotes der zwangsweisen Herbeiführung einer Aussage führen.8 Lässt sich damit den Polizeigesetzen keine Befugnis zur Anwendung der Rettungsfolter entnehmen, so scheitert ebenso eine Herleitung hoheitlicher Eingriffsermächtigungen aus den grundrechtlichen Schutzpflichten bzw. den strafrechtlichen Rechtfertigungsgründen: Ein hoheitliches Einschreiten – nur gestützt auf eine grundrechtliche Schutzpflicht – würde den Verlust elementarer rechtsstaatlicher Anforderungen an hoheitliches Handeln bedeuten. So wäre insbesondere der Vorbehalt des Gesetzes faktisch abgeschafft, da es möglich wäre, die abwehrrechtlichen Verbürgungen der Grundrechte nicht mehr nur auf Grundlage eines Eingriffsgesetzes, sondern auch aufgrund der Schutzpflichtdimension der Grundrechte einzuschränken.9 Auch die strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe können nicht als ergänzende hoheitliche Eingriffsermächtigungen, etwa neben den polizeirechtlichen Eingriffsbefugnissen, zur Anwendung kommen: Die strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe dienten in ihrer ursprünglichen Normfunktion der Begrenzung staatlicher Gewalt. Sie nun als hoheitliche Eingriffsbefugnisse heranzuziehen, würde diesen ursprünglichen Zweck in sein Gegenteil verkehren. Zum anderen erfüllen die strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe auch nicht die Anforderungen, die an eine hoheitliche Eingriffsermächtigung zu stellen sind (Bestimmtheitsgrundsatz), und würden schließlich als öffentlichrechtliche Eingriffsbefugnisse in Kompetenzen der Länder eingreifen, die etwa im Bereich des Polizeirechts die alleinige Gesetzgebungsbefugnis besitzen.10 Ist der Amtsträger damit nicht auf Grundlage einer hoheitlichen Eingriffsbefugnis gerechtfertigt, so werden im zweiten Hauptteil spezifisch strafrechtliche Rechtfertigungsgründe daraufhin untersucht, ob ihre jeweiligen Voraussetzung bei der Anwendung der Rettungsfolter erfüllt sind. Dabei sind aber zunächst im Vorfeld zwei Fragen zu klären: Zum einen ist der Frage nachzugehen, ob sich ein Amtsträger überhaupt auf die allgemeinen Rechtfertigungsgründe des StGB berufen kann. Zum anderen könnte – falls man die erste Fragestellung bejaht – eine Rechtfertigung der Rettungsfolter noch daran scheitern, dass § 343 StGB als umfassendes Verbot der Aussageerpressung eine Berufung auf die §§ 32, 34 StGB ausschließt: Auch wenn die strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe das Handeln eines Amtsträgers nicht hoheitlich rechtfertigen können, so können sie doch das in dieser Arbeit im Vordergrund stehende spezifische Strafunrecht seines Verhaltens ausschließen, selbst wenn dieses Verhalten öffentlichrechtswidrig sein sollte. Dies folgt zum einen aus der unterschiedlichen Zielsetzung der beiden Rechtsgebiete, wonach das Strafrecht als äußerstes staatliches Sanktionsmittel 8

S. 75 ff. S. 79 ff. 10 S. 83 ff. 9

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nicht jeden Verstoß gegen das öffentliche Recht aufgreifen muss. Zum anderen bedingt sowohl die bundesdeutsche Kompetenzverteilung (Zuständigkeit des Bundes auf dem Gebiet des Strafrechts bzw. der Länder auf dem Gebiet des Polizeirechts) als auch die begrenzte Geltung des Art. 103 Abs. 2 GG nur für strafrechtliche Rechtfertigungsgründe Abweichungen in der Beurteilung der Rechtswidrigkeit innerhalb der verschiedenen Rechtsgebiete.11 Demnach kann der Amtsträger auf Grundlage der Rechtfertigungsgründe des StGB strafrechtlich gerechtfertigt sein, falls nicht § 343 StGB einer Rechtfertigung im spezifischen Falle der Aussageerpressung entgegensteht. Eine Rechtfertigung nach den §§ 32, 34 StGB könnte nämlich ausgeschlossen sein, weil die Rechtsgutskonzeption des § 343 StGB, der Schutz der Strafrechtspflege, einen Gleichlauf von § 343 StGB und § 136a StPO erfordert: Da § 136a StPO nur durch Bestimmungen des Verfahrensrechts, nicht aber durch die §§ 32, 34 StGB eingeschränkt werden kann, muss dies ebenso für § 343 StGB gelten.12 Fraglich ist allerdings, ob § 343 StGB überhaupt Aussageerzwingungen zum Zwecke der Gefahrenabwehr erfasst: Da der nemo-tenetur-Grundsatz nur im Strafverfahren und ähnlichen Verfahren absolute Geltung beansprucht und damit nur in diesen Verfahren einer besonderen materiell-strafrechtlichen Absicherung bedarf, werden Befragungen, die ausschließlich der Gefahrenabwehr dienen, nicht vom Tatbestand des § 343 StGB erfasst. Der in solchen Situationen lediglich einschlägige § 240 StGB ist einer Rechtfertigung nach den allgemeinen strafrechtlichen Rechtfertigungsgründen zugänglich.13 Die Anwendung der Rettungsfolter kann ein erforderliches Verteidigungsmittel als Reaktion auf den gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff des Entführers darstellen, falls andere, weniger einschneidende Versuche, Angaben über den Verbleib des Opfers zu erhalten, gescheitert sind.14 Eine Rechtfertigung nach § 32 StGB könnte demnach nur ausgeschlossen sein, wenn man den Einsatz der Rettungsfolter als nicht „geboten“ ansieht. Zwar ist eine generelle Anbindung der Notwehr bzw. Nothilfe an verfassungsrechtliche Wertentscheidungen abzulehnen. Dem Menschenwürdesatz kommt aber wegen seiner Allgemeinverbindlichkeit eine besondere Relevanz für die Rechtfertigung einer Verteidigungshandlung zu, weshalb im Rahmen der Gebotenheit der Notwehr die Vorgaben des Art. 1 Abs. 1 GG in besonderem Maße zu berücksichtigen sind.15 Eine verfassungsrechtliche Interpretation des Menschenwürdesatzes legt eine Einschränkung der Achtungspflicht der Würdegarantie nahe, wenn dies zur Erfüllung der staatlichen Pflicht zum Schutz der Würde notwendig ist. Die herr11 12 13 14 15

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93 ff. 102 ff. 107 ff. 116 ff. 122 ff.

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schende Meinung, die aufgrund des Wortlauts des Art. 1 Abs. 1 GG – zumindest verbal – an einem Verbot jeglicher Abwägbarkeit des Menschenwürdesatzes festhält, vernachlässigt, dass sich das Wort „unantastbar“ funktional auf Achtungs- und Schutzpflicht bezieht: Die Schutzpflicht ist aufgrund der ausdrücklichen Erwähnung in Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG der Achtungspflicht gleichrangig gegenübergestellt.16 Da die Entführung und das Einsperren einer Person eine Würdeverletzung darstellt, die zudem gegenüber der dem Entführer (durch die Anwendung der Rettungsfolter) drohenden Würdeverletzung als die schwerwiegendere einzustufen ist,17 kann die zwangsweise Herbeiführung einer Aussage mit dem Ziel der Rettung des Opfers gerechtfertigt sein. Diesem Ergebnis stehen auch nicht die völkerrechtlichen Folterverbote entgegen. Zum einen können, wenn man – wie hier vertreten – von einer auf der Schutzpflichtfunktion des Art. 1 Abs. 1 GG basierenden staatlichen Verpflichtung zum Einsatz der Rettungsfolter in Extremsituationen ausgeht,18 ohnehin nur diejenigen völkerrechtlichen Verpflichtungen ein von den Vorgaben der Verfassung abweichendes Ergebnis bedingen, die normhierarchisch dem Grundgesetz vorgehen. Dies ist etwa bei zwingendem Völkergewohnheitsrecht (zu dem auch das Verbot der Folter zählt), nicht aber bei Art. 3 EMRK oder anderen völkervertraglich statuierten Folterverboten der Fall.19 Unabhängig davon ist aber den völkerrechtlichen Folterverboten – ähnlich wie im innerstaatlichen Recht – das Recht auf Würde bzw. Leben gleichrangig gegenübergestellt und erlaubt damit eine Einschränkung der völkerrechtlichen Folterverbote zum Schutz dieser Rechtsgüter.20 Damit steht auch das Völkerrecht einer strafrechtlichen Rechtfertigung des Amtsträgers nicht im Wege.

Die vorliegende Abhandlung zeigt, dass eine strafrechtliche Rechtfertigung der Rettungsfolter in Extremsituationen von vornherein nicht an denjenigen Voraussetzungen scheitert, die in § 32 StGB klar umrissen sind: Ein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff lässt sich in den Situationen, die den Einsatz der Rettungsfolter erfordern, in der Regel ebenso bejahen wie die Erforderlichkeit dieses Verteidigungsmittels, wenn zuvor die Anwendung milderer in Betracht kommender Mittel erfolglos geblieben ist. Allein der schillernde Begriff der „Gebotenheit“ veranlasst eine Reihe von Autoren, unter Berufung auf die verfassungsrechtliche Lage und völkerrechtlich übernommene Verpflichtungen der Bundesrepublik, eine Rechtfertigung des Amtsträgers zu verneinen. Dabei stellt 16 17 18 19 20

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155 164 176 182 191

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sich bereits die Frage, ob das Merkmal der „Gebotenheit“ tatsächlich derart strapaziert werden kann, um dem Amtsträger die strafrechtliche Rechtfertigung unter Rekurrierung auf den Menschenwürdesatz zu versagen. Aber auch wenn man – wie letztlich auch hier angenommen – dem Menschenwürdesatz wegen seiner Allgemeinverbindlichkeit eine besondere Relevanz für die Auslegung des Merkmals der „Gebotenheit“ einräumt, hindert dies eine Rechtfertigung des Amtsträgers nicht: Der von der herrschenden Meinung immer wieder unreflektiert und schematisch vorgebrachte Verweis auf den Wortlaut der „Unantastbarkeit“ der Menschenwürde vermag eine Absolutheit des Folterverbotes nicht zu begründen. Es mag vor den Erfahrungen des Dritten Reiches gute Gründe dafür geben, der Achtung der Menschenwürde durch den Staat absoluten Schutz einzuräumen. Diese Auslegungsvariante aber als unumstößlich einzuordnen und als ein Tabu zu erklären, über das nicht diskutiert werden darf, ist vor dem Hintergrund der Fassung des Menschenwürdesatzes, der die staatliche Verpflichtung zum Schutz der Menschenwürde gleichrangig neben die Achtung der Menschenwürde einer Person stellt, nicht zu halten.

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Sachwortregister Anscheinsgefahr 35, 42 Aufgabeneröffnung, polizeiliche – Abgrenzung zur Strafverfolgung 38 ff. – Gefahrbegriff 41 f. – Schwerpunkttheorie 39 Auskunftspflicht, polizeiliche – bei Befugnis zur Befragung 47 – bei Gefahr 48 f. – bei gesetzlicher Handlungspflicht 49 ff. – bei polizeirechtlicher Verantwortlichkeit 47 f. – Folgen für das Strafverfahren 65 f. Auskunftsverweigerungsrecht, polizeiliches 59 ff. Aussageerpressung (§ 343 StGB) – geschützte Verfahrensarten 105 ff. – Rechtsgut 102 ff. – u. Rechtfertigungsmöglichkeit 101 ff. Befragungsbefugnis, polizeiliche 44 ff. Bundesverfassungsgericht, wichtige Urteile bzw. Beschlüsse – EGMR-Würdigung (BVerfGE 111, 307) 186 – Konkursordnung (BVerfGE 56, 37) 41 Fn. 47, 61 ff., 65 Fn. 158, 109 f., 112 – Lagerung chemischer Waffen (BVerfGE 77, 170) 176 Fn. 355, 178 Fn. 361, 181 f. – Lebenslange Sicherungsverwahrung (BVerfGE 109, 133) 140 – Schleyer (BVerfGE 46, 160) 73 Fn. 184, 145, 155, 176 f., 182 Fn. 376 – Schwangerschaftsabbruch I (BVerfGE 39, 1) 73 Fn. 184, 149, 151, 153 Fn. 267, 154 Fn. 274, 155 Fn. 276 u. 278, 182 Fn. 376

– Schwangerschaftsabbruch II (BVerfGE 88, 203) 73 Fn. 184, 149 Fn. 252, 151 ff., 154 Fn. 274, 176 Fn. 355 – Solange II (BVerfGE 73, 339) 187 – Unschuldsvermutung (BVerfGE 74, 358) 185 f. – Volkszählung (BVerfGE 65, 1) 44, 46, 112 Fn. 85 Eingriffsbefugnis, hoheitliche – als strafrechtlicher Rechtfertigungsgrund 30 ff. – Auskunftspflicht siehe dort – landesrechtliche Eingriffsbefugnis als strafrechtlicher Rechtfertigungsgrund 33 ff. EU-Grundrechtecharta 187 f., 180 Fn. 370 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) 22, 185 f., 191 ff. Europäische Menschenrechtskonvention – Ausnahmen vom Folterverbot 191 ff. – Folterverbot 171 – innerstaatliche Geltung 184 ff. Folterverbot – Einschränkbarkeit – bei Art. 1 Abs. 1 GG siehe Menschenwürde (Abwägbarkeit) – bei Art. 3 EMRK siehe Europäische Menschenrechtskonvention (Ausnahmen vom Folterverbot) – im Polizeirecht 68 ff. – im Völkergewohnheitsrecht 195 f. – im Grundgesetz – Art. 1 Abs. 1 GG siehe Menschenwürde (u. Folterverbot) – Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG siehe Misshandlungsverbot

Sachwortregister – im Polizeirecht siehe Unmittelbarer Zwang – im Strafgesetzbuch siehe Aussageerpressung – im Völkerrecht – Art. 2 Abs. 1 UN-Folterübereinkommen 171 – Art. 3 EMRK siehe Europäische Menschenrechtskonvention (Folterverbot) – Art. 7 IPbpR 171 – ius cogens 172 Garantenstellung siehe Ingerenz Ingerenz siehe auch Auskunftspflicht, polizeiliche (bei gesetzlicher Handlungspflicht) 55 ff. Landgericht Frankfurt a. M. NJW 2005, 692 (Urteil Daschner) 22, 120 f., 169 Menschenwürde – absolute Geltung 135 f. – Abwägbarkeit 138 ff. – normimmanente Konkretisierung 138 ff. – Objektformel 165 f. – Schutzpflichtdimension 155 ff. – u. Folterverbot 135 f. – Verhältnis zum Lebensgrundrecht 148 ff., 151 ff. Misshandlungsverbot (Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG) 136 f., 163 Notstand siehe Rechtfertigungsgründe, strafrechtliche (Notstand) Notwehr (§ 32 StGB) – Angriff – durch Unterlassen 116 f. – Erlaubnistatbestandsirrtum 117 f. – Gegenwärtigkeit 117 – Erforderlichkeit – Geeignetheit 118 ff. – mildestes Mittel 120 f. – Gebotenheit 122 ff.

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Pflichtenkollision siehe Rechtfertigungsgründe, strafrechtliche (Pflichtenkollision) Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) 136 f. Rechtfertigungsgründe, strafrechtliche – als hoheitliche Eingriffsbefugnisse 83 ff. – Notstand 131 ff. – Notwehr siehe dort – Pflichtenkollision 114 ff. – Verhältnis zum Polizeirecht – differenzierende Lösung 31 f., 84 f., 94 ff. – eingeschränkt polizeirechtliche Lösung 84 – gemischt polizeirechtlich-strafrechtliche Lösung 84 – polizeirechtliche Lösung 33 f., 36, 83, 94 f., 98, 129 – strafrechtliche Lösung siehe Rechtfertigungsgründe, strafrechtliche (als hoheitliche Eingriffsbefugnisse) Rechtswidrigkeitsbegriff – einheitlicher 30 f. – rechtsgebietsspezifischer 31 f., 94 ff. Rettungsfolter – Abgrenzung zum völkerrechtlichen Folterbegriff 173 ff. – Begriff 25 ff. – Einklagbarkeit 180 ff. – staatliche Anwendungspflicht 176 ff. – u. Menschenwürde 164 ff. Schutzpflicht, grundrechtliche – als Begrenzung der Menschenwürde siehe Menschenwürde (Schutzpflichtdimension) – als hoheitliche Eingriffsbefugnis 79 ff.

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Sachwortregister

Unmittelbarer Zwang (Polizeirecht) 66 ff. Unterlassene Hilfeleistung siehe auch Auskunftspflicht, polizeiliche (bei gesetzlicher Handlungspflicht) 54 f. Verhältnis Bundesrecht/Landesrecht 33 ff., 36 f., 91 f., 98 f.

Verhältnis Völkerrecht/Verfassungsrecht – Europäische Menschenrechtskonvention 184 ff. – Vertragsvölkerrecht 183 f. – Völkergewohnheitsrecht 189 f. Wahrheitsserum 135