Zur Geschichte des Mittelalters: Ausgewählte historische Essays [Aus dem engl. übers. Reprint 2019 ed.] 9783111463247, 9783111096223


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German Pages 329 [340] Year 1886

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Table of contents :
Vorrede.
Inhaltsverzeichnis
Das heilige römische Reich
Die Franken und die Gallier
Die früheren Belagerungen von Paris
Friedrich der Erste. König von Italien
Kaiser Friedrich der Zweite
Die Folgerichtigkeit der englischen Geschichte
Die Beziehungen zwischen den Kronen von England und Schottland
Der heilige Thomas von Canterbury und seine Biographen
Die Regierung Eduard des Dritten
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Zur Geschichte des Mittelalters: Ausgewählte historische Essays [Aus dem engl. übers. Reprint 2019 ed.]
 9783111463247, 9783111096223

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Jur Geschichte des Mittelalters.

Geschichte des Mittelalters. Ausgewählte historische Essays von

Löwavö N. Mreeman. Aus dem Englischen übersetzt von

C. I. Locher. „Gallorum levitas Germanos justificabit; Italiae gravitae Gallos confuaa necabit; Succumbet Gallus, aquilae viclricia regna Mundus adorabit, erit urbs vix praesule digna Papa cito moritur, Caesar regnabit ubique, Sub quo tune vana cessabit gloria cleri.“ Peter Langtoft, II, 460.

Straßburg. Verlag von Karl I. Trübner.

G. Ollo’j Hof-Vuchdruckerei in Darmftadt.

Vorrede. Bei dem Versuch, einige Abhandlungen des geistvollsten und bedeutendsten unter den gegenwärtig lebenden Historikern Englands dem Deutschen Leser zugänglich zu machen habe ich mich auf die­ jenigen beschränkt, welche der Beurteilung wichtiger Fragen und Figuren der mittelalterlichen Geschichte gewidmet sind: wobei außer solchen, die Freeman selbst als geeignet für „festländische Leser" ausgewählt hat (Select historical Essays, Leipzig 1873), auch einige der speciell die englische Geschichte behandelnden die Aufnahme zu verdienen schienen. Ich bemerke noch, daß ich in der Übersetzung, die keine freie, sondern eine fast wörtliche ist, ein möglichst getreues Abbild des Originals, auch was Styl und Ausdrucksweise des Autors anbe­ langt, zu geben mich bemüht habe. Darmstadt, Juli 1886.

Der Aversetzer.

Mintfstieqetrsimjj. Seite.

Das heilige römische Reich.............................................................. 1 Die Franken und die Gallier......................................................... 43 Die früheren Belagerungen von Paris............................................ 98 Friedrich der Erste. König von Italien............................................ 152 Kaiser Friedrich der Zweite..................................................................190 Die Folgerichtigkeit der englischen Geschichte...................................... 228 Die Beziehungen zwischen den Kronen von England und Schottland . 243 Der heilige Thomas von Canterbury und seine Biographen .... 275 Die Regierung Eduard des Dritten............................................ .316

I.

Das heiligt römische Reich. (The Holy Roman Empire

By James Bryce, B A. Oxford 1864. — North British Review, March 1865.)

Es mag als ein harter Ausspruch erscheinen, der aber durch die Thatsachen völlig bewiesen ist, daß kaum einer von zehnen, die sich mit mittelalterlicher Geschichte beschäftigen', den einzigen Schlüssel zu dem ganzen Gegenstand wirklich erfaßt, ohne welchen die mittelalterliche Geschichte einfach ein unverständliches Chaos bleibt. Dieser Schlüssel ist kein anderer, als das fortdauernde Be­ stehen des römischen Reichs. So lange man zu glauben gelehrt wird, daß das Reich int Jahr 476 ein Ende nahm, wird ein wahres Berstehen der nächsten tausend Jahre ganz unmöglich. Niemand kann weder die Politik noch die Literatur dieser ganzen Zeit verstehen, wenn er nicht beständig im Gedächtniß behält, daß in der Vorstellung der Menschen jener Tage das römische Reich, das Reich des Augustus, Constantin und Justinian, nicht ein Ding der Vergangenheit war, sondern ein Ding der Gegenwart. Ohne die mittelalterliche Vorstellung vom Reich zu begreifen, ist es un­ möglich, die Vorstellung vom Papsttum zu begreifen und dem Entwickelungsgang desselben zu folgen. Ohne die Stellung des Reichs zu verstehen, ist es ttnmöglich, den Ursprung und die Ent­ wickelung der verschiedenen europäischen Staaten richtig zu verstehen. Free man, htstor. Abhandlungen.

1

2

Das heilige römische Reich.

Ohne ein solches Verständnis wird die Geschichte der Nationen, welche mit dem Reich verbunden blieben, ebenso sicher mißverstanden werden, wie die Geschichte der Nationen, welche sich von demselben trennten.

Betrachtet man sie nicht im Licht der kaiserlichen Idee,

so wird die ganze Geschichte von Deutschland, Italien und Burgund ein unlösbares Rätsel.

Der

Streit

zwischen

Hildebrand

und

Heinrich verliert zur Hälfte seine Bedeutung, die ganze Stellung der schwäbischen Kaiser wird zu einem unlöslichen Durcheinander, die gefeilteste

Prosa und die leidenschaftlichsten Verse

sinken zu zwecklosem Kauderwälsch sache nicht

vollständig

erfassen,

Dante's

herab, wenn wir die That­ daß

in

der Vorstellung

des

ganzen zeitgenössischen Europa die Hohenstaufen die direkten und gesetzlichen Nachkommen der Julier waren.

Wie Deutschland, einst

der am meisten geeinigte Staat des westlichen Europa, sich Schritt für Schritt losesten

aus einem geschlossenen, starken Reich

Confödetationen

verwandelte,

werden, wenn wir nicht nachweisen,

kann

in eine der

niemals

verstanden

wie das deutsche Königreich

durch das Gewicht des erhabeneren Diadems,

welches auf der

Stirn seiner Könige ruhte, zertrümmert und in Stücke gebrochen wurde.

Jene Verdrehungen der ganzen

mit welchen französische Historiker und Unbedachten werden

durch

zu

täuschen

eine

wissen,

vollständige

europäischen Geschichte,

französische Politiker den

können

nur

Bekanntschaft

ganz klargelegt mit

der

wahren

Stellung und der wahren Nationalität jener germanischen Könige und Cäsaren, welche der Gallier als seine Landsleute als seine Herrn zu betrachten so geneigt ist.

und nicht

Die Beziehungen

zwischen Ost- und Westeuropa sind uns nur begreiflich,

wenn

uns das Verständnis der wirklichen Natur jener rivalisirenden Reiche aufgegangen ist, von denen jedes versicherte mtb glaubte, selbst

der einzige wirkliche und rechtmäßige Besitzer des

Nach­

lasses des alten Roms zu sein.

Wir sehen nur undeutlich unsern

Weg durch den langen Kampf

zwischen

den» Osten

und

dem

Das heilige römische Reich. Westen,

zwischen

dem

Christentum

und

3 dem

Islam,

wenn

wir nicht völlig die Stellung des Cäsars, des Oberherrn Christenheit, und des

der

Kalifen, des Oberherrn des Islam er­

fassen; wenn wir nicht in der verwickelten wechselseitigen Durch­ dringung des geteilten Kaisertums und des geteilten Kalifats zugleich erkennen, was

die

Idee des Christen und des Moslems war,

und wie weit beide Ideen davon entfernt waren, in ihrer ganzen Ausdehnung durchgeführt zu werden.

In einem Wort, wie wir

es zu Beginn aussprachen, die Geschichte des Kaisertums ist der Schlüssel zu der gesammten Geschichte des mittelalterlichen Europa, und sie ist ein Schlüssel, der bis jetzt in weit weniger Händen gefunden wird als es sich gebührte. Die englischen

unmittelbare

Ursache

Geschichtsforscher,

die

des

Unvermögens der meisten

hervorragende

Wichtigkeit der

Kaisergeschichte zu erkennen, muß sicherlich in dem Faktum gefunden werden, daß kaum eines der Werke, aus denen Forscher ihre Kennt­ nisse schöpfen, der Geschichte des Kaisertums den ihr gebührenden Hauptplatz einräumt.

Dies ist in der That wenig mehr

als

eine einleuchtende Wahrheit. Die Frage ist, woher es kommt, daß selbst fähige und wohl­ unterrichtete

englische Schriftsteller es unterlassen haben,

diesen

höchst wichtigen Abschnitt der Geschichte so zur Geltung zu bringen, als er zur Geltung gebracht werden sollte.

Die Ursachen sind,

wie uns scheint, ziemlich leicht ersichtlich. Erstens.

Unsre national-englische Geschichte

ist

weniger

durch die Geschichte des Reichs in Mitleidenschaft gezogen worden, als die irgend eines andern europäischen Landes.

England, Schweden

und Spanien, in ihrer insularen und peninsulareu Lage, waren diejenigen Teile Europa's, auf welche der kaiserliche Einfluß am schwächsten war, und unter diesen Dreien war jener Einfluß auf England schwächer als auf Spanien, und nicht viel stärker als auf Schweden.

Direkten Zusammenhang mit dem Reich hatte England

4

Das heilige römische Reich.

sehr wenig, und Schottland noch weniger.

Die äußere Geschichte

Englands berührt in der That hin und wieder die Geschichte des Reichs in der Weise, in welcher die Geschichte eines jeden euro­ päischen Staates hin und wieder die Geschichte eines jeden andern europäischen Staates berühren muß.

Ein oder zweimal in einem

Jahrhundert

Kaiser

Feind, in land

trifft einem

sie

auf

einen

Fall als möglichen

das geistliche

Rom

mit einem

so versorgte es das weltliche Nom

als

Oberherrn. einzigen

Freund

oder

Wie

Eng­

Papst versorgte,

mit einem einzigen König,

einem König, der seine Hauptstadt nie besuchte, noch je die Krone und den Titel eines Augustus erhielt.

Aber die

ganze

innere

Geschichte Englands, und der größere Teil seiner äußeren Geschichte nahmen ihren Verlauf, fast als ob es überhaupt kein heiliges römisches Reich gegeben hätte.

Unser

einziger Moment engster

Verbindung mit dem Reich macht es Hat ersichtlich, wie lose, im Vergleich mit dem anderer

Nationen,

sammenhang mit dem Reich war. kennt

den Namen Richards,

unser

gewöhnlicher Zu­

Jeder Leser englischer Geschichte

des Grafen

von Cornwall

und

Königs der Römer, und kennt die Nolle, die er in der inneren Politik Englands spielte.

Aber sehr wenige Leser, und ich fürchte

keineswegs alle Schreiber englischer Geschichte scheinen eine klare Vorstellung davon zu haben, was ein König der Römer war. Auf Schottland hatte das römische Reich in der That in einer Beziehung einen höchst wichtigen inneren Einfluß, durch die Be­ deutung, welche schottische Juristen, in so auffälligem Gegensatz zu denen Englands, während einer so langen Zeit dem römischen Recht beilegten.

Indeß dies ist einfach der Fall, weil schottische

Gesetzgeber und Juristen es so haben wollten; auf die wirklichen Ereignisse der schottischen Geschichte, der äußeren wie der inneren, hatten das Reich und seine Lenker sogar noch weniger Einfluß, als auf die von

England.

Da

somit

unsre

eigene nationale

Geschichte geschrieben und verstanden werden kann mit sehr wenig

Das heilige römische Reich.

5

Bezugnahme auf das heilige römische Reich, so sind britische Leser einer starken Versuchung ausgesetzt, den Einfluß des heiligen römischen Reichs auf die allgemeine Weltgeschichte zu unterschätzen. Zweitens. Wenn britische Leser sich aus de» Grenzen ihrer eigenen Insel hinausbegeben, wird nicht allein ihre Aufmerk­ samkeit in der Regel nicht auf die Geschichte des Reichs gelenkt, sondern sie wird auf eine solche gelenkt, die der Geschichte des Reichs gradezu feindlich gegenüber steht. Frankreich, so lange Englands Rival, und deßhalb so lange der Verbündete Schottlands, ist das Land, mit welchem, nächst ihrem eigenen, die meisten britischen Leser am meisten vertraut sind. Nun steht es fest, daß niemand, der fran­ zösische Geschichte durch Franzosen kennen lernt, jemals die Geschichte des Reichs richtig zu verstehen im Stande ist. Die ganze Geschichte Frankreichs, richtiger die Geschichte der Pariser Könige, war während sechshundert Jahren eine lange Erzählung von Ver­ größerungen auf Kosten des Reichs. Von der Annexion von Lyon bis zur Annexion Savoyens bildete alles die Handlung eines großen Dramas, eines Dramas, in dem die Verwüstung der Pfalz, die Wegnahme von Straßburg im Frieden, die Tyrannei des ersten Bonaparte über die ganze deutsche Nation bekannte und charakteristische Momente sind. Die französische Geschichte besteht hauptsächlich aus einem Register der dem späteren und schwächeren Reich zugefügten Gewaltthaten, eingeleitet durch ein anmaßendes Sichaneignen der Ruhmestitel des Reichs aus den Tagen seiner ehemaligen Größe. Nach der officiellen und populären französischen Anschauung werden zwei große deutsche Dynastien, welche das heutige Frankreich als eine ihnen unterthane Provinz besaßen, mit guter Art in Nationalfranzosen verwandelt. Der größte der deutschen Könige, der erste der deutschen Kaiser, Karl, der Herr von Rom und Aachen, verkehrt sich in befremdlicher Weise in einen französischen Kaiser des Westens, ja selbst in den Vorgänger Bonapartes. Die alten Grenzen europäischer Geographie werden

6

Das heilige römische Reich.

vermischt, die Namen der berühmtesten Städte werden verstümmelt oder barbarisirt, um den Resultaten sechshundertjähriger Intrigue und Gewaltthat einigermaßen den Schein des Rechts und des Bestehens von. Alters her zu verleihen. Die französische Geschichte, wie sie Engländern in der Regel geboten wird, existirt nur durch eine systematische Entstellung der Geschichte des Reichs. Ehe alle fran­ zösischen Beeinflussungen völlig bei Seite gesetzt und unter die Füße getreten sind, kann die wahre Geschichte des heiligen römischen Reichs nicht verstanden werden. Drittens. Es erscheint nicht als unwahrscheinlich, daß die gerechte und hochherzige Sympathie, welche wir alle für das wieder­ erstandene Italien empfinden, einigermaßen dazu diente, den wahren Charakter des Reichs zu verdunkeln. So viele östreichische Erz­ herzöge waren erwählte Könige von Deutschland und Kaiser der Römer, daß man nach und nach dazu gelangte, das Haus Oestreich und das römische Reich zu identificiren. Nichts ist gewöhnlicher, als den Titel „Kaiser von Oestreich", die ungeheuerlichste Er­ findung moderner Diplomatie, auf das letzte Jahrhundert, und selbst auf frühere Zeit nickübertragen zu sehen. Selbst Sir Walter Scott scheint in einigen seiner Novellen, z. B. Anna von Geierstein, große Schwierigkeit gehabt zu haben, sich der Auffassung zu erwehren, daß jeder Kaiser Erzherzog von Oestreich, und jeder Erzherzog von Oestreich Kaiser gewesen sein müsse. Wir haben Friedrich Barbarossa zum Oestreicher machen sehen, weil er ein Kaiser war: wir haben die Leopolde von Morgarten und von Sempach zu Kaisern erhöhen sehen, weil sie Oestreicher waren. So hat inan gelernt, zwei Dinge zu identificiren, die unähnlicher nicht gedacht werden können, und die alte Wirklichkeit mit denselben Augen zu betrachten, mit welchen man die moderne Fälschung be­ trachtet. Die Abneigung, welche jedes edle Gemüt gegen die Unterdrücker des heutigen Italiens empfindet, wird so aus jenes frühere Reich übertragen, welches der Theorie nach immer und in

Das heilige römische Reich.

7

Wirklichkeit oft eben so italienisch als deutsch war.

Wie Karl der

Große zum Vorgänger Bonapartes wird, so werden Friedrich, der Liebling Lodi's, und Friedrich, der geborene König von Palermo, und Otto, dessen kurzer Lebenstraum es war, als rein römischer Kaiser in der ewigen Stadt zu herrschen, allgemein als Vorgänger Franz Josephs,

vielleicht

auch Philipp des Zweiten

Die östreichische Täuschung muß,

wie die französische Täuschung,

streng von jedem zur Seite geschoben werden,

der verstehen will,

was Karl und Otto und Heinrich und Friedrich Endlich.

Selbst unter

Sachlage besser kennen

und die

angesehen?

denen, die das

wirklich waren. thatsächliche der

leitende Idee des mittelalterlichen

Europa besser verstehen, findet sich eine gewisse Neigung, die Wichtig­ keit der Reichsgeschichte herabzusetzen, mit der Begründung, daß das mittelalterliche Reich durchaus eine Wesenlosigkeit, wenn nicht ein Betrug gewesen sei. Stellung Franz des

Wir geben die gänzliche Wesenlosigkeit der

Zweiten, des erwählten römischen Kaisers,

Königs von Deutschland nnd Jerusalem,

völlig zu;

wir geben

völlig zu, daß Karl der Große selbst nicht ein römischer in

genau

demselben Sinne war,

Wir können

ohne Rückhalt

mals gänzlich durchgeführt

Kaiser

wie Vespasian oder Trajan.

einräumen,

daß die Reichsidee

wurde,

daß

und

Interesse der Welt lag, sie durchzuführen.

es keineswegs

nie­ im

Wir mögen über den

Glauben der Zeiten staunen, welche es als unbezweifelte und ewige Wahrheit ansahen, erstens, daß es von Rechtswegen einen Be­ herrscher der Welt geben müsse; zweitens, daß das Weltreich, nicht weniger nach

ewigem Recht,

dem

römischen

Kaiser,

dem

Nachfolger des Augustus gehöre; und drittens, daß der deutsche König, der Erwählte der deutschen Kurfürsten, der unbezweifelte römische Kaiser und

deßhalb nach ewigem Recht

der Herr der

* Wir haben in einem populären Werk die Worte gesehen: „Der Kaiser Philipp der Zweite". Die Schlußfolgerung ist unwiderstehlich: Philipps Vater war Kaiser, wie hätte Philipp nicht auch Kaiser fein sollen?

Das heilige röniische Reich.

8 Welt sei.

Dieser Glaube erscheint uns sehr befremdlich, aber er mar

der Glaube Dante's.

Wir freuen uns, daß dieser Plan eines

Weltreichs niemals zur praktischen Ausführung stolz darauf, daß unsere eigene Insel

kam;

wir sind

wenigstens sich nicht der

Herrschaft des Weltherrschers unterworfen hat.

Aber dies alles

sollte uns nicht dazu führen, die hervorragende Wichtigkeit der Reichsidee zu unterschätzen.

Ein Glaube mag falsch, widersinnig,

wesenlos, verderblich sein, wie es uns gerade scheint; doch berührt dies keineswegs die historische Wichtigkeit eines solchen Glaubens. Die Christen glauben, daß die leitende Idee des Mohamedanismus ein

gefährlicher Irrtum sei; die Protestanten halten die leitende

Idee des Papsttums für einen gefährlichen Irrtum; aber niemand folgert hieraus, daß Mohamedanismus

oder Papsttum

deßhalb

ohne Einfluß auf das Schicksal der Welt gewesen seien, oder daß ein Geschichtsforscher ohne Gefahr die Geschichte des einen oder des andern lediglich deßhalb vernachlässigen könne, weil er sie als einen Irrglauben betrachtet.

In der That sind die Folgen eines

Irrtums, der von einer großen Menge Menschen geteilt wird, um

so

wichtiger,

je

gefahrvoller

der Irrtum

mag sehr falsch

sein

zu glauben,

daß Mohamed der Prophet

Gottes

sei:

doch

gewesen

hat

das

Menschen dies glaubten und noch

Faktum,

selbst ist.

daß

Millionen

glauben, die Geschicke

großen Teils der Welt umgestaltet.

Es

mag sehr

Es

eines

falsch sein,

zu glauben, daß der heilige Petrus der Fürst der Apostel ge­ wesen, heiligen

und

daß

Petrus

der Bischof sei:

doch

hat

von die

Rom

der

Thatsache,

Nachfolger daß

des

Millionen

Menschen dies glaubten und noch glauben, den Gang der gesammten europäischen Geschichte und Politik bis auf den heu­ tigen Tag

beeinflußt.

In diesen

Fällen

versucht niemand die

Wichtigkeit der Thatsachen in Abrede zu stellen; niemand hält dafür daß die mohamedanische oder päpstliche Geschichte ohne Schaden vernachlässigt werden kann.

So sollte es auch mit der Geschichte

9

Das heilige römische Reich. des mittelalterlichen Reichs

sein.

Die Neichsidee mag

widersinnig, verderblich gewesen sein: weniger von Wichtigkeit.

doch ist sie

unwahr,

deßhalb nicht

Man glaubte an dieselbe: vielleicht hatte

man Unrecht mit diesem Glauben, aber die Thatsache, daß man an dieselbe glaubte, wirkte viele Jahrhunderte hindurch auf die gesammte Geschichte der Welt. der deutsche

Es mag thöricht gewesen sein, zu glauben, daß

König notwendigerweise

römischer Kaiser, daß der

römische Kaiser notwendigerweise der Herr der Welt sein müsse. Aber man glaubte es: daß man es glaubte, änderte die ganze Gestalt Europas. Es wäre vielleicht viel klüger gewesen, wenn die deutschen Könige sich damit begnügt hätten, in Wirklichkeit deutsche Könige zu sein, und der schattenhaften Majestät der römischen Kaiser nicht nachgestrebt hätten. es

wäre

Aber in der That strebten sie nach derselben;

für Menschen

in

ihrer Stellung

unnatürlich

gewesen,

anders zu handeln; und diese Thatsache bedingte die gewichtigsten Consequenzen für ihr eigenes,

wie für die benachbarten Reiche.

Wenn die Geschichte des Reichs lediglich als eine Geschichte des Irr­ tums und der Thorheit anzusehen wäre, so sollte man sich doch daran erinnern,

daß die Geschichte des Irrtums

und der Thorheit bei

weitem den größten Teil der Geschichte der Menschheit

ausmacht.

Wir sind jedoch weit davon entfernt, zuzugeben, daß die Ge­ schichte des Reiches lediglich

ein Teil der Geschichte menschlicher

Thorheit ist, wenn wir auch vielleicht gezwungen werden zuzugeben, daß sie ein Teil der Geschichte menschlichen Irrtums

ist.

Die

Reichsidee, die Idee einer christlichen Universalmonarchie, welche der lokalen Unabhängigkeit der einzelnen Staaten und Gemeinwesen nicht entgegen tritt, sondern den Cäsar Augustus, den erwählten und gesalbten Herrn der Christenheit, als den gemeinsamen Führer und Vater aller aufstellt, — eine solche Idee ist eben so erhaben und bestechend, als unausführbar.

Es ist eine Idee,

die einigen

der edelsten Geister, die die Welt jemals gesehen, vertraut geworden war.

Es war die Idee,

für welche der erste Friedrich kämpfte,

10

Das heilige römische Reich.

und zwar nicht mit nur selbstsüchtigen Zielen. Es war die Idee, an welche sich die ersten Wiedererwecker wissenschaftlicher Nechtskunde anklammerten, als an die einzige Grundlage von Ordnung und gesetzmäßiger Herrschaft in der ganzen Welt. Es war das große Princip, welches den Leitstern der Prosa, der Dichtung und des Lebens Dante's bildete. Den Menschen jener Zeit, welche innerhalb ewiger Streitigkeiten kleiner Fürstentümer und Gemeinwesen lebten, leuchtete die Vision einer Universalherrschaft von Gesetz und Recht mit einem verlockenden Glanz, welchen wir, gewöhnt an ein System nationaler Herrschaft und internationaler Beziehungen, kaum zu verstehen im Stande sind. Indeß mag der Wert der Idee sein, welcher er wolle, ihr praktischer Einfluß auf die Geschichte der Christenheit kann kaum überschätzt werden. Das Reich mag ein Schatten gewesen sein, aber es war ein Schatten, dem Männer Jahrhunderte lang ihr Denken, ihre Feder-und ihr Schwert zu weihen bereit waren. Die Resultate waren deßhalb nicht weniger thatsächlich, weil das Ziel unerreichbar war. Wir wiederholen, daß ohne ein völliges Verstehen der mittelalterlichen Vorstellung vom Reich, ohne ein völliges Erfassen der Art und Weise, in welcher diese Vor­ stellung die Gedanken und Handlungen der Menschen vom achten bis zum vierzehnten Jahrhundert beeinflußte, der größere und wichtigere Teil der mittelalterlichen Geschichte ein unlösbares Rätsel bleibt. Da wir nun die außerordentliche Wichtigkeit richtiger An­ sichten vom Reich für ein wahres Verstehen der mittelalterlichen Geschichte erkannt haben, und kein anderes englisches Buch kennen, das uns eine so klare und erschöpfende Darstellung des ganzen Gegenstandes gäbe, so begrüßen wir mit nicht geringer Freude das Erscheinen des kleinen, aber bemerkenswerten Bandes, dessen Namen wir an die Spitze dieses Aufsatzes gestellt haben. Es ist die erste vollständige und zusammenhängende Uebersicht mittelalterlicher Ge­ schichte, welche britischen Lesern jemals geboten worden ist.

Das heilige römische Reich.

11

Das Buch von Bryce ist eigentlich keine Geschichte, sondern ein Essay; er hat nicht die hoffnungslose Arbeit unter­ nommen , die Geschicke des Reichs und der dazu gehörigen Königreiche in einem einzigen dünnen Band zu erzählen. Aber niemand darf Bryce's Arnold - Essay mit der gewöhnlichen Gattung von Preisaufsätzen verwechseln. Das Buch Bryce's ist — so ungereimt die Bemerkung klingt — erst geschrieben worden, nachdem es den historischen Preis von Oxford gewonnen hatte. „Es ist geboten," sagt er uns, „festzustellen, daß dieser Essay bedeutend umgestaltet und erweitert worden ist, seit er für den Arnold-Preis geschrieben wurde." Und jeder, der sich etwas auf Preis-Essay's versteht, hätte dies aus natürlichem Einsehen bemerken können. Es ist kaum möglich, daß irgend eine rein akademische Arbeit die Tiefe des Denkens, die Vollständigkeit der Forschung, das Bekanntsein mit einem ganzen Wissensgebiet sehr entlegener Art entfaltet haben könnte, welche auf jeder Seite dieses Bandes sich offenbaren. Die Verdienste des Buches beruhen in der Hauptsache so durchaus auf dieser späteren Überarbeitung, daß wir fast wünschen möchten, die Worte „Arnold Prize Essay" wären von dem Titelblatt fern geblieben. Ueber den Essay selbst, in seiner gegenwärtigen Form, können wir uns kaum getrauen, alle unsere Gedanken auszusprechen. Man sieht natürlicher- und berechtigterweise mit etwas Miß­ trauen auf eine Kritik, die von einem Neuling in Ausdrücken spricht, welche selten selbst von einem Veteranen verdient werden. Aber nur in solchen Ausdrücken können wir unsere Überzeugung in Bezug auf die Verdienste des Bandes vor uns äußern. Der Essay Bryce's mag der Form nach ephemer sein, dem Inhalt nach ist er nicht ephemer. Er hat sich in der That durch eine einzige jugendliche Anstrengung auf eine Stufe mit Männern gestellt, die ihr Leben historischen Studien gewidmet haben. Wie der junge Opuntier bei Pindar

12

Das heilige römische Reich. oTov iv Ulapa&wvi ovXa&elg aysvHtuv ftivfv ciyiiiva npsaßvrtoan’. *

Der Essay von Bryce muß auf dieselbe Stufe gestellt, und nach deniselben Maß beurteilt werden, wie die umfangreichsten Werke zünftiger Geschichtsforscher. Er hat der historischen Literatur einen eben so großen Dienst geleistet, wie irgend einer von jenen. Bryce's großes Verdienst ist die klare und erschöpfende Art und Weise, in welcher er die mittelalterliche Vorstellung vom Reich, wie sie wirklich war, und besonders jenes religiöse Gefühl darstellt, das sich in so eigentümlicher Weise der Macht an­ heftete, welche einst die specielle Repräsentantin heidnischen Stolzes und heidnischer Verfolgung gewesen war. Dies ist eine Seite des Gegenstands, welche wir bisher nie so überzeugend und eingehend nachweisen gesehen haben. Denn wenn Bryce den gewöhnlichen Irrtum bekämpft, daß das römische Reich im Jahr 476 sein historisches Ende fand, leistet er allerdings der Sache der Wahrheit einen vorzüglichen Dienst, doch bringt er keine neue Entdeckung zu Tage. Dies hat Sir Francis Palgrave bereits für den Westen, lind Finlay für den Osten dargelegt. Die den Osten be­ treffende Seite des Gegenstandes ist, wie wir nicht umhin können anzunehmen, von Bryce etwas vernachlässigt worden, wie vielleicht andererseits die westliche von Finlay. Sir Francis Palgrave und Bryce haben sich mit demselben Teil des Gegen­ stands befaßt, doch betrachten sie denselben mit etwas verschiedenen Augen. Bei Bryce ist das Reich thatsächlich der Haupt- oder vielmehr der einzige Gegenstand, während die Beiträge Sir Francis' zur Reichsgeschichte, schätzbar wie sie sind, sich gewöhnlich auf Dinge beziehen, die mit dem Reich in keinem unmittelbaren Zusammenhang stehen. Ferner beschäftigt Sir Francis sich hauptsächlich mit jenen * »Und wie blieb er in Marathon, verwiesen von Jungen, Gegen die Älteren stehen zum Kampf."

Das heilige römische Reich.

13

äußeren Formen und Einrichtungen, welche zeigen, das; das Reich nicht

eigentlich

unterging.

Bryce

hat es

trachtung des Reichs selbst zu thun, und

mehr

mit

der

Be­

mit den verschiedenen

Formen, welche es von Casus Julius Cäsar Octavianus bis zu Franz II. von Lothringen annahm. und

trefflicher

Weise

gethan,

Dies hat er in so erschöpfender daß

wir

überzeugt sind,

Essay sei nur der Vorläufer eines Geschichtswerks. daß Bryce uns eines Tags

eine Geschichte des

der

Wir hoffen,

mittelalterlichen

römischen Reichs darbieten wird, welche wert ist, Dekan Milman's Geschichte gesetzt

der

mittelalterlichen

römischen

Kirche

an

die

Seite

zu werden. Die Vorstellung vom mittelalterlichen Reich ist die von einer

christlichen Weltmonarchie.

Das römische Reich und die katholische

Kirche sind zwei Seiten derselben Gemeinschaft, einer Gemeinschaft, vom göttlichen Willen eingesetzt, um sich auszubreiten.

In

dieser Gemeinschaft

über die ganze Welt

ist Rom

durch göttlichen

Beschluß als prädestinirte Hauptstadt bezeichnet, als der Hauptsitz der geistlichen sowohl, wie der weltlichen Herrschaft.

An der Spitze

dieser Gemeinschaft, in ihrem weltlichen Charakter als Reich, steht der weltliche Herr des Christenheit, der römische Kaiser.

An ihrer

Spitze, in ihreni geistigen Charakter als Kirche, steht der geistige Herr der Christenheit, der

römische Papst.

Kaiser und Papst

herrschen gleicherweise aus göttlicher Machtvollkommenheit, jeder als Gottes unmittelbarer Stellvertreter innerhalb seiner eigenen Sphäre. Jeder der Herrscher ist durch die engsten Bande an den andern geschlossen, der Kaiser ist der Vertreter der römischen Kirche, ver­ pflichtet, dieselbe durch die weltliche Gewalt gegen alle weltlichen Feinde zu verteidigen.

Der Papst andererseits, obgleich der Kaiser

seine Würde nicht von ihm empfängt, sondern durch eine unmittel­ bare göttliche Bestallung, hat das erhabene Vorrecht, den Herrn der Welt persönlich in seine hohe Würde einzuführen, den Er­ wählten des Herrn zu weihen, und ihn gewissermaßen zum Mit-

14

Das heilige römische Reich.

besitzer der mysteriösen Privilegien der Pricsterwürde zu machen. Die Gewalt beider, des Kaisers wie des Papstes, ist absolut uni­ versell; sie ist lokal, in so fern Nom ihr erwählter Sitz ist, aber sie ist in keiner Weise national: sie ist nicht auf Italien oder Deutschland oder Europa beschränkt; jedem der Beiden hat Gott in seiner eignen Sphäre gleicherweise die Heiden zum Erbe, und die äußersten Enden der Welt zum Eigentum gegeben. Und jede dieser erhabenen Würden ist jedem getauften Manne zugänglich; jede wird lediglich durch Wahl erlangt; eine jede kann der Lohn des Verdienstes in allen Lebensstellniigen oder in jedem Winkel der Christenheit sein. Während geringere Würden durch lokale oder aristokratische Beschränkungen eng begrenzt waren, so waren der Thron des Augustus und der Stuhl des Petrus, wenigstens der Theorie nach, Gegenstand des Ehrgeizes eines jeden rechtgläubigen Mannes. Selbst in den dunkelsten Zeiten aristokratischer Abgeschlossenheit wagte niemand es als Princip aufzustellen, daß der römische Kaiser irgend mehr als der römische Bischof fürstlichen oder adeligen Stamms sein müsse. Freiheit der Geburt oder, um mittelalterliche Vorstellungen kurz in klassische Worte zu kleiden, das römische Bürgerrecht war alles, was erforderlich war. Jede der beiden Gewalten erhebt sich, als die Gewalt eines Stellver­ treters Gottes auf Erden, weit über alle kleinen Rücksichten auf Abstammung oder Geburtsort. Der Herr der Welt hat die ganze Menschheit gleicherweise zum Objekt seiner väterlichen Herrschaft; der Nachfolger des heiligen Petrus heißt gleicherweise alle aus Osten und aus Westen, aus Norden und aus Süden innerhalb der einen universalen Gemeinschaft willkomnien, über welche er Vollmacht hat zu binden und zu lösen, zu vergeben und aufzu­ behalten. Hier haben wir eine Idee, so gewaltig, als sie unausführ­ bar ist. Kein Wunder, in der That, daß eine solche Vorstellung die Gemüter der Menschen für Jahrhunderte gefesselt hielt, und

Das heilige römische Reich.

15

daß sie für solch eine Sache Willens waren Opfer zu bringen und sich zu opfern. Daß diese Vorstellung nie zur Wirklich­ keit wurde, zeigt uns die Geschichte auf den ersten Blick. Es ist ersichtlich, daß weder der römische Papst noch der römische Kaiser je ihre gemeinsame Gewalt über die ganze Welt, oder selbst über die ganze Christenheit ausdehnten. Und die beiden Gewalten, welche der Theorie nach bestimmt waren in Uebereinstimmung zu wirken, erscheinen zum größten Teil in der wirklichen Geschichte als die erbittertsten Nivalen. Dennoch kann keine Vorstellung, eben als Vorstellung, erhabener sein. Aber wie entstand eine solche Vorstellung? Was ist das römische Reich und der römische Kaiser? An den beiden Endpunkten ihres Bestehens bezeichnen die beiden Worte Ideen, einander so unähnlich, als jedes von ihnen der Theorie unähnlich ist, welche Otto III. und Gregor V. für einen Augenblick in der Praxis verwirklichten. An dem einen Ende der Kette erblicken wir die heidnische Obrigkeit eines heid­ nischen Gemeinwesens, welche sorgfältig alle königlichen Titel und königlichen Abzeichen vermeidet, welche auf gleichem Fuß mit andern ausgezeichneten Bürgern verkehrt, jedoch sorgfältig bemüht ist die Wirklichkeit der absoluten Gewalt festzuhalten, indem sie nach und nach eine Menge von Ämtern auf die eigene Person vereinigt, welche bis dahin für mit einander unverträglich gehalten worden waren. So war der erste römische Kaiser, und in seinen Tagen gab es noch keinen römischen Papst. Der letzte römische Kaiser war ein deutscher König, dessen deutsches Königtum fast ebenso imaginär war als sein römisches Kaisertum. Er war wohl ein mächtiger Herrscher, aber mächtig nur durch den Besitz ererbter oder eroberter Reiche, welche größtenteils außerhalb der Grenzen beider, der römischen wie der deutschen Herrschaft, gelegen waren. Er war geschmückt mit all den Titeln und umgeben von all der äußeren Huldigung, welche einem deutschen König oder einem römischen Kaiser gebühren mochten. Was jedoch das lokale Rom anbelangt, so hatte er mit demselben

16

Das heilige römische Reich.

nicht mehr Zusammenhang, nicht mehr Gewalt und Einfluß auf dasselbe, als irgend ein anderer katholischer Fürst von gleicher Macht etwa besaß. Der römische Kaiser beanspruchte nicht mehr einen Schatten der Gerichtsbarkeit in seiner alten Hauptstadt; selbst in seinem deutschen Reich war seine Stellung zu der des Präsidenten eines der losesten Bundeskörper herabgesunken. Der Herr der Welt, das weltliche Haupt der Christenheit, behielt nichts, als einen un­ fruchtbaren Vorrang vor andern Fürsten, welchen jene anderen Fürsten zuzugeben nicht immer bereit waren.Seine römische, deutsche und universale Stellung war, wie der Erfolg bewies, äußerst unwirklich und unhaltbar, bereit, bei der ersten Be­ rührung eines kräftigen Angreifers in Trümmer zu zerfallen. So waren Cajns Julius Caesar Octavianus, der erste, und Franz II., der letzte der römischen Kaiser. Jeder ist dem römischen Kaiser der reinen mittelalterlichen Vorstellung gleich unähnlich. Wie nun kam es, daß derselbe Titel, der während der ganzen Periode theoretisch eine und dieselbe unveränderte Würde be­ zeichnete, zu verschiedenen Zeiten Personen verliehen wurde, die einander so äußerst unähnlich waren? Wir wollen, unter Bryce's Führung kurz die verschiedenen Abschnitte durchlaufen, in welchen die große Idee des christlichen Reichs sich erhob und wieder sank. Bryce fängt füglich mit dem Anfang an. Er beginnt mit einer Schilderung der Zustände unter dem alten römischen Kaisertum, der alten Herrschaft des römischen Gemeinwesens unter seiner nominellen Obrigkeit und seinen tatsächlichen Herrschern, den Kaisern ans dem jnlische'n, claudischen und andern kaiserlichen Häusern, bis zu den Veränderungen, die zuerst durch Diocletian und dann durch Constantin eingeführt wurden. Der Haupt­ punkt, der hier hervorgehoben werden muß, ist der absolnte Mangel an Nationalität in dem Reiche. Doch bildet das römische Kaisertum in diesem Fehlen der Nationalität nur eine Fortsetzung

Das heilige römische Aieich.

17

der römischen Republik. Die römische Republik war wesentlich lokal; jede Genossenschaft sammelte sich um den einen Mittelpunkt, die Stadt Nom: aber sie war weniger national als irgend ein anderes Gemeinwesen in der gesammten Geschichte. indem

sie

ihre

Rechte nach

und

nach

Sie wuchs thatsächlich, über

Latium,

und alle Länder des Mittelmeeres ausdehnte.

Italien,

Das Edikt Cara-

calla's, welche immer seine Ursachen gewesen sein mögen, legte nur die letzte Hand an das von dem mythischen Nomulus durch sein Bündnis mit dem Sabiner Tatius begonnene Werk.

Vom Ocean

bis zum Euphrat war die civilisirte Welt jetzt römisch dem Namen nach, und vom Ocean bis Gefühl nach.

zum Taurus war sie römisch dem

Bryce überschätzt, wie wir glauben, die besondere

Nationalität der Griechen dieses Zeitalters, und unterschätzt die von Syrien und Ägypten, Provinze», die nie wirklich römisch oder griechisch wurden.

Dann kam, unter Diocletian und Constantin, die Um­

wandlung des Kaisertums in eine Art von anerkanntem Königtum — wir können schwerlich sagen, von anerkannter Monarchie, wenn wir sehen, dag das System Diocletians die gleichzeitige Regiernng von mehr als einem Kaiser bedingte.

Unter diesem System hörte

anch das alte Rom auf, der Sitz der Regierung zu sein.

Mai­

land und Nikomedia wurden Sitze der Kaiser, bis Constantin in seinem Neu-Rom am Bosporus eine bessere und dauerndere Wahl als alle traf. Mit Constantin erscheint überhaupt ein neues Element, wich­ tiger als alle.

Bis dahin hatten wir allerdings ein römisches Reich,

aber es hatte bis jetzt noch keinerlei Anspruch auf das Beiwort heilig im christlichen Sinn. Bis dahin waren Rom und seine Fürsten die Feinde des Glaubens, trunken vom Blut der Heiligen.

Aber

von der Bekehrung Constantins an war das Epitheton, wenn auch noch

nicht

förmlich

zuerteilt, so

Rom und Christentum

doch

in

der

That

verdient.

bildeten eine so enge Vereinigung,

daß

wenigstens in einem Teile des Reichs die Worte Römer und Christ Freeman, htstor. Abhandlungen.

2

Das heilige römische Reich.

18

gleichbedeutend wurden.*

Kaiser führten in den Concilien der Kirche

den Vorsitz; christliche Geistliche erhielten den Rang hoher weltlicher Würdenträger.

Nechtgläübigkeit und Treue, Ketzerei und Verrat

wurden fast vertauschbare Ausdrücke.

Das Christentum rottrbe in der

That die Religion des römischen Reichs, allgemein herrschend innerhalb seiner Grenzen, aber fast ohne Fortschritt außerhalb derselben. so blieb es bis auf den heutigen Tag. fast

ausschließlich

die

Religion

Und

Das Christentum bildet

Europa's

und

der

europäischen

Colonien, das heißt jener Nationen, die entweder Bestandteile des römischen

Reichs

bildeten,

oder

civilisirendem Einfluß gelangten.

in

den

Bereich

von

Roms

So wurde das Reich, das einst

der bitterste Feind des Evangeliums gewesen war, jetzt unauflöslich mit dessen Bekenntnis verbunden.

Die heidnische Heiligkeit, welche

einst den Kaiser unigab, war jetzt gegen eine Heiligkeit anderer Art ausgetauscht. unmerklichen

Der Pontifex Maximus des heidnischen Rom ging Schritts

über

in

den

Erwählten des Herrn, den

weltlichen Herrn der Christenheit. So wurden also das Reich und der Kaiser heilig; und doch war das Reich, Muhameds Aemter

des

selbst

ererbte

im Osten,

gleicher

Propheten.

Weise Nach

kein Kalifat. die

Der Nachfolger

weltlichen

mohamedanischem

und

geistlichen

System

be­

durften Kirche und Staat keiner Vereinigung, weil sie nie getrennt gewesen waren.

Doch so enge der römische Staat und die christliche

Kirche verbunden , man könnte bliebe»

noch

Spuren

der

fast sagen identificirt wurden , so

Tage,

feindliche Körper gewesen waren.

in

welchen

Kirche, die Gliederung ihrer Hierarchie, und der Concilien

sie

getrennte

und

Die innere Organisation der die Rechte der Bischöfe

waren fast zur Vollendung emporgediehen, ehe

* Der Grieche des Mittelalters und der Neuzeit bis zu der letzten klassischen Wiederbelebung ward ohne Unterscheidung '«»//,«o,- und x«,«»•,aS heilige römische Reich.

schonen. Sei dem so; indeß, wie wir vorher mit Bezug auf den Hauptgegenstand sagten, wenn Worte und Formen, wie immer un­ wirklich an sich selbst, einen thatsächlichen Einfluß auf die Handlungen der Menschen ausüben, so hören sie auf, unwirklich zu sein. Die Mgjestät von Nom lebte noch in den Gemütern der Menschen; der römische Kaiser, die römischen Consuln, Roms Senat und Volk bestanden noch. Odoaker und Theodorich mochten als nationale Könige über ihr eigenes Volk herrschen; aber die römische Be­ völkerung Italiens betrog sich selbst in dem Glauben, daß der barbarische König nur ein Stellvertreter des abwesenden Kaisers sei. Solch ein Glaube mochte eine Täuschung sein, aber es war ein lebendiger Glaube, und er blieb nicht immer eine Täuschung. Als Belisar im Jahre seines Consulats in Italien landete, er­ schien er der römischen Bevölkerung nicht als ein fremder Eroberer, sondern als ein Befreier, gekommen, sie ihrer natürlichen Zuge­ hörigkeit zu ihrem gesetzmäßigen Herrscher zurückzugeben. Und wie Bryce richtig bemerkt: ohne daß wir uns vergegenwärtigen, daß die Reihe der Kaiser nie unterbrochen wurde, daß von 476 bis 800 der byzantinische Cäsar in der Theorie immer, in der Praxis oft als der gesetzliche Herr Roms und Italiens anerkannt wurde, ist es unmöglich, die wahre Bedeutung der Übernahme des Reichs durch Karl den Großen richtig zu verstehen. Fast der einzige Mangel von einiger Bedeutung in Bryce's Werk ist der, daß er sich die Wichtigkeit sowohl des Ostreichs wie der östlichen Kirche für jede Betrachtung des Reichs kaum klar zu machen scheint. Er zeigt weder Unkenntnis noch Verheim­ lichung, noch auch nur falsche Auffassung der Thatsachen: aber er giebt den Thatsachen kaum ihre volle Bedeutung. Die Wahrheit ist, daß das Bestehen der östlichen Christenheit sowohl der große Stein-des Anstoßes der päpstlichen, wie auch der große Stein des Anstoßes der kaiserlichen Theorie ist. Scharfsinnige Männer mochten Betrachtungen über die zwei Lichter und die zwei Schwerter an-

Das heilige römische Reich.

21

stellen und erörtern, welches von beiden das hellere und das stärkere sei. Sie mochten darüber streiten, ob der Papst vom Kaiser, oder der Kaiser vom Papst abhänge: aber von beiden Seiten wurde zugegeben, daß es nur einen Papst und nur einen Kaiser geben könne. In Wahrheit wurden diese glänzenden Theorien von Kirche und Reich durch die Thatsache umgestoßen, daß ein großer Teil der Christenheit, und noch dazu der Teil, der am wahrhaftesten beanspruchen konnte die ältesten Überlieferungen beider, der Kirche wie des Reichs, unverändert zu repräsentiren, einen Papst überhaupt nicht anerkannte und einen rivalistrenden Kaiser anerkannte. Es ist unmöglich zu leugnen, daß, soweit die ununterbrochene politische Succession Geltung hatte, das östliche und nicht das westliche Reich der direkte Erbe der alten Cäsaren war. Der Vorgang, der Karl den Großen auf den Kaiserthron hob, war eine Empörung, vielleicht eine zu rechtfertigende Empörung, aber doch eine Em­ pörung. Es war im Osten, und im Osten allein, daß die kaiserlichen Titel und die kaiserlichen Ueberlieferungen, — in einem Wort, die ganze politische Erbschaft Roms, — vollständig ungeschwächt bis zu den Tagen der fränkischen Eroberung fortbestanden. Der griechische Fürst, welchen die Kreuzfahrer von der Säule des Theodosius herab­ stürzten, war, wie Finlay sagt, ein ächterer Nachfolger von Augustus als Friedrich Barbarossa war. Und die östliche Kirche stellte einen noch thatsächlicheren Protest dar gegenüber den An­ sprüchen des westlichen Pontifex, als das östliche Reich gegen­ über den Ansprüchen des westlichen Cäsars. Die Weltherr­ schaft beider war eine Theorie und nur eine Theorie, so lange ihre Macht nicht bis zum Ende der Welt, selbst nicht , bis zum Euphrat, sondern nur bis zum adriatischen Meere reichte. Noch in den Tagen Otto's ebenso, wie in den Tagen Dante's weigerte sich der am wenigsten veränderte Teil der römischen Welt, die Herrschaft beider, des westlichen Cäsars und des westlichen Papstes, anzuerkennen. In Wahrheit kamen die ausgebildeten

22

Das heilige römische Reich.

Theorien des mittelalterlichen Reichs nicht zur Geltung, und konnten nicht füglich zur Geltung gebracht werden, so lange Kirche mtb Reich im Osten ihre alte Stellung behielten. Als Dante schrieb, herrschte noch ein Kaiser der Römer in Constantinopel, aber er war herabgesunken zu der Stellung eines unter einer Menge östlicher Fürsten, griechischer und fränkischer.* Zu dieser Zeit ferner begann der Vorwurf des Schisma gegen die alten Kirchen des Ostens einigen Grund zu er­ halten. Es gab nun wenigstens einen Vorwand zu sagen, daß die Kirche von Constantinopel sich mit der Kirche von Rom ver­ söhnt hätte, und wieder von derselben abgefallen wäre. Eine solche Behauptung konnte schwerlich in den Tagen der großen makedo­ nischen Kaiser aufgestellt werden, als das neue Rom und nicht das alte noch Herrin des Mittelmeeres war, und als ein großer Teil der italienischen Halbinsel noch dem östlichen und nicht dem westlichen Kaiser Gehorsam schuldete. Bryce vergißt diese Dinge nicht; doch scheint es uns nicht, daß er auf sie das Gewicht legt, das sie sicherlich beanspruchen können. Von der Erhebung Karl des Großen an ist Bryce voll­ ständig heimisch auf seinem Gebiet. Während des ganzen achten Jahrhunderts war die kaiserliche Gewalt in Italien schrittweise verfallen. Langobardische Eroberungen hatten die Grenze der kaiser­ lichen Provinz verengert, und der Jkonoklastenstreit hatte die Loyalität der Unterthanen des Reichs erschüttert. Der Bischof von Rom war als Vorfechter der Orthodoxie und Nationalität auf­ getreten, und die thatsächliche Regierung der Stadt war dem fränkischen König übertragen worden. Dennoch war das Band nicht förmlich gelöst; Bild und Aufschrift des Kaisers erschienen noch auf den Münzen seiner westlichen Hauptstadt, und Pippin und Karl regierten, wie Odoaker, unter keinem höheren Titel als dem * Dante, de Monarchie III. 10. Scindere Imperium esset do­ st ruere ipsum, consistente imperio in unitate monarchiae universalis.

Das heilige römische Reich.

23

eines Patricins. Endlich füllte Jrene's Thronbesteigung das Maaß der Entrüstung des Westens. Der Thron des Augustus konnte ge­ setzlich von einer Frau nicht eingenommen werden, am allerwenigsten von einer Frau, die sich durch die Absetzung und Blendung ihres eigenen Kindes zur Macht erhoben hatte. Der Thron stand leer; die christliche Welt konnte nicht ohne einen Kaiser bleiben: * Senat und Volk des alten Rom hatten zu lange dem Befehl des neuen sich unterworfen; sie machten ihre schlummernden Rechte geltend, und erwählten ihren Patricius Karl, nicht als den Gründer eines neuen Reichs, nicht als den Wiederhersteller eines gestürzten Reichs, sondern als den gesetzlichen Nachfolger ihres letzten gesetzlichen Herrschers, des geschädigten Konstantin VI. Dieser Glaube an die absolute Fortdauer des Reichs ist der Schlüssel zu der ganzen Theorie; aber es ist gerade der Punkt, an dem so viele Leser und Schreiber scheitern und den wahren Charakter der Er­ wählung Karls, wie sie den Menschen seiner Zeit erschien , zu erfassen verfehlen. Nie wurde die richtige Seite der Sache voll­ ständiger verstanden und nachdrücklicher zur Geltung gebracht, als dies durch Bryce geschehen ist. Und wenige Beschreibungen in der englischen Sprache übertreffen sein glänzendes Gemälde von der Erwählnng und Krönung des ersten der deutschen Cäsaren. So wurde jene Umwälzung vollendet, von welcher, wenigstens e Chron. Moissiac. a. 801 (Pertz, Mon. Hist. Germ. I. 505): „Quum enim apud Romam nunc prsefatus Imperator moraretur, delati quidam sunt ad eum, dicentes quod apud Grsecos nomen Imperatoris oessässet, ot femina apud eos nomen Imperii teneret, üerena nomine, quse filium suum Imperatoren» fraude captum, oculos eruit, et sibi nomen Imperii usurpavit, ut Atalia in libro Regum legitur fecisse. Audito, Leo Papa et oranis conventus episcoporum et sacerdotum seu abbatum, et seuatus Francorum et omnes majores natu Romanorum, cum reliquo Christiano populo Consilium habuerunt, ut ipsura Carolum, Regem Francorum, Imperatorem nominare deberent, qui Romam matrem Imperii tenebat, ubi somper Caesares et Imperatores sedere soliti fuerunt; et ne pagani insultarent Christianis, si Imperatoris nomen apud Christianos oessässet,a

24

Das heilige römische Reich.

im Westen, bis dahin kein Mensch zu träumen gewagt hatte. Bis jetzt hatte noch kein Mann von anerkannt barbarischem Blut es gewagt den kaiserlichen Rang anzunehmen. Alarich, Ricimer, Chlodwig, Theodorich, selbst Pippin hatten es nie gewagt sich Kaiser der Römer zu nennen. Sie mochten Könige ihrer eigenen Völker und römische Consuln oder Patricier sein, sie mochten Kaiser erheben oder absetzen: das Kaisertum selbst war über ihnen. Aber jetzt ward ein Mann deutscher Abstammung und Sprache durch die Wahl des alten Rom auf seinen Kaiserthron gesetzt. Der fränkische König wurde römischer Cäsar. Und, was nie ver­ gessen werden sollte, er beanspruchte nach seiner Kaiserkrönung, nicht nur als König, sondern als Cäsar über seine sämmtlichen Länder zu herrschen. Diejenigen, welche dem König bereits den Eid der Treue geschworen hatten, wurden jetzt auf's Neue berufen, dem Kaiser Treue zu schwören. So wurde die Herrschaft Roms und seines Kaisers wieder förmlich erweitert, gleicherweise über weite Provinzen, die dem Reich entrissen worden waren, und über weite Länderstrecken, die die alten Cäsaren niemals besessen hatten. Der römische Adler wurde aufs Neue an den Ufern des Ebro, und zum ersten Mal an den Ufern der Eider aufgepflanzt. Als Deutschland dem neuen Augustus Treue schwor, mochte man die Niederlage des Varus für gerächt halten, durch einen Mann, der nach Blut und Sprache und Sitten der wahre Nach­ folger Armins war. Wenn Griechenland seinen römischen Be­ zwinger gefangen führte, so hielt Rom jetzt noch entschiedener den Barbaren gefangen, der die Thatsache, daß er Rom erobert hatte, auch vor sich selbst zu verbergen strebte. All dieses war, das ist leicht zu sagen, baare Unwirklichkeit und Täuschung. Es ist leicht darzulegen, daß Karl kein römischer Kaiser in dem Sinn war, wie Augustus, oder selbst wie Augustulus. Mit welchem Recht konnte er der Nachfolger Konstantin VI. ge­ nannt werden, da doch die Reiche beider Fürsten kaum eine Quadrat-

25

Das heilige römische Reich.

meile Grund und Boden

gemein

hatten,

da

der byzantinischen Fürsten ungestört weiter ging,

die

Succession

und da

sie

sogar über einzelne Teile Italiens herrschten? Karl, so mag ge­ folgert werden, war lediglich ein deutscher König, der einem reinen Vorurteil eines Teils seiner Unterthanen genug that, indem er einen Titel annahm, einen Titel, der weder seine Herrschaft über neue Reiche ausdehnte,

noch seine Prärogative innerhalb der alten

vergrößerte. All dieses, ohne Zweifel, ist wahr; es ist für uns ersichtlich genug aus der Entfernung eines Jahrtausends.

Aber es war nicht

ersichtlich für die Menschen jener Zeit. Und da die Handlungen der Menschen zu allen Zeiten nicht durch das gelenkt worden sind, was sie bei besserer Erkenntnis gedacht haben könnten, sondern durch das, was sie thatsächlich wußten und dachten, so war die Annahme des kaiserlichen Rangs durch Karl weder unwirklich noch illusorisch, da sie zu wichtigen wirklichen Ergebnissen führte.

In den Augen

der meisten italienischen Unterthanen Karls, vermutlich in den Augen vieler seiner gallischen Unterthanen, bestand in der Annahme des römischen Titels der ganze Unterschied zwischen rechtmäßiger und unrechtmäßiger Herrschaft.

Der König der Franken war ein bar­

barischer Eroberer, oder besten Falls ein barbarischer Befreier: in dem Kaiser der Römer erblickte man den Wiederhersteller gesetz­ licher und regelmäßiger Herrschaft, nach einer langen und gewalt­ samen Unterbrechung.

Selbst in den Augen seiner eigenen Deutschen

wurde Karl der Augustus, in kaum bestimmbarer Weise größer und geheiligter, als Karl der lediglich fränkische König.

Und in der

Erhöhung ihres Fürsten fühlte die Nation sich selbst erhöht.

Der

Ausdruck existirte zwar noch nicht, aber der Westen sah wieder ein heiliges römisches Reich, und es war jetzt ein „Heiliges römisches Reich deutscher Nation". Diese Wahrheit war freilich damals noch nicht gesetzmäßig anerkannt; sie bestand in der That noch nicht in ihrem wirk-

26

Das heilige römische Reich.

lichen Umfang.

Karl war in der That ein deutscher König; aber

der Besitz der Kaiserkrone durch

einen deutschen

König

identi-

ficirte die Kaiserkrone nicht mit der deutschen Nation in der Weise, als dies von Otto des Großen Zeit an der Fall war. schied

zwischen

Otto

war in

der Stellung Karls und der

That

der

mächtigste

aber er war nicht der einzige König. dem bestimmten, wie

sie

lokalen Königreich

denkbarerweise

mit

dem

Der Unter­

der Otto's König

ist

des

Westens,

Die Kaiserkrone ward mit der

Ostfranken

Königreich

verknüpft,

der

Burgunder

oder selbst der Westfranken hätte verknüpft sein können. stand

hier

dieser.

So ent­

von Otto an eine direkte Verbindung zwischen dem

römischen Reich und Deutschland als einem bestimmten Land und Volk,

einem Land und Volk unter

verschiedenen Mitbewerbern.

Karl jedoch war viel mehr als all dieses: er war nicht nur der mächtigste König, sondern er war in gewisser Hinsicht der König.

einzige

Er konnte beanspruchen der Herr der Welt zu sein in

einem wahreren Sinne als irgend ein Kaiser nach seinem Sohn, in einem eben so wahren als irgend ein Kaiser seit Theodosius.

Lassen

wir unsere eigene Insel bei Seite, welche in gewisser Hinsicht als eine andere Welt galt, so war Karl thatsächlich entweder der un­ mittelbare Herrscher oder der oberste Lehensherr der ganzen west­ lichen Christenheit.

Der Osten wurde allerdings durch einen zweiten

Cäsar beherrscht, der je nach Umständen als ein kaiserlicher Rival, ein Tetricus oder ein Carausins, oder als ein kaiserlicher Amtsgenosse, ein Valens oder ein Arcadius, betrachtet werden konnte. jedoch war ihm ganz zu eigen.

Der Westen

Er herrschte, und zwar nach seiner

Kaiserkrönung ausdrücklich als römischer Augustus, über alle Länder vom Ocean und Ebro bis zur Elbe und Theiß.

Seine Grenzen

waren, wie die Grenzen Roms in alten Zeiten, von einer Reihe ver­ bündeter oder tributpflichtiger Fürsten umgeben, der Gegenbilder eines Massinissa und Herodes.

In einem solchen Reich mochte

wohl die rein fränkische Nationalität als verloren gegangen er-

scheinen; Franken,

Das heilige römische Reich.

27

Gallier, Bnrgunden, Italiener mochten

als

gleichgestellte Unterthanen des Kaisers oder, wenn sie den Namen vorzogen, als Bürger von Rom erscheinen.

Natürlich war dieser

Anschein von universeller Herrschaft ein trügerischer; aber es war nur der menschlichen Natur entsprechend, daß man zu jener Zeit sich durch denselben täuschen liefe. Ein Reich wie dieses

bedurfte jedoch des Arms Karl des

Großen selbst, um es zu stützen.

Man weife kaum, ob es aus

Thorheit oder aus Klugheit geschah, ob, weil er die unabwendbaren Consequenzen erkannte oder nicht erkannte, dafe Karl das Princip einer Teilung seines Reichs unter seine Söhne annahm.

Das Reich

sollte noch eins und unteilbar bleiben, aber der Kaiser sollte nur als

Oberherr

herrschen.

über verschiedene Könige

seines

eigenen

Hauses

Unter Karl selbst hatten seine Söhne als Könige über

Italien und Aquitanien geherrscht, und er hatte sie immer als seine getreuen Stellvertreter erfunden.

Vielleicht sah er kaum voraus,

dafe die Unterwerfung, die einem Vater, und solch einem Vater, bereitwillig eingeräumt wurde,

einem Bruder, einem Onkel, oder

etwa

nicht

einem entfernten

werden würde.

Vetter

so

bereitwillig

eingeräumt

Vielleicht sah er ein, dafe keine Hand als seine

eigene sein Reich zusammenzuhalten im Stande sei; dafe es besser sei,

einer traurigen Notwendigkeit die beste Seite abzugewinnen;

dafe es doch etwas sei, eine nominelle und theoretische Einheit durch das Vasallenverhältnis aller Könige dem kaiserlichen Familienhaupt gegenüber zu sichern.

Immerhin

römische wie fränkische.

gab es Präcedensfälle genug,

Er trat nur in die Fufetapfen Chlodwigs

und Pippins, und er mag wohl geglaubt

haben in Diocletians,

Constantins und Theodosius Fufetapfen zu treten.

Auf jeden Fall

beginnt vom Tode Ludwig des Frommen, oder vielmehr vom Tode Karls selbst, ein Zustand der Teilung ; Könige und Kaiser steigen empor und sinken; das Reich ist dem Namen nach manchmal, that­ sächlich immer herrenlos.

Für einen Augenblick, unter Karl dem

28

Das heilige römische Reich.

Dicken, ist fast das ganze Reich wieder vereinigt; doch mit seiner Absetzung im Jahr 888 haben sich die Ost- und die Westfranken, die Francia Teutonica und die Francia Latina — in moderner Sprache Deutschland und Frankreich — für immer ge­ trennt. Deutschland, Westfrankreich, Burgund, Italien werden ge­ schiedene Königreiche, meist von Königen regiert, die nicht dem Blut des großen Karl entstammen. Während der ersten Hälfte des neunten Jahrhunderts war der Kaiser, wenn es überhaupt einen gab, statt Herr der Welt zu sein, höchstens ein. König von Italien,, mit einem sehr schwachen Rückhalt sogar an seinem peninsularen Königreich. Dann kam das Wiederaufleben unter Otto dem Großen, die Gründung des römischen Reichs in seiner jüngsten Gestalt. Die Königreiche Deutschland und Italien waren jetzt vereinigt, und ihr gemeinsamer König war, obgleich er noch nicht sofort de» Titel annahm, von dem Moment seiner Krönung in Aachen an erwählter römischer König „Rex Romanorum in Caesarem promovendus“. Einmal nur, beim Erlöschen von Otto's direkter Linie, ver­ suchte Italien es wieder, einen wirklich nationalen König einzusetzen. Wenn auch ein oder zweimal in späteren Zeiten Könige von Italien im Gegensatz zu dem regierenden König oder Kaiser erwählt wurden, so waren dies mißvergnügte oder aufständische Prinzen des kaiser­ lichen Hauses, welche sicherlich nicht die Absicht hatte'« ihre Herr­ schaft auf Italien zu beschränken, wenn sie dieselbe auch auf Deutschland und Burgund auszudehnen vermochten. Von den Tagen Otto's an hatte sich das Princip nach und nach befestigt, daß der erwählte König von Deutschland als solcher ein Recht auf die Königskrone von Italien und Burgund erwarb,* und ebenso auf die Kaiserkrone von Rom. Er war nicht eher Kaiser, als er in Rom von dem römischen Papst gekrönt war, aber er und kein Nach der Erwerbung beS Königreichs Burgund im Jahre 1032.

Das heilige römische Reich.

29

anderer hatte das Recht Kaiser zu werden.

Dieser Zustand der

Dinge war sehr verschieden von dem Reich der

ersten Cäsaren,

sehr verschieden von dem Reiche Karls, aber noch viel verschiedener, um Bryce's Wort zu gebrauchen,

von dem „Reichs-Phantom"

Guido's und Berengars. Die Vereinigung dreier von den vier Neichen, in welche die Besitzungen wenn

Karls

zersplittert

auch nicht zu einem

welche bis dahin reich,

sich

das

glich im

hatten,

Weltreich, so

keinen Rivalen in

moderne,

keltische,

machte

das

Reich,

doch zu einer Macht,

Westeuropa hatte.

Frank­

kapetingische, pariser Frankreich, Provinz,

einem vom

Körper des Reichs und von der Macht von Karls

Wesentlichen einer aufständischen

Nachfolgern

abgetrennten Glied.

Staaten, von denen die alten Cäsaren niemals

gehört hatten, Dänemark, Böhmen, Polen, Ungarn, waren dem sächsischen, fränkischen oder schwäbischen Kaiser zu einer mehr oder weniger thatsächlichen Huldigung verpflichtet.

Das heilige römische

Reich hatte jetzt wesentlich dieselbe Gestalt angenommen, welche es bis 1806 behielt; ein weiterer deutlicher Schritt war geschehen, es zum speciellen Erbe der deutschen Nation zu machen. An diesem Punkt nun, dem jüngsten

Gestalt, hält

Bryce

an,

Beginn des Reichs in seiner um

die

einmal zu betrachten, wie sie im Mittelalter

Reichstheorie aufgefaßt

noch

wurde.

Welches diese Theorie war, haben wir bereits darzulegen versucht; doch sollte man int Gedächtniß behalten, daß die Theorie an Klar­ heit

und

Fülle zunahm,

und

ferner,

daß

die

erleuchteteren

Männer, je mehr sie einsahen, daß das bestehende Reich ihrer idealen Vorstellung nicht entsprach, um so mehr fortfuhren über das ideale Reich zu theorisiren.

Wir können sicher sein, daß weder Otto der

Große, noch irgend ein Mann seiner Zeit das Credo des Reichs in der bestimmten und durchdachten Gestalt hätte darthun können, in welche es durch Dante gebracht wurde. der Theorie jedoch bestanden

Die wichtigsten Elemente

von Anfang an.

Seit den Tagen

30

DaS heilige römische Reich.

Otto's glaubte man, daß die ewige Ordnung der Dinge einen uni­ versellen weltlichen und einen universellen geistlichen Herrn der Christenheit verlange; man glaubte, daß man diese Führer in dem römischen Kaiser und in dem römischen Papst suchen müsse; und schließlich glaubte man, daß der echte römische Kaiser in dem deutschen König zu suchen sei. Kein Kaiser war je so ganz von diesen Vorstellungen erfüllt, als Otto III., der ernstlich beab­ sichtigt zu haben scheint Rom , sowohl der That als dem Namen nach, zum Sitze seines Reichs zu machen und von dort aus die Welt mit Hülfe eines ihm gleichgesinnten Papstes zu regieren. Bon den Plänen, oder besser gesagt, den Visionen dieses wunder­ baren jungen Fürsten, der so traurig hingerafft wurde in den Tagen seiner glänzendsten Hoffnungen, giebt uns Bryce ein be­ redtes Gemälde, welches eine der Perlen seines Buches bildet. Die Vereinigung der sich widersprechenden Funktionen eines deutschen Königs und eines römischen Kaisers in einer Person ist eine Thatsache, die Bryce mit viel Nachdruck und Klarheit darlegt. Er stellt die beiden Aemter einander gegenüber: „das eine centralisirt, das andere lokal; das eine sich stützend auf eine er­ habene Theorie, das andere das rauhe Erzeugniß der Anarchie; das eine alle Gewalt in der Hand eines nicht verantwortlichen Monarchen versammelnd, das andere die Rechte desselben beschränkend und den Widerstand gegen seine Befehle gutheißend; das eine die Gleichheit aller Bürger als vor Gott gleicher Geschöpfe verlangend, das andere verbunden mit einer Aristokratie, der stolzesten und der in ihren Rangabstufungen strengsten, die Europa jemals gesehen hatte." Er geht dann weiter und zeigt, wie diese beiden Vorstellungen in eine dritte, von beiden verschiedene, verschmolzen wurden; wie der Kaiser-König sich bestrebte seine Königswürde mit dem Reich zu verbinden; wie der Name des deutschen Königtums für Jahrhunderte verschwand, so daß man annahm, der Cäsar herrsche als Cäsar nicht weniger in Deutschland als in Italien; wie ferner durch

Das heilige römische Reich.

31

einen natürlichen Gedankenaustausch das Reich sich mit feudalen Vor­ stellungen vermischte; wie der Kaiser ein Herr der Welt wurde, nicht als ein unmittelbarer Herrscher wie die alten Cäsaren, sondern als ein universaler Oberlehensherr, von dem Könige und Herzöge und Gemeinwesen als seine Vasallen abhängen mochten, während er sein Reich direkt von Gott allein besaß. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß in Deutsch­ land selbst die Folge der Vereinigung des Königtums mit dem Reich die Schwächung und die schließliche Zerstörung der königlichen Gewalt war. Das Deutschland der Ottonen und Heinriche, zerrissen und unruhig wie es im Vergleich mit den modernen centralisirten Staaten erscheint, war thatsächlich die am meisten geeinigte Macht des westlichen Europa, unvergleichlich mehr geeinigt als das gleichzeitige England oder Frankreich. Die ganze spätere Geschichte Deutschlands ist einfach eine Ge­ schichte der Schritte, durch welche diese einst geeinigte Macht in Stücke fiel. Der König verlor nach und nach alle wirkliche Gewalt, und doch blieb er bis zuletzt, mehr als alle andern Könige, von einem Nimbus äußerlicher Verehrung umgeben. Die er­ schöpfende Untersuchung der Ursachen dieser Erscheinungen gehört der deutschen Geschichte an. Doch kann es nicht bezweifelt werden, daß die Hauptursache in der Thatsache lag, daß der deutsche König zugleich römischer Kaiser war. Sie lag nicht nur darin, daß ihre italienischen Ansprüche und Titel die deutschen Könige zu nimmer endenden italienischen Kriegen, zu der Vernachlässigung der eigentlich deutschen Interessen führten. Diese äußerliche und greifbare Ursache hatte zweifellos viel mit der Sache zu thun; indeß dies war keines­ wegs Alles. Die wirklichen Ursachen liegen tiefer. Der Kaiser, der Herr der Welt, wurde, wie die höchsten Gottheiten einiger Mytho­ logien, zu gewaltig, um mit Erfolg als lokaler König eines nationalen Staates zu wirken. Seine lokale Königswürde wurde vergessen. Die Kaiser strebten darnach ihr Königtum mit dem

DaS heilige römische Reich.

32

Reich zu verschmelzen, und sie führten dies auch aus, wenngleich in einer Weise, die der von ihnen beabsichtigten entgegengesetzt war. Sie

wollten

als Kaiser

und

nicht

als Könige herrschen, im

Glauben, daß sie als Kaiser mit unumschränkterer und weniger bestrittener Macht herrschen würden.

Sie herrschten als Kaiser

und nicht als Könige, weil die kaiserliche Macht thatsächlich als viel weniger wirksam erfunden wurde, als die königliche Macht. Der Kaiser, der Herr der Welt, übte nur eine äußerst schwankende und nominelle Lehensherrschaft außerhalb der Grenzen seines eigenen Königreichs aus: warum sollte nun, da er als Cäsar lieber denn als König herrschte, der Cäsar irgend eine wirksamere Autorität über Deutschland, Burgund und Italien verlangen,

als er über

Gallien oder Spanien oder Britannien besaß? Cr war in allen Landen nominell So

gleicherweise in

Kaiser:

einem Land,

erlangten,

warum

in einem

sollte andern

seine

Jurisdiction,

thatsächlicher

weil ihr Lehensherr von größerer

Würde

sein? war

als alle anderen Süzeräne, die Vasallenfürsten Deutschlands eine vollständigere Unabhängigkeit als die Vasallenfürsten irgend eines andern Staates. ein Wahlreich.

Ferner war das Reich seiner eigenen Natur nach Bloße König- oder Herzogtümer, blos lokale Ge­

walten mochten wie Privatbesitz vom Vater auf den Sohn über­ gehen: das Reich jedoch, die Macht eines Oberhaupts der Christen­ heit, die weltliche Statthalterschaft Gottes auf Erden, konnte nicht den Wechselfällen erblicher Nachfolge ausgesetzt werden;

es mußte

der höchste Lohn, das geeignete Ziel des Ehrgeizes für die würdigsten der römischen Bürger bleiben, das heißt, für alle getauften, über Sklavenrang stehenden Männer.*

Der

praktische

Erfolg

dieser

glänzenden Theorie war der, daß, während die Kronen von England

* Natürlich verlangte das alte teutonische Gesetz, in Deutschland wie sonst überall, die Erwählung aus einer königlichen Familie, doch wuchs in England und Frankreich das erbliche Element auf Kosten des wählbaren, während in Deutschland der Prozeß umgekehrt verlief.

Das heilige römische Reich.

33

und Frankreich erblich wurden, die Krone Deutschlands, als un­ trennbar vom Reich, rein wählbar ward. Dann folgten die Consequenzen, welche notwendig in jedem außer einem sehr primitiven Zustand der Gesellschaft auf die Errichtung eines reinen Wahlreichs folgen müssen. Jeder Kaiser, ungewiß, ob er seine Würde auf seinen Sohn zu übertragen im Stande sein würde, dachte mehr auf Vergrößerung der Macht seiner Familie, als auf die Erhaltung der Würde seiner Krone. Heimgefallene oder verwirkte Lehen, welche in Frankreich dazu gedient haben würden das königliche Gebiet zu vergrößern, wurden in Deutschland benutzt, um Fürsten­ tümer für Kinder zu beschaffen, deren Erbansprüche auf Höheres ungewiß waren. Die Erwählung eines jeden Kaisers wurde gewöhnlich durch Zugeständnisse an die Kurfürsten erkauft, und wenn ein Kaiser so glücklich war die Erwählung seines Sohnes zum König der Römer bei seinen Lebzeiten zu bewirken, so wurde diese besondere Gunst durch noch weitere Concessionen erkauft. Das Reich sank zu einer solchen Stufe der Armuth, daß es durchaus notwendig wurde solche Fürsten zu erwählen, bereit Erbländer groß genug waren, um es ihnen zu ermöglichen sich in ihrer kaiserlichen Stellung zu behaupten. Solche Fürsten machten ihre Erbländer zum Hauptgegenstand ihres Interesses und zogen sich ganz und gar in ihre ererbten Hauptstädte zurück, mitunter außerhalb der Grenzen der römischen oder deutschen Herrschaft. Italien fiel ab, Burgund wurde nach und nach von Frankreich verschlungen. Das Heilige römische Reich war zu einem deutschen Königreich herab­ gesunken , dessen Königswürde sogar wenig mehr als ein Schau­ gepränge war. In einer Art von verzweifelter Hoffnung die königliche Autorität wieder zu beleben rief Maximilian den könig­ lichen Titel* wieder ins Leben, der fast vergessen war seit den * Die alten Titel „Rex Orientalium Francorum“ etc. waren unter den Ottonen nach und nach aufgegeben worden. Von da an führte der Free man, htstor. Abhandlungen.

3

34

Das heilige römische Reich.

Tagen Otto's. Und in Folge einer sonderbaren aber unvermeidlichen Rückwirkung wurde die Krone, die rein wählbar geworden war, von dieser Zeit an thatsächlich erblich. Die Form der Er­ wählung wurde niemals aufgegeben , doch wurde ein Oberhaupt nach dem andern aus den, Hans Oestreich erwählt, weil sich das Nationalgefühl dagegen auflehnte einen Fremden zu erwählen, während kein anderer deutscher Fürst zu finden war, der im Stande war die Last zu tragen. So wurde beides, das römische Reich und das deutsche Königtum, als ein Teil des Erbes des Hauses Oestreich betrachtet.** Bon Karl V. an war der römische Kaiser wieder ein mächtiger Fürst, doch seine Macht besaß er weder als römischer Kaiser »och als deutscher König. Der Kaiser-König mit seinem König- inid Kaiserreich sank, wie wir schon sagte», dazu herab, der Präsident einer der losesten föderalen Körperschaften zu sein. So geschah es, daß die Erwerbung der Kaiserwürde das alte Königreich der Ostfraiiken erdrückte und auflöste. Dennoch war der Einfluß des glänzenden Besitztunis nicht gänzlich zerstörend. Er erhielt in dem Prozeß der Schwächung selbst die Reichsidee, gleich dem Epheu, der zuerst die Mauer schadhaft macht und sie dann vor dem Einsturz bewahrt. Der Besitz des Reichs schwächte in jeder Beziehung die wirkliche Macht und de» Einfluß des Königtums, aber er sicherte sein Bestehen. Wir können überzeugt sein, daß jedes andere Königreich, dessen König so wenig wirkliche Autorität behalten hätte als der von Deutschland, viel rascher zerfallen sein ivürde, als dies bei DeutschKaiser, wenn er auch in Aachen und manchmal in Arles gekrönt war. keinen Titel als „Imperator1 oder „Rex Romaiiorum“. Maximilian stellte die alte Benennung unter dem Namen „Rex Germaniae“, „König in Germanien" wieder her. Diese Bezeichnung war im neunten Jahrhundert allgemein, wenn sie auch nicht als ein förmlicher Titel gebraucht wurde. • Die Wahl Karl VII. von 23Client war keine Ausnahme. Er erhob Ansprüche auf die Erbnachfolge in Oestreich.

35

Das heilige römische Reich. land geschah.

Indes; der König

von Deutschland war zugleich

römischer Kaiser; als solcher war er umgeben von einer Atmosphäre unbestimmter Majestät

vor allen andern Fürsten;

er war der

Gegenstand mysteriöser Verehrung, welche seine Vasallen nicht ver­ hinderte ihn aller seiner wirklichen Vorrechte zu berauben, die sie jedoch verhinderte denken.

ernstlich an die Vernichtung

seiner Würde zu

Das röniische Reich, so weit als irgend eine wirkliche

Macht oder Würde in Betracht kam, lag versenkt in der Gruft Friedrichs,

des Wunders der Welt.

Aber sein Geist ging noch

um während vierhundertundfünfzig Jahren.

Der Cäsar überlebte

das Interregnum; er überlebte die goldene Bulle; er überlebte die Reformation; er überlebte den westfälischen Frieden. Kaiser,

Die römischen

mächtig als Häupter des Hauses Oestreich, wurden

als

Könige und Cäsaren ein fast ebenso gegenstandloses Prunkgebilde, als ein merowingischer

König oder ein ägyptischer Kalif

Stamm der Abbassiden. sah die Hälfte

vom

Das weltliche Haupt der Christenheit

seines eigenen Königreichs der Ketzerei verfallen.

Es sah seine Vasallen, groß und klein, die Rechte unabhängiger Fürsten sich zueignen. eine nach

der andern,

Es sah Städte und Provinzen von denen

einige

abfallen,

völlige republikanische

Unabhängigkeit erlangten, andere von dem königlichen oder revo­ lutionären Frankreich

verschlungen

wurden.

Doch

die

gebrech­

liche Barke, die Cäsar und sein Glück trug, hielt noch ihre Bahn inmitten so

mancher feindlichen Stürme.

Nur als der magische

Zauber des Wortes Kaisertum durch den Aufgang emporgekommener und rivalisirender Kaiser gebrochen wurde, gab das Gebäude endlich nach.

Die Annahme des Kaisertitels durch den Moskowiten war

der erste Schritt; doch hatte dieser allein wenig Wirkung. russische

Reich

konnte

in einer

unbestimmten

Das

Vorstellung

als

Repräsentation des Reiches von Byzanz gelten, oder man konnte von seinem Herrscher als von einem Kaiser sprechen gemäß jener groben Analogie, welche den kaiserlichen Titel den barbarischen Fürsten von 3»

36

Das heilige römische Reich.

China und Marokko verleiht. Erst als ein Rival nahe an seinem eigenen Boden erschien, fiel, das Heilige römische Reich deutscher Nation ganz auseinander. Dem Kaiser der Römer zur Seite erhob sich plötzlich ein „Kaiser der Franzosen", der sich mit vollendeter aber einleuchtender Unverschämtheit für den wahren Nachfolger Karl des Großen ausgab. Das Königreich Italien, fast vergessen seit den Tagen der Hohenstaufen, erstand wieder, um ein neues Diadem auf dieselbe vermessene Stirne zu setzen. Ein König von Ronl, ein seit den Tagen Tarquins nicht mehr gehörter 9tame, erschien danach, als solle er die lange Reihe der deutschen „Reges Roma­ norum“ verspotten. Der Annahme des Kaisertitels durch Bona­ parte wurde durch Franz II. in einer Weise begegnet, welche zeigte, daß derselbe seine eigene Existenz schon fast vergessen haben mußte. Er, der König von Deutschland und erwählter römischer Kaiser, konnte kein besseres Mittel finden sich mit dem corsischen Usur­ pator auf eine Stufe zu stellen, als das, seinem Titel den monströsen, lächerlichen und unsinnigen Zusatz „Erbkaiser von Oestreich"* * „Erbkaiser von Oestreich" im Gegensatz zu „Erwählter römischer Kaiser". Dies, wie Bryce bemerkt, schließt neben seiner Absurdität in anderer Beziehung ein vollständiges Vergessen des Sinnes des Worts „er­ wählter" in sich. Der Titel „Romanomm imperalor electus“ wurde von Maximilian unter päpstlicher Sanction eingeführt, um zu bezeichnen, was bis dahin durch „Rex Romunorum in Cuesarem proinoveudus“ bezeichnet worden war, das ist ein Fürst, erwählt in Frankfurt und gekrönt in Aachen (später auch gekrönt in Frankfurt), der, weil vom Papst in Rom noch nicht gekrönt, noch nicht Kaiser ist. Dies war das Verhältnis aller Kaiser seit Karl V., von denen keiner in Rom vom Papst gekrönt wurde. Sie waren daher nur „erwählte Kaiser", ebenso wie ein erwählter Bischof einer ist, der gewählt, jedoch noch nicht geweiht ist. Doch wenn „Erbkaiser" dem „er­ wählten Kaiser" gegenübergestellt werden konnte, ist es klar, daß man glaubte, daß „erwählter" nicht gewählt, sondern wählbar bedeute, im Gegensatz* zu erblich. Kurz, Franz II. scheint vergessen zu haben, wer und was er war. Im Friedensvertrag von Preßburg, 1805, wird der Kaiser durchweg „Emporeur (VAllemagne et d’Autricho* genannt. Im Eingang ist er nur „Kaiser von Oestreich".

Das heilige römische Reich.

beizufügen.

37

Ein Erbkaiser von Lichtenstein würde den Augen Karls

oder Otto's oder Friedrichs nicht als größere Absurdität erschienen sein.

Als es so weit gekommen war, war es für die alten Titel

von Nom und Deutschland Zeit zu verschwinden.

Als der Wahl­

könig sich selbst zu einem Erbkaiser gemacht hatte, glaubten Herzöge und Kurfürsten ein gleiches Recht zu haben, sich zu Erbkönigen zu machen. sich

ans

Die neu ausgeheckten Majestäten und Hoheiten lehnten gegen

ihren

abtrünnigen

Oberherrn,

einen willigen Protector int Westen des Rheins. Reich und das deutsche Königtum

und

fanden

Das römische

waren jetzt nicht mehr; der

fremde Kaiser erklärte, daß er ihre Existenz nicht anerkenne,* und ihr eigener kaiserlicher Herr

gab

die endgültige Auflösung der

Schöpfuitg Augusts, Karls und Otto's in einem Erlaß

bekannt,

in welchem außer in der formellen Aufzählung seiner eigenen, jetzt herabgewürdigten Titel der Name Nom uns nicht begegnet.** Wir haben durcheilt,

so eine Periode von mehr

deren Umwälzungen

als 800 Jahren

von Bryce mit außerordentlicher

Klarheit und Kraft dargelegt sind.

Er zeigt die große Regie­

rung Heinrich III. in der ihr gebührenden hervorragenden Be­ deutung, den Moment

in welchem das Reich den höchsten Gipfel

wirklicher Macht erreichte.

Hierauf folgten die Kämpfe zwischen

den geistlichen und weltlichen Gewalten unter seinem Sohn und seinem Enkel, die zeigten,

wie eitel die Theorie war, welche er­

wartete, daß der römische Cäsar und der römische Papst in Har-

* Vgl. den von Bonaparte zu dem Dekret über den Rheinbund ge­ machten Zusatz: „Sa Majeste ... ne reconnatt plus Vexistence de la Constitution gcrmanique“. ** Der durchweg gebrauchte Ausdruck ist: „Deutsches Reich". Doch die Titel folgen sich, wie von Alters: „Erwählter römischer Kaiser", „König in Germanien," re.; nur der neumodische „Erbkaiser von Oestreich" ist zwischen dieselben eingeschoben. Selbst das „zu allen Zeiten Mehrer des Reichs", die alte, lächerliche Uebersetzung des „semperAugustus“, fehlt nicht in einem Dokument, welches das Ende des Reichs bekannt giebt.

38

Das heilige römische Reich.

nioiiie zusammenwirken würden. Der höchste Enthusiasmus Bryce's jedoch heftet sich an das große Geschlecht der Schwaben. Er giebt uns ein glänzendes Bild der Negierung Friedrich Barbarossa's, in dessen wirklichen Charakter ivie in dessen Stellung er vollständig einbringt, wie wir kaum zu versichern brauchen. In Bezug auf die Negierung seines Enkels, „Fridericus, stupor mundi et In­ novator mirabilis“, ist Bryce weniger beredt und erschöpfend, als wir es hätten erwarten sollen; doch betont er ausdrücklich die Wichtigkeit seiner Negierung als eines Abschnitts in der Kaiser­ geschichte, und deutet herzhaft auf die Thatsache hin, daß „das Reich mit Friedrich zu Fall kam". Das Reich von Rudolf an ist, kurz gesagt, ein Wiederaufleben, etwas dem Reich der Palaiologen in Konstantinopel analoges. Innere Auflösung hatte im Westreich bewirkt, was fremde Erobe­ rung im Ostreich bewirkt hatte. Rudolf, Adolf, Albrecht waren lediglich deutsche Könige; sie überstiegen niemals die Alpen, um sich die goldene Krone von Rom oder .bie eiserne Krone von Monza aufzusetzen. Mit Heinrich VII. erreichen wir eine neue Periode, oder vielmehr seine Regierung scheint von einer früheren Zeit um einige Jahre vorgerückt. Das Wiederaufleben des klassischen Studiums hatte der Reichsidee einen frischen Impuls gegeben, gerade wie das Wiederaufleben des bürgerlichen Rechts dies zu einer früheren Zeit gethan hatte. Dante ist in seinem Werke De Monarchia der große Darsteller der Ideen, mit welchen man damals das Reich betrachtete. Man darf nicht einen Augenblick glauben, daß Dante's Gegenstand die Monarchie im gewöhnlichen Sinne des Wortes ist, Königsherrschaft im Gegensatz zu Adels- oder Volksregiment. Bei ihm ist Monarchia gleichbedeutend mit Imperium. Es mag viele Könige und Fürsten geben, aber es giebt nur einen Monarchen, einen allgemeinen Oberherrn, den römischen Kaiser. Er beweist ausführlich in der dem Jahrhundert eigentümlichen besondern Art

Das heilige römische Reich.

39

der Erörterung, das; ein universeller Monarch nötig ist, daß der römische Kaiser von Rechts wegen der nniverselle Monarch ist, und daß er seine Krone nicht vom Papst, sondern unmittelbar von Gott allein empfangen hat. Aber er hat nicht ein Wort des Beweises um zu zeigen, das; der deutsche König wirklich der römische Kaiser sei; dies wird als etwas Selbstverständliches angenommen; es lag keine Notwendigkeit vor zu beweisen, weil niemand es bezweifelte, daß, welches Recht immer dem Angustus Cäsar zustand, dies auch seinem gesetzlichen Nachfolger Heinrich von Luxemburg zustehe. Diesem Teil seines Gegenstandes, einem Teil der nach unserer Ansicht eines Beweises eben so sehr bedurfte als irgend ein anderer, widmet Dante nicht eine einzige Zeile. Die Illusion lebte un­ berührt fort. Wir haben nicht Raum, Bryce durch alle Abschnitte der späteren deutschen Geschichte zu folgen, als das Reich seinen römischen und kaiserlichen Charakter ganz verloren hatte, als der Kaiser wieder nur ein deutscher König, oder nur der Prä­ sident eines deutschen Bundes war. Die Schritte, durch welche Deutschland von einem Königreich zu einem Staatenbund herab­ sank, haben ihr eigenes Interesse, jedoch ein solches, das eher die Bundes- als die Neichsgeschichte berührt. Deutschland ist, so viel wir wissen, das einzige Beispiel eines Bundesstaates, der nicht durch die Vereinigung vorher getrennter Elemente, sondern durch die Auflösung eines früher bestehenden Königreichs entstand. Vom westfälischen Frieden — wir könnten fast sagen vom Interregnum an — hat der Historiograph des Reichs wenig mehr zu thun, als die eigentümliche und blinde Zuneigung zu beobachten, mit der man an dem bloßen Namen einer Sache hing, die einst groß und ruhmvoll gewesen war. Und doch haben wir gesehen, daß selbst der Name nicht ohne thatsächliche Wirkung war. Wenn nach Bryce's emphatischen Worten „das deutsche Königtum unter der Last des römischen Reichs zusammenbrach", so war es sicherlich

40

Das heilige römische Reich.

der Name des römischen Reichs, welcher die getrennten Stücke vor dem gänzlichen Auseinanderfallen bewahrte. Und die Erinnerung an das Reich wirkt noch in der heutigen Politik, obgleich wir fürchten mehr im schlimmen als im guten Sinn. Patriotische Deutsche blicken mit einem Seufzer auf die Tage zurück, in denen Deutschland unter den Ottonen und Heinrichen groß und geeinigt war, aber dies sind eher Erinnerungen an das Königtum, als an das Reich. Die Erinnerung an das Reich dient heute hauptsächlich dazu, die Position der beiden Emporkömmlinge unter den Mächten zu stützen, die jetzt den Kaisertitel zu mißbrauchen wagen. Weil Gallien einst eine deutsche Provinz war, so möchte der Herr von Paris den Glauben bei uns erwecken, daß der Nachfolger Karls unter einem Volk zu finden sei, das in den Tagen des großen Kaisers noch keine nationale Existenz besaß. Weil gewisse östreichische Herzoge zu römischen Kaisern gewählt wurden, werden wir auf­ gefordert bald den großen Friedrich als Vorgänger von Franz Josef zu verurteilen, bald Franz Josef als Nachfolger des großen Friedrich zu rechtfertigen. Wir wollen mit den feurigen und beredten Bemerkungen Bryce's über diesen letzteren Punkt schließen. Einer nachdrücklicheren Widerlegung der großen östreichischen Betrügerei sind wir selten begegnet: „Oestreich hat in der That in mancher Hinsicht die Politik der sächsischen und schwäbischen Cäsaren nur zu getreu wieder ge­ geben. Wie Oestreich unterdrückten und beleidigten jene das italienische Volk; doch dies geschah in der Verteidigung von Rechten, welche die Italiener selbst zugestanden. Wie Oestreich, gelüstete es jene nach einer Herrschaft über die Volksstämme an ihren Grenzen; doch diese Herrschaft war für sie ein Mittel, Civilisation und Religion in wilden Gegenden zu verbreiten, und nicht mit ihren Einkünften einen verhaßten Hof und Adel zu mästen. Wie Oestreich strebten jene danach, zu Hause eine starke Negierung aufrecht zu erhalten; aber sie thaten es zu einer Zeit, in der eine starke

Das heilige römische Reich.

41

Regierung die erste aller politischen Segnungen war. Wie Oestreich sammelten und unterhielten jene starke Armeen; doch waren jene Armeen aus Rittern und Baronen zusammengesetzt, die für den Krieg allein lebten, und nicht aus Bauern, die ihrer Arbeit ent­ rissen und zu der grausamen Aufgabe verdammt waren, ihre eigene Sklaverei durch Zerstörung der Ansprüche einer andern Nationalität zu verewigen. Sie sündigten schwer, aber sie sündigten in der trüben Dämmerung einer halbbarbarischen Zeit, und nicht in dem Mittagslicht moderner Civilisation. Die Begeisterung für mittel­ alterliche Treue und Einfalt, die vor einigen Jahren so lebendig war, hat ihren Lauf gehabt, und wird vermutlich nicht bald wieder erwachen. Wer die Geschichte des Mittelalters studirt, wird nicht leugnen, daß die Helden desselben, selbst die besten, in mancher Beziehung wenig besser als Wilde waren. Aber wenn er sich neueren Zeiten nähert und sieht, wie während der letzten drei­ hundert Jahre Könige ihre Unterthanen und sich selbst gegenseitig behandelten, wird er die Wildheit des Mittelalters vergessen, er­ schreckt über die Herzlosigkeit, die Verräterei, die Ungerechtigkeit (um so gehässiger, weil sie manchmal die Maske der Gesetzlichkeit trägt), welche die Annalen der Militärmonarchieen Europas schändet. Was aber die Ansprüche des modernen Oestreichs anbelangt, so liegt die Sache so, daß der Streit um den Wert des alten Systems gar nichts mit denselben zu thun hat. Der Tag kaiserlicher Größe war schon vorüber, als Rudolf, der erste Habsburger, den Thron bestieg: während in der Periode, die man die östreichische nennen kann, von Maximilian bis zu Franz II., das heilige Reich für Deutschland nur eine Last und ein Hindernis war, welches die unglückliche Nation trug, weil sie nicht wußte, wie sie sich davon befreien sollte. Die Deutschen mögen sich gerne auf das alte Reich berufen zum Beweis, daß sie einst ein geeinigtes Volk waren. Auch ist es nicht Unrecht, die Politik des zwölften mit der des neunzehnten Jahrhunderts zu vergleichen, wenn auch der Schluß

42 von bem

Das heilige römische Reich.

einen auf

das andere

Urteil zu verraten scheint.

einen Mangel an historischem

Aber gänzlich absurd ist es, Franz

Josef von Oestreich zum Nachfolger Friedrichs von Hohenstaufen zu machen, um den niedrigsten und geistlosesten modernen Despotismus mit dem Beispiel des Vorbildes des mittelalterlichen Rittertums zu rechtfertigen, der edelsten Schöpfung mittelalterlichen Denkens."*

* sJch lasse Bryce's Worte und meine eigenen stehen, wie dieselben zuerst geschrieben waren. Seitdem haben wir das Reich des „niedrigen und geistlosen Despotismus", gezüchtigt durch eine gesunde Niederlage, einen ehrenvollen Platz in Europa gewinnen sehen. Wir haben den Tyrannen Ungarns sich in dessen gesetzmäßigen König wandeln sehen. Wir haben Italien sich vergrößern und kräftigen sehen durch die Befreiung Venedigs und Roms. Wir haben die Geißel des Unterdrückers brechen sehen: die Macht, welche so lange das Element der Beunruhigung in Europa war, ist endlich zertrümmert, und anstatt daß die Gränze Frankreichs bis zum Rhein ausgedehnt wurde, ist die Gränze Deutschlands wiederum bis zur Mosel ausgedehnt worden. Die Einheit des größeren Teils von Deutschland ist gesichert und, in Folge einer verzeihlichen Jdeenverwirrung, der Kaisertitel von dem Haupt der geeinigten Nation angenommen worden. Ich brauche nicht zu erweisen, daß ein solcher Titel streng genommen ungenau ist, aber es würde schwer sein für das Haupt einer Conföderation von Königen und an­ deren Fürsten einen geeigneteren Titel als den des Kaisers zu finden. Das neue deutsche Reich ist eine zeitgemäße Wiederbelebung des alten deutschen Königtums, aber, wohlverstanden, in keinem Sinn eine Wiederbelebung des heiligen römischen Reichs. Dies ist für immer dahingeschwunden.)

II.

Die Wanken unö die Gallier. National Review, October 1860.

Wir halten es für richtig unsern Lesern bei Beginn dieses Aufsatzes zu sagen, worüber wir zu sprechen beabsichtigen, und worüber nicht. Wir beabsichtigen nicht, uns in antiquarische Details über die Ansiedelung der Franken und Gallier zu vertiefen, oder uns und unsere Leser mit irgend welchen auf die Leudes, Autrustiones und Scabini bezüglichen Fragen zu verwirren. Noch weniger gelüstet es uns den zweifelhaften Boden gallischer oder britischer Ethnologie zu betreten, der bestimmten Gränzlinie zwischen den Gälen und Kymren nachzuspüren, oder über die bestimmten Be­ ziehungen der Beiger entweder unter sich oder zu ihren teutonischen Nachbarn zu entscheiden. Unsre Absicht ist es die ganze Geschichte Galliens von den ältesten bis auf die neuesten Zeiten rasch zu durchlaufen. Wir wollen über die gallische und fränkische Geschichte einen Ueberblick gewinnen von einem Gesichtspunkte aus, der nicht der allgemeine ist, der aber wohl geeignet ist über die Geschichte vergangener Zeiten, wie über die Ereignisse unserer Tage ein bedeutendes Licht zu verbreiten. Vergangenheit und Gegenwart stehen in ewiger Beziehung; aber die Art der Beziehung, die zwischen ihnen besteht,

44

Die Franken und die Gallier.

ist in den einzelnen

Fällen

sehr verschieden.

Alte Geschichte und

moderne Politik beeinflussen sich stets gegenseitig, aber die Formen, die der gegenseitige Einfluß annimmt, faltig.

Zuweilen

ist

es

die

sind

Aufgabe

des

unendlich

mannig­

Historikers

einen

wirklichen Zusammenhang und wirkliche Analogieen hervorzuheben, welche sich dem Auge der großen Menge entziehen.

Dies ist ganz

ersichtlich seine Pflicht bei der Beschäftigung mit der alten Geschichte Griechenlands und Italiens, in hohem Grade auch beim Studium der frühesten und mittelalterlichen Geschichte unserer eigenen Insel. Andererseits liegt es ihm mitunter ob,

falsche Verbindungen und

falsche Analogieen umzustürzen, die nicht allein oft die Geschichts­ forscher mißleitet,

sondern auch einen höchst verderblichen Einfluß

auf die öffentlichen Angelegenheiten ausgeübt haben. erste Pflicht, wenn er sich Frankreich beschäftigt. die alte Geschichte

Es

Dies ist seine

mit der Geschichte von Gallien

und

ist von Wichtigkeit nachzuweisen, daß

von Athen und Nom keine Sammlung todter

Chroniken, sondern das beste Lehrbuch für wirkliche Staatsmänner jedes Zeitalters ist; es ist von Wichtigkeit nachzuweisen, daß das England unserer Tage in jeder wesentlichen Hinsicht eines und dasselbe mit dem England unsres frühesten Bestehens ist. nicht geringerer Wichtigkeit

Aber es ist von

falsche Annahmen zu zerstören, die die

Wahrheit der Geschichte verkehren und ränkevolle Naturen in Stand setzen, grundsatzlosen Angriffsplänen eine falsche Färbung zu geben. Wenn es der Mühe wert ist nachzuweisen, daß Königin Victoria in jedem Sinne die wirkliche Nachfolgerin Cerdics und Alfreds und Eduard I. ist, so ist es nicht minder der Mühe wert nach­ zuweisen, daß Louis

Napoleon Bonaparte in keinem denkbaren

Sinne der Nachfolger Chlodwigs oder Karl des Großen ist. Es

giebt vielleicht nichts,

was

die

meisten Menschen

so

schwierig zu beherrschen finden, als die Wissenschaft der geschicht­ lichen Geographie.

Es giebt in der That nur Wenige, welche die

Art und Weise ganz begreifen,

in der Völker ihre Wohnsitze und

Die Franken und die Gallier.

Länder ihre Gränzen geändert haben. weil die Thatsachen immer

45

Wir sagen, ganz begreifen,

in einer gewissen Art bekannt sind,

während es an jedem lebendigen Erfassen derselben fehlt.

Die

Leute kennen bestimmte Vorkommnisse, doch lassen sie ihre Kennt­ nis so zu sagen nicht wirksam werden. von

Fast jeder

der Aufeinanderfolge der Brite» und

Insel gehört.

hat z.

B.

Sachsen auf unserer

Jedermann hat eine Art von Vorstellung davon,

daß „die Sachsen" seine eigenen Vorfahren sind, und daß dieselben „die Briten" in den Winkel drängten; aber er begreift die That­ sache nicht vollständig, daß diese „Briten und Sachsen" einfach Waliser und Engländer sind.

Wenn Dr. Guest als tüchtiger und

gründlicher Gelehrter von „den Engländern des fünften und sechsten Jahrhunderts" spricht, so klingt dies den meisten Ohren paradox. Dagegen wird der unverkennbarste Teutone glattweg von „unsern britischen Vorfahren" sprechen, und in dem Namen von Haydons Geniälde:

„Alfred

Widersinn entdecken.

und

der

erste

britische

Gerichtshof"

keinen

In derselben Weise haben viele eine Art

von Ueberzeugung, daß Gallien der alte 9tame von Frankreich ist, uiid Frankreich der neue Name von Gallien.

Man sieht, daß

Karl der Große „König von Frankreich" genannt wird, und man glaubt, daß das Frankreich Karl des Großen dasselbe wie das Ludwig XIV. oder gar Bonaparte's sei.

Eine Ursache des Uebels

ist zweifellos der Mangel an geeigneten historischen Karten.

Nicht

jedes Haus rühmt sich ein Exemplar von Spruners Handatlas zu besitzen.

Es wird verlangt, man

solle die Weltgeschichte mit

zwei Arten von Karten studiren; die eine soll für den Zeitabschnitt von Adam bis zu Theodorich oder bis zu Karl V., wir sind nicht sicher bis zu wem, dienen, die andere von Theodorich oder Karl V. bis zum Jahr 1860. Will man über Johann und Philipp August lesen, so thut man es mit Hülfe einer Karte des römischen Galliens, oder mit Hülfe einer Karte des napoleonischen Frankreichs. Will man nun die Heimstätten der zwölf Pairs von Frankreich auffinden, so ist dies

46

Die Franken und die Gallier.

keine leichte Sache, wenn man die Wahl hat zwischen einer Karte, die einem nur Lugdunensis und Germania prima zeigt, und einer Karte, die einem nur die Departements der Gironde oder der Ille et Vilaine zeigt. Man lieft von der Heimkehr des Richard Löwenherz aus dem Orient, und wie er dabei in die Hände des Herzogs von Oestreich fällt und aus diesen sofort in die des „Kaisers von Deutschland" übergeht. Dieser Herzog und dieser Kaiser sind nicht wenig mysteriöse Persönlichkeiten für alle die, deren ganze Vorstellung von Oestreich die eines Etwas ist, dessen eines Ende in Venetien und dessen anderes Ende in Siebenbürgen gelegen ist. Käme nun einem Mann, der diese Ansicht hegt, ein Exemplar des Eginhard in die Hände, und er fände darin die Städte Mainz, Köln und Trier als zu Frankreich gehörig erwähnt, so würde er glauben, er sei auf ein unwiderlegbares Argument zu Gunsten der Ansprüche von Paris auf die Rheingrenze ge­ stoßen. Ein „König von Frankreich" herrschte einst bis über die Elbe, die Donau, den Tiber und den Ebro! Ein patriotischer Franzose würde diese Entdeckung als den größten aller Triumphe ausposaunen; ein patriotischer Engländer fände sich vielleicht ver­ anlaßt, ein so gefährliches Licht unter den nächsten Scheffel zn stellen. Unsere Aufgabe ist es seht zu zeigen, daß die Thatsachen gerade das Gegenteil ergeben, insofern sich überhaupt etwas aus ihnen ergiebt. Wenn aus den Erscheinungen mittelalterlicher Geo­ graphie irgend ein Schluß auf moderne Politik gezogen werden kann, so würden diese eher das Anrecht Maximilians von Baiern auf die Gränze des atlantischen Oceans erweisen, als das Anrecht Napoleons von Paris auf die Rheingränze. Wir wollen für den Fall, daß es jemand als notwendig erscheinen sollte die Thatsache entweder zu bejahen oder zu ver­ neinen, damit beginnen zuzugeben, daß das moderne Frankreich ohne allen Zweifel mit dem alten Gallien in einer andern Weise ver­ bunden ist, als in welcher das moderne England mit dein alten

Die Franken und die Gallier.

47

Britannien int Zusammenhang steht. Es ist zweifellos, daß im heutigen Frankreich das prädominirende Blut nicht das der erobernden Franken ist, sondern das der unterworfenen Gallo -Nomancn; während in England das prädominirende Blut nicht das der unterworfenen Briten ist, sondern das der erobernden Angeln und Sachsen. Es ist sicher, daß die fränkische Eroberung Galliens ntehr der normannischen als der eng­ lischen Eroberung unseres eignen Landes analog geweseit sein muß. Der Franke in Gallien und der Normanne in England prädominirten eine gewisse Zeit; aber am Ende starb das weniger zahlreiche und fremde Element aus, und Gallien blieb wieder Gallien, ttnb England wieder England. In der That finden sich in England noch mehr normannische Spuren, als fränkische in Frankreich. Die romanische Infusion in unsere teutonische Sprache ist viel ausgedehnter als die teutonische Infusion in die romanische Sprache Galliens. Der Hauptunterschied ist der, daß Gallien oder vielmehr ein Teil desselben seinen Namen in Frankreich ver­ ändert hat, während England seinen Namen nicht in Normandie verändert hat. Dies ist »eben anderen Ursachen zweifellos der größeren Festigkeit der staatlichen und nationalen Zustände des elften Jahrhunderts im Vergleich ztim sechsten, sowie dem Umstand zuzuschreiben, daß Wilhelm von der Normandie darauf Anspruch erhob, nicht der unberechtigte Eroberer Englands zu sein, sondern der rechtmäßige Erbe seiner Krone. Andererseits wurde Gallieit niemals, selbst dem Namen nach nicht, so völlig fränkisch, als Britannien englisch. Dies mag beim ersten Hören befremdlich klingen, weil „Brite" und „britisch" jetzt zur Bezeichnung unsrer selbst so ganz alltägliche Ausdrücke geworden sind: doch ist ihr Gebrauch in diesem Sinn ganz netten Ursprungs; er kam einfach in Ausnahme durch die in der politischen Sprache immer und sonst häufig vorhandene Notwendigkeit, einen Namen zu haben, der England, Wales, Schottland und Irland gleicherweise in sich be-

48

Die Franken und die Gallier.

greift. Noch zu Jakob II. Zeit verstand man unter dem Wort Brite einen Waliser*; und wir glauben, daß gerade vor einem Jahrhundert die berühmte Declaration Georg III., „er rühme sich des Namens", nicht eines Engländers, sondern „eines Briten", von vielen seiner Unterthanen für einen schlimmen Anschlag des Schotten Bute gehalten wurde. Bis heute sind „England" und „Engländer" die Namen, die uns in der alltäglichen Sprache, wie in der Rhetorik des Herzens zuerst begegnen. Das Wort „Brite" im Mund eines Engländers bleibt entweder für die künst­ liche Poesie, für die Sprache der auswärtigen Politik, oder für die Besänftigung eines schottischen Hörers aufgespart. Vor der Vereinigung Englands und Schottlands war der Name „Brite" als ein Name, der die Engländer mit einbegriff, ganz unbekannt; dagegen ist der Name „Gallien" als Bezeichnung für Frankreich niemals ganz ausgestorben. Wie stellt sich die Sache in der Zunge dar, die so lange die gemeinsame Sprache Europas war? Der pedantischste Verehrer Ciceros nahm niemals Anstand, ohne Weiteres von Anglas und Angibt zu sprechen; Francas und Francia da­ gegen sind kaum bekannt, außer in der mehr oder weniger formellen Sprache. Gallus, Gallia, Galliarum rex sind ständig gebrauchte Ausdrücke solcher Schriftsteller, die nie an eine analoge Anwendung der Worte Britannus und Britannia gedacht haben würden. In kirchlichen Dinge» ist Gallien immer sogar die formelle Bezeichnung geblieben. Die gallikanische Kirche entspricht der anglikanischen, der Primas der Gallier dem Primas von ganz England. Und wenn als Grund angegeben wird, daß England nicht den gleichen Umfang mit Britannien hat, so hat doch — glücklicherweise — * So in der von Lord Macaulay angeführten Ballade: „Both our Britons are fooled, Who the laws overruled, And next Parliaraent both shall be plaguily achoolod.“

Die „Britons" sind die Waliser Jeffreys und Williams.

Die Franken und die Gallier.

49

rbensowenig Frankreich den gleichen Umfang mit Gallien. Wenn Britannien sowohl Schottland als England in sich begreift, so begreift Gallien sowohl Belgien und die Schweiz, als Frankreich in sich. Die Verschiedenheit der Bezeichnung bringt nur den wirk­ lichen Sachverhalt klar zu Tage. Frankreich ist noch wirklich gallisch; England ist in keiner Hinsicht britisch, außer in einem Sinne, der erst spät für politische Zwecke in Aufnahme ge­ kommen ist. Wenn wir uns zu einer Karte des römische» Reichs wenden, so finden wir im Westen Europa's die große Provinz Gallien, deren Ausdehnung, wie wir im letzten Absatz andeuteten, weit größer war, als die des heutigen Frankreich. Ihre Grenzen sind der Ocean, die Pyrenäen, die Alpen und der Rhein. Sie umfaßt die gegenwärtigen Staaten Frankreich, Schweiz und Belgien, das kürzlich geraubte Herzogtum Savoyen, sowie Teile der Nieder­ lande und der deutschen Staaten Preußen, Baiern und Hessen. Und damals, wie jetzt, war die Abgrenzung geographisch, und nicht national. Wie gegenwärtig Frankreich den größten Teil, "wenn auch bei weitem nicht das Ganze der alten Provinz repräsentirt, so nahmen in jenen Zeiten Männer von keltischem Blut den größten Teil, doch nicht das Ganze, des geographischen Galliens ein. Der Germane ivohnte damals, wie jetzt, auf beiden Ufern des Rheins; der Baske wohnte damals, wie jetzt, in Aquitanien, obgleich seine Sprache jetzt in einen weit engeren Winkel eingeengt ist als der, den sie damals einnahm. Der einzige Anspruch des modernen Frankreich auf die Rheingrenze ist der, daß der Rhein die Grenze des alten Galliens war. Aber mit welchem Recht sollte einer der Staaten, in die das alte Gallien zerfiel, beanspruchen der Repräsentant des Ganzen zu sein? Es gibt keinen anderen Grund, als den der relativen Stärke, warum Frankreich nach geographischen Grundsätzen Belgien oder die Schweiz eher annektiren sollte, als Belgien oder die Schweiz Frankreich. Wenn die Pariser verlangen, ft re« man. bistor. Abhandlungen.

4

Die Franken und die Gallitt.

50

sich bis zum Rhein, als der Ostgrenze Galliens, auszudehnen, so können die Schweizer gerade so gut verlangen sich bis zum atlan­ tischen Ocean auszudehnen, der ebenso zweifellos ihre Westgrenze ist.

Und bei dieser Art Schlüsse zu ziehen, warum an den Alpen

Halt machen, warum sich mit Savoyen und Nizza zufrieden geben? Was sind die Lombardei und die Nomagna anders, als böslich vom gallischen Ganzen abgetrennte Bruchteile? Sie lagen ebenso gut innerhalb der Grenzen des cäsarischen Galliens

wie Paris

selbst. Cäsar verbrachte seine Winter in Lucca, ohne seine Provinz zu verlassen.

Er hatte seinen Weg in das gegenwärtige päpstliche

Territorium gefunden, ehe er die geheiligten Grenzen des römischen Italien verletzte. Geographische Notwendigkeiten und natürliche Grenzen mögen im Munde eines Despoten bedeuten, was diesem gerade beliebt; aber wir sehen wirklich nicht ein, warum ein jedes Argument zu Gunsten des französischen Anspruchs auf die Rhein­ grenze nicht eben so sehr zu Gunsten eines französischen Anspruchs aus die Grenze des Nubicon sprechen sollte. ES steht fest, daß, wenn auch das heutige Frankreich das alte Gallien insofern repräsentirt, als das gallische Blut in den Adern der heutigen Franzosen überwiegt, doch der Zusammenhang nur ein geographischer und ethnologischer ist. Das moderne Frankreich ist in keinen» politischen oder historischen Sinn der Repräsentant des alten Galliens.

Kurz, Frankreich in der heutigen Bedeutung

des Worts, die Monarchie von Paris, hat keine frühere zusammen­ hängende Existenz als seit dem 10. Jahrhundert; eine frühere Existenz als seit dem 9. Jahrhundert hat es überhaupt nicht. Das Pariser Frankreich »var in Gallien das, was Wessex in Eng­ land, was England in Britannien, was Castilien in Spanien, was Schweden in Skandinavien, was Preußen in Deutschland und Sardinien in Italien war, nämlich ein Staat unter mehreren, der sich zu größerer Macht erhob als irgend einer seiner Genosien, Und nach und nach viele von diesen seiner eigenen Substanz ein-

Die Kranken und die Gallier. verleibte.

51

Die Könige von Paris vereinigten nach und nach fast

alle Territorien ihrer nominellen Vasallen mit ihrer eignen Herr­ schaft, und daneben noch ein großes Territorium, welches ihnen niemals

eine förmliche Huldigung schuldete.

Könige von

Castilien auf der spanischen

So handelten die

Halbinsel,

die sardinische Monarchie vor unsern Augen in ist in der

That

Vorgängen:

so handelt

Italien.

ein großer Unterschied zwischen den

Italien

Doch

einzelnen

vereinigt sich mit Sardinien aus eigenem

freien Willen, während auf der spanischen Halbinsel Portugal nicht den leisesten Wunsch fühlt, mit Castilien und Aragon wieder zu einem Körper zu verschmelzen, und in Gallien die freien Staaten Belgien und die Schweiz noch weniger Verlange» enipfinden, von dem Pariser Despotismus verschlungen zu werden.

Andererseits

würde Sardinien, wenn es irgend einen italienischen Staat durch Betrug oder Gewalt, oder lediglich auf den Machlspruch auswärtiger Mächte hin annektirte, ebenso der Gerechtigkeit zuwiderhandeln, als dies bei einer Annexion Portugals durch Spanien oder Belgiens durch Frankreich der Fall wäre. Die Thatsache, die zu verstehen den Meisten so viele Schwierigkeiten bereitet, ist die, daß das moderne Frankreich eine Macht ist, die in der That auf diese Weise empor gewachsen ist.

Die Existenz Frankreichs in

dehnung, oder doch nahezu in derselben,

seiner heutige,» Aus­

hält man vielfach für

etwas fast in der ewigen Fügung der Dinge Begründetes.

Der

Name Frankreich, eine ganz schwankende politische Bezeichnung für einen Länderbezirk, der gewachsen ist, und der sich auch wieder verringern kann, wird gebraucht, als hätle er eine dauernde phy­ sische Bedeutung, wie die Nanien Spanien oder Italien.

Von

einer Zeit zu sprechen, in der Lyon und Marseille nicht zu Frank­ reich gehörten, würde Vielen ebenso widersinnig erscheinen, als von einer Zeit zu sprechen, in der Noin nicht einen Theil der italienischen Halbinsel bildete.

Sie rvissen, ohne es vollständig zu begreifen,

daß in Nonen, Poitiers und Toulouse einst Fürsten thronte», deren

4*

52

Die Franken und die Gallier.

Zusammenhang mit dem Pariser König mindestens ebenso lose war, als der Friedrichs von Preußen mit dem östreichischen Kaiser;

noch

weniger ist es ihnen klar, daß die Provence, Dauphins, Franche Comtö, Lothringen und Elsaß alle — und

einige derselben noch

vor kurzem — ebenso unabhängig von der Krone von Frankreich waren als von der Krone von Rußland.

Es war der Natur

der Dinge nach ebenso wenig ausgeschlossen, reich,

daß nicht Frank­

sondern Aquitanien, Toulouse oder Burgund die Supre­

matie in Gallien errang, als daß Sachsen oder Baiern zu der Stellung emporstieg,

die

gegenwärtig Preußen in

Deutschland

einnimmt. Zu dieser Art geographischer und historischer Verwirrung tragen einige Eigentümlichkeiten in der Sprache der modernen Diplomatie ein gutes Teil bei.

Als Louis Napoleon Bonaparte zuerst den

Wunsch aussprach, Herr von Savoyen zu werden, so erwählte er sich für diese Gelegenheit das Wort:

„revendiquer“ und der

wirkliche Akt der Annexion wurde durch das Hauptwort: „reunion“ und das Zeitwort:

„reunir“ bezeichnet.

Auf den ersten Blick

erscheint dies fast so, als wenn man von einem Räuber, der von uns die Börse oder das Leben verlangt, sagen wollte, er habe den Inhalt unsrer Börse „revendique“, um mit dem der seinigen eine

„r6union“ herzustellen.

Nach den Gesetzen der Etymologie muß

man unter „revendiquer“ das Zurückverlangen eines Gegenstandes verstehen, den man verloren hat, und unter „reunion“ muß man die Vereinigung von Dingen verstehen, die getrennt wurden, nach­ dem sie ursprünglich eins waren.

Doch hat im niodernen fran­

zösischen Sprachgebrauch die Silbe „re“ zweifellos ihren natürlichen Sinn verloren, und unter „reunion“ versteht man einfach „union“. Ausländer mögen nun dahin gelangen dies zu wissen, doch wird es ihnen schwerlich gelingen, es sich als wirklich vorzustellen; man mag die Deutung aus dem Wörterbuch kennen, doch ist man wohl nicht im Stande sich von der instinktiven Empfindung

frei zu

Die Franken und die Gallier.

53

machen, das; unter „revendiquer“ und „reunion“ das Wieder­ erlangen von Dingen zu verstehen ist, die verloren, und aller Vermutung nach ungerecht verloren worden sind. „La reunion de Savoie“ wird einem Engländer immer in der Bedeutung er­ scheinen, als ob Savoyen ein natürlicher, ungerechter Weise abge­ trennter Teil Frankreichs gewesen wäre. Bleibt Savoyen die nächsten hundert Jahre mit Frankreich vereinigt, so wird man lernen, es mit denselben Augen zu betrachten, als man gelernt hat die „reunion“ von Lothringen im letzten Jahrhundert, und die älteren „reunions“ der Provence und Lyons zu betrachten. Und man kann kaum bezweifeln, daß sich die französischen Diplomaten des Doppelsinns des Wortes, seiner etymologischen Bedeutung und seiner modernen Pariser Anwendung, absichtlich als einer Art von Deckmantel bedienten. Sie sagen uns, daß sie das Wort nur in der modernen Pariser Bedeutung gebrauchen; aber sie wissen sehr gut, daß die große Menge es schon jetzt und später noch mehr in seinem natürlichen Sinn auslegen wird. Und ferner ist es eine sehr bezeichnende Thatsache, daß es überhaupt eine Sprache giebt, in der „reunion“ dazu kam dasselbe zn bedeuten, als „union“. Es konnte dies nur in der Sprache eines Landes geschehen, in dem eine lange Reihe betrügerischer oder gewaltsamer „unions“ er­ finderischer Weise in rechtliche „reunions“ verwandelt worden waren. Es steht fest, daß während alle Nationen eine Neigung zum Annektiren haben, Frankreich alleinsteht in der Kunst, das häßliche Aussehen der Annexion durch verschiedene geistreiche Mittel zu ver­ hüllen. Frankreich ist in der Sache selbst nicht schuldiger als Rußland, Preußen, Oestreich, die Türkei oder Spanien; wir können auch nicht behaupten, daß unsere eigenen englischenWände vollständig rein seien. Aber Frankreich zeichnet sich vor diesen allen durch die Fähigkeit aus, einer schlechten Sache einen gutenMamen zu geben. Ein russischer oder östreichischer Angriff ist einfach ein

54

Die Franken und die Gallier.

Angriff der brutalen Gewalt; der Angreifer rechtfertigt ihn, wenn er sich überhaupt herbeiläßt ihn zu rechtfertigen, einfach mit Gründen politischer Nützlichkeit. Oestreich behält Venetien nicht etwa zum Besten der Venetianer, oder weil die Natur Venetien als besonders wichtigen Teil seiner Länder bezeichnet hätte. Es hat es einfach erworben, und beabsichtigt womöglich zu behaupten, was es einmal erworben hat. Ein französischer Angriff hingegen ist ein ganz anderes Ding, für einen solchen fehlt es nie an sorgfältig ausge­ arbeiteten Begründungen. Dem französischen Scharfsinn fehlt es nie an einer Theorie für irgend einen Gegenstand. Ein Land wird annektirt in Kraft französischer Verdrehung der physikalischen Geo­ graphie, in Kraft der französischen Ansichten über das, was war, oder französischer Ansichten über das, was hätte sein sollen. Frank­ reich ..kämpft für eine Idee", für irgend eine Idee, mag sie der geschichtlichen Vergangenheit oder den vorgreifenden Zukunftsge­ danken angehören. Verträge werden gebrochen, gesetzliche Rechte unter die Füße getreten, die natürliche Gerechtigkeit verweht der Wind: aber für jeden Schritt ist ein guter Grund vorhanden. Die französische Klug­ heit ist ebenso geschickt, die Doktrin zu beweisen, daß das annektirte Volk die Annexion hätte wünschen müssen, als auch das Faktum, daß es diesen Wunsch wirklich empfand. Kurz, während Oestreich nach Art eines gewöhnlichen, brutalen Räubers handelt, zieht Frankreich den Charakter eines eleganten, glaubwürdigen und geist­ reichen Schwindlers vor. Diese Richtung ist nicht neuen Ursprungs. Ludwig XI. wußte viel zu seinen Gunsten zu sagen, als er die Provence und das Herzogtum Burgund in Besitz nahm, und Philipp August schuf aus dem Stegreif einen Gerichtshof und ein Rechts­ system, um auf gesetzlichem Weg in den Besitz der Normandie und Anjou's zu gelangen. Ein anderes Mittel, durch welches auf die successiven Angriffe Frankreichs ein falsches Licht geworfen wird, entspringt aus dem bekannten und fast universellen Gebrauch der französischen Sprache.

Die Franken und die Gallier.

55

Wir sind mit dem Französischen so viel bekannter als

mit irgend

einer andern Sprache; französisch ist in so ausgedehntem Maße unser Mittel des Verkehrs mit

andern Nationen geworden, daß

wir dahin gekommen sind die Hälfte der Städte Europa's nicht mit ihren wirklichen Namen, sondern mit der französischen ver­ derbten Form derselben zu bezeichnen.

Die Gewohnheit ist ganz

neuen Ursprungs; im sechzehnten Jahrhundert sprachen die Eng­ länder von einer deutschen, vlämischen oder italienischen Stadt ent­ weder unter ihrem wirklichen deutschen, vlämischen oder-Italienischen Namen, oder unter einer selbsterfundenen Veränderung desselben. Unser gegenwärtiger Brauch, alle Städte mit französischen Namen zu nennen, mildert das Häßliche der französischen Angriffe ganz bedeutend.

„Alsace“ klingt als ob es von Ewigkeit her eine

französische Provinz gewesen sei; das deutsche „Elsaß" bringt uns auf ganz andere Gedanken.

Die „r&inion“

von

„Nice“ mag

nach ein oder zwei Generationen ganz natürlich lauten, dagegen würde die „reunion“ von „Nizza" ihre angeborene Häßlichkeit für alle Zeiten

behalten.

Cologne, Mayence und Trövea klingen

als ob sie gerade zur Annexion aufforderten, ebenso Lidge, Malines und Louvain; und es ist kein Wunder,

daß die Leute denken,

Karl der Große sei ein Franzose gewesen, wenn sie sein Grab in einer so französisch

klingenden Stadt wie Aix-Ia-Chapelle finden.

Dagegen Köln, Mainz, Trier, Lüttich, Mecheln, Löwen und Aachen* würden sich allein durch ihre Namen als eben so viel Bollwerke gegen die Pariser Angriffe erheben.

Seit wenigstens achthundert Jahren

sind die Franzosen nicht im Stande, irgend einen Namen irgend einer fremden Sprache richtig zu buchstabiren, doch ist es durchaus nicht unwahrscheinlich, daß die Unfähigkeit hier und da nicht ohne ein wohl begründetes politisches Motiv war.

* Die niederdeutschen Formen von Namen wie Lüttich oder selbst Aachen würden diesem Zweck noch beffer dienen, wenn man sicher sei« könnte ihre richtige Form festzustellen.

56

Die Franken und die Gallier.

Wir wollen jetzt zu unsrer geographischen Uebersicht zurück­ kehren, die wir vielleicht etwas unvermittelt unterbrochen haben. Wir schilderten zuletzt eine Karte des alten Galliens als Provinz des römischen Reichs. In den Tagen der großen germanischen Wanderung, als die Ostgothen nach Italien, die Westgothen nach Spanien, die Vandalen nach Afrika, die Angeln und Sachsen nach Britannien vordrangen, erschien der verwandte Stamm der Franken in Gallien. Jedermann weiß, daß Frankreich von den Franken so genannt ist; aber man ist geneigt zu vergessen, daß Frankreich nicht das einzige Land ist, das nach jenen genannt wurde. Frank­ reich und Franken sind etymologisch dieselben Worte; die Ver­ schiedenheit ihrer modernen gönnen entspringt einfach aus dem Wunsch Verwechselungen zu verineide», Verwechselungen, die in dem frühen mittelalterlichen Lateinisch dadurch vermieden wurden, daß man von Francia occidentalis und Francia orientalis, Francia latina und Francia teutonica sprach. Der Unterschied der beiden ist der, daß der Franke von Frankreich Ansiedler im fremden Lande war, während der Franke von Franken in dem Land seiner Väter verblieb; daß der Franke von Frankreich binnen kurzem zu etwas halb Römischem, halb Keltischem ausartete, während der Franke von Franken sich immer als unbefleckter Franke er­ hielt. Kurz, die Franken eroberten Gallien, ohne Germanien auf­ zugeben; und sie eroberten verschiedene Teile Galliens in sehr verschiedener Art und Weise. In Nordgallien siedelten sie sich in einer gewissen Ausdehnung an; Orleans, Paris, Soissons und Metz wurden Hauptstädte fränkischer Reiche. In den südlichen Provinzen Aquitanien und Burgund siedelten sie sich überhaupt kaum an. Dort waren andere germanische Eroberer vor ihnen ge­ wesen. Der Gothe herrschte in Toulouse, und der Burgunde hatte dem Land zwischen der Rhone und den Alpen seinen Namen ge­ geben. Beide wurden gewissermaßen unterworfen. Der orthodoxe Eifer des neu bekehrten Merowingers gab für die Vertreibung der

Die Franken und die Gallier.

57

Arianer ans Gallien einen guten Vorwand. Die gothische Monarchie muhte sich über die Pyrenäen zurückziehen, und das burgundische Reich hörte eine Zeit lang ans zu bestehen. Die Eroberung war jedoch hauptsächlich eine politische. Südgallien gerieth in die mehr oderweniger vollständige Botmähigkeit der fränkischen Könige, doch wurde es niemals ein wirklicher Bestandteil des eigentlich fränkischen Terri­ toriums. Südlich der Loire fand man keine dauernd seßhafte fränkische Bevölkerung, und als die nierowingische Dynastie sich zum Unter­ gang neigte wurde Aquitanien wieder ein in jeder Beziehung un­ abhängiger Staat. Unter Pippin finden wir einen Herzog von Aquitanien, der ebenso wie jeder Fürst der Lombardei oder Sachsens erst unterworfen werden muh. In der That haben bis heute Aquitanien und Frankreich nichts gemein, als das alte römische Element und die Früchte ihrer politischen Verbindung während der letzten vierhundert Jahre. Das germanische Element in beiden Ländern ist verschieden, und in einem weiten Distrikt wenigstens sind die thu gehonten Elemente auch verschieden. Der Franzose wird durch die Einimpfung des Franken auf den Kelten gebildet, der Gascogner durch die Einimpfung des Gothen auf den Basken. Beide reden Sprachen, die von der Roms abgeleitet sind, doch übersteigt der Unterschied die bloße Verschiedenheit von Dialekten. Die Arroganz des heutigen Paris spricht in der That vom „schlechten Französisch" Aquitaniens und der Provence. In seinem unwissenden Stolz kann es nur ein patois seiner selbst in einer Sprache sehen, welche so bestimmt ist wie die Spaniens oder Italiens, und welche eine geläuterte und ausgebildete Sprache war, die Sprache der gebildeten Höfe von Poitiers und Toulouse, während das nördliche Frankreich erst einen tinatisgebildeten und ungeschriebenen Jargon besaß. Wir sehen so, daß die Besitzungen der fränkischen Könige vom Stamme Chlodwigs weder dem alten Gallien, noch dem modernen französischen Kaiserreich in irgend einer Weise entsprachen. Das nierowingische Reich bestand aus Mitteldeutschland und dem

Die Franken und die Gallier.

58 nördlichen Gallien.

Das südliche Gallien war mehr überwältigt

als wirklich erobert, und das nördliche Gallien war gleichfalls überwältigt.

Für kurze Zeit, während der Kriege des sechsten

Jahrhunderts, erschienen fränkische Eroberer südlich der Alpen mit einer Aufgabe, die, so viel wir wissen, ein vollständiges Präcedens für die italienischen Feldzüge Franz I. oder selbst für die Bonaparte's abgeben kann.

Aber das wirklich fränkische Territorium

dieser Periode reicht nicht südlich über die Loire.

Nördlich von

diesem Flusse finden wir die Franken von 'Neustrien, damals viel­ leicht in einem gewissen Grade romanisirt, und östlich von ihm den reinen germanischen Franken Austrasiens. Wie weit die gallischen Franken römischen Einflüssen während der merowingischen Periode nachgegeben hatten, ist unmöglich zn sagen; aber alles führt uns dahin zu glauben, daß sie vor der Zeit Pippins begannen sich von ihren unverdorbenen austrasischen Brüdern weit zu unter­ scheiden. Wir werden sofort sehen, daß um die Mitte des neunten Jahrhunderts eine romanische Sprache, nicht mehr Lateinisch, doch bis dahin kaum Französisch zu nennen, im fränkischen Gallien erwachsen war.

Nun hatten die Einflüsse der vorhergehenden hundertfünfzig

Jahre sämmtlich eine germanische Richtung: ein romanischer Dialekt hätte daher schwerlich die Herrschaft der austrasischen Maier und Könige überleben können, es sei denn er hätte vor dem Ende der merovingischen Herrschaft sich schon ziemlich stark befestigt* Die Dynastie der Karolinger datirt ihren förmlichen Anfang von der Erwählung Pippins zum König der Franken im Jahr 752. Aber thatsächlich kann man ihn auf den Anfang der Reihe der

* Dies hängt von dem Maß ab» in welchem die Franken und die Gallier untermischt waren. Eine römische Sprache muß sich ununterbrochen unter der Masse des Volks erhalten haben, doch sprachen Leute von fränkischer Abstammung höchst wahrscheinlich nur deutsch.

Die Franken und die Gallier.

59

australischen Maier im Jahr 681 znrückoerlegen. Der erste Pippin und der erste Karl waren in Wirklichkeit Herrscher der Franken, nicht weniger als der Pippin und der Karl, die mit dem königlichen Titel bekleidet waren. Und diese Nebertragung der Macht auf das Haris Pippins war fast gleichwertig mit einer zweiten germa­ nischen Eroberung. Was immer die Merowinger und ihre gallischen Unterthanen gewesen sein mögen, an dem rein germanischen Charakter der ganzen Dynastie der Karolinger besteht kein Zweifel. Sie waren durch die Schwerter der germanischen Austrasier zur Macht erhoben; die Wiege ihres Stamms war das germanische Herstal; Lieblingsresidenzen waren die germanischen Orte Ingelheim und Aachen; als Hausmaier, als Könige der Franken, als römische Cäsaren, ja selbst als sie nicht mehr waren als die unbedeutenden Könige des Felsens von Laon, haften sie fest, bis herab auf ihre letzten Tage, an der Kleidung, der Sitte und der Sprache ihrer ger­ manischen Vorfahren. Unter den „Königen aus dem zweiten Ge­ schlecht" waren Aquitanien und selbst Neustrien wenig mehr als unterworfene Provinzen eines gennanischen Herrschers. Die fränkische Macht erreichte ihren Zenith während der Herr­ schaft Karls des Großen. Karl, der König der Franken, der König der Langobarden, der Patricius der Römer, war etwas weit größeres als ein König, sei es Galliens oder Germaniens: er war der Herr der abendländischen Christenheit. Das ganze Gallien, das ganze danialige Germanien, gehörten ihm; Aquitanien, Sachsen, Sutern, die Lombardei, waren als eroberte Provinzen gewonnen; der Slave, der Avare, der Normanne wurde unter­ worfen oder tributpflichtig; selbst der Fürst der Gläubigen correspondirte auf gleichem und freundschaftlichstem Fuß mit dem mächtigsten der Verehrer des Kreuzes. Zuletzt wurde dem triumphirenden Franken eine Würde zu Teil, nach welcher bis dahin kein Barbare des Abendlandes zu trachten gewagt hatte. Gothen und Heruler hatten lange vorher die abendländischen Cäsaren ein-

60

Dir Franken und die Gallier.

und abgesetzt;

gothische Fürsten hatte» in Italien mit dem Titel

eines Königs geherrscht;

aber das Diadem und das Scepter des

Augnstus hatte bis dahin keine germanische keine germanische Hand ergriffen. mütigt,

Stirne getragen

und

Das alte Rom hatte sich gede-

ein provinzielles Anhängsel

des neuen zu werden, doch

hatte es sich niemals der dauernden Herrschaft eines Barbaren unter­ worfen.

Theodorich

hatte

geherrscht,

thatsächlich

allerdings ein

gothischer König, aber der Theorie nach ein kaiserlicher Stellver­ treter; Alboin und Liutprand waren als offene Feinde erschienen, doch hatten sie niemals die Thore der ewigen Stadt durchschritten. Karl selbst, sein Later und sein Großvater hatten die volle kaiser­ liche Macht unter bescheideneren Namen ausgeübt; aber der

Pa-

tricins war nur der republikanische Beamte des römischen Gemein­ wohls ,

oder

der

Statthalter

des

östlichen

Kaisers.

Nach

dieses Kaisers Negierungsjahren wurden die Urkunden noch datirt, und sein Bild und seine Aufschrift wurden noch auf Münzen ge­ schlagen, welche er nie als Stenern oder Tribut zu sehen bekam. Zuletzt kam der Augenblick, in dem das alte Nom seine Gleichheit mit seiner jüngeren Schwester ivieder sollte,

daß

es

nie

sein

Recht

ansprechen

verwirkt

einen der Herren der Welt zu ernennen.

und bethätigen

hatte,

wenigstens

Nom wählte wieder seinen

eigenen Cäsar, aber dieser Cäsar war nicht von römischem oder italienischem Blut.

Die goldene Krone ruhte endlich auf der offenen

Stirne des stolzen Germanen, und der Papst und das Volk von Rom verkündeten den kaiserlichen Titel:

„Karl Augustus, von

Gottes Gnaden der große und friedliche Kaiser der Römer". Nicht daß der römische Augustus hierdurch einen Zoll Landes oder ein Atom von Macht gewonnen hätte, das dem einfachen fränkischen König nicht schon gehörte;

aber in den Augen eines

großen Teils seiner Unterthanen wurde seine Herrschaft

hierdurch

auf einmal aus einer Herrschaft der Stärke in eine Herrschaft des Rechts verwandelt.

Der erwählte und geweihte

Kaiser erschien

Die Franken und die Gallier.

61

beit Augen des ganzen südlichen Europa als ein Wesen, das mit dem rein barbarischen Eroberer wenig gemein hatte; wir möchten säst sagen, daß die Welt in dem Germanen ihren erwählten und natürlichen Herrscher erkannte, als zum erstenmal ein Mann aus germanischem Blut zum höchsten Gipfel irdischer Größe erhoben worden war. Es zeigt die wahre Größe von Karls Geist, daß sein Kopf nicht im mindesten durch einen Glanz verwirrt wurde, der wohl die Einbildungskraft jedes Sterblichen geblendet haben würde. In der ewigen Stadt von dem gemeinsamen Vater der Christenheit gekrönt, blieb er doch als Kaiser und Augustus, der er war, der­ selbe einfache, tüchtige Germane wie vorher. Selbst Alexander, auf dem Thron des Groß-Königs, konnte die Probe nicht ganz bestehen; er war nicht weit davon entfernt, den Geist des erwählten Königs von Macedonien und Herrschers von Griechenland gegen die Willkürherrschaft eines persischen Despoten zu vertauschen. Karl dagegen wurde von der fast übermenschlichen Herrlichkeit, vor der er selbst zurückzubeben schien, in keiner Weise verdorben oder verändert. Er behielt seine deutsche Kleidung, seine deutsche Sprache, seine deutschen Sitten bei; auch übertrug er niemals den Pomp, die Sklaverei, den fast götzendienerischen Weihrauch des Hofs seines byzantinischen Kollegen in die freie germanische Luft von Aachen und Ingelheim. Das waren in der That Tage der Herrlichkeit für den alten Franken, aber es ist eine Herrlichkeit, an der der heutige Franzose keinen Anteil beanspruchen kann. Das keltische, das Pariser Frank­ reich bestand damals noch nicht. Seine Sprache war noch das unfertige patois einer unterworfenen Provinz. Paris war eine Provinzialstadt, die der Herr von Rom und Aachen einmal im Verlauf einer langen Reise besuchte, wie viele andere gleich wenig bedeutende Orte. Gallien, wenigstens sein keltischer Teil, wurde selten durch die Anwesenheit seines germanischen Herrn geehrt, und

Dir Krauten uni» bte Gallier.

62

es trug nur wenig zu der Macht Karls

Muttersprache

Schriftsprache

des

seiner germanischen Heere bei.

war die alte germanische;

ganzen

Westens

und

noch

Lateinisch, das

die

heimatliche

Idiom vieler Provinzen, sprach er fließend wie eine erlernte Sprache; Griechisch, die andere Welt- und Kaisersprache, verstand er wen» gesprochen, doch konnte er sie selbst nicht mit Leichtigkeit sprechen. Französisch konnte er weder sprechen noch konnte

man

existire: es

noch

nicht

sagen,

daß

lag einem König der

verstehen;

eine

denn leider

französische

Franken

Sprache

eben so nahe, sich

des Dialekts eines neustrischen Kelten zu bedienen, als dem Kaiser der Franzosen gegenwärtig, seine Schriftstücke in baskischer, wal­ lonischer oder niederbretonischer Sprache abzufassen. Das Thal der Loire, die Lieblingsheimat

der Balois, das

Thal der Seine, die Lieblingsheimat der Bourbons hatten wenig Reize für den austrasischen Franken, dessen Herz inmitten römischen Pomps und

aquitanischer und hunnischer Siege nach den Ufern

seines eigenen germanischen Rheins verlangte.

Unter Karl

war

jenes ältere Francia, welches das Heimatland der Franken war, auf dem Gipfel seiner

Größe; aber es gab keinen Zeitabschnitt

früher oder später, während dessen jenes jüngere Francia, dessen Mittelpunkt Paris ist,

in den Augen der Menschen so durchaus

bedeutungslos erschien. Ein anderer der vielen Irrtümer, die diese Periode der Ge­ schichte überschatten,

ist der allgemeine Glauben, daß Karls

lange

Regierung, seine Kriege, seine Verträge, seine Gesetzgebung, kaum eine dauernde Frucht getragen hätten. Wir sind zu sehr geneigt anzunehmen, daß sein großes Werk fast unmittelbar während der Streitigkeiten seiner Enkel vernichtet worden sei.

Auch diese Ansicht entspringt daraus,

daß man ihn

und sein Reich von einem französischen, statt von einem deutschen Standpunkt betrachtet.

Von Aquitanien oder

Neustrien aus be­

trachtet, war Karl des Großen Werk ganz ephemer; aber es ge-

Die Franken und die Gallier.

63

winnt eine ganz andere Farbe, wenn wir einmal auf die andere Seite des Rheins hinüberschreiten. Karl fand einen großen Teil Deutschlands in völliger Verwilderung des Heidentums vor; der christliche Franke fand den bittersten und hartnäckigsten Feind seines Glaubens und seiner Herrschaft in dem verwandten Sachsen. Karl bekehrte Sachsen mit dem Schwert: doch wie immer das Werk gethan wurde, es war erfolgreich gethan. Er schweißte Sachsen und das germanische Francia zu jenem großen deutschen Reich zusammen, welches so lange den ersten Rang in Europa einnahm, und welches, so seltsam es uns erscheint, wenn wir es mit Gallien, Italien oder Spanien vergleichen, in der That das meist geeinigte der westlichen Reiche war. Er eröffnete eine Bahn, auf welcher eine lange Reihe erhabener deutscher Könige und Kaiser, von Arnulf bis zu Friedrich II. mit nicht geringem Erfolg nach ihm wirkten. Daß er ihnen ein Anrecht auf seinen kaiserlichen Titel und einen schwankenden Anspruch auf seine kaiserliche Macht ver­ erbte, war eine Erbschaft von nur zweifelhaftem Wert. Das Königtum Germaniens ward in der That durch das Gewicht des heiligen römischen Reichs zermalmt und in Stücke gebrochen; aber Karl der Große war der Vater und Stifter des einigen und glor­ reichen Deutschlands Heinrich des Finklers und Otto des Großen, Heinrichs von Franken und Friedrichs von Schwaben. Wenn auch Gallien und Italien verfielen, das Begnum teutonicum lebte noch vier Jahrhunderte, und es lebt jetzt noch fort in den Herzen eines Volks, das sich danach sehnt eines zu sein, wie es dies unter seinem Scepter war. Man erinnere sich nur, was das Francia und die Franci Karls wirklich waren, und die Zerstückelung des Reichs der Karolinger bedeutet wenig mehr als die Ablösung einiger außerhalb liegender fremder Provinzen von dem Körper des großen germanischen Reichs. Wir haben jetzt das neunte Jahrhundert erreicht. Karl wurde im letzten Jahr des achten Jahrhunderes in Rom gekrönt,

64

Die Franken und die Gallier.

und vierzehn Jahre später trug man ihn zu seinem Kaisergrab in Aachen. Er hatte das germanische Königreich geschaffen, und seinen Königen das römische Diadem gewonnen. Doch ehe das neue Jahrhundert verflossen war, begann eine andere Station, eine andere Sprache zu erscheinen. Während des Jahrhunderts, das auf Karls Tod folgt, zeigt sich uns der erste Schimmer von der Existenz des modernen, keltischen, Pariser Frankreichs. Ehe das zweite Jahrhundert nach seiner Krönung vergeht, hat sich das moderne, keltische, Pariser Frankreich, das Königreich Odo's und Hugo Capets völlig unter den anerkannten Teilen der westlichen Christenheit befestigt, hoch im Rang, wenn auch noch schwach an Kraft. Das westliche oder fränkische Kaiserreich, wie es unter Karl dem Großen bestand, war zweifellos viel zu ausgedehnt, und um­ faßte viel zu verschiedenartige Nationen, als daß es ständig unter einem einzigen Haupt hätte vereinigt bleiben können. Karl selbst hat dies offenbar bemerkt. Die Teilung eines Königreichs unter die Söhne des verstorbenen Königs war in der That nichts Neues; es war ein Behelf, der ständig im merowingischen Gallien versucht worden war. Aber wir können nicht glauben, daß Karl die Sanktion seines überlegenen Geistes zu einem solchen Plan gegeben hätte, wenn er nicht wirklich den Verhältnissen der Zeit angepaßt gewesen wäre. Seine Entwürfe waren sehr durchdacht. Die von ihm entworfene Art der Succession schloß eine Mischung von Volkswohl und Erbrecht ein, und erstrebte die Vereinigung aller kleineren Fürsten in einer Art Bundesstaat unter einein gemeinsamen Oberhaupt, dem Kaiser. Ob ein solches System sich wirksam zeigen konnte, mag bezweifelt werden. Unter ihm selbst war es wirksam gewesen; er hatte seine Söhne zu Königen in Italien und Aquitanien gemacht, ohne irgend welche Beeinträchtigung seiner eigenen Rechte als höchstes Oberhaupt. Aber Unterordnung unter einen Vater, uird noch dazu eine» Vater, wie Karl der Große,

Die Franke» und die Gallier.

üf>

war ein ganz anderes Ding als Nnterordniing unter einen Bruder, einen Onkel oder, wie dies bald der Fall sein konnte, unter einen entfernten Verwandten. Karls eigener Entwurf zur Teilung kam nicht zur Ausführung wegen des Todes zweier von seinen drei Söhnen. Ludwig der Fromme folgte ihm im Besitz des ganzen Reichs mit nur einem ihm untergeordneten König in der Person des un­ glücklichen Bernhard von Italien. Es ist indeß wohl der Mühe wert die geographischen Gränzen der verschiedenen Königreiche zu bezeichnen, wie sie von Karls Hand selbst gezogen waren. Höchst wahrscheinlich hatte er gar nicht die Absicht überhaupt nationale Königreiche zu bilden.* Es sollte auch fernerhin nur ein fränkisches Königreich geben, wenn es auch unter verschiedene Könige verteilt war; gerade wie in den frühen Tagen der Teilung des römischen Reichs sollte das Reich selbst »och als ein Ganzes aufgefaßt werden, weiln auch die Verwaltnng zwischen zwei oder mehr kaiserliche Amtsgenossen verteilt war. Sicherlich stimmen die für Karl, Pippin und Ludwig abgegränzten Reiche mit keiner nationalen Teilung, weder früherer noch späterer Zeiten, überein. Kurz gesagt, Karl scheint beabsichtigt zu haben, das alte fränkische Königreich seinem ältesten Sohn Karl aufzubehalten, und seine Eroberungen zwischen Pippin und Ludwig z» verteilen. Aber abge­ sehen davon, daß die Gränze nicht sehr genau eingehalten ist, ist eine höchst wichtige Ausnahme z»l machen. Die völlig neuen Erwerbungen, Italien und die spanische Mark zusammen mit Aquitanien und Baiern, welche vo» nominellem Vasallentum zu thatsächlicher llnterthänigkeit gebracht waren, wurden zwischen die beiden jüngeren Söhne verteilt. Karl bekam das alte Francia, doch bekam er auch, in Folge der Notwendigkeit der Lage, die große sächsische Eroberung. Von den drei Teilen kam Aquitanien. das Königreich Ludwigs, • Dies scheint ans den Titeln hervorzugehen, welche Eginhard den untergeordneten Königen gibt. Ludwig z. B. ist nicht „rex Aquitaniae“ oder „rex Aquitimorum“, sondern UUV „>>x supor Aquitaniuin.“ $ vc cm an, hisior. Abhandlungen.

66

Die Franken und die Gallier.

einem nationalen Reich am nächsten.

Südgallien und die spanische

Mark entsprachen ziemlich genau den späteren Bezirken der Langue d'Oc.

Das italienische Reich dagegen, an dem einen Ende durch

die byzantinische Provinz verkürzt, wurde am anderen durch Hin­ zufügung des ganzen Germaniens südlich der Donau verlängert. Durchblitzte die Theorie der „natürlichen Gränzen" den Geist des großen Karl, als

er diesen großen Strom zu einer politischen

Schranke machte? Sicherlich hatte er keinen solchen Gedanken in Bezug auf den Rhein.

Nicht die leiseste Rücksicht wurde genommen

weder auf die früheren Gränzen

des alten Gallien, noch auf die

zukünftigen Gränzen des modernen Frankreich.

Aquitanien sollte

etwas einem nationalen Herrscher ähnliches erhalten; Neustrien da­ gegen war eine solche Gabe nicht zugedacht.

Der deutsche König

sollte, wie von Alters her, ans beiden Seiten des deutschen Flusses hertschen.

Das Reich des jüngeren Karl sollte aus deni. jetzigen

Nordfrankreich und Norddeutschland bestehen, während das jetzige Südfrankreich die große Masse von Ludwigs Reich

bildete.

Das

heutige Pariser Frankreich war so weit entfernt der Francia Karl des Große» zu entsprechen, daß es diesem nicht eiliinal als eine passende Abteilung erschien, als er seine ausgedehnte Monarchie verteilte, von welcher jenes einen Teil bildete. Die von Karl vorgenommene Teilung hatte, wie wir bereits erwähnten, keine dauernde Wirkung.

Sie ist nur dadurch wertvoll,

daß sie zeigt, welche Ansichten der größte der damals

lebenden

Menschen im Jahr 806 über eine passende Teilung hegte. Karl folgte Ludwig.

Seine Regierung war lediglich

Auf

eine Reihe

immer wechselnder Teilungen des Reichs unter seine Söhne. Sir Francis Palgrave hat sich im ersten Band seiner Ge­ schichte von England und der Normandie der Mühe

unterzogen,

nicht weniger als zehn auf einander folgende Teilungsentwürfe zu­ sammenzurechnen.

In dem letzten derselben beginnen wir

zum

erstenmal etwas deni modernen französischen Reiche ähnliches zu

Die Franken und die (Sattlet.

67

unterscheiden. Damals, im Jahre 839, waren Nord- und Süd­ gallien, Neustrien und Aquitanien zum erstenmal als das Reich Karl des Kahlen vereinigt. Das so zusammengesetzte Reich war viel kleiner als das heutige Frankreich, doch es lag fast ganz innerhalb desselben. Es umschloß Flandern an der einen und die spanische Mark an der andern Seite; aber diese beiden Provinzen blieben in einem vagen Sinne bis tief in das Mittelalter fran­ zösisch. Die Suzeränität über die Grafschaft von Barcelona wurde erst von Ludwig dem Heiligen aufgegeben, und die über die Graf­ schaft von Flandern verlängerte sich, bis sie eine der Hauptursachen des Streites zwischen Franz I. und Karl V. wurde. Das Reich Karl des Kahlen war zweifellos der erste Keim des heutigen Frankreich. Es war, wenn wir die Flamländer, die Bretonen und die Basken als seine verschiedenen Eckpunkte ausnehmen, ein Reich ganz romanischer Sprache. Diese Thatsache tritt besonders hervor in dem durch Nithard erhaltenen berühmten Eid von Straßburg* Dieses wertvolle Dokument ist wieder und wieder als ein Gegenstand der Philologie kommentirt worden; es ist nicht weniger wertvoll als Gegenstand der Geschichte. Es zeigt, daß im Jahr 841 die Raren- und Sprachenunterschiede sich fühlbar zu niachen begannen. Die austrasischen Soldaten König Ludwigs schwören in der altgermanischen Sprache, von welcher der Eid ein frühes Denkmal ist; von der Sprache jedoch, in welcher der Eid von den neustrischen Soldaten des Königs Karl** abgelegt wird, ist dieser • Nithard III. 6, bei Pertz II. 666. ** Es ist der Erwähnung wert, daß Karl der Kahle sowohl als seine Soldaten die „lingua Roman«“ oder die romanische Sprache sprechen konnten. Vgl. die von den Königen Ludwig, Karl und Lothar im Jahr 860 zu Koblenz ausgegangenen Capitularien. Ludwig spricht „lingua Theothisca“ und Karl „lingua Rontana“ (Pertz, Leges I. 472). Dennoch spricht Karl in seinen eigenen Capitularien von der „lingua Theodisca“ als der Sprache des Landes, gerade wie dies Ludwig thut. (I. 482, 497). 5*

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Die Franken und die Gallier.

Eid, so weit unser Wissen reicht, überhaupt das älteste Denkmal. In der lingua Romana, wie Nithard dieselbe nennt, sehen wir zum erstenmal eine Sprache wesentlich römischen Ursprungs, und doch eine Sprache, die sich von dem römischen Vorbild zu weit entfernt hat, um noch weiter lateinisch genannt werden z» können. Sie hat aufgehört lateinisch zu sein, doch können wir sie noch nicht französisch, nicht einmal altfranzösisch nennen. In wie weit sie die Mutter des Französischen, oder in wie weit sie vielmehr die Mutter des Proventzalischen ist, müssen wir der Entscheidung derer überlassen, deren spezielle Beschäftigung in der Geschichte der Sprachen besteht. Für unsere Zwecke genügt es, daß sie uns die Existenz eines weder keltisch noch germanisch »och lateinisch, sondern romanisch sprechenden Galliers offenbart, das heißt, sie zeigt uns, daß ein sehr wichtiger Schritt zur Erschaffung des modernen Frankreich ge­ schehen ist. Bis jetzt war die neue Sprache nur als „lingua Romana“ bekannt; im Laus des nächsten Jahrhunderts wurde sie als „lingua Qallica“ nationalisirt.* Man könnte neugierig sein zu erfahren, wie weit man wirklich zu fühlen begonnen hatte, daß eine neue Sprache sich gebildet hatte, ob sie überhaupt die Sprache der Vornehmen war, oder derer die lesen und schreiben konnten; ob es Leute gab, deren Muttersprache die lingua Romana war, die aber ihre Gedanken noch in der mehr klassischen lingua Latina niederschrieben. Ueber dies Alles können wir nichts sagen mit Ausnahme dessen, was wir aus der Thatsache schließen mögen, daß Graf Nithard, ein Mann von hoher Stellung und Befähigung, und durch illegitime Abkunst mütterlicherseits ein wirklicher Enkel des großen Karl, von dem Phänomen der Verschiedenheit der Sprache betroffen war, und es der Mühe wert erachtete, die Eides­ formel genau in den Ausdrücken der vulgären Sprache aufzube­ wahren. Dies ist an sich merkwürdig genug, und auf alle Fälle

Die Franken und die Gallier.

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ist es ein Beweis für den beobachtenden nnd forschenden Geist Nithards selbst. Wir wünschen, er hätte mehr Nachfolger gehabt. Es giebt nichts, was wir in den lateinischen Chroniken des Mittelalters mehr entbehren, als Angaben über die Sprache des Volks, nnd selbst über die Sprache der handelnden Personen in der Erzählung. Die Kriege zwischen Kaiser Ludwigs Söhnen und der ab­ schließende Vertrag von Verdun im Jahr 843 befestigten nur die Existenz des neuen Reichs. Der Zusammenhang der beiden Teile der alten Francia war jetzt für immer gelöst; Neustrien und Austrasien war nie mehr unter einem Herrscher vereinigt, außer während der ephemeren Herrschaft Karl des Dicken. Andererseits bildete sich ein Zusammenhang, zwischen Neustrien und Aqui­ tanien, ein Zusammenhang, der wenig Gewicht hatte, der jedoch bestimmt war, in zukünftigen Epochen keine kleinen Früchte zu tragen. Durch den Vertrag von Verdun wurde das Reich in drei Teile geteilt: Karl nahm, wie wir sahen, die rein romanischen Länder Neustrien und Aquitanien, Ludwig nahm die rein ger­ manischen Länder bis weit in den Osten. Lothar, ihr ältester Bruder, der römische Kaiser, nahm folglich das fränkische Italien; doch nahm er auch jenen langen Streifen streitigen Landes vom mittelländischen Meer bis zum Ocean, welcher seinen Namen er­ hielt, den ein Teil desselben heute noch führt. Lotharingia, Lothringen, Lorraine lag zwischen der ger­ manischen Herrschaft Ludwigs und der romanischen Herrschaft Karls, damals wie jetzt Länder beider Sprachen, der romanischen wie der germanischen, in sich schließend. Aber es war ein Reich, das keinerlei Grund znr Zusammengehörigkeit besaß; kein freund­ liches Band der Sprache oder Geschichte oder „natürlicher Gränzen" vereinigte die Provence und Holland und die zwischenliegenden Länder. Das Reich hatte daher keinen dauernden Bestand; manch­ mal finden wir es in verschiedene Reiche zerteilt; manchmal, wie

Die Franken und die Gallier.

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auch in unsern Tagen, war es zwischen den kompakteren Mächten zu beiden Seiten geteilt.

Diese beiden Mächte bestanden, wuchsen

und blühten, während Lothringen in Stücke fiel. Diese Reiche bedürfen von Anfang an eines Namens und es läßt sich schwer vermeiden, ihnen die bekannten Namen Deutsch­ land imb Frankreich zu geben, wenn es auch noch zn früh ist dies zu thun. So erscheint Frankreich im heutigen Sinn zum ersten Mal unsern Blicken, des fünften.

eine Schöpfung des neunten Jahrhunderts, nicht

Wie Sir Francis Palgrave sagt,* „schuf diese Teilung

das territoriale Frankreich."

Das moderne Frankreich war so ge­

schaffen, doch war es lediglich durch einen Zufall geschaffen.

Karl

war König über Neustrien, und der Kaiser Ludwig, der den Anteil seines Lieblingssohnes zu erweitern

wünschte,

fügte das

Königreich Aquitanien hinzu, das durch den Tod seines Bruders Pippin herrenlos geworden war.

Neustrien und Aquitanien zu-

sanimen bildeten Frankreich, und zwar das Frankreich, wie es bis zum vierzehnten Jahrhundert bestand, ein Frankreich ohne Alpen­ hänge oder Rheingränzen; ein Frankreich, welches statt bis zum Rhein kaum zur Rhone reichte, und welches nicht nur Savoyen und Nizza, sondern auch die Provence, die Dauphins, die Grafschaft Burgund, Lyon, Dresse, Bugey, das Elsaß und Lothringen noch zu „reuniren" hatte.

Und selbst innerhalb der Gränzen des neuen Königreichs

zeigt die Stellung Aquitaniens, wie äußerst zufällig und gekünstelt die Schöpfung war.

Aquitanien, das Reich Pippins, empfand keine

Zuneigung zu der Herrschaft Karls von Neustrien; es empörte sich beständig zu Gunsten der Erben Pippins, als der Repräsentanten seiner nationalen Unabhängigkeit.

Aquitanien war durch Ludwig

des Frommen Anordnung mit Neustrien vereinigt; aber eine thatsäch­ liche Vereinigung fand in Menschenaltern nicht statt; alles was die An­ ordnung des frommen Kaisers bewirken konnte, war die Bekleidung

* Geschichte von England und der Normandie. I. 345.

Die Franken und die Gallier.

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des neustrischen Königs mit unbestimmten und fast nominellen Rechten, welche in den nächsten sechshundert Jahren noch nicht völlig zur Wirklichkeit wurden. Aquitanien war den Königen von Frankreich ziemlich genau dasselbe, was die Romagna den Päpsten war. Konstantin oder Pippin oder Karl oder Mathilde oder Rudolf schenkten die Romagna dem heiligen Stuhl; aber die Oberherrlich­ keit des heiligen Stuhls war von sehr wenig wirksamer Art, bis seinen Rechten endlich durch das Schwert Cäsar Borgia's Geltung verschafft wurde. So war es auch mit Aquitanien; dem Namen nach eitt Teil vom Reich Karl des Kahlen, spaltete es sich bald in zwei große Fürstentümer, die sich nur durch den Namen von souveränen Königreichen unterschieden. Der Herzog von Aquitanien und der Graf von Toulouse wurden den Fürsten von Europa zu­ gezählt. Mochten sie auch Vasallen des Königs von Frankreich sein, so erstreckte sich ihr Vasallentum nicht weiter als auf die Nennung des Königlichen Nainens in den Daten ihrer Urkunden. Während der geschäftigen französischen und normannischen Geschichte des zehnten Jahrhunderts berichten uns die französischen Chroniken­ schreiber vieles über Deutschland und manches über England, doch über das südliche Gallien hören wir nur gerade genug, um uns versichert zu halten, daß es nicht von der Erdoberfläche verschwunden sei. Die Loire scheint in jenen Tagen die wirkliche natürliche Gränze gewesen zu sein; zwischen Nord- und Südgallien finden wir wenige Beziehungen, weder friedliche, noch kriegerische, dagegen einen Zustand, der einem vollständigen gegenseitigen Vergessen sehr ähnlich ist. Im weiteren Verlauf der Zeit war das Her­ zogtum Aquitanien im zwölften Jahrhundert mit der Krone von England vereinigt, während der östliche Teil des alten Aqui­ tanien, das Langued'oc oder die Grafschaft von Toulouse im nächsten Jahrhundert eine der ersten und größten Erwerbungen der Könige von Paris wurde. Wenige Teile der Geschichte werden weniger verstanden als die jenes edeln Herzogtums, welches

72

Die Franken und die Gallier.

so lange eine der schönsten Besitzungen unserer eigenen Könige bildete.

Wenige Engländer verstehen den Unterschied zwischen der

englischen Besitzart von Bordeaux und der englischen Besitzart von Calais.

Wenn der schwarze Prinz als Prinz von Aquitanien zu

Bordeaux

seinen Hof

hielt, betrachten

ihn

die meisten Leser,

gerade wie Heinrich V. in Paris, als einen englischen Eroberer. Bordeaux ist ans den neuen Karten als ein Teil Frankreichs ver­ zeichnet; daher verstehen die meisten Menschen nicht, daß bis zu seinem Verlorengehen im fünfzehnten Jahrhundert die Könige von Frankreich es überhaupt niemals besessen hatten, mit Ausnahme der kurzen und betrügerischen Besetzung Aquitaniens durch Philipp den Schönen.

Als Talbot vor Chatillon fiel, fiel er für die Sache

der Unabhängigkeit, nicht der Knechtung des pyrenäischen Herzog­ tums, für dieselbe Sache, welche Hunold und Lupus gegen Karl den Großen, und Pippin und Sancho gegen Karl den Kahlen verfochten.

Mit einem Wort, Ludwig der Fromnie mochte wohl

im neunten Jahrhundert Aquitanien Karl dem Kahlen verleihen: es war doch erst Karl VI., der im fünfzehnten Jahrhundert dm wirklichen Besitz erlangte. Das fränkische Kaiserreich wurde, wie wir sahen, durch den Vertrag von Verdun in drei Teile geteilt: in den östlichen und westlichen, die jeder für sich zum heutigen Deutschland und Frank­ reich emporwuchsen, und in das centrale aus Italien und Loth­ ringen bestehende Reich, das bald zerfiel.

Die nächsten vierzig

Jahre bilden kaum etwas anderes als eine Geschichte von Ver­ einigungen und Teilungen.

Jeder Vater versuchte seine Besitzungen

unter seine Söhne zu verteilen; jeder Bruder oder Onkel that sein Bestes, sich selbst des Erbes seiner Brüder oder Neffen zu bemächtigen.

Von all den Fürsten dieser Zeit ist der Kaiser

Ludwig II., der in Italien als wirklicher römischer Kaiser herrschte und für die Sache der Christenheit gegen die Saracenen focht, der einzige, der irgend welchen

Anspruch auf unsere Achtung

Die Flanken itttb die Gallier. erheben darf.

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Selbst er war nicht ganz frei von dem allgemeinen

Fehler; aber er hat demselben wenigstens Verdienste entgegenzustellen, die wir bei seinen Genossen nicht finden. Die ganze Periode ist eine Zeit der äußersten Verwirrung und Spaltung.

Zuletzt, im Jahr

885, war fast das ganze Karolingische Reich in der Person Karl des Dicken vereinigt.

Er hatte nach und nach auf seiner Stirn

die Kaiserkrone von Nom und die Königskronen von Deutschland, Italien und dem westlichen Königreich

vereinigt.

Doch

muß bei

dieser Wiedervereinigung eine wichtige Ausnahme gemacht werden. Ein Staat, ein Teil von Lmhringen wie es vor vierzig Jahren gewesen war, hatte das Beispiel gänzlichen Abfalls vom Geschlecht des großen Karl gegeben.

Im Jahr 879

war Graf Boso zum

König eines Reichs gewählt und gekrönt worden, welches, wie Sir Francis Palgrave sagt,

fast aus der Geschichte

den, dessen Gedächtniß zurückzurufen aber gerade wünschenswert ist.

Boso legte den Grund zu

verschwun­

jetzt besonders

jenem

kurzlebigen

Reich von Burgund oder Arles, einem Reich, das zwischen Frank­ reich und Italien lag und das ungefähr als die Gegend zwischen der Rhone und den Alpen bezeichnet werde»» kann.

Rach modernem

geographischen Sprachgebrauch umfaßt es die Provence, Orange, Venaissin, die Dauphinv,

Lyon, Dresse, Bugey, die Grafschaft

von Burgund (oder Franche Comte) nebst Savoyen, Nizza, und einem großen Teil der Schweiz.

Nach der Theorie der natürlichen

Gränzen erscheint das Königreich Burgund ebenso abgegränzt, als das Königreich Frankreich.

Die Rhone und die Saone im Westen,

die Alpen im Osten und das mittelländische Meer im Süden bilden so gute Demarkationslinien, als man ihnen gewöhnlich ans politischen Landkarten begegnet.

Fast alle seine Bewohner waren romanischer

Sprache, alle mit Ausnahme eines Keinen germanischen Territoriums, aus dem lange nachher die Schweiz entstand. So weit wir sehen können, hatte Burgund weit mehr Recht, seine Ausdehnung bis zum Ocean durch Einverleibung der verwandten Provinz Aquitanien zu bean-

74

Die Franken und die Gallier.

sprachen, als das Pariser Frankreich hatte, seine Ausdehnung bis zu den Alpen durch Einverleibung des weit fremderen Königreichs Burgund zu beanspruchen. Im Jahr 887 wurde Karl der Dicke durch allgemeine Uebereinkunft seiner verschiedenen Reiche entsetzt, welche von da ab durch eine viel vollständigere und bleibendere Trennung als vor­ her geschieden wurden. Das karolingische Reich verschwindet; selbst die Kaiserwürde sinkt zu einer Art von Anwartschaft herab. Es wurden in der ersten Hälfte des neunten Jahrhunderts wohl Kaiser gekrönt; doch gab es keine Dynastie, die dauernd die kaiserliche Macht mit den kaiserlichen Ansprüchen vereinigte, bis im Jahr 962 Otto der Große das römische Kaisertum und das italienische Königreich mit seiner eigenen germanischen Krone definitiv vereinigte. Die Teilung von 888 war thatsächlich der Anfang der modernen Staaten und der modernen Teilung Europa's. Das karolingische Kaiserreich wurde in vier getrennte Königreiche zerstückt: das west­ liche Königreich, ungefähr Frankreich entsprechend, das östliche Königreich oder Deutschland, Italien und Burgund. Von diesen bestehen die drei ersten als die größten Nationen des Continents; Burgund ist dein Namen nach verschwunden; doch ist seine Stelle als europäische Macht durch die Schweizer Eidgenossenschaft aus­ gefüllt. Von den so gebildeten vier Reichen gaben drei sogleich ihre Lehenspflicht an das karolingische Geschlecht auf. Deutschland wählte Arnulf, einen Bastard des kaiserlichen Hauses; doch ver­ schwand nach dem Tode seines Sohnes Ludwig das germanische Scepter ganz aus dem Mannsstamme Pippins und Karls. Boso von Burgund war mit diesem Geschlecht nur durch Heirat verwandt. Italien wählte wechselnde Könige und Kaiser eigenen Stamms. Das westliche Königreich wählte den Patriarchen jener langen Reihe, welche cs mit zwei Perioden der Unterbrechung bis auf unsere Tage beherrschen sollte, jener Reihe, die noch in Castilien

Die Franken »nd die Gallier.

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und Aragonien herrscht, und die wir glücklicherweise von den kleineren Thronen Parma's und der beiden Sicilien haben ver­ treiben sehen. Die Teilung von 843 zeigt uns zuerst ein romanisches — — d. h. wirklich keltisches — Francia, zum llnterschied von dem älteren germanischen Francia der alten fränkischen Könige. Die Teilung von 888 zeigt uns zuerst ein capetingisches und ein Pariser Francia. Seit dem Tode des großen Karl hatte sich die Stadt an der Seine, die alte Heimat Julians, allmälig gehoben. Sie spielt während der Negierung seines Sohnes Ludwig des Frommen eine wichtige Nolle. Charakteristisch genug erscheint Paris in unserer Geschichte zuerst als der Schauplatz einer Verschwörnng gegen seinen germanischen Herrn. Hier war es, wo sich im Jahr 830 die Rebellen versammelten, die den frommen Kaiser festnahmen, einkerkerten und zuletzt entsetzten. Später im neunten Jahrhundert gewann Paris einen ehrenvolleren Namen; es wurde das Bollwerk Galliens gegen die Einfälle der Normannen. Die Piraten ent­ deckten bald die Wichtigkeit der Position der Stadt bei jedem An­ griff oder bei der Verteidigung Galliens von der Nordseite aus. Durch seine großen Thaten und Leiden in diesen Kriegen wtirde Paris ein Mittelpunkt, eine Hauptstadt, zuerst ein Herzogs- und dann ein Königssitz. Die große Belagerung von Paris in den Jahren'885 und 886 und seine tapfere Verteidigung durch den Grafen Eudes oder Odo entschieden die Bestimmung der Stadt zur zukünftigen Hauptstadt des Landes. Nach der Entsetzung Karl des Dicken wurde Graf Odo, nach einigen wirkungslosen Versuchen anderer Kandidaten, erwählt und gekrönt zu dem, was wir jetzt stark versucht sind das Königtum Frankreich zu tiennen. Doch überlebte die Vorstellung eines großen fränkischen Reichs, aufrecht erhalten in einer Art von Miterbschaft, lange den Tag, an welchem Karls Nachkommen aufhörten seine Herrn zu sein. Deutschland, das alte fränkische Land, hielt an dem fränkischen Namen

76

Die Franken und die Gallier.

lange fest. Eines seiner größten Kaisergeschlechter war von fränkischem Blut. Anch seine sächsischen Vorgänger und seine schwäbischen Nachfolger wiesen den Namen nicht zurück. Bis zur Negierung Friedrich Barbarossas wurde der Name der Franken gebraucht, und zwar gebraucht mit einem Ausdruck des Stolzes, als gleichbedeutend mit dem Namen eines Deutschen.* Die Könige und die Reiche jener Zeit hatten in der That keine bestimmten Namen, weil sie noch alle nur als Teile der großen fränkischen Herrschaft betrachtet wurden. Ein weiterer Schritt zur Schöpfung des modernen Frankreich war jetzt geschehen; doch ist der alte Stand der Dinge noch nicht ganz verschwunden. Deutschland hat keinen bestimmten Namen; eine lange Zeit heißt es Francia Orien­ talis , Francia Teutonica. dann wird es Regnum Teutonicum, Regnum Teutonicorum.** Aber es ist gleicherweise klar, daß innerhalb der Gränzen jenes westlichen oder lateinischen Frankreich Francia und Francus rasch ihre heutige Bedeutung von Frank­ reich und Franzose annahmen, zum Unterschied von Franke oder Deutscher;*** sie waren in der That Ehrennamen, an welchen jede der getrennten Nationen als speciell ihren eigenen festhielt. * Otto von Freisingen, an vielen Stellen. Vgl. des. die Rede Friedrichs, II. 22. (Muratori, VI. 722.)

** In der Absetzungsbulle Heinrich IV. gebraucht Hildebrand den merkwürdigen Ausdruck „totius rt machen. Ihre thatsächliche Wirkung war genau ebenso stark, doch bekannte man sich damals noch nicht offen zu dem Grundsatz, noch handelte man nach demselben, daß Verschiedenheit von Stamm und Sprache ein Grund zur Verschiedenheit der politischen Verfassung sei. Wir entsinnen uns während der ganzen Zeit von Friedrichs italienischen Kriegsfahrten nicht eines bestimmten und öffentlich zugestandenen Falls, wo Italiener als Italiener gegen den Deutschen als Deutschen gehandelt hätten. Niemand leugnete Friedrichs Recht, weder auf das Königreich Italien, noch ans das römische Reich. Der einzige Zweifel bezog sich auf die Natur und Ausdehnung seiner königlichen Rechte; und zweifellos würde der wachsende repnblikanische Geist Free man, histor. Abhandlungen.

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Friedrich der Erste, König von Italien.

der Städte ebenso bereitwillig die Rechte eines eingeborenen Sou­ veräns bestritten haben. Und Friedrich war durchaus das Haupt einer großen italienischen Partei, die ihn mit noch größerem Eifer unterstützte, als seine deutschen Landsleute selbst. Möglicherweise war ihre Loyalität schlecht angebracht, aber es war eine Loyalität gegen einen anerkannten, legitimen König, nicht ein verräterisches Anhangen an einen fremden Eindringling. Friedrich war in Italien der König einer Partei; wurde er in Mailand als Zerstörer ver­ wünscht , so wurde er in Lodi als Begründer angebetet. Die Wahrheit ist, daß im zwölften Jahrhundert ein italienischer Patrio­ tismus nicht vorhanden war. Jedermann hatte die wärmste lokale Anhänglichkeit an seine Stadt, aber von Italien als einem Land hatte man keinerlei Vorstellung. In der That wurde, da die Städte mehr und mehr den Charakter unabhängiger Republiken annahmen, da die Vorstellung von einem für sich bestehenden König­ reich Italien schwächer und schwächer wurde, der nationale Patriotis­ mus im Unterschied zu dem lokalen gleichfalls schwächer und schwächer. Eine Mannigfaltigkeit der Verhältnisse in jedem einzelnen Fall machte den Kaiser znm Freunde einer Stadt und zum Feind einer andern. Aber der Mailänder, der Friedrich widerstand, widerstand dem Feind nicht Italiens, sondern Mailands; die Einwohner von Cremona und Pavia, die seinen, Banner folgten, ließen es sich niemals träumen, daß sie bei Unterstützung ihres eigenen Freundes den Feind ihres Landes unterstützten. Verschiedenheit des Bluts, der Sprache und der Sitten mögen in der Stille die Bitterkeit des Conflikts verstärkt haben; dennoch erhebt der deutsche Geschichts­ schreiber erschreckt die Hände über die Grausamkeit der Italiener gegen einander *, im Vergleich zu welcher der wechselseitige Haß * „Non ut cognatus populus, non ut doraesticns inimicus, sed velut in externos hostes, in alienigenas tanta in sese invicem sui gentiles crudelitate saeviunt quanta nec in barbaros deceret.“ Otto Fris. lib. I. cap. 39.

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• Friedrich der Erste, König von Italien.

des Deutschen und des Italieners Liebe und Sanftmut war. Nirgends, mit einem Wort, finden wir ein Anzeichen jenes wirklich nationalen Gefühls, das in späteren Zeiten erwachte, jenes Ge­ fühls, mit den» der mannhafte Papst Julius die Vertreibung der Barbaren ersehnte, oder der Empfindung, welche jetzt ganz Italien von den Alpen bis zum Pharos im Abscheu gegen die Gewalt Astreichs vereinigt. Die Vereinigung Italiens und Deutschlands unter einem einzigen König war in der Tat eine äußerst hoffnungs­ lose Sache; der Versuch, eine solche Vereinigung zu Stande zu bringen, brachte beiden Ländern manches dauernde Übel; doch öffent­ lich anzuerkennen, daß es hoffnungslos war, ivürde einen weitsich­ tigeren Staatsmann erfordert haben, als das zwölfte Jahrhundert hervorzubringen im Stande war. Wir sympathisiren mit Friedrichs italienischen Gegnern, aber wir sympathisiren mehr mit ihnen als Verfechtern bürgerlicher Freiheit gegenüber der kaiserlichen Macht, denn als Verteidigern Italiens gegen einen fremden Eroberer. Kurz, Italien war im zwölften Jahrhundert keine „unterdrückte Nationalität". Es geschah daher in Folge von Ansprüchen, geweiht durch lange und ehrwürdige Tradition, von Ansprüche», die dem Namen nach von der ganzen 9tation anerkannt und von einer mächtigen Partei eifrig unterstützt wnrden, daß Friedrich seine langen Kriegs­ züge in Italien unternahm. Wir haben uns bestrebt, eine Vor­ stellung von der Sache zu geben, welche er vertrat; wir wollen jetzt versuchen, ein Bild des Mannes selbst zu entwerfen, und eine flüchtige Schilderung seiner Politik und seiner Handlungen, soweit diese Italien betreffen, zu geben. Hierbei wollen wir uns be­ mühen, unsere Schätzung des Mannes nnb seiner Thaten so viel als möglich unmittelbar aus zeitgenössischen Quellen zu schöpfen. Es ist natürlich unmöglich, daß Erinnerungen an Gibbon, Sismondi und Milman uns nicht hie und da beeinflussen sollten; aber wir haben sicherlich unser bestes getan, unser Urteil nach dem Zeugnis 11*

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Friedrich der Erste, König von Italien.

von Männern zu bilden, die Zuschauer der Ereignisse, mitunter Mithandelnde bei denselben waren. Die meisten der Chroniken jener Zeit finden sich in dem sechsten Band der grasten Sammlung von Muratori. Unter diesen nimmt die erste Stelle dem Rang nach keine geringere Persönlichkeit ein, als Friedrich selbst, der eine Übersicht der früheren Ereignisse seiner Negierung in einem Brief an Otto Bischof von Freisingen gibt, welcher dem Geschichts­ werk dieses Prälaten vorausgeschickt ist. Der zweite Platz der Würde und der erste der Wichtigkeit nach gebührt zweifellos Otto selbst. Dieser bischöfliche Geschichtschreiber war selbst von fürst­ licher, sogar von kaiserlicher Abstammung; er war der Sohn Leo­ pold des Dritten, Markgrafen von Östreich, und Agnes, der Tochter Kaiser Heinrich des Vierten. Da aber dieselbe Agnes in Folge ihrer ersten Heirat mit Friedrich dem Ersten, Herzog von Schwaben, die Mutter Herzog Friedrich des Zweiten, des Paters Kaiser Friedrichs war, so folgt hieraus, daß er selbst der Onkel des Gegenstands seiner Geschichtschreibung war. Diese Geschichte kann, wie wir sagten, in dem verständigen Text Muratori's nachgelesen werden,* wir haben jedoch vorgezogen, dieselbe nach einer berühmten alten Abschrift zu stndiren, die von Strastburg 15 J 5 datirt, mit kaiserlichen Diplomen von König Maximilian eingeleitet, und mit einem Überfluß kaiserlicher Adler geschmückt ist. Otto schrieb zu­ erst eine allgemeine Geschichte der Welt in sieben Büchern, welche mit der Erwählung seines Neffen Friedrich im Jahr 1152 endigt, und von einem achten Buch mehr religiöser Art gefolgt ist, das eine Schilderung der Ereignisse am Ende der Welt enthält. Wie alle Chroniken dieser Art, ist sie, was Weissagung und alte Ge­ schichte betrifft, gleich wertlos, aber sie wird nützlich, je mehr sie sich des Schreibers eignem Zeitalter nähert. Er begleitete seinen kaiserlichen Neffen später auf seiner ersten italienischen Expedition, und schrieb zwei Bücher De gestis Friderici Primi, die eine der höchste» * Sie ist seitdem i» einem der letzten Bände von Pertz erschienen.

Friedrich der Erste, König von Italien.

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Stellungen in der mittelalterlichen Geschichtschreibung einnehmet». Unglücklicherweise gelangt er nicht weiter als bis zum vierten Jahr der Negierung seines Helden; doch ist sein Werk in zwei weiteren Büchern von Ragevin, einem Canonicus seiner eigenen Kirche bis zum Jahr 1160, dem Jahr, in welchem Ragevin schrieb, fortge­ setzt. Diese beiden Autoren schreiben natürlich im kaiserlichen Sinn, aber beide scheinen so gerecht zu schreiben, als man erwarten kann, und sie sind durch Anführung gleichzeitiger Dokumente besonders wertvoll. Otto schreibt wie ein Fürst, indem er seinen Neffen bewundert, ohne ihn anzubeten, und durchaus den weiten Horizont eines Staatmannes und eine in jeder Hinsicht äußerst merkwürdige Beobachtungsfähigkeit zeigt. Ragevin, wie es seiner Stellung zu­ kommt , ist nicht der Rival, sondern soviel dies ihm möglich ist, der sorgfältige Nachahmer des Prälaten, der ihn beförderte. Beide waren hochgesinnte deutsche Geistliche, und wir betrachten ihr dem Kaiser günstiges Zeugniß mit weit weniger Verdacht, als das des an Wichtigkeit zunächst folgenden imperialistischen Geschichtschreibers. Dies ist Otto Morena von Lodi, ein italienischer Rechtsgelehrter, der unter Friedrich und den beiden vorhergeheirden Königen Lothar und Konrad ein richterliches Amt bekleidete. Wir müssen uns er­ innern, daß dies gerade die Zeit war, in der das Studium des Cioilrechts wieder auflebte; und es kann keinem Zweifel unterworfen sein, daß das Studium desselben der kaiserlichen Sache von nicht geringem Nutzen war. Friedrich kam nach Italien mit dem Schwert Deutschlands in der einen Hand und den Büchern Justinians in der andern. Zweifellos sah der Rechtsgelehrte von Lodi aus ehrlicher Überzeugung in dem schwäbischen König den wahren Nachfolger des Augustus und Konstantin, des Cäsar, von dem geschrieben stand, daß quod Principi placuit, legis habet vigorem*. Doch erweckte ohne Zweifel diese Überzeugung in Otto dem Richter eine Anhänglichkeit viel servilerer Art, als die ger-

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Friedrich der Erste, König von Italien.

manische Loyalität Otto des Bischofs. Wir können vollständig die enthusiastische Zuneigung verstehen, die jeder Bürger von Lodi für seinen königlichen Schützer und Begründer empfinden mußte; dennoch fühlen wir uns bald ermüdet durch all die sanctissimus, dulcissimus, christianissimus und die lange Kette von Superla­ tiven, welche Otto jeder Erwähnung des kaiserlichen Namens bei­ zufügen liebt. Otto's eigene Chronik reicht bis zum Jahr 1162; als Richter wie als Annalist folgte ihm sein Sohn Acerbus, ein gleich fester Anhänger der kaiserlichen Sache, der jedoch, etwas weniger verschwenderisch in Anbetung, manchmal nicht ansteht, einen Tadel über die Handlungen seines Herrn auszusprechen. Seine Anhänglichkeit an Friedrich selbst verringert sich niemals; doch malt er die schlimmen Thaten des kaiserlichen Stellvertreters während Friedrichs Abwesenheit*, wie die geringe Sorge, die der Kaiser trug dieselben zu bestrafen**, in starken Farben. Die Geschichte des Acerbus Morena endet mit seinein eigenen Tod im Jahr 1167; die Schilderung dieses Ereignisses sowie des Charakters des Autors wurde zweifellos von anderer Hand hinzugefügt. Dies sind die Hauptschriftsteller auf kaiserlicher Seite. Auf der andern haben wir die zu kurze Chronik des mailändischen Sire Raul im sechsten Bande Muratori's und das Leben Papst Alexanders in der Sammlung des Cardinals von Aragon im dritten. Der sechste Band enthält auch einige kleinere Stücke über besondere Teile der Geschichte; eines derselben ist Buoncompagni's Schilderung der Belagerung von Ancona, eine äußerst interessante Erzählung, auf welche jedoch, da sie nicht genau zeitgenössisch ist, Sismondi, wie es uns scheint, mehr Gewicht gelegt hat, als sie als historisches Dokument verdient. Wir können im Allgemeinen bemerken, daß die Schriftsteller auf der päpstlichen und republika­ nischen Seite vom Kaiser gewöhnlich mit einem ausgeprägten * Ap. Muratori, t. VI, col. 1127. ** Ap. Muratori, t. VI, col. 1131.

Friedrich der Erste, König von Italien.

Gefühl

der

Hochachtung

reden.

Wollen

167

wir

eine aufrichtige,

so

müssen wir uns

herzhafte Schmähung Friedrich Barbarossa's,

zu den Briefen unseres eigenen Heiligen Thomas von Canterbury und denen seiner Correspondenten wenden. Verschiedenheit ist Anhängern

einleuchtend.

Alexanders

war

Die

Ursache dieser

Den französischen und englischen Friedrich

lediglich ein

entfernter

Popanz, ein wilder Feind der Kirche, ebenso oder noch mehr zu verabscheuen als irgend ein Sultan des Heidentums.

Die,.welche

ihn von näher sahen, selbst als Feinde, verstanden ihn besser. Die, welche mit ihm fochten, wußten, daß sie einen edeln und großmütigen Feind bekämpften, der am Ende doch Oberherr war. eigenen Partei,

ihr

eigener, anerkannter

Außerdem geboten die Päpste, selbst bei ihrer über weniger

Verehrung

in

Italien,

als dies

anderwärts der Fall war; der gotteslästerliche Krieg des Ghibellinen, der

auf dieser Seite der Alpen so ungeheuerlich erschien,

nahm in den Augen derer, unter welchen und gegen welche er ge­ führt wurde, eine weit weniger düstere Färbung an. Friedrich wurde im Jahr 1152 zum König gewählt.

Er er­

langte die Krone durch jene Mischung von Abstammung und Er­ wählung, welche im frühen Mittelalter so allgemein war, und von modernen Schriftstellern so consequent mißverstanden wird.

Fast

jeder moderne Staat hat sich in eine erbliche Monarchie verwandelt, und hat sich ein strenges Successionsrecht festgesetzt, weil man ge­ funden hat, daß, welche Argumente auch immer gegen diese Form der Herrschaft vorgebracht

werden mochten,

sie wenigstens

den

großen praktischen Vorteil hat, Spaltungen und Bürgerkriege zu verhindern:

Jene früheren Zeiten hatten keine klare Vorstellung

von strengem Erbrecht; doch war das Familiengefühl äußerst stark, und der persönliche Charakter eines Königs galt in jenen Tagen alles.

Ein König konnte damals nicht eine rein constitutionelle

Puppe sein.

Ein großer Mann war geliebt oder gefürchtet; —

in beiden Fällen wurde ihm

gehorcht; ein unbedeutender Mann

168

Friedrich der Erste, König von Italien.

mit gleicher gesetzlicher Autorität wurde verachtet, der Gehor­ sam wurde ihm versagt, vielleicht wurde er abgesetzt oder gelobtet. Der ideale König bedurfte zweier Eigenschaften: er mußte der Nach­ komme eines früheren Königs und selbst für den königlichen Beruf befähigt sein. Deßhalb finden wir so häufig, daß einem König nicht der nachfolgt, den wir für seinen nächsten Erben halten, sondern der, der aus dem königlichen Hause als der Würdigste ausersehen wurde. So empfahl Conrad durch seinen letzten Willen nicht seinen Sohn, sondern seinen Neffen Friedrich als den geeignetsten Nachfolger für seine Reiche; und die Fürsten dieser Reiche bestä­ tigten seine Wahl. Conrads ältester Sohn, der dem allgemeinen Gebrauch zufolge bei seinen Lebzeiten als Nachfolger seines Vaters gekrönt worden war, war todt; sein zweiter Sohn war zu jung: Deutschland empfand keinerlei Sehnsucht nach einer neuen Mino­ rennität, ähnlich der Heinrich des Vierten; Friedrich war jung, tapfer, kraftvoll; er vereinte in sich das Blut der zwei großen streitenden Geschlechter; der Sohn eines ghibellinischen Vaters und einer welfischen Mutter, war er vor allen andern der Mann, von dem man Sicherung des Friedens nach innen* und Sieg nach außen erwarten konnte. Er wurde daher vom Reichstag zu Frankfurt einstimmig zum König gewählt, und empfing die Krone des deut­ schen Königreichs** zu Aachen, der Königsstadt der Franken***. Aber außer Deutschland besaß der neuerwählte Monarch wenigstens den Anfang eines Rechts auf die Kronen von Burgund und Italien, sowie auf die Kaiserkrone von Rom. Von Burgund brauchen wir wenig mehr zu sagen, als daß er das Königreich ein oder zweimal besuchte, * Otto Fris. II. 2; cf. Urspergensis in anno (p. 295) der mit dem Namen Friedrich spielt: Friedrich — Paris Dives. ** „Post primam unctionem Aquisgrani et acceptam coronam Teutonici Regni.“ — Ep. Fried. ap. Otton Fris. *** „In sede regni Francorum, quae in eädem eccleaiä a Carolo magno posita est, collocatur.“ Otto Fris. II. 3.

Friedrich der Erste, König von Italien.

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daß er seine dortigen Interessen durch seine Heirat mit der bnrgundischen Prinzessin Beatrice sicherte, nnd schließlich ziemlich spät in seiner Negierung im Jahr 1178 Muße fand zu einer feierlichen Krönung in Arles.* Doch unser Interesse concentrirt sich auf ihn als den König von Italien und den Kaiser der Römer. Otto von Freisingen sagt uns ausdrücklich, daß italienische Barone bei Friedrichs Wahl in Frankfurt eine Nolle spielten.** Wir wissen nicht, wer diese italienischen Barone gewesen sein mögen, wie groß ihre Anzahl war, oder in wie weit sie wirklich bevollmächtigt waren, im Namen des Königreichs Italien zu sprechen. Doch wer immer sie waren, ob viele oder wenige, ob sie beauftragt oder aus eigenem Antrieb kamen, es ist klar, daß ihre Anwesenheit dazu dienen mußte, den Ansprüchetl des neuen Königs auf Italien wenigstens einen äußeren Anschein von Recht zu geben, und dies sowohl in seinen eigenen Augen wie in denen anderer. Als erwählter König von Italien war es seine Aufgabe, eine Versammlung des italienischen König­ reichs zu Roncaglia abznhalten, in Mailand die eiserne Krone der lombardischen Könige zu empfangen, und dann nach Rom weiter­ zuziehen, um dort die goldene Krone des römischen Reichs aus den Händen des römischen Papstes zu erhalten. Dies war der regel­ mäßige Weg für jeden neu erwählten König. Der Theorie nach kam er in friedlichem Zug nach seiner Hauptstadt; in der Praxis hatte er sich gewöhnlich seinen Weg Schritt für Schritt zu erkämpfen. Zwei Dinge überraschen uns immer bei diesen kaiserlichen Reisen: kein Kaiser kommt je nach Rom, oder verläßt es, ohne mehr oder weniger auf Widerstand zu stoßen, und doch nimmt dieser Widerstand niemals irgend welche organisirte, natio* Anno Domini MCLXXYIII. III. nonag Augusti Fridericus Primus Imperator coronatus fuit apud Arelatum“. — Vit. Alex. III. ap. Muratori tom. III., p. 447. ** „Non sine quibusdam ex Italic baronibus.“ — Otto Friß., II, 1.

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nale Form an. Niemand leugnet seine Anrechte; eine starke Partei unterstützt sie voll Eifer; und doch wird kein König zum Kaiser ohne Blutvergießen. Die Wahrheit ist, daß der Versuch eines deut­ schen Fürsten des zwölften Jahrhunderts, Italien unter seinem Scepter zu vereinigen, an den thatsächlichen Verhältnissen durchaus keine Stütze fand, daß diese Thatsache aber von Niemand ganz verstanden wurde. Der deutsche König beanspruchte nur, was seine Vorgänger immer beansprucht hatten; halb Italien war bereit, ihn mit offenen Armen zu empfangen; gelehrte Doctoren des bürgerlichen Rechts sagten ihm, daß seine kaiserlichen Rechte nahezu ewige seien; — wie sollten ihm da die Augen geöffnet werden? Rom selbst lebte von Erinnerungen an die Vergangenheit; es schwankte zwischen Er­ innerungen an die Republik und Erinnerungen an das Kaiser­ tum. Einmal ernannte es einen Consul, einen Senator oder einen Tribun; einmal hieß es den deutschen Eindringling als den wahren Augustus Cäsar willkommen. Die ganze Atmosphäre des Jahr­ hunderts scheint mit dieser Art von Unwirklichkeit gesättigt; doch war ihr dieselbe nicht bewußt. Man glaubte durchweg daran, und dadurch wurde die llnwirklichkeit wirklich und hatte höchst wichtige praktische Folgen. Wir fühlen uns halb versucht zu lachen, wenn der deutsche Souverän sich selbst Romanorum Imperator sempe r Augustus benennt, wenn der deutsche Geschicht­ schreiber geflissentlich die römische Sprache annimmt, wenn er von Urbs und Orbis Romanus spricht und von der Gründung der Stadt durch Romulus ab datirt. Es ist ganz unmöglich, das Lachen zu unter­ drücken, selbst auf Kosten des großen Friedrich, wenn er dem sarace­ nischen Sultan schreibt oder einen beredten Bischof in seinem Namen zu schreiben veranlaßt, daß er herbeieilen werde, die Niederlage des Crassus zu rächen und dem Reich seine weitesten Grenzen aus Trajans Zeit wiederzugeben.* Am allerbefremdlichsten klingt es, wenn die Römer selbst zuerst zu Conrad, dann zu Friedrich schicken, * Vgl. Friedrichs Brief an Saladin bei Roger von Howde», II. 357,

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indem sie ihn bitten zu kommen und unter ihneil zu leben als ihr constitutioneller Kaiser, als der Gegenstand der Wahl und als das Kind des Senats und Volks von Rom**. Dies letztere war zu viel; als es dazu kam, sah Friedrich ein, daß er nur als germa­ nischer Eroberer regieren konnte, wenn er überhaupt regieren sollte. Der Nachfolger Karls und Otto's war nicht bereit, sich als einen Fremdling bezeichnen zu lassen, den Rom aufgenommen hätte; und als Rom fünftausend Pfund Gold als den Preis seiner Aner­ kennung verlangte, hatte Nom aus den stolzen Worten des Bischofs Otto zu lernen, daß die Franken ein Reich mit keinem anderen Metall als mit dem Stahl erkauften. Alles dies war sehr wider­ sinnig und unwirklich; das heißt, wir sehen nach so langer Zeit, daß es so war. Aber es ist nicht sehr erstaunlich, daß die Menschen jener Zeit weniger hell sahen, daß alte Traditionen und ehrwürdige Namen zu mächtig für sie waren. Die Folge davon ist, daß wir, wenn wir die Geschichte jener Zeit studiren, vollständig mit beiden Teilen sympathisiren können. Unsere erste und natürlichste Sym­ pathie wendet sich Helden der italienischen Freiheit zu, den Vertei­ digern von Mailand, den Gründern von Alessandria, den Männern, die Friedrich selbst auf dem glorreichen Feld von Legnano aufs Haupt schlugen. Aber wir würden sehr im Unrecht sein, wenn wir Friedrich als einen grausamen und nicht herausgeforderten An­ greifer oder seine italienischen Anhänger als Verräter an ihrem Vaterland betrachten wollten. Kein Teil hat ein Monopol auf Recht oder ein Monopol auf Unrecht. Wie kein ehrlicher Mann unsere eigene Geschichte des siebzehnten Jahrhunderts lesen kann, ohne das gleiche Verständnis für die besten Verteidiger des Königs und für die Stubbs; Ralph von Diß, Decem Script. 640. Die Kopie bei Roger von Wendover (vol. II. p. 429, ed. Coxe) läßt die Floskeln über CrassuS und MarcuS Antonius weg. * Vgl. den Brief an Conrad, Otto v. Freis. 1.28; die Gesandtschaft an Friedrich II. 21.

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Friedrich der Erste, König von Italien.

besten Verteidiger des Parlaments zu fühlen, so werden wir, wenn wir Friedrich und seine Feinde mit den Augen des zwölften und nicht mit denen des neunzehnten Jahrhunderts betrachten, gleiche Ursache zur Bewunderung finden bei den Patrioten von Lodi und bei den Patrioten von Tortona, bei den Verteidigern der ehrwür­ digen Rechte des römischen Kaisers und bei den Verteidigern der neu­ geborenen Freiheit der Gemeinwesen der Lombardei. Friedrich also kam nach Italien mit dem Anspruch auf streng gesetzliche siechte, Rechte jedoch, welche, wie wir jetzt sehen können, mit den Zeitverhältnissen sich nicht vertrugen. Die kaiserlichen Rechte in Italien konnten nur mit Unterbrechung ausgeübt werden. Friedrich kam nach einer Zeit der Unterbrechung. Während der Re­ gierung Lothars und Conrads war die königliche Autorität in Italien sehr tief gesunken; Friedrich kam, sie wieder zu erheben und jede Gewalt zu beanspruchen und zurückzugewinnen, welche durch Karl, Otto und Heinrich den Dritten ausgeübt worden war. Doch kam er nicht genau in derselben Rolle wie einer jener großen Kaiser. Sie kamen auf die Bitten Italiens hin, als Befreier aus äußerster Anarchie von der Tyrannei grausamer Könige oder von den Gräueln rivalisirender und schlechter Päpste. Friedrich hatte keinen ähnlichen Vorteil. Während des tatsächlichen Interregnums, das seiner Regierung vorherging, hatte ein Geist in Italien ge­ wirkt und war eine Macht daselbst emporgewachsen, welche frühere Kaiser nicht zu bekämpfen hatten. Die Freiheit der Städte hatte wunderbare Fortschritte gemacht; Munizipien wuchsen schnell zu souveränen Gemeinwesen empor. Mit diesem Geist mußte ein König, der eifrig bemüht war, seine königlichen Rechte in ihrer ganzen Ausdehnung zu behaupten, namentlich nach einer Zeit teil­ weiser Nichtausübung, notwendigerweise in Conflikt geraten. Otto und Heinrich der Dritte kamen nach Italien als Kämpen des Rechts gegen das Böse; sie sündigten nicht gegen eine Freiheit, welche in ihren Tagen noch nicht bestand: Friedrich war unglücklicherweise

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gezwungen zu erscheinen, mie kein früherer Kaiser erschienen war, als ein direkter Feind der Freiheit. Die Rechte der Krone, wie er sie verstand, und die Rechte der Republiken, wie die Republiken sie verstanden, mußten früher oder später einander widerstreiten. Der unmittelbare Anlaß zu seinem Kriegszug gegen Mailand ist von verhältnißmäßig geringer Bedeutung, weil die unmittelbare Ursache, welche immer sie war, nicht die wirkliche Veranlassung war. In der Erzählung von Otto Morena nimmt das Lodi zugefügte Unrecht den ersten Platz ein; der heilige und erbar­ mende König kommt hauptsächlich, um Otto und seine Genossen von mailändischer Unterdrückung zu befreien.* Der Mailänder Raul scheint Lodi kaum der Erwähnung wert zu erachten: der scharfsichtige Friedrich** wünscht, Italien unter seine Gewalt zu bringen; Mailand liegt mit Pavia im Krieg; seine Klugheit führt ihn dazu, die Partei Pavia's als der schwächeren Stadt zu ergreifen. Friedrichs eigener Hofdichter erzählt uns, wie sehr in Folge der Nachlässigkeit früherer Könige die Bösen in der Lombardei erstarkt seien, und wie die stolze Stadt des heiligen Anibrosius verweigerte, dem Cäsar Tribut zu zahlen. *** Der Fürstbischof von Freisingen führt verschiedene Motive auf, die auf die Ansicht seines kaiserlichen Neffen gewirkt hätten: die Vergewaltigung Lodi's wird nicht ver­ gessen, doch wiegt sie weniger vor in der Schilderung Otto des Bischofs, als in der seines Namensvetters, des Richters. Die un­ mittelbare Ursache des Angriffs war fast zufällig; die Consuln von Mailand führten die Armee des Königs vorsätzlich durch eine * Otto Mor. ap. Muratori, tom. VI, col. 957 et 29 seqq. ** „Rex Fridericus, homo industrius, sagacissimus, fortissimus.“ Ap. Mur. tom. VI, col. 1173. „De tributo Caesaris nemo cogitabat; Omnes erant Caesarea, nemo censum dabat; Givitas Ambrosii velut Troja stabat; Deos parum, homines minus formidabat.44 Gedichte auf König Friedrich, S. 65.

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Gegend, in welcher kein Mnndvorrat zu erhalten war, und dies zu einer Zeit, in der die Soldaten wegen des schlechten Wetters im Allgemeinen schlimmer Laune waren.* Wie dem auch sei, der Krieg, der nicht mehr lange hätte vermieden werden können, begann, jener große Kampf, der von Friedrichs 38 Negierungsjahren 30 in Anspruch nahm. Wir können uns natürlich nicht anmaßen, hier eine Schilde­ rung jenes langen Kampfes zu geben. Alles was wir thun' können, besteht in Besprechung einiger weniger Punkte, die für den Charakter Friedrichs und für seine Sache bezeichnend sind. Ur­ sprünglich war der Krieg ein rein politischer; es war ganz zu­ fällig, daß er etwas von einem religiösen Charakter annahm. Der Kampf zwischen Friedrich und Alexander beut Dritten ist dem zwischen Heinrich dem Vierten und Hildebrand nicht ganz analog, noch auch dem zwischen Friedrich dem Zweiten und einer ganzeti Reihe von Päpsten. Papst und Kaiser konnten nie zusammen gehen, und Friedrich hatte fast selbstverständlich verschiedene Ur­ sachen zum Streit mit dem Papst Hadrian. Eine derselben betraf nichts Geringeres als den Besitz der Kaiserkrone. Der Zwist be­ ruhte auf einem Wort. Hadrian sprach von dem beneficium, welches er Friedrich dadurch hätte zu Teil iverden lassen, daß er bei seiner römischen Krönung amtirt hätte. ** Friedrich, zweifellos mit einem feudalen Nechtsgelehrten zur Seite, fragt, ob aus dem Wort beneficium gefolgert werden solle, daß der Kaiser von Rom ein Vasall des' Bischofs von Rom sei. Hadrian widerspricht einer solchen Absicht; er meinte dem Kaiser eine „Gunst" er­ wiesen zu haben, doch erhob er keinen Anspruch darauf, ihn mit einem „Lehen" bekleidet zu haben. Es ist nicht unwahrscheinlich daß, wenn Hadrian länger gelebt hätte, ein Kampf nach Art des * Otto Fris. II. 13. ** Rad. Fris. III 15 et seqq.

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Kampfes zwischen Heinrich nnd Hildebrand zwischen ihm unb Friedrich entbrannt sein würde. So jedoch war der Streit von anderer Art. Heinrich nnd Friedrich der Zweite waren, soweit dies die Päpste betraf, offene Feinde der Kirche; Friedrich der Zweite erlitt sicherlich mehr Unrecht, als er that; dennoch wurde er in den Bann gethan, abgesetzt, cxcommunicirt von Päpsten und Concilien, deren Autorität nicht bestritten ward. Heinrich der Vierte bestritt in der That die Rechte Hildebrands und stellte aus eigener Macht einen Papst auf; doch that er dies nicht eher, als bis seine Verbrechen den Zorn des bisher anerkannten Papstes auf sein Haupt gelenkt hatten. In der That setzte Heinrich seinen Gegenpapst in Rom nicht eher auf den Thron, als bis Gregor einen Gegenkaiser in Deutschland aufgestellt hatte. Die Sache Friedrich Barbarossa's war eine ganz andere; er war nicht der Feind der Kirche, sondern lediglich derjenigen Partei in der Kirche, die zu­ letzt trinmphirte. Der römische Stuhl war der Gegenstand einer bestrittenen Wahl; die Schilderungen dieser Wahl sind so äußerst widersprechend, daß es ganz unmöglich erscheint, eine Behauptung anzunehmen, ohne (was zu thun man immer abgeneigt ist) der andern Partei eine direkte Fälschung zuzuschreiben. Friedrich hatte zwischen den päpstlichen Rivalen zu wählen, und er wählte natürlich den, dessen Gesinnung seiner Politik am meisten entsprach. Roland, sonst Alexander der Dritte, hatte sich schon als einen starken Verteidiger hierarchischer Ansprüche erwiesen; Octavian, sonst Victor, war mehr geneigt, — jedenfalls so lange seine Partei die schwächere war — dem Nachfolger Constantins und Justinians jene loyale Unterwerfung zu leisten, welche Constantin und Justinian sicherlich von seinen Vorgängern gefordert hatten. *

• Papst Hadrian hatte Unglück damit, daß er Justinian als das Vor­ bild kaiserlicher Ehrerbietung gegen das Papsttum anführte. — Red. Frie.

IU. 15.

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Natürlich triumphirte die Sache Alexanders; ein unter

kaiserlichem

Schutz regierender Papst war überhaupt kein Papst; gerade daß Friedrich Victor unterstützte, trieb strenge Männer der Kirche auf die Seite

Alexanders.

Und weiter

trug

die bloße

Thatsache

von

Alexanders langer Negierung, welche gestattete, daß die päpstliche Gewalt während vieler auf einander folgender Jahre durch dieselbe Hand ausgeübt wurde,

ein gut Teil zu seiner Kraft und Würde

bei, im Gegensatz zur schnellen Aufeinanderfolge der kaiserlichen Gegenpäpste.

Vor Allein fand

Alexander, der

geistliche Feind

Friedrichs, es politisch klug, sich mit dessen weltlichen Feinden zu verbünden, und die verbundene Kraft der Kirche und der Re­ publiken erwies sich am Ende als zu stark für die Waffen des Cäsars.

Friedrich war zuletzt gezwungen, Absolution vom Papst

zu suchen, und die Freiheiten der Städte anzuerkennen.

Da nun

Alexander zuletzt triumphirte, hat die Kirche Victor sowohl als seinen Nachfolgern uitb Anhängern das Brandmal des Schismas aufgedrückt; und Friedrich erscheint in den Schmähungen der Geist­ lichen anderer Länder in dem hassenswerthen Charakter eines Ver­ folgers.

Dennoch möchte man denken, daß es schlimmsten Falls

eine verzeihliche Sünde sei, in einer heiß bestrittenen

und sehr

zweifelhaften Sache den unrechten Papst zu wählen; es ist nicht er­ sichtlich, daß Friedrich gegen irgend ein anerkanntes Religionsprincip seiner Zeit sich verging; sein Kriegszug galt nicht dem Papsttum, sondern er galt einem bestimmten Papst, den er beschuldigte, der Usurpator des heiligen Stuhls zu sein, und den er gewiß im Ernst für einen Usurpator gehalten hat. Unsere Würdigung von Friedrichs persönlichem Charakter wird hauptsächlich durch die Allffassung bedingt werden, welche wir aus seinem Verhalten während dieses langen Kriegs gewinnen können. Nehmen wir von seinem Gesichtspunkt ihre Nichtigkeit als erwiesen an, so können wir kaum umhin, seine unermüdliche Hingabe an die Sache zu ehren, welche er unternommen hatte.

Cs ist natürlich

Friedrich der Erste, König von Italien.

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leicht zu sagen, daß diese Sache einfach seine eigene Erhöhung war. Es würde natürlich leicht sein, ein rührendes Bild von all dem Elend des Kriegs zu entwerfen, — von Metzelei, Plünderung und Verwüstung, von stolzen Städten, der Erde gleich gemacht, von Männern, Weibern und Kindern, vertrieben von ihrem heimischen Herd, nur damit ein Mann die Wonne empfinden könnte, eine vermehrte Macht auszuüben, oder damit er seinen noch kindischeren Wunsch

nach einem nutzlosen Spielzeug und

einem leeren Titel

befriedigen könnte. Nichts würde leichter sein, als Beschuldigungen der Grausamkeit, Hartnäckigkeit, der Mißachtung menschlichen Leidens gegen einen Fürsten zu erheben, der fast sein ganzes Leben damit zubrachte, gegen seilte eigenen Unterthanen Krieg zu führen.

Gerede

dieser Art ist sehr billig, doch glauben wir, daß es ein sehr falsches Bild von der Sache geben würde.

Wir glauben, daß niemand

die Geschichte der Zeit durchwandern kann, ohne deutlich zu sehen, daß Friedrich nicht von irgend welchem niedrigen persönlichen Ehrgeiz bewegt wurde, sondern daß er fühlte, er habe eine Mission, der er sich eifrig und ernstlich hingab.

Ihm waren die Rechte des

römischen Reichs eine geheiligte Sache, um derentwillen er bereit war zu opfern, und sich zu opfern.

Er wurde zweifellos von

einem

eben

angespornt,

lichen

Ansprüche durchzusetzen, als irgend ein Mailänder Patriot

sich

so

denselben

klaren

zu

Pflichtgefühl

widersetzen.

Freilich

kämpfte

für die Rechte des

Kaisertums kämpfte,

Größe

Ruhm.

und

seinen

Und

wo

seine

er,

indem

auch für seine

giebt

es

einen

der sich selbst ganz von seiner Sache trennen könnte? Patrioten,

Märtyrer am Pfahl

kaiser­

er

eigene Mann, Helden,

handeln und dulden für eine

Sache, welche sie für die gerechte halten; aber es ist ganz unmög­ lich, daß sie vergessen sollten, daß der Triumph ihrer Sache ihnen selbst Erfolg und Macht verleiht, und daß sie, selbst in Niederlage und Märtyrertum, Ruhm und Mitgefühl unter den Menschen ge­ winnen.

Nehmen wir selbst die lautersten Menschen,

Free man, histor. Abhandlungen.

Helden, 12

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Friedrich der Erste, König von Italien.

welche keine Lockung des Rangs, des Reichtums oder der Macht auch nur für einen Augenblick versuchen konnte, Timoleon, Wa­ shington oder Garibaldi, so können wir kaum anders glauben, als daß auch sie eine größere Anregung auf dem Pfade der Pflicht ans den« Bewußtsein schöpften, daß sie sich selbst die Liebe und Dankbarkeit ihrer Mitbürger, und immerwährenden Ruhm auf den Tafeln der Geschichte erwarben. Daß Friedrich also in der Sache seiner eigenen Macht focht, beweist in der That nichts gegen ihn. Sein Streben war kein kleiner, leidenschaftlicher, momentaner Ehr­ geiz, wie er allzu oft die Politik der Herrscher aller Zeiten beeinflußt hat. Wir finden bei ihm eine standhafte, unermüdliche Hingabe an eine Sache, die in seinen Augen die Sache des Rechts war. Daß wir mit seiner Sache nicht sympathisiren, beweist nichts. Ver­ gleichen wir ihn mit einem Fürsten, der fast in jeder Beziehung unter ihm steht, bei dem wir jedoch eine ehrliche unbeugsame Hin­ gabe an eine redlich aufgenommene Sache finden. Was immer wir von Karl dem Ersten in den Tagen seiner Macht, was immer wir von seinen Rechtsverletzungen, seinem Brechen feierlicher Ver­ träge denken mögen, es ist unmöglich die völlige Überzeugung des eigenen Rechts nicht zu achten, die ihn während der ehrenvolleren Tage seines Unglücks aufrecht erhält. Wenn er an Rupert schreibt, daß einem Soldaten oder Staatsmann seine Sache hoff­ nungslos erscheinen müsse, daß er jedoch, wenn er sie als Christ betrachte, überzeugt sei, Gott werde die Rebellen nicht begünstigen, noch seine Sache untergehen lassen, so ist es unmöglich, nicht zu fühlen, daß er, wenn gleich ein Despot, doch sehr verschieden war von dem gewöhnlichen Schlag der Despoten. Und wenn wir solche Achtung für Karl fühlen, so müssen wir sie viel mehr für Friedrich empfinden, dessen Charakter sich in denjenigen Punkten hoch über den Karls erhebt, in welchen Karl, selbst von einem royalistischen Gesichtspunkt aus, entschieden fehlt. Karl zeigt, unge­ achtet seiner wirklichen Hingabe an eine Sache, eine befremdliche

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Mischung von Unentschlossenheit und Starrsinn. Friedrich war mit Überlegung fest; er war unbeugsam, so lange eine vernünftige Hoffnung, seine Ziele zu erreichen, vorhanden war, doch artete seine Festigkeit niemals in blinden Eigensinn aus. Ferner war Karl ein Mann, dem niemand wirklich trauen konnte; Friedrich war, vor allen Fürsten des zwölften Jahrhunderts, ein Mann seines Wortes. Wir haben für Friedrich Achtung auf Grund seiner eifrigen und unbeugsamen Hingabe an eine Sache beansprucht, deren er sich aus ehrlicher Überzeugung als einer Sache des Rechts angenommen hatte. Doch ist dies eine Doktrin, die nicht zu weit ausgedehnt werden darf. Es ist unmöglich zu bezweifeln, daß Philipp der Zweite sich eifrig und gewissenhaft der Sache der Kirche und der Monarchie gewidmet hatte. Die Frage in allen diesen Fällen ist die: durch welche Mittel wurde der Zweck zu erreichen gesucht? Wir tadeln Philipp nicht einfach deßwegen, weil er diesenigen in Schranken hielt, die er als Rebellen und Ketzer betrachtete; eine andere Handlungsweise von ihm zu erwarten, hieße ein Unterscheidungs­ vermögen bei ihm voraussetzen, das in seinem ganzen Umfang keinem Europäer jener Zeit verliehen war, außer seinem batavischen Rivalen. Weshalb wir ihn tadeln, das ist die Niedrigkeit, die Treu­ losigkeit und die zügellose Grausamkeit der Mittel, durch die er seine Absichten durchzusetzen suchte. Bei Friedrich Barbarossa finden wir nichts dieser Art. Legen wir den Maßstab seines Jahr­ hunderts an, so kann Friedrich weder der Grausamkeit noch der Treulosigkeit beschuldigt werden. Wir müssen uns vergegenwärtigen, wie jenes Jahrhundert beschaffen war, obgleich wir aufrichtig davon überzeugt sind, daß das zwölfte Jahrhundert sich vor einem Ver­ gleich mit manchem späteren nicht zu scheuen braucht. Kriege wurden im zwölften Jahrhundert aus sehr geringen Ursachen begonnen, und sie wurden mit großer Grausamkeit geführt. Doch sicherlich wurden sie nicht ans geringeren Ursachen unternommen, noch mit 12*

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größerer Grausamkeit geführt, als dies im fünfzehnten, sechzehnten oder siebzehnten Jahrhundert der Fall war. Die Gräuel der Bur­ gunder- und Armagnakenzüge, der italienischen Kriege der Renaissance­ zeit, der spanischen Herrschaft in den Niederlanden, des dreißig­ jährigen Kriegs, stellen sich den Ereignissen der allerfinstersten Zeiten zur Seite, und übertreffen sicherlich bei weitem alles, was Friedrich dem Ersten zur Last gelegt werden kann. Friedrich hatte keine Schuld auf der Seele wie die Plünderung Roms oder die Plünderung Magdeburgs; er ritt nie, wie Karl der Kühne,* mit Lust durch eine mit Leichen gefüllte Stadt, indem er sich selbst zu seinen „guten Schlächtern" Glück wünschte. Er ertränkte nicht, wie Philipp August, seine Gefangenen, noch ließ er sie Hungers sterben, wie Johann von England, noch sie lebendig schinden, wie sein eigener hochgebildeter Enkel.** Karl der Große ließ vier­ tausend gefangene Sachsen kaltblütig enthaupten; Richard Löwen­ herz massakrirte seine saracenischen Gefangenen im Großen; der schwarze Prinz schaute unbewegt von seinem Krankenbett, wie Männer, Weiber und Kinder in den Straßen von Limoges hingemordet wurden. Kein solcher Auftritt bezeichnete den Einzug des triumphirenden Cäsars in das eroberte Mailand oder Tortona. Hart, selbst grausam, wie er uns erscheint, finden wir doch, wenn wir Friedrich mit seinen Vorgängern, Zeitgenossen und Nachfolgern vergleichen, daß selbst in dem clementissimus und dulcissimus des Otto Morena ein wahrer Sinn liegt. So lange der Widerstand anhielt, scheute Friedrich nicht davor zurück, die grausamen Kriegsgesetze einer harten Zeit bis aufs Äußerste durchzuführen.*** Er machte sich kein Gewissen daraus, denen, die einer belagerten Stadt Mund* Barante, Ducs de Bourgogne, vol. X. p. 6. ** „Quoscunque in Castellis suis ex adversariis cepit, aut vivos excoriavit, aut patibulo suspendit.“

Bog. Wend. IV. 209, ed. Coxe.

*** „Utar ergo deinceps belli legibus.“ Rad. Fris. IV. 50.

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Vorräte zuführen wollten, die Hände abzuschneiden. Er band die Geißeln an seine Belagerungsmaschinen, damit sie durch die Ge­ schosse ihrer Freunde zu Grunde gehen sollten, oder vielmehr, damit ihre Gefahr ihre Freunde zur Unterwerfung bewegen möchte. Wenn die Unterwerfung erfolgte, verlangte die beleidigte Majestät des Augustus harte Friedensbedingungen; doch wie sie sein mochten, sie wurden immer ehrlich eingehalten, und bedingten wenigstens niemals Schaden an Leib und Leben. Es war ein harter Urteilsspruch für die Bewohner einer ganzen Stadt, mit dem nackten Leben davon­ zuziehen, oder mit so viel ihres wertvollsten Besitzes, als sie auf dem Rücken tragen konnten;* aber ein solches Geschick war Gnade im Vergleich mit dem Loose jener, die in den Rachen Karls von Burgund, oder Alba's, oder Tilly's gerieten. Mailand wurde der Erde gleich gemacht, zweifellos als ein hoch symbolischer Akt der Gerechtigkeit, als eine Warnung an Alle, die der Macht des Herrn von Deutschland und Nom sich widersetzen mochten. Friedrichs Rache wurde jedoch nur an todten Mauern ausgeübt; es war ein Anderes, als das wiederhergestellte Mailand drei und ein halb Jahrhunderte später in die Hände des Cäsars einer civilisirterm, jedenfalls einer mehr verfeinerten Zeit fiel. Ohne Zweifel ver­ anlaßten Friedrichs Kriege und Belagerungen viel menschliches Elend; große, und wohl nicht sehr streng disciplinirte Armeen, die auf Andrer Kosten lebten, müssen eine ständige Geißel für das Landgewesen sein;** doch hat Friedrich dies Alles mit zahllosen anderen kriegerischen Fürsten gemein; was ihm allein eigen ist, ist seine ständige Mäßigung int Sieg. Dies allein würde beweisen, daß seine Kriege nicht Kriege der Leidenschaft oder der Laune waren, sonder» daß sie aus einer Ursache geführt wurden, die ihm als * Otto Fris. II. 20; Rad. IV. 56; Otto Morena, col. 981. ** Der Lobredner des Acerbus Morena (col. 1153) erwähnt es

als ein ganz besonderes und bewundernwertes Verdienst, daß er sich selbst des Plünderns enthielt, und alles that was er konnte, um andere daran zu verhindern.

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eine hohe und heilige erschien. Und ferner erscheint in einer Zeit nicht so wohl überlegter Treulosigkeit, als vielmehr äußerster Sorg­ losigkeit in Bezug auf Versprechen, einer Zeit, in der Eide leicht geschworen und leicht gebrochen wurden, Friedrichs ganz unver­ rückbares Festhalten an seinem Wort als hervorragend und ehren­ wert. Einmal, und nur einmal, fehlte er. Er erniedrigte sich, Alessandria zur Zeit des Waffenstillstands anzugreifen,* und er wurde verdientermaßen zurückgetrieben und gezwungen, die Be­ lagerung aufzuheben. Dies ist ein dunkler Flecken auf Friedrichs sonst gradem und aufrichtigem Charakter. Er ist jeder andern von ihm berichteten Handlung vollständig unähnlich. Wir können daher wenigstens glauben, daß es nicht ein Fall vorbedachter Treulosigkeit war; wir können glauben, daß er den Waffenstillstand in völlig reiner Absicht schloß, daß er sich jedoch durch die Aussicht einer günstigen Gelegenheit zum Angriff vor Ablauf des Waffenstillstands zu einem Treubruch verleiten ließ. Der ehrenwerteste Abschnitt in dem Leben dieses großen Kaisers jedoch ist der, welcher seiner schließlichen Niederlage folgte. Nach der Schlacht von Legnano im Jahr 1176 war es ersichtlich, daß er keine weitere Hoffnung auf die Eroberung der lombardischen Städte hatte. Er wünschte den Frieden, die Unterhandlungen gingen langsam, doch endlich kam der Friede von Constanz zu Stande, und wurde ein Gesetz des Reichs. Durch dieses Dokument wurden die kaiserlichen Rechte über die Gemeinwesen in bestimmte mäßige Gränzen eingeschränkt. Zu Friedrichs ewiger Ehre hielt er die Constitution, die er seinem Volk gegeben hatte. Er handelte nicht, wie deutsche und italienische Könige vor zehn Jahren. Nach­ dem der Vertrag einmal geschlossen war, fand sich Friedrich ehrenhaft in den veränderten Stand der Dinge. Er zog sich nicht einmal mürrisch von Italien zurück. In dasselbe Mailand, * Vita Alex. III, ap, Muratori t. III. p. 464,

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dessen Bürger seine Gewalt gebrochen hatten, gerade in die Stadt, deren Existenz zeigte, wie eitel die Entwürfe seines Lebens waren, kam der König von Italien, und verweilte daselbst als ein geehrter Gast, und mit vielleicht zu großer Rücksicht für seine neuen Ver­ bündeten gestattete er, daß in lokalen Kriegen gegen die Feinde Mailands das Banner des Reichs entfaltet werde. Zweifellos war es setzt Friedrichs Politik, den Frieden Italiens zu bewahren, wie es jetzt sein Hauptziel war, das Königreich ©teilten für seinen Sohn zu erlangen. Indessen hat es wenige Monarchen gegeben, welche sich so vollständig ihrem veränderten Loos anpassen konnten» oder welche mit solcher Gewissenhaftigkeit an ihrem einmal ver­ pfändeten Wort hingen. Wir kennen wenig so ergreifende, für alle Beteiligte so ehrenwerte Vorgänge in der Geschichte, als die letzten Jahre von Friedrichs italienischer Regierung. Zuletzt schritt der Held in seinen späteren Jahren, wie er es in seiner Jugend gethan, zti einer noch höheren Aufgabe als es die Behauptung der Rechte des römischen Reichs war. Der weltliche Herr der Christen­ heit, der höchste und würdigste der westlichen Könige, zog noch einmal aus, um für das Grab Christi zu kämpfen. Wir können überzeugt sein, daß kein Mann jemals mit höherem und reinerem Herzen das Kreuz auf seine Schulter heftete. Es wäre ein Glück gewesen, wenn er das Ziel seiner Pilgerfahrt erreicht, und dem Heer der Kreuzfahrer einen würdigen Führer gegeben hätte. Doch er starb, ehe er die syrische Gränze wieder erreichen konnte, indem er die Geschicke Deutschlands, Italiens und Siciliens seinem unwürdigen Sohn vermachte, und das Recht des Vorkämpfers der Christenheit dem treulosen Philipp von Paris und dem brutalen Richard von Poitou hinterließ. Der mehr private und persönliche Charakter Friedrichs kommt nur in der Form des Panegyrikus auf uns. Wir haben sein Bild vor uns, wie es sowohl von einem Deutschen, als von einem italienischen Bewunderer gezeichnet ist? Hat man alle nötigen Abzüge gemacht, so ist * Rad. Fris. IV. 80. Otto Morena, ool. 1115.

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es leicht, in ihm das stolze und einnehmende Urbild des rein germa­ nischen Charakters zu sehen. Er war ein Mann von mittlerer Größe, von klarer, offener Miene, Heller Haut, blondem Haar,* und, wie aus seinem Beinamen zu ersehen ist, rötlichem Bart. Er war ein gütiger Freund, und ein versöhnlicher Feind; den Krieg liebte er, doch nur als ein Mittel zum Frieden; so versichert uns wenigstens der Canonicus von Freisingen.** Er war großmütig im Almosengeben, und aufmerksam auf seine religiösen Pflichten. Was seine häuslichen Verhältnisse anbelangt, so wissen wir, daß er von seiner ersten Frau, Adelheid, geschieden war; die Thatsache wird berichtet, doch erfahren wir wenig von den näheren Umständen.*** Seine zweite Frau, Beatrice, wird von ihren Lobrednern als eben so bewundernswert, wie ihr Gemahl geschildert.-s- Die Ausbreitung seiner wissenschaftlichen Kenntnisse ist zweifelhaft. Eine Stelle bei Ragevin scheint fast zu der, Annahme zu berechtigen, daß er nicht lesen tonnte ;tt doch kann sie auch nur meinen, daß er kein aus­ gebildeter Gelehrter wie sein Enkel war. Derselbe Schriftsteller * Flava caesaries, pauliul um a vertice frontis crispata. Aurcs vix superjacentibus crinibus operiuntur; tonsore, pro reverentia Imperii, pilos capitis et genarum assidua succisione curtante. Rad. loc. cit. ** Bellorum amator, sed ut per ea pax acquiratur. Rad. loc. cit. *** Otto von St. Blasien (Mur. VI. 869) sagt, es sei „causa fornicationis“ geschehen, Otto von Freisingen: „ob vincula consanguinitatis.“ Hierin sieht Muratori (ad Otto Mor. col. 1033) einen Widerspruch, welchen

wir nicht sehen. Ehebruch war kein gesetzlicher Grund zur Ehescheidung; doch mochten eines Ehemanns Augen viel scharfsichtiger auf die Blutsver­ wandtschaft eines treulosen Weibes werden. Muratori schließt ferner, daß ein gewisser Dietho von Ravensburg, der sie heiratete, eine geschiedene Ehe­ brecherin nicht geheiratet haben wurde. Heinrich II. von England that dies jedoch. t Acerbus Morena, col. 1117. tt „Qui literas non nosset.a Rad. Fris. IV. fi. Nebenbei bemerkt, bictirte Acerbus Morena (col. 1102) seine Geschichte. Konnte vielleicht ein Richter („curiee Imperialis judex“, col. 1153) nicht schreiben?

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erzählt uns von seinem Studium der heiligen Schrift und alter Historien, was allerdings auch heißen kann, daß dieselben ihm vorgelesen wurden, doch versteht man es naturgemäßer dahin, daß er sie selbst las. Nagevin nennt ihn ferner beredt in seiner eigenen Sprache, und sagt, daß er im Erlernen des Lateinischen dieselbe Stufe erreicht habe, wie Karl der Große im Griechischen.

Er

verstand das Lateinische, wenn es gesprochen wurde; er selbst konnte es nicht fließend sprechen.

Alles in Allem sehen wir in Friedrich

Barbarossa keinen jener gewaltigen, ursprünglichen Geister, welche die Geschicke der Welt verändern, wie Alexander oder Karl, oder welche umsonst gegen das Jahrhundert kämpfen, in das sie gestellt sind, wie Hannibal oder Friedrich der Zweite.

Er ist ganz ein Mann

seiner Zeit; die Gefühle und Ansichten seines Jahrhunderts macht er sich ohne weitere Forschung zu eigen; ohne Zaudern stellt er sich mitten in all die Ueberlieferungen und Vorurteile seiner eigenen Stellung: mit einem Wort, er erhebt sich nie über die überkommene Klugheit und Moralität seiner eigenen Zeit, doch bringt er diese Klugheit und Moralität in ihrer besten und ehrenhaftesten Form zur Geltung.

Man braucht ihn weder mit der übermenschlichen

Tugend des heiligen Ludwig, noch mit der übermenschlichen Niedrig­ keit Johanns ohne Land zu vergleichen; vergleichen wir ihn mit seinem großen Zeitgenossen Heinrich, unserm eigenen Herrn aus dem Geschlecht der Anjou.

Heinrich war offenbar ein Mann von

viel größerer ursprünglicher Genialität, von viel schöpferischerem Ver­ stände, als Friedrich; doch fehlte ihm vollständig Friedrichs ehr­ liche, wackere Treue und ständige Anhänglichkeit an das, was in seinen Augen als Weg der Pflicht erschien.

Bei Heinrich finden

wir ferner ein Element von Brutalität, eine Spur des dämonischen Stammes, Friedrichs nähere

dem

er

heftigsten

Ähnlichkeit,

entsprungen Stimmungen

sein

soll,

nichts

von

bemerken.

so sehr auch jeder der

der

wir

Eine

in weit

Beteiligten darüber

erstaunt gewesen wäre, läßt zwischen dem schwäbischen Cäsar und

Friedrich der Erste, König von Italien.

186

dem großen zeitgenössischen englischen Helden der Kirche finden. Friedrich von Hohenstaufen und Thomas von Canterbury waren beide Männer von hohem und edlem Charakter, die sich Zielen opferten, welche nach dem Urteil ihrer eigenen Zeit gerechte waren. Wir können weder für die Befreiung des Klerus von der welt­ lichen Gerichtsbarkeit, noch für die Unterjochung Italiens durch einen deutschen Monarchen Sympathie empfinden.

Wir können uns

darüber freuen, daß beide, Friedrich und Thomas, am Ende unter­ lagen, aber ehren können wir die Männer selbst trotz alledem. Friedrich genoß des großen Vorteils, sich in einer Stellung zu befinden, welche all seinen Fähigkeiten ihre freie, volle und natür­ liche Entwickelung gestattete. einer zwar ehrlichen, Laufbahn.

aber

Thomas' Schicksal doch unnatürlichen

zwang ihn zu und

gekünstelten

Aus Friedrich würde nur ein absonderlicher Heiliger

und Märtyrer geworden sein; wäre Thomas jedoch ans Friedrichs fürstlichem Stamm geboren worden, so möchte er auf dem Kaiser­ thron von einem Ruhm, gleich dem Friedrichs selbst, umstrahlt gewesen sein. Wie weit Friedrichs Regierung am Ende zum Wohl zum Unglück Italiens diente, mag bezweifelt werden. und zuletzt siegreicher Kampf gegen einen

oder

Ein langer

solchen Gegner

hob

natürlich den Mut und das Vertrauen der Republiken, und trug so zu der Freiheit und dem Glanz der großen Zeit des mittelalter­ lichen Italiens bei.

Aber grade diese Ursache rückte die italienische

Freiheit in weitere Ferme als jemals.

Ein Bürger von Mailand

oder Crema oder Tortona zu sein, hieß einen so glorreichen Namen tragen, daß Niemand Verlangen trug, zu dem allgemeineren und weniger ruhmvollen Namen eines Italieners herabzusinken.

Der

Krieg mit Friedrich gab Italien, wie Sismondi sagt, die Gelegen­ heit, welche zu ergreifen es verfehlte,

sich zu einem mächtigen und

dauernden Bundesstaat umzuformen. Achaia, die Schweiz, Holland, Amerika bildeten sich unter ähnlichen Verhältnissen zu großen und

187

Friedrich der Erste, König von Italien.

dauernden Föderalrepubliken; die lombardischen Städte dachten an keine Vereinigung, als an die einer strengen Offensiv- und Defensiv­ allianz.

Zweifellos muß die von Welfen wie von Ghibellinen zu­

gestandene constitutionelle Theorie, daß die Republiken von dem König von Italien abhängige Gemeinwesen seien, einer engeren Verbindung im Wege gestanden haben. Dieselbe Ursache mag selbst die Schweiz bis auf unsere Tage verhindert haben, eine vollständige Föderalform anzunehmen.

Das Königtum

starb

aus, und die

Städte blieben, nicht als Kantone eines starken italienischen Bundes, sondern als souveräne Staaten, schwach gegen irgend einen mächtigen fremden Eindringling.

Im nächsten Jahrhundert bot sich Italien

eine andere Gelegenheit zur Einigung ganz anderer Art.

Wäre

der Proceß, den wir noch unter unsern Augen andauern sehen, vom andern Ende ausgegangen, so wäre wohl Italien zu einer großen und geeinten Monarchie unter dem Scepter des sicilianischen Manfred geworden.

Ein solches Schicksal hätte wohl Florenz und

Genua und Venedig einzelner glänzender Jahrhunderte beraubt; doch würde es Mailand von der Herrschaft der Visconti und Rom von der Herrschaft der Borgia gerettet, und die ganze Halbinsel vor dem Joch der Spanier, der Oestreicher und der Franzosen bewahrt haben. Um zum Schluß zu unserm Ausgangspunkt zurückzukehren: welche faßbare Analogie besteht zwischen einem König von Italien und Kaiser der Römer, der durch anerkannte gesetzliche Rechte regierte, an dessen Wahl die italienischen Barone einen wenigstens formellen Anteil hatten,

der die Krone von

Rom von Roms

eigenem Papst erhielt, einem König, dessen Recht kein Italiener läugnete und für dessen Sache viele Italiener voll Eifers fochten, und dem Herrn einer fremden, ungeeinigten Sammlung von König­ reichen, der unglücklicherweise eine Ecke italienischen Bodens besitzt, nnd der bis vor Kurzem einen ungesetzlichen Einfluß über Italien im Ganzen ausübte? Es ist schwer zu begreifen, warum der Erzherzog

188

Friedrich der Erste, König von Italien.

von Oestreich sich Kaiser nennt ohne Wahl und Krönung; es ist schwer zu begreifen, was man unter einem „Kaiser von Oestreich" mehr verstehen soll, als unter einem Kaiser von Neuß-Schleiz; es ist schwer einzusehen, wie ein Fürst, dessen Besitzungen größtenteils außerhalb Deutschlands liegen, sich für den Repräsentanten der alten deutschen Könige ausgeben kann; aber noch schwerer ist es die Ähnlichkeit zu finden zwischen dem fremden Fürsten der nicht einmal das italienische Königreich beansprucht, der lediglich durch brutale Gewalt sich im Besitz einer italienischen Provinz erhält, ohne einen einzigen italienischen Parteigänger, und dem „dulcissimus Imperator“, der über die loyale Ergebenheit von Pavia, Lodi und Cremona gebot. Eine der allerbefremdlichsten Ansichten ist die, daß „Oestreich" eine alte, ehrwürdige, erhaltende Macht sei. Die Geschichte erkennt es als modern, aufrührerisch und revolutionär, als eine Macht, die zu einer schnldbefleckten Größe emporgestiegen ist, indem sie jedes historische Recht und jede nationale Erinnerung niedertrat. Das sogenannte „Kaisertum" Oestreich — ein Freund alter deutscher Geschichte sträubt sich fast dagegen, diesen verhaßten Namen zu schreiben — ist lediglich eine Schöpfung von Gestern, — nichts als Staub aus verschiedenen Gegenden. Ungarn und Böhmen waren einst Wahlreiche; Galizien wurde den unglücklichen Polen durch die niedrigste Verräterei und Undankbarkeit entrissen; Venedig und Nagusa waren noch bei Menschengedenken unabhängige Gemeinwesen, die Freiheit von Krakau wurde vor unseren eigenen Augen zu Boden getreten. Was hat eine Macht wie diese mit den alten Tagen des großen und einigen Deutschlands gemein? Was ist ihr „kaiserlicher" Herr anders, als ein reiner Betrüger, ein Bastardkaiser, eine profane Satire auf den Ruhm Karls und Otto's und Heinrichs und Friedrichs? Deutscher, wie italienischer Patriotismus sollte vor dem elenden Betrug zurückschrecken. Wenn der kaiserliche Titel — jetzt herabgesunken zum Lohn für Treulosigkeit und Metzelei —

Friedrich der Erste, König von Italien.

189

nicht zu tief gesunken ist, um von dem Herrn eines freien Volks getragen zu werden, so wird der wahre Cäsar Augustus der fein, von dem wir hoffen, daß er in der alten Hauptstadt Italiens und der Welt bald den Thron besteigen werde. Und wenn der erwählte König des befreiten Italiens die eiserne Krone von Monza und die goldene Krone von Nom wieder erlangen kann, so wird es zu den vornehmsten Erinnerungen, die sich an diese ehrwürdigen Reliquien heften, gehören, daß sie die edle Stirne Friedrichs von Hohenstaufen berührt haben.

V.

Kaiser Mieörich der Zweite. North British Review, December 1866. *

Stupor mundi Fredericus — Friedrich, das Wunder der Welt — ist der Name, unter welchem der englische Historiker Matthew Paris mehr als einmal von dem Kaiser spricht, welcher während des größten Teils der ersten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts die Augen aller Menschen auf sich zog, und dessen Namen seitdem in der Geschichte gelebt hat, als der des wunderbarsten Mannes in einem wunderbaren Zeitalter. Wir sagen nicht des größten, noch weniger des besten Mannes seiner Zeit, sondern, wie Matthew Paris ihn nennt, des wunderbarsten Mannes; des Mannes, dessen Charakter und Handlungen höchst eigenartig hervorleuchten; des Mannes, kurz gesagt, der in allen Dingen den anderen Menschen, die ihn um­ gaben, höchst unähnlich war. Es ist wahrscheinlich, daß niemals ein Mensch lebte, der mit größerer natürlicher Begabung ausge­ stattet war, oder dessen natürliche Begabung, den ihm von seiner • 1. Historia Diploraatioa Friderici Secundi, etc. Collegit, etc., J. L. A. Huillard-ßräholles, auspiciis et sumptibus H. de Albertis de Luynes. Prdface et Introduction. Paris, H. Pion, 1859. 2. History of Frederick the Second, Emperor of the Romans. By T. L. Kington (Oliphant), M. A. Cambridge and London, Macmillan, 1862. 3. Vie et Correspondance de Pierre de la Vigne, Ministre de VEmpereur FrddSrio II., etc. Par A. Huillard- Bräholles. Paris, H. Pion, 1866.

Kaiser Friedrich der Zweite.

191

Zeit gebotenen Mitteln entsprechend, sorgfältiger ausgebildet war, als die des letzten Kaisers aus dem Geschlecht der Schwaben. Es scheint keine Seite der menschlichen Natur zu geben, die in seiner Persönlichkeit nicht bis zum höchsten Grad entwickelt war. Durch die Beweglichkeit seiner Anlagen, durch das, was wir Vielseitigkeit des Charakters nennen können, erscheint er als eine Art mittelalterlicher Alcibiades, während er ohne Zweifel weit entfernt war von Alcibiades' äußerstem Mangel an Principien oder an irgend welcher Ste­ tigkeit. Feldherr, Staatsmann, Gesetzgeber, Gelehrter, nichts gab es innerhalb des Horizonts der politischen oder geistigen Welt seiner Zeit, das er sich nicht zu eigen gemacht hätte. In einer Zeit des Wechsels, da in allen Teilen Europa's und des civilisirten Asiens alte Reiche, Systeme, Nationen stürzten und neue sich erhoben, war Friedrich in hervorragender Weise der Mann des Wechsels, der Urheber neuer und unerhörter Dinge, — er war stupor mundi et immutator mirabilis. Unter dem Verdacht der Häresie und dem Verdacht des Mohamedanismns stehend, war er der Gegenstand aller möglichen absurden und sich selbst widersprechenden Anklagen; doch bezeichnen die Anklagen wirkliche Züge in dem Charakter des Mannes. Er glich weder einem anderen Kaiser, noch einem anderen Menschen; wie sehr er auch seine Rechtgläubigkeit betonen mochte, man fühlte instinktiv, daß seine Glaubensmeinung und Übung nicht dieselbe war, als die Glaubensmeinung und Übung anderer Christen. Es ist außer Zweifel, daß er seinen Geist von den Fesseln seiner eigenen Zeit völlig befreit hatte, und daß er Anschauungen und Absichten hatte, welche den meisten seiner Zeitgenossen ungeheuerlich unverständlich und unmöglich erschienen sein würden. Kurz, Fried­ rich war in mancher ersichtlichen Beziehung ein Mann von dem Gepräge derer, die ihre eigene Zeit und die Zeiten welche nach ihnen kommen beeinflussen; der Männer, die, je nachdem ihr Loos gefallen ist, die Gründer von Sekten oder die Gründer von Reichen

192

Kaiser Friedrich der Zweite.

werden. Bor allen Menschen konnte man von Friedrich dem Zweiten erwarten, daß er als Schöpfer auftreten würde, als Eröffner einer neuen Aera, einer politischen oder geistigen. Er war ein Mann, auf den eine große Stiftung als auf ihren Schöpfer hätte zurückblicken können, auf den eine große Gemeinschaft von Menschen, eine Sekte oder Partei oder Nation, wohl hätte zurückblicken können als auf ihren Propheten, ihren Be­ gründer oder ihren Befreier. Aber der begabteste aller Menschen­ söhne hat kein solches Andenken hinterlassen, während Männer, deren Gaben einen Vergleich mit den seinen nicht aushalten können, als Schöpfer verehrt werden von dankbaren Nationen, Kirche», politischen und philosophischen Parteien. Friedrich schuf in der That nichts und er säte die Saat der Zerstörung vieler Dinge. Seine großen Freibriefe, die er den geistlichen und weltlichen Fürsten Deutschlands erteilte, gaben der kaiserlichen Macht den Todesstoß, während er, um es gelind auszudrücken, kalt auf die steigende Kraft der Städte und auf jene coinmerciellen Verbindungen sah, welche zu seiner Zeit das beste Element im politischen Leben Deutsch­ lands darstellten. Von welcher Seite wir Friedrich den Zweiten betrachten, wir sehe» in ihm thatsächlich nicht den Ersten, sondern den Letzten jeder Reihe, zu welche er gehört. Zweihundert Jahre nach seiner Zeit hatte ein englischer Schriftsteller den Scharfsinn, einzusehen, daß er wirklich der letzte Kaiser war.* Er war der letzte Fürst, in dessen Titel der kaiser­ liche Name nicht als ein Spott erscheint; er war der letzte, unter dessen Negierung die drei kaiserlichen Königreiche einen thatsäch­ lichen Zusammenhang unter sich und mit der alten Hauptstadt Aller behielten. Friedrich, der seine Trophäen nach Rom sandte, * Capgrave in seiner Chronik datirt bis zu Friedrich II. nach bm Kaisern, und fügt dann hinzu: „Pro this tyme forward eure annotacion schal be aftir the regne of the Kyngis of Ynglond; for the Empire, in maner, sesed he re.“

Kaiser Friedrich der Zweite.

193

um sie in seiner eigenen Stadt von seinen eigenen Unterthanen be­ wahren zu lassen, war römischer Cäsar in einem Sinn, in dem es kein anderer Kaiser nach ihm war. Und er war nicht nur der letzte Kaiser des ganzen Reiches; man könnte ihn fast den letzten König seiner einzelnen Königreiche nennen. Nach seiner Zeit verschwindet Burgund als ein Königtum; kaum ein Ereignis erinnert uns an seine Existenz, mit Ausnahme der Laune Karl des Vierten, nach Arles zu gehen und dort die burgundische Krone zu nehmen. Auch Italien verschwindet nach Friedrich als Königreich; jede spätere Ausübung der königlichen Autorität in Italien kam und ging ruck- und stoßweise. Spätere Kaiser wurden in Mailand gekrönt, aber keiner nach Friedrich war König von Italien in dem wirklichen und thatsächlichen Sinn, in dem er es war. Deutschland verschwand nicht ganz, noch zersplitterte es in Stücke, wie die Schwesterreiche; doch nach Friedrich kam das große Interregnum, und nach dem .Interregnum bedeutete die königliche Gewalt in Deutschland nie mehr das, was sie vorher bedeutet hatte. In seinem Erbrcich Sicilien war Friedrich nicht der absolut letzte seines Geschlechts, deny sein Sohn Manfred regierte noch einige Jahre nach seinem Tod glücklich und ruhmvoll. Aber es ist nichts­ destoweniger klar, daß von Friedrichs Zeit an dem sicilianischen Königreich das Urteil gesprochen war; sein Loos war zu sein, was es seitdein immer war, geteilt, hin- und hergeworfen von einem fremden Herrscher zum andern. Noch viel ersichtlicher ist es, daß Friedrich der letzte christ­ liche König von Jerusalem war, der letzte getaufte Mann, der wirklich das heilige Land beherrschte oder eine Krone in der heiligen Stadt trug. Und doch, sonderbar genug, konnte Friedrich, wenn irgendwo, so in Jerusalem einigermaßen die Ehren eines Gründers beanspruchen. Wenn er der letzte mehr als nominelle König von Jerusalem war, so war er auch nach einem beträchtftreeman, histor.

Abhandlungen.

13

194

Kaiser Friedrich der Zweite.

lichen Zwischenraum der erste; er brachte durch seine eigene Geschicklichkeit das Königtum wieder in seinen Besitz, und wenn er es verlor, so war dieser Verlust von all den Mißerfolgen seiner Regierung derjenige, der ihm gerechterweise am wenigsten als ein Fehler angerechnet werden kann. In der Welt der schönen Literatur hat Friedrich einigen Anspruch darauf, als der Schöpfer jener italienischen Sprache und Literatur angesehen zu werden, welche zuerst an seinem sicilianischen Hof eine deutliche Gestalt annahm. Doch in dem weiteren Feld politischer Ge­ schichte erscheint Friedrich nirgends als Schöpfer, sondern eher überall als unfreiwilliger Zerstörer. Er ist überall der letzte seiner Art, und er ist nicht der letzte in demselben Sinn, wie Fürsten, die mit ihren Reichen in inneren Revolutionen oder auf dem Schlachtfeld zu Grunde gehen. Wenn wir ihn den letzten Kaiser des Westens nennen, so ist er dies in einem ganz anderen Sinn, als Constantinus Paläologus der letzte Kaiser des Ostens war. Unter Friedrich scheint das Reich und alles, was damit zu­ sammenhängt, zu zerbröckeln und zu sinken, während es seinen äußeren Glanz bewahrt. Sobald sein glänzender Besitzer ver­ schwunden ist, fällt es auf einmal zusammen. Es ist eine bedeu­ tungsvolle Thatsache, daß ein Mann, der in Hinsicht seines Geistes, seiner Bildung sicherlich der größte Fürst war, der je eine Krone trug, ein Fürst, der den ersten Platz auf Erden einnahm und der während einer langen Regierung mit großen Vorgängen einer großen Zeit verknüpft war, niemals, selbst von seinen Schmeichlern nicht, den Namen des Großen erhalten zu haben scheint, der weniger bedeutenden Männern so verschwenderisch zuerteilt wurde. Die Welt fühlte instinktiv, daß Friedrich, von Natur einem Alexander, Constantin oder Karl mehr als gleichstehend, keine solche Schöpfung hinterlassen hatte wie sie jene hinterließen, und daß er die Welt nicht beeinflußt hatte wie jehe sie beeinflußten. Er war stupor mundi et immutator mirabilis aber der Name Fridericus Magnus

Kaiser Friedrich der Zweite.

195

blieb einem Fürsten eines ganz andern Zeitalters und Geschlechtes aufbewahrt, der, was man auch immer sonst von ihm sagen mag, wenigstens zeigte, daß er die Kunst des Themistokles erlernt hatte, und wußte, wie man einen kleinen Staat in einen großen ver­ wandelt. Viele Ursachen wirkten zusammen, um dies seltsame Resultat hervorzubringen, daß ein Mann von Friedrichs außerordentlichem Geist, ein Mann, der jeden Vorteil der Geburt, der Stellung und der günstigen Gelegenheit besaß, so wenig direkten Einfluß auf die Welt haben sollte. Es genügt nicht, seine Mißerfolge den vielen und großen Fehlern seines moralischen Charakters zuzuschreiben. Zweifellos waren sie eine Ursache unter anderen. Doch ist ein Mann, der zukünftige Zeiten beeinflußt, nicht notwendigerweise ein guter Mann. Niemand hatte je einen direkteren Einfluß auf die zukünftige Geschichte der Welt, als Lucius Cornelius Sulla. Der Mann, der Roms letzten Rivalen zermalmte, der Rom in der Stunde der äußersten Gefahr errettete, der es zum unbestreitbaren und dauernde» Haupt Italiens machte, that ein Werk, größer als das Werk Cäsars. Trotzdem ist der Name Sulla's einer, bei dem wir einen fast instinktiven Schauder empfinden. So würden Friedrichs Fehler und Verbrechen, seine Irreligiosität, seine private Zügellosigkeit, seine barbarische Grausamkeit, an sich nicht genügen ihn zu hindern, seiner Zeit seinen Stempel auf­ zudrücken in der Weise, in der andere Zeiten durch den Ein­ fluß von Männern, sicher nicht besser als er, gekennzeichnet worden sind. Um jedoch einen großen und dauernden Einfluß auf die Welt auszuüben, muß ein Mann, wenn nicht tugend­ haft, so doch solcher Ziele sich bewußt und solcher Anstrengungen fähig sein, die etwas mit der Tugend gemein haben. Sulla schreckte vor keinem Verbrechen zurück, welches seinem Vaterland oder seiner Partei dienen konnte; aber es war für sein Vaterland und seine Partei, und nicht für rein selbstsüchtige Zwecke, daß er arbeitete 13*

196

Kaiser Friedrich der Zweite.

und sündigte. Völlige Hingabe an irgend eine Sache schließt etwas von Selbstaufopferung in sich, etwas das, wenn auch nicht rein tugendhaft, so doch der Tugend verwandt ist. Sehr schlechte Männer haben sehr große Werke vollbracht, aber sie haben sie meistens durch jene Züge ihres Charakters vollbracht, die sich am meisten der Tugend näherten. Die schwache Seite in der glänzenden Laufbahn Friedrichs ist eine solche, welche teilweise seinem Charakter ange­ haftet zu haben, und teilweise das Nesultat der Verhältnisse ge­ wesen zu sein scheint, in welchen er sich befand. Jeder Nolle fähig, und in der That wechselsweise jede Nolle spielend, hatte er nicht ein bestimmtes Ziel, das er ehrlich und beständig durch sein ganzes Leben verfolgte. Mit all seiner Macht, mit all seinem Glanz scheint sein Lebensgang gewissermaßen von Andern für ihn bestimmt worden zu sein. Er geriet beständig in Kriege, in politische Ent­ würfe, welche kaum je seine eigene Wahl gewesen zu sein scheinen. Er war der mächtigste und gefährlichste Feind, den das Papsttum jemals hatte. Doch scheint er das Papsttum nicht aus eigener Wahl, oder als freiwilliger Kämpe eines entgegenstehenden Princips bekämpft zu haben. Er wurde der Feind des Papsttums, er plante Entwürfe, die dessen völligen Umsturz bedingten, doch handelte er einfach nur deßwegen so, weil er fand, daß kein Papst ihn je in Frieden lassen wollte. Es war vielleicht ein untrüglicher Instinkt, welcher alle Päpste hinderte, ihn in Frieden zu lassen. Friedrich, seinen eigenen Entwürfen und Neigungen in Frieden überlassen, hätte höchst wahrscheinlich dem Papsttum mehr wirklichen Schaden bereitet, als er es that, nachdem er zu offener Feindschaft aufge­ stachelt war. Indessen ist es eine Thatsache, daß seine Kämpfe mit den Päpsten nicht seinem eigenen Begehren entsprangen; eine Art unvermeidlicher Vorbestimmung trieb ihn in dieselbe», ob es ihn danach verlangte ober nicht. Und wiederum ist die wirklich erfolgreichste That in Friedrichs Laufbahn, seine Besitzergreifung von Jerusalem, nicht nur eine reine Episode in seinem Leben,

Kaiser Friedrich der Zweite.

197

sondern etwas, das ihm gegen seinen Willen aufgezwungen war. Der erfolgreichste Kreuzfahrer seit Gottfried hat mit allen anderen Kreuzfahrern am wenigsten gemein. Bei anderen Kreuz­ fahrern war der heilige Krieg in manchen Fällen die Hauptarbeit ihres Lebens; in allen Fällen war er etwas ernsthaft Unternom­ menes, entweder aus politischen Gründen oder aus religiösem Pflicht­ gefühl. Aber die Kreuzfahrt des Mannes, der wirklich die heilige Stadt wieder erwarb, ist einfach eine groteske Episode in seinem Leben. Excommunicirt für sein Nichtgehen, dann excommunicirt für sein Gehen, wieder excommunicirt für sein Zurückkommen, be­ droht von allen Seiten, ging er doch, und er war von Erfolg begleitet. Was andern durch Waffengewalt mißlungen war, strebte er durch Geschicklichkeit zu erreichen, und alles, was ihm aus seinem Erfolg erwuchs, war, daß dieser den Grund zn neuen Anklagen gegen ihn bot. Seit Jahren tönte der Schrei nach der Wieder­ eroberung Jerusalems durch die Christenheit; endlich wurde Jeru­ salem wieder gewonnen, und sein Wiedereroberer wurde sofort verflucht dafür, daß er die heißesten Wünsche so vieler Tausende von Gläubigen erfüllt hatte. Der excommunicirte König, den kein Geistlicher krönen wollte, dessen Name kaum in seinem eigenen Heere genannt werden durfte, hielt sein Gebiet aller Opposition zum Trotz. Er wurde an der weiteren Befestigung und Ausdehnung seines östlichen Reichs nur durch einen Sturm verhindert, der in seinen Erbstaaten durch Solche erregt worden war, welche am meisten verpflichtet waren, ihm gegenüber etwas mehr als die gewöhnliche internationale Ehrlichkeit zu beweisen. Was immer auch die Gefühle und Verhältnisse, unter welchen er handelte, gewesen sein mögen, Friedrich war thatsächlich der triumphirende Kämpe der Christenheit, und sein Lohn waren neue Verdäch­ tigungen seitens des geistlichen Oberhauptes der Christenheit. Der ältere Friedrich, Philipp von Frankreich, Richard von England, der heilige Ludwig, Eduard der Erste waren Kreuzfahrer aus

198

Kaiser Friedrich der Zweite.

Frömmigkeit, aus Politik oder aus Mode; Friedrich der Zweite war einfach deshalb ein Kreuzfahrer, weil er es nicht vermeiden konnte einer zu sein, und doch vollbrachte er, was jenen allen mißlang. So ist es auch in seinem Verfahren gegen beide, den germanischen wie den italienischen Staat nicht möglich, in ihm einen consequenten Freund oder konsequenten Feind der großen politischen Bewegungen jener Zeit zu erkennen. Er erläßt für dieses oder jenes Gemeinwesen Privilegien, er erläßt Urkunden, welche die Frei­ heit der Gemeinwesen im Allgemeinen beschränken, gerade wie es sich der Politik der Zeit anpaßt. Bei Auseinandersetzung mit den Päpsten, vielleicht auch bei seiner Auseinandersetzung mit den Städten wurde sicherlich mehr gegen Friedrich gesündigt, als er selbst sündigte. Aber ein Mann, dessen Geist und Glanz und Macht in jeder einzelnen Handlung seines Lebens hervorleuchten, in dessen allgemeinem Thatengang man jedoch nicht ein herrschendes Princip erkennen kann, der, man möchte sagen, durch Verhältnisse und Handlungen Anderer hin- und hergetrieben erscheint, ist entweder sehr unglücklich in der Stellung, in der er sich befindet, oder aber er entbehrt trotz all seines Geistes einige jener Eigen­ schaften, ohne welche der Geist verhältnismäßig wertlos ist. In Friedrichs Fall treffen vermutlich beide Ursachen zu. Um das eigne Zeitalter zu beeinflussen, muß man gewissermaßen seinem Zeitalter angehören. Man kann über ihm stehen, ihm vor­ aus sein, aber man darf ihm nicht fremd sein. Man mag die Ansichten und Gefühle der Mitlebenden verdammen oder sie zu ändern suchen, doch man muß jene Ansichten und Gefühle wenigstens verstehen und in dieselben einzudringen vermögen. Friedrich jedoch gehört keiner bestimmten Zeit an; intellectuell steht er über seiner, über jeder Zeit; daß er moralisch unter seiner Zeit stand, kann kaum geleugnet werden; aber in nichts stand er in seiner Zeit. In manchen zufälligen Einzelnheiten ist seine Laufbahn eine Wieder­ holung der seines Großvaters. Wie jener kämpft er gegen die

Kaiser Friedrich der Zweite.

199

Päpste, kämpft er gegen einen Städtebund, trägt er das Kreuz im Kampf gegen die Ungläubigen. Mer im Charakter, in Msichten, in Zielen stehen Großvater und Enkel im schärfsten Gegensatz. Friedrich Barbarossa war einfach das Muster des Mannes, des Deutschen, des Kaisers des zwölften Jahrhunderts. All die Fehler und Tugenden seiner Zeit, seines Landes und seiner Stellung fanden in ihm ihre höchste Vollendung. Er war der Durchschnittsmensch seiner Zeit, der den Zielen folgte, denen ein Durchschnittsmensch seiner Zeit und Stellung zu folgen nicht umhin konnte. Er zeigte den Durchschnittscharakter seiner Zeit in seiner edelsten Gestalt; aber es war nur der Durchschnittscharakter seiner Zeit. Seine ganze Laufbahn war einfach die typische seiner Zeit, und war in keiner Weise ihm persönlich eigentümlich; jede Handlung und jedes Ereignis seines Lebens waren jedem mitlebenden Men­ schen, ob Freund oder Feind, verständlich. Doch sein Enkel, wirk­ lich stupor mundi, flößte Staunen, vielleicht Bewunderung einer Zeit ein, die ihn nicht verstehen konnte. Er sammelte in der That eine kleine Schaar ergebener Anhänger um sich, aber der großen Menge der Zeitgenossen erschien er als ein Wesen einer anderen Art. Es teilte keines der Gefühle oder Vorurteile seiner Zeit; in geistiger Größe sowohl als in moralischer Erniedrigung hatte er nichts gemein mit dem Durchschnittsmenschen des dreizehnten Jahr­ hunderts. Die Welt besaß vermutlich keinen Mann, mit Aus­ nahme vielleicht eines einsamen Denkers hier oder da, dessen Geist sich von den gewöhnlichen Schranken der Zeit, im Guten wie im Bösen, so vollständig frei gemacht hatte. Er erschien in den Augen seiner eigenen Zeit als ein Feind alles dessen, was dieser Zeit heilig war, und als ein Freund alles dessen, was diese Zeit ge­ wohnt war zu scheuen und zu bekämpfen. Wie Friedrichs religiöse Ansichten wirklich beschaffen waren, ist ein schwer zu lösendes Rätsel; doch erschien er seiner eigenen Zeit als ein rein politischer, oder selbst als ein doktrinärer Gegner des Papsttums. Man hatte

200

Kaiser Friedrich der Zweite.

das Volk gelehrt zu glauben, daß er einfach deshalb der Feind des Hauptes der Christenheit sei, weil er der Feind der Christenheit überhaupt wäre. Die Übelthaten und Fehler Friedrichs waren vielleicht nicht größer, als die zahlloser anderer Fürsten; doch gab es keinen anderen Fürsten, der in gleicher Weise alle moralischen Begriffe seiner eigenen Zeit mit Füßen trat. Es gelang ihm durch die näheren Umstände seiner Laster das zeitgenössische Gefühl in einer Weise zu beleidigen, in welcher seine Laster allein es nicht beleidigt haben würden. Ein Mann, der solcherweise keinerlei Toleranz für die Gefühle seiner Zeit zeigte, weder für die richtigen noch für die unrichtigen, konnte dieses Zeitalter nicht direkt beein­ flussen. Einige seiner Ideen und Entwürfe mögen stillschweigend auf Männer späterer Zeiten übergegangen sein, in deren Händen sie bessere Früchte tragen konnten. Er mag alte Vorurteile und alte Glaubenssätze in einigen Gemütern seiner eignen Zeit erschüttert haben; er mag auch die Quelle einer Tradition gewesen sein, die mächtig genug war, spätere Jahrhunderte in Mitleidenschaft zu ziehen. In vielen Dingen griffen seine Ideen, seine Handlungen, Ereignissen voraus, die noch weit entfernt waren. Die Ereignisse, denen er voraus griff, mag er auf diese indirekte und stillschweigende Weise beeinflußt haben. Direkten Einfluß aber auf die Welt seiner Zeit hatte er nicht. Er mag das Gebäude eines Staates, das noch Jahrhunderte überdauern sollte, unterminirt haben; doch er uuterminirte es nur. Er hinterließ keine Spuren von sich in der Gestalt eines Schöpfers; er hinterließ ebenso wenige in der Gestalt eines offenen und rückhaltlosen Zerstörers. Es gab noch eine andere Ursache, welche, abgesehen von Friedrichs persönlichem Charakter, dazu gedient haben kann, ihn von seiner Zeit zu isoliren, und ihn zu hindern, den Einfluß auf dieselbe auszuüben, welchen er durch seinen Geist hätte üben können. Dies war sein gänzlicher Mangel an Nationalität. Der bewußte

Kaiser Friedrich der Zweite. Begriff der Nationalität hatte damals Einfluß auf die Ansichten Tagen hat. dem

201

allerdings nicht denselben

der Menschen, welchen

er in unsern

Die politischen Ansichten und Systeme der Zeit liefen

Nationalitätsprincip

ans

zweierlei

Weise

zuwider.

Nichts

konnte einer Nationalitätsdoctrin schroffer gegenüber stehen, als jene Ideen, welche das Wesen des ganzen politischen Glaubensbekennt­ nisses der Zeit ausmachten, einer Universalkirche.

Andererseits war die Vorstellung von der

vereinigten Herrschaft der Nachfolger

von

die Ideen eines Universalreichs und

Petrus

Welt, und

eingesetzt in den Personen der

Augustus

kaum

mehr

der Natio­

nalitätsdoctrin zuwiderlaufend, als die Form, die fast überall von dem aufsteigenden Geist der Freiheit angenommen

worden

war.

Eine auf nationale Freiheit 'gerichtete Bewegung war etwas excep­ tionelles; an den meisten Orte» war es die Unabhängigkeit eines Distrikts, einer Stadt, höchstens eines kleinen Verbandes von Di­ strikten oder Städten, wofür man kämpfte. italienisches Gemeinwesen kämpfte für

Ei» deutsches oder

seine eigene Unabhängigkeit;

so weit es sich mit dem thatsächlichen Genuß dieser Unabhängigkeit vertrug, war es bereit, die Suprematie des Kaisers,

des Herrn

der Welt, anzuerkennen. Von einem streng nationale» Patriotismus für Deutschland

oder Italien hatte man in der That einen sehr

schwachen Begriff.

Diese beiden scheinbar

denzen, die Tendenz,

entgegengesetzten

Ten­

Nationen zu einem Universalreich zu ver­

schmelzen, und die Tendenz, Nationen in kleine Fürstentümer und Gemeinwesen zu zersplittern,

sind thatsächlich nahe mit einander

verwandt. Die

Tendenz

der

Teilung

kommt

am stärksten in

jenen

Neichen zum Ausdruck, welche mit dem Kaiserreich verbunden waren. Andere

Länder

zeigtet»

die

Fähigkeit

eines

streng

nationalen

Vorgehens, eines Erringens von Freiheiten, die der ganzen Nation gemeinsam

waren,

einer

Gesetzgebung

im

Interesse der

ganzen

Nation, fast genau im Verhältnis zu dem Grad, in welchem sie

202

Kaiser Friedrich der Zweite.

außerhalb kaiserlicher Einflüsse gelegen waren. Spanien, Skandi­ navien und Britannien waren die Länder, auf welche das Kaiser­ reich. den geringsten Einfluß hatte. Spanien, Skandinavien und Britannien sind daher die Länder, in welchen wir die nächsten Annäherungen zu wirklich nationalem Leben und Bewußtsein be­ merken. Dennoch ist es kein Zweifel, daß auch innerhalb des Kaiser­ tums nationale Gefühle einen starken, wenn auch in großem Maße unbewußten Einfluß ausübten. Lokale Gefühle übten einen noch stärkeren Einfluß aus. Doch gab es kein nationales oder lokales Gefühl, daß sich in Friedrich II. concentriren konnte. Es gab keine nationale oder lokale Angelegenheit, als deren Vertreter er hätte betrachtet werden können. Es gab kein Volk, keine Provinz, keine Stadt, die auf ihn als ihren besonderen Helden Anspruch erheben konnte. Ueber Menschen verschiedenen Stammes und ver­ schiedener Sprache herrschend, vermochte er es der Reihe nach einem jeden von ihnen in einer Weise sich anzupassen, wie es wenige Menschen vor oder nach ihm im Stande waren. Aber es gab keine der verschiedenen Nationen seines Reichs, Germanen, Burgunder, Italiener, Normannen, Griechen oder Saracenen, die ihn wirklich als Bein von ihrem Bein und Fleisch von ihrem Fleisch für sich beanspruchen konnte. Seine Abstammung war halb germanisch, halb normannisch, sein Geburtsort war in Italien, die Heimat seiner Wahl war ©kitten, seine Liebhabereien und Gewohnheiten standen stark unter dem Verdacht, saracenisch zu sein. Der Re­ präsentant eines germanischen königlichen Hauses hatte er selbst zweifellos weniger von der germanischen Nation als von irgend einer andern. Er war Normanne, Italiener, fast alles eher als ein Germane; doch war er weit davon entfernt, reiner Normanne oder reiner Italiener zu sein. In dieser Stellung, über jedes gewöhnliche lokale und nationale Band erhaben, war er mehr als jeder andere Fürst, der je das kaiserliche Diadem getragen, die Ver-

203

Kaiser Friedrich der Zweite. körperung des Begriffs eines Kaisers, des Herrn der Welt.

Aber

ein Kaiser, ein Herr der Welt, steht zu hoch, um sich die Zuneigung zu erwerben, welche sich Herrscher und Parteihäupter einer niedri­ geren Stufe gewinnen.

Ein König kann über die Liebe seines

Landes, ein populäres Parteihaupt kann über die Liebe seiner eigenen Stadt gebieten.

Aber ein Cäsar,

dessen Reich ’ sich von einem

Meer bis zum andern und von der Flut bis zu der Welt Ende erstreckt, muß in diesem Größe tragen.

Fall

wie in andern die Kosten seiner

Friedrich war in der Idee vor allen Menschen

der Held und der Kämpe des Kaisertums. Thatsächlich befand sich die Oberherrlichkeit weniger thatsächlich in seinen Händen, als in den Händen von Männern, welche von der Ausführung des theoretischen Ideals weiter entfernt waren.

Die kaiserliche Gewalt war in

Wirklichkeit stärker in der Hand von Fürsten, bei welchen die ideale Oberherrlichkeit des Kaisertums mit der wirklichen Leitung einer der dasselbe bildenden Nationen vereinigt war. Friedrich Barbarossa, der rein deutsche König, der Mann, den der deutsche Instinkt als die edelste Entwickelung des deutschen Charakters begrüßt, wirkte in der That mehr für die Größe des Reichs als sein Nachkomme, dessen ideale Stellung viel niehr wahrhaft kaiserlich war. Die Männer, die auf ihre Zeit einen Einfluß ausüben, die ein dauerndes Andenken hinterlassen, sind die Männer, die mit dem wirklichen oder lokalen Leben

eines

sind.

Volks

oder

einer

Friedrich Barbarossa war

Stadt

vollständig

verwachsen

der Held Deutschlands;

aber

sein Enkel, der Held des Kaisertums, war der Held keines seiner Be­ standteile. Die Erinnerung an den Großvater lebt noch in den Herzen eines

Volks,

persönliche überall

unter

Rückkehr

aus

der

dem

vielleicht

hoffen.

Einige noch

jetzt

auf

seine

Das Andenken an den Enkel ist

Erinnerung

des

Volks

verschwunden;

das

Wunder der Welt lebt nur noch als das Wunder der Gelehrten und Historiker. In dieser letzten Hinsicht lebt das Andenken an Friedrich den

204

Kaiser Friedrich der Zweite.

Zweiten tu seltener Weise fort.

Wenigen Fürsten wurde jemals

ein solches Monnment errichtet,

als dem Andenken

des letzten

Schwabenkaisers durch die Freigebigkeit des Herzogs von Luynes nnd

die

Kenntnisse

und

den

Fleiß

von

Huillard-Breholles.

Hier in einer Reihe schöner Quartbände finden sich alle Dokumente einer an Dokumenten äußerst fruchtbaren Regierung, eingeleitet durch einen Band, der, wenn er auch nicht streng die erzählende Form annimmt, in Wirklichkeit eine vollständige Geschichte von Friedrichs Regierung

darstellt.

Huillard - Breholles

buchstäblich nichts haben entgehen zu lassen.

scheint

sich

Er bespricht aus­

führlich alles, was seinen Helden irgendwie betrifft, von der Unter­ suchung von Entwürfen, welche der Einführung einer neuen Re­ ligion sehr ähnlich sehen, bis herab zu den minutiösesten Details der Form der Abfassung, ciellen Erlasse des Kaisers.

Datirnng tmb Rechtschreibung der offiWir kennen kein Buch, welches den

Gegenstand, mit dem es sich beschäftigt, vollständiger erschöpft. Es ist keine Geschichte, lediglich deshalb, weil die Form einer Einleitung

oder

Vorrede

Breholles

die

Notwendigkeit

aufer­

legt hat, uns statt einer einfachen, regelmäßigen Erzählung eine Serie getrennter erzählender Erörterungen über jebeit der fast zahl­ losen

Standpunkte

Friedrichs

zu

geben,

betrachten kann.

von

denen

matt

die Negierung

Breholles hat seinem großen Werk

eine Monographie über das Leben und die Ziele eines Mannes folgen lassen, dessen Geschichte unzertrennlich mit der Friedrichs verbunden ist, von Binea.

seines großen nnd unglücklichen Kanzlers Peter

In dieser behandelt er ausführlich einen Gegenstand,

auf welchen wir noch zurückkommen werden, und der vielleicht der interessanteste von allen ist, die die Geschichte Friedrichs aufweist, das Verhältnis des freidenkenden und reformirenden Kaisers zu der überkommenen Religion jener Zeit.

In diesem Punkt können

wir

Details

uns

nicht

vorbehaltlos für

alle

von

Breholles'

Schlüssen verbürgen; doch sind sie wenigstens höchst geistreich, und

Kaiser Friedrich der Zweite.

205

das zeitgenössische Zeugnis, auf welches er sich beruft, ist sehreigenartig und interessant, und verdient ein äußerst aufmerksames Studium. Im Allgemeinen können wir ohne Bedenken Brvholles' Forschung über die Negierung Friedrich des Zweiten den wichtigsten Beiträgen beizählen, die unser Jahrhundert dem Studium der Geschichte geliefert hat. Der Charakter und die Geschichte Friedrichs verfehlten auch nicht, unter den Gelehrten unseres eigenen Landes Aufmerksamkeit zu erregen. Seine Negierllng liefert das Material für einen der glänzendsten Abschnitte von Dekan Milman's Geschichte der latei­ nischen Christenheit; es giebt keinen Teil dieses großen Werkes, der ersichtlicher mit wahrer Liebe geschrieben wäre. Neueren Datums ist das Erscheinen der Geschichte Friedrichs von KingtonOliphant, das Werk eines jungen Schriftstellers, welches den Mangel gebührender Vorbereitung in einigen einleitenden Stellen, aber auch wirkliche Forschung und Geistesthätigkeit zeigt, sobald sich der Verfasser seinem Hauptgegenstand, dem Leben Friedrichs selbst nähert. Oliphant ist erklärtermaßen ein Schüler von Breholles, und seine Bände, welche die direkte und zusammenhängende Erzählung ersetzen, welche Breholles' Plan nicht gestattete, müssen als ein Ergänznngsbnch zu dem großen Werk seines Lehrers aufge­ faßt werden. Die Negierung Friedrichs wie die seines Vorgängers Hein­ rich des Vierten, erstreckte sich fast über sein ganzes Leben. Seine Geschichte begann, während er noch in der Wiege lag. Wie Hein­ rich der Vierte starb er, nachdem er den ersten Platz im Interesse der Menschen lange Zeit ausgefüllt hatte, in nicht sehr vorgerücktem Lebensalter. Friedrich, geboren im Jahr 1194, starb 1250, im Alter von 56 Jahren. Heinrich war bei seinem Tod um ein Jahr jünger. Dennoch bezeichnet es einen Unterschied zwischen den beiden Männern, daß die Historiker, der Zeitrechnung zum Trotz, sich Heinrich in seinen späteren Jahren unwillkürlich als einen ganz

206

Kaiser Friedrich der Zweite.

alten Mann ju denken und ihn als solchen zn schildern scheinen. Niemand spricht in dieser Weise von Friedrich. Das Wunder der Welt scheint mit einer Art unsterblicher Jugend bekleidet zn sein, und nach all den großen Ereignissen und Umwälzungen seiner Ne­ gierung sind wir schließlich überrascht, daß wir über so viele Jahre weggekommen sind, wie dies in Wirklichkeit der Fall ist. Friedrich war König fast von seiner Geburt an. Der Sohn Kaiser Hein­ rich des Sechsten und Constanze's, der Erbin von Sicilien, kam er zur Welt, während seines Vaters erfolgreiche und grausame Herrschaft in voller Blüte stand. Seine Geburt selbst gab Anlaß zn mythischen Erzählungen. Das verhältnißmäßig vorgerückte Alter seiner Mutter, welches jedoch stark übertrieben worden ist, gab Anlaß zn Gerüchten entgegengesetzter Art. Seine Feinde sprengten aus, er sei nicht wirklich von kaiserlicher Geburt, sondern die kinderlose Kaiserin habe ihren Gemahl durch ein untergeschobenes Kind getäuscht. Seine Bewunderer begrüßteil seine Geburt als wunderbar, wenn nicht als ein Wunder, und stellten die Empfängnis Constanze's in eine Reihe mit der Empfängnis der Mütter Isaaks, Samuels und Johannes des Täufers. Schon in seiner Kindheit zum König der Römer gewählt, machte ihn seines Vaters Tod in seinem dritten Jahr zu dessen Nachfolger im sicilischen Königreich, und durch seiner Mutter Tod im nächsten Jahr wurde ein verwaister Knabe zum Erben der hohenstausischen Kaiser wie der norniännischen Könige. Seine Wahl zum König der Römer scheint vollständig in Vergessenheit geraten zu sein. Nach dem Tod seines Vaters wurde die Krone durch die doppelte Wahl von Otto von Sachsen und Friedrichs eigenem Onkel Philipp streitig. An das Kind in Sicilien wurde nicht gedacht bis Philipp gerade in dem Augenblick, als das Glück sich endlich für ihn entschieden zu haben schien, ermordet wurde; bis Otto, die Frucht eines Verbrechens erntend, an dem er schuldlos war, sich int Stand fühlte sich beides, das Königtum wie das Kaisertum zu sichern, und bis er bei dem

Kaiser Friedrich der Zweite.

207

Papst in Ungnade gefallen war, dessen Gunst ihn vorher gestützt hatte.

Währenddem wurde das

sicilische Königreich durch Re­

bellionen zerrissen, und durch Söldnerführer verwüstet.

Das Land

war endlich zu einem gewissen Grad von Frieden, und der junge König zu einem gewissen Grad von Macht zurückgeführt worden, durch das Eingreifen des Oberherrn, des Papstes Jnnocenz. Friedrich war

mit

fünfzehn Jahren Gatte,

mit

achtzehn

Jahren Vater,

und fast gleichzeitig mit der Geburt seines ersten Sohns Heinrich, des zukünftigen Königs

und Rebellen, wurde er auf den Thron

Deutschlands berufen von der Partei,

welche mit dem jetzt unter

dem Bann der Kirche stehenden Otto unzufrieden war.

Friedrich,

bestimmt der bitterste Feind des römischen Stuhls zu werden, that seinen ersten Schritt Schützling,

auf deutschen

Boden als dessen

specieller

zu Königswürde und Kaisertum berufen unter den

Auspizien des größten der römischen Päpste.

Er kam dahin, wie

wir zu bezweifelu wenig Grund haben, auch unter einem Schutz weniger ehrenvoller Art.

Die langen Kämpfe zwischen England

und Frankreich hatten bereits begonnen, und zwar, in Folge eines selt­ samen Vorausempfindens viel späterer Zeiten, innerhalb der Grenzen des Reichs. Otto, der Sohn einer englischen Mutter, wurde durch die Waffen und das Geld seines Opkels Johann von England unterstützt, während der Erbe der Hohenstaufen seine Fortschritte dem Einfluß und dem Gold

Philipps von Frankreich verdankte.

Im Jahr 1211 wurde Friedrich zum König gewählt; drei Jahre später,

um

mit

Oliphants

seinem Geschick entgegen.

Worten

zu

reden,

stürmte

Otto

Bei Bouoines, ein Name, den ein Mann

von germanischer Abstammung und

Sprache schwerlich ohne ein

unangenehmes Gefühl niederschreiben kann, besiegte der König von Frankreich den deutschen Kaiser nebst seinen englischen und vlämischen Verbündeten. gebrochen.

Die schon zerfallende Macht Otto's war jetzt gänzlich

Im Jahr 1215, während Johann vor seinen trium-

phirenden Baronen verzagte, erhielt Friedrich, der Rival seines

Kaiser Friedrich der Zweite.

208

Neffen, die Königskrone und nahm das Kreuz. Drei Jahre später beseitigte der Tod Otto's alle Spuren eines Widerstands gegen seine Ansprüche, ein Ereignis,

welches durch ein eigenartiges Zu­

sammentreffen fast genau mit der Geburt eines Mannes zusammen­ fiel, der bestimmt war, nicht nur ein König, sondern der Eröffner eines neuen Abschnitts in der Geschichte des Reichs zu sein, des berühmten Rudolf von Habsburg.

Im Jahr 1220 wurde Friedrichs

Sohn Heinrich, damals erst acht Jahre alt, zum König gewählt, obgleich sein Vater noch nicht zum Kaiser gekrönt war.

Doch er­

hielt Friedrich im Lauf desselben Jahres das kaiserliche Diadem aus den Händen des Papstes Honorius. ein Ereignis,

Seine Krönung war

das eine besondere Erwähnung in den

röinischen

Annalen verdient, als einer der sehr seltenen Fälle, in denen ein Kaiser seine Krone ohne Blutvergießen und Aufruhr unter der loyalen Zustimmung des römischen Volks empfing.

Vielleicht sprach ein

bewußtes oder unbewußtes Gefühl der Verwandtschaft zu Gunsten eines Kaisers, der innerhalb der Gränzen Italiens geboren war, und unter dessen Regierung als solle Deutschland,

und

zweiten Rangs werden.

es den Anschein gewinnen konnte, nicht

Italien, der

abhängige Staat

In der That hatte Friedrich in demselben

Jahr, ehe er sein nördliches Reich verließ, wie es scheint als Preis für die Wahl seines Sohnes,

die Zerstörung der königlichen Ge­

walt in Deutschland besiegelt.

Die Charte, welche er in dieseni

Jahr den deutschen Fürsten bewilligte, bildet einen der hervorragenden Abschnitte des langen Prozesses, welcher

das Reich Karls und

Otto's und Heinrichs in den lockern Staatenverband verwandelt hat, der unlängst vor unsern Augen in Stücke zerfallen ist. Friedrich war nach allem Anschein noch ein pflichtgetreuer Sohn der Kirche; doch gab es schon Anzeichen, daß ein Sturm sich vorbereitete. Die Verbindung zwischen einen» Papst und einem Hohenstaufischen Kaiser war etwas, das seiner eigenen Natur nach nicht bestehen konnte.

Die stolze Anschauung, rvelche den geistlicher

Kaiser Friedrich der Zweite.

209

und weltlichen Herrn von Rom als gleichstehende Beherrscher der Kirche und der Welt betrachtete, gab bei der leisesten Spannung nach. Selbst vor seiner Kaiserkrönung war Friedrich bei Honorius in Ungnade gefallen; er hatte Zurechtweisungen erhalten, und hatte sich zu entschuldigen gehabt. Wie gebräuchlich, stießen die beiden Schwerter immer zusammen. Der König von Sicilien wurde an­ geklagt, sich mit Kirchenlehen und mit der Freiheit geistlicher Wahlen zu beschäftigen. Aber der Hauptpunkt war der Kreuzzug. Friedrich hatte das Kreuz zur Zeit seiner Erhebung zur Deutschen Krone ge­ nommen; aber es war noch kein Kreuzzug unternommen worden. Damiette war gewonnen und bald wieder verloren worden, ohne daß das weltliche Haupt der Christenheit zu seinem Gewinn oderfeiner Verteidigung einen Streich geführt hätte. Diese so leichtsinnig behandelte Stellung galt damals allgemein als der wirkliche Schlüssel des heiligen Landes. In den Augen eines Papstes war eine solche Versäumnis eine schlimme Vernachlässigung der ersten aller Pflichten. Sie möchte wohl einem idealen Kaiser in demselben Licht erschienen sein. Aber der Erbkönig von Sicilien, der erwählte König von Deutschland, Italien und Burgund fand hinreichende Beschäftigung in den weniger erhabenen Pflichten des gewöhnlichen Königtums. In allen seinen Reichen gab es Angelegenheiten, die seine Aufmerksamkeit erforderten. In seinem eigenen Erbreich lag ihm die Vollbringung eines Werkes ob, das er wohl als Entschuldigung dafür anführen konnte, daß er eine Kriegsfahrt über die See nicht auf sich nehmen wollte. Er brauchte nicht in fernen Landen saracenische Feinde zu suchen, während die Saracenen seiner eigenen Insel sich in offenem Aufruhr befanden. Er brachte beide zur llnterwerfung, die unruhigen Ungläubigen, und die nicht weniger unruhigen nor­ mannischen Adligen, und er machte Sicilien zum Vorbild eines civilisirten und gesetzlichen Despotismus, gebildet nach dem Muster der besten Tage des Ostreichs. Die wilden Saracenen der Gebirge wurden teilweise gezwungen eine friedlichere Lebensweise anzunehmen, fttceman, histor. Abhandlungen.

14

Kaiser Friedrich der Zweite.

210

teilweise wurden sie an Orte übergeführt, an welchen sie statt ruhe­ loser Rebellen die sicherste Stütze seines Thrones wurden. Er ver­ pflanzte sie in die Stadt Lucera in Apulien, wo sie, isolirt in einer ringsum christlichen Gegend, als seine Knechte oder Janitscharen wohnten : Soldaten, denen man immer vertrauen konnte, denn auf sie hatten Päpste und Mönche keinen Einfluß.

Neben dieser Arbeit

in seinem Erbreich, einer Arbeit, hinreichend die ganze Energie eines gewöhnlichen Sterblichen zu beanspruchen, hatte er andere Arbeiten in all seinen kaiserlichen Besitzungen zu vollbringen.

Nicht die

wenigst interessanten Aufzeichnungen über diesen Teil seiner Negierung sind die, welche die Staaten an seiner Westgrenze betreffen. seits war Frankreich bereits im Wachsen begriffen,

Einer­

andererseits

war eine Bewegung im Beginnen, welche, wäre sie erfolgreich ge­ wesen, wohl eine ununterbrochene Reihe unabhängiger Staaten zwischen den beiden großen rivalisirenden Mächten geschaffen haben würde.

Die Pflicht, welche die Schweiz und Belgien, zu weit

von einander entfernt,

heute zu erfüllen

haben,

fiel im drei­

zehnten Jahrhundert einer ganzen Menge emporkommender Gemein­ wesen zu. Von den Mündungen des Rheins bis zu den Mündungen der Rhone entstanden Republiken, würdige Schwestern der Republiken Italiens und Norddeutschlands, der Länge nach durch das ganze alte Lothringen und Burgund. Es ist traurig zu sehen, wie Friedrich überall einschritt,

um diese neuen Schöpfungen der Freiheit zu

hemmen. Überall wurde der einheimische Graf oder Bischof ermutigt die vermessenen Rebellen der

Städte zu unterdrücken.

Nehmen

wir zum Beweis zwei ihrer geographischen Lage nach weit von einander entfernte Städte. Marseille, der alte ionische Freistaat, die Stadt, welche der Macht Cäsars widerstanden hatte und die in wenig Jahren der Macht Karls von Anjou Widerstand leisten sollte, hatte ihre zweite und kürzere Periode der Freiheit begonnen. In Friedrichs Augen waren die Bürger einfach Rebellen gegen ihren Bischof, und der Graf von Provence wurde ersucht, sie zum

Kaiser Friedrich der Zweite.

211

schuldigen Gehorsam zurückzuführen. In gleicher Weise unterließen es die Bürger von Cambray, fast am andern Ende des Reichs, den kaiserlichen Befehlen den gebührenden Gehorsam zu erweisen. Doch machte sich dort ein gefährlicherer Einfluß geltend. Der Kaiser stand mit dem König der Franzosen noch auf gutem Fuße; er hatte kürzlich einen Vertrag mit ihm geschlossen, in dem er sich unter anderem verpflichtete, keine Allianz mit Eng­ land einzugehen. Doch die instinktiven Tendenzen der Pariser Monarchie waren damals, wie jetzt, zu stark für lediglich geschriebene Verpflichtungen. Frankreich intriguirte mit den Bürgern von Canibray, und der Kaiser hatte den König Ludwig aufzufordern, von jeder unbefugten Einwirkung auf seine mißvergnügten Unterthanen abzustehen. Wir haben diese Punkte erwähnt, wenngleich sie nicht von besonderer Wichtigkeit in Friedrichs Leben sind, weil sie im allge­ meinen die verschiedenen Beziehungen eines mittelalterlichen Kaisers zu allen Arten von Herrschern und Gemeinwesen kennzeichnen, und weil sie im speziellen das wirkliche Vorhandensein der Macht kenn­ zeichnen, welche dem Kaiser noch in seinem burgundischen Königreich und den anderen Teilen des Kaisertums geblieben war, die seitdem durch die Eingriffe Frankreichs verschlungen worden sind. Keiner unsrer Autoren hebt diesen Punkt so hervor, wie er hervorgehoben zu werden verdient. Bröholles ist viel zu gelehrt, um irgend eine Thatsache in seiner Geschichte nicht zu kennen, viel zu aufrichtig, eine solche zu verschweigen. Er ist aber ein Franzose, und wir können kaum er­ warten, ihn einen formellen Protest gegen die populärste aller französischen Täuschungen erheben zu sehen. Oliphant kennt seine Thatsachen, doch er ersaßt sie nicht vollständig. Er entdeckt mit einer Art von Überraschung, daß viele Provinzen, „die jetzt innerhalb der Grenzen Frankreichs gelegen sind, damals ihre Ober­ leitung in Hagenau oder Palermo suchten, nicht aber in Paris". Zweifellos war Bryce's tabellarische Übersicht der „Ten Burgundies“ noch nicht gezeichnet, als Oliphant schrieb.

212

Kaiser Friedrich der Zweite.

Endlich erreichen wir Friedrichs Kreuzzug, den man vielleicht eher sein Fortschreiten nach dem Osten nennen sollte. Die Ver­ heiratung Friedrichs mit Jolande von Brienne brachte ihn in eine ganz neue Beziehung zum heiligen Land und allem, was dazu gehörte. Sein Zug nach Jerusalem war jetzt nicht der eines einsamen Abenteurers oder Pilgers, nicht der eines als Haupt der Christenheit auftretenden Kaisers, sondern der eines Königs, der eins seiner eigenen Reiche in Besitz nehmen, der eine neue Krone in einer andern seiner Hauptstädte empfangen will. Und wirklich fand Friedrich, nachdem er einmal unterwegs war, nicht so viel Schwierigkeiten, sich den Weg zur Krone Jerusalems zu bahnen, als manche seine Vorgänger im Kaisertum, die den Weg zu der Krone von Rom zu gewinnen suchten. Alles schien gegen ihn zu sein. Der päpstliche Thron hatte einen neuen und ganz anderen Besitzer. Dem milden Honorius war der harte und unbeugsame Gregor gefolgt. Friedrichs zweite Kaiserin war bereits gestorben, und mit ihr, so konnte man schließen, hatte er sein Recht auf ein Reich verloren, welches er einzig durch sie beanspruchen konnte. Er selbst wurde bei jedem Schritt exkommunicirt; wenn er ging, wenn er verweilte, der Bann wurde gleicherweise wegen des Gehens, wie wegen des Verweilens gegen ihn geschleudert. Dennoch ging er; unterwegs befestigte er erfolgreich seine kaiserlichen Rechte über den fränkischen König von Cypern, einen Rivalen um die Krone Jerusalems. Ohne einen Schlag zu thun, durch geschickte Diplomatie, durch Benutzung des zer­ splitterten und schwankenden Zustandes der mohamedanischen Mächte, erreichte er das Hauptziel, nach dem die Christenheit mährend vierzig Jahren umsonst gestrebt hatte. Ein christlicher König herrschte wieder in der heiligen Stadt, und das Grab Christi war wieder in den Händen seiner Verehrer. Es war ein eigentümlicher Vor­ gang, als der excommunicirte König, in dessen Gegenwart jede gottesdienstliche Handlung verboten war, in der Kirche des heiligen Grabes die Krone des heiligen Landes auf sein eignes Haupt setzte.

Kaiser Friedrich der Zweite.

213

Es möchte fast erscheinen, als ob Friedrichs Glaube in diesem seltsame,» Moment der Versuchung gänzlich gewichen wäre. Der Verdacht des Mohamedanismus, der an ihm hastet, ist im buchstäb­ lichen Sinn sicherlich äußerst absurd; aber es ist bemerkenswert, daß er sich nicht auf christliche Einbildung allein beschränkte. Das Verhalten Friedrichs in Jerusalem drängte mehr als einem mohamedanischen Schriftsteller den Glauben auf, daß, wenn der Kaiser auch kein wirklicher Proselyt des Islam sei, er wenigstens nicht stark in dem Glauben sei, den er äußerlich bekannte. Man muß sich erinnern, daß die Duldung des mohamedanischen Gottes­ dienstes innerhalb ihrer Mauern eine der Bedingungen war, unter h.enen Friedrich den Besitz der heiligen Stadt erlangte. Ein solches Abkommen mochte wohl in den Gemütern der Christen wie der Muselmanen einen Verdacht gegen seine christliche Strenggläubig­ keit erregen. Nach moderner Ansicht erscheint sein Verfahren einfach gerecht und vernünftig; abgesehen von jeder abstrakten Doktrin religiöser Toleranz, würde die Ansicht eines modernen Staats­ mannes die sein, daß Friedrich es vorzog, und zwar weislich vor­ zog, statt alles dem Glücksspiel des Schwertes anheim zu geben, sein Hauptziel durch Verträge zu erwerben, und in einigen un­ wichtigeren Punkten nachzugeben. Das Wesen eines Vertrages zwischen zwei Mächten, die unter gleichen Bedingungen mit ein­ ander verhandeln, besteht darin, daß jede derselben etwas von dem nachläßt, was sie für das volle Maaß ihrer Rechte hält. Wenige werden Friedrich heute dafür tadeln, daß er es vorzog, solch weit­ gehende Zugeständnisse auf dem Vertragsweg zu acceptiren, als Alles dem Erfolg des Kriegs anheimzugeben. Hätte er anders gehandelt, so wäre es ihm vermutlich beschieden gewesen, nach Europa zurückzukehren nach Erschöpfung seiner Kräfte in einem Kampf, ebenso zwecklos wie die der meisten Kreuzfahrer vor ihm gewesen waren. Und es scheint, daß selbst zu seiner Zeit ein großer Teil der europäischen Meinungen auf seiner Seite war. Seine Behandlung

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Kaiser Friedrich der Zweite.

0011 Seiten des Papstes und der päpstlichen Partei war so offenbar ungerecht, daß sie ein lebhaftes Gefühl zu seinen Gunsten in allen Teilen der Christenheit erregte. In Italien, in Deutschland, in England, stehen alle Hauptschriftsteller auf der Seite Friedrichs gegen Gregor. Seiner Stellung wurden Zugeständnisse gemacht; er hatte gethan, was er konnte; hätte er nicht unter einer unge­ rechten Exkommunication gelitten, hätten ihn der Klerus und die Ritterorden nicht gehemmt und verraten, so würde er viel mehr gethan haben. Dennoch war die Entrüstung der extrem kirchlichen Partei gegen Friedrich von ihrem eignen Standpunkt aus weder unnatürlich, noch unvernünftig. In den Augen einiger Glaubens­ eiferer war jeder Vertrag mit den Ungläubigen an sich ungesetzlich; auch hiervon abgesehen, konnte ein Vertrag, der, obgleich er das heilige Grab den Christen sicherte, den „Tempel des Herrn" den Mohamedanern überließ, nicht verfehlen, einige der tiefst einge­ wurzelten Gefühle des Zeitalters zn verletzen. Was Friedrichs eigner Glaube immer gewesen sein mag, er hatte wenigstens nicht den orthodoxen Haß gegen Menschen eines anderen Glaubens. Ver­ schiedene zufällige Handlungen und Aussprüche des Kaisers während seines Aufenthaltes zu Jerusalem erfüllten die Mohamedaner selbst mit dem Glauben, daß er die beiden Religionen so gut wie auf eine Stufe stellte. Wir dürfen nicht vergessen, daß seine Duldung des Mohamedanismus eine Sache war, die wenige Mohamedaner zu würdigen wußten, und die an und für sich in den meisten orientalischen Gemütern Verdacht erregen mußte. Ein Mann, der mit Gerechtig­ keit und Mäßigung gegen Leute ihres Glaubens zu handeln ver­ mochte, konnte ihnen nicht als ein wirklicher Anhänger des Glaubens erscheinen, zu dem er sich selbst bekannte. Aber dies konnte nicht alles gewesen sein: der Eindruck von Friedrichs Mangel an Strenggläubigkeit und seiner besonderen Hinneigung zum Mohamedan ismus war in den Gemütern der Menschen beider

Kaiser Friedrich der Zweite.

215

Bekenntnisse zu tief befestigt, als daß er nur aus einer Schluß­ folgerung dieser Art entsprungen sein könnte. Und er ist an sich selbst vollständig begreiflich. Ein König von Sicilien, der in seinem eigenen Reich von Kind auf in Frieden und Krieg mit den Sara­ cenen zu thun hatte, der, wenn er sich auch einigemale mit ihnen als Feinden zu beschäftigen hatte, doch zu der Überzeugung gekommen war, daß sie sich in seine tapfersten und getreusten Soldaten verwandeln ließen, konnte unmöglich die Ungläubigen mit demselben Grimm hassen, welcher in der Brust eines Königs von Frankreich oder von England eine völlig ehrenwerte Leidenschaft sein mochte. Dann, gerade in dem Augenblick, als er im Herzen empört war über die Mißhandlung von Seiten des Hauptes seines eignen Glaubens, als ihm die Communion nach christlichem Ritus verweigert wurde, und als die Diener und Verteidiger der christ­ lichen Kirche von ihm zurückwichen, wie vor einem Schlimmeren als einem Ungläubigen, — gerade in einem solchen Augenblick zeigte sich ihm eine vollere und glänzendere Enthüllung des mohaniedanischen Gesetzes unter den unabhängigen mohamedanischen Mächten des Orients. Es war vieles in den Verhältnissen der mohamedanischen Gesellschaft, was ihn anzog. Die absolute Auto­ rität der mohamedanischen Fürsten war seinen politischen An­ sichten verwandt. Die Kunst und Wissenschaft der civilisirteren mohamedanischen Völker sprach sein eignes intellektuelles Bedürfnis an. Die durch den mohamedanischen Glauben gestattete Ungebundenheit stimmte nicht weniger mächtig mit den Impulsen seines wollüstigen Temperaments überein. Daß Friedrich jemals, im Ernst gesprochen, ein Mohamedaner wurde, ist sicherlich eine absurde Erfindung. Es ist nicht einmal nötig anzunehmen, daß er je allen Glauben an die Dogmen des Christentums, so wie seine Zeit dieselben auffaßte, bei Seite setzte. Aber daß Friedrich, trotz aller Beteuerung seiner Strenggläubigkeit, wenigstens ein Freidenker war, daß er Betrach­ tungen nachhing, welche die Orthodoxie seiner Zeit verdammte, das

216

Kaiser Friedrich der Zweite.

zu bezweifeln ist kaum möglich. Daß er bie weitgehendsten Ver­ änderungen in dem äußeren Bau der christlichen Kirche, in den Beziehungen zwischen der geistlichen und der weltlichen, zwischen der päpstlichen und der kaiserlichen Gewalt erstrebte, kann über­ haupt nicht bezweifelt werden. Und, wenn es in Friedrichs Gemüt einen Augenblick des Schwankens gab, einen Augen­ blick, in dem der Zweifel, wenn nicht der Unglaube die Ober­ herrschaft über sein Gemüt erlangten, so ist dies gewiß der Augen­ blick, in dem er Christentum und Islam in der heiligen Stadt beider Religionen Seite an Seite erblickte, und in dem was ihn anbelangt, es nicht das Christentum gewesen sein konnte, welches in dem anziehenderen Licht erschien. Wir hatten gehofft, eine wenn auch kurze Schilderung der Hauptereignisse in Friedrichs späterer Laufbahn geben zu können, — der Versöhnung mit Gregor, der Zeit verhältnißmäßiger Ruhe in dem sicilischen Reich, der Entwürfe von Regierung und Gesetzgebung, des zweiten und definitiven Bruchs mit Gregor, des letzten Kampfes mit Jnnocenz, der letzten Exkommunication und Absetzung, der politischen Consequenzen jener kühnen Ausdehnung der päpstlichen Gewalt im Auftreten von Gegenkönigen in Deutschland und der Schwä­ chung der kaiserlichen Gewalt in der ganzen Ausdehnung des Reichs. Doch die Betrachtungen, zu denen wir durch Friedrichs Stellung in Jerusalem geleitet worden sind, führen uns zu Fragen, die den uns noch bleibenden Raum wohl in Anspruch nehmen mögen. Ueber die Frage nach Friedrichs Religion läßt sich Oliphant kaum des Weiteren aus. Dekan Milman faßt seine eigene Ansicht in einigen bemerkenswerten Worten zusammen: „Friedrichs Stand­ punkt war, nach meinem Urteil, weder der des verachtenden und gottlosen Unglaubens, noch der eines mehr fortgeschrittenen und er­ leuchteten Christentums, das nach damals unerreichbarer Heiligung und Reinheit strebte. Es war der zerrüttete, zweifelvolle, zu Zeiten verzweifelt trotzige Unglaube eines Manns unter der Last einer

217

Kaiser Friedrich der Zweite.

unverdienten Exkommunication, deren Ungerechtigkeit er zu erkennen wohl im Stande war, deren Schrecken aber er nicht ganz abzu­ schütteln vermochte, eines Manns, den eine bessere Zeit des Christen­ tums vielleicht nicht religiös gemacht haben würde, den aber seine eigene irreligiös machte." Brsholles jedoch, sowohl in seiner allgemeinen Einleitung, als auch in seiner speziellen Monographie über Peter von Vinea geht viel tiefer auf die Fragen ein.

Er bringt eine große Zahl

von Stellen aus gleichzeitigen Schriftstellern zusammen, welche nach seiner Ansicht beweisen, daß Friedrich in den Augen eines kleinen Häufleins enthusiastischer Bewunderer als eine Art Apostel oder vielmehr als Messias einer neuen Religion betrachtet wurde.

Eine

solche Ansicht ist sicherlich an sich viel weniger unwahrscheinlich, als sie uns bei unsern modernen Ansichten erscheint. Alles vom religiösen Standpunkt aus betrachtet.

Damals wurde Politische Partei­

nahme erhielt die Form religiöser Verehrung; der Mann, der für sein Vaterland oder seine Partei starb, wurde als Heiliger canonisirt, und man erwartete, daß Wunder an seinem Grab geschehen müßten. Der berühmte Fall Simons von Montfort,

eines jüngeren Zeit­

genossen Friedrichs, ist vielleicht der bedeutendste von Allen: Simon starb unter päpstlicher Exkommunication; doch keine Excommunication konnte das englische Volk, und zugleich die große Menge des englischen Klerus daran verhindern, den zum Märtyrer ge­ wordenen Grafen als Schutzpatron der englischen Nation zu be­ trachten, dessen Überreste heilende Eigenschaften auf Erden besaßen, und dessen Vermittlung nicht verfehlen konnte im Himmel förderlich zu

sein.

Die Zeit Friedrichs war überdies in

Weise eine Zeit religiöser Bewegung.

hervorragender

Die neuen Mönchsorden

auf der einen, und die zahllosen Ketzereien auf der anderen Seite entsprangen derselben Quelle und vermischten sich mitunter auf eine seltsame Weise.

Der Ketzer, der zum Marterpfahl gesandt wurde,

und der Dominikanermönch, der ihn dorthin sandte,

waren beide,

218

Kaiser Friedrich der Zweite.

jeder in seiner Weise, Beweise eines allgemeinen Gefühls der Un­ zufriedenheit mit dem gegenwärtigen Zustand der Kirche, eines all­ gemeinen Strebens nach etwas Neuem im Dogma, in der Kirchen­ zucht oder in den Gebräuchen, je nach der Sinnesart eines jeden der einzelnen Reformatoren. Sonderbare Schriften, die außer­ gewöhnliche Ideen darthaten, waren vor der Zeit Friedrichs ver­ breitet, und blieben es nach seiner Zeit. Das Ganze des inneren Wesens des Franciskanerordens, die Pflicht persönlicher Selbstauf­ opferung und mystischer Unterwürfigkeit schien stark an etwas mehr als Ketzerei zu streifen. Selbst die Pfeiler der Ortho­ doxie, die unermüdlichen Bestrafer einer jeden Abweichung von dem schmalen Pfad, die strengen, werkthätigen, »inbarmhcrzigen Dominikaner entgingen nicht dem Verdacht, von derselben An­ steckung berührt zu sein. Diese Ansteckung war in der That mehr als Ketzerei; sie war das Predigen einer neuen Religion. Denen, die an das „ewigdauernde Evangelium" glaubten, er­ schien das Christentum selbst, gerade wie es einem Mohamedaner erscheint, als eine Vorbereitung auf etwas Besseres, was noch kommen sollte. Das Reich des Vaters mit seiner Offenbarung, dem mosaischen Gesetz, war vergangen; das Reich des Sohnes, mit seiner Offenbarung, dem christlichen Evangelium, war im Vergehen; das Reich des heiligen Geistes nahte heran, mit seiner eigenen, besonderen Offenbarung, vollkommener als die andern alle. Die Zeit war eine solche, die es kaum erlauben konnte, eine Sache auf rein weltliche Weise zu betrachten. Selbst wenn die geistlichen und weltlichen Gewalten in Konflikt geriethen, war der Konflikt von einer etwas andem Art, als ähnliche Konflikte unserer Zeit. Die Ghibelltnische Doktrin war weit davon entfernt nur eine einfache Behauptung der Ueberlegenheit einer offenbar von der Erde stammenden, irdischen Mächt über eine Macht offenbar höheren Ursprungs zu sein. Das Kaisertum hatte seine religiösen Frömmler so gut, als das Papsttum. In der Vorstellung beider Parteien

Kaiser Friedrich der Zweite.

219

war ein Stellvertreter Christi eine Notwendigkeit; die einzige Frage war, ob der wirkliche Stellvertreter Christi in dem römischen Papst oder in dem römischen Kaiser zu suchen sei. Den enthusiastischen Anhängern des Kaisertums erschien der Kaiser ebenso sicher als ein unmittelbarer Repräsentant der Göttlichkeit, ebenso buchstäblich als eine Macht, die aus göttlichem Recht herrsche, als je der Papst den Augen des eifrigsten Verfechters der kirchlichen Ansprüche erscheinen konnte. Es war das Emporwachsen selbständiger Völker und Kirchen, welches mehr als alles andere beiden Anschauungen den Tod gab. In Friedrichs Tagen jedoch konnte innerhalb der Gränzen des Reichs niemand ein heftiger Gegner der weltlichen oder der geistlichen Ansprüche des Papstes sein, ohne einigermaßen eine geistliche sowohl, wie eine weltliche Gewalt in dem Kaiser zu verfechten. Diese Vergötterung der kaiserlichen Gewalt erreichte ihre höchste und systematischste Entwickelung bei den Schriftstellern, welche die Verteidigung Ludwigs von Baiern versuchten; doch ist es zweifellos, daß Ansichten derselben Art schon in Friedrichs Tagen geschäftig im Umlauf waren. Insofern Friedrich ein Gegner der päpstlichen Macht war, insofern er eine Uebertragung der Macht vom Papsttum auf das Kaisertum beabsichtigte, insofern er über­ haupt mit einem Wort als kirchlicher Reformator erschien, konnte er dies nur sein, indem er. wenn auch nicht in seinen Augen, so doch in denen seiner Bewunderer, auf sich selbst, als auf den römischen Kaiser, einen Teil jener officiellen Heiligkeit übertrug, deren er den römischen Papst zu entkleiden trachtete. So verwirrend wie die Frage nach Friedrichs persönlichem Glauben ist, seine äußerliche Stellung als Kaiser und König kirch­ lichen Fragen gegenüber ist verständlich genug. Er bekundete immer strenge dogmatische Rechtgläubigkeit in seiner Person, und in seiner Gesetzgebung erzwang er streng eine solche Rechtgläubigkeit innerhalb der Gränzen der christlichen Kirche. Dem Juden und dem Mohamedaner gewährte er volle Duldung; der christliche Ketzer fand

220 in

Kaiser Friedrich der Zweite. ihm

einen

Verfolger,

ebenso

grausam

als der enthusiastische

Dominikaner, der die Opfer des älteren Montfort verfolgte.

In

einer solchen Stellung liegt nicht notwendigerweise ein Widerspruch; sie ist vielmehr eine durch die Behandlung der Juden während des ganzen Mittelalters anerkannte. Der Jude oder der Mohamedaner ist etwas ganz außerhalb der Kirche stehendes.

Er ist ein aus­

wärtiger Feind, kein eingeborner Rebell; er ist Einer, gegen den die Kirche rechtmäßigerweise Krieg führen kann, aber nicht Einer, dessen Vorführung vor ihren heimischen Richterstuhl sie beanspruchen kann. Der Ketzer dagegen ist ein am eigenen Herde aufgewachsener Verräter; er ist kein auswärtiger Feind der Kirche,

sondern ein

eingeborner Rebell gegen dieselbe; er ist daher der Gegenstand nicht eines Kriegs, sondern der gerichtlichen Bestrafung.

Ein christlicher

Fürst ist daher, entsprechend den mittelalterlichen Begriffen, in keiner Weise verpflichtet,

Juden oder Mohamedaner lediglich als

Juden oder Mohamedaner zu belästigen; er muß die Christen vor jeder Belästigung jener,

vor jedem Bekehrungsversuch zu ihrem

Glauben beschützen; aber der Jude oder Mohamedaner kann nicht lediglich auf Grund seines Unglaubens bestraft werden. Der Ketzer aber kann es.

Der Jude war nie der Kirche verpflichtet; er ist

ein Fremder,

der nicht verletzt werden darf, wenn er nicht einen

Akt nationaler Feindschaft begeht.

Der Ketzer dagegen hat seine

Verpflichtung gegen die Kirche abgeschüttelt; er ist ein geistlicher Rebell, der so schonungslos gezüchtigt werden muß, licher Rebell. Mittelalters

wie ein welt­

Nach diesem Princip wurde während des ganzen verfahren.

Der

Jude war oft

einer ungünstigen

Gesetzgebung ausgesetzt; er wurde noch öfter durch ungesetzliche oder außergesetzliche Bedrückungen heimgesucht; aber ein Jude wurde ein­ fach als Jude niemals als den Strafen der Ketzerei unterworfen an­ gesehen.

Was an Friedrichs Gesetzgebung bemerkenswerth ist, ist

die wirkliche und thatsächliche Art von Toleranz, die er den Juden und Mohamedaner» sicherte, in Verbindung mit der Thatsache, daß

Kaiser Friedrich der Zweite.

221

ein Mann wie er unter irgend welchen Verhältnissen als religiöser Verfolger erscheinen konnte. Wenn er wirklich Ketzer mit kaltem Blut den Flammen überantwortete, einfach um für sich den Nus der Strenggläubigkeit, den er nicht verdiente, aufrecht zu erhalten, so ist es kaum möglich, sich ein größeres Maß von Schuld vor­ zustellen. Und die Schuld ist kaum geringer, wenn er sich des populären Vorurteils gegen die Ketzerei bediente, um politische Feinde in der Gestalt von Ketzern zu vernichten. Indeß ist es möglich, Friedrichs Verfolgungen zu erklären, ohne ihm eine so abscheuliche Schlechtigkeit beizulegen. Mag auch ein Gesetzgeber für seine Person ein Freidenker sein, oder selbst ein erwiesener Ungläubiger, so folgt hieraus nicht im geringsten, daß er es für möglich oder wünschenswerth hält, das öffentliche Bestehen des Christentums in seinen Staaten zu vernichten. Und in der Meinung aller Zeiten und Länder bis zu seiner Zeit und noch lange nachher bedingte die öffentliche Aufrechterhaltung irgend eines religiösen Systems die gesetzliche Bestrafung derjenigen, die sich von demselben loslösten. Friedrich mochte es also für eine Angelegenheit der öffentlichen Ordnung und der öffentlichen Gerechtigkeit halten, Leute für öffentliche Auflehnung gegen ein System zu bestrafen, zu dem er selbst allen persönlichen Glauben verloren hatte. Verfolgung dieser Art ist viel hassenswerter als die Verfolgungen eines ehr­ lichen Fanatikers, welcher einige Menschen in dieser Welt verbrennt, um deren viele vor dem Feuer in jener Welt zu bewahren. Doch erreicht sie nicht dasselbe Maß der Schuld, wie die abscheuliche Heuchelei, welche zunächst die augenscheinliche Erklärung von Fried­ richs Verhalten in dieser Hinsicht zu sein scheint. Friedrich bekannte sich also zu strengem Glauben an das Dogma, und verfolgte Alle, die von solcher Strenggläubigkeit ab­ wichen. Doch es ist klar, daß er, was die Beziehungen zwischen den geistlichen und weltlichen Gewalten anbelangt, nicht im päpst­ lichen Sinn orthodox war. Es war kaum möglich, daß irgend ein

222

Kaiser Friedrich der Zweite.

Kaiser dies sein konnte.Nach der idealen Anschauung der beiden Mächte stehen Papst und Kaiser sich völlig gleich; die Autorität eines jeden ist innerhalb seines eigenen Macht­ bezirks gleich göttlich. Aber den Machtbezirk eines jeden genau zu begrenzen ist eine so schwere Sache, daß diese ideale An­ schauung kaum verfehlen konnte, eine ideale Anschauung zu bleiben. Die praktische Frage war immer, ob der Papst dem Kaiser oder der Kaiser dem Papst unterworfen sein sollte. Ueber diese Frage hatte sich Friedrich, wie wir nicht bezweifeln können, ein sehr bestimmtes Urteil gebildet. Mit einem Ver­ stand, wie der seine, in einer Stellung, wie die seine, mußte die Unterwerfung des Papstes unter den Kaiser von dem ersten Moment an ein feststehendes Princip sein, von dem an er über solche Dinge überhaupt nachzudenken im Stande war. Jedes Vorkommnis seines Lebens, jede von einem Papst gegen ihn ausgesprochene Exkommunication, jeder Akt der Feindschaft oder des Verrats von Seiten der Geistlichen oder Ordensritter mußte dahin zielen, seine Entscheidung zu befestigen. Inwiefern Friedrich, der Neuerer, der Revolutionär, der Verächter überlieferter Glaubenssätze, durch die traditionelle Theorie vom heiligen Römischen Reich beeinflußt gewesen sein mag, ist eine andere Frage. Es ist möglich, daß er sie als für seine Zwecke dienlich benutzte, ohne den ehrlichen Glauben, welcher die Ottonen und seinen eignen Großvater bewegte. Die glänzende Theorie des Kaiserreichs mag wohl seine Einbildungskraft entflammt haben, und er mag wissentlich danach gestrebt haben, diese glänzende Theorie in lebendige Wirklichkeit zu verwandeln. Doch die Herrschaft, nach der er zielte, war eher die wirkliche unab­ hängige Herrschaft eines byzantinischen Kaisers oder eines sarace­ nischen Sultans, als die schattenhafte Oberherrschaft über eine Welt, die thatsächlich Zoll für Zoll unter unabhängige Fürsten und Ge­ meinwesen verteilt war. Allein, ob im strengen Sinn als Kaiser, oder in irgend einer anderen Stellung, es kann nicht bezweifelt

Kaiser Friedrich der Zweite.

223

werden, daß Friedrich nach und nach dazu kam, sich die Erniedrigung der geistlichen und die Erhöhung der weltlichen Macht als das Hauptziel seines Lebens zu setzen. Wie wir vorhin sagten, konnte, was auch immer Friedrichs geheime Ansichten gewesen sein mochten, eine solche Uebertragung der Macht, wie diese, kaum eine andere äußere Gestalt oder Form annehmen, als die einer weiteren Vergötterung der weltlichen Macht, einer vollständigeren Anerkennung des Kaisers und nicht des Papstes als des wirklichen Stellvertreters Christi auf Erden.

Wir müssen

uns auch der Tendenzen, sowie der Ausdrucksweise jener Zeit er­ innern, wie jeder Gedanke eine religiöse Richtung nahm, wie jedes starke Gefühl, gerade wie bei den Puritanern des 17. Jahrhunderts sich unwillkürlich in die biblische Sprache kleidete.

Jedermann, der

etwas von der Literatur jener Zeit kennt, ist mit der Art und Weise vertraut, in welcher die Gedanken und Worte der Schrift von den Leuten auf ihre öffentliche oder private Thätigkeit gewohnheitsgemäß angewandt werden, angewandt werden im völligsten guten Glauben, doch in einem Ton, der unsern Gewohnheiten unehrerbietig und manchmal fast als Gotteslästerung erscheint. Es ist daher in keiner Weise wunderbar, ergebene Anhänger Friedrichs zu finden, die denselben mit einem religiösen Charakter bekleiden, und die heiligste Sprache der Propheten und Apostel über ihn ertönen lassen.

Zu­

gleich hatten die christlichen Kaiser von lange her einige offizielle Redensarten von ihren heidnischen Vorgängern angenommen, welche dem alten Heidentum entlehnt waren.

Der Kaiser und alles, was

ihm angehörte, war „göttlich" und „geheiligt"; seine Erlasse waren „Offenbarungen"; von seinen Verwandten und Kindern wurde in einer Weise gesprochen, als gehörten sie einem Geschlecht an, höher als das der Menschen.

Unter diesen beiden Einflüssen sind wir

nicht überrascht, zu finden, daß von Friedrich in Ausdrücken ge­ sprochen wird, welche wir nach unserm heutigen Gefühl nur auf die heiligsten Gegenstände anwenden würden.

Es erhebt sich uns

224

Kaiser Friedrich der Zweite.

jetzt die Frage: Wurde Friedrich jemals direkt und ernsthaft durch sich selbst oder seine Nachfolger als Prophet, Apostel oder Messias einer neuen Religio» bezeichnet? Daß er dafür ausgegeben wurde, scheint Breholles' Meinung zu sein, und wir müssen mit einem Blick auf das Zeugnis, auf welches er seinen Glauben stützt, abschließen. Er würde sich kaum mit irgend welchem großen Bertrauen auf zwei oder drei spöttische Äußerungen verlassen, die Friedrich selbst zugeschrieben werden, die von ihm wirklich gethan worden sein mögen oder nicht, die aber jedenfalls die Vorstellung beleuchten, welche man sich von ihm bildete. So wurde bekanntermaßen geglaubt, er habe geäußert, daß Juden, Christen und Saracenen von drei Betrügern irre geführt worden seien, von Moses, Jesus und Mohamed, und daß er, Friedrich, eine bessere Religion gründen wolle, als jeder von jenen. Wenn er je eine solche Äußerung that, konnte er sie nur im Scherz gethan haben; sie würde Friedrich eher der äußersten Verachtung für jede Religion überführen, als irgend einer ernsten Absicht eine Re­ ligion seiner eigenen Erfindung aufzustellen. Die wirkliche Stärke des Arguments liegt in der gewissen Textstellen beizulegenden Be­ deutung, in welchen gleichzeitige Anhänger Friedrichs in einer Sprache von ihm reden, welche auf den ersten Anblick zweifellos einen sehr außergewöhnlichen Klang hat. Es ist nicht auffallend, daß in einer Zeit, in welcher mit jedem Namen gespielt und der­ selbe zum Gegenstand mystischer Auslegungen gemacht wurde, die Thatsache, daß Friedrichs großer Minister den Namen Peter trug, zum Gegenstand endloser Anspielungen gemacht wurde. Die zwischen Simon Petrus und seinem Herrn und Peter von Vinea und seinem Herrn gezogene Parallele verletzt den Geschmack unserer Zeit, doch sie entsprach völlig dem Geschmack des dreizehnten Jahrhunderts. Peter soll auf dem Wasser zu seinem Meister gehen, er ist bekehrt, und soll seine Brüder stärken; sein Meister hat ihm die Sorge übertragen, seine Schafe zu weiden und die Schlüssel seines Reichs

Kaiser Friedrich der Zweite.

225

zu tragen. Alle diese und andere Ausdrücke derselben Art finden sich in den von Breholles gesammelten Originaldokumenten. So sehen wir Friedrich als Heiligen begrüßt: — Vivat, vivat Sancti Friderici nomen in populo. Wir finden, daß Friedrich selbst in einem und demselben Satz seiner Mutter den alten Titel heidnischer Göttlichkeit beilegt, und von seinem Geburtsort in einer Weise spricht, welche eine Parallele zwischen ihm und Christus in sich schließt. Constanze ist diva mater nostra und Jesi ist Bethleem nostra. Indeß findet sich eine Stelle, welche alle andern übertrifft. Sie findet sich in dem Brief eines sicilischen Bischofs an Peter von Vinea, einem Brief, der in Folge der durchweg gebrauchten bildlichen Sprache durchaus nicht leicht zu verstehen ist, der jedoch eine direkte Parallele der gewagtesten Art zwischen Christus und Friedrich enthält. Nach einer in sonderbarer Weise hereingezogenen Anspielung ans das Abendmahl und den damals eingesetzten Ritus fährt der Schreiber folgendermaßen fort: „Unde non immerito me movet hsec externa relatio, quod Petrus, in cujus peträ fundatur Imperialis Ecclesia, quum augustalis animus roboratur in ccenä cum discipulis, tale certum potuit edixisse.“

Die Sprache ist hier, was wir heutzutage blasphemisch nennen, doch ist es wirklich nur die Gewohnheit biblischer Anwendung, auf den höchsten Grad getrieben. Auch sollten wir uns erinnern, daß Friedrich und seine Anhänger, gegen welche die Schrift so oft citirt wurde, ein gewisses Vergnügen darin finden mußten zu zeigen, daß auch sie dem gegenüber die Schrift zu citiren im Stande waren wie es sicherlich nie jemand mit größerem Erfolg that, als Friedrich selbst in einigen Perioden seines Streits mit Gregor. Aber wir sind nicht im Stande einzusehen, daß diese oder andere angeführte Textstellen genügen sollten, einige der von Bröholles gebrauchten Ausdrücke zu rechtfertigen; wir meinen z. B. wenn er sagt: „Ecrivant aux cardinaux durant la vacance du samtFreeman, histor. Abhandlungen.

15

226

Kaiser Friedrich der Zweite.

siege, en 1243, il leur rappelle l’exemple des Israelites, qui, errant sans chef dans le desert pendant quarante jours, en vinrent ä prendre un veau d’or pour leur renoncer

k

dieu:

‘S’il saut

la consecration d’un nouveau pape, ajoute-t-il,

qu’un autre saint des saints paraisse enfin, mais quel sera-t-il ?’ [Si papalis cessavit unctio, veniet ergo alius sanctus sanctorum, et quis ille est ?].

Lui meme apparemment, puisqu’il aspire

au role de prophete et de Messie: et sur ce point les contemporains ne se trompaient guere quand ils accusaient Fre­ deric de chercher

k

verain pontificat.

Delä ä se declarer d’une essence presque

usurper pour son propre compte le sou­

divine, il n’y a qu’un pas.tt Breholles citirt hier die Stellen, Sohn

Caesarei

sanguinis

divina

in denen Friedrich seinen

proles

benennt,

und

von

seiner eigenen Mutter und seinem eigenen Geburtsort in der von uns bereits erwähnten Weise spricht.

An einer anderen Stelle

sagt er: „Ainsi Fr6deric II. semble bien, de son vivant, adore et divinise ä peu pres comme une emanation de l’Esprit-Saint. Dans les termes qui servent

k

exprimer sa Suprematie reli-

gieuse, il y a quelque chose qui tient ä la fois du paganisme de l’Orient, qui rappelle le culte personnel impose

k

leurs

sujets par les empereurs de l’ancienne Rome et par les califes fatimites de l’Egypte.“ * Sicherlich ist diese Sprache stärker, es erfordern.

Uns erscheint es,

Friedrichs denen Heinrich VIII. unterlassen jeden Vergleich beider

als die citirten Stellen

als seien die wirklichen Ziele nicht

unähnlich

gewesen.

Wir

Männer, da nicht leicht zwei

Männer weniger Ähnlichkeit haben können,

als jene.

Heinrich

* Gab es einen Kalifen mit Ausnahme Hakims, der seinen Unterthanen etwas auferlegte, was im strengen Sinn „culte personnel“ genannt werden konnte?

Kaiser Friedrich der Zweite.

227

war wenigstens ein treuer Anhänger seines eigenen theologischen Systems, Friedrich, wir können un§ des Gedankens nicht erwehren, betrachtete alle theologischen Systeme hauptsächlich als politische Werkzeuge. Doch das unmittelbare Ziel beider war dasselbe, die geistliche Gemalt der Allfsicht der weltlichen zu unterstellen, die kirchliche Oberherrschaft des Papstes auf den König zu übertragen. In seinem eigenen Königreich ©kitten muß die Stellung Friedrichs identisch mit der Stellung Heinrichs gewesen sein. Wenn er nicht mehr thun konnte, konnte er wenigstens beides, Papst und König in seinem eigenen Reiche sein. Aber als Kaiser muß er von einer viel weitergehenden Suprematie geträumt haben, wenn er auch jede wirkliche Hoffnung ausgab, sie zu erlangen. Der Kaiser, der Herr der Welt, mochte wohl davon träumen, eine geistliche sowohl als weltliche Oberherrschaft über all die Reiche zu gründeit, welche theoretisch seiner Oberherrschaft unterstellt waren. Cr mochte es wirklich für möglich gehalten haben, eine solche Superiorität inner­ halb jener Reiche zu errichten, welche noch einigermaßen in Ver­ bindung mit dem Kaisertum geblieben waren. Das Resultat würde die Unterwerfung des westlicheit Ettropa oder wenigstens dreier seiner wichtigsten Staaten unter das tötende Joch eines Kalifats gewesen sein. Unsere Bemerkungen waren flüchtig und unvollständig. Ein Gegenstand wie das Leben itnd die Ziele Friedrich II. könnte das Material für Bände liefern. Wir bekennen, wenig mehr zu thun, als die Aufmerksamkeit auf einige der wunderbarsten Abschnitte der europäischen Geschichte zu lenken, und auf die Samm­ lung von Brsholles als auf eines der herrlichsten Schatzhäuser von Originalmaterial hinzudeuten, mit dem ein Gelehrter jemals die historische Wissenschaft bereichert hat.

VI.

Die Folgerichtigkeit der englischen Geschichte. Edinburgh Review, July 1860.

Eine Pergleichung der Geschichte Englands, Frankreichs und Deutschlands in Bezug auf ihre politische Entwickelung ist ein Gegenstand, der einer Durcharbeitung bis ins Kleinste wohl würdig wäre. Jedes Land hatte bei Beginn seiner Geschichte vieles mit den andern gemein, während der besondere Entwickelungsgang eines jeden ein völlig verschiedener war. Der unterscheidende Charakter der englischen Geschichte ist ihre Folgerichtigkeit. Keine breite Kluft trennt die Gegenwart von der Vergangenheit. Giebt es einen Punkt, an welchem eine Gränzlinie zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit gezogen werden muß, so ist es sicherlich nicht der, bei welchem uns ein oberflächlicher Blick vielleicht veranlassen möchte eine solche zu ziehen, nämlich der Augenblick der norman­ nischen Invasion vom Jahre 1066. Auf den ersten Anblick scheint es, als ob dieses Ereignis uns von allem Vorhergegangenen in einer Weise trennte, für welche sich weder in der Geschichte unseres eigenen, noch in der eines verwandten Landes eine Analogie findet. Weder Frankreich noch Deutschland sahen jemals ein Ereignis, das sich der normannischen Eroberung vergleichen ließe. Keines von beiden besaß jemals eine dauernde Dynastie fremder Könige; keines sah je seine Ländereien unter die Krieger eines fremden Heeres verteilt, und seine eingeborenen Söhne von jeder Ansehen oder

Die Folgerichtigkeit der englischen Geschichte.

229

Reichtum verleihenden Stellung ausgeschlossen. England allein von den dreien hat eine wirkliche und andauernde fremdländische Eroberung erlitten. Man hätte erwarten können, daß die denkbar größte historische Kluft die Jahrhunderte vor und die Jahrhunderte nach einem solchen Ereignis trennen müßte. Dennoch hat das heutige England thatsächlich weit mehr Beziehungen zu dem England der westsächsischen Könige, als das heutige Frankreich oder Deutsch­ land zu dem Gallien und Germanien Karl des Großen, oder selbst viel späterer Zeiten. Das England aus der Zeit vor der normannischen Eroberung ist uns allerdings in jeder äußerlichen Hinsicht weit entrückt. Aber das England aus der Zeit, die der normannischen Eroberung unmittelbar folgt, ist uns noch ferner gelegen. Das Zeitalter, in welchem Engländer ihr eigenes Land als ein unterworfenes Volk bewohnten, in welchem ihr Name und ihre Sprache Kennzeichen von Schande und Sklaverei waren, in welchem England als wenig mehr denn ein Machtzuwachs des Herzogs von Rouen in seinem Kampf mit dem König von Paris angesehen wurde, dieses Zeitalter ist so beschaffen, wie es unseren eigenen Gefühlen und Verhältnissen fremder nicht gedacht werden kann. Wann nahck nun das England, in dem wir jetzt leben und wirken, seinen Anfang? Wo haben wir die entscheidende Linie zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit zu ziehen, wenn eine solche zu ziehen ist? Unsere Antwort lautet: in dem großen schaffenden und zerstörenden Zeitalter Europa's und des civilisirten Asiens —, dem dreizehnten Jahrhundert. Das England des Richard Löwenherz ist für immer vergangen; das England Eduard I. dagegen ist wesentlich das noch heute bestehende England, in dem wir selbst leben. Bis zum dreizehnten Jahrhundert ist unsere Geschichte das Gebiet der Altertumsforscher; von dieser Zeit an wird sie das Gebiet der Rechtsgelehrten. Ein Gesetz eines Witenagemots unter König Älfred ist ein wertvolles Glied in der

Die Folgerichtigkeit der englischen Geschichte.

230

Kette unserer politischen Entwickelung,

doch hätte es nicht als

irgend eine gesetzliche Autorität von den Anklägern oder

den

können.

Verteidigern

der

sieben

Bischöfe

Straffords

angezogen

werden

Ein Gesetz Eduard I. ist eine ganz andere Sache. Wenn

seine Aufhebung durch irgend ein späteres Gesetz nicht nachgewiesen werden kann, so ist es bis auf diesen Tag eben so gültig, als ein Gesetz der Königin Victoria. In der früheren Periode können wir wohl die Elemente unserer Sprache, unserer Gesetze, unserer poli­ tischen Institutionen auffinden; aber vom dreizehnten Jahrhundert an sehen wir diese Dinge selbst gerade in jener Gestalt, die zu erhalten unser gemeinsamer Wunsch ist, wenn auch nachfolgende Geschlechter in manchen Einzelnheiten eine Vervollkommnung herbei­ geführt, und manche andere in einem Zustand gelassen haben, der weiterer Vervollkommnung bedarf.

Erklären wir unsere Ansicht

an den» Bedeutendsten aller Beispiele.

Seit die ersten germanischen

Ansiedler an unsern Gestaden gelandet, kannte England niemals den

Zustand

gänzlicher

und

Willen eines einzigen Mannes.

völliger Unterwerfung

unter den

Irgend eine Versammlung, Wite-

nagemot, Großer Rat oder Parlanient, bestand immer, und war im Stande die Launen der Tyrannen mit größerem oder geringerem Recht im Namen der Nation zu beschränken. auf Victoria hatte lamentarische

England

Verfassung

immer,

Von Heugist bis

was wir wohl eine par­

nennen können.

Normannen,

Tudors

und Stuarts mochten sie aufheben oder schwächen, doch konnten sie dieselbe nicht gänzlich vernichten. Unsere altenglischen Witenagemots, unsere normannischen Großen Ratsversammlungen, sind Gegenstand der Altertumsforschung, und es setzt unsere besten Altertumsforscher in Verlegenheit, die genaue Beschaffenheit derselben klären.

völlig zu er­

Vom 13. Jahrhundert an haben wir jedoch ein wirkliches

Parlament, im Wesentlichen so, wie wir es vor unsern eigenen Augen sehen.

Im Lauf des 14. Jahrhunderts wurde jedes consti-

tutionelle Grnndprincip vollständig anerkannt.

Die verdienstvollsten

Die Folgerichtigkeit der englischen Geschichte.

231

Männer des 17. Jahrhunderts kämpften, nicht für die Einrichtung von Neuerungen, sondern für das Bestehen dessen, was damals schon altherkömmlich war. Es ist noch die Magna Charta, die wir als die Grundlage aller unserer Rechte betrachten. Und teilt späterer parlamentarischer Reformator hat je eine so weitgehende Umwälzung bewirkt oder vorgeschlagen, als Simon von Montfort, als er durch einen einzigen Schriftzug die parlamentarischen Ein­ richtungen auf die Städte und Flecken Englands übertrug. Diese Folgerichtigkeit der englischen Geschichte von Anfang an ist ein Punkt, der nicht nachdrücklich genug betont werden kann. Doch ist es ihre besondere Folgerichtigkeit vom dreizehnten Jahr­ hundert an, welche den lehrreichsten Teil des Vergleichs zwischen der englischen Geschichte und der Geschichte Deutschlands und Frank­ reichs ausmacht. Zur Zeit der normannischen Eroberung waren die vielen kleinen germanischen Königreiche in Britannien zu dem einen germanischen Königreich England verschmolzen, reich in seiner barbarischen Größe und seiner barbarischen Freiheit, mit den Keimen, aber auch nur den Keimen, all der Einrichtungen, welche wir jetzt als besonders kostbar schätzen. Zu Ende des 13. Jahrhunderts sehen wir das England, mit welchem wir noch jetzt vertraut sind, jung zwar und zart, doch im Besitz schon mehr als der Keime, nämlich der Dinge selbst. Es hat bereits einen König, Lords und Gemeine; es hat einen König, der, wenn auch mächtig und geehrt, gegen den Willen seines Volks weder Gesetze erlassen noch Steuern auferlegen kann. Es hat Lords mit hohen erblichen Gewalten, jedoch Lords, die nur die vorderste Reihe des Volks bilden, deren Kinder in der großen Menge der Engländer aufgehen, und zu deren Rang ein jeder Engländer erhoben werden kann. Es hat Gemeine, noch schüchtern in der Ausübung neu erstandener Rechte, jedoch Gemeine, deren Constitution und deren Gewalten wir nur allmälig in einzelnen Details verändert haben; Gemeine, die, wenn sie auch manchmal vor schweren Staatsfragen zurückbebten, doch

232

Die Folgerichtigkeit der englischen Geschichte.

wenigstens entschlossen waren nicht zu dulden, daß jemand ihr Geld ohne ihre Erlaubnis nehme. Die Gerichtshöfe, die großen Staats­ ämter, die Hauptzüge der lokalen Verwaltung sind bereits im Besitz, oder gelangen rasch in den Besitz der Gestalt, deren wesent­ lichen Charakter sie noch behaupten. Der Kampf mit dem päpst­ lichen Nom hat schon begonnen; Lehrsätze und Religionsgebräuche blieben zwar noch unbehelligt, aber Gesetz nach Gesetz wird ein­ gebracht, um die Mißbräuche und Uebergriffe des immer verhaßten römischen Hofs einzuschränken. Die große Mittelklasse Englands ist in rascher Bildung begriffen; eine Mittelklasse, nicht wie ander­ wärts auf einige große Städte beschränkt, sondern in der Gestalt des niederen Adels und einer Menge reicher Freisassen über das ganze Land verbreitet. Leibeigenschaft besteht noch, doch beides, Gesetz wie Gewohnheit, ebenen den Weg für jenes allmälige und stillschweigende Erlöschen derselbe», das ohne irgend ein förmliches Abschaffen des gesetzlichen Status nach drei Jahrhunderten keinen gesetzlich Leibeigenen unter uns beließ. Mit dieser Ausnahme be­ stand der Theorie nach gleiches Recht für Alle, und wie unvoll­ kommen die Theorie ausgeführt werden mochte, so geschah dies doch weit weniger unvollkommen, als in irgend einem andern Staat. Unsere Sprache nahm rasch ihre jetzige Gestalt an; Eng­ lisch, in der Hauptsache noch heute verständlich, war die Sprache der großen Masse des Volks, und es gelang ihm bald, das Fran­ zösische aus den Hallen der Fürsten und Edeln zu vertreiben. England wird am Ende des Jahrhunderts zum ersten Mal von einem Fürsten beherrscht, der einen rein englischen Namen führt, und eine rein englische Politik treibt. Eduard I. war zweifellos so despotisch als er es nur immer sein konnte, oder als er es zu sein wagte; dies war bei einem jeden Fürsten jener Zeit der Fall, welcher die übermenschliche Gerechtigkeit des heiligen Ludwig nicht ausüben konnte. Aber er herrschte über ein Volk, das selbst seinem Despotismus Fesseln anzulegen wußte. Der Gesetzgeber Englands,

Die Folgerichtigkeit der englischen Geschichte.

233

der Eroberer von Wales mm Schottland erscheint wie ein alter Bretwalda oder westsächsischer Basileus, der nochmals auf dem Thron Cerdics und Älfreds sitzt. Die heutige englische Nation ist jetzt völlig ausgebildet; sie ist bereit zu jenen Kämpfen der nächsten zwei Jahrhunderte um die französische Herrschaft, welche, so völlig ungerecht und fruchtlos wie sie waren, doch indirekt die Befestigung unserer Freiheiten zu Hause erwiesen, und welche den Nationalcharakter im Guten wie im Bösen für immer bestimmten. Stellen mir hier einen Vergleich zwischen der Geschichte und den Institutionen Englands und denen Frankreichs und Deutsch­ lands an. Wie wir vorher bemerkten, reicht unser heutiges Par­ lament in einer ununterbrochenen Linie bis zu dem frühen Großen Rat, und dem noch früheren Witenagemot zurück. Die spätere Institution, so sehr verschieden sie von der früheren ist, wurde nicht an Stelle der früheren errichtet, sondern sie wuchs aus derselben empor. Es wäre lächerlich, nach irgend einer solchen Zusammen­ gehörigkeit zwischen der Versammlung von Gesandten, die zu Frank­ furt tagt und den Versammlungen zu suchen, die zusammentraten um Heinrich III. zu gehorchen oder Heinrich IV. abzusetzen. Und wie liegt die Sache in Frankreich? Frankreich hat das constitutionelle Regiment in all seinen Formen versucht; in seiner alt­ germanischen, in seiner mittelalterlichen, und in seinen sämmtlichen modernen Formen — Könige mit einer Kammer, und Könige mit zweien, Republiken ohne und Republiken mit Präsidenten, Con­ vente, Directorien, Consulate, und das Kaisertum. All dieses waren gesonderte Experimente; alle mißglückten: es besteht keine geschichtliche Zusammengehörigkeit zwischen irgend welchen unter ihnen. Karl der Große versammelte Jahr für Jahr seinen großen Rat um sich; seine Nachfolger im östlichen Francia, die Könige des germanischen Reichs, blieben lange Zeit bei diesem Gebrauch. In Gallien jedoch, im westlichen Francia, konnte nach seiner Ab­ trennung vom gemeinsamen Mittelpunkt eine solche Versammlung

234

Die Folgerichtigkeit der englischen Geschichte.

nicht zusanimengebracht iverden. Das Reich zersplitterte; jede Pro­ vinz that, was ihr als recht erschien; Aquitanien und Toulouse enipfanden weder Furcht noch Liebe genug, um ihrem nominellen König irgend welche Mitglieder zu einer von diesem einberufenen Ratsversammlung zu liefern. Philipp der Schöne versamnielte die Generalstände zu seiner eigenen Bequemlichkeit. Aber die General­ stände waren keine historische Fortsetzung der alten fränkischen Ver­ sammlungen; sie waren eine von ihm getroffene neue Einrichtung, möglicherweise bestimmt zur Nachahmung des englischen Parlaments oder der spanischen Cortes. Von dieser Zeit an hatten die fran­ zösischen Generalstände eine glänzende und eine schwankende Lauf­ bahn. Sie waren von den heimischen Parlamenten Englands in der That sehr verschieden. Unsere stolzen Ritter und Bürger waren insgesammt unerfahren in politischen Theorieen. Sie fühlten kein Bedürfnis nach bedeutenden und umfassenden Maßregeln. Doch wenn sie irgend welche thatsächlichen Mißbräuche im Lande sahen, so war der König nicht im Stande Geld von ihnen zu er­ halten, ehe er die Dinge wieder in das richtige Verhältnis gebracht hatte. Wenn sie ein schlechtes Gesetz sahen, verlangten sie seine Abänderung; sahen sie einen schlechten Minister, so verlangten sie seine Entlassung. Diese Art von schrittweiser, durch sechs Jahrhunderte fortgesetzter Reform ist es, die uns gleicherweise vor großartigen Theorieen, wie vor Metzeleien im Namen der Humanität betvahrt hat. Beide waren in Frankreich im vierzehnten und fünf­ zehnten Jahrhundert ebenso gewöhnlich, als sie es je in den letzten Jahren des achtzehnten waren. Die Forderungen der Generalstände und dessen, was wir die liberale Partei in Frankreich überhaupt nennen können, sind ebenso ausgedehnt und ebenso klar ausgedrückt, als irgend eine moderne Constitution zwischen 1791 und 1848. Während jedoch das englische Parlament, jährlich sich versammelnd, fast jedes Jahr die Zahl unserer Freiheiten um einen kleinen Zu­ wachs vermehrte, schufen die Generalstände, die nur hie und da

Die Folgerichtigkeit der englischen Geschichte.

235

zusammentraten, nichts dauerndes, und kamen nach und nach ebenso vollständig in Wegfall, wie die alten fränkischen Versammlungen. Zur Zeit der Revolution von 1789 waren ihre Einrichtungen und die Art ihres Verfahrens bereits Gegenstände für die altertnmssorschende Neugierde geworden.

Spätere Versuche,

Nationalver­

sammlungen, Nationalconvente, Deputirtenkammern, bedürfen keiner Erwähnung.

Sie sind emporgestiegen und gefallen,

während das

Haus der Lords und das Hans der Gemeinen ungestört auf ihrem Wege fortgeschritten sind. Und wie mit den parlamentarischen Institutionen, so verhält es sich auch mit unseren minder wichtigen Einrichtungen. Es giebt kaum einen Titel oder ein Amt, von: Lordkanzler bis zum Bürger­ meister,

das

während

nicht wenige bis auf Alfred

nicht

wenigstens

bis

zu

Eduard I.

zurückreichte,

und Hengist zurückgehen.

Was würde Philipp der Schöne unter dem Präfecten eines Departenients

oder

verstanden

unter einem

haben?

Minister des

Eduard I.

jedoch

öffentlichen llnterrichts

stand

mit den

Sherifs

seiner Grafschaften, mit dem Mayor und Alderman seiner Haupt­ stadt in derselben Verbindung, wie unser gegenwärtiger Souverain. Anderwärts führen die Ratgeber der Krone irgend einen Titel, der

sofort ihren modernen Ursprung verrät.

Hier in England

sind sie manchmal die Schatten, manchmal die Wesenheit irgend eines großen niittelalterlichen Amts.

Auf der

andern Seite des

Kanals führt der Minister sein Portefeuille; hier trägt der Staatssecretär sein Siegel. Betrachten wir ferner unsere lokale Einteilung. Mit Allsnahme der Bildung der walisischen Grafschaften unter­ scheidet sich die Karte Englands unter Victoria wenig von der Karte Englands unter Wilhelm dem Eroberer, wir möchten fast sagen von der unter Eduard dem Älteren.

Von den alten eng­

lischen Königreichen bestehen noch mehrere als Grafschaften, derselben mit völlig

unveränderten

Gränzen.

einige

Fast alle unsere

Shires datiren wenigstens vom zehnten Jahrhundert, viele von

236

Die Folgerichtigkeit der englischen Geschichte.

ihnen gehen sogar auf den Anfang der englischen Eroberung zurück. Eine 60 — 70 Jahre alte Karte von Frankreich oder Deutschland dagegen ist bereits nahezu unbrauchbar; eine Karte, welche diese Länder unter Friedrich Barbarossa oder Ludwig VII. zeigt, gleicht der eines fremden Landes.

Die Normandie, Burgund, Guyenne

sind verschwunden —, zerstückelt in Departements, deren Namen zu behalten, wie wir vermuten, nur ihren eigenen Präfekten möglich ist.

Und wo sind in dem andern der beiden alten fränkischen

Reiche die fünf alten Nationen?

Wo sind die verhältnismäßig

neuen sieben Kurfürsten? Franken, Sachsen, Lothringen, Baiern und Schwaben sind entweder von der Landkarte verschwunden, oder sie haben ihre Gestalt und ihre Gränzen so verändert, daß niemand sie als dieselben zu erkennen int Stande ist.

In jeder Hinsicht,

in Bezug auf Gesetze, Einrichtungen, lokale Einteilung, sind Frank­ reich und Deutschland gleicherweise Länder des Wechsels gewesen, England ist hervorragend das Land der Dauer. Obgleich also die charakteristischen Eigenschaften der englischen Geschichte durchaus in einer Berbindung von Dauer und Fortschritt bestehen, so köniten wir nicht läugnen, daß sich gelegentlich Perioden eines

wenigstens

scheinbaren Zurückgehens finden.

Wir sagen

scheinbaren Zurückgehens, weil es bezweifelt werden kann, ob es irgend eine Periode giebt, die sich am Ende als eine solche erwiesen hat.

Einen derartigen Zeitabschnitt haben wir bereits kennen ge­

lernt; die Periode der normannischen Unterdrückung steht zwischen den Tagen von Englands früherer und späterer Freiheit. Dennoch ging selbst während dieses düsteren zwölften Jahrhunderts jene stillschweigende Verschmelzung der beiden Nationen vor sich, ohne welche England niemals die glorreichen Ereignisse des dreizehnten erlebt haben würde.

In einer späteren Periode ist das fünfzehnte

Jahrhundert eine Zeit entschiedener Entartung. Einige gute Gesetze wurden erlassen, einige nützliche Präcedenzfälle wurden geschaffen; doch waren im Großen und Ganzen die Parlamente des 15. Jahr-

Die Folgerichtigkeit der englischen Geschichte.

237

Hunderts weniger liberale und unabhängige Körper, als die des vierzehnten. Eines derselben legalisirte förmlich die religiöse Ver­ folgung ; ein anderes steht durch die Annahme einer counter-reform bill allein in der englischen Geschichte. Die county franchise wurde auf die Landeigentümer beschränkt, deren Einkünfte den Betrag von 40 Shilling das Jahr erreichten. Bedenkt man den Wert des Geldes zu jener Zeit, so muß dies eine Maßregel von äußerst ausschließender Kraft gewesen sein, eine solche, wie sie sich einige Generationen rückwärts der conservativste aller Staatsmänner nicht hätte träumen lassen. Die späteren Parlamente dieses Jahrhunderts zeigen den Gewalten gegenüber, die gerade am Ruder sind, die denkbar größte Unterwürfigkeit. Der Krieg mit Frankreich ist ferner zu einem bloßen Kampf um eine ungerechte Herrschaft herabgesunken, und ihm folgen wilde und zwecklose Bürgerkriege in der Heimat. Die persönlichen und dynastischen Kämpfe des fünf­ zehnten Jahrhunderts erregen im Vergleich zu den großen Kämpfen um Principien des 13. oder 17. Jahrhunderts ein gewisses Gefühl des Widerwillens. Dennoch hat auch das 15. Jahrhundert seine helle Seite. Dieses Zeitalter mag, allein betrachtet, als ein Rück­ schritt angesehen werden, doch am Ende hat es, wie andere, zu unserm allgemeinen Fortschritt beigetragen. Die Entwickelung der Volksgewalt im 17. Jahrhundert verlangte den vorgängigen Zusammenbnlch des alten Lehensadels. Die allgemeine Harnwnie zwischen den beiden Häusern des Parlaments, von ihrem ersten Anfang an, war etwas Bewundernswürdiges; aber es ist ersichtlich, daß, ehe der alte Adel aus dem Wege geräumt war, das Haus der Gemeinen niemals der wirklich regierende Körper werden konnte. Und die besondere Weise, in der man ihn los wurde, verhinderte jeden offenen Bruch zwischen der Masse des Volks und einem Pairsadel, welcher in Wahrheit nur die erste Rangstufe iunerhalb derselben einnahm. Der normannische Adel wurde nicht durch eine Volksbewegung gestürzt; es fiel einer durch das Schwert des andern, bei Towton

238

Die Folgerichtigkeit der englischen Geschichte.

und Barnet, oder es war ihm beschieden unter dem Beil Heinrichs zu erliegen. Der Despotismus der Tudors, wie der Despotismus der Normannen diente dazu, die Keinie der Freiheit während einer Uebergangsperiode zu schützen und zu erhalten. Und wenn die Parlamente unter der späteren Ära der Plantagenets weniger un­ abhängig waren als die vorhergehenden, so finden wir sowohl hier, wie in der Zeit der Tudors reichliche Beweise, daß der Einfluß des Parlaments immer mehr und mehr anerkannt wurde. Gerade der Beschluß, der die Wahlfreiheit beschränkte, bewies, daß die Wahlsreiheit eine geschätzte und begehrte Sache war, daß sie nicht mehr als eine Last empfunden wurde, wie dies oft in frühere» Zeiten der Fall war. Spät im fünfzehnten Jahrhundert hatte, wie die Paston-Briefe zeigen, die Stellung des Abgeordneten eines Fleckens sich hinreichend gehoben, um für Männer von Geburt und Grundbesitz ein Gegenstand des Ehrgeizes zu sein. In der Zeit der Tudors finden wir direkte Einmischung der Negierung bei den Wahlen, sowie die Erschaffung unbedeutender Flecken, um Abgeordnete int Interesse der Krone zu sichern. Gewaltthätig und corrupt, wie diese Ausschreitungen der Gewalt waren, zeigen sie doch schon den wachsenden Einfluß des Körpers, um dessen Zusammensetzung man sich so große Mühe gab. Und obgleich offenbar ungerecht, waren die französischen Kriege dieses Zeitalters entschieden nationale Kriege, unternommen für den nationalen Ruhm. Eduard III. verlangte als französischer Prinz die Krone von Frankreich, sein Sohn regierte als Prinz von Aquitattien in Bordeaux. Heinrich V. dagegen erlangte, als englischer König, einen Vertrag, der die Krone Frankreichs zu einem Zubehör der Krone von England machte. Ohne Zweifel verlor England, indem es nach der fran­ zösischen Krone griff, sein eigenes aquitanisches Diadem, aber gerade dieser Verlust machte cs noch mehr insular und national, und es ist klar, daß alle Spuren des altnormannischen Empfindens in der

Die Folgerichtigkeit der englischen Geschichte.

239

Brust der Männer völlig erstorben sein mußten, die danach strebten Frankreich zu einer Provinz Englands zu machen. In kirchlicher Beziehung sehen wir im 15. Jahrhundert die­ selbe

Mischung von Fortschritt und

Rückschritt.

Die Kirche des

15. Jahrhunderts war entsetzlich verderbt; doctrinäre wie praktische Mißbräuche hatten ihren

höchsten

jener Zeit waren jedensalls in

Grad erreicht.

hinter ihren Vorgängern weit zurückstanden. weltlichen

Staatsmännern

Die Prälaten

amtlicher Beziehung

herabgesunken,

Männer, die

Sie waren zu rein

zu Gliedern

edler Ge­

schlechter, die den Krummstab dem Schwert vorzogen, und die ihre kirchliche Stellung verdankten.

ihrer Geburt oder

ihren weltlichen Verdiensten

Das 15. Jahrhundert liefert uns keinen der Heiligen,

der Helden, der Patrioten der Kirche, keinen Anselm und Decket, keinen Langton und Grosseteste früherer Zeiten. Chichele war einer der besten Prälaten jener Zeiten, allerdings

Verdiensten

in

Chichele scheute sich nicht

seinem

und er verdankte seine Stellung eigenen

Beruf.

Aber

selbst

einen ungerechten Krieg zu begünstigen,

um die Aufmerksamkeit des Königs und des Volks von dem über­ mäßigen Reichtum der Kirche abzuziehen.

Andererseits jedoch ist

selbst diese Herabwürdigung der Kirche nicht ohne ihre gute Seite. Die Kirche steht dem Staat nicht niehr gegenüber; die Kleriker sind Bürger geworden, wie andere Männer auch. Wir haben so den äußeren Verlauf von Ursache und Wir­ kung während eines beträchtlichen Teils unserer Geschichte legen versucht.

darzu­

Dieser äußere Verlauf ist alles, was wir darzu­

legen unternehmen können.

Wir können nicht die großen Ereignisse

der englischen Geschichte, ihren Verlauf int Innern,

oder die Mo­

mente ihrer Verschiedenheit von der anderer Nationen irgend einem umfassenden wissenschaftlichen Gesetz unterwerfen.

Wenn wir nach

den Ursachen des Gegensatzes zwischen dem stetigen Fortschritt der Freiheit in England und dem zufälligen Steigen und Sinken der­ selben in Frankreich gefragt werden, so haben wir hierfür keine

240

Die Folgerichtigkeit der englischen Geschichte.

allgemeine Formel der Erklärung. Wir können nur sagen, daß es viele und verschiedene Ursachen giebt, und daß einige unter ihnen, die wir angeben könnten, vielleicht gerade von etwas altmodischer Art sind. Wir gestehen, daß wir uns nicht ans der Höhe der neuesten Lichter des Jahrhunderts befinden, wir sind nicht durch die Schule Buckle's emporgestiegen. Wir halten noch an unserem Glauben an die Existenz und den freien Willen sowohl Gottes als der Menschen fest. Der nationale Charakter, die geographische Lage, frühere historische Ereignisse hatten auf die Verschiedenheit einen großen Einfluß; wir glauben jedoch, daß der persönliche Charakter einzelner Männer, sowie der glückliche Gedanke oder der glückliche Zufall irgend eines besonderen Gesetzes einen ebenso großen Einfluß ans dieselbe hat, als irgend eine jener anderen Ursachen. Keine einzige andere Ursache hat unsere ganze politische Entwickelung wirksamer und wohlthätiger beeinflußt, als das Gesetz oder das Herkommen, welches den Kindern eines Pairs keinen höheren gesetz­ lichen Rang verleiht, als den einfacher Bürgerlicher. Dies allein hat uns gestattet, die Institution eines erblichen hohen Adels zu bewahren, während es uns vor dem Fluch eines Adels der kon­ tinentalen Art, der eine von dem Nest der Bevölkerung gesonderte Kaste bildet, bewahrte. Dennoch kann niemand das Datum, den Urheber oder die Ursache dieser so höchst einflußreiche» Bestim­ mung angeben. Ferner glauben wir nicht, daß Männer wie Wilhelm der Eroberer und Eduard I. nur wandelnde Automaten gewesen seien. Ihr persönlicher Wille, ihr persönliches Genie beeinflußte Menschen und Dinge, mögen die Philosophen auch sagen, was sie wollen. Von diesen verschiedenen Arten von Ursachen gestattet uns der Raum nur einige wenige der besonders wichtigen hervorzuheben. Nichts hatte, wie mir glauben, einen größeren Einfluß als der Umstand, daß wir Engländer auf einer Insel leben, und daß wir uns immer in einer gewissermaßen eigenen Welt bewegt haben. Dieser Umstand, in Verbindung mit dem

Die Folgerichtigkeit der englischen Geschichte ausrottenden Charakter der

ersten

241

germanischen Niederlassungen,

machte England in den Tagen seiner frühesten Unabhängigkeit zu einem reiner germanischen Land, als Deutschland selbst es war. Und selbst die normannische Eroberung, die das alte germanische Leben der Nation zu zerstören schien, diente thatsächlich dazu, dasselbe zu stärken.

Der normannischen Eroberung, mehr als irgend einem

anderen Ereignis, verdanken wir die Wiedergeburt der Freiheit nach zweihlindert Jahren.

Sie vollendete jenen Prozeß der Vereinigung,

der seit den Tagen Egberts in stetigem Fortschreiten begriffen war. England wurde jetzt für immer ein einiges Reich.

Für einen

Augenblick wurde es die Beute Fremder; doch vereinigten sich eine Menge glücklicher Umstände, um Englands Eroberer in seine Kinder zu verwandeln.

Der gigantische Geist und der eiserne Wille des

Eroberers befähigten denselben der Krone eine Macht zu verleihen, die mit Ausnahme von Konstantinopel und Kordoba in Europa nicht ihres Gleichen hatte.

Dann kam die Thronbesteigung der

Anjou's, die fast einer zweiten Eroberung gleich kam. zösischen Besitzungen Heinrich

Die fran­

des Zweiten waren so bedeutend,

daß derselbe wesentlich ein französischer Fürst war.

Wilhelm war

ein normannischer Regent in England; die Engländer waren unter­ worfen, aber England war groß.

Heinrich war ein Herzog der

Normandie und von Aquitanien, der vielleicht gern ein König von Frankreich gewesen wäre, und England als ein überseeisches An­ hängsel regierte.

Ehrenstellen wurden Männern von alt englischem

Blut so wenig zu teil, daß sie selbst den Nachkommen der ersten normannischen

Ansiedler

Lande völlig fremde

nur

der Negierung Johanns französischen

selten

verliehen

wurden;

Männer hatten Macht über beide.

Provinzen

wurden die Normandie verloren;

Aquitanien

und

allein

dem Unter

die rein blieb

er-,

halten, ein England wie Frankreich gleich fremdes Land, das in der Ergebenheit gegen

den

entfernteren

Herrn

seine

Rechnung

fand. Dann kamen neue Schwärme von Fremden unter Heinrich III., ifrccman, histor.

Abhandlungen.

16

242

Die Folgerichtigkeit der englischen Geschichte.

als endlich die Nation zum Widerstand bereit war. Alle diese Ursachen hatten sich vereinigt, um alle Eingeborenen des Landes zu verbünden. Die schwere Hand des Despotismus drückte auf die Eroberer wie auf die Unterworfenen. Männer, die dem Reich ganz fremd waren, wurden auf Kosten beider bereichert und erhöht. Der Normanne hatte inzwischen die Luft der freien Insel in sich gesogen und hatte eingesehen, daß die Gesetze des guten Königs Eduard für ihn so gut seien, wie für seinen englischen Nachbarn. Er entdeckte bald, daß sein wahrer Platz unter dem englischen Volk sei, und nicht an der Seite des fremden Königs. Nasch nahmen die normannischen Adligen und Herrn den Namen, die Gefühle, und zuletzt die Sprache der Engländer an. Die Bluttaufe von Lewes und von Evesham machte die beiden Stämme für immer zu Brüdern in Krieg und Frieden. Kurz, die wahre Wirkung der normannischen Eroberung bestand nicht darin, den alten eng­ lischen Geist zu brechen oder zu vertilgen, sondern darin, denselben in einer bestimmteren und antagonistischeren Weise hervorzurufen, und ihm in den erobernden Normannen selbst eine Schaar würdiger Proselyten zuzuführen. So erwies sich ein Ereignis, das der wahre Tod der eng­ lischen Freiheit zu sein schien, schließlich vor allen andern gerade als die Begründung derselben. Wir wollen nicht darüber grübeln, was geworden wäre, wenn Wilhelm statt Harold ans dem Hügel von Senlac gefallen wäre. Es genügt das zu betrachten, was geschehen ist. Gerade durch das Ereignis, welches dazu bestimmt schien, England für immer von seinem früheren Sein zu scheiden, ist England mehr als dnrch irgend ein anderes befähigt worden, eine ununterbrochene historische Zusammengehörigkeit mit seinen frühesten Tagen zu bewahren, wie sie verwandten Nationen, die nie die gleiche Feuerprobe bestanden, versagt geblieben ist.

VII.

Die Beziehungen zwischen den Kronen von Lnglanö unö Schottland. Fortnightly Review, June 1867.

Es liegt etwas sehr merkwürdiges tu der Art und Weise, in welcher in England wie in Schottland die Gesammtgeschichte der beiden Länder, und besonders die Frage nach den alten Beziehungen der beiden Kronen betrachtet wird. Es ist nicht gerade wunder­ bar, daß es für die meisten Schotten eine Ehrensache ist, den schottischen Standpunkt in einer Kontroverse zwischen England und Schottland zu verteidigen. Das Wunderbare ist vielmehr, daß viele Engländer, und wie wir argwöhnen die meisten Engländerinnen, die schottische Partei gegen ihr eigenes Land ergreifen. Und noch wunderbarer ist es, daß sie dies thun, nicht aus der ruhigen Über­ zeugung, daß England in dem Streit im Unrecht gewesen sei, sondern aus eben jenem nicht überlegenden Impuls, der sie natur­ gemäßer auf die andere Seite hätte weisen müsse». Ein Eng­ länder, oder auch der Sohn irgend einer anderen Station, wird, wenn er die frühere Geschichte seines eigenen Landes überblickt, Gelegenheiten genug finden, bei denen er zugeben muß, daß sein Volk und seine Fürsten sich vollständig im Unrecht befanden. Dennoch fühlt er mit seinem eigenen Volk eine gewisse Sympathie, selbst wenn es sich im Unrecht befindet. Sein Urteilsvermögen 16*

244 Die Beziehungen zwischen den Kronen von England und Schottland.

drängt ihn nach der einen Seite, sein Gefühl drängt ihn nach der andern.

Daß die Kriege Eduard des Dritten in Frankreich ganz

ungerechte Angriffskriege waren, kann unmöglich geleugnet werden? Die einzige faßbare Entschuldigung für dieselben ist der Umstand, daß selbst tugendhafte Männer damals überzeugt gewesen zu sein scheinen, daß diese Kriege gerecht seien; und wir dürfen nicht ver­ gessen, daß der Krieg, ob gerecht oder ungerecht, damals in einem andern Licht betrachtet wurde, als er jetzt betrachtet wird.

Dennoch

sind Eduard der Dritte und sein Sohn Helden der englischen Phan­ tasie.

Die Vernunft mag den Angriff verurteilen, doch der Ruhm

von Crecy und Poitiers ist zu blendend, als daß man ihm wider­ stehen könnte.

Der schwarze Prinz wird so ausschließlich als Vor­

bild ritterlicher Tapferkeit und ritterlichen Edelmuts betrachtet, daß seine wirklichen Vergehen und seine wirklichen Verdienste gleicher­ weise vergessen sind.

Die Metzelei von Limoges, eine That, die

selbst zur Zeit ihres Geschehens verdammt wurde, ist vergessen. Die wirklichen Dienste, die er seinem Land in dem „Good Par­

lament“ erwies, sind ebenfalls vergessen.

Kein gewöhnlicher eng­

lischer Leser, selbst wenn er der abstrakten Behauptung zustimmt, daß die Kriege Eduard des Dritten und Heinrich des Fünften ungerecht gewesen seien, wird je mit den Franzosen, die dieselben bekämpften, sympathisiren. Wenden wir uns jedoch von Frankreich zu Schottland, so ändert sich die Sache vollständig.

Der populäre und romantische

englische Sinn, wenn er sich mit schottischen Angelegenheiten be­ schäftigt, verurteilt nicht nur die eigenen Landsleute, sondern macht den Gegensatz Unter dem

gegen

die

eigenen

Landsleute

zur

bequemen Namen Schotten wird eine

Gefühlssache. Menge

von

Personen, von William Wallace, vielleicht von Malcolm Canmore an, bis zu Karl Eduard Stuart zusammen gewürfelt.

Alle sind

* Dies ist wohl zu stark ausgedrückt. Vgl. den Essay über Eduard III.

Die Beziehungen zwischen den Kronen von England und Schottland. 245

gleicherweise populäre Helden, obgleich ihr einziges gemeinsames Verdienst darin zu bestehen scheint, daß sie auf die eine oder die andere Weise die Feinde Englands waren. Eduard der Erste ist entschieden unpopulär, nicht weil er die Wolle konfiszirte, oder weil er nicht eifrig bereit war die Magna Charta zu bestätigen, sondern weil er unter der vollen Zustimmung ganz Englands sein Recht auf die alte Oberherrlichkeit über Schottland behauptete, und weil er schließlich William Wallace als einen Verräter tödtete. Selbst Elisabeth, die große protestantische Königin, die Parma und Spanien Trotz bot, kommt mit einem sehr zweifelhaften Ruhm davon, weil sie eine Schottin enthaupten ließ, deren Verbrechen das Rechtsgefühl des schottischen Volks in einem Grade erregt hatten, daß sie ihres Thrones entsetzt wurde. Wunderlich genug werden die größten englischen Sünder Schottland gegenüber, Heinrich der Achte und der Protektor Somerset, übergangen. Wenn man Schottlands in Verbindung mit König Heinrich gedenkt, so geschieht dies, weil die Schlacht bei Flodden während seiner Regierung geschlagen wurde, und weil ein schottischer König, der in England einfällt, natür­ licherweise einen Gegenstand romantischer englischer Sympathie bildet. Die brutalen uild grundlosen Verwüstungen Schottlands unter Heinrich und Eduard dem Sechsten, das gänzlich zwecklose Gemetzel von Pinkie, scheinen vollständig vergessen. Die Ursache dieser befremdenden und vielleicht beispiellosen Richtung des populären Fühlens ist in einer gewissen edelmütigen Auflehnung der Empfindung zu finden, die durch den Einfluß einiger großer schottischer Schriftsteller verstärkt wird. Ein thörichtes und unwürdiges Vorurteil gegen Schottland und die Schotten machte unter dem Zauber der Romantik und der Poesie einem eben so wenig verständigen Gefühl der Bewunderung für alles jenseits des Tweed Platz. Die Schotten in des Wortes weitester Bedeutung, die Bewohner des modernen Schottland von jeder Sprache und Abstammung, schlichteten zunächst ihre eigenen Zwistigkeiten/ und er-

246 Die Beziehungen zwischen den Kronen von England und Schottland.

oberten dann gewissermaßen gemeinsam

die

englische

Meinung.

Lord Macaulay hat in überzeugender Weise dargethan, wie jedes Gefecht, in dem der Gäle den Sachsen überwand, und jedes Gefecht, in dem der Sachse den Gälen überwand, gleicherweise dazu diente, den Ruhm Schottlands zu vermehren. burg,

vielleicht im Besitz

so

Smith, Brown oder Wilson,

Ehrenwerte Bürger von Edin-

germanisch klingender Namen wie glauben wahrscheinlich noch heutigen

Tags, daß die gewaltige Wucht der schottischen Schwerter bei Killiecrankie ihren Ruhm gewissermaßen auf sie zurückstrahlt. Stuart,

deren Verwerfung durch das

Maria

schottische Volk eine der

ehrenwertesten Thatsachen in der schottischen Geschichte ist, ist zu einem geheiligten Besitztum der schottischen Station geworden, an das wenigstens kein Engländer seine entweihte Hand legen darf. Und Engländer, Engländerinnen jedenfalls, glauben dies alles. Sie schöpfen ihre Ansichten von englischer Geschichte aus dem Ro­ man Hume's, und sie vervollständigen dieselben aus den sicherlich nicht weniger unhistorischen Romanen Sir Walter Scotts.

Alles

Schottische umgiebt ein gewisser poetischer und romantischer Schimmer. Wallace und Bruce sind Helden, deren Leben erfüllt ist mit Helden­ thaten und haarscharfem Entrinnen aus Gefahr.

König Eduard

mag vielleicht ein Heerführer, ein Staatsmann und ein Gesetzgeber gewesen sein, doch was bedeuten solche prosaischen Verdienste im Vergleich zu dem Zauber eines romantischen Helden? Die Mode steht in diesen Dingen so fest auf der schottischen Seite der englischen gegenüber, daß es sehr schwer ist, in dieser Hinsicht strenge Unparteilichkeit zu bewahren.

Eine Auflehnung

gegen durchaus fälschliche Darstellung der Wahrheit kann uns leicht zu heftig nach der andern Seite treiben. Wenn Engländer fast ohne zu prüfen die Richtung verdammen, die von dem ganzen englischen Volk unter einem der größten und edelsten Könige, welche England seit achthundert Jahren sah, eingeschlagen hat, so ist man vielleicht geneigt, den Feinden weniger als Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Die Beziehungen zwischen den Kronen von England und Schottland. 247

Versuchen wir den Gegenstand so gerecht als möglich zu betrachten, so scheint es mir, daß, während das Verhalten König Eduards gerechtfertigt und mehr als gerechtfertigt werden kann, hieraus nicht gefolgert werden darf, daß sich nicht auch ein gutes Teil zu Gunsten der anderen Seite sagen ließe. Das Anrecht Eduards war durchaus klar genug, um von einem ehrlichen Mann gerechtermaßen behauptet werden zu können.

Es war nicht so klar, daß ihm ein ehrlicher

Mann nicht auch gerechtermaßen hätte entgegentreten können. Ver­ brechen wurden auf beiden Seiten begangen, die eine scharfe nationale Gereiztheit auf beiden Seiten vollständig rechtfertigen. Zuletzt wandte sich die Gerechtigkeit in der Sache, die zuerst auf der Seite Englands war, auf die Seite Schottlands. Ich beabsichtige nicht die Art und Weise zu verteidigen, in welcher Schottland von Eduard dem Dritten, oder von irgend einem englischen König nach Eduard dem Dritten behandelt wurde. Ich verlange nur Gerechtig­ keit für seinen unvergleichlich edleren Großvater. Ich verlange nur, daß unser großer König nicht übereilt verdammt werde wegen der Behauptung von Rechten, welche nicht, wie man vielleicht zu glauben scheint, seine eigene Erfindung waren, sondern welche eine Erbschaft seiner Vorfahren auf dem englischen Thron seit mehr als drei­ hundert und sechzig Jahren gewesen waren. Über die Beziehungen der englischen und der schottischen Krone in früheren Zeiten hatte ich Gelegenheit, einiges in dem ersten Band meiner Geschichte der normannischen Eroberung, und besonders in dem Anhang zu sagen.

Ich geriet damals in Widerspruch mit

einem geschickten Schriftsteller auf schottischer Seite, mit Herrn E. W. Robertson.. Ich sprach dort die Hoffnung aus, daß ich in künftiger Zeit im Stande sein würde auf die Sache erschöpfender einzugehen, da ich mich in jenem Anhang nur mit Punkten be­ schäftigen konnte, die den allerfrühestcn Stadien des Streits ange­ hörten. Ich erwähne dies, damit nicht irgend jemand die vorliegende Schrift als die Erfüllung des Versprechens auffasse, welches ich

248 Die Beziehungen zwischen den Kronen von England und Schottland.

damals gab.

Ich beabsichtige mit ihr nichts derartiges.

Erschöpfend

auf die Sache von Anfang bis zu Ende einzugehen,

und auf

Schritt und Tritt gegen Robertson Beweise anzuführen, was meine Pflicht wäre,

würde

viel mehr Zeit und

Raum beanspruchen,

als für einen einzelnen Essay aufgewendet werden kann.

Wo aber

eine Sache auf einer Seite allgemein mißverstanden wird, da hat ein einfaches Feststellen derselben, selbst ohne eine genaue Unter­ suchung der Beweise, einen gewissen Wert.

Ich glaubte daher,

daß ich der historischen Wahrheit einen Dienst erweisen würde, wenn ich die Aufmerksamkeit auf den Gegenstand lenkte, wenn ich deut­ lich die Stellung bezeichnete, welche auf vollständigere Weise zu verteidigen ich eines Tages die Gelegenheit zu finden hoffe, und wenn ich einige lediglich populäre Mißverständnisse beseitigte, welche nie, es sei denn ganz unbewußt, die Ansichten wirklicher Gelehrter beider Parteien beeinflussen können, welche aber das ganze Glaubens­ bekenntnis der Gemüter der großen Menge, der schottischen wie der englischen, in Bezug auf diese Sache bilden. Zuvörderst

also

möchte

ich

die Frage

wagen,

was ist'

Schottland, und wer sind die Schotten? Ich muß hier noch ein­ mal aussprechen, was ich, wie ich mir nicht verhehle, wieder und wieder in der einen oder andern Form ausgesprochen habe, und was wieder und wieder ausgesprochen werden muß, bis es voll­ ständig begriffen wird.

Niemand

kann

diese oder irgend eine

andere Frage der frühen mittelalterlichen Geschichte verstehen, wenn er sich nicht von der Fessel der modernen Landkarte und der mo­ dernen

Namengebung befreit.

Als die bestrittenen Beziehungen

zwischen den Kronen von England und Schottland ihren Anfang nahmen, scheinen die Namen England und Schottland noch gar nicht

in Gebrauch

gewesen zu

sein.

Und

wenn wir sie

als

die passende Bezeichnung für die englischen und schottischen Terri­ torien wählen, wie dieselben damals beschaffen waren, so müssen wir uns doch erinnern, daß die Gränzen jener Territorien in keiner

Die Beziehungen zwischen den Kronen von England und Schottland. 249

Weise den heutigen Gränzen Englands nnd Schottlands entsprechen. Ein Teil des heutigen England war noch nicht englisch,

und ein

sehr großer Teil des heutigen Schottland war noch nicht schottisch. Das Wachstum des schottischen Volks und Reichs ist eine der be­ merkenswertesten Thatsachen in der Geschichte.

Es entstand durch

die Verschmelzung gewisser Teile

all der drei Nassen, welche im

zehnten Jahrhundert, wie jetzt,

die britischen Inseln bewohnten.

Diese drei Nassen können am passendsten

als Engländer, Waliser

und Iren bezeichnet werden.

jeder dieser drei Rassen

Ein Teil

war durch eine Mannigfaltigkeit politischer Verhältnisse von dem Hauptkörper ihrer eigenen Station abgetrennt, und alle wurden in enge Beziehungen zu einander gebracht. Jahrhunderts waren die drei lichen Schotten,

Zu Beginn des zehnten

noch unterschieden.

eine Kolonie

von Irland,

Die ursprüng­

dem ursprünglichen

Scotia. hatten sich Jahrhunderte früher an der Nordwestküste von Britannien niedergelassen, und nicht sehr lange vor der Zeit, die ich im Auge habe, hatten sie die Pikten, die Bevölkerung des nord­ westlichen

Teils des heutigen Schottland, unterworfen, oder sich

mit ihnen verbrüdert, oder verschmolzen.

sie ausgerottet,

oder sich mit ihnen

Die Beziehungen zwischen Pikten und Scoten lasse

ich in absichtlicher Unbestimmtheit; sie bilden eine sehr schwierige Frage, und noch dazu eine, deren Lösung oder Besprechung in keiner Weise für meinen Gegenstand in Betracht kommt.

Es ge­

nügt, daß zu Beginn des zehnten Jahrhunderts ein unabhängiger keltischer Potentat, der König der Schotten, über das ganze heutige Schottland nördlich der beiden großen Meeresarme, des Forth und des

Clyde herrschte,

teurer in

die Inseln

Besitz

zu

die Schotten,

soweit

skandinavische

und den äußersten Norden

nehmen

begonnen

hatten.

des

Hier

wird.

die

noch

durch das

Aben­

Festlandes,

also

wohnten

ein keltisches Volk, dessen Hauptsprache die

war, eine Sprache, präsentirt

ausgenommen

irische

heutige Gälische

Diese Schotten also, ein Zweig

re-

der irischen

250 Die Beziehungen zwischen den Kronen von England und Schottland.

Nation, habe» dem heutigen Königreich Schottland seinen Namen und sein Herrschergeschlecht gegeben.

Alles dagegen, was Schottland

seine historische Bedeutung verlieh, kam von anderer.Seite.

Die

Anwendung des schottischen Naniens ans die gesammte Bevölkerung des heutigen Schottland glich gewissermaßen der vor der Wieder­ herstellung des Königreichs Italien so allgemeinen Anwendung des sardinischen Namens auf die Bevölkerung von Savoyen, Piemont und Genua.

So

weit sie den ethischen Zusammenhang betrifft,

wird man diese Analogie für treffend erachten.

Die große Menge

der sogenannten Schotten waren Schotten lediglich durch den Um­ stand, daß sie Unterthanen des Königs der Schotten waren.

Die

große Menge der sogenannten Sardinier waren Sardinier lediglich durch den Umstand, daß sie Unterthanen des Königs von Sar­ dinien waren.

Doch ist hier der Unterschied, daß der König

der Schotten wirklich ein König der Schotten war; die königliche Dynastie Schottlands war schottisch, dagegen war die königliche Dynastie Sardiniens nicht sardinisch.

Indeß entsprach die Stellung

dieser Dynastie als Herzoge von Savoyen genau der Stellung der Könige der Schotten.

In beiden Fällen

war die Wiege der

Dynastie eine der wenigst wertvollen Besitzungen des herrschenden Souveräns. Der König der Schotten also herrschte zu Beginn des zehnten Jahrhunderts keltisches Volk.

nördlich

der Meeresarme über ein unabhängiges

Die Schotten scheinen sich mehr als einmal einer

gewissen Oberherrschaft der

northumbrischen Könige unterworfen

zu haben; vielleicht unterwarfen sie sich beide, sie sowohl als die Northumbrier, der kaiserlichen Oberherrschaft Karl des Großen. Doch war eine Unterwerfung dieser Art ganz vorübergehend, und ohne Einfluß auf die spätere Geschichte.

Zu Beginn des zehnten

Jahrhunderts waren die Schotten, wie von allen Seiten zugegeben wird, ganz unabhängig. Zu jener Zeit stand jedoch der südliche Teil des heutigen

Die Beziehungen zwischen den Kronen von England und Schottland. 251 Schottland in keiner Beziehung zu den Schotten, und zu dem König der Schotten stand er nur insofern in Beziehung, als ein unab­ hängiger Zweig des schottischen Königshauses beherrschte.

einen Teil desselben

Das ganze südwestliche Schottland mit einem großen

Teil des jetzigen nordwestlichen England bildete das Kingdom of Strathclyde Welsh. Ueber dieses Reich herrschten von einem frühen Zeitpunkt des zehnten Jahrhunderts an Könige aus schottischem Ge­ schlecht, aber es bildete einen ganz gesonderten Staat, gleich unab­ hängig von dem König der Schotten und dem König der Westsachsen. Der südöstliche Teil Schottlands, Lothian im weiteren Sinne des Worts,

war einfach ein Teil von Northumberland, der großen

Länderstrecke, welche manchmal unter einem König, manchmal unter zweien oder mehreren, sich vom Huniber bis zum Forth erstreckte. Lothian war damals, wie jetzt, ein rein germanisches Land, von einer hauptsächlich englischen Bevölkerung bewohnt, die damals wie jetzt den northumbrischen Dialekt des Englischen sprach.

In der Aus­

drucksweise der Schotten hießen das Land und die Bevölkerung Sachsen.

Ein Einfall nach Sachsen war eine beliebte Kriegsthat

der schottischen Könige, iiub sie hatten bereits begonnen, das nörd­ liche Bollwerk Sachsens, die von dem großen Northumbrier Bretwalda errichtete Grenzfestung Eadwinesburh oder Edinburg mit aufmerksamen Blicken zu betrachten. Hier also schottischen Nation.

haben wir

die drei Bestandteile

der heutigen

Die wirklichen Schotten oder die irische Be­

völkerung nördlich des Forth; die Waliser von Strathclyde oder Northumberland; die Engländer von Lothian.

Von diesen bestehen

die ersten und die letzten noch und sprechen noch ihre besondere Sprache, wenn auch immer, seit sie in Berührung mit einander gerieten, das englische Element vorangeschritten ist, während das irische zurückging.

Das walisische Element ist seitdem schon lange

durch das englische absorbirt worden.

Das alte walisische König­

reich besteht nicht mehr als gesonderter Teil; es ist zwischen dem

252 Die Beziehungen zwischen den Kronen von England und Schottland.

heutigen England und dem heutigen Schottland geteilt nnd seine Sprache besteht nur noch in einigen Begriffen lokaler Nomenklatur, die nur durch eifrige Altertumsforscher und Philologe» nachgewiesen werden können. Aus der Verschmelzung dieser drei Elemente erhob sich die schottische Nation, und ihre Verschmelzung geschah durchaus in Folge der Beziehungen, in ivelche sie zu der vorherrschenden eng­ lischen Macht im Süden traten. Im Jahr 924 reichte das Reich König Eduard des Älteren bis zum Humber. Jenseits dieses Flusses hatten die Schotten und die Waliser von Strathclyde nie die Übermacht irgend eines westsächsischen Königs anerkannt. Northumberland, natürlich mit Einschluß Lothians, könnte als einer Art von Vasallentum unterliegend angesehen werden, denn das ganze Land hatte die Oberherrschaft Egberts anerkannt und Alfred gegen­ über seine Unterwerfung sogar erneuert. Im Jahr 924 wurde nach Ausweis unserer nationalen Chroniken die Unterthänigkeit Northumberlands in einer feierlicheren Weise wieder bestätigt; und mit der Wiedcrbestätigung der Unterthänigkeit Northumberlands erhielt Eduard gleichzeitig — was kein westsächsischer König vor ihm erhalten hatte — die Unterwerfung der Schotten und der Waliser von Strathclyde. Alle die Könige nnd Fürsten nördlich vom Humber unter Zustimmung ihrer Unterthanen erwählten, „Eduard zum Vater und Herrn". Nach der lateinischen Ausdrucks­ weise „empfahlen sie sich ihm an"; sie versprachen ihm Treue und stellten sich unter seinen Schutz. Dies ist der Ursprung der englischen Ansprüche auf die Oberherrschaft über Schottland, es ist zugleich der Ursprung der engen Verbindung zwischen den drei Landesteilen, die sich gur Bildung des heutigen Schottland vereinigten. Alle drei, — das eigentliche Schottland, Strathclyde und Lothian (als ein Teil Northumberlands) wurden Vasallen­ staaten des Königs der Engländer. Andere Veränderungen folgten rasch, welche alle darauf hinzielten, die drei Landesteile fester

Die Beziehungen zwischen den Kronen von England und Schottland. 253 zusammen zu schließen.

Die erste Veränderung mag für einen

Augenblick eine entgegengesetzte Wirkung gehabt haben.

Aethelstan

war der erste, der Northumberland, und Lothian als einen Teil desselben, dem englischen Königreich einverleibte. streckte sich so bis zum Forth.

Das Reich er­

Nach einigen Revolten der Dänen

wurde diese Einverleibung von Edred endgültig vollendet.

Mittler­

weile hatte Edmund in Folge eines Ausstandes in Strathclyde das Land

erobert,

und

dasselbe an Malcolm von Schottland

unter der Verpflichtung zu Kriegsdiensten verliehen.

Von dieser

Zeit an wurde es die Apanage des ältesten Sohnes des schottischen Königs.

Zu

Edreds

Zeit

kam

Edinburg in den Besitz der

Schotten, wir wissen nicht, durch welche Mittel. Zeit, unter Edgar oder unter Knut ich anderwärts erschöpfend



Zu einer späteren

diese Kontroverse habe

behandelt — wurde ganz Lothian dem

schottischen König abgetreten; wann und unter welchen Bedingungen dies geschah, bildet einen der streitigen Punkte. Wir finden also, früh im elften Jahrhundert die drei Länder — das eigentliche Schottland, Strathclyde und Lothian, — alle unter einem Herrscher vereinigt, und zwar wurde Strathclyde ge­ wöhnlich dem nächsten Erben dieses Königs verliehen.

Ein großer

Schritt war auf diese Weise zur Bildung des modernen schottischen Reichs und Volks vorwärts gethan.

Alle drei jedoch bildeten einen

Teil des englischen Gesammtreichs und waren der höheren Würde des westsächsischen oder englischen Königs unterworfen.

Die drei

Länder indessen standen in drei verschiedenen Arten der Beziehung zu ihrem Oberherrn, und die verschiedenen Beziehungen zwischen Schott­ land und

Strathclyde liefern eine der besten Illustrationen zu

jenen verschiedenen Arten der Beziehungen, sowohl zwischen Fürsten als zwischen Privatleuten, aus welchen der neuere und vollendetere Feudalismus nach und nach entstand. Was der ganzen Sache zu Grunde liegt, das ist das persön­ liche Verhältnis eines Mannes zu seinem Herrn.

Der schwächere

254 Die Beziehungen zwischen den Kronen von England und Schottland.

Teil empfiehlt sich

dem

stärkeren;

der Mann

Dienste, der Herr verspricht treuen Schutz.

verspricht treue

Der Besitz von Land

unter der Verpflichtung zu Heeresfolge oder zu

anderen Dienst­

leistungen ist kein wesentlicher oder ursprünglicher Bestandteil dieses Verhältnisses, sondern wurde demselben nach und nach und ohne Schwierigkeiten aufgeprägt.

Derartiges Land mochte ursprünglich

seitens des Herrn bewilligt sein und sein Eigentümer besitzt es unter den Bedingungen, über die man sich gerade geeinigt hatte, oder es mochte des Mannes eigener freier Besitz sein, den er dem Herrn übergab und den er als Lehen von demselben zurückerhielt. Aus diesen einfachen Elementen erwuchs schrittweise jenes sorg­ fältig ausgearbeitete Lehensrecht, das seine Vollendung im dreizehnten Jahrhundert erreichte,

jedoch dem zehnten

sicherlich fremd

war.

Doch zeigen, selbst im zehnten Jahrhundert, die verschiedenen Be­ ziehungen zwischen Schottland selbst und Strathclyde einen Fort­ schritt nach der streng feudalen Richtung.

Der König der Schotten

und das ganze schottische Volk erwählten Eduard den Älteren znin Vater und Herrn.

Der Beweggrund war ersichtlich;

Eduard war

mächtig und zielte offenbar auf die Eroberung der ganzen Insel ab.

Es war eine gute Politik, ihm auf halbem Wege entgegen

zu kommen; ebenso war es gute Politik und noch etwas darüber für alle christliche» Staaten der Insel, Eindringlinge zu wirksam Führung.

verbünden.

abgeschlossen werden,

Ein

sich gegen die heidnischen

solches Bündnis konnte nicht

wenn nicht

unter

westsächsischer

Die damalige Stellung von Wessex in Britannien war

in der That derjenigen nicht unähnlich, welche Preußen eben jetzt in Deutschland einnimmt?

Durch einen großen nationalen Beschluß

empfahlen der König und das Volk der Schotten sich dem west­ sächsischen König, gerade wie zahllose Staaten auf dem Kontinent * Die Ereignisse von 1870- 1871, namentlich die Annahme des kaiserlichen Titels seitens des Königs von Preußen — des Bretwalda Deutschlands — haben diese Ähnlichkeit noch größer gemacht.

Die Beziehungen zwischen den Kronen von England und Schottland. 255

es für angemessen erachten, sich dem Kaiser zu empfehlen, oder wie der Herzog der Normandie sich dem Herzog der Franzosen empfahl. Dies Berhältnis war weder befremdlich noch entwürdigend, es war dasselbe Verhältnis, in welchem der Theorie nach alle anderen Fürsten zu dem Kaiser standen. Dieser Anschluß des schottischen Königs und Volkes machte jedoch Schottland keineswegs zu

einem territorialen Lehen; noch

weniger hatte er irgend welche feudalen Nebendinge welche erst viel später erfunden wurden.

im

Gefolge

Im Verlauf der Kontro­

verse wurde behauptet, daß der englische König keine höheren Rechte über Schottland haben könne, weil Schottland anerkanntermaßen zu

gewissen

sei.

feudalen

Nebendingen

nicht

verpflichtet

gewesen

Die richtige Antwort würde gewesen fein, daß die Oberherr­

schaft

sich

aus

einer Zeit

herschrieb,

in

welcher

Nebendinge

dieser Art noch ganz unbekannt waren. Das eigentliche Schottland also, — das irische Land nördlich der Meeresarme, — war mit dem englischen König (oder, wie wir ihn in dieser Verbindung richtiger nennen sollten, dem englischen Kaiser) durch ein Band rein persönlichen Anschlusses verbunden. Strathclyde andererseits war ein früher Fall eines wirklichen terri­ torialen Lehens.

Edmund eroberte Strathclyde; er hätte es na­

türlich seinem eigenen Königreich einverleiben können.

Statt dessen

gab er das Land Malcolm zu Lehen unter der Bedingung der Heeresfolge

zu

Wasser

und

zu

Land.

Hier

haben

wir

ein

reines Lehen, wenn auch all die Spitzfindigkeiten und Schwierig­ keiten des Feudalrechts auf diesen Fall nicht angewandt werden können.

Das Vasallentum eines Teils von Strathclyde, nament­

lich der jetzigen Grafschaft Cumberland, wird von keinem schottischen Schriftsteller geläugnet.

Die schottischen Schriftsteller scheinen in

der That fast geneigt, das Lehensverhältnis von Cumberland zu übertreiben,

in der Absicht,

der Thatsache irgend einer Ober­

herrschaft über Schottland selbst zu entgehen.

Jedes Beispiel einer

256 Die Beziehungen zwischen den Kronen von England und Schottland.

Huldigung wird daher geschickt so dargestellt, als sei sie für Länder innerhalb der heutigen Gränzen Englands geleistet worden. Strathclyde war demnach ein territoriales Lehen, jedoch kein territoriales Lehen innerhalb des englischen Königtums. dagegen war ein integrirender Teil Englands. so gut eine northumbrische Stadt als Pork.

Lothian

Jedburgh war eben Unglücklicherweise ist

die Abtretung von Lothian, was den Zeitpunkt und die näheren Umstände anbetrifft, ein schwieriger und streitiger Punkt; wir be­ sitzen keine zeitgenössische Schilderung dieser Verhandlung, wie wir eine solche über die beiden andern besitzen.

Doch ist es kaum

möglich zu bezweifeln, daß die Absicht gewesen sein muß, der König der Schotten solle in Rücksicht auf Lothian nichts

als ein eng­

lischer Earl sein, ebenso wie er es später für andere Länder inner­ halb der späteren englischen Gränzen gewesen ist. Die drei Landstriche, welche das

heutige Schottland aus­

machen, wurden so in eine enge politische Verbindung unter ein­ ander gebracht, während sie zu gleicher Zeit in drei verschiedenen Beziehungsarten zu der kaiserlichen Krone von England standen. Hieraus folgte natürlich, daß die drei sich näher zusammenschließen mußten, und daß die ursprüngliche Verschiedenheit ihres Lehnbesttzes auf beiden Seiten in Vergessenheit geraten mußte.

Die schottischen

Könige bemerkten bald, daß das englische Lothian der bei weitem wertvollste Bestandteil ihrer Herrschaft war.

Sie identistzirten sich

nach und nach mit ihren englischen Territorien, und waren bestrebt, englische Kultur über den Rest ihrer Besitzungen zu verbreiten. Schon unter Macbeths Regierung waren Ansiedler aus England und Verbannte aus England ihnen willkommen,

welcher Art sie

immer waren; eingeborene Engländer, die ihres Besitzes durch den Eroberer beraubt waren, normannische Ansiedler in England, die mit jenem oder seinen Nachfolgern unzufrieden waren, alle fanden sie

eine

freigebige

Aufnahme

jenseit des Tweed.

Die

Heirat

Malcolms mit Margarethe bildete den großen Wendepunkt.

Die

Die Beziehungen zwischen den Krone» von England und Schottland. 257

Könige der Schotten wurden von dieser Zeit an wesentlich englische Fürsten, und das gerade in dem Augenblick, als französische Fürsten in England selbst zu herrschen begannen.

Das englische Lothian,

und alle diejenigen ihrer Territorien, deren Anglisirung ihnen ge­ lang,

bildeten

jetzt

das

wirkliche

Königreich

Schottland.

Die

wahren Schotten wurden von ihren eigenen Fürsten gewissermaßen aufgegeben; nach und nach gelangten sie dazu, einfach als unruhige Wilde angesehen zu werden, welche in irgend welcher Unterwürfig­ keit zu erhalten den neuen englischen Königen der Schotten nicht wenig Mühe verursachte.

So erlangten die englischen Unterthanen

des Königs von Schottland nach und nach den Namen Schotten und ihr Land den Nanien Schottland.

Ein Teil von England,

mit einem Wort, wurde von dem Rest unter dem Namen Schott­ land abgetrennt, und hielt das jenseits belegene wirkliche Schott­ land in einer etwas widerwilligen Zugehörigkeit.

Und so lange

die Könige des südlichen Englands Franzosen waren, so lange die Hossprache Englands die französische war, während die englische die Sprache Schottlands bildete, war der König der schottischen Gebiete in Wahrheit weit englischer als England selbst. So bildete sich das schottische Königreich nach und nach aus. Unter solchen Verhältnissen war es unmöglich, daß die verschiedenen Lehensbedingungen, unter denen der König der Schotten die drei Teile seiner Herrschaft in Besitz hatte, lange hätten im Gedächtnis bleiben solle».

Als das Lehensrecht sich, entwickelte, veralteten sie

und wurden nahezu unverständlich. auf

persönlicher

Cominendation

Daß der Besitz Schottlands

beruhte,

daß

Strathclyde

ein

territoriales Lehen war, jedoch ein zn altes Lehen, als daß es mit Abgaben oder mit Vormundschaft- und Heiratsteuer hätte belastet werden können, daß Lothian, genau genommen, eine englische Graf­ schaft war, dies waren Unterschiede, welche natürlich dem Gedächtnis entfielen.

Nach und nach gab es keine andere sichtliche Alternative,

als strikte Lehnbarkeit in dem Sinn, den sie später erhielt, oder Fre

e ma n

, bistor. Abhandlungen.

17

258 Die Beziehungen zwischen den Kronen von England und Schottland. das gänzliche Fehlen irgend welcher Art von Abhängigkeit.

Die

Abhängigkeit Schottlands von der kaiserlichen Krone Britannien war eine historische Thatsache; es lag daher auf englischer Seite die Versuchung nahe zu folgern, daß Schottland nur ein gewöhn­ liches Lehen sei, das sich nur nach Ausdehnung und Ansehen von irgend einer englischen Grafschaft unterscheide.

Andererseits war es

nicht minder eine historische Thatsache, daß Schottland niemals den an einem gewöhnlichen Lehen

haftenden Lasten unterworfen war;

es lag daher auf schottischer Seite die Versuchung nahe, jede Art irgend welcher Abhängigkeit in Abrede zu stellen.

In einer Zeit,

in der das entwickelte Lehensrecht beiden Teilen geläufig war, war es fast unmöglich, daß' einer von ihnen noch an den alten Formeln des zehnten Jahrhunderts hätte festhalten sollen.

Es lag in der Natur

der Dinge, daß der Herr mehr beanspruchen, und der „Mann" weniger bieten mußte, als jene Formeln vorschrieben. weniger, heißt das, in Bezug auf Schottland

Mehr und

und Strathclyde;

was Lothian, einen unbestrittenen Teil Englands angeht, so ist es klar, daß die englischen Könige weniger als ihr altes Recht be­ anspruchten.

Hierzu kommt noch, daß, außer in besonderen Ver­

hältnissen, der Befürchtung dänischer Einfälle oder dergleichen, jede Art von Unterwerfung,

von den Tagen der ersten Commendotion

an dem schottischen König und seinem Volk verletzend sein mußte. Die Huldigung, die dem Kaiser von Britannien gebührte, konnte niemals recht willig geleistet werden.

Sie mochte geleistet werden,

wenn England stark und Schottland schwach war; war England schwach, so mochte sie verweigert, vielleicht nicht gefordert werden. Huldigung für das eigentliche Schottland wurde Edgar, Knut, Eduard, Wilhelm geleistet;

es ist nirgends ersichtlich, daß sie je

dem schwachen Ethelred geleistet worden wäre.

Dann in späteren

Zeiten wurde die gebührende Huldigung für die verschiedenen Be­ standteile dessen, was das Königreich Schottland geworden war, mit

verschiedenen

anderen

Fragen

vermengt.

Die

Könige

der

Die Beziehungen zwischen den Kronen von England und Schottland. 259 Schotte» besaßen ohne Zweifel Territorien innerhalb der späteren Gränzen Englands, sowohl Königreiche als Privatbesttzungen, für welche sie jedenfalls ebenso zur Huldigung verpflichtet waren, wie irgend welcher englische Edelmann. So oft ein König der Schotten Huldigung leistete, war es immer möglich die Frage aufzustellen, ob die Huldigung für das Königreich Schottland, oder nur für den Länderbesitz in England geschah. In vielen Fällen mochte es dem Herrn wie dem Vasallen gleich angemessen erscheinen, eine so schwierige Frage nach beiden Richtungen unentschieden zu lassen. Dann legte Heinrich der Zweite seinem Gefangenen, Wilhelm dem Löwen, Be­ dingungen auf, welche zweifellos über alle vorhergegangenen Ansprüche weit hinausgingen. Richard der Erste befreite Schottland von diesen neuen Lasten; befreite er es nun auch von jeder Abhängigkeit irgend welcher Art, oder nicht? Hier also fand sich reichliches Material für einen nimmer endenden Streit, einen Streit, in welchem sicher­ lich keine Partei jemals streng im Recht sein konnte, wenn das Recht im Festhalten an alten Präcedentien bestand, welche nicht mehr verstanden wurden. Hier entstanden fortwährend Fragen, welche keinerlei zufriedenstellende Übereinkunft zuließen, Fragen, die zu verschiedenen Zeiten in verschiedener Weise und unter verschiedenen Verhältnissen beantwortet werden mußten. Wenn ein schwacher König von England durch innere Schwierigkeiten aller Art zu Hause bedrängt wurde, während ein stammverwandtes und popu­ läres Regentenhaus auf dem Thron Schottlands saß, so war es unwahrscheinlich, daß die englischen Ansprüche sehr wirksam ver­ folgt werden konnten. Die Sache änderte sich, als England von dem größten König seiner Zeit, wohl nahezu dem größten englischen König irgend einer Zeit, beherrscht wurde, und als eine Schaar gleichzeitiger Bewerber um die schottische Krone sich beeiferte, ihm ihre streitigen Ansprüche zu Füßen zu legen. Die Forderung, die Eduard der Erste damals stellte, war, wie ich schon bemerkte, eine Forderung, die zu stellen er gerechte 17*

260 Die Beziehungen zwischen den Kronen von England und Schottland. Ursache hatte,

die jedoch zu bekämpfen der andere Teil gleichfalls

gerechte Ursache hatte.

Es war leicht zu beweisen, daß Schottland

England eine gewisse Unterthänigkeit schuldete; es war ebenso leicht zu beweisen, daß Schottland nicht zu einer Unterthänigkeit verpflichtet war, welche der eines gewöhnlichen englischen Lehens entsprach.

Ge­

wöhnliche und schlecht unterrichtete schottische Schriftsteller ergreifen immer diese Gelegenheit, Schmähungen jeder Art gegen Eduard zu schleudern,

anscheinend

Geltung brachte.

weil

er

seine

Besser unterrichtete

Ansprüche

überhaupt

zur

und unbefangenere Schrift­

steller derselben Partei, die die Thatsachen kennen, und die keinen Versuch machen dieselben zu entstellen,

begnügen sich damit, ihn

eines unedel« und unritterlichcn Verfahrens zu bezichtigen.

Dieser

Mangel an Edelmut und Ritterlichkeit scheint darin bestanden zu haben, daß er Staatsmann genug war, einen Vorteil zu erkennen und sich zu Nutze zu machen. Könige und Regierungen

Ich möchte fragen, ob selbst jetzt

sich unter einander

viel Edelmut und

Ritterlichkeit erweisen, oder ob es vernunftgemäß erwartet werden kann, daß

sie viel derartige Gefühle

an den Tag legen sollen?

Ein Engel auf Erden, wie der heilige Ludwig,

mag anders han­

deln ; von gewöhnlichen, irdischen Könige», Präsidenten oder Premier­ ministern erwartet man nicht mehr, als daß sie niemals, zu keiner Zeit

und

an

keinem

Ort

offenbar unehrenhaft sind.

Forderungen geltend

machen,

welche

Wenn eine Forderung einen gerechten

Grund hat, ans den sie sich stützen kann, so gilt es allgemein für eine reine Frage der Politik, sie in der Form, zu der Zeit und an dem Ort geltend zu machen, an dem sie mit der größten Wirkung betrieben werden kann. teste Zeit für einen und des

Ritterlichkeit dreizehnten

Derjenige, der statt der besten die schlech­

solchen Zweck wählt, zeigen;

noch

des

doch

wird

neunzehnten

mag vielleicht Edelmut

kein

Staatsinann,

Jahrhunderts,

weder

eine hohe

Meinung von seiner Klugheit hegen. Eduard also verfocht nach meinem Dafürhalten eine gerechte

Die Beziehungen zwischen den Kronen von England und Schottland. 261

Sache, eine Sache, die, wie ich glaube, einen gewöhnlichen An­ spruch eines ehrlichen Mannes an einen gewöhnlichen Gerichtshof rechtfertigen würde. Er beanspruchte ein altes Recht seiner Krone, welches seine Vorgänger ausgeübt hatten, wenn immer sie dazu im Stande waren: er beanspruchte es in der einzigen Gestalt, die der Anspruch zu seiner Zeit vermutlich annehmen konnte. Wenn er in einigeil Punkten mehr forderte, so forderte er in anderen Punkten weniger, als wozu alte Präcendensfälle ihn berechtigt hätten. Beim Lesen der langwierigen Erörterungen während des groben Pro­ zesses vor dem Oberherrn überraschen uns zwei Dinge immer wieder. Die ganze Angelegenheit hatte sich durchweg auf die Frage rednzirt, ob das Land nördlich des Tweed, als ein Ganzes be­ trachtet, ein Lehen Englands sei, oder nicht. Aber wieder und wieder treffen wir auf verschiedene Anzeichen, welche auf ein un­ bestimmtes Gefühl, auf eine Art von verborgener Erinnerung daran hindeuten, daß der wirkliche historische Ursprung ein nicht ganz so einfacher war. Hier und da findet sich ein Ausdruck, der eine gewisse Unterscheidung bedingt zwischen Schottland, Lothian und Galloway, welches das alte Strathclyde vertritt. Allge­ meiner noch finden wir auf allen Seiten ein sehr deutliches Gefühl dafür, daß ein Königreich, selbst wenn es zu Lehen gegeben wurde, sich auf die eine oder die andere Weise von einem gewöhnlichen Lehensbesitz unterschied. Bemerkenswerter als alles andere sind zwei Textstellen, in denen der Oberherr den alten und jetzt fast vollständig vergessenen Titel eines Kaisers erhält. In einem der ältesten auf die Frage bezüglichen Dokumente, älter als die große Konferenz zu Norham erbittet Robert Bruce das Königreich Schottland von Eduard als von seinem Oberherrn und Kaiser."' Ebenso, als die Frage aufgestellt wurde, ob der Streit zwischen den Bewerbern nach dem kaiserlichen Gesetz oder nach einem andern * Palgrave, Documenta, p. 29 „Sire Robert de Brus .... prie a nostre Seigneur le Rey come soii Sovereign Seigneur e sonEmpreur,“

262 Die Beziehungen zwischen den Kronen von England und Schottland.

zu entscheiden sei, antwortet einer der um Rat gefragten Prälaten, dah der König von England dem Gesetze seines eigenen Reiches folgen müsse, da er selbst Kaiser in seinen eigenen Landen sei.* Und Textstellen sind sehr häufig, in denen der Freiheit von aller Unter­ werfung unter das Kaisertum und unter die Gesetze des Kaisertums Erwähnung geschieht als einer Art Vorrecht der Krone von Eng­ land, und Schottlands als eines Gliedes derselben. natürlich

die

alte

Ansicht.

Der

König

der

Dies war

Engländer

war

innerhalb seines eigenen Landes dasselbe, was der Kaiser in der übrigen Welt war.

Er schuldete dem Cäsar keine Unterwerfung,

und er selbst stand allen andern Fürsten Britanniens gegenüber anstatt des

Cäsars.

Die

kaiserliche

Stellung

Könige muß völlig begriffen werden,

der

altenglischen

ehe die wahre Statur des

schottischen Unterthanenverhältnisses verstanden werden kann. der

Nach

Vorstellung vom Kaisertum in seiner weitesten Ausdehnung

schuldeten alle Reiche, Schottland natürlich einbegriffen, dem römischen Kaiser Unterwerfung.

Unsere westsächsischen Könige jedoch machten

für Britannien eine Ausnahme,

da dies gewissermaßen eine Welt

für sich sei, und verlangten innerhalb ihrer Grenzen selbst Kaiser zu sein.

Diese alte, seit jener Zeit fast vergessene Stellung wird

von dem älteren Bruce sowohl als

von dem Bischof angerufen.

Doch in der Regel wird die Angelegenheit einfach zu einer Frage des Bestehens oder Nichtbestehens eines Lehensverhältnisses, unter Berücksichtigung einiger besonderen Vorrechte, die einem Lehen, das zugleich ein Königreich war, zustanden. Man muß

sich

erinnern,

daß

Eduard

dazu aufgefordert

worden war, die streitige Erbfolge der schottischen Krone zu ent* Bishanger, ed. Riley» p. 255. „Epiacopus Bibliensis requiaitua dixit, quod Dominus Rex seoundum leges per quas judicat subjectos 8uo8 debet procedere in casu isto, quia hic oensetur Imperator“. Ich gestehe, daß ich nicht weiß, wer der „Episcopus Bibliensis“ war. Ich kann nur vermuten daß er irgend ein Bischof in partibus gewesen sei, viel­ leicht von Byblos in Syrien.

Die Beziehungen zwischen den Kronen von England und Schottland. 263 scheiden. Er war hierzu aufgefordert von Robert Bruce, von den sieben Earls*, und von den Schotten im Allgemeinen. Die sieben Earls appellirten an ihn als an ihren natürlichen Beschützer gegen das ihnen durch die Regenten zugefügte Unrecht. Robert Bruce rief ihn, wie wir sahen, in der alten Stellung eines Kaisers von Britannieil an. Kann nun irgend ein vernünftiger Mensch Eduard dafür tadeln, daß er von denjenigen, die auf solche Weise seine Vermittlung anriefen, eine völlige Anerkennung seiner Ansprüche verlangte? Nach dem Urteil jedes Staatsmanns war jetzt der Moment gekommen, das zu sichern, was bisher unsicher gewesen war. Eduard brachte seinen Anspruch vor, einen guten und ehr­ lichen Anspruch, der in gutem Glauben ausgesprochen wurde. Ohne Zweifel hätte in Bezug auf einige Punkte dem Anspruch eine ebenso ehrliche Antwort zu Teil werden sollen; aber es erfolgte keinerlei Antwort. Nach kurzem Zaudem erkannten sämmtliche Bewerber um die Krone Eduards Ansprüche auf die Oberhoheit in ihrer vollsten Ausdehnung an, und sie überließen ihm, wie es sicherlich vernunftgemäß war, den zeitweiligen Besitz des streitigen König­ tums. Und, wenn je eines Mannes Verhalten sich durchweg durch Gerechtigkeit und Uneigennützigkeit auszeichnete, so war das Ver­ halten König Eduards im Verlauf dieser ganzen Angelegenheit ein solches. Jeder Bewerber wurde eingehend und gerecht gehört; das Urteil erfolgte zu Gunsten des Bewerbers, dem ersichtlich das beste Recht zur Seite stand; dem neuen König wurde sofort der volle Besitz seines Reichs mit allem Zubehör eingeräumt. Die meisten Fürsten jener Zeit, und wohl auch manche anderer Zeiten, würden irgend eine Entschuldigung dafür gefunden haben, das Königreich selbst zu behalten, oder sich doch irgend ein Schloß in demselben, oder irgend sonst einen andern wesentlichen Halt vorzubehalten, das heißt, die meisten Fürsten würden in der schottischen Angelegenheit nach Maßgabe der Handlungsweise Philipp des Schönen in der

264 Die Beziehungen zwischen den Kronen von England und Schottlands

aquitanischen Angelegenheit gegen Eduard gehandelt haben. Eduards Verhalten

war

durchaus

ehrenhaft

und

offen.

Er

verlangte

die Anerkennung seiner Ansprüche; er erlangte dieselbe;

er han­

delte hiernach gerecht und ehrenhaft entsprechend der Theorie von seiner eignen Stellung, die er aufgestellt und die alle seine Mitbe­ werber anerkannt hatten.

Und, mehr als dies alles, er verwarf

den verführerischen Vorschlag von Hastings und Bruce, das König­ reich zu teilen.

Hätte Eduard gewünscht irgend eines

Vorteils sich zu bedienen, so war hier die Gelegenheit.

unehrlichen Zwei der

Mitbewerber verlangten, als sie ihre Ansprüche auf das ganze Reich zurückgewiesen sahen, einen Teil, entsprechend dem englischen Herkommeit im Fall weiblicher Lehen.

Kein Vorschlag konnte ver­

führerischer sein, wenn Eduard etwas anderes gesucht hätte, als was er seiner ehrlichen Überzeugung nach als sein Recht erachtete. Es lag offenbar in seinem Interesse, lieber drei schwache Vasallen, als einen starken zu haben.

Aber Eduard, wie er dies überhaupt

im Verlauf der ganzen Angelegenheit that, forschte ruhig nach den Gesetzen und den Präcedensfällen,

und entschied, in Übereinstim­

mung wenigstens mit neueren Gesetzen und Präcedensfällen, daß das Königreich Schottland nicht geteilt werden könne.

Eduard

mag eine falsche Ansicht von seinen eigenen Rechten gehegt haben; doch niemand steht freier da von dem Vorwurf unehrlichen oder versteckten Handels, als er. Die Mitbewerber also,

der neue König, die Großen

Reichs im Allgemeinen, erkannten Eduards Ansprüche an.

des

Indeß

kann man bezweifeln, und es ist bezweifelt worden, in wie weit sie wirklich der

Stimmung des schottischen Volks Ausdruck gaben.

Wir dürfen nie vergessen, wer diese Mitbewerber «nd die anderen Großen wirklich waren.

Keiner der Mitbewerber und verhältnis­

mäßig wenige der Großen des Reichs waren eingeborene Schotten, weder in dem früheren noch in dem späteren Sinn. Wenn wir fremde.Fürsten, wie Erich von Norwegen und

Die Beziehungen zwischen den Kronen von England und Schottland. 265

Florenz von Holland bei Seite lassen, so waren Brnce, Balliol, Comyn, Hastings und die übrigen weder Dalriadische Schotten noch Waliser von Strathclyde, noch Engländer von Lothian. normannische Edle,

Sie waren

die Ländereien in England wie in Schottland

besaßen, die nach Beliebe» ihr Loos mit dem Englands oder Schott­ land

verbinden konnte», die sich jedoch häufiger an England an­

schlossen. das

Balliol und der ältere Bruce waren wesentlich Engländer,

heißt Engländer in dem Sinn, in dem jeder

andere eng-

liche Edelmann normannischer Abstammung ein Engländer war. John Comyn von Buchan war iiiimer ei» treuer Anhänger Eduards; John Comyn von Badenoch und der jüngere Bruce identifizirten sich rückhaltloser mit Schottland.

Doch keiner von ihnen war nach

ethnologischen Begriffen ein Schotte, keiner von ihnen war selbst in dem Sinn ein Schotte, daß er ein Eingeborener und Bewohner Schottlands war, ohne alle Interessen außerhalb der Gränze dieses Landes.

John Balliol besaß sowohl Ländereien in Schottland und

England als in Frankreich,

Nachdem er in Schottland ein König

und in England ein Gefangener gewesen war, beschränkte er sich darauf, als französischer Edelmann auf seinen französischen Be­ sitzungen zu leben.

Solche Leute repräsentirten nicht wirklich die

Gefühle irgend eines Teils des schottischen Volkes, und sie konnten dieselben auch nicht repräsentiren.

Der Erfolg bewies, daß in dem

Herzen der Nation ein Gefühl gegen die englische Herrschaft in irgend welcher Form bestand, welches die hohen Adligen teilten.

Die scheinbare Zustimmung war jedoch allgemein.

nicht

Eduard

konnte sich rühmen, wie sein großer Namensvetter und Vorfahr, daß der König von Schottland und das ganze schottische Volk ihn zum Herrn und Vater erwählt hätte».

Und abermals können wir

fragen, was war das schottische Volk? Es ist klar, daß die ganze Angelegenheit eine solche war, an der die ursprünglichen Schotten keinen Anteil nahmen, oder einen Anteil, der dem feindlich gegen­ überstand, was gewöhnlich als die schottische Sache betrachtet wird.

266 Die Beziehungen

zwischen den Kronen von England und Schottland.

Die Schotten, die Eduard widerstanden, waren die Engländer von Lothian. gegen die

Die wirklichen Schotten verbanden sich aus Haß

benachbarten

„Sachsen".

„Sachsen"

mit

den

weiter

entfernten

Ehrliche schottische Schriftsteller geben zu, daß die

wirklichen Hochlandschotten dem jüngeren Bruce bitter Feind und gegen Eduard entschieden freundlich gesinnt waren.

Zweifellos

mußte Eduard, hätte er einmal Besitz ergriffen, bald der Gegenstand ihrer Feindschaft werden.

Wie die Sache jedoch lag, waren die

ächten Schotten treue Verbündete Eduards gegen die Engländer von Lothian. Wir sehen also Eduard als anerkannten Oberherrn und John von Balliol, den zweifellos gesetzlichen Erben, als seinen Vasallen regieren.

9tun kommt die Frage der Berufungen.

Es erhellt nicht,

daß jemals früher eine Berufung von dem Gerichtshof des Königs von Schottland an den Hof des Königs von England erfolgt sei.

Wir

können uns fest überzeugt halten, daß man im zehnten Jahrhundert niemals von solchen Spitzfindigkeiten träumte.

Aber die Idee einer

Berufung an das Gericht des Oberherrn erwuchs naturgemäß aus den Grundsätzen der neuen feudalen Rechtskunde.

Eduard selbst routbt

als Herzog von Aquitanien oft vor die Gerichte des Königs von Frankreich vorgefordert, und er scheint dem König von Frankreich das Recht, ihn vorzufordern, nicht bestritten zu haben. Doch können wir uns fest überzeugt halten, daß Eduards Vorgänger in Aqui­ tanien' im 10. Jahrhundert eben so wenig daran dachten, ein solches Zeichen der Unterwerfung ihrem Herrn zu Laon oder Paris zu erweisen, als seine Vorgänger in Wessex zu derselben Zeit daran dachten, irgend ein solches Zeichen der Unterwerfung von ihren Vasallen jenseits des Forth zu fordern.

Die gesammte Kenntnis

eines ausgearbeiteten Systems solcher Gerichte, welche derartige Be­ rufungen festsetzen konnten, ist späteren Datums, als die früheste für Aquitanien, wie für Schottland geleistete Huldigung.

Sie

konnte kein Teil des ursprünglichen Handels in beiden Fällen sein,

Die Beziehungen zwischen den Kronen von England und Schottland. 267

doch in beiden Fällen wuchs der Anspruch mit der schrittweisen Ent­ wickelung der feudalen Ideen empor.

Und,

nach

dem Allem,

waren es die Schotten selbst, die ans der Thatsache der Oberherr­ schaft Eduards über ihr Reich den Schluß zogen, daß sie an seine Gerichte appelliren müßten. Zwei schottische Unterthanen in sehr ver­ schiedener Lebensstellung, Roger Bartholomew, Bürger von Berwick, und Macduff, ein naher Verwandter des Earl von Fife — sicher­ lich ein eingeborener Schotte, wenn es je einen solchen gab —, unzufrieden mit dem Recht, das in den Gerichten des Königs der Schotten zu finden war, appellirten an die Gerichte seines anerkannten Lehensherrn.

Die Sache war eine Neuheit; aber sie war eine

ersichtliche Folge eines Zustands der Dinge, der jetzt allgemein an­ genommen war, und sie war keine Neuheit von Eduards Erfindung. Die gewöhnliche menschliche Natur auf Seiten Eduards

konnte

nicht wohl zurückweisen, was als eine so ehrliche und anständige Gelegenheit erschien, seine Macht zu vermehren.

Aber die gewöhn­

liche menschliche Natur auf Seiten der Schotten konnte kaum um­ hin durch das beleidigt zu sein, was als eine weitere Erniedrigung Schottlands erscheinen mußte. Zunächst folgte nun die schottische Allianz mit Frankreich, das sich damals mit England im Krieg befand, eine Allianz, die nach und nach zu einer Reihe gegenseitiger Feindseligkeiten führte, deren ausführlicher Schilderung es nicht bedarf, da sie keinen unmittel­ baren Einfluß auf die Beziehungen der beiden Kronen zu einander haben.

Die wichtigen Punkte sind, daß die ersten Feindseligkeiten

von Seiten der Schotten erfolgten, und daß der König der Schotten, sobald der Krieg wirklich begonnen hatte, seine Huldigung ver­ weigerte. Das Verlangen nach nationaler Unabhängigkeit mochte gerecht und angemessen sein; der Versuch jedoch dieselbe durch einen Pro­ zeß des Lehensrechts zu behaupten, war einfach thöricht. Dann im Zahr 1296 eroberte Eduard Schottland und nahm die Abdankung

268 Die Beziehungen zwischen den Kronen von England und Schottland. des Königs und die allgemeine Unterwerfung des Landes entgegen. Das Reich war sein eigen durch Eroberung in einem gerechten Krieg, den er nicht gesucht hatte. Ich will nicht behaupten, das; die Schotten nicht völlig berechtigt gewesen seien, sich gegen ihn zu empören. Ich behaupte nur, daß Eduard völlig berechtigt war, Schott­ land zu besetzen und solche Euipörnngen niederzuwerfen. Mit der Eroberung von 1296 erreicht die Geschichte der alten Beziehungen der Kronen ihr Ende. Von 1296 bis J 328 war die Frage nicht, ob Schottland unter einem eigenen König in Lehensabhängigkeit von England gehalten werden sollte, sondern ob Schottland, wie Rorthumberland und Wales dies zu verschiedenen Zeiten geworden waren, ein wirklicher Teil des englischen Reichs werden sollte. Mittlerweile hatte sich in Schottland eine neue Dynastie, die der Bruce, erhoben. Im Jahre 1328 wurden die Legitimität der neuen Dynastie und die Unabhängigkeit des schottischen Königreichs von England völlig anerkannt. Von diesem Tage an niüsse» Kriege zwischen England und Schottland nach denselben Grundsätzen be­ urteilt werden, wie Kriege zwischen irgend welchen andern unab­ hängigen Nationen. Der Verzicht von 1328 verwischte die erste Commendation von 924; er verwischte, was wir die zweite Commendation von 1292 nennen können; er verwischte die Eroberung von 1296. Die von den englischen Königen unternommenen Ver­ suche, den früheren Stand der Dinge wieder herzustellen, eine Huldi­ gung wieder zu verlangen, die sie ausdrücklich aufgegeben hatten, Prätendenten gegen eine Dynastie aufzustellen, deren Rechte sie aus­ drücklich anerkannt hatten, waren einfach ehrlos. Die Anschuldi­ gungen des Betrugs, der Treulosigkeit und dergleichen, welche schottische Schriftsteller höchst nngerechterweise gegen Eduard I. vorbringen, können alle mit vollem Recht gegen Eduard III. vor­ gebracht werden. Den kleinen Rauin, der mir noch bleibt, will ich verwenden, NM ein oder zwei populäre Mißverständnisse darzulegen. Ich

Die Beziehungen zwischen den Kronen von England und Schottland. 269

glaube, daß man im Allgemeinen die Chronologie der Sache ganz verkennt. Man glaubt, daß Eduards ganze Negierung in einem Versuch aufging, Schottland zu erobern. Statt dessen wurde nur der letzte Teil seiner Negierung überhaupt von schottischen Ange­ legenheiten in Anspruch genommen. Eduards Regierung begann im Jahre 1272. Im 19. Jahr derselben, im Jahr 1291, begann die Konferenz von Norham. 1296 kamen die ersten Feindseligkeiten und die erste Eroberung. 1297 folgte der Aufstand William Wallace's und sein Sieg bei Stirling. 1298 erdrückte die Schlacht von Falkirk den Aufstand, doch der Krieg zog sich hin bis zur Übergabe von Stirling im Jahr 1304. In diesem Jahr war Eduard abermals unbestrittener Herr von ganz Schottland. Schott­ land wurde mit England als wirklicher Teil des Reichs vereinigt, und sollte im englischen Parlament vertreten werden. Im Jahr 1306, dem Jahr vor Eduards Tod, folgte die Ermordung Comyns, die Erhebung und die Krönung des jüngeren Bruce. Bei Eduards Tod, im Jahr 1307, war der neue König bereits wieder ein Flüchtling. Ich spreche von den Kriegen der Wallace und Bruce als von Anfständen. Ihre Aufstände mögen, wie manche andere Aufstände, zu rechtfertigen gewesen sein, aber es waren Aufstände. Keiner von ihnen, Bruce weit weniger als Wallace, bekämpfte einen Ein­ dringling. Was William Wallace betrifft, so dürfen wir ihn weder als den fehlerlosen Helden, als welcher er in der schottischen Dichtung, noch als den gemeinen Raufbold betrachten, als welcher er in der englischen Geschichte erscheint. Sein Machtbesitz in Schott­ land war von sehr kurzer Dauer, aber der Umstand, daß ei» Mann, der von nichts ausging, wenn auch mir für einen Augen­ blick sich bis zum Oberbefehl über Armeen, ja selbst bis zur Beherr­ schung eines Reichs erhob, zeigt, daß er einige sehr große Eigenschaften besessen haben muß. Daß die hohen Adligen ihn vermieden, oder ihn nur sehr schwach unterstützten, spricht eher zu seinen Gunsten; es

270 Die Beziehungen zwischen den Kronen von England und Schottland. stellt ihn deutlicher als einen nationalen Helden dar.

Andererseits

ist es unmöglich, die rohen Gewaltthaten in Abrede zu stellen, die er

in England

beging, Gewaltthaten,

welche zur Genüge den

grimmen Haß erklären, mit dem jeder englische Schriftsteller von ihm spricht, und die sicherlich keine Vergeltung sür irgend welche Grausamkeiten

von Seilen Eduards waren.

Ehrliche schottische

Schriftsteller gestehen zu, daß Eduard keinerlei zwecklose Metzeleien oder Räubereien zur Last gelegt werden können.

Im ganzen Ver­

lauf seiner Kriegführung ist er mit nichts zu belasten, was selbst unsere Zeit als Grausamkeit bezeichnen würde, mit Ausnahme der Erstürmung Berwicks, bei welcher Gelegenheit die persönlichen Be­ leidigungen der Belagerten ihn zur Wut aufgestachelt zu haben scheinen.

Zu anderen Zeiten finden wir nichts derart, wir sehen

ihn dagegen die Grausamkeiten anderer, mit Einschluß seines eigenen unwürdigen Sohns, beschränken und verweisen.

Was die Hin­

richtung William Wallace's anbelangt, so sollte man im Gedächtnis behalten» daß es das einzige schottische Blut war, welches vor dem Mord Comyns von einem englischen Henker vergossen wurde, und daß er sein Schicksal selbst über sich herauf beschwor. Mann in Schottland hatte sich unterworfen.

Jeder andere

Wallace wurde auf­

gefordert, sich der Gnade des Königs zu ergeben.

Diese Gnade

erstreckte sich aus jeden, der sie nachsuchte, mit Einschluß vieler, die ihre Eide Eduard wieder und wieder gebrochen hatten. wies sie zurück, und zwar in schmähender Weise.

Wallace

Er wurde von

Sir John Menteith, dem Befehlshaber Eduards zu Dunbarton, ergriffen, eine Handlung amtlicher Pflicht, die befremdlicher Weise zu einem Verrat gestempelt wurde.*

Er konnte nun schwerlich die

Gnade erwarten, die er verschmäht hatte.

In den Augen Eduards

wie in denen eines jeden Engländers war er ein Verräter, Räuber, * Wallace wurde „verraten", nicht von Menteith» sondern a n Menteith von seinem eigenen Diener Jack Short. Hieraus zieht der englische Chronist Peter Langtoft den Schluß, daß es unter Dieben keine Ehre gebe.

.Die Beziehungen zwischen den Kronen von England und Schottland. 271 Mörder der schlimmsten Art.

Gegen solche Menschen nahm das

Gesetz im Jahre 1305 ebenso wie im Jahr 1745 seinen Lauf. Der Aufstand Robert Bruce's

war

in jeder Hinsicht viel

weniger zu rechtfertigen, als der William Wallace's.

Wallace war

bestimmt ein eingeborener Schotte im weiteren Sinne des Wortes. Sein Name scheint zu ergeben, daß er ein Waliser von Strathclyde war.

Nach seiner eigenen Versicherung hatte

niemals Treue geschworen. sehr verschiedene.

er Eduard

Die Stellung Robert Bruce's war eine

Er ist eine so völlig mythische Persönlichkeit ge­

worden, daß es nötig sein mag, manchen Leuten zu erklären, wer er war.

Eine schottische Dichtung geht sogar so weit, ihn Eduard

den Ersten bei Bannockburn schlagen zu lassen.

Eine andere, älteren

Ursprungs, identifizirt ihn mit seinem eigenen Großvater, macht ihn zum Mitbewerber um die Krone, läßt ihn jedoch zugleich eine Huldigung für dieselbe stolz zurückweisen. Robert Bruce Unterthan kennen,

der

Wir haben gesehen, daß

Großvater ein Engländer war,

Eduards,

beflissen

Eduards

ein treuer

Oberherrschaft

bereit das Königreich teilen zu lassen.

anzuer­

Sein Sohn war

eine äußerst unbekannte Persönlichkeit, die keine Rolle in der Politik jener Zeit spielt.

Sein Enkel, der zukünftige König, durch seine

Mutter Besitzer ausgedehnter Ländereien in Schottland,

scheint

immer mehr nach der schottischen als nach der englischen Seite ge­ neigt zu haben.

Dennoch war er Eduards Unterthan; er hatte

ihm wiederholt geschworen, und Dienste unter ihm gethan.

Zu­

letzt, als das Land in Frieden, als Eduards Herrschaft allgemein anerkannt war, ermordete Robert Bruce auf verräterische und kirchenschänderische Weise den John Comyn, den Mann, nicht zu vergessen, der nach der männlichen Linie von Balliol zweifellos der Erbe der schottischen Krone war.

Nach einem solchen Ber­

brechen konnte keine Hoffnung auf Vergebung mehr bestehen.

Bruce

spielte dann ein verzweifeltes Spiel; er nahm die Königswürde an; so lange der große Eduard lebte, lebte er das Leben eines Geächteten

272 Die Beziehungen zwischen den Kronen von England und Schottland.

und Landstreichers; über Eduards verächtlichen Sohn geivann er einen leichten Triumph.

Robert Bruce erwies sich zuletzt zweifellos

als ein großer Heerführer und ein großer König; doch diese That­ sache sollte keinem über den niederträchtigen Beginn seiner Laufbahn die Augen verschließen. teiligt waren,

ihre

Daß alle, die an dem Mord Comyns be­

verdiente

Strafe erlitten,

wen

könnte dies

Wunder nehmen? Wen kann es Wunder nehme», daß das Strafmaß für die übrigen Rädelsführer des Aufstandes ein geringeres war? Die Art und Weise der Bestrafung, die Art des Todes,

der

Grad der Härte der Einkerkerung sind Streitfragen zwischen den Gewohnheiten eines Jahrhunderts und denen eines andern; aber es ist ganz sicher, daß Eduard nie weder Mann noch Weib bestrafte, die nicht auch zur heutigen Zeit als strafwürdig erschienen wären. In der That, wenn wir auf die von lebenden Engländern in In­ dien und Jamaika begangenen und gerechtfertigten Grausamkeiten blicken, braucht König Eduard vor einem Vergleich nicht zu er­ röten.

Der Mann, der feinen Feinden wieder und wieder verzieh,

der den Grausamkeiten seines eigenen Sohnes Einhalt that, der bei Unterdrückung von drei Empörungen keinen Mann zu Tode brachte, welcher nicht zum Verrat den Mord gefügt hatte, der, mit der einzigen Ausnahme der Erstürmung einer Stadt, den Krieg mit beispiel­ loser Milde führte,

würde kaum am Sarge eines Hodson seine

Verehrung bezeugt, oder sich am feierlichen Empfang eines Eyre beteiligt haben. Nun

noch

ein

Wort.

Ich

land seine Unabhängigkeit gewann.

bedauere

nicht, daß

Schott--

Ich kann die Bildung einer

Nation von wesentlich englischer Abstammung und Sprache nicht bedauern, einer Nation, ivelche bald viele edle Eigenschaften ent­ wickelte, und sich der Unabhängigkeit, die sie gewann, vollständig würdig zeigte.

Auf dem Feld von Banuockburn fühle ich fast Sym­

pathie für den großen und weisen König der Schotten gegenüber dem

thörichten und

feigen Erben des größten

der

vormaligen

Die Beziehungen zwischen den Kronen von England und Schottland. 273 Engländer. Doch diese Dinge berühren den Charakter des großen Eduard nicht. Die wahre Ehre Schottlands erfordert in keiner Weise eine Verdrehung der geschichtlichen Wahrheit oder die Her­ absetzung eines Königs, dessen Ziel es war, unser Eiland so zu einigen, wie wir es jetzt geeinigt sehen. Die Vasallenstellnng Schott­ lands, England gegenüber, zu dieser Zeit sollte eben so ruhig be­ trachtet werden, als die Vasallenstellung Northumberlaitds und Mercia's zu Wessex. Ein nördlich vom Tweed geborener Engländer sollte sich ebenso wenig verpflichtet fühlen, Eduard zu schmähen, als ein nördlich der Themse geborener Engländer sich verpflichtet fühlt, Egbert zu schmähen. Oder, wenn der Süden ein Opfer liefern muß, möge sich.die schottische Entrüstung über brutale Zerstörer Schottlands, wie Heinrich den Achten und den Protektor Somerset ergießen, und nicht über den edeln Fürsten, von dem ein gleich­ zeitiger Dichter mit soviel Wahrheit sang: „Totus Christo traditur Rex noster Edwardus; Velox est ad veniarn, ad vindictam tardus.“ Ich habe nun lediglich meinen Standpunkt sowohl der allge­ meine» konstitutionellen Frage, als dem persönlichen Charakter des großen Eduard gegenüber dargelegt. Ich hoffe früher oder später die ganze Sache erschöpfender zu bearbeiten, ebenso erschöpfend, wie ich die zwei oder drei Punkte bearbeitete, über die ich mit Robertson in Widerspruch geriet. Inzwischen niöchte ich allen, die sich für die Sache interessiren, ein sorgfältiges Studium der Ori­ ginalchroniken und Dokumente empfehlen, sowie einen Vergleich dieser mit den späteren Dichtungen, welck)e jene überwucherten. Als einen Wegweiser bei dieser Aufgabe wage ich nicht ein Buch zu empfehlen, für welches ich trotzdem eine gewisse Vorliebe nicht ver­ leugnen kann, den anonymen Band „Der Größte der Plantagenets". Das Buch schließt viel Gutes und Nützliches in sich, doch ist es zu sehr ein bloßer Lobgesang; der Verfasser behauptet durchgehends, was ich sick-erlich nidjt behaupte, daß die Ehre Eduards die HerabFreeman, hiftor. Abhandlungen.

18

274 Die Beziehungen zwischen den Kronen von England und Schottlands

sehung eines jeden verlange, der sich ihm in irgend welcher Weise widersetzte.

Ich ziehe vor, meinen Ausleger in den Reihen der

Feinde zu suchen.

Ich will diejenigen, die die ursprünglichen Autori­

täten studiren, an einen wirklich gelehrten und ehrlichen schottischen Schriftsteller

als

an

ihren

Führer

verweisen.

In

Burtons

kürzlich erschienener „Geschichte von Schottland" ist die Sache in einer Weise behandelt,

welche den Verfasser ehrt.

über nationale Vorurteile nicht ganz Herr

Bnrton ist

geworden, wenn

er

auch Eduard an vielen Stellen über besondere Punkte in einer Weise Gerechtigkeit hat

widerfahren lassen, in welcher, wie ich

vermute, kein schottischer Schriftsteller ihm zuvorgekommen ist. manchen Fällen sind die Schlüsse,

die ich

In

auH den Thatsachen

ziehe, sehr verschieden von denen, die Burton zieht.

Aber seine

Thatsachen und meine Thatsachen sind im ganzen dieselben. Burtons Wissen

macht

es

ihm

unmöglich,

eine Thatsache

zu

vernach­

lässigen; seine Ehrlichkeit macht es ihm unmöglich, eine Thatsache zu verhehlen oder zu

verdrehen.

Wie weit ein solches Buch den

weniger unterrichteten und tiefer in Vorurteilen befangenen Klassen unter Burtons eigenen Mitbürgern annehmbar erscheint, ich nicht zu wissen.

gestehe

Ich begrüße es als einen großen Schritt

vorwärts in der ehrlichen Untersuchung einer großen geschichtlichen Frage, die man jetzt lediglich als eine geschichtliche, und nicht als eine die Ehre eines oder des andern Teils eines glücklicherweise geeinten Reiches betreffende betrachten sollte.

VIII.

Der heilige Thomas von Canterbury und feine Biographen.* National Review, April 1860.

Ein vollständiger Katalog des Materials für die Geschichte des wunderbaren Mannes, dessen Name an der Spitze dieses Auf­ satzes steht, oder ein erschöpfendes Verzeichnis all der Bücher, alt und neu, deren Gegenstand er gewesen, würde einen Raum bean­ spruchen, eher geeignet für eine besondere Arbeit, als für die Ein­ führung in eine solche. Wir haben daher nur einige wenige der neuesten und wichtigsten ausgewählt. Wir besitzen ein vielartiges Quellenmaterial, Chroniken, Bio­ graphien, Privatbriefe, Negierungsakten; wir besitzen die Lobprei* Vita 8. Thom® Cantuarienaia Archicpiscopi et Martyria. Epiatol® 8. Tliom® Cantuarienaia et aliorum. Gilberti Epiacopi Londonienaia epiatolre. Herberti de Boaeham Opera qu® extant omnia. Edidit J. A. Gilea, L. L. D. 8 Bände, Oxford 1845. Joannia Sariaburienaia Opera omnia. Collegit J. A. Gilea, J. G. D. 5 Bände, Oxford 1848. The Hiatory of Latin Chriatianity. By Henry Hart Milman, D. D. Band III., London 1854. The Life and Martyrdom of Saint Thomaa Becket, Archbiahop of Canterbury and Legate of the Holy See. By John Morria, Canon of Northampton. London 1859. Becket, Archbiahop of Canterbury. A. Biography. By James Craigie Robertson M. A. Canon of Canterbury. London 1859.

276

Der heilige Thomas von Canterbury und seine Biographen.

sungen seiner Freunde, die Lästerungen seiner Feinde, und die Korre­ spondenz des Mannes selbst.

Wie sein eigenes Zeitalter in seinem

Urteil über ihn geteilt war, so auch das unsere; er hat jetzt noch Feinde, die ihn mit dem Grimm eines Gilbert Foliot

verfolgen,

und Anbeter, die ihn mit der Hingabe eines Herbert von Bosham verehren. Es gibt wohl kaum einen Mann vergangener Zeiten, bei dem uns zur Beurteilung des Lebens und Charakters so reiche Hülfs­ mittel zu Gebote stehen. bezügliche That

Jede seiner eigenen Thaten, jede auf ihn

anderer ist von Männern aufgezeichnet

und be­

sprochen worden, die beides waren, Augenzeugen und Mithandelnde. Und

es gibt wenige Männer, deren Geschichte in

zügen so klar vor uns läge.

Menge der Zeugen unerhebliche Widersprüche, eines einzelnen Datums

ihren Haupt­

Hier und da finden sich unter der

oder der Aechtheit

an der Genauigkeit eines Briefes mögen

Zweifel erlaubt sein, aber die hauptsächlichen Ereignisse seines Lebens, von seiner Geburt in London bis zu seiner Ermordung in Canterbury stehen so klar und lebendig vor uns, wie die Vorkommnisse unsrer eigenen Zeit.

Unsere Quellen sind nicht auf das Land seiner

Geburt oder das seiner Verbannung beschränkt; die ausgedehnte Korrespondenz des Mannes erstreckt sich über die ganze lateinische Welt. Die Friedensbedingungen zwischen einem König von England und einem Erzbischof Triumphe

und

von Canterbury schwankten Mißerfolge

eines

deutschen

nach Maßgabe der Kaisers

in

Italien.

Unser Material ist, kurz gesagt, unendlich, und, ehe Jemand die Freundlichkeit hat

es für uns

zu ordnen,

wissen Alles über All' und Jedes, Hülfe eines geeigneten Herausgebers. anbetrifft,

so

außerordentlich

sind

für ein so

wenige.

Die

überwältigend.

oder könnten es

Wir

wissen mit

Was die reinen Thatsachen

weites Feld der streitigen Punkte Eigentümlichkeit der

Geschichte

ist,

daß, mit denselben Thatsachen vor sich, nicht zwei Leute im Stande zu sein scheinen, dieselben Schlüsse zu ziehen.

Der Grund aller

dieser für die historische Wahrheit verhängnisvollen Meinungsver-

Der heilige Thomas von Canterbury und seine Biographen.

277

schiedenheiten und Gegensätze liegt in dem unseligen Fehler, daß man die Menschen des zwölften Jahrhunderts mit den Augen des neunzehnten betrachtet, und, schlimmer noch, den Ereignissen des zwölften Jahrhunderts eine Seite abzugewinnen hofft, von der man auch in den Streitfragen des neunzehnten Nutzen ziehen könnte. Ein Nebel theologischer und halb theologischer Disputation hat die Gestalt des Thomas von Canterbury umhüllt.

Man kann selbst

seinen Namen kaum nennen, ohne einen Sturm von Widersprüchen wach

zu rufen.

geben?

Denn welchen Namen

soll

man dem Manne

„Thomas ä Decket" ebenso wie „der heilige Thomas von

Canterbury", beide haben ihre Gefahren, während jede dazwischen liegende Bezeichnung eine Zwischenstufe der Würdigung ausdrückt. „Decket" ist vielleicht unverfänglich; „Erzbischof Decket" drückt einen Grad der Verehrung aus für das Amt, wenn nicht für den Mann. Und wiederum ist es zweifelhaft, ob seine eigenen Zeitgenossen ihn überhaupt Thomas Decket, und vollends Thomas ä Decket oder Decket allein nannten.*

Die Proklamation König Heinrich VIII.

hat seinen geschichtlichen Namen: „Der heilige Thomas von Canter­ bury" in einen Parteinamen verwandelt; sonst würden wir mit der Bezeichnung der heilige Thomas wohl eben nicht mehr Anstoß erregen, als wenn wir im historischen Sinn vom heiligen Dominikus oder vom heiligen Dunstan sprechen.

Um sicher zu gehen, nennen

wir ihn einfach Thomas, wie ihn seine Zeitgenossen nannten, und hoffen, uns hierdurch in keiner Weise bloß zu stellen.

Thomas

* Sein Vater hieß zweifellos Gilbert Decket; da jedoch im zwölften Jahrhundert die Zunamen sehr schwankend waren, trug der Sohn, namentlich wenn er ein Geistlicher war, durchaus nicht immer notwendig des Vaters Namen. Die natürlichste Bezeichnung würde Thomas von London sein, nach Analogie der Namen: John von Oxford, Herbert von BoSham re., und wirklich finden wir ihn bei Gervasius (col. 1377) so genannt. Nur einmal finden wir den Erzbischof selbst Thomas Becket angeredet, nämlich von den Rittern bei seinem Tod (nach Edward Grim bei GileS I. 75), wo es sehr wahrscheinlich ein ungewöhnlicher Ausdruck der Verachtung ist.

278

Der heilige Thomas von Canterbury und seine Biographen.

von London, Thomas von Canterbury, Thomas der Archidiakonus, der Kanzler, der Erzbischof, und endlich der Märtyrer, sind die einzigen Benennungen, unter denen er in seiner eigenen Zeit allge­ mein bekannt war. Nachdem wir die Frage nach seinem Namen erledigt, kommen wir zu der wichtigeren nach seinem Charakter. War er ein guter oder ein böser Mensch? Verdient er Achtung oder Verachtung? Für zwei Klassen von Fragern giebt es keine Frage, die leichter zu erledigen wäre. Es ist ein einfaches Ding, den Satz aufzustellen, daß ein Erzbischof im Recht sein muß, der einem König Opposition macht, oder den anderen, daß ein König im Recht sein muß, der einem Erzbischof Opposition macht. Aber vor den Schranken der historischen Kritik haben solche unbestimmte, allgemeine Prinzipien keine Geltung. Ebensowenig trägt die Frage zur Entscheidung bei, wessen Partei wir ergreifen würden, wenn sich derselbe Streit jetzt erhöbe. Was jetzt als thöricht und unangemessen erscheint, mag vor 700 Jahren das gerade Gegenteil gewesen sein. Wollen wir über Recht und Unrecht zwischen Heinrich und Thomas ehrlich richten, so gilt es vor allem, jeder Streitfrage unserer Zeit die Augen zu verschließen. Wir dürfen in dies Gebiet keine modernen Theorien hineintragen über Staat und Kirche, über Katholicismus und Protestantismus, wir dürfen nicht darüber denken, ob die Er­ eignisse jener Zeit dazu angethan waren, eine bestimmte kirchliche Richtung zu unterstützen. Auch ob wir mit Recht oder Unrecht keine geistige Gemeinschaft mit dem Bischof von Rom haben, ist eine Frage, die unsern Gegenstand nicht berührt. Gleichwohl ist noch neuerdings die Geschichte von Heinrich und Thomas meist doch mit einem Seitenblick auf Fragen dieser Art geschrieben worden; wollen wir sie lesen oder schreiben, wie sie gelesen oder geschrieben werden soll, so müssen wir alles derartige außer Acht lassen. Wir haben vor uns zwei der vornehmsten Männer des zwölften Jahr­ hunderts; und nur nach den Gebräuchen, den Grundsätzen, der

Der heilige Thomas von Canterbury und seine Biographen.

279

Erkenntnis und dem Wissen des zwölften Jahrhunderts können wir sie unparteiisch beurteilen.

Eine derartige Vorsicht ist fast bei keinem

anderen Teil der Geschichte so geboten, als bei dem Streit zwischen Heinrich und Thomas.

Bei vielen anderen Streitfragen vergangener

Zeiten ist ein Beobachten mit den Augen unserer Tage fast unver­ meidlich.

In manchen Fällen mag ein solches innerhalb bestimmter

Gränzen sogar richtig seht.

Die Streitfragen

entlegener Zeiten

und Länder mögen eine nahe Verwandtschaft zeigen mit Streit­ fragen unsrer eigenen Tage; die Streitfragen unseres eigenen Landes in alter Zeit mögen wohl nur der Ausgangspunkt von Streitfragen sein, die jetzt noch unter uns Lebenden ausgetragen werden.

In

solchen Fällen wird der Standpunkt, den man in der heutigen Politik einnimmt, maßgebend sein für den Grad der Achtung, die man der vergangenen zollt.

Wir verlangen für die Männer und

Maßregeln der Vergangenheit,

was wir für die Männer und

Maßregeln der Jetztzeit verlangen sollten, daß Opposition und Kritik sich in den Grenzen der Gerechtigkeit und des Anstands halten, daß eigenartige Menschen

und Thaten nicht unrichtig dargestellt

werden, und daß man nie vergessen soll, daß damals wie jetzt weise und gute Männer sich auf beiden Seiten finden. zwölfte Jahrhundert nimmt seine besondere Stellung ein.

Aber das Es war

eine hochwichtige Zeit, fruchtbar an großen Männern und großen Ereignissen, aber seine Arbeit war eine stille und seine Gegensätze haben weniger als die der meisten andern früheren wie späteren Zeiten einen direkten Einfluß gehabt.

auf die Ereignisse der Gegenwart

Die Zeiten vor- und nachher sprechen ohne weiteres zu

unserem Herzen.

Eine Nation, die englische Nation, von aus­

wärtigen Feinden überfallen, zu Fremdlingen und Leibeigenen im eigenen Land gemacht, das ist ein Schauspiel, das einer weiteren Erklärung

nicht bedarf.

Der Kamps der Engländer und Nor­

mannen erweckt Sympathien, die allen Zeiten und Orten gemein sind.

Eis oiwvos dpiozog, d/.tvrea&ai ntgi näxgrjg ist ein Wort,

280

Der heilige Thomas von Canterbury und seine Biographen.

das gleichermaßen zum Herzen spricht, mag es einem Hektor, einem Hereward* oder einem Garibaldi in den Mund gelegt werden. Das dreizehnte Jahrhundert hat wieder für jeden Engländer ein besonderes Interesse anderer Art.

Mit ihm betreten wir das Eng­

land unserer Tage; der große Kampf, der jetzt nocht fortdauert, hat begonnen, wir stehen am Anfang jener stolzen Reihe von Staats­ männern, Helden und Patrioten, die uns von Langton, Großeteste und Winchelsea, von Fitzwalter, Montfort und Roger Bigod zu einem Peel, einem Russell und einem Gladstone unserer Tage führt. Verglichen mit dem elften und dreizehnten Jahrhundert er­ scheint uns das Zeitalter von Heinrich und Thomas als eines, das uns geistig sreind ist, das wir kaum verstehen können.

Die politische

Stellung Englands läßt vor- und nachher keinen Vergleich zu. Jni elften und im

dreizehnten Jahrhundert sehen wir einen englischen

König und ein englisches Volk, schwer zu erkennen.

aber im zwölften ist dergleichen

Wir finden da zwar einen König von England,

den mächtigsten und reichsten Fürsten Europa's,

aber er ist ein

reiner Fremdling, ein Franzose, in Frankreich lebend, französischen Aufgaben seine Kräfte widmend, der England fast als eine Provinz von Anjou betrachtet. die inneren Fragen.

Und dieser Stellung der Insel entsprechen Wir denken nicht daran, daß ein römischer

Katholik oder Hochkirchlicher für den Klerus Befreiung von der weltlichen Gerichtsbarkeit in Kriminalfällen beanspruchen, oder daß das ausschließliche Recht des Erzbischofs von Canterbury, den König von England zu krönen, als eine Sache gelten könnte, die des Widerstands selbst bis zum Tode wert wäre. hundert lag der Fall nicht so einfach.

Im zwölften Jahr­

Thomas und Heinrich waren

zwei sehr merkwürdige Männer einer sehr merkwürdigen Zeit, die sich in

einen Streit einließen, über

den man heute nicht mehr

* Hereward mit dem Beinamen the Wake (der Wachsame) war einer der mutigsten und zähesten Sachsenführer im Kampf gegen die Nor­ mannen. Vgl. Charles Kingsley's gleichnamigen Roman.

Der heilige

Thomas von

Canterbury u»d seine Biographen.

281

zweierlei Meinung sein kan», in dein aber damals die edelsten und weisesten Männer der Zeit sich auf entgegengesetzten Seiten befanden. Will jemand das vorliegende Material gründlich und unbeeinflußt prüfen, so wird ihm die Prüfung wahrscheinlich eine hohe Achtung für beide Streiter in der Hauptsache hinterlassen, neben strenger Verurteilung einzelner Thaten Beider. Thomas schädigte eine gute Sache oft durch Heftigkeit und Hartnäckigkeit, Heinrich schädigte eine ebenso gute Sache durch niedrige Grausamkeit und kleinliche persönliche Verfolgung, und manchmal liest er sich, was Thomas niemals that, von plötzlicher Auswallung soweit hinreisten, thatsäch­ lich seine Sache völlig aufzugeben. Wir beabsichtigen nicht, uns über die neueren Schriftsteller, die unsern Gegenstand behandeln, des weiteren ausznlassen. Obgleich die geschichtlichen Vorgänge von einigen sehr hervorragenden Männern gelegentlich berührt worden sind, sind sie noch nicht zum Gegenstand einer speciellen Bearbeitung von unbestrittenem Verdienst gemacht worden. Wir wollen daher die wichtigsten neueren Darsteller des Gegenstandes kurz berühren und zum Schluß unsere eigene Wür­ digung von Thomas und seinen zeitgenössischen Biographen ent­ wickeln. Lord Lyttelton und Berington waren vermutlich die ersten unter den neueren „amici“ und inimici Thomac“,* die einen Grund für ihre Freundschaft oder Feindschaft angeben konnten. Ihre geschichtlichen Werke über Heinrich II. gereichten beide ihren Verfassern zu hohem Verdienst zu einer Zeit, in der geschichtliche Forschung auf ihrer niedersten Stufe stand. In einer Periode geringen Wissens hatte» sie die gleichzeitigen Schriftsteller wirk­ lich gelesen. Jeder verteidigt die von ihm genommene Stellung gut, und beide mag man, auch nach Anhäufung so viel neuer auf * Unter den Briefen befindet sich einer (Glles, IV. 256) überschrieben: „Alexandro Papae et omnibug Cardinalibus Inimici Thomao Caqtuariensis Episcopi.“

282

Der heilige Thomas von Canterbury und seine Biographen.

die Sache bezüglicher Litteratur, noch mit Vorteil zu Rate ziehen. Wir müssen hinzufügen, daß Berington, wenn auch ein Verteidiger des Thomas, keineswegs sein blinder Bewunderer ist; er ist kein Herbert von Bosham, sondern hat Anspruch auf die höhere Stellung eines Johann von Salisbury. Unter den Darstellern der allgemeinen Geschichte, in deren Werken Thomas und Heinrich notwendigerweise eine beträchtliche Rolle spielen, begegnet uns zunächst in Dr. Lingard ein römisch-katho­ lischer Autor von ziemlich der gleichen Richtung, wie Berington. Beide sind so klng, nicht als römische Katholiken, sondern als gewöhnliche Menschen zu schreiben; sie affektiren wenigstens Un­ parteilichkeit und sind dadurch natürlich weit eher im Stande, pro­ testantische Urteile zu beeinflussen, als wenn sie dieselben von vorne herein durch ein prunkendes zur Schau stellen ihrer besonderen Dogmen zu erschüttern suchten. Andererseits enthält Southey's ge­ fälliges, aber sehr oberflächliches Buch über die Kirche eine, wir möchten sagen beiläufige Biographie von Thomas, die zu den besten gezählt werden muß. Sie ist vollständig, lebendig und nachem­ pfindend. Es ist klar, daß die Heldengröße des katholischen Heiligen mit unwiderstehlicher Macht zu dem Herzen des Dichters sprach, selbst wenn dieser sich in den Charakter eines protestantischen Kämpfers hüllte. Ferner spielt Thomas in Thierry's wohlbekannter „Geschichte der normannischen Eroberung" eine bedeutende Rolle, wo er sich zun» Dienste für die besonderen Theorien des Schriftstellers hergeben muß. Er erscheint dort in der Rolle eines englischen Patrioten, »velcher gegen die normannischen Unterdrücker kämpfte. Bon dieser ganz unhaltbaren Ansicht, sowie von dem kleinen Körnchen Wahrheit, welches Thierry mit einem sehr anziehenden Noinan uinsponnen hat, werden wir noch weiter zu reden haben. Die neuere Litteratur über unsern Gegenstand beginnt mit dem Nachlaß des verstorbenen R. H. Fro»«de. Seltsam genug, der erste neuere Apologet des heiligen Thomas von Canterbury

Der heilige Thomas von Canterbnry und seine Biographen.

283

war der Bruder des Apologeten Königs Heinrich VIII. Der ältere Fronde, einer der ursprünglichen Leiter der Oxford-Trakt-Bewegung, war ein Mann von Talent und unabhängigem Denken, doch, wie sich erwarten läßt, näherte er sich seinem Gegenstand von einem ganz falschen Gesichtspunkte aus. Es ist dies einer der klarsten Fälle, wie man die Geschichte entstellt, wenn man sie durch einen Schleier moderner Streitfragen betrachtet. Der Gegenstand zog ihn an wegen einiger scheinbarer Analogien zwischen der Stellung der Kirche im zwölsten »nd im neunzehnten Jahrhundert. Thomas Lebenslauf nimmt den ganzen dritten Band von Froude's Nachlaß ein, aber große Abschnitte des erzählenden Teils stamme« von einer anderen Hand, keiner geringeren, wie wir glauben, als der Dr. Ziemmaus. Froude's eigene Arbeit war hauptsächlich der Übersetzung und dem teilweisen Ordnen der Briefe gewidmet, einer Aufgabe, an der auch bei großer Energie zu scheitern, entschuldbar ist. Auf Fronde folgt Dr. Giles. Wir glauben das Lob des Eifers und Forscherfleißes einem Manne zuerkennen zu müssen, der mehr Bücher herausgegeben, übersetzt und geschrieben hat, als jeder andere lebende Gelehrte in England. Ein anderes Lob können wir ihm in der That nicht geben. Die Briefe, herausgegeben in seinem Sanctus Thomas Cantuariensis, stellen sich, wie das die meisten späteren Schriftsteller beklagt haben, als eine verworrene Masse dar, noch verworrener gemacht durch Dr. Giles selbst. Das System der Herausgabe ist ein künstlich ausgearbeitetes Rätsel, welches die Auffindung eines bestimmten Briefes fast aussichtslos macht; die Inhaltsverzeichnisse sind sehr dürftig, und die Textedition selbst außerordentlich schlecht. Dr. Giles hat freilich uns auch das Leben und die Briefe in zwei englischen Bänden geboten, in denen ein Versuch zur chronologischen Ordnung einiger Briefe gemacht ist. Aber Gelehrte bedürfen keiner Übersetzung einzelner Briefe, und gar einer so schlechten, sondern einer verständlichen Herausgabe der Originaltexte aller. Giles Versuch einer Originalbiographie

284

Der heilig« Thomas von Canterbury und seine Biographen.

erhebt sich zu wenig mehr, als zu einem Ausfüllen der Zwischen­ räume und ist obenein so inhaltslos und oberflächlich wie möglich. Fast alles Gute daran ist von Froude abgeschrieben. Thomas Leben und Tod ist ferner von zwei Schriftstellern sehr anderen Gepräges als Froude und Giles behandelt worden. Professor Stanley hat in seinen Hiatorical Memorials of Canter­ bury eine wohlgestimmte Schilderung des Märtyrertums gegeben, die bei der Sorgfalt, Lebendigkeit und Wahrheit, mit der sie geschrieben ist, uns tief bedauern läßt, daß sie sich nur auf den Märtyrertod beschränkt, und nicht die gesummten Ereignisse hereinzieht. Nicht weniger bewundernswert ist seine Behandlung von dem, was wir des Thomas posthume Geschichte nennen mögen, in dem Kapitel über den Schrein Beckets. Der Streit über Thomas füllt ferner einen großen Teil des dritten Bandes von Dekan Milmans „Latin Christianity“. Mit einigen Vorbehalten ist dies die beste englische Biographie von Thomas, die wir kennen, wenn auch die Erzählung vielleicht ein wenig unter allzu starker Gedrängtheit leidet; und ob­ gleich der Dekan unserm Gefühl nach im Ganzen ein zu strenges Urteil über Thomas fällt, ist es nur gerecht zu erwähnen, daß er bisweilen auch gegen Heiitrich hart vorgeht. Seine Schilderung ist, abgesehen von einigen jener kleinen Irrtümer in Namen oder Details, in welche man nicht ohne Befremden einen so wirklich ge­ lehrten Mann wie Dr. Milman so beständig verfallen sieht, die beste Geschichte des Thomas, die wir kennen, auch in Berücksichtigung ihres Umfangs weit besser, als die speziellen Darstellungen die wir jetzt zu erwähnen haben. Das Jahr 1859 brachte zwei rivalisirende Biographien unseres Helden; die Werke des römisch-katholischen Kanonikus von Northampton und des protestantischen Kanonikus von Canter­ bury. Bei diesen beiden möchten wir versucht sein, etwas länger zu verweilen; der Kontrast ist sehr merkwürdig und unterhaltend. Jeder der beiden Rivalen hat seine Quellen gut und genau studirt;

Der heilige Thomas von Canterbury und seine Biographen.

285

jeder tritt mit lokaler Begeisterung an seine Aufgabe; jeder thut sein Bestes, so viel er kann gerecht zu sein, doch jedem machen dies unbesiegbare Vorurteile unmöglich, und beider Werke leiden gleicher­ weise an unheilbaren Schwächen der Form. Kanonikus Morris schreibt in einem Ton unterscheidungsloser Bewunderung; Kanonikus Robertson in einem Ton von Spott und Tadelsucht, mit dem wir noch weniger Sympathie empfinden. Morris hätte ein reines Andachtsbuch über das Leben des heiligen Thomas von Canterbury für die Glieder seiner eigenen Glaubensgemeinde schreiben mögen; kein gerecht Denkender würde etwas dagegen einzuwenden gehabt haben, oder er hätte eine geschichtliche Lebensbeschreibung in demselben verständigen Geiste der Klugheit schreiben sollen, wie es Berington und Lingard gethan haben. Aber er hat die beiden Gesichtspunkte mit einander vermischt und hat ein Werk geschaffen, das für den Gebrauch der Andächtigen viel zu historisch ist, während es als Geschichtsschreibung jeden protestanischen Leser beleidigen muß. Robertson hat zwei alte Artikel der weiland „English Review“, die wie es scheint gegen Froude und Dr. Giles ge­ schrieben waren, in ein Buch verarbeitet. Dasselbe zeigt die Spuren seines Ursprungs noch viel zu deutlich, sowohl in seinen etwas ärmlichen und schwerfälligen Versuchen, witzig zu sein, als in seinen beständigen Sarkasmen über die von ihm eingesehenen Autoren und in seinen gelegentlichen Anspielungen auf Dinge, die denen, die nicht die sämmtlichen Hefte der „English Review“ aus­ wendig gelernt haben, gänzlich unverständlich bleiben müssen. Nichts zum Beispiel ist wahrer, aber auch nichts weniger am Platz, als die sorgfältig ausgearbeitete Kritik der Giles'schen Ausgabe, die mitten in die Lebensbeschreibung eingezwängt ist. Was den Inhalt des Buches betrifft, so ist er so, wie man es von einem Mann erwarten kann, der seinen Stoff beherrscht, ohne ihn zu lieben, und dessen Hauptzweck es ist, Froude zu stürzen. Die Erzählung ist genau, die Nachweisungen wertvoll. Der Autor giebt sich Mühe

286

Der heilige Thomas von Canterbnry und seine Biographen.

gerecht zu sein und verschmäht all die gemeineren Berläumdungen gegen sein Opfer, denn, anders als die meisten Biographien, hat die Robertsons keinen Helden. Aber Robertson sieht Alles durch das gefärbte Glas der English Review. Er ist völlig außer Stande, sich in die Stellung eines Königs oder eines Erzbischofs im zwölften Jahrhundert zu versetzen. Vor allen Dingen war Thomas von Canterbnry, ob heilig oder nicht, ein Held im vollen Sinne, und ein Held ist gerade diejenige Art Persönlichkeit, die Robertson zu verstehen unmöglich ist. Von den ausländischen Bearbeitern unseres Gegenstandes müssen wir zu unserer Schande gestehen, daß wir sie weniger kennen als wir sollten. Reuters Geschichte Alexanders III. ist häufig von Milman und Robertson citirt, und, da das Buch in einem diesem Papst sehr günstigen Sinn geschrieben scheint, so wäre es wohl unsre Pflicht gewesen, es durchzuarbeiten, denn unser eigenes Studium der Thomas'schen Korrespondenz führt uns zu einem Ergeb­ nis, das von dem mutmaßlichen des Reuterschen Werkes erheblich verschieden ist. Von Ozanams „Deux Chanceliers d’Angleterre“ (Paris 1836) und Buß „der heilige Thomas und sein Kampf für die Freiheit der Kirche" (Mainz 1856) haben wir erst durch Robertsons Verweisungen gehört. Ozanams Buch haben wir nicht gesehen, das von Buß erst, seit wir diesen Aussatz zu schreiben be­ gannen, und wir fanden nur Zeit zu flüchtiger Durchsicht. Es ist leicht ersichtlich, daß Buß ein strenger Katholik und Anhänger von Thomas ist, aber von der beleidigenden Schaustellung des Katholi­ cismus, welche wir bei Morris beklagen, haben wir nichts be­ merkt. Seine Forschung und sein Fleiß sind unermüdlich, und soviel wir gesehen, ist sein Werk am besten geeignet, als Führer zu den Quellenautoren zu dienen. Aber es giebt Aufgaben, an denen selbst deutscher Fleiß scheitert, die er wenigstens nicht ohne Klagen überwindet. Buß beklagt sich nicht mit Robertsons sar­ kastischer Rhetorik, sondern mit einem ebenso wirksamen einfachen

Der heilige Thomas von Canterbury und seine Biographen.

287

Pathos über die übermenschliche Schwierigkeit, in dem von Giles herausgegebenen Werk irgend etwas zu finden, was man sucht. Wenden wir uns jetzt von den neueren Schriftstellern zu den älteren Quellen für Thomas Leben; sie zerfallen in drei Klassen, die Biographen, die gleichzeitigen Chronikenschreiber, und die Korre­ spondenz von Thomas, Gilbert und den Übrigen. Diese Quellen sind lateinisch geschrieben mit Ausnahme einer einzigen sehr wichtigen Biographie in französischen Versen. Englische Dokumente haben wir unglücklicherweise keine. Die Sachsenchronik bricht ab bei der Thronbesteigung Heinrich II. Was hätte man nicht darum gegeben, wäre uns jene erregte Zeit so lebendig wie die Tage des Eroberers und Stephans von einem eingeborenen Engländer in der alten germanischen Muttersprache geschildert! Die französische Lebensbeschreibung des Garnier von Pont Sainte Maxence muß die älteste von allen sein, da sie nach des Autors Versicherung zwischen 1172 und 1174 geschrieben, und in den ersten vier Jahren nach dem Märtyrertod vollendet wurde. Der Autor hat den Heiligen selbst gesehen, jedoch bevor er seinen Heiligencharakter annahm: „En Gascuingne fu-il lang tens pur guerreier As Gascuns i kovint de lur chasteus lesser. En Normandie r’out sun seinur grant mester, Et jo l’vi sor Franceis plusur feiz chevaucher.“*

Er besuchte Canterbury und verkehrte auch mit Thomas Schwester Mary, Äbtissin von Barking, so daß er gute Quellen zur Orientirung hatte, und er erzählt uns, datz er beim Schreiben seines Buches das Geschriebene oft änderte, wenn er genauere Nachrichten erhielt. Außer der wirklichen Erzählung enthält das

* Garnier, p. 14, ed. Hippean.

288

Der heilige Thomas von Canterbnry und seine Biographen.

Buch viele Abschweifungen oder versisizirte Predigten; auch hat der Verfasser sich die Mühe nicht verdrießen lassen, tigsten Briefe

in seine französischen

Reime

einige der wich­

zu bringen, die in

dieser ihrer neuen Gestalt einen sehr drolligen Effekt machen. Diese Biographie ist wegen der frühen Zeit ihres Entstehens sehr wertvoll und zugleich für den Philologen hochwichtig als eine Probe der französischen Sprache im zwölften Jahrhundert. Von den lateinischen Lebensbeschreibungen sind die wichtigsten die von Edward Grim, Roger von Pontigny, William Fitz-Stephen, Alan von Tewkesbury und Herbert von Bosham, sowie die kurze von Johann von Salisbury, die der von Alan vorausgeschickt ist. Alle diese Autoren sind zeitgenössisch und standen dem Erzbischof während der einen oder anderen Periode seines Lebenslaufes nahe. Jeder erzählt also wenigstens einen Teil seiner Geschichte aus per­ sönlicher Kenntnis. der andern aus.

Jeder füllt in größerer Ausdehnung die Lücken So trat Edward Grim erst wenige Tage vor

dem Tod des Erzbischofs

in seine Dienste; die ersten Abschnitte

seiner Erzählung sind daher vom Hörensagen geschrieben; doch in frischem Diensteifer für seinen Herrn giebt er eine erschöpfende und lebendige Schildnng des Märtyrertodes; von diesem Tod war er in der That mehr als ein Augenzeuge, er war ein Leidensgefährte, da ihm beim vergeblichen Versuche, den Erzbischof zu verteidigen, der Arm

zerschmettert

wurde.

Roger

mar

Thomas

Begleiter

während des Aufenthalts desselben in Pontigny. Wir könnten daher eine sehr erschöpfende Schilderung dieser Zeit von ihm erwarten; doch da er offenbar hauptsächlich für die Mönche von Pontigny schrieb, so will er sich, wie er sagt, nicht über das jedermann bekannte ver­ breiten und behandelt diesen Teil seiner Geschichte sehr kurz.

Er

schreibt daher fast nur vom Hörensagen, doch hatte er dies Hören­ sagen von Thomas selbst, so daß wir Rogers Werk mehr als irgend

ein

anderes

als

eine Autobiographie

betrachten können.

William Fitz-Stephen scheint früher als irgend einer von den vorhin

Der heilige Thomas von Canterbury mtb seine Biographen.

289

Genannten Thomas nahe getreten zu sein. Er war sein Schreiber, während jener Kanzler war, und giebt uns daher eine Menge Details aus dieser Zeit seines Lebens, die man anderwärts nicht finden kann. Er begleitete den Erzbischof nicht in das Exil, obwohl er bei einer Reise durch Frankreich eine Begegnung mit ihm hatte; indessen war er bei dem Märtyrertode zugegen. Daher kann er uns von seines Herrn Thaten während der Verbannung wenig aus eigener Kenntnis berichten, doch liefert er dafür viele schätzbare Einzelnheiten über die Vorkommnisse in England während jener Zeit. Herbert von Bosham dagegen begleitete Thomas während seiner ganzen Laufbahn in England und in Frankreich, doch war er nicht bei dem Tode zugegen und scheint auch von seinem früheren Leben wenig gewußt zu haben. Er ist daher von allen am vollständigsten in der Biographie des Erzbischofs, doch sagt er uns wenig von dem Kanzler. Bei Alan und in dem Bruchstück einer Biographie von William von Canterbury (in Dr. Giles zweitem Bande) finden sich gleichfalls Einzelnheiten, die man anderwärts vermißt. Die Vergleichung der einzelnen Biographien unter einander ist äußerst merkwürdig und interessant. Wir stimmen ganz mit Robertson überein, daß sie einer genaueren Untersuchung und Vergleichung bedürfen, als ihnen bis jetzt zu Teil geworden ist, um festzustellen, worin sie übereinstimmen und auseinandergehen, und aus welchen Quellen jeder Autor sein Material ableitete. Robertson fügt etwas dunkel hinzu: „Vielleicht möchte das Resultat einer solchen Untersuchung dazu dienen, einiges Licht auf Fragen zu werfen, die mit einer weit wichtigeren „Historia Quadripartita“ verknüpft sind, als der deni Leben des Thomas von Canterbury gewidmeten". Wir halten dies für einen Umweg in Robertsons Manier, um die vier Evangelien zu bezeichnen. Der Wink ist ein ausgezeichneter, namentlich in so orthodoxem Munde; indeß dürfte die Befolgung desselben manchen Forscher zu Resultaten führen, über die Robertson sich entsetzen würde. Der hauptsächliche Charakter Freeman,

histor.

Abhandlungen.

19

290

Der heilige Thomas von Canterbury und seine Biographen.

der genannten Darstellnngen besteht in enger Übereinstimmung im Wesentlichen der Erzählung, verbunden mit fortwährenden Wider­ sprüchen in kleinen Einzelnheiten. Dies ist es gerade, was sich von Darstellungen erwarten läßt, die einige Jahre nach den Ereignissen aus dem Gedächtnis niedergeschrieben sind. Herbert z. B. schrieb erst vierzehn Jahre nach Thomas' Tod. Er spricht mit besonderem Pathos von sich selbst, als dem, der die ganze Schaar getreuer Jünger überlebte.* Andererseits findet sich mitunter zwischen zwei oder mehreren Erzählern eine genaue, teilweise sogar wörtliche Übereinstimmung, als ob sie von einander oder von einer gemein­ samen Quelle abgeschrieben hätten. Man nehme z. B. eine hervor­ ragende Scene in Thomas' Leben, seinen „Kampf mit den reißenden Tieren" zu Northampton. Zwei wenigstens von unseren Autoren, Herbert und William Fitz-Stephen, waren zugegen. Und doch, wenn jemand nur diese beiden Darstellungen in genaue Übereinstimmung zu bringen versuchte, wie dies Kommentatoren bei Robertsons anderer „Historie Quadripartita“ thun, er würde bei dem Versuch völlig scheitern. Vergleicht man alle Berichte, so findet sich ein gut Teil Abweichung in der Reihenfolge der Ereignisse, und einzelne Äußerungen werden sogar verschiedenen Personen in den Mund gelegt. Doch einem Widerspruch bei einer wirklichen Thatsache begegnen wir in der ganzen Erzählung nur einmal. William FitzStephen sagt, Thomas habe sein Siegel unter die Constitutions of Clarendon gedrückt, eine Behauptung, die sich bei Niemand sonst findet, und die die Übrigen stillschweigend ableugnen. Hier, ge­ stehen wir, liegt eine Schwierigkeit. William war eine Art Nechtsgelehrter, der viel ans die gesetzlichen Formen zu halten scheint; sein Zeugnis ist daher besonders wichtig. Aber demselben entgegen steht die Übereinstimmung der anderen Autoren und der allgemeine Gang der Erzählung. Ob Thomas die Konstitutionen siegelte oder nicht, ist von thatsächlicher Wichtigkeit für die Geschichte, und es ist eigen* * Giles VII, 335,

Der heilige Thomas von Canterbury und seine Biographen.

291

tümlich, daß einige seiner Begleiter in diesem Punkte unachtsam oder falsch unterrichtet sein konnten; die leichteren Verschiedenheiten jedoch, die zahlreich durch die Erzählung zerstreut sind, sind ganz derart,'wie sie immer mehreren Erzählern begegnen, welche ohne Hülfsmittel dieselbe Geschichte mitteilen. Über Verschiedenheiten dieser Art wird sich wohl kaum ein Leser von Thomas' Leben beunruhigen, dagegen haben ganz ähnliche in jener andere» „Historia Quadripartita“ zarte Gewissen nicht wenig in Verwirrung gesetzt. Jeder von Thomas' Biographen hat, wie auch jeder Evangelist, seinen eigenen Charakter. Edward Grim neigt am meisten zum Wunderbaren; Roger ist als Franzose gegen Heinrich weit erbitterter als einer der Übrigen, und begeht in Bezug auf englische Dinge dieselben kleinen Verstöße, die ein Franzose in jeder Zeit begehen würde. William Fitz-Stephen ist lebhaft und unterhaltend. Herbert legt sich auf das Predigen und Schwätzen, und legt nicht nur sich selbst (was ja seine eigene Sache wäre) sondern auch Thomas und andern lange Reden in den Mund, die, wie wir bestimmt überzeugt sind, Meister Herberts eignes Machwerk sind. Doch ist selbst dies nicht mehr, als sich vor kurzem noch jeder Historiker zu thun er­ laubt hat. Herbert ist ferner der Boanerges unserer Geschichte. Er scheint geistig und körperlich Thomas' Ebenbild gewesen zu sein, und hat wahrscheinlich durch seine beständige Gesellschaft sehr wenig gut auf Thomas gewirkt. Als ob der Primas nicht wahrlich von selbst schon hinreichend verwegen und hartnäckig gewesen wäre, stachelte ihn Herbert immer noch zu den schärfsten Maßregeln auf. Gleich Thomas fürchtete er keines Menschen Antlitz und sprach so kühn zu König Heinrich auf seinem Thron, wie zu seinem eignen Herrn in seiner Kammer. Gleich Thomas war er stattlich von Gestalt und anmutig von Gesicht, und, gleich Thomas vor der Wiedergeburt, verschmähte er es nicht, seine körperlichen Vorzüge in das beste Licht zu setzen? Die beiden letztgenannten treuen Be* William Fitz-Stephen, Giles T, 265. 19*

292

Der heilige Thomas von Canterbury und seine Biographen.

gleitet zeigen sich bei der so wirkungsvollen Scene in Northampton in der Verschiedenheit ihrer Charaktere.* Thomas sitzt da, mit dem Kreuz in der Hand, dem irdischen König Trotz bietend im Namen des himmlischen Königs. Herbert, der wahre Boanerges, hätte ihn gerne Jedermann an Ort und Stelle exkommuniziren sehen; William rät zur Milde und Geduld. Da ihm verboten ist, zu seinem Herrn zu sprechen, deutet er schweigend auf des ge­ kreuzigten Heilands Bild. Sogar Robertsons kaltem Herzen ver­ sagt der Spott bei diesem rührenden Zwischenfall. Außer diesen Biographien, deren Autoren uns nach Namen und Handlungen bekannt sind, ist eine sehr bemerkenswerte in Dr. Giles, zweitem Bande nach einem anonymen Manuskript der Bibliothek von Lambeth Palace abgedruckt. Der Autor versichert, er sei Augenzeuge des Märtyrertodes gewesen; trotzdem wird sein zeitgenössischer Charakter von manchen neueren Schriftstellern be­ zweifelt. Wäre derselbe vollständig sicher gestellt, so würde das Werk höchst wertvoll sein, denn obgleich es wenig neue Thatsachen enthält, ist es in einem Ton ungewöhnlich unabhängiger Kritik ge­ schrieben und hat weniger Übereinstimmung mit anderen Biographien, als irgend eines der Reihe. Es entwickelt den Fall für Heinrich und gegen Thomas allseitig und unparteiisch und läßt sich aus längere Beweise gegen diejenigen ein, die des Erzbischofs Anspruch auf den Märtyrertitel leugneten. Betrachten wir nun die zeitgenössischen Chronikenschreiber, welche keine Biographie des heiligen Thomas, sondern allgemeine Annalen ihrer eigenen Zeit schrieben, so haben einige der Besten dieser Gattung die Negierung Heinrich II. aufgezeichnet. Diese sind nun höchst wertvoll, da sie uns die Ereignisse vom Standpunkt solcher schildern, die nicht Thomas' unmittelbare Anhänger waren, und uns ferner zu einer genaueren Chronologie der Ereignisse ver­ helfen. Die Biographen widmen der zeitlichen Allfeinanderfolge * William Fitz-Stephen, Giles I, 226.

Der heilige Thomas von Canterbury und seine Biographen.

293

durchgängig wenig Aufmerksamkeit. Jeder, wie wir sahen, zeichnete auf, was ihm am meisten auffiel oder was er am besten wußte; einer schrieb dieses, der andere jenes Vorkommnis nieder, und keiner von ihnen achtete sonderlich auf die Reihenfolge der einzelnen Be­ gebenheiten. Die Chronikenschreiber kommen hier zu Hülfe, indem sie die Irrtümer der Biographen verbessern und ihre Lücken aus­ füllen. Ralph von Diceto, Dekan von St. Paul, ein gemäßigter Parteigänger des Königs, giebt uns in seinen Imagines Historiarum einzelne wichtige Thatsachen, die sich in den Biographien nicht finden und zugleich eine chronologische Übersicht der ganzen Zeit. Gervase und Roger von Hoveden waren gleichfalls Zeit­ genossen, aber sie waren jüngere Männer, die nach den Biographen schrieben und dieselben beständig copirten. Doch ist es immerhin interessant zu beobachten, welcher der Lebensbeschreibungen sie in einem bestimmten Fall folgen; auch fügen sie öfters einzelne Züge und Notizen von sich mtS hinzu. Gervase besonders, der als Mönch von Canterbury bei Thomas selbst Zutritt hatte, war gute Gelegen­ heit gegeben, sich zu unterrichten. William von Newburgh ist be­ sonders bemerkenswert wegen des männlichen und unabhängigen Tons, in welchem er den ganzen Streit behandelt; er läßt den ur­ sprünglich ehrenwerten Motiven des Königs wie des Primas volle Gerechtigkeit widerfahren, doch zögert er nicht, einzelne Handlungen Beider streng zu verurteilen. Die Briefe sind natürlich von un­ schätzbarem Wert; sie werden es wenigstens sein, wenn sich einmal ein würdiger Herausgeber gefunden haben wird. Für Thomas' ganzen Aufenthalt in Frankreich geben sie weit mehr, als die Bio­ graphien, das Thatsächliche. Viele der Briefe sind geradezu öffent­ liche Dokumente, und andere wieder, wenn auch privater Form, waren doch zum mindesten für die Augen der ganzen Partei des Schreibers bestimmt. Robertson meint, die Korrespondenz gebe keine günstige Vorstellung von der damaligen Zeit, und sei im Ganzen geeignet, die mittelalterliche Kirche in Mißkredit zu bringen.

294

Der heilige Thomas von Canterbury und seine Biographen.

Daß die Briese voll starker Ausdrücke sind, ließ sich freilich von Hans aus erwarten; doch haben wir nicht gefunden, daß der heilige Thomas und seine Zeitgenossen eine stärkere Sprache führen, als jene Biedermänner des 16. Jahrhunderts, die Nobertson, als ein rechtgläubiger Protestant, doch ohne Zweifel gebührendermaßen verehrt. Wenn Thomas ein geivisses Vergnügen daran findet, den Geoffroy Riddell Archidiabolus statt Archidiaconus zu nennen, war es nicht ein ständiger Scherz der Neformationszeit, aus einem „Bishop“ ein „Bitesheep“, ans einem „Cardinal Pool“ einen „Caraal Pool“ zu machen? In Zeiten mit wenig entwickeltem Anstandsgefühl haben alle Männer, denen es um ihre Sache ernst war, von den Propheten und Aposteln an, bei Gelegenheit eine sehr kräftige Sprache geführt. Aber Robertsons Geschmack ist so zartfühlend, daß er sich von Thomas' gesunden, ehrenwerten und durch und durch englischen Anklagen gegen die Ungerechtigkeiten des römischen Stuhls wirklich beleidigt fühlt, während er ver­ mutlich dieselben eher ans jedes anderen als des heiligen Thomas' Mund als eine vorzeitige Regung des Protestantismus begrüßt haben würde. Indessen häuft er noch schwerere Anklagen auf die unglücklichen Briefe. Sie sind seiner Ansicht nach voll von „heuchlerischer Sprache" und „einem befremdlichen Hin- und Her­ drehen der Schrift, verkehrt durch Allegorie und falsche Aus­ legung". In einem gewissen Sinn ist dies wahr; doch erinnern uns dergleichen Reden immer lebhaft an den von Grote aufgestellten Satz, daß alle Religion dem absurd erscheint, der sie nicht glaubt. Ohne Zweifel wird ein ruhiger und kritischer Leser jener hebräischen und griechischen Bücher, die wir die heilige Schrift nennen, beständig „falsche Auslegungen" und befremdliches „Hin- und Herdrehen" in Thomas', seiner Freunde und seiner Feinde Briefen finden. Aber er wird ebenso befremdliche Auslegungen und Verdrehungen in jeder Predigt, jedem religiösem Traktat, jeder religiösen Bio­ graphie unserer eigenen Zeit finden. Rach dem Glauben jener

Der heilige Thomas von Caiiterbury und seine Biographen.

295

Männer wie nach dem protestantischen Eiferer des siebzehnte» Jahr­ hunderts war jedes Wort des alten und neuen Testaments zum unmittelbaren Beispiel und zur unmittelbaren Belehrung eines jeden Menschen in einer jeden Zeit bestimmt.

In diesem Glauben schreckten

sie nicht davor zurück, dies im Einzelnen durchzuführen.

Wenn

Gott zu Moses sprach, warum sollte er nicht auch zu Anselm oder Bernhard sprechen?

Wenn er Josua befahl, sein Volk gegen die

Cananiter zu führen, befahl er nicht ebenso Peter dem Einsiedler, den Kreuzzug gegen die Saracenen zu predigen? Wenn der Würg­ engel das Heer des Sanherib schlug

vor Jerusalem, sollte des

Herrn Arm verkürzt sein, als der abtrünnige Friedrich gegen Grab und

Tempel des Apostelfürsten

Pfeile schleuderte?

seine Wälle auswarf und

seine

Der Glaube jener Zeiten war wenigstens ein

ächter, lebendiger, thatsächlicher Glaube; indem sie gewisse Bücher als ihre Glaubensregel und ihren persönlichen Lebensführer zu be­ trachten bekannten, betrachteteil sie dieselben auch wirklich als solche. Folgerichtig fürchtete«» sie sich nicht vor befremdendem Orakel waren,

„falscher Auslegung" und

„Hin- und Herdrehen" dessen, was ihnen lebendige die jedermann in allen Lebenslagen unmittelbar

Rat und Trost zusprachen. Dagegen stimmen wir ganz mit Robertson überein, wenn er die Briefe des Johann voll Salisbury hoch über die der andern in der Sammlung stellt.

Johann war ein durchaus guter und

frommer Mensch, daneben unterrichtet, denkend, gemäßigt und klug. Ein zuverlässiger Freund und treuer Begleiter von Thomas, tadelt er ihn, wo er ihn im Unrecht glaubt, mit apostolischem Freimut; bis zu seinem Todestag selbst widersetzt er sich ihm ins Angesicht, so oft ihm Thomas tadelnswert erscheint.

Wir nehmen nicht An­

stand, Johann als einen weiseren und besseren Menschen als Thomas zu bezeichnen.

Aber bemerkt Robertson nicht,

wie sehr es zu

Thomas' Gunsten spricht, daß er die hingebende Anhänglichkeit eines solchen Mannes gewonnen und sich erhalten hat? Ein wirklich un-

296

Der heilige Thomas von Canterbury und seine Biographen.

parteiischer Erzähler würde darauf aufmerksam gemacht haben, daß Johanns freimütiger und überzeugungstreuer Tadel, wenn er sehr zu seinen Gunsten spricht, nicht weniger Thomas zur Ehre gereicht, bei dem er eine unverändert gute Aufnahme fand. In ähnlichem Sinne erhebt Robertson anderswo ein recht kindisches Jubel- und Triumphgeschrei über den Irrtum „gewisser Schriftsteller", welche die mit der Exkommunikation von Vezelay und der Vertreibung von Pontigny in Verbindung stehenden Er­ eignisse nicht in der richtigen Reihenfolge aufgeführt hätten. Diese „gewissen Schriftsteller" scheinen Dr. Lingard, vielleicht auch Dr. Giles und Fronde zu sein. Wir interessiren uns nicht besonders für dieselben; wenn aber Robertson zu sagen wagt, daß die Original­ biographen „die Geschichte zu fälschen beabsichtigten", so liegt die Sache ganz anders. Der Fall ist folgender. Im Jahre 1166 kam Thomas von Pontigny nach Vezelay, wo er kraft seines Amts als Legat, mit welchem ihn der Papst kurz vorher bekleidet hatte, mit besonderer Feierlichkeit einige von des Königs Freunden, Geist­ liche und Laien, wegen verschiedener Vergehen exkommunizirte und eine ernste Verwarnung gegen Heinrich selbst aussprach. Auch diesen hatte er exkommuniziren wollen, doch unterließ er es auf die Nach­ richt von seiner ernstlichen Erkrankung. Auf die Nachricht von diesem Vorgang bewirkte Heinrich durch heftige, gegen den ganzen Cisterzienserorden gerichtete Drohungen Thomas' Vertreibung von der Cisterzienserabtei Pontigny, wo er bis dahin Schutz ge­ funden hatte. Ein unparteiischer Geschichtsschreiber würde hierzu bemerken, daß des Erzbischofs Betragen heftig und unklug, des Königs Rache niedrig und feig war. Es trifft sich unglücklich, daß keiner der Biographen mit Ausnahme des Anonymus aus Lambeth Palace die Vorgänge ausführlich beschreibt. Eine vollständige Schilderung muß aus den Chroniken und den Briefen zusammen­ gestellt werden. Daß die Mehrzahl der Biographen ihrer nicht erwähnen, ist übrigens nicht sehr merkwürdig. Edward Grim

Der heilige Thomas von Canterbury und seine Biographen.

297

war nicht dort, und seine ganze Schilderung dieses Teils von Thomas' Lebensgeschichte ist äußerst dürftig. Roger von Pontigny behandelt sie kurz, weil sie seinen Ordensbrüdern allen bekannt war. William Fitz-Stephen war abwesend; er erzählt uns hauptsächlich, was in Heinrichs Gebiet vorging. Herbert war anwesend und berichtet über den Vorgang; er erwähnt der Exkommunikation nicht aus­ drücklich, doch erklärt sich dies daraus, daß die gegen den König gerichtete Warnung der gewichtigste Punkt war, den er achtzehn Jahre später seinem Gedächtnis am lebendigsten eingeprägt fand. Für einen Erzbischof von Canterbury war es kein sehr erstaunliches Ereignis, einen ungehorsamen Bischof zu entsetzen oder einen ab­ trünnigen Dekan und einen Gott lästernden Laien zu exkommuni­ zieren : der ergreifende und unerwartete Teil des Vorganges begann, als Thomas sich erhob, um mit einer von Thränen erstickten Stimme* die an den König gerichtete Warnung auszusprechen, daß, wenn er nicht bereue, die Exkommunikation auch ihn, so gut wie geringere Sünder ereilen würde. Daß Herbert das weit weniger wichtige Faktum der Entsetzung und Exkommunikation nicht zu ver­ heimlichen beabsichtigte, erhellt daraus, daß er es schon auf der nächsten Seite erwähnt.** Ebenso verhält sich William Fitz-Stephen,*** wenn auch ohne strenge Beachtung der Chronologie, da er sich mehr mit dem Eindruck, den die Exkommunikationen in England machten, als mit ihrer Verhängung in Burgund beschäftigte. Kurz, wen» Robertson Freude daran hat, Lingard gegenüber zu prahlen, so haben wir nicht den leisesten Wunsch, ihm dies Vergnügen zu stören; sein Triumphgeschrei aber irgend einem von Thomas' Originalbio­ graphen gegenüber zu wiederholen, hat er nicht das leiseste Recht. * „Confestim, omnibus audientibus et stupentibus, miro motu compunctus, voce quidem flebili et intentissimo compassionis affectu in ipsum Anglorum Regem Henricum nominative comminatorium emisit edictum.“ Herbert bei Giles, VII, 230. •• Giles, VII, 231. *** Giles, I, 258.

298

Der heilige Thomas von Canterbury und seine Biographen.

Wir wenden uns jetzt von den alten und neuen Biographen zu dem Urteil, das wjr uns selbst über Thomas gebildet haben. Wenn wir uns trauen können, haben Parteiinteressen irgend welcher Art dieses Urteil nicht beeinflußt. Wir fühlen uns nicht durch das Faktum einer päpstlichen Kanonisation zu unbedingter Verehrung veranlaßt, doch können wir auch in dieser keinen Grund sehen, den Anspruch auf Ehre dem zu versagen, dem Ehre gebührt. Und ver­ gessen wir nicht, daß es nicht nur die römische Kanzlei, sondern auch die freie Stimme der englischen Nation war, welche den Heiligenschein um Thomas wob. Während seiner ganzen erzbischöf­ lichen Laufbahn, in England wie in Frankreich, war Thomas der Liebling des Volkes. Einem der Biographen erscheint es sogar als genügend, die Ansprüche auf Verehrung auf das damals wie heute gebräuchliche Sprichwort: „Volkesstimme, Gottesstimme"* zu be­ gründen. Zur Zeit als er in Northampton „mit den reißenden Tieren kämpfte", als sein König ihn anklagte, als der Adel ihn verdammte und die Bischöfe ihn verließen, folgte ihm eine be­ wundernde Menge im Triumph vom Schloßthor bis zu seiner Wohnung bei St. Andreas. Als er die Konferenz von Montmirail verließ, als er von jeder irdischen Macht verlassen schien, heftete sich bei seinem Zuge jedes Auge mit Bewunderung auf den Primas, der die Ehre Gottes nicht verläugnen wollte um des Antlitzes zweier Könige willen. Seine Rückkehr aus der Verbannung, sein Empfang in Sandwich, in Canterbury und in London, war ein edlerer Triumph, als er je einen heimkehrenden Eroberer erwartete. In dem Ton der Glocken, der Orgeln, in den Prozessionen der Mönche und Geistlichen mögen wir eine mehr gezwungene und offizielle Huldigung erblicken; aber kein solcher Zwang war in dem Ruf erkennbar, mit welchem den feindlichen Adeligen und Beamten zum Trotz das Volk aus Kent und ganz London herzuströmte, * Lamb. bei Giles, II, 136.

Der heilige Thomas

vo»

Canterbury und seine Biographen.

299

den zu segnen, der zu ihnen zurückkehrte im Name» Gottes des Vaters der Waisen und des Helfers der Witwen.***

Solche Ver­

ehrung seitens des Volkes ist nun zwar kein Beweis, daß die von Thomas verteidigte Sache auch vor dem nüchternen Urteil der Ge­ schichte eine dauernde Billigung erfahren muß; sie beweist nicht, daß des Helden Charakter nicht durch viele und schivere Fehler ent­ stellt sein könne; aber sie ist eine Huldigung,

die wohl nie einem

stolzen, ehrgeizigen Heuchler gezollt morden wäre, noch dem Ver­ teidiger einer Sache, welche damals offenkundig die Sache der Un­ gerechtigkeit und Unterdrückung war. Auch dürfen wir nicht annehmen, daß Thomas' Popularität zu seiner Zeit die eines Verteidigers der Sache der Sachsen gegen die Normannen gewesen wäre.

Das ist ein bloßer Traum,

dem

durch Thierry's beredtes Werk eine unglückliche Verbreitung gegeben worden ist.

In der Geschichte der Zeit findet sich keine Spur von

einem so stark ausgesprochenen Antagonismus, wie ihn Thierry als noch bestehend voraussetzt; noch weniger findet sich eine Spur, daß Thomas von London die Verkörperung desselben falls er bestand. Abkunft.

gewesen

wäre,

Thonias war in Wirklichkeit selber normannischer

Seine Familie wohnte zur Zeit seiner Geburt in London,

aber sein Vater stammte von Nonen, Casn geboren zu sein scheint.**

während

seine Mutter in

Doch steht es fest, daß seine Familie

zur Zeit seiner Geburt in England völlig eingebürgert war, und daß sie sich nicht als fremde, sondern als Engländer und Londoner fühlte.

Bei keinem der zeitgenössischen Biographen, Chroniken- oder

Briefschreiber

findet sich

auch nur ein Wort von

Normannen" oder Streitigkeiten zwischen denselben.

„Sachsen und Alle Zeugnisse

scheinen uns zu beweisen, daß die tiefe Spaltung und Feindseligkeit zwischen den

beiden Rassen,

die Thierry

und

seine Schule noch

unter der Negierung Heinrich II. fortdauern läßt, auf reiner Ein* Pater orphanorum et judex viduarum. Herb, bei Giles, VII, 315. ** Lamb. bei Giles, II, 73.

300

Der heilige Thomas von Canterbury und seine Biographen.

bildnng

beruht.

Wahrscheinlich

war,

da

die höheren

Stände

meist normannischer, die niederen altenglischer Abkunft waren, die Scheidung damals nicht mehr eine nationale, sondern ein reiner Standesunterschied geworden.

In dem Mittelstand, dem Thomas

selbst angehörte, mußten die beiden Nationalitäten sich vielfach unter einander verschmolzen haben.

Die Eroberung selbst muß in der

That die sehr wohlthätige Wirkung gehabt haben, auö den höheren Klassen des eroberten Volks sofort einen Mittelstand zu bilden. Der normannische Edle in England,

oft

von

einer

englischen

Mutter geboren, mußte sich bald mehr als Engländer denn als Normanne fühlen; bei dem normannischen Bürger, einem Gilbert Decket oder seinem Vater, mußte dies noch eher der Fall sein. der

That

ist

bei

den

Menschen

allenthalben

In

die Geburt von

mächtigerer Einwirkung als die Abkunft, und sie identifiziren sich leichter mit dem Lande, in dem sie geboren sind, als mit dem Lande ihrer Väter.

Wir sind

manchmal geneigt,

eine längere Dauer

des Gefühls der Rassenverschiedenheit anzunehmen, als es in Wirk­ lichkeit der Fall war, weil die Könige so lange Fremde blieben. Heinrich II. war kein Engländer, nicht einmal ein Normanne; er war ein mächtiger, französischer Fürst, der in Frankreich regierte und England als ein Anhängsel betrachtete.

Für seine englischen

Unterthanen war er der Rex transmarinus ,* der König überm Meer, der sie zwar manchmal besuchte, jedoch gewöhnlich tu begünstigteren Teilen seines Reichs verweilte.

Zweimal während seiner

Regierung scheint er gewünscht zu haben, seine eigene unmittelbare Regierung auf seine französischen Länder zu beschränken, und Eng­ land der Form nach

in ein Mzekönigreich zu verwandeln, und

wenn wir dein Biographen der Bibliothek Lambeth glauben wollen,** war dies in der That die Absicht, in der er Thomas' Erhebung auf den erzbischöflichen Stuhl betrieb.

Heinrich sollte in Frankreich,

* William Fitz-Stephen, bei Gilles, I, 284, 289, 294. ** Bei Giles, II, 86: vergl. Garnier (tu Freteval) 152.

Der heilige Thomas von Canterbury und seine Biographen.

Thomas in England herrschen.

301

Und nachmals setzte er, offenbar

in der gleichen Absicht, die Krönung seines Sohnes als Rex cismarinus noch bei seinen Lebzeiten durch.

Diejenigen die er, sowie

die Könige vor und nach ihm, mit Vorliebe zu hohen Stellen be­ förderte, waren weder Angelsachsen noch Anglonormannen, 'sondern völlige Ausländer, Abkömmlinge vom Festlande.

Dies ist besonders

bei Besetzung von Kirchenämtern wahrzunehmen.

Von Thomas

heißt es beständig, er sei der erste Engländer gewesen, der seit der Eroberung Erzbischof von Canterbury wurde; man hätte hinzufügen können, daß er beinahe der erste Engländer war, der überhaupt einen Bischofssitz erlangte.

Dies ist die

völlige Wahrheit.

Er

war der erste geborene Engländer, von den beiden Nationalitäten der erste, der den erzbischöflichen Stuhl bestieg, während seine Vor­ gänger und der größte Teil seiner Amtsbrüder dem Kontinent ent­ stammten.

Wahrscheinlich hat gerade dieser doppelsinnige Ausdruck

„Engländer" Thierry zu dem Irrtum verleitet, in Thomas einen „angelsächsischen" Patrioten zu erblicken.

Das wahre Phänomen

der Zeit ist nicht der Kampf der beiden Nassen in England, sondern die Verschmelzung der beiden Kampf gegen

ein

beiden

Nassen als Vorbereitung zu dem

fremdes

Herrscherhaus.

Diese

leise,

allmälige Verschmelzung von Sachsen und Normannen wird in keiner Chronik erwähnt, eben weil sie so leise und allmälig vor sich ging.

Aber in ihren Resultaten stellt sie sich deutlich genug dar.

Es war die große Arbeit des zwölften Jahrhunderts, die Arbeit, die diesem Jahrhundert den eigentümlichen Charakter verleiht, dessen wir bereits erwähnten.

Kein Prozeß konnte wichtiger sein, keiner

unerläßlicher für Alles, was später kam. verborgene Natur desselben reicht

hin, der

Aber die unmerkliche änßeren Erscheinung

jenes Zeitalters das Gepräge des Jsolirten, Unverständlichen auf­ zudrücken.

Als der Typus dieser Verschmelzung kann Thomas,

der Sohn des Gilbert Decket von London angesehen werden.

Wenn

auch von normannischem BlP, ist doch sein ganzes Fühlen, sein

302

Der heilige Thomas von Cantcrbnry imb seine Biographen.

ganzer Charakter englisch, und es ist offenbar, das; ihn kein Mensch in England als einen Fremden ansah. Die allgemeinen Züge seines Körpers und Geistes zeichnen sich lebendig in seinen eigenen Briefen und den Schilderungen seiner Biographen.

Der Mann von majestätischer Erscheinung und un­

beugsamer Seele erhebt sich unmittelbar Thomas von Canterbury war wirklich ein in vollem Sinne.

vor uns.

Der

heilige

„muskelstarker Christ"

An Gestalt und Sterke über das gewöhnliche

menschliche Maß hinausgehend, mit raschen; Ohr, mit durchdringendem Auge, fließender Sprache,

liebenswürdig in

der Unterhaltung,

schlagfertig im Wortstreit, voran in dem Kriegsspiel der Jagd wie auf dem wirklichen

Schlachtfeld,

so war Thomas der Kanzler.

Und Geißelung, Fasten und härenes Gewand änderten nur wenig an dem

wirklichen

Charakter Thomas des Erzbischofs;

Waffen, mit denen er kämpfte, waren vertauscht.

nur die

Ehedem stürmte

er die festesten Schlösser

und

Ritter aus dem Sattel.

Er lachte der Skrupel seines Königs,

welche ihn zurückhielten, innerhalb der Mauern

hob im Einzelkan;pf die stärksten

seinen Lehensherrn, den König Ludwig von Toulouse zu bekämpfen.

Und der

Heilige empfand offenbar dasselbe Wohlgefühl beim Gebrauch seiner geistigen Waffen.

Er knirschte unter den ängstlichen, den Umständen

anbequemten Ratschlägen des Papstes und der Kardinäle, welche Petrus Schwert vom Blutvergießen zurückhielten.

Und dieser Mann,

so hitzig und starrköpfig, muß in beiden Lebensperioden einer der liebenswürdigsten

und

hinreißendsten Gesellschafter gewesen

sein.

Die innige Liebe, die er seinen nächsten Begleitern einflößte, atmet jede Zeile ihrer Schriften.

Sie ist die gleiche bei dem Novizen

Edward Grim, bei Herbert, dem Genossen der Verbannung, und bei seinem früheren Gefährten William Fitz-Stephen, der nicht zu wissen scheint, wen er mehr bewundern soll, den gewaltigen Kanzler, oder den den Märtyrertod sterbenden Erzbischof. Nicht weniger Anhänglichkeit erweckte er bei Männern andern

Der heilige Thomas von Canterbury und seine Biographen. Standes und Berufs.

303

Aller Streit war nie im Stande die alte

Freundschaft in den Herzen Heinrichs und Thomas' ganz zu verwischen. Bei jedem persönlichen Wiedersehen bricht die unverlöschbare Liebe wieder hervor, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick.

Heinrich

wurde zweifellos von Männern zum Widerstand aufgereizt, die Thomas weit mehr haßten, als er selbst. besseren unter ihnen,

Die Bischöfe, auch die

haßten ihn größtenteils aus dem natürlichen

Widerwillen, einen Mann seines früheren Lebens und Wesens so befremdlich über ihre Häupter erhoben zu sehen.

Schurken, wie

de Brocs, wurden von Motiven geleitet, die Leuten ihres Schlages zu allen Zeiten gemein sind.

Die höheren und besseren weltlichen

Stände, Männer wie die Carls von Arundel und Leicester, be­ kämpfen Thomas mit tiefem Schmerz und stehen in jeder Beziehung in günstigem Gegensatz zu den Bischöfen auf der Seite des Königs. Liebe und Haß waren bei Thomas tiefgehende Leidenschaften, und beide Gefühle vermochte er bei anderen in gleicher Stärke hervor­ zurufen, als er sie selbst empfand. Thomas' geistige Begabung war offenbar eine hochentwickelte im zweiten Rang der Genialität. nicht.

Ein schöpferischer Geist war er

Wir suchen bei ihm vergeblich nach einer ursprünglichen und

umfassenden Idee.

Er hätte nie einen solchen Eindruck auf seine

Zeit hinterlassen können wie Hildebrand unter den Päpsten, Karl der Große unter den Königen. eilt feuriger, stürmischer Geist,

Seine großen Eigenschaften waren eine thatkräftige Energie, welche

jedes Hindernis überwand, eine bewundernswerte Geschmeidigkeit, die sich allen Menschen und Verhältnissen anzupassen verstand, und ein erhabenes Pflichtgefühl, welches ihn unter Ungemach und Ent­ täuschung jeder Art aufrecht erhielt. die Übertreibung seiner Ttigenden.

Seine Fehler waren zumeist Sein Ungestüm wurde oft zu

nutzloser und unüberlegter Heftigkeit; sein fester Wille artete be­ ständig in Starrsinn aus.

Seine Biographen loben an ihm, daß

er die Klugheit der Schlange mit der Unschuld der Taube vereinigt

304

Der heilige Thomas von Canterbury und seine Biographen.

habe.

Wir müssen bekennen,

daß wir an ihm wenig von den

Eigenschaften der Taube oder der Schlange entdecken können.

Ihre

andere Lieblingsbezeichnung „der gerechte Mann, kühn wie ein Löwe", kommt der Sache viel näher.

Seine Feinde haben ihn des Stolzes

und der Doppelzüngigkeit geziehen. fassung von

Zweifellos steigerte er die Auf­

seinem Amt bis zum äußersten Punkt;

sein

langes

Brüten über die erlittene Unbill während seines Aufenthalts zu Sens und Pontigny erfüllte ihn mit einem fanatischen Geist und einer übertriebenen, fast wahnsinnigen Sehnsucht nach dem Märtyrer­ tod.

Indeß wie weit die persönliche Erhöhung des Thomas von

London bischof

noch

eine Rolle

spielte

bei

dem

Bestreben,

von Canterbury und Legaten des heiligen

dem Erz­

Stuhls zum

Triumph zu verhelfen, dürfen Sterbliche nicht wagen zu beurteilen. Die Anklage der Falschheit, welche wir bedauern bei einer Gelegen­ heit

von einem

so

gewichtigen

Autor wie Milman erhoben zu

sehen, ist nach unserer Überzeugung grundlos.

Thomas' Fehler

waren die natürlichen Fehler seines stolzen, ungestümen Charakters, Starrsinn und

Heftigkeit.

Aber Falschheit,

war seiner Natur völlig fremd.

Einmal,

wissentliche Untreue vielleicht zweimal in

seinem Leben, bestimmt in Clarendon, vielleicht auch in Montmirail, ließ er sich zu einem Verhalten überreden, das er selbst nicht ganz billigte.

Er bereute es, zog zurück und verletzte in gewissem Sinne

sein Verspreche». schuldig.

Aber einer überlegten Täuschung war er nicht

Man mag sein Verhalten entweder schwankend oder starr­

köpfig nennen, zwei Eigenschaften, die recht gut mit einander bestehen, man mag es allzu bedenklich nennen; sicher war es herausfordernd und beleidigend: doch verdient es, wie wir meinen, gerechter Weise nicht den Namen der Doppelzüngigkeit. Thomas' ganzer Charakter berührt uns als entschieden weltlich. Er war für Hof und Lager, nicht für Kirche oder Kloster ge­ schaffen.

Seine Bischofs- und Heiligenwürde berühren uns als

Verirrungen.

Es war keine Spur von Heuchelei an ihm, aber

Der heilige Thomas von Canterbury und seine Biographen.

305

seine ganze Heiligenlaufbahn war gekünstellt, unnatürlich und über­ trieben. Sein Unglück war, einer Zeit und einem Stand zu ent­ stammen, welchen die Kirche allein die Mittel zum Emporkommen gewährte. Seine erste bedeutende Beförderung war allerdings welt­ licher Natur; er war ein Staatsmann und Soldat, kein Priester; aber seltsam genug, es war lediglich sein kirchlicher Charakter, welcher ihm gestattete, ein Staatsmann und Soldat zu werden. Seine Familie war achtbar, aber nichts weiter, er selbst schämte sich seiner Abstaminung keineswegs, aber dieselbe war niedrig genug, um seinen Feinden als Mittel zu seiner Verunglimpfung zu dienen. Der Sohn des Gilbert Decket von London hätte als bloßer Laie wenig Aussicht gehabt, des Königs Kanzlei vorzu­ stehen oder des Königs Armeen zu befehligen. Mit der Tonsur war ihm der Weg zu weltlicher wie zu kirchlicher Größe geöffnet. Als Kanzler warf er seinen geistlichen Charakter fast gänzlich ab. Strenge Männer verurteilen den weltlichen Ponip des großen Hofmanns lind Feldherrn, der gleichzeitig Archidiakon von Canter­ bury und Propst von Beverley war. Aber zwei Umstände sind nicht zu vergessen, zunächst, daß er kein Priester war. Mit Ehrenämtern überhäuft, die jetzt kein Diakonus erhalten könnte, verblieb der Schrecken König Ludwigs und der Nathgeber König Heinrichs auf dieser niedern Stufe kirchlicher Rangordnung. Ein fechtender Erzdiakon war ein Ärgernis, obgleich Edward Grim anderer Meinung gewesen zu sein scheint; doch bot Thomas' Ver­ halten nicht das weit größere Ärgernis eines Priesters, der, belehnt mit den mysteriösen Gewalten des Meßopfers und der Absolution, seinen geistlichen Charakter abwirft, wie Cäsar Borgia oder Talleyrand. In der Schätzung unserer Tage erscheint der Unterschied zwischen einem Priester und einem Diakon sehr unbedeutend, doch wenn einmal das volle priesterliche Ideal verwirklicht ist, so wird er ein unendlicher. Fürs Zweite: wenn auch Thomas als Kanzler ein völlig weltliches Lebe» führte, so war dies weder ein irreligiöses, Free man, histor.

Abhandlungen.

20

306

Der heilige Thomas von Canterbury und seine Biographen.

noch ein unmoralisches. Als Laie betrachtet, hätte er selbst damals wohl für einen Heiligen gelten können. Daß er damals schon der Kasteiung seinen Rücken entblößte, ist nicht von großer Bedeutung, da auch Heinrich dann und wann dasselbe that. Aber es ist kein geringer Ruhm, daß ein Mann, den sein Stand von der Ehe aus­ schloß, an einem lasterhaften Hof seine persönliche Keuschheit streng bewahrt hat. Wie weit er dem König seine Laster verwies, wissen wir nicht, aber er widerstand mancher heftigen Versuchung, Teil an denselben zu nehmen, und war ein strenger Richter geringerer Übertreter in der gleichen Richtung. Endlich kam der Moment des großen Wechsels. Thomas der Kanzler-Erzdiakon verwandelt sich in Thomas den Erzbischof. Wir haben alle Ursache, anzunehmen, daß die Ernennung seinen eigenen Wünschen zuwiderlief. Er war in der Sphäre, die seinen Fähigkeiten am Meisten entsprach, so hoch als nur möglich gestiegen, und fühlte kein Verlangen, sich in eine andere zu wagen, der er sich damals wenigstens nicht gleichmäßig gewachsen fühlte. Er warnte seinen Herrn: einmal Erzbischof, sei er sicher, dessen Gunst zu verlieren? Aber Heinrich bestand auf seiner Ernennung, und Thomas wurde zum Priester ordinirt und zum Primas von ganz England erwählt und geweiht. Und jetzt ging die große Veränderung mit ihm vor, durch die er, in der Sprache seiner Biographen, ein anderer Mensch wurde. War die Veränderung wunderbar? War sie heuchlerisch? Oder sollen wir mit Froude sagen, daß von einer plötzlichen Ände­ rung überhaupt nicht die Rede war? Uns scheint sie lediglich die natürliche Folge der Veränderung der Verhältnisse bei einem Mann von Thomas' Charakter. Er war nicht der Mann, etwas halb zu thun; welchem Herrn er auch diente, er diente ihm ganz. Als * Herb. VII, 26; vgl. Rog. I, 108; Will. Fitz-Stephen I, 193; Alan. I 322.

Der heilige Thomas von Canterbury und seine Biographen.

307

Diener des Königs war er der treueste der Kanzler, als Diener der Kirche wollte er der treueste Bischof sein. Wenigstens einer seiner Biographen scheint völlig verstanden zu haben,* was in der That kein so wunderbares Phänomen ist. Thomas war in allen Dingen ein Mann seiner Zeit. Nie sehen wir ihn sich über dieselbe erheben oder unter dieselbe sinken. Er acceptierte ohne Zögern den landlausigen Begriff von einem heiligen Prälaten, und bestrebte sich ihn in seiner eigenen Person zu verkörpern. Der ideale Kleriker jener Zeit war ein Mann, der die stolzesten hierarchischen Ansprüche mit der unbeschränktesten Freisinnigkeit und den strengsten persön­ lichen Kasteiungen verband. In dieses Ideal warf sich Thomas mit dem ihm eigenen Ungestüm. Seine vollkommene Aufrichtigkeit kann niemand bezweifeln, der zugleich die menschliche Natur und die Dokumente jener Zeit studiert hat. Aber der Wechsel, wenn auch vollkommen aufrichtig, war gleichwohl gekünstelt; seine Heiligen­ würde liefe ihm nie ganz natürlich; im Eifer eines Neubekehrten trieb er die Dinge zu weit. Wir bemerken sofort den Unterschied zwischen ihm und jenen heiligen Personen, deren Heiligkeit die Heiligkeit eines ganzen Lebens gewesen ist, oder jenen, die ans offen­ kundigen Sündern plötzlich zu zerknirschten Büfeern bekehrt worden sind. Auch war er keiner jener grofeen kirchlichen Staatsmänner, denen die Kirche lebenslang als ein Vaterland oder eine politische Partei galt. Hätte Thomas zu einer dieser Gattungen gehört, er würde wohl etwas sparsamer mit seinen geistlichen Donnerkeilen umgegangen sein. Aber seine gekünstelte Stimmung bot ihm weder für die Langmnth eines Anselm noch für die Staatsklugheit eines Hildebrand Spielraum. Sein Feuergeist hätte sich gegen beides als * „Siquidem quam ante promotionem suam unus excellentium enituisset saeculo, non minus etiam postmodum inter praecipuos orthodoxorum eminere studuit militans Christo. Nesciebat enim nisi maxiworum unus esse quemcumque sortitus esset ordinem vitaeu Will. Cant, bei GileS II, 130.

308

Der heilige Thomas von Canterbury und seine Biographen.

gegen Trägheit in Gottessachen aufgelehnt. Thomas konnte in seiner Weise mild und freundlich fein, doch kostete es ihn immer Anstrengung. Sich persönlich konnte er erniedrigen, wie er dies seinem Sittenrichter Johann von Salisbury gegenüber that; aber die Rechte seines Amtes, die Sache der Kirche durften niemals durch ihn erniedrigt werden. Während seines Lebens paßte ihm das Ge­ wand des Heiligen niemals recht. Während seiner ganzen Lauf­ bahn kommt der alte Adam fortwährend zum Durchbruch. Wir sehen den Geist früherer Tage, wenn er in Rorthampton seinem Verläumder entgegnet, wäre er ein Ritter, so sollte sein Schwert die Gerechtigkeit seiner Sache beweisen; wenn ihn an der flämischen Küste sein Blick verrät, der an dem Falken auf des junge» Edel­ manns Faust haftet; wenn noch in seiner letzten Stunde, nach Jahren der Buße und Kasteiung, der starke Arm, der Engelram de Trie aus dem Sattel gehoben, den Reginald Fitz-Urse auf den Fußboden der Kathedrale niederstreckt. Er bricht in weniger ver­ zeihlicher Form hervor in jenen Worten, mehr der Schmähung als des Tadels, deren er sich selbst in der Stunde der Beichte und des Märtyrertums nicht enthalten konnte.* Wäre sein früheres Leben ein sündenvolleres gewesen, so möchte ihm seine Umwandlung einen mehr geläuterten und zum Dienst seines Schöpfers wahrhaft gedemütigten Sinn gegeben haben. Aber eine erkünstelte, wenn auch durchaus aufrichtige Heiligkeit hat immer etwas unfertiges und un­ gereimtes an sich. Bedurfte die Kirche wirklich eines Kämpfers, so war Thomas' Löwenherz sicherlich weniger für diesen Beruf ge­ schaffen, als die wahre Vereinigung von Taube und Schlange, wie sie sich in seinem Freunde und Mahner Johann von Salisbury findet. Unser Urteil über Thomas' persönlichen Charakter darf nicht * „Garcionem et spurium“ (Will. Cant, bei Giles II. 13) zu „Leonem appellans“ zu Canterbury (E. Grim, bei Giles,

Northampton. I. 76).

Der heilige Thomas von Canterbury und seine Biographen.

309

durch noch so wohl begründete moderne Anschauungen von der ab­ strakten Gerechtigkeit der Sache, die er verfocht, beeinflußt werden. Die Immunität des Klerus von der Jurisdiktion der Civilgewalt würde heutzutage in jedem wohl regierten Lande mit Recht monströs genannt werden. Worauf es ankommt, ist zu beweisen, daß dies eine Sache war, die sich im zwölften Jahrhundert sehr wohl mit Ehren verteidigen ließ. Und dies war sicher der Fall. Thomas hat die Forderungen des Klerus nicht erfunden; er verteidigte sie lediglich, wie er sie vorfand. Auch wenn die „Customs" die geltende,» Ge­ setze des Landes waren, was sehr zweifelhaft erscheint, so waren sie Gesetze, denen ein Geistlicher jener Tage sich höchstens geduldig unterwerfen konnte, deren Anerkennung und Gutheißung sich nicht von ihm erwarten ließ. Keiner seiner bischöflichen Kollegen empfand irgend größere Zuneigung zu den „Verordnungen von Clarendon" als Thomas; sie unterwarfen sich einfach aus Furcht, einige von ihnen deutlich genug gegen ihre eigene Überzeugung. Die h ftigste Anklage, welche je gegen Thomas verfaßt worden ist, der berühmte Brief Gilbert Foliots,* tadelt den Erzbischof nicht, weil er dem König widerstand, sondern weil er ihm nicht energischer wider­ stand. Und wir dürfen nicht vergessen, daß die sogenannten Frei­ heiten der Kirche, wenn sie unserer Auffassung von einer geordneten Regierung aufs Äußerste widerstreiten, in jenen Zeiten in einem andern Licht erschienen. Der moderne Begriff von Regienmg ist ein System gleichen Rechts für jeden Teil des Landes und jede Klasse der Bevölkerung. Im Mittelalter suchte sich jeder Stand, jeder Distrikt, jede Stadt in ihrer eigenen Rechtsprechung zu isoliren. Edle, Bürger, Ordensritter, wo immer jeder Stand sich stark genug fühlte, lehnten jede andere Jurisdiktion als die von ihres Gleichen ab. Jede Stadt versuchte sich, soviel sie konnte, * Ep. Gilb. Fol. bei (Stieg V, 272.

310

Der heilige Thomas von Canterbury und seine Biographen.

den Verhältnissen einer selbständigen Republik zu näherm Eine Provinz hielt sich für bevorzugt, wenn sie ein von dem übrigen Teil des Königreichs verschiedenes Gerichtsspstem erlangen konnte. Auch innerhalb der kirchlichen Schranken finden wir gesonderte Jurisdiktion; Orden, Klöster, Kapitel, Kollegien schütteln die Autorität der regelmäßigen geistlichen Richter ab und sehen ein exceptionelles Tribunal aus ihrer eigenen Mitte an die Stelle. Daß der Klerus nur vor ein geistliches Gericht gefordert werden durfte, war bei einem solchen Zustand für ihn gar nichts so un­ geheuerliches. Es wurde dies freilich mit völlig verschiedenen Gründen verteidigt, als jede andere Exemtion, aber eine solche konnte überhaupt nur in einer Lage der Dinge entstehen, da derartige Exemtionen aller Art an der Tagesordnung waren. Und ferner dürfen wir nicht übersehen, daß die Begriffe von kirchlichen und priesterlichen Privilegien sich nicht so vollständig deckten, als wir uns dies mit­ unter vorstellen. Sie schützten nicht nur ordinierte Geistliche, son­ dern alle geistlichen Beamten jeder Art; die geistlichen Gerichtshöfe forderten auch die Jurisdiktion in den Sachen von Wittwen und Waisen.* Die Privilegien, für die Thomas stritt, übertrugen, kurz gesagt, einen großen Teil der Bevölkerung, und zwar gerade den hülflosesten, von dem blutigen Arm der Gerichte des Königs an die mildere Jurisdiktion des Bischofs. Zwar war die geist­ liche Gerichtsbarkeit offenbar nicht geeignet, sich mit der schwersten Art von Verbrechen zu befassen, aber andererseits ahndete sie nicht wie die der königlichen Gerichtshöfe leichte Diebstähle und Über­ fälle mit so ungeheuerlichen Strafen, wie Blendung und Kastra­ tion.** Eine der „Verordnungen von Clarendon", welche es ver­ bot, Leibeigenen ohne die Zustimmung ihres Herrn die Weihen zu * Vgl. den Brief von Johann von Poitiers, Giles, Ep. GUb. Fol. VI, 238. ** Man vergleiche hierüber eine sehr merkwürdige Erzählung in Benedicts „Miracles of 8t. Thomas“ pp. 184—193. Über die Grausamkeit der königlichen Gerichtshöfe siehe Herb. VII, 105.

Der heilige Thomas von Canterbury und seine Biographen.

311

erteilen, zielte direkt auf das einzige Mittel, durch welche die unterste Klasse im Staate sich zu erheben vermochte. Und diese Verord­ nung blieb nicht unbeachtet, wie Milman meint,* im Gegenteil rief sie einen entrüsteten Ausbruch eines nahezu demokratischen Ge­ fühls bei dem französischen Biographen des Thomas hervor. ** Aber wenn wir Thomas Gerechtigkeit widerfahren lassen, müssen wir auch Heinrich Gerechtigkeit widerfahren lassen. Ein Fremder, wie er war, unbekümmert um speziell englische Interessen, und be­ fleckt wie sein Leben war mit Lastern und Fehlern verschiedener Art, hatte Heinrich dennoch viele von den Eigenschaften eines großen Herrschers, und wir haben keine Ursache zu zweifeln, daß er auf­ richtig bestrebt war, sein Reich gut zu regieren. Die Bürgerkriege während Stephans Herrschaft hatten England in einem Zustand völliger Anarchie gelassen. Diesen Zustand der Dinge zu ändern, ließen sich König Heinrich und Kanzler Thomas in gutem Ernst angelegen sein. Ihre Regierung that viel für die Wiederherstellung von Ordnung und Friede; aber es ist leicht einzusehen, daß wenn die Herstellung von Ordnung und Friede eine vollständige sein soll, keinem Stand erlaubt sein darf, das Gesetz mit der Gewißheit einer unzulänglichen Bestrafung zu umgehen. Thomas' eigene Bewunderer beurteilen Heinrichs Sache sehr billig, und lassen seinen Motiven volle Gerechtigkeit widerfahren.*** Herbert gar geht so weit, zu sagen, daß beide, König und Erzbischof, für Gott eiferten, und überläßt es Gott selbst, zu entscheiden, wessen Eifer mit dem Wissen

* Lat. Christ. III, 465.

**

„Fils k vilains ne fust en nul liu ordenez Sanz l’otrei sur seignur de cui terre il fu nez\ Et Deus k sun servise nus a tuz apelez! Mielz valt fils k vilain qui est preuz et senez Que ne feit gentilz hum failliz et debutez.“ Garnier, p. 89.

**• Vgl. Heck bei Giles VII, 102, 122.

Ann. Lamb. II, 85, 86.

312

Der heilige Thomas von Canterbury und seine Biographen.

übereinstimmte. * Kein Zweifel, beide, Heinrich und Thomas hatten das Übet erkannt, und jeder war mit Energie bemüht, es auf seinem eigenen Wege auszurotten. Die Zahl der geistlichen Verbrecher war groß, einige ihrer Verbrechen sehr ernster Art. Thomas that während der kurzen Zeit, die er in England als Erzbischof lebte, sicherlich sein Bestes, dem Übel an die Wurzel zu gehen, durch ungewöhnlich vorsichtige Auswahl derer, denen er die Weihen erteilte; auch belegte er die Missethäter, die er vor der Rache des Königs schützte, mit schweren Strafen, wenn auch nicht an Leib oder Leben. Trotzdem unterliegt es feinem Zweifel, daß es damals eine beträchtliche Anzahl Geistlicher in England gab, für die der Galgen die einzig angemessene Kur gewesen wäre. Heinrich hatte eine stolze Laufbahn vor sich, hätte er nur an seinen eigenen Grundsätzen stetig festgehalten. Die einzige Gefahr war, daß die volle Ausführung dieser Grundsätze zu Konsequenzen ge­ führt haben würde, für die das zwölfte Jahrhundert noch nicht reif war. Sie enthielten nicht allein die Unterwerfung des Klerus unter die ordentliche Gerichtsbarkeit, sondern die Abschüttelung jeder Abhängigkeit vom römischen Stuhl. Diese edle, wenn auch viel­ leicht unausführbare Sache gab Heinrich freiwillig auf. Er ließ den Streit von einem Prinzipienkampf in eine kleinliche, persönliche Verfolgung des Erzbischofs ausarten. In der Scene zu Clarendon sehen wir den Zusammenhang zweier Sachen, bereit jede Elemente des Rechten enthielt. In der Scene zu Northampton sehen wir nur eine Reihe niedriger und boshafter Versuche, einen Mann zu vernichten, der mißfällig und gefährlich geworden war. Hein­ rich war jetzt der Tyrann, und Thomas der Held. Indem Hein­ rich seinen Bischöfen an den Papst zu appellieren erlaubte, indem er selbst an den Papst appellierte, gab er seine eigene Sache auf. Und er verbesserte sie nicht, wenn er den Papst als Schiedsrichter anerkannte, so oft er ihn günstig gesinnt glaubte, dagegen sobald * Herb. VII, 108, 109.

Der heilige Thomas von Canterbury und seine Biographen.

313

er sich gegen ihn wandte, alle die, welche päpstliche Briefe in das Königreich brachten, mit den schwersten Strafen bedrohte. Hein­ rich erscheint, wenigstens zu Anfang, als ein Staatsmann von weiterem und hellerem Blick. Thomas dagegen verdient das höhere moralische Lob, fest und männlich zu den Prinzipien gestanden zu haben, die er in seinem Gewissen für die richtigen hielt. Und jetzt einige Worte über die Schlußscene. Wie gewöhn­ lich finden wir hier eine heldenhafte Festigkeit, ein stolzes Rechtsgesühl, vermischt mit Umständen, die dem reinen Heiligenideal Ab­ bruch thun. Wir zollen mehr Bewunderung als Anerkennung. Wir halten Thomas' Rückkehr nach England, begleitet von einem Sturm von Kirchenstrafen und Exkommunikationen, für entschieden tadelnswerth; ebenso dachte» Viele seiner verständigsten Zeitgenossen. Eine Amnestie bei einer solchen Rückkehr im Triumph würde man von einem weltlichen Eroberer naturgemäß erwartet haben; weit besser mußte dieselbe einem in unblutigem Kampfe siegreichen Diener des Friedens anstehe»; aber in dem Zustand fanatischer Exaltation, in welchen Thomas sich jetzt selbst hineingearbeitet hatte, wäre Milde als ein Verbrechen erschienen, welches den Fluch von Meroz auf sich lade» mußte. Die Züchtigung der widerspänstigcn Prälaten versäumt zu haben, wäre soviel gewesen, als den Herrn im Kampf gegen die Mächtigen der Erde im Stich zu lassen. Der Streit an sich war nicht so kleinlich, als es in unseren Tagen scheint. Das alte Recht des Primas von Canterbury, Englands König zu krönen, erscheint uns lediglich als ein ehrenvolles Privilegium; ein ganz ander Ding war es, wenn ein König nicht König war, ehe er gekrönt und gesalbt war. Und bei der thatsächlichen Wahl, die ihm gestellt war, kann niemand wünschen, daß Thomas anders ge­ wählt hätte, als er cs that. „Sprich die Prälaten los, flieh' oder stirb!" Er wollte nicht fliehen; er war einmal geflohen, er wollte seine Kirche nicht wieder verlassen. Was die Absolution anlangt, so war er wohl kanonisch im Recht mit der Behauptung, daß nur

314

Der heilige Thomas von Canterbury und seine Biographen.

der Papst die Macht habe, sie auszusprechen. bedingungsweise Absolution an.

Doch bot er eine

Ob nun der Spruch gerecht oder

ungerecht, weise oder thöricht war, kein öffentlicher Beamter, Bischof, Richter oder wer sonst hätte es rechtfertigen können, ein feierliches und formrichtiges Urteil auf die Bitten und Drohungen von vier bewaffneten Raufbolden, ohne irgend gesetzliche Autorität hin zu­ rückzunehmen.

Die Bischöfe aus Furcht vor Tracy's und Fitz-

Urse's Worten zu absolvieren, wäre in der That unwürdige Feig­ heit gewesen.

Daß Thomas ein höchst ungesundes Streben nach

dem Märtyrertod zeigte, läßt sich nicht leugnen; aber ein Märtyrer war er sicherlich, nicht nur für die Privilegien der Kirche oder für die Rechte des Stuhls von Canterbury, sondern für die allgemeine Sache des Rechts und der Ordnung im Gegensatz zu Gewaltthat und Mord. Wir haben so versucht, im klaren Licht unparteiischer histo­ rischer Kritik einem Mann gerecht zu werden, dessen Geschichte durch drei und ein halbes Jahrhundert der Anbetung, gefolgt von drei Jahrhunderten der Verläumdung getrübt worden ist. Der fast vergötterte heilige Thomas, der geschmähte Thomas Decket er­ scheint in diesem Licht als ein Mann von großen Gaben, mit hohen und redlichen Vorsätzen, dessen Tugenden aber durch große Fehler entstellt wurden, und der sich in eine Stellung versetzt sah, die seinem Charakter unangemessen war.

Uneingeschränkte, urteilslose

Bewunderung, wie uneingeschränkte Schmähung sind gleich unan­ gemessen

einem so verschiedenartig zusammengesetzten Charakter

gegenüber; am unangemessensten erscheint kleinliches und beißendes Spötteln. Thomas und sein Zeitalter sind vorüber. Er hat vielleicht keinen direkten Anspruch auf unsere Dankbarkeit als Eng­ länder, keinen sicherlich für die Thaten, durch die er sich am meisten die Bewunderung seiner eigenen Zeit gewann.

Er errang

die Märtyrerkrone, indem er für Grundsätze kämpfte, die schließlich unterliegen zu sehen uns alle mit Freude erfüllen muß. Die Kon-

Der heilige Thomas von Canterbury und seine Biographen.

315

stitutionen von Clarendon sind jetzt, mit der vollen Zustimmung aller, ein Teil und Bestandteil unseres Gesetzes.

Wir beanspruchen

nicht für Thomas von Canterbury einen Platz neben Alfred und Athelstan, neben Stephen Langton und Simon de Montfort, aber als ein großer und heroischer Engländer hat er volles Anrecht auf eine unparteiischere Achtung als die, welche wir Wohlthätern ent­ gegenbringen, deren Gaben wir noch genießen. Bei keinem so weltberühmten Mann sind fast alle sichtbaren Erinnerungen so sehr verwischt: Northampton Schloß ist ver­ schwunden, die Kathedrale von Canterbury ist umgebaut; nur wenig Überreste bleiben, auf denen Thomas' Augen geruht haben können. Keine große Stiftung, kein prächtiges Schloß oder Münster besteht, um Zeugnis abzulegen von seiner Freigebigkeit oder seiner Liebe zur Kunst. dasselbe.

Er lebte in seinem eigenen Zeitalter und für

Um ihn vollständig zu verstehen, muß man erst voll­

ständig begreifen, was jenes Zeitalter war. Und kein gerecht denkender Mann, der die Geschichte und Litteratur des zwölften Jahr­ hunderts beherrscht, und die Fähigkeit erlangt hat, mit einem leb­ haften Interesse auf Zeiten einzugehen, die unserer eigenen so fremd sind, kann seine Studien beschließen ohne die Überzeugung, daß Thomas von Canterbury mit all seinen Fehlern gerechten Anspruch auf einen Platz unter den berühmten Männern hat, auf die Eng­ land stolz ist.

IX.

Die Negierung Löuarö -es Dritten. Fortnightly Review, Mai 1869.

Für Freunde ritterlicher Abenteuer ist wohl kein Teil der englischen Geschichte anziehender, als die Regierung Eduard des Dritten. Eduard selbst ist in gewissem Grade ein volkstümlicher Held, und sein Sohn, der schwarze Prinz, ist dies in weit höherem Grade. Doch an Eduard selbst, wenn wir ihn unparteiisch zu prüfen beginnen, findet sich nicht viel der Bewunderung würdiges, und in Betreff seines Sohnes ist es eine ärgerliche Sache, daß er wegen seiner schlimmen Thaten bewundert wird. Indem wir alle ritterlichen Spielereien und Nichtigkeiten bei Seite lassen, müssen wir, so gut wir können, die guten und die schlechten Seiten des Mannes abwägen, der gleichzeitig der grausame Eroberer von Limoges und der patriotische Staatsmann des Good Parliament war. Für den politischen Forscher ist die Regierung Eduards auf den ersten Blick fast abstoßend, doch zeigt eine nähere Untersuchung bald, daß ein gutes Teil wichtiger Materie unter der Oberfläche verborgen ist. Die ursprüngliche und populäre Vorstellung von Eduard dem Dritten und seinem Sohn ist, daß sie zwei große Eroberer waren, welche glänzende Siege gewannen, Siege, die zur Genüge zeigten,

Die Regierung Eduard des Dritten.

317

welch' kleine Zahl von Engländern hinreichte, eine große Masse von Franzosen zn schlagen.

Und niemand wird in Abrede stellen, daß

die Siege von Crecy, Poitiers, selbst von Navarete, wirklich herr­ liche Siege waren, Siege, deren Schilderung man selbst jetzt nicht lesen kann, ohne von nationalem Stolze ergriffen zu werden.

Das

Unglück ist, daß es Siege waren, die durchaus keinem Zwecke dienten, Crecy und Navarete durchaus keinem Zweck, Poitiers nur einem sehr vorübergehenden.

England war erfolgreich in der Schlacht,

aber es wurde im Krieg gänzlich geschlagen. Eduard der Dritte trat durch rechtliche Erbschaft in Besitz eines großen Teils von Südgallien.

Er hinterließ seinem Nach­

folger den bloßen Schatten dieses alten Erbguts, und den noch schattenhafteren Anspruch auf das

Königreich

Frankreich

selbst.

Seine einzige Eroberung, in des Wortes strenger Bedeutung, war Calais.

Man mag einen Gesichtspunkt aussinnen, aus welchem

betrachtet der Gewinn von Calais den Verlust von fast ganz Aqui­ tanien aufwiegt, doch ist dies ein äußerst philosophischer Gesichts­ punkt und gewiß nicht der, aus dem man in der Zeit Eduard des Dritten die Dinge betrachtete.

Die einfache und nackte Wahr­

heit in Bezug auf Eduards Negierung ist die, daß diese Regierung eine Zeit großer territorialer Verluste war.

So weit der Ruhm

im Gewinne wunderbarer Schlachten und im Gefangennehmen fremder Könige besteht, hat kein anderes Zeitalter in der englischen Ge­ schichte ähnlichen Ruhm aufzuweisen.

Doch zu keiner andern Zeit,

mit Ausnahme der Heinrich des Sechsten wurde England so gänz­ lich solcher Besitzungen beraubt, die einst sein Eigentum gewesen waren. Der Vergleich, den ich eben gemacht habe, legt einen anderen nahe.

Man kann es kaum vermeiden, die beiden großen Perioden

englischer Kriegsfahrten und englischer Siege in Frankreich einander gegenüber zu stellen.

Eduard der Dritte und Heinrich der Fünfte

bedingen fast notwendig einer den andern ; doch ist die Verschieden-

318

Die Regierung Eduard des Dritten.

heit zwischen beiden Männern eine unendliche.

Es findet sich aller­

dings eine überraschende, oberflächliche Ähnlichkeit zwischen jenen Kriegsthaten der beiden Fürsten, welche für sich das dauerndste Gedächtnis im Herzen des Volks gefunden haben.

Die Geschichte

von Azincourt ist eine fast wörtliche Wiederholung der Geschichte von Crecy, und der Sieg von Azincourt war kaum reicher an unmittelbaren Erfolgen, als der Sieg von Crecy.

Aber Eduard

war nur Sieger in der Schlacht; Heinrich war Sieger im Krieg, in der Diplomatie, in allem, was er unternahm.

Liest man die

Geschichte der Regierung Eduards, so scheinen die Jahre hinzu­ gehen, man weiß nicht wie.

Alle zehn Jahre eine große Schlacht,

ein glorreicher Sieg, aber die dazwischen liegenden Zeiträume gleiten hin wie ein Traum.

Sie sind voll von zwecklosen, unzusammen-

hängenden Ereignissen, welche sich keiner bestimmten Ordnung an­ passen, und welche im Gedächtnis zu behalten fast eine Unmöglich­ keit ist.

Das Zeitalter ist rührig genug; es geht immer etwas

vor sich; die Schwierigkeit ist, zu verstehen, oder im Gedächtnis zu behalten, was es ist, das vor sich geht.

Wir bewegen

uns

rückwärts und vorwärts, von Britannien nach der Gascogne, von Flandern nach Deutschland, von Schottland nach Castilien, ohne einen sehr klaren Begriff zu haben, warum wir so rückwärts und vorwärts bewegt wurden.

In Heinrichs Regierung dagegen ist das

das wunderbare, wie so viele große Ereignisse, eines dem andern dicht auf den Fersen folgend, in die wenigen Jahre seiner Kriegs­ züge zusammengedrängt sich finden konnten.

Eduard, kurz gesagt,

führte Krieg wie ein irrender Ritter; der Krieg war ein vornehmer Zeitvertreib für Fürsten und Edle; die ganze Sache, von Anfang bis zu Ende, liest sich wie die Schilderung eines langdauernden Turniers, eines Turniers, das zum Vergnügen und Ruhm einiger weniger auf Kosten duldender Millionen abgehalten wird.

Heinrich

kümmerte sich um menschliches Elend so wenig, als es Eduard that, vielleicht noch weniger.

Der Belagerer von

Rouen war

zum

Die Regierung Eduard des Dritten.

319

mindesten eben so hart, als der Belagerer von Calais.

Aber

Heinrichs Kriegsführung war kein zweckloses Turnier; kein Schlag wurde von ihm geführt, weder im Feld noch im Rat, ohne tiefen und tötlichen Ernst.

Er führte nicht Krieg als ein irrender Ritter,

sondern als ein Heerführer und Staatsmann höchsten Rangs, als ein König, würdig, die Krone des großen Wilhelm und des großen Eduard zu tragen.

Zweifellos war Heinrich vom Glück begünstigt,

wie wenige Menschen je begünstigt waren. Frankreich lag in einem Zustand vor ihm, der geradezu seine Invasion

herauszufordern

schien.

Die

Ermordung

Johanns

von Burgund und die von seinem Sohn eingenommene Stellung dienten Heinrichs Zwecken so direkt, als wenn er sie selbst von langer Hand geplant hätte. baren Vorteile.

Eduard hatte jedenfalls keine so offen­

Doch worin anders bestehen schließlich die Eigen­

schaften eines Staatmannes als darin, daß er aus den Vorteilen, die sich ihm gerade bieten, das beste zu machen weiß?

Heinrichs

Stellung war ohne Zweifel viel vorteilhafter, als die Stellung Eduards; aber Heinrich zog den größtmöglichen Nutzen aus seiner Stellung, während es den Eduards, Vater und Sohn, nicht gelang, den gleichen Nutzen aus der ihrigen zu ziehen. seine Ziele, und er erreichte dieselben.

Heinrich kannte

Eduard erreichte seine Ziele

nicht, oder vielmehr es ist schwer zu sagen, ob er überhaupt irgend welche Ziele zu erreichen hatte. Fragt man nach der Moralität der zwei großen Unter­ nehmungen gegen Frankreich, so fühlt sich ein moderner Schriftsteller vielleicht versucht, beide, Eduard und Heinrich, mit ungebührlicher Strenge zu beurteilen.

Lord Brougham zum Beispiel zieht Hein­

rich vor das Tribunal des abstrakten Rechts, und vor dem Tri­ bunal des abstrakten Rechts spielt Heinrich, wie wir zugeben müssen, nur eine schlechte Figur.

Doch es ist selten gerecht, einen histo­

rischen Charakter nach einem so unveränderlichen Maßstab zu be­ urteilen;

wir müssen die allgemeinen Verhältnisse, die Gewöhn-

320

Die Regierung Eduard des Dritte».

heilen, die Ansichten, die Vorurteile des Zeitalters in Anschlag bringen.

Als

eine Vorlesung

über Moralphilosophie, als ein

Beweis für die Lehre, daß der Mensch sich weit von der ursprüng­ lichen Gerechtigkeit verirrt habe, ist Lord Bronghams Urteil über Heinrich den Fünften äußerst belehrend; doch als ein Bild Heinrich des Fünften ist es ungerecht.

Der Biograph Eduards. Longinan,

kann nicht schneidende Waffen schwingen, wie Lord Brougham. doch ist er in der That gerechter in seinem Urteil über Eduard, als Lord Brougham

in seinem Urteil über Heinrich.

Er ist

von

Eduards etwas oberflächlichem Ruhm nicht begeistert, doch er ver­ meidet ebenso sehr das andere Extrem unbilliger Härte.

Er hebt

die Thatsache besonders hervor, daß Eduard thatsächlich von Philipp zum Krieg gezwungen wurde.

Philipp hatte in Wahrheit eine

Politik, während Eduard keine hatte.

Philipps Politik war die

einleuchtende, die traditionell französische Politik, die Politik der Befestigung des Reichs durch passende Annexionen.

Er zielte deut­

lich auf die Annexion von Eduards Herzogtum Aquitanien, und er­ suchte nach einem Krieg, der ihm eine Gelegenheit geben könnte, es zu annektieren.

Ein völlig ruhiger und leidenschaftsloser englischer

Staatsmann könnte im Zweifel gewesen sein, ob Aquitanien des Festhaltens

wert sei.

Aquitanien

war, wie wir uns erinnern

müssen, damals entschieden eine englische Dependenz.

Als England

und Aquitanien zuerst Besitzungen desselben Herrschers wurden, war dies nicht der Fall.

Heinrich von Anjou, König von Eng­

land, Herzog von der Normandie, Herzog von Aquitanien, Graf und Herr einer Menge kleinerer Gemeinwesen, war ebensowenig ein

nationaler Fürst

in einem

dieser Staaten,

als Karl von

Gent in Castilien oder Deutschland oder Sicilien ein nationaler Fürst war.

Heinrichs verschiedene kontinentale Besitzungen jedoch, so

sehr sie sich auch nach Sprache und Gefühlen von einander unter­ scheiden mochten, konnten noch als Bestandteile angesehen werden, die ein Ganzes bildeten, im Gegensatz zu seinem Jnselreich.

Und

Die Negierung Eduard des Dritte«.

321

in seinen Angen wie in denen seiner unmittelbaren Nachfolger überragen sie sicherlich sein insulares gleich. Heinrich war in erster Linie ein großer kontinentaler Herrscher, der Rival seines weniger mächtigen Oberherrn in Paris. Daß er auch König von England war, war eine sehr wichtige Zugabe zu seiner Macht und Stellung; es war jedoch mir eine Zugabe, und wenig mehr. Allein die Dinge änderten sich, als Johann seine sämmtlichen Besitzungen in Nordgallien verlor, mit einziger Ausnahme der insularen Normandie, welche seine Nachfolger bis heute im Besitz behalten habe». Aqui­ tanien, oder was davon übrig blieb, war jetzt lediglich ein Zube­ hör Englands, eine außerhalb und fern gelegene Besitzung der englischen Krone. Und wie sich die Beziehungen Aquitaniens zu England änderte», so änderten sich auch seine Beziehungen z» Frank­ reich. Wir dürfen nicht vergessen, daß Aquitanien, wen» auch ein Lehen der französischen Krone, doch in keiner Weise eine französische Provinz war. Außer der kurze» Zeit, während welcher Ludwig der Siebente dort in Vertretnng Eleonorens herrschte, war Aqui­ tanien niemals eine Besitzung der Pariser Könige gewesen, und seine Bevölkerung hatte nach Sprache und Abstanimung keinerlei Verwandtschaft mit der Bevölkerung Frankreichs, mit Ausnahme jener allgemeinen Verwandtschaft, welche cs gleicherweise mit der Bevölkerung Spaniens und Italiens hatte. Als Heinrich Herr von None», von Tours und von Bordeaux war, schien keine dieser Städte irgendwie verpflichtet, sich vor Paris zu beugen. Aber als Paris Nonen und Tours sich einverleibt hatte, war die Stellung von Bordeaux merklich verändert. Sie war sowohl politisch als geographisch verändert. Aquitanien war jetzt nicht länger ein Be­ standteil der großen kontinentalen Monarchie Heinrichs. Es war eine Dependenz des Jnselreichs, welche in Folge der französischen Eroberung von Toulouse auf allen Seilen von französischem Territorium umgeben war, mit Ausnahme jener, welche die See und das Gebirge einnahmen. Der Pariser König, statt ei» rein Free man,

bistor.

Abhandlungen.

2t

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6>ie Regierung Eduard des Dritten.

nomineller Suzerän zu sein, war jetzt der unmittelbare Herr des größten Teils von Gallien.

Aquitanien erschien jetzt als ein natür­

licher Bestandteil seines Reichs,

der ihm unnatürlicher Weise von

einem fern wohnenden Herrscher vorenthalten wurde.

Innerhalb

des Herzogtums selbst zeigten die Gefühle der Einwohner große Verschiedenheiten und Schwankungen.

Es gab da immer eine eng­

lische und eine französische Partei; Anzeichen einer spanischen Partei, wie wir sie im dreizehnten Jahrhundert sehen, können mir im vier­ zehnten nicht bemerken. Und es wäre nicht zu verwundern, daß die Ansichten über die Frage, ob es für das Land besser sei, eine Dependenz Englands zu bleiben, oder ein integrirender Bestandteil Frankreichs zu werden, geteilt waren.

Es kann nicht zweifelhaft

sein, daß die englische Regierung die bessere von beiden war, wie es sich bald nach der endgültigen Eroberung Aquitaniens heraus­ stellte.

Der nähere Herr war den lokalen Freiheiten und Gewohn­

heiten weit gefährlicher, als der entferntere.

So lange Bordeaux

eine entfernte Dependenz Englands war, kam es der Stellung einer freien Stadt

viel näher,

als

da es

Frankreichs herabgesnnken war.

zu

einer Provinzialstadt

Doch die Engländer versäumten

damals, wie sie es jetzt versäunien, sich ihren Unterthanen andern Stammes und anderer Sprache anzupassen.

Ihre Regierung war

wesentlich besser, als die Frankreichs, aber sie war weniger an­ ziehend. Frankreich begann schon damals jene seltsame Bezauberung auszuüben, welche es noch jetzt ausübt, und welche es ihm ermög­ licht, seine Eroberungen in einer Weise in sich aufznnehnien und sich dieselben zu assimilieren, in welcher noch keine andere erobernde Macht erfolgreich mit ihm rivalisiert hat.

Und

so ausgeprägt

der ethnische Unterschied zwischen Aquitanien und Frankreich war, war er doch unbedeutend, verglichen mit dem ethnischen Unterschied zwischen Aquitanien und England.

All diese Ursachen trugen dazu

bei, sehr geteilte Ansichten in dem Herzogtum

hervorzurufen.

Die

Stärke Englands lag hauptsächlich in den Städten; die Stärke

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Die Regierung Eduard des Dritten.

Frankreichs lag hauptsächlich in dem Adel des Landes.

Doch es ist

leicht, im Verlauf der Kriege Eduards zu sehen, daß die englische Partei abnahm, und die französische Partei im Wachsen begriffen war.

Diese große Provinz zu annektiren, die ihm so verführerisch

offen lag, eine Ecke, die so nötig erschien, um seine Besitzungen abzurunden, war der Hauptzweck der Politik Philipps von Valois. Wir neigen meist dazu, Eduard zu tadeln, weil er für sich selbst Ansprüche auf die französische Krone erhob, nachdem er Philipp ge­ huldigt und ihn hierdurch als rechtmäßigen König Frankreichs an­ erkannt hatte.

Aber Eduard war offenbar von Philipp zum Krieg

aufgestachelt, und er scheint den Titel eines Königs von Frankreich ebensosehr um den Skrupeln der Flamänder genug zu thun, als aus irgend einem andern Grund angenommen zu haben.

Es war

offenbar ein sich treiben lassen zum Krieg, zu einem Krieg, der un­ geachtet der beiden großen Schlachten, und vieler anderer tapferer Kriegsthaten in einer Weise

begonnen,

fortgeführt und beendet

wurde, die durchaus zwecklos und verwirrend ist. Der erste Krieg, der Krieg von Crecy und Poitiers, wurde durch den Frieden von Bretigny beendet.

Es fehlt oft an dem

richtigen Verständnis dafür, welch wichtigen Einfluß dieser Frieden auf die Kriege des nächsten Jahrhunderts hatte.

Die Franzosen

haben vollkommen recht, von der ganzen Zeit von Eduard

dem

Dritten bis zu Heinrich dem Sechsten als von dem hundertjährigen Krieg zu sprechen. Rechtfertigung

Der Friede von Bretigny war die formelle

Heinrich des Fünften.

Auf keine Weise

konnte

Heinrich irgend welche Erbrechte an die französische Krone begründen. Das Prinzip, nach welchem Eduard der Dritte die Krone beansprucht hatte, war das Prinzip der weiblichen Erbfolge, und das Prinzip der dem

weiblichen Erbfolge würde die Rechte Eduard des Dritten Stamm

Mortimers verliehen

haben.

Aber Heinrich

der

Fünfte bestieg den Thron Englands zu einer Zeit, in welcher Eng­ land im Krieg mit Frankreich war.

Der Friede von Bretigny

21*

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Die Regierung Eduard des Dritten.

ward zweifellos von französischer Seite gebrochen. Von Bretigny bis Troyes wurde kein anderer Friede geschlossen; es gab nur Zeiten des Waffenstillstands, und am Ende jedes Waffenstillstands hatte der König von England ein völliges formales Recht, den Krieg wieder zu beginnen. Daß der Friede von Bretigny keine Dauer hatte, ist ein Beweis für den Wechsel der Gefühle, der nach und nach über Südgallien gekommen war. Wir können sicher sein, daß zwei Jahrhunderte früher der aquitanische Patriotismus sich an einer Festsetzung erfreut haben würde, die die Länder südlich der Loire von aller Ober­ herrschaft der Pariser Krone frei gemacht hätte. Ein großer Teil der früheren Besitzungen Heinrich des Ziveiten unterwarf sich jedoch nur mit äußerstem Widerstreben jenen Bestimmungen des Vertrags, welche sie dem Abkömmling ihrer alten Herzöge zurückgaben. Selbst innerhalb der Länder, die nie von England getrennt waren, scheint die Herrschaft des schwarzen Prinzen nicht völlig Wurzel geschlagen zu haben. In der That ward ein unabhängiges Fürsten­ tum Aquitanien, nach französischer Redeweise, rasch ein Anachronis­ mus. Uitb ein unabhängiges Fürstentum Aquitanien in den Händen eines englischen Prinzen war eine Art angemaßter Anspruch im Handel. Zu einer früheren Zeit mochten unabhängige Gemeinwesen von Bordeaux und La Rochelle etivas mehr als ein Traum gewesen sein. Aber in Aquitanien, wie überhaupt in den Lehen der Pariser Krone, mit der einzigen halben Ausnahme von Flandern, war die fürstliche Gewalt, ob königlich, oder herzoglich, immer zu stark, um das Emporwachsen des Systems der freien Städte zu gestatten, wie solche sich innerhalb der Grenzen eines jeden der drei Kaiser­ reiche erhoben. Die Regierung Ednard des Dritten ist in konstitutioneller Hinsicht gleichfalls von großer Bedeutung; sie ist es ebenso in sozialer, litterarischer und religiöser Hinsicht. Aber auch in diesen Punkten hat die Negierung Eduards etwas von demselben Charakter,

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Die Regierung Eduard des Dritten.

den sie in militärischen Dingen hat.

Veränderungen finden statt

in einer gewissermaßen unsichtbaren, zufälligen Art und Weise; wir können nicht auf irgend welche bestimmte Umivälznngen hindeuten, wie sene unter der Regierung Heinrich des Dritten, noch auf viele bedeutende und dauernde legislative ^Bestimmungen, wie jene unter der Regierung Eduard des Ersten.

Das vierzehnte Jahrhundert

ist thatsächlich in einer höchst wichtigen Klasse politischer Vorgänge fruchtbarer als

irgend ein anderes.

Cs

ist das

einzige Jahr­

hundert seit dem elften, welches die Absetzung zweier Könige durch die Autorität des Parlaments gesehen hat.*

Doch selbst die Ab­

setzung Eduard des Zweiten und Richard des Zweiten ragen nicht in derselben Weise hervor, als die Ereignisse des dreizehnten oder des siebzehnten Jahrhunderts.

Die Regierung Eduard des Dritten

war eine Regierung häufiger Parlamente und zahlreicher Gesetz­ gebungen, doch konnte Eduard mit seinem Großvater eben so wenig als Gesetzgeber verglichen werden, wie als Krieger oder Staatsmann. Selbst seine commercielle Gesetzgebung geschah a»ifs Geratewohl. So geschah in der That alles, was er that.

Er brauchte immer

Geld, und dieser ständige Geldbedarf war ein großer konstitutio­ neller Vorteil.

Er

war

gezwungen,

Parlamente

zu

berufen,

in der Regel jedes Jahr, manchmal öfter; und diese Parlamente lernten nach und nach ihre Macht kennen.

Die Richtigkeit dieser

stillen Einflüsse zeigt sich, wenn wir die beiden letzten Jahre von Eduards Leben erreichen.

In dem Good Parliament sehen wir,

wie die Gemeinen schrittweise mehr tmb mehr Macht und Auf­ klärung gewannen, bis sie im Stande waren, einige der durch­ greifendsten reformatorischen Maßregeln auszuführen, und einen der erfolgreichsten Angriffe, die je von einer legislativen Körperschaft

* Karl der Erste wurde nicht abgesetzt, sondern als König hingerichtet. Dies läßt dem siebzehnten Jahrhundert nur einen Fall von wirklich so zu nennender Absetzung.

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Die Regierung Eduard des Dritten.

unternommen wurden, gegen die Exekutivgewalt zu richten. Zweifel­ los war es für die Volkspartei eine grobe Hülfe, den Prinzen von Wales auf ihrer Seite zu haben, und als er geschieden war, machte sich sein Verlust in der Reaktion des nächsten Jahres traurig be­ merkbar. Doch war es etwas großes, einen Prinzen von Wales sich selbst an die Spitze einer wirklichen volkstümlichen Neformbewegung stellen zu sehen, ein Vorgang, der sich weit von der Er­ regung einer aufrührerischen, persönlichen Auflehnung eines Prinzen von Wales gegen seinen Vater unterschied. Sein Verhalten in diesem Parlament, weit mehr als irgend eine seiner Thaten jenseits des Meeres, giebt dem schwarzen Prinzen einen gerechtfertigten An­ spruch darauf, den großen Männern Englands zugezählt zu werden. Die Beschlüsse des Good Parliament und ihre unglückliche Umstoßung im nächsten Jahr, der gute Einfluß des Prinzen Ednard und der schlimme Einfluß Johanns von Gaunt sind Punkte, die in der legislativen Geschichte dieser Regierung deutlich hervorragen. Auf der Gesetzgebung dieser Zeit ist ein dunkler Flecken, der auch das Good Parliament berührt: ich meine den ständigen Versuch, Dinge zu kontroliren, die außerhalb des eigentlichen Bereichs der Gesetzgebung liegen, und, schlimmer noch, den ständigen Versuch, sie in einer Weise zu kontroliren, die den Interessen der zahlreichsten und hülflosesten Klasse der Bevölkerung zuwider lief. Die durch den schwarzen Tod hervorgerufene Entvölkerung machte die Arbeit selten; die Löhne stiegen in Folge davon, und verschiedene Parla­ mente, das Good Parliament unter ihnen, unternahmen den grau­ samen und unmöglichen Versuch, die Löhne durch das Gesetz niedrig zu halten. Zur selben Zeit, und großenteils auf Grund derselben Ursachen., fand die Emancipation der Leibeignen in großem Maß­ stabe statt. So wurde der Stand der freien Arbeiter vergrößert und gestärkt. Die Zahlung von Arbeitslöhnen wurde immer mehr zur Gewohnheit, während sich die Menschenklasse, die man ohne Lohn arbeiten lassen konnte, ständig verminderte. Man

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Die Regierung Eduard des Dritten.

hätte fast erwarten könne», daß die Emancipation der Leibeigenen gesetzlich verboten worden wäre, ebenso wie im alten Nom der Emancipirung von Sklaven Schranken gesetzt waren. Kirche lehrte

glücklicherweise,

Doch die

daß es ein frommes und barm­

herziges Werk sei, einen Leibeigenen frei zu lassen, und das Parlanient konnte den Menschen doch kauni befehlen davon abzustehen, die Zahl ihrer guten Werke zu vergrößern. Die Erwähnung der religiösen und literarischen Zustände in England während dieser Negierung läßt uns gleich daran denken, daß wir es mit dem Zeitalter Wicless und dem Zeitalter Chaucers zu thun haben.

Ich habe nicht die Absicht am Ende einer Arbeit

über einen derselben zu handeln.

Doch stempeln diese Namen das

Zeitalter Eduards zum Beginn der theologischen Reformation in England, und zum Beginn der neueren englischen Litteratur.

Ich

bekenne, daß die rein theologische Richtung dieser Zeit mich weniger interessiert, als die Nolle, die dieses Zeitalter, wie andere, in dem langen Kampf zwischen England und Nom gespielt hat.

Der eng­

lische Geist, der drei Jahrhunderte früher durch den Mund Tostigs dem Papst Nikolaus auf seinem Thron Trotz

geboten hatte, kam

in den Parlamenten Eduard des Dritten zum Ansdruck, wie er in ander» Parlamenten vor und nach ihm zum Ausdruck kam.

llnd

es war eine gesunde und glückliche Beweisführung, eine wahrhaft englische Liebe zum Vergangenen, welche das Good Parliament veran­ laßte, sich auf das Verfahren des heiligen Eduard selbst, als eines unwiderlegbaren Zeugen für die wirkliche und alte Suprematie der Krone in kirchlichen Dingen zu berufen.

Seltsam genug war eben

dies der Moment, in dem der alte Grund, auf den diese Supre­ matie sich stützte, nachzugeben begann.

Bis zu dieser Zeit, seit der

letzte Engländer aufgehört hatte, Wotan und Thor zu verehren, waren die Engländer in ihrer Religion geeinigt gewesen; die Kirche und die Nation waren zwei Seiten desselben Körpers gewesen. Die Lehre Wiclefs jedoch ließ in der nächsten Generation unsere

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Die Regierung Eduard des Dritten.

ersten Nonconsonnisten entstehen; zur Zeit, als wir zu», erstenmale hätten tolerant sein sollen, hatten wir unsere erste Verfolgung. Mit dem Erscheinen der Lollharden hörte Kirche und Nation auf, ganz eins zu sein, und die Streitigkeiten und Kontroversen der neueren Zeit nahmen ihren Anfang. Ein anderes Zeichen der Zeit in religiösen Dingen ist die Wendung, welche die Mildthätigkeit frommer Stifter und Wohl­ thäter jetzt nahm. Die Zeit der Mönche ivar vorbei. Der große Kampf, der seit Dnnstans Tagen ständig andauerte, hatte sich schließlich ztl Gnnsteit der Laien entschieden. Klöster wurden hie und da noch gegründet, doch findet sich kein Eifer mehr für sie, der dem gleich käme, welcher der Benediktinerbewegling im zehnte» und elften Jahrhundert, der Cistercienserbewegung im zwölften, und der Franziskaner- und Dominikanerbewegnng im dreizehnten Jahrhundert folgte. Stiftungen für die Universitäten, Kapellen für die Ruhe der Seelen ihrer Stifter, Stiftungen zur glänzenderen Ausführung des Gottesdienstes in der oder jenxr Pfarrkirche, Hospitäler für die Armen, Schulen für die Jugend sind jetzt weit mehr die Gegen­ stände frommer Wohlthätigkeit, als die Mönchsorden. Andererseits führten die dauernden Kriege mit Frankreich nach einem leicht be­ greiflichen politischen Grundsatz zur zeitweiligen Beschlagnahme des Eigentums der Klöster. Diese zeitweiligen Beschlagnahmen führten zur völligen Unterdrückung dieser Pfarreien im nächsten Jahr­ hundert, und dies bildete einen Präcedenzfall für die allgemeine Unterdrückung aller Klöster im Jahrhundert darauf. Im Großen und Ganzen ist also das vierzehnte Jahrhundert, das ZeitaUer Eduard des Dritten, ein Zeitalter, dessen Wichtigkeit unter der Oberfläche liegt. Es zeigt uns nichts, was der großen Tragödie des elften Jahrhunderts, oder der mächtigen Wiedergeburt des dreizehnten gleicht. Es hat mehr mit der stillen Arbeit des zwölften gemein. Die sichtbaren Mitwirkenden sind jedoch von ge­ ringeren! Maßstab. Die glänzenden Flitter des Rittertums hängen

Die Regierung Eduard des Dritten.

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an den Namen Eduards und seines Sohnes, doch wenn man sie dieses künstlichen Reizes entkleidet, erscheinen sie wirklich klein neben den beiden großen Heinrichen. Eduard erscheint groß zwischen seinem Vater und seinem Enkel, aber die wirkliche Größe unserer Könige setzt aus von Eduard dem Ersten bis zu Heinrich den« Fünften. Indessen ist folgender Unterschied zwischen diesen. Das Werk Eduard des Ersten, wie das des Eroberers besteht noch. Jeder von ihnen hat der englischen Geschichte seinen Stempel für alle Zeiten aufgedrückt. Heinrich, schwerlich geringer als jene an natürlichen Gaben, hatte auf spätere Ereignisse nur einen indirekten Einfluß. Der Krieg, den er führte, der Krieg, in dem Frankreich nahezu erobert wurde, zeigte schließlich, daß Frankreich nicht wirklich erobert werden konnte. Sein Sohn, der einzige englische König, der je als König von Frankreich gekrönt ward, war es, der die letzten Reste seiner kontinentalen Besitzungen verlor, welche England unter jenem Herrscher zu verlieren begonnen hatte, der zuerst den leeren Titel des französischen Königtums angenommen hatte. So lange Calais gehalten wurde, träumte man zuweilen, daß die, welche noch den Schlüssel Frankreichs besäßen, eines Tages wieder in den Besitz Frankreichs selbst eintreten könnten. Doch solche Gedanken waren nur augenblickliche Träume, die unsere Politik niemals dauernd beeinflußten. Die Siege Eduard des Dritten eröffneten die Reihe der Ereignisse, die England schließlich zu einem streng insularen Staat machten. In diesem Sinne können wir dankbar für dieselben sein.