Zur Analysis der Wirklichkeit: Eine Erörterung der Grundproblemen der Philosophie [2., betr. verm. Aufl. Reprint 2020] 9783112338865, 9783112338858


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German Pages 688 [682] Year 1880

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Zur Analysis der Wirklichkeit: Eine Erörterung der Grundproblemen der Philosophie [2., betr. verm. Aufl. Reprint 2020]
 9783112338865, 9783112338858

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Analysis der Wirklichkeit.

Eine Erörterung der Grundprobleme der Philosophie von

Otto Liebmann. Conauetudine oculorum asauescunt animi, neque admirantur, neque requirunt rationea earum rerum, quaa aemper vident. Cicero, de Nat. Deor. II 38.

Krveite, beträchtlich vermehrte Auflage.

Straßburg. Verlag von Karl I. Trübn er. 1880.

Buchdruckern von G. Otto in Darmstadt.

Vorwort zur ersten Austage. Was zur sachlichen Einleitung etwa wünschenswerth ist, werden

die nachstehenden halten.

Prolegomena in ziemlicher Vollständigkeit ent­

Persönlich sei nur dies Wenige bemerkt, daß ich mich bei

dem Ernst und der Schwierigkeit des Gegenstandes und in Er­ innerung dessen, wie gerade die anerkannten Meister der modernen

Philosophie — Namen sind überflüssig! — ihre Werke erst nach langem Zögern und wiederholter, gewissenhafter Durcharbeitung in

die Oeffentlichkeit hinausschicken zu dürfen glaubten, nur schwer zu

der vorliegenden Vermehrung der schlossen habe.

philosophischen Litteratur

ent­

Ich bin jedoch überzeugt, daß meine Untersuchungen

an den meisten Punkten zu jener subjectiven Vollendung gediehen

sind, die das logische Gewissen gerade des philosophischen Schrift­ stellers verlangt, und daß ihr einmal positives, ein andres Mal problematisches

Endergebniß

über manche dunkle und schwierige

Frage ein neues und helleres Licht verbreiten wird.

Somit über­

gebe ich dem Studium, dem Nachdenken und der Kritik ein Buch,

welches selber aus Nachdenken, Studium und Kritik hervorge­ gangen ist.

Straßburg, im October 1875.

Vorwort zur Weiten Auflage. Die wenigen Präliminarzeilen, mit denen die erste Auslage dieses Werkes eingeführt wurde, schienen im Hinblick auf die jen­ seits der Schwelle unmittelbar folgenden Prolegomena vollständig ausreichend zu sein.

Sie waren es auch und sind es noch für

Denjenigen, welcher die von dem letzten Satz jener Zeilen gestellte Aufforderung zum Studium, Nachdenken und zur Kritik in der

richtigen Anordnung befolgt.

Wenn dies geschieht, so wird man

nicht in den Irrthum verfallen, die dem Werk zu Grunde liegende

Weltauffasfung

mit diametral entgegengesetzten Standpunkten zu

verwechseln; man wird sich nicht einbilden, daß durch Aufklebung der

Etiquette

Kantianismus,

Spinozismus

oder

Platonismus,

Materialismus, Spiritualismus oder Idealismus die Sache hin­ reichend charakterisirt sei, da dergleichen Wörter bloße Aushänge­

schilder sind, hinter deren jedem die verschiedenartigsten Ansichten Zuflucht finden können.

Man wird ferner gewahr werden, daß

die monographische Form der Kapitel weder

aus

dem

Mangel

eines inneren Zusammenhangs, noch aus unstatthafter Condescendenz

gegen die landläufige Gedankenlosigkeit hervorgegangen ist, sondern

aus der wohlweislich gewählten analytischen Untersuchungsmethode; man wird Dasjenige keineswegs für ein Bündel von Essays halten,

was in der That aus einem planmäßig angelegten Kreise convergirender Gedankengänge besteht.

Die Vermehrungen, welche das Werk in dieser zweiten Auf­ lage erfahren hat, umfassen einige neue Kapitel und eine ziemliche

Anzahl, meist besonders kenntlich gemachter, Anmerkungen. sind

an denjenigen

Stellen hervorgewachsen, wo sie durch

innerlichen Organisationstypus des Ganzen schon indicirt letztere sind

Erstere

größtentheils geboten

worden

Gesetz der Accommodation an die Umgebung.

Straßburg, im September 1879.

durch das

den

waren;

organische

Inhalt. Seite

Vorwort zur ersten Auflage Vorwort zur zweiten Auflage Prolegomena

'

.

.

ITI IV

1

grffer Abschnitt. Zur Erkcnntnißkritik und Traussccndcntalphilosophic. Idealismus und Realismus Ueber die Phänomenalität des Raumes „ „ Anhang Raumcharakteristik und Raumdeduction Ueber subjective, objective und absolute Zeit . . Ueber relative und absolute Bewegung Zur Theorie des Sehens. Erstes Kapitel „ „ „ „ Zweites Kapitel Die Logik der Thatsachen oder Causalität und Zeitfolge Die Metamorphosen des Apriori

.

.

.

19 36 69 72 87 113 145 172 .187 208

Zweiter: Abschnitt. Zur Naturphilosophie und Psychologie. Vorbetrachtungen. Erste Meditation „ „ Zweite Meditation Ueber den philosophischen Werth der mathematischen Naturwissenschaft Einige Worte über das Atom Platonismus und Darwinismus Das Problem des Lebens Aphorismen zur Kosmogonie. (Mythologie und Philosophie. — Historische Notiz. — Bedenken. — Geogonie. — Causalität und Teleologie. — Ewige Palingenesie. — Jdeenordnung im Universum.)

259 267 273 306 313 358

365

VIII Seite Ueber den Jnstinct............................................................................. 409 Die Association der Vorstellungen..................................................... 435 Ueber die Existenz abstracter Begriffe ..................................................... 471 Menschen- und Thierverstand............................................................. 494 Gehirn und Geist.............................................................................. 509 Die Einheit der Natur..................................................................... 556

frisier Abschnitt. Zur Aesthetik und Ethik. Ideal und Wirklichkeit...................................................................... 563 Das ästhetische Ideal.............................................................................. 572 Das ethische Ideal.............................................................................. 635

Der Streit der Weltanschauungen zieht sich ungeschlichtet durch

die Jahrtausende hin; er scheint unschlichtbar. Hundertmal behauptet, bewiesen, bekämpft, widerlegt, verketzert oder auch verhöhnt und

übertrumpft, erheben sie sich immer von Neuem zu neuer Geister­ schlacht; und die vielhäuptige Philosophie gleicht, wie ein ironischer'

Gegner bemerken könnte, der lernäischen Hydra, welcher die ab­

geschlagenen Köpfe unermüdlich nachwachsen.

Wenn sich hiermit der

Jndifferentismus in seiner Erbärmlichkeit nicht entschuldigen darf, so könnte es doch scheinen, als verbliebe der stets verneinenden Skepsis

ein für alle Mal das letzte Wort, und wir kämen nie über die

Moral des Mephistopheles hinaus, Daß von der Wiege bis zur Bahre Kein Mensch den alten Sauerteig verdaut!

Oder man könnte, auch ohne im Entferntesten Hegelianer zu

sein, auf die Idee eines ewigen und nothwendigen Kreislaufs der Systeme gerathen, worin jede philosophische Position vermöge ihrer Blößen den Widerspruchsgeist herausfordert und so wider Willen

ein ihr entgegengesetztes System in's Dasein lockt.

Dieser Cirkel-

proceß, der sich ohne Mühe an einem gewissen Parallelismus zwischen der Entwicklung der antiken und der modernen Philosophie nach­

weisen läßt, erschiene dann, aus welt-pädagogischem Gesichtspunkt Liebmann, Analysis. 2. Auslage.

1

2

Prolegomena.

betrachtet, als eine vortreffliche Geistesgymnastik für das Menschen­ Ja endlich ließe sich

geschlecht; nur leider ohne Ziel und Ende!

zum Trost, zur Stärkung und gleichfalls ohne Mühe der' Nachweis liefern, daß der Turnus doch keineswegs als reiner Cyklus in sich

selbst zurückläuft, sondern, bei steter Bereicherung unsres Wissens und Verschärfung unsres Denkens gleichsam einen spiralförmigen,

also dem Ziel immer näher führenden Verlauf nimmt.

Cartesius

wäre dann der Sokrates auf der zweiten, Kant der auf der dritten

Potenz, und so weiter fort.

Soviel mindestens scheint hieran wahr,

daß die Geschichte der Philosophie durch alle Umwege und Irrwege

hindurch einen Fortschritt, ein Vorwärtskommen zeigt, keinen Still­

stand, keine identischen Wiederholungen. effecthaschenden llnehrlichkeit und

des

Das geile llnkraut der geschichtsunkundigen Dilet-

tantenthums, welches allezeit zwischen dem philosophischen Waizen emporwuchert, es verwelkt, auch ohne mühsam ausgejätet zu werden,

von selbst, und allen Mißjahren zum Trotz vervielfältigt sich inner­ halb weiter umfassender Zeiträume die genießbare Jrucht. Es wechseln

Perioden der überkühnen, jugendlich zuversichtlichen Speculation mit solchen der enisig sammelnden Empirie und der nüchtern-gewissen­ haften Kritik, die Diastole mit der Systole.

Da die Menschheit

nicht nur Gedächtniß und Litteratur, sondern auch logisches Gewissen und einen bis auf Weiteres nicht in der Abnahme begriffnen Verstand besitzt, jo spitzen sich die Probleme von Epoche zu Epoche schärfer zu.

Im Reich der Geister wie in dem der veiber steht eine Generation auf den Schultern der andern; die heutige Pflanzendecke wächst aus

der früheren, die sich in fruchtbaren Humus verwandelt hat, hervor.

Und bei aller Anerkennung der Verdienste großer Denker der Ver­ gangenheit, bei noch so klarem Bewußtsein der Nnübersteiglichkeit

unserer immanenten, typischen Jntellectualgränzen bleibt doch

die

ermuthigende Hoffnung gerechtfertigt, daß unsre Enkel oder Ururenkel

im philosophischen Verständniß dieser Welt ebensoviel weiter gediehen sdin können, als wir im Vergleich zu unsren Großvätern oder Ur-

3

Prolegomena.

ahnen.

Ist denn also die Vielheit und Vielspälügkeit der sich be­

fehdenden philosophischen Systeme ein gar so großes, absolut beklagenswerthes Uebel?

Sollten sie lieber in die Hand irgendwelchen Wäre die Einförmigkeit des philo­

Dictators Urfehde schwören?

sophischen Credo oder Nescio so absolut wünschenswerth, wie eine

Concordienformel für die zersplitterten religiösen Confessionen? Ich glaube nicht; ich glaube, die Natur der Sache drängt vielmehr zu

einer Auffassung, welche an einen berühmten Ausspruch Lessings und ein bekanntes Cpigramm Schillers erinnert.

Ja, — wäre das,

wovon Descartes geträumt hat, erreichbar, ließen sich Axiome auf­

finden, aus denen das einzig wahre System der Philosophie mit derselben Unfehlbarkeit hervorwüchse, wie aus den zwölf Euklidischen Axiomen die Mathematik, dann wäre der unaufhörliche Streit, der

soviel Kräfte absorbirt, nur häßlich und beklagenswerth.

Allein es

gibt (Gründe, — und wir werden damit nicht hinter dem Berge halten, — aus denen diese Hoffnung a priori eitel erscheint.

subjectiv als objectiv liegen die Bedingungen,

Sowohl

unter denen das

philosophische Nachdenken um sein Ziel ringt, so, daß ein voreiliger

Friedensschluß der Parteien der guten Sache eher schädlich als günstig gedeutet werden müßte.

Da nämlich das Wesen der Dinge

schwerlich so flach ist wie die Mehrzahl der Köpfe, die ihm auf den Grund gekommen zu sein glauben; da wir selbst die eminentesten Denker an dem harten Weltproblem bald hier, bald dort Schiff­

bruch erleiden sehn, so wäre jener Friedensschluß eher ein Symptom

der Erschlaffung als ein Zeichen des Triumphs.

In der That

läßt ja der Spielraum der objectiven Möglichkeiten für ein Wesen von unserer specifischen Geistesconstitution eine subjective Mehrheit von Deutungsversuchen zu. und

llnd gerade indem jeder Denker sich

seine Ueberzeugung im geistigen Kampf um's Dasein nach

Kräften zu vertheidigen sticht mit) mir dem unüberwindlichsten aller

Gegner, der wirklich überlegenen Wahrheit, die Waffen streckt, muß diese wach erhaltende Friction und Polemik der immer höheren 1*

Anspannung unsrer Kräfte, somit der Lache selbst in hohein Grade förderlich sein. „Wären wir Götter, sagt Platon, so gäbe es keine Philosophie."* — Alles wäre dann einig. Da wir Menschen sind, so gibt es mit der Philosophie zugleich eine Vielheit philosophischer Parteien, deren Meinungsstreit nach der alten Maxime „iröXsp-o; mmjp iravTtov“ beurtheilt werden muß. Nur ans einer berechtigten Reaction des Snbjectivismus gegen die dogmatische Vertrauens­ seligkeit der ältesten griechischen Naturphilosophie und Metaphysik ist die Sophistik hervorgegangen. 9hir im Kampf gegen die corrumpirte Dialektik der Sophisten gewann Sokrates die echte. Nur durch die siegreiche Opposition des Lockeschen Empirismus gegen die Cartesianischen ideae innatae wurde der Schacht zu einer tieferen Auffassung des „A priori“ geöffnet. Nur im Eontrast zu Spinozas nivellirender Alleinheitslehre gewann Leibnitz die Anregung zum schärferen Eindringen in den Begriff der Individualität. Nur durch den rücksichtslosen Materialismus und Skepticismus der Encyclopädisten und David Humes konnten der fadenscheinige Optimismus Leibnitzens und die hohlen Wortgebäude der deutschen Katheder­ philosophie des vorigen Jahrhunderts verdampft und hierdurch jene Schwüle der geistigen Atmospäre herbeigeführt werden, in welche dann das Ungewitter der Kantischen Kritik luftreinigend hineinfuhr. Und unser lausendes Jahrhundert hat uns, gleichsam in höherer Etage, ein ähnliches Schauspiel vorübergeführt, dessen letzter Act bis jetzt noch nicht eingetreten jit sein scheint. Natürlich soll hiermit nicht eine Apologie des philosophischen Gezänks geliefert sein, sondern des philosophischen Parlamentaris­ mus; es soll nicht der Zwietracht als solcher, sondern nur dem ernsthaften und gewissenhaften Wettkampf, nicht dem charakterlosen * Qewv ouSei; (pilonoipEt oJfT ftfi^uuei cfoipog yEVEod-ai ' eüti yaq ’ ov] ToutöyF xa't 7tai8(, 0T1 oi jutta^u tovtwv apipoTEQtov- Plat. Sympos; 203—204.

Eklekticismus, sondern dem „audiatur et altera pars“ das Wort geredet sein, wobei das „taceat puer in ecclesia“ selbstverständlich eingeschlossen, und als oberstes Axiom der Satz, daß es bei allen subjectiven Meinungsverschiedenheiten objectiv nur eine einzige, ab­ solute, für uns vielleicht approximativ erreichbare Wahrheit gebe, stillschweigend vorausgesetzt ist. Auf die sokratische Frage, worin denn, von den Philosophieen abgesehn, die Philosophie bestehe, näher einzugehn, wäre eigentlich eher Aufgabe eines Epilogs, als dieses Prologs. Genau genommen gibt es ebensoviel Definitionen der Philosophie, als es Philosophen gegeben hat, und wem cs darauf ankäme, der könnte eine ziemlich buntscheckige Musterkarte oder Anthologie zusammenstellen. Bei Platon ist sie Wissenschaft der Ideen, bei Epi kur die Kunst, sich durch kühles Nachdenken über die Dinge ein glückliches Leben zu verschaffen, bei Cicero, nach dem -Vorgang der Stoiker, Wissenschaft des Zusammenhangs zwischen den göttlichen und mensch­ lichen Dingen; Wolff nennt sie Wissenschaft des Möglichen, in­ sofern es sein kann, Herba rt logische Bearbeitung der Erfahrungs­ begriffe. Goethe sagt einmal von seinem freien, unzunftmäßigen Standpunkt aus: Philosophie ist nur der Menschenverstand in amphigurischer Sprache. Da es aus den Buchstaben weniger als auf den Sinn ankommt, so sei hier aus eine anspruchsvolle Präliminar­ formel Verzicht geleistet. Dem Gattungsbegriff am adäquatesten sind vielleicht zwei Definitionen, deren eine von Aristoteles, deren andre von Kant herrührt. Jener bezeichnet einmal die Philosophie als „Wissenschaft der, oder Forschung nach den höchsten Principien" (t Planetarum et * Exposition du Systeme du monde, 3™e edition; Paris 1808, pag. 388; conf. Essai philosophique sur les probabilites, 2mwe edition; Paris 1814, pag. 118. ** Buffon: Histoire naturelle, Paris 1774, Vol. I, pag. 133. Außer­ dem zahlreiche Parallelstellen.

377

Aphorismen zur Kosmogonie.

„cometarum compages non nisi consilio et dominio Entis in„telligentis et potentis oriri potuit.“* Folgt eine Lobrede auf die Gottheit.

Also Newton liefert die Prämissen; Buffon übernimmt

diese und zieht daraus einen Rückschluß, der mathematisch unzu­ lässig erscheint; Kant und Laplace ziehen unabhängig von ein­ ander den richtigen Schluß; ich meine den, welcher uns Heutigen

richtig erscheint.--------Diese Notiz dürfte insofern der Mühe werth sein, als sie den

logischen Gedankenzusammenhang durch den historischen ergänzt.

Bedenken. Laplace hat in seinem Essai philosophique sur les probabilites,

an der Stelle,

wo

er die kosmogonische

Hypothese

wiederholt, die Wahrscheinlichkeit ausgerechnet, daß jene merkwürdige Homogeneität aller translatorischen und Rotationsbewegungen unseres

Sonnensystems von einer gemeinsamen Ursache herrühre; sie ver­ hält sich zu der Möglichkeit eines bloßen Zufalls wie 4 Billionen

zu Eins, übertrifft daher bei weitem die Wahrscheinlichkeit so­ genannter welthistorischer Facta, z. B. die Wahrscheinlichkeit daß Sokrates, Julius Cäsar, Christus wirklich gelebt haben.**

Trotz­

dem mahnt Laplace, als echter Denker, daran, daß seine Kosmo­ gonie kein Factum, sondern Hypothese, und daher mit dem ent­

sprechenden Grade von Mißtrauen aufzunehmen sei.

Seinem Beispiel

folgend bekenne ich, daß ich selbst weder die Sterne methodisch und andauernd beobachtet, noch jene Rechnung geprüft habe.

In-

* Isaaci Netvtoni Opera; edit. Samuel Horsley, Londini 1782, vol. I, pag. 171. **------- on trouve par l’analyse des probabilites, qu’il y a plus de quatre mille millards ä parier contre un, que cette disposition n’est pas l’effet du hasard; ce qui forme une probabilite bien superieure ä celle des evenemens historiques sur lesquels on ne se permet aucun doute. — 1. c. pag. 119«

.378

Aphorismen zur Kosmogonie.

zwischen sind nun allerlei physikalische Scrupel gegen die Nebular-

und Ringbildungs-Theorie vorgebracht worden, ooii denen freilich mancher unter die logischen Imponderabilien gehört; man findet

sie aufgezählt in E. Budde's Schrift „Bemerkungen zu I. E. F. Zöllner's Buch über die Natur der Kometen" (Bonn 1872). Der principiell wichtigste Einwand ist der, daß die Bewegung

der Uranusmonde, wie man seitdem entdeckt hat, rückläufig ist, also allen übrigen Bewegungen des Planetensystems entgegen von Osten nach Westen geht.

Dieser Umstand wiegt logisch sehr schwer;

er schlägt in den Wahrscheinlichkeitscalcül eine ungeheure Bresche und streicht von den 4 Billionen mindestens die Hälfte der Nullen hinweg; er droht fast die Newtonischen Prämissen,

aus

denen

Bnffon's, Kant's und Laplace's Schlüsse gezogen sind, umzuwerfen.

Weshalb?

Weil nach Bacon's richtiger Bemerkung Eine negative

Ob sich diese Ausnahme von

Instanz tausend positive aufwiegt.

der Regel physikalisch

erklären läßt — (etwa durch einen Zu-

samnienstoß des Uranus mit irgendwelchem Fremdling) —, lasse ich dahingestellt.

Trotzdem muß man an der entwickelten Kos­

mogonie festhalten.

Weshalb?

Weil sie,

abgesehen

von

ihrer

Fruchtbarkeit, dem logisch-rationalen Einheitsbedürfniß am besten

Genüge leistet.

G e o g o n i e. Die Natur ist ein Stufenreich.

Sie ist dies nicht nur

im subjectiv-logischen Sinn, sondern auch im objectiv-causalen und teleologischen; nicht nur dann, wenn man die im Raum coexistiren-

den Dinge der Homogeneität und Verschiedenheit ihrer Merkmale

entsprechend

classificirt,

wobei

denn

jener

äußeren berühmte

Pyramidenbau mit dem Menschen als Spitze, dem Mineralreich als Basis zum Vorschein kommt, sondern auch dann, wenn man

die Genesis,

das

Werden,

die gesetzliche

Weltzustände in der Zeit beobachtet.

Aufeinanderfolge

der

Denn hierbei wird man

379

Aphorismen zur Kosmogonie.

sofort gewahr, wie zuvörderst ein mechanisch-phy sikalischer Proceß, gelenkt durch Gravitation und Trägheit, die Aufgabe löst,

das Chaos in die Form eines Planetensystems umzuwandeln und

letzteres dauernd im Gang zu erhalten; dann erst sind chemische Processe möglich, denn sie setzen, als auf Molocularkräften be­ ruhend, die Zusammenballung der vorher verflüchtigten Materie voraus; der Chemismus seinerseits ermöglicht wiederum den ohne dies unmöglichen physiologischen Proceß, der sich an der

Oberfläche unseres Planeten bis zur Menschheit hinaufgesteigert hat.

So baut sich also der Organismus auf den Chemismus, dieser auf den Mechanismus; man hat eine causale Stufen­ ordnung, die mit der teleologischen zusammenfällt.

Aber diese drei

großen Entwicklungsstadien der Natur sind nicht bloß zeitlich aufeinandergethürmt, wie die Stockwerke einer Pyramide räumlich, sondern das folgende involvirt immer das frühere; int höheren

Proceß ist immer der niedere mitenthalten und thierischen

Chemismus

Organismus und

und

den

Mechanismus

thierischen

integrirende

Das sieht sehr planmäßig aus.

Verfolgen

Im

wirksam.

Functionen Factoren wir

es

u.

bilden

s.

mehr

f. im

Einzelnen.

Wenn man mit der Kantisch-Laplace'schen Theorie beginnt,

dann geht — unterbrochen von mancherlei offenen Streitfragen, —

die Schöpfungslegende der modernen Wissenschaft folgendermaaßen weiter.

Der rotirende Nebelball, aus dem das Planetensystem

entsprungen ist, war glühend und leuchtend wie jene unaufgelösten Nebelflecken, die das Teleskop weit jenseits der Grenzen unseres linsenförmigen Fixsternsystems entdeckt, und welche von der Spectral-

analyse ditrch künstliche Brechung des Lichtstrahls nach irdischer Analogie chemisch analysirt werden.

Zöllner, in seinen astro-

photometrischen Untersuchungen erschließt des

Nebelchaos

relativ

Effectuum naturalium

a

priori

ejusdem

nach

den glühenden Zustand Newton's

generig eaedam

Maxime:

assignandae

380

Aphorismen zur Kosmogonie.

sunt causa*, quatenus fieri potest; denn dieser Regel gemäß wird das Geschmolzen-, ja Verdampftsein der Materie im Urzustand aus

derselben Ursache hervorgegangen sein wie heute; aus einer enorm Als nun bei der Planetonogie an unseren

hohen Temperatur also.*

Erdball die Reihe kam, als er sich aus dem so und so vielten

vom Sonnenäquator abgetriebenen Ring zusammengeballt hatte und gleich seinen Vorgängern, Mars, Jupiter, Sarturnus u. s. w.

mit der ihm ertheilten Geschwindigkeit nach der lex inertiae und

dem Gravitationsgesetz um den sich immer mehr zusainmenziehenden

Sonnenkörper elliptisch herumzufliegen begann, war er ein feurig­ flüssiger Welttropfen.

Sämmtliche jetzt festen Stoffarten, Gesteine,

Metalle waren noch

geschmolzen,

viele

was

gasförmig;

heute

Ocean ist, umhüllte ihn damals als heiße Dampfwolke; da löste

sich von seiner weit ausgebauschten Aequatorialzone vermöge der Centrifugalkraft wiederum ein Ring

ab;

das zusammengeballte,

allmählich ganz erstorbene und versteinerte Product desselben ist unser Mond, dessen uns zugewandte Oberflächenhälfte durch das Fernrohr heutzutage als

ein

riesiges

Todtenfeld

erscheint,

voll

kahler, ausgebrannter Krater, die im grellen Sonnenschein scharfe Schatten hinter sich werfen.

Während nun aber der noch flüssige

Erdball vermöge seiner Drehungsgeschwindigkeit die an den Polen abgeplattete Gestalt annahm, ausstrahlung

äußerlich

ab;

kühlte ihn

infolge

dessen

unaufhörliche begannen

Wärme­ an

seiner

Oberfläche die schwerer schmelzbaren chemischen Verbindungen zu erstarren, sobald nämlich diejenige Temperatur erreicht war, bei

welcher erfahrungsmäßig ihr Uebergang aus dem flüssigen in den

festen Aggregatzustand auch heute noch stattsindet.

So entstand

also eine anfangs dünne Erdkruste, die den ganzen Feuerball über­ zog und, bei weiterem Wärmeverlust durch Ausstrahlung, an Dicke

zunahm.

Als die Temperatur der Atmosphäre unter 80° R. herab-

* Ebendies ist auch Kant's Meinung. Werke edit. Rosenkranz, Sb. 6, S. 168, a. a. £>.

sank, condensirte sich die Wasserdampfhülle und schlug sich nieder; es stürzte das Meer herab auf das jungfräuliche Land, — die erste Bedingung für das Entstehen organischer Wesen, welche letzteren jedoch mit ihrer Werdelust noch aus weitere Abkühlung warten mußten. Woher nun aber die Unebenheiten der Erdoberfläche? Weshalb wird das flüssige Centralfeuer nicht von einer Reihe gleichmäßig dicker, concentrischer Kugelschaalen eingeschlossen, deren innerste aus festem Gestein besteht, die zweite in einem überall gleichtiefen Wassermeer, die dritte in einem überall gleich hohen Lustmeer? Darauf lautet die Antwort: Weil die sich abkühlende Erdrinde bei immer weiterem Zusammenschrumpfen Risse und Sprünge bekam; diese Gelegenheit benutzten Vulkan und Neptun; feurige Massen, durch die Zusammenziehung herausgepreßt, quollen durch die Spalten der glühenden Gebärmutter der kreisenden Pal« hervor und erloschen dann aufgethürmt; Wasser strömte, dem Gesetz der Schwere folgend, in die Erdfalten, stürzte sich durch Risse, kam mit dem glühenden Feuerkern in Berührung und verwandelte sich in Dampf; der Dampf expandirte sich mit ungeheurer Spann­ kraft, trieb die Erdrinde blasenförmig auf, zerriß sie hie und da, wie bei einer Dampfkesselexplosion, strömte gewaltsam heraus, ihm nach Lavaströme, welche Krater aufwarfen, sich ringsherum aus­ breiteten und dann in unregelmäßiger Gestalt erstarrten. So entstanden Gebirg und Thal, Meeresbecken, Continente, Inseln. Im Verlauf ungeheurer Zeiträume setzte dann auch das Meer die in ihm schlammartig aufgelösten Stoffe schichtenweise ab; und nun haben wir theils geschichtetes Gestein (Sedimente), theils Massen­ gesteine (Eruptivbildungen), die das Geripp der Continente aus­ machen, Alpen, Himalaya, Anden. Daß der Erdkern auch heute noch glüht, und zwar ziemlich nah unter der festen, erkalteten Schale auf der wir stehen und gehen, dafür spricht Mancherlei. So die heißen Quellen (Wildbad, Teplitz, Karlsbad u. s. w.), die vulkanischen Ausbrüche (Aetna, Vesuv, Geiser); dann die,

382

Aphorismen zur Kosmogonie.

plötzlich unter Donner und Blitz aus dem Meer aufgestiegenen

vulkanischen Inseln*; endlich die constante, vom jährlichen und täglichen Temperaturwechsel unabhängige Wärme des Erdkörpers,

die schon in der Tiefe von 60 Fuß beginnt und dann immer bei 110 Fuß weiteren Hinabsteigens um 1° C. wächst,

so daß



falls es in der gleichen Progression fortgeht, — schon in der Tiefe von 12 Meilen unter unseren Füßen eine Hitze von 2700" C.

herrschen muß, bei welcher sämmtliche Stoffarten geschmolzen sein würden. — Bevor das Wasser auf die Erde herabgestürzt und

deren Oberfläche weit unter 100" C. abgekühlt war, gab es kein organisches Leben auf ihr, sondern nur chemische und physikalische

Processe.

Dann aber fand in dem Moment, wo die günstige

Constellation aller gesetzlichen Vorbedingungen eintrat, — (nach

bis jetzt unentdeckten Gesetzen) - -

Generatio Originaria statt.

Dem verwitterten Gestein entsproß ein urwüchsiges Pflanzengeschlecht, welchem Wasser, Wärme, Licht, Kohlensäure und allerlei im Wasser

aufgelöste Stoffverbindungen zu seinem llnterhalt dargeboten waren.

Ms

ferner

durch

Verwitterung und

Verwesung

die

fruchtbare

Bodenschicht anwuchs, entstanden üppigere und mächtigere Gewächse;

und in dem heißen und feuchten, sauerstoff-aushauchenden Urwalde mit seiner tropischen Gewächshausatmosphäre entsprang, da Alles vorbereitet

war,



(nach

unbekannten

organischen

Bildungs­

gesetzen) — thierisches Leben in mancherlei Gestalt; der Chemis­ mus hatte hiermit aufgehört, schrankenloser Herr zu sein, er war in den Vasallendienst eines höheren Agens getreten, sowie vorher

der Mechanismus in den {einigen, — in den Dienst organischer Entelechieen oder Ideen.

Aber dies neue Leben würde sich nicht

im Dasein erhalten, nicht im Kampf um's Dasein weiterentwickelt, gepaart, fortgepflanzt, differenziirt, von Generation zu Generation * Vgl. W. Reiß und A. St übel, Geschichte und Beschreibung der vulkanischen Ausbrüche bei Santorin; Heidelberg 1868. — Humboldt's Kosmos, Bd. IV, a. a. O.

383

Aphorismen zur Kosmogonie.

immer mannigfaltiger und feiner gegliedert haben bis endlich zum Menschen hinauf, wenn ihm nicht der weiterglühende Sonnenball,

Licht und Wärme von außen zugestrahlt hätte.

durch ununterbrochene

Erkaltung mehr

und

Denn als die,

mehr

anwachsende,

Erdkruste einmal so dick geworden war, daß Pflanzen und Thiere darauf existiren konnten, schon damals war — (wie sich durch Berechnung der Wärmeleitungsfähigkeit der Gesteinmassen ergibt)

— die

aus

dem

Erdinnern

hervordringende Wärmemenge ver­

schwindend gering gegen die, welche von der Sonne kommt; und

da jene mehr und mehr abnimmt, so lebt die Erdbevölkerung'recht

eigentlich von Gnaden der Sonne.*

Wäre sie erloschen, so blieben

von allen Bewegungen an der Oberfläche des Planeten nur die

Ebbe und Fluth des Oceans übrig, als welche nicht durch Licht und Wärme, sondern von der Gravitation hervorgerufen sind; sie

würden noch fortdauern bis das Meer gefroren wäre.

Nun aber

erhalten Sonnenlicht und Sonnenwärine den chemischen Stoffwechsel,

die nieteorologischen Processe und das pflanzlich-thierische Leben bei

uns.

Sie erwärmen unsere Atmosphäre,

aber bei Tage einen

andern Theil derselben als bei Nacht und nicht überall gleichmäßig.

Wo die Luft, wie am Aequator, stärker erhitzt wird, da verdünnt sie sich, wird specifisch leichter, steigt daher in die Höhe, und unten strömt von allen Seiten her, dem Gesetz der Schwere folgend, kühlere Luft

herbei.

Hierdurch,

sowie durch Verdunstung und

Niederschlag des Wassers, der gleichfalls von der Sonnenwärme

abhängt, entstehen Winde, Stürme, Orkane.

Ein warmer Luft­

strom weht in höheren Schichten unaufhörlich vom Aequator zu

den Polen, ein kühler umgekehrt in tieferen Schichten von den Polen nach der tropischen Zone hin. entspringen aus analogen

Ursachen

Ganz analoge Strömungen

im

Wassermeer; z. B.

der

marine Golfstroin, der vom mexikanischen Meerbusen aus an der

* Vgl. von hier an Helmholtzens klassische Rede „Ueberdie Wechsel­ wirkung der Naturkräste"; zuerst abgedruckt 1854.

384

Aphorismen zur Kosmogonie.

Küste von Nordamerika entlang nach Großbritannien herüberfließt. Sonnenwärme ferner saugt begierig das Wasser vom Spiegel des

Oceans in Dunstform auf, die Wasserdämpfe steigen vermöge ihrer

specifischen Leichtigkeit empor und bilden Wolken, die von den Luftströmungen fortgetragen werden; bei sinkender Temperatur fällt

aus den Wolken das condensirte Wasser als Regen und Schnee herab; dies sammelt sich zum Theil in den Höhlungen der Gebirge oder bedeckt deren höchste Gipfel als ewige Schneekappe, senkt sich

auch als Eisstrom in Felsenschluchten langsam herab und fließt als

Gletscherbach, Quell, Fluß, Strom, wieder dem Weltmeer zu, um unterwegs Pflanzen und Thieren ein unentbehrliches Lebensmittel zu liefern.

Von Sonnenstrahlen lebt die Flora und Fauna.

Denn

sie liefern dem Erdbewohner nicht nur Wärme, Licht und Wasser, sie locken nicht nur aus dem Samen die Pflanze hervor, sondern machen in ihr auch Sauerstoff frei, (den das Thier einathmet), und produciren die vegetabilischen Nahrungsstoffe (die es verzehrt); die

Thiere aber liefern ihrerseits den Dünger und die Verwesungsproducte, athmen die Kohlensäure aus, deren die Pflanze bedarf.

So erhebt sich mtä dem formlosen Nebelchaos der causale Stufenbau der Natur bis zum „kleinen Erdengott" herauf, der,

weil an Klugheit und List allen überlegen, — alles ihm Zugäng­ liche als sein natürliches Patrimonium betrachtet und nach Kräften

benutzt, selbst nur unterworfen der Natur und ihren Gesetzen, zu­

oberst jenem großen, universellen Gesetz, das den ganzen, durch Jahrmillionte ausgedehnten Weltproceß durchgängig beherrscht und

regulirt, dem Gesetz von der Erhaltung der Kraft. Das materielle Universum besitzt ein gewisses Quantum von

lebendiger

Kraft

Energie.

Dies

und

Spannkraft,

Quantum

erhält

kinetischer

sich

potentieller

und

unvermehrt

und

mindert durch alle Metamorphosen der Natur hindurch.

unver­ Bei dem

bunten Wechsel der Naturprocesse verwandeln sich zwar fortwährend

lebendige Kräfte in Spannkräfte und umgekehrt; die Summe beider

385

Aphorismen zur Kosmogonie.

aber bleibt constant.

Sämmtliche Vorgänge in der Körperwelt

bestehen nur in einem Wechsel der Erscheinungsformen jenes constanten Kraftvorraths; hier und jetzt erscheint ein Theil desselben als lebendige Kraft der im Raume fliegenden Weltkörper oder der

willkürlichen Bewegungen eines Thiers; da und dort als Licht- oder

Schall-schwingung, dann wieder als Wärme oder als elektrische Spannung und Entladung, oder als chemischer Zersetzungsproceß;

eine dieser Erscheinungsformen kann sich in die andere verwandeln, wie sich z. B. beim Stoß und der Reibung die Massenbewegung

in ein gewisses Wärmequantum umsetzt und in einer arbeitenden Dampfmaschine, einem lebendigen Thier die chemische Verbrennungsnnd Verdaunngsarbeit in Wärme, diese wieder in die Bewegung

der Maschinentheile und Glieder.

Aber int Ganzen bleibt bei allen

Transformationen des Weltalls, vom rotirenden Nrnebel bis zum

menschlichen Leben herauf,

derselbe

Kraftvorrath erhalten.

So

herrscht ein großes Gesetz in der Erscheinungen Flucht. Beim Ueberblick über diese gewaltige divina comedia, die

sich im unendlichen Weltraum wohl unzählige Male ebenso oder­ ähnlich wiederholt, vielleicht auch noch viel weiter steigert, sagt man sich: Das sieht sehr planmäßig aus.

Die allgemeine Mechanik

zeigt, daß die in der wirklichen Welt herrschenden Gesetze der An­ ziehung (z. B. das der Gravitation) nur ein Specialfall unter­

vielen denkbaren sind.

Woher kommt es nun, daß gerade diese

und keine anderen Gesetze herrschen?

Einen Grund hierfür gibt es,

wenn er auch unbekannt bleibt; das steht a priori fest.

Warum

sind, während die Beharrlichkeit der materiellen Substanz und die Erhaltung der

Kraft

für die Unsterblichkeit

des Weltprocesses

Sorge tragen, die speciellen Kraftgesetze, z. B. das der Gravitation,

oder die der chemischen Affinitäten (statt deren , ja auch ganz andere herrschen könnten), so eigenthümlich, so ungemein günstig geartet,

daß ein Stufenreich immer wachsender Vollkommenheit vom gestalt­

losen Chaos herauf bis zum fein organisirten Menschengehirn sich Liebmann, Analysis. 2 Auflage. 25

386

Aphorismen zur Kosmogonie.

entwickeln muß, und nicht vielmehr chaotische Verwirrung ohne

jeglichen Fortschritt per saecula saeculorum sinnlos weiterwirbelt?

Causalität und Teleologie. Bei Gelegenheit des Kampfspiels um die moderne Descendenz­ lehre ist wieder einmal die angebliche Antinomie zwischen Natur-

causalität und Teleologie aufgetaucht. So hat z. B. Herr E. Häckel

in seiner von eben so viel Geist als Kühnheit der Einbildungskraft zeugenden „Allgemeinen Morphologie" den Naturzweck

(tsXoo ich die Baukunst eine erstarrte Musik nenne. Und wirklich es hat etwas; die Stimmung, die von der Baukunst ausgeht, kommt dem Effect der Musik nahe." — Eckerniann's Gespräche mit Goethe; den 23. März, 1829. Liebma n n , AuallM. 2. Auflage. 39

610

Das ästhetische Ideal.

gothische, bei Gluckischer Musik an hellenische Baukunst erinnert wird, so ist das mehr als flüchtige Jdeenassociation. dies

Gemeinsame beider Künste,

Willkürlichkeit und

die

scheinbar völlig subjective

sich bis

Erfundenheit

versteigende

Phantastik

Formen,

unbeschränkte,

Nun eben

und

zur

abenteuerlichsten

Erfindbarkeit

ihrer

bloß regulirt von gewissen abstract-mathematischen Pro­

portionen,

innerhalb

erlaubt ist,

was er,

welcher

dem Künstler

in

concreto Alles

seinem ästhetischen Jnstinct und Gewissen

folgend, mag, kann und darf, — liefert sie nicht den Beweis,

daß

sind? — daß

diese Künste nicht

ihnen

jedes

reale Ur- und Vorbild in der gemeinen, physikalischen Wirklichkeit

mangelt? — daß sie, hierin grundverschieden von der Bildhauerei, Malerei und Poesie,

gegenstandslos, also rein ans der Luft

gegriffene, chimärische, wenn auch wohlgefällige Formalkünste sind?

Wir werden das Gegentheil nachzuweisen suchen.

Bezüglich

der Architektur sogleich, in Hinsicht auf die Musik später.

14. Zum Unterschied von ihren Schwestern oder Gefährtinnen ist die Architektur nicht adeligen Ursprungs, sondern ein Emporkömm­

ling, welcher nachmals sich durch seine Verdienste selbst geadelt hat.

Sie war zuerst Handwerk und ist dann Kunst geworden. anfangs,

nachdem

die Menschen

ihre Höhlen

verlassen

Denn hatten,

bauten sie nicht aus ästhetischem Spieltrieb, aus idealem Schön­ heitsbedürfniß, sondern bloß aus Klugheit, um für sich, die Ihrigen

und ihr Vieh Unterkunft und Schutz gegen Unwetter und Feinde

herzustellen; alle ihre Gebäude waren Nutzbauten: Wohnhäuser, Ställe, Scheuern; und erst auf einer hohen Entwicklungsstufe der Cultur emaucipirte sich das Handwerk von der gemeinen Nothdurft

soweit, um in der Errichtung religiöser und politischer Monumentalund Luxusbauten: Tempel, Pyramiden, Kirchen, Triumphbögen,

Palläste, sich zu voller Idealität zu entfalten; es wurde Kunst.

Als diese nun aber dawar, welches Vorbild ahmte sie in ihren Lnxnserzeugnissen nach? Ahmte sie überhaupt «ach? Der Zweifel beginnt schon ztl wanken, wenn man ans den decorativen Theil an Monumentalbauten des verschiedensten Styls achtet, auf jenes System von Zierrathen aller Art, womit alt­ ägyptische, wie griechische und gothische Bauktmst die festen Hanptntassen überkleidet und ausschmückt. Die Malereien und Stein­ ornamente an den Teinpeln der Aegypter, die plastischen Gruppen und Reliefs in den Giebelfeldern und Metopen der griechischen Tempel, die blumenähnlichen Kapitäle ägyptischer Säulen, die mit Schnecken und Akanthusblättern verzierten der ionischen und korinthischen Ordnung; der phantastische Reichthum von Orna­ menten, womit ein gothischer Dom übersponuen ist, diese Rosetten, Fensterverzierungen wunderlichen Wasserspeier u. dgl. m., — sie haben ihre Vorbilder im Pflanzen- und Thierreich, wie in der Menschengestalt. Vitruv erklärt die Voluten (Schnecken) am ionischen Kapitäl für eine Nachbildung der gerollten Zöpfe am weiblichen Kopf, was denn freilich etwas gekünstelt ist. Genug, alles dieses Schmuckwerk, welches natürliche Vorbilder hat, gehört zum Bau, wächst und blüht organisch aus ihm hervor und ist nicht zu missen; ohne es würde das Gebäude so nüchtern, kahl und reizlos sein, wie die bloße Felsenkruste des Erdballs, ohne daraus hervorsprießenden Pflanzenwald und darauf lebende Bevölkerung. Aber nun die Massen selbst, welche unter dem Zierrath stecken, diese vor- und zurückspringenden Wände, diese Pfeiler, Balken, Säulenreihen, Bogen, Gewölbe — wo hätten denn sie ihr Urbild in der Wirklichkeit? Ich fasse mich kurz und lege dem Leser eine Ansicht vor, die freilich nicht streng demonstrirt, wohl aber als glaublich nach­ empfunden werden kann, die sich überdies ganz eng den Ansichten einiger bedeutender Männer anschließt. Halten wir uns nämlich an die soeben gebrauchte Analogie, so scheint mir klar: Der 39*

dekorative Theil eines Gebäudes, der plastische und malerische Ausschmuck, verhält sich zu den rohen und kahlen Mauermassen, welche er ziert, ebenso, wie Das, was aus der Oberfläche des Planeten hervorwächst und auf ihr lebt, zu dem darunter ver­ steckten, nur hie und da offen zu Tage tretenden Gestein; wie die organische Natur zur unorganischen Natnr, welcher sie entstammt, um sie zu beleben. Und also möchte ich mich zuerst so ausdrücken: Es ist gewissermaaßen die unorganische Natur, im Gegensatz und Verhältniß zur organischen Bevölkerung des Planeten, was die schöne Baukunst idealisirend nachbildet; und zwar einer herrschen­ den National- und Zeitstimmung gemäß. Vischer sagt einmal: „Die decorativen Formen erst leihen den fungirenden mechanischen Kräften den Schein, als wären sie lebendige, freie Kräfte; es gilt durch sie die Schwere so ausleben zu lassen, so befriedigt darznstellen, daß sie aufathmend von der Strenge ihres Gesetzes Blätter und Blumen zu treiben scheint". Und wenn uian Schopenhauer's Ansicht über diesen Punkt ihrer metaphysischen Privatvorurtheile entkleidet, dann kommt der Gedanke zum Vor­ schein: Gegenstand der Architektur ist der Antagonismus von Schwerkraft und Festigkeit (Cohäsion), deren erste drückt, die zweite trägt und stützt; diesen Antagonismus will sie in angemessenen Verhältnissen zu deutlicher Anschauung bringen, wozu sie Säulen und Gebälk, Pfeiler und Gewölbe rc. benutzt. Das trifft mit unserem Satze zusammen; ich füge aber noch weiter hinzu: Die Naturauffassung verschiedener Zeitalter und Nationen, ihre meta­ physische Stimmung, ist verschieden; und dem entspricht die Ver­ schiedenheit der Baustyle, d. h. der Auffassungen davon, wie das Verhältniß der Grundkräfte in der rohen Materie, dem Felsgestein, dem irdischen Stoff, sein sollte. Der Grieche dachte immanent; seine Götter waren Menschen; die schöne Erde genügte ihm; daher die gesättigte Ruhe in seinen Göttertempeln, welche nur verschönerte Wohnhäuser sind; daher die Gleichmäßigkeit von drückendem Gebälk

Das ästhetische Ideal.

613

und stützenden Säulen, von Horizontal und Vertikal. Das Mittel­ alter dagegen dachte und empfand transscendent; sein Himmel war nicht von dieser Welt, und das ganze Erdenleben nur eine Vor­ schule für das Jenseits; daher iin gothischen Styl das Ueberwiegen der senkrechten, das Verschwinden der horizontalen Linie, die Spitz­ bogen, die Perspective nach Oben, das Aufgehobensein der Last in die himmelanstrebenden, festen Massen. Von der ägyptischen Pyramide, welche nur den Berg nachahmt, bis zur Akropolis voll Athen, von dieser bis zum verschnörkelten Nococopalais inmitten eines Sterns von geradlinigen Alleeit und geschorenen Taxushecken, sagen uns die Kunst- und Luxusbauten der Menschen gleichsam pantomimisch, wie nach der Stimmung dieses Volkes und dieses Zeitalters die rohe Natur aussehen sollte, um den Menschensinn auszudrücken. Da mögen sie nun stehen, durch die Jahrhunderte hindurch, und, in wechselndem Licht und Wetter beharrlich, den künftigen Geschlechtern ein Zeugniß ablegen von der ernsten oder heiteren, unbefriedigten oder befriedigten, schwermüthigen oder frivolen Stimmung und Weltauffassung vergangener Zeiten und Völker. 15. Bei der Bildhauerkunst und Malerei ist es ebenso offen­ kundig, daß sie natürliche Vorbilder nachahmen, als welche. Sie unterscheiden sich 5X^ xal rpömxv totoötwv irathj[j.dcTtov

xdtftapatv. Poet. cap. 6. — Furcht? ja; aber Mitleid? Wer bemitleidet das Scheusal Richard? Und was das Schicksal der unglücklichen Opfer dieses antipathischen Helden betrifft, so habe ich dabei nicht sowohl Mitleid empfunden, als Empörung, zornige Indignation darüber, daß dergleichen vorkommen kann. Schiller in der Abhandlung über die tragische Kunst modificirt die aristo­ telische Definition dahin: „Die Tragödie ist dichterische Nachahmung einer zusammenhängenden Reihe von Begebenheiten (einer voll­ ständigen Handlung), welche uns Menschen in einem Zustande des Leidens zeigt, und zur Absicht hat, unser Mitleid zu erregen". Hier fällt also die Furcht ganz hinweg, und die Definition will nun noch weniger passen; sie paßt garnicht gerade auf unseren

Fall, wo ja umgekehrt der Tod des Helden nicht Mitleid, sondern, als hundertfach verdient, hohe Befriedigung erregt, roemi auch freilich nicht Freude. Vielleicht würde man allen noch so seltsanien Specialfällen gerecht, wenn man ganz allgemein sagte: „Tragödie heißt ein solches Drama, welches uns durch Vorüberführung ernster, traurig auslaufender Menschenschicksale in eine ernste Stimmung versetzt, die dann je nach Verdienst oder Schuld des untergehenden Theils mehr den Charakter der Genugthuung oder den des Mitleids an sich trägt". Indessen anch dies genügt noch nicht; es kommt eben das von Aristoteles mit Recht betonte Merkmal der x&>«p