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German Pages 177 Year 1996
GÜNTHER M.SANDER
Zur Beurteilung exhibitionistischer Handlungen
Schriften zum Strafrecht Heft 106
Zur Beurteilung exhibitionistischer Handlungen
Von
Dr. Günther M. Sander
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Sander, Günther M.: Zur Beurteilung exhibitionistischer Handlungen I von Günther M. Sander. - Berlin : Duncker und Humblot, 1996 (Schriften zum Strafrecht ; H. 106) Zug!.: Berlin, Freie Univ., Diss., 1994 ISBN 3-428-08545-0 NE:GT
D 188 Alle Rechte vorbehalten © 1996 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübemahme: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Druck: Druckerei Gerike GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 3-428-08545-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 i§
Vorwort Herr Prof. Dr. Ulrich Eisenberg hat mich zunächst als studentischen Hörer seiner Lehrveranstaltungen und später als wissenschaftlichen Mitarbeiter an seinem Lehrstuhl an der Freien Universität Berlin an seinen innovativen, kritischen und richtungsweisenden Gedanken und Ideen teilhaben lassen und dadurch mein (nicht nur, aber vor allem) kriminologisches Denken entscheidend geprägt. Es hat mich deshalb besonders gefreut, daß er mich im Februar 1991 auf mein Bitten ohne Zögern als Doktoranden angenommen und in der Folge den Fortgang der Arbeit zurückhaltend, jedoch jederzeit zu stets hilfreichen Gesprächen bereit überaus wohlwollend begleitet hat. Dafür bin ich ihm ebenso außerordentlich dankbar wie für die in kürzester Frist erfolgte Erstellung des Erstgutachtens und das sichere und schnelle "Lotsen" durch das Promotionsverfahren. Daß dieses Verfahren zügig durchgeführt werden konnte, ist (auch) das Verdienst des Dekans des Fachbereichs Rechtswissenschaft, Herrn Prof. Dr. Axel Montenbruck, der zudem das Zweitgutachten in kurzer Zeit erstellt hat. Dafür bedanke ich mich sehr. Ich freue mich, an dieser Stelle auch dem Leiter der Abteilung VI der Senatsverwaltung für Justiz und Präsidenten des Berliner Justizprüfungsamtes, Herrn Leitenden Senatsrat Klaus-Peter Jürgens, für seine nicht selbstverständliche Unterstützung und Beratung danken zu können. Herzlicher Dank gebührt darüberhinaus in besonderem Maße meinen Eltern, Frau Studiendirektorin i. R. Maria Sander und Herrn Richter am Landessoziaigericht i. R. Günther Sander, die die vorliegende Arbeit durch ihre mir geschenkte Liebe und jederzeitige Unterstützung mittelbar und durch kritische Einwände, gute Vorschläge und sorgfältiges Korrigieren unmittelbar gefördert haben. Schließlich möchte ich meinen Freundinnen und Freunden danken, die mich während der Erstellung der Arbeit trotz mancher Stimmungsschwankungen nicht nur verständnisvoll ertragen, sondern sogar mit Wort und Tat immer wieder ermuntert und "aufgebaut" haben. Dabei haben sich besonders Frau Diplom-Rechtspflegerin und RechtsreferendaTin Petra Malkowski, Frau Richterin am Verwaltungsgericht Barbara Groß sowie Herr Staatsanwalt Axel Schmidt - gemeinsam mit seiner lieben Frau Claudia - hervorgetan. Die namentlich Genannten haben die Arbeit im übrigen durch konstruktive Kritik, wertvolle Ideen und Beteiligung an der Korrektur unterstützt. Berlin-Neukölln, im August 1995
Günther M. Sander
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
11
1. Strafrechtliche Erfassungexhibitionistischen Verhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
2. Tatbestandliehe Voraussetzungen des § 183 Abs. 1 StGB und dessen Verhältnis zu anderen Strafvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
a) Begriff der exhibitionistischen Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
b) Taterkreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . .. . . . . . . . .. . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
12
c) Begriff der Belästigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
d) Verhältnis zu den§§ 174 Abs. 2 Nr. 1, 176 Abs. 5 Nr. 1 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
14
e) Verhältnis zu Strafvorschriften außerhalb des Dreizehnten Abschnitts... .. ...... .
14
3. Geschütztes Rechtsgut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
Erster Teil
Problemstellung der Arbeit
17
1. Gesetzgeberische Begründung der Strafbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17
a) Zielsetzung der Reformbemühungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17
b) Gründe für die Strafbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
18
2. Tragfähigkeit der Gründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19
a) Schamgefühl der Allgemeinheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19
b) Fehlendes Verständnis der Allgemeinheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
20
c) Ausländische Rechtsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
20
d) Förderung einer Heilbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . .
21
e) Gesichtspunkt der ,,kriminellen Karriere" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
22
f) Gefährdung und Schädigung der Tatzeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23
3. Arbeitshypothese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
24
8
Inhaltsverzeichnis
Zweiter Teil Kriminologischer Kenntnisstand
26
1. Statistisches Material......................... . . . ... . .. . . . . . . . ........ . ...... . ......
26
a) Einschränkungen der Aussagekraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
27
b) Auswertung des statistischen Materials . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
28
2. Erkenntnisse aus Kriminologie und angrenzenden Wissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
30
a) Erkenntnisse über den Eintritt eines Schadens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
30
b) Erkenntnisse über die Eskalation der Tatsituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
34
3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
37
Dritter Teil Untersuchung der Tatsituation exhibitionistischer Handlungen und deren Auswirkungen auf die Tatzeugen
38
I. M e t h o d i s c h e s V o r g e h e n . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
38
1. Auswahl der Erhebungsmethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
38
a) Befragung als Erhebungsmethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
38
b) Aktenanalyse als Erhebungsmethode .. . . . . .. . . . . .. .. . . . . . . . . .. . . . . . . . . . .. .. . .
39
2. Gewinnung des Aktenmaterials . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
41
3. Beschreibung des Aktenmaterials . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
44
a) Gesamtbestand der in Betracht kommenden Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
44
b) Zusammensetzung des Gesamtbestandes . . . . . . . . .. . . . .. . . . .. . . .. . . . . . . . . . .. . .
45
4. Methodisches Vorgehen bei der Auswertung des Aktenmaterials . . . . . . . . . . . . . . . . .
46
II. Auswertung des Fallmaterials ....... .. .. .. ................. .. ......
47
1. Äußere Tatumstände.... . ...... . . ......... .. ...... .... . ........... .. . .... .. . .. ...
47
a) Tatort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
47
b) Räumliche Distanz zwischen Tatern und belästigten Personen . . . . . . . . . . . . . . . .
51
c) Zugangsmöglichkeit des Taters . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . .. . . . .. . . . . . . . . .. . . .
51
d) Anwesenheit Nichtbeteiligter am Tatort oder in dessen Nähe . . . . . . . . . . . . . . . . .
53
e) Tatzeit .. . . . .. . . . .. . . . .. . . . .. . . .. . . . .. . . .. . . . . . .. . . .. .. . .. . . . . . . . . .. .. .. . .. .. .
54
Inhaltsverzeichnis
9
f) Lichtverhältnisse am Tatort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
56
g) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . .. . .. . . . . . . . .. . .
56
2. Täterbezogene Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57
a) Anzahl der Täter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57
b) Alter der Täter bei der Tatbegehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
58
c) Vorbelastungen und -strafen . . . . . .. . .. . .. . .. . . . . .. . . . . .. .. . . .. . .. . .. . .. .. . . .. .
62
d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
66
3. Intensität des Ttiterverhaltens bei Begehung der Tat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
66
a) Exhibitionistische Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
67
b) Auf die Aufmerksamkeit der belästigten Person(en) zielendes Verhalten . . . . . .
71
c) Aggressives Verhalten des Täters im weitesten Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
72
d) Bewaffnung des Täters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
75
e) Alkoholisierung des Täters . . .. .. .. . .. .. . . . . . . . . . . . .. .. . . . . . . .. . . . . . . . .. . . . . . .
77
f) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . .. .. . .. . .
80
4. Aufdie Belästigten bezogene Kriterien .. . .. . . . . . . . . .. . . . . .. . . . . . . . . . . .. .. .. . .. . .
81
a) Anzahl der belästigten Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
81
b) Geschlecht der belästigten Personen . . .. . .. . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . .
82
c) Alter der belästigten Personen . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . .. . . . . . . . .. . .. . . .
84
d) Familienstand und Anzahl der Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
86
e) Reaktionen der belästigten Personen auf das Erleben der exhibitionistischen Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . .
87
f) Empfindungen der belästigten Personen in bezug auf die exhibitionistische Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
92
g) Durch das Erleben einer exhibitionistischen Handlung hervorgerufene Beeinträchtigungen bzw. Beschwerden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
96
h) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
98
5. Daten zu Tätern und Belästigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
98
a) Vordeliktisches Bekanntschaftsverhältnis zwischen Tätern und belästigten Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . .. . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
99
b) Altersgefälle zwischen Tätern und belästigten Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 c) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 6. Verfahrensbezogene Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
a) Umstände der Anzeigeerstattung .. . . . .. . . . . . .. . .. .. .. . .. . . .. .. . . .. . . . . .. . .. . . 103 b) Stellung eines Strafantrages gemäߧ 183 Abs. 2 StOB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 c) Sonstiges Verhalten der belästigten Personen während des Verfahrens . . . . . . . . 110 d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
10
Inhaltsverzeichnis
Vierter Teil Zusammenfassung
114
1. Problemstellung der Arbeit und Beschreibung von Untersuchungsmethode und -material . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 2. Untersuchungsergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 a) Schäden bzw. Beeinträchtigungen bei den belästigten Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 b) Eskalation der Tatsituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
3. Interpretation der Untersuchungsergebnisse in bezugauf die Arbeitshypothese . . . . . . 120 4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 a) Bedeutung der Untersuchungsergebnisse für den Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 b) Bedeutung der Untersuchungsergebnisse für die justitielle Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . 126
Literaturverzeichnis
128
Anhang
135
Anhang 1: Erhebungsbogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Anhang 2: Fallsammlung...... . ... . .. . ............... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145
Einleitung 1. Strafrechtliche Erfassung exhibitionistischen Verhaltens
Das mit Strafe bewehrte Verbot exhibitionistischer Handlungen ist in der jetzigen Fassung des § 183 Abs. 1 StGB seit 28. November 1973 in Kraft. Die Vorschrift ist - gemeinsam mit dem ebenfalls neuen § 183 a StGB - durch das Vierte Gesetz zur Reform des Strafrechts (4. StrRG) an die Stelle des bis dahin geltenden § 183 StGB getreten, der denjenigen mit Strafe bedrohte, der durch eine unzüchtige Handlung öffentlich ein Ärgernis gab. Bereits innerhalb des § 183 StGB a.F. kam exhibitionistischen Verhaltensweisen die weitaus größte Bedeutung zu, so daß dieser gelegentlich als "Exhibitionistenparagraph" bezeichnet wurde 1. Jedoch lassen sich Vorschriften, die exhibitionistisches Verhalten negativ sanktionieren, über die Partikulargesetze des 19. Jahrhunderts, das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 und Normierungen des Mittelalters noch wesentlich weiter bis zum römischen und germanischen Recht zurückverfolgen2 .
2. Tatbestandliehe Voraussetzungen des § 183 Abs. 1 StGB und dessen Verhältnis zu anderen Strafvorschriften § 183 Abs. 1 StGB bestinunt, daß ein Mann, der eine andere Person durch eine exhibitionistische Handlung belästigt, mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft werden kann.
a) Begriff der exhibitionistischen Handlung
Eine exhibitionistische Handlung begeht nach der ganz überwiegenden Auffassung in der juristischen Literatur und in der Rechtsprechung, wer einem anderen ohne dessen Einverständnis sein entblößtes Geschlechtsteil vorzeigt, um sich entweder allein dadurch oder durch die Beobachtung der Reaktion des anderen sexuI
Müller, H.J., S. 17, 166; Schroeder 1975, S. 60; Maurach I Schroeder I Maiwald, § 22
Rnr. 2; s. auch- jeweils mit Zahlenmaterial- Schänke I Schröder, § 183 Anm. ll. 2. a); Beck,
S. 43; Strewe, S. 35; BGH St 12, 42,45 f. 2 Vgl. insbesondere Benz, S. 31 ff.; Schroeder 1975, a. a. 0.; Maurach I Schroeder I Maiwald, § 22 Rnr. 1; Staehelin, S. 466 f.; BGH St 12, 42, 43 ff.
12
Einleitung
eil zu erregen, seine sexuelle Erregung zu steigern oder zu befriedigen3 . Handlungen ohne diese spezifische sexuelle Tendenz werden nicht erfaßt4 • In kriminologischen, psychologischen und medizinischen, insbesondere psychiatrischen Veröffentlichungen werden bisweilen auch Verhaltensweisen als exhibitionistisch definiert, die außerhalb des eben beschriebenen Anwendungsbereichs des§ 183 StGB liegen5 . Dabei handelt es sich allerdings teilweise um Arbeiten aus der Zeit vor dem Inkrafttreten des neuen § 183 StGB. Im übrigen lassen sich die abweichenden Beschreibungen exhibitionistischen Verhaltens mit den je nach Wissenschaft differierenden Denk- und Forschungsansätzen erklären. Im einzelnen werden beispielsweise taktile6 , verbale7 und graphische8 Formen des "Exhibitionismus" mit in die Betrachtung einbezogen9 . b) Täterkreis
Der Tatbestand des § 183 Abs. I StGB kann in Form der Täterschaft nach seinem klaren Wortlaut allein durch einen Mann erfüllt werden. Soweit Frauen ihren Genitalbereich präsentieren, kann dies ggf. von § 183 a StGB erlaßt werden (vgl. aber auch § 183 Abs. 4 StGB). Jedoch soll dem weiblichen "Exhibitionismus" in der Praxis kaum Bedeutung zukommen. Dessen Anteil wird mit rund 2 % der Fälle angegeben 10• Zur Erklärung der geringen Häufigkeit werden biologische 11 , anatomische12, psychologische 13 und soziologische 14 Gründe angeführt. Im übrigen wird verschiedentlich die Ansicht vertreten, Frauen könnten ggf. bestehenden exhibitionistischen Tendenzen in weit größerem Maße als Männer bereits im Rahmen 3 Schänke I Schröder-Lenckner, § 183 Rnr. 3; LK11 -Laufhütte, § 183 Rnr. 2; Lackner, § 183 Rnr. 2; BGH- 2 StR 32/83 -,Urteil vom 30. 3. 1983; OLG DüsseldorfNJW 1977, 262; OLG Karlsruhe NStE Nr. 4 zu§ 183 StGB. 4 SK-Horn, § 183 Rnr. 2; DreheriTröndle, § 183 Rnr. 5; Preisendanz, § 183 Anm. 3; Benz, S. 66; Horstkotte, S. 90; ebenso aus forensisch-psychopathologischer Sicht Wille 1972, S. 218; kritisch Villwock, S. 117; einschränkend Sulimma 1958, S. 230. s S. die Literaturübersichten bei Müller, B., S. 3 ff., und bei Pietzcker, S. 4 f. 6 V gl. etwa Körner, S. 28 ff. 7 Körner, S. 22 ff.; Würtenberger, S. 344 f. s Berkhan, S. 377 f., und Hauke, S. 222f., schildern Fälle des sogenannten schriftbildliehen .,Exhibitionismus". 9 Eine Übersicht über diese unecht exhibitionistischen Erscheinungen gibt Benz, S. 118 ff. ; s. ferner Cabanis 1974, S. 258 f., sowie zu erweiternden Tendenzen auch Glatze[, S. 170, und Müller, H.J., S. 7 ff. 10 Dreher I Tröndle, § 183 Rnr. 4. 11 Witter 1972, S. 1069. 12 Vgl. die Angaben bei Cabanis 1972, S. 127; ferner Pietzcker, S. 123; kritisch Müller, H.J., S. 97. 13 Pietzcker, S. 123, 126. 14 Witter 1972, a. a. 0 .
Einleitung
13
der allgemein akzeptierten Mode 15 oder bei gesellschaftlich tolerierten Darbietungen 16 nachgehen. Soweit in der Literatur Fälle weiblicher Genitalpräsentation beschrieben werden 17, wird diskutiert, ob diesen Entblößungen andere Beweggründe als bei Männem (z. B. Werbeverhalten, Beleidigung des Gegenübers) zugrundeliegen18. Insgesamt erscheint es als nicht zweifelsfrei, ob die Ungleichbehandlung der Geschlechter sachlich geboten und verfassungsrechtlich zulässig ist 19. c) Begriff der Belästigung
Durch die exhibitionistische Handlung muß es zu einer Belästigung einer anderen Person gekommen sein. Dafür soll jede negative Gefühlsempfindung von einigem Gewicht ausreichen. Hierzu werden nach h. M. das Hervorrufen eines Schocks, von Schrecken, Angst, Ekel, Abscheu, Entrüstung oder Ärger gezählt, aber auch das Empfinden, in seinem Scham- und Anstandsgefühl nicht unerheblich verletzt zu sein20. Dagegen fehlt es an einer Belästigung, wenn der Tatzeuge die sexuelle Bedeutung der Handlung nicht versteht21 oder mit Verwunderung, Mitleid, Interesse oder gar Vergnügen reagiert22. Allein daraus, daß ein exhibitionistisches Verhalten von anderen beobachtet wurde, kann daher noch nicht zwingend auf eine Belästigung geschlossen werden23 . Andererseits soll diese über ein Geständnis des Täters hinaus jedenfalls dann keines weiteren Beweises bedürfen, wenn der Täter sich nicht auf die Entblößung beschränkt, sondern onaniert und sich 15 Glatze/, S. 172; kritisch Müller, B., S. 117 ff.; v. Hören, S. 20, meint, exhibitionistische Tendenzen im Verhalten von Frauen würden durch die Modeindustrie institutionalisiert; gelegentlich lassen sich auch Frauen beobachten, die sehr enge, sich in die Scheide eindrückende Hosen tragen. 16 Müller, H. J., S. 96, berichtet von Striptease-Tänzerinnen, die ihm versichert hätten, sie würden ihrer Beschäftigung vorwiegend aus sexuellen Motiven nachgehen und während ihrer Darbietung zuweilen einen Orgasmus erleben; ferner Eisen 1977, S. 75. 17 Müller, H. J., S. 94 f. ; Strewe, S. 35; Pietzcker, S. 122, 124; Götz, S. 164 ff.; Dost, S. 19, 349, berichtet von einer "Vergewaltigung" eines Jugendlichen durch zwei Frauen, die sich ihm gegenüber zuvor exhibitionistisch betätigt hatten; Cabanis 1972, S. 128 ff., schildert den Fall einer 17jährigen Frau, die mehrfach ihr Genital entblößte und bei Dunkelheit mit einer Taschenlampe beleuchtete, wenn jenseits der Berliner Mauer befindliche Angehörige der Nationalen Volksarmee mit Feldstechern sie beobachteten. 18 Pietzcker, S. 122; Plaut, S. 285f.; Körner, S. 79f.; s. auch Eibl-Eibesfe ldt 1986, S. 314, 319ff.; Beck, S. 61; Koopmann, S. 20; Leers, S. 374; Schmaltz, S. 699,707. 19 S. dazu Maurach I Schroeder I Maiwald, § 17 Rnr. 41 ; Schroeder 1975, S. 61. 20 Schänke I Schröder-Lenckner, § 183 Rnr. 4; SK-Horn, § 183 Rnr. 3; Preisendanz, § 183 Anm.4. 21 BGH NJW 1970, 1855; soweit ein Kind betroffen ist, ist nach der Novellierung durch das 4. StrRG allerdings§ 176 Abs. 5 Nr. 1 StGB zu beachten, vgl. LKl1-Laujhütte, § 183 Rnr. 4. 22 LKl1-Laujhütte, a. a. 0 . 23 BGH NStE Nr. 2 zu § 183 StGB.
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Einleitung
einer Frau mit sexualbezogenen Bemerkungen genähert oder sie gar berührt hat24 . Sehr bedenklich ist es jedenfalls, daß das Vorliegen einer Belästigung und damit des Tatbestandes letztlich vom Aufklärungsstand des Tatzeugen und seiner Einstellung zu sexuellen Vorgängen abhängt25 . d) Verhältnis zu den§§ 174 Abs. 2 Nr. 1, 176 Abs. 5 Nr. 1 StGB
Belästigt werden können Personen beiderlei Geschlechts und jeden Alters, grundsätzlich also auch Kinder. Ist ein Kind Tatzeuge, wird allerdings regelmäßig neben § 183 Abs. 1 StGB zudem der Tatbestand des § 176 Abs. 5 Nr. 1 StGB erfüllt sein26. Da es sich bei dieser Vorschrift nach h.M. um eine Iex specialis gegenüber § 183 StGB handelt27 , weil dessen Unrechtsgehalt in vollem Umfang durch den mit höherer Strafandrohung versehenen sexuellen Mißbrauch von Kindern erfaßt ist28 , sind bei dieser Konstellation - von Fällen, in denen der Tater sich über das Alter des Kindes im Irrtum befindet, abgesehen - Verurteilungen wegen exhibitionistischer Handlungen nicht zu erwarten. Entsprechendes gilt für den ebenfalls spezielleren29 sexuellen Mißbrauch von Schutzbefohlenen gemäß § 174 Abs. 2 Nr. 1 StGB.
e) Verhältnis zu Strafvorschriften außerhalb des Dreizehnten Abschnitts
Als Strafvorschriften außerhalb des Dreizehnten Abschnitts, die mit einer exhibitionistischen Handlung zusammentreffen können, kommen vor allem die§§ 185, 240 und 241 StGB in Betracht. Dabei sollen die beiden zuletztgenannten Delikte mit einem Verstoß gegen§ 183 Abs. 1 StGB regelmäßig in Tateinheit stehen30. Insoweit ist jedoch die Feststellung bedeutsam, daß ein exhibitionistisches Verhalten allein regelmäßig noch keine Nötigung oder Bedrohung darstellen wird, sondern zumindest durch den Einsatz bestimmter Tatmittel (Gewalt oder Drohung mit einem empfindlichen Übel bzw. mit der Begehung eines Verbrechens) ergänzt werden muß. Nur wenn dieses ergänzende Verhalten gemeinsam mit der Exhibition als eine Handlung i. S. d. § 52 StGB angesehen werden kann, ist die Annahme von Tateinheit zutreffend. BGH- 5 StR 538/91 - , Urteil vom 10. 3. 1992; Dreher I Tröndle, § 183 Rnr. 6. S. diesbezüglich auch Lackner, § 183 Rnr. 3. 26 Horstkotte, S. 89 (Fußn. 112). 27 Dreher I Tröndle, § 183 Rnr. 13; SK-Hom, § 183 Rnr. 8; Maurach I Schroeder I Maiwald, § 22 Rnr. 7; Schroeder 1975, S. 62; a.A. mit nicht überzeugender Begründung Schänke I Schröder-Lenckner, § 183 Rnr. 15; Lackner, § 183 Rnr. 11. 28 LK11 -Laujhütte, § 183 Rnr. 14. 29 Dreher I Tröndle, a. a. 0.; SK-Hom, a. a. 0. 30 So z. B. Dreher I Tröndle, a. a. 0.; Schänke I Schröder-Lenckner, a. a. 0 . 24
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Einleitung
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Das Konkurrenzverhältnis des§ 183 Abs. 1 StGB zu § 185 StGB ist grundsätzlich genauso zu beurteilen, sofern die Beleidigung in einem über das Entblößen des Geschlechtsteils hinausgehenden Tun oder einer Äußerung besteht31 . Fehlt es daran, stellt sich dagegen zunächst die Frage, ob das exhibitionistische Verhalten für sich überhaupt zugleich eine Beleidigung gemäß § 185 StGB darstellen kann. Das wird in aller Regel - ebenso wie für die sonstigen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung- zu verneinen sein32. § 185 StGB soll vor Angriffen auf die Ehre schützen33 . Ein derartiger Angriff
wird geführt, wenn ein Täter einem anderen Menschen durch ein herabsetzendes Werturteil oder eine ehrenrührige Tatsachenbehauptung zu Unrecht Mängel nachsagt, die, wenn sie vorlägen, den Geltungswert des Betroffenen mindern würden. Der Beleidigungstatbestand verlangt demnach eine eindeutige Kundgabe der Mißachtung oder Geringschätzung; eine solche wird sich einer sexuellen und insbesondere einer exhibitionistischen34 Handlung regelmäßig nicht entnehmen lassen, sondern sich (allenfalls) aus besonderen Umständen des Einzelfalls ergeben35 . Dem entspricht es, daß mit dem 4. StrRG u.a. das Ziel verfolgt wurde36, durch die Novellierung der einzelnen Sexualtatbestände der vor allem in der Rechtsprechung 37 bestehenden Neigung entgegenzuwirken, bei einem sexuellen Verhalten § 185 StGB zusätzlich oder, falls keine Bestrafung wegen eines Sexualdeliktes möglich war, gewissermaßen hilfsweise als "Auffangtatbestand" bzw. ,,kleines Sexualdelikt"38 anzuwenden. Schließlich dürfte bei einem Verhalten, das auf sexuelle Erregung oder Befriedigung abzielt, der subjektiv erforderliche Beleidigungsvorsatz nur sehr schwer nachweisbar sein 39 . 3. Geschütztes Rechtsgut Der Zweck des§ 183 StGB besteht nach ganz überwiegender Auffassung darin, das psychische und körperliche Wohlbefinden einzelner Personen vor einer Beein31 SK-Rudolphi, § 185 Rnr. 27; LK-Herdegen, § 185 Rnr. 47. 32 H.L.; s. nur SK-Rudolphi, a. a. 0 .; Dreher I Trändle, § 185 Rnr. 9 a; Schänke I Schrä-
der-Lenckner; § 185 Rnr. 4. 33 S. dazu SK-Rudolphi, § 185 Rnr. 17; LK-Herdegen, § 185 Rnr. 27; Schänke I SchräderLenckner; Vorbem §§ 185 ff. Rnr. I. 34 LK-Herdegen, § 185 Rnr. 29; Schänke I Schräder-Lenckner; § 185 Rnr. 20. 35 BGH St 36, 145, 148ff. = NJW 1989, 3028f. = NStZ 1989, 528f. mit zustimmender Anmerkung von Hillenkamp, S. 529 f.; BGH NStZ 1986, 4S3 f. = NJW 1986, 2442 f.; s. auch Kiehl, S. 3003, und BGH St 35, 76ff.; NStZ 1995, 129. 36 Vgl. Kiehl, S. 3004. 37 Als Beispiele können die Entscheidungen des OLG Stuttgart MDR 1974, 685, sowie des OLG DüsseldorfNJW 1977, 262, dienen; s. ferner die Übersicht bei Geppert, S. 588 f. 38 Siek, S. 330 f. 39 Kiehl, S. 3005; Haß, S. 124f.; BGH NStZ 1995, 129; OLG Zweibrücken NJW 1986, 2960 f.
16
Einleitung
trächtigung durch eine ungewollte Konfrontation mit einer möglicherweise schokkierenden sexuellen Handlung (Exhibition) zu schützen40. Daß die Vorschrift im Unterschied zu § 183 StGB a.F. 41 lediglich Einzelinteressen unter ihren Schutz stellen will, läßt sich bereits daraus herleiten, daß eine Strafverfolgung gemäß § 183 Abs. 2 StGB grundsätzlich die Stellung eines Strafantrags voraussetzt42.
40 Vgl. Schönke I Schröder-Lenckner; § 183 Rnr. 1; SK-Hom, § 183 Rnr. 1; Lackner; § 183 Rnr. 1; BGH MDR I D 1974, 546; a.A. Benz, S. 51, der auf das Scham- und Anstandsgefühl der Allgemeinheit abstellt. 41 Dieser sollte das Scham- und Sittlichkeitsgefühl der Allgemeinheit schützen ; s. nur BGH St 11, 282, 284 ff. = NJW 1958, 757, und BGH St 15, 118, 123. 42 LK11 -Laufhütte, § 183 Rnr. 1; Horstkotte, S. 90.
Erster Teil
Problemstellung der Arbeit 1. Gesetzgeberische Begründung der Strafbarkeit a) Zielsetzung der Reformbemühungen
Die geltende Fassung des § 183 StGB ist das Ergebnis eines langwierigen und schwierigen Gesetzgebungsverfahrens 43 . Dessen Ziel war es nicht zuletzt, den Abschnitt der Sittlichkeitsdelikte modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen und gewandelten gesellschaftlichen Ansichten anzupassen. Dabei bestand während der Reformarbeiten weitgehend Übereinstimmung darüber, daß sich auch in diesem Bereich der Staat des Strafrechts nur als ultima ratio bedienen dürfe44 • Menschliche Verhaltensweisen sollten nur noch dann unter Strafe gestellt werden, wenn sie sozialschädlich waren und nicht nur gegen moralische oder sittliche Kategorien verstießen45 . Eine Strafdrohung sollte nur dort vorgesehen werden, wo Rechtsgüter46 des einzelnen oder der Allgemeinheit angegriffen oder gefährdet würden und auf andere Weise nicht hinreichend geschützt werden könnten47 . Vor diesem Hintergrund gab es vor allem im federführenden48 Sonderausschuß für die Strafrechtsreform kontroverse Auffassungen zu der Frage, ob exhibitionisti43 Einen Überblick über dessen Ablauf gibt Sturm, S. I; ferner Kaiser 1993, S. 453 f. ; vgl. auch zu den Prozessen strafrechtlich-legislatorischer Tätigkeit im allgemeinen Eisenberg 1995, § 23, sowie besonders bezüglich§ 142 StGB Eisenberg I Ohderl Bruckmeier, S. 61 ff., 66, 70ff. 44 In diesem Sinn äußert sich auch die Kommission zur Reform des Straf- und Strafverfahrensrechts des niedersächsischen Justizministers in ihrem im November 1992 vorgelegten Abschlußbericht, vgl. DRiZ 1993, S. 211 f., 252f. 45 Zur Trennung von Strafrecht und Moral gerade im Sexualbereich Hanack, Rnm. 26-28. 46 Zur Begrifflichkeil schon Jäger, S. 10 ff., 21 f., 112 ff. 47 S. die Begründung des Entwurfs eines 4. StrRG der Bundesregierung, BT-Drucks. VJJ 1552, S. 9f., in der es allerdings unter Verstoß gegen den Grundsatz in dubio pro 1ibertate auch heißt, der Gesetzgeber könne nicht alle Taten straffrei lassen, deren Schädlichkeit bisher weder eindeutig bewiesen noch ausgeschlossen werden könne; vgl. auch die Äußerungen des Bundesministers der Justiz Jahn sowie der Abgeordneten Eyrich (CDU I CSU), Müller-Emmert (SPD) und Diemer-Nicolaus (F.D.P.) bei der ersten Beratung des Entwurfs in der 105. Sitzung am 5. März 1971, Sitzungsberichte des Deutschen Bundestages, 6. Wahlperiode, s. 6100ff. 48 Mitberatend wurde der Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit tätig.
2 Sander
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l. Teil: Problemstellung der Arbeit
sehe Handlungen im beschriebenen Sinn als sozialschädlich eingestuft werden könnten49 . Dem waren öffentliche Anhörungen (Hearings) von Sachverständigen zum Entwurf des 4. StrRG vorausgegangen, in deren Rahmen ebenfalls divergierende Ansichten vertreten worden waren50. Im Ergebnis befürwortete der Sonderausschuß die Strafbarkeit des Exhibitionismus. Dafür wurden im wesentlichen die folgenden sieben Gründe angegeben51 , die ausschlaggebend für die Entscheidung waren, exhibitionistische Handlungen (in einer gesonderten Vorschrift) unter Strafe zu stellen: b) Gründe für die Strafbarkeit
aa) Exhibitionistische Handlungen würden dem in unserem Kulturkreis entwikkelten Schamgefühl der Allgemeinheit widersprechen. Sie seien derart tabuisiert, daß die meisten damit konfrontierten Einzelpersonen in ihrem sittlichen oder ästhetischen Empfinden verletzt, d. h. in ihrem psychischen Wohlbefinden mehr oder weniger stark beeinträchtigt würden. Die Beeinträchtigung könne den Grad eines nachhaltigen seelischen Schocks annehmen. bb) Die Allgemeinheit habe kein Verständnis dafür, wenn dem einzelnen zugemutet würde, diese Belästigungen hinzunehmen. cc) Alle ausländischen Rechtsordnungen setzten das Strafrecht zur Abwehr des Exhibitionismus ein und ließen dabei fast durchweg allein die Verletzung des Schamgefühls als Strafgrund genügen. dd) Den meisten Tatern fehle die notwendige Eigeninitiative, sich einer Heilbehandlung auch wirklich zu unterziehen. Sie täten diesen Schritt nur auf Grund eines über den ohnehin vorhandenen Leidensdruck hinausgehenden Zwangs von außen. Schließlich sei zu berücksichtigen, daß es sich bei einem geringen Prozentsatz der Exhibitionisten um asoziale Personen handele, die sich freiwillig keinesfalls in Behandlung begeben würden. Der notwendige zusätzliche Druck könnte nicht allein durch eine außerstrafrechtliche Regelung erzeugt werden. ee) Es seien Fälle bekannt, in denen die exhibitionistische Handlung eine bereits vorhandene Neigung zu schwersten anderen Sexualdelikten manifestiert oder in 49 Dies war namentlich in dessen 58. Sitzung am 22. November 1971 der Fall, in der der Antrag des Abgeordneten Brandt (SPD), den Tatbestand der exhibitionistischen Handlungen als Ordnungswidrigkeit auszugestalten, abgelehnt wurde, vgl. Protokolle des Sonderausschusses des Deutschen Bundestages für die Strafrechtsreform, S. 1757 ff., 2072 ff. 50 In der 28., 29. und 30. Sitzung des Ausschussesam 23., 24. und 25. November 1970, vgl. Protokolle des Sonderausschusses des Deutschen Bundestages für die Strafrechtsreform, S. 843 ff.; beispielsweise befürworteten die Sachverständigen Geerds, Mitscherlich, Lempp, Groffmann und Hallermann die Straflosigkeit exhibitionistischer Handlungen. 51 Entnommen dem Schriftlichen Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform vom 14. Juni 1972, BT-Drucks. VI/3521, S. 53 ff.; s. auch die Übersicht bei Kentler I Schorsch, S. l 06 f.
2. Tragfähigkeit der Gründe
19
denen der Exhibitionist im weiteren Verlauf eine derartige Neigung entwickelt und entsprechende Straftaten begangen habe. Wenn das nach den vorhandenen Erfahrungsberichten und wissenschaftlichen Unterlagen auch keineswegs als die Regel angesehen werden könne, so seien die einschlägigen Fälle, was Zahl und Schwere betrifft, doch so bedeutsam, daß sie bei der gesetzlichen Regelung nicht unbeachtet bleiben könnten. ff) Die exhibitionistische Handlung komme meist überraschend, und das Opfer könne häufig nicht wissen, ob es dabei bleiben werde oder ob sie nur den Anfang eines schwerer wiegenden sexuellen Angriffs darstelle. Vom Täter sei diese Wirkung oft beabsichtigt; Befriedigung über den Ausdruck der Empörung, des Schrekkens und des Abscheus einer so angegriffenen Person seien für den Exhibitionisten kennzeichnend.
gg) Es sei unerläßlich, daß der Gesetzgeber den einzelnen vor derartigen Übergriffen, die sein psychisches Wohlbefinden bis zum Grad der von § 223 StGB erfaßten Körperverletzung beeinträchtigen könnten, schütze. Sie seien ein grober Eingriff in die Persönlichkeitssphäre.
2. Tragfähigkeit der Gründe
Mißt man diese Gründe an der von den am Gesetzgebungsverfahren unmittelbar Beteiligten selbst vorgegebenen Maßgabe, nur noch sozialschädliches, d. h. Rechtsgüter angreifendes bzw. gefährdendes Verhalten unter Strafe stellen zu wollen, so zeigt sich, daß ihnen diesbezüglich recht unterschiedliche Relevanz zukommt.
a) Schamgefühl der Allgemeinheit
Soweit zur Begründung die (nicht belegte) Behauptung aufgestellt wird, exhibitionistische Handlungen würden dem in unserem Kulturkreis entwickelten Schamgefühl der Allgemeinheit widersprechen, wird das Prinzip des Rechtsgüterschutzes rnißachtet52 . Denn es handelt sich dem Grunde nach um einen bloßen Rückgriff auf Kategorien der Sexualmoral 53 . Ein solcher Rückgriff aber ist unzulässig, weil das Strafrecht dem Schutz moralischer Standpunkte nicht zu dienen hat54 . Zwar mag es sein, daß strafrechtliche Vorschriften in der gesellschaftlichen Wirklichkeit desto stärkere tatsächliche Geltung erlangen, je größer ihre inhaltliche Verträglichkeit mit außerrechtlichen Normenkategorien - etwa der Sittlichkeit oder Moral -
2*
52
V. Hören, S. 19.
53
Lautmann, S. 46; Kentler I Schorsch, S. 111.
54
S. dazu Eisenberg 1995, § 22 Rnr. 1.
20
l. Teil: Problemstellung der Arbeit
ist55 , und daß der Gesetzgeber diesen Umstand nicht völlig außer acht lassen sollte56 . Aber ein Verhalten darf nicht schon deswegen mit Strafe bedroht werden, weil es außerrechtlich als unanständig, unästhetisch oder unmoralisch bewertet wird57 • b) Fehlendes Verständnis der Allgemeinheit
In engem Zusammenhang mit diesem Komplex steht die aufgestellte These, die Allgemeinheit hätte kein Verständnis dafür, wenn dem einzelnen zugemutet würde, Belästigungen durch exhibitionistische Handlungen hinzunehmen 58 . Daher gilt insoweit das eben zum Verhältnis zwischen straf- und außerrechtlichen Vorschriften Gesagte entsprechend. Zudem ermangelt diese These - soweit ersichtlich - bis heute eines empirischen Nachweises. Vielmehr haben Untersuchungen einerseits eine nur relativ geringe Bereitschaft, eine ggf. erlebte exhibitionistische Handlung bei den Strafverfolgungsbehörden anzuzeigen59, und andererseits ein erhebliches Dunkelfeld60 ergeben. Dies wird man zumindest als Hinweis darauf ansehen können, daß das Bedürfnis nach einer diesbezüglichen Strafbarkeit in der Bevölkerung eher gering ist61 . Auch wenn man jedoch die Richtigkeit der These unterstellt, vermag sie eine zwingende Begründung für eine strafrechtliche Normierung nicht zu liefern; denn nur um dem Unverständnis der Allgemeinheit entgegenzuwirken, hätte eine im Ordnungswidrigkeitenrecht angesiedelte Vorschrift genügt, zumal der Unterschied zwischen einer Geldbuße, die wegen einer Ordnungswidrigkeit verhängt wird, und einer Kriminalstrafe ohnehin nur einem Teil der Bevölkerung bekannt sein dürfte62. c) Ausländische Rechtsordnungen
Auch das Argument, alle ausländischen Rechtsordnungen setzten das Strafrecht zur Abwehr des Exhibitionismus ein, entbehrt der erforderlichen Überzeugungskraft. Denn abgesehen davon, daß es bereits inhaltlich unzutreffend ist, weil einige Vgl. Eisenberg 1995, § 22 Rnr. 7. Leferenz, S. 380 f., 385 f. 57 Ebenso Müller, H.J. , S. 193; Hanack, Rnr. 31; wohl a.A. ist Habe, S. 74. 58 Dazu sehr kritisch Bacia, S. 181 f. 59 Weihrauch, S. 91 f., 98; s. auch Kentler I Schorsch, S. 107 f.; für Kopenhagen Kutschinsky, S. 91 ff. , 97, 99, 109 f. 60 Vgl. dazu Lempp, S. 2266f.; Benz, S. 86f.; Hauptmann, S. 214; Körner, S. 220, 234; s. auch für Berlin-Ost Scharfenberg I Schirmer, S. 97 f., sowie für Österreich Grassberger; s. 557. 61 Eisenberg 1995, § 26 Rnr. 3. 62 Ähnlich Janssen, S. 312. 55
56
2. Tragfähigkeit der Gründe
21
Staaten tatsächlich lediglich auf Polizei- bzw. Verwaltungsrecht zurückgreifen63, wäre es für eine Strafbarkeit nach dem Recht der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr als ein Indiz. Und auch dies wäre es im Hinblick auf den Anspruch, nur sozialschädliches Verhalten unter Strafe zu stellen, nur insoweit, als auch die ausländischen Rechtsordnungen diesen Maßstab an die Frage der Strafbarkeit anlegten. Das ist aber - wie auch schon während des Gesetzgebungsverfahrens bekannt war - gerade nicht der Fall. Stattdessen wird als Strafgrund fast durchweg die öffentliche Verletzung des Schamgefühls als ausreichend angesehen und damit auf sittliche bzw. moralische Kategorien abgestellt64. Ähnliches galt auch für das Gebiet der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. Dort war die Vomahme sexueller Handlungen, sofern nicht Kinder einbezogen wurden, gemäß § 124 StGB/DDR unter Strafe gestellt, um das gesellschaftliche Zusammenleben der Bürger vor groben Belästigungen, die geeignet sind, das Scham- und Sittlichkeitsgefühl zu verletzen, zu schützen65 .
d) Förderung einer Heilbehandlung
Als vierter Grund wird angeführt, den meisten Tätern fehle die notwendige Eigeninitiative, sich einer Heilbehandlung auch wirklich zu unterziehen. Der daher erforderliche Druck von außen könne nicht allein durch eine außerstrafrechtliche Regelung erzeugt werden. Mit dieser Begründung wird einer systemfremden lnstrumentalisierung des Strafrechts das Wort geredet. Zwar soll das Strafrecht durchaus auch spezialpräventive Aufgaben erfüllen und insbesondere der Resozialisierung des Täters dienen. Es soll versucht werden, diesen durch die Strafe derart in die soziale Gemeinschaft wieder einzugliedern, daß er in Zukunft ohne Straftaten in ihr zu leben vermag66. Das setzt freilich voraus, daß der Täter sich zuvor durch ein sozialschädliches Verhalten außerhalb der sozialen Gemeinschaft gestellt hat. Ob dafür eine exhibitionistische Handlung genügt, ist aber gerade die Frage, die erst noch zu klären ist. Im übrigen ist es zweifelhaft, ob einerseits der Leidensdruck67 der Täter exhibitionistischer Handlungen nicht doch in der Mehrzahl der Fälle allein zur Aufnahme einer therapeutischen Behandlung ausreicht und ob andererseits die Behandlungsbereitschaft überhaupt durch strafrechtlichen Druck er-
Dies läßt sich z. B. einer Übersicht bei Benz, S. 155 ff., entnehmen. In diesem Sinn äußerte sich im Rahmen der öffentlichen Anhörung am 25. November 1970 bereits Jescheck, vgl. Protokolle des Sonderausschusses des Deutschen Bundestages für die Strafrechtsreform, S. 1102 f. 63 64
Ministerium der Justiz, S. 318 f. Schönke I Schröder-Stree, Vorbem §§ 38 ff. Rnr. 15; s. auch Dreher I Tröndle, § 46 Rnr. 3. 65
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67 Viele Täter empfinden das Bedürfnis, ihr Geschlechtsteil vor anderen zu entblößen, als "Fluch", vgl. z. B. Wille 1986, S. 552, und Schorsch 1993, S. 471.
22
1. Teil: Problemstellung der Arbeit
höht werden kann68. Ferner bestehen Zweifel an den Erfolgsaussichten einer (auch) durch äußeren Druck herbeigeführten Therapie69. e) Gesichtspunkt der "kriminellen Karriere"
Mehr Gewicht für die Beurteilung der Sozialschädlichkeit kommt der Befürchtung zu, die Begehung exhibitionistischer Handlungen könnte der Beginn einer ,,kriminellen Karriere" sein, die bis zu schwersten Sexual- oder (sonstigen) Gewaltdelikten fortschreiten könnte und deshalb möglichst frühzeitig durch strafrechtliche Reaktionen beendet werden sollte70 . In der Tat lassen sich gelegentlich in Literatur71 und Rechtsprechung 72 Fälle finden, die auf die bezeichnete Progression hinzudeuten scheinen. Jedoch dürfte es sich dabei um Einzelfälle handeln73, und insbesondere ist nicht auszuschließen, daß solche Verläufe lediglich Folge justitieller Reaktion (und Rechtsfolgenvollstreckung) nach bloßem Exhibitionismus sind. Trotzdem hat der Sonderausschuß gemeint, die einschlägigen Fälle seien nach Zahl und Schwere so bedeutsam, daß sie bei der gesetzlichen Regelung nicht unbeachtet bleiben könnten. Immerhin wurde für Österreich berichtet, 14% der Exhibitionisten träten später als "Notzüchter, Schänder, Räuber und Brandstifter" in Erscheinung74 . An anderer Stelle hieß es, unter fast 50 wegen exhibitionistischer Handlungen psychiatrisch begutachteten Probanden seien lediglich acht gewesen, bei denen die späteren Delikte nach Ausführung und Gewicht den vorangegangenen geglichen hätten; in allen anderen Fällen sei es zu einem Heraustreten aus der Anonymität bis zur Aufga68 Entsprechend waren die Darlegungen der Sachverständigen Lempp und Wille in der öffentlichen Anhörung am 24. November 1970, vgl. Protokolle des Sonderausschusses des Deutschen Bundestages für die Strafrechtsreforrn, S. 937, 993. 69 So auch Kentler I Schorsch, S. 112; zu den organisatorischen Problemen einer Therapie Hohe, S. 72 f. 70 Kritisch zu diesem Ansatz wegen der Nähe zur "berüchtigten symptomatischen Verbrechensauffassung" Schroeder 1975, S. 61. 71 Z.B. bei Sulimma 1961, S. 132; Dost, S. 149, 152; Schorsch 1971, S. 112; Müller, H.J., S. 136, berichtet von einem wegen exhibitionistischer Handlungen fünfmal vorbestraften Mann, dessen sechster Verurteilung neben drei weiteren Exhibitionen auch zwei versuchte Vergewaltigungen zugrundelagen; s. auch Witter 1977, S. 377 f.; ferner für die Nachkriegszeit Bader, S. 71. n Zu einem Verdeckungsmord im Anschluß an eine exhibitionistische Handlung BGH - 2 StR 32/83 -,Urteil vom 30. 3. 1983; v. Hentig, S. 331, hält es für gesicherte Erkenntnis, daß einzelne exhibitionistische Typen dem Lustmörder nahestehen. 73 Vgl. Eisenberg 1993, Rnr. 1280. 74 Grassberger, S. 557; auch Witter 1972, S. 1064 f., hält es zwar für ausgesprochen selten, aber nicht für von vomherein ausgeschlossen, daß sich ein exhibitionistisches Verhalten nur als Vorstufe in der Entwicklung einer umfassenderen sexuellen Abnormität mit schwerwiegenden sadistischen Delikten erweist.
2. Tragfähigkeit der Gründe
23
be der Distanz zum Opfer und zum körperlichen Angriff gekommen75• Insoweit ist aber zu berücksichtigen, daß es sich nach den veröffentlichten Angaben um eine mehrfach selektierte Untersuchungsgruppe gehandelt haben dürfte. Ganz überwiegend wird dementsprechend die Ansicht vertreten, daß nur extrem wenige Exhibitionisten in ihrer weiteren Entwicklung schwere Sexual- oder (sonstige) Gewalttaten begehen würden76 • Stattdessen sei ihr Verhalten auffallend monoton, starr und gleichförmig und münde gerade nicht in andere schädigende oder auch nur gefährdende Handlungen ein77 . In diese Richtung deuten auch die meisten empirischen Arbeiten. So war in einer groß angelegten Untersuchung mit 2.916 ausgewerteten exhibitionistischen Handlungen das in Rede stehende Karrieremodell nicht erkennbar; vielmehr kam es nur in Ausnahmefällen zu Gewaltanwendungen 78 . Nach einer anderen Erhebung befand sich unter den Tätern von 23 Sexualdelikten mit tödlichem Ausgang nur einer, der zuvor wegen einer exhibitionistischen Handlung verurteilt worden war79 . Dementsprechend wird vermutet, man werde in der Vorgeschichte von Gewalttätern in größerer Häufigkeit Diebstähle als Exhibitionen finden, ohne aber deshalb Dieben eine besondere Tendenz zur Aggression unterstellen zu können 80. Aber selbst wenn es in sehr seltenen Ausnahmefällen zu einer Entwicklung dergestalt kommt, daß das Verhalten des Taters exhibitionistischer Handlungen in offene Aggressivität und Gewalthandlungen einmündet, besteht das Problem, daß dies regelmäßig zuvor nicht erkennbar und prognostizierbar ist und daher eine gezielte Einwirkung auf den Täter im Wege einer spezialpräventive Aspekte berücksichtigenden strafrechtlichen Entscheidung nicht möglich sein wird81 . f) Gefährdung und Schädigung der Tatzeugen
Größere Bedeutung für die Frage der Sozialschädlichkeit haben nach allem die beiden (im Zusammenhang zu sehenden) Gründe, die sich mit den konkreten Tatumständen exhibitionistischer Handlungen und deren Auswirkungen befassen. Träfe es nämlich zu, daß Exhibitionen das psychische und ggf. physische Wohlbefinden von Tatzeugen bis zum Grad der von § 223 StGB erfaßten Körperverletzung beeinträchtigen (können), würde auch insoweit das allgemein anerkannte SchutzGlatze/, S. 171 f. S. Witter 1977, S. 337. 77 Berckhauer, S. 307; Eisenberg 1995, § 58 Rnr. 35; Wille 1972, S. 221, und 1986, S. 551 f.; Pietzcker, S. 138; ebenso im Rahmen der öffentlichen Anhörung am 24. November 1970 die Sachverständigen Lempp, Schorsch und Wille, vgl. Protokolle des Sonderausschusses des Deutschen Bundestages für die Strafrechtsreform, S. 937, 988 f., 995. 78 Baurmann, S. 19. 79 Bemer/ Karlick-Bolten, S. 101 ; s. auch Steinhilper, S. 155. 80 Vgl. Pietzcker, S. 137 f. 81 S. dazu Kentler I Schorsch, S. 112. 75
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24
1. Teil: Problemstellung der Arbeit
gut der körperlichen Integrität und Gesundheit einschlägig sein82. Der Unterschied zwischen§ 183 StGB und§ 223 StGB wäre darin zu sehen, daߧ 183 StGB bereits bei Vorliegen einer Belästigung, die nicht zu körperlichen Auswirkungen beim Tatzeugen geführt hat, zur Anwendung käme. Zudem wäre eine Verurteilung wegen exhibitionistischer Handlungen nicht von dem im Rahmen des § 223 StGB im Einzelfall möglicherweise schwer zu führenden Nachweis der Kausalität zwischen Taterverhalten und eingetretenen körperlichen Folgen beim Tatzeugen abhängig. Insoweit wäre§ 183 Abs. 1 StGB im Verhältnis zu§ 223 StGB als abstraktes Gefährdungsdelikt ausgestaltet, obwohl er an sich selbst einen Erfolg (Belästigung) voraussetzt83. Dieser vorverlagerte Schutz könnte eventuell mit der besonderen Tatsituation begründet werden, von der angenommen wird, daß sie eskalieren und das Opfer dementsprechend nicht wissen könne, ob es bei der exhibitionistischen Handlung bleiben werde. Entscheidendes Problem ist demnach, ob exhibitionistische Handlungen tatsächlich dazu geeignet sind, Folgen i. S. d. § 223 StGB herbeizuführen, und dies in einer nicht völlig unerheblichen Anzahl von Fällen auch tun. In engem Zusammenhang damit steht die Frage, ob die Befürchtung zutrifft, daß die konkrete Tatsituation einer exhibitionistischen Handlung zu eskalieren droht und diese dann nur den Beginn für schwerere Sexual- oder (sonstige) Gewaltdelikte darstellt. Wäre beides zu verneinen, entbehrte der gegenüber § 223 StGB vorverlagerte Schutz einer tragfähigen Begründung. Denn dann wäre eine auch nur abstrakte Gefährdung für das Schutzgut der körperlichen Integrität und Gesundheit, die eine Strafbarkeit exhibitionistischen Verhaltens rechtfertigen könnte, nicht ersichtlich.
3. Arbeitshypothese
Diesen Fragen soll im folgenden 2. Teil der Arbeit zunächst durch Erschließung des bereits vorhandenen Kenntnisstandes der Kriminologie und angrenzender Wissenschaften und sodann im 3. Teil durch eine eigene empirische Untersuchung nachgegangen werden. Im Hinblick auf die wegen des Grundsatzes in dubio pro libertate84 bestehende "Beweislastverteilung" müßten sich dabei zumindest Anhaltspunkte für Gefährdungen oder gar Schädigungen von Tatzeugen exhibitionistischer Handlungen ergeben, um die de lege lata bestehende Strafbarkeit gemäß § 183 Abs. 1 StGB zu stützen. Dementsprechend liegt der Untersuchung die folgende, ggf. zu falsifizierende 85 Hypothese zugrunde: Durch die Begehung einer exhibitionistischen Handlung kommt es weder zu einer Gefährdung noch zu einer Schädigung der die Tat wahrnehmenden Person. 82 83
84 85
Schönke I Schröder-Eser, § 223 Rnr. I; Dreher I Tröndle, § 223 Rnr. I. Auch v. Hören, S. 19, nimmt diese dogmatische Einordnung vor. Vgl. dazu nur Jäger; S. 123, und Hanack, Rnr. 31. Popper; S . 14ff.; s. dazu auch Eisenberg 1995, § 12 Rnr. 13.
3. Arbeitshypothese
25
Die Arbeit wird die aufgeworfenen Fragen ausschließlich für die Gruppe jugendlicher, heranwachsender und erwachsener Tatzeugen und damit für den Anwendungsbereich des§ 183 Abs. 1 StGB zu beantworten versuchen. Denn würden Kinder als die Begehung exhibitionistischer Handlungen erlebende Personen in die Betrachtung miteinbezogen, führte dies schon wegen der insoweit einschlägigen Spezialvorschrift des § 176 Abs. 5 Nr. 1 StGB zu erheblichen methodischen Schwierigkeiten. Zudem bestehen Bedenken hinsichtlich der Vergleichbarkeit der möglichen Auswirkungen von exhibitionistischem Verhalten auf die beiden Gruppen, so daß eine geschlossene Darstellung in einer Arbeit weder geboten noch möglich erscheint.
Zweiter Teil
Kriminologischer Kenntnisstand Neben juristisch-dogmatischen Veröffentlichungen und kriminalpolitischen Beiträgen gibt es zwar eine große Zahl empirischer Untersuchungen des Phänomens exhibitionistischer Handlungen. Diese beschäftigen sich aber in wohl noch stärkerem Maße als bei anderen Delikten mit täterbezogenen Fragestellungen, insbesondere den zur Einwirkung auf den Täter (primär) zur Verfügung stehenden somatischen und psychotherapeutischen Behandlungsformen86 . Dagegen stehen opferbezogene Ansätze eher am Rande des kriminologischen Erkenntnisinteresses. Das ist verwunderlich, weil zum einen sich der Blick auf die Interessen der Opfer von Straftaten in den letzten zehn Jahren geschärft hat und zum anderen exhibitionistische Handlungen zu den drei am meisten registrierten Sexualstraftaten gehören87 . Letzteres ergibt sich aus den ebenfalls als Informationsquellen zur Verfügung stehenden amtlichen Kriminalstatistiken.
1. Statistisches Material
Die Aufbereitung der in Betracht kommenden amtlichen Statistiken ist fast durchgängig täter- bzw. fallbezogen. Direkte Erkenntnisse über eventuelle Gefährdungen oder Schäden bei den Tatzeugen exhibitionistischer Handlungen lassen sich ihnen deshalb nicht entnehmen. Dagegen ergeben sich Anhaltspunkte hinsichtlich der tatsächlichen Bedeutung exhibitionistischer Handlungen in der Bundesrepublik Deutschland aus der vom Bundeskriminalamt jährlich veröffentlichten Polizeilichen Kriminalstatistik (PolSt) und der ebenfalls in jährlichem Rhythmus vom Statistischen Bundesamt als Reihe 3 der Fachserie 10 ("Rechtspflege") herausgegebenen Strafverfolgungs86 Einen umfassenden Überblick gibt Horn, H. J., S. 608 ff. ; ähnlich Teufert, S. 228 ff. ; Schorsch 1993, S. 475 f. ; Eisenberg 1995, §58 Rnm. 39-41; Göppinger; S. 2 15; Schorsch 1987, S. 127 ff.; zu psychotherapeutischen MethodenSchorsch I Galedary, S. 12 ff.; speziell zum Einsatz von Antiandrogenen Drillisch I Schott, S. 211 ff.; zu Kastration und stereotaktischem Eingriff Jung, S. 2241 ff.; informativ auch die Schilderung einer analytischen Psychotherapie eines Jugendlichen von Hagspihl, S. 6 ff., 37 ff.; zum (wohl ernst gemeinten) Vorschlag einer "Behandlung" mit einer sogenannten "Schutzkleidung" s. die Beiträge von Moerchen, S. 183 ff., Gummersbach, S. 53 f., und Koopmann, S. 25. 87 Eisenberg 1995, § 45 Rnr. 54.
I. Statistisches Material
27
statistik (StrafSt) sowie aus den entsprechenden Statistiken der einzelnen Bundesländer. In Berlin handelt es sich dabei um die jedes Jahr vom Polizeipräsidenten in Berlin herausgegebene Polizeiliche Kriminalstatistik - Kriminalität in Berlin (PolSt Bin) und die jährlich als Sonderheft "Rechtskräftig abgeurteilte Personen in Berlin (West) bzw. Berlin-West (im Jahr 1990) bzw. Berlin (seit 1991)" erscheinende Strafverfolgungsstatistik des Statistischen Landesamts Berlin (StrafSt Bin). a) Einschränkungen der Aussagekraft
Die genannten Statistiken sind jedoch nur als mit Einschränkungen verwendbare Erkenntnisquellen einzustufen88 . Letztlich sind die in ihnen zusammengefaßten Zahlenwerte vor allem die Ergebnisse mehrstufiger Selektionen, die im übrigen organisatorisch lediglich dem Nachweis behördlichen bzw. gerichtlichen Handeins dienen und nur teilweise geeignet sind, die "wirkliche Kriminalität" widerzuspiegeln. Dabei ist von erheblichem Gewicht, daß weder alle Delikte den Strafverfolgungsbehörden bekannt werden noch diese auch nur annähernd in der Lage sind, die ihnen zur Kenntnis gelangten Straftaten aufzuklären 89 . Zudem ist noch nicht geklärt, ob das Verhältnis des sogenannten Hellfeldes zum jedenfalls bestehenden Dunkelfeld als quantitativ und qualitativ konstant angesehen werden kann und ob die bekanntgewordene Kriminalität für die unbekannt gebliebene repräsentativ ist90• Im übrigen können bezüglich der Daten der Polizeilichen Kriminalstatistiken Bedenken vor allem deshalb bestehen, weil diese nach Abschluß der Ermittlungen vor Aktenabgabe an die Staatsanwaltschaft durch die jeweils zuständige Polizeidienststelle erfaßt werden ("Ausgangsstatistik"), ohne eventuelle spätere Abweichungen in der rechtlichen Bewertung durch die Justizbehörden oder Änderungen der tatsächlichen Grundlagen des Verfahrens zu berücksichtigen91 . Dementsprechend erfolgen die Angaben nach der Berichts- und nicht etwa nach der Tatzeit Bei der Analyse der Zahlen ist weiter zu berücksichtigen, daß dann, wenn durch eine Handlung mehrere Strafgesetze oder ein Strafgesetz mehrmals verletzt wird (Tateinheit), der Fall bei demjenigen Delikt zu zählen ist, für das die nach Art und Maß schwerste Strafe angedroht ist. Sind dagegen mehrere rechtswidrige Taten 88 Vgl. zu den insoweit bestehenden Bedenken im einzelnen Eisenberg 1995, § 17 Rnm. 19-45, und- ausdriicklich zu den Aussagemängeln- Rnm. 53-63. 89 Von 6.291.519 im Jahr 1992 erfaßten Fällen wurden 2.660.839 als aufgeklärt registriert, vgl. PolSt 1992, Tabellenanhang, Tabelle 01; die Aufklärungsquote betrug demnach nur 42,3 %, obwohl als aufgeklärter Fall eine rechtswidrige Tat bereits dann gilt, wenn für sie nach dem polizeilichen Ermittlungsergebnis ein zumindest namentlich bekannter oder auf frischer Tat ergriffener Tatverdächtiger festgestellt worden ist, vgl. PolSt 1992, S. 8, und PolSt Bln 1992, S. 6; s. ferner Benz, S. 84 ff. 90 Eisenberg 1995, § 16 Rnr. 3. 91 PolSt 1992, S. 5; PolSt Bin 1992, S. 10.
28
2. Teil: Kriminologischer Kenntnisstand
desselben Tatverdächtigen durch selbständige Handlungen zum Nachteil verschiedener Geschädigter begangen worden, ist jede Handlung als ein Fall zu zählen (Tatmehrheit) 92 . Für§ 183 StGB ergibt sich im Rahmen der Polizeilichen Kriminalstatistiken eine weitere Beschränkung daraus, daß die diesbezüglichen Zahlen stets gemeinsam mit den Daten zum § 183 a StGB angegeben werden und eine Trennung bei der Auswertung nicht möglich ist93 . Auch für die Registrierung in den Strafverfolgungsstatistiken ist nicht der Tatzeitpunkt, sondern derjenige des Eintritts der Rechtskraft entscheidend. Dabei wird jeder Angeklagte so oft erfaßt, wie er innerhalb des Berichtszeitraums in verschiedenen Strafverfahren abgeurteilt wird. In den Fällen von Tateinheit und -mehrheit wird der Verurteilte jedoch nur bei dem Straftatbestand registriert, der die schwerste Strafdrohung enthält94. Infolgedessen dürfte die Besorgnis einer zunehmenden Ungenauigkeit der Statistik mit abnehmender Schwere der Strafdrohungen nicht unbegründet sein95 .
b) Auswertung des statistischen Materials
Eine vor dem Hintergrund der dargestellten eingeschränkten Aussagekraft der statistischen Angaben vorgenommene Auswertung macht die praktische Relevanz96 der (zur Anzeige gebrachten) Verstöße gegen§ 183 Abs. 1 StGB deutlich. Aus den Polizeilichen Kriminalstatistiken läßt sich ablesen, daß im Zeitraum von 1984 bis 1992 die Delikte gemäß den§§ 183 Abs. 1, 183 a StGB bundesweit mehr als ein Viertel der registrierten Taten gegen die sexuelle Selbstbestimmung ausmachten. Der entsprechende Wert für Berlin belief sich auf 16,93 %. Von den für die genannten Jahre wegen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung erfaßten 172.015 Tatverdächtigen (in Berlin: 7.944) wurden insgesamt 27.836 gemäß den §§ 183 Abs. 1, 183 a StGB registriert (in Berlin: 792; vgl. zu den Daten im einzelnen die Tabellen 1 und 2). Zu beachten ist bei der Interpretation der Zahlen, daß die statistische Einbeziehung des Beitrittsgebiets nicht bereits ab 3. Oktober 1990, sondern erst ab 1. Januar 1991 erfolgt ist. Auch danach dürfte wegen organisatorischer und programmtechnischer Probleme noch von nicht unerheblichen Mindererfassungen ausgegangen werden können97 . PolSt 1992, S. ll f.; PolSt Bin 1992, S. 10. Göppinger, S. 634, nimmt im Hinblick auf das Zahlenverhältnis bei den Verurteilungen an, daß die Verstöße gegen§ 183 a StGB kaum ein Zehntel der gesamten Deliktsgruppe ausmachen. 94 StrafSt 1991, S. 7; StrafSt Bin 1991 , S. 4. 95 S. dazu Eisenberg 1995, § 17 Rnr. 40. 96 Strewe, S. 35, berichtet von l.l56 im Jahr 1929 in Berlin angezeigten exhibitionistischen Handlungen; s. fernerfür das Jahr 1938 v. Weber, S. 273. 97 Vgl. PolSt 1992, S. 14; PolSt Bin 1992, S. 4. 92
93
I. Statistisches Material
29
Tabelle I Wegen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung(§§ 174- 184 a StGB) in den Jahren 1984 bis 1992 in der Bundesrepublik Deutschland registrierte Fälle und Tatverdächtige98 Fälle gemäß Jahr
Tatverdächtige gemäß
Anteil Anteil §§ 174-184 a §§ 183, 183 a Sp. 2 an Sp. I §§ 174-184a §§ 183, 183 a Sp. 2 an Sp. I in% in%
1984
39.919
10.217
25,59
19.889
3.104
1985
38.506
10.098
26,22
19.305
3.077
15,94
1986
38.713
10.585
27,34
19.451
3.156
16,23
1987
34.200
9.233
27,00
17.287
2.909
16,83
1988
36.768
10.185
27,70
17.632
3.215
18,23
1989
36.327
9.916
27,30
17.675
3.107
17,58
1990
37.592
9.793
26,05
18.!19
2.994
16,52
1991
41.931
9.926
23,67
20.339
3.060
15,04
1992
44.326
10.315
23,27
22.318
3.214
14,40
Insg.
348.282
90.268
25,92
27.836
16,18
172.015
15,61
Quelle: PolSt 1984-1992, Tabellenanhang,jeweils Tabelle 01.
Bezogen auf die rechtskräftig Verurteilten ist die Bedeutung des § 183 Abs. I StGB vergleichsweise geringer99 . Insoweit kann vermutet werden, daß eine größere Anzahl der Verfahren nach den§§ 153 ff. StPO beendet wird 100. Trotzdem belief sich der Anteil der in den Jahren 1981 bis 1991 wegen exhibitionistischer Handlungen rechtskräftig Verurteilten an den im seihen Zeitraum wegen Delikten gegen die sexuelle Selbstbestimmung insgesamt Verurteilten in Berlin auf noch immer 6,91 %, im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland von 1982 bis 1991 sogar auf 15,30 % (vgl. dazu die Tabellen 3 und 4). Dabei gilt hier wie im folgenden, daß für die fünf neuen Bundesländer in den Berichtsjahren 1990 und 1991 noch keine Daten ermittelt werden konnten 101 . Auch für Berlin beziehen sich die Ergebnisse - wie bisher - nur auf Berlin-West. Die im vierten Quartal 1990 für Berlin-Ost an98 Durch die RiPolSt in der Fassung vom 1. 1. 1983 wurde die statistische Erfassung vorn System der Mehrfachzählung auf eine bereinigte Tatverdächtigenzählung umgestellt, vgl. PolSt 1992, S. 8; da deshalb ab 1984 ein Vergleich mit früheren Jahren nur noch eingeschränkt möglich ist, wurde auf die Angabe der Daten für 1983 und die Zeit davor verzichtet. 99 Vgl. Eisenberg 1995, § 45 Rnr. 71 ; s. auch Kaiser 1993, S. 458, der von einem unterdurchschnittlichen Verurteilungsrisiko spricht. wo S. dazu Benz, S. 84; ähnlich Kaiser 1993, S. 458. 101 StrafSt 1990 und 199J,jeweils S. 4.
2. Teil: Kriminologischer Kenntnisstand
30
gefallenen insgesamt 50 Gerichtsentscheidungen werden in den Strafverfolgungsstatistiken erst im Berichtsjahr 1991 aufbereitet 102• Tabelle 2
Wegen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung(§§ 174-184 a StGB) in den Jahren 1984 bis 1992 in Berlin registrierte Fälle und Tatverdächtige Fälle gemäß Jahr
Tatverdächtige gemäß
Anteil Anteil §§ 174-184 a §§ 183, 183 a Sp. 2 an Sp. I §§ 174-184 a §§ 183, 183 a Sp. 2 an Sp. I in% in %
1984
1.538
285
18,53
798
67
8,40
1985
1.578
272
17,24
776
81
10,44
1986
1.618
281
17,37
753
82
10,89
1987
1.443
279
19,33
678
82
12,09
1988
1.651
343
20,78
847
91
10,74
1989
1.663
267
16,06
812
85
10,47
1990
1.607
236
14,69
850
78
9,18
1991
2.540
407
16,02
1.167
112
9,60
1992
2.640
386
14,62
1.263
114
9,03
Insg.
16.278
2.756
16,93
7.944
792
9,97
Quelle: PolSt Bin 1984 und 1985, jeweils Tabelle 22, sowie ab 1986 jeweils Teil II - Deliktsspezifischer Tabellenteil - zu den Deliktsschlüsselzahlen 1.000 und 1.320.
2. Erkenntnisse aus Kriminologie und angrenzenden Wissenschaften a) Erkenntnisse über den Eintritt eines Schadens
Ganz überwiegend wird angenommen, daß es durch das Erleben einer exhibitionistischen Handlung regelmäßig zu keinen nachhaltigen Schäden bei den Tatzeugen kommt 103 . Nur vereinzelt wird über spürbare Auswirkungen berichtet 104. Insoweit sollte die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, daß es sich dabei um besonders schwerwiegende Fälle handelt, die sich aufgrund mehrfacher Selektion von der übrigen Fallgesamtheit negativ abheben 105 . StrafStBin 1991,S.10. Dies war auch die in der Begründung des Entwurfs eines 4. StrRG geäußerte Meinung der Bundesregierung, vgl. BT-Drucks. Vl/1552, S. 31; s. im übrigen Eisenberg 1995, § 45 Rnr. 71 und§ 53 Rnr. 15; Leferenz, S. 397; Steinhilper, S. 155; Plaut, S. 36. 104 Z.B. von Grassberger; S. 557. 105 Lautmann, S. 46. 102
103
2. Erkenntnisse aus Kriminologie und angrenzenden Wissenschaften
31
Tabelle 3 Wegen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung(§§ 174-184 a StGB) in den Jahren 1982 bis 1991 in der Bundesre&ublik Deutschland rechtskräftig Verurteilte 1 Verurteilte Jahr
gemäß §§174-184a
1982
5.622
852
15,15
1983
5.859
904
15,43
1984
5.794
868
14,98
1985
5.290
814
15,39
davon gemäß § 183 Abs. I
Anteil Spalte 2 an Spalte I in%
1986
5.092
746
14,65
1987
4.858
732
15,07
1988
4.942
812
16,43
1989
4.843
783
16,17
1990
4.779
730
15,28
1991
4.643
672
14,47
Insg.
51.722
7.913
15,30
Quelle: StrafSt 1982-1987, jeweils Tabelle 1, sowie ab 1988 jeweils Tabelle 2.1 .
Insbesondere die vorliegenden empirischen Arbeiten beschäftigen sich nur ausgesprochen selten mit der Frage, ob exhibitionistische Handlungen bei Heranwachsenden und Erwachsenen (physische oder psychische) Schädigungen hervorrufen (s. unten bb)). Dagegen haben etliche Beiträge die entsprechende Problematik im Hinblick auf Kinder und- in geringerem Maße- auf Jugendliche zum Gegenstand, so daß deren Erkenntnisse ungeachtet der thematischen Beschränkung auf§ 183 Abs. 1 StGB zunächst dargestellt werden sollen. Denn sollten danach bei der genannten Gruppe regelmäßig keine Schäden bzw. Beeinträchtigungen eintreten, könnte vermutet werden, daß dies bei älteren Tatzeugen erst recht nicht der Fall ist. aa) Danach soll es bei einem Teil der betroffenen Kinder als Folgen der Tat nur kurzfristig zu "seelischen Irritationen" wie z. B. gestörtem Benehmen, ängstlichen Blicken oder Pavor noctumus kommen. Eine Gefährdung der psychosexuellen Gesundheit oder ein seelischer Dauerschaden sei dagegen nicht nachweisbar 107 . Langanhaltende Beeinträchtigungen durch das Tatgeschehen könnten nahezu voll106 Entsprechende Angaben macht für die Jahre 1882 bis 1979 Benz, S. 211 ff.; s. auch Mezger; S. 63 f. 107 Wille 1986, S. 552; ebenso der Sachverständige Schorsch im Rahmen der öffentlichen Anhörung am 24. November 1970, vgl. Protokolle des Sonderausschusses des Deutschen Bundestages für die Strafrechtsreform, S. 986.
32
2. Teil: Kriminologischer Kenntnisstand Tabelle 4 Wegen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung(§§ 174-184 a StGB) in den Jahren 1981 bis 1991 in Berlin rechtskräftig Verurteilte Verurteilte
Jahr
gemäß §§174-184a
davongemäß § 183 Abs. I
Anteil Spalte 2 an Spalte I in%
1981
188
6
3,19
1982
200
10
5,00
1983
190
7
3,68
1984
186
11
5,91
1985
202
19
9,41
1986
168
16
9,52 7,92
1987
202
16
1988
169
16
9,47
1989
171
13
7,60
1990
164
11
6,71
1991
158
13108
Insg.
1.998
138
8,23 6,91
Quelle: StrafSt Bin 1981- 199I,jeweils Tabelle I. I.
kommen ausgeschlossen werden 109 . Einschränkend wird in einigen Arbeiten betont, dies gelte zumindest für normal entwickelte und nicht bereits vorgeschädigte Kinder, da diese eine große Fähigkeit zur Erlebnisverarbeitung hätten 110• Dies wirft jedoch, sofern dem Erleben einer exhibitionistischen Handlung ein psychischer Defekt zeitlich nachfolgt, die methodisch kaum lösbare Frage auf, ob dieser zum Tatzeitpunkt bereits im Ansatz vorhanden war bzw. wie die Entwicklung des Kindes ohne das Taterleben verlaufen wäre 111 • In diesem Zusammenhang wird des öfteren die Ansicht vertreten, Defekte hätten ihre Ursache meist nicht in dem Beobachten einer exhibitionistischen Handlung, sondern seien durch eine unangemessene Reaktion der Umwelt, insbesondere durch die Eindrücke im Rahmen des 108 Dazu kommen fünf Verurteilte wegen in Berlin-Ost begangener exhibitionistischer Handlungen, die in der Tabelle 4 nicht berücksichtigt sind, um die Vergleichbarkeit mit den Vorjahren zu gewährleisten; die regionale Differenzierung wurde nach dem Tatortprinzip vorgenommen, vgl. StrafSt Bin 1991, S. 4. 109 V. Hören, S. 20. llO S. dazu Nau, S. 173; ferner die Äußerungen der Sachverständigen Schönfelder und Hallennann im Rahmen der öffentlichen Anhörung am 23. bzw. 24. November 1970, vgl. Protokolle des Sonderausschusses des Deutschen Bundestages für die Strafrechtsreforrn, S. 915 f., 921,997. 111 Groffmann, S. 152 ff.
2. Erkenntnisse aus Kriminologie und angrenzenden Wissenschaften
33
Strafverfahrens gegen den Tater begründet; dadurch werde die Bedeutung des Verhaltens des Taters überdimensioniert 112• Nach anderer Ansicht soll es bei kindlichen Tatzeugen exhibitionistischer Handlungen zu schweren Traumata 113 und (zumindest ausnahmsweise) zu Prägungen bezüglich des eigenen späteren Sexualverhaltens 114 kommen. Zweifel an der Regelmäßigkeit des Eintritts derartiger Defekte ergeben sich jedoch aus der großen Zahl bekanntgewordener Fälle und aus dem als erheblich vermuteten Dunkelfeld, da Schäden der beschriebenen Art dann wesentlich häufiger auftreten bzw. festgestellt werden müßten115 . Zudem mag es Fälle geben, in denen Kindem - vor allem von den Beteiligten eines Strafverfahrens - psychische Schäden unabhängig von deren tatsächlichem Bestehen gewissermaßen zugeschrieben oder in denen seit längerem vorhandene Defekte erst nach der Tat entdeckt und als auf dieser beruhend definiert werden 116 • bb) Während danach Schädigungen kindlicher Tatzeugen zwar als nicht wahrscheinlich, aber im Einzelfall als nicht völlig ausgeschlossen erscheinen, kommen die wenigen empirischen Arbeiten bezüglich exhibitionistischer Handlungen gegenüber Jugendlichen, Heranwachsenden und Erwachsenen zu eindeutigeren Ergebnissen. Eine den Zeitraum vom 1. Januar 1972 bis 31. Dezember 1975 betreffende Auswertung einschlägiger Akten der Strafverfolgungsbehörden in Kaiserslautem führte zu dem Ergebnis, daß 91 der festgestellten 140 Opfer117 während des Strafverfahrens weder von einem Schaden noch von irgendeiner Auswirkung der Tat auf sie gesprochen hatten. 26 Personen fühlten sich belästigt, gestört, beleidigt oder angeekelt, während 23 angaben, sie hätten Angst gehabt oder einen "Schock" bekommen. In keinem Fall ließ sich dem Material entnehmen, daß eine Opferperson einen Arzt aufgesucht hatte oder daß irgendwelche Dauerfolgen eingetreten waren118. Auchaufgrund einer im Jahre 1970 in Berlin-Ost durchgeführten Befragung von 387 14- bis 21jährigen Mädchen bzw. Frauen, die jeweils eine exhibitionistische Handlung erlebt hatten, ließen sich keine Reaktionen feststellen, die den Schluß auf psychische oder psychophysische Störungen zugelassen hätten 119 • Eine weitere Arbeit, die über einen Zeitraum von 80 Jahren insgesamt 133 exemplari112 Lempp, S. 2267f.; Steinhilper, S. 112ff.; nach Diesing, S. 127ff., spielt dabei die Hauptverhandlung eine besondere Rolle; s. in diesem Zusammenhang auch Störzer, S. 101 ff. 113 Vgl. Schmaltz, S. 713; Friedemann, S. 298, 300. 114 Diese Auffassung vertraten die Sachverständigen Affemann und Wille im Rahmen der öffentlichen Anhörung am 24. November 1970, vgl. Protokolle des Sonderausschusses des Deutschen Bundestages für die Strafrechtsreforrn, S. 947,991. 115 Eisenberg 1995, §53 Rnr. 15; Wille 1986, S. 552. 116 Eindrucksvoll dazu Körner, S. 140 ff. 117 Darunter auch 26,4 % Kinder. 118 Weihrauch, S. 89f. 119 Scharfenberg I Schirmer, S. 97 ff.
3 Sander
34
2. Teil: Krin:ünologischer Kenntnisstand
sehe Fälle aus Fachzeitschriften und -Veröffentlichungen, Gerichtsentscheidungen und Tageszeitungen ausgewählt und untersucht hatte, gelangte ebenfalls nicht zu einem Nachweis nachhaltiger psychischer Schäden 120. Unabhängig davon, daß das Erleben einer exhibitionistischen Handlung von den Tatzeugen gelegentlich sogar als positiv empfunden werden soll 121 , lassen sich die vorliegenden Untersuchungen wohl dahingehend zusammenfassen, daß durch die Tat regelmäßig jedenfalls keine negativen psychischen oder physischen Folgen dauerhaft herbeigeführt werden.
b) Erkenntnisse überdie Eskalation der Tatsituation
Jedoch könnte es sein, daß in einer nicht ganz geringen Anzahl der Fälle die konkrete Tatsituation exhibitionistischer Handlungen zu eskalieren droht und diese dann nur den Beginn für schwerere Sexual- oder (sonstige) Gewaltdelikte darstellt. aa) Insofern kommt zunächst der Frage nach der Persönlichkeitsstruktur von Tatern exhibitionistischer Handlungen und deren Tatmotivation Bedeutung zu. Allgemein wird die Auffassung vertreten, die in Rede stehende Tatergruppe setze sich ganz überwiegend aus schüchternen, passiven, unsicheren und zurückhaltenden Männern zusammen 122• Es handele sich um z. T. stark gehemmte, selbstunsicher-sensitive und angstbesetzte Persönlichkeiten 123 . Etwa die Hälfte der Exhibitionisten sei gleichwohl verheiratet; dieser Wert unterscheide sich kaum von dem der männlichen Gesamtbevölkerung insgesamt 124 . Die ehelichen Beziehungen werden jedoch des öfteren als von der Ehefrau dominiert und eher unerotisch beschrieben; den Tatern exhibitionistischer Handlungen fehle dagegen weitgehend die sexuelle Durchsetzungsfähigkeit 125, so daß sie Insuffizienzgefühle bezüglich der eigenen Männlichkeit und Potenz hätten 126 • Dementsprechend könnte das exhibitionistische Verhalten als psychischer Abwehrmechanismus definiert werden, der die Bewältigung innerpsychischer Ängste und Konflikte zum Ziel hat. Der Tater habe dabei die Phantasie, der Tatzeuge - regelmäßig eine Frau - werde durch den Benz, S. 75 (Fußn. 4), 104, 186. Nach Benz, S. 106, soll es in 6,2 % seiner Fälle als Realction zu Heiterkeit oder Spott gekommen sein; Wille 1972, S. 221 , und 1986, S. 551, berichtet von (seltenen) Fällen, in denen jüngere Mädchenaufgrund der Exhibition die Initiative übernahmen, so daß sich unmittelbar an die Tat ein Geschlechtsverkehr mit dem Tater anschloß; s. auch Lempp, S. 2265 f. 122 S. nur Sulimma 1958, S. 231; eine eindrucksvolle Fallbeschreibung gibt Löwnau, s. 168 ff. 123 Wille 1972, S. 220f., und 1986, S. 550f. 120 121
124 Vgl. die instruktive Übersicht über die entsprechenden Daten von 15 Erhebungen bei Pietzcker, S. 58 ff. 125 Wille, a. a. 0. 126 Kentler I Schorsch, S. 110.
2. Erkenntnisse aus Kriminologie und angrenzenden Wissenschaften
35
Anblick seines Geschlechtsteils erschreckt oder beeindruckt und fasziniert, und erlebe infolgedessen intensiv seine Potenz und Mächtigkeit 127 • Die neurotischen Ängste, schwach und unmännlich zu sein, würden dadurch für eine gewisse Zeit überwunden. Auf einer zweiten Ebene seien aggressive Gefühle Antrieb zur Begehung exhibitionistischer Handlungen. Diesen werde durch das genitale Präsentieren als einer im Ansatz steckengebliebenen Attacke entsprochen. Insoweit werden im Sinne der Ethologie Parallelen gezogen zur weit verbreiteten Demonstration des erigierten Genitals bei Primaten, die als Symbol der Fruchtbarkeit, aber auch als Imponierverhalten gedeutet wird 128 . Die bestehende Aggressivität sei ebenso - entsprechend der exhibitionistischen Symptombildung - in das Entblößungsritual eingebunden und dadurch entschärft. Den Tätern genüge es, den Tatzeugen mit dem "mächtigen Phallus" symbolisch zu bedrohen und auf diese Weise "in die Flucht zu schlagen". In diesem Zusammenhang sei die charakteristische Distanz bedeutsam, die Exhibitionisten regelmäßig zum Gegenüber wahrten und die ihre starke Aggressionsangst und-hemmungzum Ausdruck bringe 129• Schließlich wird argumentiert, Täter exhibitionistischer Handlungen litten an aus der Angst vor Frauen resultierenden Beziehungsstörungen. Diesen würden sie durch die Tatbegehung zu begegnen versuchen. Dabei handele es sich aber nicht um ein tatsächliches, sondern nur um ein ritualisiertes Kontaktangebot, das erfahrungsgemäß die Distanz zum Tatzeugen gerade nicht zu überwinden vermöge 130 . Anderenfalls würde der gehemmte Mann das exhibitionistische Verhalten im Hinblick auf seine Ängste vor einer körperlichen Begegnung unterlassen 131 . Letztlich erreicht damit der Geschlechtsakt in einer an sich vorbereitenden Handlung schon sein Ziel 132 . Neben diesen beschriebenen Ängsten bzw. statt dieser machen Vertreter eines psychoanalytisch geprägten Ansatzes für die Genese des Exhibitionismus eine Fixierung in der phallischen Phase der Libidoentwicklung verantwortlich 133, d. h. ein Gebundensein an ein frühes Entwicklungsstadium. Der Exhibitionist müsse sich daher immer wieder der Integrität des eigenen Genitals vergewissem 134 . Kentler I Schorsch, a. a. 0.; Schorsch 1993, S. 472; Schneider 1987, S. 247 f. Eibl-Eibesfeldt 1987, S. 724ff., der auch auf den Gebrauch von phallischen Schutzamuletten und Phallokrypten bei menschlichen Völkern hinweist; Eibl-Eibesfeldt 1986, S. 330; Glatze/, S. 168 f. ; Pietzcker; S. 106f.; zum Phalluskult Schorsch 1971, S. 101 f. 129 Kentler I Sc harsch, S. 110; SchorschI Galedary, S. SOff. 130 Schorsch 1993, S. 472; ähnlich Plaut, S. 5, der von einer perversen Liebeserklärung in der Form eines symbolischen Aktes spricht. 131 Kentler I Schorsch, a. a. 0.; ähnlich Müller; B., S. 43, und Staehelin, S. 477, 483. 132 So Götz, S. 164. 133 Vgl. Amold I Eysenck I Meili, S. 534; s. auch Sulimma 1958, S. 232. 134 Schorsch 1971, S. 102; eine in diese Richtung deutende Fallbeschreibung gibt Hagspihl, S. 41 ; ferner Schneider 1987, S. 248. 127 128
3*
2. Teil: Kriminologischer Kenntnisstand
36
Läßt man diese Erklärungsansätze Revue passieren, so erwächst daraus - ihre Richtigkeit unterstellt- die Erwartung, daß der gehemmte Täter einer exhibitionistischen Handlung seine grundsätzliche Zurückhaltung auch während der Tatbegehung nicht aufgeben und die Distanz zum Tatzeugen aufrechterhalten wird. Danach wäre eine Eskalation im Sinne eines (weitergehenden) sexuellen oder sonstigen Angriffs auf die Zeugenperson erwartungswidrig. Eine Einschränkung könnte sich aber eventuell im Hinblick auf die als bestehend angenommenen aggressiven Gefühle der Exhibitionisten ergeben. Insoweit erscheint es nicht ausgeschlossen, daß der Täter im Einzelfall, z. B. aufgrund einer besonderen Tatsituation, seine Aggressionshemmung überwindet und zu einem offensiven Verhalten übergeht, die Ritualisierung der Aggression also mißlingt. bb) In der (vor allem kriminologischen und medizinischen) Literatur wird die Frage, ob ein exhibitionistisches Verhalten zum Nachteil der Zeugenperson eskalieren könne, in den meisten Beiträgen unter Hinweis auf die beschriebene Persönlichkeitsstruktur der in Rede stehenden Tätergruppe verneint. Eine Ausweitung ihrer Handlungsweise sei nicht zu befürchten. Überwiegend wird vermutet, ein Exhibitionist befinde sich im Grunde in einer mehr anreizenden weiblichen Rolle und warte infolgedessen passiv auf eventuelle Reaktionen des jeweiligen Situationspartners 135 . Dementsprechend fehle über das bloße Präsentieren des Geschlechtsteils hinaus jede männlich-sexuelle Aktivität völlig; direkte Annäherungsversuche im Sinne eines "sexuellen Überfalls" seien ausgeschlossen 136• An anderer Stelle werden Übergänge von Exhibitionismus in manifeste Aggressionen zwar auch als atypisch und sehr selten, damit aber zugleich als ausnahmsweise möglich eingestuft 137 . Diese Einschätzung kann sich auf eine Reihe empirischer Arbeiten stützen. So wurde z. B. berichtet, daß es bei 15 von 763 in den Jahren 1956 bis 1965 im Landgerichtsbezirk Duisburg begangenen exhibitionistischen Handlungen zu einer aggressiven Haltung des jeweiligen Täters gekommen sei (knapp 2 % ). Diese habe sich vorwiegend durch körperliche Berührungen (Fassen an die Brüste oder unter den Rock, Festhalten am Mantelkragen) und Drohungen geäußert 138 • Im Rahmen der bereits erwähnten Erhebung für die Stadt Kaiserslautem wurde in drei von 91 Fällen ein körperlicher Kontakt des Täters zu dem Opfer (Anfassenlassen des eigenen Geschlechtsteils, Anfassen des Geschlechtsteils der Tatzeugin, Anrempeln) festgestellt; bei sechs Taten folgte der Täter dem Opfer über eine gewisse Strecke 139. Wille 1966, S. llO; Schorsch 1971, S. 77. Benz, S. 97; Plaut, S. 20; Kentler I Schorsch, S. 109. 137 Schorsch 1993, S. 471, gibt an, ein Übergehen in ein aggressives Verhalten ereigne sich in 3 bis 5 %der Fälle; ähnlich die Sachverständige Matthes im Rahmen der öffentlichen Anhörung am 24. November 1970, vgl. Protokolle des Sonderausschusses des Deutschen Bundestages für die Strafrechtsreform, S. 1016; s. ferner die Fallbeschreibung bei Gersan I Heigl, S. 254, sowie die Angaben bei Dost, S. 298. 138 Müller; H.J. , S. 81 f. 139 Weihrauch, S. 87. 135 136
3. Zusammenfassung
37
Eine psychiatrische, hochselektive Untersuchung von 38 Exhibitionisten durch die Universitätsnervenklinik Tübingen ergab zwar, daß keiner dieser Männer bei der Tatbegehung Gewalt angewandt hatte; elf Täter hatten ihre Opfer jedoch einige Male am Arm oder an der Brust berührt 140. Während sich schließlich unter 83 untersuchten Exhibitionisten fünf massiv aggressive Personen befunden haben sollen (6 %) 141 , gelangte eine ca. 350 exhibitionistische Verhaltensweisen betreffende Auswertung zu dem Ergebnis, daß es in keinem Fall zu weiteren sexuellen Annäherungsversuchen oder gar manifesten sexuellen Aggressionen kam 142.
3. Zusammenfassung Das zur Verfügung stehende statistische Material zeigt auch unter Berücksichtigung seiner eingeschränkten Aussagekraft, daß es sich bei der Begehung exhibitionistischer Handlungen - insbesondere in Relation zu den sonstigen registrierten Sexualstraftaten - um ein recht häufiges Phänomen handelt. Die Täter exhibitionistischer Handlungen werden allgemein als unsichere, schüchterne, gehemmte und angstbesetzte Männer beschrieben. Ihr Verhalten soll dementsprechend nach ganz überwiegender Auffassung insgesamt von Passivität und Zurückhaltung geprägt sein. Daraus folgt - unabhängig von der jeweiligen Überzeugungskraft der angebotenen Erklärungsansätze bezüglich exhibitionistischen Verhaltens im einzelnen - die Erwartung, daß Exhibitionisten diese grundsätzliche Zurückhaltung auch während der Tatbegehung nicht aufgeben und die Distanz zum Tatzeugen aufrechterhalten werden. Trotzdem gelangen die meisten empirischen Arbeiten zu dem Ergebnis, daß es in einer insgesamt geringen Anzahl von Fällen zu körperlichen Kontakten zwischen Täter und Zeugenperson kommt. Allerdings handelt es sich dabei fast nie um echte aggressive Akte im engeren Sinn, sondern um Berührungen leichterer Art. Während (psychische und physische) Schädigungen kindlicher Tatzeugen durch das Erleben exhibitionistischer Handlungen zwar als nicht wahrscheinlich, aber im Einzelfall als nicht völlig ausgeschlossen erscheinen, sind entsprechende Beeinträchtigungen längerer Dauer bei Jugendlichen, Heranwachsenden und Erwachsenen bisher nicht bekannt geworden. Jedoch liegen diesbezüglich bis zum jetzigen Zeitpunkt nur wenige empirische Arbeiten vor.
Pietzcker, S. 26. Schorsch 1971, S. 80, 112. 142 Körner, S. 20, 25 ff.; jedoch dürften gegen das methodische Vorgehen Bedenken bestehen. 140 141
Dritter Teil
Untersuchung der Tatsituation exhibitionistischer Handlungen und deren Auswirkungen auf die Tatzeugen
I. Methodisches Vorgehen 1. Auswahl der Erhebungsmethode
Von den im wesentlichen zur Verfügung stehenden Erhebungsmethoden 143 kamen im Hinblick auf das beschriebene Erkenntnisinteresse zur Überprüfung der Arbeitshypothese nur die Befragung und die Dokumentenanalyse (in der Form der Aktenauswertung) in Betracht.
a) Befragung als Erhebungsmethode
Da für die Frage einer Schädigung der Tatzeugen deren subjektives Empfinden, insbesondere deren Erleben des Grades der Gefährlichkeit der konkreten Tatsituation von Bedeutung sein dürfte, wurde eine Befragung der Tatzeugen in Erwägung gezogen. Denn diese Methode eignet sich vor allem zur Ermittlung von Meinungen, Einstellungen und Einschätzungen. Jedoch bestanden insoweit bereits allgemeine methodische Einwände 144 und datenschutzrechtliche Bedenken. Ausschlaggebend für die Entscheidung, vom Einsatz dieser Methode abzusehen, war aber die Sorge, es könnte ohne psychologische (oder psychiatrische) Fachausbildung keine hinreichende Verläßlichkeit erreicht werden. Zudem gab es Bedenken, es könnten durch das Taterlebnis im Einzelfall etwa tatsächlich geschädigte Personen infolge der Befragung erneut Beeinträchtigungen erleiden; dieses Risiko einzugehen, erschien nicht angemessen 145 •
143 144
145
Vgl. Eisenberg 1995, § 13 Rnr. 25. S. dazu Eisenberg 1995, § 13 Rnrn. 32-39. Zu diesem Gesichtspunkts. Eisenberg 1995, § 13 Rnr. 18.
I. I. Auswahl der Erhebungsmethode
39
b) Aktenanalyse als Erhebungsmethode
aa) Diese Gefahr besteht bei der Methode der Aktenanalyse nicht. Zudem hat eine Aktenanalyse im Vergleich zur Befragung den (damit im Zusammenhang stehenden) Vorteil, daß zwischen Forschungssubjekt und Forschungsobjekt keine kommunikative oder interaktive Beziehung erforderlich ist, aufgrund derer es in nicht abschätzbarer Weise zu Verzerrungen der Ergebnisse kommen kann 146. Schließlich sind Akten als Quellen über relativ lange Zeiträume unverändert verfügbar. bb) Allerdings sind auch Akten als Datenquelle aus verschiedenen Gründen nur begrenzt geeignet. Es bedarf deshalb regelmäßig der Beachtung diverser Vorgaben bzw. Umstände, um einerseits die interessierenden Daten sinnvoll erheben und andererseits die gewonnenen Informationen hinsichtlich ihres tatsächlichen Aussagegehalts richtig gewichten zu können. Zur Gewährleistung einer quellenkritischen Auswertung der zu untersuchenden Akten sind zunächst ihre Entstehungs- und Verwendungszusammenhänge zu berücksichtigen 147 . Es ist zu bedenken, daß sich der Akteninhalt nach den Aufgaben und Interessen der aktenführenden Behörde und nicht nach einem bei Anlegung der Aktendokumente in der Regel noch unbekannten Forschungsinteresse richtet148. Bei vorliegend in Betracht kommenden Akten über strafrechtliche Erkenntnisverfahren dürfte demnach davon ausgegangen werden können, daß diese zunächst das Ziel verfolgen, Entstehung und Ablauf des Verfahrens zu erfassen und zu dokumentieren. Ein weiteres Ziel der aktenführenden Stellen dürfte darin bestehen, die das Verfahren abschließende Entscheidung vorzubereiten und diese als legitimiert erscheinen zu lassen 149 . Im Hinblick auf den bezeichneten Legitimationszweck kann erwartet werden, daß zumindest unbewußt eine Selektion der an sich zur Verarbeitung zur Verfügung stehenden Informationen durch die die Akte bearbeitenden Personen erfolgt und demzufolge der Verfahrensgang, aber auch die Realität des dem Erkenntnisverfahren zugrundeliegenden Geschehens nur teilweise dokumentiert werden 150. Neben dieser Tendenz zur entscheidungserheblichen Reduktion ist die Möglichkeit nicht auszuschließen, daß auch durch die hohe Arbeitsbelastung 151 und ggf. bestehende Routinen der alltäglichen Bearbeitung von Verfahren eventuelle individuelle Besonderheiten eines Falls vernachlässigt und auf diese Weise in den Akten nicht erlaßt werden 152. 146
Steffen, S. 105 Anm. 3.
147 Müller, S., S. 19. 148 Gessner u.a., S. 194. 149 Vgl. dazu Blankenburg, S. 195; Gessner u.a., S. 180; Müller, S., S. 28; Steffen, S. 90. In diesem Sinn Blankenburg, a. a. 0.; Müller, S., S. 39; Eisenberg 1995, § 13 Rnr. 28. S. zum "Erledigungsdruck" bei der Staatsanwaltschaft Eisenberg 1993, Rnr. 240. 152 Müller, S., S. 42. 150 151
40
3. Teil: Tatsituation und Auswirkungen auf die Tatzeugen
Dementsprechend dürfte es regelmäßig zu erwarten sein, daß ein Gericht - unabhängig von der durch § 267 Abs. 1 StPO auferlegten Verpflichtung - im Fall einer Verurteilung des Angeklagten primär darauf bedacht sein wird, in den Urteilsgründen die den angenommenen gesetzlichen Tatbestand bildenden Merkmale durch die Darstellung des festgestellten Geschehens abzudecken, und nicht das Ziel verfolgt, eine alle Umstände der Tat erfassende Schilderung zu geben. Dies gilt im Hinblick auf die Überprüfung der Entscheidung durch die nächsthöhere Instanz besonders dann, wenn das Urteil bei Abfassung der schriftlichen Gründe bereits angefochten oder jedenfalls die Einlegung eines Rechtsmittels noch zulässig ist. Bezüglich § 183 Abs. 1 StGB ist deshalb zu vermuten, daß die Urteilsfeststellungen im wesentlichen den Versuch darstellen, die tatbestandlieh erforderliche Belästigung darzutun. Für dieses Merkmal wird es regelmäßig der Darstellung etwaiger physischer oder psychischer Tatfolgen nicht bedürfen, solange nicht darüber hinaus körperliche Beeinträchtigungen i. S. d. § 223 StGB in Betracht kommen. Dies gilt umso mehr, als davon ausgegangen werden kann, daß eine Akte grundsätzlich umso weniger Angaben zu den Tatumständen enthält, je leichter der erhobene Vorwurf wiegt 153 • Damit ist jedoch bislang nur die Ebene der Legitimierung des Schuldspruchs, nicht aber das Erfordernis der Begründung der Schuldangemessenheit der verhängten Strafe berücksichtigt. Insoweit unterliegt das Gericht gemäß § 46 Abs. 2 StGB namentlich der Verpflichtung, die durch die Tat hervorgerufenen Schäden bzw. für das Opfer negativen Folgen in die Bewertung miteinzubeziehen. Nicht zuletzt im Hinblick auf die gesetzliche Hervorhebung dürfte die Tendenz, dieses Kriterium tatsächlich heranzuziehen, relativ groß sein 154. Dabei könnte eine verstärkende Rolle spielen, daß die Verfahren wegen des in Rede stehenden Delikts ganz überwiegend von einem Tatzeugen initiiert sein dürften und dieser daher - zumindest grundsätzlich - die Möglichkeit hat, seine ggf. bestehende physische und psychische Betroffenheit in das Verfahren einzubringen. Allerdings könnte insofern zu besorgen sein, daß die Darstellung möglicherweise auch dazu dient, die erfolgte Anzeigeerstattung argumentativ plausibel zu machen sowie außerhalb des in Gang gesetzten Strafverfahrens liegende Interessen zu fördern 155 . Verschiedentlich wird vorgeschlagen, um einen Teil der dargelegten Aussagemängel auszugleichen, zusätzlich zur Auswertung der eigentlichen Prozeßakten auf die bei der Staatsanwaltschaft für jedes Verfahren geführten und nur für die behördeninterne Verwendung bestimmten Handakten zurückzugreifen. In diesen seien Informationen enthalten, die vertraulich bleiben oder nur bei Eintritt bestimmter Umstände bekanntgegeben werden sollen 156. Dies dürfte jedoch hinsichtlich des 153 154 155 156
S. dazu Steffen, a. a. 0. Steffen, S. 94; s. auch Blankenburg, S. 196. Vgl. dazu Eisenberg 1995, § 26 Rnm. 19f., 23. So Blankenburg, a. a. 0.
I. 2. Gewinnung des Aktenmaterials
41
konkreten Tatablaufs und seiner Folgen, um die es bei dieser Untersuchung geht, allenfalls bei Delikten aus dem Bereich schwerer Kriminalität der Fall sein, nicht aber beim Vergehen der exhibitionistischen Handlungen. Größere Bedeutung könnte Handakten aber dann zukommen, wenn das Forschungsinteresse auf wichtige Gesichtspunkte des Verlaufs eines Entscheidungsprozesses und dabei eventuell begangene Normverstöße gerichtet ist157 . Vorliegend wurde daher von einer Heranziehung der Handakten abgesehen. Die Bewertung der erhobenen Daten sollte schließlich in dem Bewußtsein des Vorhandenseins eines Dunkelfeldes erfolgen. Denn es ist denkbar, daß die den Strafverfolgungsbehörden bekanntgewordenen exhibitionistischen Handlungen sich von den im Dunkelfeld verbliebenen nicht unerheblich unterscheiden, so daß das zur Auswertung zur Verfügung stehende Fallmaterial die Deliktswirklichkeit nicht angemessen abbildet 158 . Da im Bereich der sogenannten allgemeinen Kriminalität - bei deliktsspezifischen Abweichungen - den Ermittlungsverfahren ganz überwiegend die Anzeige einer Privatperson zugrundeliegt 159, könnte ein erheblicher Unterscheidungsfaktor beispielsweise im objektiven Gewicht der Tat oder darin liegen, welche Bedeutung ein Tatzeuge dem Erlebnis einer exhibitionistischen Handlung beimißt Diese Frage istjedoch noch nicht himeichend geklärt 160.
2. Gewinnung des Aktenmaterials
Verfahren wegen Vergehen gemäߧ 183 Abs. 1 StGB werden von der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht und nicht von der dieser in Berlin nachgeordneten Amtsanwaltschaft bearbeitet 161 . Die Staatsanwaltschaft war im Untersuchungszeitraum für das gesamte Gebiet von Berlin (West) zuständig. Bei der Staatsanwaltschaft existiert das Datenverarbeitungssystem "ASTA". Dieses hat seit 1984 die sogenannte Zentralkartei abgelöst und aus dieser die Karten, bei denen die letzte Eintragung aus den Jahren 1981, 1982 oder 1983 stammte, übernommen. Insoweit dürfte allerdings die Vollständigkeit der Erfassung durch "ASTA" wohl nicht gewährleistet sein 162. Dagegen kann davon ausgegangen werVgl. dazu Müller, S., S. 36, 129 (Fußn. 14 a.E.). S. zur Problematik Steifen, S. 96; ferner Villinger, S. 266. 159 Vgl. Eisenberg 1995, § 26 Rnr. 19. 160 Berckhauer, S. 306. 161 Dies folgt aus den Nm. 2 Satz 1, 17 der bis 31. Dezember 1986 geltenden Anordnung des Senators für Justiz über Organisation und Dienstbetrieb der Staatsanwaltschaft vom 5. Juni 1975 (OrgStA; ABI. 1975, S. 1272 ff.) sowie der identischen Regelung der am 1. Januar 1987 in Kraft getretenen entsprechenden Anordnung des Senators für Justiz und Bundesangelegenheiten vom 30. September 1986 (OrgStA; ABI. 1986, S. 1738ff.). Soweit beide Anordnungen jeweils in Nr. 22 Abs. I bezüglich der Zuständigkeit der Amtsanwaltschaft eine Sonderregelung in Einzelfällen vorsehen, dürfte dies ohne praktische Bedeutung geblieben sein. 157
158
42
3. Teil: Tatsituation und Auswirkungen auf die Tatzeugen
den, daß alle seit l. Januar 1984 bei der Staatsanwaltschaft erstmalig eingegangenen Ermittlungsverfahren in das Datenverarbeitungssystem eingegeben wurden und folglich seit diesem Zeitpunkt auch alle wegen des Verdachts einer exhibitionistischen Handlung in Berlin geführten Verfahren in das System "ASTA" Aufnahme gefunden haben. Neben einer Vielzahl von Daten, z. B. betreffend den Beschuldigten, erlaßt "ASTA" mittels spezieller Kennziffern auch die nach Abschluß der Ermittlungen getroffene staatsanwaltschaftliehe Entscheidung 163 . Insoweit besteht die begründete Erwartung, daß bei entsprechender zielgerichteter Anfrage alle wegen des Verdachts einer exhibitionistischen Handlung geführten Verfahren abgerufen werden können, in denen Anklage erhoben bzw. ein Antrag auf Erlaß eines Strafbefehls gestellt wurde. Eine derartige Anfrage an das System "ASTA" wurde 1991 für die Jahre 1984 bis 1989 durchgeführt. Dabei wurde vermutet, daß es zur Erlangung einer aussagekräftigen Menge einschlägiger Fälle der Einbeziehung mehrerer Jahre bedurfte. Für die Auswahl des abgerufenen Zeitraums waren folgende Überlegungen ausschlaggebend: Eine Erstreckung der Untersuchung auf im Jahr 1983 oder davor eingegangene Verfahren hätte wegen der Gefahr der diesbezüglichen Unvollständigkeit des "ASTA" einen Zugriff auf die Zentralkartei erforderlich gemacht, der - von anderen Bedenken abgesehen - schon organisatorisch schwer umzusetzen gewesen wäre. Vor allem waren für den Beginn des Erfassungszeitraums die "Bestimmungen über die Aufbewahrungsfristen für das Schriftgut der ordentlichen Gerichtsbarkeit, der Staatsanwaltschaften und der Justizvollzugsbehörden" 164 zu beachten. Diese sahen für "Akten über Anklagen und über Strafbefehle" im Regelfall eine Aufbewahrungsfrist von zehn Jahren vor. Da die Frist gemäß Nr. 4 Abs. 1 des Abschnitts I der bezeichneten "Bestimmungen" mit dem auf das Jahr der Weglegung folgenden Jahr beginnt und als Jahr der Weglegung das Jahr gilt, in dem die letzte Verfügung zur Sache ergangen ist, hätte ein späterer Beginn die Gefahr einer unvollständigen Erlangung der in Betracht kommenden Akten bedeutend vergrößert. Weil andererseits der Untersuchung ausschließlich rechtskräftig abgeschlossene Strafverfahren zugrundegelegt werden sollten, verbot sich insbesondere unter Berücksichtigung der bei Ausschöpfung der zulässigen Rechtsmittel möglichen nicht unerheblichen Verfahrenslänge die Erfassung seit 1990 bei der Staatsanwaltschaft 162 Dies läßt sich dem Abschnitt (9) Nr. I und 3 der ASTA-Mitteilungen des Generalstaatsanwalts bei dem Landgericht - 1518 Sonderheft II - entnehmen. 163 Vgl. Anleitung für die Anwendung des ADV-Verfahrens ASTA bei den Strafverfolgungsbehörden des Landes Berlin - Schlüsselverzeichnis der Erledigungsarten - . 164 Durch Allgemeine Verfügung des Senators für Justiz vom 14. September 1972 (ABI. 1972, S. 1307 ff.) in Kraft gesetzte Aufbewahrungsbestimmungen in der durch Verwaltungsvorschriften des SenatorsfürJustiz vom 28. November 1983 (ABI. 1983, S. 1665ff.) geänderten Fassung.
I. 2. Gewinnung des Aktenmaterials
43
eingegangener Vorgänge 165 . Zudem war es durch die Öffnung der Berlin teilenden Mauer im November 1989 zu einer Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse gekommen, der am 3. Oktober 1990 eine Erstreckung der Zuständigkeit der Strafjustiz von Berlin (West) auf den Ostteil der Stadt folgte 166. Die Beschränkung auf rechtskräftige Verurteilungen gemäß § 183 Abs. 1 StGB erschien wegen des auf die Tat(situation) und daraus eventuell resultierende Auswirkungen, nicht aber auf den Verfahrensablauf gerichteten Erkenntnisinteresses angezeigt. Denn im Hinblick darauf sollte - soweit wie möglich - sichergestellt werden, daß reale Geschehensabläufe zum Gegenstand der Untersuchung gemacht wurden. Insoweit kann vermutet werden, daß die vom Gericht getroffenen Feststellungen der Lebenswirklichkeit am ehesten nahekommen. Diese Gewähr vermögen andere gerichtliche Entscheidungen dagegen nicht zu geben. Dies gilt insbesondere auch für Einstellungen gemäß §§ 153, 153 a StPO. Während es im Rahmen des § 153 StPO schon nicht einmal auf den Nachweis einer geringen Schuld ankommen soll, sondern nur auf die Schuld, die nach Verfahrenslage anzunehmen wäre 167, bedarf es bzgl. § 153 a StPO zwar zumindest eines hinreichenden Tatverdachts 168 . Dieser wird sich aber nicht selten (auch oder ausschließlich) auf das prozessuale Verhalten des Beschuldigten stützen; dies begegnet schon insofern Bedenken, als es nicht ausgeschlossen erscheint, daß der Beschuldigte etwa auch dann zur Kooperation i. S. d. § 153 a StPO bereit sein könnte, wenn er zwar unschuldig ist, aber annimmt, die Strafjustiz werde ihn als schuldig behandeln 169 . Allerdings könnte es durch die Beschränkung auf rechtskräftige Verurteilungen tendenziell zur Untersuchung eher schwererer Fälle exhibitionistischer Handlungen kommen 170. Bedenken hinsichtlich der Vollständigkeit der auf die durchgeführte Anfrage vom System "ASTA" erstellten Liste der in Rede stehenden Verfahren könnten sich - soweit ersichtlich - allenfalls daraus ergeben, daß der für die Aufnahme der einem Ermittlungsverfahren jeweils zugrundeliegenden Delikte in den "ASTA" vorgesehene Weg möglicherweise eine zutreffende oder abschließende Erfassung nicht garantiert. Die bei einer Abteilung der Staatsanwaltschaft erstmals eingehenden Ermittlungsverfahren werden der jeweiligen Abteilungsleiterin bzw. dem jeweiligen Abteilungsleiter vorgelegt. Diese(r) überprüft den erhobenen Tatvorwurf in strafrechtlicher Hinsicht und bezeichnet im Anschluß daran die in Betracht kommenden Delikte auf dem ersten Blatt der Akte. Da diese Auszeichnung die GrundÄhnlich Otto, S. 7. Gemäß Kapitel I Artikel I und Kapitel III Artikel 8 des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands - Einigungsvertrag - in Verbindung mit dessen Anlage I Kapitel III Sachgebiet A: Rechtspflege Abschnitt IV. 167 KK-Scfwreit, § 153 Rnr. 15; s. auch Kleinknecht I Meyer-Goßner; § 153 Rnr. 3. 168 KK-Schoreit, § 153 a Rnr. 11; Kleinknecht I Meyer-Goßner; § 153 a Rnr. 7. 169 Eisenberg 1995, § 27 Rnr. 72. 170 V gl. Janssen, S. 87 f. 165
166
44
3. Teil: Tatsituation und Auswirkungen auf die Tatzeugen
Iage bildet für die Ersterfassung der Delikte im System "ASTA" 171 , richtet sich die Abteilungsleiterin bzw. der Abteilungsleiter dabei nach einem Schlüsselverzeichnis der Delikte 172. Ob die rechtliche Überprüfung jedoch in jedem Einzelfall umfassend erfolgt, dürfte zweifelhaft sein. Vielmehr soll es nicht unüblich sein, sich bei der Auszeichnung durch die im polizeilichen Anzeigenformblatt regelmäßig enthaltene strafrechtliche Bewertung des angezeigten Verhaltens leiten zu lasseni73. Ein Korrektiv dürfte allerdings insoweit darin bestehen, daß jede Dezementin und jeder Dezernent gehalten ist, bei Anklageerhebung zu prüfen, ob die im System "ASTA" vermerkten Delikte noch mit der aktuellen Beurteilung des Falls übereinstimmen, und ggf. eine entsprechende Berichtigung herbeizuführen 174. Inwieweit dieser Verpflichtung in der Praxis entsprochen wird, vermag nicht abschließend beurteilt zu werden. Darüber hinaus könnte im Einzelfall die Erfassung des § 183 Abs. l StGB deshalb unterbleiben, weil die entsprechende Kategorie des "ASTA" den Eintrag von lediglich drei Strafvorschriften vorsieht 175 • Insoweit könnte schon bei der Auszeichnung die Tendenz bestehen, im Vergleich zu § 183 Abs. 1 StGB mit seiner relativ geringen Höchststrafe schwerer wiegende Delikte vorzuziehen. Dabei wird es sich aber wohl um eine eher geringe Anzahl von Verfahren handeln, da gerade ein solches Zusammentreffen mit anderen Strafnormen selten sein dürfte 176.
3. Beschreibung des Aktenmaterials a) Gesamtbestand der in Betracht kommenden Verfahren
Das staatsanwaltschaftliehe Datenverarbeitungssystem "ASTA" wies auf die durchgeführte Anfrage insgesamt 154 in Berlin (auch) wegen des Verdachts einer exhibitionistischen Handlung geführte Verfahren aus, in denen nach Abschluß der Ermittlungen Anklage erhoben bzw. ein Antrag auf Erlaß eines Strafbefehls gestellt wurde. Darunter befand sich ein ausschließlich wegen des Vorwurfs des m Dies sieht der Abschnitt (3) Nr. 12 der ASTA-Mitteilungen des Generalstaatsanwalts bei dem Landgericht- 1518 Sonderheft li - vor. 172 S. die Anleitung für die Anwendung des ADV-Verfahrens ASTA bei den Strafverfolgungsbehörden des Landes Berlin - Schlüsselverzeichnis der Delikte - . 173 Telefonische Auskunft einer Abteilungsleiterin bei der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Berlin im Herbst 1992. 174 Dies ergibt sich aus dem Abschnitt (3) Nr. 23 der ASTA-Mitteilungen des Generalstaatsanwalts bei dem Landgericht- 1518 Sonderheft li -. ns In diesem Sinn dürfte die Anleitung für die Anwendung des ADV-Verfahrens ASTA bei den Strafverfolgungsbehörden des Landes Berlin (S. 42 und 47) zu verstehen sein. 176 Vgl. zu den gängigsten Konkurrenzkonstellationen etwa Schönke/ Schröder-Lenckner, § 183 Rnr. 15; LK11 -Laufhütte, § 183 Rnr. 14.
I. 3. Beschreibung des Aktenmaterials
45
Diebstahls geführtes Verfahren. Ein weiteres Verfahren fand durch behördeninterne Abgabe (an eine Jugendabteilung) ohne Entscheidung in der Sache selbst formal seine Erledigung; da die Ermittlungen wegen des identischen Tatvorwurfs unter einem neuen Geschäftszeichen weitergeführt wurden, kann von einem tatsächlichen Gesamtbestand von 152 Verfahren ausgegangen werden. b) Zusammensetzung des Gesamtbestandes
Von diesem Gesamtbestand konnten 142 Verfahren ausgewertet werden 177 . Die Akten (und Handakten) von neun Verfahren waren bereits vernichtet worden. Da zum Zeitpunkt der Vernichtung nach den von den jeweils zuständigen Geschäftsstellen erteilten Auskünften aus Kapazitätsgründen auch die Angaben zum Verfahrensausgang im System "ASTA" gelöscht worden waren, waren entsprechende Erkenntnisse nicht zu erlangen. Es war so auch nicht möglich, die Ursache für die an sich vor Ablauf der geltenden Aufbewahrungsfristen erfolgte Vernichtung der benannten Akten in Erfahrung zu bringen. Die Akten eines weiteren Verfahrens waren in Verlust geraten 178 . Insoweit ließ sich dem staatsanwaltschaftliehen Datenverarbeitungssystem als die das Ermittlungsverfahren abschließende Entscheidung eine Einstellung gemäߧ 154 Abs. 1 StPO entnehmen. Danach könnte es sein, daß es zu einer Anklageerhebung nicht gekommen ist und das Verfahren insofern zu Unrecht als für das Forschungsvorhaben relevant benannt wurde. In Betracht kommt aber auch, daß eine mögliche Wiederaufnahme der Ermittlungen und eine anschließende Anklageerhebung fehlerhaft im "ASTA" nicht gekennzeichnet wurden. Ein Verfahren wurde durch einen Nichteröffnungsbeschluß beendet. In einem weiteren Verfahren wurde die Anklage durch die Staatsanwaltschaft wegen nach Abschluß der Ermittlungen festgestellter Schuldunfähigkeit des Angeschuldigten zurückgenommen. In 15 Verfahren sprach das Gericht den jeweiligen Angeklagten in vollem Umfang frei. 22 Verfahren fanden durch einen Einstellungsbeschluß ihr Ende, wobei siebenmal gemäߧ 153 Abs. 2 StPO, achtmal gemäߧ 153 a Abs. 2 StPO, fünfmal gemäߧ 154 Abs. 2 StPO und zweimal gemäߧ§ 45, 47 JGG entschieden wurde. Ein weiteres Verfahren ist noch nicht abgeschlossen, sondern ohne Einleitung von Fahndungsmaßnahmen "mit dem Ziel der Verjährung" wegen unbekannten Aufenthalts des Angeklagten nach § 205 StPO vorläufig eingestellt. m Dabei wurden die von dem zuständigen Dezernenten der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Berlin zur Sicherung des Datenschutzes in einem Gespräch Anfang Februar 1991 vorgegebenen Anforderungen entsprechend den mit Schreiben vom 15. Februar 1991 und 27. Februar 1992 abgegebenen Verpflichtungserklärungen in vollem Umfang eingehalten. 178 S. zu vergleichbaren Problemen Müller; H.J., S. 30ff.
46
3. Teil: Tatsituation und Auswirkungen auf die Tatzeugen
In 18 Strafverfahren kam es zu einer rechtskräftigen Verurteilung des jeweiligen Angeklagten, die jedoch nicht nach § 183 StGB erfolgte. Stattdessen stellte das Gericht in jeweils fünfFällen Verstöße gegen§ 183 a StGB bzw. § 176 Abs. 5 Nr. 1 StGB fest. Je einmal wurde gemäߧ§ 183 a, 185, 52 StGB, § 185 StGB, § 223 Abs. 1 StGB sowie §§ 113 Abs. 1, 185, 223 Abs. 1, 52 StGB verurteilt. In vier Fällen sanktionierte das Gericht einen Vollrausch i. S. d. § 323 a StGB, wobei als Rauschtat zweimal exhibitionistische Handlungen und je einmal Verletzungen des § 185 StGB bzw. des§ 183 a StGB festgestellt wurden. Danach kam es in insgesamt 84 ausgewerteten Verfahren zu einer Verurteilung gemäß § 183 Abs. 1 StGB, die in 55 Verfahren durch Urteil und in 29 Verfahren durch Strafbefehl - in einem Fall gemäß § 408 a StPO erlassen - erging. Dabei wurden zusammen 106 einschlägige Taten rechtskräftig festgestellt, die von insgesamt 64 Tatern begangen wurden.
4. Methodisches Vorgehen bei der Auswertung des Aktenmaterials Diese 106 exhibitionistischen Handlungen wurden der Untersuchung zugrundegelegt. Sie sind, um eine schnelle Übersicht zu ermöglichen, in einer als Anlage 2 abgedruckten Fallsammlung zusammengestellt. Bei der Beschreibung der Fälle wurde versucht, jeweils die folgenden Kriterien anzugeben: Tatort und -zeit; Anzahl der Täter, deren Alter und Vorstrafen; Alkoholisierung der Täter und dahingehende Wahrnehmung der Belästigten; ggf. Versuch der Tater, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken; räumliche Entfernung zwischen Tätern und Belästigten; Anwesenheit unbeteiligter Personen; eventuelle Aggression und Bewaffnung der Täter; bzgl. der exhibitionistischen Handlung selbst der Grad der Entblößung, Erektion, Onanie und Ejakulation; Anzahl der Belästigten, deren Alter, Geschlecht und Familienstand; Reaktionen und Empfindungen der Belästigten; Anzeigeerstattung und Stellung eines Strafantrages. Hinsichtlich der 106 Taten wurden die Akten mittels eines standardisierten Erhebungsbogens (s. Anhang 1) ausgewertet. Diese Methode bietet den Vorteil erleichterter Erhebung sowie Auswertung der Daten und gewährleistet die Vollständigkeit und Vergleichbarkeit der Ergebnisse 179 sowie die überprüfbare Dokumentation des Forschungsprozesses 180. Dabei wurden die Fragen überwiegend abschließend, teilweise offen fonnuliert 181 . Sie wurden aufgrund der vorhandenen Primärerfahrung über in Strafakten regelmäßig enthaltene Kategorien bzw. Daten entwickelt und in sechs verschiedene Sachzusammenhänge gestellt. Eines sogenannten Pretests 182 vor Bildung der Variablen bedurfte es daher nicht. 179
180 181 182
Vgl. Janssen, S. 94f.; zur Kategorienbildung Blankenburg, S. 197. Müller, S., S. 98. S. dazu Gessner u.a., S. 186 f. V gl. Müller, S., S. 79; s. auch Eisenberg I Ohder, S. 22.
II. I. Äußere Tatumstände
47
Im einzelnen wurden 38 Fragen formuliert, von denen angenommen wurde, daß sich mit ihrer Hilfe den Akten Anhaltspunkte bzgl. möglicher Schädigungen oder Beeinträchtigungen der Belästigten einerseits und der Gefahr einer Eskalation der Tatsituation andererseits würden entnehmen lassen. Die Fragen 33 bis 38 beschäftigten sich mit dem Ablauf des Verfahrens und dabei vor allem mit der Erstattung der Strafanzeige und der Stellung des Strafantrages. Die ersten 32 Fragen betrafen die Täter und die Intensität ihres Verhaltens, die konkreten Tatumstände, die Belästigten und deren eventuelle Beziehung zu den Tätern.
II. Auswertung des Fallmaterials Entsprechend den bestehenden Sachzusammenhängen wurde die Auswertung untergliedert in sechs Teile, die Fragen zu den äußeren Tatumständen (1.), zu täterbezogenen Kriterien (2.), zur Intensität des Täterverhaltens (3.), zu auf die Belä·stigten bezogenen Daten (4.), zur Beziehung zwischen Tatern und Belästigten (5.) sowie zu verfahrensbezogenen Daten (6.) zum Gegenstand hatten. Sie erbrachte vor dem Hintergrund der Arbeitshypothese im einzelnen folgende Erkenntnisse.
1. Äußere Tatumstände
Es kann erwartet werden, daß sich Anhaltspunkte hinsichtlich des Gewichts einer exhibitionistischen Handlung - unabhängig von den beteiligten Personen und ihrem Verhalten in der konkreten Tatsituation- bereits aus den äußeren Umständen ihrer Begehung ergeben. Wesentliche Bedeutung dürfte insoweit zunächst der Ausgestaltung bzw. Lage des Tatorts zukommen. Ferner dürfte erheblich sein, welche räumliche Distanz zwischen dem Täter und der (bzw. den) belästigten Person(en) bestand, ob dem Täter ein ungehinderter Zugang zu dieser (bzw. diesen) möglich gewesen wäre und ob sich weitere Personen in der Nähe befanden. Schließlich wurden ergänzend an dieser Stelle der Untersuchung die Fragen rniteinbezogen, zu welcher Tageszeit und unter welchen Lichtverhältnissen sich das Tatgeschehen ereignete. a) Tatort
aa) Ausgestaltung und Lage des Tatorts dürften für das Erleben einer exhibitionistischen Handlung durch die belästigte(n) Person(en) und das Bewerten des Taterverhaltens von Wichtigkeit sein. Es ist etwa zu vermuten, daß beispielsweise eine sich auf einem öffentlichen Platz im gewöhnlich belebteren Innenstadtbereich ereignende Tat in der Regel als weniger schwerwiegend eingestuft wird als ein von den übrigen Faktoren her entsprechendes Geschehen in einem wenig frequentierten
48
3. Teil: Tatsituation und Auswirkungen auf die Tatzeugen
Park oder Waldgebiet Die äußeren Gegebenheiten dürften auch für die Gefahr einer Eskalation der Tat nicht völlig ohne Relevanz sein. bb) Die bisherigen einschlägigen Untersuchungen kamen- soweit ersichtlichausnahmslos zu dem Ergebnis, daß die Mehrzahl der exhibitionistischen Handlungen im Freien begangen wird, wobei allerdings die Angaben zu den Tatorten im einzelnen starke Unterschiede aufwiesen 183 . So wurde berichtet, daß im Zeitraum vom 15. April bis 15. Juli 1927 bei der Polizei in Dresden 94mal öffentliche Straßen, 49mal Plätze und öffentliche Anlagen, 18mal Hausflure, achtmal öffentliche Lokale und Wohnungen sowie viermal Eisen- und Straßenbahnen als Tatorte gemeldet wurden 184 . Nach einer anderen Erhebung agierten 77,8 %der erfaßten Täter unter freiem Himmel an allgemein zugänglichen Plätzen, davon knapp 50 % auf öffentlichen Wegen und Straßen, rund 22 % in Park- und Grünanlagen oder Waldrandgebieten und 10,7 % in Höfen und Hausgärten. Der Rest verteilte sich auf Schwimmbäder, Badestrände oder ähnliche öffentliche Einrichtungen 185 . An anderer Stelle wurde mitgeteilt, von 64 untersuchten exhibitionistischen Handlungen hätten zwölf in Gebäuden - allerdings z.T. vom Fenster aus - und zwei in der Eisenbahn stattgefunden, während sich die übrigen Taten im Freien ereignet hätten, nämlich zehn in Stadtstraßen, acht in Parks und auf Friedhöfen, zwei in Freibädern, 19 außerhalb von Ortschaften im Wald, an Landstraßen etc.; acht weitere Exhibitionen seien aus einem Pkw heraus oder bei einem Pkw und drei unter Benutzung eines Fahrrades begangen worden 186. Die Berliner Polizei soll von 1949 bis 1964 bei 1.413 erfaßten Taten 694mal eine Straße, 359mal einen Park, Forst oder Spielplatz, 254mal das Innere eines Gebäudes und 106mal ein öffentliches Verkehrsmittel als Tatort registriert haben 187 . Nach einer anderen großangelegten Untersuchung wurden von 763 Fällen insgesamt 534 (= 71,0 %) außerhalb von Gebäuden begangen, davon allein 269 auf Straßen und Plätzen(= 36,4% aller Fälle), ferner 69 in Parkanlagen (= 9,0 %), 61 auf einem Weg(= 8,0 %), jeweils 32 im Wald oder auf einem Waldweg bzw. in einem Feld oder Gebüsch oder auf einer Wiese(= jeweils 4,2 %) und weitere 71 an sonstigen im Freien gelegenen Orten(= 9,2 %)188. Als qualitativ auffällig wird gelegentlich die auf einem Friedhof erfolgende Tatbegehung angesehen 189 . Daß dabei tatsächlich "die Lust am heimlichen Zerstören 183 Baurmann, S. 12, berichtet, 86,5 % der 2.650 von ihm untersuchten oberflächlichen Sexualkontakte wie das Zeigen des Geschlechtsteils hätten im Freien stattgefunden; vgl. auch Beck, S. 52, und Otto, S. 17 f. 184 V. Hentig, S. 330 (Fußn. 1). 185 Benz, S. 91. 186 Pietzcker, S. 13.
Angaben nach Pietzcker, S. 14. Müller, H.J. , S. 54. 189 S. dazu bei Gersan I Heigl, S. 254, die Schilderung des Falls eines Jugendlichen, der meist in der Nähe eines Friedhofs exhibierte; zur Häufigkeit Otto, S. 17f.: 1,6 %; Müller, H.J., a. a. 0.: 1,0 %. 187 188
II. 1. Äußere Tatumstände
49
der das übliche Leben regulierenden Schranken eine wesentliche Komponente" ist, die Täter sich gerade diesen Tatort auswählen, "um die Wirkung des Schockierens zu potenzieren" 190, erscheint als nicht ganz zweifelsfrei. Jedenfalls ließ sich im Rahmen einer Untersuchung, die diesen Gesichtspunkt in ihre Betrachtung miteinbezog, nicht erkennen, daß der besondere Charakter des Tatorts für die Täter reizerhöhend gewirkt hätte 191 . Innerhalb geschlossener Räume sollen als Tatorte Treppenhäuser, Hausflure und Eingangshallen quantitativ etwas gegenüber Wohnungen überwiegen, in denen die exhibitionistische Handlung typischerweise am Fenster oder auf dem Balkon durchgeführt werde 192. Nach einer Erhebung ereigneten sich im übrigen 27,7% aller in geschlossenen Räumen begangenen Taten in Gaststätten oder Bars 193, nach einer anderen dagegen nur 17 von insgesamt 126 Fällen(= 13,5 %) 194. Als Besonderheit hinsichtlich der Tatortqualität werden verschiedentlich öffentliche Verkehrsmittel angesehen. Bei diesen entfalle trotz an sich bestehender räumlicher Abgeschlossenheil die aus Tätersicht schutzbietende, vertraute Umgebung, die sonst für die Tatbegehung in geschlossenen Räumen kennzeichnend sei. Die Zugänglichkeit für einen unbestimmten wechselnden Personenkreis entspreche eher der Tatsituation unter freiem Himmel. Die Angaben über die Häufigkeit einer Tatbegehung in öffentlichen Verkehrsmitteln differieren nicht unerheblich 195 . Vor allem in älteren Veröffentlichungen wird des öfteren auf die besondere Rolle hingewiesen, die das Fahrrad im Zusammenhang mit der Begehung exhibitionistischer Handlungen spiele 196 . In diesem Zusammenhang wird erwogen, daß die Täter möglicherweise bereits durch die rhythmische Bewegung beim Radfahren - ähnlich wie durch Eisenbahnfahren oder Reiten - sexuell erregt worden sein könnten 197 . cc) Die Auswertung des eigenen Aktenmaterials aufgrundder Frage 1 des Erhebungsbogens ergab in Übereinstimmung mit den bisherigen Erkenntnissen, daß die meisten der 106 rechtskräftig festgestellten Taten sich außerhalb geschlossener Räume ereigneten. Da die exhibitionistischen Handlungen in den Fällen 42 und
190 191 192
s. 54.
Diese Ansicht vertritt Schorsch 1971, S. 117. Vgl. Müller, H.J., S. 59. Benz, S. 92; Koopmann, S. 21; Müller, B., S. 37; s. auch Otto, a. a. 0., und Müller, H.J.,
Benz, a. a. 0. Müller, H.J., a. a. 0. 195 Vgl. nur Müller, H.J., a. a. 0.: 1,1 %; Beck, S. 52: 2,9 %; Benz, a. a. 0.: 5,0 %; Otto, a. a. 0.: 6,7 %; Pietzcker, S. 14: 7,5 %; s. auch bei Koopmann, a. a. 0., den Bericht über einen Täter, der regelmäßig früh morgens in der Hochbahn vor Frauen exhibierte, die an diesem Verhalten Gefallen gefunden haben sollen. 196 Kolle 1932a, S. 429; Koopmann, a. a. 0.; auch Schmaltz, S. 703. 197 Vgl. Müller, B., S. 44. 193
194
4 Sander
50
3. Teil: Tatsituation und Auswirkungen auf die Tatzeugen
101 trotzder Verurteilung wegen nur einer Tat an jeweils zwei verschiedenen Stellen begangen wurden, konnten insgesamt 108 Tatorte(= 100 %) registriert werden. Erwartungsgemäß lagen die meisten Tatorte (28 = 25,93 %) auf öffentlichem Straßenland, z. B. auf allgemein zugänglichen Straßen, Wegen oder Plätzen. 23 Taten(= 21,30 %) wurden dagegen in einer Park- bzw. Grünanlage oder einem Waldbzw. Forstgebiet verübt, davon drei auf einem Friedhof. In neun Fällen (= 8,33 %) wurde gegen § 183 Abs. 1 StGB auf einem Spiel- bzw. Bolzplatz, in einer Schule oder einem Kindergarten oder in der Nähe einer solchen Einrichtung verstoßen, wobei ein Täter allein sechsmal auffällig war (Fälle 51 bis 56). Dagegen befand sich kein Tatort in einer Badeanstalt, einem Freibad oder einer sonstigen Sportstätte. Dreimal(= 2,78 %) wurde in einem der Öffentlichkeit üblicherweise zugänglichen Gebäude oder Gebäudeteil exhibiert, nämlich in einem Waschsalon (Fall 32), in einer Einkaufspassage (Fall 40) und auf einem Firmenparkplatz (Fall 80). Nur 20 exhibitionistische Handlungen (= 18,52 %) wurden innerhalb eines Wohnhauses begangen, davon elf(= 10,19 %) in der Wohnung des Täters. Lediglich im Fall 48 hielt sich die belästigte Person während der Tatbegehung ebenfalls in den dem Täter gehörenden Räumen auf; dagegen richtete sich die Tat in den übrigen zehn Fällen ausschließlich an außerhalb der Wohnung befindliche Personen (Fälle 26, 27, 61, 63, 73, 74, 78, 94, 96 und 102), wobei die Täter sich überwiegend (zumindest teilweise) unbekleidet an ein Fenster ihrer Wohnung stellten. Die Orte der übrigen neun innerräumlichen Taten(= 8,33 %) lagen mehrheitlich in Hausfluren und Treppenhäusern größerer Wohnhäuser (Fälle 13, 42, 92, 99 und 101). In den Fällen 33 bis 35 ergab sich die Besonderheit, daß der jeweils selbe Täter zur Tatbegehung auf niedrig gelegene Balkone kletterte und von dort aus gegenüber in der dazugehörigen Wohnung befindlichen Frauen exhibierte. Auffällig ist im Vergleich mit den bisherigen Untersuchungen der mit 25 Taten (= 23,15 %) hohe Anteil der auf dem Gelände der öffentlichen Verkehrsbetriebe oder direkt in öffentlichen Verkehrsmitteln festgestellten exhibitionistischen Handlungen. Dies gilt erst recht, wenn man berücksichtigt, daß unter den Taten auf öffentlichem Straßenland weitere acht Fälle waren, die an einer Bushaltestelle oder einem U-Bahnausgang stattfanden (Fälle 11, 59, 82, 83, 86, 87, 88 und 97). Die erhebliche Diskrepanz könnte zum einen damit erklärt werden, daß es im Unterschied zu anderen Erhebungsgebieten in Berlin ein umfangreiches U- und S-Bahnnetz gibt, d. h. ein öffentliches Fortbewegungsmittel, in dem es dem Fahrer - anders als im Bus oder mit Einschränkung in der Straßenbahn - nicht möglich ist, während der Fahrt die Fahrgasträume einzusehen, was den Anreiz zur dortigen Tatbegehung erhöhen könnte. Dementsprechend wurden 14 der 25 registrierten Taten (Fälle 2, 3, 4, 6, 7, 8, 18, 41, 57, 67, 85, 91, 103 und 106) in U- und S-Bahnen begangen, in denen im übrigen meist aus Sicht der Täter für das Betrachten einer Exhibition geeignete Personen anwesend sein dürften. Zum anderen befindet sich auf den Bahnhöfen regelmäßig mit Funk- oder zumindest Telefongeräten ausgestattetes Abfertigungspersonal, wodurch die Chance der Identifizierung des jewei-
li. 1. Äußere Tatumstände
51
ligen Täters größer als an vielen anderen Tatorten sein dürfte. Auch daraus könnte eine gewisse Überhöhung dieser Kategorie resultieren. Schließlich ist bei der Bewertung des vorliegenden Materials zu beachten, daß allein sechs Taten (Fälle 2, 3, 4, 6, 7 und 8) innerhalb eines kurzen Abschnitts des Erfassungszeitraums von einem Täter verübt wurden. b) Räumliche Distanz zwischen Tätern und belästigten Personen
aa) Mit der Frage 9 des Erhebungsbogens wurde - soweit ersichtlich - erstmalig gezielt untersucht, wie groß jeweils die räumliche Entfernung zwischen Täter und der (bzw. den) belästigten Person(en) war. Der Fragestellung lag die Vermutung zugrunde, daß eine exhibitionistische Handlung umso eher als bedrohlich oder gefährdend eingeschätzt werden wird, je geringer die Distanz ist, aus der sie von einer sich belästigt fühlenden Person erlebt wird. Es wurde m.a.W. von der Annahme ausgegangen, daß das Bild der gesamten Tatsituation und dessen Bewertung jedenfalls nicht unerheblich auch von der Entfernung der Beteiligten zueinander geprägt wird. bb) Bei 57 der 106 exhibitionistischen Handlungen(= 53,77 %) betrug die Entfernung maximal fünf Meter; in diese Kategorie fielen namentlich die in einem öffentlichen Verkehrsmittel begangenen Taten. In 18 Fällen(= 16,98 %) bestand zwischen dem Täter und der (bzw. den) belästigten Person(en) eine Distanz von mehr als fünf bis zu zehn Metern, in acht weiteren Fällen (= 7,55 %) eine solche von mehr als zehn bis zu 20 Metern. Bei den Fällen 61 und 104 waren die bezeichneten Beteiligten ca. 30 Meter, beim Fall 98 gut 40 Meter sowie beim Fall 74 ca. 80 Meter voneinander entfernt (zusammen 3,77 %). Für 19 Exhibitionen(= 17,92 %) konnte den Akten eine konkrete Entfernungsangabe in Metern nicht entnommen werden. Jedoch wurde für drei Taten eines Mannes festgestellt, daß diese aus ,,kurzer" bzw. "geringer" Distanz begangen wurden (Fälle 83, 87 und 88). Ferner ließ sich für weitere neun exhibitionistische Handlungen aus den gesamten Tatumständen erkennen, daß die räumliche Entfernung jedenfalls nicht sehr erheblich gewesen sein kann (Fälle 16, 36, 43, 47, 50, 60, 68, 71 und 95). Dagegen dürfte diese Distanz bei fünf Taten, die jeweils- einmal mittels eines kleinen Fernglases - aus Wohnungen heraus wahrgenommen bzw. von dort aus verübt wurden, deutlich größer gewesen sein (Fälle 21 , 23, 30, 70 und 78). c) Zugangsmöglichkeit des Täters
aa) Der Vermutung, die Belästigten könnten die Bedeutung eines exhibitionistischen Verhaltens schwer einschätzen und insbesondere nicht wissen, ob es dabei bleiben werde, kann nur dann Relevanz zukommen, wenn die konkrete Tatsituati4*
3. Teil: Tatsituation und Auswirkungen auf die Tatzeugen
52
on eine Eskalation der Tat überhaupt zuläßt. Die Frage 10 des Erhebungsbogens zielte deshalb darauf ab, ob den Tatern nach den örtlichen Gegebenheiten ein ungehinderter Zugang zu der (bzw. den) belästigten Person(en) überhaupt möglich war. bb) In den bisherigen kriminologischen Veröffentlichungen wird dieser Frage - soweit ersichtlich - keine Bedeutung beigemessen. Im Mittelpunkt des Interesses steht vielmehr zumeist das Problem, ob der Täter einer exhibitionistischen Handlung - ungeachtet der tatsächlichen Möglichkeit im Einzelfall - von sich aus einen über das Zeigen seines Geschlechtsteils hinausgehenden (sexuellen) Kontakt mit der ihn wahrnehmenden Person anstrebt. Dies wird ganz überwiegend verneint und darauf verwiesen, daß es sich bei Tatern i. S. d. § 183 Abs. 1 StGB regelmäßig um instinktunsichere und kontaktschwache Männer handele, deren sexueller Beherrschungsinstinkt nicht eindeutig ausgeprägt sei oder ganz fehle 198. Daher lehnten diese eine auch nur flüchtige Partnerschaft oder eine Kommunikation im eigentlichen Sinne ab 199, verhielten sich stattdessen über die exhibitionistische Handlung hinaus passiv und blieben zum Gegenüber in einer gewissen räumlichen Distanz200. Zum ungehinderten Zugang lassen sich jedoch aufgrund verschiedener Tatbeschreibungen gelegentlich Rückschlüsse ziehen. In Anknüpfung an die Annahme, Täter exhibitionistischer Handlungen seien zumindest zurückhaltende Männer, wurde z. B. in einer Untersuchung berichtet, in dem zur Verfügung stehenden Material habe es mehrere Fälle gegeben, die von einer (für den jeweiligen Täter) sicheren Position aus begangen wurden, etwa vor einem Haus oder aus einem Haus heraus. Es werde versucht, durch die Wahl des Ortes für die Tatbegehung jede Möglichkeit eines näheren Kontakts auszuschließen 201 . Derartige Schilderungen von Taten, bei denen der belästigten Person ein unmittelbarer Zugriff auf den Täter unmöglich gemacht werden soll und bei denen auch umgekehrt ein ungehinderter Zugang nicht besteht, lassen sich häufig finden 202 . cc) Im vorliegenden Material war den Tätern ein ungehinderter Zugang zu der (bzw. den) belästigten Person(en)- für diese jeweils erkennbar- schon nach den örtlichen Gegebenheiten in 28 Fällen, d. h. in über einem Viertel der erfaßten Taten (= 26,42 % ), nicht möglich. Überwiegend bestand dabei die Konstellation darin, daß sich die belästigten Personen in ihren verschlossenen Wohnungen oder anderen Räumen autbielten, während sich die Täter außerhalb davon, zumeist auf öffentlichem Straßenland, befanden (Fälle 13, 21, 22, 23, 30, 33, 34, 35, 42, 51 bis So z. B. Wille 1966, S. 110. Schorsch 1971, S. 32f. zoo Vgl. nur Benz, S. 97, und Glatze[, S. 169. 2o1 Müller; B., S. 37 f., auch S. 46 f., wo mehrere Fälle von Exhibitionen von der Eisenbahn aus oder vor vorbeifahrenden Zügen geschildert werden, bei denen die Anonymität besonders weit getrieben sei, weil es nicht einmal zu einem verbalen Kontakt kommen könne. 202 Benz, S. 92; Koopmann, S. 2 1; Müller; H.J., S. 54; s. ferner die Fallbeschreibung bei Plaut, S. 45. 198
199
II. I. Äußere Tatumstände
53
56, 61, 63, 66, 70, 73, 74, 79, 96 und 98). In den Fällen 26, 27, 78 und 102 exhibierten die Täter dagegen an einem Fenster ihrer jeweiligen Wohnung und wurden dabei von der Straße bzw. vom Innenhof aus wahrgenommen. In den übrigen 78 Fällen(= 73,58 %) hätten die Taternach den Tatumständen an sich einen unmittelbaren körperlichen Kontakt zu der (bzw. den) belästigten Person(en) herstellen können. Allerdings hätte es dafür verschiedentlich nicht ganz unerheblicher Zwischenhandlungen bedurft. In den Fällen 11, 39 und 44 wäre zuvor jeweils das Öffnen der Telefonzelle notwendig gewesen, vor der die Exhibition erfolgte. In den Fällen 93 und 95 hätten die Täter ihr Auto anhalten und aus diesem - wie auch im Fall 97 - aussteigen müssen. Ähnliches gilt für den Fall 68, bei dem sich der Täter während der Ausführung der Tat auf der Ladefläche eines Lieferwagens befand. Im Fall 94 hätte der Täter erst das von ihm bewohnte Grundstück verlassen müssen. Bei einer weiteren Tat (Fall 80) hatte schließlich die belästigte Frau sofort, nachdem sie die exhibitionistische Handlung wahrgenommen hatte, die Tür ihres Autos von innen geschlossen und verriegelt und war losgefahren. d) Anwesenheit Nichtbeteiligter am Tatort oder in dessen Nähe
aa) Mit der Frage 11 des Erhebungsbogens wurde untersucht, ob sich über den jeweiligen Täter und die belästigte(n) Person(en) hinaus weitere am Tatgeschehen unbeteiligte Personen am Tatort oder in dessen Nähe befanden. Insofern wurde angenommen, daß ein ggf. bestehendes Gefühl der Verunsicherung bzw. Gefährdung bei einer belästigten Person tendenziell geringer ist, wenn sich Nichtbeteiligte in der Nähe befinden, von denen eventuell ein helfendes Eingreifen erhofft werden kann. Zudem dürfte dann die Gefahr einer Eskalation der Tatsituation kleiner sein. bb) In den bisherigen, überwiegend täterbezogenen Publikationen wird dieser Gesichtspunkt nicht ausdrücklich erwähnt. Eher beiläufig wurde in einer Erhebung ausgeführt, bei Taten in öffentlichen Verkehrsmitteln seien diese ,,meistens mit mehreren Fahrgästen besetzt" gewesen203 . Soweit an anderer Stelle auch von exhibitionistischen Handlungen in öffentlichen Verkehrsmitteln oder an sonstigen für einen unbestimmten Personenkreis zugänglichen Orten (z. B. Gaststätten, Schwimmbäder) berichtet wurde204 , läßt sich die Anwesenheit Nichtbeteiligter allenfalls vermuten. cc) Von den hier erfaßten 106 Taten wurden nur 40 (= 37,74 %) begangen, während sich - jedenfalls nach Aktenlage - keine nichtbeteiligten Personen am Tatort oder in dessen Nähe aufhielten. Zu dieser Gruppe wurde auch der Fall 25 gezählt, in dem die Verurteilung wegen fortgesetzter exhibitionistischer Handlungen erging, da beim zweiten Teilakt nur der Täter und die belästigte Frau als bei der Tat anwesend festgestellt werden konnten. Bei einigen dieser 40 Taten war es jedoch 203
204
Otto, S. 17 f. Z.B. bei Benz, S. 91, und Müller, H.J., a. a. 0.
54
3. Teil: Tatsituation und Auswirkungen auf die Tatzeugen
so, daß sich bereits kurz nach der Begehung der Exhibition Nichtbeteiligte näherten, nämlich z. B. Funkstreifen (Fälle 14 und 95) sowie Busse der Berliner Verkehrsbetriebe (Fälle 59 und 97). Im Fall 93 fuhren gelegentlich Autos am Tatort vorbei. Zweimal wurden unmittelbar nach der Wahrnehmung der Tat hilfsbereite Personen aus nahegelegenen Wohnungen herbeigeholt (Fälle 33 und 99). 66 exhibitionistische Handlungen(= 62,26 %) ereigneten sich dagegen im Beisein nichtbelästigter Personen. Dabei handelte es sich allein 34mal um zufällig vorbeikommende Passanten, auf Busse oder Bahnen wartende oder in einem öffentlichen Verkehrsmittel befindliche Fahrgäste (Fälle 2 bis 8, 11, 16, 18, 29, 40, 41, 44, 46, 57, 58, 62, 67, 76, 77, 82 bis 91, 101, 103, 106). In den Fällen 1, 9, 72, 100 und 105 befand sich Personal der Berliner Verkehrsbetriebe in unmittelbarer Nähe des Tatorts. Die Taten 10, 37, 47 und 50 wurden von Polizeibeamten, die teilweise gezielt zur Feststellung von Exhibitionen eingesetzt waren, beobachtet. Mit der (bzw. den) belästigten Person(en) befreundete oder verwandte Dritte hielten sich in den Fällen 13, 27, 39, 69, 73, 92, 98 und 102 nahe dem Tatort auf; bei neun Delikten gemäߧ 183 Abs. 1 StGB waren dies schließlich Benutzer eines Waschsalons (Fall 32), Friedhofsbesucher (Fall 38), Angestellte einer Kindertagesstätte (Fälle 51 bis 56) sowie Patienten in einer Arztpraxis (Fall61). e) Tatzeit
aa) Der Zeitpunkt des Erlebens einer exhibitionistischen Handlung im Tagesablauf mag (jedenfalls mittelbar) Einfluß auf deren Gewichtung durch die belästigte(n) Person(en) haben. Entsprechend allgemeiner Erfahrung kann wohl davon ausgegangen werden, daß der durchschnittliche Grad der Verbrechensfurcht in der Bevölkerung in der Nacht höher ist als am Tage. Insoweit könnte auch der Darstellung von Verbrechen in den sogenannten Massenmedien Bedeutung zukommen205 . Vorliegend soll von der Annahme ausgegangen werden, daß - bei im übrigen gleichen Faktoren - ein exhibitionistisches Verhalten in der Nacht von den belästigten Tatzeugen als bedrohlicher empfunden wird als tagsüber. bb) Bei den bisherigen Erhebungen war der Anteil der nachts begangenen Taten jedoch relativ gering. Nach einer Untersuchung sollen sich beispielsweise nur 19 von 551 Fällen zwischen 0.00 Uhr und 6.00 Uhr ereignet haben206. Daß dies vor allem darin begründet ist, daß die Täter zu dieser Zeit nicht zu erkennen sind und der "unzüchtige Vorgang" daher die beabsichtigte Wirkung verfehlt207 , erscheint S. dazu Eisenberg 1995, §50 Rnr. 25. Vgl. Otto, S. 13; soweit nach Körner, S. 56f., von 120 exhibitionistischen (und beleidigenden) Handlungen nicht eine in die Zeit zwischen 21 .00 Uhr und 6.00 Uhr gefallen sein soll, dürfte dies mit der nicht repräsentativen Alterszusammensetzung der von ihm betrachteten Tätergruppe zu erklären sein. 207 So Beck, S. 51. 205
206
II. 1. Äußere Tatumstände
55
zweifelhaft. Dies gilt jedenfalls für städtische Gebiete, in denen die meisten Straßen durchgehend beleuchtet werden. Plausibler dürfte die Annahme sein, daß in der Nacht der Kreis der potentiell zu belästigenden Personen kleiner ist als am Tage2os. Ganz überwiegend wird berichtet, die meisten exhibitionistischen Verhaltensweisen würden im Laufe des Nachmittags gezeigt. Zu dieser Zeit hielten sich zum einen zahlreiche als Tatzeugen geeignete Personen im Freien auf, zum anderen seien die Täter weder durch Arbeit noch familiäre Verpflichtungen anderweitig gebunden209. So kam eine Erhebung zu dem Ergebnis, daß bei insgesamt 667 Fällen für 275 exhibitionistische Handlungen(= 41,1 %) eine Tatzeit zwischen 12.00 Uhr und 18.00 Uhr registriert worden war210. In einer anderen Arbeit wurde für den entsprechenden Tagesabschnitt ein (ebenfalls überhöhter) Wert von 37,1 % angegeben211. Von 185 im Zeitraum von 1928 bis 1. 3. 1932 in Kiel der Polizei gemeldeten Taten mit festgestellter Begehungszeit entfielen 75 (= 40,06 %) in den Bereich zwischen 12.00 Uhr und 18.00 Uhr212 . Nicht ganz selten sollen sich exhibitionistische Handlungen schließlich in den Morgenstunden ereignen213 . cc) Die Durchsicht des eigenen Materials aufgrund der Frage 2 des Erhebungsbogens führte zu ähnlichen Ergebnissen. Bei einer Unterteilung in dreistündige Intervalle zeigte es sich, daß von den 99 Exhibitionen mit festgestellter Tatzeit 18 ab 6.00 Uhr morgens (= 18,18 %), jeweils 14 ab 9.00 Uhr bzw. ab 12.00 Uhr (= 14,14 %), 17 ab 15.00 Uhr(= 17,17 %) sowie- als Höchstwert- 20 ab 18.00 Uhr (= 20,20 %) begangen worden waren. Dagegen lagen die Werte für die entsprechenden Zeitabschnitte ab 21.00 Uhr, 0.00 Uhr und 3.00 Uhr bei zehn(= 10,10 %) und zweimal bei lediglich drei(= 3,03 %) Taten. Soweit einzelne Akte einer fortgesetzten exhibitionistischen Handlung in verschiedene Intervalle fielen, wurde dasjenige statistisch erfaßt, in dem die quantitativ überwiegende Tatausführung lag (Fälle 43 [regelmäßig gegen 5.50 Uhr] und 102 [meist nach 15.00 Uhr]). Aus sieben Akten (betreffend 6,60 % aller 106 Taten) ließ sich eine konkrete Begehungszeit nicht entnehmen (Fälle 2, 3, 5, 6, 61, 94 und 96). Jedoch war zu erkennen, daß die Fälle 2, 3 und 5 wohl kurz nach 19.30 Uhr, Fall 94 am Tage und Fall96 in den Nachmittagsstunden geschehen waren. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß der ganz überwiegende Teil der 106 in die Betrachtung einbezogenen exhibitionistischen Verhaltensweisen in Übereinstimmung mit früheren Erhebungen am Tage gezeigt wurde. 2os Ähnlich Müller, H.J., S. 63.
Baurmann, S. 8f.; Müller, H.J., S. 64; Pietzcker, S. ll; Benz, S. 94f.; Beck, a. a. 0.; s. auch Otto, a. a. 0. 2to Müller, H.J., S. 63. 211 S. Benz, a. a. 0 . 212 Kolle 1932a, S. 429; s. ferner v. Hentig, S. 330. 21 3 Strewe, S. 36; nach Schorsch 1971, S. 112, könnte insofern exzessivem Alkoholkonsum in der vorausgegangenen Nacht Bedeutung zukommen. 209
56
3. Teil: Tatsituation und Auswirkungen auf die Tatzeugen
f) Lichtverhältnisse am Tatort
aa) In enger Anknüpfung an das Problem der Tatzeit wurde mit der Frage 3 des Erhebungsbogens das Augenmerk ergänzend darauf gerichtet, welche Lichtverhältnisse während der exhibitionistischen Handlungen am jeweiligen Tatort herrschten. Obwohl der Helligkeit bzw. Dunkelheit im Hinblick auf das Erleben der Exhibition durch die Tatzeugen und ggf. der Einschätzung der Schwere der Belästigung durchaus Relevanz zuzuerkennen sein dürfte, machen die bisherigen wissenschaftlichen Veröffentlichungen diesbezüglich - soweit ersichtlich - keine ausdrücklichen Angaben214. bb) Insgesamt enthielten die ausgewerteten Akten zu 103 Taten Angaben bezüglich der Lichtverhältnisse. Nach den zur Tatzeit erhobenen Daten war es erwartungsgemäß so, daß die meisten in Rede stehenden Delikte (63 Fälle= 61,17 %) bei uneingeschränktem Tageslicht von den belästigten Personen beobachtet wurden. Dreiexhibitionistische Handlungen(= 2,91 %) wurden bei durch Dämmerung oder Witterungseinflüsse eingeschränktem Tageslicht und vier(= 3,88 %) bei Dunkelheit begangen. Bei den verbleibenden 33 Exhibitionen(= 32,04 %) war es zwar an sich dunkel, aber der Tatort wurde durch eine Lichtquelle einigen Umfangs erhellt, z. B. durch eine in der Nähe befindliche Laterne (Fälle 27, 36 und 42) oder durch die innerhalb einer Telefonzelle befindliche Beleuchtung (Fälle 39 und 44). Soweit bei fortgesetzter Tatbegehung Teilakte bei unterschiedlichen Lichtverhältnissen erfolgten, wurde der Fall der hinsichtlich der Beleuchtung schlechteren Kategorie zugeordnet (Fälle 43, 61 und 101). g) Zusammenfassung
Die meisten der untersuchten 106 exhibitionistischen Handlungen ereigneten sich außerhalb geschlossener Räume, dagegen nur 18,52% innerhalb eines Wohnhauses. Erhebliche Anteile entfielen auf die Kategorien öffentliches Straßenland (25,93 %) und Park- bzw. Grünanlage sowie Wald- bzw. Forstgebiet (insgesamt 21,30 %). Auffällig ist der vergleichsweise hohe Anteil der auf dem Gelände der öffentlichen Verkehrsbetriebe oder direkt in öffentlichen Verkehrsmitteln festgestellten Taten (23,15 %). In der Mehrzahl der Fälle betrug die räumliche Entfernung zwischen dem Täter und der (bzw. den) belästigten Person(en) maximal fünf Meter, d. h. das exhibitionistische Verhalten wurde überwiegend aus einer Nahdistanz erlebt. Allerdings war den Tatern in über einem Viertel des ausgewerteten Materials ein ungehinderter Zugang zu der (bzw. den) belästigten Person(en) nicht möglich. Zudem befanden sich in 62,26 % der exhibitionistischen Handlungen am Tatgeschehen nicht beteiligte Personen zumindest in der Nähe des Tatorts. 214
Mit Ausnahme von Otto, S. 22.
II. 2. Täterbezogene Kriterien
57
Der ganz überwiegende Teil der Fälle wurde am Tage begangen; nur insgesamt 16,16 % ereigneten sich in der Zeit ab 21.00 Uhr bis 5.59 Uhr morgens. Knapp zwei Drittel der Taten wurden dementsprechend bei uneingeschränktem Tageslicht verübt, dagegen - unter Berücksichtigung des Tatziels erwartungsgemäß - weniger als 4 % bei Dunkelheit.
2. Talerbezogene Kriterien
Weitere Hinweise auf die objektive und die von den Tatzeugen empfundene Schwere der exhibitionistischen Handlungen lassen sich dem zur Verfügung stehenden Aktenmaterial unter einem täterbezogenen Blickwinkel entnehmen. Erheblich dürfte insofern zunächst die Anzahl der Täter am Tatort sein. Ferner können deren Alter bei Begehung der Exhibitionen sowie die zu diesem Zeitpunkt bestehenden Vorbelastungen bzw. -strafen von Bedeutung sein. a) Anzahl der Täter
aa) Zumindest für die Einschätzung der Bedrohlichkeit der erlebten exhibitionistischen Handlung durch die jeweilige belästigte Person dürfte es eine Rolle spielen, wievielen Tatern sie sich gegenübersieht Auch objektiv kann vermutet werden, daß einer von zwei oder mehr Tatern begangenen strafbaren Handlung tendenziell eine höhere Gefährlichkeit anhaftet. Dieser Gesichtspunkt hat in verschiedene Strafvorschriften Eingang gefunden, beispielsweise in § 223 a Abs. 1 StGB. Dort wird mit der Qualifikation der von mehreren gemeinschaftlich begangenen Körperverletzung dem Gedanken Rechnung getragen, daß sich das Opfer bereits deshalb in größerer Gefahr befindet, weil es sich mehreren Tatern gegenübersieht und deshalb eingeschüchtert und in seiner Verteidigung gehemmt sein kann215 • Die bisherigen Arbeiten enthalten zu diesem Komplex praktisch keine ausdrücklichen Angaben. Jedoch läßt sich den meisten Beiträgen, vor allem den Fallbeschreibungen, entnehmen, daß ein exhibitionistisches Verhalten nahezu ausnahmslos von Alleintätern gezeigt wird. bb) Dementsprechend führte die anhand der Frage 4 des Erhebungsbogens vorgenommene Durchsicht des eigenen Aktenmaterials zu dem erwartungsgemäßen Ergebnis, daß sämtliche 106 Exhibitionen von jeweils nur einem Täter ausgeübt wurden (= 100 %). Hinweise auf weitere - eventuell auch sogenannte gesondert verfolgte - Tatbeteiligte waren nicht ersichtlich. Insbesondere war es zu keiner Abtrennung des Verfahrens gegen einen weiteren Beschuldigten gekommen.
215
Vgl. Schänke I Schröder-Stree, § 223 a Rnr. 11; auch LK-Hirsch, § 223 a Rnr. 18; SK-
Hom, § 223 a Rnr. 22.
58
3. Teil: Tatsituation und Auswirkungen auf die Tatzeugen
b) Alterder Täter bei der Tatbegehung
aa) Das Alter des Täters könnte für dessen äußeres Erscheinungsbild und für die (auch) im Hinblick darauf durch die Tatzeugen erfolgende Einschätzung des Grades der Bedrohlichkeit der Tatsituation von Relevanz sein. Auch die Art der in Betracht gezogenen Reaktion auf die exhibitionistische Handlung dürfte damit in Zusammenhang stehen. So ergab z. B. eine allerdings im wesentlichen auf die Delikte des Totschlags, des Raubes und des in Verbindung mit Gewaltanwendung begangenen Diebstahls bezogene Untersuchung, daß die Tendenz der Opfer, Widerstand gegen den Angriff zu leisten, umso geringer war, je älter der Täter war. Während sich die Opfer gegen Angriffe 21- bis 30jähriger überwiegend wehrten, nahm die Bereitschaft dazu mit steigendem Alter des Täters immer mehr ab216. Dabei könnte jedoch auch das Alter der Opfer eine Rolle gespielt haben. Unabhängig davon kann die Vermutung aufgestellt werden, daß Abwehrbereitschaft und -chancen am größten sind gegenüber jugendlichen und altemden Tätern, soweit diese noch nicht bzw. nicht mehr im Vollbesitz ihrer körperlichen Kräfte sind. Möglicherweise nur scheinbar (teilweise) in einem gewissen Widerspruch dazu steht der Umstand, daß im Bereich allgemeiner Kriminalität der Verurteiltenanteil von der Gruppe der 14jährigen an bis zu den unter 40jährigen den jeweiligen Bevölkerungsanteil übertrifft217. bb) Nach den Angaben der Polizeilichen Kriminalstatistik gehörten die meisten der in der Bundesrepublik Deutschland gemäß den§§ 183 Abs. 1, 183 a StGB registrierten Tatverdächtigen der Jahre 1984 bis 1992 der Gruppe der 30- bis 39jährigen an. Es folgten die 25- bis 29jährigen vor den 40- bis 49jährigen und den 21bis 24jährigen Tatverdächtigen. Bei 5,83 % der Registrierten handelte es sich um Jugendliche und bei 7,79 % um Heranwachsende (vgl. im einzelnen Tabelle 5). Entsprechende deliktsspezifische Daten lassen sich der Polizeilichen Kriminalstatistik Berlin lediglich für die Jahre 1984 und 1985 entnehmen, während für den nachfolgenden Zeitraum die Aussagekraft durch die zusammengefaßte Wiedergabe der die Erwachsenen betreffenden Daten erheblich eingeschränkt ist218 . Aus den Daten der Strafverfolgungsstatistiken läßt sich erkennen, daß die Gruppe der 30- bis 39jährigen im Zeitraum von 1981 bis 1991 in Berlin sowie von 1982 bis 1991 bundesweit auch unter den gemäß § 183 Abs. 1 StGB Verurteilten am stärksten vertreten war. In Berlin waren die 40- bis 49jährigen am zweitstärksten vertreten vor den 25- bis 29jährigen und den 21- bis 24jährigen. Bundesweit folgten zunächst die 25- bis 29jährigen vor den 21- bis 24jährigen und den 40- bis 49jährigen Verurteilten. Dagegen waren in Berlin nur 2,2 % der Verurteilten Jugendliche und 5,8 % Heranwachsende, während die entsprechenden Werte für die Schafer; S. 81. S. dazu Eisenberg 1995, § 48 Rnr. 15. 21s Vgl. PolSt Bln 1984 und 1985, jeweils Tabelle 20, sowie ab 1986 jeweils Teil II - Deliktsspezifischer Tabellenteil - zur Deliktsschlüsselzahl 1.320. 216 217
II. 2. Talerbezogene Kriterien
59
Bundesrepublik Deutschland 4,2% bzw. 8,1 %betrugen (vgl. im einzelnen die Tabellen 6 und 7). Tabelle 5 Alter der in den Jahren 1984 bis 1992 in der Bundesrepublik Deutschland gemäß den §§ 183 Abs. 1, 183 a StGB registrierten Tatverdächtigen219 Tatverdächtige im Alter von ... bis unter ... Jahren Jahr
Insg.
1984
3.104
20
83
151
302
492
487
715
593
169
92
1985
3.077
15
83
138
287
489
520
703
552
202
88
1986
3.156
28
84
118
253
461
570
741
589
226
86
1987
2.909
24
74
117
270
436
527
709
468
209
75
1988
3.215
23
71
109
265
463
572
767
550
290
105
1989
3.107
16
61
99
235
413
566
765
539
278
135
1990
2.994
15
50
88
201
400
562
785
467
316
110
1991
3.060
18
69
85
174
419
563
801
501
328
102
1992
3.214
10
58
87
181
401
560
891
538
374
114
unter 14
14-16 16- 18 18-21 21-25 25-30 30-40 40-50 50-60 60und mehr
Insg. abs.
907
in %
3,26
Quelle: PolSt 1984-1992, Tabellenanhang, jeweils Tabelle 20.
Auch die meisten einschlägigen Erhebungen gelangen bei regelmäßig nur geringfügigen Akzentverschiebungen zu ähnlichen Ergebnissen hinsichtlich der Altersverteilung der Täter exhibitionistischer Handlungen220 . So wurde etwa berichtet, unter 613 in die Betrachtung einbezogenen Tätern seien allein 166 (= 27,1 %) 21- bis 25jährige, 114 (= 18,6 %) 26- bis 30jährige sowie 75 (= 12,2 %) 31- bis 35jährige gewesen221 . Nach anderen Untersuchungen waren von 62 Tätern 39 (= 62,9 %) 21- bis 39jährig222, von 83 Exhibitionisten 12,2 % 21- bis 25jährig, 21 9 Für die Jahre 1991 und 1992 beziehen sich die Zahlen auf das Bundesgebiet einschließlich der neuen Bundesländer, vgl. PolSt 1991, S. 305, und 1992, S. 6. 220 Z.B. Koopmann, S. 20; Geilt, S. 351 ff.; Kolle 1932a, S. 429; Otto, S. 24; Benz, S. 127; wegen seiner besonderen Tätergruppe anders Körner, S. 81 , der unter 40 gemäߧ 183 StGB Beschuldigten 20 zur Tatzeit 55- bis 59jährige, sechs 60- bis 64jährige, zehn 65- bis 69jährige und je einen 70- bis 74jährigen, 75- bis 79jährigen, 80- bis 84jährigen und 85- bis 89jährigen zählte. 221 Müller, H.J., S. 98. 222
Weihrauch, S. 88.
60
3. Teil: Tatsituation und Auswirkungen auf die Tatzeugen Tabelle 6 Alter der wegen exhibitionistischer Handlungen (§ 183 Abs. 1 StGB) in den Jahren 1982 bis 1991 in der Bundesrepublik Deutschland rechtskräftig Verurteilten Verurteilte im Alter von ... bis unter ... Jahren
Jahr
Insg.
14-16 16- 18 18-21 21-25 25-30 30-40 40-50 50-60 60-70 70und mehr
1982
852
11
30
90
166
155
2I4
135
44
6
I
I983
904
19
3I
66
171
152
223
I76
51
IO
5
I984
868
I2
36
80
167
I6I
20I
I63
35
I2
I
I985
814
12
29
75
175
145
162
155
46
13
2
1986
746
8
24
53
139
151
196
118
45
10
2
1987
732
5
33
64
109
150
191
124
46
8
2
1988
812
11
I2
69
138
177
206
137
47
11
4
1989
783
3
21
66
111
175
208
115
66
13
5
1990
730
4
11
40
112
I 51
189
140
62
17
4
1991
672
7
13
38
111
149
168
108
6I
I4
3
Insg. abs.
29
in%
0,37
Quelle: StrafSt l982- 1987, jeweils Tabelle 1, sowie ab 1988 jeweils Tabelle 2.1.
30,5 % 26- bis 30jährig, 23,1 % 31- bis 35jährig und erneut 12,2% 36- bis 40jährig223 sowie unter 63 Tätern 43 (= 68,5 %) 21- bis 40jährige224. Soweit in einer Arbeit bei einer allerdings nur 38 Personen umfassenden Gruppe von einem auffällig hohen Anteil Jugendlicher (22 %) die Rede war, dürfte dies auf einer entsprechenden Selektion durch die zuständigen Gerichte beruhen, die die Begutachtungsaufträge erteilt hatten225 . Andererseits könnte eine gewisse Überhöhung der Zahl jugendlicher Täter feststellbar sein, sofern man darauf abstellt, in welchem Lebensalter mit den exhibitionistischen Handlungen begonnen wurde226 . cc) Mit der Frage 5 des Erhebungsbogens wurde das Alter der Täter der für den bezeichneten Erfassungszeitraum in Berlin (West) gerichtlich festgestellten 106 exhibitionistischen Handlungen untersucht. Dabei wurde eine den bisherigen Erkenntnissen ähnliche Altersverteilung ersichtlich. Die quantitativ stärkste Gruppe bildeten 27 (= 25,47 %) 36- bis 40jährige, gefolgt von 17 (= 16,04 %) 21- bis 223 224 225 226
Schorsch 1971, S. 103. Beck, S. 63. Vgl. Pietzcker, S. 37. S. Wille 1966, S. 107; ferner Benz, S. 128.
II. 2. Taterbezogene Kriterien
61
Tabelle 7 Alter der wegen exhibitionistischer Handlungen (§ 183 Abs. 1 StGB) in den Jahren 1981 bis 1991 in Berlin rechtskräftig Verurteilten Verurteilte im Alter von ... bis unter ... Jahren Jahr
Insg.
1981
6
1982
10
1983
7
1984
11
1985
14-16 16-18 18-21 21-25 25-30 30-40 40-50 50-60 60-70 70und mehr -
3
3
I
2
3
2
2
2
I
I
3
I
4
2
I
4
4
5
I
I
2
2
-
I
-
-
16
-
I
I
1989
13
-
-
1990
11
-
-
-
-
-
-
-
-
I
-
-
I
-
-
-
19
-
-
1986
16
-
1987
16
1988
1991
13
-
-
-
I
-
-
-
-
-
I
-
-
4
-
-
I
6
4
-
-
-
2
6
5
2
-
-
I
3
5
3
2
-
-
I
2
I
5
3
I
-
-
I
2
-
2
5
I
-
-
3
4
2
2
-
-
I
-
I
-
Insg. abs. in%
0,7
Quelle: StrafSt Bin 1981- 1991, jewei1s Tabelle I. I.
25jährigen und jeweils 15 (= 14,15 %) 26- bis 30jährigen bzw. 46- bis 50jährigen. Bei der Beurteilung dieser Zahlen ist zu berücksichtigen, daß die Täter für jede begangene Tat jeweils gesondert gezählt wurden, so daß es zum Teil zu nicht unerheblichen Überhöhungen kam. Ein zur Tatzeit 40jähriger Mann wurde auf diese Weise neunmalerfaßt (Fälle 82 bis 90), ein 50- bzw. 5ljähriger siebenmal (Fälle 2 bis 8), ein 33-, 34- bzw. 36jähriger und ein 23jähriger jeweils sechsmal (Fälle 33 bis 38 und 51 bis 56), ein 33- bzw. 36jähriger und ein 40-,41-,43- bzw. 44jähriger Täter jeweils viermal (Fälle 1, 9 bis 11 und 67, 91, 103, 104) sowie ein 29- bzw. 30jähriger Mann dreimal (Fälle 43 bis 45). Die weitere Verteilung in die einzelnen Alterskategorien ergab, daß zwölf Tater (= 11,32 %) zur Tatzeit 31 bis 35 Jahre, sieben (= 6,60 %) 41 bis 45 Jahre und immerhin sechs(= 5,66 %) 51 bis 55 Jahre alt waren. Dagegen handelte es sich bei nur jeweils drei (= 2,83 %) der verurteilten Exhibitionisten um Jugendliche bzw. Heranwachsende. Ein Täter(= 0,94 %) war 65 Jahre alt (Fall 77). Insgesamt ließ sich den Zahlen entnehmen, daß die Altersstufen, bei denen Abwehrbereitschaft und -chancen der Tatzeugen als am größten vermutet wurden, zahlenmäßig kaum ins Gewicht fielen.
62
3. Teil: Tatsituation und Auswirkungen auf die Tatzeugen
c) Vorbelastungen und -strafen aa) Im Rahmen der Darstellung des Gesetzgebungsverfahrens und der dort angegebenen Gründe für die Strafbarkeit exhibitionistischer Handlungen (vgl. im 1. Teil, 2. e) wurde bereits erörtert, daß es sich nach überwiegender Auffassung bei Exhibitionisten um über Jahre hinweg meist ausgesprochen monotrope, dabei aber häufig in Erscheinung tretende Straftäter handeln soll227 • Danach ließe sich annehmen, daß eine Durchsicht der Registerauszüge der in die Untersuchung einbezogenen Tater zu dem Ergebnis führt, daß ein nicht unerheblicher Anteil Vorbelastungen oder -strafen aufweist, diese aber im wesentlichen auf Exhibitionen beruhen. Dafür könnte auch sprechen, daß im eigenen Material zwar 49 Tliter wegen jeweils einer exhibitionistischen Handlung, aber acht Tliter wegen zweier Taten verurteilt wurden, während die übrigen 41 festgestellten Taten von (nur) sieben Tätern begangen wurden, wobei einer dreimal, je zwei viermal bzw. sechsmal und je einer siebenmal bzw. elfmal auffällig wurde228 • Würde sich die bezeichnete Annahme bestätigen, d. h. enthielten die Registerauszüge tatsächlich im wesentlichen Eintragungen gemäß § 183 Abs. I StGB, so könnte man dies als Indiz dafür ansehen, daß es sich bei Exhibitionisten um Personen handelt, die es bei der Entblößung ihres Geschlechtsteils bewenden lassen und sich darüber hinaus nicht aggressiv oder gefährdend verhalten. Dagegen könnte eine Eskalation der Tatsituation möglicherweise umso eher zu befürchten sein, je häufiger ein Tliter in der Vergangenheit wegen schwererer Sexual- oder (sonstiger) Gewaltdelikte strafrechtlich sanktioniert wurde229• Jedoch sind derartige Schlußfolgerungen verschiedenen Einwänden ausgesetzt. So könnte es sein, daß ein ausschließlich wegen exhibitionistischer Handlungen registrierter Tater beispielsweise mehrfach andere Straftaten unter Gewaltanwendung begangen hat, dies den Strafverfolgungsbehörden aber stets unbekannt geblieben ist. Unabhängig davon gibt ein Registerauszug, der lediglich Eintragungen wegen eines bestimmten Delikts enthält, ohnehin keine sichere Gewähr dafür, daß der Tliter sich auch in Zukunft wie bisher verhalten wird, auch wenn dies auf den ersten Blick plausibel erscheint und Eingang in materielle behördeninterne Handlungsnormen gefunden hat230. Gleichwohl werden Anzahl und Art bestehender Vorbelastungen oder -strafen trotz der gebotenen Zurückhaltung als Anhaltspunkte für die Größe des Risikos einer Eskalation der Tatsituation angesehen werden können. bb) In den bisherigen Veröffentlichungen läßt sich eine Vielzahl von Angaben zu Art und Umfang (zum Zeitpunkt der exhibitionistischen Handlung) bestehender 227
Steinhilper; S. 155; Witter 1972, S. 1064 f.; Wille 1986, S. 551 f.; Kentler I Schorsch,
s. 112.
Ähnliches schildern Müller; H.J., S. 84 ff., und Beck, S. 54. Vgl. zu mit strafrechtlichen Vorbelastungen in Zusammenhang stehenden Regelmäßigkeilen, aber auch zu diesbezüglichen Bedenken Eisenberg 1995, § 48 Rnr. 64. 230 S. dazu Eisenberg 1995, § 40 Rnrn. 13-18. 228 229
II. 2. Täterbezogene Kriterien
63
strafrechtlicher Sanktionierungen finden 231 . Teilweise wird die Ansicht vertreten, die in Rede stehende Tätergruppe weise eine ungewöhnlich hohe Zahl einschlägiger Vorstrafen auf232; umgekehrt sei es geradezu eine Seltenheit, wenn ein Exhibitionist nur einmal in seinem Leben "zur Aburteilung" komme 233 . Dementsprechend wurde berichtet, von (allerdings nur) 38 begutachteten Personen seien 85 % vorbestraft gewesen, davon 50 % wegen nichtsexueller Delikte, 66 % wegen sexueller Delikte einschließlich Exhibitionen, 29 % ausschließlich wegen sexueller Delikte und 27 % ausschließlich wegen Exhibitionismus234• Nach einer anderen Arbeit waren von einer 83 Exhibitionisten umfassenden Gesamtgruppe nur 13,4 % nicht vorbestraft; unter Einschluß dieser Gruppe habe jeder im Mittelwert 3,97 Vorstrafen (2,79 sexuelle und 1,18 nichtsexuelle Vorstrafen) gehabt235 . Bezüglich dieser Werte kann eine selektionsbedingte Überhöhung wohl nicht ausgeschlossen werden. Eine weitere Untersuchung gelangte in gewisser Abweichung davon zu dem Ergebnis, daß von 613 ermittelten Tatern exhibitionistischer Handlungen die Hälfte (306) vorbestraft war, und zwar 137 Täter einmal, 65 zweimal, 43 dreimal, 18 viermal sowie 43 fünfmal oder öfter. 241 Vorstrafen waren einschlägig, während z. B. 195 wegen Diebstahls und Unterschlagung, 119 wegen Verkehrsdelikten, 51 wegen Betruges, Untreue und Urkundenfälschung sowie 40 wegen anderer Sittlichkeitsdelikte, ferner 39 wegen Körperverletzungen, 20 wegen gemeingefährlicher Delikte und (nur) eine wegen Totschlags verhängt wurden. 148 Täter waren einschlägig vorbestraft, davon 102 einmal, 22 zweimal, 14 dreimal, zwei viermal und acht fünfmal oder öfter; genau die Hälfte war ausschließlich einschlägig vorbestraft236. Zu ähnlichen Daten kommen auch andere Erhebungen. Von den 62 namentlich festgestellten Tatern der vom I. Januar 1972 bis 31. Dezember 1975 den Strafverfolgungsbehörden in Kaiserslautern bekanntgewordenen Exhibitionen hatten 25 Vorstrafen, während dieselbe Anzahl unbestraft war; bei elf Personen blieb die Frage der Vorbelastungen offen. Alle gegen einen weiteren Täter zuvor geführten Verfahren waren wegen Schuldunfähigkeit eingestellt worden. Zehn Personen waren einmal vorbestraft, sechs zweimal, je zwei drei- bzw. viermal, drei fünfmal oder öfter. In zwei Fällen war die Zahl der Vorstrafen unbekannt. Einschlägig vorbestraft waren 16 Tater237 • An anderer Stelle wurde berichtet, daß von 142 in die 231 Einen kurzen Überblick gibt Kaiser 1988, § 76 Rnm. 15-17; s. ferner Witter 1976, S. 730, der meint, daß bei einem "typischen" Exhibitionisten auch wiederholtes Bestrafen spezialpräventiv wirkungslos bleiben könne. 232 Wille 1986, S. 551; Geill, S. 351 ff., beschreibt zwölf von ihm untersuchte Täter mit z.T. mehrfach einschlägigen Vorstrafen; Plaut, S. 36f., berichtet von einem Täter, gegen den in 34 Jahren 15 von insgesamt 16 Verurteilungen wegen Exhibitionismus ergangen waren; s. auch die Fallbeschreibungen bei Chilian, S. 36ff., und Boeters, S. 418 ff. 233 So Leers, S. 365. 234 Pietzcker, S. 136. 235 Schorsch 1971, S. 111 f. 236 Vgl. Müller, H.J. , S. 133 ff., 138.
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3. Teil: Tatsituation und Auswirkungen auf die Tatzeugen
Betrachtung einbezogenen Tätern genau die Hälfte (71) keine Vorstrafen gehabt habe. Von der anderen Hälfte seien 32 Personen bereits ein- oder mehrmals wegen einer exhibitionistischen Handlung verurteilt worden238 . In anderem Untersuchungsmaterial handelte es sich in bis zu zwei Dritteln um einschlägige Vorstrafen, während sonstige Sexualdelikte rund 20 % und dabei sexuelle Gewaltkriminalität nur einen verschwindend geringen Anteil ausmachten. Lediglich ein Täter war einmal wegen versuchter Vergewaltigung verurteilt worden, dagegen gab es mit rund 30 % eine große Zahl von Vorstrafen wegen Diebstahls239. Schließlich sollen nach einer weiteren Untersuchung 32 von 63 Tätern (= 50,8 %) vorbestraft gewesen sein, davon 12 einschlägig. Die übrigen Vorverurteilungen hätten überwiegend Sittlichkeits- (7) und Verkehrsdelikte (5) zum Gegenstand gehabt240 • Die bisherigen Erkenntnisse lassen sich dahingehend zusammenfassen, daß (gut) die Hälfte der Exhibitionisten bereits vorbestraft ist. Die Anzahl der einschlägig Vorbestraften ist erheblich. Unter den Vorstrafen dominieren diejenigen wegen exhibitionistischer Handlungen. Im übrigen gibt es häufig Vorverurteilungen wegen Eigentums- und Vermögensdelikten sowie Verkehrsstraftaten. Deutlich niedriger ist der Wert der (sonstigen) Sexualdelikte und der Körperverletzungs- oder gar Tötungsdelikte. Ergänzend ist zu bemerken, daß der Anteil früher Verurteilter den entsprechenden Wert bei nach Jugendstrafrecht bzw. Allgemeinem Strafrecht insgesamt Verurteilten jedenfalls nicht so deutlich übersteigt, wie dies gelegentlich angenommen zu werden scheint241 . cc) Die Auswertung des eigenen Fallmaterials anhand der Fragen 6 und 7 des Erhebungsbogens ergab insoweit folgendes: Da die am Verfahren Beteiligten in sechs Fällen etwaige Vorbelastungen nicht ermittelt bzw. eventuell durchgeführte Ermittlungen nicht aktenkundig gemacht hatten, konnten für die Täter von genau 100 exhibitionistischen Handlungen die Vorstrafen untersucht werden. Dabei zeigte es sich, daß nur 34 Personen zum Tatzeitpunkt nicht vorbestraft oder -belastet waren, wobei es sich bei den Fällen 51 bis 56 um den jeweils selben Täter handelte. 14 Exhibitionisten waren zuvor einmal, drei zweimal, fünf dreimal, vier viermal und neun fünfmal verurteilt worden. Die letztgenannte Kategorie wurde jedoch tatsächlich von lediglich einem Täter erfüllt, der neunmal erlaßt wurde (Fälle 82 bis 90). Überraschend hoch war der Anteil der bereits mehr als fünfmal verurteilten Täter (31 ). Auch diesbezüglich war aber eine gewisse Überhöhung festzustellen, da die Fälle 2 bis 8 bzw. 33 bis 38 jeweils einen Verurteilten betrafen.
237 238 239 240 241
Weihrauch, S. 88. Otto, S. 33 f. Vgl. Benz, S. 134, 145. So Beck, S. 68 f. V gl. dazu und zur Häufigkeit der Vorbelastungen Eisenberg 1995, § 48 Rnrn. 73 ff.
li. 2. raterbezogene Kriterien
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Aufschlußreicher dürfte jedoch die Beantwortung der Frage sein, welche Delikte den Vorbelastungen im einzelnen zugrundelagen. Insgesamt waren gegen die 66 vorbelasteten Personen 399 nach dem Bundeszentralregistergesetz verwertbare Vorverurteilungen ergangen (= 6,05 pro Person). Davon waren 42 Täter (= 63,64 %242) wegen 171 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (§§ 174 bis 184 c StGB) strafrechtlich sanktioniert worden, darunter allein 138 exhibitionistische Handlungen und siebenmal Erregung öffentlichen Ärgernisses. Für die beiden letztgenannten Delikte ergaben sich keine Hinweise auf ein strafrechtlich relevantes aggressives Täterverhalten, z. B. in Form einer Verurteilung wegen einer zusätzlich begangenen vorsätzlichen Körperverletzung. In 25 Fällen war nach § 176 StGB verurteilt worden, und zwar ganz überwiegend gemäß Absatz 5 Nr. 1. Lediglich ein Täter war wegen einer versuchten Vergewaltigung (in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung und Trunkenheit im Verkehr) bestraft worden. In immerhin 31 Verfahren waren die jeweiligen Täter(= 46,97 %) bereits wegen zusammen 51 (sonstigen) Straftaten unter Anwendung von Gewalt gegen Personen oder von Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben verurteilt worden. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, daß es sich bei 15 dieser Verfahren (Fälle 33 bis 38 bzw. 82 bis 90) tatsächlich nur um zwei mehrfach aufgefallene Männer handelte. Das Schwergewicht der Taten lag im Bereich der vorsätzlichen und gefährlichen Körperverletzungen. Darüber hinaus ließen sich aber auch Vorstrafen finden wegen im Jahr 1963 begangenen Totschlags (im minder schweren Fall; verübt durch den Täter der Fälle 21 und 23), versuchten schweren Raubes (Fall 24), Raubes (Fall 31), erneut versuchten schweren Raubes sowie versuchter schwerer räuberischer Erpressung (begangen jeweils durch den Täter der Fälle 33 bis 38) und schließlich versuchten Totschlags (Fall 39). 35 der 66 vorbelasteten Täter(= 53,03 %) waren (teilweise zudem) wegen insgesamt 81 (sonstigen) Eigentums- und Vermögensdelikten bestraft. In dieser Kategorie dominierten deutlich Verurteilungen wegen Diebstahls. Für 52 Personen (= 78,79 %) waren endlich strafrechtliche Reaktionen wegen 96 sonstiger Straftaten registriert. Darunter befanden sich häufig mit dem Straßenverkehr in Zusammenhang stehende Delikte, z. B. Fahren ohne Fahrerlaubnis, unerlaubtes Entfernen vom Unfallort, fahrlässige Körperverletzung und Verstöße gegen das Pflichtversicherungsgesetz. Auch Vorbelastungen wegen Vollrauschs und Beleidigung waren nicht selten, wobei letztere z.T. auf sexueller Grundlage erfolgte (z. B. zweimal beim Fall 49; der Täter des Falls 93 war zuvor wegen Fassens an die bekleidete Brust einer Frau sowie wegen sexueller Belästigungen aufgefallen). Im Vergleich zu bisherigen Arbeiten war der Anteil der vor ihrer Exhibition strafrechtlich noch nicht in Erscheinung getretenen Täter relativ gering, während überraschend viele Personen bereits mehr als fünfmal verurteilt waren. Unter den Vorverurteilungen befand sich jedoch erwartungsgemäß eine große Anzahl exhibi242 Wegen Mehrlacherlassung bei den verschiedenen Deliktsgruppen wird der Wert insgesamt deutlich über 100 % liegen.
5 Sander
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3. Teil: Tatsituation und Auswirkungen auf die Tatzeugen
tionistischer Handlungen. Innerhalb der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung war lediglich ein Tater wegen einer versuchten Vergewaltigung vorbestraft. Andere Delikte unter Anwendung von Gewalt gegen Personen oder von Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben waren zwar nicht ganz selten (== 12,78 % aller Vorstrafen), gingen aber meist nicht über (ggf. gefährliche) Körperverletzungen hinaus. Im übrigen gab es des öfteren Eintragungen wegen Eigentums-, Vermögens- und Verkehrsdelikten. d) Zusammenfassung
Die Durchsicht des eigenen Aktenmaterials führte zu dem Ergebnis, daß sämtliche 106 Exhibitionen von jeweils (nur) einem Tater vorgenommen wurden. Die Auswertung der Alterszusammensetzung ergab, daß die Altersstufen, bei denen Abwehrbereitschaft und -chancen der Tatzeugen als am größten vermutet wurden, zahlenmäßig kaum ins Gewicht fielen. Die Annahme, daß ein nicht unerheblicher Anteil der in die Untersuchung einbezogenen Tater strafrechtliche Vorbelastungen aufweise, diese aber vor allem auf exhibitionistischen Handlungen beruhen würden, wurde weitgehend bestätigt. Straftaten unter Anwendung von Gewalt gegen Personen oder von Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben waren zwar nicht ganz selten, jedoch von der Deliktsschwere her eher im unteren Bereich angesiedelt. Die Befürchtung, eine Eskalation der Tatsituation exhibitionistischer Handlungen sei mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu erwarten, läßt sich darauf (allein) wohl nicht in tragfähiger Weise stützen.
3. Intensität des Talerverhaltens bei Begehung der Tat Im Hinblick auf das Erkenntnisinteresse kommt dem Taterverhalten in der konkreten Tatsituation im allgemeinen und der Gestaltung der exhibitionistischen Handlung im besonderen große Bedeutung zu. Erheblich für die Bewertung des Taterlebnisses durch die belästigte(n) Person(en) könnte es in diesem Zusammenhang sein, ob die Tater in aktiver Weise versucht haben, auf sich aufmerksam zu machen oder gar einen Kontakt herzustellen. Untersucht werden soll zudem die Frage, ob und ggf. in welcher Weise die Tater aggressiv wurden und ob sie bei Begehung der Tat bewaffnet waren. Schließlich kann für die Intensität des Verhaltens der Täter auch deren eventuelle Alkoholisierung relevant gewesen sein.
II. 3. Intensität des Taterverhaltens bei Begehung der Tat
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a) Exhibitionistische Handlung
aa) Im Zentrum des Interesses steht das exhibitionistische Verhalten selbst. So könnte etwa die Exhibition im Sinne des bereits skizzierten ethologischen Ansatzes von der Demonstration der Macht (s. oben im 2. Teil, 2. b) von den Tatzeugen dann als bedrohlicher eingestuft werden, wenn diese ein erigiertes Glied zum Gegenstand hat. Aber auch sonstige Begleitumstände könnten von Wichtigkeit sein, beispielsweise der Grad der Entblößung. Da es außerhalb des Privatbereichs - von Ausnahmesituationen abgesehen - eher unüblich ist, einen entkleideten Körper zu sehen, kann vermutet werden, daß eine belästigte Person das Tatgeschehen als umso ungewöhnlicher und negativ überraschender einschätzen wird, je mehr sich der jeweilige Täter ausgezogen hat. In dieselbe Richtung geht die Frage, ob der Täter - möglicherweise bis zur Ejakulation - onanierte oder in sonstiger Weise an seinem Geschlechtsteil manipulierte. Ein derartiges Verhalten könnte (primär von Frauen) als ekelerregend, abstoßend oder beängstigend empfunden werden. bb) Der zumeist täterorientierten wissenschaftlichen Literatur lassen sich zur aufgezeigten Problematik diverse Erkenntnisse entnehmen. So wird regelmäßig unterschieden zwischen Exhibitionisten, die ausschließlich ihr Geschlechtsteil entblößen, und solchen, die darüber hinaus weitere Körperpartien teilweise bis zur völligen Nacktheit entkleiden243 • Das zahlenmäßige Übergewicht soll eindeutig bei der ersten Gruppe liegen244 . Bei einer Auswertung von 551 Hamburger Fällen zeigten sich z. B. nur 40 Täter vollkommen nackt oder mit zumindest nacktem Unterkörper245 . Relativ selten246 sind Schilderungen von Fällen, in denen die exhibitionistische Handlung in irgendeiner Form vorbereitet wurde. In dieser Richtung außergewöhnlich war das Verhalten eines Täters, der sich an verschiedenen günstigen Örtlichkeiten kleine Hütten oder Unterstände gebaut hatte, die allseitig geschlossen waren und nur eine Öffnung für sein Geschlechtsteil und einen Sehschlitz aufwiesen247 . Meistens soll sich die Vorbereitung dagegen darauf beschränken, die eigene Kleidung so zu präparieren, daß eine Exhibition ggf. schnell erfolgen kann. Dies kann etwa in der Form geschehen, daß der Täter sein Geschlechtsteil bereits entblößt und bis zur Tatbegehung mit einem Mantel oder einem anderen Gegenstand verdeckt248. Eine derartige Vorbereitungstechnik soll insbesondere bei in öffentlichen 243 S. etwa Grassberger, S. 558 f.; zu den Ausführungsarten ferner Pietzcker, S. 6 ff.; auch Staehelin, S. 533, berichtet von einem Tater, der sich nachts bisweilen völlig nackt auf die Straße begab. 244 Müller, H.J., S. 71 ff.; Beck, S. 48. 245
an.
Otto, S. 19 ff.; Benz, S. 113, gibt den entsprechenden Wert mit rund 5 %noch niedriger
246 Im Material von Müller, H.J., S. 67, waren nur in 30 (= 4,0 %) von 763 Einzeltaten vorbereitende Maßnahmen getroffen worden. 247 Müller, B., S. 77, 84.
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3. Teil: Tatsituation und Auswirkungen auf die Tatzeugen
Verkehrsmitteln begangenen Taten verbreitet sein249. Darüber hinaus wird gelegentlich von Tätern berichtet, die ihre Kleidung eigens zur Begehung exhibitionistischer Handlungen umarbeiten, und insofern von sogenannter "Exhibitionistenkleidung" gesprochen250 . Beispielsweise soll ein Täter das Oberteil einer Hose abgeschnitten und die Hosenbeine mit Sockenhaltern an seinen Oberschenkeln befestigt haben251 . Weniger aufschlußreich sind die bislang vorliegenden Veröffentlichungen bezüglich der Frage, ob anläßtich der exhibitionistischen Handlung regelmäßig ein erigiertes Glied präsentiert wird. Wenngleich dies überwiegend der Fall zu sein scheint, beschränken sich manche Täter auf das Zeigen ihres Geschlechtsteils in nichterigiertem Zustand252. Es wird die Ansicht vertreten, es könnte sich dabei um eine T