Zivilrechtskultur der DDR: Band 4: Vom Inkasso- zum Feierabendprozess. Der DDR-Zivilprozess [1 ed.] 9783428526925, 9783428126927

Der vorliegende Band bildet den Abschluss eines umfangreichen Forschungsprojekts zur "Zivilrechtskultur der DDR&quo

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German Pages 447 [448] Year 2008

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Zivilrechtskultur der DDR: Band 4: Vom Inkasso- zum Feierabendprozess. Der DDR-Zivilprozess [1 ed.]
 9783428526925, 9783428126927

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Zeitgeschichtliche Forschungen

2/4

Zivilrechtskultur der DDR Band 4 Vom Inkasso- zum Feierabendprozess Der DDR-Zivilprozess Rainer Schröder

Duncker & Humblot · Berlin

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RAINER SCHRÖDER

Zivilrechtskultur der DDR

Zeitgeschichtliche Forschungen Band 2/4

Zivilrechtskultur der DDR Band 4

Vom Inkasso- zum Feierabendprozess Der DDR-Zivilprozess

Von Rainer Schröder

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagbild: Collage: Eingestaubte Gerichtsakten, wie sie auf dem Dachboden des heutigen Amtsgerichts Berlin-Mitte in Kartons gelagert wurden. Im Rahmen der statistischen Auswertung wurden z. B. die Anteile der Kläger nach ihrem Status ermittelt (hier der Anteil der klagenden Bürger am jeweiligen Jahrgang). (Quelle: privat) Alle Rechte vorbehalten # 2008 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 1438-2326 ISBN 978-3-428-12692-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Fu¨r Lillan und Sten

Vorwort Es ist geschafft. Das Projekt „Zivilrechtskultur der DDR“ wird mit diesem Band sowie zwei separaten Begleitbänden abgeschlossen. Es war ein lang dauerndes Projekt, das dankenswerterweise von der Deutschen Forschungsgemeinschaft unterstützt wurde und ohne diese Unterstützung so nicht möglich gewesen wäre. Die Untersuchung liegt im Grenzbereich zwischen Rechtstatsachenforschung und Juristischer Zeitgeschichte. Soziologie war gefragt, daneben Wirtschafts-, Sozial- und Alltagsgeschichte und natürlich Zivilrecht, aber auch Statistik. Mit Statistik erreicht man (nachdem wir ca. 10.000 Akten gesichtet und etwa 5.000 im Wege einer Zählkarte erhoben hatten) mehr, als Rechtshistoriker glauben. Diese wenden üblicherweise hermeneutische Verfahren an, studieren Texte und Akten. Das ist natürlich im Rahmen des Projektes auch geschehen. Wir haben eine Vielzahl von staatlichen Akten herangezogen und Interviews geführt, die in einem separaten Band publiziert werden. So haben wir unter anderem überprüft, ob die statistischen Daten und die vielen Kreuztabellen ,Recht‘ haben; anders formuliert: Ob die errechneten Korrelationen auch Kausalitäten waren. Es ist so das Bild einer Zivilprozesswirklichkeit aus 40 Jahren DDR entstanden, das man auf andere Weise nur schwer rekonstruieren kann. Das Ergebnis haben wir schlagwortartig verdichtet, wie der Titel zeigt. Die Statistik korrigiert die Alltagstheorien und macht plausibel oder unplausibel, was Zeitzeugen erzählen. Die Zeitzeugen erfüllen die Zahlen mit Leben. Die Akten des Ministeriums der Justiz und der entsprechenden Abteilung des ZK der SED rücken das Bild des Zivilrechts in der DDR in ein anderes Licht. Erst aus der Gesamtschau von Statistik, Alltagstheorie, Selbstzeugnissen von Zeitzeugen und Akten entsteht ein zuverlässiges Bild. Wir haben natürlich nicht die Zahlen der gesamten DDR erhoben, sondern im Schwerpunkt Berlin betrachtet. Das warf die Frage nach der Repräsentativität auf und die, ob der Untertitel des Buches nicht zurückhaltender hätte formuliert werden müssen. Wie wir versucht haben, das Problem zu lösen, wird bei der Methode der Untersuchung geschildert. Wir sind in die Rechtskultur einer anderen Zeit und eines anderen politischen Systems (einer Diktatur) eingetaucht. Deswegen haben wir nicht nur Daten erhoben, sondern diese Daten auch durch rechtskulturelle Zeugnisse verständlich gemacht. Dies ist nachzulesen in den drei vorbereitenden Bänden „Zivilrechtskultur der DDR“ 1999 – 2001. „Wir“ ist wörtlich gemeint. Eine solche Arbeit schreibt man nicht allein. Sie ist ein „Gemeinschaftsprodukt“. Auch wenn der Unterzeichnende für diesen Band

VIII

Vorwort

(und seine Fehler) allein verantwortlich zeichnet, so ist doch klar: Alle folgend Genannten haben recherchiert, kodiert, gerechnet, geschrieben, diskutiert, korrigiert, überarbeitet. Viele Mitarbeiter haben als Studentinnen und Studenten angefangen mit Literatursuche, Archivrecherche (einschließlich – im wörtlichen Sinne – Aktenabstauben). Denn die Akten lagerten auf einem Dachboden und waren in einem verheerenden Zustand. Das Titelbild und die Bilder am Ende dieses Bandes geben einen Eindruck davon. Dann folgte das Kodieren der Zählkarten, also das Erfassen der vielen Daten, die den Prozess kennzeichneten (zum Beispiel Dauer, Anwaltsvertretung, Prozessgegenstand, Parteien, Erfolg in den Verfahren). Später dann konnten die gleichen Studentinnen und Studenten in den Seminaren mitdiskutieren, teilweise bei den vorbereitenden Bänden mitschreiben und als Assistentinnen und Assistenten mitarbeiten. Nicht wenige haben ihre Forschungsarbeit mit einer Doktorarbeit aus dem Themenkomplex abgeschlossen (vgl. die Liste am Ende des Kapitels 1 – Einleitung). Hier fand forschendes Lernen statt. Bei jedem dieser Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen wäre etwas herauszuheben oder zu betonen. Jeder hat einen, seinen besonderen Beitrag geleistet. Daher habe ich mich entschlossen, sie alle alphabetisch aufzuführen. Zu nennen sind: Annette Armèlin, Fred G. Bär, Monika Becker, Maren Bedau, Boris Alexander Braczyk, Isabelle Deflers, Caroline Dostal, Frank Draxler, Kathrin Engst, Corinna Fritzsche, Cornelia Hähnel, Lisa Helbing, Hans-Peter Haferkamp, Jenny Haroske, Bettina Hoefs, Thomas Kilian, Antje Kreutzmann, Jürgen Krug, Dietmar Kurze, Ulrike Liero, Ulrich Möller, Marion Neubauer, Torsten Reich, Meike Revermann, Anna Sanders, Thomas Thaetner. Ihnen allen möchte ich meinen Dank aussprechen für die Mitarbeit im Projekt, bei den vorbereitenden Studien sowie den beiden noch erscheinenden Nebenbänden mit weiteren Zahlen und den Zeitzeugeninterviews und die intensive Mitarbeit an diesem Band. Gewidmet ist der Band meinen Kindern. Berlin, im November 2007

Rainer Schröder

Inhalt

Kapitel 1 Einleitung: Zivilrecht hinter dem eisernen Vorhang

1

A. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

B. Projektdesign, Vorarbeiten und Materialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Kapitel 2 Historische Einführung

11

A. Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

I. Aufbau der Justiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

1. Der Wiederaufbau der Ziviljustiz in der sowjetischen Besatzungszone . . . . .

11

a) Reorganisation des Gerichtssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

b) Kontrolle und Anleitung der Justiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

c) Justizpolitik durch Personalpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

14

2. Das Gerichtssystem der jungen Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18

a) Neuorganisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18

b) Qualifizierung des Justizpersonals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

3. Die Justizverfassung seit 1952 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

a) Kreisgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

b) Bezirksgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

c) Oberstes Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

d) Das staatliche Vertragsgericht (StVG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

26

4. Das Justizsystem der konsolidierten DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

28

II. Lenkung von Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

1. Steuerung innerhalb der Justiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

a) Reaktion des Ministeriums der Justiz auf Eingaben der Bürger . . . . . . . . . .

32

X

Inhalt b) Anfragen der Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

34

c) Reaktionen auf Wochenmeldungen und Anregungen anderer Ministerien

35

d) Kontrollfunktion der Staatsanwaltschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

2. Mittel der Parteiorgane zur Justizsteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

a) Steuerung durch Information . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

b) Steuerung durch Personalpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

40

c) Richterliche Unabhängigkeit – Richterliches Selbstverständnis . . . . . . . . . .

41

III. Aufbau der Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

44

1. Lage nach Kriegsende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

44

2. Sozialisierung der DDR-Wirtschaft – Stationen der Wirtschaftspolitik der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

a) Stalinisierungsphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

b) Der erste Fünfjahresplan (1951 – 1955) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

aa) Zielvorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

bb) Außen- und Deutschlandpolitische Situation und ihre Folgen im Bereich des Außenhandels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

cc) Durchführung des Planes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50

dd) Planerfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

c) Enteignung, Bodenreform und Verstaatlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

52

d) Der 17. Juni 1953 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

54

e) Der Zweite Fünfjahresplan (1956 – 1961) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

aa) Zielvorgaben und Schwerpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

bb) Konsolidierung und Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

56

cc) Sozialistische Wettbewerbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57

dd) Reform der Wirtschaftsverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57

f) Abbruch des Planes 1959 und Übergang zum Siebenjahresplan . . . . . . . . .

57

aa) Zielvorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57

bb) Planerfüllung – Sozialisierung von Handwerk und Kleinhandel . . . . .

58

g) NÖSPL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

60

aa) Von NÖSPL zu ESS (bis 1966) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

60

bb) Erfolg von NÖSPL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

cc) Über ÖSS zu ESS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

62

h) Honeckers Konsumpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

62

B. Das Zivil- und Zivilprozessrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

I. Konflikttheoretischer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

1. Marxistisch-leninistische Konflikttheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

Inhalt

XI

2. Historischer Befund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

66

a) Die Erziehungsfunktion des Zivilrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

b) Der Ansatz Schüsselers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

68

3. Kietz und Mühlmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

70

II. BGB, ZGB und ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

74

1. Fortgeltung des BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

74

2. Das ZGB von 1976 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76

3. ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78

III. Ausgliederungen aus dem BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

80

1. Materiell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

80

a) Wirtschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

80

b) Familienrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

82

c) Bodenrecht / LPG-Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

86

aa) Bodenreformgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

88

bb) Herausbildung des LPG-Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

90

d) Arbeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

aa) Die Anfänge in der unmittelbaren Nachkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . .

92

bb) Die Gründung der DDR – Verfassung von 1949 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

95

cc) Die Entwicklung von 1949 bis 1961 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

95

dd) Die Entwicklung 1961 bis 1977 – Gesetzbuch der Arbeit (GBA) . . . .

97

ee) Das Arbeitsgesetzbuch 1977 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

98

e) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

98

2. Prozessual: Gesellschaftliche Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99

a) Bildung der Gesellschaftlichen Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 b) Tätigkeitsfelder der Gesellschaftlichen Gerichte – insbesondere bei zivilrechtlichen Streitigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 C. Außerhalb des Zivilprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 I. Eingaben: Gnade statt Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 2. Das Eingabewesen der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 a) Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 b) Konzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 c) Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

XII

Inhalt 3. Verhältnis von Ziviljustiz und Eingabenwesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 a) Normativer Aspekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 b) Konkrete Einflussmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 aa) Eingaben an die Justiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 bb) Eingaben an staatliche Versorgungsbetriebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 cc) Eingaben an die örtlichen Wohnraumversorger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 dd) Eingaben an übergeordnete Staatsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 a) Zivilrechtstheoretisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 b) Anspruchsverwirklichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 II. Die richterlichen Rechtsauskünfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 III. Vollstreckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 1. Ausgangssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 2. Modifikationen des Vollstreckungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 a) Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 b) Lohnpfändungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 c) Vollstreckung gegen Volkseigentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 d) Vollstreckungen über die Zonengrenzen hinweg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 3. Vollstreckungsrecht nach der neuen ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 a) Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Kreisgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Zentralbuchhaltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Vollstreckungsstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

137 137 138 139

b) Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Kapitel 3 Quellen und Methode der Untersuchung

142

A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 B. Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 I. Einige Grundbegriffe der empirischen Sozialforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 II. Quellenlage und -zugang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 III. Erhebungsablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 1. Erhebungsmethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148

Inhalt

XIII

2. Stichprobenziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 3. Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Exkurs: Sonderstellung Ost-Berlins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 C. Vergleichsgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 I. DDR-Statistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 II. Bundesdeutsche Statistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Kapitel 4 Vorstellung der Variablen

158

A. Konflikt- und Forderungsarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 B. Prozessparteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 I. Status . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 1. Juristische Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 a) Volkseigene Betriebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 aa) Versorgungsunternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 bb) Wohnungsunternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 cc) Produzierende Betriebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 b) Einzelhandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 c) Transportsektor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 d) Dienstleistungsunternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 2. Bürger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 a) Die DDR, eine Arbeitergesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 aa) Konsumangebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 bb) Einkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 cc) Private Ausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 b) Sozialstruktur im Arbeiterstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 3. Privatbetriebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 II. Anwaltliche Vertretung und Rechtsauskunftsstelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 1. Vertretung durch Rechtsanwälte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 2. Vertretung durch Rechtsbeistände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 C. Prozessablauf und -dauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 I. Beweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 II. Mahnverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

XIV

Inhalt

D. Prozessbeendigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 I. Erledigungsart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 II. Säumnis der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 III. Erfolg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 IV. Berufung / Kassation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 1. Berufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 2. Kassation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 V. Verfahrenskosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 E. Besonderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 I. Armenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 II. Einstweilige Verfügungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 III. Urkundenprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 IV. Widerklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 V. Erhöhung der erzieherischen Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 1. Verhandlung vor erweiterter Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 2. Mitwirkung gesellschaftlicher Kräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 VI. Staatsanwaltsbeteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193

Kapitel 5 Ergebnisse der Untersuchung

195

A. Wenige Prozesse – wenig Streit? Die Prozessrate als Ausgangspunkt der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Exkurs: Die Bedeutung der Mahnverfahren für die Entlastung der Gerichte . . . . . . . . . 199 B. Konfliktstrukturen im Zivilprozess der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 II. Das Verschwinden der Privatbetriebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205

Inhalt

XV

III. Keine Zivilprozesse unter sozialistischen Betrieben und Institutionen . . . . . . . . . 206 IV. Zivilprozesse von Bürgern gegen sozialistische Betriebe und Institutionen . . . . 207 V. Dominanz der Bürger unter den Verklagten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 VI. Klagende sozialistische Betriebe und Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 1. Wohnungsunternehmen als Kläger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 2. Versorgungsunternehmen als Kläger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 3. Sonstige volkseigene Betriebe und Sozialistische Genossenschaften als Kläger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 4. Staatliche Organe als Kläger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 VII. Die wesentlichen Beteiligtenkonstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 C. Prozesse von sozialistischen Betrieben und Institutionen gegen Bürger . . . . . . . . . . . . . . 218 I. Analyse nach einzelnen Prozessgegenständen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 II. Wohnungssachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 1. Die erste Klagewelle: 1954 bis 1960 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 2. Die zweite Klagewelle ab 1972 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 3. Ein Wechsel im Klageziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 4. Die Organisationsform der Kläger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 5. Ablauf der Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 6. Prozessbeendigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 7. Besonderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 III. Versorgungsleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 1. Streitwert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 2. Prozessparteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 3. Mahnverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 4. Prozessablauf und -dauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 a) Anwesenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 b) Beweisaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 c) Schriftsatzaktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 d) Termine und Dauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 5. Prozessbeendigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 a) Erledigungsart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244

XVI

Inhalt b) Erfolg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 c) Berufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 6. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 IV. Teilzahlungskredite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 1. 1950 – 1953: Der Vorläufer des Teilzahlungskredits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 2. 1953 – 1956: Gewährung von Teilzahlungskrediten durch die Sparkassen . . 247 3. 1956 – 1962: Verkauf gegen Teilzahlung durch den Handel selbst . . . . . . . . . . 248 4. Ab 1962: Gewährung von Teilzahlungskrediten durch die Sparkassen . . . . . . 254 V. Andere Streitgegenstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 1. Darlehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 2. Kaufvertragliche Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 3. Dienstleistungsvertragliche Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 4. Prozesse um deliktischen Schadensersatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 5. Prozesse auf Herausgabe von Sachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 VI. Ergebnis zu Prozessen von sozialistischen Betrieben und Institutionen gegen Bürger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258

D. Prozesse unter Bürgern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 I. Analyse nach einzelnen Prozessgegenständen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 II. Wohnungssachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 1. Konflikt- und Forderungsarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 2. Streitwert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 3. Prozessparteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 a) Soziale Einordnung der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 b) Rechtsanwaltliche Vertretung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 c) Rechtsantragsstelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 d) Mahnverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 4. Prozessablauf und -dauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 a) Anwesenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 b) Beweisaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 c) Schriftsatzaktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 d) Termine und Dauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280

Inhalt

XVII

5. Prozessbeendigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 a) Erledigungsart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 b) Länge des Endurteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 c) Erfolg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 d) Berufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 6. Besonderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 7. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 III. Prozesse um deliktischen Schadensersatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 1. Konflikt- und Forderungsarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 2. Gesundheits- / Sachschaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 a) Streitwert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 b) Prozessparteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 aa) Soziale Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 bb) Rechtsanwaltliche Vertretung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 c) Prozessablauf und -dauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 aa) Anwesenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 bb) Beweisaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 cc) Schriftsatzaktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 dd) Termine und Dauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 d) Prozessbeendigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 aa) Erledigungsart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 bb) Länge des Endurteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 cc) Erfolg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 dd) Berufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 e) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 3. Störungsbeseitigung / Unterlassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 a) Prozessparteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 aa) Soziale Einordnung der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 bb) Rechtsanwaltliche Vertretung und Nutzung der Rechtsantragsstelle 293 b) Prozessablauf und -dauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 aa) Anwesenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 bb) Beweisaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 cc) Schriftsatzaktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 dd) Termine und Dauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294

XVIII

Inhalt c) Prozessbeendigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 aa) Erledigungsart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 bb) Erfolg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 cc) Berufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 d) Besonderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 e) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296

IV. Kaufvertragliche Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 1. Konflikt- und Forderungsarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 2. Streitwert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 3. Prozessparteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 4. Prozessablauf und -dauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 5. Prozessbeendigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 a) Erledigungsart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 b) Erfolg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 6. Besonderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 7. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 V. Dienstleistungsvertragliche Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 VI. Prozesse um Herausgabe von Sachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 VII. Sonstige Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 VIII. Zusammenfassung und Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 E. Einzelne Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 I. Der kurze DDR-Zivilprozess – ein Vorbild? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 II. Mitwirkung des Staatsanwalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 1. Status der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 a) An den Verfahren welcher Parteikonstellationen nahm der Staatsanwalt teil? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 b) Wie oft beteiligte sich der Staatsanwalt an Prozessen bestimmter Parteikonstellationen – wie hoch war die Chance, in einem Verfahren einem Staatsanwalt zu begegnen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 2. Prozessgegenstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 3. Einfluss auf den Erfolg? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318

Inhalt

XIX

4. Prozessausgang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 a) Prozesse unter Bürgern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 b) Prozesse von Institutionen gegen Bürger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 5. Aktivität der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 6. Zusammenfassung und Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 III. Versuche zur Erhöhung der erzieherischen Wirksamkeit im Zivilprozess . . . . . . 323 1. Einzelne Mittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 2. Quantitative Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 3. Qualitative Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 IV. Der kleine Unterschied: Männer und Frauen im Zivilprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 V. Verdächtig erfolgreich – Beeinflussung der Erfolgschancen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 1. Einfluss des Status der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 2. Einfluss rechtsanwaltlicher Vertretung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 3. Einfluss der Schichtzugehörigkeit der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 4. Einfluss der Aktivität im Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 a) Zahl der Schriftsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 b) Anwesenheit der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 c) Zahl der Termine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 d) Beweisaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 5. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 F. Vom Inkasso- zum Feierabendprozess. Der „typische“ DDR-Zivilprozess . . . . . . . . . . . 346 I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 II. Inkassoklagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 1. Status der Inkassokläger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 2. Prozessgegenstände der Inkassoklagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 III. Nicht-Zahlungsklagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 1. Status der Nicht-Zahlungskläger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 2. Prozessgegenstände der Nicht-Zahlungsklagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353

XX

Inhalt IV. Clusteranalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 1. Charakterisierung der Cluster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 2. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 V. Fazit: Vom Inkasso- zum Feierabendprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359

G. Schlussbemerkung: Diktaturprozesse? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360

Anhang Anhang 1: Zeittabelle zur deutschen und DDR-Geschichte (1945 – 1990) . . . . . . . . . . . . . 364 Anhang 2: Bilder vom Dachboden des Amtsgerichts Berlin-Mitte (zu DDR-Zeiten Stadtbezirksgericht Mitte), aufgenommen im Jahr 2000 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 Anhang 3: Der Erhebungsbogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 Anhang 4: Beispielsakte – KWV Prenzlauer Berg ./. Mieter (Aktenzeichen: 351 Z 565/76) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Anhang 5: Erläuterung der verwendeten statistischen Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 1. Grundlegende Begriffe der statistischen Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 2. Skalenniveaus und ihre Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 3. Bivariate Statistik – Zusammenhänge in Kreuztabellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 4. Statistische Tests und Signifikanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 5. Darstellung zeitlicher Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 6. Darstellungen absoluter und anteiliger Werte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 Anhang 6: Clustertabelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425

Kapitel 1

Einleitung: Zivilrecht hinter dem eisernen Vorhang A. Problemstellung Mit dem Ende des eisernen Vorhangs ist das „Ende der Fassadenforschung“ (Rottleuthner)1 gekommen. Vor der Wende schien das Zivilrecht der DDR nicht so interessant zu sein wie das Strafrecht und seine Praxis. Folglich gab es zwar einige Darstellungen, doch war es insgesamt recht selten Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung.2 Darüber hinaus veröffentlichten die Institute und Lehrstühle für Ostrecht (z. B. Berlin, Köln und München3) weniges. Das Interesse am Zivilrecht bestand allenfalls kurzfristig und erlahmte bald, weil das „eigentlich Schlimme“ an der DDR nicht im Zivilrecht zu finden war.4 Gab es doch wie in den stalinistischen und später real-sozialistischen Systemen die Unterdrückung der Menschen durch Staatssicherheit und politisches Strafrecht. Also interessierte an der Nahtstelle zwischen den Systemen nicht die Gruppe von Konflikten, für die das Zivilrecht (auch im Sozialismus) eine Lösung bereitstellte.5 Verbre1 Hubert Rottleuthner, Das Ende der Fassadenforschung: Recht in der DDR (Teil 1), in: ZfRSoz 2 / 1994, S. 208 – 243, insb. S. 215 f. 2 Es gab einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich ,autonom‘ mit der Materie befassten, z. B. Inga Markovits, Sozialistisches und bürgerliches Zivilrechtsdenken in der DDR, Köln 1969; Heide M. Pfarr, Auslegungstheorie und Auslegungspraxis im Zivilund Arbeitsrecht der DDR (= Schriften zur Rechtstheorie, Heft 30), Berlin 1972. 3 Klaus Westen (Hrsg.), Das neue Zivilrecht der DDR nach dem Zivilgesetzbuch von 1975 (Rechtswissenschaftliche Veröffentlichungen des Osteuropa-Instituts an der Freien Universität Berlin, Band 7), Baden-Baden 1977; Klaus Westen / Joachim Schleider, Zivilrecht im Systemvergleich. Das Zivilrecht der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland (= Rechtswissenschaftliche Veröffentlichungen des Osteuropa-Instituts der Freien Universität Berlin, Band 13), Baden-Baden 1984; Georg Brunner, Einführung in das Recht der DDR, 2. Aufl. München 1979. Weiterhin hat das Ministerium für gesamtdeutsche Fragen direkt oder indirekt eine Vielzahl von Publikationen angestoßen, die von Seiten der Wissenschaft – nicht selten zu Unrecht – mit dem Odium des kalten Krieges belegt wurden. Sehr zuverlässig z. B. SBZ von A bis Z. Ein Taschen- und Nachschlagebuch über die Sowjetische Besatzungszone Deutschland, hrsg. vom Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen, 7. Aufl. Bonn 1962. 4 Auf Basis eines parallel laufenden Projektes ist ein Buch von Inga Markovits erschienen: Gerechtigkeit in Lüritz. Eine ostdeutsche Rechtsgeschichte, München 2006. 5 Erst nach der Wende hat eine Forschergruppe des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte eine großangelegte Studie über Zivilrecht und seine Grundlagen im ehema-

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Kap. 1: Einleitung

cherische Stasi-Aktionen, Schauprozesse und Strafrecht6, daneben aber auch Verfassung und Verfassungsrecht standen im Mittelpunkt des Interesses. Zivilrecht war nicht der Hauptmechanismus zur Unterdrückung der DDRBürger, aber welche Rolle spielte es in einer Diktatur? Jedes Zusammenleben von Menschen führt unweigerlich zu einer gewissen Anzahl von Konflikten, für die eine Gesellschaft Lösungsmechanismen zur Verfügung stellen muss. Einer, nur einer dieser Lösungsmechanismen im realen Sozialismus war das Zivilrecht mit seinem Prozess, der freilich neben anderen rechtlichen und politischen Lösungswegen stand (Eingaben, Konflikt- und Schiedskommissionen, Vertragsgerichte). Zivilrecht und – wie es in der DDR-Terminologie hieß – Zivilrechtsverwirklichung waren zwei Paar Schuhe. Das ist ,im Westen‘ nicht anders, wo man materielles Recht gegen Prozessrecht und Prozessrecht gegen Prozesswirklichkeit setzt. Ein Weg, die Prozesswirklichkeit zu verstehen, kann über eine Inhaltsanalyse von Akten gehen. Daneben kann man das Geschehen in statistischer Weise erfassen. Das gilt zunächst für Äußerlichkeiten wie die Länge der Verfahren, die Länge der Schriftsätze, die anwaltliche Vertretung etc. Darüber hinaus kann man mit Statistik inhaltlich mehr über die Prozesswirklichkeit erfahren als Rechtshistoriker und Zivilrechtler glauben. Die Frage nach dem Prozesserfolg gehört eigentlich zu den wichtigsten Fragen überhaupt. Wer war in welcher Klagekonstellation im Prozess erfolgreich (mit oder ohne Anwalt)? Der Prozesserfolg ist für die Parteien entscheidend, nicht die Dogmatik des Zivilrechts. Gab es Klagekonstellationen, die ganz besonders günstig für die eine oder die andere Seite waren? Gewannen sozialistische Institutionen ,immer‘? Und ggf. warum? Wichen die erfolgversprechenden Konstellationen von den ,siegversprechenden‘ in der Bundesrepublik ab (institutioneller Kläger gegen Privatperson)? Sichere Aussagen dazu sind ohne eine statistische Erfassung kaum möglich.7 Man kommt bei einer solchen Fragestellung kaum umhin, statistische Verfahren anzuwenden und damit – für Rechtshistoriker und Zivilrechtler ungewohnt – das methodische Instrumentarium der Rechtsgeschichte zu erweitern. Ebenso wie der Erfolg bei Gericht bildete der Zugang zur Justiz in der Bundesrepublik ein gesellschaftspolitisch bedeutendes Thema. Demokratie und Chancengleichheit waren die Schlagworte, unter denen man die Fragen in den 1970er Jahren kritisch diskutierte. Denn wenn nicht alle Bürger der Bundesrepublik gleichen ligen Ostblock unternommen, freilich mit dem Ziel, den ,Wandel‘ zu einem demokratischen Recht zu erforschen. 6 Wolfgang Schuller, Geschichte und Struktur des politischen Strafrechts der DDR bis 1968, Ebelsbach / Main 1980. 7 So basiert beispielsweise Hackländers Untersuchung des allgemein-zivilrechtlichen Prozessalltags im Dritten Reich auf einer umfassenden statistischen Erhebung, Philipp Hackländer, „Im Namen des Deutschen Volkes“. Der allgemein-zivilrechtliche Prozeßalltag im Dritten Reich am Beispiel der Amtsgerichte Berlin und Spandau (= Berliner Juristische Universitätsschriften, Zivilrecht, Bd. 34), Berlin 2001.

A. Problemstellung

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Zugang zur knappen Ressource Justiz hatten, wie konnte dann von einer demokratischen Justiz und nicht gegebenenfalls von Klassenjustiz8 die Rede sein? Wie steuerte die DDR den Zugang zur Justiz? Existierten – mit vielleicht anderen Vorzeichen – solche Probleme auch in der DDR: Klassenjustiz gegen alles Kapitalistische? Schon auf den ersten Blick sieht man viele ,Filter‘, die den Zugang erschwerten. Die extrem kleine Zahl von Rechtsanwälten war handverlesen.9 Die neue Bundesrepublik hat fast 130.000 Anwälte, die DDR verfügte über gut 600. Kaum einem Bürger also wurde der Zugang durch einen Anwalt erleichtert. Und manchmal sorgten vorgeschaltete richterliche Rechtsauskünfte dafür, dass man die Meinung eines Richters zu seinem Fall hörte, was bei angekündigter Klageabweisung sicher die Prozessfreude nicht förderte.10 Alternativen zur Ziviljustiz, nach denen in der Bundesrepublik so intensiv gesucht wird, existierten. Freilich waren manche, wie die Eingaben, wenig erfolgreich und unter rechtsstaatlichem Gesichtspunkt gab es letztlich ,Gnade statt Recht‘,11 dem strukturell feudalen Charakter des politischen Systems entsprechend. Jeder Staat steuert nach (rechtlicher) Tradition und politischem Willen, auf welche Weise gesellschaftliche, wirtschaftliche oder soziale Konflikte verhindert oder gelöst werden sollen.12 Das gilt für politische Materien ebenso wie für unpolitische. Davon legt zum Beispiel die sehr unterschiedliche Zivilprozessrate in den unterschiedlichen Staaten Zeugnis ab.13 So ist die Rechtskultur in Japan mit ihrer 8 Rainer Schröder, Art.: Klassenjustiz, in: Robert Scheyhing (Hrsg.), Ergänzbares Lexikon des Rechts, Gruppe 1: Rechtsgeschichte, Abschn. 3 / 110, Loseblatt, 19. Lfg. (1986). 9 Marcus Mollnau, Gründe und Hintergründe des DDR-Rechtsanwaltsgesetzes, in: forum historiae iuris (fhi), http: // www.forhistiur.de / zitat / 9709mollnau.htm, Artikel vom 1. September 1997; Torsten Reich, Die Entwicklung der Rechtsanwaltschaft in der DDR, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (= Zeitgeschichtliche Forschungen, Bd. 2 / 1), Berlin 1999, S. 315 – 366. 10 Catherine Janssen, Steuerung des Bürgerverhaltens durch richterliche Rechtsauskünfte, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 9), S. 291 – 311. 11 Vgl. zum Eingabewesen in der DDR Annett Kästner, Eingaben im Zivilrecht der DDR. Eine Untersuchung von Eingaben zu mietrechtlichen Ansprüchen aus den Jahren 1986 und 1987 (= Berliner Juristische Universitätsschriften, Grundlagen des Rechts, Bd. 40), Berlin 2006; Bettina Theben, Eingabenarbeit. Zur Rolle der volkseigenen Betriebe bei der Schlichtung zivilrechtlicher Streitigkeiten mit dem Bürger, in: forum historiae iuris (fhi), http: // www.forhistiur.de / zitat / 9808theben.htm, Artikel vom 31. August 1998; Ulrich Löffler, Eingaben im Bereich des Zivilrechts, in: Rainer Schröder (Hrsg.) Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 9), S. 213 ff. 12 Ulf Dahlmann, Konflikte in der DDR-Zivilrechtstheorie, Thomas Kilian, Die Erforschung der Ursachen von Zivilrechtskonflikten in der DDR – Hinweise zur Entstehung und zum Umgang mit Konflikten, Boris Alexander Braczyk, (Selbst-)Erziehung der Gesellschaft – der „neue Arbeitsstil“ im Zivilverfahren der DDR ab 1958, sämtlich in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 9), S. 449 – 478, S. 479 – 495 und S. 497 – 534. 13 Vgl. dazu Rainer Schröder, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 9), S. 9 ff. mit vielen Hinweisen.

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Kap. 1: Einleitung

extrem niedrigen Prozessrate davon geprägt, dass Prozessvermeidung gut ist und in der Regel eine Kompromisslösung im Verhandlungswege gefunden wird. Der Rechtsstreit geht dort hingegen in gewissem Maße mit ,Gesichtsverlust‘ einher.14 In der DDR führten Bürger und ,Betriebe‘ nur ca. 1 / 3 der Zivilprozesse (im Verhältnis zur Bevölkerung), welche die Ziviljustiz der Bundesrepublik aufweist. Dass nicht potentieller Gesichtsverlust diese Tatsache motivierte, liegt auf der Hand. Wieso landete nur eine so geringe Zahl von Konflikten bei der Ziviljustiz? Darüber hinaus erschien es interessant zu sehen, ob sich die Interessen- und Wertkonflikte zwischen den Bürgern bzw. zwischen Staat und Bürgern nicht nur in den Auseinandersetzungen zwischen der Staatssicherheit und Oppositionellen entluden, sondern ob sich Spuren hiervon auch in Zivilprozessen finden.15 Es lag die – freilich zu prüfende – Vermutung nahe, dass die geringe Prozessrate eine Folge der veränderten Wirtschaftsverfassung einerseits und des diktatorischen Charakters der DDR andererseits war. Die DDR als kommunistischer bzw. sozialistischer Staat verfügte über eine Wirtschafts- und Eigentumsverfassung, welche das Privateigentum an Produktionsmitteln praktisch ausschloss. Konflikte aus dem Bereich der Wirtschafts- und Arbeitsverfassung waren und sind es aber, die in einer modernen Gesellschaft zwangsläufig auf die Gerichte zukommen und von ihnen gelöst werden müssen. Das war bereits der Fall bei den großen Streitigkeiten und damit verbundenen Wertkonflikten, die das Zivilrecht zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland kennzeichneten. Die Integration des vierten Standes in Staat und Gesellschaft des 2. Kaiserreiches erwies sich besonders in den Arbeits- und Wirtschaftsbeziehungen als schwierig.16 Noch zu Beginn des Jahrhunderts stritten die Parteien im Zivilrecht um die Zulässigkeit des Arbeitskampfes ebenso wie um die der Kartelle, und das Wirtschaftsrecht wurde ebenso langsam entwickelt wie das Arbeitsrecht.17 In der DDR konnten sich entsprechende Konflikte als justizförmig zu bearbeitende nicht entwickelt haben. Denn politische Vorentscheidungen (z. B. die Entscheidung über ein Verbot des Privateigentums an Produktionsmitteln) und darauf beruhende konsequente Gesetzgebung verhinderten, dass die Konflikte als zivilrechtliche bei den Gerichten auftauchten. Wie meine Studien zum Dritten Reich zeigen, gab es neben den politischen Konflikten und Interessenauseinandersetzungen Rechtsstreitigkeiten, die man als Wenn ich diesen Teil der japanischen Rechtskultur richtig verstehe. Vgl. näher Rainer Schröder, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 9), S. 11 m. w. N. 16 Martin Martiny, Integration oder Konfrontation? (= Schriftenreihe des Forschungsinstituts der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bd. 122), Bonn-Bad Godesberg 1976. 17 Rainer Schröder, Die Entwicklung des Kartellrechts und des kollektiven Arbeitsrechts durch die Rechtsprechung des Reichsgerichts vor 1914, Ebelsbach 1988. 14 15

A. Problemstellung

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,Normalstreitigkeiten‘ ansehen kann.18 Das ist gewiss kein schönes Wort und auch keines, das eine besondere Trennschärfe aufweist. Aber wie soll man Klagen um Mietrückstände, Autounfälle, Kaufpreisforderungen etc. sonst nennen? Solche Konflikte blieben politisch und wirtschaftlich ,unauffällig‘, aber nur sofern man sie als Einzelkonflikte betrachtet. Bei diesen ,Normalstreitigkeiten‘ sollte deren Ursachen und Abwicklung erforscht werden. Sah das ,Normalverfahren‘ in der DDR anders aus als in der Bundesrepublik, in der gleichfalls Mietstreitigkeiten den Löwenanteil unter den Zivilprozessen ausmachen? Gerade solche ,Normalverfahren‘ können bei einer statistischen Häufung eine andere Interpretation erfahren als die, es seien eben ,normale‘, sprich unauffällige, Verfahren gewesen. Erst die statistische Genauigkeit ermöglichte es, Gruppen auffälliger ,Normalverfahren‘ herauszufiltern. So finden sogenannte Inkassoprozesse der Versorgungsunternehmen gegen Private verstärkt in den 50er Jahren statt. Das war, wie man zeigen kann, kein Zufall. Mietprozesse spiegelten die Wirtschaftsverfassung der DDR wider, als der Zustand der Wohnungen am Ende der DDR in einer Masse von Klagen behandelt wurde. Kampagnen des Politbüros und des Ministeriums der Justiz sorgten für massenweises Inkasso von Forderungen aus Versorgungsbeziehungen und damit für Prozesse, die übrigens überwiegend durch Vergleiche (Einigungen) erledigt wurden. Dass vielfach Miet- und andere Konflikte auf den Gnadenweg der Eingabe abgedrängt wurden,19 macht die Grenzen der statistischen Erkenntnismöglichkeiten deutlich. Neben der Masse der ,Normalfälle‘ standen natürlich Zivilrechtskonflikte mit politischem Hintergrund, zum Beispiel: – Bezahlung einer Forderung eines Architekten wegen Bunkerbaus im Dritten Reich20 – Beeinträchtigung des Volkseigentums durch gutgläubigen Erwerb.21

In diesen Fällen entschied das Oberste Gericht der DDR (OG) sehr konsequent zugunsten der politischen Vorgaben und der neuen wirtschaftlichen Verfassung der DDR.22 Wie in allen Studien über das Recht in Diktaturen, stellt sich auch hier die Frage, welchen Beitrag ,das‘ Recht, zumal die Praxis, und ,seine‘ Juristen zur Etablierung und Stabilisierung einer Diktatur leisteten.23 Hier soll, und deshalb enthält die Stu18 Rainer Schröder, „. . . aber im Zivilrecht sind die Richter standhaft geblieben!“, Die Urteile des OLG Celle aus dem Dritten Reich, Baden-Baden 1988. 19 Annett Kästner, Eingaben im Zivilrecht der DDR (wie Anm. 11); Bettina Theben, Eingabenarbeit (wie Anm. 11). 20 OGZ 1, S. 268 ff. 21 OGZ 6, S. 159 ff. 22 Diese Entscheidungen wurden in den Veröffentlichungen der DDR gefunden (Entscheidungssammlungen oder Zeitschriften). Da in der für diese Untersuchung verwendeten Stichprobe nur jede 15. Akte gezogen wurde, wären – bei solch vereinzelten Fällen – nur Zufallsfunde möglich gewesen.

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Kap. 1: Einleitung

die keinen genuinen Beitrag zur Diktaturtheorie, eine Beschränkung auf das Zivilrecht (ohne Arbeits- und Familienrecht24) erfolgen. Für die Frage, ob die DDR ein totalitärer Staat war oder ein Doppelstaat oder eine moderne Diktatur,25 gibt die Betrachtung der Zivilrechtspraxis nur bedingt Aufschluss. Dennoch lassen sich vorsichtige Folgerungen ziehen, die im Schlusskapitel vorgestellt werden. Dort wird es nämlich darum gehen, welche Konflikte eine Diktatur zuließ, die rechtsförmig durch Zivilgerichte bearbeitet werden ,durften‘. Trotz der politisch recht engen Auswahl, Lenkung und Anleitung der Richter26 bestand bei dieser Variante der Problemlösung die Gefahr, dass die Streitigkeiten öffentlich werden, was in politicis sehr unerwünscht war. Politisch ,gefährliche‘ Konflikte wurden in der DDR wie im Dritten Reich den Zivilgerichten entzogen.27 Welche Arten von Konflikten wurden von der DDR-Diktatur zugelassen, welche wollte man nicht akzeptieren (zum Beispiel Prozesse gegen den Verlust des Arbeitsplatzes bei Ausreisewilligen28)? Darüber hinaus war zu fragen, wie die ,Normalverfahren‘ etwa im Vergleich mit der Bundesrepublik aussahen. Die Antwort fällt in diesem Bereich schwer und wird bezogen auf spezielle Fragestellungen gegeben, weil es keine Statistik über Zivilprozesse gibt, die der für diese Untersuchung erarbeiteten vergleichbar wäre.29 Dass 23 Rainer Schröder, Art.: Nationalsozialistisches Recht, in: Robert Scheyhing (Hrsg.), Ergänzbares Lexikon des Rechts, Gruppe 1: Rechtsgeschichte, Abschn. 1 / 880, Loseblatt, 60. Lfg. (1992). 24 Ute Schneider, Hausväteridylle oder sozialistische Utopie? Die Familie im Recht der DDR (= Industrielle Welt. Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte, Bd. 66), Köln u. a. 2004. Zu Recht ansatzweise kritisch Michael Schwartz in seiner Rezension, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 1 [15. 01. 2006], URL: 25 Rainer Schröder, Geschichte des DDR-Rechts, in: Jura 2004, S. 73, 81; Rainer Schröder, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (= Zeitgeschichtliche Forschungen, Bd. 2 / 1), Berlin 1999, S. 14. 26 Unter ,Leitung‘ und ,Anleitung‘ der Richterschaft verstand man in der DDR-Terminologie spezifische Einzelmaßnahmen, während sich das strukturelle Phänomen mit ,Steuerung der Justiz‘ umschreiben lässt. Hierzu und zu Strukturen und Mechanismen der Steuerung Hubert Rottleuthner, Zur Steuerung der Justiz in der DDR, in: ders. / Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Steuerung der Justiz in der DDR. Einflußnahme der Politik auf Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte, Köln 1994, S. 9 – 66, insb. S. 27 ff. 27 Andre Botur, Privatversicherung im Dritten Reich. Zur Schadensabwicklung nach der Reichskristallnacht unter dem Einfluß nationalsozialistischer Rassen- und Versicherungspolitik (= Berliner Juristische Universitätsschriften, Zivilrecht, Bd. 6), Berlin 1995, S. 219 f.; Petra Thiemrodt, Die Entstehung des Staatshaftungsgesetzes der DDR. Eine Untersuchung auf der Grundlage von Materialien der DDR-Gesetzgebungsorgane mit zeitgeschichtlichen Bezügen (= Rechtshistorische Reihe, Bd. 315), Frankfurt a.M. 2005, S. 189 f. 28 Stefan Middendorf, Recht auf Arbeit in der DDR. Von den theoretischen Grundlagen bis zu den Berufsverboten für Ausreisewillige (= Berliner Juristische Universitätsschriften, Zivilrecht, Bd. 31), Berlin 2000. 29 Die Amtliche Justizstatistik erhebt nicht einmal den Prozesserfolg, sondern vornehmlich äußere Daten. Rückschlüsse auf den Prozesserfolg lassen allenfalls die statistischen Er-

B. Projektdesign, Vorarbeiten und Materialien

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der DDR-Zivilprozess schneller war als der bundesrepublikanische, dass weniger Vertretungen durch Anwälte vorkamen und dass die Urteile kürzer waren, wird noch dargestellt werden. Doch sind das typische Äußerlichkeiten. Über Normalität in Diktaturen wird in letzter Zeit viel geschrieben, besonders über die DDR.30 Natürlich liebten Menschen in Diktaturen, sie wurden krank und gesund, es gab Eierdiebe und Nachbarstreitigkeiten, kurz: Alltag gab es auch in der DDR. Die DDR war eben nicht nur ,Unrechtssystem‘ – was selbst heute noch von manchem bestritten wird – sondern ein Staat, in dem es „Normalität“ gab. Es galt daher sowohl unter politischen Gesichtspunkten als auch unter diesem Normalitätsgesichtspunkt die zivilrechtlichen Konflikte in der DDR zu untersuchen. Natürlich ist ein Rechtsvergleich ohne Kulturvergleich – wie nicht nur die Rechtsvergleichung weiß – unrealistisch. Ein so angesetzter Vergleich wird zwangsläufig zu schiefen Ergebnissen kommen.31 Bei diesem Rechtsvergleich ist es wichtig, nicht nur die besonderen Entscheidungen zu betrachten, welche veröffentlicht wurden. Denn die juristischen Zeitschriften in allen Diktaturen werden gesteuert. Die Auswahl spiegelt üblicherweise die Ideologie stärker wider, als das in pluralistischen Ländern der Fall ist.32 Über den zivilprozessualen Alltag sagen die veröffentlichten Entscheidungen nichts.

B. Projektdesign, Vorarbeiten und Materialien Aus diesem Grund wurden 5.000 Akten nach statistischen Methoden gezogen, die von erstinstanzlichen Gerichten in Berlin stammten. Diese Akten wurden mit Hilfe einer Zählkarte statistisch aufgearbeitet.33 Das war sozusagen die Hauptaufhebungen über die Kostentragungslast zu. Die jüngsten Kapazitätsuntersuchungen in der Justiz, durchgeführt von Unternehmensberatungen, haben die Ressourcenknappheit und deren optimale Auslastung zum Gegenstand. Am ehesten sind noch die Arbeiten von Steinbach / Kniffka und Bender / Schumacher zu verwenden, die in der Folge laufend herangezogen werden. 30 Vgl. statt vieler Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971 – 1989, 2. Auflage, Bonn 1999. 31 Als Vorstudien wurden drei Bände „Zivilrechtskultur der DDR“ veröffentlicht, um die Einbettung des Prozesssystems in das Recht der DDR und in die unterschiedlichen Konfliktlösungsmechanismen, die es in der DDR neben den gerichtlichen gab, zu entfalten. 32 Verena Knauf, Die Zivilentscheidungen des Obersten Gerichts der DDR von 1950 – 1958. Veröffentlichungspraxis und Begründungskultur (= Berliner Juristische Universitätsschriften, Grundlagen des Rechts, Bd. 43), Berlin 2007, hat erstaunlicherweise festgestellt, das zumindest beim Obersten Gericht die Auswahl der veröffentlichten Entscheidungen durchaus repräsentativ zu sein schien, vgl. bes. S. 253 ff. 33 Das Muster der Zählkarte befindet sich im Anhang der Gesamtstudie, um nach den – veränderten – Vorgaben, etwa der Untersuchung von Steinbach / Kniffka (Strukturen des amtsgerichtlichen Zivilprozesses. Ergebnisse einer rechtstatsächlichen Aktenuntersuchung, München 1982), Aussagen über die Realität des Prozesses in der DDR machen zu können.

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Kap. 1: Einleitung

gabe des Projekts. Die statistischen Ergebnisse konnten anhand der offiziellen DDR-Justizstatistik überprüft werden. Die Diskussionen mussten wie folgt qualitativ vorbereitet und überprüft werden: Im Aufsatzband I (1999)34 ging es nach zwei Vorstudien35 um – „Das Personal der Gerechtigkeit – Rekrutierung und Sozialisierung des Rechtsstabes“ – „Zivilrechtsverwirklichung außerhalb des Gerichtsverfahrens“ (Eingaben, Schiedskommissionen, richterliche Rechtsauskünfte) – „Außergerichtliche Institutionen des Zivilrechts“ (Rechtsanwaltschaft, Staatsanwaltschaft, Staatliches Notariat) – daneben standen Gedanken zur Konflikttheorie „Konflikt, Widerspruch und Wirksamkeit – Zur Theorie des sozialistischen Zivilrechtskonflikts“

Im Aufsatzband II (2000)36 wurden offene Einzelfragen in Aufsätzen behandelt, zum Teil vertieft: – Die rechtsstreitäquivalenten Eingaben in Betrieben und im Mietrecht – Vollstreckungspraxis – Rolle der Vertragsgerichte – Art der Urteilsbegründung in den beiden deutschen Diktaturen – Einflussnahmen auf Einzelentscheidungen

Im Aufsatzband III (2001)37 und in den sehr umfangreichen Zeitzeugen-Interviews38 präsentierten im Wesentlichen DDR-Juristen und andere DDR-Bürger ihre 34 Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (= Zeitgeschichtliche Forschungen, Bd. 2 / 1), Berlin 1999. 35 Rainer Schröder, Zivilrechtsprechung in der DDR während der Geltung des BGB. Vorüberlegungen zu einem Forschungsprojekt mit vergleichender Betrachtung des Zivilrechts im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, in: Heinz Mohnhaupt / Dieter Simon (Hrsg.), Vorträge zur Justizforschung. Geschichte und Theorie, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1993, S. 527 – 580 sowie ders., Justiz in den deutschen Staaten seit 1933. Prolegomena zu einem Justizvergleich, in: forum historiae iuris (fhi), http: // www.forhistiur.de / zitat / 9910schroeder.htm, Artikel vom 25. Oktober 1999. 36 Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. II (= Zeitgeschichtliche Forschungen, Bd. 2 / 2), Berlin 2000. 37 Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. III (= Zeitgeschichtliche Forschungen, Bd. 2 / 3), Berlin 2001. 38 Einige Zeitzeugeninterviews sind im Internet unter http: / / www.rewi.hu-berlin.de / jura / ls / srd / Forschung / ddr.htm abrufbar. Darüber hinaus werden alle im Rahmen des Projekts durchgeführten Zeitzeugeninterviews mit weiteren Hintergrundinformationen 2008 unter dem Titel „Die DDR-Ziviljustiz im Gespräch – 26 Zeitzeugeninterviews“ als gesonderter Band publiziert. Im vorliegenden Band wird ausschließlich auf die im Internet unter oben genannter URL veröffentlichten Projektinterviews verwiesen. Zu den Hintergründen der geführten Zeitzeugeninterviews vgl. Marion Wilhelm / Thomas Kilian, Rechtsstaat mit Aus-

B. Projektdesign, Vorarbeiten und Materialien

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Sicht der Zivilprozesse und der Gerichtswirklichkeit. Diese „oral history“ und die Selbstreflexionen von Beteiligten39 sollten eine kritische Überprüfung der statistischen Resultate ermöglichen.40 Zusätzlich wurden 101 Interviews, die im Zuge der Überprüfung von Richtern und Staatsanwälten aus der DDR aufgenommen wurden, sekundär ausgewertet, um noch mehr über Bild und Selbstbild von Richtern etc. zu erfahren.41 Somit konnte man einigermaßen sicher sein, dass die statistischen Ergebnisse durch die ,Zeitzeugen‘ validiert werden könnten, oder aber auch nicht. Auch die rechtswissenschaftliche Literatur der DDR wurde insgesamt elektronisch aufgenommen und steht allgemein im Internet zur Verfügung.42 Im Rahmen des Projekts entstanden nicht wenige Dissertationen, welche Fragen monographisch vertieften, die zum Teil in den Aufsätzen keine genügende Antwort gefunden hatten: Andrea Deyerling, Vertragslehre im Dritten Reich und in der DDR während der Geltung des Bürgerlichen Gesetzbuchs, Eine vergleichende Betrachtung unter besonderer Berücksichtigung der Diskussion des faktischen Vertrages in der Bundesrepublik (= Schriften der Rechtswissenschaft; Bd. 19), Bayreuth 1996. Stefan Gerber, Zur Ausbildung von Diplomjuristen an der Hochschule des MfS (Juristische Hochschule Potsdam) (= Berliner Juristische Universitätsschriften, Grundlagen des Rechts, Bd. 21), Berlin 2000. Kristina Graf, Das Vermögensgesetz und das Neubauerneigentum, Annäherung an ein fremdes Recht (= Berliner Juristische Universitätsschriften, Grundlagen des Rechts, Bd. 30), Berlin 2004. Guido Harder, Das verliehene Nutzungsrecht: Herausbildung und Entwicklung eines Rechtsinstituts des DDR-Bodenrechts (= Berliner Juristische Universitätsschriften, Grundlagen des Rechts, Bd. 10), Berlin 1998. Annett Kästner, Eingabewesen in der DDR. Eine Untersuchung von Eingaben zu mietrechtlichen Ansprüchen aus den Jahren 1986 und 1987 (= Berliner Juristische Universitätsschriften, Grundlagen des Rechts, Bd. 40), Berlin 2006. nahmen – Der DDR-Zivilprozess aus der Perspektive der DDR-Praktiker, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. III (wie Anm. 37), S. 117 – 153. 39 Als erste derartige Arbeit direkt nach der Wende erschien Inga Markovits, Die Abwicklung. Ein Tagebuch zum Ende der DDR-Justiz, München 1993. 40 Ungewöhnlicher Ansatz bei Thomas Kilian, Ein „Volksnahes Verfahren“? – Der DDRZivilprozess in den Augen studentischer Codierer, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. III (wie Anm. 37), S. 91 – 116. 41 Hans Hubertus von Roenne, „Politisch untragbar . . . ?“ Die Überprüfung von Richtern und Staatsanwälten der DDR im Zuge der Vereinigung Deutschlands (= Berliner Juristische Universitätsschriften, Grundlagen des Rechts, Bd. 7), Berlin 1997; dazu Marion Wilhelm, „Helden gibt es nur im Film“ oder „Wir sind alle Kinder unserer Zeit“, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. II (wie Anm. 36), S. 271 – 279. 42 Eine Auflistung von Fundstellen aus Juristischen Fachzeitschriften der DDR ist zum Download im Internet unter http: // www.rewi.hu-berlin.de / jura / ls / srd / Forschung / ddr.htm abrufbar.

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Kap. 1: Einleitung

Verena Knauf, Die zivilrechtliche Urteilspraxis des Obersten Gerichts der DDR von 1950 – 1958. Veröffentlichungspraxis und Begründungskultur (= Berliner Juristische Universitätsschriften, Grundlagen des Rechts, Bd. 43), Berlin 2007. Dietmar Kurze, Sozialistische Betriebe und Institutionen als Verklagte im DDR-Zivilprozess (= Berliner Juristische Universitätsschriften, Grundlagen des Rechts, Bd. 37), Berlin 2005. Stefan Middendorf, Recht auf Arbeit in der DDR. Von den theoretischen Grundlagen bis zu den Berufsverboten für Ausreisewillige (= Berliner Juristische Universitätsschriften Zivilrecht, Bd. 31), Berlin 2000. Johannes Mierau, Die juristischen Abschluß- und Diplomprüfungen in der DDR / SBZ. Ein Einblick in die Juristenausbildung im Sozialismus (= Rechtshistorische Reihe, Bd. 232), Frankfurt a.M. 2001. Marcus Mollnau, Die Bodenrechtsentwicklung in der SBZ / DDR anhand der Akten des Zentralen Parteiarchivs der SED (= Berliner Juristische Universitätsschriften, Grundlagen des Rechts, Bd. 15), Berlin 2001. Torsten Reich, Die Erforschung der objektiven Wahrheit. Zivilprozessualer Wandel in der DDR (= Berliner Juristische Universitätsschriften, Grundlagen des Rechts, Bd. 22), Berlin 2004. Ernst Reuß, Berliner Justizgeschichte. Eine rechtsstaatliche Untersuchung zum strafrechtlichen Justizalltag in Berlin von 1945 – 1952, dargestellt anhand der Strafgerichtsbarkeit des Amtsgerichts Berlin-Mitte (= Berliner Juristische Universitätsschriften, Grundlagen des Rechts, Bd. 17), Berlin 2000. Annette Rosskopf, Friedrich Karl Kaul, Anwalt im geteilten Deutschland, 1906 – 1981 (= Berliner Juristische Universitätsschriften, Grundlagen des Rechts, Bd. 19), Berlin 2002. Thomas Thaetner, Die Zwangsvollstreckung in der DDR (= Berliner Juristische Universitätsschriften, Grundlagen des Rechts, Bd. 25), Berlin 2003. Petra Thiemrodt, Die Entstehung des Staatshaftungsgesetzes der DDR. Eine Untersuchung auf der Grundlage von Materialien der DDR-Gesetzgebungsorgane mit zeitgeschichtlichen Bezügen (= Rechtshistorische Reihe, Bd. 315), Frankfurt a.M. 2005. Marion Wilhelm, „Wir sind Kinder unserer Zeit“ – Qualitative Analyse narrativer Interviews von Justizjuristen der DDR, Berlin 2002. Joachim Windmüller, Ohne Zwang kann der Humanismus nicht existieren . . . – „Asoziale“ in der DDR (= Rechtshistorische Reihe Bd. 335), Frankfurt a.M. 2006.

Kapitel 2

Historische Einführung A. Rahmenbedingungen I. Aufbau der Justiz 1. Der Wiederaufbau der Ziviljustiz in der sowjetischen Besatzungszone a) Reorganisation des Gerichtssystems Den KPD / SED-Funktionären ging es seit Kriegsende um „die Lösung der Machtfrage zugunsten der Arbeiterklasse und ihrer „Verbündeten1“. Dabei hatte die Entnazifizierung höchsten Stellenwert.2 Diese Rechts- und Justizentwicklung wurde von der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) entsprechend gefördert. Der Umbau erfolgte radikal. Anders als in den westlichen Besatzungszonen, die die alten Amts- und Landgerichte nach kurzer Schließung während des Entnazifizierungsprozesses weiterbestehen ließen, wurden in der SBZ schon Ende Mai 1945, oft unter Anleitung sowjetischer Kommandanten, die ersten Stadtbezirks- und Amtsgerichte auf kommunaler Ebene eingerichtet und mit Kommunisten und „Aktivisten“ im Soforteinsatz besetzt. Eine Verbindung zu anderen Justizorganen bestand meist nicht. Nur in Berlin wurde auf einer Tagung am 13. Mai 1945 auf Initiative des Berliner Stadtkommandanten, Generaloberst Bersarin, die Schaffung einer in sich geschlossenen Gerichtsorganisation beschlossen und bis Juni 1945 umgesetzt.3 1 Hilde Benjamin (Leiterin des Autorenkollektivs), Zur Geschichte der Rechtspflege der DDR 1945 – 1949, Berlin (Ost) 1976, S. 14. 2 Heike Amos, Justizverwaltung in der SBZ / DDR: Personalpolitik 1945 bis Anfang der 50er Jahre (= Arbeiten zur Geschichte des Rechts in der DDR, Bd. 1), Köln, Weimar, Wien 1996, S. 3. 3 Heike Amos, Justizverwaltung in der SBZ / DDR (wie Anm. 2), S. 2, Fn. 8; Fred Bär, Die aktuellen Strafprozesse gegen Bürger der ehemaligen DDR – ein Akt der Siegerjustiz?, in: Jura 1999, S. 281 ff.; Ernst Reuß, Berliner Justizgeschichte. Eine rechtstatsächliche Untersuchung zum strafrechtlichen Justizalltag in Berlin von 1945 – 1952, dargestellt anhand der Strafgerichtsbarkeit des Amtsgerichts Berlin-Mitte (= Berliner Juristische Universitätsschriften, Grundlagen des Rechts, Bd. 17) Berlin 2000; ders., Vier Sektoren – eine Justiz. Berliner Justiz in der Nachkriegszeit, Berlin 2003; Friedrich Scholz, Berlin und seine Justiz: die Geschichte des Kammergerichtsbezirks, 1945 bis 1980, Berlin, New York 1982, S. 7 ff. datiert die Tagung auf den 18. Mai 1945.

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Kap. 2: Historische Einführung

Die Reorganisation deutscher Staatlichkeit begann in den Ländern. Mit dem Wiederentstehen der Länder waren auch Abteilungen für Justiz in den Landes- und Provinzialverwaltungen (vom 4. bis 16. Juli 1945) geschaffen worden und im Anschluss wurde die Gründung für die deutsche Zentralverwaltung der Justiz vorbereitet.4 Im Juli / August wurden schon die ersten Abteilungen für Justiz arbeitsfähig und übernahmen – wie bereits in der Weimarer Republik – die Aufgaben der Justizverwaltung. In der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) kam dazu die Anleitung der Gerichte und Staatsanwaltschaften nach dem sowjetischen Vorbild, was u. a. die Gesetzlichkeitskontrolle betraf.5 Ihnen wurden Rechtsetzungsbefugnisse zugestanden.6 Um eine Vereinheitlichung der Verwaltung und eine engere Verbindung mit der SMAD herzustellen, wurden gemäß Befehl Nr. 17 der SMAD vom 17. Juli 1945 Zentralverwaltungen für die SBZ gebildet, darunter auch eine für den Bereich Justiz, die der SMAD verantwortlich7 waren und keine Gesetzgebungsbefugnisse hatten. Der Deutschen Justizverwaltung (DJV) unter Leitung des Liberalen Dr. Eugen Schiffer8 oblagen hauptsächlich Anleitungs- und Kontrollaufgaben einschließlich der Personalentscheidungen. Obwohl die Parteigruppe der KPD / SED anfangs zahlenmäßig klein war,9 gelang es ihr bis 1948 „rechte Sozialdemokraten und andere rückschrittliche Kräfte“ aus der DJV zu verdrängen. Im September / Oktober 1945 verständigten sich die Alliierten im Kontrollrat auf eine einheitliche Gerichtsorganisation in Deutschland und die Wiederherstellung der Weimarer Gerichtsorganisation entsprechend dem GVG in der Fassung vom 22. März 1924.10 4 Joachim Ramm, Eugen Schiffer und die Reform der deutschen Justiz, Neuwied, Darmstadt 1987. 5 Unter Anleitung der Justiz ist nicht zwangsläufig die unrechtmäßige Einflussnahme auf ein konkretes Urteil zu verstehen, sondern das Bemühen um eine einheitliche Rechtsanwendung, dazu Hubert Rottleuthner, Zur Steuerung der Justiz in der DDR, in: ders. / Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Steuerung der Justiz in der DDR. Einflußnahme der Politik auf Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte, Köln 1994, S. 9. 6 SMAD-Befehl Nr. 110 vom 22. Oktober 1945. 7 Zur Abhängigkeit der Justiz vgl. Thomas Lorenz, Die Deutsche Zentralverwaltung der Justiz (DJV) und die SMAD in der sowjetischen Besatzungszone 1945 bis 1949, in: Hubert Rottleuthner / Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Steuerung der Justiz (wie Anm. 5), S. 135, 144. 8 Siehe Joachim Ramm, Eugen Schiffer und die Reform der deutschen Justiz (wie Anm. 4). 9 Noch im Oktober 1947 umfasste die Parteigruppe der DJV nicht mehr als 11 Mitglieder, Juristen und Nichtjuristen, darunter aber Hilde Benjamin, Ernst Melsheimer und Hans Nathan, vgl. Zur Geschichte der Rechtspflege der DDR 1945 – 1949 (wie Anm. 1), S. 60; zur kritischen Einschätzung dieser Bände Thomas Lorenz, Die Deutsche Zentralverwaltung der Justiz (DJV) und die SMAD in der sowjetischen Besatzungszone 1945 – 1949 (wie Anm. 7), S. 141, Fn. 30. 10 SMAD-Befehl Nr. 49 vom 4. September 1945 und dem Kontrollratsgesetz Nr. 4 vom 30. Oktober 1945 (ABl. KR, Nr. 2, S. 26); Heike Amos, Justizverwaltung in der SBZ / DDR (wie Anm. 2), S. 35 f.

A. Rahmenbedingungen

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b) Kontrolle und Anleitung der Justiz Nicht nur in den Gerichten, auch in den Verwaltungen waren die Mitglieder der KPD / SED anfangs in der Minderheit. Anleitung und Unterstützung erhielten die in staatlichen Funktionen tätigen Parteimitglieder nicht ausschließlich von ihren Vorgesetzten, sondern von den jeweils leitenden Parteiorganisationen. Dazu waren bereits 1945, verstärkt jedoch nach der Gründung der SED 1946 in den Justizorganen Betriebsgruppen der Partei geschaffen worden. Größere Wirksamkeit konnten sie in den Volksrichterlehrgängen11 und zunehmend auch in der Deutschen Justizverwaltung und bei einigen größeren Gerichten erreichen, wo Landgericht, Amtsgericht und Staatsanwaltschaft eine gemeinsame Betriebsgruppe bildeten.12 Im August 1948 hatte Max Fechner, Vizevorsitzender der SED, den 88jährigen Dr. Schiffer als Direktor der DJV abgelöst. Weitere Personalwechsel folgten. Die DJV übernahm die Anleitung und Kontrolle der Gerichte im Sinne der SED. Allerdings dauerte es bis in die 50er Jahre, bis die SED die letzten bürgerlichen Juristen aus der DJV und dem Ministerium der Justiz verdrängt hatte.13 Solange jedoch die traditionell ausgebildeten Juristen die Gerichte dominierten, konnte die SED ihre Justizpolitik vor Ort nicht uneingeschränkt durchsetzen. Dies galt vor allem für die Zivilsachen, wo in den ersten Jahren fast ausschließlich Juristen alter Ausbildung, aus dem Ruhestand zurückgekehrte Richter und Rechtsanwälte als Richter tätig waren. Diese entschieden die Prozesse nach ihren gewohnten Maßstäben, die von der Dogmatik des BGB und der ZPO, von den Entscheidungen des ehemaligen Reichsgerichts und den Standardkommentaren geprägt waren.14 11 Andreas Gängel, Die Volksrichterausbildung, in: Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Im Namen des Volkes?, Über die Justiz im Staat der SED, Wissenschaftlicher Begleitband zur Ausstellung des Bundesministeriums der Justiz, Leipzig 1994, S. 47 – 56; Hermann Wentker (Hrsg.), Volksrichter in der SBZ / DDR 1945 – 1952. Eine Dokumentation (= Schriftenreihe Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Heft 74), München 1997; Julia Pfannkuch, Volksrichterausbildung in Sachsen 1945 – 1950, Frankfurt a.M. 1993. 12 Hans Hattenhauer, Über Volksrichterkarrieren: vorgelegt in der Sitzung am 29. April 1995 (= Berichte aus den Sitzungen der Joachim-Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften e.V. Hamburg, 13 / 1), Göttingen 1995. 13 Dieser Wechsel lässt sich auch anhand der Schriftwechsel der Abteilung HA II, Revision, Rechtsprechung, Statistik des Ministeriums der Justiz mit den nachgeordneten Justizorganen feststellen, Akten im BA; ausführlicher Heike Amos, Kommunistische Personalpolitik in der Justizverwaltung der SBZ / DDR (1945 – 1953). Vom liberalen Justizfachmann Eugen Schiffer über den Parteifunktionär Max Fechner zur kommunistischen Juristin Hilde Benjamin, in: Gerd Bender / Ulrich Falk (Hrsg.), Recht im Sozialismus, Analysen zur Normdurchsetzung in osteuropäischen Nachkriegsgesellschaften (1944 / 45 – 1989), Bd. 2: Justizpolitik (= Ius Commune, Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 114), Frankfurt a.M. 1999, S. 109 – 146; ausführlich auch Werner Künzel, Das Ministerium der Justiz im Mechanismus der Justizsteuerung 1949 bis 1976, in: Hubert Rottleuthner / Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Steuerung der Justiz (wie Anm. 5), S. 167; dazu auch Ute Schneider, Hausväteridylle oder sozialistische Utopie, 2002.

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Kap. 2: Historische Einführung

Auch das Oberste Gericht der DDR (OG), welches am 24. März 1950 seine Arbeit aufnahm, orientierte sich zunächst in seiner zivilrechtlichen Rechtsprechung notgedrungen an den traditionellen juristischen Kommentaren und der alten Rechtsprechung. Für die sozialistische Rechtstheorie war aber der Umgang mit den herkömmlichen Regelungen des BGB problematisch. In Rahmen der stalinistischen Auffassung des Rechts als Überbauphänomen mit lenkender Aufgabe entwickelte u. a. Hilde Benjamin15 Anfang 1951 eine Form-Inhalt-These: Mit dem Wechsel der Staatsordnung sei dieser neue Inhalt automatisch in die Form der alten Anordnungen eingerückt.16 Die politische Anleitungsfunktion des Obersten Gerichts wurde damit legitimiert und mittels dieser dialektischen Lösung konnte bis zum Inkrafttreten des ZGB 1975 weiter Recht gesprochen werden.

c) Justizpolitik durch Personalpolitik17 Das Potsdamer Abkommen enthielt im Abschnitt „A: Politische Grundsätze“ die Festlegung, das Recht und das Justizsystem materiell und personell zu entnazifizieren. In Durchführung des Befehls Nr. 49 der SMAD wurden Mitglieder der NSDAP und ihrer Organisationen in allen Ländern der SBZ, wenn auch in verschiedenem Tempo und mit unterschiedlicher Bereitschaft, aus dem Justizdienst weitgehend entfernt. Im Bereich der SBZ hatte es vor dem 8. Mai 1945 rund 2.500 Richter und Staatsanwälte gegeben.18 Etwa 80 Prozent der Richter und Staatsanwälte waren als 14 Hilde Benjamin (Leiterin des Autorenkollektivs), Zur Geschichte der Rechtspflege der DDR 1945 – 1949 (wie Anm. 1), S. 292. 15 Marianne Brentzel, Die Machtfrau. Hilde Benjamin 1902 – 1989, Berlin 1997; Andrea Feth, Hilde Benjamin - Eine Biographie (= Schriftenreihe Justizforschung und Rechtssoziologie, Heft 1), Berlin 1997. 16 Hilde Benjamin, Grundsätzliches zur Methode und zum Inhalt der Rechtsprechung, in: NJ 1951, S. 150, 152. Hierzu auch Hans-Peter Haferkamp, Begründungsverhalten des Reichsgerichts zwischen 1933 und 1945 in Zivilsachen verglichen mit Entscheidungen des Obersten Gerichts der DDR vor 1958, in: Rainer Schröder (Hrsg.) Zivilrechtskultur der DDR, Bd. II (= Zeitgeschichtliche Forschungen Bd. 2 / 2), Berlin 2000, S. 33 und S. 39; siehe auch Rainer Schröder, Marxismus und Recht am Beispiel des Zivilrechts der DDR, in: Gerhard Köbler / Hermann Nehlsen (Hrsg.), Wirkungen europäischer Rechtskultur. Festschrift für Karl Kroeschell zum 70. Geburtstag, München 1997, S. 1155 – 1181. 17 Ausführlich Heike Amos, „Kaderpolitik“ in der Justizverwaltung der SBZ, DDR (1945 – 1953), Leipzig 1996; dies., Justizverwaltung in der SBZ / DDR (wie Anm. 2); Falco Werkentin, Zwischen Tauwetter und Nachtfrost (1955 – 1957) – DDR-Justizfunktionäre auf Glatteis, in: DA 1993, S. 341 – 349. 18 Da keine exakten Zahlen über die Entnazifizierung der Justiz nach einzelnen Berufsgruppen für die gesamte SBZ veröffentlicht worden sind, wird im Allgemeinen der Vorkriegsstand, also 1939, als Vergleichsbasis gewählt, vgl. Thomas Lorenz, Die Deutsche Zentralverwaltung der Justiz (DJV) und die SMAD in der sowjetischen Besatzungszone 1945 bis 1949, in: Hubert Rottleuthner / Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Steuerung der Justiz (wie Anm. 5), S. 157; dennoch: „Nach einem Bericht über die „Entwicklung der Justiz in der Sowjetischen Besatzungszone seit dem Zusammenbruch“ waren im Jahre 1948 in den Justiz-

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belastet eingestuft worden.19 Ende 1945 waren insgesamt nur noch 600 Richter und Staatsanwälte im Justizdienst, darunter etwa 130 (22%) im Soforteinsatz. Die Entnazifizierung der Justiz oblag den Justizverwaltungen. Es mangelte jedoch an unbelasteten Juristen. Die Justizverwaltungen behielten trotzdem den Soforteinsatz von Werktätigen nur teilweise bei und stellten Personen ohne juristische Vorkenntnisse auch nicht mehr wie in den ersten Monaten in nennenswerter Zahl ein. Land und Provinz Sachsen beließen sogar viele ehemalige NSDAP-Mitglieder in ihren Positionen.20 Aufgrund des Mangels an qualifiziertem Personal wurden auch sonst nicht alle Justizbedienstete mit einer „NS-Belastung“ sofort entlassen, insgesamt jedoch verblieben bis Ende 1948 nur sehr wenige im Staatsdienst.21 Besonders in Thüringen prägten alte, liberale oder konservative Juristen das Bild der Justiz. Überall wurden Referendare als Hilfsrichter oder Staatsanwälte eingesetzt. Zur Entlastung der Richter wurden weitreichende Aufgaben im Bereich der Zivilverfahren und der freiwilligen Gerichtsbarkeit, die nicht zur richterlichen Spruchtätigkeit gehörten, dem Rechtspfleger übertragen.22 Der gesamte mittlere Justizdienst war jedoch im selben Umfang wie Richter und Staatsanwälte von der Entnazifizierung betroffen. Um belastete Justitzangestellte zu ersetzen, wurden dieselben Wege wie bei den Richtern und Staatsanwälten beschritten. Für Aufgaben wie die Zwangsvollstreckung in Grundstücke, die Abwicklung von Konkursen oder die Eintragung der Bodenreformgeschäfte ins Grundbuch waren die alten Beamten jedoch unerlässlich. Die Ausbildung neuer Juristen sollte helfen, die Lücken zu schließen. Die Universitäten waren bereits Ende 1945 bzw. Anfang 1946 wiedereröffnet worden. In Berlin, Leipzig, Halle, Jena und Greifswald gab es wieder juristische behörden etwa 1.250 Personen beschäftigt. Davon arbeiteten 850 als Richter und über 300 in der Funktion des Staatsanwalts.“, Andreas Gängel, Richter in der DDR – Wunschbild und Realitätsausschnitte, in: Hubert Rottleuthner / Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Steuerung der Justiz (wie Anm. 5), S. 395. 19 Differenzierte Angaben bei Thomas Lorenz, Die Deutsche Zentralverwaltung der Justiz (DJV) und die SMAD in der sowjetischen Besatzungszone 1945 – 1949, in: Hubert Rottleuthner / Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Steuerung der Justiz (wie Anm. 5), S. 157 f. 20 Helmut Anders, Die Demokratisierung der Justiz beim Aufbau der antifaschistisch-demokratischen Ordnung auf dem Gebiet der DDR (1945 – 49), Leipzig 1972, S. 41 f.; Thomas Lorenz, Die Deutsche Zentralverwaltung der Justiz (DJV) und die SMAD in der sowjetischen Besatzungszone 1945 – 1949, in: Hubert Rottleuthner / Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Steuerung der Justiz (wie Anm. 5), S. 155 f. 21 Heike Amos, Justizverwaltung in der SBZ / DDR: Personalpolitik 1945 bis Anfang der 50er Jahre (wie Anm. 2), S. 144; Ruth-Kristin Rößler, Justizpolitik in der SBZ / DDR 1945 – 1956, Frankfurt a.M. 2000, S. 82 ff. 22 Verordnung über die Zuständigkeit der Rechtspfleger vom 20. Juni 1947 (ZVOBl. S. 78). „Einer Aufstellung am 4. Januar 1947 zufolge waren von den insgesamt 16.267 vor dem Zusammenbruch in der Justiz Beschäftigten – darunter 2.467 Richter und Staatsanwälte – aufgrund der Entnazifizierung 10.457 entlassen worden.“, bei Hermann Wentker, Justiz in der SBZ / DDR 1945 – 1953. Transformation und Rolle ihrer zentralen Institutionen, München 2001, S. 119.

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Kap. 2: Historische Einführung

Fakultäten.23 Allerdings entsprachen weder die Professoren noch die Studenten den geforderten Klassenansprüchen. Viele von ihnen verließen in den ersten Jahren die SBZ / DDR.24 Zwar gab es Sonderreifeprüfungen und seit 1946 Vorstudienanstalten, die 1949 zu den Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten wurden, aber erst ab 1947 nahmen junge Arbeiter oder deren Kinder in wachsender Zahl das juristische Studium auf. Aufgrund der zu diesem Zeitpunkt noch erforderlichen zwei Staatsexamen hätten sie vor 1952 nicht zur Verfügung gestanden, um die alten „bürgerlichen“ Juristen zu ersetzen. Um den Zugang zur Universität zu vereinfachen, arbeitete die für die Hochschulen verantwortliche Deutsche Zentralverwaltung für Volksbildung (DVV) eng mit der DJV mit dem Ziel zusammen, die Lehrpläne für ein auf zwei Jahre reduziertes Rechtsstudium zu entwickeln.25 Besondere Bedeutung kam daher den (Volks-)Richterschulen zu. Nur sie konnten in genügendem Ausmaß und schnell genug sozialistische Juristen zur Verfügung stellen. Dementsprechend förderte die SED den Aufbau der Volksrichterschulen und erhob sie zur Verfassungsforderung. Dem schon seit 1938 in der UDSSR eingeführten sowjetischen Bildungsprogramm folgend, hatte die SMAD bereits am 17. Dezember 1945 eine Anordnung über die Ausbildung von Richtern und Staatsanwälten in abgekürzten Lehrgängen erlassen. Diese sah u. a. einen sechsmonatigen Kurs für „aktive Antifaschisten“ mit Volksschulbildung und einem Mindestalter von 25 Jahren vor. In allen Ländern begannen in der Zeit von Februar bis April 1946 die ersten Lehrgänge. Eine weitgehende Besetzung dieser Lehrgänge mit Arbeitern wurde jedoch nur teilweise erreicht.26 Auch waren die Abbrecher23 Über die Reform des juristischen Studiums vgl. Hermann Wentker, ebenda, S. 119 – 134; Ulrich Bernhardt, Die Deutsche Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft „Walter Ulbricht“ 1948 – 1971 (= Rechtshistorische Reihe, Bd. 160), Frankfurt a.M. 1997. 24 Siehe das Kapitel „Anzahl und Eignung des akademischen Juristennachwuchses (1946 – 1948)“ bei Hermann Wentker, Justiz in der SBZ / DDR 1945 – 1953 (wie Anm. 22), S. 130 – 134. 25 Hermann Wentker, Justiz in der SBZ / DDR 1945 – 1953 (wie Anm. 22), S. 121. 26 Zur Kaderpolitik vgl. Bettina Hoefs, Kaderpolitik des Ministeriums der Justiz 1945 – 60, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (= Zeitgeschichtliche Forschungen Bd. 2 / 1), Berlin 1999, S. 145 – 178; zu den Volksrichtern vgl. auch Hans-Peter Haferkamp / Torsten Wudtke, Richterausbildung in der DDR, in: forum historiae iuris (fhi), http: // www.forhistiur.de / zitat / 9710haferkamp-wudtke.htm, Artikel vom 25. Oktober 1997; Malgorzata Liwinska, Die juristische Ausbildung in der DDR: im Spannungsfeld von Parteilichkeit und Fachlichkeit, Berlin 1997; Steffen Schröder, Die Juristenausbildung in der DDR, in: Gerd Bender / Ulrich Falk (Hrsg.), Recht im Sozialismus, Bd. 2: Justizpolitik (wie Anm. 13), S. 441 – 486; Andreas Gängel, Richter in der DDR – Wunschbild und Realitätsausschnitte, in: Hubert Rottleuthner / Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Steuerung der Justiz (wie Anm. 5), S. 395 f.; Jan Erik Backhaus, Volksrichterkarrieren in der DDR (= Rechtshistorische Reihe, Bd. 188), Frankfurt a.M. 1999; Regina Mathes, Volksrichter – Schöffen – Kollektive. Zur Laienmitwirkung an der staatlichen Strafrechtspflege der SBZ / DDR (= Europäische Hochschulschriften, Reihe 2: Rechtswissenschaft, Bd. 2631), Frankfurt a.M. 1999. Zu einer ,Juristen‘-Ausbildung durch die Stasi vgl. Stefan Gerber, Zur Ausbildung von

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quoten anfangs sehr hoch. Nur 51 – 65% bestanden die Abschlussprüfung. Trotz einer Verlängerung der Lehrgänge auf 8, später 12 Monate,27 wurde die Volksrichterausbildung wegen ihrer Kürze und einer daraus folgenden geringen fachlichen Qualifikation kritisiert und daher von der Justizverwaltung inhaltlich vertieft.28 Mit Abschluss des 4. Lehrganges 1950 betrug der Anteil der Volksrichter erstmals mehr als die Hälfte aller Richter und Staatsanwälte. Waren die Volksrichter anfangs zumeist nur in der Strafrechtspflege eingesetzt worden, drängte das Ministerium der Justiz 1950 energisch darauf, keine Anwälte mehr als Richter einzusetzen,29 sondern auch dies Volksrichtern zu übertragen. Gleiches galt für den Einsatz von Volksrichtern in der zweitinstanzlichen Rechtsprechung. Nicht selten waren Urteile von Volksrichtern in den mit alten Richtern besetzten Berufungskammern abgeändert oder aufgehoben worden. Durch die Volksrichter hatte die SED ihren Einfluss in der Justiz erhöhen können. Gehörten 1947 nur 25 Prozent der Richter und Staatsanwälte der SED an, waren 1950 bereits 87 Prozent der Staatsanwälte und 54 Prozent der Richter Mitglieder der SED. In der erstinstanzlichen Rechtsprechung wurden Schöffen eingesetzt. Die Landtage hatten Ende 1948 bzw. im ersten Halbjahr 1949 das Gesetz über die Wahl der Schöffen und Geschworenen angenommen, dem ein Entwurf der DJV zugrunde lag. Nach diesen Wahlgesetzen wurden die Kandidaten ausschließlich von den „demokratischen Parteien und Organisationen“ vorgeschlagen und durch die jeweiligen örtlichen Volksvertretungen gewählt,30 so dass auch hier die politische Zuverlässigkeit gewährleistet wurde. Anders sah es zunächst in Berlin aus.31 Dort war es dem Kammergerichtspräsidenten Dr. Georg Strucksberg bis 1948 gelungen, die Durchführung von Volksrichterkursen zu verhindern und einen Personalbestand aufzubauen, der sich fast ausschließlich aus Volljuristen zusammensetzte, allerdings auch noch ehemalige NSDAP-Mitglieder einschloss. Aufgrund wachsenden politischen Drucks war es Anfang 1949 jedoch zur Spaltung der Berliner Justiz gekommen. Im Februar hatten der Kammergerichtspräsident Dr. Strucksberg, der Generalstaatsanwalt Dr. Neumann und viele andere Berliner Richter, Staatsanwälte und Justizangestellte Ost-Berlin verlassen und in den Westsektoren ein eigenes Kammer- sowie ein Landgericht eröffnet. In Ost-Berlin vollzog sich daraufhin eine personelle UmbilDiplomjuristen an der Hochschule des MfS (Juristische Hochschule Potsdam) (= Berliner Juristische Universitätsschriften, Grundlagen des Rechts, Bd. 21), Berlin 2000. 27 SMAD-Befehl Nr. 193 vom 6. August 1947 über die Erhöhung der Schülerzahl und Verlängerung der Ausbildungszeit für die juristischen Lehrgänge in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, ZVOBL, S. 165. 28 Heike Amos, Justizverwaltung in der SBZ / DDR: Personalpolitik 1945 bis Anfang der 50er Jahre (wie Anm. 2), S. 151 – 173. 29 Mitte 1950 waren in Sachsen 116, in Sachsen-Anhalt noch 55 als Zivilrichter tätig. 30 Vgl. Gronau, Die Durchführung der Wahlen der Schöffen und Geschworenen im Lande Brandenburg, in: NJ 1949, S. 286 f. 31 Hermann Wentker, Justiz in der SBZ / DDR 1945 – 1953 (wie Anm. 22), S. 322.

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Kap. 2: Historische Einführung

dung in der Justiz wie in der übrigen SBZ. Um 1948 entwickelte sich die Justiz in der SBZ von einer juristisch-fachlichen Institution zu einem SED-politisch orientierten Amt.32

2. Das Gerichtssystem der jungen Republik a) Neuorganisationen Mit Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 wurde aus der DJV das Ministerium der Justiz.33 Minister wurde Max Fechner, bisher Präsident der DJV, Mitglied des Parteivorstandes der SED und des ZK der SED.34 Er handelte nach dem Prinzip der Einzelleitung. Dem Ministerium der Justiz oblagen die Gesetzesvorbereitung, die Anleitung der Rechtsprechung und die Kaderarbeit. Daneben organisierte es die Justizausspracheabende mit der Bevölkerung und übte umfangreiche Beratungs- und Justitiartätigkeiten für verschiedene zentrale Staatsorgane aus, die ihm zeitweilig die Stellung eines allgemeinen Rechtsministeriums gaben.35 Im Juni 1950 gehörten 61% der Angestellten des Ministeriums der Justiz der SED, 7 % der CDU, 1 % der LDPD an und 31 % waren parteilos.36 Nach der Verhaftung von Max Fechner 1953 (mit der 1956 folgenden Verurteilung) übernahm Hilde Benjamin im Juli die Funktion des Ministers der Justiz. Die Justizverwaltungsstellen wurden im Mai 1963 aufgelöst.37 Mit Gesetz vom 8. Dezember 194938 wurden das Oberste Gericht und die Oberste Staatsanwaltschaft gegründet, die der Verwaltung der Regierung der DDR unter32 Heike Amos, Justizverwaltung in der SBZ / DDR: Personalpolitik 1945 bis Anfang der 50er Jahre (wie Anm. 2), S. 107 ff.; Fred Bär, Die Berliner Justiz in der Besatzungszeit am Beispiel der Ziviljustiz am Amtsgericht Berlin-Mitte im Jahre 1948, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 26), S. 31 – 87; Ernst Reuß, Berliner Justizgeschichte. Eine rechtstatsächliche Untersuchung zum strafrechtlichen Justizalltag in Berlin von 1945 – 1952 (wie Anm. 3); ders., Vier Sektoren – eine Justiz. Berliner Justiz in der Nachkriegszeit (wie Anm. 3). 33 Heike Amos, Justizverwaltung in der SBZ / DDR: Personalpolitik 1945 bis Anfang der 50er Jahre (wie Anm. 2), S. 119. ˇ erny (Hrsg.), Wer war wer – DDR: ein biographisches Lexikon, 2. Auflage, 34 Jochen C Berlin 1992, S. 108. 35 Werner Künzel, Das Ministerium der Justiz im Mechanismus der Justizsteuerung 1949 – 1976, in: Hubert Rottleuthner / Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Steuerung der Justiz (wie Anm. 5), S. 167, 172; Hilde Benjamin (Leiterin des Autorenkollektivs), Zur Geschichte der Rechtspflege der DDR 1949 – 1961, Berlin (Ost) 1980, S. 68. 36 Heike Amos, Justizverwaltung in der SBZ / DDR: Personalpolitik 1945 bis Anfang der 50er Jahre (wie Anm. 2), S. 119. 37 GBl. II 1963, S. 373. 38 GBl. 1949, S. 111. Umfassend Andreas Gängel, Das Oberste Gericht der DDR – Leitungsorgan der Rechtsprechung – Entwicklungsstationen, in: Hubert Rottleuthner / Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Steuerung der Justiz (wie Anm. 5), S. 253.

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standen. Beim Obersten Gericht wurden Zivil- und Strafsenate mit je drei Richtern und ein Präsidium gebildet. Präsident des Obersten Gerichts wurde Kurt Schumann, Vizepräsidentin Hilde Benjamin. Das Oberste Gericht sollte die Untergerichte anleiten und die Einheitlichkeit der Rechtsprechung sicherstellen. Dazu konnte es rechtskräftige Straf- und Zivilurteile kassieren.39 Der Obersten Staatsanwaltschaft war eine Kontrollfunktion der Justiz im Sinne einer umfassenden Gesetzlichkeitsaufsicht zugedacht.40 Der Generalstaatsanwalt der DDR konnte die Kassation rechtskräftiger Entscheidungen in Zivil- und Strafsachen beim Obersten Gericht beantragen. Gegenüber den Staatsanwaltschaften hatte er ein Weisungsrecht.41 Seit 195242 waren die Staatsanwälte berechtigt, in jedem Zivilrechtsstreit zum Zwecke der Wahrung der Gesetzlichkeit aktiv teilzunehmen.

b) Qualifizierung des Justizpersonals Von den Absolventen der Hochschulen wurde noch 1950 nur der geringere Teil in den Justizdienst übernommen. Bevorzugt wurde die Gewinnung von Volksrichtern. Anstelle der einjährigen Volksrichterkurse der Länder trat eine zweijährige Ausbildung der Volksrichter an der neu gegründeten zentralen Richterschule in Potsdam-Babelsberg. Dort wurde nicht mehr anhand alter, bürgerlicher Lehrbücher, sondern mittels Leitfäden, die vom Ministerium der Justiz in Absprache mit dem Obersten Gericht und der Generalstaatsanwaltschaft herausgegeben wurden, unterrichtet.43 Zur Weiterqualifizierung wurde am 11. Dezember 1951 ein vierjähriges Hochschulfernstudium für die in den früheren Lehrgängen ausgebildeten Richter und Staatsanwälte beschlossen. Vor diesem Hintergrund wurde die Hochschule für Jurisprudenz in Potsdam-Babelsberg mit der ehemaligen Deutschen Verwaltungs39 Torsten Reich, Die Kassation in Zivilsachen. Maßnahmeakt oder Rechtsinstitut?, in: forum historiae iuris (fhi), http: // www.forhistiur.de / zitat / 9711reich.htm, Artikel vom 24. November 1997. 40 Wolfgang Behlert, Die Generalstaatsanwaltschaft, in: Hubert Rottleuthner / Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Steuerung der Justiz (wie Anm. 5) S. 287, 291; Hans-Peter Haferkamp, Begründungsverhalten des Reichsgerichts zwischen 1933 und 1945 in Zivilsachen verglichen mit Entscheidungen des Obersten Gerichts der DDR vor 1958, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. II (wie Anm. 16), S. 15 – 50. 41 Andreas Herbst / Winfried Ranke / Jürgen Winkler, So funktionierte die DDR. Bd. 1: Lexikon der Organisationen und Institutionen der DDR, Reinbek 1994, Stichwort: Generalstaatsanwalt der DDR, S. 326. 42 Gesetz über die Staatsanwaltschaft der DDR vom 23. Mai 1952 (GBl. S. 408). 43 Ulrich Bernhardt, Die Deutsche Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft „Walter Ulbricht“ 1948 – 1971 (wie Anm. 23); Andreas Gängel, Richter in der DDR – Wunschbild und Realitätsausschnitte, in: Hubert Rottleuthner / Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Steuerung der Justiz (wie Anm. 5), S. 395 – 408, hier insb. S. 396 f.

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akademie, die im Februar 1953 zur Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft umgebildet wurde, vereinigt.44 Die Neuerungen ermöglichten es den Richtern und Staatsanwälten, bis 1960 das erste juristische Staatsexamen nachzuholen.45 Das zweite Staatsexamen und das Referendariat waren mit dem GVG von 1952 abgeschafft worden. Allerdings wurde 195946 das Mindestalter für Richter auf 25 Jahre heraufgesetzt und eine eineinhalbjährige, oft jedoch verkürzte, Praktikantenzeit eingeführt. Der Einsatz von Frauen in der Justiz sollte stark gefördert werden.47 Bis zum Anfang der Achtziger Jahre wurde ihr Anteil auf über 40 Prozent gesteigert,48 bis 1989 stieg der Anteil auf über 50 Prozent.49 Im unteren und mittleren Justizdienst war der Anteil noch höher. Zur Anleitung der Richter in laufenden Verfahren wurden regelmäßige Richterdienstbesprechungen eingeführt. Weitere Methoden des Ministeriums der Justiz zur Anleitung der Gerichte waren Instruktionen und Revisionen durch Mitarbeiter des Ministeriums der Justiz, schriftliche Anleitungen der Justizpraxis, meist in Form von „Rundverfügungen“ und die Kassationsanregung beim Obersten Gericht Zur Weiterbildung und Anleitung des Justizpersonals gab das Ministerium der Justiz außerdem seit 1948, seit 1951 in Zusammenarbeit mit dem Obersten Gericht und der Obersten Staatsanwaltschaft, die Wochenzeitschrift „Neue Justiz“ heraus. Daneben bemühte sich die Partei- und Staatsführung um eine politisch, wirtschaftlich, fachliche Weiterbildung des gesamten Justizpersonals auf Vorträgen, Wochenendveranstaltungen und Lehrgängen. Seit Anfang 1949 wurde die „Staatspolitische Schulung“ für alle Mitarbeiter der Justiz wie für die aller übrigen Staatsorgane durchgeführt. Schöffen erhielten neben der Anleitung durch die Vorsitzenden Richter regelmäßige Schulungen. An den Gerichten sollten Schöffenaktive aus erfahrenen Mitgliedern den Direktor des Gerichts bei der Leitung der Schöffen44 Andreas Gängel, Richter in der DDR – Wunschbild und Realitätsausschnitte, in: Hubert Rottleuthner / Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Steuerung der Justiz (wie Anm. 5), S. 397 und 401. 45 Hermann Wentker, Justiz in der SBZ / DDR (wie Anm. 22), S. 355; nach Benjamin nahmen 80 % der Betroffenen diese Möglichkeit wahr: Hilde Benjamin (Leiterin des Autorenkollektivs), Zur Geschichte der Rechtspflege der DDR 1949 – 1961 (wie Anm. 35), S. 160. 46 Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Gerichtsverfassungsgesetzes (GBl. I, S. 753). 47 Nach Benjamin waren 1960 erstmals über 30 Prozent der Richter Frauen: Zur Geschichte der Rechtspflege der DDR 1949 – 1961(wie Anm. 35), S. 159; „bei der Wahl zu den Kreisgerichten 1984 lag der Frauenanteil bei 55,1 %, bei der Wahl 1979 waren 60 % der Richterund 23 % der Direktorenkandidaten Frauen, womit sie in Leitungspositionen also unterrepräsentiert waren“; weitere Zahlen bei Herbert Kern, Rechtsprechung im Interesse des Volkes, in: NJ 1984, S. 301; Ulrich Lohmann, Gerichtsverfassung und Rechtsschutz in der DDR, Opladen 1986, S. 56. 48 Siehe: Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Im Namen des Volkes? Über die Justiz im Staat der SED, Katalog zur Ausstellung des Bundesministeriums der Justiz, Leipzig 1994, Tafel 32, S. 152. 49 Wolfgang Behlert, Organisation und sozialer Status der Richter und Rechtsanwälte in der DDR, in: KJ 1991, S. 184 – 191.

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arbeit unterstützen. Außerdem wurden Schöffenkollektive in den Betrieben gebildet und Schöffenkonferenzen veranstaltet. Schulungszwecken diente auch die seit 1954 monatlich erscheinende Zeitschrift „Der Schöffe“, die später auch der fachlichen Betreuung der Mitglieder der gesellschaftlichen Gerichte dienen sollte.

3. Die Justizverfassung seit 1952 Die gesamte Justiz der DDR wurde seit 1952 neu organisiert. Die SED-Führung betrachtete nämlich Richter und Staatsanwälte als an die Beschlüsse der Partei gebundene Staatsfunktionäre. Seit den Waldheimer Prozessen 195050 wussten sie, welche gefährlichen Konsequenzen ein festgestellter Mangel an ideologischer Mitbesinnung der Justizmitarbeiter haben konnte. Die neue juristische Ausbildung sowie die Einsetzung der Volksrichter sollten daher für ein sozialistisch geprägtes Engagement sorgen. Das Gesetz vom 23. Juli 1952 hatte die Staatsorgane in den Ländern beauftragt, eine Neugliederung in Bezirke und Kreise vorzunehmen. Mit Durchführung des Gesetzes entstanden 14 Bezirke, an die Stelle der bisherigen 132 traten 217 Kreise. In jedem Kreis sollte ein Gericht entstehen. Da sich aber die Arbeiten an dem neuen Gerichtsverfassungsgesetz hinzogen, wurde mittels Verordnung die Gründung von Kreisgerichten in den Kreisen und Bezirksgerichten in den Bezirken verfügt.51 Die Oberlandesgerichte, denen mangelnde Parteilichkeit und ungenügende Anleitung der Untergerichte vorgeworfen worden war,52 wurden aufgelöst. Außerdem wurden Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit aus dem Aufgabenbereich der Zivilgerichte ausgegliedert53 und neugegründeten staatlichen Notariaten übertragen.54 Es wurden Konfliktkommissionen55 und Sühnestellen,56 die spä-

50 Agatha Kobuch, Die Waldheimer Prozesse des Jahres 1950 – markantestes Beispiel für Willkür und Widersprüchlichkeit der Entnazifizierung in der DDR, in: Sächsisches Heimatblatt 1994, S. 16 – 25; Wilfriede Otto, Die Waldheimer Prozesse. Altes Erbe und neue Sichten, in: NJ 1991, S. 355 ff.; Wolfgang Eisert, Die Waldheimer Prozesse 1950. Fakten, Dokumente, Hintergründe, Berlin, 1992; Falco Werkentin, Scheinjustiz in der frühen DDR. Aus den Regieheften der „Waldheimer Prozesse“ des Jahres 1950, in: KJ 1991, S. 333 – 348. 51 Verordnung über die Neugliederung der Gerichte vom 28. August 1952 (GBl. II, S. 791). 52 Hilde Benjamin (Leiterin des Autorenkollektivs), Zur Geschichte der Rechtspflege der DDR 1949 – 1961 (wie Anm. 35), S. 65. 53 Verordnung über die Übertragung der Angelegenheiten der Freiwilligen Gerichtsbarkeit vom 15. Oktober 1952 (GBl., S. 1057). 54 Verordnung über die Errichtung und Tätigkeit des Staatlichen Notariats vom 15. Oktober 1952 (GBl., S. 1055), vgl. Jan Skrobotz, Das Staatliche Notariat der DDR – Hüter der sozialistischen Moral, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 26), S. 417 – 445. 55 Verordnung über die Bildung von Kommissionen zur Beseitigung von Arbeitsstreitfällen (Konfliktkommissionen) in den volkseigenen und ihnen gleichgestellten Betrieben und in den Verwaltungen vom 30. April 1953 (GBl., S. 695).

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teren Schiedskommissionen, die aus juristischen Laien (Schöffen) und geprüften Rechtskundigen aus den Schiedsmannseinrichtungen gebildet waren, eingerichtet und Kollegien der Rechtsanwälte gebildet.57 Auch die Justizverwaltung wurde reformiert.58

SED ZK SED ZK

Volkskammer

Abt. Staat Abt. Staat und und Recht Recht

MdJ

Oberstes Gericht

Generalstaatsanwalt

Bezirksgericht

Bezirkstag

SED BL

Bezirksstaatsanwalt

Kreisgericht

Kreistag

SED KL

Kreisstaatsanwalt

KL, BL = Kreis-. Bezirksleitung

= Wahl / Berufung

Justizorgane der Justiz in der DDR59

56 Anordnung über die Errichtung von Sühnestellen in der DDR vom 20. Mai 1954 (GBl., S. 555), vgl. Jürgen Krug, Das zivilrechtliche Wirken der Schiedskommissionen. Konzepte und Ergebnisse, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 26), S. 254 – 290. 57 Verordnung über die Bildung von Kollegien der Rechtsanwälte vom 15. Mai 1953, vgl. Torsten Reich, Die Entwicklung der Rechtsanwaltschaft in der DDR, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 26), S. 315 – 366. 58 Anordnung über die Organisation und Tätigkeit der dem Ministerium der Justiz unterstellten Organe der Justizverwaltung vom 15. Februar 1954 (VuM vom 10. März 1954, Sondernummer); Beschluss über das Statut des Ministeriums der Justiz vom 20. Juli 1956 (GBl. I S. 597). 59 Grafik aus Hans Hubertus von Roenne, „Politisch untragbar . . .?“: die Überprüfung von Richtern und Staatsanwälten der DDR im Zuge der Vereinigung Deutschlands (= Berliner Juristische Universitätsschriften, Grundlagen des Rechts, Bd. 7), Berlin 1997, S. 12; vgl. auch Hubert Rottleuthner, Zum Aufbau und zur Funktionsweise der Justiz in der DDR, in: Roger Engelmann / Clemens Vollnhals (Hrsg.), Justiz im Dienste der Parteiherrschaft. Rechtspraxis und Staatssicherheit in der DDR, 2. Aufl. Berlin 2000, S. 25 ff.

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Am 15. Oktober 1952 trat das neue Gerichtsverfassungsgesetz in Kraft.60 Für die meisten Straf- und Zivilsachen war nun das Kreisgericht in erster Instanz zuständig. Über Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Kreisgerichts entschied das Bezirksgericht. Soweit dem Bezirksgericht für Straf- und Zivilsachen erstinstanzliche Zuständigkeit übertragen war, entschied das Oberste Gericht über eingelegte Rechtsmittel. Die Kammern der Kreisgerichte und die Senate der Bezirksgerichte wurden in allen Verfahren erster Instanz mit drei Richtern besetzt. Dabei war deren Vorsitzender stets ein Berufsrichter, die weiteren Richter waren Schöffen. In zweiter Instanz entschieden nur Berufsrichter. Das Verfassungsgebot des „Gesetzlichen Richters“ bezog die Geschäftsverteilungspläne nicht mit ein. Somit stand nicht im Voraus fest, welcher Richter für welches Verfahren zuständig war. Bis zur Einführung der Wahl aller Richter im Jahre 1960 wurden die Richter vom Minister der Justiz auf drei Jahre ernannt (§ 14). Die Schöffen wurden, zunächst noch nach den Wahlgesetzen der Länder, seit 1955 in allgemeinen Schöffenwahlen gewählt. Die Gewerkschaften hatten Mitspracherechte bei der Nominierung. Die Organisation, Verwaltung und Anleitung der Gerichte oblag dem Direktor des Kreis-, bzw. Bezirksgerichts, der vom Minister der Justiz aus der Mitte der Richter am Gericht bestimmt wurde. Sie konnten nach § 25 II bzw. § 33 IV GVG in jeder Sache den Vorsitz übernehmen und sollten „durch die Anleitung der Mitarbeiter der Bezirksund Kreisgerichte die ordnungsgemäße und gesellschaftlich wirksame Durchführung der den Gerichten übertragenen Aufgaben sichern“.61 Die Direktoren erhielten daher die Leitungsfunktion sowohl hinsichtlich der Verwaltung und Organisation des Gerichts als auch in Bezug auf die Rechtssprechung der einzelnen dort tätigen Richter z. B. durch Dienstbesprechungen, Arbeitsberatungen, Hospitationen. Bei großen Gerichten wie den Stadtbezirksgerichten in Berlin und den Bezirksgerichten waren die Direktoren aber fast nicht mehr rechtsprechend tätig. Eine Dienstaufsicht des Direktors des Bezirksgerichts über die Richter der Kreisgerichte bestand nicht unmittelbar. Dennoch wurden vom Ministerium der Justiz Inspektionsgruppen an den Bezirksgerichten gegründet, deren Aufgabe in der operativen Anleitung, Kontrolle und Auswertung der Tätigkeit der Kreisgerichte bestand.62 Hinzu kam die Einführung der Justizfunktion des Sekretärs an den Gerichten, dem einige Aufgaben von Richtern und Rechtspflegern übertragen worden waren. Der Sekretär führte das Mahnverfahren eigenverantwortlich durch, nahm die Aufgabe der Rechtsantragsstelle wahr und beriet in diesem Zusammenhang auch die rechtssuchenden Bürger. Er leitete die Geschäftsstelle, zu deren Aufgaben zwar auch die Sicherung der Aktenführung und Schreibarbeiten gehörten, die sich jedoch vor allem mit der Vorbereitung der Gerichtsverfahren und der Durchsetzung der Entscheidung beschäftigte. Außerdem oblagen dem Sekretär das Gesetz über die Verfassung der Gerichte der DDR vom 2. Oktober 1952 (GBl. I, S. 983). Andrea Baer, Die Unabhängigkeit der Richter, in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR (= Schriftenreihe Justizforschung und Rechtssoziologie, Bd. 4) Berlin 1999, S. 75 f. 62 Andrea Baer, ebenda, S. 78 f. 60 61

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Ausfertigen gerichtlicher Verfügungen, bestimmte Vollstreckungshandlungen, die Organisation des Schöffeneinsatzes und die Verwaltungsbuchhaltung. Erforderlich waren ein Fachschulabschluss und ein einjähriger Lehrgang.

a) Kreisgerichte Die Kreisgerichte bildeten die Basis des Gerichtssystems, soweit die Sache nicht den Vertragsgerichten zugewiesen war. In Zivilsachen waren sie für alle Zivilrechtsstreitigkeiten unter Bürgern zuständig. Streitigkeiten, in denen eine Partei Träger gesellschaftlichen Eigentums war und der Streitwert 3000 Mark überstieg, gehörten bis zur Änderung des GVG 196363 vor die Bezirksgerichte. Die Kreisgerichte lagen in den Kreisstädten. Sie waren meist mit zwei bis vier Berufsrichtern besetzt. In den großen Städten wie Berlin hießen sie Stadtbezirksgericht und hatten mehr Richter. Jedes Kreisgericht besaß eine Rechtsauskunftsstelle (§ 44 GVG64).

Kreisgericht in Kreisen mit über 200.000 Einwohnern

Kreisgerichtsdirektor

Stellvertreter

Strafkammer

Zivilkammer

Familienrechtskammer

Arbeitsrechtskammer

(Politisches)

Kreisgericht in Kreisen mit unter 200.000 Einwohnern

Kreisgerichtsdirektor

(Politisches)

Straf- / Zivil- / Familienrechts- / Arbeitsrechtskammer

Sitzungsbesetzung der Kammern:

Aufbau der Kreisgerichte in der DDR65 Vom 17. April 1963, GBl. I, S. 45 – 56, insb. S. 49. Zur Zivilrechtsverwirklichung außerhalb des Gerichtsverfahrens siehe in Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 26) die Beiträge von Ulrich Löffler, 63 64

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Für die Zwangsvollstreckung war bei jedem Gericht mindestens ein Gerichtsvollzieher angestellt.66 b) Bezirksgerichte Die Bezirksgerichte waren als Gerichte erster Instanz für Straf- und Zivilsachen von großer Bedeutung zuständig. Daneben hatten sie als zweitinstanzliches Gericht über die gegen Entscheidungen der Kreisgerichte eingelegten Rechtsmittel zu entscheiden und konnten im Wege der Kassation auch alle Kreisgerichtsurteile binnen Jahresfrist aufheben. Das Bezirksgericht gliederte sich in Straf- und Zivilsenate (§ 48 GVG). Soweit diese in erster Instanz tätig wurden, waren sie mit einem Oberrichter als Vorsitzendem und zwei Schöffen besetzt. In der zweiten Instanz waren drei Berufsrichter vorgesehen.

c) Oberstes Gericht Das Oberste Gericht war auch nach dem neuen GVG Gericht erster und letzter Instanz für Strafsachen von überragender Bedeutung. Als Gericht zweiter Instanz entschied es über die Rechtsmittel des Protestes,67 der Berufung und der Beschwerde gegen erstinstanzliche Entscheidungen der Bezirksgerichte und in Patentsachen. Bedeutend war seine Kassationsbefugnis rechtskräftiger Straf-, Zivilund Arbeitsgerichtsurteile. Die Kassation konnte vom Generalstaatsanwalt und nunmehr auch vom Präsidenten des Obersten Gerichts beantragt werden, die durch bürgerliche Eingaben dazu angeregt werden konnten.68 Im Interesse einer einheitlichen Anwendung und Auslegung der Gesetze durch die Gerichte konnte es „im Zusammenhang mit einer Entscheidung Richtlinien mit bindender Wirkung für alle Gerichte erlassen“ (§ 58 GVG). Das Recht, eine solche Richtlinie zu beantragen, hatten der Präsident des Obersten Gerichts, der Generalstaatsanwalt und der MinisEingaben im Bereich des Zivilrechts, S. 213 – 243, von Jürgen Krug, Das zivilrechtliche Wirken der Schiedskommissionen. Konzept und Ergebnisse, S. 245 – 290 und von Catherine Janssen, Steuerung des Bürgersverhaltens durch richterliche Rechtsauskünfte, S. 291 – 311. 65 Nach Hans Hubertus von Roenne, „Politisch untragbar?“ (wie Anm. 59), S. 275. 66 Thomas Thaetner, Bis zum Bitteren Ende – Vollstreckungspraxis in der DDR, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. II (wie Anm. 16), S. 151 – 176. 67 Nach § 147 ZPO waren „gegen in erster Instanz ergangene Urteile die Berufung und der Protest zulässig. Berufung und Protest führen zur Überprüfung der Entscheidung durch das Bezirksgericht. Wurde das Verfahren in erster Instanz durch das Bezirksgericht entschieden, erfolgt die Überprüfung durch das Oberste Gericht“. Weiter wird in § 149 Abs. 1 der Protest folgenderweise definiert: „Der Staatsanwalt kann gegen alle erstinstanzlichen Urteile Protest einlegen; ausgenommen sind Entscheidungen über die Scheidung der Ehe“. 68 Über die Eingaben bezüglich gefällter Urteile und deren Funktion bei der Anregung von Kassationen siehe Ulrich Löffler, Eingaben im Bereich des Zivilrechts, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 26), S. 240 ff.

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ter der Justiz. Mit dem Rechtspflegeerlass69 von 1963 wurde die alleinige Leitung der Rechtsprechung dem Obersten Gericht vorbehalten.

d) Das staatliche Vertragsgericht (StVG) Kein Gericht im traditionellen Sinn70 war das am 6. Dezember 1951 errichtete Staatliche Vertragsgericht.71 Vielmehr handelte es sich um eine zentrale, dem Ministerrat unterstellte Regierungsbehörde mit gerichtsähnlichen Aufgaben im Bereich der Wirtschaft. Es war nach § 8 der Verordnung allein zuständig für alle vertraglichen und vermögensrechtlichen Streitigkeiten zwischen volkseigenen Kombinaten, Betrieben, Einrichtungen und Genossenschaften, die bei der Gestaltung und Erfüllung der nach 1951 geschlossenen Wirtschaftsverträge entstanden. Zuständig war es außerdem für vertragliche Streitigkeiten zwischen den Räten der Städte und Gemeinden einerseits und Kombinaten und Betrieben andererseits. Seit dem „Gesetz über das Vertragssystem in der sozialistischen Wirtschaft“ vom 11. Dezember 1957 bestand eine gesetzlich fixierte Vertragsabschlusspflicht für alle Wirtschaftsbeziehungen. Vor den Zivilgerichten klagten Betriebe nur noch gegen Bürger. Das Vertragsgericht hatte neben seiner streitentscheidenden auch eine wirtschaftsleitende Funktion.72 Es konnte ohne Antrag Verfahren einleiten, wenn es dies aus volkswirtschaftlichen Gründen für erforderlich hielt. Es hatte Abschluss und Erfüllung der Wirtschaftsverträge zu kontrollieren, die Wirtschaftseinheiten und staatlichen Organe bei der Vertragserfüllung zu unterstützen, das Register der volkseigenen Wirtschaft zu führen und bei der Gesetzgebung mitzuwirken. Dazu hatte es ein Gesetzesinitiativrecht. Dennoch waren eigene wirtschaftsleitende Entscheidungen wie z. B. Plan- und Bilanzentscheidungen nicht möglich. Letztere waren verbindliche Festlegungen von staatlicher Seite über Aufkommen (Produktion, Importe, Bestände) und Verwendung von Erzeugnissen für die zu bilanzierenden Positionen zur Deckung des volkswirtschaftlichen Bedarfs.73 Bilanzierend 69 Beschluss des Staatsrates vom 4. April 1963 über die grundsätzlichen Aufgaben und die Arbeitsweise der Organe der Rechtspflege (GBl. I, S. 21). 70 Die genaue Einordnung des Vertragsgerichts war in der DDR und ist auch heute noch umstritten, vgl. Cornelia Ludwig-Dodin, Das Staatliche Vertragsgericht – Organ der Wirtschaftsverwaltung oder der Rechtspflege?, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. II (wie Anm. 16), S. 177 – 193; Rainer Schröder, Zivilprozess in der DDR: Vorurteil und Realität, in: ders. (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 26), S. 120; Inga Markovits, Die Abwicklung. Ein Tagebuch zum Ende der DDR-Justiz, München 1993, insb. S. 87 – 89. 71 Verordnung über die Bildung und Tätigkeit des Staatlichen Vertragsgerichtes, GBl. I, S. 1143. Aufbau und Verfahren wurden durch die Vertragsgerichtsordnung und Vertragsgerichtsverfahrensordnung vom 21. Januar 1951, GBl. I, S. 83 und 86 bestimmt. 72 Uwe-Jens Heuer (Leiter des Autorenkollektivs), Wirtschaftsrecht – Lehrbuch, Berlin (Ost) 1985, S. 381: „Staatsorgan mit wirtschaftsleitenden Funktionen“.

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tätig waren wirtschaftsleitende Organe (VVB, Ministerien), Kombinate oder Betriebe.74 Das Staatliche Vertragsgericht gliederte sich in das Zentrale Vertragsgericht und die Bezirksvertragsgerichte in den 14 Bezirken sowie der Hauptstadt Berlin. Geleitet wurde das Zentrale Vertragsgericht von einem Vorsitzenden, der gleichzeitig Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates war. Er war den Direktoren der Bezirksvertragsgerichte gegenüber direkt weisungsberechtigt. Im Zusammenhang mit den Änderungen der Vertragsgesetze vom 11. Dezember 195775, vom 1. Mai 196576 und vom 25. März 198277 wurde auch die Arbeit des Vertragsgerichts modifiziert.78 Daneben wurde das Staatliche Vertragsgericht insbesondere mit der Verordnung über das Staatliche Vertragsgericht vom 22. Januar 195979 und der Vertragsgerichtsverfahrensordnung vom 22. Januar 195980, sowie den Verordnungen vom 18. April 1963 über die Aufgabe und die Arbeitsweise des Staatlichen Vertragsgerichts81 mit späteren Änderungen82 weiter entwickelt. Die Kompetenz in Handelssachen zu entscheiden und die Aufgabe der Registrierung von Unternehmen wurden zum Ende der DDR durch Verordnung vom 6. Juni 199083 mit Wirkung zum 1. Juli 1990 vom Staatlichen Vertragsgericht auf die ordentlichen Gerichte übertragen. Diese Ausgliederung ist für die hier untersuchte Perspektive von großer Bedeutung, denn sie hat zur Folge, dass sozialistische Betriebe vor dem Kreisgericht nicht als Prozessgegner zu erwarten sind.

73 § 11 Abs. 1 Satz 3 BilanzierungsVO 1979, GBl. I 1980, S. 1, inhaltsgleich § 8 Abs. 1 S. 2 BilanzierungsVO 1971, GBl. II, S. 377. 74 Cornelia Ludwig-Dodin, Das Staatliche Vertragsgericht – Organ der Wirtschaftsverwaltung oder der Rechtspflege?, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. II (wie Anm. 16), hier insb. S. 178. 75 GBl. I, S. 627. 76 GBl. II, S. 109. 77 GBl. II, S. 293. 78 Weitere Verordnungen in: Rainer Schröder, Zivilprozess in der DDR: Vorurteil und Realität, in: ders. (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 26), S. 115. 79 GBl. I, S. 83. 80 GBl. I, S. 83 ff. 81 GBl. II, S. 293. 82 VO vom 9. September 1965 (GBl. II, S. 83) und der letzten Änderung mit VO vom 12. März 1970 (GBl. II, S. 205), dazu 1. Durchführungsbestimmung vom 18. April 1963 (GBl. II, S. 302) in der Fassung der 2. Durchführungsbestimmung vom 12. März 1970 (GBl. II, S. 220), 3. Durchführungsbestimmung vom 1. Februar 1971 (Schiedsrichterordnung, GBl. II, S. 154); 4. Durchführungsbestimmung vom 6. Dezember 1983 zu Kontrollverfahren (GBl. I 1984, S. 1); Anordnung vom 6. Mai 1980 (GBl I, S. 143 Schöffen); Anweisung 4 / 1961, VuM StVG 5 / 1961. 83 GBl. I, S. 284.

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Kap. 2: Historische Einführung

4. Das Justizsystem der konsolidierten DDR Ihre wesentlichen Züge hatte die Justiz der DDR in den 50er Jahren erhalten. Die Neufassungen des GVG von 196384 und 197485 enthielten neben Konkretisierungen und geringfügigen Änderungen eine Konzentration der allgemeinen Anleitungsfunktion auf das Oberste Gericht und bezüglich der Kreisgerichte auf die Bezirksgerichtsgerichte. 86 Die Zusammenarbeit der Gerichte mit anderen staats- und wirtschaftsleitenden Organen, Kombinaten und Betrieben, den gesellschaftlichen Organisationen und den örtlichen Kreisen wurde intensiviert. Eingeführt wurde die Gerichtskritik, die das Gericht wegen durch Betriebe oder Staatsorgane verursachten Gesetzesverletzungen oder missbilligenswerten Zuständen üben sollte. Die Leitung der Bezirksgerichte durch ein kollektives Leitungsorgan anstelle des Direktors setzte sich wegen des damit verbundenen Aufwandes nicht durch. Auch auf das Mindestalter für Richter von 25 Jahren wurde verzichtet. 1974 wurde erstmals die Ausschließung und Ablehnung von Richtern und Schöffen geregelt und die Abordnung von Richtern an andere Gerichte oder in das Ministerium der Justiz auf 6 Monate begrenzt. Der Grund könnte in der schwierigen Kadersituation der Gerichte gelegen haben. So konnten bei der Richterwahl 1989 162 von insgesamt 1.214 Planstellen an den Kreisgerichten nicht besetzt werden. Außerdem war die Fluktuation sehr hoch. 1985 waren von den 1.337 Richtern die Hälfte noch keine 5 Jahre im Amt.87 Die Aussicht auf ein lukratives Gehalt und den damit verbundenen sozialen Status gab es nicht.88 Richter und Staatsanwälte waren Angestellte mit zeitlich befristeten Arbeitsverträgen. Die Einkommen der Justizjuristen entsprachen dabei einem leicht gehobenen durchschnittlichen Einkommen in der DDR: 1975 verdienten die Richter und einige Staatsanwälte am Kreisgericht außerhalb von Berlin zwischen 1.190 und 1.430 Mark; Direktoren eines Kreisgerichts und Staatsanwälte verdienten zwischen 1.330 und 1.570 Mark. Hinzu kamen 150 Mark als Dienstaufwandsentschädigung. Am Bezirksgericht verdienten Richter und Staatsanwälte auch zwischen 1.330 und 1.570 Mark, bekamen aber keine Dienstaufwandsentschädigung; SenatsvorsitGerichtsverfassungsgesetz vom 17. April 1963 (GBl. I, S. 45 – 56). Gerichtsverfassungsgesetz vom 27. September 1974 (GBl. I, S. 457). 86 Ausführlicher bei Andrea Baer, Rechtsquellen der DDR – Steuerung auf der normativsymbolischen Ebene, in: Hubert Rottleuthner / Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Steuerung der Justiz (wie Anm. 5), S. 67 – 91. 87 Wolfgang Behlert, Organisation und sozialer Status der Richter und Rechtsanwälte in der DDR, in: KJ 1991, 184, 185 und 189; Andreas Gängel, Richter in der DDR – Wunschbild und Realitätsausschnitte, in: Hubert Rottleuthner, Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Steuerung der Justiz (wie Anm. 5), S. 395, 404. 88 Marion Wilhelm, „Wir sind Kinder unserer Zeit“. Qualitative Analyse narrativer Interviews von Justizjuristen der DDR, Berlin 2002, S. 44 f. 84 85

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zende und Abteilungsleiter bei der Bezirksstaatsanwaltschaft verdienten zwischen 1.600 und 1.880 Mark zuzüglich 150 Mark als Dienstaufwandentschädigung; Direktoren und Staatsanwälte verdienten zwischen 1.900 und 2.200 Mark zuzüglich 300 Mark als Dienstaufwandsentschädigung.89 Anwälte und Justitiare konnten erheblich mehr verdienen. Auch bestand nicht die Möglichkeit zu einem Zusatzverdienst durch Arbeit nach Dienstschluss, wie bei vielen Werktätigen aus handwerklichen oder landwirtschaftlichen Berufen. Außerdem wurde von den Richtern besonderes gesellschaftliches Engagement verlangt. Dafür genossen Richter, besonders aber Staatsanwälte, wohl ein erhöhtes soziales Prestige.90 Ihrem Selbstverständnis nach sahen sich die meisten Richter eher als Werktätige, denn als Elite der DDR an.91 1989 gehörten 95,7 Prozent der Richter der SED an.92 Im Gegensatz zu den Richtern in den 50er Jahren nutzten nur wenige von ihnen die Möglichkeit, die DDR 1989 zu verlassen.93

II. Lenkung von Verfahren Die von uns untersuchten Urteile waren auch ein Ergebnis einer umfassenden Steuerung der Justiz. Unter Steuerung waren dabei zum einen strukturelle Mechanismen und zum anderen individuelle Eingriffe zu verstehen, mit denen das Ergebnis eines Verfahrens beeinflusst werden konnte.94 Das Bestreben, eine einheitliche und vorhersehbare Rechtsprechung zu gewährleisten, ist an sich nichts DDR-Spezifisches. Die Verfassungsmäßigkeit der Rechtsprechung wird durch die Inhalte der Gesetze, durch die den Richtern zur Ver89 Marion Wilhelm, ebenda, S. 44. Die Gehälter wurden ab 1985 leistungsorientiert erhöht. Hans Hubertus von Roenne, „Politisch untragbar . . .?“ (wie Anm. 59), S. 20. Wolfgang Behlert siedelt die Einkommen im unteren Drittel der in der DDR gezahlten Bezüge an und geht auch von einem niedrigen sozialen Status aus, was auch bei der hohen Frauenquote in der Justiz berücksichtigt werden müsse: Wolfgang Behlert, Organisation und sozialer Status der Richter und Rechtsanwälte in der DDR, in: KJ 1991, S. 184 f. und 189. 90 Vgl. zum sozialen Status: Wolfgang Behlert, Organisation und sozialer Status der Richter und Rechtsanwälte in der DDR, in: KJ, 1991, S. 184 – 191, bes. S. 184 f., 190. 91 Marion Wilhelm, „Helden gibt es nur im Film“ oder „Wir sind alle Kinder unserer Zeit“ in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. II (wie Anm. 16), S. 271 – 279. 92 Abschlussbericht über die Wahlen an den Kreisgerichten 1989, BA DP 1 SE 3169, S. 8. 93 Hans Hubertus von Roenne, „Politisch untragbar . . . ?“ (wie Anm. 59), S. 26; Annette Weinke, Die DDR-Justiz im Jahr der „Wende“. Zur Transformation der DDR-Juristen von „Tätern“ zu „Opfern“, in: DA 1997, S. 41 – 62. 94 In Anlehnung an Hubert Rottleuthner, Zur Steuerung der Justiz in der DDR, in: ders. / Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Steuerung der Justiz (wie Anm. 5), S. 27 werden hier die Termini „Steuerung“ für strukturelle Mechanismen und „Eingriffe“ für Maßnahmen in Einzelfällen gebraucht und ebenso Leitung / Anleitung nur für die Operationen des Ministeriums der Justiz / Obersten Gerichts verwandt.

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Kap. 2: Historische Einführung

fügung stehenden Informationen zu ihrer Anwendung95 und auch durch die Ausbildung und Sozialisation der Richter erreicht. DDR-spezifisch war die Diskrepanz zwischen verfassungsmäßig proklamierten demokratischen Grundsätzen, wie z. B. der Gewaltenteilung, der Unabhängigkeit der Richter, der Gleichheit der Rechtsanwendung (Art. 127 Verfassung der DDR) und der tatsächlichen, alltäglichen Kontrolle der Rechtsprechung im Sinne der „sozialistischen Gesetzlichkeit“. Unter diesem Begriff wurde die politisch motivierte Lenkung verfassungsmäßig gerechtfertigt, indem sie u. a. von ihren Funktionären verlangte, „sich vorbehaltlos für den Sieg des Kommunismus in der DDR [einzusetzen] und der Arbeiter- und Bauern-Macht treu [zu sein]“ (§ 2 GVG).96 Verschiedene Zeitabschnitte sind zu unterscheiden: Zum Ende der besonders prägenden und intensiven politischen Justizsteuerung in den fünfziger Jahren bis 1963 wurde am 4. April 1963 der Rechtspflegeerlass angeordnet, um die Verteilung der Kompetenzen zwischen den staatlichen Instanzen und Parteiorganen definitiv festzusetzen. Die ständigen Spannungen, die zwischen dem Obersten Gericht und dem Ministerium der Justiz bestanden, dauerten aber weiterhin fort. Erst mit der neuen Verfassung vom 6. April 1968 lösten sich die Schwierigkeiten dadurch, dass der Führungsanspruch der SED und damit die Verschmelzung von Staat und Partei offiziell festgeschrieben wurden. Nach den weiteren strukturellen Justizreformen 1974 und 1976 waren die Machtverhältnisse so selbstverständlich geworden, dass keine Intervention in die Rechtspflege mehr für nötig gehalten wurde.97 Im Folgenden soll kurz das System der Steuerung für die erstinstanzliche Zivilrechtsprechung aufgezeigt werden.98 Nicht vergessen werden darf daneben der Einfluss auf die Rechtsprechung durch die öffentliche Meinung, aktuelle Stimmungen, den durch gezielte Propaganda besetzten öffentlichen Raum, die soziale Kontrolle des Kollektivs und die gesellschaftliche Ächtung, nicht zuletzt aufgrund von Parteistrafen.

95 Diese waren in der DDR bewusst knapp gehalten, so existierten nur zwei juristische Zeitschriften, die von der Partei (Abteilung Staats- und Rechtsfragen des ZK) kontrolliert wurden, gleiches galt für die wenigen Kommentare und Lehrbücher. Daneben bildeten auch sog. „geheime“ Anleitungshefte ein verbreitetes Leitungsinstrument. 96 Hubert Rottleuthner, Zur Steuerung der Justiz in der DDR, in: ders. / Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Steuerung der Justiz (wie Anm. 5), S. 77. 97 Hubert Rottleuthner, Zur Steuerung der Justiz in der DDR, in: ders. / Bundesministerium der Justiz, (Hrsg.), Steuerung der Justiz (wie Anm. 5), S. 26 f.; konzentriert auf das Strafrecht in den 70er und 80 er Jahren: Christian Meyer-Seitz, SED-Einfluß auf die Justiz in der Ära Honecker, in: DA 1995, S. 32 – 41. 98 Umfassend bei Annette Armèlin: Die Einflussnahme der Kreis- und Bezirksleitungen der SED auf die Zivil-, Familien- und Arbeitsrechtsverfahren der Kreis- und Bezirksgerichte, in: Rainer Schröder (Hrsg.) Zivilrechtskultur der DDR, Bd. II (wie Anm. 16), S. 51 – 82; Hubert Rottleuthner, Zur Steuerung der Justiz in der DDR, in: ders. / Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Steuerung der Justiz. (wie Anm. 5), S. 10, 26 ff.

A. Rahmenbedingungen

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1. Steuerung innerhalb der Justiz Erheblichen Einfluss auf die Entscheidungen hatten die im Instanzenzug höheren Gerichte. Neben der Möglichkeit der Urteilsänderung in der Berufung konnte jedes rechtskräftige Urteil auch ohne Antrag der Parteien kassiert werden. Entscheidend war dafür die umfassende Information der übergeordneten Gerichte. Dazu dienten auch die Wochenmeldungen99 über brisante Fälle, die die Direktoren der Kreisgerichte anzufertigen hatten (§ 45 GVG 1952). Mit dem Gesetz zur Änderung und Ergänzung des GVG vom 1. Oktober 1959 wurde diese Pflicht auch auf die Bezirksgerichte ausgedehnt. Notfalls konnte der Direktor ein Verfahren zur Entscheidung an sich ziehen. Außerdem bestand die Möglichkeit, dass Zivil-, Familienrechts- und Arbeitssachen vom Staatsanwalt oder dem Direktor des Bezirksgerichts statt an das eigentlich zuständige Kreisgericht an das Bezirksgericht gezogen wurden. Hauptaufgabe der Obergerichte war jedoch die Anleitung und Kontrolle der Rechtsprechung (§ 28 GVG) der unteren Gerichte. Diese erschöpften sich nicht in der Veröffentlichung von Richtlinien100, Urteilen oder weiteren Informationsmaterialien. Richter der Untergerichte nahmen an Beratungen und Tagungen der oberen Gerichte teil101 und konnten sich auch an diese mit der Bitte um Rat wenden. Die oberen Gerichte kontrollierten die Arbeitsweise und Urteilspraxis der Untergerichte über die Wochenmeldungen, Aktenanforderungen und Inspektionen vor Ort oder konnten die Richter der unteren Gerichte zu Aussprachen zu sich zitieren. Der Informationsfluss zwischen Richtern, Direktoren, Justizverwaltungsstellen, der Staatsanwaltschaft, den Räten der Kreise und dem Ministerium der Justiz war erheblich.102 Die Information erfolgte stets über den Gerichtsdirektor. Er hatte den ordnungsgemäßen Geschäftsablauf an seinem Gericht sicherzustellen, die fachliche, persönliche und politische Qualifikation seiner Richter zu überwachen und brisante Verfahren zu melden und ihre „richtige“ Entscheidung zu garantieren.103 Dazu führte er neben den wöchentlichen Rapporten mit seinen Richtern Einzel99 Diese erhielt nicht nur das übergeordnete Gericht, sondern von dort auch das Oberste Gericht, das Ministerium der Justiz, MdI, MfS, SK, der Staatsrat usw. 100 Diese spielten für die Ziviljustiz jedoch keine Rolle. 101 Ausführlicher zu den Anleitungsmaterialien und gemeinsamen Veranstaltungen Hubert Rottleuthner, Zur Steuerung der Justiz in der DDR, in: ders. / Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Steuerung der Justiz (wie Anm. 5), S. 33 f. 102 Hubert Rottleuthner, Zum Aufbau und zur Funktionsweise der Justiz in der DDR, in: Roger Engelmann / Clemens Vollnhals (Hrsg.), Justiz im Dienste der Parteiherrschaft (wie Anm. 59), S. 25, 31. 103 Eine von Hans Hubertus von Roenne interviewte Richterin erwähnte, dass die Direktoren „natürlich“ nicht in den bundesrepublikanischen Justizdienst übernommen werden konnten (wegen der institutionellen Zusammenarbeit mit der Stasi), Hans Hubertus von Roenne, „Politisch untragbar . . . ?“ (wie Anm. 59).

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Kap. 2: Historische Einführung

gespräche bezüglich konkreter Verfahren durch und traf entsprechende Verfügungen. Durch seine Teilnahme an den Leiterberatungen stand er stets in Kontakt mit dem Stadtbezirksrat für innere Angelegenheiten, Vertretern von Volks- und Kriminalpolizei, der SED-Kreis / Bezirksleitung und des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Die Leiterberatungen fanden unter Führung des 1. Sekretärs der Kreisbzw. Bezirksleitung statt. Die Anleitungstätigkeit des Direktors gegenüber seinen Richtern findet sich aber nicht in den Akten der Gerichte, hingegen in denen des Ministeriums der Justiz oder der Justizverwaltungsstellen. Solche Verfügungen wurden aus den Akten systematisch wieder entfernt: „Für die zentrale Rolle des Gerichtsdirektors bei der Anleitung und Kontrolle der Richter ergeben sich aus den einzelnen Verfahrensakten nur selten Anhaltpunkte. Dass die Gerichtsdirektoren weitaus öfter als aus den Akten ersichtlich ist, in einzelne Verfahren eingegriffen haben, lässt ein kleiner Zettel vermuten, der sich ebenfalls in [einer] Akte befand. ( . . . ) Dieser kleine Zettel deutet an, dass Verfügungen, also direkte Anweisungen der Gerichtsdirektoren innerhalb der Verfahren stattfanden und auch, dass diese systematisch wieder aus den Akten entfernt werden sollten, so dass aus den Akten derartige Einflüsse nicht mehr zu entnehmen sind“.104 Bis zum Rechtspflegeerlass vom 4. April 1963 und nach dem GVG vom 27. September 1974 war neben dem Obersten Gericht das Ministerium der Justiz mit der Anleitung der Rechtspflege betraut.105 Neben den Leitungsinformationen, Tagungen und Inspektionen waren im Bereich des Zivilrechts besonders einzelfallbezogene Antworten von Bedeutung. Insgesamt lassen sich vier Gruppen feststellen: – Reaktionen auf Eingaben, – Anfragen der Richter, – Tätigkeiten des Ministeriums der Justiz aufgrund der Wochenmeldungen und – Tätigkeiten aufgrund der Hinweise anderer Ministerien.

a) Reaktion des Ministeriums der Justiz auf Eingaben der Bürger Häufig sind in den Akten Eingaben von Bürgern enthalten, die fehlerhaftes Verhalten der Gerichte bei der Führung eines Zivilprozesses rügen.106 104 Beispiel bei Annette Armèlin, Die Einflussnahme der Kreis- und Bezirksleitungen der SED auf die Zivil-, Familien- und Arbeitsrechtsverfahren der Kreis- und Bezirksgerichte, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. II (wie Anm. 16), S. 51 – 82, insb. S. 74. 105 Andrea Baer, Rechtsquellen der DDR – Steuerung auf der normativ-symbolischen Ebene, in: Hubert Rottleuthner / Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Steuerung der Justiz (wie Anm. 5), S. 78 ff.

A. Rahmenbedingungen

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Die Eingaben wurden der Hauptabteilung (HA) II des Ministeriums der Justiz, zuständig für Rechtsprechung, Revision und Statistik, zugeleitet.107 Das Ministerium der Justiz forderte in derartigen Fällen die Akten an. In einer Benachrichtigung an den Eingabensteller wurde mitgeteilt, dass die Akten angefordert wurden, dem Ministerium der Justiz aber eine Einflussnahme auf den schwebenden Prozess wegen der richterlichen Unabhängigkeit verwehrt sei: Obwohl in den meisten Fällen das Ministerium der Justiz auch an der Arbeit der Richter nichts auszusetzen hatte, enthielt diese Kontrollmöglichkeit ein deutliches Drohpotential. Mitunter teilte das Ministerium der Justiz dem Eingabensteller mit, dass sie als Ministerium keine Einwirkungsmöglichkeit hätten, ihm aber die Möglichkeit der Berufung offen stehe. Bestand diese nicht, wurde gelegentlich beim Obersten Gericht angefragt, ob eine Kassationsanregung sinnvoll sei. War das Urteil rechtskräftig und die Kassationsfrist verstrichen oder hatte das Oberste Gericht von einer Kassationsanregung wegen der geringen Bedeutung des Falles absehen wollen, wurde dem Eingabensteller geraten Vollstreckungsschutz zu beantragen. Bei schwebenden Verfahren teilte das Ministerium der Justiz der Justizverwaltung, seltener den Direktoren der Gerichte, seine Sicht der Rechts- und Verfahrenslage mit und gab die Akten mit der Bitte um entsprechende Mitteilung nach Abschluss des Verfahrens zurück. Auch in diesen Fällen wurde die Unabhängigkeit der Gerichte mitunter ausdrücklich betont und lediglich um eine Überprüfung des Verfahrens gebeten. Die direkte Anweisung des Gerichts wurde stets vermieden, das gewünschte Resultat war jedoch gelegentlich zu erkennen. So äußerte sich z. B. das Ministerium der Justiz HA II am 22. April 1955 aufgrund des Schreibens eines Rechtsanwalts bezüglich verweigerten Armenrechts an den Direktor eines Bezirksgerichts: „Wir bitten den Direktor des Bezirksgerichts den Beschluss vom 2. März 1955 und vom 28. März 1955 zu überprüfen. Nach den uns vorliegenden Unterlagen widersprechen die Beschlüsse jeder Lebenserfahrung. ( . . . ) Den Einsender haben wir benachrichtigt, dass er einen neuen Antrag auf einstweilige Kostenbefreiung stellt und bitten Sie ihm dann eventuell Befreiung von den Folgen der Fristversäumnis zu gewähren, um das langwierige Kassationsverfahren zu ersparen. Wir bitten um Mitteilung des Ergebnisses der nochmaligen Prüfung.“108

Aus den Antwortschreiben der Gerichtsdirektoren oder der Justizverwaltung an die Gerichte geht hervor, dass der Direktor mit den entsprechenden Richtern Aussprachen führte.

106 Hinsichtlich der Eingaben an das Ministerium der Justiz über die Arbeitsweise der Gerichte siehe: Ulrich Löffler, Eingaben im Bereich des Zivilrechts, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I, (wie Anm. 26), vor allem S. 223 – 240. 107 Eingaben in Strafsachen wurden sofort mit dem Hinweis auf die Gnadenkommission an den Eingabensteller zurückgesandt. 108 BA DP 1 SE 114, unpaginiert.

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Kap. 2: Historische Einführung

b) Anfragen der Richter Bei den Aktenrecherchen fielen besonders in den frühen Jahren (bis 1960) die vielen richterlichen Anfragen auf. Es handelte sich dabei vor allem um an den Kreisgerichten aufgetretene Rechtsfragen, die die Direktoren der Kreisgerichte nicht hatten klären können und sich daher an die Justizverwaltungsstellen, nach deren Auflösung direkt an das Ministerium der Justiz, wandten. Kurze Ausbildungszeiten und der Mangel an juristischer Literatur (teilweise fragten Gerichte beim Ministerium der Justiz sogar nach aktuellen Gesetzesausgaben an) stellten vor allem die neuen Richter vor erhebliche Schwierigkeiten. Dies galt besonders für durch gesellschaftliche Veränderungen bedingte Fragen wie z. B. die nach der rechtlichen Einordnung der LPG und des von ihr genutzten Pachtlandes, die Gültigkeit alter Gesetze oder neuer Rundverfügungen. Auch politische Aspekte eines rechtlichen Problems veranlassten Richter zu Anfragen. Teilweise wurde das Ministerium der Justiz von den Richtern dabei als Mittler angesehen, um die Partei auf mögliche politische Auswirkungen einer Entscheidung aufmerksam zu machen. Derartige Mitteilungen enthalten ein Element von Rückversicherung. Dies war besonders dann wichtig, wenn die politisch richtige Entscheidung zugunsten von Volkseigentum zu „unguten Stimmungen“ in der Bevölkerung führen konnte: Der Direktor des Bezirksgerichts Rostock fragte am 8. März 1956 beim Ministerium der Justiz, Hauptabteilungsleiter B. persönlich, wegen eines anstehenden Urteils an: „( . . . ) überreiche ich die Prozessakten Deutsche Notenbank / E. nebst schriftlichem Bericht und meiner Stellungnahme. Ich bitte wegen der möglichen Folgen, die das Urteil haben könnte, die Sache dem Vertreter des ZK zur Kenntnis zu bringen, damit auf die Deutsche Bauernbank entsprechend meinem Vorschlage eingewirkt werde. Mit dem Leiter der Bezirksstelle Deutsche Bauernbank Rostock habe ich eingehend Rücksprache genommen. Dieser teilte meine Bedenken. Er ist jedoch angewiesen, die alten Forderungen endlich zu realisieren. Die Prozessakten erbitte ich bis zum 20. März 1956 zurück, weil für den 22. März 1956 der Entscheidungstermin ansteht. Mit sozialistischem Gruß“. Es ging um alte Darlehensforderungen, die auf die Deutsche Bauernbank übergegangen waren. Strittig war, ob sie durch Aufrechnungen erloschen waren. In diesem Verfahren lag der Streitwert bei 10.000,– Mark. Die Bank beabsichtigte noch eine Vielzahl derartiger Forderungen gegen ehemalige Großpächter einzuziehen, die sich auf eine Gesamtsumme von 6.871.895,56 Mark beliefen. Der Richter fürchtete nun: „Von diesen ehemaligen Großpächtern wird ein Teil in Westdeutschland sein, ein Teil wird als Neubauern, vielleicht auch als LPG-Bauern bei uns tätig sein. Diesen wird es nicht leicht fallen, ihre Altforderungen zu begleichen. ( . . . ) Es besteht nun möglicherweise die Gefahr, dass wenn die Bauernbank jetzt systematisch bei den noch im Bezirk ansässigen Bauern die Zinsforderung und später das Kapital beitreibt, eine neue Unruhe und eine neue Republikflucht entsteht. Es wäre daher schon vor Urteilssprechung zu überlegen, was zu tun ist, um der Unruhe und der möglichen Republikflucht zu begegnen. Meines Erachtens müsste der Deutschen Bauernbank aufgegeben werden, ihre Forderungen nicht auf einmal, sondern nach und nach und unter Berücksichtigung der jetzigen wirtschaftlichen Verhältnisse der Bauern zu realisieren.“109 109

BA DP 1 SE 116, unpaginiert.

A. Rahmenbedingungen

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Die Akten des Bundesarchivs belegen, dass die Anfragen in aller Regel an die Justizverwaltungsstellen gerichtet waren. Wenn auch diese sie nicht beantworten konnten, wandte sich die Justizverwaltung mit einer eigenen Darstellung des Problems an das Ministerium der Justiz und erbat entsprechende Auskunft. Das Ministerium der Justiz, auch hier in der Regel die HA II Rechtsprechung, Revision, Statistik, seltener die HA I Gesetzgebung, antworteten dann der Justizverwaltung, die die Informationen an die Direktoren der betreffenden Kreisgerichte weitergab. Anfragen der Direktoren der Bezirksgerichte wurden direkt an das Ministerium der Justiz gerichtet und auch ohne Umweg über die Justizverwaltung den Direktoren beantwortet. Dass sich einzelne Richter unmittelbar an das Ministerium der Justiz wandten, kam nicht vor. Das Ministerium der Justiz holte zur Beantwortung dieser Fragen häufiger die Meinung des Obersten Gerichts, seltener die anderer Fachministerien (z. B. Finanzen, Landwirtschaft, Leichtindustrie) ein. Die Antworten bezogen sich zwar auf die konkreten Fälle, waren aber in aller Regel sehr abstrakt formuliert. Eine direkte Weisung an die Richter war nie enthalten, wohl auch nicht nötig.

c) Reaktionen auf Wochenmeldungen und Anregungen anderer Ministerien Reaktionen auf Wochenmeldungen der Direktoren über anhängige Verfahren an ihren Gerichten wurden kaum gefunden. Auch hier gab das Ministerium der Justiz wohl keine „Anweisungen“, sondern teilte seinen Standpunkt, seine Rechtsauffassung mit und bat um nochmalige Überprüfung des Verfahrens zur Vermeidung einer Kassationsanregung. Relativ häufig wandten sich andere Fachministerien an das Ministerium der Justiz und fragten nach Gesetzesänderungen, für die einzelne Entscheidungen als Beispiele zitiert wurden. In diesen Fällen gab es dann Hinweise auf anstehende Gesetzesvorhaben oder entsprechende Rundverfügungen des Justizministers. Mitunter wurde auch beim Obersten Gericht nachgefragt, ob eine Richtlinie erlassen werden sollte. Kritik an einzelnen Entscheidungen der Richter in den Wochenmeldungen war die seltene Ausnahme, die wie eine Eingabe eines Bürgers behandelt wurde. Auch in diesen Fällen betonte das Ministerium der Justiz die richterliche (Schein-)Unabhängigkeit.

d) Kontrollfunktion der Staatsanwaltschaften Den Staatsanwaltschaften war keine unmittelbare Anleitungsfunktion gegenüber den Gerichten zugedacht. Sie sollten jedoch als Hüter der sozialistischen Gesetzlichkeit und als Vertreter des öffentlichen Interesses die Gerichte und ihre Rechtsprechungspraxis auch in Zivilsachen kontrollieren. Schon aus fachlichen Gründen

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Kap. 2: Historische Einführung

war ihre Teilnahme an Zivilverfahren jedoch sehr begrenzt.110 Zudem sind „Kommunikationsschranken und auch manifeste Absperrungen“ zwischen Richtern und Staatsanwälten anzunehmen.111 Dennoch konnte ihr Einfluss auf den Ablauf von Verfahren erheblich sein. So bestimmte der Staatsanwalt mitunter den Fortgang des Verfahrens aufgrund von Anweisungen des Generalstaatsanwaltes. Dieser stand in regem Kontakt mit dem ZK, den betroffenen Industrieministerien, der örtlichen Justizverwaltungsstelle und der lokalen Kreisparteileitung: Der Staatsanwalt des Kreises Hoyerswerda bestimmte in einem Schreiben vom 1. 11. 1954, Blatt 12, dass das Verfahren zwecks Regelung in zentraler Ebene nicht fortgesetzt werden sollte. (Erhöhter Wasserbedarf der Bauern durch Grundwasserabsenkung infolge Grubenbetriebes). „Am 17. 1. 1955 wurde seitens des Staatsanwalts des Kreises Hoyerswerda mitgeteilt, dass der Sache Fortgang gegeben werden kann. Vom Kreisgericht Hoyerswerda wurde daraufhin Termin auf den 10. 5. 1955 anberaumt. Der Staatsanwalt d. B. H. teilte am 10. 5. 1955 mit, dass auf Anweisung des Generalstaatsanwalts der Deutschen Demokratischen Republik der Termin abgesetzt werden soll, da in zentraler Ebene eine Regelung zu erwarten ist.“ Die Justizverwaltung beklagte sich, dass es seitens der Generalstaatsanwaltschaft die Pflicht gewesen wäre, mitzuteilen, welche zentrale Regelung getroffen war bzw. getroffen werden sollte. Nach Rücksprache mit dem Genossen M von der Obersten Staatsanwaltschaft wurde mir in der Zivilsache VEB Wasserwirtschaft gegen Z folgendes mitgeteilt: „Auf Grund eines Hinweises des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands an den Staatsanwalt K wurde veranlasst, dass der auf den 11. 5. 1955 angesetzte Termin abgesetzt werden sollte. Es sind jetzt von Seiten des ZK mit dem VEB Wasserwirtschaft und dem Ministerium für Schwerindustrie, Abt. Kohle, Verhandlungen im Gange, um zu einer Entscheidung zu kommen, ob der Termin festgesetzt werden soll oder ob die Zahlungsbefehle zurückgezogen werden. Das Ministerium für Land- und Forstwirtschaft ist der Auffassung, dass dem Verfahren Fortgang gegeben werden müsste. Das ZK ist aber damit nicht einverstanden. Genosse M gibt uns, wenn er einen entsprechenden Bescheid bekommt, unverzüglich Nachricht. Ich werde am Montag Leiter P die Akten zurückgeben, mit der Bitte zu veranlassen, dass das Verfahren im Augenblick weiter zu ruhen hat.“ Es kam zu vielen Rücksprachen mit dem ZK, der Justizverwaltung Cottbus und der Obersten Staatsanwaltschaft. Vermerk der HA II vom 13. 12. 1955: „Gen. R. rief mich am 22. 11. 1955 an und sagte mir, dass die Sache VEB Wasserwirtschaft / Z (insgesamt 15 Bauern) jetzt von der Bezirksleitung Cottbus überprüft wird, denn die Kreisleitung in Hoyerswerda sei nicht damit einverstanden, dass die Zahlungsbefehle zurückgezogen werden, da die Bauern, die es betrifft, sich negativ unserem Staat gegenüber verhalten.“112 110 Hans-Peter Haferkamp, Die Mitwirkung des Staatsanwalts im Zivilverfahren der DDR, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 26) S. 367 – 416, insb. S. 385. 111 Hubert Rottleuthner, Zur Steuerung der Justiz in der DDR, in: ders. / Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Steuerung der Justiz (wie Anm. 5), S. 57. Auch in der sozialen Herkunft gibt es Unterschiede: Staatsanwälte konnten häufiger eine Herkunft aus der Arbeiterklasse vorweisen als Richter und hatten häufiger in Produktionsbetrieben gearbeitet, Abt. Staats- und Rechtsfragen beim ZK der SED DY 30. 112 BA DP 1 SE 114: Projekt Vorgang 257: Justizverwaltung Cottbus an das Ministerium der Justiz HA II am 21. 5. 55. Zivilprozess VEB Wasserwirtschaft . / . Z u. a. 3 C / V 228 / 54.

A. Rahmenbedingungen

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2. Mittel der Parteiorgane zur Justizsteuerung a) Steuerung durch Information Erheblich komplexer wird das Bild, vergegenwärtigt man sich die umfassende Präsenz der führenden Partei, der SED.113 Sie gab nicht nur durch ihren Einfluss auf die Legislative Handlungsdirektiven vor, sondern sicherte auch deren Verwirklichung durch Parteistrukturen ab.114 Aufgrund des hohen Organisationsgrades in der Justiz hatte fast jeder Richter oder Staatsanwalt eine Doppelstellung. Er war sowohl Justizfunktionär als auch Parteigenosse und somit sowohl seinem Dienstvorgesetzten als auch der jeweiligen Kreis- oder Bezirksleitung der Partei gegenüber verpflichtet und verantwortlich. Die bloße Parteimitgliedschaft war für eine Steuerung allerdings ungeeignet. Daher existierte in jedem Gericht, dem Ministerium der Justiz und den Justizverwaltungsstellen, wie in allen Staatsorganen, größeren Betrieben oder Organisationen, eine Betriebsparteiorganisation. Die Grund- oder Betriebsparteiorganisationen in den Justizorganen sicherten die Parteierziehung und die justizspezifische Information und Steuerung der Parteimitglieder. Dazu dienten die zahlreichen Parteiaktivitäten wie die monatlichen Mitgliedsversammlungen, Parteigruppenversammlungen, das Parteilehrjahr und gelegentliche Parteileitersitzungen. Über personelle und organisatorische Fragen fanden Besprechungen zwischen dem Gerichtsdirektor, seinem Stellvertreter, dem BGL-Vorsitzenden, dem Leitenden Sekretär und dem Parteisekretär der Grundparteiorganisation des Gerichtes statt. An den Mitgliederversammlungen der Grundparteiorganisation der Gerichte nahmen gelegentlich auch die Instrukteure der Kreisleitungen teil. An die Kreisleitungen gingen auch die Berichte der Versammlung. Bei den Bezirksleitungen der Partei waren in der Abteilung Staatliche Verwaltung zwei Instrukteure für Justiz tätig, bei den Kreisleitungen gab es ebenfalls eine Abteilung „Staatliche Verwaltung“ mit einem für die Justiz zuständigen Instrukteur. Die Kreis- und Bezirksleitungen standen über die Abt. Staats- und Rechtsfragen des ZK mit der Parteileitung in ständigem Kontakt. Über die Verwirklichung der Parteibeschlüsse wachten als Organ der Parteileitung zudem die Bezirks- und Kreisparteikontrollkommissionen. Die genaue Aufgabenabgrenzung der Parteiorganisationen in den Justizorganen war mitunter schwierig. Sie sollten keine Weisungen erteilen, keine Urteile fällen, sondern durch ihre systematische Erziehungsarbeit erreichen, dass die Richter den 113 Falco Werkentin, „Souverän ist, wer über den Tod entscheidet“. Die SED-Führung als Richter und Gnadeninstanz bei Todesurteilen, in: DA 1998, S. 179 – 195; Roger Engelmann / Clemens Vollnhals (Hrsg.), Justiz im Dienste der Parteiherrschaft (wie Anm. 59). 114 Diese Verwaltungsstruktur, in der die Gliederungen der öffentlichen Verwaltung zum Zweck der Kontrolle und Anleitung durch eine parallele Struktur des Parteiapparates ergänzt wurden, findet sich in allen Ländern mit Staatssozialismus, Annette Armèlin, Die Einflussnahme der Kreis- und Bezirksleitungen der SED auf die Zivil-, Familien- und Arbeitsrechtsverfahren der Kreis- und Bezirksgerichte, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. II (wie Anm. 16), S. 52.

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Kap. 2: Historische Einführung

Urteilen von vornherein den richtigen Inhalt gaben, ohne dass sich die Parteiorganisation in die Urteilsfindung einmischen musste.115 Die Unabhängigkeit der DDR-Richter wurde so anders definiert.116 Neben einer Erziehungsfunktion der Parteiorganisationen war die „Parteistrecke“ hervorragend für die Weitergabe von Informationen geeignet. Diese Informationsbahn funktionierte sowohl von oben nach unten als auch umgekehrt, sie eignete sich für konkrete Vorgänge wie für grundsätzlichere Angelegenheiten und dies auch horizontal zwischen fast allen staatlichen Institutionen. Die hohen Parteiorgane, das Politbüro, das ZK-Plenum und das ZK-Sekretariat beschäftigten sich zwar gelegentlich mit justizrelevanten Fragen, mit konkreten Verfahren aber fast nur das Politbüro und auch dann meistens mit Strafverfahren. Soweit der Bereich des Zivilrechts tangiert wurde, handelte es sich um Fragen der Gesetzgebung, der Ausbildung und Kaderentscheidungen.117 Großen Einfluss auf die Steuerung der Justiz übte hingegen die Abteilung für Staats- und Rechtsfragen des ZK aus.118 Sie nahm in diesen Fällen eine Mittlerstellung ein, indem sie die Information der Parteiführung sicherte und die Umsetzung der Parteibeschlüsse durch Staatsorgane, Betriebe und Organisationen kontrollierte. Außerdem beschäftigte sich diese Abteilung mit Gesetzgebungsarbeiten, der Redaktion von Zeitschriften sowie Anleitungs- und Kontrollaufgaben. Dabei war sie direkt oder über die jeweiligen Grundorganisationen der Partei betraut mit Angelegenheiten der Generalstaatsanwaltschaft, des Obersten Gerichts, vom Ministerium des Inneren und Ministerium der Justiz, der Volksvertretungen von Selbstverwaltungskörperschaften, der Verlage und des Büros des Ministerrates. Im Bereich der Justizorgane war sie hauptsächlich mit Personalangelegenheiten, Schulungen und Kontrollaufgaben beschäftigt.119

115 Anton Plenikowski, Die Aufgaben der Parteiorganisationen in der Justiz, Rede auf der Parteiaktivtagung mit den 1. Sekretären der Parteiorganisation der Justiz am 19. Januar 1952 (Schriftenreihe für den Parteiarbeiter, Heft 8), Berlin (Ost) 1952, S. 46, zitiert nach Hubert Rottleuthner, Zur Steuerung der Justiz in der DDR, in: ders. / Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Steuerung der Justiz (wie Anm. 5), S. 25. 116 Über die Definitionen der richterlichen Unabhängigkeit, siehe Andrea Baer, Die Unabhängigkeit der Richter (wie Anm. 61), ab S. 27; vgl. auch den Beitrag von Andreas Gängel, Richter in der DDR – Wunschbild und Realitätsausschnitte, in: Hubert Rottleuthner / Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Steuerung der Justiz (wie Anm. 5), S. 395 – 408. 117 Marcus Mollnau, Gründe und Hintergründe des DDR-Rechtsanwaltsgesetzes, in: forum historiae iuris (fhi), http: // www.forhistiur.de / zitat / 9709mollnau.htm, Artikel vom 1. September 1997. 118 Zu ihrer Entwicklung und Aufgabenstellung siehe Hubert Rottleuthner, Zur Steuerung der Justiz in der DDR, in: ders. / Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Steuerung der Justiz (wie Anm. 5), S. 43 ff.; auch Marcus Mollnau, Gründe und Hintergründe des DDR-Rechtsanwaltsgesetzes (wie Anm. 117); Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Im Namen des Volkes? Über die Justiz im Staat der SED (wie Anm. 48), Tafel 39, S. 179 – 182; Heike Amos, Justizverwaltung in der SBZ / DDR (wie Anm. 2), S. 80 ff. sowie über Anton Plenikowski (Leiter der ZK-Abteilung Staats- und Rechtsfragen), S. 118 ff.

A. Rahmenbedingungen Staatsleitung

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Parteileitung - ZK - Politbüro - etc.

Abt. Staats - und Rechtsfragen ZK der SED

MdJ

Oberstes Gericht

Generalstaatsanwalt

BPO

BPO

BPO

Justizverwaltungsstellen

Bezirksgericht

Bezirks-StA

BPO

BPO

BPO

Kreisgerichte

Kreis-StA

SEDBezirksleitung

SEDKreisleitung

Betriebsparteiorganisationen

Partei und Justiz120

Eine konkrete Einflussnahme lässt sich dadurch erkennen, dass auf der Parteischiene nach unten zu den Bezirksleitungen und zu den Kreisleitungen Anleitungen gegeben wurden. An diese Abteilung wurden Meldungen über einzelne Verfahren übermittelt, in denen die Genossen aus den Bezirken oder Kreisen z. B. Kritik an der Durchführung von Prozessen und deren Ergebnissen üben konnten.121 Nach oben wurden Vorschläge und Vorlagen dem Sekretariat des ZK und dem Politbüro oder einzelnen Sekretären und Politbüromitgliedern unterbreitet. Über 119 Vgl. Findbuch des Bundesarchivs, BA DY 30, tw. Bestand DY 30 2 / 13, bei der Durchsicht entsteht der Eindruck, dass alle „fachlichen“ Anleitungsmaterialien für den Bereich des Zivilrechts auf einem hohen theoretisch-politischen Niveau lagen, welches sich für die Anleitung zu konkreten Rechtsproblemen nicht eignete; Hubert Rottleuthner, Zur Steuerung der Justiz in der DDR, in: ders. / Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Steuerung der Justiz (wie Anm. 5), S. 49 sieht ihre Aufgaben in: 1) Vorbereitung der Richterwahlen, 2) Vorbereitung der Richtlinien des Obersten Gerichts, 3) Überprüfung von Gerichten durch Brigadeeinsätze, einzelne Mitarbeiter oder die Auswertung der Berichte der zentralen und örtlichen Justizorgane, 4) Vorschläge zur Strafpolitik, sowie Amnestien, 5) Einschätzung der Parteiorganisationen in den Justizorganen, 6) Vorbereitung und Durchführung von Konferenzen mit Richtern und Staatsanwälten, Lehrgängen für Justizfunktionäre und die anschließende Besetzung leitender Funktionsstellen, 7) Arbeitsberatungen mit den Leitern der Abteilung Staats- und Rechtsfragen der Bezirksleitungen. 120 Werner Künzel, Das Ministerium der Justiz im Mechanismus der Justizsteuerung 1949 – 1976, in: Hubert Rottleuthner / Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Steuerung der Justiz (wie Anm. 5), S. 244 – 251. 121 Hubert Rottleuthner, Zur Steuerung der Justiz in der DDR, in: ders. / Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Steuerung der Justiz (wie Anm. 5), S. 49.

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die Grundorganisationen der SED in den obersten Rechtspflegeorganen wurde ein indirekter Einfluss auf die staatliche Tätigkeit der Justiz möglich. Die Anhäufung von Ämtern erhöhte die Beweglichkeit noch. In welchem Umfang auch die Ziviljustiz hierdurch beeinflusst wurde, ist noch zu untersuchen.122

b) Steuerung durch Personalpolitik Die Bedeutung der Parteistellen erschöpfte sich aber nicht in Informationsmöglichkeiten oder gelegentlichen Eingriffen in konkreten Verfahren. Entscheidend war der Einfluss der Partei im Personalbereich.123 Parteistellen konnten Einfluss nehmen auf Schulbesuch und Zulassung zum Studium, die Ausbildung, die Rekrutierung, die Richterwahlen124 und den konkreten Einsatz der Justizkader. Sie entschieden über Karriere in und Ausscheiden aus der Justiz.125 Der Ausschluss eines Richters aus der Partei bedeutete gewöhnlich auch 122 Bei allen Kontroll- und Untersuchungsberichten fällt immer wieder die Konzentration auf die Strafjustiz auf. 123 Clemens Vollnhals, Nomenklatur und Kaderpolitik, Staatssicherheit und die „Sicherung“ der DDR-Justiz, in: DA 1998, S. 221 – 238. 124 Richter, Staatsanwälte und Schöffen der Kreisgerichte gehörten ebenso wie die Kreisgerichtsdirektoren und die Parteisekretäre der Gerichtsparteiorganisationen zur Nomenklatur der Kreisleitung. Diese entschied vor der Wahl über die Besetzung dieser Funktionen. Die Nomenklaturkader mussten dann noch von der Bezirksleitung bestätigt werden, da diese als übergeordnete Parteileitung die Kontrollnomenklatur über alle Nomenklaturkader der Kreisleitung hatte. Bis auf die Parteisekretäre gehörte das Justizpersonal ebenfalls zur Nomenklatur des Ministeriums der Justiz, kaderführende Stelle war die Kaderabteilung des übergeordneten Gerichts. Entscheidend für den Einsatz, die Versetzung und die Ablösung von Kadern war stets die Parteinomenklatur: „Beim Einsatz und der Abberufung von Kadern, die zur Nomenklatur der zentralen Staatsorgane ( . . . ) gehören, setzt die Veränderung gegenseitiges Einverständnis voraus. Kann eine Einigung mit dem zuständigen Parteiorgan nicht erzielt werden, ist eine Vorlage dem Sekretariat des ZK mit Stellungnahme der verantwortlichen Abteilung vorzulegen.“ Beschluss des Sekretariats des ZK über die Arbeit mit den Kadern vom 7. 6. 1977, BA ZPA J IV 2 / 3 / 2605. 125 Beispiele für Abberufungen von Richtern wegen unparteiischer, formaler Urteile nach einem Brigadeeinsatz in Hubert Rottleuthner, Zur Steuerung der Justiz in der DDR, in: ders. / Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Steuerung der Justiz (wie Anm. 5), S. 52 in Fn. 187 über den internen Brigadebericht vom 22. Juli 1958, NJ 1958, S. 440 – 444. Genauer zum Verfahren bei Annette Armèlin, Die Einflussnahme der Kreis- und Bezirksleitungen der SED auf die Zivil-, Familien- und Arbeitsrechtsverfahren der Kreis- und Bezirksgerichte, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. II (wie Anm. 16), S. 63 ff., insb. zum Schreiben von Hilde Benjamin an die zentrale Parteikontrollkommission vom 8. 8. 1956 bezüglich der Ablösung von Richtern: „1. Die Kreisleitungen müssen die Beschlüsse der Grundorganisationen der Justiz, die den Entzug der staatl. Funktionen bei Richtern zum Gegenstand haben, äußerst sorgfältig prüfen. ( . . . ) 2. Eine Abberufung wird erst dann durchgeführt, wenn über einen etwaigen Einspruch an die BL entschieden ist. 3. Ministerium der Justiz erhält schriftliche Bestätigung des Beschlusses der entsprechenden Parteileitung. . . . Es ist selbstverständlich, dass die Autorität eines Parteibeschlusses nicht in Frage gezogen werden darf“, BA DP 1 SE 741 S. 470. Auch die Kontrollkommissionen konnten die Entfernung

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den Verlust seines Postens.126 Gleichzeitig sollten die Parteiorganisationen die Richter entsprechend den Beschlüssen der Partei lenken und kontrollieren.127 Es lag nahe, neben den Parteistrafen dieses Ziel mittels Personalentscheidungen zu erreichen. Wer in der Justiz Karriere machen wollte, musste auch nach dem Studium ein bestimmtes Verhalten zeigen. Weitere Möglichkeiten der Einwirkung auf die Haltung der Richter ergaben sich in der DDR auch über das Disziplinarrecht,128 stärker aber noch über die Möglichkeit, den Richter bei den nächsten Richterwahlen auf den Wahllisten nicht mehr zu berücksichtigen.129 Außerdem bestand die Möglichkeit, den Richter zu versetzen. Über diese Sanktionsmöglichkeit bestimmte die Partei das Verhalten der Richter, ihr persönliches130 wie ihr politisches131. Die von der Partei geübte ,helfende Kritik‘ an der Rechtsprechungspraxis des Richters132 bekommt damit eine andere Bedeutung, auch wenn sie von der Partei selbst nicht als Einmischung in die Rechtsprechung bezeichnet wurde. c) Richterliche Unabhängigkeit – Richterliches Selbstverständnis Diese starke „Präsenz“ des Staates und der Partei wurde von Richtern in Zeitzeugeninterviews133 kaum als störend erwähnt. Die Arbeitsweise der Richter und aus dem Partei- und Staatsapparat oder die Versetzung in eine niedrigere Funktion beschließen, SED (Hrsg.), Dokumente, Bd. II, Berlin 1950, S. 98. 126 Hubert Rottleuthner, Zur Steuerung der Justiz in der DDR, in: ders. / Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Steuerung der Justiz (wie Anm. 5), S. 53 sieht hier aber keine klare Automatik zwischen Partei- und Staatssanktion. 127 Hubert Rottleuthner, Zur Steuerung der Justiz in der DDR, in: ders. / Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Steuerung der Justiz (wie Anm. 5), S. 55, Fn. 207. 128 Thomas Lorenz, Das Disziplinarrecht für Berufsrichter in der DDR von 1949 bis 1963, in: Hubert Rottleuthner / Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Steuerung der Justiz (wie Anm. 5), S. 379. 129 In einem Fall wurde von der Justizverwaltung mitgeteilt, dass der Richter trotz wiederholter Aussprachen seinen Arbeitsstil nicht ändern wollte. Dieser Richter sei nicht wiedergewählt worden; vgl. Rainer Schröder, Ein Richter, die Stasi und das Verständnis von sozialistischer Gesetzlichkeit, in: Meinhard Heinze / Jochem Schmitt (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang Gitter, Wiesbaden 1995, S. 875 – 899. 130 Z. B. ernste Auseinandersetzungen mit einem Richter, dessen Sohn sein Schulheft mit Totenköpfen und englischen Sprüchen geschmückt hatte, oder Abberufung eines Ehepaares (Richterin, Notar) wegen Verschuldung, die es der Parteiorganisation verschwiegen hatte, jeweils Akten der Abt. Staats- und Rechtsfragen des ZK der SED, BA DY 30. 131 Beispiele für dieses Vorgehen bei Hubert Rottleuthner, Zur Steuerung der Justiz in der DDR, in: ders. / Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Steuerung der Justiz (wie Anm. 5) und Annette Armèlin, Die Einflussnahme der Kreis- und Bezirksleitungen der SED auf die Zivil-, Familien- und Arbeitsrechtsverfahren der Kreis- und Bezirksgerichte, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. II (wie Anm. 16), S. 51 – 82. 132 BA DP 1 SE 741, Band 1 S. 291, zitiert nach Annette Armèlin, ebenda, S. 55. 133 Vgl. Inga Markovits, Sozialistisches und bürgerliches Zivilrechtsdenken in der DDR, Köln 1969; dies., Die Abwicklung (wie Anm. 70); Hans Hubertus von Roenne, „Politisch untragbar?“ (wie Anm. 59).

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Justizfunktionäre könnte daher von einem anderen Selbstverständnis geprägt gewesen sein, wozu auch ein anderes Verständnis richterlicher Unabhängigkeit gehörte; jedenfalls arrangierten sie sich mit den Verhältnissen und trugen sie – auch rückblickend – meist ohne zu klagen mit. Die richterliche Unabhängigkeit war nicht nur in der Verfassung garantiert,134 sie wurde auch in allen Antworten des Ministeriums der Justiz auf Eingaben der Bürger zu laufenden Verfahren betont und selbst in Schreiben mit den Gerichten und den Justizverwaltungsstellen hervorgehoben und formal respektiert. Allerdings war allen Beteiligten bewusst, dass die von einer zuständigen Autorität geäußerten, ihrer Form nach unverbindlichen Anregungen nicht unbeachtet bleiben durften. Durch die Gespräche mit Direktoren, die strikte Beachtung von ,Informationen‘, ,Hinweisen‘, ,Standpunkten‘, ,Stellungnahmen‘ und ,Empfehlungen‘ des Ministeriums der Justiz, der Obergerichte oder der Parteistruktur, sollten Disziplinarmaßnahmen und eine Kassation vermieden werden. Ein Richter berichtete über die Nachfragen bei Kollegen von oberen Gerichten: „Man durfte nicht einfach fragen: Sag mal, wie ist denn das?, dann kriegte man ne Gegenfrage: Was denkst Du denn?, sondern man musste sagen: Ich sehe das so und so.“ Auch die Justizministerin Hilde Benjamin musste gegenüber einem Sekretär der Bezirksleitung zugeben, dass keine klare Grenze zwischen ,Anweisung‘ und zulässiger Information bestehe.135 Allerdings musste der Inhalt politisch „richtiger“ Urteile den Richtern wohl kaum konkret vorgegeben, sondern nur der Rahmen aufgezeigt werden. Nicht umsonst wurde dem politischen Unterricht solches Gewicht beigemessen. Dass damit unbedingt ein Gewissenskonflikt für die Richter verbunden war erscheint zweifelhaft. Nicht nur, dass bereits die Personalauswahl unter politischen Gesichtspunkten erfolgt war. Es finden sich auch diverse Fälle, in denen das Ministerium der Justiz einen juristischeren und weniger politischen Standpunkt vertrat als die Richter selbst. Die Offenheit von Richtern für Informationen aus dem Partei- und Justizapparat mag zum einen mit dem informellen Arbeitsstil, zum anderen mit dem Verständnis von der „Zivilrechtsverwirklichung“ zusammengehangen haben. In der gesamten DDR wurde ein relativ ,informeller Arbeitsstil‘ gepflegt. Dies galt auch für die Justiz. Es finden sich in den Zivilprozessakten, aber auch in denen des Ministeriums der Justiz oder der Abt. Staats- und Rechtsfragen beim ZK der SED immer wieder die Hinweise, dass Gespräche zwischen den Richtern, besonders den Direktoren, den Justizverwaltungsstellen, dem Rat des Kreises, den Buchhaltungen der Betriebe, Staatsanwälten, der Volks- und Kriminalpolizei, Parteiorganisationen, gesellschaftlichen Kräften wie den Gewerkschaften und Kollektiven des Wohngebietes oder den Arbeitgebern geführt worden sind.136 Ein Richter Art. 96 Abs. 1 Verfassung 1968. BA DP 1 SE 741, Bd. 1 S. 291. 136 An die geringen Anforderungen an das Freibeweisverfahren bundesrepublikanischer Gerichte braucht hier nicht extra erinnert zu werden, um festzustellen, dass dieses Verhalten 134 135

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war es also gewöhnt, von den Parteien und Dritten angesprochen zu werden und sich auch selbst an Dritte zur Aufklärung von Sach- und Rechtsfragen zu wenden, wozu er sich ja auch berechtigt, und wenn man sein Selbstverständnis als „Sozialarbeiter“ ernst nimmt, auch verpflichtet fühlte. Unter diesen Voraussetzungen mag es ihm viel weniger als Einmischung in seine Unabhängigkeit erschienen sein, von seinem Direktor angesprochen zu werden. Die Richter mögen für möglichst konkrete Informationen der Partei zu bestimmten Verfahren sogar dankbar gewesen sein. Für sie bestand nämlich das Problem, dass ihre Urteile nicht „formalistisch“ sondern „parteilich“, also nicht dogmatisch, sondern politisch korrekt sein mussten. Dies wurde auch akzeptiert. Wenn auch für den Bereich des Rechts ein „Erkenntnismonopol einer Partei“ akzeptiert wurde, mit welcher Begründung konnte dann ein einzelner Richter eine unabhängige, andere Sicht dieser Erkenntnis vertreten. Richtig waren Urteile also, wenn sie dem Willen der Partei entsprachen. Die Richter aber konnten diesen Willen nur bedingt aus den Verlautbarungen der Partei, schon gar nicht aus den Klassikern Marx und Engels ableiten. Ein konkreter Hinweis der Partei, das Aufzeigen des Rahmens, in dem der Richter frei entscheiden konnte, verhinderte Fehler137 sowie die Kritik gegenüber dem Richter, sich als ungenügend politisch zu verhalten. Schließlich darf nicht vergessen werden, dass die Richter nicht nur Staatsbedienstete, sondern auch Parteigenossen waren. 1989 waren 95,7% der Kreisrichter Mitglied der SED.138 Sie verhielten sich deshalb nicht nur als Diener dieses Staates, sondern auch als seine Herren und waren als solche weitgehend auch von der Richtigkeit ihrer Handlungen, der Rechtmäßigkeit der Herrschaftsausübung durch die Partei überzeugt.139 Die Richter der DDR waren solange unabhängig, wie ihre Überzeugung mit dem Willen der Partei übereinstimmte. Diese Herrschaft über den Willen strebte die Partei an.140 Wenn dies misslang, wurden konkrete Anweisungen und die Mechanismen ihrer Durchsetzung benötigt. Auch dann wussten die Richter, dass nicht gegen den Grundsatz der Mündlichkeit der Verhandlung verstoßen muss. Diese Gespräche mögen im aufrichtigen Bemühen um die Klärung von Problemen geführt worden sein, sie erschweren aber die Nachvollziehbarkeit der Urteilsfindung. 137 Eine entsprechend gute Zusammenarbeit erwähnt der Direktor eines Stadtbezirksgerichts in einem Bericht über die gegnerischen Aktivitäten auf dem Gebiet des ZFA-Rechts für das Jahr 1988: „Seitens der bearbeitenden Richter erfolgten in allen Fällen Informationen, so dass nach Bedarf eine Anleitung vorgenommen werden konnte.“, Landesarchiv Berlin, noch nicht archiviert; vgl. Annette Armèlin, Die Einflussnahme der Kreis- und Bezirksleitungen der SED auf die Zivil-, Familien- und Arbeitsrechtsverfahren der Kreis- und Bezirksgerichte, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. II (wie Anm. 16), S. 72. 138 Hans Hubertus von Roenne, „Politisch untragbar?“ (wie Anm. 59), S. 15 f. 139 Auch der mit dem Richteramt verbundene Status wird die Anpassung erleichtert haben, andernfalls hätten sie besser entlohnte Tätigkeiten mit geringerem Arbeitsaufwand und größeren persönlichen Freiheiten wählen können. 140 Dies mag erklären, weshalb auf allen Tagungen, Schulungen etc. so viel politische Propaganda und so wenig konkretes Fachwissen vermittelt wurde.

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sie Anweisungen, wie ihre Urteile auszufallen hätten, nicht befolgen mussten. Sie wussten aber auch, dass ihre Tätigkeit kontrolliert wurde. Sie wussten, wann ein Verfahren politisch wurde und welches Verhalten in dieser Situation von ihnen gefordert wurde. Sie wussten, dass wenn sie dieses Verhalten nicht zeigten, ihr Urteil kassiert werden konnte und sie selbst mit dienstlichen, gesellschaftlichen und persönlichen Konsequenzen bis hin zu Entlassung, Verfemung und Haft zu rechnen hatten.141 Die SED kontrollierte neben Programm, Betrieb und Verfahren der Rechtsprechung auch die in diesem Bereich tätigen Menschen. Information und Personalpolitik ersparten zumeist die direkte Einflussnahme auf Gerichtsurteile.142 Insgesamt erscheint es zumindest problematisch, wie Immisch festzustellen, die Richter in der DDR seien „unabhängig“ gewesen, wenn auch in anderer Weise als im Westen.143 Hier geht die Bestückung eines Begriffes mit einem anderen Inhalt wohl zu weit.144

III. Aufbau der Wirtschaft145 1. Lage nach Kriegsende Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde das Reichsgebiet durch die alliierten Besatzungsmächte in Besatzungszonen aufgeteilt. Während die Grenzen 141 Vgl. Rainer Schröder, Ein Richter, die Stasi und das Verständnis von sozialistischer Gesetzlichkeit, in: FS Gitter (wie Anm. 129), S. 875 – 899. 142 Dies war schon die Forderung von Hilde Neumann auf der 3. Tagung des Ausschusses für Rechtsfragen beim Zentralsekretariat der SED vom 3. u. 4. Januar 1948: „Es ist selbstverständlich, dass ebenso wie die Wirtschaft auch die Justiz und Rechtsprechung durchaus einer Volkskontrolle bedarf ( . . . ) Wie anders kann diese Kontrolle organisiert, wie anders kann sie eingeleitet und geführt werden als durch unsere Partei? Man darf es sich aber nicht zu einfach machen, man darf es nicht zu schematisch durchführen. Es darf nicht darin bestehen, dass in einzelnen Fällen, die schon angelaufen sind, ein Genosse der Parteileitung einen bestimmten Genossen Staatsanwalt oder Richter zu sich bittet und ihm eine Instruktion für den Einzelfall gibt. Das ist nicht angängig, und das braucht auch gar nicht notwendig zu werden, wenn die Verbindung und Zusammenarbeit laufend so eng ist, wie wir sie zu gestalten wünschen. Dann werden sich solche Dinge in vielen Dingen vermeiden lassen und viele Notwendigkeiten von Hinweisen im Einzelfall überhaupt erst gar nicht entstehen.“ BA ZPA IV, 2 / 101 / 70 S. 159 f. 143 Lars Immisch, Der sozialistische Richter in der DDR und seine Unabhängigkeit. Der Versuch eines Rechtsvergleichs zum Unabhängigkeitsbegriff in der bundesdeutschen Rechtsordnung (= Rechtshistorische Reihe, Bd. 169), Frankfurt a.M. 1997. 144 So auch Siegfried Mampel in seiner Rezension, Die Richter in der SBZ / DDR als Erfüllungsgehilfen der SED, in: DA 1999, S. 503 – 506. 145 Zu den einzelnen Aspekten der DDR-Wirtschaft vgl. die Rezension Josef Schmids zu 30 Bänden Politik und Ökonomie der deutschen Einheit. Die Beiträge zu den Berichten der KSPW und weitere Bände zum Transformationsprozeß, in: DA 1998, S. 480 – 487; Wolfram Weimer, Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Von der Währungsreform bis zum Euro, Hamburg 1998; Oskar Schwarzer, Sozialistische Zentralplanwirtschaft in der SBZ / DDR (= Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft Nr. 143), Stuttgart 1999; Eberhard

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zwischen den Sektoren der Westalliierten bald an Bedeutung verloren, wurde die SBZ für 40 Jahre politisch und wirtschaftlich abgetrennt. Wirtschaftlich teilte sie nach 1945 das Schicksal der Tschechoslowakei, Österreichs und Teilen Polens, die mit dem Ende des Deutschen Reiches in die wirtschaftliche Selbständigkeit entlassen wurden. Aus einer durch Landwirtschaft, Textil-, feinmechanischer und optischer Industrie geprägten Region eines großen Wirtschaftskomplexes mit fast 100 Millionen Menschen war ein Kleinstaat mit weniger als 18 Mio. Menschen geworden. Mit 22,3 Millionen Einwohnern war die Britische Zone die bevölkerungsreichste, gefolgt von der sowjetischen mit 17,3 Millionen (ohne Berlin) und der amerikanischen mit 17,2 Millionen Einwohnern. Die sowjetische und die amerikanische Zone nahmen mit je 30% des Gesamtterritoriums nahezu einen gleichen Flächenanteil ein. Die britische war mit 27% nur unwesentlich kleiner, während die französische Zone in Bezug auf Einwohnerzahl (5,9 Millionen) und Größe (12% des Gesamtterritoriums) die kleinste war.146 In der sowjetischen Zone lagen 10 Großstädte (ohne Berlin) mit insgesamt 2,355 Millionen Einwohnern. Die Zone verfügte zwar über große Agrargebiete, war aber keineswegs ein agrarisches Überschussgebiet. Dem agrarisch geprägten Norden stand im Süden der Zone, in Sachsen, eine hochentwickelte Fertigwarenindustrie gegenüber. Charakteristisch für die SBZ war das Fehlen von Grundstoffen – bis auf Braunkohle – so dass die Abhängigkeit vom Binnenhandel und von Rohstoffimporten besonders gravierend war. Die Wirtschaftslage in der SBZ war von vornherein durch die Unterrepräsentation der Schwerindustrie gekennzeichnet. 1936 wurden auf dem Gebiet der späteren SBZ nur 1,3% der Reichsproduktion bei Roheisen, 2,3% der Steinkohle und 6,6% des Walzstahls produziert.147 Die Wirtschaft der DDR hatte somit das Problem der unausgewogenen Wirtschaftsstruktur zu lösen, da ihre Industrie abhängig von den Rohstofflieferungen (Steinkohle) und von den Eisen- und Stahllieferungen aus den übrigen deutschen Gebieten war. Zudem musste sie auch die Zerstörung der wichtigsten InfrastrukturKuhrt / Hannsjörg F. Buck / Günter Holzweißig (Hrsg.), Am Ende des realen Sozialismus, Bd. 4: Die Endzeit der DDR-Wirtschaft, Analysen zur Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik, Opladen 1999; Lothar Baar / Dietmar Petzina (Hrsg.), Deutsch-Deutsche Wirtschaft 1945 – 1990. Strukturveränderungen, Innovationen und regionaler Wandel, St. Katharinen 1999; Siegfried Kupper, Eine „schonungslos offene“ Information. Der wirtschaftliche Leistungsvergleich der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik der DDR im Vorfeld des Honecker-Besuchs in Bonn 1987, in: DA 2001, S. 759 – 768; Theo Pirker / M. Rainer Lepsius / Rainer Weinert / Hans-Hermann Hertle, Der Plan als Befehl und Fiktion. Wirtschaftsführung in der DDR, Opladen 1995. 146 G. W. Harmsen, Reparationen, Sozialpolitik, Lebensstandard. Versuch einer Wirtschaftsbilanz, Bremen 1947. 147 Hermann Weber, Die DDR 1945 – 1990 [Grundriss der Geschichte], 2. Auflage, Hannover 1991, S. 35.

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wege verkraften, da im ehemaligen Deutschland alle wichtigen Verbindungen in Ost-West-Richtung verliefen und der Verlust aller wichtigen Überseehäfen nach Kriegsende eintrat.148 Im Zuge der Hauptdemontage bis Ende 1946 wurden weit über 1.000 Betriebe abgebaut (Maschinenbau, chemische und optische Industrie) und die ohnehin schon desolate Ausgangslage weiter verschlechtert. Etwa 200 Betriebe blieben in Deutschland als Sowjetische Aktiengesellschaften (SAG) sowjetisches Eigentum. Reparationen mussten bis in die 50er Jahre geleistet werden.149 Schon in den ersten Jahren ließ sich erkennen, dass die Sowjetunion den Aufbau der Wirtschaft in der SBZ nach ihrem Modell betreiben würde. Da die Veränderung der Produktionsverhältnisse als Basis der Entwicklung zum Sozialismus betrachtet wurde, legte die SMAD früh das Schwergewicht auf die Umgestaltung der Wirtschaft. Durch den SMAD-Befehl Nr. 138 vom 14. Juni 1947 wurde eine Deutsche Wirtschaftskommission (DWK) eingesetzt, deren Aufgabe es war, die Tätigkeit der Zentralverwaltung zu koordinieren und die gesamtstaatliche Wirtschaftsplanung aufzubauen. Mit dem Befehl Nr. 32 vom 12. Februar 1948 schließlich gab die SMAD der Deutschen Wirtschaftskommission weitgehende Vollmachten zur selbständigen Leitung der Wirtschaft. Ab Mitte 1948 arbeitete die Wirtschaft in der SBZ nach einem Halbjahresplan, Ergebnis der ersten Planungsarbeit deutscher Stellen. Eines der größten Probleme stellte der Schwarzhandel in der SBZ dar, der wegen seines Verbotes rechtliche Schwierigkeiten in allen Zonen hervorrief.150 Ende 1948 versuchten die Behörden die Lage durch einen „freien Handel“ zu verbessern, dem Schwarzmarkt entgegenzuwirken und gleichzeitig neue Arbeitsanreize zu schaffen.151 Die Deutsche Wirtschaftskommission verkündete im Oktober 1948 die Bildung einer Staatlichen Handelsorganisation (HO). Damit begann die Veränderung der Struktur auch des Handels und die systematische – wenngleich zunächst sehr behutsame – Steigerung der Staatsquote in diesem Sektor.152

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Karl Hardach, Wirtschaftsgeschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, Göttingen

1976. 149 Rainer Karlsch, Allein bezahlt? Die Reparationsleistungen der SBZ / DDR 1945 – 1953, Berlin 1993; Jörg Fisch, Reparationen nach dem zweiten Weltkrieg, München 1992. 150 Ernst Reuß, Berliner Justizgeschichte. Eine rechtstatsächliche Untersuchung zum strafrechtlichen Justizalltag in Berlin von 1945 – 1952 (wie Anm. 3). 151 Heinz Brandt, Die zivilrechtlichen Wirkungen von Schwarzmarktgeschäften, in: MDR 1948, S. 165 – 173, S. 201 – 205. 152 Hermann Weber, Die DDR 1945 – 1990 (wie Anm. 147), S. 36.

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2. Sozialisierung der DDR-Wirtschaft – Stationen der Wirtschaftspolitik der DDR Das Wirtschaftssystem der DDR war eine Zentralverwaltungswirtschaft. Diese Wirtschaftsordnung war durch das staatliche Eigentum an den Produktionsmitteln, eine umfassende zentrale Planung und Lenkung aller wichtigen Wirtschaftsprozesse durch Wirtschaftsverwaltungsbehörden,153 eine zentrale Preisbildung und ein staatliches Außenhandelsmonopol gekennzeichnet. Die Herausbildung des sozialistischen Eigentums erfolgte in drei Phasen: Die erste Sozialisierung erfolgte unter der sowjetischen Besatzungsmacht, die zweite Phase, die sich im Bereich der Industrie abspielte, umfasste die Jahre 1949 – 1955 und die dritte Phase begann 1956 und dauerte bis Anfang 1972. Zur Steuerung und Koordination aller wirtschaftlichen Aktivitäten in der DDR wurde ein System von Plänen eingesetzt, das einen gesamtwirtschaftlichen Plan und zahlreiche Teilpläne, die für alle Territorien (Regionalpläne), Industriebranchen, Einrichtungen und Einzelbetriebe erstellt wurden, beinhaltete.

a) Stalinisierungsphase Der erste Zweijahresplan (1949 / 1950) war noch im Wesentlichen auf die Wiederherstellung des wirtschaftlichen Vorkriegsniveaus gerichtet, ohne dieses Ziel zu erreichen.154 1945 endete nicht nur der Zweite Weltkrieg in Europa, sondern auch die bis dahin proklamierten „nationalen Wege“ zum Sozialismus und damit begann die uniforme Ausrichtung am sowjetischen Vorbild. Das Ziel einer solchen Ausrichtung bedeutet noch nicht dessen schnelle Realisierung und gerade in der DDR lassen sich beträchtliche Abweichungen vom sowjetischen Modell ausmachen. Die Zielsetzung galt aber dessen ungeachtet offiziell bis zum XX. Parteitag der KPdSU 1956, so dass sich in dieser ersten Phase von Stalinismus sprechen lässt.155

153 Zur Arbeitskräftelenkung Dierk Hoffmann, Aufbau und Krise der Planwirtschaft. Die Arbeitskräftelenkung in der SBZ / DDR 1945 – 1963, München 2002. 154 Rainer Karlsch, Auskünfte eines Insiders, Rezension zu Siegfried Wenzel, Plan und Wirklichkeit. Zur DDR-Ökonomie. Dokumentation und Erinnerungen, St. Katharinen 1998, in: DA 1998, S. 694 f. 155 Werner Hofmann, Stalinismus und Antikommunismus. Zur Soziologie des Ost-WestKonflikts, Frankfurt a.M. 1967; Jean Elleinstein, Geschichte des „Stalinismus“, Berlin 1977.

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b) Der erste Fünfjahresplan (1951 – 1955) aa) Zielvorgaben Die Einführung und Durchsetzung der Planwirtschaft veränderte die Rahmenbedingungen für das Privatrecht, dessen Bedingungen ja Marktwirtschaft und Vertragsfreiheit waren und sind. Die Planwirtschaft musste daher erhebliche Auswirkungen auf das Vertragsrecht, aber auch auf Zivilprozesse haben: Sei es, dass die Zahl der Auseinandersetzungen sich verringerte, was zum Teil die geringe Zivilprozessrate der DDR erklärt, sei es, dass die Bedeutung der Materien, über die Verträge geschlossen und über die prozessiert werden konnte, sich verringerte.156 Mit dem ersten Fünfjahresplan von 1950 realisierte die DDR erstmals das sowjetische Konzept umfassender Planwirtschaft und passte sich zugleich dem Planrhythmus der Sowjetunion an. Als generelle Zielsetzung formulierte ein am 24. Juli 1950 verfasster Beschluss des Dritten Parteitages der SED die Verdoppelung der industriellen Produktion im Vergleich zu 1936.157 Damit war aber nicht unbedingt die Steigerung des materiellen Lebensstandards verbunden. Es sollte nicht nur möglichst schnell Ersatz für die durch Krieg und Demontage entstandenen Verluste, sondern auch ein Ausgleich für die durch die Spaltung Deutschlands entstandenen Disproportionen geschaffen werden. Dadurch sollte zugleich die Abhängigkeit von westdeutschen Lieferungen reduziert werden. Primär galt diese Zielsetzung für die Industrie, aber auch das Verkehrswesen war davon betroffen. So lässt sich beispielsweise der kostspielige Ausbau Rostocks zu einem Überseehafen nur vor diesem Hintergrund verstehen. Der erste Fünfjahresplan war vor allem auf eine schnelle Steigerung der Schwerindustrie ausgerichtet. Das entsprach sowohl einem – in allen Ländern des sowjetischen Machtbereichs befolgten – stalinistischen Dogma als auch der spezifischen Situation Ostdeutschlands, dem durch die Teilung und die Gebietsverluste die schwerindustrielle Basis (Ruhrgebiet, Schlesien) fast vollständig entzogen war. Das erreichte quantitative Wachstum kam in erster Linie der Industrie zugute. Der Qualifikationsgrad der Industriearbeiterschaft wuchs entsprechend. Der Prozentsatz der Ungelernten in der sozialistischen Industrie sank zwischen 1952 bis 1956 von 13,5% auf 9,5%, der Anteil der angelernten von 41,2% auf 39,0% und der Facharbeiteranteil stieg von 45,3% auf 51,5%.158 Insgesamt wuchs die Zahl der Beschäftigten in der Industrie (ohne Handwerk und Bau) von 2,256 Millionen (1950) auf 2,683 Millionen (195l) – also um 18,9%. 156 Klemens Pleyer, Zentralplanwirtschaft und Zivilrecht. Juristische Untersuchungen zur Wirtschaftsordnung der SBZ. Aufsätze aus den Jahren 1961 – 1965, Stuttgart 1965. 157 SED (Hrsg.), Beschlüsse und Dokumente des III. Parteitages der SED, Berlin 20. Juli bis 24. Juli 1950, Berlin 1951, S. 67. 158 Jörg Roesler, Zur Charakteristik der ökonomischen Ergebnisse in der Industrie der DDR im ersten Fünfjahresplan 1951 bis 1955, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1976, S. 31 – 54.

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Diese Forcierung des industriellen Wachstums ging mit einer Vernachlässigung des Konsumgütersektors einher und rief zeitweilig akute Versorgungsengpässe hervor, so dass insbesondere nach dem 17. Juni 1953 durch Einschränkungen in der Schwerindustrie Korrekturen an den Planzielen vorgenommen werden mussten. Auch die Vernachlässigung des Konsumgütersektors führte zu Veränderungen bei Verträgen und Zivilprozessen. Wenn Güter nicht unter regulären Bedingungen erhältlich sind, verlieren Klagen gegen Unternehmen ihren Sinn. Den Höhepunkt der Entwicklung bildete die Zweite Parteikonferenz im Juli 1952, die im Selbstverständnis der SED zugleich den Beginn einer qualitativ neuen Phase bildete. Der wichtigste Beschluss der Konferenz bestand darin, den „Aufbau des Sozialismus zur grundlegenden Aufgabe“ in der DDR zu machen.159 Dazu gehörte als neues Element die erstmals öffentlich ins Auge gefasste Kollektivierung der Landwirtschaft. Die 1952 gegründeten Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) erfassten zwar zunächst nur eine ganz geringe Minderheit der Bauern. Die in den Beschluss aufgenommene, von Stalin entwickelte These von der Notwendigkeit der „Verschärfung des Klassenkampfes“ in der Phase des Aufbaus des Sozialismus fand jedoch ihren unmittelbaren Niederschlag in verstärktem Vorgehen der Partei gegen die Großbauern, die mit 24,4% der landwirtschaftlichen Nutzfläche im Jahre 1950 noch über eine starke ökonomische Stellung verfügten. Diese Konfliktstrategie führte mit dazu, dass die Fluchtbewegungen nach Westen unter der Landbevölkerung sprunghaft anstiegen, eine große Zahl von Wirtschaften herrenlos wurde (Ende 1952: 13% der landwirtschaftlichen Nutzfläche) und sich so die Versorgungslage zunehmend verschlechterte. Auch hier sind Auswirkungen auf den Zivilprozess gegeben. Denn die Zahl der Privatrechtssubjekte sank und es war kein zivilrechtlicher ,Widerstand‘ gegen die großenteils rechtswidrigen Maßnahmen zu verzeichnen.

bb) Außen- und Deutschlandpolitische Situation und ihre Folgen im Bereich des Außenhandels Kennzeichnend für die Wirtschaftsentwicklung der DDR ist die wichtige Rolle, die die außenpolitische und die deutschlandpolitische Lage darin gespielt hat. Bereits im September 1950 wurde die DDR in den Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) aufgenommen. Damit war die Anbindung an die „sozialistische Welt“ geschaffen. 1954 hatte der Außenhandel mit den Staaten des Ostblocks einen Anteil von 75% am gesamten Außenhandel der DDR. Spiegelbildlich hierzu vollzog sich die Einbindung der Bundesrepublik in die „westliche Welt“. 1952 unterzeichnete sie den EVG- und den Deutschland-Vertrag. 159

Text in: SED (Hrsg.), Dokumente, Bd. IV, Berlin 1952, S. 70 ff.

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Kap. 2: Historische Einführung

Die DDR-Regierung erließ am 27. Mai 1952 die „Polizeiverordnung über die Einführung einer besonderen Ordnung an der Demarkationslinie“ 160, durch die nicht nur der bis dahin bestehende „kleine Grenzverkehr“ erschwert, sondern auch die Fluchtbewegung nach Westen eingedämmt werden sollte; die mit dem Grenzausbau verbundenen umfangreichen Evakuierungen lösten zunächst aber eine neue Fluchtwelle aus. Auch die Fluchtwellen hatten die soeben beschriebenen Effekte: Erstens wehrten sich die Flüchtenden nicht zivilrechtlich und zweitens muss die Zahl der Zivilprozesse gesunken sein. Das für sozialistische Staaten charakteristische staatliche Außenhandelsmonopol wurde mit der Notwendigkeit begründet, dass nur das Staatsmonopol „unerwünschte Einflüsse zumal des kapitalistisch kontrollierten Weltmarktes auf die hochentwickelte sozialistischen Volkswirtschaft“ verhindern könne.161

cc) Durchführung des Planes Die technische Durchführung der Wirtschaftsplanung lehnte sich eng an das sowjetische Vorbild an. Eine zentralistische Planungsbürokratie mit der Staatlichen Planungskommission an der Spitze gab detaillierte Plandaten vor und ließ den Betrieben damit kaum Spielräume. Deren Interesse bestand vor allem an möglichst „weichen“ Plänen, um die vorgegebenen Kennziffern erfüllen zu können, sodass hinsichtlich der tatsächlichen Produktionskapazität charakteristische Verzerrungen entstanden, weil der Einzelbetrieb seine wirklichen Leistungsreserven möglichst zu verschleiern suchte, um den Plan zu erfüllen oder übererfüllen zu können. Diese Einstellung wurde insbesondere durch die anfänglich dominierende Orientierung der Planwirtschaft an der Mengenplanung gefördert, die man später als „Tonnenideologie“ kritisierte. Erhielt z. B. ein Stahlwerk sein Plansoll in Tonnen, bestand die Tendenz, möglichst großflächigen, dicken Stahl zu wälzen; waren dagegen die Planvorgaben in Stückzahlen oder Maßen festgelegt, überwogen leichte und dünne Formen. Das hier angelegte Problem einer sinnvollen Abstimmung zwischen zentraler und betrieblicher Planung blieb der Hauptansatzpunkt aller späteren ökonomischen Reformdebatten.162 Probleme, die hier entstanden, wurden (wenn überhaupt) im Bereich des Vertragsrechts bearbeitet und gelangten (wenn überhaupt) zum Vertragsgericht.163

160 Damit wurde die Einrichtung einer 5 km breiten Sperrzone mit 500 m Schutzstreifen und 10 m Kontrollstreifen – 1,2 bis 1,5 m hoher Stacheldrahtzaun beschlossen. 161 Gerhard Scholl (Leiter des Autorenkollektivs), Sozialistische Planwirtschaft in der DDR, Berlin (Ost) 1977, S. 170. 162 Renate Damus, Planungssysteme und gesellschaftliche Implikationen – am Beispiel der Planungssysteme in der DDR, in: Peter Hennicke (Hrsg.), Probleme des Sozialismus und der Übergangsgesellschaften, Frankfurt a.M. 1973, S. 215 – 242, insb. S. 220.

A. Rahmenbedingungen

51

Obwohl die organisatorischen Mittel zur Durchführung des Wirtschaftsplans relativ komplex und vielfältig waren, hatte die zentralistische Planung zahlreiche Systemmängel. Zur Durchführung einer Planung war zunächst eine Markt- und Bedarfsforschung erforderlich, deren Ergebnisse aber in der Regel nur grob waren. Da diese Schätzungen das tatsächliche Verbraucherverhalten oder Störungen im Bereich des Wirtschaftsablaufs einkalkulieren konnten, kam es bei der Nachfrage nach den erstellen Gütern entweder zu Mangelerscheinungen oder zu „Ladenhüter“-Ansammlungen. Der Flexibilitätsmangel der Pläne trug dazu bei, dass bei vielen Produktgruppen keine Übereinstimmung zwischen Angebot und Nachfrage zu erreichen war. Darüber hinaus erwies sich die Erstellung der detaillierten Planungen für die Zentralbehörden im Laufe der Zeit als zu kompliziert, da 1 Million Güter und 5.000 zentrale Pläne berücksichtigt werden sollten. Die notwendigen Pläne standen deshalb entweder nicht rechtzeitig zur Verfügung oder waren aufgrund der notwendigen, lang dauernden Koordinierung der Branchen- und Regionalplanungen untereinander schon veraltet, als die Güter endlich hergestellt wurden. Diese Mängel versuchte die DDR mit der Einführung eines neuen Systems der Planung und Leitung der Volkswirtschaft (NÖSPL) von 1963 – 1979 zu beseitigen.

dd) Planerfüllung Obwohl bei der Realisierung des Fünfjahresplanes vielfältige Schwierigkeiten auftauchten, die größtenteils mit „organisierten Stör- und Sabotageaktionen“ erklärt wurden, konnten die angestrebten Ziele – anders als bei späteren Plänen – insgesamt erreicht und der Plan zu 102,6% erfüllt, die Arbeitsproduktivität um 55% gesteigert werden.164 Die Einführung des wirtschaftlichen Planes übte auch einen Einfluss auf dem zivilrechtlichen Bereich aus: Das Vertragsrecht und vor allem das Wirtschaftsrecht entwickelten sich zu neuen selbstständigen Rechtsgebieten und der strikte Vorrang der Pläne vor den gültig abgeschlossenen Verträgen stand im Widerspruch mit dem Prinzip der Privatautonomie. Der Vertrag im Sinne des Vertragssystems stand damit vor allem unter dem Primat der sozialistischen Gesellschaft, er war nur noch als „Instrument der Planung und Leitung der Volkswirtschaft bei der Durchsetzung der im Perspektivplan festgelegten Hauptentwicklungsrichtung“ gedacht.165 163 Cornelia Ludwig-Dodin, Das Staatliche Vertragsgericht – Organ der Wirtschaftsverwaltung oder der Rechtspflege?, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. II (wie Anm. 16), S. 177 – 193. 164 Jörg Roesler, Zur Charakteristik der ökonomischen Ergebnisse in der Industrie der DDR im ersten Fünfjahresplan 1951 bis 1955 (wie Anm. 158), S. 53. 165 Vgl. Rainer Schröder, Die Bedeutung des Zivilrechts für die Steuerung der Wirtschaft in der DDR, in: Günter Krause (Hrsg.), Rechtliche Wirtschaftskontrolle in der Planökonomie.

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Kap. 2: Historische Einführung

c) Enteignung, Bodenreform und Verstaatlichung Im Zuge der Entnazifizierung bildeten die Enteignung, insbesondere die Bodenreform, die Verstaatlichung großer Industriebetriebe und die personelle Säuberung des öffentlichen Dienstes die drei großen Bereiche, in denen in der SBZ eine radikale Umgestaltung vollzogen wurde.166 Gegen diese Maßnahmen existierte auf keiner rechtlichen Ebene ein Rechtsschutz. Eine Klage auf Rückgabe eines enteigneten Betriebs war ,undenkbar‘. Alle zivilrechtlichen Klagen, die in irgendeiner Weise auf nationalsozialistische Sachverhalte gestützt waren, wurden zum Teil ohne Begründung, zum Teil aber auch gestützt auf § 138 BGB, abgewiesen.167 Nach den im Exil von der KPD-Führung ausgearbeiteten Richtlinien sollte eine Bodenreform erst 1946 durchgeführt werden; sie wurde dann aber offenbar unter dem Druck der SMAD auf den Herbst 1945 vorgezogen.168 Die politische Zielsetzung war zumindest zwischen SPD und KPD nicht umstritten. Der Sprecher der Ost-SPD, Otto Grotewohl erklärte 1945: „Die politische Seite der Bodenreform ist die Beseitigung des verderblichen Einflusses der Junker auf die Geschichte Deutschlands. Durch Jahrhunderte war der Großgrundbesitz der Träger der Reaktion. Aus ihren Reihen stammten zahlreiche Offiziere, Beamte, Minister und Höflinge. Sie waren die Feinde jeder freiheitlichen Entwicklung in Deutschland“.169

Das Beispiel der DDR (= Schriftenreihe Das Europa der Diktatur, Wirtschaftskontrolle und Recht, Band 3), Baden-Baden 2002, S. 225 ff., 241 f. 166 Hans Georg Merz, Bodenreform in der SBZ. Ein Bericht aus dem Jahre 1946, in: DA 1991, S. 1159 – 1170; Hans-Hermann Lochen, Grundlagen der Enteignungen zwischen 1945 und 1949, in: DA 1991, S. 1025 – 1038. 167 Rainer Schröder, Das ZGB der DDR von 1976, verglichen mit dem Entwurf des Volksgesetzbuchs der Nationalsozialisten von 1942, in: Jörn Eckert / Hans Hattenhauer (Hrsg.), Das Zivilgesetzbuch der DDR vom 19. Juni 1975. Rechtswissenschaftliches Kolloquium an der Juristischen Fakultät der Universität Potsdam, Goldbach 1995, S. 31 – 71 und Jörn Eckert, Einleitende Bemerkungen zur Entstehungsgeschichte des ZGB der DDR, ebenda, S. 231 – 242; siehe auch Gustav Boehmer, Die Einwirkungen des zweiten Weltkrieges, der Nachkriegszeit und der Währungsreform auf privatrechtliche Verhältnisse. Ein Beitrag zu dem Problem ,Gesetz und Richtermacht‘, in: Deutsche Rechts-Zeitschrift (DRZ) 1949, Beiheft 8, S. 1 – 39. 168 Hermann Weber, Von der SBZ zur DDR 1945 – 1968, Hannover 1968, S. 25; Arnd Bauerkämper (Hrsg.), „Junkerland in Bauernhand?“ Durchführung, Auswirkungen und Stellenwert der Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone, Stuttgart 1996; Hans Watzek, Zur Bodenreform 1945 – 1947, in: Zum deutschen Neuanfang 1945 – 1949: Tatsachen – Probleme – Ergebnisse – Irrwege. Die Arbeiterbewegung und die Entstehung der beiden deutschen Staaten (= Schriftenreihe der Marx-Engels-Stiftung; Bd. 19), Bonn 1993, S. 188 – 192; Jonathan Osmond, Kontinuität und Konflikt in der Landwirtschaft der SBZ / DDR zur Zeit der Bodenreform und der Vergenossenschaftlichung 1945 – 1961, in: Richard Bessel (Hrsg.), Die Grenzen der Diktatur. Staat und Gesellschaft in der DDR, Göttingen 1996, S. 137 – 169. 169 Zitiert nach Hermann Weber, Von der SBZ zur DDR 1945 – 1968 (wie Anm. 168), S. 26.

A. Rahmenbedingungen

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Tabelle 1 Verteilung des Bodenbesitzes nach der Bodenreform – Stand der Aufteilung in Individualeigentum aus den Bodenfonds am 1. Januar 1950 Zahl

Empfänger

119.121

Landlose Bauern und Landarbeiter Landlose Bauern Umsiedler Kleinpächter Nichtlandwirtschaftliche Arbeiter und Angestellte Waldzulagen an Altbauern

82.453 91.155 43.231 183.261 39.838 559.059

Bodenempfänger

Durchschnittsgröße in ha

Prozent des Bodenfonds

932.487

7,8

28,3

274.848 763.596 41.661 114.665

3,3 8,4 1,0 0,6

8,3 23,1 1,2 3,5

62.742

1,6

2,0

2.189.999

3,9

66,4

Bodenfl. in ha

„Junkerland in Bauernhand“ – das war die griffige Parole, unter der die Enteignung stattfand.170 Betriebe über 100 ha wurden entschädigungslos enteignet. Sie umfassten 1951 zusammen nur noch 4,4% des landwirtschaftlich nutzbaren Bodens. Es dominierten kleine und mittlere Betriebe zwischen 5 und 20 ha, die insgesamt 58% des Landes bewirtschafteten.171 Unter ähnlichen politischen Vorzeichen wie die Bodenreform spielte sich die Umgestaltung des industriellen Sektors mit der Parole „Enteignung der Naziaktivisten und Kriegsverbrecher“ ab. Insgesamt vollzog sich der Enteignungs- und Transformationsprozess auf drei Ebenen172: – Es gab faktische Enteignungen durch Belegschaften, vor allem dort, wo alte Besitzer geflohen oder politisch stark belastet waren. – Durch den SMAD-Befehl Nr. 124 vom 30. Oktober 1945173 wurde die Beschlagnahme allen Eigentums des deutschen Staates, der NSDAP und ihrer Organisationen, der Verbündeten des Naziregimes und darüber hinaus aller jener Arnd Bauerkämper (Hrsg.), „Junkerland in Bauernhand“? (wie Anm. 168). Wolfgang Bell, Enteignungen in der Landwirtschaft der DDR nach 1949 und deren politische Hintergründe: Analyse und Dokumentation, Münster-Hiltrup 1992; Dietrich Staritz, Geschichte der DDR 1949 – 1990 (= Moderne Deutsche Geschichte, Bd. 11), Frankfurt a.M. 1996, S. 52. 172 Dietrich Staritz (Hrsg.), Sozialismus in einem halben Lande. Zur Programmatik und Politik der KPD / SED in der Phase der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung in der DDR, Berlin 1976, S. 101. 173 Text in: Institut für Theorie des Staates und des Rechts der Akademie der Wissenschaften der DDR (Hrsg.), Geschichte des Staates und des Rechts der DDR. Dokumente 1945 – 1949, Berlin (Ost) 1984, S. 189 ff. 170 171

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Kap. 2: Historische Einführung

„Personen, die von der SMAD durch besondere Listen oder auf andere Weise bezeichnet werden“, verfügt. Dies kam faktisch einem Freibrief gleich. – Deutsches Recht legitimierte beide Enteignungsformen und führte sie zu Ende. Die Grundlage dazu bot ein im Sommer 1946 von der SED initiierter Volksentscheid in Sachsen über die „Überführung der Betriebe von Kriegs- und Naziverbrechern in das Eigentum des Volkes“, der stellvertretend auch für die anderen Länder der SBZ gelten sollte.174

Bei diesem Volksentscheid stimmten 77% mit Ja, 16% mit Nein. Dem sächsischen Beispiel folgend, verabschiedeten dann alle Länder der SBZ ähnliche Gesetze. 1947 erbrachten die Volkseigenen Betriebe (VEB), wie sie nun hießen und die in russische Hand übergegangenen Sowjetischen Aktiengesellschaften (SAG) zusammen 56 Prozent der industriellen Bruttoproduktion der SBZ.175 Der Konflikt zwischen zwei Privatrechtssubjekten wurde somit zu einer organisierten Auseinandersetzung ohne Gerichtshilfe. Von der Verstaatlichung ausdrücklich ausgenommen waren dagegen die beschlagnahmten kleingewerblichen Betriebe, deren Eigentümer nur nominell Nazis waren. Ihnen wurde der Besitz bereits vor der Abstimmung demonstrativ zurückgegeben.176 Auch die Eingriffe in das Bankenwesen trugen zunächst noch nicht den Charakter einer formellen Enteignung. Zwar wurden 1945 alle Banken geschlossen und mit der Errichtung von staatlichen Landesbanken faktisch liquidiert, in der Folgezeit wurden jedoch kleine private Kreditinstitute wieder zugelassen. Erst nach der Währungsreform begann mit der Gründung der Deutschen Investitionsbank im Oktober 1948 die planmäßige Sozialisierung des Bankenwesens.177

d) Der 17. Juni 1953 Die Ereignisse um den 17. Juni 1953 zwangen die SED-Führung zu Kurskorrekturen auch in der Wirtschaftspolitik.178 Die Schwerindustrie wurde weniger priviText ebenda, S. 202. Dietrich Staritz (Hrsg.), Sozialismus in einem halben Lande (wie Anm. 172), S. 100 f. 176 Stefan Doernberg, Die Geburt eines neuen Deutschland 1945 – 1949, Berlin (Ost) 1959, S. 337; Tilman Bezzenberger, Wie das Volkseigentum geschaffen wurde. Die Unternehmens-Enteignungen in der Sowjetischen Besatzungszone 1945 – 1948, in: ZNR 1997, S. 210 – 248. 177 Stefan Doernberg, Die Geburt eines neuen Deutschland 1945 – 1949 (wie Anm. 176), S. 37. 178 Vgl. Armin Mitter / Stefan Wolle, Untergang auf Raten. Unbekannte Kapitel der DDRGeschichte, Berlin 1993, S. 27 – 163, bes. S. 139 ff.; Klaus Schroeder, Der SED-Staat: Geschichte und Strukturen der DDR, München 1998, S. 119 – 130. 174 175

A. Rahmenbedingungen

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legiert und dafür die Produktion von Konsumgütern und Nahrungsmitteln gesteigert. Auch durch Preissenkungen in den HO-Geschäften verbesserte sich die Situation der Bevölkerung. Trotzdem flüchteten weiterhin viele Menschen in die Bundesrepublik.179

e) Der Zweite Fünfjahresplan (1956 – 1961) aa) Zielvorgaben und Schwerpunkte Nach der Überwindung der Entstalinisierungskrise wandte sich die Parteiführung den drängenden Problemen der Wirtschaftsplanung zu. Die Ausarbeitung des zweiten Fünfjahresplanes war sowohl durch die oppositionellen Forderungen nach Veränderung des Planungssystems und der Agrarpolitik als auch durch die außenwirtschaftlichen Konsequenzen der revolutionären Umbrüche in Polen und Ungarn in Verzug geraten und zum Teil auch in Frage gestellt worden. Führende Wirtschaftswissenschaftler der DDR kritisierten wie später der sowjetische Ökonom Liberman die Überzentralisierung der Planung als ineffektiv für eine komplexe Ökonomie und forderten stärkere Beteiligung der Betriebe und mehr Rentabilitätsdenken. Freilich standen kapitalistische Vorbilder nicht Pate. Aufgrund dieser Schwierigkeiten konnte der zweite Fünfjahresplan erst im Januar 1958 in modifizierter Form Gesetz werden, obwohl die 3. Parteikonferenz bereits im März 1956 die Direktive verabschiedet hatte.180 Die Direktive orientierte sich insofern noch deutlich am ersten Fünfjahresplan, als sie wiederum die Priorität auf Entwicklung der Grundstoff- und Maschinenbauindustrie setzte. Die vorgesehene Steigerung der Bruttoproduktion auf 155 Prozent (des Jahres 1955) sollte vor allem durch Erhöhung der Arbeitsproduktivität und technische Rationalisierung erreicht werden. Demgemäß lautete die Losung „Standardisierung – Mechanisierung – Automatisierung“. Der Konsumgütersektor rückte dagegen mit einer vorgesehenen Steigerung um 40% wieder an die zweite Stelle. Allerdings konnten die angestrebten sozialpolitischen Verbesserungen als eine gewisse Kompensation hierfür angesehen werden: Der Siebenstundentag und die Vierzigstundenwoche bei vollem Lohnausgleich wurden für einige Industriezweige vorgesehen. Schon Ende des Jahres aber zeigte sich, dass solche Ziele zu hochgesteckt waren.

179 Hermann Weber, Die DDR 1945 – 1990 [Grundriss der Geschichte], 3. Auflage, München 2000, S. 43. 180 Vgl. Carola Stern, Die 3. Parteikonferenz der SED, in: SBZ-Archiv 1956, S. 106 – 109; Gesetz über den zweiten Fünfjahresplan der Volkswirtschaft in der DDR für die Jahre 1956 – 1960 vom 09. Januar 1958, GBl. I, S. 41 – 55.

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Kap. 2: Historische Einführung

bb) Konsolidierung und Krise Die Zielgrößen der Direktive revidierte das ZK bereits im Oktober 1957 und auf dieser Basis wurde der Plan dann 1958 Gesetz. Die jährliche Wachstumsrate veranschlagte der zweite Fünfjahresplan jetzt mit 6,6% (die Direktive sah noch 9% vor), die industrielle Bruttoproduktion sollte auf 138% des Jahres 1955 steigen. Nach wie vor hatten die sozialistischen Betriebe 90% der Industrieproduktion aufzubringen. Die Erzeugung von Produktionsmitteln sollte um 40% (statt 60%), die von Konsumgütern um 33 (statt 40)% wachsen.181 Die Jahre 1958 und 1959 wiesen beträchtliche Produktionsfortschritte auf: Die industrielle Bruttoproduktion stieg gegenüber dem Vorjahr um 11 bzw. 12%. Im Mai 1958 konnten dann endlich auch die Lebensmittelkarten, ein Relikt der Nachkriegszeit, abgeschafft werden. Diese positive Entwicklung bildete wiederum die Basis für neue Zielformulierungen, die der V. Parteitag im Sommer 1958 vornahm: „Die ökonomische Hauptaufgabe besteht darin, die Volkswirtschaft innerhalb weniger Jahre so zu entwickeln, dass die Überlegenheit der sozialistischen Gesellschaftsordnung gegenüber der kapitalistischen Herrschaft umfassend bewiesen wird. Deshalb muss erreicht werden, dass der Pro-Kopf-Verbrauch der werktätigen Bevölkerung in allen wichtigen Lebensmitteln und Konsumgütern höher liegt als der Pro-Kopf-Verbrauch der Gesamtbevölkerung in Westdeutschland“182. Den Zeitpunkt für die Erreichung dieser hochfliegenden Ziele erklärte Ulbricht in der Sitzung des „Demokratischen Blocks“ (aller Parteien) vom 21. Juli 1958 so: „. . . , dass die Friedenskräfte ihre Aufgabe bis Ende 1961 lösen müssen, d. h. bis Ende 1961 den Beweis für die Überlegenheit unserer Gesellschaftsordnung erbringen müssen, um die breiten Massen der westdeutschen Arbeiter, der westdeutschen Gewerkschaftler und der westdeutschen Intelligenz für die Sache des Friedens und der Demokratie zu gewinnen“. Denn bis zu diesem Zeitpunkt sei auch geplant, „die Aufrüstung der westdeutschen Nato-Armee mit Atomwaffen“ zu beenden.183 Für die Jahre 1958 und 1959 lässt sich in der DDR eine deutliche Konsolidierung erkennen. Die Flüchtlingszahlen gingen 1959 auf den niedrigsten Stand seit der Staatsgründung zurück. Befragungen der Geflüchteten ergaben durchaus positive Einstellungen zur Sozialpolitik der DDR: Die Klischeevorstellung, eine Handvoll fanatischer Kommunisten unterdrücke eine konsequent antikommunistische, dem Westen verschworene Bevölkerung, entsprach nicht mehr der Realität.184 181

H. D. Mikulski, Die Modifizierung des 2. Fünfjahrplanes, in: SBZ-Archiv 1958, S. 154 –

155. 182 Neues Deutschland vom 18. Juli 1958; Beschluss des V. Parteitages der SED, in: SBZArchiv 1958, S. 246 – 264 (252). 183 Walter Ulbricht, Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Aus Reden und Aufsätzen, in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.), Band VII: 1957 – 1959, Berlin (Ost) 1964, S. 440. 184 Hermann Weber, Geschichte der DDR, München 1985, S. 297.

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cc) Sozialistische Wettbewerbe Mit diesem Programm verband sich eine Reihe „sozialistischer Wettbewerbe“. So entstanden u. a. die Brigaden „Irmgard Richter“ und „Fritz Weineck“ als Speerspitze wetteifernder Arbeitskollektive, von denen 103 im Oktober 1959 erstmals als „Brigaden der sozialistischen Arbeit“ ausgezeichnet wurden. Zum zehnten Jahrestag der DDR-Gründung versuchte die Freie Deutsche Jugend (FDJ) mit einer Aktion unter dem Slogan „Tempo – Technik – tausend Tage“ möglichst viele junge Arbeiter in die Bewegung zur Rationalisierung der Arbeitsabläufe einzubeziehen.

dd) Reform der Wirtschaftsverwaltung Zur relativen Stabilisierung der Wirtschaft dürfte auch die 1958 eingeleitete Reform der Wirtschaftsverwaltung beigetragen haben. Die Plankommission als Organ des Ministerrates bekam damit anstelle der Branchenminister die Zuständigkeit für die oberste Ebene der Planung. Die „Vereinigung volkseigener Betriebe“ (VVB) als sozialistische Konzerne und die in den Bezirken gebildeten Wirtschaftsräte erhielten damit größeres Gewicht. In diesen Rahmen gehörte auch die Erweiterung der 1956 eingeführten, unter Leitung des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) stehenden „Produktionsberatungen“. Sie wurden 1963 aufgelöst und 1967 durch „Produktionskomitees“ ersetzt. In ihnen sollte sich das Motto der Volkskammerwahl vom 16. November 1958 konkretisieren: „Plane mit – arbeite mit – rede mit“. f) Abbruch des Planes 1959 und Übergang zum Siebenjahresplan Obwohl sich also dieser Fünfjahresplan recht erfolgreich entwickelte, wurde er 1959 eingestellt und durch den Siebenjahresplan ersetzt. In der DDR-Geschichtswissenschaft wird dieser überraschende Wechsel damit erklärt, der Fünfjahresplan sei „auf höherer Stufe fortgesetzt“185 worden. Tatsächlich dürfte der Grund für die Umstellung der Zwang zur Anpassung an einen veränderten Planungsrhythmus der UdSSR, die im Januar 1959 ihren Siebenjahresplan verabschiedet hatte, liegen.

aa) Zielvorgaben Der neue Plan sollte „die materiell-technische Basis für den Sieg des Sozialismus“ schaffen.186 Die Industrieproduktion sollte auf 188 Prozent steigen. Das Stefan Doernberg, Kurze Geschichte der DDR, 3. Auflage, Berlin (Ost) 1968, S. 382. GBl. 1959, S. 705; ZK-Beschluss vom 23. 05. 1959, in: Zentralkomitee der SED (Hrsg.), Dokumente der SED, Beschlüsse und Erklärungen des Zentralkomitees sowie seines Politbüros und seines Sekretariats, Bd. VII, Berlin 1961, S. 652 ff. 185 186

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Kap. 2: Historische Einführung

bedeutete jährliche Wachstumsraten von 9 bis 10%. Für die Konsumgüterproduktion war innerhalb der Laufzeit des Plans eine Steigerung von 177% vorgesehen. Das alte Ziel, Westdeutschland im Pro-Kopf-Verbrauch zu überrunden, wurde jetzt auch auf die Arbeitsproduktivität ausgedehnt, jedoch ohne konkrete Zeitangabe.

bb) Planerfüllung – Sozialisierung von Handwerk und Kleinhandel Die zunächst vielversprechende ökonomische Entwicklung geriet bereits 1960 in eine tiefe Krise. Zum einen verursachte die internationale Entwicklung mit Chruschtschows im November 1958 erstmals ausgesprochenen und 1960 verschärften Drohung gegen West-Berlin Verunsicherung. Zum anderen hatte der V. Parteitag erkennen lassen, dass mit der avisierten „Vollendung der sozialistischen Produktionsverhältnisse“ nun Ernst gemacht werden sollte. Sie bezog sich sowohl auf den privaten Sektor des Handwerks und Kleinhandels, als auch auf die noch etwa zur Hälfte privaten Landwirtschaftsbetriebe. Aus der Perspektive einer zentralen Planwirtschaft war das Argument Ulbrichts, „Störungen, die von dem privaten Sektor ausgehen“ müssten ausgeschaltet werden, um eine konsequente und gleichmäßige Planung zu ermöglichen, einleuchtend. Für die Landwirtschaft argumentierte er so: Der Staat könne auf die Dauer nicht auf zwei verschiedenen Grundlagen, der sozialistischen Großindustrie und der zersplitterten bäuerlichen Einzelwirtschaft fußen, ohne die gesamte Volkswirtschaft zu gefährden.187 Der Anteil sozialistischer Betriebe an der Produktion / Leistung der jeweiligen Branchen wies Ende 1959 noch starke Differenzen auf. Mit 95,2% lag er im Verkehrswesen am höchsten, gefolgt von 89,1% in der Industrie und 83,7% in der Bauindustrie. Der sozialistische Sektor im Einzelhandel betrug dagegen nur 75,3%, in der Landwirtschaft 53,0% und im Handwerk erst 22,1%.188 Für Kleinindustrie, Handwerk und Kleinhandel wählte die SED elastische Formen des Übergangs und der allmählichen Einbindung des privaten Sektors in die sozialistische Eigentumsordnung. „Auf Wunsch der Betriebsinhaber“ – dies war stets die äußere Form der Einführung neuer Strukturen – bot der Staat Privatbetrieben eine fünfzigprozentige staatliche Beteiligung in Form einer Kommanditgesellschaft an.189 So erreichte man auf formell freiwilliger Basis die direkte staatliche 187 Referat Ulbrichts vom 24. 03. 1956, Walter Ulbricht, Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Aus Reden und Aufsätzen, in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.), Band V: 1954 – 1956, 2. Auflage Berlin 1964, S. 669 ff. 188 Karl Pernutz, Offensive gegen die Privatwirtschaft, in: SBZ-Archiv 1960, S. 101 (nach Angaben der DDR-Statistik). 189 Zu den halbstaatlichen Betrieben und Kommissionshändlern: Karl Pernutz, Kompromiß der Übergangsperiode, in: SBZ-Archiv 1959, S. 102 – 103; Siegfried Friebe, Sozialisierung durch Steuerdruck, in: SBZ-Archiv 1960, S. 154 – 157.

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Einflussnahme auf Kleinbetriebe. Dementsprechend wuchs die Zahl der halbstaatlichen Betriebe seit 1958 rasch an. Tabelle 2 Beschäftigte in halbstaatlichen Betrieben190 Jahr

Zahl der Betriebe

Beschäftigte

1956 1958 1960 1962 1971

144 1.541 4.455 5.277 5.658

14.331 126.472 291.116 335.496 348.068

Prinzipiell ähnlich, wenn auch weniger ausgeprägt verlief die Entwicklung im Handwerk. Kennzeichnend für die Handwerkspolitik der SED als Instrument zur Steuerung dieses wichtigen Bereiches der Bevölkerungsversorgung war der Interessenwiderstreit zwischen möglichst optimaler Anpassung an sozialistische Wirtschaftsstrukturen einerseits und einer eben durch diese Ausrichtung nicht zu erreichenden zufriedenstellenden Versorgung andererseits.191 Noch in den Jahren von 1949 bis 1960 wurde durch steuerliche Repressivmaßnahmen und insbesondere die Bildung von sog. „Produktionsgenossenschaften des Handwerks“ (PGH) ab 1952 die Gleichschaltung des privaten Handwerks zu erzwingen gesucht. Nachdem die SED-Führung bereits früh erkannt hatte, dass eine völlige Verstaatlichung von Handwerksbetrieben utopisch war, sollte zumindest die Durchsetzung genossenschaftlicher Betriebsformen realisiert werden. Die Integration privater Handwerksbetriebe in die Produktionsgenossenschaften des Handwerks (PGH) erfolgte daher langsam. Zwischen 1955 und 1960 stieg die Zahl der PGH von 85 (mit 2.290 Mitgliedern) auf 3.878 (mit 150.779 Mitgliedern), um 1970 die Anzahl von 4.458 (mit 245.378 Mitgliedern) zu erreichen.192 Mangelnde Nachwuchsförderung und daraus resultierte Überalterung mit Betriebsschließungen verschärften neben den Kollektivierungsbemühungen Anfang der 70er Jahre die Krise im privaten Handwerk. Deshalb beschloss das Politbüro 1976 eine weitreichende Förderung des Handwerks. Diese Politik, die sich im Anstieg der Ausbildungsverhältnisse und erteilten Gewerbegenehmigungen niederschlug, wurde aber Anfang der 80er Jahre aus ideologischen Gründen teilweise wieder revidiert.193 Durch die Einbindung der Mehrzahl der privaten Handwerks190 Statistisches Amt der DDR (Hrsg.), Statistisches Jahrbuch der DDR 1966, S. 113; 1973, S. 118. 191 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DDR-Handbuch, Band 1 A-L, 3. Auflage, Köln 1985, S. 592 f. 192 Statistisches Amt der DDR (Hrsg.), Statistisches Jahrbuch der DDR 1971, S. 170.

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Kap. 2: Historische Einführung

betriebe in sog. „Versorgungsgruppen VEB“ sowie letztlich der genossenschaftlichen Betriebe in sog. „kooperativen Einrichtungen“ von 1981 an, zeichneten sich die neuen Kontroll- und Konzentrationsbestrebungen ab, die private Freiräume wieder zunehmend einzuengen beabsichtigten. g) NÖSPL aa) Von NÖSPL zu ESS (bis 1966) Der VI. Parteitag der SED markiert einen neuen Kurs in der Wirtschaftspolitik der DDR.194 Die Ansätze, die bereits von Ulbricht auf dem Parteitag geäußert wurden, wurden in der „Richtlinie für das neue ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft“ vom Juli 1963 präzisiert und in späteren Erklärungen und Anweisungen im Detail entfaltet. Änderungen brachte NÖSPL, an das sich in den folgenden Jahren große Hoffnungen knüpften, insbesondere in zweifacher Hinsicht: – Die volkswirtschaftliche Grundkategorie der Rentabilität erhielt erstmals seit Einführung der sozialistischen Planwirtschaft wieder größere Bedeutung und wurde durch ein „System ökonomischer Hebel“ in seine Einzelelemente differenziert. – Die Organisation der Wirtschaftsplanung erfuhr eine beträchtliche Veränderung durch Abbau der Zentralisierung und stärkere Berücksichtigung der betrieblichen und „Konzernebene“ (VEB und VVB).195 Mit der Einführung des NÖSPL versuchte die zentrale Planungsbehörde eine Verkürzung der Informationswege innerhalb der zentralen Wirtschaftsverwaltung und eine straffere Lenkung des Produktionsapparats zu erreichen, um dadurch die Effektivität des Systems zu erhöhen.196

Die Ansätze zu dieser Reform lagen zum einen in den unübersehbaren Problemen der bisher praktizierten Form der immer noch stark von der „Tonnenideologie“ geprägten Planung und in den seit 1959 deutlich rückläufigen Wirtschaftswachstumsraten, zum anderen in den Diskussionen, die der sowjetische Ökonom Liberman mit seinem Artikel „Plan – Gewinn – Prämie“ in der Prawda vom 9. September 1962 auslöste. NÖSPL bedeutete einen tiefen Einschnitt in der Wirtschaftsentwicklung der DDR, den die bedeutendsten Protagonisten der Reform, Erich Apel und Günter 193 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DDR-Handbuch, Band 1 (wie Anm. 191), S. 593 f. 194 Vgl. auch André Steiner, Die DDR-Wirtschaftsreform der sechziger Jahre. Konflikt zwischen Effizienz- und Machtkalkül, Berlin 1999. 195 Peter Mitzscherling (Hrsg.), DDR-Wirtschaft. Eine Bestandsaufnahme, Frankfurt a.M. 1971, S. 58 ff. 196 Herwig Haase, Das Wirtschaftssystem der DDR, 2. Auflage, Berlin 1990.

A. Rahmenbedingungen

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Mittag so formulierten: „Bei der Verwirklichung des neuen ökonomischen Systems der Planung und Leitung der Volkswirtschaft geht es auch darum, die Planung von oben bis unten, entsprechend den neuen Anforderungen, grundsätzlich umzugestalten.“197 Die Orientierung an neuen Wertkennziffern statt an der Bruttoproduktion, um mehr wirtschaftliche, qualitative und umweltbezogene Kriterien berücksichtigen zu können, sollte die Rentabilität sichern sowie Materialverschwendung beseitigen. Der nicht am Markt ermittelte, sondern ,festgesetzte‘ Preis wurde damit zu einer zentralen Rechengröße für eine „wirtschaftliche Rechnungsführung“. Ein differenziertes Prämiensystem sollte die Leiter und Werktätigen unmittelbar für die Produktionssteigerung interessieren.

bb) Erfolg von NÖSPL Die Umsetzung des NÖSPL bescherte der DDR-Volkswirtschaft in den folgenden Jahren Erfolge, die zur Stabilisierung des politischen Systems ebenso beitrugen wie zur Akzeptanz bei der Bevölkerung. Das Nationaleinkommen stieg 1964 und 1965 jeweils um 5%, die Arbeitsproduktivität 1964 um 7% und 1965 um 6%. Das Bruttoeinkommen von Arbeitern und Angestellten erhöhte sich 1964 / 65 um 4%, die Versorgung der Bevölkerung mit langlebigen Konsumgütern verbesserte sich. Im Jahre 1966 besaßen von 100 Haushalten in der DDR 9 einen PKW (1955: 0,2), 54 ein Fernsehgerät (1955: 1), 32 eine Waschmaschine (1955: 0,5) und 31 eine Kühlschrank (1955: 0,4).198 Eine wichtige Vorbedingung für das funktionieren von NÖSPL war die von 1964 bis 1967 etappenweise durchgeführte Industriepreisreform, durch die kostengerechte Preise angestrebt wurden. Bis dahin hatten z. B. die Preise für Rohstoffe wie Kohle, Gas, Elektroenergie, Holz und Eisen nur 45 bis 60% der tatsächlichen Erzeugungskosten betragen und die Differenz war durch staatliche Subventionen ausgeglichen worden.199 Die von Ulbricht vor dem ZK im April 1965 geäußerte Auffassung, dass Politik nicht die „Kunst des Möglichen“, sondern die „Wissenschaft des Notwendigen“ sei, stellte aber die Dezentralisierungsansätze von NÖSPL in Frage. Wenn wirtschaftliche Prozesse wissenschaftlich zu steuern waren, musste die Steigerung von oben ausgehen und möglichst einheitlich ausfallen. Insofern war es konsequent, wenn der VII. Parteitag (1967), der ganz im Zeichen der Wirtschaftsdiskussion stand, mit der Modifikation der Reform durch verbesserte technische Planung auch eine gewisse Rezentralisierung der wichtigsten Entscheidungen verband. „Struk197 Ernst Apel / Günter Mittag, Planmäßige Wirtschaftsführung und ökonomische Hebel, 2. Aufl. Berlin (Ost) 1965, S. 9. 198 Hermann Weber, Die DDR 1945 – 1990 (wie Anm. 179), S. 64 f. 199 Peter Mitzscherling (Hrsg.), DDR-Wirtschaft (wie Anm. 195), S. 58 ff.

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Kap. 2: Historische Einführung

turpolitik“ im Sinne der SED bedeutete jetzt wieder eine stärkere Anbindung der wichtigsten Wachstumsbranchen an die Entscheidungen der Zentrale und damit praktisch die Entwicklung der Wachstumsindustrie aus dem reformierten Planungssystem. cc) Über ÖSS zu ESS Daraus ergaben sich krisenhafte Verzerrungen des Wirtschaftswachstums, die sich bereits 1970 zeigten und zu einer erneuten Zentralisierung der Wirtschaftsplanung und faktisch zum Abbruch des NÖSPL führten. Das modifizierte „ökonomische System des Sozialismus “ (ÖSS) von 1967 bedeutet aber zunächst keineswegs den Rückweg in die alte Planungsstruktur der 50er Jahre. Wirtschaftsplanung sollte hier vielmehr den Kern für eine die Gesamtgesellschaft umfassende Planung im Zeichen des „entwickelten Systems des Sozialismus“ (ESS) abgeben. Der VI. Parteitag hatte darüber hinaus für den Zeitraum von 1964 bis 1970 einen Siebenjahresplan angekündigt, der den abgebrochenen ersten Siebenjahresplan (1959 bis 1965) ersetzen sollte. Die Vorbereitungen dazu waren noch nicht bis zur Entscheidungsreife gediehen, als 1965 die UdSSR ihre Wirtschaft wieder auf einen fünfjährigen Planrhythmus umstellte und sich das ZK der SED diesem Beschluss im Dezember 1965 anpasste. Formal schloss damit der neue Perspektivplan bis 1970 an den zweiten Siebenjahresplan an, de facto aber blieben die Jahre 1963 bis 1966 ohne ausgearbeiteten Langzeitplan. 200

h) Honeckers Konsumpolitik Der Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker bedeutete auch eine Neuorientierung in der Wirtschaftspolitik.201 Honecker proklamierte seine Strategie von der „Einheit der Wirtschafts- und Sozialpolitik“ schon auf VIII. Parteitag 1971: „Die Hauptaufgabe . . . besteht in der weiteren Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus des Volkes auf der Grundlage eines hohen Entwicklungstempos der sozialistischen Produktion und des Wachstums der Arbeitsproduktivität.“202 Mit 200 Rolf Badstübner (Leiter des Autorenkollektivs), Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin (Ost) 1981, S. 273 f., S. 289. 201 Hermann Weber, Die DDR 1945 – 1990 (wie Anm. 179), S. 80 ff.; Klaus Schroeder, Der SED-Staat (wie Anm. 178), S. 219 ff.; Christoph Boyer / Peter Skyba, Sozial- und Konsumpolitik als Stabilisierungsstrategie. Zur Genese der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ in der DDR, in: DA 1999, S. 577 – 590; Hans-Hermann Hertle, Der Weg in den Bankrott der DDR-Wirtschaft. Das Scheitern der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ am Beispiel der Schürer / Mittag-Kontroverse im Politbüro 1988, in: DA 1992, S. 127 – 145. 202 Erich Honecker (Berichterstatter), Bericht des Zentralkomitees an den VIII. Parteitag der SED, Berlin 1971, S. 38; darauf wurde auch in der juristischen Literatur häufig Bezug genommen: vgl. nur Claus J. Kreutzer, Die rechtliche Gestaltung der Versorgungspflichten

B. Das Zivil- und Zivilprozessrecht

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der Erhöhung des Lebensstandards sollte zum einen die Motivation zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität gesteigert und zum anderen die Machtposition der SED gefestigt werden.203 Dabei sollten auch die Bedürfnisse der Bevölkerung stärkere Beachtung finden.204 Die Steigerung des Lebensstandards vollzog sich besonders durch die Wohnungsbauprogramme und die Verbesserung des Warenangebotes.205

B. Das Zivil- und Zivilprozessrecht I. Konflikttheoretischer Ansatz Wo Menschen zusammen leben, entstehen Konflikte. Die Gesellschaften unterscheiden sich dadurch, dass sie die Art und Weise, wie die Konflikte ausgetragen werden und den Prozess der Konfliktvermeidung jeweils anders organisieren. Das Bedürfnis, sich von der Wirtschafts- und Herrschaftssphäre anderer abzugrenzen bzw. seine eigene Sphäre auszudehnen, gehört zur Natur des Menschen. Es soll hier nicht von Ansätzen der Aufklärungszeit oder des 19. Jahrhunderts die Rede sein. So banal die Feststellung ist, dass jede Gesellschaft ein bestimmtes Konfliktpotenzial birgt, so schwierig ist es doch im Detail nachzuverfolgen, wie diese Gesellschaft (und der Staat, in dem sie existiert) die Bearbeitung der Konflikte zulässt. Ob ein Konflikt als psychisches Problem, als moralischer Konflikt, als Rechtsfrage oder als theologische Diskussion begriffen wird, hängt von der gesellschaftlichen Einordnung ab. Wenn die Konflikte als Rechtsprobleme begriffen werden, so organisiert jede Gesellschaft es selbst, ob sie – in heutiger Terminologie – als privat-, strafrechtliche oder öffentlich-rechtliche bearbeitet werden. Diese Unterder Einzelhandelsbetriebe gegenüber der Bevölkerung, in: NJ 1973, S. 187 – 190; Hans Reinwarth (Leiter des Autorenkollektivs), Zu wesentlichen Ursachen und Bedingungen von Zivilrechtskonflikten und sich daraus ergebenden Schlußfolgerungen für die Vervollkommnung der staatlichen Leitung und Planung (= Aktuelle Beiträge der Staats- und Rechtswissenschaft, Bd. 139), Potsdam-Babelsberg 1976, S. 81. 203 Jörg Roesler, Ostdeutsche Wirtschaft im Umbruch 1970 – 2000, Bonn 2003, S. 15 – 21; Helmut Jenkis, Die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik – das Scheitern von Erich Honecker, in: Heiner Timmermann (Hrsg.), Die DDR – Erinnerungen an einen untergegangenen Staat (= Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen, Bd. 88), Berlin 1999, S. 63 – 90. 204 Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971 -1989, 2. Auflage, Bonn 1999, S. 87. 205 Helmut Jenkis, Die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik (wie Anm. 203), S. 76; so auch Manfred Mühlmann, Die Ursachen- und Konfliktforschung in der Zivilprozessrechtswissenschaft der DDR, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. III (= Zeitgeschichtliche Forschungen Bd. 2 / 3), Berlin 2001, S. 76.

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suchung geht davon aus, dass Gesellschaften, die auf einer gleichen wirtschaftlichen und sozialen Stufe stehen, im Wesentlichen auch eine vergleichbare Zahl von Konflikten entwickeln werden, die gelöst werden müssen. Normgeleitete Gesellschaften versuchen – zumal wenn sie Rechtsstaaten sind oder sich als solche deklarieren – diese Konflikte zu antizipieren und zu vermeiden bzw. sie so zu kanalisieren, dass es nicht zu einer Gefährdung der jeweiligen Gesellschaftsform kommt. Jede Gesellschaft hat also gewisse Auffassungen davon, worüber man legitimerweise streiten darf und in welcher Form dieser Streit abläuft. So ist es für eine kapitalistische Warenverkehrsgesellschaft selbstverständlich, dass die heftigen Auseinandersetzungen – nicht selten mit dem Ziel einen Konkurrenten aus dem Markt zu drängen – legitim sind, wenn sie nur nicht gegen das Wettbewerbsrecht und das Kartellrecht verstoßen. Das ist zum Teil im bürgerlichen Recht, zum Teil im Strafrecht und natürlich in den Grundrechten erklärt. Die DDR stellte kraft ihres Selbstverständnisses als sozialistischer Staat bestimmte Auseinandersetzungen von vornherein als illegitim dar. Dazu zählten alle Formen der Kritik oder gar des materiellen Angriffs auf sozialistisches Eigentum, auf die Gesellschaftsform der DDR etc. Es liegt auf der Hand, dass eine freiheitliche und demokratische Gesellschaft, zumal eine kapitalistische, eine wesentlich größere Zahl von Konflikten zulässt und die Konfliktaustragung sowohl im gesellschaftlichen Bereich, in der Politik, in der Wirtschaft, aber auch im rechtlichen Bereich als völlig legitim angesehen wird. Sanktioniert werden bestimmte Mittel der Konfliktaustragung (Gewalt) und man geht von einem gewissen Grundkonsens in Bezug auf unsere Verfassung aus (wehrhafte Verfassung, freiheitlich-demokratische Grundordnung), wo bestimmte Formen der Auseinandersetzung als rechtswidrig und illegitim gelten. Das hier etwas pauschal skizzierte Bild wird natürlich konkreter, sobald es um die Durchsetzung von (zumeist subjektiven) Rechten im Wege des Zivilprozesses geht. Die entscheidende Differenz zwischen den Konflikten in der DDR, auch denen, die im Wege des Zivilprozesses ausgetragen wurden und denen in der Bundesrepublik liegt darin, dass die Konfliktaustragung in der Bundesrepublik – und in anderen freiheitlichen Staaten – als legitim und rechtens angesehen wird, während die DDR den Bereich der legitimen Konflikte gewissermaßen stark limitierte. Eine Auseinandersetzung etwa darüber, ob die Ausreisewilligen am Ende der DDR zu Recht ihre Arbeit verloren hatten, durfte nicht stattfinden. Konsequent dekretierte man, dass die Prozesse nicht zu entscheiden seien. Eine Auseinandersetzung über die Frage, ob die Enteignungen zum Teil ohne Entschädigungen rechtens gewesen seien, wurde weder im Wege des Verwaltungs- noch in dem des Zivilrechts durchgeführt. Die Wissenschaftler der DDR erkannten das selbstverständlich. Sie waren aber im Rahmen des Marxismus-Leninismus an bestimmte Vorgaben gebunden, und das zugrunde liegende Problem wurde – wenngleich in anderer Terminologie – durchaus diskutiert. Diese Diskussion war natürlich nicht neutral und wissen-

B. Das Zivil- und Zivilprozessrecht

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schaftlich, d. h. ergebnisoffen, sondern man ging von den Interpretationen der Klassiker aus und fühlte sich an die Ideologie gebunden. In der Ideologie – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – waren Konflikte zwischen Bürgern und dem Staat sowie Bürgern untereinander eher illegitim, zurückzudrängen und gewissermaßen ein Überbleibsel aus kapitalistischen Zeiten. Die sozialistische Moral erforderte gebieterisch die freiwillige Erfüllung sämtlicher (auch rechtlicher) Verpflichtungen. Der sozialistische Mensch stritt sich nicht. In den achtziger Jahren findet sich in der Rechtstheorie der DDR eine auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus aufgebaute Konflikttheorie. Es liegt nahe, hier den Grundstein für das zivilprozessuale Konfliktmodell der DDR zu suchen. Als Grundlage kommt die sozialistische Konflikttheorie dabei gleichermaßen in historischer Perspektive als ideologischer Kausalfaktor für die Entwicklung des DDR-Zivilprozesses in Betracht, wie als soziologisches Erklärungsmodell für die Konfliktaustragung in sozialistisch geprägten Gesellschaften wie der DDR. Beide Aspekte wurden während des Projekts wiederholt debattiert und sollen nachfolgend kurz beleuchtet werden. Insbesondere für den historischen Befund lässt der momentane Forschungstand jedoch nur eine erste Annäherung zu.

1. Marxistisch-leninistische Konflikttheorie Der Sozialismus als Übergangsphänomen würde, so sah Karl Marx voraus, durch die Umwälzung der Eigentumsordnung und die hieraus resultierende Beseitigung der antagonistischen Klassengegensätze zu einem langsamen Absterben des Staates und des Rechts führen. Der Kommunismus sollte frei von rechtlich zu ordnenden Spannungen sein, für die „Menschen im Kommunismus. . .wird die Einhaltung der Regeln des menschlichen Zusammenlebens zur Gewohnheit, zur zweiten Natur“.206 Schon im Ausgangspunkt stellten sich soziale Konflikte daher als Übergangsphänomen dar. Konflikte waren damit eng an ideologische Kernaussagen gebunden. Zwar konnte die eigentliche Ursache mit Marx‘ Diktum von den „Muttermalen der alten Gesellschaft“207 als Überbleibsel aus vorsozialistischer Zeit gewertet werden, doch war eine stete Zurückdrängung der Konflikte Pflicht. Die Zunahme von Konflikten konnte aus dieser Perspektive auf die mit Erkenntnismonopol und diktatorischen Vollmachten ausgestattete Partei zurückstrahlen und als ein Zurückbleiben der gesellschaftlichen Entwicklung gedeutet werden. Insofern entfaltete die erkenntnistheoretische Grundlage des dialektischen Materialismus, das „Sein“ bestimmt das „Bewusstsein“, einen Handlungsauftrag an die herrschende 206 Rudolf Herold (wiss. Kontrollredaktion), Grundlagen des Marxismus-Leninismus, 6. Auflage, Berlin (Ost) 1963, S. 856 f. 207 Karl Marx / Friedrich Engels, Kritik des Gothaer Programms, mit Schriften und Briefen von Marx, Engels und Lenin zu den Programmen der deutschen Sozialdemokratie mit Programmdokumenten im Anhang, 8. Aufl., Berlin (Ost) 1978.

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Kap. 2: Historische Einführung

Partei. Gleichzeitig konnte der Rückgang und die Vermeidung von Konflikten positiv als Ergebnis des Fortschreitens des Sozialismus gewertet werden. Im Gegensatz zu diesen politisch-gesellschaftlichen Konfliktursachen stellte, wie Dahlmann herausgearbeitet hat,208 die marxistisch-leninistische Philosophie und Rechtstheorie der siebziger und achtziger Jahre jedoch subjektive Konfliktursachen, also ein Zurückbleiben des gesellschaftlichen Bewusstseins des Bürgers in den Vordergrund. Konflikte dienen in dieser Perspektive der Anpassung des individuellen Bewusstseins an die gesellschaftlichen Anforderungen durch Erziehung oder Selbsterkenntnis und Einsicht. Der Verdacht liegt dabei nahe, dass es ideologischer Druck war, der zu einer Bevorzugung individueller Konfliktursachen gegenüber den zur politischen Handlung auffordernden gesellschaftlichen Ursachen führte. Für das Recht bedeutet ein solches Konfliktverständnis, dass die Erziehung und Einsicht des rechtssuchenden Bürgers in den Mittelpunkt des Zivilprozesses tritt. Es geht nun nicht um eine gewaltfreie, obrigkeitlich geregelte Austragung des Konflikts, sondern um eine konfliktlösende Einwirkung auf die Psyche, das Bewusstsein des durch sich selbst fehlgeleiteten Bürgers. Zwanglos lassen sich damit typische Eigenheiten des DDR-Zivilprozesses erklären. Dies gilt etwa für die Erkenntnis der objektiven Wahrheit, den sich in den Verhandlungen „vor erweiterter Öffentlichkeit“ offenbarenden Erziehungsaufgaben oder dem im Projekt festgestellten „patriarchalisch-fürsorglichen“ Verhandlungsstil. Das marxistisch-leninistische Konfliktverständnis scheint somit als Modell zur Erklärung zivilprozessualer Spezifika in der DDR geeignet.

2. Historischer Befund Als Ausgangspunkt zivilprozessualer und materiell zivilrechtlicher Neuerungen tauchen konflikttheoretische Modelle in der Rechtsgeschichte der DDR dennoch nur am Rande auf. Dies gilt mit der Einschränkung, dass das gesamte marxistischleninistische Rechtsverständnis natürlich eng mit einem spezifischen Konfliktverständnis verknüpft ist und die ideologischen Grundlagen bei allen Veränderungen mit im Spiel waren. Dennoch erscheint die Entwicklung des Zivil- und Zivilprozessrechts in der DDR nicht als langsame Harmonisierung mit einem feststehenden konflikttheoretischen Modell. Ein solches scheint in ausgearbeiteter Form vielmehr erst ab den sechziger, deutlich erst in den siebziger und achtziger Jahren zu existieren. Gleichzeitig scheint ein direkter Einfluss konflikttheoretischer Überlegungen insbesondere auf die Ausgestaltung des Zivilverfahrens bereits in den siebziger Jahren stark abgenommen zu haben. Auch der Zivilprozess wurde daher wohl eher durch die wechselnden politischen Rahmenlagen mit den großen Daten, etwa 208 Ulf Dahlmann, Konflikte in der DDR-Zivilrechtstheorie, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 26), S. 449 – 478.

B. Das Zivil- und Zivilprozessrecht

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1953, 1958, 1961 – 1963 usf. beeinflusst. Manches, wie etwa der „Neue Arbeitsstil“209 erscheint geradezu kampagnenartig den Zivilprozess geprägt zu haben. Unter dieser Einschränkung werden nachfolgend einige Verbindungspunkte zwischen theoretischen Überlegungen zur Bedeutung von Konflikten im Zivil- und Zivilprozessrecht der DDR gezogen.

a) Die Erziehungsfunktion des Zivilrechts In den fünfziger Jahren führte Stalins Betonung der „aktiven Kraft des Überbaus“210 auch zur Betonung einer Erziehungsaufgabe des Rechts. Neben die Durchsetzung der materiellen gesellschaftlichen Bedingungen des Seins, etwa durch den Schutz des Volkseigentums, trat eine eigenständige ideologische Einflussnahme auf das Bewusstsein. Auch die Aufgabe des Zivilrechts und der Zivilgerichte war damit bereits im Ausgangspunkt neu formuliert. Eine solche Erziehungsfunktion war offensichtlich in Gefahr an der Realität vorbeizulaufen und ihr Ziel zu verfehlen, wenn sie ohne nähere Analyse der vor den Gerichten ausgetragenen Konflikte erfolgte. Dennoch beschränkte sich die Analyse zunächst auf den Versuch, rein zahlenmäßig einen Rückgang der gerichtlich sanktionierten Rechtsverletzungen zu belegen. In den frühen fünfziger Jahren stand noch Stalins Forderung im Zentrum, gegen die Einflussnahmen des Kapitalismus „immer unser Pulver trocken [zu] halten“.211 Zitiert wurde Lenin, demzufolge das Gericht „ein Werkzeug der Erziehung zur Disziplin“212 sein sollte. Im Mittelpunkt der Erörterungen stand dabei eindeutig das Strafrecht.213 Für das Zivilrecht blieben Forderungen wie die Gerhard Görners im Jahr 1953, der die Verbindung von Überzeugung und Zwang in der Erziehungsarbeit der Gerichte forderte,214 zunächst selten.

209 Dazu Boris Alexander Braczyk, Rechtsgrund und Grundrecht: Grundlegung einer systematischen Grundrechtstheorie, Berlin 1996. 210 Rainer Schröder, Marxismus und Recht am Beispiel des Zivilrechts der DDR, in: FS Karl Kroeschell (wie Anm. 16), S. 1155 ff. 211 Josif Vissarionovic Stalin, Fragen des Leninismus, Berlin 1950, S. 564 f. 212 Wladimir Iljitsch Lenin, Ausgewählte Werke: in zwei Bänden, Bd. 2, Berlin 1952, S. 382. 213 Vgl. hierzu Christian Mahlmann, Die Strafrechtswissenschaft der DDR. Klassenkampftheorie und Verbrechenslehre (= Rechtshistorische Reihe, Bd. 257), Frankfurt a.M. 2002. 214 Gerhard Görner, Die erzieherische Rolle der Gerichte bei der Behandlung von Zivilsachen und Familiensachen, in: NJ 1953, S. 271 ff.

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Kap. 2: Historische Einführung

b) Der Ansatz Schüsselers Erst im Umfeld der Babelsberger Konferenz, die ein Zurückbleiben in bürgerlichen Rechtsvorstellungen für das Zivilrecht bemängelte,215 erschien 1958 mit der Arbeit Schüsselers ,Die Rechtsverletzungen im sozialistischen Staat und ihre Bekämpfung‘, der erste Versuch, „in zusammenfassender Darstellung einen kurzen Abriss der allgemeinen Problematik der Rechtsverletzungen im sozialistischen Staat zu geben“.216 Schüsseler beanspruchte zivilrechtliche und strafrechtliche Konflikte unter einer Theorie erfassen zu können.217 Ausgangspunkt war dabei der Aspekt der Rechtsverletzung, also eine typisch strafrechtliche Perspektive. Nur unter dem Aspekt geringer privatautonomer Regelungsautonomie der Privatrechtssubjekte im Sozialismus ließ sich auch das Zivilrecht hierunter fassen. Im Mittelpunkt des Ansatzes, der westlichen soziologischen Theorien abweichenden Verhaltens ähnelte218, stand aber wohl das Strafrecht. Schüsseler unterschied vier Möglichkeiten für das Auftreten von Rechtsverletzungen im Sozialismus, von denen die beiden nachfolgenden den Grundstein für die späteren Überlegungen zu einer sozialistischen Konflikttheorie enthielten. Rechtsverletzungen seien möglich als: aa) Auseinanderfallen von gesetzlich manifestierten Durchschnittsinteressen der herrschenden Klasse („Gesamtinteresse“) und Interessen anderer sozialer Gruppen.219 Durch die Entwicklung des Sozialismus würden diese Interessengegensätze zunehmend eingeengt. Im fortgeschrittenen Sozialismus führe die Beseitigung des Privateigentums an den Produktionsmitteln und der Ausbeutung zur Übereinstimmung der Grundinteressen aller Klassen und Schichten. Die verbleibenden gegensätzlichen Tendenzen würden nicht mehr auf Gruppenebene ausgetragen, sondern als Ausdruck eines Konflikts zurückgebliebener Individualinteressen mit dem Gesamtinteresse. 215 Hierzu Ulrich Bernhardt, Die Deutsche Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft „Walter Ulbricht“ (wie Anm. 23), S. 118 ff.; Jörn Eckert / Hans Hattenhauer (Hrsg.), Das Zivilgesetzbuch der DDR vom 19. Juni 1975 (wie Anm. 167); zu den Folgen der Babelsberger Konferenz Hans-Andreas Schönfeldt, Zur Geschichte der Rechtswissenschaft in der SBZ / DDR von 1945 – 1960. Eine Skizze, in: Heinz Mohnhaupt / Hans-Andreas Schönfeldt (Hrsg.), Normdurchsetzung in osteuropäischen Nachkriegsgesellschaften (1944 – 1989), Bd. 1: Sowjetische Besatzungszone in Deutschland – DDR (1945 – 1960) (= Ius Commune, Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 96), Frankfurt a.M. 1997, S. 189, 280 ff. 216 Rolf Schüsseler, Die Rechtsverletzungen im sozialistischen Staat und ihre Bekämpfung, Berlin (Ost) 1958, S. 5. 217 Rolf Schüsseler, ebenda, S. 5. 218 Hierzu Thomas Kilian, Die Erforschung von Ursachen von Zivilrechtskonflikten in der DDR. Hinweise zur Entstehung und zum Umgang mit Konflikten, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 26), S. 493 ff. 219 Rolf Schüsseler (wie Anm. 216), S. 120 f.

B. Das Zivil- und Zivilprozessrecht

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bb) Auseinanderfallen von Gesamtinteresse und Individualinteressen, der damit häufigsten Gruppe eines Interessengegensatzes.220 Mit dem vorläufigen Verbleiben von Ware und Geld, Leistungsprinzip statt Bedürfnisprinzip und damit verbundenen Resten von Ungleichheit bleibe im Sozialismus ein gewisser Egoismus vorhanden und damit Reste des „engen bürgerlichen Rechtshorizontes“. Als Kausalfaktoren für diese Möglichkeiten des Auftretens von Rechtsverletzungen verwies Schüsseler auf individuelle (ideologische) und gesellschaftliche (materielle) Ursachen. Ausgangspunkt war das Bewusstsein des Rechtsverletzers. Dieses sei jedoch „aus den Widersprüchen des materiellen Lebens“ zu erklären.221 Grundsätzlich kamen als Ursachen gleichermaßen gesellschaftliche Entwicklungshemmnisse und individuell-ideologische Rückständigkeit des Einzelnen in Betracht. Die Untersuchung Schüsselers zeigte damit erstmals die politische Brisanz unter der die Konfliktursachenforschung auch später stand. Die gewonnenen Ergebnisse konnten gleichermaßen auf individuelle Rückständigkeiten der untersuchten Individuen und auf eine verstärkte ideologische Erziehungsarbeit verweisen, wie auf Versäumnisse der Partei als Organisatorin des gesellschaftlichen Wandels. Schüsseler begrenzte diese letztere Gefahr vor allem durch zum Dogma erhobene Aussagen, wie z. B.: – Im Sozialismus sei durch die Identität der Interessen der Arbeiterklasse mit den objektiven Gesamtinteressen ein konfliktauslösender Widerspruch zwischen Recht und Politik ausgeschlossen.222

90.000 80.000 70.000 60.000 50.000 40.000 30.000 20.000 10.000 0 1956 1958 1959 1961 1963 1965 1967 1969 1971 1972

Grafik 2.1: Zivilrechtsklagen in der DDR nach Jahren

220 221 222

Rolf Schüsseler (wie Anm. 216), S. 121 f. Rolf Schüsseler (wie Anm. 216), S. 148 mit Verweis auf Lenin, Staat und Revolution. Rolf Schüsseler (wie Anm. 216), S. 123 f.

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Kap. 2: Historische Einführung

– Die Rechtsverletzungen im Sozialismus seien Ausdruck objektiver Wachstumsschwierigkeiten, nicht jedoch von Verfallstendenzen. Dies erweise sich dadurch, dass Rechtsverletzungen im Sozialismus generell eine stark fallende Tendenz hätten, wie Schüsseler anhand von Statistiken nachzuweisen suchte.223

3. Kietz und Mühlmann Die Betrachtung der Konflikte über den Umweg dessen, was bei der Justiz als Rechtsstreitigkeiten ankam, hat in Deutschland eine lange Tradition. Fast alle Gesetzgebungswerke des 19. Jahrhunderts waren von umfangreichen empirischen Fragen und Studien begleitet. Freilich wandte man224 eine andere Art von Empirie an, als sie uns heute aus der Soziologie vertraut ist. Man fragte nämlich bei den Gerichten an, ob und ggf. welche Rechtsstreitigkeiten es über Fragen gab, die man regeln wollte. So fragte etwa das Reichsjustizamt im Zuge der BGB-Redaktion bei den Oberlandesgerichten an, wie in dieser oder jener Frage verfahren werde, welche Probleme durch eine bestimmte rechtliche Konstellation ausgelöst würden etc. So waren die Preußen mit ihrem ALR und seinen Revisionen verfahren und fast alle größeren Gesetzgebungsprojekte waren – wie sich aus den Akten zeigt – von derartigen Fragestellungen begleitet worden. Solche Ansätze sind nicht nur historisch hoch spannend. Denn man kann mit gutem Recht die These vertreten, dass wenn eine Gerechtigkeitslücke in einer Gesellschaft vorhanden ist, diese sich in irgendeiner Form von justizförmigem Verfahren zeigen wird, sei es im Bereich des Straf-, Zivil- oder öffentlichen Rechts.225 Im Grunde verfolgten zwei bedeutende Autoren der DDR, Kietz und Mühlmann, einen ähnlichen Ansatz. Mit der Zunahme soziologischer Konfliktforschungen in den sechziger Jahren im Westen226 gelang auch in der DDR die Etablierung einer eigenständigen Konfliktursachenforschung auf dem Gebiet des Zivilrechts. Grundlegend waren dabei die Arbeiten von Herbert Kietz und Manfred Mühlmann,227 die bereits damals im Rolf Schüsseler (wie Anm. 216), S. 153. Eine Ausnahme bildete das GmbH-Gesetz mit einer empirischen Umfrage bei den Kaufleuten, vgl. Jutta Limbach, Theorie und Wirklichkeit der GmbH. Die empirischen Normaltypen der GmbH und ihr Verhältnis zum Postulat von Herrschaft und Haftung (= Schriftenreihe des Instituts für Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung an der Freien Universität Berlin, Bd. 2), Berlin 1966. 225 Abzahlungsgesetz von 1896 als Beispiel, vgl. Werner Schubert, Die Entstehungsgeschichte des Handelsgesetzbuchs vom 10. Mai 1897, in: ders. / Burkhard Schmiedel / Christoph Krampe (Hrsg.), Quellen zum Handelsgesetzbuch von 1897, Bd. 1: Gesetze und Entwürfe, Frankfurt a.M. 1986, S. 1 – 30. 226 Die Zusammenhänge betont Manfred Mühlmann, Die Ursachen- und Konfliktforschung in der Zivilprozessrechtswissenschaft der DDR, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. III (wie Anm. 205), S. 65 – 78. 223 224

B. Das Zivil- und Zivilprozessrecht

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Westen aufmerksam verfolgt wurden.228 Zunehmend geriet damit das Zivilrecht in den Blick und es wurde anerkannt, dass auch hier auftretende Widersprüche „materielle und bewusstseinsmäßige Auswirkungen von teilweise erheblichen Ausmaßen“ erzeugen können.229 Wie bereits bei der Arbeit Schüsselers, so fällt auch hier auf, dass nicht nur die ideologisch unproblematischeren subjektiven Konfliktursachen untersucht, sondern durchaus objektive Ursachen betont werden. Zwar galt weiterhin, dass antagonistische Klassenkonflikte durch die Errichtung der sozialistischen Gesellschaft überwunden seien. Unter dieser Stufe wurde aber durchaus die Aufgabe formuliert, Konflikte zu überwinden, „die sich in bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen objektivieren“.230 Derart objektive Konfliktursachen konnten nach Kietz / Mühlmann vor allem in einem Auseinanderfallen zwischen Rechtsnorm oder Rechtsprechung und den objektiven Gesetzmäßigkeiten gefunden werden,231 woraus insbesondere auch die Forderung nach der Schaffung eines eigenständigen sozialistischen Zivil- und Zivilprozessrechts Nahrung bekam. Weitergehend nannten Kietz / Mühlmann als Konfliktursache bei „Alltagsversorgungsverträgen“ aber auch das „Zurückbleiben hinter den gesellschaftlichen Erfordernissen, die optimale Befriedigung des Bedarfs auf der Grundlage des Leistungsprinzips zu gewährleisten“.232 Rückblickend betont dennoch auch Mühlmann, dass „als Ursachen konflikterzeugenden Verhaltens vor allem subjektiv bedingte Mängel gesehen und analysiert wurden. Deren Ursachen blieben unzulänglich hinterfragt. Ich erkläre diesen Umstand damit, dass es ideologisch und politisch bedingte Hemmungen gegeben hat, Konfliktursachen mit wissenschaftlicher Konsequenz bis auf das in der DDR verwirklichte gesellschaftliche Konzept zurückzuführen“.233 Im Mittelpunkt der Konfliktursachen stand damit nicht ausschließlich das rückständige Bewusstsein der konfliktaustragenden Bürger. Im Anschluss an strafrecht227 Herbert Kietz / Manfred Mühlmann, Die Erziehungsaufgaben im Zivilprozess und die Rolle der gerichtlichen Entscheidung, Berlin (Ost) 1962; Hermann Eildermann / Manfred Mühlmann, Die Erforschung von Ursachen von Rechtsverletzungen im Zivilprozess, in: NJ 1963, S. 206 ff.; Manfred Mühlmann, Die Möglichkeiten der Rechtspflege zur Bekämpfung der Ursachen von Zivil- und Familienrechtskonflikten, in: StuR 1965, S. 1128 ff.; Herbert Kietz / Manfred Mühlmann, Konfliktursachen und Aufgaben der Zivil- und Familienrechtspflege, Berlin (Ost) 1969. 228 Ilse Bechtold, Der Kampf gegen Konfliktursachen in der Zivil- und Familienrechtspflege der DDR, Jahrbuch für Ostrecht 1970, S. 49 – 82. 229 Günther Lehmann / Hans Weber, Theoretische Grundfragen der sozialistischen Rechtspflege, in: NJ 1969, S. 606 – 615, insb. S. 611. 230 Günther Lehmann / Hans Weber, ebenda, S. 610. 231 Herbert Kietz / Manfred Mühlmann, Konfliktursachen und Aufgaben der Zivil- und Familienrechtspflege (wie Anm. 227), S. 154. 232 Herbert Kietz / Manfred Mühlmann, Konfliktursachen und Aufgaben der Zivil- und Familienrechtspflege (wie Anm. 227), S. 115 ff. 233 Manfred Mühlmann, Die Ursachen- und Konfliktforschung in der Zivilprozessrechtswissenschaft der DDR, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. III (wie Anm. 205), S. 65 – 78.

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Kap. 2: Historische Einführung

liche Überlegungen wurde die „individualistische Einstellung des Rechtsverletzers, die sich in gesellschaftswidrigen Denk- und Lebensgewohnheiten äußert“, als subjektive Ursache hervorgehoben. Nun galt es sich der Bürger anzunehmen, die zu fortgesetzten Pflichtverletzungen neigten, „häufig mit Arbeitsbummelei, Hang zu übermäßigem Alkoholgenuss u. ä. gepaart“.234 Damit rückten erneut „Argumente, Kritik, Empfehlungen und ähnliche Einwirkungsmöglichkeiten“235 in den Vordergrund. Diese im Kontext der DDR-Ideologie mutigen Ausführungen wurden von den Autoren auf der gesellschaftlich-staatlichen Ebene nicht vertieft. Dies hätte das Wirtschaftssystem der DDR zu stark in Frage gestellt und in einer Diktatur kann man Kritik nur bis zu einem bestimmten Punkt äußern. Kietz und Mühlmann blieben aber bei diesen Ausführungen nicht stehen, sondern sie setzten sich konkret mit den Folgerungen für das Prozessgeschehen auseinander. Grundsätzlich gelte: „Das Gericht kann seine Aufgabe aber nicht als erfüllt ansehen, wenn es ohne Rücksicht auf Verständnis und Einsicht der Beteiligten das zu fordernde Verhalten im Rechtsspruch fixiert“. Vielmehr sei anzustreben, „dass die Parteien den Konflikt mit gerichtlicher Hilfe selbst lösen“.236 Damit ergab sich eine Betonung von Vergleich, Anerkenntnis oder auch Klagerücknahme als Einsicht ausdrückende Prozessbeendigungsformen.237 Die Fixierung des Gerichts während des Prozessgeschehens auf die Ursachen des Konflikts238 führte bei Kietz und Mühlmann zu verstärkten Aufklärungspflichten des Gerichts,239 die insbesondere auch eine Mitwirkung staatlicher Organe einbezog240 und erhöhte Mitwirkungspflichten der Parteien241 und der Rechtsanwälte begründeten.242 Das Aufgabenfeld der Richter war kaum noch eingrenzbar, wenn die Autoren ausführten, das „klare Parteiergreifen für den Sozialismus“ erfordere auch eine Auseinandersetzung mit Auffassungen, „die nicht ursächlich für den zu behandelnden Konflikt sind, im Verlaufe des Verfahrens aber zum Ausdruck kommen und im Hinblick auf ihren Inhalt zu einer 234 Herbert Kietz / Manfred Mühlmann, Konfliktursachen und Aufgaben der Zivil- und Familienrechtspflege (wie Anm. 227), S. 89. 235 Manfred Mühlmann, Die Ursachen- und Konfliktforschung in der Zivilprozessrechtswissenschaft der DDR, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. III (wie Anm. 205), S. 67. 236 Herbert Kietz / Manfred Mühlmann, Konfliktursachen und Aufgaben der Zivil- und Familienrechtspflege (wie Anm. 227), S. 134. 237 Herbert Kietz / Manfred Mühlmann, Konfliktursachen und Aufgaben der Zivil- und Familienrechtspflege (wie Anm. 227), S. 134. 238 Zur veränderten Prozesskonzeption Herbert Kietz / Manfred Mühlmann, Konfliktursachen und Aufgaben der Zivil- und Familienrechtspflege (wie Anm. 227), S. 136 f. 239 Herbert Kietz / Manfred Mühlmann, Konfliktursachen und Aufgaben der Zivil- und Familienrechtspflege (wie Anm. 227), S. 157. 240 Herbert Kietz / Manfred Mühlmann, Konfliktursachen und Aufgaben der Zivil- und Familienrechtspflege (wie Anm. 227), S. 166 f. 241 Herbert Kietz / Manfred Mühlmann, Konfliktursachen und Aufgaben der Zivil- und Familienrechtspflege (wie Anm. 227), S. 161 f. 242 Herbert Kietz / Manfred Mühlmann, Konfliktursachen und Aufgaben der Zivil- und Familienrechtspflege (wie Anm. 227), S. 164 f.

B. Das Zivil- und Zivilprozessrecht

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derartigen Auseinandersetzung Anlass geben. Das kann z. B. das Auftreten vor Gericht oder das Verhalten eines Dritten – eines Zeugen – sein.“ Vor allem der Verfahrensaufwand führte daher auch schon bald dazu, dass die Konfliktursachenforschung ihren praktischen Einfluss einbüßte.243 Schon 1971 legte das Oberste Gericht fest, dass die Ursachen von Rechtskonflikten zwar festzustellen seien, aber die „Sachbezogenheit zu beachten sei“244. Der größere Verfahrensaufwand wurde schnell der Prozessverzögerung verdächtigt.245 Auch Kietz äußerte 1972: „Bei Eintritt der Entscheidungsreife oder bei sonstiger Erledigung ist eine Weiterverhandlung zur Ursachenermittlung laut Oberstem Gericht unstatthaft“.246 Schon Anfang der siebziger Jahre verlor die Konfliktursachenforschung damit ihren praktischen Einfluss auf die Rechtswirklichkeit in der DDR. Solchen praktischen Hinweisen liegt ein anderes prozessuales Leitbild zugrunde als das des Zivilprozesses der Reichszivilprozessordnung von 1877. Die Rolle des ohnedies amtsermittelnden Richters wurde verstärkt. Ihm wurde eine Fülle von wichtigen Aufgaben beigemessen, die nach „westlichem“ Verständnis nicht zu den Aufgaben des neutralen streitentscheidenden Richters gehören. So unbestreitbar es ist, dass Richterinnen und Richter Mängel im Recht und entsprechende Konflikte früh sehen, so wenig gehört es zu ihren Pflichten, diese abzustellen, außer sie sind im Einzelfall – in den vielen Einzelfällen – durch Rechtsanwendung hierzu in der Lage. So haben natürlich Richter in der Bundesrepublik das große Problem der Allgemeinen Geschäftsbedingungen erkannt und zu lösen versucht, ebenso die vielfältigen Schieflagen der Gerechtigkeit im Bereich des Miet- und Arbeitsrechts etc. Aber es war nie ihre Aufgabe, hier sich etwa aktiv mit den Unternehmen in Verbindung zu setzen, mit den Vermieterverbänden oder ähnliches. Der abstrakte Ansatz – wie gesagt verfolgt seit dem 19. Jahrhundert – bleibt für dieses Projekt dennoch interessant: Die vielfachen gesellschaftlichen Konflikte spiegeln sich eben (auch) in Zivilprozessen wider. Das Projekt dient nun dazu, diese Konfliktlagen durch Betrachtung der Prozesse aufzuschlüsseln. Es wird also ein „altes“ Erkenntnisziel verfolgt, dem auch die DDR-Konfliktforschung prinzipiell verpflichtet war. Das Projekt will natürlich darüber hinaus feststellen, wo die spezifische Differenz zwischen dem Zivilprozess in einer Diktatur und dem in einer freiheitlichen Demokratie liegt. Man kommt im Rahmen dieser Fragestellung nicht umhin zu fragen, welche Konflikte in einer Diktatur überhaupt zur Entscheidung durch Zivilgerichte zugelassen und welche von der Justiz ferngehalten wur243 Hierzu Thomas Kilian, Die Erforschung von Ursachen von Zivilrechtskonflikten in der DDR, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 26), S. 479 – 496. 244 Nach Hans Reinwarth (Leiter des Autorenkollektivs), Zu wesentlichen Ursachen und Bedingungen von Zivilrechtskonflikten (wie Anm. 202), S. 37. 245 Ilse Bechtold, Die Prozessprinzipien im Strafverfahren der DDR (= Rechtsvergleichende Untersuchungen zur gesamten Strafrechtswissenschaft, Bd. 37), Bonn 1967, S. 71. 246 Herbert Kietz / Walter Rudelt, Feststellung von Konfliktursachen im Zivil-, Arbeitsund LPG-Rechtsverfahren, in: NJ 1972, S. 535 f.

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Kap. 2: Historische Einführung

den. Insofern unterscheidet sich die Zielsetzung von der DDR-Konfliktforschung natürlich erheblich.

II. BGB, ZGB und ZPO 1. Fortgeltung des BGB Das BGB galt in der DDR zunächst fort. In der DDR war es ein ideologisch begründeter Wunsch, sich von dem Bürgerlichen Gesetzbuch abzusetzen und endgültig zu trennen.247 Das Zivilgesetzbuch der DDR (ZGB) trat aber erst 1976 in Kraft. Eckert fasste die Gründe für diese Verzögerung zusammen:248 Nach dem 17. Juni 1953 war das Projekt das erste Mal abgebrochen worden, da Ulbricht die Situation zur Festigung seiner Machtstellung in der SED ausnutzte und dabei auch den Justizminister Max Fechner absetzen, verhaften und durch Hilde Benjamin ersetzen ließ. Danach bremsten konzeptionelle Fragen, wie die nach der Einheit oder Trennung von Zivil- und Wirtschaftsrecht249 das Vorhaben. Hier sollte in möglichst großer Übereinstimmung mit dem Vorbild der Sowjetunion gehandelt werden, was zusätzliche Probleme aufwarf. Erst nachdem Honecker die Macht ergriffen hatte ˇ SSR mit der Trennung von Zivil- und Wirtschaftsrecht die Vorreiterrolle und die C in diesem Sonderweg eingenommen hatte, setzte sich auch in der DDR die letzte Phase im Gesetzgebungsprozess in Gang, die am 19. Juni 1975 zum Abschluss geführt wurde. Bis zur Inkraftsetzung des neuen ZGB behalf man sich zum einen damit, einzelne Regelungen oder ganze Abschnitte des BGB durch Verordnungen außer Kraft zu setzen oder durch Ausgliederungen neu zu regeln. Zum anderen war das BGB „nach den Grundsätzen der sozialistischen Gesetzlichkeit“ anzuwenden.250 Wie je247 Vgl. Gerhard Dilcher, Vom Bürgerlichen Gesetzbuch zu den „Rechtszweigen“ – Sozialistische Modernisierung oder Entdifferenzierung des Rechts?, in: ders. (Hrsg.), Rechtserfahrung DDR. Sozialistische Modernisierung oder Entrechtlichung der Gesellschaft?, Berlin 1997, S. 89 – 133, S. 93. 248 Jörn Eckert, Einleitende Bemerkungen zur Entstehungsgeschichte des ZGB der DDR, in: ders. / Hans Hattenhauer (Hrsg.), Das Zivilgesetzbuch der DDR vom 19. Juni 1975 (wie Anm. 167), S. 231 – 242; ausführlich: Marcus Flinder, Die Entstehungsgeschichte des Zivilgesetzbuches der DDR (= Rechtshistorische Reihe, Bd. 207), Frankfurt a.M. 1999. 249 Die Trennung von Zivil- und Wirtschaftsrecht war eine der zentralen wissenschaftlichen Fragen der DDR. Dazu Uwe-Jens Heuer (Hrsg.), Die Rechtsordnung der DDR. Anspruch und Wirklichkeit, Baden-Baden 1995, hierin im 1. Kapitel Uwe-Jens Heuer, Rechtsverständnis in der DDR, S. 60 und S. 67, sowie im 10. Kapitel Gerhard Pflicke / Erika Süß, Wirtschaftsrecht, S. 427 – 474, insb. S. 469. Zur Habilitationsschrift Uwe-Jens Heuers, die 1965 im Staatsverlag der DDR erschien, vgl. Dieter Segert, Mehr Demokratie und Effizienz – ein Jurist als Reformer: Uwe-Jens Heuer, in: Günter Krause (Hrsg.), Rechtliche Wirtschaftskontrolle in der Planökonomie (wie Anm. 165), S. 53 – 75.

B. Das Zivil- und Zivilprozessrecht

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des sich revolutionär verstehende System stand auch die DDR vor der Schwierigkeit, wie man mit dem alten (kapitalistischen) Recht umzugehen habe. Eine Fußnote der Geschichte ist, dass BGB-Textausgaben und erst recht Kommentare in der DDR bald Raritäten wurden: In der Erwartung des neuen ZGB wurden Nachdrucke vom Ministerium der Justiz nicht für notwendig gehalten. Es widerstrebte den Sozialisten wohl auch, wertvolle Ressourcen für dieses „bürgerliche Werk“ zu verwenden. Die Ausgliederungen aus dem BGB, das auch nach der Zerschlagung des Nationalsozialismus in der SBZ (und auch in der späteren DDR bis 1976) fortgalt, begannen mit einer Säuberung des BGB von nationalsozialistischen Bestimmungen.251 Damit erfüllte der Alliierte Kontrollrat mit seinem Kontrollratsgesetz Nr. 1 vom 26. September 1945 das Potsdamer Abkommen (Teil III A Nr. 4). Trotz der Umgestaltung und gezielten Neuorientierung der DDR hielt man ansonsten am BGB fest.252 Da es sich auch bei der DDR um eine warenproduzierende Gesellschaft handelte, schien das BGB mit seinem hohen Abstraktionsgrad eine rasche und radikale Neukodifikation des Zivilrechts entbehrlich zu machen.253 Begründet wurde die Weitergeltung des BGB damit, dass die alten Gesetze jetzt Recht „unseres Staates“ seien, weil sie durch diesen sanktioniert würden. Zumal sie durch die „neuen Aufgaben und Ziele unserer Ordnung eine grundlegende inhaltliche Änderung erfahren hätten. Jedes Rechtsinstitut, jedes Rechtsprinzip, jede Rechtsnorm dient immer den Bedürfnissen der herrschenden Klasse“.254 Wie schon nach dem ersten Weltkrieg vollzog sich auch nach 1945 die Gestaltung des Waren- und Dienstleistungsverkehrs im Wesentlichen außerhalb der Regeln des BGB. Dies betraf insbesondere die Mietverhältnisse, den Handel mit Konsumgütern (Schwarzhandel und durch VO reglementierter Markt) und die Beziehungen zwischen den Warenproduzenten.255 250 Dazu halfen neben den Beiträgen in der NJ Bücher aus der Reihe: Deutsches Institut für Rechtswissenschaft (Hrsg.), Das Zivilrecht der Deutschen Demokratischen Republik, etwa zum Sachenrecht oder zum Schuldrecht; zur Anwendung des BGB durch die Gerichte der DDR: Rainer Schröder, Zivilrechtsprechung in der DDR während der Geltung des BGB. Vorüberlegungen zu einem Forschungsprojekt mit vergleichender Betrachtung des Zivilrechts im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, in: Heinz Mohnhaupt / Dieter Simon (Hrsg.), Vorträge zur Justizforschung. Geschichte und Theorie, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1993, S. 527 – 580, insb. S. 563 – 578. 251 Gleichwohl blieben viele „Notstands- und MangelVO“ weiterhin in Kraft (z. B. Einweisung in Wohnraum und HausratVO). 252 Vgl. Andrea Deyerling, Vertragslehre im Dritten Reich und in der DDR während der Geltung des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Eine vergleichende Betrachtung unter besonderer Berücksichtigung der Diskussion des faktischen Vertrages in der Bundesrepublik (= Schriften zur Rechtswissenschaft, Bd. 19), Bayreuth 1996. 253 Autorenkollektiv unter Leitung von Hans Kleine in: Deutsches Institut für Rechtswissenschaft (Hrsg.), Das Zivilrecht der Deutschen Demokratischen Republik: Allgemeiner Teil, 2. Auflage, Berlin (Ost) 1958, S. 103. 254 Ebenda, S. 104.

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Kap. 2: Historische Einführung

Mit den Gesetzen des Alliierten Kontrollrates bzw. der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) wurde einschneidend in die Eigentumsverhältnisse eingegriffen.256 Durch diese Maßnahmen entstanden Eigentumsformen, die mit den Grundsätzen des BGB nicht mehr übereinstimmten. So entschied das OLG Gera bereits 1948: „Das Lieferverhältnis, das durch die Anweisung einer Planstelle zwischen Lieferer und Empfänger einer Ware geschaffen wird, ist eine Rechtsfigur eigener Art. ( . . . ) Das Lieferverhältnis ist als eine wirtschaftliche Einheit zu erfassen. Es darf nicht in öffentlich-rechtliche und privatrechtliche Bestandteile aufgespaltet werden und in die Regeln eines Vertragstyps des bürgerlichen Gesetzbuches hineingezwängt werden.“257 Die ersten vorgenommenen Veränderungen am Regelungsgehalt des BGB waren der akuten Kriegsfolgesituation geschuldet. Diese machten zunächst die Ergänzung und Neuregelung des Verschollenheitsrechts notwendig.258

2. Das ZGB von 1976 Es wurde immer wieder die Kürze (nur 480 Paragraphen) und die klare und verständliche Sprache des ZGB positiv bemerkt259 – man hatte den Entwurf vor dem Erlass dazu einem juristisch gebildeten Journalisten zur sprachlichen Überarbeitung vorgelegt.260 Da neben dem ZGB noch ergänzende und modifizierende Ver255 Diese wurden durch Verwaltungsakt, sog. Lieferanweisungen, geregelt. Knut Wolfgang Nörr, Die Republik der Wirtschaft: Recht, Wirtschaft und Staat in der Geschichte Westdeutschlands; Teil 1: Von der Besatzungszeit bis zur Großen Koalition, Tübingen 1999; Teil 2: Sukzessionen: Forderungszession, Vertragsübernahme, Schuldübernahme (= Handbuch des Schuldrechts, hrsg. von Joachim Gernhuber, Bd. 2), 2. Aufl. Tübingen 1999. 256 Siehe oben A. III. „Aufbau der Wirtschaft“, S. 44. 257 OLG Gera, Urteil vom 24. 12. 1948 – 3 U 6 / 48, NJ 1949, S. 116. Über die Weitergeltung des BGB in der DDR bis zum ZGB gibt es eine umfangreiche Literatur: siehe u. a. Andrea Deyerling, Die Vertragslehre im Dritten Reich und in der DDR während der Geltung des Bürgerlichen Gesetzbuchs (wie Anm. 252); Jörn Eckert / Hans Hattenhauer (Hrsg.), Das Zivilgesetzbuch der DDR vom 19. Juni 1975 (wie Anm. 167); Inga Markovits, Sozialistisches und bürgerliches Zivilrechtsdenken in der DDR (wie Anm. 133); Rainer Schröder, Zivilrechtsprechung in der DDR während der Geltung des BGB (wie Anm. 250), S. 527 – 580 und ders., Marxismus und Recht am Beispiel des Zivilrechts in der DDR, in: FS Karl Kroeschell (wie Anm. 16), S. 1155 – 1181. 258 VO über die Zulässigkeit von Anträgen auf Todeserklärung von Kriegsteilnehmern vom 22. 02. 1949 (ZVOBl., S. 124) und die VO über die Abkürzung von Verschollenheitsfristen vom 15. 11. 1951 (GBl., S. 1059). Zu dieser Problematik vgl. Maren Bedau, Entnazifizierung des Zivilrechts. Die Fortgeltung von NS-Zivilrechtsnormen im Spiegel juristischer Zeitschriften aus den Jahren 1945 bis 1949 (= Berliner Juristische Universitätsschriften, Grundlagen des Rechts, Bd. 29), Berlin 2004. 259 Herwig Roggemann (Hrsg.), Zivilgesetzbuch und Zivilprozeßordnung der DDR mit Nebengesetzen (= Die Gesetzgebung der sozialistischen Staaten, Einzelausgabe 14, Quellen zur Rechtsvergleichung aus dem Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin), Berlin 1976, S. 16 f. 260 Klaus Heuer, Politische Vorgaben für das ZGB, in: Jörn Eckert / Hans Hattenhauer (Hrsg.), Das Zivilgesetzbuch der DDR vom 19. Juni 1975 (wie Anm. 167), S. 18 – 22, S. 20.

B. Das Zivil- und Zivilprozessrecht

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ordnungen und Anordnungen zu beachten261 und das Familien-, Arbeits- und Wirtschaftsrecht ausgegliedert waren, ist die Kürze des ZGB zu relativieren.262 Das ZGB behandelte also (nur) die zivilrechtlichen Beziehungen der Bürger untereinander und von Bürgern mit Betrieben. Es war dazu in sieben Teile untergliedert:263 Erster Teil:

Grundsätze des sozialistischen Zivilrechts

Zweiter Teil:

Das sozialistische Eigentum und das persönliche Eigentum

Dritter Teil:

Verträge zur Gestaltung des materiellen und kulturellen Lebens (z. B. Wohnungsmiete, Kauf, Dienstleistungen, Darlehen)

Vierter Teil:

Nutzung von Grundstücken und Gebäuden zum Wohnen und zur Erholung

Fünfter Teil:

Schutz des Lebens, der Gesundheit und des Eigentums vor Schadenszufügung

Sechster Teil:

Erbrecht

Siebenter Teil:

Besondere Bestimmungen für einzelne Zivilrechtsverhältnisse (z. B. Bürgschaft, Entmündigung, Todeserklärung)

Einzelne Abschnitte und Vorschriften des ZGB und der ZPO werden, soweit erforderlich, noch bei der Vorstellung der Variablen angesprochen. Insbesondere Vergleiche vor 1990 mit dem BGB ergaben,264 dass es sich um ein im Wesentlichen einfacheres Gesetz handelte, das für die Bürgerinnen und Bürger verständlich war, aber eben auch nur geeignet, Materien von einfacher bis mittlerer Komplexität zu 261 In die Textausgabe des ZGB von 1985, herausgegeben vom Ministerium der Justiz, wurden 23 Anordnungen, Durchführungsverordnungen und Richtlinien mit aufgenommen, wie z. B. die DVO über Rechte und Pflichten bei der Reklamation nicht qualitätsgerechter Waren (vom 27. 12. 76, GBl. I 1977, S. 9) oder die Grundstücksverkehrsordnung (vom 15. 12. 1977, GBl. I 1978, S. 73). 262 Herwig Roggemann (Hrsg.), Zivilgesetzbuch und Zivilprozeßordnung der DDR (wie Anm. 259), S. 16; Klaus Westen / Joachim Schleider, Zivilrecht im Systemvergleich. Das Zivilrecht der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland (= Rechtswissenschaftliche Veröffentlichungen des Osteuropa-Instituts der Freien Universität Berlin, Bd. 13), Baden-Baden 1984; Johannes Klinkert, Die Schaffung des ZGB – eine Abwendung von der Tradition des deutschen Privatrechts?, in: Thomas Ellwein / Dieter Grimm / Joachim Jens Hesse / Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Jahrbuch zur Staats- und Verwaltungswissenschaft, Bd. 9, Baden-Baden 1996, S. 61 – 74, bes. S. 68 f. 263 Klaus Westen / Joachim Schleider, ebenda, S. 74; Gottfried Zieger / Klaus Westen (Hrsg.), Das Zivilrecht in den beiden deutschen Staaten. Unterschiede, Parallelentwicklung, Vergleich, Symposium 15. / 16. September 1988 (= Schriften zur Rechtslage Deutschlands, Bd. 15), Köln 1990. 264 Klaus Westen / Joachim Schleider, Zivilrecht im Systemvergleich (wie Anm. 262), S. 74; Gottfried Zieger / Klaus Westen (Hrsg.), Das Zivilrecht in den beiden deutschen Staaten (wie Anm. 263).

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Kap. 2: Historische Einführung

behandeln. Das hohe Abstraktionsniveau des BGB, welches von Wieacker eine „spätgeborene Frucht der Pandektenwissenschaft“ genannt wurde, sollte nie erreicht werden.265 Obwohl das Gesetz also üblicherweise auch aus dem Westen266 recht freundlich kommentiert wurde, beruhte es auf ideologischen Grundlagen, welche es dem Staat in jeder Lage eines bürgerlich-rechtlichen Streites ermöglichten, zu intervenieren.267 Durch die sehr weiten allgemeinen Grundsätze / Generalklauseln, die das Gesetz einleiteten, stand im Grunde jeder Vertrag und jede Rechtshandlung unter dem Primat der Ideologie, so dass dem ZGB genügend Instrumentarien zur Verfügung standen, um unerwünschte Rechtsakte zu verhindern. Die Tatsache, dass man – wie die Untersuchung gezeigt hat – relativ selten interveniert hat, ändert nichts an diesem Befund. Denn ein Privatrecht, dass unter der „Drohung“, dass Staat und Partei, sei es über die Gerichte, sei es auf anderen Wegen, stets die Möglichkeit hatten, unerwünschte Ergebnisse zu vermeiden, ist eben in einer gewissen Weise denaturiert. In diesem Punkt traf sich das Privatrecht der DDR mit dem Privatrecht im Dritten Reich, wenngleich die unterschiedlichen ideologischen Zielsetzungen nicht verkannt werden dürfen. Die genauere Analyse dieser Tatsache bleibt einem anderen Abschnitt sowie dem Schlusskapitel vorbehalten. In diesem Abschnitt geht es mehr um die Äußerlichkeiten.

3. ZPO Die ZPO von 1877 blieb grundsätzlich bis 1976 in Kraft. Aber auch hier galt die Maxime: Mochten die Normen auch fortbestehen – ihre Anwendung musste der neuen Rechtsordnung entsprechen, also sozialistisch sein.268 Der Anwendungswandel, dem zahlreiche Normen der ZPO von 1877 unterworfen waren, wurde von Balkowski im Einzelnen nachgezeichnet. 269 Ein sozialistischer Rechtsgrundsatz war die Suche nach der materiellen Wahrheit.270 Dazu wurde z. B. über die Auslegung des § 139 ZPO die mündliche Ver265 Franz Wieacker, Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, Frankfurt a.M. 1974, S. 9 ff.; Joachim Göhring, Ohne pauschale Verdammnis und Nostalgie – Überlegungen zur aktuellen Beschäftigung mit dem ZGB der DDR, in: Jörn Eckert / Hans Hattenhauer (Hrsg.), Das Zivilgesetzbuch der DDR vom 19. Juni 1975 (wie Anm. 167), S. 9 – 17. 266 Inga Markovits, Sozialistisches und bürgerliches Zivilrechtsdenken in der DDR (wie Anm. 133). 267 Rainer Schröder, Das ZGB der DDR von 1976, verglichen mit dem Entwurf des Volksgesetzbuchs der Nationalsozialisten von 1942, in: Jörn Eckert / Hans Hattenhauer (Hrsg.), Das Zivilgesetzbuch der DDR vom 19. Juni 1975 (wie Anm. 167), S. 31 – 71. 268 Werner Artzt, Über die richterlichen Pflichten bei der Leitung des Zivilprozesses, in: NJ 1952, S. 605 – 611, bes. S. 605. 269 Ben Balkowski, Der Zivilprozeß in der DDR von 1945 bis 1975 zwischen bürgerlicher Rechtstradition und Sozialismus (= Studien zur Rechtswissenschaft, Bd. 59), Hamburg 2000. 270 Ben Balkowski, ebenda, S. 107 ff.; Horst Kellner, Zivilprozeßrecht, in: Uwe-Jens Heuer (Hrsg.), Die Rechtsordnung der DDR (wie Anm. 249), S. 517 – 548, insb. S. 531 ff.

B. Das Zivil- und Zivilprozessrecht

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handlung gestärkt und die Anwendung der Beweislastregeln verhindert. Dementsprechend wurden die Richter von dem Ministerium der Justiz geschult und angeleitet. Daneben hatten vor allem das neue GVG von 1952,271 seine späteren Änderungen und Neufassungen,272 sowie es begleitende Verordnungen, Einfluss auf die Gestaltung des Zivilverfahrens.273 Die ersten Arbeiten an einer neuen ZPO begannen 1958 und scheiterten 1962, wie auch ein zweiter Versuch Mitte der 60er Jahre, jeweils zum einen aus Zeitgründen wegen Arbeiten an anderen Gesetzgebungsverfahren und zum anderen aus Furcht um politisch gefährliche Auseinandersetzungen mit der „bürgerlichen“ ZPO von 1877.274 1976 trat dann die neue ZPO in Kraft.275 Wie dem ZGB standen der neuen ZPO einige Verordnungen, insbesondere zur Vollstreckung, zur Seite.276 Die Suche nach der materiellen Wahrheit und einer umfassenden Konfliktlösung fand sich jetzt auch in der neuen ZPO, z. B. in § 2: Absatz 2 Satz 1: „Die Gerichte sind verpflichtet, in einem konzentrierten und zügigen Verfahren die für die Entscheidung erheblichen Tatsachen aufzuklären, wahrheitsgemäß festzustellen und nach den Rechtsvorschriften zu entscheiden.“ Absatz 3: „Die Gerichte haben den am Verfahren Beteiligten ihre Rechte und Pflichten zu erläutern und sie bei deren Wahrnehmung zu unterstützen.“

Verschwunden war jetzt die am Anfang vertretene Auffassung, dass das Gericht im Zivilverfahren quasi allmächtig sein sollte.277 Trotzdem wurde von einem „Prinzip aktiver und initiativreicher Prozessgestaltung“, also dem Amtsermittlungsgrundsatz, ausgegangen. Wie auch aus den Gerichtsakten zu entnehmen war, wurden die Richter oft von sich aus aktiv und stellten Nachforschungen an; so konnten sie auch selbst Beweise beschaffen. Daneben wurde den Prozessbeteiligen aber eine Dispositionsbefugnis, etwa in Bezug auf den gestellten Antrag, zugestanden und ihnen als Ausformung des „Prinzips der Parteimitwirkung“ eine Mitwirkungspflicht auferlegt.278 GVG vom 4. Oktober 1952, GBl., S. 988. 1959, 1963, 1974. 273 Dazu Horst Kellner, Zivilprozessrecht, in: Uwe-Jens Heuer (Hrsg.), Die Rechtsordnung der DDR (wie Anm. 249), S. 517 – 548, insb. S. 520 – 526. 274 Ben Balkowski, Der Zivilprozeß in der DDR (wie Anm. 269), S. 350. 275 GBl. 1975 I S. 533 ff. 276 Z. B. zur Vollstreckung und zum schiedsgerichtlichen Verfahren, vgl. Ben Balkowski, Der Zivilprozeß in der DDR (wie Anm. 269), S. 524 f.; Thomas Thaetner, Die Zwangsvollstreckung in der DDR (= Berliner Juristische Universitätsschriften, Grundlagen des Rechts, Bd. 25), Berlin 2003. 277 So noch in einem Lehrbuch zum Zivilprozess: Hans Nathan (Leiter des Autorenkollektivs), Das Zivilprozeßrecht der DDR, Bd. I, Berlin (Ost) 1957, S. 81. 278 Zu allen Prinzipien: Horst Kellner (Leiter der Autorenkollektivs), Zivilprozessrecht – Lehrbuch, Berlin (Ost) 1980, S. 82 – 101, zu den hier angeführten: S. 82 – 89. 271 272

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Kap. 2: Historische Einführung

Die 209 Paragrafen der ZPO gliederten sich in sieben Teile, u. a. „Verfahren vor dem Kreisgericht“, „Rechtsmittelverfahren“, „Kassations- und Wiederaufnahmeverfahren“ und „Kosten des Verfahrens“.

III. Ausgliederungen aus dem BGB 1. Materiell a) Wirtschaftsrecht Hinsichtlich der Austauschbeziehungen zwischen den Betrieben blieb bis in die 60er Jahre hinein unklar, ob das Zivilrecht des BGB den neuen Anforderungen des sozialistischen Wirtschaftens gerecht werden konnte. Nachdem die volkseigenen Betriebe die juristische Selbständigkeit erlangten und die Beziehungen zwischen den Betrieben nicht mehr per Verwaltungsakt dirigiert wurden, zudem eine Vereinfachung der wirtschaftlichen Planung ab 1954 Freiraum schuf, schien das Zivilrecht zur Regelung dieser Beziehungen durchaus geeignet. Dies stärkte einerseits zwar die Entwicklung des Wirtschafts-Vertragssystems, warf aber andererseits immer wieder die Frage vom Verhältnis zwischen Wirtschafts- und Zivilrecht auf, die schließlich in der Forderung des Juristen Martin Posch gipfelte, „Formen zu entwickeln, die dem neuen Inhalt des Rechts gerecht werden und sich Gedanken darüber zu machen, inwieweit das Rechtssystem in seiner Struktur seinem neuen Inhalt gerecht wird“.279 Die Rechtswissenschaft der DDR diskutierte diese Fragestellung mit großer Leidenschaft, bot sich doch eine Möglichkeit, eine dem Sozialismus entsprechende Zivilrechtsdogmatik zu entwickeln.280 Nicht ohne Einfluss blieb hier das Recht der sozialistischen Bruderstaaten, vor allem der UdSSR.281 279 Martin Posch, Zum Widerspruch zwischen Form und Inhalt des Rechts, in: StuR 1957, S. 612 – 628. 280 Joachim Göhring / Axel Dost, Zivilrecht, in: Uwe-Jens Heuer (Hrsg.), Die Rechtsordnung der DDR (wie Anm. 249), S. 475 – 515; Robert Alexy, Walter Ulbrichts Rechtsbegriff, in: Jörn Eckert (Hrsg.), Die Babelsberger Konferenz vom 2.-3. April 1958. Rechtshistorisches Kolloquium 13. – 16. Februar 1992, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Baden-Baden 1993, S. 191 – 202; Hubert Rottleuthner (Hrsg.), Probleme der marxistischen Rechtstheorie, Frankfurt a.M. 1975. 281 Jörn Eckert / Hans Hattenhauer (Hrsg.), Das Zivilgesetzbuch der DDR vom 19. Juni 1975 (wie Anm. 167); Tomasz Giaro, Aufstieg und Niedergang des sozialistischen Zivilrechts: Von der Ideologie zur Rechtsdogmatik der Pauschalenteignung, in: Gerd Bender / Ulrich Falk (Hrsg.), Recht im Sozialismus. Analysen zur Normdurchsetzung in osteuropäischen Nachkriegsgesellschaften (1944 / 45 – 1989), Bd. 1: Enteignung (= Ius Commune, Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 113), Frankfurt a.M. 1999, S. 217 – 297; Hans-Andreas Schönfeldt, Grundzüge der Entwicklung von Gesetzgebung und Rechtsprechung im Prozeß der gesellschaftlichen Transformation der SBZ / DDR von 1945 bis 1960, in: Heinz Mohnhaupt / Hans-Andreas Schönfeldt (Hrsg.), Normdurchsetzung in osteuropäischen Nachkriegsgesell-

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Mit der Verordnung über die Einführung des Vertragssystems für Warenlieferungen in der volkseigenen und der ihr gleichgestellten Wirtschaft vom 6. Dezember 1951 (Vertragsgesetz)282 stellte sich die Frage immer dringlicher, ob die Beziehungen der der Volkswirtschaftsplanung unterworfenen Betriebe, die weder ihre Lieferanten noch ihre Abnehmer wählen, weder über den Gegenstand ihrer Geschäfte noch über ihre Preise entscheiden konnten, die also weder hinsichtlich des „ob“ noch des „wie“ Vertragsfreiheit genossen, innerhalb der Systematik des Zivilrechts erfasst werden konnten.283 Das Vertragsgesetz wurde bis zur Babelsberger Konferenz im Jahre 1958 noch als lex specialis zum BGB verstanden. Erst nach der Konferenz kristallisierte sich die Anerkennung eines eigenständigen Rechtszweiges „Wirtschaftsrecht“ heraus. Inhaltlich war dieser Rechtszweig entscheidend von den Diskussionen der Konferenz geprägt.284 Damit waren die Weichen für eine eigenständige Kodifikation des Wirtschaftsrechts außerhalb des Zivilgesetzbuches und damit eine Reduzierung des Regelungsgegenstandes des Zivilgesetzbuches auf die Konsumbeziehungen von Bürgern gestellt.285 Diese Trennung der beiden Rechtszweige wurde 1965 mit der Verabschiedung des „Gesetzes über das Vertragssystem in der sozialistischen Wirtschaft“286 manischaften, Bd. 1: Sowjetische Besatzungszone in Deutschland – DDR (1945 – 1960) (wie Anm. 215), S. 3 ff., insb. S. 65 – 87 sowie ders., Zur Geschichte der Rechtswissenschaft in der SBZ / DDR von 1945 – 1960. Eine Skizze, ebenda, S. 189 ff., insb. S. 227 – 237; Karl A. Mollnau, Sozialistische Gesetzlichkeit in der DDR – Theoretische Grundlagen und Praxis, in: Gerd Bender / Ulrich Falk (Hrsg.), Recht im Sozialismus. Analysen zur Normdurchsetzung in osteuropäischen Nachkriegsgesellschaften (1944 / 45 – 1989), Bd. 3: Sozialistische Gesetzlichkeit (= Ius Commune, Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 115), Frankfurt a.M. 1999, S. 59 – 195; ders., Die staatsanwaltschaftliche Gesetzlichkeitsaufsicht in der DDR als gescheiterter Versuch eines sowjetischen Rechtstransfers, ebenda, S. 241 – 277; Karen Stiebitz, Heinz Such (1910 – 1976): Ein Jurist zwischen bürgerlicher Rechtsdogmatik und sozialistischer Rechtsgewinnung (= Arbeiten zur Geschichte des Rechts in der DDR, Bd. 2), Köln 1999. 282 GBl., S. 1141. 283 Rainer Schröder, Die Funktion des Rechts und zivilrechtlicher Jurisprudenz im Dritten Reich, in: Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft (Hrsg.), norges forskningsrad, Deutsch-Norwegisches Stipendienprogramm für Geschichtswissenschaften (Ruhrgas-Stipendium), Bericht über das 8. deutsch-norwegische Historikertreffen in München, Mai 1995, Oslo 1997, S. 71 ff.; ders., Das ZGB der DDR von 1976, verglichen mit dem Entwurf des Volksgesetzbuches der Nationalsozialisten von 1942, in: Jörn Eckert / Hans Hattenhauer (Hrsg.), Das Zivilgesetzbuch der DDR vom 19. Juni 1975 (wie Anm. 167), S. 31 – 71; ders., Zivilrechtsprechung in der DDR während der Geltung des BGB (wie Anm. 250), S. 527 – 580. 284 Vgl. zum Verlauf der Diskussion und zur Einführung des Wirtschaftsrechts in der UdSSR und der DDR Wilhelm Panzer, Zur Geschichte der Theorie des sozialistischen Wirtschaftsrechts (= Forschungsinformation, Hochschule für Ökonomie ,Bruno Leuschner‘, Institut für Wirtschaftsrecht, Heft 3), Berlin (Ost) 1980, S. 54 f. 285 Peter Hommelhoff, Einheitliche oder zerspaltene Zivilrechtsordnung. Zum Nebeneinander von ZGB und DDR-Vertragsgesetz, in: Jörn Eckert / Hans Hattenhauer (Hrsg.), Das Zivilgesetzbuch der DDR vom 19. Juni 1975 (wie Anm. 167), S. 72 – 87. 286 GBl., S. 107.

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festiert. Das Zivilrecht fand hiernach nur noch subsidiäre Anwendung in den Fällen, in denen im Vertragsgesetz und den zu seiner Durchführung und Ergänzung erlassenen gesetzlichen Bestimmungen keine Regelungen enthalten waren. Diese Trennung entsprach schon lange den gerichtsverfassungsrechtlichen Realitäten, denn Wirtschaftssachen wurden, wie oben gezeigt, vor dem separaten Staatlichen Vertragsgericht verhandelt. b) Familienrecht Durch das BGB von 1900 wurde ein für ganz Deutschland, für alle Familien – unabhängig von ihrer Konfession – ein einheitliches Familienrecht geschaffen.287 Dessen patriarchalische Konzeption war bereits mit der Weimarer Verfassung von 1919 in die Kritik geraten.288 Die Verfassung der DDR nahm die Diskussionen der Weimarer Republik auf und forderte nicht nur Gleichberechtigung von Mann und Frau und die rechtliche Gleichbehandlung von nichtehelichen Kindern und Eltern,289 sondern sie setzte – anders als das Grundgesetz – mit sofortiger Wirkung alle diesen Verfassungsgrundsätzen widersprechenden Regelungen außer Kraft.290 Zudem legte die Verfassung fest, dass durch Gesetz solche Einrichtungen geschaffen werden sollten, „die es gewährleisten, dass die Frau ihre Aufgabe als Bürgerin und Schaffende mit ihren Pflichten als Frau und Mutter vereinbaren kann“ (Art. 18 IV). Mit diesen Anordnungen der Verfassung waren weite Teile des Familienrechts außer Kraft gesetzt bzw. nur noch mit verändertem Inhalt anwendbar. Was dies zur Folge haben würde, war im Einzelnen zum Teil völlig eindeutig und unstrittig, so z. B. der Wegfall der alleinigen Entscheidungskompetenz des Mannes in allen Angelegenheiten der Familie291 oder der Wegfall der rechtlichen Fiktion der fehlen287 Anita Grandke, Familienrecht, in: Uwe-Jens Heuer (Hrsg.), Die Rechtsordnung der DDR (wie Anm. 249), S. 173 – 209. 288 Die Weimarer Verfassung forderte die gleichen staatsbürgerlichen Rechte für Männer und Frauen (Art. 109 II WeimRV), die Gleichberechtigung in der Ehe (Art. 119 I S. 2 WeimRV), und die gesetzliche Gleichbehandlung von unehelichen und ehelich geborenen Kindern (Art. 121 WeimRV). 289 Art. 7, 30 – 33, 144 Verfassung der DDR vom 07. 10. 1949. 290 Vgl. bezogen auf die allgemeine staatsbürgerliche Gleichbehandlung, Art. 7 II, bezogen auf die Gleichberechtigung in Ehe und Familie, Art. 30 II und bezüglich der Rechtsstellung nichtehelicher Kinder, Art. 33 II. Darüber hinaus begründet Art. 144 I S. 2 die Rechtswirkung der Verfassung als unmittelbar geltendes Recht; Christina Niedermeier, Widerspiegelung verbindlicher völkerrechtlicher Vereinbarungen und internationaler Tendenzen im Familienrecht der DDR, Berlin 1986; Ute Schneider, Das Familienrecht der DDR, in: Heiner Timmermann (Hrsg.), Die DDR – Recht und Justiz als politisches Instrument (= Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen, Bd. 89), Berlin 2000, S. 61 – 80. 291 Der frühere § 1354 BGB; die ehemaligen §§ 1321 bis 1352 sind durch § 84 EheG von 6. 7. 1938 (RGBl. I, S. 807) und § 1354 durch das Gesetz von 18. 6. 1957 (BGBl. I S. 609) aufgehoben worden. Das nationalsozialistische Familienrecht im EheG 1938 wurde durch

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den Verwandtschaft zwischen Vater und Kind nach dessen Geburt außerhalb der Ehe.292 Weitere Folgerungen aus der Verfassung wurden durch die Einführung des Mutter- und Kinderschutzgesetzes (MKSchG)293 1950 gezogen. Für die Entwicklung des Gleichberechtigungsgedankens im DDR-Recht war maßgeblich, dass der Sinn der Gleichberechtigung in der Entfaltung der Persönlichkeit der Frau gesehen wurde und dies grundsätzlich nur dadurch erreichbar war, wenn sie, wie der Mann, beruflich tätig sein und Unabhängigkeit gewinnen und Erfahrungen aus diesem Bereich in die Familie einbringen konnte.294 Als ebenso wichtig wurde es angesehen, dass sich die Frau nicht zwischen Familie und Beruf zu entscheiden brauchte, sondern vielmehr eine Vereinbarkeit beider Bereiche erreicht werden sollte. Diese Ziele forderten nicht nur ein erhöhtes Engagement der Frauen selbst und ihrer Partner, sondern ebenso gesellschaftliche Veränderungen. Folgerichtig setzte das MKSchG 1950 die Frauenförderung in der DDR in Gang. Zusammen damit und gewissermaßen darauf fußend erfolgte die Entwicklung des Familienrechts in der DDR.295 Das MKSchG bekräftige ausdrücklich die Beseitigung aller Regelungen des Familienrechts, die eine „Beschränkung oder Minderung der Rechte der Frau“ zum Inhalt hatten (§ 13 S. 1). Das betraf insbesondere die Kompetenz des Mannes in Bezug auf die Berufstätigkeit der Frau (§ 1358 BGB a.F.). Vielmehr erhielt die Frau das Recht, das dem Mann schon immer zustand, nämlich über die Aufnahme einer beruflichen Tätigkeit, über Bildung und Fortbildung usw. allein zu entscheiden (§§ 14, 15). Freilich können hier nur die normativen Aspekte geschildert werden, denn in der Praxis gab es keine oder wenig Gleichberechtigung, und vielfach dienten die Regelungen nur dazu, Frauen in den Produktionsprozess zu bringen, zum Teil sogar mit moralischem und rechtlichem Zwang.296 Die Gleichberechtigungskamdas EheG 1946 neu kodifiziert. Siehe auch Matthias Etzel, Die Aufhebung von nationalsozialistischen Gesetzen durch den Alliierten Kontrollrat (1945 – 1948), Tübingen 1992. 292 So der § 1589 II BGB. 293 Gesetz über den Mutter- und Kindschutz und die Rechte der Frau vom 27. 09. 1950, GBl. S. 1037. Aufgrund ihrer persönlichen und kollektiven Erfahrungen im NS-Deutschland lag es nahe, dass Frauen im politischen Vakuum der Zusammenbruchgesellschaft nach 1945 erneut versuchten, die Ungleichheit der Geschlechterbeziehungen abzubauen. Sie engagierten sich parlamentarisch und außerparlamentarisch, um die Ausweitung ihrer politischen Mitwirkungsrechte durchzusetzen und patriarchal geprägten Rollenzuschreibungen entgegenzuwirken; Werner Schubert, Das Familien- und Erbrecht unter dem Nationalsozialismus. Ausgewählte Quellen, Paderborn, München, Wien 1993. 294 Dass die „gleichberechtigte“ berufliche Tätigkeit aller Frauen auch aus ökonomischen und arbeitsmarktpolitischen Erwägungen forciert wurde, wird dadurch nicht in Abrede gestellt. Hier stehen aber die Argumente für die familienrechtlichen Regelungen im Vordergrund. 295 Ute Schneider, Das Familienrecht der DDR, in: Heiner Timmermann (Hrsg.), Die DDR – Recht und Justiz als politisches Instrument (wie Anm. 290), S. 61 – 80.

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pagne entsprang ebenso den geschilderten, edlen wie auch banal wirtschaftlichen Motiven.297 An die Stelle der alleinigen Unterhaltspflicht des Mannes trat die beider Ehegatten. Ziel war es, eine Gleichstellung von Berufsarbeit mit der Hausarbeit zu erreichen. Doch das waren reine Lippenbekenntnisse. Die aufgrund der Verfassung von 1949 zunächst generell vorgesehene Gütertrennung wurde frühzeitig von der Rechtsprechung zugunsten der nicht berufstätigen Hausfrau abgemildert.298 Insofern sah die EheVO von 1955 auch eine Pflicht zur Berufstätigkeit nach Ehescheidung vor. Ein Unterhaltsanspruch war nur dann gegeben, wenn wegen der Betreuung der Kinder, wegen Krankheit oder Alter oder anderer Gründe eine eigene Einkommenssicherung nicht möglich war.299 Der sog. Kranzgeldanspruch wurde – weil diskriminierend – für verfassungswidrig erklärt.300 Bis zur Kodifikation des Familiengesetzbuches im Jahre 1965 blieb im Übrigen für die Rechtsprechung ein großer Gestaltungsspielraum. Dass rechtliche und gesellschaftliche – oder besser geistig-moralische Entwicklung auch in der DDR nicht Hand in Hand gingen, zeigten die Diskussionen um die Einführung eines neuen Familiengesetzbuches. So sah der Entwurf 1965 vor, dass jeder Ehegatte auch nach der Eheschließung seinen bis dahin geführten Namen weitertragen könne.301 Aufgrund lebhafter Diskussionen wurde die Pflicht der Ehegatten zu einem gemeinsamen Familiennamen jedoch wieder in das Gesetz aufgenommen. Auch die Regelungen über die Gestaltung der Ehe blieben deutlich hinter den Ansätzen zurück. Das Gesetz enthielt ein in Ziel- und Aufgabennormen gekleidetes Leitbild zu den Grundlagen der Ehe (gegenseitige Liebe, Treue . . . ), zum Sinn der Ehe (Entfaltung der Persönlichkeit der Partner, Familiengründung . . . , § 5) und zu den Kompetenzen der Ehegatten (gleiche Verantwortung für die Belange der Familie, gemeinsame Entscheidungen . . . , § 9). Für den Fall der Ehescheidung erfolgte recht früh eine wichtige Veränderung des materiellen Rechts mit der Einführung des in Weimarer Zeit heftig diskutierten und geforderten Zerrüttungsprinzips, das aber durch die Möglichkeit, Widerspruch einzulegen, begrenzt wurde (§ 8 EheVO). Eine zivilrechtliche Scheidung wurde freilich durch das EheG 1938 in § 55 ermöglicht, aber auch durch § 48 EheG der 296 Stefan Middendorf, Recht auf Arbeit in der DDR. Von den theoretischen Grundlagen bis zu den Berufsverboten für Ausreisewillige (= Berliner Juristische Universitätsschriften, Zivilrecht, Bd. 31), Berlin 2000, S. 312. 297 Freya Klier, Zwischen Kombi und Kreißsaal. Zur Geschichte der DDR-Frauen, in: DA 1991, S. 512 – 519. 298 OG, NJ 1952, S. 489; Kreisgericht Berlin, NJ 1951, S. 330. 299 §§ 13 ff. der VO über Eheschließung und Ehescheidung vom 24. 11. 1955, GBl. I, S. 849. 300 Oberstes Gericht, NJ 1952, S. 451; LG Cottbus, NJ 1951, S. 424. 301 Vgl. § 7 II des Entwurfs eines Familiengesetzbuches, in: NJ 1965, S. 259 ff.

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Alliierten.302 Bei der Umsetzung dieses Prinzips stieß man jedoch auf zwei Schwierigkeiten. Zunächst bestand die immer mit dem Zerrüttungsprinzip verbundene Schwierigkeit, die Zerrüttung einer Ehe angesichts ihrer Individualität und der der Ehegatten durch das Gericht festzustellen. Hinzu kam als DDR-Spezifikum die Verbindung der Scheidungsvoraussetzung mit der Aufgabe des Gerichts, die Ehe möglichst zu erhalten. Darin wurde der eigentliche Sinn des Eheverfahrens gesehen und dieser sollte über die Erziehung der Ehegatten durch das Gericht erreicht werden. Sowohl § 8 EheVO (1955) als auch § 24 FGB (1965) forderten von den Eheleuten die Darlegung der ehelichen Probleme. Es oblag ihnen, den Beweis dafür anzutreten, dass die Ehe ihren Sinn verloren hatte. Das Gericht war nicht an die Aussagen der Parteien gebunden, sondern konnte von sich aus Beweis über die Ehesituation erheben. Die erzieherische Rolle des Gerichts begleitete die gesamte Familienrechtsentwicklung in der DDR und fand ihren (traurigen) Gipfel in der Forderung nach Einbeziehung gesellschaftlicher Kräfte in das Eheverfahren.303 Wiewohl das Familienrecht aus Kapazitätsgründen nicht Gegenstand dieses Forschungsprojekts war, macht der kleine Überblick über das Eherecht m. E. Folgendes klar: Der Erziehungsgedanke überwölbte das gesamte Privatrecht der DDR, sowohl das Zivilrecht als auch das (separate) Familienrecht. Im Familienrecht wird noch deutlicher als im allgemeinen Zivilrecht, dass man zwischen ideologisch geprägten Postulaten und der tatsächlichen Praxis unterscheiden muss. Die ideologischen Postulate enthalten zum Teil Forderungen, die man begrüßen kann, z. B. in Bezug auf die Gleichberechtigung. Doch dieses gleichberechtigte Familienmodell wurde durch eine Praxis konterkariert, die den Frauen der DDR eine doppelte Last für Haushalt und Arbeit auferlegte und die geradezu einen Arbeitszwang für Frauen konstituierte. Der Zwang zur Arbeit, der aus Arbeitsmarktgründen in der DDR dringend erforderlich war, konstituierte sich nicht nur moralisch, sondern auch mit Hilfe eines sehr differenzierten rechtlichen Instrumentariums.304 Mit dem FGB wurde 1965 eine in sich geschlossene familienrechtliche Kodifikation geschaffen.305 Damit wurde die bereits 1949 deutlich gewordene Zielsetzung, nämlich die Herauslösung des Familienrechts aus dem BGB, verwirklicht. Maren Bedau, Entnazifizierung des Zivilrechts (wie Anm. 258), insb. S. 128. Beschluss des Obersten Gerichts über die erzieherische Tätigkeit der Gerichte zur Erhaltung von Ehen vom 15. April 1965, in: NJ 1965, S. 309; neugefasst durch Beschluss vom 24. Juni 1970, in: NJ 1970, Beilage 3 und Werner Strasberg, Erläuterungen zum Beschluss des Obersten Gerichts vom 17. Dezember 1976, in: NJ 1976, Beilage 1, S. 7. 304 Ute Schneider, Das Familienrecht der DDR, in: Heiner Timmermann (Hrsg.), Die DDR – Recht und Justiz als politisches Instrument (wie Anm. 290), S. 61 – 80. 305 Gesetz vom 20. 12. 1965, GBl. I 1966, S. 1. Zur Entstehung des FGB vgl. Petra Fischer-Langosch, Die Entstehungsgeschichte des Familiengesetzbuches der DDR von 1965 (= Rechtshistorische Reihe, Bd. 347), Frankfurt a.M. 2007 sowie Ute Schneider, Das Familienrecht der DDR, in: Heiner Timmermann (Hrsg.), Die DDR – Recht und Justiz als politisches Instrument (wie Anm. 290), S. 61 – 80; auch dazu und zum Familienrecht der DDR all302 303

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Als eigenständige Regelung konzentrierte sich das FGB ganz auf die ,Spezifik‘ der Familienverhältnisse. Charakteristisch für die Entwicklung des Familienrechts der DDR ist weiterhin, dass sie immer in enger Verbindung zwischen materiellem Recht und Prozessrecht erfolgte. Zwischen 1955 (Erlass der EheVO) und 1976 (dem Inkrafttreten der ZPO in der DDR) gab es spezielle Verfahrensordnungen für die Eheschließung, die Ehescheidung und für Familiensachen überhaupt. Damit trat die ZPO für diese Verfahren nicht außer Kraft, aber doch in den Hintergrund.306 Während das Familienrecht materiell-rechtlich auch nach Erlass des ZGB selbständig blieb, wurde das Prozessrecht mit der ZPO der DDR wieder vereinigt. Verfahrensrechtlich blieben die Familienverfahren zwar bei den die Amts- und Landgerichte ablösenden Kreisgerichten.307 Dort wurden jedoch eigene Kammern gebildet, so dass die Familienverfahren, wie schon ursprünglich beabsichtigt,308 in unproblematischer Art und Weise aus der hier erfolgten Erhebung ausgespart werden konnten. Auch in den amtlichen Statistiken der DDR und der BRD sind diese Verfahren separat ausgewiesen, so dass sie gegebenenfalls – systemunabhängig – aus den Statistiken herausgerechnet werden können.

c) Bodenrecht / LPG-Recht Das LPG-Recht bildete sich im Rahmen der Kollektivierung der Landwirtschaft zu einem eigenen Rechtszweig aus. Es behandelte u. a. Fragen der Leitung der LPG, die Rechtsbeziehungen zwischen der Genossenschaft und ihren Mitgliedern, die genossenschaftlichen Eigentums- und Nutzungsverhältnisse und die Rechtsbeziehungen der LPG zu anderen sozialistischen Betrieben. Neben Aufsätzen in der Neuen Justiz (NJ) und Staat und Recht (StuR) waren die erwähnenswerten Publikationen zum LPG-Recht in der DDR ein Lehrbuch von 1976 für die universitäre Ausbildung309 und eine Abhandlung in der Reihe „Recht in unserer Zeit“.310 Rolf Steding befasst sich in einem Aufsatz von 1995 im gemein: Bernhard Klose, Ehescheidung und Ehescheidungsrecht in der DDR – ein ostdeutscher Sonderweg?, Baden-Baden 1996, S. 155 – 206. 306 AO zur Anpassung der Vorschriften über die Verfahren in Ehesachen an die VO über Eheschließung und Eheauflösung (EheVerfO) vom 07. 02. 1956, GBl. I, S. 245 und zur Anpassung der Bestimmungen über das Verfahren in Familiensachen an das Familiengesetzbuch (FamVerfO) vom 17. 02. 1966, GBl. II, S. 171. 307 § 23 GVG. 308 Rainer Schröder, Zivilprozess in der DDR: Vorurteil und Realität, in: ders. (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 26), S. 113. 309 Richard Hähnert / Helmut Richter / Günther Rohde (Leiter des Autorenkollektivs), LPG-Recht – Lehrbuch, Berlin (Ost) 1976. 310 Richard Hähnert / Helmut Richter / Günther Rohde, Der Genossenschaftsbauer und seine LPG (= Recht in unserer Zeit, Heft 29), Berlin (Ost) 1980.

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Wesentlichen mit den genossenschaftsrechtlichen Fragen zur LPG.311 Eine weitergehende wissenschaftliche Bearbeitung des LPG-Rechts hat dennoch bisher nicht stattgefunden.312 Auch im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird auf das LPG-Recht nicht näher einzugehen sein, denn dieser Rechtszweig hatte im städtischen Untersuchungsgebiet keine signifikante Bedeutung. Dass bei der Erhebung so gut wie keine das LPG-Recht betreffenden Fälle gefunden wurden, deckt sich mit den amtlichen DDR-Statistiken für Berlin: In den Jahrgängen 1976, 1980, 1984 und 1987 zusammen hatten nur 8 Fälle einen Bezug zum LPG-Recht.313 Dieser Umstand wurde als Besonderheit des Untersuchungsgebietes wahrgenommen und in dieser Weise in den Auswertungen beachtet. Am 6. September 1950 erließ die Volkskammer das „Gesetz über den Aufbau der Städte der Deutschen Demokratischen Republik und der Hauptstadt Deutschlands, Berlin“.314 Aufgrund dieses Gesetzes konnten Ortsteile zu „Aufbaugebieten“ erklärt werden und bei Bedarf Grundstücke in Anspruch genommen werden. In einem solchen Fall ruhten die Eigentümerbefugnisse und wurden vom Staat ausgeübt. Ein Entzug des Eigentümertitels erfolgte hierbei nicht. Diese Regelung offenbart ein Prinzip, dem auch die späteren Regelungen zum Bodenrecht folgten. Das Bodenrecht wurde von der Nutzung her geregelt, (relativ) unabhängig vom Eigentumsrecht. Diesem Prinzip folgte später auch der vierte Teil des ZGB der DDR.315 In gleicher Weise wirkte die VO über die Finanzierung des Arbeiterwohnungsbaus vom 4. März 1954,316 durch die das persönliche Eigentumsrecht am Eigenheim getrennt vom Eigentumsrecht an Grund und Boden geregelt wurde. Dieses Eigentumsrecht am Eigenheim war danach veräußerlich, vererblich und zugunsten staatlicher Kreditinstitute belastbar. Private Gläubiger konnten hierein nicht voll311 Rolf Steding, Agrarrecht / LPG-Recht, in: Uwe-Jens Heuer (Hrsg.), Die Rechtsordnung der DDR (wie Anm. 249), S. 75 – 94. 312 Vgl. z. B. Richard Hähnert / Helmut Richter / Günther Rohde (Leiter des Autorenkollektivs), LPG-Recht (wie Anm. 309); Reiner Arlt (Leiter des Autorenkollektivs), Agrarrecht für Staats- und Wirtschaftsfunktionäre: Grundriß, 3. Auflage Berlin (Ost) 1984; ders., Theoretische Grundfragen des LPG- und Agrarrechts. Analyse und Tendenzen, Berlin (Ost) 1988; ders. (Leiter des Autorenkollektivs), Kommentar zum Gesetz über die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften vom 2. Juli 1982 und zu den Musterstatuten der LPG Pflanzenproduktion bzw. der LPG Tierproduktion vom 28. Juli 1977, Berlin (Ost) 1989; Rolf Steding, Das LPG-Gesetz und seine gesellschaftliche Wirksamkeit, Berlin (Ost) 1986. 313 Ministerium der Justiz, EDV-Zivilprozessstatistik 1976 – 1988, BA DP 1 VA 8910 (OstBerlin); in der gesamten DDR waren es z. B. 1976 rund 300 Fälle, BA DP 1VA 8912 (DDR). 314 GBl. S. 965. 315 Klaus Westen (Hrsg.), Das neue Zivilrecht der DDR nach dem Zivilgesetzbuch von 1975 (Rechtswissenschaftliche Veröffentlichungen des Osteuropa-Instituts an der Freien Universität Berlin, Band 7), Baden-Baden 1977, S. 24. 316 GBl. S. 253. 317 GBl. S. 445.

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strecken. Es wurden also immer mehr Sachen der Verfügung durch Private, somit dem Markt, entzogen. Durch das „Gesetz über die Verleihung von Nutzungsrechten an volkseigenen Grundstücken“ vom 21. April 1954,317 das die unentgeltliche Verleihung von Nutzungsrechten an volkseigenen Grundstücken für den Arbeiterwohnungsbau und den Eigenheimbau für zulässig erklärte, wurde diese Linie der Verleihung von Nutzungsrechten an fremden Grundstücken weiter fortgesetzt.318 Am 6. November 1952 wurde die „Verordnung über Wohnungen für Werktätige der volkseigenen und ihnen gleichgestellter Betriebe“ vom Ministerrat erlassen.319 Hier wurde das Prinzip der Vertragsfreiheit des BGB zugunsten der Nachfrager eingeschränkt. Das war auch schon nach den Kriegen so und blieb ein Charakteristikum des DDR-Rechts. Die Rechtsentwicklung in der DDR im Bereich Bodenrecht / Landwirtschaft lässt sich in drei Etappen einteilen.320 Die erste Etappe diente der Sicherung der Bodenreform und der mit ihr verbundenen Veränderungen und dauerte bis ca. 1952. Die zweite Phase war auf die Herausbildung und Konsolidierung der LPG (Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften) gerichtet (bis 1971). Die letzte Phase schließlich wird gekennzeichnet durch das Bestreben, eine industriemäßig organisierte Landwirtschaft aufzubauen und auszuprägen.321

aa) Bodenreformgesetzgebung Entscheidend für die Rechtsentwicklung der Landwirtschaft auf dem Territorium der DDR war die Gesetzgebung über die Durchführung der Bodenreform. Gestützt auf das Potsdamer Abkommen war bereits im September 1945 in allen Ländern der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands die Bodenreform auf dem Verordnungswege juristisch ausgelöst worden.322 Die Rechtsvorschriften sahen übereinstimmend vor, alle Flächen des privaten Großgrundbesitzes über 100 ha entschädigungslos zu enteignen, mit dem Zweck, eine gerechte Bodenverteilung, die Liquidierung des Großgrundbesitzes sowie eine Landzuteilung an landlose bzw. -arme Bauern zu erreichen. 3,29 Mio. ha Land wurden auf diese Weise an

318 Guido Harder, Das verliehene Nutzungsrecht: Herausbildung und Entwicklung eines Rechtsinstituts des DDR-Bodenrechts (= Berliner Juristische Universitätsschriften, Grundlagen des Rechts, Bd. 10), Berlin 1998. 319 GBl. S. 1187. 320 Einen Überblick bietet auch Ulrich Benndorf, Die Bodenpolitik in der DDR aus legislativer Sicht, in: DA 1995, S. 1064 – 1073. 321 Marcus Mollnau, Die Bodenrechtsentwicklung in der SBZ / DDR anhand der Akten des Zentralen Parteiarchivs der SED (= Berliner Juristische Universitätsschriften, Grundlagen des Rechts, Bd. 15), Berlin 2001. 322 Heinz Döring, Von der Bodenreform zu den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften – Erläuterungen und Kommentierung des neuen Agrarrechts, Berlin 1953.

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nahezu 560.000 Bodenempfänger übergeben. Über 210.000 Neubauernwirtschaften mit einer durchschnittlichen landwirtschaftlichen Nutzfläche zwischen 6 und 8 ha entstanden.323 Die Verfassung der DDR vom 07. 10. 1949 schrieb durch ihren Art. 24324 die Bodenreform im Nachhinein auch noch verfassungsrechtlich fest. Die weitere Rechtssetzung auf dem Gebiet der Landwirtschaft verfolgte v. a. das Ziel, die Bodenreform und die mit ihrer Hilfe auf den Weg gebrachten Veränderungen zu sichern, eine die Ernährung gewährleistende Landwirtschaft aufzubauen – und als Fernziel – die Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse auch auf dem Land zu bewerkstelligen.325 Kern der unmittelbar vor und nach Gründung der DDR erlassenen Regelungen war die Ausgestaltung des Bodenreformeigentums dahin, dass die entstandenen Wirtschaften weder ganz noch teilweise verkauft, verpachtet oder verpfändet werden durften und schuldenfrei326 bleiben mussten. Die Bodenreformländereien waren damit grundsätzlich dem Zivilrechtsverkehr entzogen und wurden in der Rechtslehre als „Arbeitseigentum der Bauern“ bezeichnet.327 Mit dem von der SMAD dekretierten Übergang von der Totalablieferung landwirtschaftlicher Erzeugnisse zur differenzierten Teilpflichtablieferung bildete sich ein besonderes Recht der Erfassung und des Ankaufs landwirtschaftlicher Erzeugnisse heraus.328 Waren in den Jahren nach dem Krieg noch staatliche, private 323 Hans-Jörg Graf, Rückgabe von Vermögenswerten an Verfolgte des nationalsozialistischen Regimes im Beitrittsgebiet. Eine Untersuchung zur entsprechenden Anwendung westalliierten Rückerstattungsrechts im Beitrittsgebiet aufgrund rechtsvergleichender Ergebnisse zwischen dem US-Rückerstattungsgesetz und dem Vermögensgesetz (= Berliner Juristische Universitätsschriften, Grundlagen des Rechts, Bd. 12), Berlin 1999. 324 „Der private Großgrundbesitz, der mehr als 100 ha umfasst, ist aufgelöst und wird ohne Entschädigung aufgeteilt. Nach Durchführung dieser Bodenreform wird den Bauern das Privateigentum an ihrem Boden gewährleistet.“ Der Schutz dieser Verfassungsregelung war allerdings insofern trügerisch, als sich das neu begründete Eigentum de iure nicht als Eigentum im Sinne des § 903 BGB verstand. Den Eigentümern von Bodenreformland stand nämlich nur das Besitz- und Nutzungsrecht, nicht jedoch das Verfügungsrecht zu. Erst durch das Gesetz der Volkskammer der DDR über die Rechte der Eigentümer von Grundstücken aus der Bodenreform vom 06. 03. 1990 (GBl. I, S. 134) wurde das Bodenreformeigentum zu Privateigentum ohne jegliche Verfügungsbeschränkungen; siehe auch die Dissertation von Hans-Jörg Graf (wie Anm. 323). 325 Vgl. Reiner Arlt / Heinz Gold / Gerhard Rosenau / Rolf Steding, Agrarrechtstheorien, Lesematerial, Potsdam-Babelsberg 1977, S. 8. 326 Vgl. VO über die Auseinandersetzung bei Besitzwechsel von Bauernwirtschaften aus der Bodenreform vom 21. 06. 1951, GBl. S. 629, geändert durch VO vom 23. 08. 1956, GBl. I, S. 685. 327 Günther Rohde (Leiter des Autorenkollektivs), Bodenrecht – Lehrbuch, Berlin (Ost) 1976, S. 150. Siehe auch Guido Harder, Das verliehene Nutzungsrecht (wie Anm. 318), S. 10 – 43 und Marcus Mollnau, Die Bodenrechtsentwicklung in der SBZ / DDR (wie Anm. 321), S. 105. 328 Olaf Kampa, Erfassung und Aufkauf landwirtschaftlicher Erzeugnisse, in: Deutsches Institut für Rechtswissenschaft (Hrsg.), Das Zivilrecht der Deutschen Demokratischen Republik: Schuldrecht – Besonderer Teil, Berlin (Ost) 1956, S. 45 ff.

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und genossenschaftliche Handelsorganisationen Träger des staatlichen Ankaufsystems, wurde durch die AO der Deutschen Wirtschaftskommission vom 29. März 1949329 diese Aufgabe auf die vom Staat gegründeten volkseigenen Erfassungsund Ankaufbetriebe für pflanzliche und tierische Erzeugnisse (VEAB) übertragen. Aufgrund dieser Regelungen wurden weniger Verträge zwischen Privatrechtssubjekten geschlossen und das Risiko fehlgeschlagener Verträge sank, so dass aus diesem Bereich tendenziell weniger Zivilrechtsstreitigkeiten zu erwarten waren.

bb) Herausbildung des LPG-Rechts Die 2. Parteikonferenz der SED im Sommer 1952 verkündete die Möglichkeit für Bauern, sich in Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPG) zusammenzuschließen. Dieser Schritt wurde mit der in einem einzelbäuerlichen Kleinbetrieb nicht möglichen rationellen Anwendung der Agrartechnik begründet. Um die beschränkten Möglichkeiten der einfachen Warenproduktion in der Landwirtschaft zu überwinden, sei der genossenschaftliche Entwicklungsweg in der Landwirtschaft unausweichlich. Gleichzeitig verfolgte die SED aber noch ein zweites Ziel: Die faktische Beseitigung des bäuerlichen Privateigentums und der daraus erwachsenden Privateigentümerideologie. Durch die genossenschaftlichen Zusammenschlüsse aller Bauern in der DDR wurde ein historischer Schnitt vollzogen. Die sozialökonomische Struktur des Dorfes hatte sich 1960 durch die Bildung von über 19.000 LPG mit einer durchschnittlichen Betriebsgröße von 245 ha grundlegend verändert. Mit der genossenschaftlichen Bewirtschaftung von über 85 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche, war die LPG die dominierende Betriebsform auf dem Lande.330 Das Recht nahm bei der Herausbildung und Entwicklung der LPG eine maßgebliche Rolle ein. 1952 wurden erstmals Musterstatuten für die LPG erlassen.331 Nach etlichen weiteren Rechtsvorschriften verabschiedete die Volkskammer schließlich am 3. Juni 1959 – kurz vor Abschluss der umfassenden Vergenossenschaftlichung – das LPG-Gesetz.332 ZVOBl. S. 244. „Die LPG waren, sind und bleiben der entscheidende Betriebstyp in der sozialistischen Landwirtschaft. In den LPG entwickelte sich auf der Grundlage des genossenschaftlichen Eigentums und der genossenschaftlichen Arbeit die Klasse der Genossenschaftsbauern. . . Die LPG wurde zu einem untrennbaren und dauerhaften Bestandteil der sozialistischen Gesellschaftsordnung“, Richard Hähnert / Helmut Richter / Günther Rohde (Leiter des Autorenkollektivs), LPG-Recht (wie Anm. 309), S. 27. 331 Musterstatut für LPG Typ I vom 09. 04. 1952, GBl. I, S. 333. 332 Gesetz über die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften vom 03. 06. 1959 (GBl. I, S. 577); Klaus Heuer (Leiter des Autorenkollektivs), Kommentar zum LPG-Gesetz, Berlin (Ost) 1964. 329 330

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Der Gesetzgeber hob zwar das deutsche Genossenschaftsgesetz (GenG) vom 1. Mai 1889 formell nicht auf, setzte aber – um Diskontinuität bemüht – an die Stelle ein Recht, das zum Ausdruck bringen sollte, dass in der DDR Genossenschaften fortan nur in Übereinstimmung mit den Idealen der neuen Gesellschaftsordnung existieren könnten. Auch hier, bei der Zusammenfassung der vielen Einzelbauern in Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften, sind Einflüsse auf die Häufigkeit der Zivilprozesse wahrscheinlich. Denn die Konflikte der Genossen innerhalb oder mit der LPG werden nur selten zu Gericht gegangen sein. Rechtsstreitigkeiten der LPG mit anderen Rechtssubjekten werden gleichfalls nicht sehr häufig gewesen sein,333 jedenfalls weniger häufig als die möglichen Konflikte unter den Einzelbauern. Bei Klagen von Bürgern gegen LPG betrug die Erfolgsquote nur 10%. In 47% der Fälle erfolgte eine Klagerücknahme.334 d) Arbeitsrecht335 Modernes Arbeitsrecht, also Arbeitsrecht der industriellen Gesellschaft, definiert sich vor allem durch seine Schutzfunktion. Wer seine „Ware Arbeitskraft“ auf dem Arbeitsmarkt anbietet, wird üblicherweise als schwächer angesehen als derjenige, der diese Arbeitskraft nachfragt. In Abhängigkeit von der Marktsituation war das im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts durchgängig der Fall. Daher wurde es in der Rechtsgeschichte stets als besonders spannend angesehen, diejenigen Systeme zu betrachten, in denen der das Arbeitsrecht prägende „Klassenantagonismus“ aufgehoben war. Das galt zunächst einmal für das gemeinschaftsideologisch geprägte 333 Rainer Schröder, Zivilprozess in der DDR: Vorurteil und Realität, in: ders. (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 26), S. 121. 334 Die Agrargesetzgebung in der DDR stützt v. a. in den späten 70er und den 80er Jahren die Tendenz zur Ausprägung des Agrarrechts in der DDR. In dieser Zeit wurden folgende (wichtige) Rechtsvorschriften mit agrarrechtlicher Relevanz erlassen: 1) Statut des Ministeriums für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft (1975); 2) Musterstatuten und -betriebsordnungen der LPG Pflanzen- und Tierproduktion (1977); 3) Pflanzenschutzverordnung (1978); 4) Saat- und Pflanzgutverordnung (1978); 5) Tierzuchtgesetz (1980); 6) Bodennutzungsverordnung (1981); 7) Gesetz über die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (1982). 335 Dieter Gräf, Im Namen der Republik. Rechtsalltag in der DDR, München 1988; Marion Hage, Betriebliche Konflikthandhabung in der DDR und der Bundesrepublik. Qualitative Analyse und rechtspolitische Perspektiven (= Studienreihe Arbeitsrechtliche Forschungsergebnisse, Bd. 8), Hamburg 2001; Thilo Ramm (Hrsg.): Entwürfe zu einem Deutschen Arbeitsvertragsgesetz, mit dem Arbeitsgesetzbuch der DDR von 1990 und dem österreichischen Entwurf einer Teilkodifikation des Arbeitsrechts von 1960 (= Hauptwerke des Arbeitsrechts und der Sozialpolitik, Bd. 1), Frankfurt a.M. 1992; Hubert Rottleuthner, Rechtssoziologische Studien zur Arbeitsgerichtsbarkeit, Baden-Baden 1984; Kristina Schmidt / Wolfhard Kothe, Konfliktkommissionen in der DDR – Historische Erfahrungen für Impulse für aktuelle Diskussionen, in: ZfRSoz 1996, S. 259 – 285; Wera Thiel, Arbeitsrecht in der DDR. Ein Überblick über die Rechtsentwicklung und der Versuch einer Wertung, Opladen 1997.

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Arbeitsrecht des Dritten Reiches,336 wo Arbeitgeber und Arbeitnehmer in der Betriebsgemeinschaft aufgingen, aber auch für die DDR, wo eben diese Entgegensetzung geradezu systemfremd gewesen wäre. Welcher Art konnten die Konflikte sein, die bei den Konfliktkommissionen und den Kreisgerichten in Bezug auf individuelles oder – fast nicht vorstellbar – kollektives Arbeitsrecht zu lösen waren? Diese Rechtsstreitigkeiten hätten über die Natur der DDR-Gesellschaft Auskunft geben können. Wiewohl es aus Kapazitätsgründen nicht möglich war, die Arbeitsgerichtsprozesse zu erfassen und sie ähnlich intensiv zu analysieren wie es hier mit den Zivilprozessen erfolgt, erscheint ein kurzer Blick auf dieses Rechtsgebiet dringend erforderlich. Das Arbeitsrecht wurde mit Gesetz vom 12. April 1961 in das Gesetzbuch der Arbeit (GBA)337 ausgegliedert, das am 16. Juli 1977 als Arbeitsgesetzbuch (AGB)338 neu gefasst wurde. Schon vorher wurden die Regelungen des BGB weitestgehend als „gegenstandslos“ angesehen.339 Verfahrensrechtlich waren die arbeitsrechtlichen Streitigkeiten, insbesondere nach der Schaffung der Konfliktkommissionen, von den zivilrechtlichen getrennt, sodass auch sie von der vorliegenden Untersuchung ausgenommen werden konnten.340 Das Arbeitsrecht der DDR beruhte auf der Prämisse, dass das Privateigentum an Produktionsmitteln abgeschafft sei und dass Produktion und Arbeit durch staatliche Pläne geregelt werden.

aa) Die Anfänge in der unmittelbaren Nachkriegszeit Das Arbeitsrecht der DDR war naturgemäß Teil der gesellschaftlichen Gesamtstrategie, die auf eine grundlegende sozialökonomische Umwälzung gerichtet war. 336 Andreas Kranig, Arbeitsrecht im NS-Staat; Texte u. Dokumente, Köln 1984; Thilo Ramm, Arbeitsrecht und Politik. Quellentexte 1918 – 1933, Neuwied am Rhein 1966; Veit Schell, Das Arbeitsrecht der Westzonen und der jungen Bundesrepublik: eine Betrachtung der Entwicklung des Arbeitsrechts in den westlichen Besatzungszonen und der Bundesrepublik Deutschland für die Jahre 1945 bis 1955 (= Schriften zur Rechtswissenschaft, Bd. 12) Bayreuth 1993. 337 GBl. I, S. 27 – 49. 338 GBl. I, S. 185 – 227. 339 Ministerium der Justiz (Hrsg.), BGB (1954), S. XI; Wera Thiel, Arbeitsrecht in der DDR (wie Anm. 335), S. 66: „Die Weitergeltung des BGB wurde erst mit dem GBA ausdrücklich verneint.“; ähnlich: Heide M. Pfarr, Auslegungstheorie und Auslegungspraxis im Zivil- und Arbeitsrecht der DDR (= Schriften zur Rechtstheorie, Heft 30) Berlin 1972, S. 134. 340 Zum Arbeitsrecht der DDR auch: Stefan Middendorf, Recht auf Arbeit in der DDR (wie Anm. 296); Ulrich Lohmann, Das Arbeitsrecht der DDR. Analyse und Texte (= Die Gesetzgebung der sozialistischen Staaten, Einzelausgabe 22, Quellen zur Rechtsvergleichung aus dem Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin hrsg. von Herwig Roggemann), Berlin 1987; Ulrich Eisenhardt, Deutsche Rechtsgeschichte, 3. Aufl. München 1999, S. 573 ff.; Georg Brunner, Einführung in das Recht der DDR, 2. Aufl. München 1979, S. 120 – 136.

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Mit dem Befehl Nr. 2 der SMAD vom 10. Juni 1945 wurde die Bildung von Gewerkschaften zugelassen. Seit Sommer 1945 wurden dann in Ostdeutschland die ersten Gewerkschaften gegründet, die sich in der SBZ zum Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) zusammenschlossen. Als Gesetzgeber des neuen Arbeitsrechts trat neben dem Alliierten Kontrollrat und der SMAD die Deutsche Verwaltung für Arbeit und Sozialfürsorge auf. Sie war eine von der SMAD durch Befehl Nr. 17 vom 27. Juli 1945 geschaffene Zentralverwaltung. Die erste Aufgabe eines neuen Arbeitsrechts war es, die nationalsozialistische Arbeitsgesetzgebung zu beseitigen. Der Befehl Nr. 2 der SMAD vom 10. Juni 1945 legte in Ziff. 4 u. a. fest: „Auf Grund des vorstehenden sind alle faschistischen Gesetze sowie alle faschistischen Beschlüsse, Anordnungen, Instruktionen usw. aufzuheben, die die Tätigkeit der antifaschistischen politischen Parteien und freien Gewerkschaften und Organisationen untersagen und gegen demokratische Freiheiten, bürgerliche Rechte und Interessen des deutschen Volkes gerichtet sind.“

Mit dem Befehl Nr. 66 vom 17. September 1945 der SMAD wurde u. a. das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 aufgehoben.341 Auch aufgrund des Art. 11 des Kontrollratsgesetzes Nr. 1 waren diejenigen Gesetze bzw. Normen, die typisch faschistischen Charakter trugen, nicht mehr anzuwenden. Dies betraf ganze Gesetze, wie das „Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit“ vom 20. Januar 1934 und das „Gesetz zur Ordnung der Arbeit in öffentlichen Verwaltungen und Betrieben“ vom 23. März 1934. Allerdings blieben die aufgrund dieser Gesetze erlassenen Tarifordnungen zunächst in Kraft. Dies galt auch für die Arbeitszeitverordnung von 1938, das Mutterschutz- und das Jugendschutzgesetz.342 Die staatliche Wirtschaftsplanung zusammen mit den verstaatlichten Teilen der Wirtschaft ermöglichten es, zunächst in den Länderverfassungen, ein Recht auf Arbeit zu kodifizieren.343

341 Einer der ersten Schritte der Nationalsozialisten im Rahmen ihrer Machtergreifung war das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 07. 04. 1933 (RGBl. I, S. 175), aufgrund dessen jüdische und politisch missliebige Beamte aus dem Dienst entfernt wurden (insgesamt 1 – 2%, im höheren Dienst bis zu 15%). Zu einer umfassenden Umschichtung des Beamtentums kam es jedoch nicht; nicht zuletzt auch deshalb, weil sich die Berufsbeamten den neuen Machthabern nicht wirklich widersetzten. 342 Matthias Etzel, Die Aufhebung von nationalsozialistischen Gesetzen durch den Alliierten Kontrollrat (wie Anm. 291). 343 Vgl. Art. 15 der Verfassung des Landes Mecklenburg: „Jeder Bürger hat ein Recht auf Arbeit. Er kann sich seinen Beruf frei wählen. Es ist Aufgabe des Landes, durch Wirtschaftslenkung jedem Bürger Arbeit und Lebensunterhalt zu sichern. Soweit ihm angemessene Arbeitsgelegenheit nicht nachgewiesen werden kann, wird für seinen Lebensunterhalt gesorgt.“ Umfassend dazu Stefan Middendorf, Recht auf Arbeit in der DDR (wie Anm. 296).

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Die vorerst ohne rechtliche Grundlage gebildeten Betriebsräte, die meist auf Initiative der Arbeiter und Angestellten gebildet worden waren, erhielten erst mit dem Kontrollratsgesetz Nr. 22 vom 10. April 1946, dem sog. Betriebsrätegesetz344, eine nachträgliche Legitimation. Das Betriebsrätegesetz ging insoweit über das von 1920 hinaus, als es die Verpflichtung der Betriebsräte die Unternehmer bei der Erfüllung des Betriebszwecks zu unterstützen, fallen ließ. Das Betriebsrätegesetz war v. a. ein Rahmengesetz, das den Belegschaften breiten Raum ließ. So konnten in Form von Betriebsvereinbarungen, an denen die Betriebsräte und der Arbeitgeber partnerschaftlich mitwirkten, die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates ausgedehnt werden. Die Durchsetzung solcher Vereinbarungen stieß naturgemäß auf den Widerstand der Arbeitgeber und konnte zum Teil nur durch Streiks oder ultimative Forderungen der Betriebsräte bewerkstelligt werden.345 Die Institution der Betriebsräte sollte in der SBZ aber nicht von Dauer sein. Ihr Ende war besiegelt als der Bundesvorstand des FDGB im November 1948 auf der Zonenkonferenz in Bitterfeld beauftragt wurde, Maßnahmen zur Übernahme der Funktionen der Betriebsräte durch die Betriebsgewerkschaftsleitung durchzuführen. Die Gewerkschaften waren zu diesem Zeitpunkt bereits nach dem Prinzip des demokratischen Zentralismus organisiert und insofern – und nicht zuletzt durch die Doppelmitgliedschaft der FDGB-Vorsitzenden Jendretzky und Warnke im Zentralsekretariat bzw. im Politbüro der SED – berechenbar. Dagegen bargen die Betriebsräte ein stark basisdemokratisches Element. Ihnen war das Wohlergehen der eigenen Belegschaft näher als die Einhaltung des Wirtschaftsplans, was sie für eine staatlich gelenkte Wirtschaft zu einem unkalkulierbaren Faktor und damit zu einem Störelement werden ließ. So wurde denn auch die Beseitigung der Betriebsräte als „Höherentwicklung des betrieblichen Mitbestimmungsrechts gegenüber dem bisherigen Zustand“ bezeichnet.346 Die erste allgemeine Regelung für Tarifverträge erfolgte am 14. März 1947 mit dem SMAD-Befehl Nr. 61, dem auch ein Musterkollektivvertrag beigefügt war, der bei Abschluss von Tarifverträgen zugrunde zu legen war. Die Tarifverträge galten unmittelbar. Von ihnen durfte weder zugunsten noch zuungunsten der Arbeitnehmer abgewichen werden. Dass auch zugunsten von Arbeitnehmern nicht vom Tarifvertrag abgewichen werden durfte, war neu. Dieser Passus war der wirtschaftlichen Lage in der SBZ geschuldet. In bestimmten lebenswichtigen Industrie344 Am 10. April 1946 ist durch das Kontrollratsgesetz Nr. 22 die Betriebsverfassung mit einem Betriebsrätegesetz wieder eingeführt worden. 1952 hat der Deutsche Bundestag die Betriebsverfassung in den Rang erhoben, den wir heute kennen. 1972 hat die sozialliberale Koalition die Betriebsverfassung erneut reformiert. 345 Veit Schell, Das Arbeitsrecht der Westzonen und der jungen Bundesrepublik (wie Anm. 336); Joachim Heilmann, Kommentar zum Mutterschutzgesetz, Baden-Baden 1984; ders. / Rudolf Aufhauser, Arbeitsschutzgesetz. Handkommentar, Baden-Baden 2005. 346 Rudolf Schneider, Geschichte des Arbeitsrechts der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin (Ost) 1957, S. 32.

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zweigen herrschte ein eklatanter Arbeitskräftemangel. Dieser Mangel sollte durch Planung behoben oder zumindest abgemildert werden. Diese Planung wäre aber unterlaufen worden, wenn Industriezweige oder einzelne Betriebe mittels des Günstigkeitsprinzips, also übertariflicher Leistungen, Arbeitskräfte außerplanmäßig hätten an sich binden können. Der Befehl Nr. 234 vom 09. 10. 1947 fasste die bis dahin ergangenen Regelungen auf dem Gebiet des Arbeitsrechts zusammen und installierte zudem eine neue Arbeitsordnung. Als disziplinarische Maßnahmen der Verantwortlichkeit für die Verletzung der Arbeitsdisziplin konnten der Verweis, die strenge Verwarnung, der öffentliche Tadel und die Entlassung ausgesprochen werden. Auch die Entziehung des markenfreien Essens bis zu 10 Tagen und die Anrechnung von verbummelten Tagen auf den Erholungsurlaub waren mögliche Sanktionen. Die Disziplinarmaßnahmen schlossen Schadenersatzansprüche des Betriebes gegen den Werktätigen aber nicht aus. Werktätige konnten nur bei verschuldeter Ausschussung materiell zur Verantwortung gezogen werden und wenn sie nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses Werkzeuge, Maschinen, Material und Arbeitsausrüstung nicht zurückgaben. Die folgende arbeitsrechtliche Entwicklung bis zur Gründung der DDR betraf die Bereiche Lohngestaltung und den Abbau der Einweisungen in Arbeitsverhältnisse.

bb) Die Gründung der DDR – Verfassung von 1949 Die Verfassung der DDR von 1949 enthielt eine Reihe von Arbeiterrechten. So verbürgte der Staat „durch Wirtschaftslenkung“ in Art. 15 der Verfassung jedem Bürger ein Recht auf Arbeit. Art. 16 garantierte das Recht auf Erholung und jährlichen Urlaub gegen Entgelt und auf Versorgung bei Krankheit (Abs. 1). In Art. 18 wurde ein umfassendes arbeitsrechtliches Gesetzgebungsprogramm formuliert: Einheitliches Arbeitsrecht und einheitliche Arbeitsgerichtsbarkeit (Abs. 1), Arbeitsbedingungen, die die Gesundheit, die kulturellen Ansprüche und das Familienleben der Werktätigen sichern (Abs. 2), leistungsgerechtes Arbeitsentgelt, das den Arbeitenden und ihren Angehörigen ein menschenwürdiges Dasein ermöglicht (Abs. 3), gleichen Lohn für gleiche Arbeit (Abs. 4), besonderen arbeitsrechtlichen Schutz und tatsächliche Unterstützung der Frau (Abs. 5), besonderen Jugendarbeitsschutz und Verbot der Kinderarbeit.

cc) Die Entwicklung von 1949 bis 1961 Der Verfassungsauftrag des Art. 18 der Verfassung von 1949 wurde insbesondere durch das „Gesetz der Arbeit zur Förderung und Pflege der Arbeitskräfte, zur Steigerung der Arbeitsproduktivität und zur weiteren Verbesserung der materiellen

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und kulturellen Lage der Arbeiter und Angestellten“ vom 19. April 1950347 und eine umfangreiche Nachfolgegesetzgebung verwirklicht. Der lange Titel des Gesetzes versinnbildlicht den umfassenden Regelungsgegenstand des Gesetzes. Die Aufgabe des sozialistischen Arbeitsrechts war nicht nur die Regelung der schuldrechtlichen Beziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, sondern der Schutz und die Entwicklung des Arbeitsvermögens, die Steigerung der Produktivität der Arbeit und die soziale Lage der Produzierenden.348 Das GdA, das in enger Zusammenarbeit mit dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) erarbeitet wurde, spiegelte die wirtschaftliche Situation der DDR Anfang der 50er Jahre wieder. Die strukturelle Arbeitslosigkeit in der DDR war zu diesem Zeitpunkt bereits beseitigt und in einigen Bereichen machte sich bereits ein Facharbeitermangel bemerkbar. Zu Beginn der 50er Jahre war die größte Arbeitskraftreserve der DDR in den bis dahin nicht berufstätigen Frauen zu sehen. Die §§ 26, 27 des GdA verpflichteten dementsprechend die Betriebe und Verwaltungen, „in weitestem Umfang Arbeitsplätze mit weiblichen Arbeitskräften zu besetzen“. Hinsichtlich der Mitbestimmung ging das GdA davon aus, dass „in unserer neuen demokratischen Ordnung das Mitbestimmungsrecht der Arbeiter und Angestellten ( . . . ) durch die demokratischen staatlichen Organe verwirklicht wird“ (Abschnitt II § 4). Zugleich wurden aber die wichtigsten Regelungsgegenstände, die traditionell in Tarifverträgen ausgehandelt werden, durch Verordnungen geregelt, so z. B. Lohn, Lohnform, Gehalt, Urlaub, Arbeitszeit, Arbeitsschutz.349 Mit der Regelung all dieser Themen durch den Ministerrat war ein wesentlicher Teil des kollektiven Arbeitsrechts faktisch abgeschafft.350 Mittels Verordnung wurden auch die Neugliederung und die Aufgaben der Arbeitsgerichtsbarkeit neugeregelt.351 Mit einer Verordnung vom gleichen Tage wurden zur Beilegung von Arbeitsstreitigkeiten als Vorstufe zum Gerichtsweg die Konfliktkommissionen gebildet. Gegen die Entscheidungen dieser gesellschaftGBl. S. 349 ff. Ulrich Lohmann, Das Arbeitsrecht der DDR (wie Anm. 340), S. 14 ff.; Wera Thiel, Arbeitsrecht in der DDR (wie Anm. 335). 349 Für eine ganze Reihe: VO über die Verbesserung der Entlohnung der Arbeiter und Angestellten in den volkseigenen und ihnen gleichgestellten Betrieben vom 17. 08. 1950 (GBl. S. 839), VO über die weitere Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiter und der Rechte der Gewerkschaften vom 10. 12. 1953 (GBl. S. 1219). 350 Rolf Ellermann-Witt / Hubert Rottleuthner / Harald Russig (Hrsg.), Kündigungspraxis, Kündigungsschutz und Probleme der Arbeitsgerichtsbarkeit, Opladen 1983; Hubert Rottleuthner, Probleme der Beobachtung von Gerichtsverhandlungen, dargestellt am Beispiel richterlicher Vergleichsstrategien und kompensatorischen Verhaltens in Arbeitsgerichtsverfahren, in: Winfried Hassemer / Wolfgang Hoffmann-Riem / Manfred Weiss (Hrsg.), Interaktion vor Gericht (Schriften der Vereinigung für Rechtssoziologie, Bd. 2), Baden-Baden 1978, S. 109 – 128. 351 VO über die Neugliederung und die Aufgaben der Arbeitsgerichtsbarkeit vom 30. 04. 1953. 347 348

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lichen Gerichte könnte von den Streitbeteiligten oder vom Staatsanwalt Einspruch vor dem Kreisgericht eingelegt werden. Bis 1983 lag die Anfechtungsquote unter 10%, was als Zeichen der juristischen Qualität oder / und der sozialen Akzeptanz der Konfliktkommissionsverfahren interpretiert werden kann.352

dd) Die Entwicklung 1961 bis 1977 – Gesetzbuch der Arbeit (GBA) Der V. Parteitag der SED forderte die Ausarbeitung eines umfassenden sozialistischen Arbeitsgesetzbuches. Das Gesetzbuch der Arbeit vom 1. Juli 1961 war somit die erste umfassende deutsche Kodifikation auf dem Gebiet des Arbeitsrechts.353 Es enthielt Regelungen zur Betriebsverfassung und zur Betriebsordnung, das individuelle Arbeitsvertragsrecht, die Berufsausbildung und Qualifizierung, den Gesundheits- und Arbeitsschutz sowie die Sozialversicherung, die kulturelle und sportliche Betreuung im Betrieb, die Förderung bestimmter Gruppen im Betrieb (Frauen, Jugendliche), die Arbeitsgerichtsverfassung und das Arbeitsgerichtsverfahren. Das Anliegen des Gesetzes lässt sich wie folgt umreißen: Arbeit – Fürsorge – Erziehung. Das Gesetz trägt die Spuren seiner Entstehungszeit. Wohl zu keiner Zeit waren die erziehungsdiktatorischen Merkmale der DDR so ausgeprägt in der Rechtssetzung zu erkennen. Der V. Parteitag brachte die „10 Gebote“ der sozialistischen Moral und Ethik hervor354. Der Erziehungsgedanke durchdrang das ganze Gesetz und führt z. B. dazu, dass „der ( . . . ) Betriebsleiter ( . . . ) verantwortlich für die Erziehung der Werktätigen und zur Einhaltung der Bestimmungen des Gesundheits- und Arbeitsschutzes“ gemacht wird (§ 92).355

Ulrich Lohmann, Das Arbeitsrecht der DDR (wie Anm. 340), S. 100. Thilo Ramm, Deutschlands Arbeitsverfassung nach 1945, in: JZ 1998, S. 473 – 481; ders. (Hrsg.), Entwürfe zu einem Deutschen Arbeitsvertragsgesetz mit dem Arbeitsgesetzbuch der DDR von 1990 und dem österreichischen Entwurf einer Teilkodifikation des Arbeitsrechts von 1960 (wie Anm. 91); der „Entwurf einer Regelung der Arbeit (September 1942)“ des Arbeitsrechtsausschusses der Akademie für Deutsches Recht (BA Koblenz R 61 / 115) ist vollständig abgedruckt bei Thilo Ramm, Die „Regelung der Arbeit“ (1942), das „Volksgesetzbuch“ und der Arbeitsrechtsausschuß der Akademie für Deutsches Recht, in: ZfA 1990, S. 407 – 493, insb. S. 435 ff. 354 Kurz gefasst: „Sozialistisch arbeiten, lernen und leben!“ 355 Zwischen den Merkmalen des „neuen Arbeitsstils“ kann ein Vergleich mit der Erziehung der Werktätigen zu sozialistischem Menschen im Zivilverfahren gezogen werden; siehe Boris Alexander Braczyk, (Selbst-)Erziehung der Gesellschaft – Der „neue Arbeitstil“ im Zivilverfahren der DDR ab 1958, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 26), S. 497 – 534, insb. S. 522. 352 353

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ee) Das Arbeitsgesetzbuch 1977 Im Umfeld des IX. Parteitags der SED 1976 fand eine umfassende Untersuchung über die Wirksamkeit des GBA statt. Die dabei gewonnenen Ergebnisse und die vom FDGB angeregte breite Diskussion führten schließlich zu einer kompletten Neufassung des Arbeitsrechts. Das Ergebnis war das Arbeitsgesetzbuch (AGB). Es enthielt fast doppelt so viele Paragraphen wie das GBA, war also wiederum eine „umfassende“ Regelung. Auch das AGB enthielt noch eine Fülle von Aufgabennormen und Floskeln, hatte aber dennoch gegenüber seinem Vorgänger erheblich an juristischer Substanz gewonnen. Die weitgehenden Erziehungsaufgaben der Betriebsleiter wurden zugunsten konkreter, nachvollziehbarer Sachaufgaben zurückgenommen. Für die Interpretation des AGB standen die „Gemeinsamen Standpunkte zur einheitlichen Anwendung des Arbeitsgesetzbuches“, die vom Obersten Gericht, dem Generalstaatsanwalt der DDR, dem Bundesvorstand des FDGB und dem Staatssekretariat für Arbeit und Löhne erarbeitet wurden, zur Verfügung. Sie ersetzten auch in gewisser Hinsicht den Kommentar zum AGB, dessen Erscheinen verhindert wurde.356 e) Zusammenfassung Die Bereiche Wirtschafts-, Familien- und Arbeitsrecht wurden wie oben dargestellt vom Regelungsgegenstand des BGB ausgenommen. Mit dem VII. Parteitag 1967 wurde schließlich auch das noch 1964 postulierte357 Konzept eines einheitlichen Zivilrechts aufgegeben.358 Das noch verbliebene Zivilrecht war somit zum „Feierabendrecht“359 bzw. „Recht der Reste“360 geworden.

356 Vgl. hierzu: Axel Dost, Arbeitsrecht, in: Uwe-Jens Heuer (Hrsg.), Die Rechtsordnung der DDR (wie Anm. 249), S. 138 Fn. 52. 357 Vgl. Peter Hommelhoff, Einheitliche oder zerspaltene Zivilrechtsordnung. Zum Nebeneinander von ZGB und DDR-Vertragsgesetz, in: Jörn Eckert / Hans Hattenhauer (Hrsg.), Das Zivilgesetzbuch der DDR vom 19. Juni 1975 (wie Anm. 167), S. 76. 358 Hans Ranke, Neues ökonomisches System und aktuelle Probleme des sozialistischen Zivilrechts, in: NJ 1967, S. 201 – 205. 359 Joachim Göhring / Martin Posch (Leiter des Autorenkollektivs), Zivilrecht – Lehrbuch Teil 1 und 2, Berlin (Ost) 1981. 360 Horst Kellner, Probleme des Gegenstandes des sozialistischen Zivilrechts, in: NJ 1974, S. 201; Kellner spricht in diesem Zusammenhang von der Tendenz, „das Zivilrecht zu atomisieren und Stück für Stück neue Rechtsgebiete oder gar Rechtszweige zu schaffen“, ebenda, S. 196.

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2. Prozessual: Gesellschaftliche Gerichte Art. 130 Abs. 1 der Verfassung der DDR vom 7. 10. 1949361 lautete: „An der Rechtspflege sind Laienrichter im weitesten Umfang zu beteiligen.“

Diesen Verfassungsgrundsatz setzte die DDR, neben der Beteiligung von juristischen Laien als Schöffen an der Rechtsprechung, durch die Schaffung der sogenannten „Gesellschaftlichen Gerichte“ um. Gesellschaftliche Gerichte waren die Konfliktkommissionen in den Betrieben und die Schiedskommissionen in den Wohngebieten. Die Idee, Recht für Bürger von Bürgern sprechen zu lassen, lebensnah, nachhaltig und kostensenkend und so Konflikte innerhalb der sozialen Gemeinschaften zu lösen und damit nicht zu den anscheinend als behäbig, bürokratisch und sachfremd empfundenen Gerichten gelangen zu lassen, ist alt. Schon im 19. Jahrhundert wurde in bürgerlichen Kreisen diesbezüglich diskutiert und das Instrument des Friedensrichters bzw. des Schiedsmannes favorisiert.362 Bürgerliche Kreise warfen im Zuge der großen Justizdiskussionen circa ab 1890 den Richtern Lebensfremdheit vor, und die Laienbeteiligung wurde geradezu zur zentralen Forderung bürgerlicher, konservativer sowie linksliberaler Kreise.363 Die sozialistische Bewegung verlangte nicht nur im Bereich des Straf-, sondern auch im Bereich des Arbeits- und Gewerberechts eine Laienbeteiligung. Das gehörte gewissermaßen zu den ganz alten Forderungen der Sozialisten. Da es Gerichte mit Laienbeteiligung im Bereich der Kaufmanns- und Gewerbegerichte, aber auch der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit bereits gab, wird man nicht davon sprechen können, dass die Forderungen erst in der DDR eingelöst wurden. Doch die Gesellschaftlichen Gerichte, die von Laien dominiert waren, erreichten eine andere Qualitätsstufe. Diese Gesellschaftlichen Gerichte waren auch in der bundesrepublikanischen Welt derart faszinierend, dass sich schon eine Reihe von Arbeiten mit der Institution der Gesellschaftlichen Gerichten in der DDR als einem vermeintlichen Vorbild befasst hat.364 Im Vordergrund standen dabei eindeutig strafrechtliche Aspekte. Diese wurden u. a. von Felix Herzog365, Britta Schubel366, Hans Martin Schmid367 und Thomas GBl. I, S. 5. Hans-Andreas Schönfeldt, Vom Schiedsmann zur Schiedskommission. Normdurchsetzung durch territoriale gesellschaftliche Gerichte in der DDR, Frankfurt a.M. 2002. 363 Rainer Schröder, Die Richterschaft am Ende des zweiten Kaiserreiches unter dem Druck polarer sozialer und politischer Anforderungen, in: Arno Buschmann (Hrsg.), Festschrift für Rudolf Gmür, Bielefeld 1983, S. 201 – 253. 364 Erhard Blankenburg / Walther Gottwald / Dieter Strempel (Hrsg.), Alternativen in der Ziviljustiz. Berichte, Analysen, Perspektiven, Köln 1982; Steinbach und Kniffka setzen sich im Rahmen ihrer Untersuchung mit der Diskussion nach Alternativen zur gängigen Justiz auseinander, die besonders in den 70er Jahren der Bundesrepublik geführt wurde; Elmar Steinbach / Rolf Kniffka, Strukturen des amtsgerichtlichen Zivilprozesses. Ergebnisse einer rechtstatsächlichen Aktenuntersuchung, München 1982, S. 197 f. 361 362

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Kap. 2: Historische Einführung

Feltes368 untersucht. Einen guten Überblick über die Geschichte der Gesellschaftlichen Gerichte gibt Holger Haerendel.369 Die gegenwärtig gründlichste Arbeit über die Schiedskommissionen stammt von Hans-Andreas Schönfeldt.370 Zu den Konfliktkommissionen, die auch auf Untersuchungen zum Arbeitsrecht der DDR eingehen,371 verfasste Olaf Fischer eine Dissertation.372 Einige der genannten Arbeiten gehen am Rande auf die zivilrechtlichen Probleme ein. Die Auseinandersetzung mit den zivilrechtlichen Aspekten der Gesellschaftlichen Gerichte ist sonst, bis auf einen Aufsatz von Krug, zurückhaltender ausgefallen,373 doch gerade dieser Aspekt ist hier von Interesse.

a) Bildung der Gesellschaftlichen Gerichte Die Konfliktkommissionen wurden in den Betrieben ab 1953 gebildet.374 Sie sollten sich mit arbeitsrechtlichen Streitigkeiten befassen. Ihre Mitglieder, Laienrichter, wurden unter leitender Beteiligung der Gewerkschaft bei den Wahlvorschlägen von der Belegschaft des Betriebes gewählt.375 „Während alle Belegschaftsmitglieder an der Wahl der Konfliktkommission teilnehmen können, bringt es das Vorschlagsrecht der Gewerkschaften für die Kandidaten, ihre Nomi365 Felix Herzog, Rechtspflege – Sache des ganzen Volkes?, Studien zur Ideologie und Praxis der Gesellschaftsgerichte in der DDR mit dem Schwerpunkt der nachbarschaftlichen Sozialkontrolle durch die Schiedskommissionen in den Wohngebieten, Baden-Baden 1999; ders. / Heike Wagner, Ideologie und Praxis der Gesellschaftsgerichte, in: Gerhard Dilcher (Hrsg.), Rechtserfahrung DDR, Berlin 1997, S. 69 – 88, insb. S. 82 – 85. 366 Britta Schubel, Geschichte und Gegenwart außergerichtlicher Erledigung von Strafsachen durch ehrenamtliche Schiedsinstanzen in den neuen Bundesländern, Berlin 1997. 367 Hans Martin Schmid, Gesellschaftliche Gerichte und ihre Übertragbarkeit auf das bundesdeutsche Strafverfahren, Erlangen 1999. 368 Thomas Feltes, Die außergerichtliche Erledigung von Konflikten – Historische Aspekte und aktuelle Bezüge, in: Heinz Mohnhaupt / Dieter Simon (Hrsg.): Vorträge zur Justizforschung. Geschichte und Theorie, Bd. 2 (wie Anm. 250), S. 581 – 597, insb. S. 591 – 594. 369 Holger Haerendel, Gesellschaftliche Gerichtsbarkeit in der Deutschen Demokratischen Republik. Eine rechtshistorische Betrachtung, Frankfurt a.M. 1996. 370 Hans-Andreas Schönfeldt, Vom Schiedsmann zur Schiedskommission (wie Anm. 362), mit ausführlicher Bibliographie. 371 Z. B. Stefan Middendorf, Recht auf Arbeit in der DDR (wie Anm. 296), insb. S. 363 – 366, S. 397 f.; Ulrich Lohmann, Das Arbeitsrecht der DDR. Analyse und Texte (wie Anm. 340), insb. S. 97 – 101. 372 Olaf Fischer, Die Konfliktkommissionen in der DDR und die Schiedsstellen für Arbeitsrecht in den neuen Bundesländern, Göttingen 1999. 373 Jürgen Krug, Das zivilrechtliche Wirken der Schiedskommissionen. Konzepte und Ergebnisse, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 26), S. 245 – 290. 374 Verordnung vom 30. April 1953, GBl. I, S. 693. 375 Olaf Fischer, Die Konfliktkommissionen in der DDR (wie Anm. 372), S. 40 f.

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nierung durch die Gewerkschaftsgruppe und die betrieblichen Gewerkschaftsleitungen mit sich, dass nur Gewerkschaftsmitglieder zur Wahl gestellt werden.“376

Eine freie Wahl ließ die DDR also auch hier nicht zu. Die Schiedskommissionen zur Regelungen von Konflikten außerhalb von Betrieben, insbesondere in Wohngebieten, wurden ab 1964 flächendeckend gebildet.377 Auch ihre Mitglieder waren Laien. Sie wurden durch die örtlichen Volksvertretungen gewählt (§ 7 Abs. 1g des Gesetzes über die örtlichen Volksvertretungen378). Die Gesellschaftlichen Gerichte wurden 1968 fest in die Gerichtsverfassung der DDR integriert.379 Welche Bedeutung die Gesellschaftlichen Gerichte hatten, zeigt ihre Verbreitung: Gegen Ende der DDR gab es rund 29.000 Konfliktkommissionen mit etwa 250.000 Mitgliedern und 5.500 Schiedskommissionen mit etwa 57.000 Mitgliedern.380 1971 bis 1976 wurden in den Schiedskommissionen 147.584 Beratungen durchgeführt, davon 23.371 im Jahr 1976.381 1988 fanden 17.175 Beratungen in Schiedskommissionen und 72.736 in Konfliktkommissionen statt.382

b) Tätigkeitsfelder der Gesellschaftlichen Gerichte – insbesondere bei zivilrechtlichen Streitigkeiten Die Konfliktkommissionen waren ganz überwiegend383 auf dem Gebiet des Arbeitsrechts tätig. Jedoch wurden auch zivilrechtliche Streitigkeiten erledigt. So 376 Stefan Otte / Siegfried Sahr / Bettina Herzog (Hrsg.): Die Konfliktkommission – Ein Leitfaden, Berlin (Ost) 1985, S. 11 – 17. 377 Nach der Richtlinie über die Bildung und Tätigkeit der Schiedskommissionen vom 21. August 1964, GBl. I, 1964, S. 115 ff.; Holger Haerendel, Gesellschaftliche Gerichtsbarkeit (wie Anm. 369), S. 131; zu den Vorläufern vgl. Felix Herzog, Rechtspflege – Sache des ganzen Volkes? (wie Anm. 365), S. 19 – 30. 378 Zuletzt vom 4. Juli 1985, GBl. I 85, S. 213; Holger Haerendel, Gesellschaftliche Gerichtsbarkeit (wie Anm. 369), S. 132 f. 379 Art. 92 der Verfassung der DDR vom 6. April 1968 und davon ausgehend mit dem Gesetz über die gesellschaftlichen Gerichte der DDR – GGG – vom 11. Juni 1968, GBl. I 1968, S. 229; Grundlage ihrer Tätigkeit wurden das Gesetz über die gesellschaftlichen Gerichte vom 11. Juni 1968 (GBl. I, S. 229) sowie die SchKO und die KKO vom 4. Oktober 1968 (GBl. I, S. 299 und S. 287). 380 Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Im Namen des Volkes? Katalog zur Ausstellung des Bundesministeriums der Justiz (wie Anm. 48), Tafel 29, S. 139; Felix Herzog, Rechtspflege – Sache des ganzen Volkes? (wie Anm. 365), S. 33 geht für die Mitte der 80er Jahre von ähnlichen Zahlen aus: ca. 26.000 Konfliktkommissionen, ca. 5.200 Schiedskommissionen, über 280.000 Mitglieder bei den Gesellschaftlichen Gerichten, S. 5; für 1966 gibt er eine Statistik wieder, nach der in 5.620 Schiedskommissionen 55.533 Mitglieder tätig waren. 381 Felix Herzog, Rechtspflege – Sache des ganzen Volkes? (wie Anm. 365), S. 51. 382 Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Im Namen des Volkes? Katalog zur Ausstellung des Bundesministeriums der Justiz (wie Anm. 48), Tafel 29, S. 140.

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waren z. B. in Cottbus 1972 bei 1.246 arbeitsrechtlichen und 948 strafrechtlichen Konflikten nur 28 zivilrechtliche Verfahren zu zählen, davon 20 Geldforderungen, eine Unterhaltsklärung und sieben „übrige“ Verfahren.384 Auch die Schiedskommissionen konnten neben Vergehen und Verfehlungen zivilrechtliche Konflikte behandeln. Die sachliche Zuständigkeit der Gesellschaftlichen Gerichte für Zivilsachen stand unter einem doppelten Vorbehalt: Der Streitwert durfte anfangs nicht über 500,– Mark, ab 1982 nicht über 1.000,– Mark liegen. Die Angelegenheit musste – was wohl maßgeblicher war – gemäß § 13 des Gesetzes über die Gesellschaftlichen Gerichte (GGG) in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht als „einfach“ eingeschätzt werden.385 Von den zivilrechtlichen Streitigkeiten wurden die meisten vor den Schiedskommissionen und nicht von den Konfliktkommissionen verhandelt.386 Von diesen wiederum betraf die Mehrheit Konflikte im Zusammenhang mit den Wohnverhältnissen.387 Es ging um Probleme bei der Einhaltung der Hausordnung, um Ruhestörungen, Belästigungen durch Unsauberkeit und um Streitigkeiten zwischen Grundstücksnachbarn sowie Eheleuten nach einer Trennung.388 Erst mit der Novellierung der Schiedskommissionsordnung 1982 konnte die Kommission auch streitige Entscheidungen in Zivilsachen treffen,389 vorher wurden Einigungen angestrebt. Gegen eine Entscheidung der Gesellschaftlichen Gerichte konnte Einspruch beim Kreisgericht eingelegt werden.390 Den Anteil der zivilrechtlichen Verfahren an den gesamten vor den Gesellschaftlichen Gerichten verhandelten Fällen zu bezeichnen ist schwierig. Nach Herzog machten 1976 „einfache zivilrechtliche und andere Streitigkeiten“ 26,8% der Beratungen bei den Schiedskommissionen aus.391 Zahlen für Dresden und Cottbus 383 Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Im Namen des Volkes? Katalog zur Ausstellung des Bundesministeriums der Justiz (wie Anm. 48), Tafel 29, S. 139: „zu drei Vierteln“. 384 Ähnliche Relationen lagen in Dresden vor, BA DP 1 VA 4016. 385 Holger Haerendel, Gesellschaftliche Gerichtsbarkeit (wie Anm. 369), S. 126, 182; Olaf Fischer, Die Konfliktkommissionen in der DDR (wie Anm. 372), S. 55; Ulrich Lohmann, Das Arbeitsrecht der DDR. Analyse und Texte (wie Anm. 340), S. 100. 386 Hans-Andreas Schönfeldt, Vom Schiedsmann zur Schiedskommission (wie Anm. 362), S. 316, „nur etwa 5 – 8% durch Konfliktkommissionen“, S. 394. 387 Hans-Andreas Schönfeldt, Vom Schiedsmann zur Schiedskommission (wie Anm. 362), für 1968: „mehr als zwei Drittel“, S. 287, 394; weitere Statistiken in: Britta Schubel, Geschichte und Gegenwart außergerichtlicher Erledigung von Strafsachen (wie Anm. 366), S. 321 – 334. 388 Hans-Andreas Schönfeldt, Vom Schiedsmann zur Schiedskommission (wie Anm. 362), S. 394. 389 Hans-Andreas Schönfeldt, Vom Schiedsmann zur Schiedskommission (wie Anm. 362), S. 354. 390 SchKO § 21 Abs. 5, § 53 Abs. 3 KKO; Hans-Andreas Schönfeldt, Vom Schiedsmann zur Schiedskommission (wie Anm. 362), S. 257; Olaf Fischer, Die Konfliktkommissionen in der DDR (wie Anm. 372), S. 67.

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aus den Jahren 1972 und 1973 bestätigen diese Relation.392 In Konfliktkommissionen lag der Anteil wesentlich niedriger. Auch der Anteil der zivilrechtlichen Konflikte, die vor einem Gesellschaftlichen Gericht und nicht vor einem Zivilgericht entschieden wurden, kann nicht genau beziffert werden: Für 1983 existiert die wohl grundsätzlich zutreffende Angabe, dass 10% aller zivilrechtlichen Verfahren von den Gesellschaftlichen Gerichten verhandelt wurden.393 1966 waren ca. 5.500 Schiedskommissionen mit ca. 55.000 Mitgliedern in den Wohngebieten der Städte und Gemeinden auch auf dem Gebiet des Zivilrechts tätig.394 Die Anleitung der Schiedsgerichte war Aufgabe der Kreisgerichte. Häufig waren die Schöffen auch Mitglieder der Schieds- und Konfliktkommissionen. Die Erziehungsfunktion der Gesellschaftlichen Gerichte löste die Rechtsprechungs- und Vermittlungstätigkeit der Schiedsmänner zunehmend ab. Die Zahl der vor Gesellschaftlichen Gerichten verhandelten Konflikte sank seit 1969 kontinuierlich. Hatten 1968 die Schiedskommissionen noch 14.483 zivilrechtliche (und sonstige) Streitigkeiten beraten,395 waren es 1988 nur noch 5.144,396 was einem Anteil von 7,6% aller verhandelten Zivilrechtskonflikte entsprach. Vor den Konfliktkommissionen waren nur vereinzelt zivilrechtliche Streitigkeiten verhandelt worden.397 Die Gesellschaftlichen Gerichte der DDR verhandelten und entschieden also auch zivilrechtliche Streitigkeiten. Es handelte sich dabei um Konflikte über geringe Geldbeträge oder Werte oder um verhaltensbedingte Streitigkeiten, bei denen regelmäßig eine Handlung oder Unterlassung verlangt wurde. Felix Herzog, Rechtspflege – Sache des ganzen Volkes? (wie Anm. 365), S. 51. In Cottbus wurden 1972 bei 759 strafrechtlichen Verfahren 337 zivilrechtliche (42 wegen „Geldforderungen“ und 295 „übrige“) verhandelt. In Dresden waren es 1972 bei 1820 strafrechtlichen Verfahren 629 zivilrechtliche (8 wegen „Geldforderungen“, 1 „Unterhalt“ und 621 „Sonstige“); für 1973 sind die Zahlen ähnlich; BA DP 1 VA 4016. 393 Harri Harrland, Aufgaben der Staatsanwaltschaft bei der Zusammenarbeit mit den Gesellschaftlichen Gerichten, in: NJ 1985, S. 4 – 7, insb. S. 6; Rainer Schröder, Zivilprozess in der DDR: Vorurteil und Realität, in: ders. (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 26), S. 123; Jürgen Krug, Das zivilrechtliche Wirken der Schiedskommissionen. Konzepte und Ergebnisse, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 26), S. 248. 394 Vgl. ausführlich Jürgen Krug, ebenda, S. 245 – 290. 395 Ministerium der Justiz der DDR, HA II 3460 – II – 680 / 66, 10. Bericht, zitiert nach Hans-Andreas Schönfeldt, Gesellschaftliche Gerichte in der DDR, in: Gerd Bender / Ulrich Falk (Hrsg.), Recht im Sozialismus, Bd. 2: Justizpolitik (wie Anm. 13), S. 257. 396 Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Sonderreihe mit Beiträgen für das Gebiet der ehemaligen DDR, Heft 10: Rechtspflege, Gericht, Verfahrensstatistik 1971 bis 1990, Wiesbaden 1994, S. 71. 397 Jürgen Krug, Das zivilrechtliche Wirken der Schiedskommissionen. Konzepte und Ergebnisse, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 26), S. 272 Fn. 10. 391 392

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Einige solcher Streitigkeiten sind durch diese Verfahren behoben worden, sodass danach kein Zivilprozess mehr geführt wurde. Im Bereich des Arbeitsrechts scheint es Tendenzen gegeben zu haben, dass die Konfliktkommissionen gewissermaßen als Vorinstanz vor den Gerichten tätig wurden. Möglich ist aber auch, dass andere ohne die Schiedskommissionen gar nicht vor ein Zivilgericht gelangt wären, weil etwa die Hemmschwelle hierzu größer war. Die Entlastung der Zivilgerichte bleibt damit kaum quantifizierbar. Es kann hier auch nicht der Frage nachgegangen werde, ob die Anzahl der Konflikte durch die Gesellschaftlichen Gerichte wirklich abnahm, also die streitschlichtende und erzieherische Funktionen der Gesellschaftlichen Gerichte griffen und wenn ja – um welchen Preis?398

C. Außerhalb des Zivilprozesses I. Eingaben: Gnade statt Recht 1. Einleitung Die Eingaben bildeten in der DDR nicht selten ein funktionales Äquivalent für Zivilprozesse. Es konnte wesentlich erfolgversprechender sein, eine Eingabe einzureichen als einen Zivil- (oder anderen) Prozess zu führen. Daher bedürfen die Eingaben eingehender Betrachtung, obwohl sie nur relativ selten, nämlich als Berufungs- und Kassationsanregung, direkt mit einem einzelnen Zivilprozess in Berührung kamen. Der Zivilrechtskultur der DDR wird man sicherlich mit der bloßen Konzentration auf die gerichtliche Geltendmachung zivilrechtlicher Ansprüche nicht gerecht. Spricht man mit Bürgern, die in der DDR gelebt haben, über Zivilgerichtsbarkeit, wird mitunter die Frage gestellt, ,gab‘s die denn‘, von Eingaben hat hingegen jeder gehört, oft sogar selbst mal eine verfasst. Allein wegen ihrer enormen Popularität399 – Ina Merkel meint, statistisch gesehen habe jeder Bürger der DDR eine Eingabe verfasst400 – kann das Eingabewesen 398 Dazu z. B. Felix Herzog, Rechtspflege – Sache des ganzen Volkes? (wie Anm. 365), S. 196 – 202, der u. a. ausführt: „das Ziel der Harmonisierung der Lebensverhältnisse war notwendig mit der Vorstellung einer Konformität von Interessen und Handlungsmotiven verbunden.“ Abweichendes Verhalten habe verschwinden müssen, S. 201. 399 Vgl. z. B. Alf Lüdtke / Peter Bender (Hrsg.), Akten. Eingaben. Schaufenster. Die DDR und ihre Texte. Erkundungen zu Herrschaft und Alltag. Berlin 1997; zu den umfangreichen sich daraus ergebenden Forschungsmöglichkeiten beispielsweise Felix Mühlberg, Konformismus oder Eigensinn? Eingaben als Quelle zur Erforschung der Alltagsgeschichte in der DDR, in: Mitteilungen aus der kulturwissenschaftlichen Forschung, 19. Jg. (1996), Nr. 37, S. 331 – 345. 400 Ina Merkel (Hrsg.), Wir sind doch nicht die Meckerecke der Nation! – Briefe an das Fernsehen der DDR, 2. Auflage, Berlin 2000, S. 10.

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der DDR nicht ignoriert werden. Hier wird die Diskrepanz zwischen individuellen Vorstellungen von Normalität und der erlebten Umwelt deutlich.401 Wie gerichtliche Klagen zeigen auch die Eingaben Störungen der Alltagsroutine, das Konfliktpotential der Gesellschaft. Das Instrument avancierte durch seine rechtliche Verankerung im ersten Eingabengesetz von 1953 – befreit von den Anforderungen an förmliche Rechtsmittel (wie Fristen und Instanzenwege) – zu einem nahezu universalen Mittel der Auseinandersetzung mit staatlichen Behörden und gesellschaftlichen Einrichtungen. Die Eingabe stellte eine direkte Form der Kommunikation zwischen den Bürgern und ihrem Staat dar, bei dem fast alle Probleme des Alltagslebens verhandelt wurden.402 Freilich handelte es sich bei Eingaben, trotz aller Garantien bezüglich ihrer Bearbeitung,403 gerade nicht um eine rechtlich garantierte und formalisierte Möglichkeit zur Durchsetzung eines Anspruchs, wie dies beim Zivilrechtsweg der Fall war. Ihrem Wesen nach waren die Eingaben nicht Teil des Zivilrechts und seiner gerichtlichen Durchsetzung. Sie waren von diesem jedoch auch nicht strikt zu trennen. Vielmehr übernahm das Eingabenwesen etwa die Natur einer Verwaltungsbeschwerde oder die einer Bittschrift. Ihre Bedeutung nahm aufgrund des Eingabegesetzes von 1953 zu, da dieses Gesetz ein Recht auf eine Antwort postulierte. Somit ist zu fragen, welche Möglichkeiten Bürger der DDR hatten, mit Hilfe von Eingaben zivilrechtliche Ansprüche geltend zu machen. War es möglich, durch Eingaben auf die zivilprozessuale Geltendmachung der Ansprüche und damit auf das Verfahren und dessen Ergebnis unmittelbar und mittelbar einzuwirken, inwieweit konnte durch Eingaben Konfliktpotential abgebaut werden, so dass es überhaupt nicht zur Klage kam? Dagegen kann die Frage, wie das Eingabenwesen der DDR im Verhältnis zum Verwaltungsrecht und allgemein zu bewerten ist, hier für diesen Kontext offen gelassen werden.404 Ina Merkel (Hrsg.), ebenda, S. 11. Ina Merkel (Hrsg.), ebenda, S. 13; zu den umfangreichen Inhalten auch Jochen Staadt, Eingaben: Die institutionalisierte Meckerkultur in der DDR. Goldbrokat, Kaffee-Mix, Büttenrede, Ausreiseanträge und andere Schwierigkeiten mit den Untertanen (= Arbeitspapiere des Forschungsverbundes SED-Staat, Freie Universität Berlin, 24), Berlin 1997. 403 Zur Garantie der Eingabenbearbeitung Heidrun Pohl / Gerhard Schulze, Gewährleistung der Gesetzlichkeit bei der Eingabenbearbeitung, in: NJ 1979, S. 246 – 248. 404 Jonathan R. Zatlin, Ausgaben und Eingaben. Das Petitionsrecht und der Untergang der DDR, in: ZfG 1997, S. 902 – 917, sieht im Eingabenwesen den Einsatz eines direktdemokratischen Arguments zur faktischen Entmachtung der Bürger, ein absolutistisches Herrschaftsinstrument und Beschwichtigungsmittel als Ersatz von Individualrechten, vgl. S. 902 und 907; Ina Merkel (Hrsg.), Wir sind doch nicht die Meckerecke der Nation! (wie Anm. 400), S. 14 f., betont eher die herrschaftssichernde seismographische Funktion, billigt ihm aber auch eine plebiszitäre Funktion zu. Zur allgemeinen Einordnung siehe Hartmut Krüger, Rechtsnatur und politische Funktion des „Eingabenrechts“ in der DDR, in: DÖV 1977, S. 432 – 437, zur verwaltungsgerichtlichen Funktion auch Inga Markovits, Rechtsstaat oder Beschwerdestaat? Verwaltungsrechtsschutz in der DDR, in: ROW 1987, S. 265 – 281. 401 402

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Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges entwickelte sich auch auf dem Gebiet der SBZ in kurzer Zeit eine umfangreiche Beschwerdepraxis,405 sowohl an die Landesparlamente als auch an die Einrichtungen der Exekutive.406 Die erste rechtliche Grundlage für das Eingabewesen in der DDR407 wurde mit der Verordnung über die Prüfung von Vorschlägen und Beschwerden der Werktätigen vom 6. Februar 1953 geschaffen.408 Der Eingabenerlass räumte erstmals dem Eingabenstel405 Das in der Verfassung der DDR verankerte Eingabenrecht lässt sich auf eine allgemeine europäische Rechtstradition zurückführen (inwieweit eine Parallele zum sowjetischen Modell besteht, wurde nicht untersucht, hierzu Nicholas Lampert, Whistleblowing in the Soviet Union. Complaints and Abuses under State Socialism, London 1985). Das Corpus Iuris Civilis zeigt, dass bei den römischen Kaisern Suppliken, devot gehaltene Bittschriften auf Gewährung einer Gunst an den (absoluten) Fürsten, in großer Zahl eingereicht wurden (C. 1.19 – 23), oftmals unter Übergehen der eigentlich zuständigen unteren Beamten. In Rechtsangelegenheiten allerdings durfte man ein an sich zuständiges unteres Gericht nur dann überspringen und sich direkt an den Kaiser wenden, wenn zu befürchten stand, dass das untere Gericht parteilich entscheiden werden (C. 3.14.1.1); Gero Dolezalek, Art.: Suppliken, in: Adalbert Erler / Ekkehard Kaufmann / Dieter Werkmüller (Hrsg.), HRG – Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. V, Berlin 1998, S. 94. In der Neuzeit gewannen Suppliken an die verwaltende Obrigkeit an Bedeutung. Dabei wurde auch die Justiz in Zivilsachen häufig angegriffen, oft in Angelegenheiten, die heute zur Justizverwaltung zählen. Der Supplikant aus niederem Stand war nahezu unentbehrlich für ein geordnetes Rechtsleben, gewährte er dem Fürsten doch Einblicke in Mängel des Staatsapparates, nicht zuletzt in die von Recht und Rechtsgang und trug so zur Verbesserung von Verwaltung und Justiz bei. Die Flut von Suppliken führte jedoch auch zu einer starken Erhöhung der Arbeitslast von Justiz und Verwaltung und förderte die Kabinettsjustiz (Gero Dolezalek, ebenda, S. 96). Je mehr liberale Kräfte im 19. Jahrhundert auf Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und ihre gerichtliche Kontrolle sowie auf die Unabhängigkeit der Rechtspflege drängten, desto mehr gingen die Suppliken in Rechtssachen zurück. Demgegenüber gewann das Petitionsrecht, das Grundrecht des Bürgers sich mit einer Eingabe an eine offizielle Stelle wenden zu dürfen, dem aber der Charakter eines Rechtsbehelfs weitgehend fehlte, an Bedeutung. Dieses Recht findet sich bereits 1689 in England (Bill of Rights), 1776 in der Verfassung von Pennsylvania, wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert zum Mittel des über keine parlamentarische Vertretung verfügenden Bürgertums, dem Monarchen politische Forderungen zu präsentieren und gilt in der liberalen Staatstheorie neben Versammlungs-, Vereinigungs- und Presserecht als wichtigste Säule der öffentlichen Meinung (Johann Heinrich Kumpf, Art.: Petition, in: Adalbert Erler / Ekkehard Kaufmann (Hrsg.), HRG – Handbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. III, Berlin 1984, S. 1640 – 1642). Im Grundgesetz wurde das Petitionsrecht in Art. 17 verankert und allein gegenüber dem Bundestag jährlich etwa 13.000-mal ausgeübt (Stand 1980) (vgl. dazu Eduard Neumaier, Petitionen. Das Eingaben-Recht – Des Bürgers Notrufsäule, Bonn 1976). 406 Ina Merkel (Hrsg.), Wir sind doch nicht die Meckerecke der Nation! (wie Anm. 400), S. 12. 407 Ausführlich zur Gesetzesgeschichte: Bettina Theben, Eingabenarbeit. Zur Rolle der volkseigenen Betriebe bei der Schlichtung zivilrechtlicher Streitigkeiten mit Bürgern, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. II (wie Anm. 16), S. 83 – 127, hier insb. S. 92 – 100. 408 GBl. I, S. 265 ff.: „VO über die Prüfung von Vorschlägen und Beschwerden der Werktätigen. Vom 6. Februar 1953“ von § 1 bis § 17. Diese Regelung folgte der Verwaltungsreform von 1952, die als Konsequenz der Abschaffung der Länder mit dem „Gesetz über die weitere Demokratisierung des Aufbaus und der Arbeitsweise der staatlichen Organe in den Ländern der DDR“ vom 23. 7. 1952 auch die Landesverwaltungsgerichte beseitigte, vgl.

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ler sowohl gegenüber der Legislative als auch gegenüber der Exekutive das gesetzlich garantierte Recht auf Antwort innerhalb bestimmter Frist ein. Dem folgte ein Erlass des Staatsrates der DDR über die Eingaben der Bürger und die Bearbeitung durch die Staatsorgane vom 27. Februar 1961.409 Die Verfassung der DDR von 1968 enthielt in Art. 103 ein Recht des Bürgers, sich mit Eingaben (Vorschlägen, Hinweisen, Anliegen oder Beschwerden) an die Volksvertretungen, Abgeordneten, staatlichen und wirtschaftlichen Organe wenden zu können.410 Dieses Eingabenrecht wurde durch Erlass des Staatsrates am 20. November 1969411 und Beschluss des Ministerrates vom 20. November 1969412 näher ausgestaltet, bis am 19. Juni 1975 das Gesetz über die Bearbeitung der Eingaben der Bürger – Eingabengesetz – erging.413 Die doppelte Natur der Eingaben, die sowohl als politisches als auch als verwaltungsrechtliches Instrument verstanden wurden, trat erneut deutlich hervor. Mit dem ersten Eingabengesetz 1953 hatte sich das Eingabenwesen in ein universelles Mittel der Auseinandersetzung mit staatlichen Behörden gewandelt, indem es eine direkte Form der Kommunikation zwischen Bürger und Staat bildete und die Volksstimmung widerspiegelte.414 Außerdem wurden mit Anordnung vom 2. Januar 1969 Kundenbücher in den Verkaufseinrichtungen und Gaststätten des sozialistischen Einzelhandels, mit dem ZGB von 1975 in allen Dienstleistungsbetrieben, eingeführt.415 Die Einträge waren nach §§ 136, 163 ZGB als Eingaben zu werten und unterlagen damit dem Eingabenrecht.416

Hermann Wentker, Justiz in der SBZ / DDR (wie Anm. 22), S. 195. In der Folge der Babelsberger Konferenz von 1958 schließlich wurde das Verwaltungsrecht als eigenständiger Rechtszweig in der DDR und mit ihm die Verwaltungsgerichtsbarkeit – wenngleich nicht formaljuristisch – vollständig abgeschafft, vgl. hierzu Hans-Andreas Schönfeldt, Zur Geschichte der Rechtswissenschaft in der SBZ / DDR von 1945 – 1960. Eine Skizze, in: Heinz Mohnhaupt / Hans-Andreas Schönfeldt (Hrsg.), Normdurchsetzung in osteuropäischen Nachkriegsgesellschaften, Bd. 1: Sowjetische Besatzungszone in Deutschland – DDR (1945 – 1960) (wie Anm. 215), S. 189, insb. S. 282; Heike Amos, Justizverwaltung in der SBZ / DDR (wie Anm. 2), S. 193 f. 409 GBl. I, S. 7. 410 Vgl. dazu Thomas Friedrich, Aspekte der Verfassungsentwicklung und der individuellen (Grund-)Rechtsposition in der DDR, in: Hartmut Kaelble / Jürgen Kocka / Hartmut Zwahr (Hrsg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 483 – 497. 411 GBl. I, S. 239. 412 GBl. I, S. 35. 413 GBl. I, S. 265. 414 Ina Merkel (Hrsg.), Wir sind doch nicht die Meckerecke der Nation! (wie Anm. 400), S. 17. 415 GBl. II, S. 92. 416 Mühlberg verweist auf die Praxis der „doppelten Buchführung“, vgl. Felix Mühlberg, Wenn die Faust auf den Tisch schlägt. Eingaben als Strategie zur Bewältigung des Alltags, in: Gesellschaft für Bildende Kunst (Hrsg.), Wunderwirtschaft. DDR-Konsumkultur in den 60er Jahren, Köln, Weimar, Wien 1996, S. 175 – 184.

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2. Das Eingabewesen der DDR a) Legitimation Das Eingabewesen wurde von der DDR stets mit einer Doppelfunktionalität begründet. Dem Nutzen für die Staatsführung wurde immer auch der Nutzen für den Bürger an die Seite gestellt. „In der Praxis erweist sich die Bearbeitung der Eingaben in diesem Sinne als äußerst wirkungsvoll für die ständige Festigung des Vertrauensverhältnisses der Bürger zu ihrem Staat, für die Weiterentwicklung eines volksverbundenen Arbeitsstils der staatlichen Organe und für das Auffinden und Mobilisieren von Reserven zur Erfüllung und Übererfüllung der staatlichen Pläne, von nicht geringerer Bedeutung sind die Eingaben der Bürger in bezug auf die Aufdeckung noch mancher vorhandener Unzulänglichkeiten sowie deren Beseitigung in engster Zusammenarbeit der staatlichen Organe mit den Bürgern selbst. Die Bearbeitung der Eingaben erweist sich als eine wesentliche Komponente der ständigen Vervollkommnung der staatlichen Leitungstätigkeit.“417

Als wichtigste418 Funktionen der Eingaben, so wie die juristische Literatur der DDR es sich vorstellte, können angesehen werden: die Festigung der Sozialistischen Gesetzlichkeit419 (§ 2 Abs. 2 Eingabengesetz), die Kontrolle der eigenen Verwaltung, Justiz und der staatlichen Versorger, die Informationsgewinnung als Grundlage zukünftiger staatlicher Entscheidungen,420 die Motivation der Bürger zu politisch, gesellschaftlicher sozialer und kultureller Tätigkeit421 und Festigung ihres Vertrauens zu Staat und Justiz422 durch schnelle, unbürokratische und gerechte Einzelfallentscheidung. Allerdings wurde die dem eingebenden Bürger zuteil werdende Hilfe im Einzelfall zumindest in der juristischen Literatur seltener genannt, was jedoch nicht unbedingt für die Einstellung der jeweiligen Eingabenbearbeiter gelten musste. Die 417 Rolf Opitz / Gerhard Schüßler, Die Bearbeitung der Eingaben der Bevölkerung als Bestandteil der staatlichen Leitungstätigkeit, in: StuR 1978, S. 220. 418 Diese Funktionen wurden in fast jedem Beitrag zur Eingabenbearbeitung aufgeführt, es gab jedoch fast keinen Bereich, für den der Nutzen der Eingaben verneint wurde, vgl. z. B. Klaus Rubitzsch / Siegfried Rümmler, Eingabenarbeit zum Schutz landwirtschaftlicher Nutzflächen vor rechtswidriger Inanspruchnahme, in: NJ 1985, S. 112; Karl Barwinsky / Georg Knecht, Auswertung der Eingaben der Bürger für die Leitung der Zivilrechtsprechung der Kreisgerichte, in: NJ 1963, S. 367. 419 Karl Barwinsky / Georg Knecht, ebenda, S. 367 f. 420 Wolfgang Weise / Rudolf Baumgart, Eingabenbearbeitung und -analyse – erstrangige politische Aufgabe, in: NJ 1971, S. 700 ff. 421 Kurt Kleinert, Eingaben – Instrument der Mitarbeit der Bürger, in: NJ 1984, S. 393 ff.; umfassend: Der Staatsrat der DDR (Hrsg.), Eingaben der Bürger – eine Form der Verwirklichung des Grundrechtes auf Mitbestimmung und Mitgestaltung, Materialien der 18. Sitzung des Staatsrates der DDR am 20. November 1969 (= Schriftenreihe des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik, 3. Wahlperiode, Heft 10), Berlin (Ost) 1969. 422 Vgl. dazu Horst Clauss, Gute Eingabenbearbeitung festigt Vertrauen der Bürger zu Gerichten und Staatlichen Notariaten, in: NJ 1982, S. 127 f.

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Hilfe sollte auch (dogmatisch) keine direkte Funktion der Eingaben sein. Sie sollte gewährt werden, wenn sie der Sozialistischen Gesetzlichkeit entsprach. Der Bürger hatte ein Recht auf Beantwortung der Eingabe, nicht auf die Hilfe. Auf sie hatte der Bürger regelmäßig keinen rechtlichen Anspruch. Ziel des Rechts im Sozialismus war nicht die Verwirklichung individueller Rechte, sondern die Herstellung der Sozialistischen Gesetzlichkeit. Obwohl das Eingabenwesen sowohl Ausdruck des Bürgerbegehrens, Druckmittel und Beschwerdeinstrument gegenüber dem Versorgungsstaat war, übte es einen relativ geringen Einfluss auf die einzelnen Funktionäre aus. Die Eingabenverordnungen, die als Dienstanweisungen für „Staatsfunktionäre“ galten, wurden von diesen gewissermaßen wahrgenommen, dennoch erschienen sie oft als unrealisierbar aufgrund der politischen Grundsätze und vor allem der materiellen Umstände. Besonders wichtig blieben sie daher als Seismographen der Stimmung in der Bevölkerung, vor allem nach dem 17. Juni 1953.

b) Konzeption423 Die Bürger konnten sich gemäß § 1 des Eingabengesetzes,424 der mit Art 103 Abs. 1 der Verfassung von 1975 fast wörtlich übereinstimmte, schriftlich oder mündlich mit Vorschlägen, Hinweisen, Anliegen oder Beschwerden an Volksvertretungen und deren Abgeordnete, sowie an staatliche und wirtschaftsleitende Organe, volkseigene Betriebe, sozialistische Genossenschaften und sonstige staatliche Einrichtungen wenden. Diese Aufzählung der Adressaten war nach allgemeiner Ansicht der rechtswissenschaftlichen Literatur lediglich beispielhaft zu verste423 Vgl. auch Annett Kästner, Die Verfolgung zivilrechtlicher Ansprüche im Eingabenweg auf dem Gebiet des Mietrechts, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. II (wie Anm. 16), S. 129 – 149, insb. S. 131 ff. 424 Das Eingabengesetz von 1975 (19. Juni 1975, GBl. I, S. 461), § 1 Abs. 1 S. 1: Jeder Bürger hat das Recht, sich schriftlich oder mündlich mit Vorschlägen, Hinweisen, Anliegen und Beschwerden an die Volksvertretungen, die staatlichen und wirtschaftsleitenden Organe, die volkseigenen Betriebe und Kombinate, die sozialistischen Genossenschaften und Einrichtungen sowie an die Abgeordneten zu wenden. § 2 Abs. 1: Das achtungsvolle Verhalten gegenüber den Bürgern und die sorgfältige und schnelle Bearbeitung ihrer Anliegen sind grundlegende Pflichten für alle Leiter und Mitarbeiter der staatlichen und wirtschaftsleitenden Organe ( . . . ). § 2 Abs. 2: Die Leiter und Mitarbeiter haben durch eine gewissenhafte Bearbeitung der Eingaben beizutragen, den Bürgern bei der Bearbeitung persönlicher Schwierigkeiten zu helfen, ihr Vertrauen zu den Staatsorganen zu stärken, ihre Bereitschaft zur Teilnahme and er Lösung der staatlichen Aufgaben zu fördern und die sozialistische Gesetzlichkeit zu festigen. § 7 Abs. 1: Jeder Bürger hat Anspruch auf begründete schriftliche oder mündliche Antwort auf seine Eingabe. § 7 Abs. 2: Die Entscheidung über Eingaben ist spätestens innerhalb von 4 Wochen nach Eingang oder Bekanntwerden der Eingabe zu treffen und dem Bürger mitzuteilen. § 9 Abs. 1: Die Eingaben und die Ergebnisse ihrer Bearbeitung sind in allen staatlichen und wirtschaftsleitenden Organen, . . . regelmäßig auszuwerten und für die Verbesserung der Arbeit, insbesondere die Erfüllung der staatlichen Pläne und die Förderung der Initiativen der Bürger, zu nutzen.

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hen.425 Grundsätzlich war die Eingabe als ein mehrstufiges Rechtsinstitut konzipiert. Zunächst sollte die Eingabe beim dem Organ, Betrieb, Kombinat oder der Einrichtung eingelegt werden, dessen Struktur oder Verhalten einzelner Mitglieder sie verursacht hatte. Dabei ist auch hier die Tendenz, die Hemmschwelle möglichst weit abzusenken, zu beobachten. Gemäß § 3 Abs. 1 Eingabengesetz hatten die Leiter der staatlichen Organe dafür Sorge zu tragen, dass die Bürger ihre Anliegen persönlich vortrugen und sich beraten lassen konnten. So konnten Eingaben mündlich zur Niederschrift erfolgen. Außerdem waren die Leiter aller möglichen Eingabenadressaten verpflichtet, regelmäßig öffentlich angekündigte Sprechstunden anzubieten, in denen sich Bürger beraten lassen sowie ihre Kritik oder Anregungen persönlich vorbringen konnten.426 Die Entscheidung über eine Eingabe, auch über eine Weiterleitung an andere Organe, hatte gemäß § 4 Eingabengesetz der Leiter der entsprechenden Behörde zu treffen. Diesem stand bei der Entscheidung auf der Grundlage der sozialistischen Gesetzmäßigkeit ein Ermessen zu. Die Eingabenbearbeitung sollte in enger Zusammenarbeit der Leiter mit den Ausschüssen der Parteien (Nationaler Front), Gewerkschaften und anderen gesellschaftlichen Organisationen erfolgen, weshalb eine Abstimmung mit den Beschlüssen von Partei und Regierung zur Wirtschaftsstruktur, Innen- und Außenpolitik bei der Eingabenentscheidung vermutet werden kann.427 Gemäß § 7 Eingabengesetz musste dem Eingabenverfasser spätestens vier Wochen nach Eingang der Eingabe mit Begründung schriftlich oder mündlich geantwortet werden. Konnte der Eingabenadressat das Vorbringen aus fachlichen, rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht bearbeiten, erfolgte eine Abgabe an das sachnähere Staatsorgan, dem Eingabensteller war in diesem Fall eine Abgabenachricht zukommen zu lassen. War der Bürger mit der Antwort auf seine Eingabe nicht zufrieden, konnte er sich an das übergeordnete Organ oder den übergeordneten Leiter wenden, § 8 Eingabengesetz.428 Die Eingaben waren von den staatlichen Organen und Betrieben zu analysieren und auszuwerten, §§ 9 und 10 Eingabengesetz, und bestimmten staatlichen Stellen Bericht zu erstatten. 425 Wolfgang Bernet / Axel Schöwe / Richard Schüler, Für effektivere Verwirklichung des Eingabenrechts!, in: NJ 1988, S. 282 – 284, insb. S. 282. 426 Bettina Theben, Eingabenarbeit. Zur Rolle der volkseigenen Betriebe bei der Schlichtung zivilrechtlicher Streitigkeiten mit Bürgern, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. II (wie Anm. 16), S. 98; zum Gesamtkomplex vgl. Werner Klemm / Manfred Naumann, Zur Arbeit mit den Eingaben der Bürger, Berlin (Ost) 1977. 427 Bettina Theben, Eingabenarbeit. Zur Rolle der volkseigenen Betriebe bei der Schlichtung zivilrechtlicher Streitigkeiten mit Bürgern, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. II (wie Anm. 16), S. 100. 428 Diese Beschwerdemöglichkeit war erstmals in den Abschnitten IV und V des Eingabenerlasses von 1969 enthalten, zu den Einzelheiten der Beschwerdemöglichkeiten und weiteren freiwilligen Schlichtungsmöglichkeiten vgl. Bettina Theben, Eingabenarbeit. Zur Rolle der volkseigenen Betriebe bei der Schlichtung zivilrechtlicher Streitigkeiten mit Bürgern, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. II (wie Anm. 16), S. 99.

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Mit dem Eingabenerlass von 1969 war die persönliche Verantwortung für den ordnungsgemäßen Umgang mit der Eingabe eingeführt worden, § 4 des späteren Eingabengesetzes, deren Verletzung auch disziplinarisch sanktioniert war, § 13 Eingabengesetz. Insgesamt ist für die Eingabenbearbeitung ein gewaltiger bürokratischer Aufwand getrieben worden. Jonathan R. Zatlin429 sieht hierin ein gewaltige Verschwendung von Ressourcen, da mit steigender Anzahl die Eingabe ihrer Funktion als Herrschaftsinstrument beraubt würde, und einen der Gründe für den Untergang der DDR, da ökonomische in politische Forderungen umschlugen. Die Masse der Eingaben ist aber auch Beleg für Konflikte zwischen politischen Instanzen, dem Verwaltungsapparat und Bürgerinteressen. Der Eingabenerlass ist somit wohl auch deshalb verabschiedet worden, um Verwaltungshandeln zu regeln, d. h. die Verwaltung gesetzlich zu zwingen, auf Bürgerinteressen angemessen zu reagieren. Die Eingabenverordnung ist in diesem Sinne als eine Dienstanweisung für „Staatsfunktionäre“ zu lesen. Die Bürokraten sollten den Eingaben aus der Bevölkerung mehr Respekt zollen, auch um die höchsten Staatsmänner zu entlasten.430

c) Rezeption Dass die Eingaben in der DDR von großer Bedeutung waren, steht wohl außer Zweifel, auch wenn Informationen über Eingaben von zentraler Stelle nicht flächendeckend oder systematisch gesammelt wurden.431 So schwanken dann auch die Schätzungen über die jährlich in der DDR verfassten Eingaben selbst für die 80er Jahre zwischen mindestens 500.000432 und 750.000.433 Noch schwieriger kann abgeschätzt werden, welche Bevölkerungskreise von der Eingabe Gebrauch machten.434 Bei Durchsicht einzelner Eingabenbestände kann jedoch festgestellt werden, dass alle Bevölkerungsschichten, unabhängig von Alter, Geschlecht, 429 Jonathan R. Zatlin, Ausgaben und Eingaben, in: ZfG 1997, S. 902 – 917 (wie Anm. 404), hier S. 910. 430 Ina Merkel (Hrsg.), Wir sind doch nicht die Meckerecke der Nation! (wie Anm. 400), S. 14 f. 431 Absolute Zahlen für ausgewählte Bereiche bei Jonathan R. Zatlin, Ausgaben und Eingaben, in: ZfG 1997, S. 902 – 917 (wie Anm. 404), S. 902 ff. 432 Jonathan R. Zatlin, Ausgaben und Eingaben, in: ZfG 1997, S. 902 – 917 (wie Anm. 404), S. 906. 433 Inga Markovits, Rechtsstaat oder Beschwerdestaat, in: ROW 1987, S. 265 – 281 (wie Anm. 404), S. 271. 434 So behauptet Felix Mühlberg, Konformismus oder Eigensinn? Eingaben als Quelle zur Erforschung der Alltagsgeschichte in der DDR (wie Anm. 399), S. 331, dass mindestens zwei Drittel aller DDR-Haushalte zwischen 1949 und 1989 eine Eingabe verfasst hätten, was von Jonathan R. Zatlin, Ausgaben und Eingaben, in: ZfG 1997, S. 902 – 917 (wie Anm. 404), S. 906 angezweifelt wird.

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Wohnort, Schulbildung, Beruf, sozialem Stand und politischer Überzeugung, von der Möglichkeit der Eingabe Gebrauch gemacht haben, wobei sowohl geübte Eingabenschreiber und solche, die sich zum ersten Mal dieser Möglichkeit bedienten, auffallen. Trotz aller Versuche, die Bürokratie zu disziplinieren und zu einem bürgernahen Verhalten zu erziehen, blieben die obersten Staatsrepräsentanten die von den Bürgern favorisierten Eingabenadressen,435 da dort nicht nur die fachliche Kompetenz, sondern auch die tatsächliche Macht, ein Anliegen tatsächlich durchzusetzen, vermutet wurden. Mit dem Tod des ersten und letzten Präsidenten der DDR, Wilhelm Pieck, am 7. September 1960 ging der bis dahin wichtigste Ansprechpartner der Bevölkerung verloren. Doch auch dem weniger beliebten Walter Ulbricht sollte es mit der Schaffung einer neuen Institution, des Staatsrates, gelingen, die Aufmerksamkeit der Eingabenschreiber auf sich zu ziehen. Die hohen Eingabenzahlen an ihn belegen den schnellen Erfolg dieser Institution.436 Häufig war auch eine Versendung ein und derselben Eingabe an verschiedene Stellen sinnvoll, so z. B. wegen einer Vollstreckungssache an das zuständige Kreisgericht, das übergeordnete Bezirksgericht sowie das Ministerium der Justiz,437 oder wegen einer nassen Wohnung an die KWV, den Rat des Kreises Abt. Wohnraumversorgung, den Staatsrat und die Redaktion der Sendung Prisma beim Staatsfernsehen der DDR.438 Die Zu- bzw. Abnahme von Eingaben wurden in der DDR unterschiedlich interpretiert. Dadurch, dass Ulbricht die Eingabe positiv in sein politisches Konzept einband, erfuhr das Eingabensystem in den 60er Jahren weitere Aufwertung. Das positive Verhältnis Ulbrichts zu den Eingaben ermöglichte ihre ,Renaissance‘. Zwischen 1961 und 1967 wurden Eingaben in einer Menge an die oberste Staatsführung geschrieben wie nie zuvor und erst Ende der 80er Jahre wieder. In einem Bericht des Staatsrates über die Auswertung der Eingaben 1969 war ein Extrakapitel der „Nichtinanspruchnahme gesetzlich garantierter Rechtsmittel zugunsten von Eingaben“ gewidmet. Mit der Machtübernahme Honeckers wurde die Eingabentradition zunächst fortgeführt. Dieser führte die sinkenden Eingabenzahlen zu Beginn seiner Amtsperiode auf die Richtigkeit der „neuen Politik der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ zurück.439 435 Ina Merkel (Hrsg.), Wir sind doch nicht die Meckerecke der Nation! (wie Anm. 400), S. 14 f. 436 Ina Merkel (Hrsg.), Wir sind doch nicht die Meckerecke der Nation! (wie Anm. 400), S. 16. 437 BA DP 1 VA 5129, nicht paginiert. 438 Beispiele finden sich bei Ina Merkel (Hrsg.), Wir sind doch nicht die Meckerecke der Nation! (wie Anm. 400). 439 Ina Merkel (Hrsg.), Wir sind doch nicht die Meckerecke der Nation! (wie Anm. 400), S. 16, 17.

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Betrachtet man die Verläufe als Indikatoren für aktuelle Probleme in der Bevölkerung, gewinnt man den Eindruck, dass sich die Versorgungslage sowohl mit Wohnraum als auch mit Konsumgütern allmählich entspannte. Insgesamt war der Trend in den 70er Jahren (bis 1976) rückläufig.440 Da die Eingaben 1973 bis 1976 auch einen absoluten Tiefstand erreichten, ließe sich daraus ein weitgehendes Einverständnis mit Honeckers Konsumsozialismus ablesen. Der dramatische Anstieg ab 1976 könnte darauf hindeuten, dass sich aber gerade im Bereich Wohnungswesen die Probleme seit Mitte der 70er Jahre wieder verschärften.441 Die Jahre 1986 und 1987 waren, folgt man den Eingabenindikatoren, die entscheidenden Schlüsseljahre für eine massiv zunehmende Unzufriedenheit mit den Verhältnissen und Perspektiven, die sich den Bürgern boten. Sogar die Eingaben zu Handel und Versorgung überschritten 1989 die Zahlen von 1961, dem Jahr der großen Versorgungskrise. Wie schon in den 60er Jahren waren es die langen Wartezeiten auf Pkws, die inzwischen auf bis zu 18 Jahre angewachsen waren, die fehlenden Autoersatzteile, fehlende Angebote an Wohn- und Schlafzimmermöbeln, die in den Eingaben kritisiert wurden. Die ursprüngliche Funktion, Frühindikator für relevante gesellschaftliche Probleme zu sein, konnte nicht mehr genutzt werden,442 denn die Probleme in den angesprochenen Bereichen waren fast unbeherrschbar geworden.

3. Verhältnis von Ziviljustiz und Eingabenwesen a) Normativer Aspekt Grundsätzlich konnte sich jeder Bürger gemäß § 1 Eingabengesetz mit Anliegen aller Art in Form der Eingabe an jedes staatliche Organ wenden. § 1 Abs. 3 des Eingabengesetzes bestimmte jedoch gewisse Ausnahmen, wann eine Eingabe unzulässig sei. Dies galt unter anderem für bestimmte zivilrechtliche Ansprüche der Bürger gegen volkseigene Betriebe und genossenschaftliche Versorgungsbetriebe. Gemäß §§ 157, 158 ZGB war es nicht möglich, einen Garantieanspruch aus Kaufvertrag mittels einer Eingabe an örtliche Staatsorgane gegenüber dem Versorgungsbetrieb geltend zu machen. Vielmehr hatte sich der Bürger unmittelbar an den betreffenden Volkseigenen Betrieb zu wenden, der dann über die Eingabe zu entscheiden hatte. Gleiches galt für Garantieansprüche wegen hauswirtschaftlicher Reparaturen gegenüber staatlichen Handwerksbetrieben (§§ 162, 163 ZGB). Auch hier war lediglich im Rahmen der genannten ZGB-Vorschriften innerhalb einer 440

Ina Merkel (Hrsg.), Wir sind doch nicht die Meckerecke der Nation! (wie Anm. 400),

S. 18. 441

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S. 19.

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Frist von zwei Wochen ein Vorbringen bei der entsprechenden Betriebsleitung möglich. Die Frage, auf welchem Weg zivilrechtliche Streitigkeiten, die aus dem Verhältnis des Bürgers zu staatlichen Versorgungsorganen erwuchsen, geregelt werden sollten, wurde nicht einheitlich beantwortet. Kellner443 sprach sich dafür aus, dass in den Fällen, in denen ein konkretes Rechtsverhältnis zwischen Bürger und staatlichem Vorsorgungsbetrieb bestehe, eine Lösung dieses Konflikts über den Weg der Eingabe nicht erfolgen solle, da dem Bürger für solche Fälle die Klage vor einem Gericht offen stehe. Dagegen wurde jedoch eingewandt,444 dass eine solche Ansicht zu den bestehenden Gesetzen im Widerspruch stehe, da sich gerade aus den §§ 157, 158 ZGB wie auch den §§ 162, 163 ZGB ergebe, dass bestimmte zivilrechtliche Ansprüche gerade mittels Eingabe beim staatlichen Versorgungsorgan geltend gemacht werden müssten. Die hierfür vorgesehene kurze Frist garantiere eine schnelle und eigenverantwortliche Beilegung des Konflikts, die der Gerichtsweg nicht leisten könne. Dieses Vorgehen hatte jedoch praktische Nachteile. Die Eingabe hatte nämlich nicht die Wirkung eines Rechtsmittels, so dass die Verjährungsfrist für die Gewährleistungsansprüche nicht gehemmt wurde.445 Methodisch sei angemerkt: Eine solche Streitigkeit tangierte das politische System nicht. Daher konnten die Diskutanten der Meinungsvielfalt Ausdruck geben. Auch eine wenig freie Gesellschaft ließ zumindest derartige rechtswissenschaftliche Auseinandersetzungen zu.

b) Konkrete Einflussmöglichkeiten Noch schwerer fällt es, den Einfluss der Eingaben für die Zivilrechtspflege abzuschätzen. Dies gilt sowohl in quantitativer wie in qualitativer Hinsicht. Quantitativ ist zu beachten: Bei Konflikten unter Bürgern hatten Eingaben kaum eine Bedeutung und auch für die Forderungen von Institutionen gegen Bürger waren sie kein taugliches Instrument. Eingaben spielten daher nur in Konflikten von Bürgern mit sozialistischen Betrieben und Institutionen eine nennenswerte Rolle.446 Dies 443 Horst Kellner, Zum Verhältnis von Eingaben und Klagen bei der Durchsetzung des sozialistischen Zivilrechts, in: Rat für Staats- und Rechtswissenschaftliche Forschung an der Akademie der Wissenschaften der DDR (Hrsg.), Staat, Recht und Demokratie bei der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft. Theoretische Konferenz am 24. und 25. Juni 1974 in Berlin, aus der Diskussion, Berlin (Ost) 1975, S. 213 ff.; so auch Joachim Göhring, Zur Regelung des Ersatzes von Mangelfolgeschäden im ZGB, in: NJ 1981, S. 28 – 31. 444 Joachim Hlawenka, Zum Verhältnis zwischen den örtlichen Staatsorganen und den Gerichten bei der Zivilrechtsverwirklichung im Kauf- und Dienstleistungsbereich – eine Studie zur Eingaben- und Rechtsprechungspraxis in der Hauptstadt der DDR, Berlin (Ost) 1984, S. 53 ff. 445 Zu dieser Frage auch Ronald Brachmann / Kurt Wünsche, Gerichtsweg und Eingabenweg beim Rechtsschutz im Zivil-, Familien- und Arbeitsrecht, in: NJ 1986, S. 231 ff.

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war zwangsläufig so, da der Staat für weite Bereiche des täglichen Bedarfs ein Versorgungsmonopol hatte und sich diese Versorgung fast immer über zivilrechtliche Verträge vollzog. Gleichgültig, ob es sich um Wohnungsangelegenheiten,447 Kfz-Ersatzteile oder die Kartoffelversorgung handelte, stets war der Versorger ein volkseigenes Unternehmen, der Staat somit richtiger Adressat der Eingabe. Auch qualitativ fällt eine Einordnung der Eingaben aufgrund ihrer Vielfalt schwer: Der Inhalt der Eingabe konnte dabei von einem Vorschlag, Kinderseife in Tierform herzustellen,448 über allgemeine Hinweise zur Versorgungssituation oder unökonomisches Handeln bis hin zu konkreten Reklamationen reichen.449 Welcher Anteil der Eingaben überhaupt seinem Gegenstand nach geeignet war, eine zivilrechtliche Klage abzugeben, ist nicht mehr feststellbar. So teilte sich die Eingabenanalyse des Kosmetikkombinats Berlin vom 2. August 1980450 in die Bereiche: 1. Arbeits- und Lebensbedingungen, 2. Versorgung der Bevölkerung und 3. Kader und arbeitsrechtliche Probleme. In der ersten Gruppe stand die Wohnraumversorgung, in der dritten standen Fragen nach der tariflichen Einstufung im Vordergrund. Die zweite Gruppe bildete jedoch mit etwa 77% aller Eingaben den quantitativen Schwerpunkt. Dabei betrafen 35% (183) der Eingaben Qualitätsfragen, 29% (154) unzureichende Bereitstellungen und 36% (187) Preisfragen. Lediglich die Eingaben zu unzureichender Bereitstellung und den Preisfragen können mit Sicherheit als Gegenstand einer zivilrechtlichen Klage ausgeschlossen werden. Für eine flächendeckende Analyse fehlen die erforderlichen Aktenbestände.451 Außerdem müsste ein verbindlicher Maßstab gefunden werden, was als Beeinflus446 Dietmar Kurze, Sozialistische Betriebe und Institutionen als Verklagte im DDR-Zivilprozess (= Berliner Juristische Universitätsschriften, Grundlagen des Rechts, Bd. 37), Berlin 2005, S. 116 – 118. 447 Diese machten 1968 über 45% der Eingaben an den Staatsrat aus, BA DA 5 / 852, B. 125; siehe Annett Kästner, Die Verfolgung zivilrechtlicher Ansprüche im Eingabenweg auf dem Gebiet des Mietrechts, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. II (wie Anm. 16), S. 129 – 149, insb. S. 139. 448 Ina Merkel (Hrsg.): Wir sind doch nicht die Meckerecke der Nation! (wie Anm. 400), S. 118. 449 Z. B. wegen verbrannter Kekse Ina Merkel (Hrsg.): Wir sind doch nicht die Meckerecke der Nation! (wie Anm. 400), S. 143. 450 Bettina Theben, Eingabenarbeit. Zur Rolle der volkseigenen Betriebe bei der Schlichtung zivilrechtlicher Streitigkeiten mit Bürgern, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. II (wie Anm. 16), S. 112. 451 Die meisten archivierten Aktenbestände sind nach 1989 verloren gegangen. Auch wenn einzelne Archive ausgewertet werden, bleiben sie Mosaikstücke; vgl. Oliver Werner, Eingaben und Eingabenbearbeitung in der DDR, am Beispiel der SED im Bezirk Leipzig 1988 – 1989, Magisterarbeit am Historischen Seminar der Universität Leipzig 1995.

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sung der Ziviljustiz angesehen werden kann. Dass die Eingabenarbeit dabei Einfluss auf die Prozessstatistik gehabt haben dürfte, ist sehr wahrscheinlich. Wenn durch massenhafte Eingaben der Wohnungsbau forciert wurde, wurden mit großer Wahrscheinlichkeit weniger die Gerichte zur Lösung individueller Konflikte instrumentalisiert.452 Gegenstände mietrechtlicher Eingaben waren z. B. die Erstattung von Reparaturkosten aufgrund der vom Mieter durchgeführten Mieterselbsthilfe und Beschwerden über Immissionen. Da oft bei Wohnungs- oder Mängelreparaturen eine gerichtliche Klage praktisch sinnlos war, bildete die Mängelbeseitigung die große Mehrheit der mietrechtlichen Eingaben.453 Wenn aufgrund einer Eingabe an einen Betrieb wegen Produktmängeln von diesem anstandslos Ersatz oder sonstige Abhilfe geleistet wurde, erübrigte sich eine Gewährleistungsklage. Allerdings ist hierbei stets zweifelhaft und kaum nachprüfbar, ob es tatsächlich zu einem Prozess gekommen wäre, da Betriebe an der Prozessführung kein Interesse, Garantieleistungen auf die wirtschaftliche Situation des Betriebes keinen Einfluss hatten, die wirtschaftlichen Ressourcen ohnehin begrenzt und ein eingeklagter Anspruch evtl. nicht realisier- / vollsteckbar war.454 Außerdem kann nicht festgestellt werden, wie viele Bürger trotz berechtigter Garantieansprüche den Aufwand einer Klage gescheut und wieweit Betriebe auch nichtberechtigte Reklamationen aus Kulanz beglichen hätten, was freilich in der Bundesrepublik nicht anders ist. Der bedeutsame Unterschied lag in der wesentlich erleichterten ,Mobilisierung von Recht‘. Die Zugangsbarriere lag somit bei einer ,Eingabe‘ wesentlich geringer als bei einer Klage nach DDR-Recht und erst recht noch bedeutend niedriger als bei einem Gerichtsverfahren nach bundesrepublikanischem Muster. Erstaunlich deutlich vorgebrachte Kritik, echte Not und offene wie verdeckte Drohungen455 wurden jedoch sicher auch so verstanden und haben in vielen Fällen ernsthafte Abhilfebemühungen hervorgerufen, denen aufgrund der ökonomischen Situation jedoch oft genug enge Grenzen gesetzt waren. 452 „Das größte Problem in der Geschichte der DDR war die Verfügbarkeit von Wohnraum. In den 50er Jahren wurde die Eingabe als ein Mittel, Wohnungsprobleme zu regeln, geradezu ,entdeckt‘. 1956 gab es hier einen ersten Höhepunkt. ( . . . ) Ende der 50er Jahre sanken die Wohnungseingaben und nur Eingaben zum Thema innerdeutsche Fragen / Reiseverkehr stiegen an“, Ina Merkel (Hrsg.), Wir sind doch nicht die Meckerecke der Nation! (wie Anm. 400), S. 17. 453 Annett Kästner, Die Verfolgung zivilrechtlicher Ansprüche im Eingabenweg auf dem Gebiet des Mietrechts, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. II (wie Anm. 16), S. 141 sowie dies., Eingabewesen in der DDR. Eine Untersuchung von Eingaben zu mietrechtlichen Ansprüchen aus den Jahren 1986 und 1987 (= Berliner Juristische Universitätsschriften, Grundlagen des Rechts, Bd. 40), Berlin 2006. 454 Thomas Thaetner, Bis zum Bitteren Ende – Vollstreckungspraxis in der DDR, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. II (wie Anm. 16), S. 151 – 176. 455 Mit höherrangigen Stellen oder dem Fernsehen der DDR (Prisma), aber auch mit „unguten Diskussionen“, Wahlboykott oder der Stellung eines Ausreiseantrages.

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Von Bedeutung für den Bereich des Zivilrechts sind insbesondere Eingaben an Gerichte und das Ministerium der Justiz, den Rat des Kreises und die örtlichen Organe, die betroffenen Versorger, volkseigenen Betriebe, PGH und Einzelhändler sowie oberste Staatsorgane, besonders an den Staatsrat. aa) Eingaben an die Justiz Eingaben wurden an alle Gerichte und an das Ministerium der Justiz gerichtet. Daneben wurden auch an andere staatliche Organe gerichtete Eingaben von diesen an das Ministerium der Justiz abgegeben. Das Ministerium der Justiz fertigte jährlich interne Eingabenanalysen an. Darin wurde unter anderem dargelegt, wie viel Prozent der Eingaben begründet waren, sowie die thematischen Schwerpunkte der Eingaben analysiert und Gründe und Verbesserungsrichtlinien benannt. Da diese Analysen nur zum Teil nach Rechtsgebieten differenzierten, ist der Anteil zivilrechtlicher Eingaben nicht immer zu erkennen. Für das Jahr 1975 wurden durch das Ministerium der Justiz 7.261 Eingaben bearbeitet. Davon betrafen 2.155 (29% insgesamt) die Vermeidung von Rechtskonflikten im Straf-, Zivil-, Familien- und Arbeitsrecht und in weiteren 1.563 (21% insgesamt) Eingaben ging es um die Rechtsanwendung von Normen aus dem Straf-, Zivil-, Familien- und Arbeitsrecht, einschließlich der Kassationsanregungen.456 Rund die Hälfte der Eingaben (51%) wurden durch das Ministerium der Justiz als begründet eingestuft. Zur Streitvermeidung zählten dabei auch bloße Rechtsauskünfte im Sinne einer Erörterung der Rechtslage und der Erfolgsaussichten einer in Betracht kommenden Klage, ohne dass bereits ein Verfahren bei Gericht anhängig war. Deren Anteil war jedoch relativ gering, was sich aus der Möglichkeit erklärt, dass sich die Bürger auch gemäß § 28 GVG unmittelbar an die Kreisgerichte wegen einer Auskunft wenden konnten. Meist ging es den Bürgern darum vom Ministerium der Justiz eine rechtskräftige und gewichtige Auskunft in einem aktuellen Verfahren zu erhalten. Dies wurde vom Ministerium jedoch zumeist nach kurzer abstrakter Erläuterung der gesetzlichen Bestimmungen mit der Begründung abgelehnt, dass für die Klärung von „Sach- und Beweisfragen“ die Gerichte zuständig seien, an die man sich zur Durchsetzung der Ansprüche zu wenden habe, wobei es auf den § 1 Abs. 3 Eingabengesetz und an die örtlichen Gerichte, Notariate oder andere staatliche Organe verwies.457 Allerdings sind die Mitteilungen an die Eingabensteller nicht unbe456 Siehe Tabelle bei Ulrich Löffler, Eingaben im Bereich des Zivilrechts, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 26), S. 218; die Zahlen schwanken während der 70er und 80er Jahre nur geringfügig um 4 bis 5 Prozentpunkte, so dass diese Werte relativ typisch sind. 457 Ulrich Löffler, Eingaben im Bereich des Zivilrechts, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 26), S. 213 – 245, hier insb. S. 221.

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dingt vollständig. Fast immer finden sich in den Akten in derartigen Fällen Anschreiben an die Bezirks- und Kreisgerichtsdirektoren oder entsprechende Vermerke, dass das Ministerium der Justiz die Akten angefordert hat, selbst Empfehlungen und Belehrungen aussprach oder den Direktor des Bezirksgerichts aufforderte, das Kreisgericht über die Rechtslage zu belehren,458 zügige Arbeitsweise anmahnte und sich die Information über den weiteren Gang des Verfahrens erbat.459 Die meisten Eingaben an das Ministerium der Justiz bezogen sich jedoch auf die lange Dauer des Erkenntnis- oder Vollstreckungsverfahrens, die Art der Verhandlungsführung der Richter und deren Umgangsweise mit den Prozessbeteiligten,460 sowie Auftreten und Arbeitsweise der Schöffen, also dem Bereich des Justizverwaltungshandelns zuzuordnende Materien. Am häufigsten wurde jedoch eine zu lange Verfahrensdauer bemängelt. In diesen Fällen konnten Eingaben durchaus auf die Verfahrensdauer Einfluss haben.461 Bei Eingaben betreffend die Arbeitsweise der Richter wurde besonders kritisiert, dass Richter gegen den Willen der Parteien auf eine Einigung hinwirkten und diese durch massiven Druck zustande brächten.462 Mitunter wurden derartige Eingaben als Kassationsantrag gewertet463 und mit einem kurzen Vermerk an den Eingabenverfasser fast kommentarlos an das oberste Gericht weitergegeben, im Übrigen lehnte das Ministerium der Justiz Eingriffe in das laufende Verfahren unter Hinweis auf Art. 92 der Verfassung ab. Häufige Eingaben konnten im Einzelfall auch Benachteiligungen mit sich bringen.464 BA DP 1 VA 4806, Fall von 1980. BA DP 1 VA 5130, zumindest für die 80er Jahre fällt auf, dass das Ministerium der Justiz im internen Schriftverkehr stets die Unabhängigkeit der Richter betonte, bei deutlichen Rechtsanwendungsfehlern seinen Standpunkt jedoch artikulierte, häufig Verständnis für das Anliegen des Bürgers zum Ausdruck brachte und Empfehlungen aussprach (z. B. von der Verhängung eines Ordnungsgeldes abzusehen). 460 Ulrich Löffler, Eingaben im Bereich des Zivilrechts, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 26), S. 229, nennt konstante Anteile von um die 40% aller Eingaben an das Ministerium der Justiz. 461 Ulrich Löffler, Eingaben im Bereich des Zivilrechts, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 26), S. 233, nennt beispielsweise bestimmte Fristsetzungen für die Verfahrensbeendigung. Für den Bereich der Vollstreckung berichtete eine ehemalige Sekretärin des Stadtbezirksgerichts Berlin-Mitte, dass der Direktor des Gerichts sie aufgrund einer Eingabe des öfteren aufgefordert habe, sich einer Vollstreckungssache besonders zügig anzunehmen oder zumindest nachzusehen, was da los sei. Dies sei auch dann vorgekommen, wenn der Vollstreckungsauftrag erst vor kurzem erteilt und eine entsprechende Akte noch gar nicht angelegt worden war. 462 Ulrich Löffler, Eingaben im Bereich des Zivilrechts, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 26), S. 237. 463 Ulrich Löffler, Eingaben im Bereich des Zivilrechts, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 26), S. 244 f. schildert einen Fall aus dem Jahr 1981. 464 Ulrich Löffler, Eingaben im Bereich des Zivilrechts, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 26), S. 238 beschreibt einen Fall aus dem Jahr 1979, in dem einem Eingabensteller, der sich über die Verhandlungsführung beschwert hatte, „von maßgeblicher Seite mitgeteilt [wurde], dass wenn er weiterhin solche Eingaben an die 458 459

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In den meisten Fällen ist feststellbar, dass sich die Bürger zunächst an das mit dem Verfahren befasste Kreisgericht gewandt hatten und erst im Falle der Erfolglosigkeit eine Eingabe an das Ministerium der Justiz richteten.465 Häufig wurde jedoch dessen Kompetenz überschätzt. So führte das Ministerium der Justiz 1986 in einer Eingabenanalyse466 aus: „Es ist festzustellen, dass sich Bürger vielfach in Verkennung der ausschließlichen Zuständigkeit der Gerichte an das Ministerium der Justiz wenden und dort verlangen, die gerichtliche Entscheidung abzuändern. Es wird oft versucht, unter Ausschöpfung aller Rechtsmittel eine für sie positive Entscheidung zu verwirklichen.“

Eingaben an das Ministerium der Justiz hatten also eigene Bedeutung. Eine Alternative zur gerichtlichen Klage waren sie nicht.

bb) Eingaben an staatliche Versorgungsbetriebe Zur Befriedigung seiner materiellen und kulturellen Bedürfnisse war der Bürger der DDR weitestgehend auf staatliche Versorgungsbetriebe angewiesen. Diesen gegenüber standen dem Bürger umfangreiche Gewährleistungsrechte zur Verfügung. Auch wenn die Gesetzeslage nach dem ZGB für die Bürger recht günstig erscheint, so war doch die Durchsetzung von Gewährleistungsansprüchen, etwa aufgrund der Privilegierung der Nachbesserung, oft beschwerlich.467 Die zivilrechtlichen Eingaben an den sozialistischen Betrieb oder an die Institution, gegen die der Bürger einen Anspruch zu haben glaubte, sind jedoch zunächst von den Reklamationen abzugrenzen.468 Unter „Reklamationen“ werden hier alle Arten von Mängelrügen verstanden, was auch weithin dem Sprachgebrauch im Zivilrecht der DDR entspricht.469 Im ZGB wird der Begriff zwar nicht verwandt, sondern von „Geltendmachung der Rechte“ gesprochen,470 in Verordnungen ist die „Reklamation“ aber ein fester Begriff, so in der Ersten Durchführungsverordnung zum ZGB über „Rechte und Pflichten bei der Reklamation nicht qualitätsgerechter Waren“.471 Wenn die als „Eingaben“ titulierten Schreiben Nachbesserungen, MinGericht und das Ministerium der Justiz richten würde, er das im weiteren Verfahren zu spüren bekommen werde“. 465 Ulrich Löffler, Eingaben im Bereich des Zivilrechts, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 26), S. 234. 466 BA DP 1 VA 4967, 1986. 467 Dietmar Kurze, Sozialistische Betriebe und Institutionen als Verklagte im DDR-Zivilprozess (wie Anm. 446), S. 195 – 204. 468 Vgl. auch: Dietmar Kurze, Sozialistische Betriebe und Institutionen als Verklagte im DDR-Zivilprozess (wie Anm. 446), S. 129 – 134. 469 „Von dem ZGB wird auch der Begriff der ,Mängelanzeige‘ (§ 154 Abs. 1) verwandt; umgangssprachliches Synonym ist das Wort ,Reklamation‘.“ Joachim Göhring / Peter Kurzhals, Kauf (= Grundriß Zivilrecht, Heft 5), Berlin (Ost) 1977, S. 73. 470 Z. B. § 155 Abs. 1 ZGB.

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derungen, Ersatz o.ä. verlangten, handelte es sich eigentlich um Reklamationen. Dies beachtet, bleibt festzustellen: Wurde eine Beschwerde an den Anspruchsgegner gerichtet, so ist sie, ob als „Eingabe“ oder „Garantieanspruch“ formuliert, als normale „Reklamation“ anzusehen. Diese Reklamationen haben die Prozessrate nicht im Sinne einer Alternative zum Prozess beeinflusst. Die Bürger machten grundsätzlich – schon um eine negative Kostenfolge bei unnötiger Klageerhebung zu vermeiden472 – ihre Forderungen zunächst beim Vertragspartner geltend. Dies entsprach den Verhältnissen in der Bundesrepublik.

cc) Eingaben an die örtlichen Wohnraumversorger473 Unter den Rechtsbeziehungen zwischen Bürgern und den örtlichen Organen, die nicht verwaltungsrechtlicher Natur waren, kommt den wohnungsrechtlichen besondere Bedeutung zu. Knapper Wohnraum und eine verfallende Altbausubstanz hielten erhebliche Konfliktpotentiale bereit. Derartige Konflikte könnten sowohl im Wege der zivilrechtlichen Klage wie auch der Eingabe gelöst worden sein. Zum einen war die KWV oder der VEB Wohnungswirtschaft zur Eingabenbearbeitung verpflichtet, zum anderen könnte auch versucht worden sein über andere Organe474 mittels der Eingabe auf das Verhalten dieser Wohnraumanbieter Einfluss zu nehmen. Die an die KWV oder den VEB Wohnungswesen gerichteten Eingaben betrafen zum Großteil den Erhaltungszustand der Wohnungen sowie Forderungen der Mieter bezüglich der Ausstattung.475 Viele derartige Ansprüche konnten auch im Wege der Klage geltend gemacht werden. Jedoch kann aus der bloßen Eingabe, auch wenn ihr abgeholfen wurde, nicht auf eine Vermeidung des Rechtsweges geschlossen werden. Es ist nämlich sehr fraglich, ob die Bürger ihr Anliegen überhaupt mittels einer Klage geltend gemacht hätten. So ist es einerseits selbstverständlich, zuerst mit dem Vermieter Kontakt aufzunehmen und nur bei dessen Weigerung, der Forderung der Mieter nachzukommen, eine Klage zu erwägen. Außerdem war 471 GBl. I 1977, S. 9; auch in der AO über den Sparverkehr bei den Geld- und Kreditinstituten der DDR, 28. Oktober 1975, GBl. I, S. 705, darin u. a. §§ 2 Abs. 2, 4 Abs. 3. 472 Erfüllt der Verklagte sofort nach Klagezustellung und hatte der Kläger ihn vor der Klageerhebung noch gar nicht zur Leistung aufgefordert, so hat der Kläger die Kosten zu tragen, da er unnötigerweise Klage erhoben hat, § 174 Abs. 2 ZPO (1976). 473 Annett Kästner, Die Verfolgung zivilrechtlicher Ansprüche im Eingabenweg auf dem Gebiet des Mietrechts, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. II (wie Anm. 16), S. 142. 474 Daneben erhielt auch das Fernsehen der DDR derartige Wohnungsangelegenheiten betreffende Eingaben, Ina Merkel (Hrsg.), Wir sind doch nicht die Meckerecke der Nation! (wie Anm. 400). 475 Annett Kästner, Die Verfolgung zivilrechtlicher Ansprüche im Eingabenweg auf dem Gebiet des Mietrechts, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. II (wie Anm. 16), S. 129 – 149.

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den meisten Mietern bewusst, dass die Vermieter, worauf diese in den Eingaben auch stets hinwiesen, selbst nur einen engen ökonomischen Spielraum besaßen. Handwerker und Baumittel waren knapp und selbst die Aufnahme in den Reparaturplan für das nächste Jahr bot keine Gewähr für die Ausführung der erforderlichen Arbeiten. Ein durch Klage titulierter Anspruch hätte aufgrund der begrenzten Ressourcen keine größere Aussicht auf Realisierung geboten. Somit war es nicht nur einfacher und preiswerter, sein Begehren in einer Eingabe zu formulieren, vielmehr konnte auch die besondere Notwendigkeit und Dringlichkeit des Anliegens, bei allem gezeigten Verständnis für die Situation des Vermieters, eindringlich geschildert werden. Ähnlich verhielt es sich mit den Eingaben an den Rat des Kreises, Abt. Wohnraumversorgung, an andere Staatsorgane und an die Partei. In wie vielen Fällen hier anstelle oder zusätzlich zu einer Klage eine Eingabe geschrieben wurde, ist jedoch nicht abzuschätzen. Dass aufgrund derartiger Eingaben Anliegen der Bürger gelöst wurden, steht außer Zweifel. Doch fällt es selbst bei den an andere Stellen als die Vermieter gerichteten Eingaben schwer von einer Umgehung oder gar Entwertung des Zivilrechtsweges zu sprechen, da Klagen, unabhängig von der Eingabemöglichkeit, in einer derartigen Mangelsituation ohnehin ungeeignet waren, Ansprüche durchzusetzen. Die Schwierigkeiten bei der Abgrenzung von wirtschaftlich-verwaltungsrechtlichen und zivilrechtlichen Eingaben zeigen sich besonders bei Wohnungen betreffenden Konflikten. Hier ist rechtssystematisch zwischen verwaltungsrechtlicher Versorgung und zivilrechtlicher Instandhaltung zu unterscheiden.476 Wirtschaftlich-verwaltungsrechtliche Eingaben, d. h. im Wesentlichen individuelle oder generelle Versorgungsbegehren, hatten einen großen Anteil an den gesamten verfassten Eingaben, denn in Eingaben wurde oft die Versorgung mit Wohnraum oder die Verbesserung desselben begehrt. Sie standen aber nur teilweise in Konkurrenz zu einer zivilgerichtlichen Klage und damit zu den hier untersuchten Prozessen.

dd) Eingaben an übergeordnete Staatsorgane Auch der Staatspräsident, der Staatsrat, Organe der Parteien477 und Massenorganisationen waren häufig Adressaten von Eingaben. Ihre Dimension und Bedeutung werden anhand der Eingabenarbeit des Staatsrates deutlich.478 Der Staatsrat unterhielt eine eigene Fachabteilung, die sich ausschließlich mit Eingaben zu Wohnungs-, Reise-, Handels- und Versorgungs-, Rechtsangelegenheiten etc. beschäftig476 Dietmar Kurze, Sozialistische Betriebe und Institutionen als Verklagte im DDR-Zivilprozess (wie Anm. 446), S. 119 – 129. 477 Oliver Werner, Eingaben und Eingabenbearbeitung in der DDR (wie Anm. 451). 478 Ina Merkel (Hrsg.), Wir sind doch nicht die Meckerecke der Nation! (wie Anm. 400), S. 25.

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te. Bei der „Eingabenarbeit“ wurden die entsprechenden Abteilungen jedoch nicht selbst tätig, um die aufgeworfenen Probleme zu lösen, sondern sie gaben die Eingaben zumeist inhaltlich unkommentiert an die zuständigen Organe, Verwaltungsstellen oder Betriebe zur weiteren Bearbeitung ab.479 Gerade bei den Eingaben an den Staatsrat wird deutlich, dass dieses Instrument vor allem statt des fehlenden Verwaltungsrechtswegs genutzt wurde, um Entscheidungen der örtlichen Verwaltungsorgane überprüfen zu lassen. (Aus-)Reiseangelegenheiten und Fragen der Wohnraumversorgung hatten mit großem Abstand den größten Eingabenanteil an den Staatsrat.480 Teilweise wurden die örtlichen Organe sogar übergangen. Schon um 1969 stellte der Staatsrat fest, dass „ein großer Teil von Bürgern sich mit Eingaben zu Konflikten aus dem Zusammenleben in Haus- und Wohngemeinschaften sofort an den Staatsrat wendet, ohne vorher örtliche Staatsorgane oder gesellschaftliche Gerichte in Anspruch zu nehmen.“481

Einflussnahmen auf zivilrechtliche Verhältnisse erfolgten allenfalls mittelbar. In einem Bericht der Abteilung Handel und Versorgung beim Staatsrat heißt es: „In den Eingaben waren ständig Hinweise enthalten, dass Verkäufer des Einzelhandels Reklamationen der Kunden nicht entgegennehmen, sie an die Herstellerbetriebe verweisen bzw. andere Auskünfte gaben, die die Rechte des Käufers einengen. Das zeugt von ungenügender Sachkenntnis über die einschlägigen Bestimmungen und die ,Anordnung über die Behandlung von Kundenreklamationen‘. Der Minister für Handel und Versorgung wurde informiert und gebeten, entsprechende Maßnahmen einzuleiten, um die Mitarbeiter des Handels umfassender mit den gesetzlichen Bestimmungen durch handelspolitische Schulungen und Veröffentlichungen in der Handelspresse bekannt zu machen.“482

Grundsätzlich kann festgestellt werden, dass die meisten Eingaben zu konkreten Problemen an die Betriebe und Einzelhandelsorganisationen, bzw. das Ministerium der Justiz abgegeben wurden. Soweit es um die Versorgung mit Konsumgütern ging, hatten diese Eingaben mitunter Erfolg. Allerdings hatte der Staatsrat selbst festgestellt: „Unter der Vielzahl der Probleme, die in den Eingaben enthalten sind, gibt es einige, deren Lösung auf Grund der bestehenden Bedingungen und geltenden Rechtsvorschriften nicht oder nur schwer möglich ist. Besonders sie sind Anlaß zu vielen Eingaben.“483

479 Qualitative und quantitative Analyse zu diesem Abgabeverhalten für den Bereich der Wohnungswirtschaft bei Annett Kästner, Die Verfolgung zivilrechtlicher Ansprüche im Eingabenweg auf dem Gebiet des Mietrechts, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. II (wie Anm. 16), S. 138 f. 480 Ina Merkel (Hrsg.), Wir sind doch nicht die Meckerecke der Nation! (wie Anm. 400), S. 25. 481 BA DA-5 8524. 482 BA DA 5 11377, S. 8. 483 BA DA 5 8525.

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4. Fazit a) Zivilrechtstheoretisch Die Frage, ob und inwieweit die Eingabe eine Alternative zu einer Klage war, hängt ganz entscheidend von dem angewendeten Maßstab ab. Sieht man in der Klage ausschließlich die Durchsetzung privater Interessen gegenüber anderen Privatrechtssubjekten in einer konkreten Konfliktsituation, so erfüllte eine Eingabe nur in Ausnahmefällen diese Funktion. Bei juristisch schwierigen Regelungskomplexen fehlte es den Eingabenbearbeitern mitunter auch an der nötigen Fachkompetenz. Anders sieht es aus, wenn man die Aufgabe des Zivilrechts in der DDR zugrunde legt. Als das Zentralkomitee der SED sich mit dem Entwurf des ZGB befasste, meinte es: „Die Aufgabe des sozialistischen Zivilrechts besteht im Wesentlichen darin, die gesellschaftlichen Beziehungen im Bereich der Versorgung der Bevölkerung mit materiellen und kulturellen Gütern und Leistungen, insbesondere mit Wohnraum, Konsumgütern und Dienstleistungen, dem Charakter unserer Gesellschaft entsprechend mit hoher Wirksamkeit zu gestalten.“484

Demgemäß bestimmte § 14 ZGB: „Bei der Vorbereitung, der Begründung und der inhaltlichen Ausgestaltung und der Erfüllung zivilrechtlicher Beziehungen haben die Bürger und die Betriebe vertrauensvoll zusammenzuwirken. Sie haben sich von den Grundsätzen der sozialistischen Moral sowie von der Notwendigkeit der Übereinstimmung der individuellen und kollektiven Interessen mit den gesellschaftlichen Erfordernissen leiten zu lassen.“

Bei einem derartigen Zivilrechtsverständnis, welches die Organisation der Versorgungsbeziehungen in den Mittelpunkt rückte, war die Eingabe ebenso wie eine Klage geeignet auf Defizite in dieser Versorgung hinzuweisen. Diese Konflikte sollten dann nach Möglichkeit freiwillig und einvernehmlich gelöst, der zivilrechtsgemäße Zustand wieder hergestellt werden. Soweit der Versorger oder das übergeordnete Organ keinen anderen rechtlichen Standpunkt vertrat, war die Eingabe in solchen Fällen durchaus der einfachere praktikablere und sinnvollere Weg, um den rechtsgemäßen Zustand herbeizuführen.485 Solange nicht die Konflikt484 Aus dem Bericht des Politbüros an die 13. Tagung des ZK der SED, Erich Honecker (Berichterstatter), Berlin 1974, S. 64, zitiert nach Ministerium der Justiz (Hrsg.), Zivilprozeßordnung und andere verfahrensrechtliche Bestimmungen. Textausgabe mit Anmerkungen und Sachregister, 3. Aufl., Berlin (Ost) 1983; dementsprechend lautet § 1 I ZGB: „Die weitere Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus des Volkes und die Entwicklung der Bürger zu allseitig gebildeten sozialistischen Persönlichkeiten sind wesentliche Aufgaben der sozialistischen Gesellschaft. Diesen Aufgaben dient auch das Zivilrecht.“; zitiert auch bei Bettina Theben, Eingabenarbeit. Zur Rolle der volkseigenen Betriebe bei der Schlichtung zivilrechtlicher Streitigkeiten mit Bürgern, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. II (wie Anm. 16), S. 85.

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lösung, als Entscheidung gegenteiliger Rechtsauffassungen, sondern die Herbeiführung eines rechtsgemäßen Zustandes als vorrangiges Ziel des Zivilrechts aufgefasst wird,486 kann die Eingabe durchaus als eine Alternative zu einer Klage interpretiert werden.487

b) Anspruchsverwirklichung Die Bedeutung dieser Alternative in Zahlen auszudrücken und somit auf eine geminderte Bedeutung der zivilrechtlichen Klage zu schließen, fällt schwer.488 Von den Eingaben standen weder die vielen verwaltungsrechtlichen Beschwerden, noch die Reklamationen in Konkurrenz mit einer zivilrechtlichen Klage. Zudem spielten die Eingaben nur bei Forderungen von Bürgern gegen sozialistische Betriebe und Institutionen eine Rolle, weder bei Ansprüchen in der anderen Richtung, noch bei Konflikten unter Bürgern. Ein Urteil über die qualitative Wirksamkeit der Eingaben ist ebenso schwer zu fällen. Eine Einflussnahme auf laufende Zivilverfahren konnte nicht festgestellt werden. Mittels der Eingabe konnte auch kein Anspruch auf die Versorgung mit bestimmten Gütern geltend gemacht werden. So bestimmte § 10 Abs. 2. S. 1 ZGB die Verpflichtung der Betriebe „solche Waren bereitzustellen und Leistungen zu erbringen, die eine planmäßige Versorgung“ sichern. Dem Bürger kam damit ein allgemeiner Versorgungs-, aber kein Rechtsanspruch zu;489 zudem umfasste dieser nur Waren oder Dienstleistungen, die dem jeweiligen Plan entsprechend zu realisieren waren.490 Unter diesem Gesichtspunkt ist Mühlberg zuzustimmen: „Ein485 Helga Lieske / Reinhard Nissel, Beitrag der örtlichen Staatsorgane zur Verwirklichung des Zivilrechts durch Eingabenbearbeitung, in: NJ 1984, S. 96. 486 Vgl. Johannes Klinkert, Aufgaben der staatlichen Organe bei der Durchsetzung des sozialistischen Zivilrechts, in: NJ 1976, S. 670 – 704. 487 Vgl. dazu Horst Kellner, Einordnung der gerichtlichen Tätigkeit in die Leitung und Gestaltung der Versorgungsverhältnisse, in: NJ 1972, S. 61 ff.; ders., Zum Verhältnis von Eingaben und Klagen bei der Durchsetzung des sozialistischen Zivilrechts, in: Rat für Staatsund Rechtswissenschaftliche Forschung an der Akademie der Wissenschaften der DDR (Hrsg.), Staat, Recht, Demokratie bei der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft (wie Anm. 443), S. 213 ff.; siehe auch Herbert Kietz, Eigenverantwortliche Beilegung von Zivilrechtskonflikten, in: NJ 1984, S. 11 f. 488 Dietmar Kurze, Sozialistische Betriebe und Institutionen als Verklagte im DDR-Zivilprozess (wie Anm. 446), S. 156 – 164. 489 Bettina Theben, Eingabenarbeit. Zur Rolle der volkseigenen Betriebe bei der Schlichtung zivilrechtlicher Streitigkeiten mit Bürgern, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. II (wie Anm. 16), S. 91. 490 Joachim Göhring / Peter Kurzhals verneinen sogar eine Einbeziehung von planmäßigen, aber realiter nicht vorhandenen Waren in den Geltungsbereich des Kontrahierungszwanges, in: Kauf (= Grundriß Zivilrecht, Heft 5) (wie Anm. 469), S. 56 f. (Fn. 6 bei Joachim Göhring, Zur Regelung des Ersatzes von Mangelfolgeschäden im ZGB, in: NJ 1981, S. 31).

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gaben waren in der DDR ein letztes Mittel etwas durchzusetzen, jedoch für das alltägliche ,Sammeln und Jagen‘ nach diversen Konsumgütern eher ungeeignet. Der Erfolg war nicht gewiss und die Auseinandersetzung mit der Bürokratie unangenehm. Trotzdem gab es immer die Option, eine Eingabe zu schreiben, was oft schon als Drohung gegenüber unhöflichen Verkaufspersonal ausreichte, um wenigstens die Andeutung eines verkniffenen Bemühens in deren Gestik und Mimik zu zaubern.“491 Allerdings konnten Eingaben an Dritte, also nicht an den Forderungsgegner, in zweifacher Hinsicht Wirkung haben: Wurde eine Eingabe über einen Dritten an den Betrieb weitergeleitet, so kam es wohl weniger durch konkrete Anweisungen als durch den Rechtfertigungsdruck der Betriebe gegenüber der organisatorisch oder politisch übergeordneten Stelle zu positiven Ergebnissen für den Bürger.492 Zudem konnte mit Eingaben auf Betriebe und Institutionen zugegriffen werden, gegen die der Bürger keinen direkten Anspruch hatte, die aber, wie etwa der produzierende Betrieb oder eine Ressourcen verteilende Institution oder Organisation, bei der Erfüllung seiner Anliegen faktisch behilflich sein konnten. Als Fußnote der Geschichte ist schließlich festzustellen, dass die Eingaben im Zuge des Endes der DDR nicht gänzlich verschwanden: Mit Petitionen wandten und wenden sich weiter viele ostdeutsche Bürger an die (neue) Obrigkeit, wie der Petitionsausschuss berichtete.493

II. Die richterlichen Rechtsauskünfte „Wer einen Rechtsrat brauchte, ging zur kostenlosen Rechtsauskunft ins Kreisgericht.“

So äußerte sich der ehemalige Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Reinhard Höppner, in einer Rede beim Rechtspolitischen Kongress der Friedrich-Ebert-Stiftung 1997 und deutete mit dieser Überspitzung die Verbreitung und die Bedeutung der richterlichen Rechtsauskunft in der DDR an.494 491 Felix Mühlberg, Wenn die Faust auf den Tisch schlägt. Eingaben als Strategie zur Bewältigung des Alltags, in: Gesellschaft für Bildende Kunst (Hrsg.), Wunderwirtschaft (wie Anm. 416), S. 175 – 184. 492 Torsten Reich spricht von der „hohen staatlichen Autorität“ der eingeschalteten örtlichen Staatsorgane als „dritte Institution“, Torsten Reich, Die Erforschung der objektiven Wahrheit. Zivilprozessualer Wandel in der DDR (= Berliner Juristische Universitätsschriften, Grundlagen des Rechts, Bd. 22), Berlin 2004, S. 39. 493 Hans-Georg Golz, Eingabenfreudige Ostdeutsche. Jahresbericht des Petitionsausschusses, in: DA 1997, S. 700 – 704. 494 Gemeinsame Werte als Voraussetzung für Gemeinschaft – Erfahrungen aus dem Prozeß der deutschen Vereinigung, Rede von Ministerpräsident Reinhard Höppner auf dem Rechtspolitischen Kongress der Friedrich-Ebert-Stiftung am 20. April 1997 in Mainz, http: // www.fes.de / kommunikation / recht / online / reden / hoeppner.html.

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Ideologisch auch von den Bedürfnissen nach Konfliktvermeidung495 und der Erziehung der Bürger496 getragen, fand in der DDR Rechtsauskunftserteilung durch Richter, Schöffen und Sekretäre der Kreisgerichte, Rechtsanwälte, Staatsanwälte, Staatliche Notariate, gewerkschaftliche Rechtsberatungsstellen497 und Justitiare in den Betrieben498 statt. In der Rechtswissenschaft der DDR wurden die richterlichen Rechtsauskünfte gelegentlich thematisiert.499 Hervorzuheben ist der relativ wenig ideologisch geprägte Vortrag von Bärbel Richter von der Akademie der Wissenschaften der DDR bei einer Rechtssoziologentagung in Hamburg 1988, in dem auch die Ergebnisse einer statistischen Auswertung von ca. 7000 Rechtsauskünften durch Richter und Justitiare dargestellt wurden.500 In der bundesrepublikanischen DDR-Forschung stellt die Arbeit von Catherine Janssen aus dem Jahr 1999 die bisher einzige Untersuchung dieser Institution dar,501 die trotz der teilweise nicht vermeidbaren „weißen Flecken“502 einen sehr guten Einblick in die Arbeit und die Bedeutung der richterlichen Rechtsauskunft gibt. Einige Aussagen damaliger Richter und Rechtsanwälte zur richterlichen Rechtsauskunft wurden von Marion Wilhelm und Thomas Kilian zusammengestellt. 503 Die Rechtsauskünfte anderer Institutionen 495 Karl A. Mollnau / Michael Niemann / Bärbel Richter, Stand der Entwicklungstendenzen der gerichtlichen Rechtsauskunft, in: NJ 1987, S. 262, 263. 496 Karl A. Mollnau / Michael Niemann / Bärbel Richter, Stand und Entwicklungstendenzen der gerichtlichen Rechtsauskunft, in: NJ 1987, S. 262, 264; Ursula Bettle, Gerichtliche Rechtsauskunfttätigkeit, in: NJ 1987, S. 114. 497 Catherine Janssen, Steuerung des Bürgerverhaltens durch richterliche Rechtsauskünfte, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 26), S. 291. 498 Vgl. § 5 Abs. 2 der Justitiar-VO vom 25. 03. 1976, GBl. I Nr. 14, S. 204; Dietmar Kurze, Sozialistische Betriebe und Institutionen als Verklagte im DDR-Zivilprozess (wie Anm. 446), S. 387 f. 499 Z. B. Kurt Ziemen, Zur Arbeit der Rechtsauskunftsstellen der Kreisgerichte (Teil I), in: NJ 1953, S. 617 – 618; Fritz Böhme, Die Rechtsauskunftsstellen der Gerichte sind notwendig, in: NJ 1958, S. 64 – 65; Karl A. Mollnau / Michael Niemann / Bärbel Richter, Stand der Entwicklungstendenzen der gerichtlichen Rechtsauskunft, in: NJ 1987, S. 262 – 265. 500 Bärbel Richter, Rechtsauskunft als ein Objektbereich der Analyse des rechtlichen Regelungsprozesses, in: Wolfgang Hoffmann-Riem / Karl A. Mollnau / Hubert Rottleuthner (Hrsg.), Rechtssoziologie in der Deutschen Demokratischen Republik und in der Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden 1990, S. 253 – 265. 501 Catherine Janssen, Steuerung des Bürgerverhaltens durch richterliche Rechtsauskünfte, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 26), S. 291 – 311; zudem die sehr kurze Darstellung in: Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Im Namen des Volkes?, Katalog zur Ausstellung des Bundesministeriums der Justiz (wie Anm. 48), Tafel 35, S. 159. 502 Catherine Janssen, Steuerung des Bürgerverhaltens durch richterliche Rechtsauskünfte, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 26), S. 303, z. B. zu der Frage, ob Bürger von der Rechtsantragstelle planmäßig zur Rechtsauskunft verwiesen wurden, bevor sie eine Klage erheben konnten. 503 Marion Wilhelm / Thomas Kilian, Rechtsstaat mit Ausnahmen – Der DDR-Zivilprozess aus der Perspektive der DDR-Praktiker, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der

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wie die der gewerkschaftlichen Rechtsberatungsstellen sind bisher noch gar nicht oder, wie die der Justitiare,504 nur am Rande behandelt worden. Eine Arbeit untersucht die Möglichkeiten der Rechtsauskunft durch Richter und Rechtsanwälte unter dem Geltungsbereich des bundesdeutschen Beratungshilfegesetzes, insbesondere nach 1990.505 Mit dem Gerichtsverfassungsgesetz der DDR vom 2. Oktober 1952 wurde die Grundlage für die Einrichtung der Rechtsauskunftsstellen geschaffen.506 In § 44 GVG hieß es: „Rechtsauskunftsstellen Bei jedem Kreisgericht wird eine Rechtsauskunftstelle zur Erteilung von Rat und Auskünften an die Bevölkerung gebildet. Sie steht unter der persönlichen Verantwortung des Direktors.“

Die Einrichtung wurde mit einer Rundverfügung des Ministeriums der Justiz angeleitet.507 In der Neufassung des GVG 1974508 wurde die Regelung der Rechtsauskunftstellen inhaltlich nicht wesentlich verändert.509 Die Kreisgerichte hatten einmal in der Woche Sprechstunden anzubieten, erst von 16.00 bis 19.00 Uhr, später wegen des erhöhten Andrangs meist von 9.00 bis 18.00 Uhr.510 Während dieser Zeit hatten auch die Rechtsantragsstellen geöffnet, um ggf. Anträge zu Protokoll zu nehmen, was die beratenden Richter nicht durften. DDR, Bd. III (wie Anm. 205), S. 127 f. sowie Rainer Schröder, Die DDR-Ziviljustiz im Gespräch – 26 Zeitzeugeninterviews, voraussichtlich Frankfurt a.M. 2008. Eine qualitative Auswertung der Interviews von DDR-Justizjuristen findet sich bei Marion Wilhelm, „Wir sind Kinder unserer Zeit“ (wie Anm. 88). 504 Dietmar Kurze, Sozialistische Betriebe und Institutionen als Verklagte im DDR-Zivilprozess (wie Anm. 446), S. 387 – 382. 505 Johannes Stock / Petra-Ida Thünte / Heimfrid Wolff, Schnittstellen von außer- und innergerichtlicher Konfliktbearbeitung im Zivilrecht. Bestandsaufnahme und Probleme in den neuen Bundesländern verglichen mit den Erfahrungen in den alten Bundesländern (= Beiträge zur Strukturanalyse der Rechtspflege), Köln 1995, beschreiben die Rechtsauskunftsstelle des Kreis- bzw. Amtsgerichts Leipzig, die nach „Tradition der öffentlichen Rechtsauskunft in der DDR“ im Jahre 1991 wieder gegründet wurde, inzwischen aber ihre Arbeit eingestellt hat, als Besonderheit im Angebot der Organe der Rechtspflege und als exemplarisches Beispiel des engen, auf freiwilliger Mitarbeit basierenden Nebeneinanders von Rechtspflegern, Richtern (in Vertretung der Rechtspfleger, was nach dem Einigungsvertrag zulässig war) und Anwälten auf Grundlage der Beratungshilfe, vgl. ebenda, S. 49, 67 und S. 227 – 232. 506 GBl. 1952, S. 983 – 988 (986). 507 RV Nr. 107 / 52 des Ministeriums der Justiz vom 27. Oktober 1952. 508 GVG vom 27. 09. 1974, GBl. I, S. 475. 509 Catherine Janssen, Steuerung des Bürgerverhaltens durch richterliche Rechtsauskünfte, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 26), S. 304. 510 Catherine Janssen, Steuerung des Bürgerverhaltens durch richterliche Rechtsauskünfte, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 26), S. 292, 303; Marion Wilhelm / Thomas Kilian, Rechtsstaat mit Ausnahmen – Der DDR-Zivilprozess aus der Perspektive der DDR-Praktiker, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. III (wie Anm. 205), S. 127.

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1953 hatten nach einer Untersuchung des Ministeriums der Justiz 95% aller Kreisgerichte eine Rechtsauskunftstelle eingerichtet.511 Diese hatten großen Zulauf, der sich später noch weiter steigerte: 1953 wurden Rechtsauskunftsstellen etwa 90.000 Mal aufgesucht, 1970 248.000 und 1985 rund 500.000 Mal.512 Eine inhaltliche Analyse der Arbeit der Rechtsauskunftsstellen fand erst in den achtziger Jahren durch das Ministerium der Justiz statt.513 Dabei wurden u. a. die von den Richtern geführten Rechtsauskunftsbücher ausgewertet. Es zeigte sich, dass ca. 2 / 3 der Auskunftsersuche das Zivil- und Familienrecht betrafen (38 % und 31 %). Arbeitsrechtliche Fragen bildeten bei 18 % und strafrechtliche bei 4 % der Ratsuchenden den Grund des Besuchs.514 Am häufigsten ging es bei den zivilrechtlichen Fragen um das Mietrecht (23,89%), dem mit einigem Abstand und mit je ca. 10% Anteil das Grundstücksrecht, Kaufrecht, Erbrecht und sogenannte „Eigentumsrechtliche Fragen“ folgten.515 Der Inhalt der Auskünfte sollte und ging auch über eine „bloße“ juristische Aufklärung hinaus. Die Richter sollten den Konflikt „als Ganzes“ sehen und möglichst umfassend helfen.516 An ein streitentscheidendes Organ mit dem Rat, eine Klage zu erheben, wurde nach der Untersuchung 1986 nur in 20,3% der Fälle verwiesen, was als Ergebnis einer Konfliktvermeidungsstrategie interpretiert werden,517 aber 511 Fritz Böhme, Zur Arbeit der Rechtsauskunftsstellen der Kreisgerichte (Teil II), in: NJ 1953, S. 618 f. 512 Catherine Janssen, Steuerung des Bürgerverhaltens durch richterliche Rechtsauskünfte, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 26), S. 301 f., die sich auf statistische Daten der DDR und des Statistischen Bundesamtes stützt; sehr ähnliche Zahlen präsentiert Bärbel Richter, Rechtsauskunft als ein Objektbereich der Analyse des rechtlichen Regelungsprozesses, in: Wolfgang Hoffmann-Riem / Karl A. Mollnau / Hubert Rottleuthner (Hrsg.), Rechtssoziologie in der DDR und in der BRD (wie Anm. 500), S. 256; für Berlin ließen sich für 1971 und 1972 die Zahlen von 9.694 bzw. 9.154 Rechtsauskünften nur in zivilrechtlichen, ohne familienrechtliche, Fragen ermitteln, Statistik des Ministeriums der Justiz, BA DP 1 VA 4016. 513 Catherine Janssen, Steuerung des Bürgerverhaltens durch richterliche Rechtsauskünfte, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 26), S. 295; Bärbel Richter, Rechtsauskunft als ein Objektbereich der Analyse des rechtlichen Regelungsprozesses, in: Wolfgang Hoffmann-Riem / Karl A. Mollnau / Hubert Rottleuthner (Hrsg.), Rechtssoziologie in der DDR und in der BRD (wie Anm. 500), S. 258 ff. 514 Übrig blieb die Gruppe „Sonstige“ mit 9%, Catherine Janssen, Steuerung des Bürgerverhaltens durch richterliche Rechtsauskünfte, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 26), S. 295. 515 Catherine Janssen, Steuerung des Bürgerverhaltens durch richterliche Rechtsauskünfte, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 26), S. 296. 516 Kurt Ziemen, Zur Arbeit der Rechtsauskunftsstellen der Kreisgerichte (Teil I), in: NJ 1953, S. 617; Catherine Janssen, Steuerung des Bürgerverhaltens durch richterliche Rechtsauskünfte, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 26), S. 298 ff. 517 Catherine Janssen, Steuerung des Bürgerverhaltens durch richterliche Rechtsauskünfte, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 26), S. 300 f.

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auch in der Art der Anfragen begründet sein kann. Dass die Bürger durch den Inhalt der richterlichen Auskünfte in bestimmter Weise „gelenkt“ wurden, ist durch Interviews mit Richtern festgestellt worden. Durch diese Rechtsauskunft erhielten sie neue Orientierungen, Empfehlungen und wurden für die juristische Relevanz ihrer Konflikte sensibilisiert.518 Das Problem der Befangenheit des mit der Sache befassten Richters, der zuerst eine Rechtsauskunft erteilt hatte und später auch den betreffenden Prozess leitete, spielte zumindest in der Rechtswissenschaft der DDR nach einer Klärung im Jahr 1953 keine Rolle mehr: Der Richter durfte sein in der Rechtsauskunft erlangtes Wissen verwenden, alles andere käme „ja der Lüge gleich und [sei] typisch für den kapitalistischen Zivilprozess.“519 Auch die Haftung der Richter und des Staates für die Folgen fehlerhaft erteilter Rechtsauskünfte war kein Thema intensiver dogmatischer und praktischer Auseinandersetzungen. Der Bürger konnte sich im Schadensfall beschweren und auf eine „Kulanzentscheidung“ hoffen, etwa eine Kassation. Rechtliche Möglichkeiten hatte er jedoch nicht.520 Für die Richter war die Rechtsauskunftserteilung eine Arbeitsbelastung, wie Lothar de Maizière 1998 auf einer Tagung an der Humboldt-Universität bemerkte: „Die Rechtsauskunftstätigkeit hat die Richter außerordentlich gefordert. Sie mussten dort am Tage nicht fünf, sechs, sieben, sondern mitunter 20, 30, 35 Rechtsauskünfte geben.“521

Neben der zahlenmäßigen Belastung war problematisch, dass die Richter auch auf Gebieten Auskunft geben mussten, mit denen sie nicht vertraut waren – ein Problem, das auch die Justitiare betraf, welche dann mitunter Hefte aus der Reihe „Recht in unserer Zeit“ zu Hilfe nahmen, die eigentlich für die Lektüre durch die Bürger selbst konzipiert waren. Noch einmal de Maizière: „Die Qualität der erteilten Auskünfte war sehr unterschiedlich, was auch daran lag, dass alle Richter zu diesem Dienst herangezogen wurden, das heißt, dass der Strafrichter eben auch zivilrechtliche oder familienrechtliche Auskünfte erteilen musste – und das merkte man.“522 Welchen Einfluss hatte die richterliche Rechtsauskunft nun auf den Zivilprozess? 518 Catherine Janssen, Steuerung des Bürgerverhaltens durch richterliche Rechtsauskünfte, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 26), S. 301 sowie die Interviews mit Richtern in Rainer Schröder, Die DDR-Ziviljustiz im Gespräch – 26 Zeitzeugeninterviews (wie Anm. 503). 519 Fritz Niethammer, Anmerkung zu Bezirksgericht Karl-Marx-Stadt, Beschluss v. 28. 9. 1953 – 5 Ar 8 / 53, in: NJ 1954, S. 313 f.; Richter konstatiert, dass dieses Problem „praktisch keine Rolle“ mehr spiele, Bärbel Richter, Rechtsauskunft als ein Objektbereich der Analyse des rechtlichen Regelungsprozesses, in: Wolfgang Hoffmann-Riem / Karl A. Mollnau / Hubert Rottleuthner (Hrsg.), Rechtssoziologie in der DDR und in der BRD (wie Anm. 500), S. 265. 520 Catherine Janssen, Steuerung des Bürgerverhaltens durch richterliche Rechtsauskünfte, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 26), S. 307 f. 521 Lothar de Maizière, Zivilrechtsalltag in der DDR aus der Sicht eines Rechtsanwalts, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. III (wie Anm. 205), S. 26. 522 Lothar de Maizière, ebenda, S. 26.

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Im Einzelfall konnte es für den Richter unangenehm und für den Bürger ärgerlich werden, wenn sich die Auskunft später im Prozess als nicht richtig, nicht vollständig oder auf einem ungenauen Sachverhaltsvortrag beruhend erwies. Folgen für den Prozessausgang oder die Regelung des Konfliktes insgesamt sind aber nicht bekannt. Eine andere Frage ist die nach einer generell prozessvermeidenden Funktion der richterlichen Rechtsauskunft. Mit Sicherheit wurden Konflikte durch den Rat einer Autorität gelöst, etwa wenn der Käufer einsehen musste, dass die Garantiezeit abgelaufen war oder der Bürger seine Wohnungsverwaltung unter Hinweis auf die Rechtsauskunft zu gesetzesgemäßem Handeln bewegen konnte. Auch wurden Konflikte vermieden, wenn der Bürger nach der Beratung ein rechtsgültiges Testament aufsetzte. Ob hiermit aber wirklich in erheblichem Umfang Prozesse vermieden wurden, ist nicht klar. Richter nahm an, dass die Rechtsauskünfte generell die Rechtsprechung nicht entlasten würden.523 Janssen meint, Rechtsauskünfte seien häufig ein wirksameres Mittel gewesen, um angestrebte Ziele zu erreichen, als sich auf ein Gerichtsverfahren einzulassen, dessen Ausgang und letztlich auch dessen Durchsetzbarkeit im Ungewissen gestanden habe.524 Gegen Janssens Einschätzung spricht, dass ein Gerichtsverfahren nicht immer die Alternative zu einer Rechtsauskunft war. Sämtliche die Rechtsgestaltung betreffenden Fragen, wie die Testamentsverfassung, konnten nicht unmittelbar Gegenstand eines Prozesses sein. Auch bei „echten“ Konflikten war die Alternative zur richterlichen Rechtsberatung nicht automatisch die Klage, sondern vielmehr eine anwaltliche Rechtsauskunft oder eine Auskunft durch andere Stellen, wie den Betriebsjustitiaren oder den gewerkschaftlichen Rechtsberatungsstellen. Auch wenn es bisher noch nicht gelungen ist, die prozessvermeidende Wirkung der Auskunftserteilung durch Richter quantitativ darzustellen, ist davon auszugehen, dass es eine solche Wirkung gegeben hat. Es ist aber auch anzunehmen, dass bei einer funktionierenden Rechtsanwaltschaft in Systemen ohne richterliche Rechtsauskunft zumindest annähernd ähnliche Ergebnisse erzielt werden. Wahrscheinlich gibt der schon eingangs zitierte Reinhard Höppner in seiner Beschreibung des Rechtsverständnisses in der DDR das Klima wieder, in das sich die richterliche Rechtsauskunft einfügte: „Es bleibt trotz alledem: Das Rechtsverständnis zielte auf Kooperation, nicht auf Konfrontation. Nicht Konfliktaustragung, sondern Konfliktverhinderung war seine Devise.“525 523 Bärbel Richter, Rechtsauskunft als ein Objektbereich der Analyse des rechtlichen Regelungsprozesses, in: Wolfgang Hoffmann-Riem / Karl A. Mollnau / Hubert Rottleuthner (Hrsg.), Rechtssoziologie in der DDR und in der BRD (wie Anm. 500), S. 260. 524 Catherine Janssen, Steuerung des Bürgerverhaltens durch richterliche Rechtsauskünfte, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 26), S. 311. 525 Gemeinsame Werte als Voraussetzung für Gemeinschaft – Erfahrungen aus dem Prozeß der deutschen Vereinigung, Rede von Ministerpräsident Reinhard Höppner auf dem

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III. Vollstreckung526 1. Ausgangssituation Nach Ende des Krieges galt in der SBZ noch eine Zeitlang das Zwangsvollstreckungsrecht nach der alten ZPO von 1877.527 Es unterschied sich nicht von dem in den alliierten Besatzungszonen angewandten Recht. Hinzu kamen Pfändungsschutzverordnungen aus nationalsozialistischer Zeit, die der angespannten wirtschaftlichen Situation der Weltwirtschaftskrise,528 später der Kriegsjahre Rechnung trugen529 oder die Vollstreckungen gegen zum Wehrdienst Eingezogene einschränkten.530 Diese Schutzverordnungen wurden in der SBZ einstweilen weiter angewandt, da dies aufgrund der wirtschaftlichen Situation vieler Schuldner geboten schien531 und sich die Arbeiten der DJV ebenso wie später des Ministeriums der Justiz an neuen Pfändungsvorschriften hinzogen.532 Größere Neuregelungen hätten außerdem die noch eine gewisse Zeit angestrebte Rechtseinheit der SBZ / DDR mit den anderen Besatzungszonen beeinträchtigt. Voraussetzung für die Zwangsvollstreckung waren nach wie vor Titel, Klausel und Nachweis der Zustellung. Wegen der Belastung der Gerichte ließen diese teilweise durch die Post und nicht durch den Gerichtsvollzieher zustellen. Pfändung, Wegnahme und Verwertung körperlicher Sachen waren dem Gerichtsvollzieher überlassen, die übrigen Vollstreckungsmaßnahmen traf das Gericht. Die Organisation des Gerichtsvollzieherwesens war bisher nicht einheitlich, sondern in Landesgesetzen533 geregelt. Nach der für die ehemals preußischen Gebiete Rechtspolitischen Kongress der Friedrich-Ebert-Stiftung am 20. April 1997 in Mainz, http: // www.fes.de / kommunikation / recht / online / reden / hoeppner.html. 526 Ausführlich Thomas Thaetner, Die Zwangsvollstreckung in der DDR (wie Anm. 276); ders., Bis zum Bitteren Ende – Vollstreckungspraxis in der DDR, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. II (wie Anm. 16), S. 151 – 176. 527 In der Fassung der Bekanntmachung vom 8. November 1933 (RGBl. I, S. 821). 528 So u. a. die Vergleichsordnung vom 26. Februar 1935 (RGBl. I, S. 321), die die Vergleichsordnung vom 5. Juli 1927 (RGBl. O, S. 139) ablöste und noch auf Vorarbeiten seit 1931 zurückgriff; die Verordnung über Maßnahmen auf dem Gebiet der Zwangsvollstreckung vom 26. Mai 1933 (RGBl. I, S. 302) und das Vollstreckungsmissbrauchsgesetz vom 13. Dezember 1934 (RGBl. I, S. 1234). 529 Kriegsausgleichsverfahrensordnung vom 30. 11. 1939 (RGBl. I, S. 2338), Anwendbarkeit bejaht mit Schreiben der DJV, 376 – V. 1578 / 48 vom 23. 11. 1948, BA DP 1 VA 7403. 530 Bis 1950 galt die Lohnpfändungsverordnung vom 30. 10. 1940, (RGBl. I, S. 1451) noch länger wurde Artikel 6 der Schutzverordnung auf dem Gebiete des bürgerlichen Streitverfahrens und der Zwangsvollstreckung vom 4. 12. 1943 (RGBl. S. 665) angewandt, BA DP 1 VA 7426. 531 Altforderungen waren bei der Währungsreform 1948 nicht wie die Bargeldbestände im Verhältnis 1:10 abgewertet worden. 532 Nicht nur die Gerichte, auch die Verwaltungen der Länder und der Staatspräsident der neugegründeten DDR wandten sich immer wieder an das Ministerium der Justiz und mahnten den Erlass neuer Pfändungsschutzverordnungen an. Thomas Thaetner, Die Zwangsvollstreckung in der DDR (wie Anm. 276), S. 73.

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geltenden Regelung war der Gerichtsvollzieher nicht beim Gericht angestellt, sondern besaß eine weitgehende Selbständigkeit. Er unterhielt die Geschäftsräume auf eigene Kosten und konnte auch Gehilfen anstellen. Die Geschäftsräume befanden sich in der Regel außerhalb des Gerichts in der Wohnung des Gerichtsvollziehers. Zur Deckung der Unkosten und als Entgelt seiner Tätigkeit erhielt der Gerichtsvollzieher einen erheblichen Anteil (zuletzt 30%) der von ihm zu erhebenden Gebühren für die Vollstreckungstätigkeit. Daneben wurde dem Gerichtsvollzieher noch ein Grundgehalt gezahlt. Ähnlich war die für Thüringen geltende Regelung. Sachsen war hiervon abgewichen, indem der Gerichtsvollzieher beim Amtsgericht angestellt war, die Geschäftsräume im Gericht lagen und auch die Bürokosten des Gerichtsvollziehers mit vom Haushalt des betreffenden Gerichts getragen wurden. Der Gerichtsvollzieher war in Sachsen fest angestellt, allerdings mit verhältnismäßig niedriger Gehaltsstufe, wofür er zum Ausgleich ebenfalls einen Gebührenanteil in Höhe von 15% der einkommenden Gebühren erhielt. 2. Modifikationen des Vollstreckungsrechts a) Organisation Diese zersplitterte landesrechtliche Regelung war für die DDR nicht mehr tragbar. Die bisherige Losgelöstheit des Gerichtsvollziehers, insbesondere in Preußen, hatte dazu geführt, dass die Tätigkeit des Gerichtsvollziehers z. T. nach gewerblichen Gesichtspunkten geführt wurde, d. h. Aufträge der Parteien, die hohe Gebühren einbrachten, bevorzugt erledigt wurden, Aufträge staatlicher Vollstreckungsbehörden nur säumig. Die Gebührenbeteiligung führte weiterhin zu einem uneinheitlichen Einkommen der Gerichtsvollzieher. Die räumliche Trennung der Geschäftsräume des Gerichtsvollziehers vom Gericht erschwerte schließlich die Kontrolle des Gerichtsvollziehers. Im Zuge der Neuorganisation des Staatsapparates der DDR wurde auch das Gerichtsvollzieherwesen grundlegend neu gestaltet und die Gerichtsvollzieher voll in die Gerichtsorganisation eingebunden. Das neue Gerichtsverfassungsgesetz von 1952 sah vor, dass bei jedem Kreisgericht mindestens ein Gerichtsvollzieher anzustellen war, dessen Aufgabe die Zustellung, Pfändung und Verwertung von körperlichen Sachen und die Wegnahme derselben war.534 Als Angestellter unterlag er der Kontrolle der Justizverwaltungsstellen.535 Den Sekretären oblagen die übrigen Zwangsvollstreckungshandlungen (§ 29 Abs. 2 AnglVO): Bestellung eines Vertreters für den Eigentümer nach § 787 ZPO, Anordnung der anderweitigen Verwer533 § 154 des alten GVG, der bestimmte, dass die Dienst- und Geschäftsverhältnisse der mit den Zustellungen, Ladungen und Vollstreckungen zu betrauenden Beamten (Gerichtsvollzieher) durch die Landesjustizverwaltung geregelt werden. 534 §§ 753 I, 808 I, 814, 883 I ZPO, § 5 der VO vom 4. Oktober 1952 über das Gerichtsvollzieherwesen, (GBl. I, S. 993). 535 BA DP 1 VA 6913, unpaginiert.

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tung von Pfandstücken gemäß § 825 ZPO, die Zwangsvollstreckung in Forderungen und andere Vermögensrechte gemäß §§ 828 bis 839, §§ 846 bis 849, §§ 857 und 858 ZPO und der VO vom 9. Juni 1955 über die Pfändung von Arbeitseinkommen. Außerdem hatten die Sekretäre das Verteilungsverfahren durchzuführen, über die Gewährung von Vollstreckungsschutz und die Einstellung oder Beschränkung der Zwangsvollstreckung gemäß §§ 775, 776 ZPO, soweit die Zwangsvollstreckungshandlung vom Sekretär vorgenommen wurde zu entscheiden.

b) Lohnpfändungsrecht536 Geprägt durch die „Erfahrungen der Arbeiterklasse mit der bürgerlichen Justiz“ wurde als Regelfall der Zwangsvollstreckung noch immer die Pfändung in das Arbeitseinkommen eines Arbeiters für eine aus den kapitalistischen Verhältnissen herrührende Zahlungsforderung angesehen. Die meisten Vollstreckungsanträge wurden auch nach wie vor durch Pfändung des Arbeitseinkommens realisiert.537 Die staatliche, zwangsweise Durchsetzung dieser Ansprüche gegen die Werktätigen war mit dem neuen Selbstverständnis als Staat der Arbeiter und Bauern nur schwer vereinbar. Außerdem wurde befürchtet, dass durch übermäßige Einkommenspfändungen die Arbeitsmotivation sinken und Schuldner vor den Pfändungen in die Bundesrepublik ausweichen könnten.538 Seit 1950 wurde daher an einer Überarbeitung der geltenden Lohnpfändungsverordnung (von 1940) gearbeitet.539 Nachdem auf einer diesbezüglichen Tagung am 14. Juni 1951 unter Leitung von Hans Nathan eine vollständige Neuregelung gefordert worden war, zogen sich die Arbeiten jedoch in die Länge. Unter Berücksichtigung der sowjetischen Regelung540 wurde ein Lohnpfändungsrecht erarbeitet, welches weite Teile der arbeitenden Bevölkerung unpfändbar stellte, so wie es bei Inkrafttreten der Regelung bereits der Fall war. Der 17. Entwurf, der am 1. Mai 1955 in Kraft trat, sah einen auf 150,– Mark angehoben Pfändungsfreibetrag vor und erhöhte sich für jede unterhaltspflichtige Person um 50,– Mark. Das darüber 536 Marc Ludwig, Der Pfändungsschutz für Lohneinkommen: die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Vorschriften zum Schutz vor Lohnpfändung in Deutschland (= Rechtshistorische Reihe, Bd. 244), Frankfurt a.M. 2001; Wolfgang Brehm, Zur Geschichte der Lohnpfändung in Deutschland, in: Walter Gerhardt (Hrsg.), Zur Reformbedürftigkeit des Lohnpfändungsrechts. Festschrift für Wolfram Henckel zum 70. Geburtstag am 21. April 1995, Berlin 1995, S. 41 – 52. 537 BA ZV Statistik DP 1 VA 8872. 538 Das waren die Argumente, mit denen z. B. der Staatspräsident beim Ministerium der Justiz immer wieder eine neue Pfändungsschutzverordnung anmahnte (BA DP 1 VA 7426, Schreiben an Dr. Artzt, HA I vom 2. Juli 1952 S. 2), oder mit denen die Schuldner Vollstreckungsschutz beantragten. 539 Materialien und Schriftwechsel in BA DP 1 VA 6914. 540 Art. 289 – 291a der Zivilprozessordnung der RSFSR von 1943, die in Art. 289 ZPO einen unpfändbaren Mindestlohn vorsah.

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hinausgehende Eigentum war zu 50% pfändbar. Nach bevorrechtigten volkseigenen Forderungen wurde die Pfändungsfreigrenze nicht mehr wie ursprünglich vorgesehen differenziert. Das pfändbare Einkommen bestimmte sich nach dem Nettoprinzip, alle regelmäßigen Leistungen waren einzubeziehen. Einmalige Prämien für besondere Leistungen waren ausgenommen. § 12 hielt eine Ausnahmeregelung für Schuldner und Gläubiger bereit. Bei der Reihenfolge der Pfändungen waren Unterhalts-, Miet- und volkseigene Forderungen vor den sonstigen Forderungen bevorrechtigt. Bei dem noch niedrigen Lohnniveau konnte sich die Realisierung von Altforderungen oder Kreditrückzahlungen auf Jahre hinziehen. Dies war zur Vermeidung von Kreditgeschäften und zur Förderung der Bargeschäfte durchaus beabsichtigt.541 Die Einkünfte von Freiberuflern waren aus praktischen Gründen frei pfändbar, allerdings konnte besonderer Pfändungsschutz bei Offenlegung der Einkommenssituation gewährt werden. 1958 wurde das Zwangsvollstreckungsergänzungsgesetz (ZwEG) verabschiedet. Dieses sah im ersten Abschnitt die Weitergeltung der Pfändung von Arbeitseinkommen bei Arbeitsplatzwechseln zugunsten von Unterhaltsgläubigern vor. Ebenso begründete es in § 3 eine Mitteilungspflicht des ehemaligen Drittschuldners gegenüber dem Gericht binnen drei Tagen nach Beendigung des Arbeitsrechtsverhältnisses. Der neue Arbeitgeber als potentieller Drittschuldner war nach § 4 verpflichtet, von jedem neuen Arbeitnehmer eine Erklärung über anhängige Pfändungen einzuholen und in diesem Falle dem Gericht binnen drei Tagen Mitteilung zu machen. Alter und neuer Drittschuldner hafteten dem Gläubiger bei Verletzung dieser Pflichten für eventuelle daraus resultierende Schäden. Diese Regelung wurde schließlich für alle Forderungen ausgebaut und mit dem Prinzip der „selbstmarschierenden Kaderakten“542 verbunden. Inzwischen waren volkseigene Betriebe zu den größten Gläubigern geworden. Der zweite Abschnitt des ZwEG bestimmte die Abschaffung des Offenbarungseides, der zivilprozessualen Haft und des persönlichen Sicherungsarrestes. Nach § 8 durften diese Zwangsmittel zur Durchführung oder Sicherung der Zwangsvollstreckung nicht mehr angewandt werden. Als letzte Möglichkeit der Vollstreckung wurde § 807 a in die ZPO eingefügt, der neben der Errichtung des Vermögensverzeichnisses nach § 807 ZPO die Versicherung der Richtigkeit und Vollständigkeit des Verzeichnisses vorsah. Auch ansonsten trat an die Stelle des Offenbarungseides in den §§ 259, 260, 261, 2006, 2028 und 2057 BGB die Versicherung. An der Vollstreckung in bewegliche Sachen und Grundstücke änderte sich grundsätzlich nur wenig. Zwangsversteigerungen wurden jedoch immer seltener und stellten schließlich eine Ausnahme dar. Die Versteigerung von Grundstücken 541 So die Begründung des Ministeriums der Justiz zum 12. Entwurf BA DP 1 VA 7444, vgl. auch Werner Artzt, Zu einigen Fragen des Lohnpfändungsrechts, in: NJ 1953, S. 365. 542 Bei Arbeitsplatzwechsel hatte der nächste Arbeitgeber bei dem bisherigen Betrieb die Personalunterlagen und damit auch die Pfändungsvorgänge abzufordern, vgl. §§ 108 – 111 der neuen ZPO von 1975.

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war durch Höchstpreisregelungen und das Erfordernis einer Bietergenehmigung des Rates des Kreises stark reglementiert.543

c) Vollstreckung gegen Volkseigentum Für Ansprüche gegen VEB war der Zivilrechtsweg vor den ordentlichen Gerichten gegeben.544 Hatte der Gläubiger gegen einen VEB einen Titel erwirkt, konnte er bei Gericht einen Vollstreckungsantrag stellen. Jeder Eingriff in Volkseigentum war jedoch verboten, eine Verwertung unzulässig.545 Eine Vollstreckungsklausel durfte daher von den Gerichten nicht erteilt werden, da der Gläubiger damit Zwangsmaßnahmen gegen den Betrieb hätte einleiten können. Die Klauselerteilung oblag daher dem Ministerium der Industrie als Hüter des Volkseigentums,546 später dem Ministerium der Justiz.547 Weder das Ministerium der Industrie noch das Ministerium der Justiz hatten die Vollstreckungsklauseln erteilt, sich aber um die Realisierung der Forderungen durch die Betriebe bemüht und forderten notfalls deren übergeordnete Fachministerien auf, die Betriebe entsprechend anzuweisen. Seit 1953 waren alle Anträge, die die Einleitung einer Vollstreckungshandlung gegen Rechtsträger von Volkseigentum zum Gegenstand hatten, den übergeordneten Organen des schuldenden volkseigenen Betriebes oder der schuldenden Dienststelle mit Ersuchen um Zahlungsanweisung vorzulegen.548 Die Kreisgerichte durften auch keine auf gerichtlichen Zahlungsaufforderungen beruhenden Vollstreckungsbefehle gegen VEB erlassen, da diese grundsätzlich keiner Vollstreckungsklausel bedurften, eine Kontrolle durch die Fachministerien daher ausschied. Die Reichweite dieser Regelungen war manchem Gericht aber unklar, da sie unter „gleichgestellten Betrieben“ i. S. d. VO auch gesellschaftliche Organisationen, Parteien und Massenorganisationen, Konsumgenossenschaften, LPG usw. verstanden, also schlechthin alle Organisationen und gesellschaftlichen Einrichtungen, die auch den erhöhten Schutz des Volkseigentumsschutzgesetzes 543 Thomas Thaetner, Die Zwangsvollstreckung in der DDR (wie Anm. 276), S. 245 ff. Die Vollstreckung in Grundstücke des Schuldners war so selten, dass sie nach 1973 nicht mehr in den Vollstreckungsstatistiken aufgeführt wurde. Lediglich die zahlreicheren Versteigerungen zur Auflösung einer Erbgemeinschaft wurden noch erwähnt. Für die Jahre 1988 und 1989 wurden 675 bzw. 554 Anträge auf gerichtlichen Verkauf zur Auflösung einer Erbengemeinschaft registriert (Ministerium der Justiz Abt. 1, BA DP 1 VA 8872). 544 Auf den Zivilrechtsweg für Ansprüche gegen VEB wies die HA Gesetzgebung des Ministeriums der Justiz den Präsidenten des LG Leipzig am 28. 6. 1952 ausdrücklich hin, BA DP 1 VA 483, unpaginiert. 545 Befehl Nr. 64 der SMAD vom 17. 4. 1948 über die Beendigung der Sequesterverfahren in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, ZVOBl. Nr. 15 S. 140 f. 546 RB 15 / 49 der zentralen Justizverwaltung, RB 87 / 50 des Ministeriums der Justiz. 547 Rundverfügung 84 / 52 des Ministeriums der Justiz vom 31. 7. 1952 – 7021-I-2353 / 52, Amtliches Nachrichtenblatt Nr. 15 des Ministeriums der Justiz. 548 Rundverfügung Nr. 36 / 53 des Ministeriums der Justiz vom 20. 4. 1953.

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genossen.549 Dies entsprach eigentlich nicht dem Wortlaut der Verordnung. Trotzdem wurde die Regelung, wohl auch mangels einer intervenierenden Anweisung des Ministeriums der Justiz, weit ausgelegt, wogegen sich die Betroffenen in der Regel auch nicht beschwerten. Besondere Schwierigkeiten bereitete die Vollstreckung gegen sowjetische Aktiengesellschaften. Diese SAG-Betriebe waren sowjetisches Eigentum, unterstanden der normalen Zivilgerichtsbarkeit, wurden aber mit Rücksicht auf die Besatzungsmacht wie Volkseigentum behandelt. Das Ministerium der Justiz bat in diesen Fällen die Verwaltung des sowjetischen Vermögens in Deutschland, BerlinKarlshorst, um Begleichung der Forderungen.

d) Vollstreckungen über die Zonengrenzen hinweg Große Schwierigkeiten bereitete die Vollstreckung von Forderungen über die Zonengrenzen hinweg. Diese Schwierigkeiten waren nur zum Teil politisch-ideologischer Natur. So weigerten sich westdeutsche Gerichte Forderungen gegen Schuldner im Bundesgebiet zu vollstrecken, die aus der harten Politik der SED gegen Selbständige in der DDR resultierten. Ebenso verweigerten die ostdeutschen Gerichte die Vollstreckung von Teilzahlungskreditforderungen, da sie für diese Schulden das kapitalistische Wirtschaftsverhalten verantwortlich machten.550 Das zweite große Problem bildeten die unterschiedlichen Währungen. Westdeutsche Gerichte vollstreckten in Unterhaltsfällen oft nur den nach dem inoffiziellen Umtauschkurs geminderten Betrag in DM-West, während die Gerichte der DDR auf der Gleichwertigkeit ihrer Währungen bestanden. An den Devisenschwierigkeiten scheiterte oft auch die Vollstreckung volkseigener Forderungen in Westdeutschland.551 Grundsätzlich war die Vollstreckung zumindest bezüglich neu begründeter Forderungen, also nicht solcher, die aufgrund von Enteignungen in Volkseigentum übergegangen waren, möglich. Allerdings bedurfte jede Vollstreckungshandlung aufgrund einer Anordnung des Ministerpräsidenten vom 7. Februar 1956 der vorherigen Zustimmung des Valuta-Planträgers, also des Ministeriums der Finanzen, da die DDR für eine Vollstreckung sowohl Anwalts- als auch Gerichtskostenvorschuss in Westmark zahlen mussten. Das Ministerium der Finanzen prüfte unter diesen wirtschaftlichen Gesichtspunkten die Zweckmäßigkeit der Rechtsverfolgung.

549 Schreiben der Justizverwaltung Leipzig an das Ministerium der Justiz vom 10. Juni 1954, BA DP 1 VA 531 unpaginiert. 550 Verweigerte Vollstreckung von Teilzahlungskreditforderungen BA DP 1 VA 3422, SE 113 – 117, Thomas Thaetner, Die Zwangsvollstreckung in der DDR (wie Anm. 276), S. 57. 551 Aktenvermerk des Ministeriums der Justiz von 17. 5. 1957 aufgrund einer Anfrage der Deutschen Investitionsbank bezüglich Schuldnern, die unter Mitnahme des Sicherungsgutes die DDR verlassen hatten, BA DP 1 VA 5872.

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3. Vollstreckungsrecht nach der neuen ZPO Eine neue und bis zum Ende der DDR weitgehend unveränderte Form erhielt das Vollstreckungsrecht durch die neue ZPO, die am 1. Januar 1976 in Kraft trat. Die Arbeiten an ihr hatten bereits 1958 begonnen. Erste Ansätze einer Neuordnung des Vollstreckungsrechts waren mit der „Verordnung über die Tätigkeit der Kreisund Bezirksgerichte (Arbeitsgerichtsordnung) vom 29. Juni 1961552 geschaffen worden, worin den Gerichten die Verantwortung für die Vollstreckung übertragen worden war. Doch erst mit der neuen ZPO wurde die Trennung in Erkenntnis- und Vollstreckungsverfahren organisatorisch weitestgehend aufgehoben und die „Vollstreckung erhielt den ihr gebührenden zentralen Platz in der ZPO, ihrer Bedeutung entsprechend“.553 Die Gerichtsvollzieher wurden abgeschafft, die Gerichtsverteilerstellen aufgelöst. Das gesamte Verfahren lag nun in den Händen der Kreisgerichte, ihrer Richter und Sekretäre. a) Organisation Die gerichtlichen Vollstreckungsorgane in der DDR waren die 235 Kreisgerichte und 33 Zentralbuchhaltungen. aa) Die Kreisgerichte Den Kreisgerichten oblag die Vollstreckung aller zivil-, familien- und arbeitsrechtlichen Ansprüche, die Gläubigern zustanden – aus vollstreckbaren gerichtlichen Urteilen, Einigungen und Beschlüssen (einschließlich der Beschlüsse, die einen Anspruch auf Erstattung von Verfahrenskosten zugunsten der obsiegenden Prozesspartei festsetzten), – aus vollstreckbaren Urkunden der Staatlichen Notariate und vollstreckbaren Urkunden über die Anerkennung von Unterhaltsverpflichtungen vor den Referaten Jugendhilfe der Räte der Kreise, in denen sich die Schuldner des in der Urkunde anerkannten Anspruchs der Vollstreckung unterworfen hatten, – aus für vollstreckbar erklärten Urteilen ausländischer Gerichte sowie – aus für vollstreckbar erklärten Entscheidungen inländischer und ausländischer Schiedsgerichte.

Gegenstand der gerichtlichen Vollstreckung waren – Ansprüche auf Zahlung fälliger Geldbeträge, aber ggf. auch auf Zahlung künftig fällig werdender Beträge (z. B. Unterhaltsbeträge, Miete § 101 ZPO), GBl. I, S. 27. Horst Kellner, Zivilprozeßrecht, in: Uwe-Jens Heuer (Hrsg.), Die Rechtsordnung der DDR (wie Anm. 249), S. 525. 552 553

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Kap. 2: Historische Einführung

– Ansprüche auf Herausgabe von Sachen, – Ansprüche auf Räumung von Wohnungen, Grundstücken oder sonstigen Räumen sowie – Ansprüche auf Vornahme (Leistung), Duldung oder Unterlassung einer Handlung.

Die Ausführung der Vollstreckung durch die Pfändung von Forderungen, beweglichen und unbeweglichen Sachen des Schuldners, die Wegnahme herauszugebender Sachen und die Räumung oblag dem Sekretär des Kreisgerichts, der auch die Gesamtvollstreckung (Konkurs) durchführt. Nur die Erzwingung einer Handlungs-, Duldungs- oder Unterlassungsverpflichtung durch Auferlegung von Zwangsgeld (Beugehaft) war Aufgabe des Vorsitzenden der Zivilkammer des Kreisgerichts. Örtlich war das Kreisgericht zuständig, bei dem das Verfahren in erster Instanz durchgeführt oder eine Vollstreckbarkeitserklärung erlassen worden war. Wurde das Verfahren in erster Instanz bei dem Bezirksgericht durchgeführt oder sollte aus Urkunden und Entscheidungen anderer Organe vollstreckt werden, war das Kreisgericht zuständig, in dessen Bereich der Schuldner seinen Wohnsitz hatte. Die Sekretäre der Kreisgerichte waren mittlere juristische Kader mit abgeschlossener Fachschulausbildung. Als Mitarbeiter des Kreisgerichts unterstanden sie dem Direktor des Kreisgerichts. Fachlich wurden die Sekretäre auch von den Senaten der Bezirksgerichte mittels der Rechtsprechung über die Beschwerden gegen Entscheidungen der Sekretäre angeleitet. Die Aus- und Weiterbildung der Sekretäre war Aufgabe des Justizministeriums und der Präsidien der Bezirksgerichte.

bb) Die Zentralbuchhaltungen Die Zentralbuchhaltungen (Gerichtskassen), die bei den Bezirksgerichten und in großen Bezirken auch bei einigen Kreisgerichten bestanden, waren selbständige Vollstreckungsorgane und entweder für alle oder für mehrere Kreise des Bezirks zuständig. Ihnen oblag die Vollstreckung von Kostenforderungen der Gerichte und der Staatlichen Notariate sowie die Vollstreckung von Geldstrafen und Ordnungsstrafen, die von den Gerichten rechtskräftig ausgesprochen worden waren. Die Leiter der Zentralbuchhaltung unterstanden dem Direktor des Gerichts, dem die jeweilige Zentralbuchhaltung zugeordnet war und wurden fachlich vom Leiter des Referats Haushalt des Bezirksgerichts, der auch Beschwerdeinstanz war, angeleitet. Die Leiter der Zentralbuchhaltungen konnten Forderungen von Schuldnern pfänden. Sollten jedoch bewegliche oder unbewegliche Sachen gepfändet werden, musste der Leiter der Zentralbuchhaltung den Sekretär des örtlich zuständigen Kreisgerichts um Durchführung der Pfändung ersuchen. Der Sekretär des Kreisgerichts war verpflichtet, dieses Vollstreckungsersuchen für die Zentralbuchhaltung auszuführen.

C. Außerhalb des Zivilprozesses

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cc) Die Vollstreckungsstellen Die Vollstreckung von Gebührenforderungen, von Steuerforderungen usw. sowie von Geldstrafen und von Ordnungsstrafen anderer Staatsorgane oblag nicht den gerichtlichen Vollstreckungsorganen, sondern den Vollstreckungsstellen, die bei den Räten der Kreise sowie bei den Organen des Ministeriums des Innern und der Zollverwaltung bestanden. Auch die Deutsche Post vollstreckte bestimmte Gebührenforderungen selbst. Die Vollstreckungsstellen der Staatsorgane waren zur Pfändung von Forderungen und von beweglichen Sachen berechtigt. War jedoch die Pfändung eines Grundstücks oder Gebäudes oder eines Schiffes erforderlich, musste der Leiter der jeweiligen Vollstreckungsstelle den Sekretär des örtlich zuständigen Kreisgerichts um Vornahme insoweit notwendiger Vollstreckungsmaßnahmen ersuchen, da die Vollstreckungsstellen der anderen Staatsorgane zur Vollstreckung in unbewegliches Vermögen nicht befugt waren. Der Sekretär des Kreisgerichts war zur Ausführung des Vollstreckungsersuchens verpflichtet. b) Verfahren Zur Einleitung der Vollstreckung genügte ein Antrag an das Vollstreckungsgericht, da der Gläubiger ein Urteil nicht mehr ausgehändigt erhielt, sondern dies beim Gericht verblieb. Der Vollstreckungsantrag hatte die Vollstreckungsgrundlage genau zu bezeichnen. Sollte aus einer Urkunde oder einer Entscheidung eines anderen Organs vollstreckt werden, war dem Antrag eine vollstreckbare Ausfertigung beizufügen (§ 91 I ZPO). Des Weiteren sollte der Antrag Angaben über Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Schuldners sowie Vorschläge über Art und Weise der Vollstreckung enthalten. Die Vollstreckung wurde grundsätzlich ohne Rücksicht darauf durchgeführt, ob der Gläubiger, der die Vollstreckung beim Gericht beantragt hatte, ein volkseigener Betrieb, eine sozialistische Genossenschaft, eine gesellschaftliche Organisation, ein staatliches Organ, eine sonstige juristische Person oder ein Bürger war. Wurden jedoch zur gleichen Zeit mehrere Ansprüche gegen den gleichen Schuldner vollstreckt, dann wurden die Ansprüche der einzelnen Gläubiger nach einer im Gesetz bestimmten Reihenfolge erfüllt (§ 105 oder § 125 ZPO). Nach diesen Bestimmungen waren Ansprüche der Unterhaltsberechtigten, der Staatsorgane und volkseigenen Betriebe gegenüber den sonstigen Ansprüchen privilegiert. Bei hoch verschuldeten Schuldnern fielen daher Privatleute und Privatbetriebe mit ihren Forderungen in aller Regel aus. Neben der gesetzlichen Regelung der Bevorrechtigung in der ZPO für konkurrierende Vollstreckungsanträge war den Sekretären der Kreisgerichte folgende Orientierung für die Durchführung von Vollstreckungen gegeben worden:554 554 HA V Sektor Arbeit und Löhne des Ministeriums der Justiz auf eine interne Anfrage der HA III des Ministeriums der Justiz vom August 1985, BA DP 1 VA 5129.

140

Kap. 2: Historische Einführung

Vollstreckungen wegen – Unterhaltsansprüchen, – Ansprüchen, die durch Zahlung von staatlichen Vorauszahlungen von Unterhalt an Minderjährige auf die staatlichen Organe übergegangen sind, – hoher Schadensersatzforderungen

waren mit besonderer Vordringlichkeit durchzuführen. Für alle Ansprüche galt grundsätzlich: Die Vollstreckungsmaßnahmen oder – sofern die Voraussetzungen hierfür noch nicht vorlagen – die Vollstreckung vorbereitende Maßnahmen waren innerhalb von fünf Arbeitstagen nach Eingang des Vollstreckungsantrages durchzuführen bzw. einzuleiten. Zur Erfüllung von Zahlungsansprüchen waren in der Regel die Arbeitseinkünfte des Schuldners zu pfänden. War bereits bei Einleitung der Vollstreckung vorauszusehen, dass die Pfändung der Arbeitseinkünfte aussichtslos verlaufen, oder dass sie innerhalb einer Frist von 6 Monaten nicht zur Erfüllung des Zahlungsanspruchs führen würde, war grundsätzlich – ggf. neben der Pfändung der Arbeitseinkünfte – die Pfändung in andere Forderungen und Sachen sowie in Grundstücke und Gebäude durchzuführen. Bei der Pfändung von Arbeitseinkünften war durch den Sekretär insbesondere zu kontrollieren, ob der pfändbare Betrag durch den Drittschuldner richtig festgestellt wurde und ob eine richtige Ausführung der Pfändung durch den Drittschuldner gewährleistet war. Erforderlichenfalls war der Drittschuldner entsprechend anzuleiten. Der Sekretär hatte den wahrscheinlichen Zeitpunkt der Beendigung der Vollstreckung zu errechnen. Lag bei der Vollstreckung wegen sonstiger Ansprüche zwischen der Pfändung und dem errechneten Erfüllungszeitpunkt eine längere Frist als 6 Monate, so sollten grundsätzlich weitere Vollstreckungsmaßnahmen, nämlich die Pfändung anderer Forderungen, von Sachen oder von Grundstücken und Gebäuden durchgeführt werden. Die Befolgung dieser Orientierung scheiterte jedoch seit Anfang der 80er Jahre an der Überlastung der Gerichtsvollzieher. Sachpfändungen waren die Ausnahme. Pfändungen der Arbeitseinkünfte setzten entsprechende Kenntnisse der Sekretäre voraus. Die Gläubiger erbrachten diese Informationen nur teilweise. Die Sekretäre konnten den Schuldner nach § 95 I ZPO vorladen um ihn über seine wirtschaftlichen Verhältnisse zu vernehmen. Diese Vorladung konnte durch Ordnungsstrafe oder Vorführung des Schuldners durch die Volkspolizei durchgesetzt werden. Außerdem waren die anderen Staatsorgane, die Betriebe und Massenorganisationen zur Auskunftserteilung verpflichtet. Die Pfändung des Arbeitseinkommens erfolgte durch Zustellung der Pfändungsanordnung an den Drittschuldner.555 Von den monatlichen Arbeitseinkünften des 555 Zur Geschichte der Lohnpfändung in Deutschland und zu einer Reform des Lohnpfändungsrechts der Bundesrepublik: Wolfgang Brehm, Zur Geschichte der Lohnpfändung in Deutschland, in: FS Wolfram Henckel (wie Anm. 536), S. 41 – 52.

C. Außerhalb des Zivilprozesses

141

Schuldners waren Preise, Prämien, Steuern, Versicherungsbeiträge und Zulagen abzuziehen. Danach waren die Ansprüche auf regelmäßig wiederkehrende Zahlung von Unterhalt und der Mietpreis für die Wohnung in voller Höhe vom Betrieb einzubehalten und an den Gläubiger zu zahlen (§ 101 I ZPO); ebenso die gerichtlich festgelegten laufenden monatlichen Tilgungsraten zur Erfüllung vollstreckbarer Ansprüche (§ 79 I, § 94 II ZPO). Bei der Pfändung von Arbeitseinkünften wegen sonstiger Ansprüche waren vom monatlichen Nettodurchschnittsverdienst556 zunächst 200 M und für jede weitere unterhaltsempfangende Person weitere 50 M abzuziehen (§ 102 ZPO). Die Hälfte des danach verbleibenden Teiles war vom Betrieb monatlich einzubehalten und an den Gläubiger zu zahlen. Bei Unklarheiten über die Höhe des pfändbaren Betrages hatte der Sekretär diesen zu ermitteln (§ 106 ZPO).557 Dem § 97 ZPO wurde 1978 ein 3. Absatz hinzugefügt, welcher die Erstreckung der Pfändung auch auf künftige Arbeitseinkünfte, die dem Schuldner nach Wechsel seines Arbeitsplatzes auf Grund eines neuen Arbeitsverhältnisses zustanden, beinhaltete. Die Durchführung der Pfändung trotz Arbeitsplatzwechsel wurde dadurch erreicht, dass dem Schuldner bei Ausscheiden aus dem Betrieb eine Bescheinigung über das Vorliegen der Pfändung ausgehändigt wurde und dies auf der letzten Seite des Ausweises für Arbeit und Sozialversicherung vermerkt wurde. Außerdem hatte der Betrieb den Gläubiger und das Kreisgericht zu informieren. Der den Schuldner einstellende Betrieb hatte vom bisherigen Arbeitgeber die Pfändungsunterlagen einzufordern. Wurde dem Kreisgericht nicht binnen angemessener Zeit eine neue Arbeitsaufnahme bekannt, hatte der Sekretär die neue Arbeitsstelle zu ermitteln. Stellte er dabei fest, dass der Schuldner keiner Arbeit nachging, hatte er den zuständigen Stellen, der Abteilung Inneres beim Rat des Kreises und der Staatsanwaltschaft, entsprechende Hinweise zu geben. U. U. setzte sich der Schuldner dem Verdacht einer Straftat wegen asozialen Verhaltens (§ 249 StGB von 1968)558 oder der Verletzung der Unterhaltspflicht aus.559

556 Dieser bestimmte sich nach den arbeitsrechtlichen Bestimmungen, 1980 z. B. § 123 AGB, die 1. VO über die Berechnung des Durchschnittsverdienstes und über die Lohnzahlung sowie die 5. DB dazu (Reg. Nr. 1.4.). 557 Wolfgang Brehm, Zur Geschichte der Lohnpfändung in Deutschland, in: FS Wolfram Henckel (wie Anm. 536), S. 41 – 52. 558 Zur „Asozialen“-Thematik und besonders zur Entstehungsgeschichte des § 249, der 1968 in das StGB aufgenommen wurde und die „Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch asoziales Verhalten“ unter Strafe stellte, vgl. Sven Korzilius, „Asoziale“ und „Parasiten“ im Recht der SBZ / DDR. Randgruppen im Sozialismus zwischen Repression und Ausgrenzung (= Arbeiten zur Geschichte des Rechts in der DDR, Band 4), Köln u. a. 2005, S. 359 ff. Zur Anwendung des Paragrafen im Rechtsalltag, insbesondere auch zur Zahl der Verurteilungen in verschiedenen Zeitabschnitten Joachim Windmüller, Ohne Zwang kann der Humanismus nicht existieren . . . – „Asoziale“ in der DDR, (= Rechtshistorische Reihe Bd. 335), Frankfurt a.M. 2006, S. 191 ff., 273, 348. 559 Vgl. Thomas Thaetner, Bis zum Bitteren Ende – Vollstreckungspraxis in der DDR, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. II (wie Anm. 16), S. 164.

Kapitel 3

Quellen und Methode der Untersuchung A. Einleitung Es gibt bis heute keine umfassende Untersuchung über den Zivilprozess der DDR, die sich auf empirische Daten stützt. Die einzigen Zahlen, die der interessierte Rechtshistoriker findet, sind einige dürftige Tabellen in den Statistischen Jahrbüchern zum Arbeitsanfall in den Gerichten sowie – nach einiger Archivrecherche – die Auswertungen von Gerichtsstatistiken des Ministeriums der Justiz, die im Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde aufbewahrt werden. Das Ministerium der Justiz führte ab 1973 Totalerhebungen aller Zivilgerichtsprozesse in der DDR durch, für die Zeit davor fehlt es allerdings fast vollständig an offiziellen Angaben, die mit konkreten Daten versehen und miteinander vergleichbar wären.1 Wie alle Angaben, die aus Behörden der DDR selbst stammen, ist die Verlässlichkeit dieser offiziellen Zahlen prinzipiell unklar.2 Sie waren „vertraulich“ und „nur für den Dienstgebrauch“ vorgesehen. Daher war eine Beschönigung für die Öffentlichkeit – im Gegensatz zu den Statistiken der Staatlichen Zentralverwaltung – nicht notwendig. Sicher gab es trotzdem ein gewisses Interesse, jeweils Vorgesetzten Erfolgsmeldungen präsentieren zu können. Wenn schon für die Angaben der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik umfangreiche Fälschungen nachgewiesen wurden, ist nicht davon auszugehen, dass das fachspezifische Berichtswesen der Ministerien von diesem Vorwurf freigesprochen werden kann. Zudem müssen bezüglich der Qualität dieser Darstellungen Abstriche gemacht werden, da von den Richtern wohl häufig aus Bequemlichkeit ungenaue Angaben gemacht wurden.3 1 Einzelne Statistiken befassten sich meist mit der Arbeitsauslastung der Richter, um die Rechtspflege zu effektivieren. 2 Peter von der Lippe weist für die Wirtschaftsstatistiken der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik umfangreich nach, dass diese auf vielfältige Weise geschönt, verzerrt und gefälscht wurden, was die Staatsführung der DDR nicht daran hinderte, mit eben diesen Angaben zu arbeiten; Peter von der Lippe, Die gesamtwirtschaftlichen Leistungen der DDRWirtschaft in den offiziellen Darstellungen. Die amtliche Statistik der DDR als Instrument der Agitation und Propaganda der SED, in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), Bd. II / 3: Machtstrukturen und Entscheidungsmechanismen im SED-Staat und die Frage der Verantwortung, Baden-Baden 1995, S. 1973 – 2193. 3 Thomas Kilian, Einführung in eine „Geheimwissenschaft“ – Ein Blick hinter die Kulissen der empirischen Sozialforschung im Projekt „Zivilrechtskultur der DDR“, in: Rainer

B. Methode

143

Vergleiche, die mit den Daten des Projektes angestellt werden, müssen daher stets die Verlässlichkeit beider Datenquellen in Frage stellen. Überdies verfolgte die Erhebung des Ministeriums der Justiz andere Fragestellungen, als sie Rechtshistoriker heute an den Zivilprozess der DDR haben. So war auch der Untersuchungsgegenstand, also die Variablen, nach denen die Prozesse untersucht wurden, ein anderer. Mit den nur in Papierform erhaltenen Statistiken des Ministeriums der Justiz konnten außerdem lediglich die Zusammenhänge zwischen explizit zusammen erhobenen Variablen geprüft und getestet werden. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Es stellte sich bei der Auswertung unserer Daten bald heraus, dass es für den Zivilprozess von entscheidender Bedeutung war, wer gegen wen klagte: etwa ein Bürger gegen einen Privatbetrieb oder ein staatlicher Betrieb gegen einen Bürger. Die Statistiken des Ministeriums der Justiz enthielten aber nur Angaben darüber, wer die Kläger waren, nicht aber gegen wen diese prozessierten, bzw. wer verklagt wurde, aber nicht von wem. Die im Projekt „Zivilrechtskultur“ erhobenen Daten versprachen daher von vornherein, neben einer überprüfbaren Verlässlichkeit, viele neue und aufschlussreiche Erkenntnisse – und enttäuschten die forschenden Rechtshistoriker und Soziologen damit nicht.

B. Methode Da sich dieser Forschungsbericht an größtenteils soziologisch und statistisch nicht vorgebildete Leser richtet, die in der Sozialforschung üblichen Fachbegriffe aber auch nicht auf Kosten der Genauigkeit vereinfacht werden sollen, werden im Folgenden einige der verwendeten Begriffe und Methoden kurz vorgestellt. Wer durch diese Untersuchung angeregt wird, sich näher mit empirischer Sozialforschung und Statistik zu befassen, der sei auf die einschlägige Fachliteratur verwiesen.4

Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. II (= Zeitgeschichtliche Forschungen, Bd. 2 / 2), Berlin 2000, S. 217; ähnliches berichtete Wolfgang Bernet bezüglich der Eingabenstatistik, bei der „jede Nachfrage in einer Wohnungsangelegenheit, jeder belangarme Anruf in einer Wohnungssache als Eingabe registriert [worden sei].“, Wolfgang Bernet, Eingaben als Ersatz für Rechte gegen die Verwaltung in der DDR, in: Uwe Jens Heuer (Hrsg.), Die Rechtsordnung der DDR, Anspruch und Wirklichkeit, Baden-Baden 1995, S. 415 – 426, S. 422. 4 Als Einführung sei Andreas Diekmann, Empirische Sozialforschung, Reinbek 1995, empfohlen. Als amüsanter und aufschlussreicher könnten sich Walter Krämer, So lügt man mit Statistik, Frankfurt a.M. 2000 und Hans-Peter Beck-Bornholdt / Hans-Hermann Dubben, Der Hund, der Eier legt. Erkennen von Fehlinformation durch Querdenken, 6. Auflage, Reinbek 2001, herausstellen.

144

Kap. 3: Quellen und Methode der Untersuchung

I. Einige Grundbegriffe der empirischen Sozialforschung Für das Beschreiben und Untersuchen bestimmter (quantitativer) Sachverhalte ist das Auffinden geeigneter Daten die unverzichtbare Basis. Dafür bieten sich zwei Wege an: entweder man führt eine Totalerhebung durch und betrachtet somit alle in Frage kommenden Fälle, die interessieren: die Grundgesamtheit. Diesen Weg hatte das Ministerium der Justiz der DDR eingeschlagen. Es sammelte detaillierte Formblätter, die jeder Richter in der DDR über jeden von ihm geführten Zivilprozess ausfüllen musste und wertete diese statistisch aus. Es ist einleuchtend, dass dieses Vorgehen mit größer werdender Grundgesamtheit zunehmend aufwändiger und teurer wurde,5 weswegen die allermeisten statistischen Erhebungen sich auf einen Ausschnitt aus der Grundgesamtheit beschränken (müssen), der im Allgemeinen als Stichprobe oder Sample bezeichnet wird. Diese Stichprobe umfasst eine bestimmte Zahl von Merkmalsträgern bzw. Objekten, die nach verschiedenen Auswahlverfahren aus der Grundgesamtheit entnommen wurden (z. B. wie im vorliegenden Fall durch eine Zufallsauswahl6). Ziel ist der Rückschluss auf Eigenschaften der Grundgesamtheit aus Eigenschaften der Stichprobe (z. B. der „typische“ DDR-Zivilprozess) oder die Überprüfung von Hypothesen (Wurden staatsnahe Beteiligte im Zivilprozess systematisch bevorzugt?). Als Merkmalsträger fungieren in empirischen Untersuchungen in der Regel befragte Personen, im Projekt Zivilrechtskultur waren es Ost-Berliner Zivilprozesse bzw. deren Fixierung in Aktenform. In den folgenden Kapiteln werden diese Akten oft auch in Anlehnung an die Wortwahl des Statistikprogramms SPSS als Fälle bezeichnet. Von den Merkmalsträgern bzw. Fällen zu unterscheiden sind die Variablen. Eine Variable bezeichnet ein Merkmal oder eine Eigenschaft eines Merkmalsträgers bzw. Falles. Im Projekt wurden z. B. die Eigenschaften „Status des Klägers“ oder „Erledigungsart“ als Variablen der jeweiligen Zivilprozesse erhoben. Jede Variable hat mehrere (mindestens zwei) Ausprägungen bzw. Kategorien.7 Die Variable „Status des Klägers“ hat z. B. die Kategorien „Bürger“, „Privatbetrieb“ und „sozialistische Institution“. Neben diesen Variablen mit mehreren Ausprägungen existieren andere, die nur zwei Kategorien haben, z. B. „Rechtsanwaltsvertretung ja / nein“.8 5 Die Volkszählung von 1987 kostete den bundesdeutschen Staat über eine Milliarde DM, Andreas Diekmann, Empirische Sozialforschung (wie Anm. 4 ), S. 327. 6 Eine ausführliche Diskussion zu Vor- und Nachteilen von Zufallsstichproben bietet z. B. Andreas Diekmann, Empirische Sozialforschung (wie Anm. 4), ab S. 355. 7 Dabei ist zu beachten, dass Variablen und Kategorien willkürlich festgelegt werden und keine natürlichen Erscheinungen sind. Der Status „Bürger“ kann wiederum eine Variable mit den Kategorien „Bürger“ und „Nicht-Bürger“ sein. Die Untergliederung der Daten in Variablen ist häufig auf mehrere Arten sinnvoll und möglich. 8 Variablen mit nur zwei Kategorien werden als dichotom (z. B. „Bürger„ / „Nicht-Bürger“ bzw. Bürger: Ja / Nein), Variablen mit mehr Ausprägungen als polytom bezeichnet. Nicht als

B. Methode

145

Der Begriff des Mittelwertes wird bekannt sein,9 wogegen der des Medians an einem Beispiel erklärt werden soll:10 Haben von 100 Personen 99 ein Einkommen von 100 A und einer eines von 100.000 A, so haben sie ein Durchschnittseinkommen von 1.099 A. Der Median, der alle Fälle (in diesem Fall Personen) in zwei gleich große Gruppen teilt, ergibt dagegen 100 A. Durch beide Werte kann festgestellt werden: Die allermeisten Personen verdienen etwa 100 A und es gibt große Ausreißer nach oben.

II. Quellenlage und -zugang „ ,Das Chaos‘ entdeckte Eberhard Ilgut, 52, Geschäftsleiter des Amtsgerichts Wedding, als er in dem Ost-Berliner Justizpalast in der Littenstraße zum Aufräumen kam.“11 Was „Der Spiegel“ 1990 so beschrieb, war der Aktenbestand, der die Möglichkeit zu unserer Untersuchung gab. Seit 1948 hatte man anscheinend am Amtsgericht Mitte die geschlossenen Prozessakten abgelegt und nicht weiter beachtet.12 Zudem hatte man noch Akten aus anderen Bezirken auf dem geräumigen Dachboden gelagert. „Das Chaos“ war der Alptraum für die Registerbeamten, aber ein Eldorado für den Historiker. Zum größten Teil lagerten die Akten gebündelt in nur grob geordneten Umzugkartons auf dem baufälligen Dachboden des Amtsgerichts Berlin-Mitte.13 „Der Spiegel“ berichtete mit Fotos von dem Aktenbestand: Wenn auch das Chaos ein wenig gelichtet wurde14 – der Zugang blieb schwierig.15 polytom, sondern als stetige Variable wird z. B. der Streitwert bezeichnet, der keine vorher festgelegten Kategorien mehr, sondern viele verschiedene Messwerte (wie „0 M“, „0,30 M“, 0,50 M“, „0,70 M“, „1 M“ usw.) enthält. Für die statistische Arbeit mit Variablen ist es oft angebracht, den einzelnen Kategorien Zahlen zuzuweisen (bei stetigen Variablen ist das natürlich nicht nötig). Derart kodierte Kategorien nennt man dann Werte. Die Variable „Status des Klägers“ kann die Werte 0 (für Bürger), 1 (für Privatbetrieb) oder 2 (für Institution) aufweisen. 9 Arithmetischer Mittelwert, der alle gültigen Werte addiert und die Summe durch die Gesamtzahl der Fälle dividiert. 10 Der Median teilt die nach der Größe geordneten Werte der einzelnen Prozesse in zwei gleich große Gruppen. 11 „Ein Ost, zwei West“. Wie westdeutsche Juristen aus den Überresten der DDR-Justiz den Rechtsstaat aufbauen wollen, in: Der Spiegel 43 / 1990, S. 77 – 92, bes. S. 78, ein Foto des Dachbodens des AG Mitte in der Littenstraße befindet sich auf S. 83; auch im Zusammenhang mit der Rehabilitierung von ausreisewilligen Bürgern wurde der Aktenzustand beklagt: „Erschwert wird eine zügige Rehabilitierung durch den beklagenswerten Zustand der Gerichtsakten.“, vgl. „Ein zweites Mal betrogen“, in: Der Spiegel, 23 / 1991, S. 47 – 56, bes. S. 50, ein Foto des Dachbodens des AG Mitte in der Littenstraße befindet sich auf S. 56. 12 Andere Akten aus früheren Jahrgängen bei Maria Mammeri-Latzel, Justizpraxis in Ehesachen im Dritten Reich. Eine Untersuchung von Prozessakten des Landgerichts Berlin unter besonderer Berücksichtigung der Ideologie des Nationalsozialismus, Berlin 2002. 13 Eine anschauliche Beschreibung des Aktenspeichers findet sich auch bei Inga Markovits, Die Abwicklung. Ein Tagebuch zum Ende der DDR-Justiz, München 1993, S. 210 – 214. 14 Vgl. Inga Markovits, ebenda, S. 212 f.; Maria Mammeri-Latzel, Justizpraxis in Ehesachen im Dritten Reich (wie Anm. 12), S. 5 f., die – mit der Unterstützung anderer – für ein

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Kap. 3: Quellen und Methode der Untersuchung

Der Überlieferungszustand der einzelnen Akten hing stark von ihrer Entstehungszeit ab. Während der ganzen untersuchten Periode ist (im Vergleich zur heutigen Praxis) sparsam mit Papier umgegangen worden, indem Blätter eng und doppelseitig beschrieben wurden und vielfach das DIN A5-Format genutzt wurde. Besonders deutlich ist der Mangel an Material aber in den Anfangsjahren der SBZ / DDR, in denen beispielsweise keine kartonierten Aktendeckel genutzt wurden, sondern ein Doppelbogen einfachen Papiers gefaltet wurde oder man die Seiten ohne Deckblatt zusammenheftete. 16 Es wurden vier Quellenbestände für die Auswertung von Gerichtsurteilen aus dem Zivilprozess in Ost-Berlin herangezogen. Die Akten lagerten in den Amtsgerichten Mitte,17 Lichtenberg18 und Köpenick,19 sowie im Landesarchiv.20 Der größte Teil der insgesamt erhobenen Akten stammt damit aus den Stadtbezirksgerichten (Ost-)Berlin-Mitte, Friedrichshain und Prenzlauer Berg – in der Summe 4.129 Akten (das entspricht 83,8% aller Akten). Sie werden im Folgenden unter der Bezeichnung „Berlin-Zentrum“ zusammengefasst. Für die zweite Hälfte des anderes Thema Akten aus dem selben Bestand erschloss, beschreibt, wie 1990 begonnen wurde, u. a. auch die Akten für die vorliegende Arbeit zu erschließen und gibt einen Überblick über die Größenordnung des Bestandes (S. 15 f.). 15 Dietmar Kurze, Sozialistische Betriebe und Institutionen als Verklagte im DDR-Zivilprozess (= Berliner Juristische Universitätsschriften, Grundlagen des Rechts, Bd. 37), Berlin 2005, S. 41 – 45. 16 So auch Fred Bär, Die Berliner Justiz in der Besatzungszeit am Beispiel der Ziviljustiz am Amtsgericht Berlin-Mitte im Jahre 1948, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (= Zeitgeschichtliche Forschungen, Bd. 2 / 1), Berlin 1999, S. 68. 17 Das Amtsgericht Mitte bewahrt die Akten des ehemaligen Amtsgerichts Mitte und der späteren Stadtbezirksgerichte Mitte, Friedrichshain und Prenzlauer Berg seit dem Kriegsende auf, abgesehen von den beiden erwähnten Jahrgängen, die ganz oder teilweise an das Landesarchiv gegangen sind. Diese Akten waren zu Beginn der Sichtung in einem schlechten Zustand und zum größten Teil in Kartons auf dem Dachboden des Gebäudes gelagert. Dies hatte zur Folge, dass sie zwar durch Schäden am Dach, Rohrbrüche und achtlose Bauarbeiter nicht gerade an Qualität gewonnen hatten, jedoch – weil in Vergessenheit geraten – auch nicht vernichtet worden waren, was nach den Aufbewahrungsbestimmungen ansonsten schon geschehen wäre. In der Zwischenzeit hat trotz Einwänden der Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter aus Platzgründen die Vernichtung begonnen und wird weiter fortgeführt, so dass diese Quelle für rechtstatsächliche Forschung über den Zivilprozess der DDR wohl bald versiegen wird. 18 Weitere Akten fanden sich im Amtsgericht Lichtenberg, das zeitweilig auch Stadtbezirksgericht Lichtenberg hieß. Diese Akten waren übersichtlich geordnet, ja sogar einigermaßen sauber, aber erst ab Anfang der 1970er Jahre vorhanden (erhoben wurden fünf Jahrgänge ab 1972). 19 Schließlich wurden im Amtsgericht Köpenick, das zeitweise in das Stadtbezirksgericht Treptow und das Stadtbezirksgericht Köpenick zerfiel, Akten erhoben, die aber ebenfalls erst ab Mitte der 1970er Jahre vollständig vorhanden waren, so dass Daten für den Bezirk Köpenick aus den ersten beiden Jahrgängen sowie aus den Jahren 1960 und 1966 fehlen. 20 Im Landesarchiv fanden sich Akten des Amtsgerichts Mitte aus dem Jahr 1948 und der Stadtbezirksgerichte Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain aus dem Jahr 1960. Hier waren allerdings keine vollständigen Aktenreihen vorhanden.

B. Methode

147

Untersuchungszeitraums wurde der Aktenbestand für diese Stadtteile merklich geringer. Deshalb wurden zusätzlich Gerichtsakten aus den Stadtbezirksgerichten Lichtenberg und Köpenick erhoben, um den Datenbestand zu vergrößern. Die beiden Stadtteile gingen mit 5,7% (282 Akten) bzw. 10,5% (518 Akten) Anteil in die Stichprobe ein. 800 700 600 500 400

Absolute Werte

300 200

Köpenick

100

Lichtenberg Zentrum

0 48

54 51

60 57

66 63

72 69

80 76

88 84

Jahrgang

Grafik 3.1: Anzahl der erhobenen Akten nach Stadtbezirken

Verkompliziert wird die Datenlage dadurch, dass trotz intensiven Suchens für den Jahrgang 1969 keine Gerichtsakten aus dem Stadtbezirksgericht Prenzlauer Berg sowie für 1976 keine aus Friedrichshain gefunden werden konnten. Grafik 3.1 verdeutlicht, dass besonders für 1969 wenig kompensierende Akten aus anderen Gerichten zur Verfügung standen. Wenn in den Auswertungen der folgenden Kapitel absolute Werte dargestellt sind, werden daher nur die Daten aus Berlin-Zentrum verwendet, weil Daten aus den anderen Stadtteilen nicht für alle Jahrgänge vorliegen. Ansonsten würde ein falscher Eindruck über die zeitliche Gesamtentwicklung entstehen (vgl. Grafik 3.1). Zusätzlich wurden in diesen Darstellungen die in ihrer Aktenzahl sehr kleinen Jahrgänge 1969 und 1976 gewichtet, um die für diese Jahrgänge fehlenden Daten der Stadtbezirke Prenzlauer Berg bzw. Friedrichshain zu berücksichtigen.21 Die Gewichtung wird durch eine kleine Notiz unterhalb der Grafik angezeigt. 21 Das bedeutet, dass die Akten aus den beiden Jahrgängen mit Gewichtungsfaktoren (für 1969: 1,63; für 1976: 1,42) versehen wurden, die ihnen bei den nachfolgenden statistischen Darstellungen ein größeres Gewicht zuwiesen. Jeder einzelne Fall dieser Jahrgänge wurde also so behandelt, als wäre er 1,63-mal bzw. 1,42-mal mit identischen Werten in der Stichprobe enthalten. Aus nur 89 Fällen, die für den Jahrgang 1969 aus Berlin-Zentrum vorlagen, wurden so – für die Berechnungen – 145 Akten, und die 106 Akten aus dem Jahrgang 1976 wurden zu 151 Akten. Es wurde also (statistisch zulässig) „geschummelt“, um die Verteilung der Stichprobe der „echten“ Verteilung, also der Grundgesamtheit aller vorhandenen Akten aus den Zivilprozessen der entsprechenden Stadtteile, anzunähern.

148

Kap. 3: Quellen und Methode der Untersuchung

III. Erhebungsablauf 1. Erhebungsmethode Die Form der Aktenanalyse als Spezialfall der (quantitativen) Inhaltsanalyse hat gegenüber anderen vorstellbaren Erhebungsmethoden wie einer Befragung von Justizpersonal oder ehemaligen Prozessbeteiligten22 handfeste Vorteile: die Gerichtsakte stellt ein „standardisiertes Protokoll des Prozessverlaufs“23 dar und enthält die wesentlichsten quantifizierbaren Daten über Konfliktsetting, -beteiligte und -lösung vor Gericht. Daneben unterliegt sie, egal wie alt sie ist, keinen Erinnerungsschwächen und enthält auch keine beschönigenden Darstellungen vergangener Sachverhalte. Probleme der Durchführungsobjektivität durch unkalkulierbare antwortverzerrende Wirkung der (westdeutschen) Interviewer auf die (ostdeutschen) Befragten fallen ebenfalls weg.24 Durch die Unterstützung des Computers und spezieller Statistikprogramme ist die relativ schnelle Erhebung und einfache Auswertung einer relativ großen Objektmenge möglich. Andererseits kann eingewendet werden, dass Gerichtsakten prozessproduzierte Daten25 enthalten, die zu anderen als zu Forschungszwecken erstellt wurden und daher erst für jene aufbereitet werden müssen bzw. sich eventuell als ungeeignet erweisen können. Obwohl wir uns weitgehend auf die Erhebung manifester Inhalte beschränkten,26 erwies sich für die studentischen Kodierer z. B. die genaue Ermittlung des Status der Parteien immer wieder als Problem, da die Angabe eines einzelnen Namens bei der klagenden Partei sowohl bedeuten kann, dass hier ein einzelner Bürger klagte, oder aber auch ein privater Vermieter oder selbständig tätiger Handwerker oder gar, dass die Person einen für eine staatliche Institution erschienenen Repräsentanten darstellen konnte. Auch diese wurden im Rahmen des Projekts befragt (Projekt-Interviews). Elmar Steinbach / Rolf Kniffka, Strukturen des amtsgerichtlichen Zivilprozesses. Ergebnisse einer rechtstatsächlichen Aktenuntersuchung, München 1982, S. 7. 24 Solche Probleme treten durchaus auf, wie z. B. Bettina Theben, Eingabenarbeit. Zur Rolle der volkseigenen Betriebe bei der Schlichtung zivilrechtlicher Streitigkeiten mit Bürgern, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. II (wie Anm. 3), S. 108, berichtet. 25 Vgl. Volkmar Gessner / Barbara Rhode / Gerhard Strate / Klaus Ziegert, Prozessproduzierte Daten in der Rechtssoziologie, in: Paul Müller (Hrsg.), Die Analyse prozessproduzierter Daten, Stuttgart 1977, S. 179 – 197. 26 Gemeint sind Fakten, die in den Gerichtsakten als solche aufgeführt und vom Kodierer erkannt werden. Im Gegensatz dazu sind latente Inhalte nicht direkt in der Akte aufgeführt; z. B. Schicht und Klasse der Parteien (die auch erhoben wurden und eben wegen ihrer Mehrdeutigkeit trotz mehrerer Pretests mannigfaltige Probleme verursachten), Stil des Urteils, Aktivität der Parteien etc. Bei einer Erhebung durch (DDR)-prozesserfahrene Kodierer hätte die Erhebung latenter Inhalte weniger Schwierigkeiten bereitet, wäre aber immer noch methodischen Einwänden begegnet, da latente Inhalte eventuell von verschiedenen Kodierern unterschiedlich gewertet worden wären; „Interkoder-Reliabilität“, vgl. Andreas Diekmann, Empirische Sozialforschung [wie Anm. 4 ], S. 492. 22 23

B. Methode

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2. Stichprobenziehung Bezüglich einer Auswahlmethode für unsere Stichprobe waren keine besonderen Vorkehrungen notwendig: als in Frage kommende Grundgesamtheit wurden zunächst alle Aktenbestände betrachtet, die an den Zivilgerichten überhaupt noch existierten. Die Beschränkung auf Ost-Berlin resultierte leider (wie in so vielen Beispielen aus der Praxis) hauptsächlich aus der finanziellen Situation, die Exkursionen in die Gerichte anderer ost-deutscher Städte nicht zuließ. Von einer für die DDR oder Ost-Berlin repräsentativen Zufallsauswahl konnte daher von Anfang an keine Rede sein, eine solche wurde auch nicht angestrebt. Repräsentativität kann nur für die Zivilprozesse der Gerichte beansprucht werden, aus deren Aktenbeständen wir eine Zufallsauswahl getroffen haben. Aufgrund der unvorhersehbar großen Menge an erhaltenen Zivilrechtsakten besonders aus den frühen Jahrgängen der DDR wurde nicht, wie ursprünglich geplant, jeder Jahrgang in die Erhebung aufgenommen. Für die Zeit vor der Einführung des ZGB, in der das BGB noch in Kraft war, wurde jeder dritte Jahrgang ausgewählt, nach der Einführung des ZGB jeder vierte Jahrgang.27 Die unterschiedlich großen Intervalle reflektieren, dass ursprünglich geplant war, der Analyse von Auswirkungen der Anwendung des BGB im sozialistischen Zivilprozess das Hauptgewicht beizumessen.28 Aus jedem dieser Jahrgänge – es dürfte sich allein bei den ausgewählten Akten insgesamt um über 50.000 Akten handeln, während die Grundgesamtheit knapp 250.000 Akten umfasste – wurde jede 15. Akte gezogen und in einem elektronischen Erhebungsbogen erfasst.29 Nach anderthalb Jahren der Datensammlung konnte die Erhebungsphase mit 4.929 elektronisch erfassten Akten abgeschlossen werden.30 27 Am 1. Januar 1976 trat das Zivilgesetzbuch der DDR (ZGB) in Kraft. Das besondere Augenmerk auf die Zivilrechtsgeschichte während der Geltungszeit des BGB war angekündigt, vgl. Rainer Schröder, Zivilrechtsprechung in der DDR während der Geltung des BGB. Vorüberlegungen zu einem Forschungsprojekt mit vergleichender Betrachtung des Zivilrechts im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, in: Heinz Mohnhaupt / Dieter Simon (Hrsg.), Vorträge zur Justizforschung. Geschichte und Theorie, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1993, S. 527 – 580. 28 Dies kann aber auch als weitere Abweichung von einer strengen Zufallsauswahl gewertet werden, da die untersuchten Jahrgänge und Intervalle willkürlich festgelegt wurden. 29 Der Erhebungsbogen ist in Anhang 3, S. 371, abgedruckt. 30 Für die Größe der Stichprobe sprechen verschiedene Argumente. Zunächst ist eine Mindestmenge an Daten erforderlich, um überhaupt statistische Betrachtungen anstellen zu können. Da der Zivilprozess über einen Zeitraum von fast 50 Jahren hinweg betrachtet werden sollte, mussten auch die einzelnen Jahrgänge genügend Fälle enthalten. Die Grafik zeigt, dass diese Anforderung an die Stichprobengröße nicht für jeden Jahrgang eingehalten werden konnte, weswegen in den folgenden Kapiteln des öfteren mehrere Jahrgänge zusammengefasst (aggregiert) werden mussten. Weiterhin ist es erst ab einer Zahl von rund 5.000 Objekten sinnvoll möglich, bestimmte multivariate Berechnungen wie Clusteranalysen durchzuführen. Zudem bestehen in der Praxis empirischer Arbeit immer zeitliche und finanzielle Be-

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Kap. 3: Quellen und Methode der Untersuchung

Die jeweils 15. Akte eines Jahrgangs haben die studentischen Mitarbeiter, soweit es möglich war, nach den Aktenzeichen ausgewählt. Bei einigen ungeordneten Kartons aus dem ersten Jahr des Untersuchungszeitraums (1948) wurde einfach abgezählt. Da bei Gerichtsakten bisher keine Periodizität festgestellt wurde und auch nicht zu erwarten ist31 (d. h. es ist nicht zu erwarten, dass bestimmte Aktennummern mit bestimmten Fällen zusammenhängen), entspricht dieses Vorgehen einer Zufallsauswahl, wie sie für repräsentative Studien gefordert wird.32 Die Beschränkung auf Prozesse an Amts- bzw. Kreisgerichten der DDR ist zu rechtfertigen, da diese seit 1952 eine umfassende erstinstanzliche Zuständigkeit hatten.33

3. Auswertung Der DDR-Zivilprozess stellte zu Beginn unserer Forschungsarbeit noch weitgehend eine „terra incognita“ für den Rechtswissenschaftler dar. Im ersten zur Arbeit des Projekts herausgegebenen Band wurden daher zunächst einige grob umrissene Thesen aufgestellt,34 von denen erwartet wurde, dass sie durch eine empirische Untersuchung des Zivilprozesses der DDR belegt oder widerlegt werden könnten. In der Realität zeigte sich dann allerdings rasch, dass zum Einen aufgrund bewusster Aktenvernichtungen in der Wendezeit oder schlicht nicht mehr auffindbaren Materials die angedachte Untersuchungsbasis kleiner als gedacht war, zum Anderen durch eine rein quantitative Aktenanalyse eben auch nur bestimmte Fragestellungen beantwortet werden konnten. Es wurde bei einer ersten Sichtung der erhobenen Daten außerdem schnell klar, dass zwar einige Fragen unbeantwortet bleiben mussten, andere Fragen aber erst auftauchten, an die vor der Erhebung noch gar nicht gedacht worden war. So stellte sich beispielsweise heraus, dass bestimmte Merkmale den DDR-Zivilprozess zwar in der rechtswissenschaftlichen Literatur, aber nicht in der Praxis den Gerichtsalltag schmückten.35 Viele Variablen schränkungen, die somit auch eine Maximalgröße vorgaben – mit einem betagten Notebook und fünf studentischen Kodierern waren dem Projekt von vornherein Grenzen gesetzt. 31 Rolf Bender / Rolf Schumacher, Erfolgsbarrieren vor Gericht. Eine empirische Untersuchung zur Chancengleichheit im Zivilprozeß des Instituts für Rechtstatsachenforschung Stuttgart e.V., Tübingen 1980, S. 14, und Elmar Steinbach / Rolf Kniffka, Strukturen des amtsgerichtlichen Zivilprozesses (wie Anm. 23), S. 8 ff., verfuhren beispielsweise genauso. 32 Günter Clauß / Heinz Ebner, Statistik für Soziologen, Pädagogen, Psychologen und Mediziner, Bd. 1: Grundlagen, 7. Aufl., Thun, Frankfurt a.M. 1992, S. 180 f. 33 Vgl. Dietmar Kurze, Sozialistische Betriebe und Institutionen als Verklagte im DDRZivilprozess (wie Anm. 15 ), S. 103 ff. 34 Vgl. Rainer Schröder, Zivilprozess in der DDR: Vorurteil und Realität, in: ders. (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR (wie Anm. 16), S. 89 – 142. 35 Diese „Ausnahme-Variablen“ sind in Kapitel 5 – Ergebnisse der Untersuchung, s. u. S. 195 ff., jeweils unter dem Gliederungspunkt „Besonderheiten“ zusammengefasst worden, einige (wie das Vorliegen eines Gebraucht-Kfz-Handels oder der Name des Richters) wurden gar nicht ausgewertet.

B. Methode

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hätten mit genaueren Kategorien erfasst werden können,36 andere wurden in den nachfolgenden Auswertungen fast immer aggregiert betrachtet, weil die erhobenen Kategorien zu detailliert waren.37 Dieses Problem ist allerdings typisch für explorative Untersuchungen in unbekannten Populationen. Aufgrund der beschränkten Projektlaufzeit war es leider nicht möglich, einen Pretest durchzuführen, der eine nachträgliche Umarbeitung des Fragebogendesigns erlaubt hätte. Wir entschieden daher, die gesammelten Daten zunächst beschreibend darzustellen, um eine Basis für spätere detailliertere Forschungen bereitstellen zu können. Aus der deskriptiven Darstellung entwickelten sich schließlich doch noch einige konkretere Hypothesen, die in den folgenden Kapiteln überprüft werden konnten. Es soll aber kein Zweifel daran gelassen werden, dass auf dem Gebiet des DDR-Zivilrechts noch viel Forschungsbedarf besteht und wir bestenfalls ein erstes Licht darauf geworfen haben.

Exkurs: Sonderstellung Ost-Berlins Unser Untersuchungsgebiet Ost-Berlin hatte als Großstadt und einzige Millionenstadt der DDR sowie als (völkerrechtlich umstrittene) „Hauptstadt“ und in diesem Zusammenhang als „Frontstadt“ gegenüber dem Westen natürlich in mehrfacher Hinsicht eine Sonderrolle inne, die es von anderen Städten in der DDR unterschied. Es ist zu erwarten, dass sich diese Unterschiede in den Charakteristika des Zivilprozesses niederschlagen. In Ost-Berlin lebten 1949 ca. 1,19 Mio. Menschen. Diese Zahl blieb bis zum Jahr 1989 (1,28 Mio. Einwohner38) relativ konstant, wobei natürlich der recht erhebliche Einbruch der Bevölkerungszahl bis zum Bau der Mauer durch Abwanderungen bzw. Flucht nicht vergessen werden darf. Im Gegensatz zu allen anderen Bezirken der DDR, in denen die überwiegende Mehrzahl der Berufstätigen im industriellen Bereich beschäftigt war, war der größte Teil der arbeitenden Bevölkerung (31,5%) in Ost-Berlin im nichtproduzierenden Bereich tätig39. Die Hauptstadt der DDR umfasste nach dem Zweiten Weltkrieg knapp 46% der Fläche und 37% der Bevölkerung Gesamtberlins und bestand aus zunächst acht Bezirken (Mitte, Prenzlauer Berg, Friedrichshain, Treptow, Köpenick, Lichtenberg, 36 Z. B. der Prozessgegenstand Schadenersatz, dessen acht Kategorien im Nachhinein zu drei Kategorien zusammengefasst wurden, die inhaltlich sinnvoller waren als die Vorgaben der EDV-Statistiken des Ministeriums der Justiz. 37 Hier sind insbesondere die Variablen zur sozialen Stellung der Parteien (soziale Klasse und Schicht) zu nennen, deren Kategorien schon wegen der wenigen Fälle, die diesbezüglich zugeordnet werden konnten, stark zusammengefasst werden mussten. 38 Günter Peters, Gesamtberliner Stadtentwicklung von 1949 – 1990. Daten und Grafiken (Beiheft zur Geschichte des Berliner Mietshauses der Hochschule der Künste), Berlin 1992, S. 48. 39 Statistisches Amt der DDR (Hrsg.), Statistisches Jahrbuch der DDR 1989, S. 120.

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Kap. 3: Quellen und Methode der Untersuchung

Weißensee und Pankow; später kamen noch Marzahn, Hohenschönhausen und Hellersdorf dazu). Durch den auch nach der Gründung der DDR für Ost-Berlin bestehenden Sonderstatus (Viermächte-Status) blieben einige Besonderheiten noch bis in die 1970er Jahre bestehen.40 In Ost-Berlin hatten fast alle Ministerien41 und zentralen Staatsorgane ihren Sitz, außerdem die Gremien der Massenorganisationen (Freier Deutscher Gewerkschaftsbund, FDGB) und Verbände, die Staatsbank, die größten Verlage und der Rundfunk. Auch Wissenschaft und Kultur waren in Ost-Berlin konzentriert. Als „Schaufenster“ für den Westen sollte besonders in Ost-Berlin gezeigt werden, wie erfolgreich der Sozialismus war, weshalb die Bürger der Hauptstadt in vielerlei Hinsicht besser, schneller und mehr mit Konsumgütern und Luxusartikeln versorgt wurden. In der „Versorgungshierarchie“ stand Ost-Berlin immer an erster Stelle. Dies verstärkte sich noch zu besonderen Ereignissen, die eine große Zahl an Beobachtern oder Staatsbesuche mit sich zogen (z. B. die Weltjugendspiele 1951 und 1973 oder die 750-Jahr-Feier von 1987). Auch der Bau von Wohnungen wurde im Rahmen der „Berlininitiative“ in den 1980er Jahren stark vorangetrieben. Aufgrund des bis 1961 noch einfachen Weges in den nahegelegenen Westen unterlagen die Bürger Ost-Berlins aber auch ständig der besonderen Aufmerksamkeit des Ministeriums für Staatssicherheit. So wurde jeder, der nach Ost-Berlin umziehen wollte, vor Erteilung einer Zuzugsgenehmigung vom Ministerium für Staatssicherheit auf politische Zuverlässigkeit überprüft. Fiel die Prüfung negativ aus, konnte ein „Berlin-Verbot“ ausgesprochen werden und dem Betreffenden wurde der Personalausweis entzogen. Auch politisches Fehlverhalten konnte mit dieser Maßnahme bestraft werden.42 Über die Stadt verteilt waren im Jahr 1990 11 Kreisgerichte mit insgesamt 153 Richtern.43 An den Kreis- und Bezirksgerichten der Stadt gingen 1971 insgesamt 40 So mussten z. B. bis 1976 alle in der DDR erlassenen Gesetze durch Beschluss des Magistrats für Ost-Berlin gesondert übernommen werden, auch durften die Bürger Ost-Berlins nicht an den Wahlen zur Volkskammer teilnehmen. Völkerrechtlich blieb Ost-Berlin bis zum Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der BRD Besatzungsgebiet und wurde daher auch nicht als Hauptstadt der DDR anerkannt. Das Londoner Protokoll vom 12. 09. 1944, das auf der Konferenz von Jalta 1945 nochmals bestätigt wurde, legte fest, dass Berlin in Sektoren aufgeteilt und einer interalliierten Regierungsbehörde, der Alliierten Kommandantur, unterstehen sollte. Diese Regelung trat nie außer Kraft, weshalb auch West-Berlin nicht als Bestandteil der BRD angesehen wurde, wohl aber unter die Geltung des Grundgesetzes fiel. Im Gegensatz dazu bemühten sich die Sowjetunion und die DDR, Ost-Berlin als Hauptstadt in die DDR zu integrieren. 41 Eine Ausnahme bildete das Ministerium für Nationale Verteidigung, das in Strausberg bei Berlin residierte. 42 Vgl. Geschichte der DDR, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Informationen zur politischen Bildung, Heft 231 / 1991, S. 36. 43 Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Sonderreihe mit Beiträgen für das Gebiet der ehemaligen DDR, Heft 10: Rechtspflege, Gerichte, Verfahrensstatistik 1971 bis 1990, Wiesbaden 1994, S. 17.

C. Vergleichsgruppen

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4.227 Verfahren ein (dies waren 13% aller Zivilverfahren auf dem Gebiet der DDR), 1989 waren es 9.583 Verfahren (16% aller Zivilverfahren).44 Aus den angedeuteten Charakteristika Ost-Berlins ergeben sich z. T. deutliche Unterschiede zu den anderen Bezirken der DDR. Es soll daher an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass die Ergebnisse unserer Aktenanalyse keine Repräsentativität beanspruchen. Diese kann weder für Ost-Berlin gelten, da nicht alle Stadtbezirke in die Erhebung eingehen konnten, noch kann sie für „den“ DDR-Zivilprozess beansprucht werden. Aus den angesprochenen Unterschieden ergeben sich viele Bereiche, in denen sich der Zivilprozess möglicherweise erheblich vom „typischen“ DDR-Zivilprozess unterschieden haben könnte. Um diese Unterschiede aufspüren und prüfen zu können, wurden Daten des Ministeriums der Justiz für die gesamte DDR zur Ergänzung und zum Vergleich herangezogen.

C. Vergleichsgruppen I. DDR-Statistik Auch das Ministerium der Justiz der DDR führte von 1961 an detaillierte Statistiken über den Zivilprozess, die in ihrer Ausführlichkeit z. T. erheblich über bloße Geschäftsübersichtsstatistiken hinausgingen. Diese Erhebungen sind ab 1973 in elektronischer Form aufbewahrt worden. Von Nachteil ist, dass die statistische Erhebung von Jahr zu Jahr nach unterschiedlichen Gesichtspunkten vorgenommen wurde, so dass die meisten Variablen nicht im Zeitverlauf betrachtet werden können und einzelne interessante Auswertungen auf die jeweiligen Jahrgänge beschränkt bleiben. Die EDV-Statistiken wurden zunächst herangezogen, um Zeitreihenvergleiche für die letzten Jahre der DDR (von 1976 bis 1988) durchführen zu können und um typische Prozesskonstellationen bei bestimmten Verfahrensgegenständen und deren Entwicklung im Lauf der Zeit herauszuarbeiten. Weiterhin ist es durch einen Vergleich unserer Erhebung mit der Ost-Berliner Gesamtstatistik möglich, (unwahrscheinliche) Stichprobenverzerrungen aufzudecken und gegebenenfalls zu korrigieren. Durch den Vergleich der Daten für OstBerlin mit denen aus der DDR können wir besser abschätzen, inwieweit unsere in einem Teil von Ost-Berlin gewonnenen Ergebnisse auf die gesamte Hauptstadt oder gar die DDR übertragbar sind. Außerdem fanden sich in den z. T. detailliert

44 Erledigt wurden im Jahr 1972 4.811 der anhängigen Klagen und 1989 9.432 aller Klagen. Damit lagen die Ost-Berliner Richter leicht über dem Gesamtdurchschnitt der DDRRichter (diese erledigten im Jahr 1989 knapp 97% aller Eingänge, in Ost-Berlin wurden über 98% erledigt).

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Kap. 3: Quellen und Methode der Untersuchung

ausgearbeiteten und interpretierten Statistiken der 1960er Jahre45 noch wertvolle Hinweise auf wirtschaftliche und politische Vorgänge zu dieser Zeit, die Erklärungen für auffällige Ausprägungen und Verläufe von Variablen in unserem Datensatz liefern konnten. Da die Statistiken von Anfang an nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren46 und der Zugang zu ihnen auch für Wissenschaftler in der DDR nicht ohne größere Anstrengungen möglich war, ist von bewussten Fälschungen nicht auszugehen. Natürlich können Verzerrungen etwa durch Bemühungen der Richter um Planerfüllung (etwa das Erreichen einer bestimmten Zahl von Vergleichen) entstanden sein, wahrscheinlich sind dann aber, wenn überhaupt, nur unbewusst entstandene Verzerrungen.47 Es wurden für die Jahrgänge 1976, 1980, 1984 und 1988 die Gesamtstatistiken der Zivilprozesse der DDR ausgewählt, weil sich diese (v.a. wegen der sehr ähnlichen Variablen) sehr gut mit den im Projekt erhobenen Daten vergleichen lassen. Für den Bezirk Ost-Berlin liegen diese Statistiken ebenfalls vor, wobei allerdings der Jahrgang 1988 durch den Jahrgang 1987 ersetzt werden musste. Die von uns genutzten Unterlagen des Ministeriums der Justiz wurden in den Akten des Bundesarchivs in Berlin-Lichterfelde gefunden: DP 1 VA 8910, DP1 VA 8911 sowie DP1 VA 8912. Vor allem kurz nach Einführung der EDV im Gerichtsberichtswesen im Jahre 1973 wurde mit den neuen Möglichkeiten eifrig experimentiert. Während in der Bundesrepublik mit einem kurzen Computer-Fragebogen gearbeitet wird, auf dem ein Angestellter des Gerichts die wichtigsten Prozessdaten (Parteien, Prozessgegenstand, Dauer, Streitwert und Kostenentscheid) notiert, war die Erfassung in der DDR um einiges detaillierter, weswegen die Zählkarten auch vom prozessführenden Richter ausgefüllt werden mussten. Hier wurden neben Angaben zu Parteien, genauem Streitgegenstand und Erledigung des Verfahrens noch Informationen über den sozialen Status und die Herkunft der Parteien, die Art der Beweiserhebung, die Mitwirkung gesellschaftlicher Kräfte und andere erzieherische Maßnahmen erhoben. Im Jahre 1976 wurde hier der Höhepunkt erreicht. Besonders bei Streitigkeiten um Wohnungssachen finden sich in der EDV-Statistik des Ministeriums der Justiz in diesem Jahrgang Angaben zur sozialen Stellung des Verklagten, die Höhe seines Nettoeinkommens, seiner Miete und seines Mietrückstandes und sogar seines Familienstandes und der Zahl seiner Kinder. Auch diese Statistiken fanden sich im Bundesarchiv unter DP 1 VA 8867 und 8848. Sämtliche Akten sind mit dem Hinweis „Vertraulich“ versehen, ab 1980 trugen die EDV-Statistiken den Zusatz „Nur für den Dienstgebrauch“. 47 Ein Beispiel gibt Thomas Kilian, Einführung in eine „Geheimwissenschaft“ – Ein Blick hinter die Kulissen der empirischen Sozialforschung im Projekt „Zivilrechtskultur der DDR“, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. II (wie Anm. 3 ), S. 217, ein anderes findet sich bei Inga Markovits, Die Abwicklung (wie Anm. 13), S. 60. 45 46

C. Vergleichsgruppen

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Dies ist schon ein erstes Indiz für die unterschiedlichen Funktionen der Gerichte bzw. des Rechts an sich in den beiden deutschen Staaten: die genaue Erforschung der Entstehungsbedingungen und sozialen Hintergründe in der DDR-Statistik deuten die „pädagogischen Ambitionen“48 des Rechtswesens in der DDR an. Symptomatisch ist aber auch die einseitige Erfassung der Konfliktursachen, womit diese verzerrte Darstellungen ergeben: Streitigkeiten entstanden nach den Antwortvorgaben der EDV-Statistik vor allem durch nichtsozialistisches Verhalten der beteiligten Bürger, eine materielle Anspruchsgrundlage etwa durch Mängel an Sachen oder Wohnraum oder Fehler volkseigener Betriebe war nicht vorgesehen.

II. Bundesdeutsche Statistik Einen anderen Hintergrund hatten die Vergleiche der im Projekt erhobenen Daten und der daraus gebildeten Zusammenhänge mit Daten aus dem zivilprozessualen Alltag der bundesdeutschen Gerichte. Selbstredend ergeben sich bei Vergleichen zwischen zwei unterschiedlichen Rechtssystemen methodische Probleme. So gibt es in der Bundesrepublik natürlich keine „sozialistischen Betriebe und Institutionen“, allenfalls ließe sich von staatlichen Institutionen sprechen. Für einen Vergleich der Parteien vor dem Zivilgericht werden deshalb aus den Statistiken der Bundesrepublik die privatrechtlichen Unternehmen49 gewählt, da diese in einer sozialen Marktwirtschaft ähnliche Funktionen erfüllen. Mit den an gegebener Stelle vorgestellten Zahlen soll zunächst überhaupt ein Bewusstsein für die Häufigkeiten und empirischen Charakteristika des Zivilprozesses der BRD geschaffen werden. Weiterhin dienen sie dazu, Unterschiede und Besonderheiten des DDR-Zivilprozesses darstellen und erläutern zu können. Die für solche Vergleiche verwendeten Daten stammen zum Teil aus der amtlichen Statistik der Bundesrepublik. Diese umfasst zunächst für jedes Jahr seit 1952 die Statistischen Jahrbücher.50 Von einer einheitlichen Datenbasis kann allerdings nicht die Rede sein: Daten zur Zivilgerichtsbarkeit existieren überhaupt erst seit 1957, für 1968 liegen wegen der Umstellung der Erfassung auf Zählkarten keine Daten vor. In den Jahren 1957 – 67 wurde nur die Zahl der Eingänge erhoben, ab 1970 aber wiederum nur die Zahl der Erledigungen. Darüber hinaus ist zu beachten, dass Familiensachen (die in der DDR bereits ab 1957 nicht mehr zum Zivilgericht gehörten) seit 1977 durch die Familiengerichte geregelt werden, vorInga Markovits, Die Abwicklung (wie Anm. 13), S. 54. Im Einzelnen sind dies Versicherungen, Aktiengesellschaften (AG), Gesellschaften mit beschränkter Haftung (GmbH), Kommandit- (KG) und Offene Handelsgesellschaften (OHG) sowie sonstige Firmen und Geschäftsbetriebe. 50 Sie werden ab 1976 ergänzt durch die vom Statistischen Bundesamt herausgegebene „Fachserie Rechtspflege“, die sich ab 1977 in der „Reihe 2.1“ detaillierter mit der Zivilgerichtsbarkeit befasst und seit 1981 als „Reihe 2“ erscheint. 48 49

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Kap. 3: Quellen und Methode der Untersuchung

her wurden diese vor allem am Landgericht anhängig. Darüber hinaus sind die Statistiken der Fachserie Rechtspflege nur begrenzt verwendbar, da z. B. die Variable „Prozessgegenstand“ gänzlich anders und vor allem „unbrauchbar“51 zwar in 11 Kategorien eingeteilt wird, jedoch 95% aller Prozesse in die Kategorie „gewöhnliche Prozesse“ fallen.52 Bisherige empirische Arbeiten zum Zivilprozess der BRD waren schon im Vorfeld hypothesengeleitet, was grundsätzlich verständlich und zu begrüßen ist. Dabei konzentrierte man sich zunächst auf die Ursachen für die lange Dauer des Zivilverfahrens53 sowie auf die rationelle Aufgabenplanung und Erfolgskontrolle der Gesetzgebung und des Gerichtswesens, auf die Effektivität des Rechts oder auf die Zugangschancen zum Gericht54. Später versuchte man, komplexe Konfliktverläufe von ihrem Beginn bis zu ihrem Abschluss zu erfassen und die verschiedenen Regelungsmöglichkeiten zu beschreiben.55 Im Jahr 1969 wurde im Anschluss an die Justizreformgesetze die Forderung nach objektiven Daten über den Zivilprozess in der Bundesrepublik laut, woraufhin das Bundesministerium der Justiz (BMJ) 1973 das Referat Rechtstatsachenforschung einrichtete.56 Die Bundesrechtsanwaltskammer beauftragte die Prognos AG zu einer „Strukturanalyse der Zivilgerichtsbarkeit“57, deren Ergebnis 1974 veröffentlicht wurde. 1971 erging ein Forschungsauftrag des BMJ an den Arbeitskreis für Rechtssoziologie (a.r.s.) an der Universität zu Köln unter der Leitung von Wolfgang Kaupen. Das Gutachten zur „Rechts- und betriebssoziologischen Auswertung von statistischen Daten zur Größe des Gerichts in der 1. Instanz im dreigliedrigen 51 Elmar Steinbach / Rolf Kniffka, Strukturen des amtsgerichtlichen Zivilprozesses (wie Anm. 23), S. 60. 52 Dies war schon früh Anlass von Kritik, vgl. Erhard Blankenburg / Harald von Kempski / Bernhard Lebrun / Hellmut Morasch / Heinrich Schumacher, Die Rechtspflegestatistiken – Analyse der Benutzerinteressen und Vorschläge für eine neue Konzeption, Berlin 1978. 53 Vgl. dazu Gottfried Baumgärtel / Peter Mes (Hrsg.), Rechtstatsachen zur Dauer des Zivilprozesses (erste Instanz), Köln, Berlin u. a. 1971, und Gottfried Baumgärtel / Gerhard Hohmann (Hrsg.), Rechtstatsachen zur Dauer des Zivilprozesses (zweite Instanz), Köln, Berlin u. a. 1972. 54 Vgl. dazu Rolf Bender / Rolf Schuhmacher, Erfolgsbarrieren vor Gericht (wie Anm. 31); Helmut Pieper / Leonie Breunung / Günther Stahlmann, Sachverständige im Zivilprozess. Theorie, Dogmatik und Realität des Sachverständigenbeweises, München 1982. 55 Über das Civil Litigation Project in Madison / Wisconsin, USA, berichtet das Sonderheft 3 / 4 der Law and Society Review 15, 1980 / 1981. 56 Dieter Strempel, Zur Rechtstatsachenforschung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Recht und Politik 1981, S. 180 – 183; ders., Empirische Rechtsforschung des Bundesministeriums der Justiz unter besonderer Berücksichtigung der Strukturanalyse der Rechtspflege, in: Wolfgang Hoffmann-Riem / Karl A. Mollnau / Hubert Rottleuthner (Hrsg.), Rechtssoziologie in der Deutschen Demokratischen Republik und in der Bundesrepublik Deutschland, BadenBaden 1990, S. 307 – 315. 57 Erhard Blankenburg / Hellmut Morasch / Heimfrid Wolff, Tatsachen zur Reform der Zivilgerichtsbarkeit, hrsg. von der Bundesrechtsanwaltskammer, Band 1: Daten und Berechnungen, Band 2: Auswertungen, Tübingen 1974.

C. Vergleichsgruppen

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Gerichtsaufbau“ erschien 1974,58 wurde jedoch nicht weiter beachtet, da auch das Projekt der Rechtspflegereform in diesem Jahr scheiterte. 1986 antwortete die Regierung schließlich auf die Große Anfrage der SPD-Fraktion zur Geschäftsbelastung der ordentlichen Gerichtsbarkeit mit dem Vorschlag einer umfassenden Strukturanalyse der Rechtspflege (SAR)59. Angestrebt waren die quantitative Entlastung der Gerichte sowie eine qualitative Verbesserung der Rechtspflege für den Bürger. Aus den hierfür erstellten Statistiken konnten wir einige Daten für einen Vergleich entnehmen. Unaufbereitete Daten waren für unsere Zwecke kaum auffindbar. In der Aktenuntersuchung von zivilgerichtlichen Prozessen aus acht Bundesländern in den Jahren 1974 bis 1976 von Steinbach / Kniffka, die im Rahmen des später eingestellten Forschungsprojekts Simulation am Amtsgericht (SIMAG) durchgeführt wurde, fanden wir viele nutzbare Daten. Von Vorteil war hierbei, dass das ursprüngliche Ziel dieser Erhebung weggefallen war – die Autoren waren daher zu einer weitgehend hypothesenfreien Herangehensweise gezwungen. Sie analysierten (fast) alle erhobenen Variablen auf Wechselwirkungen untereinander. Für einen Vergleich von Daten aus der DDR und der Bundesrepublik liegen demnach detaillierte Zahlen nur für die Jahre zwischen 1982 und 1984 vor.

58 Dieter Strempel / Theo Rasehorn, Empirische Bezugspunkte zur Reform der ordentlichen Gerichtsbarkeit, in: dies. (Hrsg.), Empirische Rechtssoziologie, Gedenkschrift für Wolfgang Kaupen, Baden-Baden 2002, S. 83 – 200. 59 BT-Drs. 10 / 5317.

Kapitel 4

Vorstellung der Variablen Da zum Zeitpunkt der Erhebung noch keine rechtstatsächlichen Untersuchungen zum Zivilprozess der DDR vorlagen, hatte der von uns entwickelte Fragebogen einen vorrangig explorativen Charakter. Hinweise auf sinnvolle Variablen gaben die elektronischen Statistiken des Ministeriums der Justiz für den DDR-Zivilprozess. Zunächst enthielt der Fragebogen Angaben zum Konfliktsetting, das sich vorrangig am Prozessgegenstand orientierte.1 Nach der für die Beschreibung eines Konflikts zentralen Angabe des Streitwerts wurden Angaben zu den am Prozess beteiligten Parteien erfasst: Handelte es sich um natürliche oder juristische Personen, welche Rechtsform wiesen die juristischen Personen auf, waren sie als Versorgungsunternehmen oder in der Wohnungswirtschaft tätig und wo hatten sie ihren Geschäftssitz? Bei natürlichen Personen wurde neben ihrem Wohnsitz und der Herkunft (aus dem Ausland, und wenn ja, aus dem „befreundeten“ oder dem „imperialistischen“ Lager?) die Klassen- und Schichtzugehörigkeit2, das Geschlecht und spezielle soziale Lagen erfasst (Rentner, Jugendliche, Hausfrauen, Erwerbslose3). Dabei fiel den Kodierern gerade die Einordnung der Parteien in bestimmte Klassen- und Schichtenmodelle schwer, da die hierfür leitende Berufsbezeichnung oftmals nicht oder nur indirekt aus den Akten zu entnehmen war. Auf die daraus resultierenden methodischen Probleme wird an gegebener Stelle eingegangen. Des Weiteren wurde festgehalten, inwieweit die Parteien anwaltlich vertreten waren bzw. die Rechtsantragsstelle der Gerichte in Anspruch nahmen. 1 Diese Variable hat 46 Kategorien und orientiert sich an den Variablen der EDV-Statistik des Ministeriums der Justiz. 2 Vgl. Heike Solga, Auf dem Weg in eine klassenlose Gesellschaft? Klassenlagen und Mobilität zwischen den Generationen in der DDR, Berlin 1995. Problematisch bei der Schichtzuordnung war, dass es für die DDR kein anwendbares Schichtmodell gab. Allerdings übergab uns der ehemalige DDR-Soziologe Peter Armélin aus seiner abgelehnten Habilitationsschrift Berufslisten mit Prestigewerten. Ein Vergleich mit westlichen Listen dieser Art ergab eine hochsignifikante Übereinstimmung (Spearmans R = 0,9). Daraus wurde geschlossen, dass westliche Schichtmodelle mit geringen Modifikationen auf die DDR übertragbar sind. Dabei entschieden wir uns für das am leichtesten zu handhabende Modell von Gerhard Kleining, vgl. ders. / Harriett Moore, Das soziale Selbstbild der Gesellschaftsschichten in Deutschland, in: KZfSS 1960, S. 86 – 119, sowie Harriett Moore, Soziale Selbsteinstufung (SSE). Ein Instrument zur Messung sozialer Schichten, KZfSS 20 / 1968, S. 502 – 552. 3 In Anlehnung an Friedrich Krotz, Lebenswelten in der Bundesrepublik Deutschland. Eine EDV-gestützte qualitative Analyse quantitativer Daten, Opladen 1990.

A. Konflikt- und Forderungsarten

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Außerdem sollten die Kodierer notieren, ob dem Prozess ein Mahnverfahren vorausgegangen war. Ein weiterer Fragekomplex beschäftigte sich mit dem Geschehen vor Gericht. Dies betraf zum einen die Anwesenheit der Parteien bei der Verhandlung, die Art der Beweiserhebung, der Umfang des Schriftwechsels sowie des Endurteils oder der in der DDR sehr häufigen Einigung. Zum anderen gehören in dieses Umfeld auch die Prozessdauer bis zum ersten Termin und bis zur Beendigung des Verfahrens sowie die Zahl der Termine. Einen weiteren Punkt bildete der Komplex „Prozessbeendigung“, der vor allem die Erledigungsart und die Erfolgsquote des Klägers umfasste, daneben noch die kategoriale Einteilung in voller Erfolg, Teilerfolg und kein Erfolg, die Vergleiche mit der DDR-Statistik ermöglichte. Abschließend wurde noch gefragt, welche Partei Rechtsmittel eingelegt hatte und was daraus geworden war. Unter der Residualrubrik „Besonderheiten“ wurden schließlich Variablen erfasst, die nur in wenigen Fällen registriert worden waren. Hierzu gehörten die Beantragung bzw. Bewilligung von Armenrecht, ob sich die Staatsanwaltschaft an dem Prozess beteiligt hatte, die für den Zivilprozess der DDR spezifischen „Maßnahmen zur Erhöhung der Wirksamkeit des Verfahrens“, ob eine einstweilige Verfügung beantragt worden war und ob es sich um einen Urkundenprozess gehandelt hatte. Die Variablen wurden gebildet, nachdem Einsicht in einige Zivilprozessakten genommen worden war und grundlegende theoretische und forschungspraktische Vorüberlegungen angestellt werden konnten. Daneben orientierte sich die Auswahl der Variablen stark an den Variablen der amtlichen DDR-Prozessstatistik. So konnte später eine Gegenüberstellung der Auswertungen zu Prüfungs- und Vergleichszwecken erfolgen. Die Schilderung z. B. der ,Versorger‘ erfolgt im Folgenden also nicht unter dem Aspekt einer vollständigen sozialhistorischen Darstellung, sondern es werden nur die Aspekte herausgegriffen, die die Beteiligten als potentielle Kläger oder Verklagte im Zivilprozess erscheinen lassen.

A. Konflikt- und Forderungsarten Diese Variable spielt eine bedeutende Rolle in der Beschreibung der zivilrechtlichen Konflikte, da sie den Gegenstand des Streits beschreibt. Der Prozessgegenstand spiegelt regelmäßig einen typischen Konfliktablauf und eine Konfliktgruppe wider. In unserer Untersuchung wurden daher die Verfahrensgegenstände fein unterschieden und kategorisiert. In Anlehnung an die EDV-Statistik des Ministeriums der Justiz wurde die Variable in 46 Kategorien unterteilt, die sich in fünf Hauptgruppen untergliedern lassen:

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Kap. 4: Vorstellung der Variablen

– Wohnungssachen – Schadensersatz (in der DDR: „außervertragliche materielle Verantwortlichkeit“) – Kaufverträge – Dienstleistungsverträge und – Darlehen.

In der Gruppe „Wohnungssachen“ wird weiterhin unterschieden in: a) Konflikte betreffend die Mietzahlung (untergliedert in: rückständige Miete, rückständige und künftige Miete, sonstige Streitigkeiten über Mietzahlung und andere Geldforderungen) und die Instandhaltung (untergliedert in: malermäßige, bauliche und sonstige Instandhaltung); b) Streitigkeiten über Mietaufhebung und Räumung, deren Begründung in „gröblicher Rechtsverletzung“, „Mietrückstand“, „Eigenbedarf“ und „sonstige Gründe“ differenziert wurden. Dazu kamen noch sonstige Wohnungssachen und sonstige Mietsachen. Die zweite Gruppe betrifft Konflikte um Schadensersatz, die sich in Schadenszufügung4, Störungsbeseitigung / Unterlassung und sonstige Streitfälle unterteilen lassen. Die dritte Gruppe umfasst Streitigkeiten um Kaufverträge betreffend Garantieansprüche, Schadensersatz, Kaufpreis oder „Sonstiges“. Die vierte Gruppe umfasst Streitigkeiten über Dienstleistungsverträge betreffend Garantieansprüche, Schadensersatz, Vergütung oder „Sonstiges“. Die fünfte Gruppe umfasst Streitigkeiten um Darlehen betreffend Teilzahlungskredite, andere Kredite und explizit von der HO bzw. der Konsumgenossenschaft ausgegebene Teilzahlungskredite. Zusätzlich wurden Streitigkeiten betreffend die Herausgabe von Sachen, Versorgungsleistungen (Gas-, Energie- und Wasserlieferungen), Erbrecht, Grundstückssachen, unberechtigt erlangte Leistungen, Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel und zuletzt sonstige Zivilsachen unterschieden. Der Streitwert drückt den Konfliktgegenstand in Geldwert aus und bestimmt die sachliche Zuständigkeit der Gerichte. Im Gesetz über die Verfassung der Gerichte der DDR wurden die Kreisgerichte für alle Zivilsachen mit einem Streitwert bis 3.000,– DM5 für zuständig erklärt (§ 42 GVG von 1952 und § 52 GVG von 1959). Für höhere Beträge waren die Bezirksgerichte zuständig (§ 50 und später § 59).6 4 „Schäden betreffend Leben und Gesundheit“, „Schäden an sozialistischem Eigentum“, „Schäden an privatem und persönlichem Eigentum“, „Gesundheits- / Sachschaden an sozialistischem Eigentum“ und „Gesundheits- / Sachschaden an privatem Eigentum“. 5 Bis 1964 behielt die DDR die offizielle Bezeichnung „Deutsche Mark“ für ihre Währung bei, erst danach wurde im Zuge eines Geldumtausches die Bezeichnung „Mark der DDR“ (M) eingeführt.

B. Prozessparteien

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Im GVG vom 17. 04. 1963 war der Streitwert als Kriterium für die Zuständigkeit des Obersten Gerichtes, der Bezirks- und Kreisgerichte verschwunden (§§ 13, 28, 38). Auch im GVG vom 2. 10. 1974 blieb die Zuständigkeit nur sachlich definiert (§§ 23, 30, 37). In der Untersuchung von Steinbach und Kniffka über die Strukturen des amtsgerichtlichen Zivilprozesses der Bundesrepublik wird dem Streitwert seine eigentliche Bedeutung als Berechnungsgrundlage für Anwalts- und Gerichtskosten (sog. Gebührenstreitwert) zugesprochen, da er auf diese Weise zur Schlüsselvariablen für den Zugang zum Gericht wird.7 Eine vergleichbare Schlüsselposition kann der Variable Streitwert in unserer Untersuchung nicht zukommen, da die Gerichtskosten in der DDR deutlich niedriger waren und die Mehrheit der Zivilprozesse bei geringeren Streitwerten geführt wurde. Problematisch an Betrachtungen des Streitwerts zu verschiedenen Zeiten ist immer, dass sich Geldwert, durchschnittliches Einkommen und Kaufkraft zeitabhängig verändern. So stieg das durchschnittliche monatliche Haushaltsnettoeinkommen bei Arbeitnehmern auch in der DDR stetig an, während die wirtschaftliche Situation jedoch dazu führte, dass das Geld nicht ausgegeben werden konnte und so enorme Sparguthaben entstanden bzw. schwer beschaffbare Güter extrem teuer wurden. Die Folgen für den wahrgenommenen Wert des Geldes und einzelner Waren in der DDR, die sich unmittelbar auf den Zivilprozess auswirken mussten, sind noch nicht in Ansätzen erforscht.

B. Prozessparteien I. Status Die am Zivilprozess Beteiligten wurden grundsätzlich unterschieden nach ihrer Rolle im Prozess, also ob sie als Kläger oder Verklagter auftraten. Für jede der Parteien wurden sodann genauere Zuordnungen vorgenommen. Das wichtigste Unterscheidungskriterium war dabei der Status. Dieser wurde zunächst differenziert in natürliche Personen, also Bürger, und juristische Personen. Letztere wurden entweder als Betriebe, Sozialistische Genossenschaften oder staatliche Organe kodiert. Bei Betrieben handelte es sich, dem Wirtschaftssystem der DDR entsprechend, ausnahmslos um sozialistische, also volkseigene Betriebe. Als dritte Statusgruppe gab es noch die Privatbetriebe. 6 Dietmar Kurze, Sozialistische Betriebe und Institutionen als Verklagte im DDR-Zivilprozess (= Berliner Juristische Universitätsschriften, Grundlagen des Rechts, Bd. 37), Berlin 2005, S. 103. 7 Elmar Steinbach / Rolf Kniffka, Strukturen des amtsgerichtlichen Zivilprozesses. Ergebnisse einer rechtstatsächlichen Aktenuntersuchung, München 1982, S. 70.

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1. Juristische Personen a) Volkseigene Betriebe Durch den Sequesterbefehl vom 30. Oktober 1945 der SMAD (Befehl Nr. 124)8 wurde ein Großteil der Betriebe in der SBZ beschlagnahmt. Eigentümer von Produktionsanlagen, Betrieben und Land wurden enteignet. Das so in gesellschaftliches Eigentum überführte Vermögen wurde als unantastbares Volkseigentum definiert9 und unterlag verfassungsrechtlichem Schutz10. Bis 1948 hatten volkseigene Betriebe (VEB) bereits einen Anteil von 61% an der industriellen Produktion.11 Die VEB waren rechtsfähige Organisationen mit staatlich begrenzten Aufgabengebieten, die nach den Grundsätzen der wirtschaftlichen Rechnungsführung als Wirtschaftsbetriebe arbeiteten, mit eigenen Mitteln ausgestattet und abgabenpflichtig waren. Da alles Volkseigentum letztlich dem sozialistischen Staat gehörte12, konnten die einzelnen Betriebe kein eigenes Eigentum erhalten, sondern hatten nur die Rolle von operativen Verwaltern inne. Strenggenommen war also jede Klage eines Bürgers gegen einen Betrieb eigentlich eine Klage gegen den Staat. Die VEB als juristische Organisationsformen umfassten sachlich verschiedene Gewerbezweige. Zwei von diesen Gewerbezweigen wurden aufgrund ihrer Bedeutung für den Zivilprozess der DDR gesondert erfasst: Versorgungs- und Wohnungsunternehmen. aa) Versorgungsunternehmen Es handelte sich zum einen um die Grundversorger. Hier ging es um die Versorgung mit Strom, Wasser, Gas und Heizöl. In Ost-Berlin war der Stromversorger BEWAG zwar noch für längere Zeit formal eine Aktiengesellschaft, die Verfügungsgewalt lag aber allein bei staatlichen Stellen, so dass er wie ein VEB handelte und als solcher auch hier behandelt wurde. Die Versorgungsbeziehungen waren zivilrechtlich organisiert. Die aus den Versorgungsverträgen entstandenen volkseigenen Forderungen waren auf dem Zivilrechtsweg geltend zu machen. Für die erhobenen Daten ist anzumerken, dass die 8 Vgl. Rosemarie Will, Die Eigentumsordnung der DDR, in: Gerd Bender / Ulrich Falk (Hrsg.), Recht im Sozialismus, Analysen zur Normdurchsetzung in osteuropäischen Nachkriegsgesellschaften (1944 / 45 – 1989) Bd. 1: Enteignung (= Ius Commune, Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 113), Frankfurt a.M. 1999, S. 123 f. 9 SMAD-Befehl Nr. 64 vom 17. April 1948. 10 Vgl. Art. 12 der Verfassung der DDR (1968). 11 Dietrich Staritz, Die Gründung der DDR. Von der sowjetischen Besatzungsherrschaft zum sozialistischen Staat, München 1995, S. 51. 12 Rosemarie Will, Die Eigentumsordnung der DDR, in: Gerd Bender / Ulrich Falk (Hrsg.), Recht im Sozialismus, Bd. 1: Enteignung (wie Anm. 8), S. 144.

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Unternehmen BEWAG und GASAG ihren Sitz in Ost-Berlin hatten und eine Gerichtsstandsvereinbarung bezüglich des zentralen Amts-, später Stadtbezirksgerichts Berlin-Mitte bestand. Die Abrechnungen wurden zuerst monatlich, später auf Basis einer pauschalen Verbrauchsannahme jährlich vorgenommen. Im Falle des Zahlungsverzuges wurden die Versorgungsbeziehungen nicht beendet.

bb) Wohnungsunternehmen Gesondert erfasst wurden Wohnungsunternehmen. Bei diesen handelte es sich hauptsächlich um die KWV. Die Kommunalen Wohnungsverwaltungen (KWV) wurden ab 1958 als VEB gebildet. Sie sollten die enteigneten und die wegen Ausreise der Eigentümer verlassenen Häuser und später auch die Neubauten verwalten. Die KWV waren wie die Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft (AWG) Träger des staatlichen Wohnungsbaus und der Instandhaltung. 1963 wurde ihnen auch die Organisation von Reparaturarbeiten an noch in Privateigentum befindlichen Wohnungen übertragen. Nach 1971 wurden die KWV sukzessive in „VEB Gebäudewirtschaft“ umgewandelt. Nach offiziellen Angaben deckte die Miete etwa ein Drittel der tatsächlich anfallenden Kosten für die Erhaltung und Bewirtschaftung der volkseigenen und genossenschaftlichen Wohnungen; die verbleibenden zwei Drittel der Kosten subventionierte der Staatshaushalt.13 Im Vergleich zur Bundesrepublik Deutschland hatte in den frühen Jahren in der DDR die Wohnungspolitik einen niedrigeren sozialpolitischen Stellenwert. Aufgrund der in der Vorkriegszeit besseren Wohnungsversorgung, des geringeren Zerstörungsgrades im Wohnungsbestand und der seit 1949 infolge der Fluchtbewegung kaum ansteigenden Bevölkerungszahlen war der objektive Wohnungsbedarf hier auch geringer. Der Wohnungsneubau wurde zudem zu Gunsten des Industrieneubaus reduziert, so dass das Bauvolumen im Wohnungsbau in den 50er Jahren nur 35% bis 40% des Gesamtbauvolumens betrug14 (in der Bundesrepublik Deutschland waren es 50%). Mit den bei den Kreisverwaltungen eingerichteten Wohnraumlenkungsabteilungen sollte eine bedarfsorientierte Wohnraumversorgung sichergestellt werden. Dazu wurden im Zuge von Honeckers Konsumpolitik umfangreiche Neubauprogramme aufgelegt. So sollten ab 1976 durch Neubau 600.000 neue Wohnungen geschaf13 Andreas Herbst / Winfried Ranke / Jürgen Winkler, So funktionierte die DDR, Bd. 2: Lexikon der Organisationen und Institutionen, Reinbek 1994, Stichwort: Ministerrat der DDR, S. 663. Die Miete pro Quadratmeter betrug für Neubauwohnungen monatlich zwischen 0,80 und 1,25 Mark. 14 Statistisches Amt der DDR (Hrsg.), Statistisches Jahrbuch der DDR 1975, S. 22.

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fen werden, durch Modernisierung weitere 330.000. Damit wären die Wohnverhältnisse für fast drei Millionen Bürger verbessert worden.15 1980 verwendete die DDR allein 10% ihres Nationaleinkommens für den Wohnungsbau. Tatsächlich konnten bis 1988 etwa zwei Millionen Neubauwohnungen fertig gestellt werden.16 Die Wohnfläche pro Einwohner stieg von 16,5 qm im Jahr 1961 auf 27,6 qm im Jahr 1989.17 Zugleich verfielen jedoch die Altbauten, so dass fraglich ist, ob das Angebot an bewohnbaren Wohnungen insgesamt überhaupt stieg. Auch verfügte noch 1989 ein Drittel aller Wohnungen nur über Außentoiletten und in fast der Hälfte der Wohnungen wurde noch dezentral mit Kohle geheizt. Außerdem stieg der Bedarf an Wohnungen durch kleinere Familienstrukturen und gestiegene Ansprüche der Menschen. Der Verfall der Altbausubstanz und die Monopolstellung des Staates bei Neubauwohnungen hatten ihren Grund auch in dem niedrigen Mietniveau. Die Ansicht, die Versorgung der Bevölkerung mit finanzierbarem Wohnraum stelle ein Grundbedürfnis dar, führte dazu, dass die Mieten in der gesamten Zeit der DDR kaum erhöht wurden. 1973 mussten nur 6% eines durchschnittlichen Haushaltseinkommens für die Miete aufgebracht werden.18 Mit diesen Mieten konnten aber nicht die Instandhaltungsaufgaben und schon gar nicht nötige Modernisierungsmaßnahmen finanziert werden. Der Verfall der Altbausubstanz volkseigener Wohnraumversorger beruhte großteils auf den aus dieser Entwicklung resultierenden zu geringen Reparaturkapazitäten. Das staatliche Primat lag auf dem Neubau von Wohnungen. Das private Handwerk war durch Enteignungen geschwächt und durch langfristige Reparaturpläne gebunden. Die kurzfristige Beseitigung oder Verhinderung von Schäden war somit kaum möglich. In der Alltagspraxis führte die Diskrepanz zwischen Mieten und tatsächlichen Kosten dazu, dass Renovierungen und Sanierungen vom Verwaltungsweg abhingen und die Mieter in Eigeninitiative Arbeiten ausführten, die sie sich zu einem geringen Teil als Volkswirtschaftliche Masseninitiative (VMI) entgelten ließen.19 Die Mieter hatten es daher schwer, ihre durchaus umfangreichen Rechte gegenüber kommunalen Vermietern geltend zu machen. Letztere verwiesen regelmäßig auf eigenes Unvermögen und darauf, dass sie sich um die Aufnahme des Schadens in den Reparaturplan bemüht hatten. 15 Hermann Weber, Die DDR 1945 – 1990 [Grundriss der Geschichte], 2. Auflage, Hannover 1991, S. 169. 16 Hermann Weber, ebenda, S. 201. 17 Gunnar Winkler (Hrsg.), Sozialreport ’90, Daten und Fakten zur sozialen Lage in der DDR, S. 226, zitiert nach Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR, 1971-1989, 2. Auflage, Bonn 1999, S. 183 f. 18 Abteilung Propaganda und Agitation des Zentralkomitees der SED (Hrsg.), 25 Jahre DDR – Eine Bilanz in Tatsachen und Zahlen, Berlin (Ost) 1974, S. 42. 19 Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur (wie Anm. 17), S. 185.

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Aufgrund der angespannten Wohnraumsituation bestand lediglich Interesse, in selbstgenutzten Wohnraum zu investieren. Eigenbedarfsklagen waren jedoch fast unmöglich. Die staatliche Wohnraumlenkung musste zustimmen und schließlich standen für den privaten Wohnungsbau erst recht keine Bau- oder Reparatur„kapazitäten“ zur Verfügung. cc) Produzierende Betriebe Produzierende Betriebe konnten in unserer Untersuchung nur selten als Kläger oder Beklagte auftreten. Die Konflikte der produzierenden Betriebe untereinander wurden – wie in Kapitel 2 ausführlich dargestellt – dem Staatlichen Vertragsgericht zugewiesen. Gewährleistungsansprüche wurden üblicherweise nicht gegenüber den produzierenden Betrieben, sondern gegenüber den Verkäufern bzw. Verkäuferorganisationen (z. B. der HO) geltend gemacht. Zudem griff man hier häufiger zum Mittel der Eingabe.20 Die Konflikte der Beschäftigten mit den Betrieben waren dem Arbeitsrecht zugewiesen und spielten in unserer Untersuchung ebenso keine Rolle.21

b) Einzelhandel Der Konsumgüterhandel wurde zunächst durch die bereits 1955 völlig abgeschlossene Verstaatlichung des Großhandels in seinen Bezugsmöglichkeiten systematisch eingeschränkt. Parallel hierzu entstand die verstaatlichte, bei der Warenverteilung bevorzugte sogenannte „Handelsorganisation“, die HO. Diese durfte als staatliche Organisation seit 1949 bis zur Einführung des einheitlichen Preisniveaus 1958 auch knappe Waren zu überhöhten Preisen frei verkaufen, während der übrige Handel lediglich rationierte Waren zu Fixpreisen abgeben konnte.22 1982 er20 Bettina Theben, Eingabenarbeit. Zur Rolle der volkseigenen Betriebe bei der Schlichtung zivilrechtlicher Streitigkeiten mit Bürgern, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. II (= Zeitgeschichtliche Forschungen, Bd. 2 / 2), Berlin 2000, S. 83 – 127. 21 Berücksichtigt werden muss auch die intensivere Bindung der Beschäftigten an ihre Betriebe. Auszubildende wurden zumeist von ihren Ausbildungsbetrieben übernommen, bei Studenten und Fachhochschülern stand bereits während des Studiums die spätere Anstellung fest. Betriebsbedingte Kündigungen gab es fast gar nicht. Außerdem wurde der Zusammenhalt der Beschäftigten untereinander gefördert, dazu gehörten nicht nur Kollektive der Werktätigen, Betriebssport- und Kampfgruppen, sondern auch gemeinsame Freizeitgestaltung oder die betriebseigenen Ferienplätze. Außerdem war jeder Betrieb bestrebt, seine Beschäftigten an sich zu binden. Trotz verdeckter Arbeitslosigkeit in manchen Wirtschaftsbereichen herrschte in der Mehrzahl der Betriebe ein Mangel an guten Fachkräften. Man versuchte daher zum Einen, Arbeitskräftereserven zu bilden, zum Anderen übernahm man vielfältige Fürsorgeaufgaben für die Angestellten. Dies gilt es zu bedenken, wenn Arbeitnehmer in Zivilrechtskonflikte verwickelt wurden oder der Betrieb als Drittschuldner im Rahmen einer Lohnpfändung in die Pflicht genommen wurde.

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wirtschaftete die HO knapp 54% des Binnenhandels.23 Daneben existierte der genossenschaftlich organisierte „Konsum“ aus Zeiten vor dem Dritten Reich, dessen rechtliche Einordnung auch in der DDR schwer fiel, weshalb er erst nach anfänglicher Vernachlässigung in die staatlich gesteuerte Versorgung integriert wurde. Der „Verband der Konsumgenossenschaften der DDR“ war 1982 mit 4,5 Millionen Mitgliedern (neben dem FDGB und der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft) die drittgrößte Massenorganisation der DDR und gehörte zu den sechs mandatstragenden gesellschaftlichen Organisationen in der DDR mit eigenen Volksvertretern auf Kreis- und Stadtebene. Während die HO vorrangig die Warenversorgung in den Ballungsgebieten übernahm, sollte die Konsumgenossenschaft die Versorgung der ländlichen Gebiete sicherstellen.24 Der private Anteil ging im Einzelhandel auf unter 10% zurück.25 Vormals selbständige Einzelkaufleute wurden seit 1956 häufig zu Kommissionshändlern oder abhängigen Vertretern des Staatshandels. Nur kurzzeitig existierte in der DDR ein Versandhandel von Kaufhäusern. Diese in der Bevölkerung populäre Einrichtung wurde jedoch schon bald wieder abgeschafft, da der Versandhandel die Bestellungen aufgrund der Güterknappheit nicht befriedigen konnte und es zu unerwünschten Warenkreditierungen kam. Der Einzelhandel war auch für die Verwirklichung der umfangreichen Garantierechte des Käufers zuständig. Unabhängig von Organisations- und Eigentumsform des Einzelhändlers hatte dieser die Produktreklamationen der von ihm verkauften Waren entgegenzunehmen und über die Berechtigung der Reklamationen zu entscheiden.26 Bei Anerkennung der Reklamation als Garantiefall sollte vorrangig eine Reparatur in einer Vertragswerkstatt versucht werden. Andernfalls hatte der Verkäufer ein Ersatzprodukt zu stellen oder den Kaufpreis zurückzuerstatten. Aufgrund des knappen Angebots bestand ein höheres Interesse an der Reparatur oder Nachlieferung, dessen Verwirklichung aber letztlich immer von den dem Handel zugeteilten Kapazitäten abhing.27

22 Dies sollte den Schwarzhandel bekämpfen und Kaufkraft abschöpfen sowie private Verkaufseinrichtungen an der Erwirtschaftung von Gewinn hindern. 23 Andreas Herbst / Winfried Ranke / Jürgen Winkler, So funktionierte die DDR, Bd. 1: Lexikon der Organisationen und Institutionen (wie Anm. 13), Stichwort: Handelsorganisation (HO), S. 390. 24 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DDR-Handbuch, Band 1 A-L, 3. Auflage, Köln 1985, S. 738; zu den Konsumgenossenschaften allgemein vgl. Ulrich Kurzer, Konsumgenossenschaften in der sowjetischen Zone und in der DDR. Hypothesen zu einem bisher wenig beachteten Forschungsfeld, in: DA 1999, S. 812 – 823. 25 Hermann Weber, Die DDR 1945 – 1990 (wie Anm. 15 ), S. 88. 26 Zu den Interessenkonflikten des Verkaufspersonals bei der Anerkennung von Gewährleistungsfällen vgl. Bettina Theben, Eingabenarbeit. Zur Rolle der volkseigenen Betriebe bei der Schlichtung zivilrechtlicher Streitigkeiten mit Bürgern, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. II (wie Anm. 20), S. 83 – 127.

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c) Transportsektor Die Verstaatlichung des Transportsektors nach 1945 führte zu dessen weitgehendem Zusammenbruch, der nie ganz behoben werden konnte. Nachdem noch in den 60er Jahren der LKW als Transportmittel gefördert worden war, gewann mit den Energie- und Rohstoffverteuerungen die Eisenbahn an Bedeutung. Dies galt trotz des durch Demontagen und Vernachlässigung geschwächten Eisenbahnnetzes auch für den privaten Verkehr. Bis in die 60er Jahre hinein war eine PKW-feindliche Politik betrieben worden, danach behinderten die Fahrzeugknappheit, das schlechte Fernstraßennetz und die Treibstoffknappheit den Individualverkehr. Ähnlich gestaltete sich die Situation im Personennahverkehr. Zwar bestanden volkseigene Taxiunternehmen. Diese konnten dem Bedarf jedoch kaum gerecht werden. Daneben existierten private „Schwarztaxis“ und Fahrgemeinschaften. Die Hauptlast des Nahverkehrs entfiel jedoch auf die kommunalen Verkehrsunternehmen. d) Dienstleistungsunternehmen Charakteristisch für die Struktur des Dienstleistungssektors waren zahlreiche staatliche Dienstleistungsbetriebe, welche die Aufgabe hatten, die Versorgung der Bevölkerung in allen Bereichen sicherzustellen.28 Im Handwerk führten steuerliche Benachteiligungen bzw. die Verweigerung staatlicher Förderung zu einem stetigen Rückgang privater Betriebe.29 Dies lag auch an der seit 1952 erfolgenden Bildung von „Produktionsgenossenschaften des Handwerks“ (PGH), zu denen sich die Handwerker zum Teil aufgrund steuerlicher Begünstigungen und Vorteile bei der Materialbeschaffung, zum Teil zwangsweise zusammenschlossen. Da aufgrund der angespannten Versorgungssituation eine völlige Ausschaltung des privaten Handwerks ausgeschlossen schien, sollten wenigstens ideologisch erwünschte, genossenschaftliche Betriebsformen durchgesetzt werden.30 Die schwankende Hand27 Bettina Theben, Eingabenarbeit. Zur Rolle der volkseigenen Betriebe bei der Schlichtung zivilrechtlicher Streitigkeiten mit Bürgern, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. II (wie Anm. 20), S. 83 – 127; Annette Kaminsky, „Keine Zeit verlaufen – beim Versandhaus kaufen“, in: Gesellschaft für Bildende Kunst (Hrsg.), Wunderwirtschaft. DDRKonsumkultur in den 60er Jahren, Köln, Weimar, Wien 1996, S. 124 – 137. 28 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DDR-Handbuch, Band 1 (wie Anm. 24 ), S. 307 f. 29 Ausführlich dazu Rudolf Schneider, Geschichte des Arbeitsrechts der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin (Ost) 1957, S. 22 f. Die steuerliche Benachteiligung folgte aus dem Selbstverständnis der DDR, in deren Wirtschaftssystem selbständige Handwerker als Privateigentümer von Produktionsmitteln einen Fremdkörper darstellten. Hierzu Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung DIW (Hrsg.), Handbuch DDR-Wirtschaft, 4. Aufl., Reinbek 1984, S. 220 ff.

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werkspolitik der DDR zeigt sich u. a. darin, dass in den 70er Jahren die Vergünstigungen für PGH wieder zurückgenommen und „industriemäßig“ arbeitende PGH zu VEB umgewandelt wurden. Mangelnde Nachwuchsförderung und daraus resultierende Überalterung der Belegschaften führten zunehmend zu Betriebsschließungen, was neben den Kollektivierungsbemühungen die Krise im Bereich des Handwerks Anfang der 70er Jahre weiter verschärfte. Das Politbüro beschloss daher 1976 eine „Förderung privater Einzelhandelsgeschäfte, Gaststätten und Handwerksbetriebe für Dienstleistungen“, was sich im Anstieg der Ausbildungsverhältnisse und der erteilten Gewerbegenehmigungen niederschlug. Bei dieser Ausgangssituation verwundert es nicht, dass die Zahl der zivilrechtlichen Klagen in diesem Bereich nicht besonders hoch war. Es herrschte bei Handwerks-Dienstleistungen ein solcher Mangel, dass man kaum wagte, sich zu beschweren, wenn man eine Dienstleistung zu Ende erbracht haben bzw. einen Handwerker eventuell ein zweites Mal wiedersehen wollte. Privatpersonen bedienten sich im Bereich des Handwerks ohnedies vornehmlich der Schwarzarbeit. 2. Bürger Waren Kläger oder Verklagter dem Status im Prozess nach „Bürger“, wurden zu diesen noch weitere Variablen erfasst. Neben dem Geschlecht waren dies die berufliche Tätigkeit und die (hauptsächlich) darauf basierende Zuordnung zu einer Klasse und einer sozialen Schicht. Daneben interessierte noch, ob besondere soziale Merkmale vorhanden waren, etwa ob der Bürger Rentner, Hausfrau oder Jugendlicher war bzw. ob er arbeitslos war (in der DDR konnte das ein Indiz für eine Randstellung in der Gesellschaft sein, da kaum jemand offiziell als arbeitslos galt). Ebenfalls auf eine Randstellung konnte die Beantragung von Armenrecht hinweisen. Weiterhin wurden genaue Angaben zum Wohn- bzw. Geschäftssitz gemacht. Dabei wurde unterschieden zwischen Ost- und West-Berlin, dem restlichen DDRGebiet und der BRD. Ebenfalls wurde erfasst, ob die Partei aus dem sozialistischen oder kapitalistischen Ausland kam.

30 Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur (wie Anm. 17), insb. S. 195 ff.; Monika Kaiser, 1972 – Knockout für den Mittelstand: zum Wirken von SED, CDU, LDPD und NDPD für die Verstaatlichung der Klein- und Mittelbetriebe, Berlin 1990; Hannsjörg F. Buck, Formen, Instrumente und Methoden zur Verdrängung, Einbeziehung und Liquidierung der Privatwirtschaft in der SBZ / DDR, in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), Bd. II / 2: Machtstrukturen und Entscheidungsmechanismen im SED-Staat und die Frage der Verantwortung, Baden-Baden 1995, S. 1070 ff., insb. S. 1139 – 1141.

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a) Die DDR, eine Arbeitergesellschaft Im Zusammenhang mit der Einführung der staatlichen Planwirtschaft zeigten sich bald deutliche sozialstrukturelle Veränderungen. Die Zahl der Berufstätigen stieg von 7,3 Mio. im Jahr 1949 auf 7,7 Mio. in 195531, obwohl in diesem Zeitraum etwa 1,4 Mio. Menschen aus der SBZ / DDR flohen.32 Dies ist zu einem großen Teil auf die zunehmende Rekrutierung von Frauen als Arbeitskräfte zurückzuführen, die 1955 schon 44% aller Beschäftigten stellten.33 Die Zahl der Arbeiter und Angestellten unter den Berufstätigen wuchs bis 1955 auf fast 6 Mio., d. h. 77% aller Berufstätigen.34 Gleichzeitig ließ sich ein allmählicher Rückgang der Selbständigen und der in Privateigentum befindlichen Betriebe beobachten, wobei diese in Konsumgüterindustrie, Handwerk und Landwirtschaft noch recht zahlreich vertreten waren.35 Der Anstieg der Zahl der Arbeiter und Angestellten, von denen über zwei Drittel vom Staat beschäftigt wurden, auf Kosten der Zahl der Selbständigen ist eine für Industriegesellschaften typische Entwicklung. Die soziale Schichtung der DDRBevölkerung glich sich dabei zunehmend der sowjetischen an. Seit den 60er Jahren wandelte sich die Verteilung der Arbeitskräfte in den einzelnen Wirtschaftsbereichen grundlegend. Der Rückgang der in der Landwirtschaft Tätigen und der gleichzeitige Anstieg der Berufstätigen in Bauwirtschaft und im Dienstleistungsgewerbe (tertiärer Sektor) ist ebenfalls in allen Industriegesellschaften zu beobachten. Aufgrund des seit Gründung der DDR vorherrschenden Arbeitskräftemangels, dem durch umfangreiche Weiterbildungsmaßnah31 Statistisches Amt der DDR (Hrsg.), Statistisches Jahrbuch der DDR 1975, S. 15. Die Erwerbsquote der Bevölkerung der DDR lag mit mehr als 50% über denen der meisten Länder der Welt, vgl. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DDR-Handbuch, Band 1 (wie Anm. 24), S. 62. Für alle folgenden Angaben, die auf Veröffentlichungen der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik der DDR beruhen oder die sich auf solche beziehen (also auch Angaben des Statistischen Bundesamts der BRD, des DIW und des DDRHandbuchs), sei einschränkend auf den grundsätzlichen Fälschungsverdacht hingewiesen, dem diese Daten unterliegen. Peter von der Lippe zeigt detailliert, dass man in der Bundesrepublik den veröffentlichten Wirtschaftsstatistiken der DDR Glauben schenkte, da ja dort selbst mit diesen Daten gearbeitet wurde; Peter von der Lippe, Die gesamtwirtschaftlichen Leistungen der DDR-Wirtschaft in den offiziellen Darstellungen. Die amtliche Statistik der DDR als Instrument der Agitation und Propaganda der SED, in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“, Bd. II / 3 (wie Anm. 30), S. 1973 – 2193. 32 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DDR-Handbuch, Band 1 (wie Anm. 24), S. 418. 33 Die Quote berufstätiger Frauen stieg bis 1982 auf 85%, während die Zahl berufstätiger Männer in der gleichen Zeit konstant blieb; siehe DDR-Handbuch, Band 1 (wie Anm. 24), S. 61 f. 34 Statistisches Amt der DDR (Hrsg.), Statistisches Jahrbuch der DDR 1975, S. 15. 35 Hermann Weber, Die DDR 1945 – 1990 [Grundriss der Geschichte], 3. Auflage, München 2000, S. 45.

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men36 begegnet wurde, herrschte zumindest in den 60er Jahren eine hohe gesellschaftliche und berufliche Mobilität, wobei besonders Mitglieder der Arbeiterklasse (worin Angestellte eingeschlossen waren) gefördert wurden. Gegen Ende der 70er Jahre waren nur noch 11% der Beschäftigten in der DDR keine Arbeiter oder Angestellten. aa) Konsumangebot Nach Kriegsende hatte die Bevölkerung in der SBZ mit denselben Problemen zu kämpfen wie die Menschen in den anderen Besatzungszonen. Zwar war die anfängliche Versorgung mit Lebensmitteln besser als in manch anderem Teil Deutschlands. Allerdings wirkten sich die höheren Demontagen und die erzwungene Ablehnung des Marshall-Plans bald negativ auf die Versorgung und den Lebensstandard aus. Obwohl die DDR den höchsten Lebensstandard im Ostblock aufwies, erreichte sie nie den Produktions- und Lebensstandard der Bundesrepublik; der Abstand vergrößerte sich bis 1989 immer weiter.37 Nach dem Aufstand des 17. Juni 1953 versuchte die SED mit dem „Neuen Kurs“, eine rasche Verbesserung der Lebenslage zu erreichen. Die Transformation der Wirtschaft (u. a. der Aufbau der Schwerindustrie) wurde kurzfristig zugunsten der Erzeugung von Nahrungsmitteln und Konsumgütern verlangsamt.38 In den Jahren 1957 und 1958 machte vor allem die Konsumindustrie große Fortschritte und der Lebensstandard stieg, wenn auch nicht so schnell wie von der Bevölkerung erhofft. Im Mai 1958 konnten die Lebensmittelkarten abgeschafft werden. Die für die Aufhebung der Rationierung notwendigen Preisanhebungen sollten durch Lohnerhöhungen und staatlich gestützte Preise für Grundnahrungsmittel ausgeglichen werden.39 Auch wenn der größte Teil der Bevölkerung die politische Führung der DDR nicht unterstützte, begannen sich die Menschen langsam in den Verhältnissen einzurichten. 36 Z. B. die durch Hermann Kants Roman „Die Aula“ bekannt gewordenen Arbeiter- und Bauern-Fakultäten oder die Betriebsakademien. 37 Vgl. Marie-Louise von Bergmann-Winberg, Wohlfahrt, Lebensniveau und Lebensweise im deutsch-deutschen Vergleich, Publications of the Swedish School of Economics and Business Administration Nr. 38, Helsingfors 1987. 38 Dietrich Staritz, Geschichte der DDR 1949 – 1990 (= Moderne Deutsche Geschichte, Bd. 11), Frankfurt a.M. 1996, S. 127 ff.; Klaus Ewerts / Thorsten Quest, Die Kämpfe der Arbeiterschaft in den volkseigenen Betrieben während und nach dem 17. Juni, in: Ilse Spittmann / Karl Wilhelm Fricke (Hrsg.), 17. Juni 1953. Arbeiteraufstand in der DDR, Köln, 1982, S. 23 ff.; Gustav Just, Zeuge in eigener Sache. Die fünfziger Jahre in der DDR, Frankfurt a.M. 1990; Jörg Roesler, Von der Generalperspektive zum Neuen Ökonomischen System. Wirtschaftspolitische Weichenstellung in der DDR Ende der 50er / Anfang der 60er Jahre, in: Mannheimer Berichte aus Forschung und Lehre an der Universität Mannheim, Heft 33, 1988, S. 9 ff. 39 Hermann Weber, Die DDR 1945 – 1990 (wie Anm. 35), S. 50.

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Trotz Weltwirtschafts- und Rohstoffkrise stieg in der Periode von 1970 bis 1974 das monatliche Durchschnittseinkommen von 755 auf 860 Mark40, blieben die Preise stabil und Arbeitslosigkeit existierte (offiziell) nicht. Im Gefolge des IX. Parteitages von 1976, der die Verbesserung der Lebenslage als Ziel formulierte, wurden die Mindestrenten und -löhne41 angehoben, der Jahresurlaub verlängert und die Wochenarbeitszeit auf 40 Stunden verkürzt. Die hohen Zahlen der Spareinlagen zeigen dennoch, dass trotz der verbesserten wirtschaftlichen Situation der DDR-Bürger die kauffähige Nachfrage nicht befriedigt werden konnte.42 Versorgungsengpässe und mangelnde Qualität des Angebots gaben auch zum Ende der 70er Jahre weiterhin Anlass zur Unzufriedenheit. Was die Versorgung der Bevölkerung mit langlebigen Konsumgütern betraf, hatte die DDR Mitte der 80er Jahre fast den quantitativen Stand der Bundesrepublik an Pkws, Fernsehgeräten und Waschmaschinen erreicht. Allerdings bestanden lange Wartezeiten, Qualitätsmängel, ungenügende Reparaturmöglichkeiten. Wegen der extrem hohen Auslandsverschuldung kam es 1982 zu erheblichen Versorgungslücken. Die Ausreisewelle von 198443 kann als Indiz für die wachsende Unzufriedenheit betrachtet werden. bb) Einkommen In den ersten Nachkriegsjahren waren die Einkommensunterschiede zwischen den Werktätigen praktisch verschwunden und die Löhne und Gehälter der Leistungskraft der Unternehmen angepasst. Aber schon zwei Jahre nach Kriegsende forcierte die SMAD mit dem Befehl Nr. 234 vom 9. Oktober 194744 eine Entwicklung in die entgegengesetzte Richtung, an die Stelle der sogenannten „Gleichmacherei“ wurde ein leistungsfördernder Wettbewerb gesetzt.45 Dieser Befehl gehört zu den für die weitere sozioökonomische Entwicklung der DDR zentralen Dokumenten. Erhöhung der Produktivität und Festigung der Arbeitsdisziplin waren die vorrangigen Ziele der Anweisung. Einerseits sah der Befehl die Einführung von Stück- und Akkordlohn in großem Umfang und harte Sanktionen gegen „Bummelanten und Desorganisatoren der Arbeit“ vor. Andererseits sollte eine Reihe von sozialpolitischen Verbesserungen (Unfallschutz, UrHermann Weber, Die DDR 1945 – 1990 (wie Anm. 35), S. 86. Der Mindestlohn stieg von 350 M auf 400 M. 42 Dietrich Staritz, Geschichte der DDR 1949 – 1990 (wie Anm. 38), S. 230 f. 43 35.000 DDR-Bürger beantragten eine Ausreise in die Bundesrepublik, vgl. Hermann Weber, Die DDR 1945 – 1990 (wie Anm. 35), S. 105. 44 Er beinhaltete den Übergang vom Zeit- auf den Stücklohn, leistungsbezogenes Kantinenessen, die Staffelung der Urlaubsdauer nach der Schwere der Arbeit und „Maßnahmen zur Verhütung des Bummelantentums“. 45 Dietrich Staritz, Geschichte der DDR 1949 – 1990 (wie Anm. 38), S. 60. 40 41

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Kap. 4: Vorstellung der Variablen

laubsregelung, ärztliche Versorgung, Ernährung und Zuteilung von Konsumgütern) Anreize zu intensiverer Arbeit bieten. Infolge dieses Befehls setzte die SED seit 1948 / 49 eine zum Teil extreme Differenzierung der Verdienste durch. Neben der allgemeinen Leistungssteigerung sollten damit die unersetzlichen (meist bürgerlichen) Fachkräfte aus der Intelligenz gewonnen und gehalten werden.46 Der Produktivitätssteigerung diente auch die 1948 mittels des sächsischen Bergarbeiters Adolf Hennecke nach sowjetischem Vorbild initiierte Aktivistenbewegung. Deren Durchbruch gelang in großem Umfang erst, nachdem die starke Position der Betriebsräte ausgeschaltet und sie mit dem Beschluss der Bitterfelder Konferenz des FDGB im November 1948 formell in die Betriebsgewerkschaftsleitungen (BGL) überführt worden waren. Seit 1951 wurde der Wirtschaftsplan jährlich für den Einzelbetrieb aufgeschlüsselt und musste von der Belegschaft verabschiedet werden. Das durchschnittliche monatliche Arbeitseinkommen von Arbeitern und Angestellten in der Industrie stieg von 460 M im Jahr 1955 auf 655 M im Jahr 1965 an47. LPG-Bauern verdienten in diesem Zeitraum 10 – 15% mehr, am unteren Ende der Skala befanden sich die Rentner mit durchschnittlich 150 M Nettoeinkommen. Für Steuern und Beiträge zur Sozialversicherung mussten DDR-Arbeitnehmer allerdings nur 12% ihres Einkommens ausgeben, während diese Abgaben in der Bundesrepublik bis 1976 auf 26% gestiegen waren.48 Haushalte von Arbeitern und Angestellten mussten außerdem 1974 nur knapp 4% ihres Einkommens für Miete, Heizung, Strom und Wasser ausgeben.49 Dennoch blieben die (wenigen) Selbständigen die Spitzenverdiener. Die Berufstätigkeit der Frauen wurde in der DDR zwar schon aus Gründen der geringen Arbeitsproduktivität gefordert und gefördert, eine tatsächliche Gleichstellung bedeutete sie jedoch nicht. Vielmehr waren die allgemeinen Anschauungen über Rolle und Funktion der Frau in der Gesellschaft in der DDR noch konservativer als in der damaligen Bundesrepublik.50 Die Vergütung der Frauen lag bei vergleichbarer Qualifikation im Durchschnitt deutlich niedriger als die der Männer. Dietrich Staritz, Geschichte der DDR 1949 – 1990 (wie Anm. 38), S. 60 ff. Statistisches Amt der DDR (Hrsg.), Statistisches Jahrbuch der DDR 1974, S. 18. 48 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DDR-Handbuch, Band 1 (wie Anm. 24), S. 340 f. Zu den Problemen beim Vergleich von Einkommen und Lebensstandard in der DDR und der Bundesrepublik vgl. Peter von der Lippe, Die gesamtwirtschaftlichen Leistungen der DDR-Wirtschaft in den offiziellen Darstellungen. Die amtliche Statistik der DDR als Instrument der Agitation und Propaganda der SED, in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“, Bd. II / 3 (wie Anm. 30), S. 1973 – 2193, bes. S. 2058 ff. Kritische Anmerkungen und gegensätzliche Darstellungen zu den Angaben des DIW bei Gernot Schneider, Qualitatives Wachstum in der DDR-Volkswirtschaft?, in: DA 1985, S. 376 sowie ders., Wirtschaftswunder DDR, Anspruch und Realität, 2. Auflage, Köln 1990. 49 Statistisches Amt der DDR (Hrsg.), Statistisches Jahrbuch der DDR 1974, S. 312. 50 Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur (wie Anm. 17), S. 175. 46 47

B. Prozessparteien

173

In den unteren Lohngruppen der Industrie arbeiteten insgesamt 57% der weiblichen, aber nur 22% der männlichen Beschäftigten. In den oberen Lohngruppen waren hingegen 43% der Männer, aber nur 14% der Frauen tätig.51 Für das Jahr 1988:52 Tabelle 3 Berufskategorien

Bruttoeinkommen in Mark der DDR

Arbeiter / Angestellter im VEB

1.280

Arbeiter / Angestellter im Handel

1.168

Arbeiter / Angestellter im Verkehrswesen

1.436

Industrie / Bauwesen:

Meister

1.153

Produktionsarbeiter

1.418

Beschäftigter mit Hoch- / Fachschulabschluss

1.491

angelernte Angestellte Justiz

53

904

Richter (Kreisgericht)

1.330 – 1.700

Staatsanwalt (Kreisgericht)

1.330 – 1.700

Staatlicher Notar

1.230 – 1.550

Justizsekretär (Kreisgericht)

850 – 1.100

Justizprotokollantin (Kreisgericht)

750 – 970

Staatswirtschaft

ca. 1.280

Rechtsanwalt

ca. 2.500

Mitarbeiter beim MfS

ca. 1.650 – 2.800

Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur (wie Anm. 17), S. 175. Stefan Middendorf, Recht auf Arbeit in der DDR. Von den theoretischen Grundlagen bis zu den Berufsverboten für Ausreisewillige (= Berliner Juristische Universitätsschriften Zivilrecht, Bd. 31), Berlin 2000, S. 300 ff.; alle Angaben nach Statistisches Amt der DDR (Hrsg.), Statistisches Jahrbuch der DDR 1989, S. 129 und S. 286 sowie Klaus Schroeder, Der SED-Staat: Geschichte und Strukturen der DDR, München 1998, S. 538 f.; Stefan Gerber, Zur Ausbildung von Diplomjuristen an der Hochschule des MfS (Juristische Hochschule Potsdam) (= Berliner Juristische Universitätsschriften, Grundlagen des Rechts, Bd. 21), Berlin 2000, S. 299. 53 Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Im Namen des Volkes? Über die Justiz im Staat der SED, Katalog zur Ausstellung des BMJ, Leipzig 1994, Tafel 32: Richter und ihr soziales Umfeld, Tabelle der Einkünfte von Mitarbeitern der Justiz im Vergleich (Stand 1988), S. 153, hergestellt nach: Fischer, Bundesarchiv Potsdam, Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen. 51 52

174

Kap. 4: Vorstellung der Variablen

Die durchschnittlichen Einkommen sollten bei der Beurteilung des Streitwerts in Zivilprozessen berücksichtigt werden.

cc) Private Ausgaben Bei den Ausgaben für den Konsum muss differenziert werden.54 Während die DDR bis zum Ende der 70er Jahre Verteuerungen von Energie und Rohstoffen nicht auf die Verbrauchspreise umwälzte, sondern durch Subventionen auffing, wurde diese den Staatshaushalt beträchtlich belastende Preispolitik 1979 geändert. Hiernach sollten die Preise für Güter des Grundbedarfs zwar weiterhin konstant bleiben, demgegenüber aber Preise für Güter des gehobenen Bedarfs erhöht werden. Besonders stiegen nun die Preise für Produkte, die aus dem westlichen Wirtschaftsgebiet importiert werden mussten. Der private Verbrauch stieg von 55 Mrd. Mark (1960) auf 117 Mrd. Mark (1982) um mehr als das Doppelte.55 Der Großteil der privaten Ausgaben entfiel dabei auf Warenkäufe im Einzelhandel, die Abgaben für Leistungen (Mieten, Energieversorgung, Verkehrsleistungen, Reparaturen und Dienstleistungen im engeren Sinn) betrugen aufgrund der massiven staatlichen Subventionierung und aufgrund von Beschränkungen im Angebot nur 13% des verfügbaren Einkommens.56 Nahrungsmittel machten ein Drittel aller Warenkäufe, Industriewaren die Hälfte des privaten Konsums aus. Während die Bedeutung der Grundbedarfsgüter (z. B. Schuhe, Textilien, Bekleidung) stetig abnahm, wuchs der Anteil der nicht lebensnotwendigen Luxusgüter (v.a. langlebige Gebrauchsgüter wie Möbel, Haushalts-, Phono- und Fernsehgeräte, Kraftfahrzeuge) beträchtlich.57 Defizite in der Bedarfsdeckung wurden teilweise aber durch umfangreiche – allerdings kaum zu beziffernde – Improvisationen, Tauschgeschäfte, private Verkäufe und Leihverhältnisse zu kompensieren gesucht. Auch das private Sparen war demzufolge in der DDR weniger die freiwillige Rücklagenbildung als vielmehr ein durch das unzureichende Konsumgüterangebot – für Güter des gehobenen Bedarfs mussten oftmals mehrjährige Wartezeiten in Kauf genommen werden – entstandenes „Zwangssparen“. Da in der DDR im Wesentlichen nur zwei Arten des Sparens, nämlich Spargiro- und Buchsparen58 zu Vgl. Helmut Weiß, Verbraucherpreise in der DDR. Wie stabil waren sie?, Leipzig 1998. Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung DIW (Hrsg.), Handbuch DDR-Wirtschaft (wie Anm. 29), S. 282. 56 Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung DIW (Hrsg.), Handbuch DDR-Wirtschaft (wie Anm. 29), S. 282. 57 Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung DIW (Hrsg.), Handbuch DDR-Wirtschaft (wie Anm. 29), S. 284. 58 Vgl. Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung DIW (Hrsg.), Handbuch DDR-Wirtschaft (wie Anm. 29), S. 287. Die jährlichen Sparquoten schwankten in der DDR zwischen 3% und 7% (BRD 1982: 12%). Der Großteil der Ersparnisse entfällt mit 88% auf Spareinla54 55

B. Prozessparteien

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einem einheitlichen Zinssatz von 3,25% p.a. existierten und es dem Staat nicht gelang, deren Attraktivität zu steigern, war das „Sparstrumpfsparen“, die Bildung von Bargeldhorten, weit verbreitet. Lag die durchschnittliche, zu Hause aufbewahrte Geldmenge der Haushalte 1970 noch bei 1.300 Mark, so stieg sie bis 1982 auf 2.300 Mark an, bei einem monatlichen Einkommen von durchschnittlich 1.100 Mark.59 Kreditbeziehungen sind üblicherweise eine Quelle von Konflikten. Je höher das Kreditvolumen wird, desto eher entstehen Konflikte oder gar Prozesse zwischen den Beteiligten. In der DDR sollten Konflikte durch Bargeschäfte soweit wie möglich vermieden werden. Aufgrund der kaum verbreiteten Kreditvergabepraxis in der DDR hatten Haushaltsausgaben für private Schuldendienste nur sehr geringe Bedeutung. Lediglich die Einräumung von Teilzahlungsmöglichkeiten in den 60er Jahren stellte in diesem Bereich eine Ausnahme dar. Das niedrige Schuldenniveau beruhte teilweise auch auf einer Abnahme der Immobiliengeschäfte, so dass auch hier kaum Prozesse drohten. Der private Erwerb von Grundstücken und Gebäuden war möglich, erforderte aber behördliche Genehmigung. Aufgrund der beschriebenen Schwierigkeiten beim privaten Wohnungsbau wurden solche Vorhaben meist nur in bescheidenem Umfang realisiert. Außerdem war es nicht erforderlich, das betreffende Grundstück zu erwerben, um Eigentum an Gebäuden darauf zu haben, was den Finanzierungsbedarf senkte.

b) Sozialstruktur im Arbeiterstaat Eine präzise Erfassung der sozialen Schichtung hat es in der Sozialforschung der DDR nicht gegeben.60 Deshalb wurde hier die internationale Berufsprestigeskala (SIOPS) mit geringfügigen Abänderungen verwendet.61 gen (Spargiro und Buchsparen) bei Kreditinstituten. Weiterhin verbreitet waren Versicherungssparen und Wertpapiersparen (Hypothekenpfandbriefe und Wohnungsobligationen). Das Bausparen war bereits 1971 abgeschafft worden, womit die Ersparnis in der DDR insgesamt fast ausschließlich zur Bildung von Geldvermögen führte. 59 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DDR-Handbuch, Band 1 (wie Anm. 24), S. 507. 60 Dies resultierte einfach aus den Beschränkungen, denen die Soziologie als Wissenschaft in der DDR unterlag und die Themen aus dem Bereich der sozialen Ungleichheitsforschung von vornherein verboten; vgl. Manfred Lötsch, Stand und Perspektiven der DDR-Soziologie. Thesen, in: DA 1990, S. 553 ff. Neuere Ansätze: Michael Vester / Michael Hofmann / Irene Zierke (Hrsg.): Gesellschaftliche Strukturen zwischen Zerfall und Neubildung, Köln 1995. Für die Bundesrepublik vgl. die Untersuchung von Rolf Bender / Rolf Schumacher, Erfolgsbarrieren vor Gericht. Eine empirische Untersuchung zur Chancengleichheit im Zivilprozeß des Instituts für Rechtstatsachenforschung Stuttgart e.V., Tübingen 1980. 61 Zur genaueren Erläuterung siehe Thomas Kilian, Einführung in eine „Geheimwissenschaft“ – Ein Blick hinter die Kulissen der empirischen Sozialforschung im Projekt „Zivilrechtskultur der DDR“, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. II (wie Anm. 20 ), S. 195 – 251, hier insb. S. 239 f.

176

Kap. 4: Vorstellung der Variablen

Das Selbstverständnis der DDR als Arbeiterstaat zeigte sich auch in der Verteilung des gesellschaftlichen Ansehens. Während in der Bundesrepublik Büroarbeit relativ angesehen ist, erreichten in der DDR einige wenig anspruchsvolle Bürotätigkeiten wie z. B. die des Buchhalters schlechtere Werte als im Westen. Dort gehört der Buchhalter eindeutig zur unteren Mittelschicht, in der DDR nur zur oberen Unterschicht. Obwohl das Einkommen relativ wenig über das soziale Ansehen aussagt, stimmt diese Abwertung der einfachen Bürotätigkeit mit ihrer in der DDR im Vergleich zu den Arbeitern geringen Bezahlung überein. Während die Arbeiter also durch das sozialistische Selbstverständnis eine, wenn auch geringe, Aufwertung erfuhren, sind die Werte für landwirtschaftlich Tätige mit denen im Westen zu vergleichen. Aus der Untersuchung der für das Projekt bearbeiteten Akten ergab sich folgende Kodifizierung der sozialen Schichtung: a) Oberschicht (Präsident des Obersten Gerichts, Diplomaten, Universitätsprofessoren, Arbeitsleiter in der Akademie der Wissenschaften), b) Obere Mittelschicht (Ärzte, Werkleiter, Oberschuldirektoren, Architekten, Mitglieder des Rates des Bezirkes), c) Mittlere Mittelschicht (Majore, Elektroingenieure, Amtsrichter, Abteilungsleiter, Lehrer, Bauunternehmer, selbständige Großhandelskaufleute, Selbständige mit 5 bis 20 Angestellten), d) Untere Mittelschicht / nichtindustriell (Schalterbeamte einer Bank, Malermeister, LPG-Vorsitzende, größere selbständige Bauern, Gastwirte, Laboranten, Verwaltungsangestellte),62 e) Untere Mittelschicht / industriell (Werkstattleiter, Montageführer, Obersteiger, Schlossermeister, Werkmeister, Maschinenmeister, Industriemeister), f) Obere Unterschicht / nichtindustriell (Kellner, Schalterbeamte, Genossenschaftsbauern, kleinere selbständige Bauern, Kraftfahrer, Köche, Friseure, Buchhalter, Krankenschwestern), g) Obere Unterschicht / industriell (Elektroschweißer, Eisengießer, Stanzer, Industrieschlosser, Dreher, Elektromonteur, Vorarbeiter, Maschinenerste, Arbeiter in der Elektroindustrie), h) Untere Unterschicht (Straßenbauarbeiter, Lagerarbeiter, Zementmischer, Eisenbahnbauarbeiter, Landarbeiter, Holzfäller, Textilarbeiter, Fließbandarbeiter, Ladenhilfen), 62 Kirchenmitarbeiter waren in der DDR nach den vorliegenden Erkenntnissen quasi „Marginalisierte“, d. h. sie standen in gewissem Sinne außerhalb der Gesellschaft. Sie lassen sich daher nur schlecht einordnen, weil ihr Lebensstil und ihr Selbstverständnis nicht mit ihren niedrigen Prestigewerten übereingestimmt haben dürften. Für die hiesige Fragestellung ist aber das Prestige wichtiger als Lebensstil und Einstellungen. Daher haben wir sie wie folgt zugeordnet: Bischöfe zur Unteren Mittelschicht / nichtindustriell, Pfarrer zur Oberen Unterschicht / nichtindustriell und Küster zur Unteren Unterschicht.

B. Prozessparteien

177

i) Sozial Verachtete (Zeitungsausträger, Parkwächter, Straßenkehrer, Hilfsarbeiter, Erntehelfer, Toilettenpersonal, aber auch Prostituierte, Obdachlose und „Arbeitsverweigerer“). Parallel wurden die beteiligten Bürger noch nach ihrer Klassenzugehörigkeit erfasst. Hierbei wurde natürlich nicht von der offiziellen marxistischen Zwei-Klassen-Einteilung in eine Arbeiter- und eine Bauernklasse ausgegangen, sondern von einer differenzierteren, von ökonomischen Gesellschaftsmodellen ausgehenden Sozialstruktur.63 Hiermit sollten Aussagen über eventuell vorhandene Zugangsund Erfolgsbarrieren vor dem Zivilgericht der DDR ermöglicht werden, um die Hypothesen von Bender / Schumacher auch für die DDR prüfen zu können.64 Es ergab sich folgende Einteilung: a) Partei- und Staatsbedienstete (Funktionäre der Partei und der Massenorganisationen wie der Gewerkschaften, Beschäftigte der staatlichen Ordnungs- und Sicherheitskräfte, der staatlichen und kommunalen Verwaltung, Beschäftigte der Justiz), b) Angestellte (Sachbearbeiter in der Verwaltung), c) Bauern (in der Landwirtschaft tätige Personen, sowohl Selbständige als auch in LPGen Beschäftigte), d) Arbeiter (manuell Tätige vom Ungelernten bis zum Meister / Brigadeleiter, rangniedriges Personal im Dienstleistungs-, Verwaltungs- und Gesundheitsbereich)65, e) Intellektuelle / Kopfarbeiter (Lehrkräfte, Beschäftigte in Wissenschaft und Forschung, Studenten, alle Arten von Autoren, alle sonstigen Arten von Künstlern inkl. Architekten), f) Freiberufler / Selbständige (alle, die ein Geschäft haben oder freiberuflich tätig sind unabhängig von ihrer Ausbildung, auch Besitzer von Mehrfamilienhäusern, die einen beträchtlichen Teil ihres Einkommens aus der Vermietung ihrer Immobilie ziehen), g) Sonstige (Kirchenbedienstete, Hausfrauen, leitende Angestellte von Privatbetrieben, Heim- und Gefängnisinsassen, sog. „Asoziale“).

63 Übernommen wurde die Klasseneinteilung von Heike Solga, Auf dem Weg in eine klassenlose Gesellschaft? (wie Anm. 2). 64 Nach einer ihrer Hypothesen sind Parteien aus der Unterschicht im Zivilprozess benachteiligt. Vgl. hierzu die Ausführungen von Thomas Kilian, Einführung in eine „Geheimwissenschaft“ – Ein Blick hinter die Kulissen der empirischen Sozialforschung im Projekt „Zivilrechtskultur der DDR“, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. II (wie Anm. 20), S. 195 – 251, ab S. 238. 65 Es handelt sich hier um einen erweiterten Arbeiterbegriff, wie er dem Selbstverständnis der DDR entsprach.

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Kap. 4: Vorstellung der Variablen

3. Privatbetriebe Als Privatbetriebe wurden alle Parteien erfasst, die im Zusammenhang mit ihrem ausgeübten Geschäft vor Gericht kamen und nicht der volkseigenen Wirtschaft zuzurechnen waren. Auch die freien Berufe fallen daher in diese Gruppe. Betriebe mit anteilsmäßiger Beteiligung von Volkseigentum sind in den untersuchten Prozessen nicht als Kläger hervorgetreten.

II. Anwaltliche Vertretung und Rechtsauskunftsstelle Die Parteien im Zivilprozess der DDR ließen sich nicht nur durch Rechtsanwälte, sondern auch durch Nichtrechtsanwälte oder Rechtsbeistände vertreten. In jedem Fall wurde bei der Kodierung beachtet, ob der Rechtsvertreter seinen Sitz der Bundesrepublik (zumeist West-Berlin) oder in der DDR (zumeist Ost-Berlin) hatte.66 Außerdem konnte angegeben werden, wenn der Anwalt eine Untervollmacht an einen Nichtrechtsanwalt für die Vertretung seines Mandanten erteilt hatte. Vermerkt wurde natürlich auch, wenn Kläger und / oder Verklagter keine Vertretung hatten und ob sie die Rechtsauskunftsstelle aufgesucht hatten. Der genaue Anfangszeitpunkt bzw. die Dauer der Tätigkeit des Vertreters konnte leider nicht kodiert werden.

1. Vertretung durch Rechtsanwälte Nach dem Zweiten Weltkrieg erloschen in Berlin zunächst die Zulassungen aller Anwälte.67 Voraussetzung für eine Neuzulassung war seit der Verordnung über die Zulassung von Rechtsanwälten und Notaren von 1953 ein „vorbehaltloses“ Einsetzen „für die Ziele der DDR und des Magistrats von Groß-Berlin“68 sowie ein Wohn- und Geschäftssitz im Ostsektor. Außerdem sollte eine „qualifizierte Prü66 Auch nach der Spaltung der Justiz im Jahr 1949 konnten Rechtsanwälte noch in beiden Teilen Berlins auftreten. Erst mit der Angleichungsverordnung von 1952 war dies nicht mehr möglich. Es bedurfte von nun an einer besonderen Zulassung, die nur vier Anwälte besaßen. Diese waren (staatlich genehmigt) nach West-Berlin verzogen und durften weiterhin in OstBerlin auftreten; siehe VO zur Angleichung der Verfahrensvorschriften auf dem Gebiet des Zivilrechts an die VO über die Verfassung der Gerichte von Groß-Berlin vom 21. 11. 1952, VO-Blatt I für Groß-Berlin, S. 538. 67 Georg Brühl / Hans-Henning Bruhn, Die Rechtsanwaltschaft in der DDR – Stellung und Aufgaben, Köln 1972, S. 28; zur Rechtsanwaltschaft vgl. auch Thomas Lorenz, Die Rechtsanwaltschaft in der DDR (= Schriftenreihe Justizforschung und Rechtssoziologie, Bd. 2), Berlin 1998; Torsten Reich, Die Kassation in Zivilsachen. Maßnahmeakt oder Rechtsinstitut?, in: forum historiae iuris (fhi), http: // www.forhistiur.de / zitat / 9711reich.htm, Artikel vom 24. November 1997. 68 VO-Blatt I für Groß-Berlin, 1953, S. 134.

B. Prozessparteien

179

fung“ abgelegt werden. Damit sollte der Anteil an Arbeitern in den zu gründenden Kollegien erhöht werden, „diejenigen, die [die Prüfung] nicht bestehen, sollen beseitigt werden“.69 Abgesehen von dem Beschluss über die Zulassung von Rechtsanwälten vor dem Obersten Gericht der DDR vom 13. Februar 195070 und der VO über die Bildung von Rechtsanwaltskollegien vom 15. Mai 195371, die nur Teilaspekte der Stellung und Funktion der DDR-Rechtsanwaltschaft normierten, wurde ein „echtes“ Rechtsanwaltsgesetz (RAG) erst 198072 erlassen. Die bis dahin (formal) noch geltende Rechtsanwaltsordnung vom 1. Juli 1878 trat damit außer Kraft. Die Kollegiumsbildung wurde am 15. Mai 1953 staatlich verordnet, da kein „freiwilliger Zusammenschluss politisch-motivierter Anwälte“ stattgefunden hatte.73 Die Entwicklung der Rechtsanwaltskollegien wurde durch die Bezirksjustizverwaltungsstellen gesteuert, die die Überprüfung der Zulassungsbedingungen aller Rechtsanwälte, juristischen Mitarbeiter, Rechtsbeistände und Mitarbeiter der Justiz zur Aufgabe hatten. Das Ministerium der Justiz und die SED-Gremien bemühten sich besonders intensiv um die Bildung der Rechtsanwaltskollegien, die eine „sozialistische Rechtsanwaltschaft“ schaffen sollten und das fachliche und ideologische Niveau der mehrheitlich als nicht fortschrittlich genug angesehenen Mitglieder heben sollten.74 Die Mehrheit der Rechtsanwälte blieb aber gegen die Gründung solcher Kollegien, obwohl die Kollegiumsmitglieder sehr bevorzugt wurden.75 Eine gewisse Erleichterung für die Anwälte in der DDR bedeutete der Rechtspflegeerlass der Volkskammer vom 4. April 1963. Von nun an galt die Rechtsanwaltschaft als „gesellschaftliche Einrichtung der sozialistischen Rechtspflege“,76 die der Aufsicht des Justizministeriums unterstellt war. 69 BA-Außenstelle Potsdam, DP 1 VA 524, Regierung der DDR an die Leiter der Justizverwaltungsstellen, 26. 01. 1953. 70 MinBl. 1950 Nr. 10, S. 43. 71 GBl. 1953 Nr. 66, S. 725. 72 Gesetz über die Kollegien der Rechtsanwälte der DDR vom 17. 12. 1980, GBl. I 1981, S. 1. Auch die Stellung der noch verbliebenen Einzelanwälte wurde gesetzlich geregelt, vgl. Anordnung über die Aufgaben und die Tätigkeit der Einzelanwälte vom 18. 12. 1980, GBl. I 1981, S. 10. 73 Thomas Lorenz, Die Rechtsanwaltschaft in der DDR (wie Anm. 67 ), S. 127. 74 Vgl. Jahresbericht des Ministeriums der Justiz für 1952, BA DP 1 / 258 / 275 – 277. 75 Das durchschnittliche Nettoeinkommen von Kollegiumsmitgliedern wurde steuerlich begünstigt und erhöhte sich dadurch fast um das Doppelte. Außerdem durften nur Kollegiumsanwälte beigeordnete Rechtsanwälte im Zivilprozess sein und erhielten Einblick in interne und vertrauliche Materialien der Gerichte; vgl. Bericht über die finanzielle Entwicklung des Rechtsanwaltskollegiums von Juni bis Nov. 1953, BA DP-1 / 680 / 481; zitiert bei Thomas Lorenz, Die Rechtsanwaltschaft in der DDR (wie Anm. 67), S. 141 f., BA DP 1 VA 3674, Bl. 25. Zur Sichtweise eines Rechtsanwalts in der DDR, der dem Schweriner Kollegium angehörte Dietrich Schümann, Anpassung als Selbsterhaltung, in: Tillmann Krach (Hrsg.), Anwaltsalltag in der DDR, Münster 2005, S. 22 – 32. 76 GBl. I 1963, Erster Abschnitt, Teil I: Rechtspflegeerlass.

180

Kap. 4: Vorstellung der Variablen

Zur Zeit des Inkrafttretens des RAG und seiner Nachfolgeregelungen waren in den 15 Kollegien mit ihren 341 Zweigstellen 523 Rechtsanwälte organisiert, die ein Durchschnittsalter von 47,4 Jahren hatten. Die Zahl der Einzelanwälte betrug 34, die der Rechtsbeistände 18. Damit war die DDR der europäische Staat des Realsozialismus, der die geringste Anzahl von Rechtsanwälten im Verhältnis zur Bevölkerungszahl hatte. Besonders groß war der Unterschied zur Sowjetunion; dort kam ein Rechtsanwalt auf 13.700 Einwohner, in der DDR dagegen ein Rechtsanwalt auf 30.000 Einwohner.77 Gründe für diese niedrigen Zahlen liegen einerseits in den Besonderheiten der Gesellschaftsstruktur der DDR: die Prozessrate war sehr niedrig, das Zivilrecht war spätestens seit der Einführung des Zivilgesetzbuches der DDR (ZGB) 1976 auch für Laien verständlich und man konnte sich an kostenlose Rechtsauskünfte und gesellschaftliche Gerichte wenden, um Probleme zu klären. Firmen bzw. Betriebe konsultierten im Allgemeinen keine Anwälte, da sie eigene Justitiare beschäftigten.78 Andererseits wurde von staatlicher Seite stets dafür gesorgt, dass die Zahlen zugelassener Anwälte niedrig blieben, da der Anwalt als überkommene Institution des bürgerlichen Rechtssystems im Sozialismus eigentlich keinen Platz haben durfte. Neben den Einschränkungen der Arbeitsmöglichkeiten, u. a. durch das Vertretungsverbot in Strafverfahren vor Konfliktkommissionen79 und die vollständige Aufhebung des Anwaltszwanges wurden die erwähnten Anwaltskollegien geschaffen, die verstärkt kontrolliert und angeleitet wurden. Sowohl Kollegiums- als auch Einzelanwälte wurden durch den Minister der Justiz zugelassen, angeleitet und beaufsichtigt. Beschlüsse der Kollegien konnte der Minister aufheben, Zulassungen konnte er entziehen. 2. Vertretung durch Rechtsbeistände Im engeren Sinne ist der Rechtsbeistand eine Person, die eine besondere behördliche Erlaubnis zur geschäftsmäßigen Rechtsberatung hat, ohne dass sie als Rechtsanwalt, Prozessagent oder dergleichen zugelassen ist. Im weiteren Sinne bezeichnet es jedermann, der Rechtsunkundigen in Rechtssachen Rat und Hilfe leistet, z. B. Rechtsanwälte, Prozessagenten, sonstige Verteidiger und Prozessvertreter oder Justitiare. 77 Marcus Mollnau, Gründe und Hintergründe des DDR-Rechtsanwaltsgesetzes, in: forum historiae iuris (fhi), http: / / www.forhistiur.de / zitat / 9709mollnau.htm, Artikel vom 1. September 1997. 78 Vgl. Torsten Reich, Die Entwicklung der Rechtsanwaltschaft in der DDR, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (= Zeitgeschichtliche Forschungen, Bd. 2 / 1), Berlin 1999, S. 315 – 366. 79 Dies ergibt sich aus § 18 Abs. VI des Gesetzes über die gesellschaftlichen Gerichte von 1982, GBl. I Nr. 13, S. 269, wonach der Bürger sich nur im Vorfeld anwaltlich beraten lassen durfte.

C. Prozessablauf und -dauer

181

Im § 90 der ZPO sowohl der BRD als auch der DDR bis 1976 lautet der erste Absatz: „(1) Insoweit eine Vertretung durch Anwälte nicht geboten ist, kann eine Partei mit jeder prozessfähigen Person als Beistand erscheinen.“

Der Rechtsbeistand besitzt zwar Rechtskenntnisse, erfüllt aber nicht die Zulassungsbedingungen, um als Rechtsanwalt arbeiten zu dürfen. Seine juristischen Kompetenzen lassen es dennoch zu, dass er seinen Mandanten vor Gericht vertreten darf (§ 90 Abs. 2 ZPO). Rechtsbeistände traten in den untersuchten Prozessen insgesamt recht selten auf, so dass von einer gesonderten Betrachtung abgesehen wurde.

C. Prozessablauf und -dauer In der Bundesrepublik waren viele Untersuchungen des Zivilprozesses in den siebziger Jahren – neben der Untersuchung der Chancengleichheit der Parteien – darauf ausgerichtet, das Verfahren schneller und effektiver zu machen. Dazu musste man zunächst feststellen, wie lange die Prozesse dauerten und welche Faktoren dies beeinflussten. In statistischen Erhebungen spielte die Dauer der Prozesse also eine wichtige Rolle. Auch die Statistiker der DDR untersuchten die Dauer der Prozesse, mit den gleichen Zielen wie ihre Kollegen in der Bundesrepublik. Wenn im Rahmen der vorliegenden Arbeit Daten über die Dauer der Prozesse, die Zahl der Schriftsätze und die Anwesenheit der Parteien im Verfahren erhoben wurden, so geschah dies freilich nicht, um Möglichkeiten zur Prozessbeschleunigung ausfindig zu machen. Die Dauer wurde vielmehr als ein wichtiger Indikator für die Komplexität des Streitgegenstandes und die Hartnäckigkeit der Parteien gewertet und deshalb gleich mit drei Variablen erhoben. Das Einreichen von Schriftstücken dürfte aktive Parteien indizieren, die an einer für sie vorteilhaften Lösung des Streits bzw. der Wahrung ihrer Rechte interessiert sind. Damit deutet es indirekt auch komplexere Konflikte an. Eine geringere Anzahl an eingereichten Schriftstücken könnte allerdings auch ein Beleg für eine größere Bedeutung der Mündlichkeit im DDR-Zivilprozess sein80 oder gar eine nachlässig geführte, vielfach verschleppte Verhandlung mit vielen Nachträgen oder neuen Terminwünschen der Parteien. Ebenso sollte das Erscheinen der Parteien zur Verhandlung darauf hinweisen, mit welchem Ernst sie den Prozess verfolgten und aktiv daran teilnahmen. Gerade 80 Das Prinzip der Mündlichkeit als Verfahrensgrundsatz der neuen ZPO besagte, dass in der Regel jeder Streitfall mit den Parteien mündlich zu erörtern sei.

182

Kap. 4: Vorstellung der Variablen

bei den zahlreichen Inkassoverfahren der Wohnungs- und Versorgungsunternehmen, bei denen die Verklagten regelmäßig nicht erschienen, deutet deren Abwesenheit an, wie gleichgültig sie der gerichtlichen Geltendmachung der (berechtigten) Forderungen gegenüberstanden und welch geringen Eindruck diese auf sie noch machen konnte. Das sollte natürlich nicht darüber hinweg täuschen, dass vielfach Parteien deshalb nicht erschienen waren, weil sie den Termin zu spät mitgeteilt bekommen hatten oder ihn nicht wahrnehmen konnten. Es wurden folgende Variablen erhoben: – die Dauer des Verfahrens vom Eingang der Klage bis zum ersten Verhandlungstermin in Tagen, – die Dauer des Verfahrens bis zum Erlass des Urteils in Tagen, – der Grund für eine Dauer von mehr als drei Monaten (wegen Beiziehung von Gutachtern, Zustellung an ausländische Prozessparteien oder aus sonstigen Gründen) – die Zahl der für das Verfahren benötigten Termine,81 – die Zahl der Schriftsätze des Klägers und der des Verklagten, und – die Anwesenheit von Kläger und / oder Verklagtem im Termin.

I. Beweise Mit der alten ZPO blieben die fünf herkömmlichen Mittel des Strengbeweisverfahrens zunächst erhalten: dabei handelte es sich um die Beweismittel Urkunden, Augenscheinnahme (entspricht Ortsbesichtigung), Zeugenaussagen, Sachverständigengutachten und Parteivernehmung (§§ 355 – 477 ZPO).82 In der neuen ZPO vom 19. 6. 1975 (in Kraft getreten am 1. 1. 1976) regelte § 53 die Beweismittel: Die Augenscheinnahme war in der Aufzählung nicht mehr enthalten; dafür waren jetzt auch „Aussagen von Beauftragten von Kollektiven der Werktätigen und gesellschaftlichen Organisationen, soweit sie die Mitteilung von Tatsachen zum Inhalt haben“ und „Auskünfte von staatlichen Organen, Betrieben oder gesellschaftlichen Organisationen“ als Untergruppe des Zeugenbeweises zulässige Beweismittel. Beim Aktenstudium fiel auf, dass ein mit der Zeit zunehmender Anteil der Gutachten von zentralen Stellen, insbesondere dem Amt für Standardisierung, Mess81 Dabei wurden Verhandlungs- und Verkündungstermine zusammengefasst und auch verlegte oder nicht durchgeführte Termine mit erfasst. 82 Zu den Änderungen aufgrund der Novelle 1933 vgl. Ben Balkowski, Der Zivilprozeß in der DDR 1945 bis 1975 zwischen bürgerlicher Rechtstradition und Sozialismus (= Studien zur Rechtswissenschaft, Bd. 59), Hamburg 2000, S. 41 f.

C. Prozessablauf und -dauer

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wesen und Warenprüfung, angefertigt wurde. Das Gutachtenvergabeverfahren und die weitere Abwicklung zwischen Gericht und Gutachter konnten so vereinfacht und beschleunigt werden. Die wesentlichste Modifikation des Beweisrechts unter den Bedingungen des sozialistischen Zivilrechts resultierte aus der Orientierung der Rechtsprechung an der objektiven Wahrheit. Die Beweislastregeln wurden aufgeweicht, um „rein formale“ Entscheidungen zu verhindern. Dies ging so weit, dass ein Beweis vom Gericht auch nach der Rücknahme des Beweisantrages durch die Partei erhoben werden konnte und teilweise auch werden sollte.83 Mit insgesamt vier Variablen wurde im Rahmen dieses Projekt erfasst, ob eine Beweiserhebung im Prozess vorgenommen wurde und ob es sich um Zeugenvernehmung, Sachverständigengutachten oder sonstige Beweise (hierunter wurden Dokumente, Rechnungen u.ä. eingeordnet) handelte. Nicht erfasst wurde, wer die Beweise vorgelegt hatte und ob dies erst auf Ersuchen des Gerichts geschehen war.

II. Mahnverfahren Als vereinfachtes Verfahren zur Verwirklichung fälliger unstreitiger Zahlungsansprüche sah das Zivilprozessrecht der DDR das Mahnverfahren vor. Mit der ZPO von 1877 hatte die Rechtsordnung der DDR das in den §§ 688 ff. ZPO geregelte Verfahren übernommen und auch nach der ZPO-Reform von 1975 beibehalten.84 Nach §§ 14, 15 der neuen ZPO von 1975 hieß das Verfahren dann „gerichtliche Zahlungsaufforderung“. Die Anwendung war jedoch in der Praxis eingeschränkt. Weil der Vollstreckungsbefehl keiner Klauselerteilung bedurfte, war eine Vollstreckung ohne Kenntnis der für die Klauselerteilung zuständigen Ministerien grundsätzlich möglich.85 Neben der Angabe von Grund und Höhe des geltend gemachten Zahlungsanspruchs wurde verlangt, dass der Gläubiger den Schuldner vor Einreichung des Antrages zur Zahlung aufgefordert hatte und dem Gericht glaubhaft machen konnte, dass der Schuldner keine Einwendungen erhoben hatte.86 Diese Glaubhaftmachung ging über die bisherige Schlüssigkeitsprüfung des Anspruchs durch den Sekretär des Gerichts hinaus. An dieser hatte die DDR im Gegensatz zur 83 Mit Bezug auf die Rechtsprechung des Obersten Gerichts: Ben Balkowski, ebenda, ab S. 363 ff. 84 Allerdings wurde nun die Bezeichnung „Gerichtliche Zahlungsaufforderung“ statt „Zahlungsbefehl“ verwendet. 85 In Einzelfällen hatten Gläubiger tatsächlich mit erwirkten Vollstreckungsbefehlen eine Vollstreckung gegen volkseigene und SAG-Betriebe versucht, BA DP 1 VA 771, unpaginiert. 86 In der neuen ZPO wurde dies in § 14 Abs. 1 S. 3 als Voraussetzung festgelegt.

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Kap. 4: Vorstellung der Variablen

Bundesrepublik87 ohnehin festgehalten. Zwar nahm der Sekretär keine Prüfung der Richtigkeit der angeführten Gründe vor, er hatte aber an die Glaubhaftmachung strenge Anforderungen zu stellen und diese gewissenhaft zu prüfen.88 Hierin mag einer der Gründe liegen, weshalb unter den Mahnverfahren, die die Zahl der Klagen zeitweise um das 3 bis 4fache übertrafen,89 kaum Klagen von Bürgern zu finden waren. Ein weiterer Grund für die geringe Zahl der von Bürgern eingereichten Anträge auf Erlass einer gerichtlichen Zahlungsaufforderung könnte in ihrem geringen Bekanntheitsgrad gelegen haben. Zwar sollten die Gerichte Antragsformulare bereithalten.90 Außerhalb der Justiz war die Möglichkeit des Mahnverfahrens aber bis Mitte der 80er Jahre weitgehend unbekannt.91 Und dies, obwohl die Verfahrenskosten mit 5,– Mark (§ 165 ZPO 1975) unabhängig vom Streitwert in jedem Fall günstiger waren als die Kosten eines Gerichtsverfahrens, die 5% des Streitwertes, mindestens jedoch 10 Mark betrugen.

D. Prozessbeendigung I. Erledigungsart In unserer Untersuchung wurde, wiederum in Anlehnung an die EDV-Statistik des Ministeriums der Justiz, zwischen zehn Erledigungsarten unterschieden. – Der Prozess konnte zunächst mit einem Sachurteil92 oder einem Versäumnisurteil bei Nichterscheinen des Verklagten93 beendet werden. 87 Zur eingeschränkten Schlüssigkeitsprüfung beim Mahnverfahren vgl. das Gesetz zur Vereinfachung und Beschleunigung gerichtlicher Verfahren vom 3. 12. 1976, BGBl. I 1976, S. 3281. 88 Horst Kellner (Leiter des Autorenkollektivs), Zivilprozeßrecht – Lehrbuch, Berlin (Ost) 1980, S. 187, 189. 89 Horst Kellner (Leiter des Autorenkollektivs), Zivilprozeßrecht (wie Anm. 88), S. 182. 90 Beispiel in Horst Kellner (Leiter des Autorenkollektivs), Zivilprozeßrecht (wie Anm. 88), S. 188. 91 Aussage einer Sekretärin am Kreisgericht Leipzig und Stadtgericht Berlin. Auch die NJ enthielt zu diesem Thema (zumindest seit 1963) keine Beiträge. 92 Urteil / Sachurteil (§§ 77 ff. ZPO): Entscheidung zur streitigen Sache auf der Grundlage des festgestellten Sachverhalts und der gestellten Anträge. Ist streitig, ob Gründe vorliegen, die eine Entscheidung zur Sache ausschließen (§ 31 ZPO), kann darüber durch Beschluss vorab entschieden werden. 93 Urteil (bis 1975: Versäumnisurteil) bei Nichterscheinen des Verklagten (§ 67 ZPO): Voraussetzungen waren unentschuldigtes Fehlen und Nichtvertretung des Verklagten, fristgemäße Zustellung von Ladung und Klage an ihn und dass Sachverhalt geklärt und festgestellt werden konnte. In diesem Fall durfte das Gericht die Verhandlung durchführen und entscheiden, Ausnahmen galten für verklagte staatliche Organe.

D. Prozessbeendigung

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– Die Parteien konnten sich auch durch einen Vergleich (bis 1975) bzw. eine Einigung auf einen Kompromiss verständigen (§§ 45 – 47 ZPO). Das Gericht war grundsätzlich verpflichtet, in der mündlichen Verhandlung zu prüfen, ob der Rechtsstreit durch eine Einigung beigelegt werden konnte und es hatte dabei die Prozessparteien zu unterstützen.

Einigungen mussten protokolliert werden und waren innerhalb von 2 Wochen widerrufbar. Wurde die Protokollierung einer Einigung abgelehnt, weil sie den Grundsätzen des sozialistischen Rechts widersprach, oder wurde einer protokollierten Einigung fristgemäß widersprochen, wurde das Verfahren fortgesetzt. Weiterhin konnte der Richter auch außerhalb eines anhängigen Verfahrens die rechtssuchenden Bürger darin unterstützen, ihren Zivilrechtskonflikt durch eine Einigung beizulegen und diese Einigung durch Protokollierung bestätigen. DDRspezifisch ist, dass gerichtliche Einigungen auch bei einem 100%igen Erfolg einer Partei zustande kommen konnten. Da im sozialistischen Staat Interessenkonflikte eigentlich nicht vorkommen durften, weil die persönlichen Interessen der Bürger mit den gesellschaftlichen Erfordernissen übereinstimmen müssten, war die DDR-Rechtsprechung auf den Abschluss von Vergleichen fixiert. Die überwiegende Zahl der Konflikte sollte damit enden, dass die im Unrecht befindliche Konfliktpartei durch Überzeugungsarbeit zur Einsicht gelangte.94 Die auf diesem Weg erreichten Einigungen wurden nicht als Entscheidung des Gerichts, sondern als selbständige Vereinbarung der Parteien untereinander angesehen.95 Von den Richtern wurde daher verlangt, möglichst wenige Urteile zu fällen, was mitunter zu nahezu erzwungenen Einigungen führte, die von den Parteien gar nicht gewollt waren.96 – Auch die Klagerücknahme (§ 30 ZPO) war eine Möglichkeit, das Verfahren zu beenden. Der Kläger konnte bis zum Eintritt der Rechtskraft des Urteils die Klage zurücknehmen. Erfolgte die Rücknahme der Klage vor ihrer Zustellung an den Verklagten, verfügte der Vorsitzende die Einstellung des Verfahrens. Der Verklagte konnte innerhalb von 2 Wochen nach Zustellung der Rücknahmeerklärung die Fortsetzung des Verfahrens beantragen. Geschah dies nicht, verfügte der Vorsitzende die Einstellung des Verfahrens. Nach Erlass des Urteils war die Klagerücknahme nur wirksam, wenn der Verklagte der Rücknahme zustimmte. Auch die Klagerücknahme zeigte eine „selbständige Konfliktlösung“ an und war daher erwünscht. 94 Zur materialistischen Rechtstheorie vgl. Ulf Dahlmann, Konflikte in der DDR-Zivilrechtstheorie, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 78), S. 449 – 478. 95 Vgl. Horst Kellner / Joachim Göhring / Herbert Kietz (Leiter des Autorenkollektivs), Zivilprozeßrecht: Grundriss, 1. Auflage, Berlin (Ost) 1977, S. 46, 131 f. 96 Vielfältige Beispiele für solche Fälle: Ulrich Löffler, Eingaben im Bereich des Zivilrechts, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 78), S. 213 – 244, insbesondere S. 234 ff.

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Kap. 4: Vorstellung der Variablen

– Außerdem konnte das Gericht die Klage durch Beschluss für offensichtlich unbegründet97 oder unzulässig98 erklären und abweisen, die Klage an andere Gerichte verweisen99 oder das Verfahren einstellen, falls der Kläger oder beide Prozessparteien oder deren Vertretungen nicht zum Verhandlungstermin erschienen. Nach § 66 der ZPO von 1975 konnte diese Einstellungsverfügung aufgehoben werden, wenn der Kläger innerhalb von zwei Wochen nach ihrer Zustellung die Fortsetzung des Verfahrens beantragte. Voraussetzung für eine Einstellung bei nicht erschienenem Kläger war die ordnungsgemäße Ladung des Klägers, dessen Nichterscheinen auch zum zweiten Termin und keine Vertretung.

In erstaunlich vielen Fällen wurde auch das Verfahren nicht formell abgeschlossen. Dies resultierte meist daraus, dass die Parteien und der Richter nach der Bezahlung der Gerichtskosten nicht mehr aktiv wurden, u. a. weil die Prozessparteien sich außergerichtlich geeinigt hatten, ohne das Gericht darüber zu informieren. Manchmal war die Akte auch einfach nicht weitergeführt worden, weil eine der Parteien in den Westen Deutschlands entschwunden oder verstorben war.

II. Säumnis der Parteien Die Geständnisfiktion des § 331 ZPO (1877) bestand darin, dass das Ausbleiben des Verklagten im Termin zur mündlichen Verhandlung als Zugeständnis hinsichtlich des tatsächlichen mündlichen Vorbringens des Klägers anzusehen und gegebenenfalls dem Klägerantrag stattzugeben war.100 Im Gegensatz zu diesem als typisch bürgerlich angesehenen Prinzip meinte das Lehrbuch des Zivilprozessrechts der DDR, es gehöre zur Mitwirkungspflicht der Parteien, dass sie zum gerichtlichen Verhandlungstermin erscheinen und aktiv an der Klärung des Streitfalles teilnehmen.101 97 Ergebnis der Prüfung / Erledigung einer Klage gem. § 28 ZPO der DDR, die nicht ordnungsgemäß erhoben bzw. in ihrem Sachverhalt nicht geeignet erschien, den Klageantrag zu rechtfertigen. 98 Die Voraussetzungen, unter denen eine Klage als unzulässig abzuweisen war, listete § 31 ZPO auf. 99 Die Klage musste an das vom Kläger angerufene Gericht abgegeben werden, wenn sie bei einem anderen Gericht eingereicht wurde (§ 26 ZPO). Beantragte der Staatsanwalt die Behandlung vor dem Bezirksgericht oder zog der Direktor des Bezirksgerichtes das Verfahren an das Bezirksgericht heran, gab das Kreisgericht (in Berlin: Stadtbezirksgericht) die Sache an das Bezirksgericht ab (§ 26 ZPO). Stellte das angerufene Gericht seine Unzuständigkeit fest oder rügte der Verklagte die fehlende Zuständigkeit des angerufenen Gerichts, entschied das Gericht über seine Zuständigkeit oder über die Verweisung an ein anderes Gericht durch Beschluss (§ 27 ZPO). Der Verweisungsbeschluss und der Abgabebeschluss wurden im Erhebungsbogen als „Verweisung an anderes Gericht“ zusammengefasst. 100 Vgl. zu den Einzelheiten der immer noch gleichlautenden Regelung Klaus Reichold, in: Heinz Thomas / Hans Putzo (Begr.), Zivilprozessordnung mit Gerichtsverfassungsgesetz, den Einführungsgesetzen und europarechtlichen Vorschriften, 28. Auflage, München 2007, § 331 ZPO, Rn. 1 ff.

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Diese neue Aufforderung zur Erforschung der objektiven Wahrheit ließ sich aber mit der Funktion des Säumnisverfahrens schwer vereinbaren. In der Mehrheit der Fälle, in denen der Verklagte weder zur Verhandlung erschien noch dem Gericht Schriftsätze übermittelt hatte, handelte es sich um Verfahren wegen Wohnungsmietschulden. Bei Mietschuldnern wurde regelmäßig das persönliche Erscheinen gemäß § 141 ZPO angeordnet. Wenn in solchen Fällen der Verklagte immer noch nicht erschien, wurde seine Abwesenheit als Zeichen hartnäckiger Verweigerung sowohl gegen den Schuldner als auch gegen das Gericht aufgefasst. Diese Auffassung führte dazu, dass seitens des Gerichts selten Bedenken bestanden, ein Versäumnisurteil zu erlassen. Mit der neuen ZPO von 1975 wurde aus dem Versäumnisverfahren das „Verfahren in Abwesenheit“ einer oder beider Prozessparteien (§§ 66 und 67). Falls beide Parteien nicht erschienen, ging man davon aus, dass sie inzwischen gemeinsam und selbständig – im Sinne des erzieherischen Hintergrunds des Gesetzes – eine Lösung ihres Streits gefunden hatten. Falls der Kläger zwei Mal nacheinander zu den gerichtlichen Verhandlungen nicht erschien, konnte das Gericht nach eigener Prüfung das Verfahren einstellen. Im Gegensatz dazu sollte nach § 67 ZPO (1975) das Gericht in Abwesenheit des Verklagten das Verfahren grundsätzlich durchführen. Ein neuer Termin sollte jedes Mal festgelegt werden, wenn der Verklagte ein staatliches Organ war, in Ehescheidungssachen und bei entschuldigtem Fernbleiben des Verklagten. Diese Regelung belegt das vom Gericht verfolgte Ziel der Erziehung des Bürgers und zeigt zugleich, inwieweit der DDR-Zivilprozess von der persönlichen Anwesenheit der Parteien geprägt war.102 In Abwesenheit des Verklagten konnte das Gericht alle Mittel anwenden, um den wahren Sachverhalt aufzuklären. Eine Entscheidung durfte es dennoch erst dann treffen, wenn die Streitfrage genügend geklärt und festgestellt worden war (§ 67 Abs. 3). In der Praxis war das Nichterscheinen des Verklagten keine Ausnahme, da die kurzen Ladungsfristen (in der Regel 14 Tage, manchmal sogar weniger) den Verklagten oft in Unkenntnis des Prozesstermins ließen und ihm die Möglichkeit nahmen, zu den gerichtlichen Verhandlungen erscheinen zu können. Mit dem Wegfall des Fiktionscharakters einer Säumnis in der neuen ZPO verlor der Verklagte jede Einspruchmöglichkeit. Ihm blieb allein die Anrufung einer höheren Instanz übrig, deren Verfahrensregeln wiederum in der neuen ZPO grundsätzlich vereinfacht und zugänglicher gemacht wurden.103 101 Hans Nathan (Leiter des Autorenkollektivs), Das Zivilprozeßrecht der DDR, Bd. I, Berlin (Ost) 1957, S. 395. 102 Torsten Reich, Die Erforschung der objektiven Wahrheit. Zivilprozessualer Wandel in der DDR (= Berliner Juristische Universitätsschriften, Grundlagen des Rechts, Bd. 22), Berlin 2004, S. 120 f. 103 Bei den von Torsten Reich interviewten Rechtsanwälten war oft von „Berufung durch Postkarte“ die Rede, Torsten Reich, ebenda, S. 123, Fn. 439.

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Kap. 4: Vorstellung der Variablen

III. Erfolg Das Verfahren endete entweder mit einem vollen Erfolg, einem Teilerfolg oder ohne Erfolg für den Kläger. Angegeben und ausgewertet wurden die Erfolgsquoten des Klägers und die des etwaigen Widerklägers in Prozent. Daneben wurde noch eine ordinale Einordnung in Vollen Erfolg, Teilerfolg und Kein Erfolg vorgenommen. Schließlich wurden die Erfolgsquoten des Klägers und die des etwaigen Widerklägers nach einer Berufung angegeben. Dabei ordneten die Kodierer den meisten vollen Erfolgen eine Quote von 100%, den Teilerfolgen 50% und erfolglosen Klagen 0% zu. Allerdings wurden schon Erfolgsquoten ab 95% als „Volle Erfolge“ und unter 5% als „Kein Erfolg“ eingeordnet. Bei erkennbar gestaffelten Geldleistungen konnten auch differenziertere Angaben gemacht werden. Wenn der Kläger wider Erwarten selbst Leistungen erbringen musste, konnte sich auch eine negative Erfolgsquote ergeben.

IV. Berufung / Kassation 1. Berufung Rechtsmittel konnten entweder durch den Kläger, den Verklagten oder die Staatsanwaltschaft eingelegt werden. Zunächst galten in der DDR – leicht modifiziert – die Regelungen der ZPO von 1877 weiter.104 In der ZPO von 1975 war die Berufung in den §§ 147 – 157 geregelt. Wesentliche Neuerungen gab es nicht: Die Parteien konnten die Berufung schriftlich oder zur Niederschrift bei der Rechtsantragsstelle innerhalb von zwei Wochen beim erstinstanzlichen Gericht einreichen. Das Berufungsgericht, für Entscheidungen des Kreisgerichts das Bezirksgericht, überprüfte das Urteil vollständig und konnte bei seiner neuen Entscheidung auch neue Tatsachen und Beweisanträge beachten. Im Rahmen der Erhebung wurde festgestellt, ob und gegebenenfalls von wem die Berufung eingelegt wurde und welche Erfolgsquote der Kläger dabei hatte.

2. Kassation Da die als „bürgerlich“ angesehenen Regeln über die Berufung und Revision nicht weiter angewandt werden sollten, wurde das Instrument der Kassation eingeführt. Sie war zunächst nur sehr lückenhaft in den §§ 12 – 16 OGStG geregelt, sodass Regelungen aus der ZPO ergänzend herangezogen wurden. 104 Vgl. die mit Anmerkungen versehene Textausgabe zur ZPO von 1970, 8. überarbeitete Auflage, hrsg. vom Ministerium der Justiz.

D. Prozessbeendigung

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In der ZPO von 1975 wurde in den §§ 160 – 162 u. a. genauer festgelegt, dass die Kassation bis zu einem Jahr nach Eintreten der Rechtskraft beim Obersten Gericht105 beantragt werden konnte. Antragsberechtigt waren nur der Generalstaatsanwalt und der Präsident des Obersten Gerichts, für Entscheidungen des Kreisgerichtes nur der Bezirksstaatsanwalt und der Direktor des Bezirksgerichts. Damit war dieses Rechtsmittel der Parteiherrschaft entzogen. Die Kassation wurde von Torsten Reich ausführlich untersucht, der zu folgendem Schluss kam: „Die Kassation war damit das Instrument par excellence zur nachträglichen Beseitigung nicht konformer Urteile. Sie ermöglichte ein Aufweichen der Rechtskraft im Interesse politbürokratischer Vorhaben.“106 In unserer Untersuchung wurde erfasst, ob eine Kassation beantragt wurde und ob sie Erfolg hatte.

V. Verfahrenskosten In den 70er Jahren hatte die Institut für angewandte Sozialwissenschaft GmbH (infas) für die Bundesrepublik untersucht, ob und wenn ja, inwiefern die Höhe der Anwalts- und Gerichtskosten die Entscheidung der Bürger beeinflusst hätte, Prozesse zu führen. Erstaunlicherweise ließ sich aus den Antworten schließen, dass die Kosten eines Prozesses keine bedeutende Barriere für den Zugang zum Gericht bildeten, obwohl 84% der Befragten die Rechtsanwaltskosten und 78% die Gerichtskosten für hoch oder sehr hoch hielten.107 Anhand der in den Akten des Amtgerichts Mitte in Zivilrechtssachen befindlichen Kostenrechnungen wurden die Gerichtskosten ermittelt. Dabei wurde zwischen Prozesskosten mit und ohne Rechtsanwaltskosten unterschieden. Die Prozesskosten waren in den §§ 164 bis 183 im Kapitel über Kosten des Verfahrens der ZPO von 1975 geregelt. § 164 ZPO unterschied zwischen Gerichtskosten und außergerichtlichen Kosten. Die Gerichtskosten waren die Gerichtsgebühren und gerichtliche Auslagen bzw. „Aufwendungen, die im Verfahren für die Entschädigung von Zeugen, Sachverständigen, Vertretern von Kollektiven der Werktätigen und gesellschaftlichen Organisationen, für Post-, Fernsprech- und Telegrammgebühren sowie für ähnliche Zwecke oder für Veröffentlichungen entstanden sind, soweit sie 3 M übersteigen“. Die außergerichtlichen Kosten umfassten Kosten für den Rechtsanwalt oder einen Prozessbeauftragten und andere notwendige Aufwendungen der Parteien. Bzw. beim Bezirksgericht für Entscheidungen des Kreisgerichts. Torsten Reich, Die Erforschung der objektiven Wahrheit (wie Anm. 102), S. 141 – 167, insb. S. 165. 107 Elmar Steinbach / Rolf Kniffka, Strukturen des amtsgerichtlichen Zivilprozesses (wie Anm. 7), S. 110. 105 106

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Kap. 4: Vorstellung der Variablen

Die Höhe der Gerichtsgebühren betrug 5% des Wertes des geltend gemachten Anspruchs (mindestens jedoch 10 M, § 165 Abs. 1 ZPO) oder 5 M für Anträge auf den Erlass einer Zahlungsaufforderung. Die durchschnittliche Höhe der Gerichtsgebühren lag bei 84 M, in der Hälfte der Verfahren lagen die Kosten bei nur 9 M, obwohl sie sich ab 1969 deutlich erhöhten (über 25 M). Bei Einigung der Parteien oder Abweisung der Klage durch Beschluss als unbegründet oder unzulässig wurde nur eine halbe Gerichtsgebühr erhoben (§ 166 ZPO).

E. Besonderheiten I. Armenrecht In der Bundesrepublik wird die Bezeichnung „Armenrecht“ aufgrund ihrer diskriminierenden Konnotation seit längerem nicht mehr verwendet. Unter anderem als Ausfluss des Sozialstaatsprinzips besteht für alle Bürger die Möglichkeit, rechtliche Beratung und Hilfe zur Prozessführung wahrzunehmen. Dafür gibt es die Mittel der Beratungshilfe, d. h. die Rechtsberatung außerhalb eines gerichtlichen Verfahrens, und der Prozesskostenhilfe, falls ein Prozess anhängig ist oder werden muss. In der bis 1975 geltenden ZPO der DDR stand unter dem siebenten Titel „Armenrecht“ die Vorbemerkung, dass statt Armenrecht stets „einstweilige Kostenbefreiung“ zu lesen sei. Anspruch auf Prozesskostenhilfe bestand in folgenden Fällen: „Einer Partei, die außerstande ist, ohne Beeinträchtigung des für sie und ihre Familie notwendigen Unterhalts die Kosten des Prozesses zu bestreiten, ist auf Antrag das Armenrecht zu bewilligen, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung eine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.“, (§ 114). Mit der Bewilligung von Armenrecht wurde der Kläger oder Verklagte sowohl von den Gerichtskosten, den Gebühren der Gerichtsbeamten und den Gerichtssteuern als auch von den durch den Gerichtsvollzieher und Rechtsanwalt verursachten Kosten befreit (§ 115 Abs. 1 ZPO). Diese Kostenbefreiung umfasste jedoch nur den Zeitraum, während dessen sich die zum Armenrecht zugelassene Partei nicht in der wirtschaftlichen Lage befand, ohne Benachteiligung ihres Unterhalts und dessen ihrer Familie für die prozessualen Kosten selber aufzukommen. Diese Art „Darlehen“ musste daher zurückbezahlt werden, sobald die von allen Kosten befreite Partei sie zurückerstatten konnte (§ 125 ZPO). Die gerichtliche Bewilligung des Armenrechts erfolgte für jede erste Instanz nach einem unterschiedlichen Verfahren und durfte von den höheren Instanzen nicht nachgeprüft werden (§ 119 ZPO).

E. Besonderheiten

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In der neuen ZPO von 1975 und insbesondere in deren § 170 war nicht mehr von „Armenrecht“, sondern von „Befreiung von der Vorauszahlungspflicht“ die Rede, aber die Reglementierung blieb die gleiche: „Weist eine Prozesspartei nach, dass sie nicht über die zur Durchführung des Verfahrens erforderlichen Geldmittel verfügt, und ist die beabsichtigte Rechtsverfolgung nicht offensichtlich unbegründet, ist sie auf ihren Antrag durch Beschluss von der Vorauszahlungspflicht zu befreien.“

II. Einstweilige Verfügungen Zuständig für einstweilige Verfügungen war das Gericht der Hauptsache, das in Eilfällen ausnahmsweise eine solche Entscheidung im Laufe des Hauptverfahrens auch ohne vorherige mündliche Verhandlung fällen konnte (§ 937 ZPO). In dringenden Fällen konnte auch das Amtsgericht, in dessen Bezirk sich der Streitgegenstand befand, für eine bestimmte Frist eine einstweilige Verfügung erlassen (§ 942 ZPO). Inhaltlich konnte die einstweilige Verfügung eine Sequestration, einen Befehl oder ein Verbot der Veräußerung, Belastung oder Verpfändung eines Grundstücks oder eines eingetragenen Schiffes oder Schiffbauwerks (§ 938) enthalten. Einstweilige Verfügungen konnten in eilbedürftigen Fällen in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis wie z. B. zur Abwehr wesentlicher Nachteile oder Verhinderung drohender Gewalt (§ 940) und zur Räumung von Wohnraum, aber ausschließlich im Fall verbotener Eigenmacht (§ 940a) erlassen werden. In der ZPO von 1975 ersetzte man die Bezeichnung „einstweilige Verfügung“ durch „einstweilige Anordnung“. Die neue Reglementierung, die der alten entsprach, umfasste die §§ 16 bis 18 und wurde durch den § 90 mit einer Regelung hinsichtlich der Vollstreckung ergänzt.

III. Urkundenprozess Das fünfte Buch der bis 1975 geltenden ZPO befasste sich in den §§ 592 bis 605a mit dem Urkunden- und Wechselprozess: „Ein Anspruch, welcher die Zahlung einer bestimmten Geldsumme oder die Leistung einer bestimmten Menge anderer vertretbarer Sachen oder Wertpapiere zum Gegenstand hat, kann im Urkundenprozess geltend gemacht werden, wenn die sämtlichen zur Begründung des Anspruchs erforderlichen Tatsachen durch Urkunden bewiesen werden können ( . . . )“ (§ 592). Die Möglichkeit, Widerklage zu erheben, war ausgeschlossen (§ 595 Abs. 1) und als Beweismittel waren nur Urkunden und Antrag auf Parteivernehmung zulässig (§ 595 Abs. 2).

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Kap. 4: Vorstellung der Variablen

Wurden im Urkundenprozess Ansprüche aus Wechseln im Sinne des Wechselgesetzes geltend gemacht, dann waren die Vorschriften für die Durchführung des Wechselprozesses anzuwenden (§ 602). Der Vorteil, den Urkunden- und Wechselprozess bieten sollten, war die beschleunigte Erlangung eines vollstreckbaren Titels ohne umfangreiche Beweisaufnahme. Nach der neuen ZPO von 1975 wurde der Urkundenprozess nicht mehr zugelassen.

IV. Widerklage § 13 der neuen ZPO von 1975 lautete: „Der Verklagte kann bis zum Beginn der mündlichen Verhandlung Widerklage erheben. Für sie gelten die gleichen Voraussetzungen wie für die Klage.“ Dieser Paragraph ersetzte zahlreiche ausführliche Regelungen der ehemaligen ZPO.108 Mit der Widerklage sollte das gleichzeitige Entscheiden verschiedener gegenseitiger Ansprüche der prozessierenden Parteien in einem Verfahren ermöglicht werden.

V. Erhöhung der erzieherischen Wirksamkeit 1. Verhandlung vor erweiterter Öffentlichkeit Die sogenannte Verhandlung vor erweiterter Öffentlichkeit war ein Mittel zur Steigerung der erzieherischen Wirksamkeit der Rechtsprechung.109 Hierzu konnten etwa Arbeitskollektive von Verklagten zu Verhandlungen geladen oder die Verhandlung aus dem Gerichtssaal hinaus in den Betrieb oder das Wohngebiet des Verklagten verlegt werden. Besonders im Kampf gegen Mietschuldner wurde dieses Instrument genutzt, wenn auch in stark schwankender Intensität.110 In der ZPO von 1975 wurde die erweiterte Öffentlichkeit in § 43 Absatz 2 geregelt. In der Untersuchung wurde erfasst, ob das Arbeitskollektiv zur Verhandlung geladen, die Verhandlung im Betrieb oder im Wohnumfeld durchgeführt wurde. 108 U. a. § 33 über den besonderen Gerichtsstand der Widerklage, § 145 über die Prozesstrennung, § 256 Abs. 2 über die Feststellungsklage, § 301 über das Teilurteil, § 347 über das Verfahren bei Widerklage und Zwischenstreit, § 530 über die Widerklage, Aufrechnung einer Gegenforderung, usw. 109 Boris Alexander Braczyk, (Selbst-)Erziehung der Gesellschaft – Der „neue Arbeitsstil“ im Zivilverfahren der DDR ab 1958, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 78), S. 497 – 534, insb. S. 530. 110 Dazu vgl. Torsten Reich, Die Erforschung der objektiven Wahrheit (wie Anm. 102), S. 132 f.; vgl. auch den Beschluss des Plenums des Obersten Gerichts zu Fragen des Wohnmietrechts vom 22. 09. 1964, in: NJ 1964, S. 609.

E. Besonderheiten

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2. Mitwirkung gesellschaftlicher Kräfte Nach § 4 Absatz 1 der ZPO von 1975 waren Beauftragte von Kollektiven der Werktätigen und gesellschaftliche Organisationen am Verfahren zu beteiligen, wenn dies dem Gericht zur Sachverhaltsaufklärung oder aus erzieherischen Gründen notwendig erschien.111 Die Beteiligten durften teilnehmen, Erklärungen im Prozess und nach der Beweisaufnahme eine abschließende Stellungnahme (§ 64 ZPO) abgeben. An der Sachverhaltsaufklärung hatten in Einzelfällen auch die Leiter der staatlichen Organe und die Betriebsleiter mitzuwirken (§ 6 Abs. 2 ZPO). Im Rahmen der Erhebung wurde erfasst, ob Beauftragte von Kollektiven mitgewirkt hatten und aus welchem Grunde dies geschehen war: zur Aufklärung des Sachverhaltes oder zur Erhöhung der Wirksamkeit des Verfahrens.

VI. Staatsanwaltsbeteiligung In der DDR war es möglich, dass der Staatsanwalt sich an einem Zivilprozess beteiligte. Nach dem Gesetz über die Staatsanwaltschaft der DDR von 1951 war es „die besondere Funktion der Staatsanwaltschaft, die Einhaltung der Gesetze zu garantieren.“112 Neben Aspekten der Kontrolle des Verfahrens113 ging es bei der Einschaltung der Staatsanwaltschaft im Zivilverfahren darum, die Wahrung der materiellen Gerechtigkeit sicherzustellen. Der Staatsanwalt durfte Schriftsätze einreichen, an den Terminen teilnehmen (§ 20 StAG) und ein Zivilverfahren auch selbst mit einer Klage initiieren (§ 21 StAG). Die Staatsanwaltsbeteiligung wurde im Rechtspflegeerlass vom 4. April 1963 behandelt114 und im Staatsanwaltschaftsgesetz vom 17. April 1963 neu geregelt115. Zwar wurden die prozessualen Möglichkeiten der Staatsanwaltschaft erweitert, ihr Einsatzbereich war von nun an aber auf strafrechtlich tangierte Bereiche des Zivilrechts fokussiert, nach Haferkamp „zeichnet sich also eine Rückführung auf ursprüngliche staatsanwaltliche Betätigungsfelder ab.“116

111 112 113

Torsten Reich, Die Erforschung der objektiven Wahrheit (wie Anm. 102), S. 133 f. Präambel und § 1, GBl. S. 408. Dazu Torsten Reich, Die Erforschung der objektiven Wahrheit (wie Anm. 102), S. 135 –

140. GBl. 1963, S. 21 – 44, insb. S. 35 – 38. GBl. I 1963, S. 57 – 62. 116 Hans-Peter Haferkamp, Die Mitwirkung des Staatsanwalts im Zivilverfahren der DDR, in: Rainer Schröder, Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 78), S. 403. 114 115

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Kap. 4: Vorstellung der Variablen

Neben der Frage, wie hoch die Beteiligung der Staatsanwälte in den einzelnen Jahrgängen am Zivilprozess war, interessierte im Rahmen des Projekts vor allem, bei welchen Verfahrensgegenständen, bei welchen Beteiligten und mit welcher Auswirkung auf den Prozessausgang die Staatsanwälte teilnahmen.

Kapitel 5

Ergebnisse der Untersuchung A. Wenige Prozesse – wenig Streit? Die Prozessrate als Ausgangspunkt der Untersuchung Überlegungen zur – im Vergleich zur Bundesrepublik – sehr niedrigen Prozessrate in der DDR gehörten zu den Grundfragen, welche die Durchführung des Projekts „Zivilrechtskultur der DDR“ anregten.1 Seitdem wurde in zwei Richtungen weiter geforscht: Zum einen sollten – vor allem für die frühen Jahrgänge – detailliertere Daten für die DDR ermittelt werden, um eine genauere Analyse und Ursachensuche zu ermöglichen. Zum anderen musste überprüft werden, ob diese Aussagen auch für das Untersuchungsgebiet Ost-Berlin zutrafen. Nach Abschluss der Datenerfassung konnte der gesammelte Aktenbestand erstmals insgesamt quantifiziert werden. Es ergab sich folgende Verteilung über einen Zeitraum von fast 50 Jahren: nur Berlin-Zentrum 800 700 600 500 400

Absolute Werte

300 200 100 0 48

51

54

57

60

63

66

69

72

76

80

84

88

Jahrgang (Fälle gewichtet)

Grafik 5.1: Gesamtzahl der erhobenen Prozesse

Der Rückgang der Verfahren ab 1954 kann als dramatisch bezeichnet werden. Hier gibt es möglicherweise eine Parallele zum Dritten Reich, wo die Zahl der 1 Rainer Schröder, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (= Zeitgeschichtliche Forschungen, Bd. 2 / 1), Berlin 1999, S. 9 – 29.

196

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

Zivilprozesse ebenfalls stark zurückging.2 Diese These kann allerdings nur nach eingehender Analyse verifiziert oder falsifiziert werden. Um die in Grafik 5.1 dargestellten Häufigkeiten mit denen vom Ministerium der Justiz der DDR für Ost-Berlin und die gesamte DDR bzw. mit denen vom Bundesamt für Statistik für die Bundesrepublik erhobenen Daten zur Zahl der Zivilprozesse sinnvoll vergleichen zu können, bietet sich die Betrachtung der Prozessrate an. Die Prozessrate wird errechnet, indem die Anzahl der (erstinstanzlichen) Neueingänge beim Zivilgericht in Relation zu der Zahl der im Gerichtsbezirk lebenden Einwohner gesetzt wird. Daraus ergibt sich eine Prozentzahl, die angibt, welcher Teil der Einwohner im jeweiligen Jahrgang eine Klage am Zivilgericht eingereicht hat.3 Dadurch wird der Einfluss der unterschiedlichen Bevölkerungszahlen in den beiden deutschen Staaten ausgeschaltet. Die Prozessrate gibt damit einen Eindruck über die „Klagefreudigkeit“ und damit auch über die Bedeutung des Zivilprozesses in einer Gesellschaft bzw. einer zeitlichen Episode. Ein Vergleich zeigt, dass die durchschnittliche Prozessrate in der Bundesrepublik4 mehr als doppelt so hoch war wie in der DDR. Dieser Abstand vergrößerte sich im Lauf der Zeit noch. Werden die Familiensachen aus den Zivilprozessen herausgenommen, sinkt die Prozessrate in der Bundesrepublik um ein weniges ab, 2 Rainer Schröder, „. . .Aber im Zivilrecht sind die Richter standhaft geblieben!“ Die Urteile des OLG Celle im Dritten Reich (= Fundamenta Juridica – Hannoversche Beiträge zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung, Heft 5), Baden-Baden 1988, S. 243; Hubert Rottleuthner, Verfahrensflut und Verfahrensebbe. Ein Plädoyer für langfristige Betrachtung gerichtlicher Gezeiten, in: ZRP 1985, S. 117 – 119. 3 Ein Beispiel: Im Jahrgang 1948 sind in Berlin-Zentrum 7.200 Klagen eingereicht worden. In diesem Jahr lebten in diesen Stadtteilen 554.000 Menschen. Verteilt man die 7.200 Klagen auf diese 554.000 Einwohner, ergibt sich, dass 1,23% dieser Menschen eine Klage eingereicht haben. Die Zahl der Fälle pro Jahrgang ergab sich aus der Methode der Stichprobenziehung: Die Kodierer zogen jede 15te Akte eines Jahrgangs aus den Archivkisten. Waren zum Schluss, z. B. für 1948, 480 Fälle untersucht worden, so kann davon ausgegangen werden, dass in diesem Jahr 480  15 = 7.200 Neuzugänge an den Gerichten zu verzeichnen waren. Eine geringe Ungenauigkeit, da natürlich nicht in jedem Jahr eine durch 15 teilbare Zahl von Neueingängen zu verzeichnen war, kann vernachlässigt werden. Die Anzahl der Einwohner in den drei Bezirken Berlins wurde den Statistischen Jahrbüchern der DDR entnommen. Zur Glaubwürdigkeit dieser Zahlen soll hier nur insoweit Stellung genommen werden, als dass für diese Angaben keine Manipulationen bekannt und auch bei der geringen Sensibilität nicht zu erwarten sind. In den ersten Jahren der SBZ bzw. kurz nach der Gründung der DDR war die Datenerfassung der Verwaltung noch ungenau und lückenhaft. Die Angaben wurden auf 100 Personen auf- oder abgerundet, außerdem sind für den Jahrgang 1951 die Daten von 1950 und für 1954 die Daten für 1955 verwendet worden. Auch für 1948 lagen keine Daten vor. Für Gesamt-(Ost-)Berlin sind aber die Einwohnerzahlen für 1946 (1.175.000) und 1950 (1.189.000) bekannt. Zwischen 1950 und 1955 stellten die drei untersuchten Bezirke rund 50% der Einwohner Ost-Berlins. Wird dieser Anteil für den Durchschnitt aus 1946 und 1950 angesetzt, so erhält man den hier verwendeten Wert von 554.000 Einwohnern für 1948. 4 Zum (sehr geringen) Zusammenhang von Prozessrate und Rechtsschutzversicherungen vgl. Erhard Blankenburg / Jann Fiedler, Die Rechtsschutzversicherungen und der steigende Geschäftsanfall der Gerichte, Tübingen 1981.

A. Wenige Prozesse – wenig Streit?

197

3,5 3 2,5 2 BRD gesamt

1,5 DDR gesamt

1 BRD ohne Familienrecht

0,5

DDR ohne Familienrecht

0 54

57

60

63

66

69

72

76

80

84

88

Grafik 5.2: Prozessraten in Bundesrepublik und DDR

die der DDR jedoch um die Hälfte. Familiensachen bestimmten also in wesentlichem Ausmaß die (ohnehin niedrige) Prozessrate in der DDR. Erklärungsmöglichkeiten für diesen unterschiedlichen Verlauf finden sich auch in der Familiengesetzgebung der beiden Gesellschaften. Gesetzliche Hürden für Scheidungen, Abtreibungen etc. wurden in der DDR schon sehr früh von staatlicher Seite aus reduziert, was in der Bundesrepublik erst sehr spät und zögerlich geschah. Parallel dazu war die Unterstützung für allein erziehende Mütter in der DDR generell weitaus umfassender (die doppelte Belastung der Frauen mit Berufstätigkeit und Familie aber auch weitaus stärker), was Scheidungen und anschließende Unterhaltsprozesse wahrscheinlicher machte. Die nunmehr detailliert vorliegenden Daten belegen, dass die Zivilprozessrate in der DDR schon 1954 deutlich niedriger als in der Bundesrepublik war.5 Die oben erwähnten ersten Überlegungen sind demnach nicht zu korrigieren, allenfalls zu präzisieren. Der Zivilprozess der DDR mit den ihn umgebenden konfliktdämpfenden bzw. -erledigenden Mechanismen war nicht nur von der prozessrechtlichen Lage her ein anderer Prozess als der, den man von einer westlich-kapitalistischen Gesellschaft gewohnt ist. Das Ideal dieser patriarchalisch-fürsorglichen, aber zugleich auch diktatorischen Gesellschaft war Harmonie. Die nicht-streitweise Beilegung eines Konfliktes entsprach dieser Vorstellung. Neben den vielfältigen Ausgliederungen aus dem Zivilrecht (Familienrecht, Arbeitsrecht, LPG-Recht, Vertragsrecht im DDRSinne) stellen konfliktdämpfende Mechanismen (Rechtsauskünfte, gesellschaftliche Gerichte) den zweiten Hauptgrund dafür dar, dass die Zahl der Konflikte und die Art ihrer Erledigung sich vom Westen erheblich unterschieden. Der dritte Grund, nämlich das Diktatorische im System der DDR, muss relativiert werden. Damit soll nicht gesagt sein, dass diktatorische Elemente nicht vor5 Vgl. auch Inga Markovits, Der Handel mit der sozialistischen Gerechtigkeit. Zum Verhältnis zwischen Bürger und Gericht in der DDR, in: Thomas Lindenberger (Hrsg.), Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR, Köln 1999, S. 315 ff.

198

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

handen gewesen wären. Denn bei Streitigkeiten, die tatsächlich oder potentiell für das System gefährlich sein konnten, unterlag auch das Zivilrecht dem politischen Zugriff. Durchgriffe im Einzelfall scheinen, soweit das bis jetzt zu beurteilen ist, in ihrer Bedeutung hinter den strukturellen Einflussnahmen zurückzustehen. Man darf also den Primat der Politik auch im Zivilrecht keinesfalls unterschätzen, doch kann man ihm nicht die alleinige Verantwortung für die wesentlich geringere Zivilprozessrate zuschreiben. Inwieweit durch die Ökonomie der DDR und die entsprechende Politik die Struktur des Zivilverfahrens geprägt wurde, soll auch durch die folgenden Analysen untersucht werden. Zunächst war ein Vergleich der Daten des Projekts „Zivilrechtskultur“ mit denen des Ministeriums der Justiz von Interesse.

2,5

2

1,5

1

Berlin-Zentrum (MdJ) Berlin-Zentrum

0,5

(MdJ) DDR (MdJ) Ost-Berlin

0 48

51

54

57

60

63

66

69

72

76

80

84

88

Grafik 5.36: Prozessraten in DDR und Ost-Berlin im Vergleich mit Berlin-Zentrum

Der Vergleich der Prozessrate der gesamten DDR mit der von Ost-Berlin zeigt, dass in der „Hauptstadt der DDR“ die Bürger generell häufiger prozessierten als im Rest der DDR. Deutlich höher war die durchschnittliche Prozessrate in der Stichprobe des Projekts in den Jahren zwischen 1951 und 1960. Die Zivilprozessrate in der DDR war über den gesamten Zeitraum des Bestehens dieses Staates hinweg erheblich niedriger als in Ost-Berlin. Der Wert unserer Daten wird durch den fast identischen Kurvenverlauf der Projektdaten und der Daten des Ministeriums der Justiz für Berlin-Zentrum in den letzten drei Jahrgängen bestätigt. Im Vergleich mit der Bundesrepublik ist allerdings festzustellen, dass dort immer noch deutlich mehr prozessiert wurde als in Ost-Berlin. Unsere Untersuchung des Ost-Berliner Zentrums stimmt insoweit grundsätzlich mit den Angaben des Ministeriums der Justiz für die DDR überein, wenn auch der generell größeren Klagefreudigkeit insbesondere in den Jahren 1954 bis 1960 Beachtung geschenkt werden muss. 6 Für den Wert „DDR 1951“ wurde der Durchschnitt von 1948 und 1954 errechnet. „Berlin-Zentrum“ steht für die Daten des Projekts.

A. Wenige Prozesse – wenig Streit?

199

Exkurs: Die Bedeutung der Mahnverfahren für die Entlastung der Gerichte Werden nur die Prozesszahlen für die Charakterisierung der Konfliktstrukturen einer Gesellschaft herangezogen, betrachtet man nur einen Teil des Bildes. Die Verfolgung zivilrechtlicher Ansprüche konnte auch in der DDR im vereinfachten Mahnverfahren erfolgen. Mit der Hilfe eines Zahlungsbefehls konnte schnell ein vollstreckbarer Titel erlangt werden. Dass von diesem Mittel in der DDR Gebrauch gemacht wurde, obwohl der sonst so stark betonte Erziehungsauftrag des Rechts mit ihm nicht verfolgt werden konnte, ist oben7 dargestellt worden. Für die Zeit ab 1973 kann darüber hinaus dargestellt werden, welche Forderungssteller das Mahnverfahren zur Erfüllung ihrer Ansprüche nutzten.8

90.000 80.000 70.000 60.000 50.000 40.000 30.000

KWV

20.000

VEB

10.000

Bürger

0 1973

1974

1975

1976

1977

1980

1982

Grafik 5.49: Antragsteller in Mahnsachen DDR

Das Übergewicht der institutionellen Antragsteller von Mahnungen in allen betrachteten Jahrgängen ist deutlich. Bürger nutzten diesen Weg offenbar nur selten. Ihre Konflikte waren anscheinend diffiziler. Bemerkenswert ist auch der Abfall zum Jahr 1976, dem Jahr des neuen ZGB und der neuen ZPO. Waren diese Neuerungen für den Rückgang verantwortlich, so blieben sie jedenfalls nur von vorübergehender Wirkung. Aus den Daten des Projekts ließ sich – auch differenziert nach den Beteiligtenkonstellationen – entnehmen, welchen Verfahren ein Mahnbescheid vorausgegangen war. Diese Verfahren indizieren auch, wie rege überhaupt von diesem Mittel Gebrauch gemacht wurde, setzt man voraus, dass der Anteil der Mahnverfahren, bei denen ein Einspruch erhoben wurde, relativ konstant blieb.10 Vgl. oben Kapitel 4 – Vorstellung der Variablen, C. II., S. 183 f. In Ost-Berlin waren die Anteile ähnlich. 9 Daten aus BA DP 1 VA 8956. 10 Eine These, die zwar schlüssig ist, hier aber nicht bewiesen werden kann. 7 8

200

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung 80

60

Anteil am Jahrgang

40

20

0 48

51

54

57

60

63

66

69

72

76

80

84

88

Jahrgang

Grafik 5.5: Anteil der Prozesse nach Mahnverfahren an allen Prozessen von Institutionen gegen Bürger

Am Anfang des Untersuchungszeitraums wurde das Mahnverfahren noch rege genutzt, über zwei Drittel der registrierten Zivilprozesse von Institutionen gegen Bürger folgten auf ein Mahnverfahren. Zu den Jahrgängen 1954 / 57 hin fiel der Anteil der Prozesse, denen ein Mahnverfahren vorausgegangen war, stark ab. Dies könnte eine Folge des zivilprozessualen Wandels in der DDR gewesen sein.11 Das Mahnverfahren ist ein reines Inkassoinstrument, um Forderungen durchsetzen und ggf. vollstrecken zu können. Das Ziel des neuen Zivilprozesses war die Erforschung der objektiven Wahrheit. Das konnte im Mahnverfahren nicht erfolgen. Auch konnten dort die Richter ihrem Erziehungsauftrag nicht nachkommen. Allein durch die öffentliche Verhandlung konnte beiden neuen Prinzipien Rechnung getragen werden. Obwohl im Jahr 1976 in der DDR insgesamt weniger Mahnanträge gestellt wurden, war der Anteil der Verfahren, die einem solchen Antrag folgten, in diesem Jahrgang deutlich größer als in den Jahren davor. Besonders die sozialistischen Betriebe und Institutionen hielten sich in dieser Zeit mit Anträgen zurück. Durch die starke Propagierung des Zivilrechts in der Zeit um 1976 sahen sich die Bürger eventuell darin bestärkt, sich vermehrt gegen die Forderungen der Betriebe und Institutionen zu wehren. Die Entwicklung verlief bei den Prozessen unter Bürgern ähnlich, wenn auch auf wesentlich niedrigerem Niveau.12 Bis 1972 schwankte der Anteil der Prozesse, 11 Vgl. Torsten Reich, Die Erforschung der objektiven Wahrheit. Zivilprozessualer Wandel in der DDR (= Berliner Juristische Universitätsschriften, Grundlagen des Rechts, Bd. 22), Berlin 2004. 12 Vgl. die grafische Darstellung, Grafiken 2 ff. im wissenschaftlichen Begleitband zum Projekt. Dieser wird unter dem Titel „Vom Inkasso- zum Feierabendprozess – Der DDRZivilprozess. Datensammlung“ voraussichtlich 2008 erscheinen. Die Datensammlung enthält, der Gliederung des Kapitels 5 – Ergebnisse der Untersuchung im vorliegenden Band folgend, weiterführendes, grafisch oder tabellarisch aufbereitetes Material.

A. Wenige Prozesse – wenig Streit?

201

die einem Mahnverfahren folgten, in den Daten des Projekts zwischen 5% und 20% und blieb ab 1976 konstant unter 10%. Die Bürger verfolgten zumindest ab der Mitte der 70er Jahre anscheinend weniger leicht nachweisbare oder bezifferbare Zahlungsforderungen gegen andere Bürger. Wichtiger waren nun Forderungen nach Herausgabe, Unterlassung oder aus privaten Geschäften, für die das Mahnverfahren nicht zulässig war. Eine Differenzierung nach den Streitgegenständen in den Mahnverfahren kann nach Daten des Ministeriums der Justiz für die Zeit von 1973 – 82 erfolgen.13 (Durchschnitt der Jahrgänge 1973-82) 30.000 25.000 20.000 15.000 10.000 5.000 0 Mietforderung

Kaufvertrag

DienstTeilleistungs- zahlungsvertrag kredit

Gas/ Energie/ Wasser

ÖPNV

Schadenersatz

sonstige

Grafik 5.614: Anspruchsgründe in Mahnsachen DDR (Durchschnitt der Jahrgänge 1973 – 82)

Dem größten Teil der Mahnverfahren lagen Verbindlichkeiten in typischen Versorgungsbeziehungen zu Grunde: Öffentlicher Nahverkehr sowie die Versorgung mit Gas, Energie und Wasser. Auch die Wohnungsmiete hatte in der DDR einen gewissen Versorgungscharakter, so dass es dabei, wie auch bei den Teilzahlungskrediten, um die massenweise Abwicklung von Verfahren ging. Es ist nicht anzunehmen, dass es sich dabei um „echte“ Konflikte handelte. Ein erheblicher Teil wird schlicht auf Nichtzahlung, möglicherweise aufgrund von Nachlässigkeit, beruht haben. Ein Vergleich der Mahnverfahren mit den Zivilprozessen in der DDR gibt dieser These weiteres Gewicht.15 Konflikte um Schadensersatz waren komplex. Ihnen lag auch meist ein klärungsbedürftiger Konflikt zu Grunde, so dass hier in der Regel Prozesse geführt werden mussten. Bei Mietsachen gab es zumindest noch einen gewissen Anteil, 13 In Ost-Berlin waren die Relationen ähnlich, siehe Datensammlung (wie Anm. 12), Grafik 1. 14 Daten aus BA DP 1 VA 8956. 15 Die Daten für Ost-Berlin waren ähnlich, siehe Datensammlung (wie Anm. 12), Grafik 1.

202

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung 30.000 25.000

Mahnsachen Prozesse

20.000 15.000 10.000 5.000 0 Mietforderung

Kaufvertrag

Dienstleistungsvertrag

Teilzahlungskredit

Gas/ Energie

ÖPNV

Schadenersatz

Grafik 5.716: Anspruchsgründe in Mahnsachen DDR (Durchschnitt der Jahrgänge 1973 – 82)

bei dem – aus noch zu klärenden Gründen (gesetzliche Regelungen, der sozialistische Erziehungsgedanke) – Zivilrichter mit dem Verfahren betraut wurden. Für die weitere Untersuchung ist festzuhalten, dass zumindest in den Jahren 1976 bis 1983 die Forderungen des Öffentlichen Nahverkehrs und aufgrund von Teilzahlungskrediten fast vollständig und die Ansprüche der Gas- und Energieversorger zum großen Teil im Mahnverfahren abgewickelt wurden, in unseren Quellen also kaum aufgetreten sind. Dass mit den Zivilprozessen nur ein Teil der zivilrechtlichen Verfahren erfasst wurde, wird noch einmal deutlich, setzt man die Zivilprozesse und die Mahnverfahren in ein Verhältnis zueinander. Für die Zeit vor 1954 liegen keine Daten vor, so dass auf eine Berechnung aus unseren Zahlen zurückgegriffen wurde: Danach ging in den Jahren 1948 und 1951 noch 45% der Prozesse ein Mahnverfahren voraus, ein Wert, der danach stark bis auf 15% abfiel. Vielfach hatten Privatbetriebe, die dann aber aus dem Wirtschafts- und Rechtsleben der DDR verschwanden, dieses Instrument gebraucht. 300.000

4,5 4

250.000 3,5 200.000

3 2,5

150.000 2 100.000

1,5 1

50.000

Zivilklagen Mahnsachen

0,5 0 0 1954 1957 1960 1963 1966 1969 1972 1976 1980 1984 1988

Verhältnis

Grafik 5.817: Verhältnis zwischen Zivilklagen und Mahnsachen in der DDR 16

Daten aus BA DP 1 VA 8956.

A. Wenige Prozesse – wenig Streit?

203

Jedoch scheint das Mahnverfahren auch ab 1954 in der DDR noch ein akzeptiertes Mittel gewesen zu sein. Es wurde ab 1958 durchgängig drei bis vier Mal so oft genutzt, wie Zivilprozesse geführt wurden. Dies zeigt sich auch in einer Übersicht der Titel, aus denen vollstreckt wurde, für das Jahr 1976.

Beschluss 8% Urkunde anderer Organe 3%

Urteil 20% Zahlungsaufforderung 63% Einigung 6%

Grafik 5.918: Titel, aus denen vollstreckt wurde (1976)

Allerdings kann allein mit der Häufigkeit der Mahnverfahren die im Vergleich zur Bundesrepublik niedrigere Prozessrate der DDR nicht erklärt werden: Auch in der Bundesrepublik wurde (und wird) das Mahnverfahren genutzt und dies sogar relativ noch häufiger als in der DDR: 1984 / 1988 standen einem Zivilprozess in der Bundesrepublik mehr als vier Mahnverfahren gegenüber.19 12 10 8 6 Prozessrate DDR

4

Mahnrate DDR 2

Prozessrate BRD Mahnrate BRD

0 1954 1957 1960 1963 1966 1969 1972 1976 1980 1984 1988

Grafik 5.10: Zivilprozessraten und Mahnraten in DDR und BRD 17 Mit dem „Verhältnis“ wird die Relation von Zivilklagen zu Mahnverfahren dargestellt. Z. B. kamen im Jahr 1988 auf eine Zivilklage etwa 3,4 Mahnverfahren. 18 Daten aus BA DP 1 VA 8872, Vollstreckungssachen und besondere Verfahrensarten, Bezirks- und DDR-Angaben, Jahresergebnisse 1957 – 1990, Ministerium der Justiz Abt. 1. 19 Berechnet aufgrund von Daten aus Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Statistisches Jahrbuch 1984 – 88, Fachserie 10: Rechtspflege, Reihe 2; der Wert für die BRD-Mahnungsrate im Jahr 1976 wurde aus dem Durchschnitt der Jahre 1972 und 1980 errechnet.

204

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

B. Konfliktstrukturen im Zivilprozess der DDR I. Einleitung An den untersuchten Prozessen nahmen fast 10.000 natürliche oder juristische Personen teil. Sie wurden unter verschiedenen Statusgruppen erfasst. Unter „Status“ soll hier nicht der gesellschaftliche Rang verstanden werden, sondern welchen juristischen Stand die Parteien im Zivilprozess hatten, d. h. ob sie als natürliche Personen, also „Bürger“, als „Privatbetriebe“20 oder als „sozialistische Betriebe und Institution“21 auftraten. Die Zuordnung der fast 10.000 Beteiligten kann der folgenden Tabelle entnommen werden. Tabelle 4 Beteiligte

Anzahl

Bürger

6.766

68,6

636

6,5

2.456

24,9

1.319 357 319 157 304

53,7 14,5 13,0 6,4 12,4

9.858

100,0

Privatbetriebe Sozialistische Betriebe und Institutionen Darunter: Wohnungsunternehmen Versorgungsunternehmen Sonstige VEB Soz. Genossenschaften Staatliche Organe Gesamt

Prozent

20 Als Bürger wurden alle Kläger eingeordnet, die im eigenen Namen Klage erhoben hatten und bei denen keine Verbindung des Klagegrundes mit einer gewerblichen Tätigkeit festgestellt werden konnte. Soweit Bürger als Vermieter vor Gericht auftraten, wurden sie trotzdem als Privatpersonen gewertet, da die Miete in der DDR keine Einkommensfunktion hatte. Die Grenze zwischen Bürgern und Privatbetrieben war dann leicht zu ziehen, wenn der Privatbetrieb eine juristische Person war. Schwieriger einzuordnen waren unter ihrem eigenen Namen firmierende natürliche Personen. Es war nicht immer zu erkennen, ob das geschäftliche Handeln ein einmaliger Akt war, der Bürger also „privat“ handelte, oder ob er ein „Selbständiger“ war. Da die Zahl selbständig Tätiger wie auch die Zahl der Privatbetriebe in der DDR aber vergleichsweise niedrig war, sollte dieses Abgrenzungsproblem nicht überbewertet werden. 21 Zum Begriff der „sozialistischen Betriebe und Institutionen“ vgl. Dietmar Kurze, Sozialistische Betriebe und Institutionen als Verklagte im DDR-Zivilprozess (= Berliner Juristische Universitätsschriften, Grundlagen des Rechts, Bd. 37), Berlin 2005; sie wurden gegebenenfalls aufgegliedert. Dabei hat es sich als sinnvoll erwiesen, Versorgungsunternehmen (für Energie, Gas und Wasser) und Wohnungsunternehmen wegen ihrer besonderen Bedeutung im

B. Konfliktstrukturen im Zivilprozess der DDR

205

Deutlich wird der hohe Anteil (mehr als zwei Drittel!) der beteiligten Bürger. Sozialistische Betriebe und Institutionen machten immerhin noch ein Viertel aller Beteiligten aus, während Privatbetriebe nur knapp die 5%-Marke überstiegen. Für die Beteiligten und auch die Struktur und Funktion des Zivilprozesses generell ist es zum einen von Bedeutung, in welcher Rolle die natürlichen und juristischen Personen im Prozess auftreten: Als Kläger, die eine Forderung, einen Anspruch geltend machen oder als Verklagte, die sich regelmäßig in der passiven Position befinden. Zum anderen lohnt die Differenzierung nach Prozesskonstellationen: Es sagt viel über den Zivilprozess aus, ob er dem Staat zum Eintreiben von Forderungen oder als Konfliktregelungsapparat für Streitigkeiten unter den Bürgern diente. Schließlich ist bei einem solch langen Untersuchungszeitraum die zeitliche Dimension zu beachten. Eine genaue Interpretation wird deshalb differenziert erfolgen müssen.

II. Das Verschwinden der Privatbetriebe Ein eindeutiges Bild zeichnet sich für die Prozessbeteiligung der Privatbetriebe ab. 1948 und 1951 waren sie noch mit einem Anteil von über 25% an den Klägern beteiligt. Danach fiel dieser schnell auf ein Niveau an der Grenze der Wahrnehmbarkeit und verblieb während des übrigen Untersuchungszeitraums dort (mit Ausnahme des Jahrgangs 1980). Auch nach den Statistiken des Ministeriums der Justiz für die Zeit ab 1976 tauchten Privatbetriebe als Kläger erwartungsgemäß höchst selten auf:22 In Ost-Berlin schwankte ihr Anteil in den Jahren 1976 bis 1988 zwischen 1% und 2,5%, in der gesamten DDR zwischen 1% und 3,5%. Die Zahl und der Anteil der verklagten Privatbetriebe sanken in gleicher Weise.23 Besonders häufig klagten in den Anfangsjahren noch Architekten, Spediteure, Makler, Bauunternehmer, Kaufleute und Handwerker. Eigentümer oder Vermieter von Mietshäusern wurden – wie ausgeführt – nicht als Privatbetriebe eingeordnet. Klagen von Großbetrieben (z. B. Verlage, Brauereien, etc.) waren die Ausnahme. Hier handelten meist Treuhänder bzw. Konkursverwalter. Dass statt einem Privatbetrieb nach dessen Auflösung, Umwandlung oder Beschlagnahmung nunmehr die ehemaligen Eigentümer oder Geschäftsführer in Anspruch genommen wurden, also eine Verschiebung des Verklagtenstatus von Privatbetrieb zu Bürger, kam nur in Ausnahmefällen vor.24 Zivilprozessgeschehen als eigenständige Gruppen zu führen. Gleichwohl waren sie meist als VEB organisiert. Insofern bezeichnet die Kategorie „sonstige VEB“ in der folgenden Tabelle nur diejenigen Betriebe, die weder Versorger noch Wohnungsverwaltung waren. 22 Da die ausführlichen EDV-Statistiken vom Ministerium der Justiz erst ab 1973 erstellt wurden, ist eine vergleichende Betrachtung der Anfangsjahre der DDR, in denen Privatbetriebe noch häufiger vor Gericht erschienen, leider nicht möglich. 23 Siehe Datensammlung (wie Anm. 12), Grafik 9.

206

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung 160 140 120 100 80 60 40

Anteil am Jahrgang in %

20

absolute Werte (Fälle)

0 48

54 51

60 57

66 63

72 69

80 76

88 84

Jahrgang

Grafik 5.11: Privatbetriebe als Kläger im Zivilprozess

Die Privatbetriebe verschwanden wie aus dem Wirtschaftsleben der DDR auch aus dem Zivilprozess. Allerdings existierten insbesondere noch etliche kleinere Handwerksbetriebe, von der politischen Führung als ideologisch unerwünscht zwar missbilligt, jedoch aus wirtschaftlicher Notwendigkeit geduldet, auch nach den 50er Jahren.25 Für Streitigkeiten mit anderen – sozialistischen – Betrieben wurde weitgehend das Staatliche Vertragsgericht zuständig. Eine noch zu klärende Frage ist, wie die Konflikte zwischen den Privatbetrieben und den Bürgern ausgetragen wurden. Aus den vorliegenden Daten kann jedenfalls geschlossen werden, dass diese in der Regel nicht vor das Zivilgericht gelangten. Es bleibt zu vermuten, dass Handwerkerleistungen in der DDR ein derart begehrtes Gut waren, dass die Bürger Konflikte tunlichst vermieden, um überhaupt weiterhin mit dem Erscheinen der Fachmänner rechnen zu können. Möglich ist auch, dass diese wiederum unter einem gewissen Druck standen, gegenüber politischen Kräften nicht aufzufallen und ihr einträgliches Nischendasein nicht durch Konflikte zu gefährden.

III. Keine Zivilprozesse unter sozialistischen Betrieben und Institutionen Streitigkeiten zwischen sozialistischen Institutionen unterlagen grundsätzlich der Zuständigkeit des Staatlichen Vertragsgerichts.26 Diese Parteienkonstellation, AZ 8 c 458.48. Vgl. Monika Kaiser, 1972 – Knockout für den Mittelstand: zum Wirken von SED, CDU, LDPD und NDPD für die Verstaatlichung der Klein- und Mittelbetriebe, Berlin 1990. 26 Zum Staatlichen Vertragsgericht siehe Kapitel 2 – Historische Einführung A. I. 3. d), S. 26 ff. 24 25

B. Konfliktstrukturen im Zivilprozess der DDR

207

die am amtsgerichtlichen Zivilprozess der Bundesrepublik 1975 maximal einen Anteil von 8,3% hatte,27 entfiel für den Zivilprozess der DDR weitgehend. Es fanden sich daher auch nur 24 solcher Fälle in den Zivilprozessakten, was einem Anteil von 0,5% an allen Fällen entspricht. Mehr als die Hälfte dieser Fälle entstammte den Jahrgängen bis 1957. In diesen Jahren waren die Verhältnisse zwischen den staatlichen und staatsnahen Organisationsformen sowie der volkseigenen und gleichgestellten Wirtschaft noch ungeklärt. Auch existierten noch nicht die später ausgebildeten Kommunikationsbeziehungen. So konnte es vorkommen, dass die AWA (Anstalt zur Wahrung der Aufführungsrechte) gegen einen Kreisverband des FDGB, einen Bürgermeister oder einen Betriebssportverein Gebühren für die Verwendung von Musik bei Festveranstaltungen durch gerichtliche Zahlungsaufforderung einzuziehen suchte.28 Auch VEB machten ihre Ansprüche gegen andere staatliche Institutionen so geltend. Mitunter befand sich eine der Parteien zum Klageeingang in Treuhandverwaltung und war vorher ein Privatbetrieb gewesen.29 Dabei handelte es sich aber um eine Übergangserscheinung. Bei den 24 Fällen handelte es sich daher um Ausnahmen und Irrläufer.

IV. Zivilprozesse von Bürgern gegen sozialistische Betriebe und Institutionen VEB, sozialistische Genossenschaften, Versorgungs- und Wohnungsunternehmen sowie staatliche Organe wurden so selten verklagt, dass die Einzelkurven dafür nicht interpretierbar sind.30 Der ab 1976 zu beobachtende, vergleichsweise starke Anstieg des Anteils und der – hier nicht abgebildeten – absoluten Werte wird in den Daten des Ministeriums der Justiz für Ost-Berlin und die DDR etwas gleichmäßiger abgebildet.31 In 27 Elmar Steinbach / Rolf Kniffka, Strukturen des amtsgerichtlichen Zivilprozesses. Ergebnisse einer rechtstatsächlichen Aktenuntersuchung, München 1982, S. 235. Zu beachten ist, dass die angesprochene Parteienkonstellation als „beide Parteien nicht privat“ bezeichnet wird und daher einen großen Teil an Prozessen zwischen Unternehmen beinhalten wird. Direkt vergleichbar sind diese Angaben mit Daten aus der DDR daher nicht. Angaben des Statistischen Bundesamts liegen nur ab den 80er Jahren vor. 1982 hatten demnach „juristische Personen öffentlichen Rechts“ einen Anteil von 3,4% an allen Klägern bzw. 0,6% an allen Verklagten (Konstellationen von Parteien wurden nicht erhoben); BT-Drs. 10 / 5317, S. 210. 28 So in AZ 241.C.316.57 und AZ 242.C.552.57. 29 So in AZ 2.C.552.51. 30 Die Aggregation zu „sozialistischen Institutionen“ wird daher beibehalten, wobei anzumerken ist, dass auch an den verklagten Institutionen die volkseigenen Betriebe (und in dieser Gruppe wiederum die Wohnungsunternehmen) den größten Anteil hatten. Versorgungsunternehmen wurden so gut wie nie verklagt. Bei einem akzeptierten Fehler von bis zu 5% bleibt der Anteil der Institutionen an allen Verklagten trotzdem bis 1972 fragwürdig.

208

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung 8 7 6 5 4

Anteil am Jahrgang

3 2 1 0 48

51

54

57

60

63

66

69

72

76

80

84

88

Jahrgang

Grafik 5.1232: Anteil sozialistischer Institutionen an Verklagten

der DDR verlief die Entwicklung ganz ähnlich, mit dem Unterschied, dass der Anteil nach 1984 weiter stieg und schließlich 6,1% erreichte.33 Sicher kann hier nur gesagt werden, dass Institutionen nicht in dem Maß verklagt wurden, wie es zu Anfang des Untersuchungszeitraums noch für Privatbetriebe galt.34 Obwohl dem Bürger auch gegenüber der volkseigenen Wirtschaft umfangreiche Gewährleistungsrechte zugestanden worden waren, wurden diese offensichtlich nur selten gerichtlich geltend gemacht. Seit den 70er Jahren scheint die Bereitschaft, gegen sozialistische Institutionen zu klagen, allerdings zugenommen zu haben. Der Machtwechsel von Walter Ulbricht zu Erich Honecker kann dabei genauso eine Rolle gespielt haben wie die wirtschaftlichen Reformen (NÖSPL). Die Prozesse von Bürgern gegen Institutionen machten mit 109 Fällen den Großteil aller Verfahren gegen Institutionen aus (76,9% bzw. 4,9% aller Prozesse von Bürgern). Bis 1976 beschränkten sich solche Verfahren auf Einzelfälle, danach war ein Aufschwung zu beobachten. Der Verlauf der Zahlen verklagter sozialistischer Betriebe und Institutionen entsprach ab 1960 fast exakt dem der von Bürgern verklagten sozialistischen Betriebe und Institutionen, das heißt, nahezu sämtliche Prozesse gegen Institutionen wurden ab dieser Zeit von Bürgern geführt. 31 Der Anteil institutioneller Verklagter nahm in Ost-Berlin von 5,1% (1976) auf 6,8% (1980) zu, sank dann aber wieder ab, während die absoluten Zahlen weiter stiegen. 32 Für 1969 wurden in der im Rahmen des Projekts gezogenen Stichprobe keine Klagen gegen sozialistische Institutionen gefunden. Dies könnte mit dem Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker als Staatsratsvorsitzendem zusammengehangen haben und Zeichen einer abwartenden Haltung gewesen sein. Aufgrund der ohnehin geringen Anzahl von Klagen gegen diese Institutionen bleibt diese Annahme jedoch extrem spekulativ. 33 Ministerium der Justiz, EDV-Zivilprozessstatistik 1976 – 1988, BA DP 1 VA 8910 (OstBerlin), BA DP 1 VA 8911 (DDR). 34 Dietmar Kurze, Sozialistische Betriebe und Institutionen als Verklagte im DDR-Zivilprozess (wie Anm. 21).

B. Konfliktstrukturen im Zivilprozess der DDR

209

nur Berlin-Zentrum 20 18 16 14 12

absolute Werte

10 8

verklagte Institutionen (gesamt)

6 4

Bürger gegen Institutionen

2 0 48

54 51

60 57

66 63

72 69

80 76

88 84

Jahrgang (Fälle gewichtet)

Grafik 5.13: Gesamtzahl der verklagten Institutionen und von Bürgern verklagten Institutionen

Bei einer Zahl von 525 Klagen35 gegen sozialistische Institutionen in Ost-Berlin für den Jahrgang 1987 ist es vielleicht vermessen, von einer „Renaissance“ der Klage als Mittel der Anspruchsverwirklichung gegenüber staatlichen Institutionen und Betrieben zu sprechen. Auch die Eingabenzahlen explodierten in diesem Jahr. Trotzdem kann für 1987 / 88 schon nicht mehr von einem ausschließlichen „Feierabendrecht“ von Bürgern gegen Bürger gesprochen werden, wenn diese jede sechste Klage gegen eine Organisationsform ihres Staates richteten. Die hohe Zahl von Klagen 1988 könnte als große Unzufriedenheit mit sozialistischen Institutionen aufgrund der desolaten wirtschaftlichen Lage oder als gestiegenes Selbstbewusstsein gegenüber staatlichen Institutionen gedeutet werden.36

V. Dominanz der Bürger unter den Verklagten Unter den Verklagten dominierten Bürger. Institutionen wurden, wie ausgeführt, nur sehr selten verklagt. Da sich die Klagen gegen Privatbetriebe auf 1948 und 1951 beschränkten, schnellte nach deren Wegfall der Anteil der Bürger an den Verklagten von unter 85% auf ca. 95% hoch und blieb die restliche Zeit in diesem Bereich oder noch darüber.

35 Ministerium der Justiz, EDV-Zivilprozessstatistik 1976 – 1988, BA DP 1 VA 8910 (OstBerlin). Insgesamt wurden in diesem Jahrgang 9.424 Prozesse bearbeitet, Prozesse gegen Institutionen machten also knapp über 5% der Prozesse in diesem Jahrgang aus. 36 Für eine genauere Untersuchung dieser Prozesse soll auf die Arbeit von Dietmar Kurze, Sozialistische Betriebe und Institutionen als Verklagte im DDR-Zivilprozess (wie Anm. 21) verwiesen werden.

210

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung Tabelle 5 Verklagte

Anzahl

Prozent

Bürger Privatbetriebe Sozialistische Institutionen

4.556 231 142

92,4 4,7 2,9

Gesamt

4.929

100,0

Der hohe Anteil der Bürger an den Verklagten in allen Jahrgängen wird von den Daten des Ministeriums der Justiz37 sowohl für Ost-Berlin als auch die gesamte DDR bestätigt.38 Allerdings wurden und werden auch in der Bundesrepublik die mit Abstand meisten Prozesse gegen Bürger geführt. Ihr Anteil an den Beklagten lag 1984 bei 79%, mithin „nur“ 16% niedriger als in der DDR.

100 80 60 40 BRD

20

DDR 0 Bürger

andere

Grafik 5.1439: Anteil der Bürger an Verklagten in DDR und BRD (1984)

Die hohe Anzahl der Zivilprozesse in der DDR gegen Bürger resultierte zum einen aus der Absonderung des Wirtschaftsrechts und zum anderen aus der niedrigen Zahl von Klagen gegen sozialistische Betriebe und Institutionen.

37 Ministerium der Justiz, EDV-Zivilprozessstatistik 1976 – 1988, BA DP 1 VA 8910 (OstBerlin), BA DP 1 VA 8911, 8912 (DDR). Zu beachten ist, dass die einzelnen Statusgruppen zusammen nicht genau die angegebenen Gesamtwerte ergeben, daher liegt die Summe der Prozentzahlen auch stets unter 100%. Die Gesamtzahlen wurden der Statistik des Ministeriums der Justiz entnommen. 38 Während er in den Projektdaten allerdings im Zeitverlauf der letzten Jahrgänge leicht absank, ist in den Daten des Ministeriums der Justiz eine leichte Steigerung zu bemerken. Da die Differenzen aber innerhalb des Fehlerbereichs von 5% bleiben, kann dieser Unterschied nicht als sicher angenommen werden. 39 Daten für DDR: Ministerium der Justiz, EDV-Zivilprozessstatistik 1976 – 1988, BA DP 1 VA 8911, Daten für BRD: BT-Drs 10 / 5317, S. 210.

B. Konfliktstrukturen im Zivilprozess der DDR

211

VI. Klagende sozialistische Betriebe und Institutionen Für die einzelnen Statusgruppen ergab sich folgende Häufigkeitsverteilung. Tabelle 6 Kläger Bürger Privatbetriebe Staatliche Institutionen Davon: Wohnungsunternehmen Versorgungsunternehmen Sonstige VEB Soz. Genossenschaften Staatliche Organe Gesamt

Anzahl 2.210 405 2.314

Prozent 44,8 8,2 47,0

1.299 351 248 135 281 4.929

56,1 15,2 10,7 5,8 12,1 100,0

Im Gegensatz zur Analyse aller Beteiligten, von denen über zwei Drittel den Status „Bürger“ hatten, stellten die sozialistischen Betriebe und Institutionen genauso viele Kläger wie die Bürger.40 Bei der differenzierten Betrachtung der 100

80

60

Anteil am Jahrgang

40

Bürger Institution

20

Privatbetrieb 0 48

54 51

60 57

66 63

72 69

80 76

88 84

Jahrgang

Grafik 5.15: Anteile der Kläger nach Status 40 Absolute Häufigkeiten werden im Folgenden generell gewichtet und beschränkt auf Berlin-Zentrum dargestellt. In diesem Fall sinkt die Gesamtzahl der Kläger auf 4.230 und der Anteil der Bürger an den Klägern auf 40,2%, während der Anteil der Institutionen auf 50,7% steigt. Dies liegt daran, dass aus den Gerichtsbezirken Lichtenberg und Köpenick fast ausschließlich bürgerliche Kläger kamen: Der Anteil institutioneller Kläger lag in Lichtenberg bei nur 31,6%, in Köpenick bei 25,7%.

212

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

Betriebe und Institutionen wird wieder die Dominanz der Wohnungsunternehmen deutlich. Dies weist auf die Bedeutung der Prozessgegenstände für den Charakter der Zivilprozesse hin. Die Beteiligung der einzelnen Klägergruppen am Zivilprozess veränderte sich im Zeitverlauf z. T. deutlich. Der plötzliche Anstieg der Klagen von Institutionen zum Jahr 1954 korrespondierte zwar mit dem gleichzeitig zu beobachtenden Abfall der Klagen von Privatbetrieben, fiel aber noch wesentlich steiler aus, so dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass die volkseigenen Betriebe die Klagen der Privatunternehmer nur „übernommen“ hätten. In den Jahren zwischen 1954 und 1960 scheint die gerichtliche Geltendmachung von Ansprüchen für Institutionen ein gängiges Mittel gewesen zu sein, von dem in den Jahren darauf allerdings aus (an dieser Stelle) noch nicht zu erklärenden Gründen wieder Abstand genommen wurde. Spätestens ab 1972 verloren die staatlichen Institutionen ihre den Zivilprozesscharakter bestimmende Rolle. In den folgenden Jahren stieg die absolute Zahl der privaten Kläger genauso wieder an wie die der institutionellen Kläger, die so ein leichtes Übergewicht hielten. In den letzten Jahren der DDR kam diese Verteilung aus dem Lot, institutionelle Kläger gewannen wieder mehr an Gewicht. Der letzte Untersuchungsjahrgang (1988) zeigte schließlich eine etwa gleich stark besetzte Verteilung beider Statusgruppen, die jeweils ca. 50% Anteil an diesem Jahrgang hatten. Der Vergleich mit den Daten des Ministeriums der Justiz für Ost-Berlin ergab eine stellenweise bis auf die Kommastellen genaue Übereinstimmung mit den Daten des Projekts. Beim Vergleich mit den Daten für die gesamte DDR wurde allerdings wiederum deutlich, dass Ost-Berlin wegen seines Hauptstadt-Status‘ eine Sonderrolle innehatte. Die Entwicklung von den 60er bis zu den 80er Jahren verlief nach den Daten des Ministeriums der Justiz für die gesamte DDR auf niedrigerem Niveau. Außerdem war der Abfall in den 70er Jahren weniger drastisch, wogegen der Wiederanstieg in den letzten Jahrgängen steiler verlief.41 In Ost-Berlin scheinen Entwicklungen demnach fokussierter und extremer stattgefunden zu haben. Wie schon besprochen, wurden Institutionen von den Kodierern eigentlich genauer eingeordnet und dann nachträglich in den meisten Aufstellungen dieser Arbeit, wo es nicht auf die Differenzierung ankam, zur Gruppe „Institutionen“ zusammengefasst. Auch die Statistiken des Ministeriums der Justiz definierten den Status der Institutionen im Zivilprozess genauer, wenn auch nicht so genau wie im Projekt.42 41 Ministerium der Justiz, EDV-Zivilprozessstatistik 1976 – 1988, BA DP 1 VA 8910, 8911 (Ost-Berlin und DDR). 42 Während bei volkseigenen Betrieben in den Projektdaten noch einmal zwischen Wohnungs- und Versorgungsunternehmen unterschieden wurde (da schon bekannt war, dass diese in Ost-Berlin zu den Vielfach-Prozessierern gehört hatten), differenzierten die Ministerium

B. Konfliktstrukturen im Zivilprozess der DDR

213

Volkseigene Betriebe waren insgesamt mit über 80% die größte Klägergruppe innerhalb der Institutionen. Innerhalb dieser Gruppe hatten wiederum Wohnungsunternehmen den größten Anteil von 69%, während Versorgungsunternehmen nur 19% der volkseigenen Kläger stellten. Nicht in diese Hauptkategorien eingeordnete volkseigene Betriebe bildeten einen „Rest“ von 12% dieser Gruppe. Sozialistische Genossenschaften und staatliche Organe traten in unserer Stichprobe nur vereinzelt als Kläger auf. Nur letztere hatten einen Anteil von über 5% an allen Klägern. 1. Wohnungsunternehmen als Kläger Von entscheidendem Einfluss auf die Prozessstatistik waren die Klagen der Wohnungswirtschaft. Dabei wurden als Klagen von Wohnungsunternehmen sowohl diejenigen erfasst, die von einer Wohnungsverwaltungsgesellschaft für ihren eigenen Wohnungsbestand erhoben wurden, als auch solche, bei denen sie die Miete für von ihr verwaltete Wohnungen einforderten.43 Die Klagen der volkseigenen Wohnungsverwaltungen stellen gleichwohl nicht alle Vermieterklagen der DDR dar. Neben den durch eine Wohnungsverwaltungsgesellschaft vermieteten Wohnungen existierten, was in den DDR-Statistiken gern übersehen wurde, bis 1989 auch privat bewirtschaftete Wohnungen.44

100

80

60

Anteil am Jahrgang

40

20

0 48

51

54

57

60

63

66

69

72

76

80

84

88

Jahrgang

Grafik 5.16: Anteil der Wohnungsverwaltungen an allen klagenden Institutionen der Justiz-Statistiken nur nach volkseigenen Betrieben, sozialistischen Genossenschaften und staatlichen Organen. 43 Die interne Statistik des Ministeriums der Justiz hat zwar nach dem Eigentum an den Mietobjekten unterschieden, aus den Klageschriften der Stichprobe war jedoch eine derartige Differenzierung nicht möglich. 44 Vgl. unten Kapitel 5 – Ergebnisse der Untersuchung, D. II., S. 268 ff.; Dietmar Kurze, Sozialistische Betriebe und Institutionen als Verklagte im DDR-Zivilprozess (wie Anm. 21).

214

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

Nicht verwunderlich ist das völlige Fehlen von wohnungsbezogenen Klagen im Jahre 1948, da zu dieser Zeit noch keine volkseigenen Wohnungsverwaltungen existierten. Auffällig ist hingegen die absolute Dominanz solcher Prozesse von über 70% Anteil an allen Klagen in den insgesamt verfahrensstarken Jahrgängen 1954 bis 1960. Nach dem erheblichen Rückgang von 1960 bis 1963 kam es noch zu heftigen Schwankungen, bis sie in den 80er Jahren wieder kontinuierlich zunahmen, um 1988 wieder deutlich über 70% aller Klagen auszumachen. Betrachtet man nur die absoluten Zahlen, so stiegen die Klagen im Zentrum von Berlin nach der Hochphase von 1954 / 57 schon seit 1969 kontinuierlich wieder an. Der Vergleich mit der relativen Anzahl von Mietklagen zeigt aber, dass Mietklagen nicht mehr die Dimension erreichten, die sie noch 1960 hatten.

2. Versorgungsunternehmen als Kläger nur Berlin-Zentrum 120 100

80

absolute Werte

60

40

20 0 48

51

54

57

60

63

66

69

72

76

80

84

88

Jahrgang (Fälle gewichtet)

Grafik 5.17: Versorgungsunternehmen als Kläger

Die von Versorgungsunternehmen eingereichten Klagen fielen sehr schnell und steil von einem sehr hohen Niveau im Jahrgang 1948 auf einen Anteil von unter 5% an allen Klagen und verschwanden gegen Ende des Untersuchungszeitraums ganz aus den Prozessakten. Die große Zahl von diesbezüglichen Prozessen 1948 war eine Folge der Nachkriegswirren, wogegen die Kampagne 1963 bis 1969 einer differenzierteren Erklärung bedarf – auch hierzu unten.

3. Sonstige volkseigene Betriebe und Sozialistische Genossenschaften als Kläger Der Anstieg von Klagen sonstiger volkseigener Betriebe zwischen 1948 und 1951 (siehe Grafik 5.18) ist auf die Ausweitung der Tätigkeit des Konsums, die verstärkten Umwandlungen von Privatbetrieben in VEB und die Gründung der HO

B. Konfliktstrukturen im Zivilprozess der DDR

215

zurückzuführen. Danach bewegte sich ihr Anteil an allen Klagen zwischen 5% und 10%. Lediglich 1960 hatten Klagen dieser Gruppe mit über 30% an allen Prozessen einen erheblichen Anteil. nur Berlin-Zentrum 90 80 70 60

absolute Werte

50 40

sonstige VEB

30 20

sozialistische Genossenschaften

10 0 48

54 51

60 57

66 63

72 69

80 76

88 84

Jahrgang (Fälle gewichtet)

Grafik 5.18: Sonstige VEB und sozialistische Genossenschaften als Kläger

Die Spitze im Jahr 1960 ist auf die Ausgabe von Teilzahlungskrediten zur Finanzierung teurer Konsumgüter zurückzuführen. Zu dieser Zeit wurden sie noch von den HO selbst ausgegeben, danach übernahmen dies die Sparkassen. Seit 1972 war bei den Klagen von VEB und sozialistischen Genossenschaften wieder ein gewisser Anstieg zu verzeichnen. Dies entsprach der allgemeinen Tendenz einer steigenden Zahl von Prozessen und wirkte sich daher auf den Anteil der Klagen dieser Gruppe kaum aus. Besonders unter Berücksichtigung des stetig steigenden Anteils dieser Klägergruppe an der Gesamtwirtschaft kann – mit Ausnahme der Kreditklagen um 1960 – von einer insgesamt geringen Klageaktivität gesprochen werden.45 4. Staatliche Organe als Kläger Unter „Staatlichen Organen“ wurden unabhängig von ihrer gesellschaftsrechtlichen Organisationsform auch Banken, die „Deutsche Versicherungs-Anstalt“ (später „Staatliche Versicherung“) und die Sozialversicherung des FDGB, die Anstalt zur Wahrung der Aufführungsrechte (AWA), die Humboldt-Universität zu Berlin, der Rundfunk und das Staatsfernsehen der DDR gefasst. Der geringe Anteil dieser Gruppe an den Klagen 1948 hängt mit der Neuorganisation von Wirtschafts-, Finanz- und Versicherungsbeziehungen zusammen. Die 45 Hierzu genauer unten: Kapitel 5 – Ergebnisse der Untersuchung, C. V. 1. und 2., S. 256 ff.

216

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung nur Berlin-Zentrum 80 70 60 50 40

absolute Werte

30 20 10 0 48

51

54

57

60

63

66

69

72

76

80

84

88

Jahrgang (Fälle gewichtet)

Grafik 5.19: Staatliche Organe als Kläger

erste Klagehäufung in den frühen 50er Jahren begründete sich teilweise mit der zeitweiligen Abschaffung der Verwaltungsvollstreckung. So mußte die AWA ihre Gebührenforderungen mittels gerichtlichen Zahlungsbefehls geltend machen. Dasselbe galt für Parteien, Massenorganisationen und Gewerkschaften, bis ihnen der Zivilrechtsweg durch Rundverfügung des Ministeriums der Justiz46 verlegt wurde. Es scheint eine allgemeine Tendenz bei den staatlichen Organen gegeben zu haben, den Verwaltungsweg dem zivilrechtlichen vorzuziehen, da dort der Rechtsschutz wegen des Fehlens des Verwaltungsrechtsweges für die Bürger geringer war. Der steile Anstieg der Klagen ab 1963 lässt sich dadurch erklären, dass seit dem 1. März 1962 Teilzahlungskredite zur Finanzierung privaten Konsums nur noch durch die Sparkassen ausgegeben werden durften. Die Sparkassen übernahmen damit die Funktion, welche die HO und der Konsum hatten abgeben müssen, in vergleichbarem Ausmaß. 95% aller in der DDR gewährten Teilzahlungskredite waren von Trägern sozialistischen Eigentums ausgegeben worden.47 Der Anteil aller auf Darlehen und Teilzahlungskrediten beruhenden Klagen sank zwischen 1961 und 1963 nach den Daten des Ministeriums der Justiz im gesamten DDR-Gebiet von 13,4% auf 9,7% Anteil an allen Prozessgegenständen.48 In Ost-Berlin verlief diese Entwicklung entsprechend auf einem höheren Niveau. Auf das Verschwinden der Teilzahlungskreditklagen wird später noch genauer eingegangen. In der Bundesrepublik Deutschland gab es keine „sozialistischen Betriebe und Institutionen“. Ein direktes Auftreten des Staates im Zivilprozess war jedoch auch dort selten. Juristische Personen des öffentlichen Rechts machten lediglich Anteile von 2,9% bis 3,4% an allen Klägern aus.49 BA DP I VA 5872. Interne Statistik des Ministeriums der Justiz, BU DP 1 VA 8867. 48 Ministerium der Justiz, EDV-Zivilprozessstatistik 1976 – 1988, BA DP 1 VA 8912 (DDR). 49 BT-Drs 10 / 5317, S. 210. 46 47

B. Konfliktstrukturen im Zivilprozess der DDR

217

VII. Die wesentlichen Beteiligtenkonstellationen Nach dem Verschwinden der Privatbetriebe aus dem Zivilprozess der DDR blieben, abgesehen von der kleinen und speziellen Gruppe der Verfahren von Bürgern gegen sozialistische Betriebe und Institutionen, nur noch zwei wesentliche Prozesskonstellationen übrig: Klagen von sozialistischen Betrieben und Institutionen gegen Bürger und Prozesse unter Bürgern. Institution ./. Bürger

Privatbetrieb ./. Bürger

andere Bürger ./. Bürger

Grafik 5.20: Anteile der Konstellationen im Zivilprozess

Dabei blieb das Verhältnis der beiden größten Prozesskonstellationen zueinander keineswegs konstant. Die Grafik 5.21 zeigt deutliche Phasen. Diese können allerdings erst nach einer eingehenden Inhaltsanalyse interpretiert werden.50

90 80 70 60

Anteil am Jahrgang

50 40 30

Bürger gegen Bürger

20

Institution gegen Bürger

10 48

54 51

60 57

66 63

72 69

80 76

88 84

Jahrgang

Grafik 5.21: Anteile der häufigsten Parteikonstellationen 50

Hierzu siehe unten Kapitel 5 – Ergebnisse der Untersuchung, F., S. 346 ff.

218

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

Alle anderen der neun möglichen Konstellationen spielten im quantitativen Sinne eine geringe Rolle, wie folgender Aufstellung entnommen werden kann. Tabelle 7 Konstellation Kläger / Verklagter

Anzahl

Prozent

Bürger / Bürger Bürger / Institution Institution / Bürger Institution / Institution Bürger / Privatbetrieb Privatbetrieb / Bürger Privatbetrieb / Institution Institution / Privatbetrieb Privatbetrieb / Privatbetrieb

2.054 109 2.225 24 47 277 9 65 119

41,7 2,2 45,1 0,5 1,0 5,6 0,2 1,3 2,4

Gesamt

4.929

100,0

In den folgenden Kapiteln werden deshalb zunächst die beiden Hauptkonstellationen detailliert untersucht, danach wird, soweit es das Datenmaterial und Fragen der statistischen Darstellbarkeit zulassen, auch auf die anderen Konstellationen eingegangen.

C. Prozesse von sozialistischen Betrieben und Institutionen gegen Bürger In knapp der Hälfte aller Fälle des im Rahmen des Projekts erhobenen Datensatzes wurden Bürger von Institutionen verklagt.51 Institutionen in der DDR, d. h. staatliche Unternehmen, Gas-, Wasser- und Stromversorger, die Unternehmen der Wohnungswirtschaft, Banken, Versicherungen und VEB, klagten fast ausschließlich gegen Bürger. Lediglich bis 1960 wurden in geringem Umfang Privatbetriebe verklagt.52 Nach dem Wegfall dieser Verfahren schnellte der Anteil der Bürger an den Verklagten von unter 83% auf ca. 95% hoch und blieb die folgende Zeit in diesem Bereich und höher.53 51 Insgesamt 2.225 Fälle bzw. 45,1% aller erhobenen Akten. Die folgenden Häufigkeitsangaben basieren auf gewichteten und auf das Ost-Berliner Zentrum beschränkten Zahlen. Es handelt sich dann um 2.065 Prozesse bzw. 49% aller Prozesse. 52 Meist handelte es sich dabei um kleine Ladengeschäfte und Handwerksbetriebe, die wegen der Zahlung von Miete oder Wasser- und Energielieferungen in Anspruch genommen wurden. In den Anfangsjahren wurden daneben noch Forderungen aus Warenlieferungen aus vor 1949 abgeschlossenen Verträgen geltend gemacht.

C. Prozesse von sozialistischen Betrieben gegen Bürger

219

nur Berlin-Zentrum 400

300

absolute Werte

200

100

0 48

51

54

57

60

63

66

69

72

76

80

84

88

Jahrgang (Fälle gewichtet)

Grafik 5.22: Prozesse von Institutionen gegen Bürger

Für die Jahrgänge 1954 bis 1963 lagen äußerst viele Prozesse von Institutionen gegen Bürger vor. Dabei klagten nicht immer die gleichen Organe. Ab 1954 folgte auf eine Häufung von Klagen der Wohnungsverwaltungen die höchste Zahl an Klagen der staatlichen Organe und Sparkassen (1963) wegen ausgereichter Teilzahlungskredite. 1963 bis 1969 hatten die staatlichen Versorgungsunternehmen ihre größte Zahl von Klagen wegen Gas-, Wasser- und Stromrechnungen eingereicht. Bei der Datenaufnahme fiel auf, dass diese drei Klägergruppen in den entsprechenden Jahren die Prozessmasse stark dominierten. Teilweise folgten Hunderte von Klagen dieser Kläger aufeinander. Diese Kampagnen wirkten sich auch auf die Relation dieser Klagekonstellation zu den Prozessen unter Bürgern aus.

90 80 70 60

Anteil am Jahrgang

50 40 30

Bürger gegen Bürger

20

Institution gegen Bürger

10 48

54 51

60 57

66 63

72 69

80 76

88 84

Jahrgang

Grafik 5.23: Anteile der häufigsten Parteikonstellationen an allen Prozessen

220

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

Der Anteil der Prozesse von Institutionen gegen Bürger erreichte in diesen Jahren bis zu 78% an allen Prozessen. Mit Ausnahme des Jahrgangs 1988 war dies die Zeit, in der mehr Prozesse von Institutionen als von Bürgern initiiert wurden. Die absoluten Werte erreichten ihren Höhepunkt im Jahrgang 1954 (vgl. Grafik 5.22). Anscheinend wurde ab Mitte der 50er Jahre die stark verbreitete Nutzung des Klagewegs durch die Institutionen kontinuierlich, eventuell durch zentrale Anleitungsmaßnahmen,54 zurückgedrängt. Ab dieser Zeit sanken die absoluten Zahlen stetig. Da allerdings immer weniger Bürger klagten, waren die Zivilgerichte bis 1969 weiter hauptsächlich mit Klagen der Institutionen beschäftigt.55 Der Zivilprozess war insoweit in der Hand der sozialistischen Betriebe und Institutionen. Dort wurden Ansprüche der Betriebe durchgesetzt. Es zeigt sich ein Bild, dass nur wenig zu dem DDR-offiziellen des „Aufbaus des Sozialismus“ passt. Aber auch später hatten diese Verfahren einen weitaus größeren Anteil an allen Prozessen als in der Bundesrepublik – was auch durch die Daten des Ministeriums der Justiz bestätigt wurde.56 Dort hatten Prozesse von Firmen gegen Bürger, nach Berechungen, die auf Daten des Bundesamtes für Statistik beruhen, Anteile zwischen 24% und 40% an den Jahrgängen 1982 bis 1984.57 In der Untersuchung von Steinbach / Kniffka für den bundesrepublikanischen Zivilprozess an Amtsgerichten im Jahrgang 1975 waren 43% der Kläger Firmen. Prozesse von Firmen gegen Bürger hatten einen Anteil von 34% an allen Prozessen.58 Gemessen an den Anteilen, die Prozesse von Institutionen gegen Bürger im Jahrgang 1984 in unseren Akten 53 Der Verlauf der Kurve aller Prozesse mit institutionellen Klägern (vgl. Grafik 16 in der Datensammlung) entspricht fast exakt dem Verlauf in Grafik 5.22, die die Prozesse von Institutionen gegen Bürger darstellt. 54 Vgl. die Befassung im Ministerium der Justiz schon im Jahre 1951. Dort wurden Prozesse, die das Volkseigentum betrafen, separat erfasst und ausgewertet. Unter anderem wurde versucht, unnötige Klagen der Institutionen zu vermeiden, BA DP 1 VA 6931. 55 Interessant ist, dass ab 1972 ein stetiger Anstieg der Prozesszahlen zu verzeichnen war, während die relativen Prozesszahlen klagender Institutionen noch bis 1976 weiter sanken. 56 Ein Vergleich mit Daten des Ministeriums der Justiz war erst für die Jahre ab 1976 möglich. Auch dort wurde – sowohl für Ost-Berlin als auch für die gesamte DDR – ein kontinuierlicher und recht starker Zuwachs der Anteile von Prozessen von Institutionen gegen Bürger festgestellt, wenngleich auf einem etwas niedrigerem Niveau als in unserem Untersuchungsgebiet. Der Anteil der Prozesse von Institutionen gegen Bürger ist also in den Akten des Projekts ungefähr 10% höher als in den Daten des Ministeriums der Justiz. Dies resultiert mit hoher Wahrscheinlichkeit aus der Konzentration der Erhebung auf das Berliner Zentrum, in dem mehr Institutionen ansässig waren als in den Randbezirken. Der Unterschied zwischen den DDR-Daten und denen für Ost-Berlin ist ebenfalls mit dem Hauptstadt-Status erklärbar, der für eine höhere Dichte an Institutionen sorgte, die dann natürlich auch öfter vor dem Zivilgericht erschienen. 57 Da die Bundesstatistik zwar nach dem Status der Parteien, jedoch ebenfalls nicht nach deren Konstellation unterschieden hat, müssen wir nach der vorgestellten Strategie die Anteile der Prozesse von Firmen gegen Bürger aus den Angaben des Statistischen Bundesamtes rechnerisch ermitteln. 58 Elmar Steinbach / Rolf Kniffka, Strukturen des amtsgerichtlichen Zivilprozesses (wie Anm. 27), S. 239 f.

C. Prozesse von sozialistischen Betrieben gegen Bürger

221

einnahmen (43%), scheinen diese Werte niedrig.59 Das Fehlen der Prozesse unter Firmen vor den Zivilgerichten der DDR kann diesen Unterschied nur teilweise erklären.60 Vielmehr bleibt festzustellen, dass der Zivilprozess zu einem großen Teil weiter ein Mittel des Staates und seiner Betriebe zur Forderungseintreibung blieb.

I. Analyse nach einzelnen Prozessgegenständen Hervorstechend ist die Dominanz der Wohnungssachen. Bezogen auf das Untersuchungsgebiet Berlin-Zentrum war jeder zweite Prozess vor den Zivilgerichten ein Prozess eines Betriebes in Wohnungssachen gegen einen Bürger. Tabelle 8 Anzahl

Prozent

Wohnungssachen Versorgungsleistungen Darlehen / Kredite Herausgabe Sachen delikt. Schadensersatz Kaufvertrag Dienstleistungsvertrag Sonstiges

1.174 353 181 86 82 52 51 69

57,3 17,3 8,8 4,2 4,0 2,5 2,5 3,4

Gesamt

2.048

100,0

Relativ häufig vertreten waren noch Versorgerprozesse (Versorgungsleistungen). Von den anderen Prozessgegenständen lagen nur bei Darlehensstreitigkeiten ausreichend Fälle für eine sinnvolle detaillierte Analyse vor. Alle anderen Gegenstände machen jeweils Anteile von weniger als 5% aus. Kaufvertragliche, dienstleistungsvertragliche Streitigkeiten und solche um Schadensersatzansprüche waren sehr selten anzutreffen. Diese wenigen Fälle verteilten sich relativ gleichmäßig auf alle Jahrgänge. Anscheinend wurde im kauf- und dienstleistungsvertraglichen Bereich das Zivilverfahren nicht massenhaft als Mittel zum Eintreiben von Forderungen genutzt. Ein Grund war, dass in der DDR weniger vorgeleistet wurde, d. h. der Bürger musste bei Erhalt der Leistung zahlen. In der Regel handelte es sich um Bargeschäfte. Die Praxis der Zusendung einer Rechnung mit dem Risiko, dass der Leistungsempfänger nicht zahlt, gab es in der DDR Der Durchschnitt in den Jahrgängen 1972 bis 1988 lag bei 40,4%. Werden diese aus den Daten für die Bundesrepublik „herausgerechnet“, so liegt die Differenz zur DDR bei etwa 6%. 59 60

222

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

nur in sehr geringem Umfang, auch wenn es von 1956 bis 1976 ein Versandhandelssystem gab.61 Deliktische Schadensersatzansprüche von klagenden Betrieben gegen verklagte Bürger werden oft mit Bezug zum Arbeitsverhältnis geltend gemacht worden sein. Sie tauchten deshalb selten in den Zivilgerichtsakten auf, sondern sind in denen der Konfliktkommissionen zu erwarten. nur Berlin-Zentrum 400

300

Wohnungssachen

absolute Werte

200

Darlehen / Kredite 100

Gas / Energie / Wasser 0 48

54 51

60 57

66 63

72 69

80 76

88 84

Jahrgang (Fälle gewichtet)

Grafik 5.24: Häufigste Prozessgegenstände in Prozessen von Institutionen gegen Bürger

Der Verlauf der Prozesse um Wohnungssachen entspricht grob dem Verlauf der Kurve aller Prozesse von Institutionen gegen Bürger (vgl. Grafik 5.22), jedoch fielen diese schon ab 1957 und viel steiler ab. Dies bestätigt den Eindruck, dass der typische Zivilprozess von sozialistischen Betrieben und Institutionen gegen Bürger Streitigkeiten um Wohnungssachen zum Gegenstand hatte.62 Die anderen beiden Prozessgegenstände erschienen fast nur in klar abgegrenzten Zeiträumen, den beschriebenen Kampagnen. In diesen Jahren machten sie teilweise einen Anteil von über 80 % an den Prozessen aus. In der Untersuchung von Steinbach / Kniffka ergaben sich bestimmte Prozessgegenstände, die besonders typisch für Prozesse von Firmen gegen Bürger in der Bundesrepublik waren und vor allem in dieser Konstellation auftraten. Es handelte sich hierbei in erster Linie um Kauf- und Tauschprozesse (37% aller Prozesse von Firmen gegen Bürger), Konflikte um Werk- und Dienstleistungsverträge (25%) und mietvertragliche Prozesse (14%).63 Waren und Dienstleistungen (Reinigungen) wurden auch in der DDR von Betrieben angeboten, wenngleich bei letzteren vieles von privaten Handwerkern oder „schwarz“ erledigt wurde. Für die erheb61 Bettina Theben, Eingabenarbeit. Zur Rolle der volkseigenen Betriebe bei der Schlichtung zivilrechtlicher Streitigkeiten mit Bürgern, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. II (= Zeitgeschichtliche Forschungen, Bd. 2 / 2), Berlin 2000, S. 121. 62 Vgl. Kapitel 5 – Ergebnisse der Untersuchung, F., S. 346 ff. 63 Seltener waren Streitigkeiten um Darlehen (5% aller Prozesse von Firmen gegen Bürger) sowie Versicherungsverträge (6% aller Prozesse von Firmen gegen Bürger).

C. Prozesse von sozialistischen Betrieben gegen Bürger

223

lichen Unterschiede scheinen zwei Erklärungsstränge plausibel. Zunächst könnte es in der DDR eine Verkaufskultur gegeben haben: Das Bargeschäft wurde den Raten- und Finanzierungsgeschäften vorgezogen. Ein anderer Zugang ergibt sich aus dem Wirtschaftssystem: Gab es in der Bundesrepublik eine schnelle und dynamische Konsumkultur, die viele Geschäftsabschlüsse in kurzer Zeit mit sich brachte, so wurden diese in der DDR durch die Mangelwirtschaft dauerhaft ausgebremst. Vermutlich waren beide Umstände Ursachen für die Konzentration der Prozesse von Institutionen gegen Bürger auf Mietsachen und andere kampagneartig auftretende Prozesswellen.

II. Wohnungssachen Mietsachen dominierten während des gesamten Untersuchungszeitraums die Prozesse von sozialistischen Betrieben und Institutionen gegen Bürger, was aber unterschiedliche Ursachen hatte. So können aus der Grafik 5.24 zwei Klagewellen herausgelesen werden: Eine für die Jahre 1954 bis 1960, die zweite begann 1972.

1. Die erste Klagewelle: 1954 bis 1960 Aus der vorliegenden Untersuchung ging hervor, dass die größte Welle der Klagen aus Mietverhältnissen nicht in den 70er und 80er Jahre zu finden war, sondern in den 50er Jahren. Besonders ausgeprägt war die Klagewelle in den Jahrgängen 1954 bis 1957 / 60. Selbst in den internen Berichten des Ministeriums der Justiz wurde die Klagefreudigkeit der staatlichen Wohnungsunternehmen bemerkt und kritisiert, auch wenn sie im Rest der DDR nicht ganz so stark ausfiel wie in OstBerlin: „Die Zunahme der Mietzahlungs- sowie Mietaufhebungs- und Räumungsklagen wirft erneut die Frage der Arbeitsweise der volkseigenen Wohnungsverwaltungen bei der Mietkassierung auf. Der Hauptweg kann doch nicht der Prozess sein. . .“64

Eine eindeutige, monokausale Begründung kann für diese Klagewelle nicht gegeben werden. Erschwerend wirkt sich eine gewisse Quellenarmut für diese Zeit aus.65 Unterlagen der KWV sind nicht erhalten und in Abhandlungen aus der DDR wurde dieser Problemkomplex praktisch nicht behandelt. Zeitzeugen sind für die 50er Jahre nur noch vereinzelt zu finden. Aus den Gerichtsakten und baugeschichtBA DP 1 VA 8867, S. 19. Auch andere Darstellungen beinhalten für diese Zeit Lücken: So geht Dieter Hanauske in seiner vom Titel her viel versprechenden Abhandlung „Die Berliner Wohnungspolitik in den fünfziger Jahren und heute. Eine vergleichende Problemskizze“, in: Wolfram Fischer / Johannes Bähr (Hrsg.), Wirtschaft im geteilten Berlin 1945 – 1990. Forschungsansätze und Zeitzeugen, München 1994, S. 95 – 124, ausdrücklich nur auf West-Berlin ein, S. 95. 64 65

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Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

lichen Abhandlungen konnten einige Erklärungen, wie direkt von staatlicher Seite gelenkte Umsiedlungsmaßnahmen für Bauvorhaben, ausgeschlossen werden.66 Die Klagewelle ab 1954 hing zum Teil mit organisatorischen Schwierigkeiten der Wohnungsverwaltungsunternehmen zusammen, die einfach überlastet waren.67 Nach dem Krieg herrschte großer Mangel an Wohnraum, dem die örtlichen Verwaltungen durch Einquartierung von Wohnungslosen begegneten. Die Mehrzahl dieser einquartierten Untermieter konnte noch Ende der 40er, spätestens Anfang der 50er Jahre eigene Wohnungen beziehen. Für die Wohnungsverwaltungen bedeutete dies den Abschluss einer Vielzahl neuer Mietverträge binnen kurzer Zeit. Hinzu kam, dass sich die soziale Lage vieler Bürger durch die andauernde Mangelwirtschaft verschlimmert hatte. Sie waren unzufrieden mit der Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierung. Preissteigerungen und Anhebung der Arbeitsnormen waren an der Tagesordnung, Repressionen gegen Andersdenkende normal. Diese Situation eskalierte mit dem 17. Juni 1953 und der Niederschlagung des Aufstandes. Dies bedingte eine beispielslose Massenflucht gen Westen.68 Viele Wohnungen standen daraufhin leer. Es ist anzunehmen, dass viele der vor allem von den KWV verklagten Mieter, gegen die Versäumnisurteile ergingen, tatsächlich „republikflüchtig“ waren. Auch die Zahlungsbereitschaft oder -fähigkeit der Mieter war in den frühen Nachkriegsjahren eingeschränkt. Häufig hatten Mieter Zahlungen an die Alteigentümer oder die Hausmeister geleistet bzw. mit diesen Vereinbarungen getroffen, dass Aufwendungen auf die Wohnung mit der Miete zu verrechnen seien und verweigerten daher die Zahlung an die KWV oder den VEB Wohnungswirtschaft. Außerdem waren viele Mieter in großer wirtschaftlicher Not, die sich erst allmählich milderte. Bis dahin war oft der Einkauf von Nahrungs- und Heizmitteln vordringlicher als reguläre pünktliche Mietzahlungen. Das Wissen um die Garantie des Wohnraumes mag zusätzlich viele der Mieter „auf den Geschmack“ gebracht haben, ihre Zahlungsprioritäten anders zu setzen. Hierin bestand das hauptsächliche Problem des Mietrechts in der Folgezeit. Ein Großteil der Wohnungen wurde erst allmählich in Volkseigentum überführt oder von einem volkseigenen Betrieb verwaltet. Gründe dafür waren die Enteignungen von tatsächlichen oder vermeintlichen Kriegsverbrechern und Nationalsozialisten, die Beschlagnahme des Vermögens von Westflüchtlingen sowie die Übernahme von Wohnungsbaugesellschaften im Konkurs69 oder durch Verkauf. Entsprechende Ressourcen wurden für die dringend notwendige Instandhaltung 66 Günter Peters, Gesamtberliner Stadtentwicklung von 1949 – 1990, Daten und Grafiken (Beiheft zum Projekt Geschichte des Berliner Mietshauses der Hochschule der Künste), Berlin 1992. 67 AZ 341 c 3181.54. 68 Marcus Flinder, Die Entstehungsgeschichte des Zivilgesetzbuches der DDR (= Rechtshistorische Reihe, Bd. 207), Frankfurt a.M. 1999, S. 46. 69 So die Wohnungsgesellschaften von Leipzig und Dresden: BU DP 1 VA 54.

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verwendet. Die Betriebe der Wohnraumwirtschaft waren nicht in der Lage, ihre Forderungen vor 1951 zu titulieren und sie benötigten einige Jahre, um die aufgelaufenen Forderungen einzuziehen. Eine inhaltliche Analyse der Gerichtsakten zeigte, dass die Klagen zunächst nicht mit einer Begründung versehen waren. Die bloße Feststellung, dass der Kläger mit der Miete im Rückstand war, reichte zur Klageerhebung aus. Begründungen ließen sich erst ab 1957 auf Teilen der Klageanträge finden, vor allem von der KWV Friedrichshain. Erst ab 1960 sind vermehrt Klagebegründungen zu finden. So führte z. B. die KWV Mitte aus, dass der Mieter im Rückstand sei, obwohl er von der Rechtsstelle individuell schriftlich auf den Rückstand hingewiesen wurde, was aber ergebnislos blieb.70 Aus einem Antrag der KWV Prenzlauer Berg lässt sich schließen, dass der säumige Mieter regelmäßig erst gemahnt und persönlich besucht werden und dann der Arbeitgeber ein Schreiben erhalten musste, bevor geklagt werden konnte.71 Auch die Hausgemeinschaftsleitungen sollten eingebunden werden.72 Bestandteil der Begründungen waren zudem die gegen den Mieter bereits geführten Prozesse. Oft ging der prozessuale Curriculum Vitae bis zur 10. Klage.73 Bei einer Mieterin, deren Mann republikflüchtig war, handelte es sich z. B. um die 11. Klage: es gab bereits 7 Räumungsklagen und drei Zahlungsbefehle, die alle unerwidert und nicht beachtet geblieben waren. Bei der 10. Klage wurde öffentlich im Wohngebiet verhandelt, wobei die verklagte Mieterin aber nicht erschien. Dies brachte ihr eine zusätzliche Ordnungsstrafe von 50 M ein.74 Ab 1963 wurden die Begründungen der Klagen immer länger. Sie enthielten die schon durchgeführten Maßnahmen gegen den Mieter, wie schriftliche und mündliche Abmahnungen durch die Hausgemeinschaftsleitung und Mahnungen von der Mahnabteilung der KWV.75 Zunehmend wurden die Hausgemeinschaften eingebunden. Sie entstanden um 1954 mit den Aufgaben, die Hausbewohner mit den wichtigsten politischen Geschehnissen vertraut zu machen, sie zu „gemeinsamen Taten für unseren Arbeiterund Bauernstaat an(zu)spornen“76 und sie dazu zu bewegen, Verbesserungen und Reparaturen am Haus selbst zu durchzuführen.77 Eine Art Gründungsmythos schrieb Karl Nestler zur Entstehung der Hausgemeinschaften mit dem Stück „Die Hausgemeinschaft“. In dem Spiel in zwei Akten, „Das miese Haus“ und „Das AZ 243 C 430 / 60. AZ 354 C 152 / 60. 72 AZ 440 C 168 / 57. 73 AZ 445 C 423 / 63; weitere Beispiele: 7. Klage: AZ 445 C 406 / 62; 5. Klage: AZ 442 C 403 / 62. 74 AZ 441 C 96 / 63. 75 Z. B.: AZ 342 C 191 / 63; AZ 342 C 121 / 63; AZ 342 CV 106 / 63; 340c 116 / 63; AZ 441 C 62 / 63; AZ 441 C 69 / 63 / AZ 441 C 202 / 63. 76 Karl Nestler, Die Hausgemeinschaft, Heiteres Spiel, Leipzig 1960, S. 7. 77 Karl Nestler, Die Hausgemeinschaft (wie Anm. 76), S. 7. 70 71

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Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

schöne Haus“, wohnen die Mieter in einem Haus in desolatem Zustand, bis sich aufgrund dessen fast ein Unfall ereignet. Dieser rüttelt die Mieter auf und sie müssen sich fragen, wer Schuld an diesem Zustand ist. Die Antwort: „Die Gemeinde ( . . . )! Setzt sie nicht die Leute rein? Heimst sie nicht die Miete ein? Droht sie nicht mit Mahnungsspesen, wenn man säumig mal gewesen?“78

Das veranlasst sie, den Wiederaufbau selbst in die Hand zu nehmen und sich in einer Hausgemeinschaft zu organisieren. Die Gründungen der Hausgemeinschaften gingen wohl mit der Gründung der Kommunalen Wohnungsverwaltung einher. Sie waren Ausdruck der Absicht, alle Bürger in Organisationen zu sammeln und so die staatlichen Sanktionen durch die kollektive Selbsterziehung zu ersetzen.79 Es wurden Projekte angeregt. Als ein solches entstand wohl auch die Postille „Die Hausgemeinschaft“, die das Zusammenleben intensivieren sollte. Zudem sollten z. B. Kulturgruppen mit künstlerischen Mitteln in das Tagesgeschehen in den Wohngebieten und Hausgemeinschaften eingreifen und die Festigung der eigenen Hausgemeinschaft und Einwirkung auf andere erreichen.80 In den Neubauten wurden zur Stärkung der Gemeinschaft Gemeinschaftsräume und -flächen, wie z. B. Sportstätten, eingerichtet.81 Inwiefern eine Hausgemeinschaft die ihr angetragene Rolle der Erziehung der Bürger übernahm, hing aber vornehmlich von der sozialen und politischen Zusammenstellung der Mieter ab. Der Hausgemeinschaft stand jeweils eine Hausgemeinschaftsleitung vor. Dies war ein ehrenamtliches Gremium, dem abhängig von der Größe des Hauses bis zu 15 Mieter angehörten, die von der Mieterschaft gewählt waren.82 Diese Hausgemeinschaftsleitungen waren unter anderem zuständig für die Organisation des kulturellen und sozialen Lebens im Haus. Z. B. organisierten sie in großen Mietshäusern, wie in der Leipziger Straße, zwei Mal im Jahr das Nottreppenputzen, die Instandsetzung der Grünflächen und animierten die Mieter zur Durchführung von Reparaturen am Haus. Sie führten auch ein Hausbuch, in das sich jeder Besuch eintragen musste. Besonders „interessant“ war dies natürlich bei „Westbesuch“. Die Vertretung der Mieter gegenüber staatlichen oder privaten Vermietern sollte aber Hauptaufgabe bleiben. Karl Nestler, Die Hausgemeinschaft (wie Anm. 76), S. 18. Hans Reinwarth, Zur Vorbereitung einer Plenartagung des Obersten Gerichts über Fragen des Wohnungsmietrechts, in: NJ 1964, S. 481, S. 483. 80 Karl Nestler, Die Hausgemeinschaft (wie Anm. 76), Vorwort vom Verlag, S. 3. 81 Sergej Sergeevic Alexejew, Das Zivilrecht in der Periode des umfassenden Aufbaus des Kommunismus, Berlin (Ost) 1964, S. 214. 82 Klaus Gläß / Manfred Mühlmann, Bürger, Hausgemeinschaft, Wohngebiet, Berlin (Ost) 1981, S. 12. 78 79

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Der Beschluss zur politischen Massenarbeit in den städtischen Wohngebieten fasste die Erwartungen an die Arbeit der Hausgemeinschaftsleitung wie folgt zusammen: „Das Hauptfeld der politisch-ideologischen Arbeit in den Wohngebieten sind die Hausgemeinschaften. Enge Beziehungen zu den Hausgemeinschaftsleitungen, Gespräche in den Häusern und Familien gehören zu den wichtigsten Anliegen der Wohnbezirksausschüsse der Nationalen Front und der Abgeordneten. Hier kann man schneller und konkreter auf Vorschläge, Hinweise und Kritiken reagieren. In allen Häusern müssen zielstrebige arbeitsfähige Hausgemeinschaftsleitungen gebildet werden.“83 Eine bestimmte Anzahl an Häusern und Hausgemeinschaften waren wiederum zum Wohnbezirksausschuss zusammengefasst. Dies war ein Ausschuss der Nationalen Front. Er bestand aus den Mietern der verschiedenen Hausgemeinschaften. Auch diese Tätigkeit war ehrenamtlich. In diesem Gremium saß auch der für diesen Wohnbezirk zuständige Abschnittsbevollmächtigte (ABV) der Volkspolizei. Seine Aufgabe war es, über Delikte und andere strafrechtlich relevante Vorfälle im Wohngebiet zu berichten und Lösungen anzubieten. Im Bereich des Mietrechts diente die Hausgemeinschaftsleitung dazu, Auskunft über den säumigen Mieter zu erteilen, wie sich aus einem Fall aus dem Jahr 1962 ergibt: „Von der Mietvertretung konnten wir nichts erfahren, da M. sich außerhalb der Hausgemeinschaft stellt.“84 Gegebenenfalls wurde die Hausgemeinschaftsleitung angehalten, auf den säumigen Mieter einzuwirken.85 Eine andere Art, Informationen von der Hausgemeinschaftsleitung zu erhalten, waren Fragebögen, die von den KWV ausgearbeitet wurden, um die sozialen Umstände des Mietschuldners zu prüfen.86 Ein solcher Fragebogen, hier ein Beispiel der KWV Friedrichshain, enthielt folgende Fragen: Beruf und Arbeitsstelle Häusliche Verhältnisse?: Alkoholiker; familiäre Verhältnisse; finanzielle Schwierigkeiten Gesellschaftliche Tätigkeit im WB? Baulicher Zustand der Wohnung Besteht Hausgemeinschaftsleitung? Fand außergerichtliche Aussprache mit dem Mieter statt? Stellungnahme der HGL zur Klageerhebung Welche Erziehungsmaßnahmen schlägt HGL vor? Wie viele Prozesse gab es schon gegen den Mieter?87

Hier zeigt sich die Janusköpfigkeit der Gemeinschaften. 83 „Beschluss zur politischen Massenarbeit in den städtischen Wohngebieten“, zitiert aus Klaus Gläß / Manfred Mühlmann, Bürger, Hausgemeinschaft, Wohngebiet (wie Anm. 82), S. 31. 84 AZ 441 C 87 / 62. 85 AZ 445 C 411 / 62. 86 Bericht über die 3. Plenartagung des Obersten Gerichts: Die Kraft der Gesellschaft zur Überwindung der Mietrückstände nutzen!, in: NJ 1964, S. 615.

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Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

Tatsächlich aber funktionierte die Zusammenarbeit zwischen den KWV und den Hausgemeinschaftsleitungen nicht immer reibungslos. Was für eine Hausgemeinschaftsleitung dem Haus vorstand, bestimmten allein die Mieter. Daher entschied über die Parteinähe und das Engagement letztlich die soziale Zusammensetzung der Bewohner des Miethauses. Welcher Gesinnung die so entstandene Hausgemeinschaftsleitung war, beeinflusste wiederum die Effektivität der Zusammenarbeit. Aus den Akten geht hervor, dass die Hausgemeinschaftsleitung oft weder die Arbeitsstelle, noch den momentanen Aufenthaltsort des Mieters nennen konnte.88 Für den Klagerückgang zu Beginn der 60er Jahre zeichnet sich ein Zusammenwirken mehrerer Ursachen ab. Die eigentumsrechtlichen und mietrechtlichen Verhältnisse an den Wohnungen hatten sich geklärt. Der Lebensstandard war gestiegen. Der Hauptgrund war aber die professionalisierte und routiniertere Arbeit der KWV im Umgang mit Mietschuldnern. Die Klageformulare, die verwendet wurden, die Zusammenarbeit mit den neu gegründeten Hausgemeinschaften und den Hausgemeinschaftsleitungen und schließlich die Bildung einer eigenen Mahnabteilung zeigten eine Professionalisierung, waren Teil der erzieherischen Arbeit am Mieter und verzögerten die Klageerhebung. Auch die privaten Mieter mussten, bevor sie Klage erheben konnten, zunächst mehrere Male mahnen und die Hausgemeinschaftsleitung informieren. Der Weg zur Klageerhebung war länger geworden: Es waren mehrere „Instanzen“ vorgeschaltet, die klärend eingreifen und vor allem erzieherisch auf den säumigen Mieter einwirken sollten. In den fünfziger Jahren waren die Klagen noch regelmäßig auf Zahlung und Räumung gerichtet. Einer derartigen Kündigung musste jedoch der entsprechende Wirkungsbereich der Nationalen Front zustimmen, was die Klageeinreichung weiter verzögerte.89 Vor allem konnte ein derartiges Begehren nicht wie eine reine Geldforderung mit einer gerichtlichen Zahlungsaufforderung geltend gemacht werden, sondern es erforderte stets eine Klageerhebung.90 2. Die zweite Klagewelle ab 1972 Die Dominanz ist in den späteren Jahrgängen fast ausschließlich auf die schlechte Zahlungsmoral der Mieter zurückzuführen. Die Mietschulden gingen in die Millionen.91 Sie waren ein Dauerthema bei der Verwaltung, den Gerichten und in den Parteigremien. Eine bereits 1970 vom Verfassungs- und Rechtsausschuss der AZ 445 C 426 / 62. Z. B. AZ 441 C 62 / 63. 89 AZ 240 C 230. 57. 90 Dies zeigte sich auch in den Daten der vorliegenden Erhebung: Fast keiner Klage auf Räumung wegen Mietrückstandes war ein Mahnverfahren vorausgegangen. 91 In einem Bericht des BG Berlin vom 5. November 1984 wurde die Höhe der Mietrückstände in der Stadt mit 6.319.600,– M angegeben, BA DP 1 SE 2049, S. 251 f. 87 88

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Volkskammer gegründete Arbeitsgruppe nannte daneben als Ursachen für die Mietrückstände im Bereich der Wohnungsunternehmen mangelnde Verantwortung, unzureichende Qualifikation, Personalmangel, Kontrollschwierigkeiten bezüglich der Mietzahlung, Resignation wegen geringer Erfolgsquoten und die Scheu vor Auseinandersetzungen mit den Mietern, die nicht selten auf nicht erfüllte Vermieterpflichten verwiesen. Mühlmann favorisiert aus heutiger Sicht als Hauptgrund die Interessenlage in den volkseigenen Vermieterbetrieben, die seiner Meinung nach nicht ausreichend stimulierend war.92 Dass die Vermieterklagen besonders ab den 70er Jahren vornehmlich von den sozialistischen Betrieben und Institutionen betrieben wurden, hatte zwei Gründe.93 Zum einen wechselten viele Häuser von privater in staatliche Verwaltung. In der DDR war es für Privatpersonen kein ökonomischer Vorteil, im Besitz von Immobilien zu sein, da die Einnahmen durch die Vermietung sehr gering waren. Daher verkauften im Laufe der Zeit viele Wohnungsbesitzer ihre Wohnungen bzw. Häuser an volkseigene Betriebe unter Wert oder schlugen ihr Erbe aus, wenn dieses aus Immobilien bestand. Zum anderen befanden sich die meisten Wohnungen, die neu gebaut wurden, im Besitz von VEB. So wurden auf dem gesamten Gebiet der DDR zwischen 1976 und 1988 knapp 1.394.000 Wohnungen neu gebaut, von denen nur knapp 217.000 (15,6%) privat finanzierte Eigenheime waren (die in den meisten Fällen wiederum nicht vermietet wurden, also Ein-Familien-Häuser waren). In Ost-Berlin war der Anteil der Eigenheime an den neu gebauten Wohnungen mit nur 253 von 20.081 noch geringer (1,3%)94. Prozesse um Wohnungen in Privateigentum und privater Verwaltung verschwanden damit langsam aus dem Zivilprozess. Hinzu kam, dass sich im Ost-Berliner Zentrum, wo besonders viele Zivilprozesse um volkseigene Wohnungen geführt wurden,95 auch viel weniger neue Bausubstanz 92 Manfred Mühlmann, Die Ursachen- und Konfliktforschung in der Zivilprozessrechtswissenschaft der DDR, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. III (= Zeitgeschichtliche Forschungen Bd. 2 / 3), Berlin 2001, S. 71 f. 93 Auch eine Zusammenstellung von Zivilprozess-Daten durch das Ministerium der Justiz zeigt, dass der Anteil der Prozesse um privat bewirtschaftete bzw. verwaltete Wohnungen in Ost-Berlin spätestens ab 1976 stetig absank, während demgegenüber der Anteil der Streitigkeiten um in Volkseigentum befindliche bzw. staatlich verwaltete Wohnungen zwischen 1976 und 1987 stark zunahm. 94 Statistisches Amt der DDR (Hrsg.), Statistisches Jahrbuch der DDR 1989, S. 50. Zu beachten ist allerdings, dass ab dem Jahr 1971 von der Statistischen Zentralverwaltung durch ungenaue Ausweitung der zugrunde liegenden Definitionen um insgesamt 57% überhöhte Zahlen zur Fertigstellung von Wohnungen angegeben wurden; Peter von der Lippe, Die gesamtwirtschaftlichen Leistungen der DDR-Wirtschaft in den offiziellen Darstellungen. Die amtliche Statistik der DDR als Instrument der Agitation und Propaganda der SED, in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), Bd. II / 3: Machtstrukturen und Entscheidungsmechanismen im SED-Staat und die Frage der Verantwortung, Baden-Baden 1995, S. 1973 – 2193.

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Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

unter den Streitobjekten befand als in Bezirken wie Lichtenberg oder Marzahn.96 Alte, verwahrloste und sanierungsbedürftige Wohnungen können den Mietern eher Anlass zu Beschwerden gegeben bzw. sie zur Aussetzung der Mietzahlungen angeregt haben97 als dies in neu erbauten, modernen Wohnungen der Fall war.98 Den Angaben der DDR-Statistik aus dem Jahr 1976 für Ost-Berlin ist zu entnehmen, dass 35% der in Mietsachen Verklagten (wobei es sich hauptsächlich um Bürger gehandelt haben dürfte) Mietrückstände von mehr als einem halben Jahr hatten; weitere 37% schuldeten gar mehr als ein Jahr an Mietzahlungen.99 Die Mietschuldner ließen sich in drei größere Gruppen einteilen.100 Sie hatten zum einen teilweise erhebliche Rückstände, die durch monate-, mitunter jahrelange Nichtzahlung entstanden waren und gerieten regelmäßig auch mit anderen Zahlungspflichten wie Unterhalt, Raten für Teilzahlungskredite oder Energie- und Wasserlieferungen in Verzug.101 Daneben verweigerten Mieter unter Verweisung auf Mängel an den Mietwohnungen die Zahlung. Zwar stand dem Mieter das Recht der Mietminderung zu, dieses hatte aber aufgrund des niedrigen Mietniveaus und der grundsätzlichen Subventionierung der Wohnungswirtschaft nur eine geringe Zwangswirkung.102 Statt95 Auf dem Gesamtgebiet der DDR verlief die Entwicklung nach den Daten des Ministeriums der Justiz etwas anders: Hier stieg der Anteil von Prozessen um Wohnungssachen kontinuierlich von 34% im Jahrgang 1976 auf 49% im Jahrgang 1988. 96 Nur 13% der Nachkriegsbauten befanden sich in diesen drei Stadtteilen, wohingegen 28% der neuen Häuser in Lichtenberg standen. 97 Natürlich ist zu beachten, dass diese Angaben aus dem Jahr 1961 stammen. Der Neubau von Wohnungen im großen Stil (besonders in Montagebauweise) begann gerade in dieser Zeit. Die planmäßige Sanierung von Altbauten wurde erst Anfang der 70er Jahre begonnen. 98 So waren – allerdings vor den Neubauprogrammen der 70er und 80er Jahre – in fast allen Prozessen, die um Wohnungssachen geführt wurden, Wohnungen aus Vorkriegsbeständen Objekt des Streits. Während Nachkriegsbauten im gesamten Berliner Raum im Jahr 1970 einen Anteil von 26% ausmachten, sind in den gesamten Berliner Zivilprozessen aus dem Jahrgang 1976 (wo der Anteil der Nachkriegsbauten noch gestiegen sein dürfte) nur 6% der Prozesse um Wohnungssachen wegen Wohnungen, die nach 1945 gebaut wurden, geführt worden; vgl. Günter Peters, Gesamtberliner Stadtentwicklung von 1945 – 1990 (wie Anm. 66), S. 55. 99 Ministerium der Justiz, EDV-Zivilprozessstatistik 1976 – 1988, BA DP 1 VA 8911 (DDR). 100 Vgl. Manfred Mühlmann, Die Ursachen- und Konfliktforschung in der Zivilprozessrechtswissenschaft der DDR, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. III (wie Anm. 92), S. 71 f. Es ist zu beachten, dass sich diese Ausführungen auf einen anderen Zeitraum beziehen. 101 Bei den Berliner Zivilgerichten, die auch für die Vollstreckung zuständig waren, wurden sog. Bündelakten angelegt, in denen alle Vollstreckungsaufträge gegen einen Schuldner zusammengefasst wurden. Es gab so gut wie keine Schuldner, gegen die vollstreckt wurde, bei denen nicht auch Mietzahlungen ausstanden. 102 Außerdem verweigerten die Gerichte in den 50er Jahren den Mieterlass wegen Komfortminderung (AZ 440 C 1616.54); auch später wurde ein derartiges Zurückbehaltungsrecht

C. Prozesse von sozialistischen Betrieben gegen Bürger

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dessen wurde insbesondere der Eingabenweg beschritten,103 um die Durchführung dringend notwendiger Reparatur- und Renovierungsarbeiten zu veranlassen. Die Einsicht in die begrenzten Möglichkeiten der Wohnungsverwalter führte oft auch dazu, dass Reparaturen in Eigenleistung organisiert, erbracht und dann in Abstimmung mit den Vermietern mit der Miete verrechnet wurden. Nach Schätzungen von Manfred Mühlmann104 wurde der größte Anteil an Mietrückständen durch eine dritte Gruppe von Mietern verursacht, die zeitlich begrenzt Mietschulden entstehen ließen. Dabei seien solche Rückstände besonders in Zeiten allgemein höherer Ausgaben entstanden, so im Zusammenhang mit dem Weihnachtsfest, der Jugendweihe und dem Urlaub, und dann mehr oder weniger kurzfristig nachgezahlt worden. Mietschulden dieser Gruppe sieht Mühlmann dabei als für die DDR spezifisch an. Mieter hätten die Erfahrung gemacht, dass unregelmäßige Zahlungen keine oder zumindest keine ernst zu nehmenden Reaktionen erwarten ließen, so dass Geldausgaben ohne Verpflichtungscharakter zumindest kurzfristig der Vorrang vor der Mietzahlungspflicht eingeräumt werden konnte. Dabei habe es sich bei diesen Mietern um redliche Menschen gehandelt,105 für die es unbeschadet ihrer sicherlich differenzierten Einstellungen zu den Verhältnissen in der DDR selbstverständlich war, den Alltagsverpflichtungen nachzukommen. Besonders die volkseigenen Vermieterbetriebe hätten diesen Mietschuldnern gegenüber eine passive oder auch nachgiebige Haltung gezeigt. Mühlmann sieht in der laxen Einstellung zur Mietzahlungspflicht eine zum Ausdruck kommende Erosion des Pflichtbewusstseins. Deren Hinnahme durch die staatliche Führung drückte sich durch das Wegsehen deutlich aus. Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen, dass diese Mietschulden besonders von Menschen mit geringeren Einkommen in Kauf genommen wurden, die oberen Schichten pünktlichere und zuverlässigere Zahler waren. Gemeinsam mit den Mittelschichten haben sie nur einen Anteil von 15% an allen Verklagten. Dies wird durch den hohen Anteil Verklagter aus der Arbeiterklasse bestätigt (70%).106 nicht anerkannt, vgl. Manfred Mühlmann, Die Ursachen- und Konfliktforschung in der Zivilprozessrechtswissenschaft der DDR, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. III (wie Anm. 92), S. 72. 103 Eine erste quantitative und qualitative Analyse liefert Annett Kästner, Die Verfolgung zivilrechtlicher Ansprüche im Eingabenweg auf dem Gebiet des Mietrechts, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. II (wie Anm. 61), S. 129 – 149, sowie dies., Eingabewesen in der DDR. Eine Untersuchung von Eingaben zu mietrechtlichen Ansprüchen aus den Jahren 1986 und 1987 (= Berliner Juristische Universitätsschriften, Grundlagen des Rechts Bd. 40), Berlin 2006. 104 Manfred Mühlmann, Die Ursachen- und Konfliktforschung in der Zivilprozessrechtswissenschaft der DDR, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. III (wie Anm. 92), S. 71 f. 105 So kamen die Mietschuldner aus allen sozialen Schichten. Eine ehemalige Gerichtssekretärin, die in Leipzig und Berlin tätig war, berichtete auch von Ärzten, Ingenieuren und sogar Professoren, gegen die Vollstreckungsmaßnahmen wegen Mietschulden beantragt wurden. 106 Im Zeitverlauf lassen sich keine Besonderheiten erkennen.

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Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

Die Gerichte hatten den Wohnungsgesellschaften Klage- und Mahnverfahren nachdrücklich empfohlen. Kündigungen und Zwangsräumungen wegen Mietschulden kamen dennoch fast nicht vor. Da Mietschulden ganz vom Einkommen abgezogen wurden und erst danach das für die Pfändungsgrenzen relevante unpfändbare Mindesteinkommen errechnet wurde, waren Mietschulden sogar von Vorteil, da sie den pfändbaren Einkommensteil verringerten, wohingegen freiwillige Mietzahlungen von dem übrig gebliebenen pfändungsfreien Einkommensteil hätten gezahlt werden müssen.

3. Ein Wechsel im Klageziel Bei einer Aufschlüsselung der unter „Wohnungssachen“ zusammengefassten Prozessgegenstände nach genauem Klageziel zeigte sich, dass nur drei Gegenstände in nennenswertem Ausmaß auftraten: die Räumung wegen fehlender Mietzahlung sowie die Forderungen nach Zahlung rückständiger und (später) künftiger Miete.107 nur Berlin-Zentrum 300

Absolute Werte

200

rückständige Miete rückständige + künftige Miete

100

Räumung wegen Mietrückstands 0 48

54 51

60 57

66 63

72 69

80 76

88 84

Jahrgang (Fälle gewichtet)

Grafik 5.25: Einzelne Prozessgegenstände in Wohnungssachen von Institutionen gegen Bürger

Mit großem Abstand waren Klagen auf Räumung wegen ausstehender Mietzahlung insgesamt der häufigste Prozessgegenstand (61% aller Mietsachen). Jedoch beschränkte sich diese Dominanz auf die Jahrgänge 1954 bis 1960, danach wurde von den Institutionen kaum noch auf Räumung geklagt. Es spricht einiges dafür, dass das Klageziel der Räumung nicht weiter postuliert wurde, da solche Urteile praktisch nie vollstreckt wurden.108 107 Typische Mieterforderungen wie Instandhaltung kamen fast nie vor, da die Betriebe gegenüber Bürgern fast ausschließlich die Rolle des Vermieters und nicht von Mietern innehatten. 108 Dazu Thomas Thaetner, Bis zum bitteren Ende – Vollstreckungspraxis in der DDR, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. II (wie Anm. 61), S. 151 – 175, und

C. Prozesse von sozialistischen Betrieben gegen Bürger

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Da die Vollstreckungsproblematik bei Räumungstiteln bekannt war, wurde 1964 durch das Mitglied des Obersten Plenums Cohn die Klage auf künftigen Mietzins nach §§ 258, 259 ZPO befürwortet109, die vorher in den meisten Fällen unzulässig war.110 Denn § 258 ZPO setzte voraus, dass die künftig wiederkehrende Leistung nicht von einer Gegenleistung abhängig sein durfte. Wohnraum war aber gerade die Gegenleistung der Zahlung der Miete. § 259 ZPO hingegen verlangte als Klagebedingung die besondere Besorgnis wegen künftiger Zahlungsverzögerung. Das Problem der Gegenleistungsabhängigkeit konnte damit gelöst werden, dass Wohnraum als Existenzmittel nicht von der Mietzinszahlung abhängig war, sowieso und natürlich gewährt wurde.111 Die nach § 259 ZPO erforderliche Besorgnis, dass sich der Mieter auch in Zukunft der Leistung entziehen werde112, konnte damit begründet werden, dass nach mehreren Mahnungen und sonstigen erzieherischen Maßnahmen durch die Hausgemeinschaft immer noch nicht gezahlt worden war.113 §§ 258, 259 ZPO sollten gleichwertig nebeneinander angewendet werden: „Sowohl bei der Anwendung des § 258 ZPO als auch des § 259 ZPO wird die Klage auf künftige Leistung namentlich dann gerechtfertigt sein, wenn mehrere Mahnungen oder aber das Bemühen gesellschaftlicher Kräfte, z. B. der Hausgemeinschaftsleitung, keinen Erfolg hatten. Wer einer volkswirtschaftlich so wichtigen und überdies bei uns im Betrag verhältnismäßig niedrigen Forderung wie der auf Mietzinszahlung trotz ausreichender Belehrung, ( . . . ), mehrere Monate lang nicht genügt, ruft allerdings die Besorgnis hervor, dass er auch künftig nicht pünktlich zahlen werde.“114 Diese Klage auf künftige Miete sollte aber auf 2 Jahre begrenzt werden, wenn keine Rechtfertigung für weitergehende Maßnahmen vorlag. Oft wurde für die Vollstreckung der Lohn gepfändet.115 Das Problem dabei war oft, dass dafür der Arbeitgeber des säumigen Mieters bekannt sein musste. Es war Aufgabe der KWV, diesen herauszufinden.116 ders., Die Zwangsvollstreckung in der DDR (= Berliner Juristische Universitätsschriften, Grundlagen des Rechts, Bd. 25), Berlin 2003, S. 240 ff. 109 Kurt Cohn, Klage auf Zahlung künftig fällig werdender Mietzinsen, in: NJ 1964, S. 487 ff. 110 Ben Balkowski, Der Zivilprozeß in der DDR von 1945 bis 1975 zwischen bürgerlicher Rechtstradition und Sozialismus (= Studien zur Rechtswissenschaft, Bd. 59), Hamburg 2000, S. 434. 111 Kurt Cohn, Klage auf Zahlung künftig fällig werdender Mietzinsen, in: NJ 1964, S. 487. 112 Z. B. AZ 441 C 52 / 62; hier noch substantiiert dargelegt, warum gerade bei diesem Mieter die Besorgnis besteht. 113 Kurt Cohn, Klage auf Zahlung künftig fällig werdender Mietzinsen, in: NJ 1964, S. 487 f. 114 Kurt Cohn, Klage auf Zahlung künftig fällig werdender Mietzinsen, in: NJ 1964, S. 487, S. 488. 115 Z. B. AZ 340 C 97 / 63. 116 Z. B. AZ 340 C 95 / 63.

234

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

1963 wurde mit dem Rechtspflegeerlass ein weiteres Instrument zur Bekämpfung der Mietrückstände bereitgestellt: die Schiedskommissionen.117 Sie sollten das verbindende Glied zwischen den Hausgemeinschaften und den Gerichten sein, das die Beteiligten zu überzeugen hatte, „ihre Beziehungen auf der Grundlage der sozialistischen Gesetzlichkeit und der gegenseitigen kameradschaftlichen Unterstützung und Hilfe zu gestalten, die Ursachen der Streitigkeiten selbst zu beseitigen und so den aufgetretenen Streit gütlich beizulegen“.118 Sie sollten jedoch nicht die Aufgabe der Nationalen Front und der KWV übernehmen und den Erziehungsauftrag am säumigen Mieter vollständig erfüllen. Das sollte hauptsächlich Sache der KWV und der Hausgemeinschaften bleiben. Daher waren nach dem Beschluss vom September nur private Bürger antragsberechtigt. Zum einen sollten die KWV eigene Mittel und Wege finden, die Mietrückstände „in den Griff“ zu bekommen, zum anderen war noch ein größerer Teil des Eigentums in Privatbesitz und auch den privaten Vermietern sollten Möglichkeiten eröffnet werden, gegen säumige Mieter vorzugehen.119 Mit Einführung der Klage auf künftigen Mietzins wurde in Verbindung mit Lohnpfändungen ein adäquates und vor allem vollstreckbares Mittel gegen Mietschuldner gefunden. Das bedeutete aber zugleich eine Kapitulation vor dem eigentlichen Problem: die Zahlungsmoral innerhalb der Bevölkerung. Diese sank ab 1952 stetig, ausgelöst durch die politischen Ereignisse und Zustände jener Zeit. Jedenfalls hielt dieser Zustand an und bis zum Ende der Republik konnte er nicht beseitigt werden, wahrscheinlich weil die einzige Möglichkeit die Abschaffung des garantierten Wohnraumes gewesen wäre. Es verschwanden zwar die Räumungsklagen, weil sie faktisch kaum vollstreckbar waren, sie wurden aber schlichtweg durch andere Titel ersetzt. Mühlmann ordnet das Problem der Mietrückstände und die damit verbundene Zahlungsmoral als Produkt der Nachlässigkeit vieler Bürger ein: Eine schleichende Unterhöhlung der Moral, die nach und nach als „Teilchen in einem Erosionsprozess“120 zum Untergang der DDR Wesentliches beitrugen. Auf insgesamt niedrigem Niveau zeigt sich auch in den im Projekt erhobenen Fällen deutlich der Wechsel im Inhalt des Klageantrages um 1966: Es wurde von da an nicht mehr nur die rückständige, sondern auch die künftig anfallende Miete 117 Aus der Rede Walter Ulbrichts in der 9. Sitzung des Staatsrates am 21. August 1964, Walter Ulbricht, Die Bildung von Schiedskommissionen – ein weiterer Schritt zur Einbeziehung der Bürger in die Bekämpfung und Verhütung von Rechtsverletzungen, in: NJ 1964, S. 513. 118 Helmut Grieger, Zur Arbeit der Schieds- und Konfliktkommissionen auf dem Gebiet des Wohnungsmietrechts, in: NJ 1964, S. 617. 119 Helmut Grieger, ebenda, S. 617. 120 Manfred Mühlmann, Die Ursachen- und Konfliktforschung in der Zivilprozessrechtswissenschaft der DDR, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. III (wie Anm. 92), S. 73.

C. Prozesse von sozialistischen Betrieben gegen Bürger

235

eingeklagt. Die rechtliche Grundlage dafür gab es aber tatsächlich erst mit der neuen ZPO von 1975. In dem Wechsel des Klageziels zeigten sich einige Charakteristika des DDRZivilrechts: Eine sozialistische Dogmatik eröffnete neue Wege in der Rechtsprechung. Dieser Weg war wiederum im Wesentlichen auf Pragmatik zurückzuführen. Durch die Möglichkeit, auch Forderungen auf zukünftige Mietzinsen geltend zu machen, konnte Bürokratie vermieden und die Vollstreckung effektiver werden. Mit dem eigentlichen Problem, der Nachlässigkeit bei den Mietzahlungen, konnte so umgegangen werden. Gelöst werden konnte es mit juristischen Mitteln nicht.

4. Die Organisationsform der Kläger Tabelle 9121 Eigentümer der Wohnung

DDR

Berlin

1976

1976

1980

1984

1987

VEB, Verwaltung durch KWV

2.505 26,5%

552 38,7%

1.118 50,7%

1.250 53,0%

2.591 66,0%

VEB, Verwaltung durch sonst. Betrieb

321 3,4%

22 1,5%

26 1,2%

16 0,7%

32 0,8%

AWG

179 1,9%

18 1,3%

62 2,8%

113 4,8%

60 1,5%

Privatperson, Verwaltung durch VEB

671 7,1%

269 18,9%

200 9,1%

415 17,6%

288 7,3%

Privatperson

5.790 61,1%

565 39,6%

798 36,2%

563 23,9%

953 24,3%

Gesamt

9.466 100%

1.426 100%

2.204 100%

2.357 100%

3.924 100%

Bei den klagenden Institutionen handelte es sich in den meisten Fällen um die Kommunale Wohnungsverwaltung (KWV)122, die ab 1958 staatliche Wohnbauten und enteigneten Privatbesitz verwaltete und bewirtschaftete123. Seit 1963 war die KWV auch für Reparaturarbeiten an noch in Privatbesitz befindlichen Wohnungen verantwortlich; diese machten nach dem Krieg (1950) noch 85% des Wohnungsbestandes in Ost-Berlin aus, sanken aber bis 1989 auf einen Anteil von knapp 121 Ministerium der Justiz, EDV-Zivilprozessstatistik 1976 – 1988, BA DP 1 VA 8910, 8911 (Ost-Berlin und DDR). 122 Ab 1971 wurde damit begonnen, die KWV in „VEB Gebäudewirtschaft“ umzuwandeln, trotzdem blieb die Bezeichnung „KWV“ im Volksmund erhalten. 123 Der hohe Anteil von durch die KWV geführten Klagen in unseren Akten wird durch die Daten des Ministeriums der Justiz ebenfalls bestätigt.

236

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

einem Viertel ab.124 Die sozialistischen Arbeiter- und Wohnungsgenossenschaften (AWG) haben in Ost-Berlin offenbar keine echte Rolle gespielt.125

5. Ablauf der Verfahren Die Verfahren zeichneten sich durch einen zügigen, komplikationsfreien Ablauf aus. In Prozessen von Institutionen gegen Bürger in Wohnungssachen war nur in Ausnahmefällen ein Rechtsanwalt beteiligt: 96,7% der Kläger und 97,4% der Verklagten erschienen ohne Vertretung. Die Kläger beauftragten fast nur im Jahrgang 1948 Rechtsanwälte, danach wurden die Wohnungsunternehmen durch ihre Sachbearbeiter oder Justitiare vertreten. Nur 32 Verklagte (2,7%) nutzten die Rechtsantragsstelle. Wenn sie überhaupt an dem Verfahren partizipierten, kamen sie meist direkt zum Termin. Typisch war, dass in fast der Hälfte der Fälle (44%) die Verklagten nicht zum Gerichtstermin erschienen, wohl weil sie nichts einzuwenden hatten. Am Häufigsten erschienen jedoch beide Parteien zur Verhandlung, sehr selten kam niemand. Beweise wurden nur in einem Viertel aller Prozesse um Wohnungssachen erhoben, 97% davon waren Dokumente, Urkunden oder Zahlungsbelege. Da die Erfolgsquote der klagenden Institution von durchschnittlich 90% auf 94% anstieg, sobald im Verfahren Beweise beigebracht wurden, ist davon auszugehen, dass diese vom Kläger stammten, z. B. der Mietvertrag. Der unstreitige, oft schematische Ablauf der Prozesse spiegelt sich auch in der Zahl der von den Parteien eingereichten Schriftsätze wider. Die klagende Institution lag dabei mit durchschnittlich 1,2 Schriftstücken im Normalbereich, während die Verklagten zu über 80% überhaupt keine derartige Aktivität zeigten.126 Die überwiegende Anzahl der Prozesse (77%) benötigte nur einen Termin, nur in 11% der Fälle waren zwei Termine nötig. Die Verfahren dauerten durchschnittlich 51 Tage bis zum Urteilserlass und knapp 38 Tage bis zum ersten Verhandlungstermin.127 Die Hälfte der Prozesse in Wohnungssachen brauchte weniger als 5 Tage, um vom ersten Termin zu einer Erledigung zu finden. Besonders in den Jahren der Klagewelle waren die Prozesse mit knapp 30 Tagen bis zum Urteil sehr

Günter Peters, Gesamtberliner Stadtentwicklung von 1949 – 1990 (wie Anm. 66), S. 55. Diese Fälle verteilen sich auf die Jahrgänge 1957 und 1976 bis 1984. Insgesamt wurden von 1.174 institutionellen Klägern 1.149 (97,9%) als Wohnungsunternehmen eingestuft, 13 als VEB, 7 als staatliche Organe und nur 2 als sozialistische Genossenschaften. 126 Im Zeitverlauf zeigen sich keine Besonderheiten. 127 Da die Mediane der beiden Variablen bei nur 36 bzw. 31 Tagen liegen, müssen einige Prozesse außergewöhnlich lange bis zum Erlass des Urteils gebraucht und damit den Mittelwert nach oben gezogen haben. 124 125

C. Prozesse von sozialistischen Betrieben gegen Bürger

237

kurz, hier wurden also tatsächlich schematisch viele Prozesse unter Zeitdruck abgehandelt. Nach 1957 normalisierte sich das Prozessgeschehen wieder, die Verfahren dauerten nun mit ca. 50 Tagen etwas länger. Ab 1966 schließlich setzte eine kontinuierliche Beschleunigung der Prozesse ein, das Verfahren wurde wohl effektiver und die Richter und Kläger arbeiteten routinierter, vielleicht auch besser aufeinander abgestimmt.128 Das Endurteil umfasste im Schnitt 1,4 Seiten. Es zeigte sich ein mit Schwankungen steigender Verlauf mit einer Häufung längerer Urteile in den Jahrgängen 1966 bis 1972 sowie besonders kurzen Urteilen zwischen 1954 und 1957. Eine Erklärung für die Jahrgänge 1966 bis 1972 ist, dass in diesen Jahren angefangen wurde, auf rückständige und künftige Miete zu klagen und diese ungewohnte Praxis längere Begründungen nach sich zog. In den Jahren 1954 / 57 wurde die Fülle der Verfahren anscheinend nur noch schnell und kurz abgearbeitet. In nur 14 Fällen (1,2%) wurden Rechtsmittel eingelegt, davon 13-mal durch den Verklagten und einmal durch den Kläger. Die Erfolgsquote der in Berufung gegangenen Parteien lag ausnahmslos bei 0%.129

nur Berlin-Zentrum 100 90 80 70

Mittelwert

Bürger gegen Bürger

60

Institution gegen Bürger

50 48

54 51

60 57

66 63

72 69

80 76

88 84

Jahrgang (Fälle gewichtet)

Grafik 5.26: Durchschnittliche Erfolgsquoten in Prozessen unter Bürgern und von Institutionen gegen Bürger

Die zügige, komplikationsfreie Abwicklung der Verfahren war insbesondere ein Resultat der eindeutigen Sach- und Rechtslage, die sich auch in der Erfolgsverteilung zeigte. Die durchschnittliche Erfolgsquote in Wohnungssachen von Institutio128 Ein multipler Mittelwertvergleich ergab trotzdem keine signifikanten Unterschiede zwischen den einzelnen Jahrgängen. 129 Der Kläger legte Berufung in einer Klage auf Räumung wegen Mietrückstands ein, die Verklagten neunmal in Klagen auf rückständige oder künftige Miete, dreimal in Räumung wegen Mietrückstands und je einmal in Räumung wegen Eigenbedarf bzw. Räumung wegen sonstigem.

238

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

nen gegen Bürger lag bei 91%. 1954 war der erste Jahrgang mit einer hohen Fallzahl in diesem Prozessgegenstand, in dem die Erfolgsquote allerdings noch unter diesem Schnitt lag. Wurde in dieser Zeit von den Wohnungsunternehmen damit begonnen, Rückstände aufzuarbeiten, so ist davon auszugehen, dass zunächst noch viele „Karteileichen“ bearbeitet wurden, bei denen sich die Verfahren schnell und erfolglos erledigten.130 Interessant ist ein Vergleich mit den mietrechtlichen Prozessen zwischen Bürgern. Diese hatten mit 82% eine deutlich niedrigere Erfolgsquote. Besonders groß ist der Unterschied im Jahr 1951, wo die Erfolgsquote der Prozesse unter Bürgern einen vergleichsweise niedrigen Wert von 75% hatte. Ebenso ist der dortige Einschnitt im Jahrgang 1972 das genaue Gegenteil zur Kurve der Prozesse von Institutionen gegen Bürger, wo gerade in diesem Jahrgang eine recht hohe Erfolgsquote zu verzeichnen war. Die Betrachtung der Erfolgsvariablen bestätigt, dass Institutionen in Prozessen um Wohnungssachen gegen Bürger fast immer erfolgreich waren. Hier lagen typische Prozesse vor, bei denen Zahlungen verlangt wurden, gegen die die Verklagten nichts einwenden konnten.131 Die Prozesse unter Bürgern hatten dagegen noch andere Konflikthintergründe, wie etwa Räumungsbegehren nach Trennungen der Eheleute oder sonst wegen Eigenbedarfs.132 Diese waren mitunter weniger erfolgreich. 6. Prozessbeendigung Typisch für diese Prozesse war der auch im Vergleich zu den Prozessen unter Bürgern hohe Anteil an Versäumnisurteilen (30% gegenüber 21% in Prozessen um Wohnungssachen unter Bürgern). Streitige Urteile waren in Prozessen von Institutionen gegen Bürger die Ausnahme. Oft wurde zwischen den Parteien ein Vergleich geschlossen (34%), der meist dem Verklagten nur insoweit entgegenkam, als dass Ratenzahlung der geschuldeten Miete vereinbart wurde. Dies geschah durch Abbuchung oder Zahlung direkt durch die Arbeitsstelle des Schuldners. Häufig nahm das klagende Wohnungsunternehmen seine Klage auch wieder zurück (26%), wahrscheinlich weil die Schuldner angesichts der wahrgemachten Prozess-Drohung die Miete doch noch gezahlt hatten. Die dritte gängige Art der Verfahrensbeendigung war das Versäumnisurteil, 130 Die Prozesse im Jahrgang 1954, dem ersten Jahr der Klagewelle der Wohnungsunternehmen, gingen signifikant seltener erfolgreich aus als die in den folgenden Jahrgängen. Spätere Einschnitte der Verlaufskurve in den Jahrgängen 1969 und 1976 sowie die extrem hohe Erfolgsquote im Jahr 1951 sind hingegen Ausdruck zufälliger Schwankungen und erlauben keinen Rückschluss auf die Grundgesamtheit der Prozesse in Ost-Berlin. 131 Die wenigen Fälle, in denen die Klagen der KWV erfolglos blieben, stammen aus den Jahrgängen ab 1976, mithin ab der Geltung des ZGB und der neuen ZPO. 132 Dazu genauer unten Kapitel 5 – Ergebnisse der Untersuchung, D. II., S. 268 ff.

C. Prozesse von sozialistischen Betrieben gegen Bürger

239

das bei Nichtanwesenheit des Verklagten gefällt wurde. Hinter dieser Erledigungsart standen wohl meist resignierte, passive Mietschuldner, die sich gar nicht erst die Mühe machten, zu erscheinen. Sie konnten sich damit beruhigen, dass ihnen aller Wahrscheinlichkeit nach nicht gekündigt werden würde, egal wie hoch ihre Mietschulden waren oder wie schlecht es um ihre Zahlungsfähigkeit oder -moral stand. Zumutbarer Ersatzwohnraum war fast nicht bereitzustellen. Interessant ist ein Blick auf die zeitliche Verteilung der Erledigungsarten in Prozessen um Wohnungssachen.

73

15 18

21

54

61

18

57 60

49

33

35

48 48

63

Jahrgang

25

75

48 51

24 57

66 69

55

72

54 14

76 80 84 88

27 34 41

17

40 30

Vergleich

50

55

20 10

26

18 49

0

17 18

36 42

16 29

16

29

60 50

Klagerücknahme

34

80 70

Versäumnisurteil

100 90

Anteil am Jahrgang

Grafik 5.27: Anteile der Erledigungsarten in Prozessen um Wohnungssachen von Institutionen gegen Bürger

1960 war ein Wechsel bei den Erledigungsarten zu erkennen. Die Versäumnisurteile dominierten von da an (mit Ausnahme des Jahrgangs 1976, der aufgrund geringer Fallzahlen keine Repräsentativität beanspruchen kann) den Zivilprozess. Die Zivilklage wurde für die Wohnungsverwaltungen im Wesentlichen zu einem Inkassoinstrument. Der hohe Anteil der Vergleiche am Jahrgang 1951 charakterisiert die Phase der erstmaligen Regelungen von Rechtsverhältnissen. Diese Zahl sank parallel zum Einsetzen der Klagewelle auf Räumung 1954. 7. Besonderheiten Die niedrige Zahl der Maßnahmen zur Erhöhung der gesellschaftlichen Wirksamkeit des Verfahrens zeigt die Diskrepanz zwischen dem sozialistischen Ideal und proklamierten Erziehungszielen und der Wirklichkeit.133 Nur in 13 Fällen sollte das Arbeitskollektiv des Verklagten am Prozess mitwirken.134 Aus diesem 133

Ben Balkowski, Der Zivilprozeß in der DDR (wie Anm. 110), S. 483 ff.

240

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

Grund wurde auch dreimal das Arbeitskollektiv des Verklagten zur Verhandlung geladen und zweimal im Wohnumfeld verhandelt. Diese Befunde geben ein anderes Bild vom DDR-Zivilprozess, als in der Literatur geweckt wird.135 Eine Widerklage wurde nur in zwei Fällen erhoben. Dies spricht gegen die These, dass gegen Klagen auf Mietzahlung Forderungen auf Instandhaltung eingewandt wurden. Zwar mussten diese nicht mit der Widerklage geltend gemacht werden, jedoch wäre es für den Bürger eine gute Gelegenheit gewesen, seinen Begehren Nachdruck zu verleihen.

III. Versorgungsleistungen Zu den Versorgungsunternehmen gehörten die kommunalen Gas-, Wasser- und Elektrizitätslieferanten. Ihre Beteiligung am Zivilprozess war aufgrund der gleich bleibenden vertraglichen Versorgungsbeziehungen und der niedrigen Energiekosten sehr gering und spielte grundsätzlich keine Rolle. Von diesem Grundsatz gab es zwei Ausnahmen.

100 90 80 70 60

Anteil am Jahrgang

50 40 30 20 10 0 48

51

54

57

60

63

66

69

72

76

80

84

88

Jahrgang

Grafik 5.28: Anteil der Prozesse um Versorgungsleistungen von Institutionen gegen Bürger

1948 machten Klagen dieser Versorger fast 90%, 1969 über 60% der Klagen von sozialistischen Betrieben und Institutionen gegen Bürger vor den untersuchten Zivilgerichten aus.136 134 Davon sechsmal zur Aufklärung des Sachverhalts und fünfmal zur Erhöhung der Wirksamkeit des Verfahrens. 135 Vgl. Kapitel 4 – Vorstellung der Variablen, E. V., S. 192 ff. 136 Die in Ost-Berlin ansässigen Versorger hatten als Gerichtsstand mit ihren Kunden Berlin-Mitte vereinbart. Daher entspricht die Zahl der dort anhängigen Verfahren genau der

C. Prozesse von sozialistischen Betrieben gegen Bürger

241

Die Klagewelle des Jahres 1948 war eine Nachkriegserscheinung. Alle Versorgungsunternehmen standen nach dem Krieg vor vergleichbaren Problemen. Ein Großteil ihrer Anlagen war beschädigt oder zerstört, Buchhaltungsunterlagen vernichtet, Teile des Buchhaltungspersonals standen nicht mehr zur Verfügung. Kontrollen und Abrechnungen waren schon während des letzten Kriegsjahres nicht mehr durchgeführt worden. Wasserrechnungen wurden oft unter Berufung auf Bombenschäden an den Leitungen bestritten. Auch hatten die Schuldner gewechselt, ihr Aufenthaltsort war nicht zu ermitteln, Forderungen wurden nach Grund und Höhe bestritten oder wegen angeblicher Verjährung verneint. Gerichtliche Klärung dieser Fragen war nicht zu erlangen. Ein besonderes Problem stellte die Verwendung von Elektrizität zu Heizzwecken dar. Diese war zwar verboten, jedoch besonders in dem kalten Winter 1946 für viele Berliner lebenswichtig und führte oft zu heimlichen Stromentnahmen unter Umgehung der Stromzähler. Ein Teil der Klagen dieser Zeit ging auch auf Herausgabe der Stromzähler und Zahlung einer Vertragsstrafe. Erst eine Amnestie 1950 / 51 schuf Abhilfe.137 Doch auch später wurde noch mit dem billigen Strom geheizt, weshalb elektrische Heizkörper in der DDR bewusst nicht in den Handel gelangten. Mit der Neuorganisation der Berliner Gerichte und der Buchhaltungen der Versorger konnten diese Rückstände, die zumeist im Mahnverfahren geltend gemacht worden waren, bis 1950 vollständig abgebaut werden. Der hohe absolute Wert von 1969 (72 Prozesse dieser Art) wird zwar durch die insgesamt geringe Verfahrensanzahl in diesen Jahren noch betont, dennoch stellen sie für die Gerichtspraxis jener Jahre eine Ausnahme dar. Diese zweite Klagewelle von Versorgern vor Zivilgerichten (siehe Grafik 5.28) war eine Ost-Berliner Besonderheit. 1961 hatte die GASAG ihre Abrechnungspraxis von monatlicher auf jährliche Abrechnung umgestellt, so dass die Verbraucher für das ganze Jahr auf Erfahrungssätzen beruhende Pauschalbeträge entrichteten.138 Bei einer Steigerung des Verbrauchs im Verlauf des Jahres konnten dadurch erhebliche Zahlungsrückstände entstehen, die aber erst bei der Jahresendabrechnung ermittelt wurden. DieGesamtzahl aller Klagen von Versorgern in Berlin. So geben unsere Zahlen, die nicht alle Bezirke von Berlin umfassen, einen erhöhten Anteil von Versorgerklagen an, die Versorgerklagen sind „überrepräsentiert“. Da nur ungefähr die Hälfte der Berliner Bezirke erfasst wurde, wird die Hälfte der verklagten Schuldner der Versorger aus den eigentlich nicht erfassten Bezirken stammen. Der Anteil der Versorgerklagen kann deshalb halbiert werden. In den Jahren 1969 bis 1972 lag der eigentliche Anteil solcher Klagen also statt bei 60% nur bei rund 30%. 137 Ernst Reuß, Berliner Justizgeschichte. Eine rechtstatsächliche Untersuchung zum strafrechtlichen Justizalltag in Berlin von 1945 – 1952, dargestellt anhand der Strafgerichtsbarkeit des Amtsgerichts Mitte (= Berliner Juristische Universitätsschriften, Grundlagen des Rechts, Bd. 17), Berlin 2000, S. 118, 265 ff. 138 BA DP 1 VA 8867, Statistische Informationen des Ministeriums der Justiz über die Entwicklung in Zivil- und Familienrechtssachen (1962), S. 3.

242

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

se Rückstände machte die GASAG bei dem vertraglich vereinbarten AmtsgerichtMitte mittels Mahnbescheides geltend. Die Buchhaltungsabteilung der GASAG benötigte mehrere Jahre, um den angewachsenen Forderungsberg abzuarbeiten. In umfangreichen Kampagnen versuchten die Versorger ihre Kunden zu Daueraufträgen oder dem Abbuchungsverfahren zu bewegen, was ihnen auch verstärkt gelang. Bis 1970 kam es zwar zu gelegentlichen Stromsperrungen, eine Kündigung der Versorgungsbeziehungen als Sanktionsmittel wurde jedoch nicht praktiziert. Schließlich trug auch die allgemeine Lohnentwicklung zum Rückgang der Klagen von Versorgern bei. Zwar hatte die DDR den höchsten Pro-Kopf-Energieverbrauch, allerdings stiegen die Löhne besonders in den frühen 70er Jahren erheblich an, während die Energie- und Wasserpreise aufgrund massiver Subventionen bis 1979 stabil blieben. Dagegen wurden keine Fälle gefunden, in denen Forderungen aus Gründen politischer Opportunität nicht eingeklagt wurden.139

1. Streitwert Im Vergleich zu Wohnungssachen und Darlehen, den anderen typischen Prozessgegenständen von Institutionen gegen Bürger, lag der Streitwert in den relevanten Jahrgängen von 1963 bis 1969 sehr niedrig, bei 153 M.140 Die durchschnittlichen Streitwerte in den drei Jahrgängen stiegen kontinuierlich von 90 M auf 181 M an, wobei die Prozesse im Jahrgang 1963 signifikant niedrigere Streitwerte zum Inhalt hatten als in den späteren Jahren. Durch die Anhäufung von nicht bearbeiteten Forderungen hatten sich in den letzten Jahrgängen höhere Schulden angehäuft. Insgesamt war der Streitwert der Prozesse um Versorgungsleistungen in dieser Zeit signifikant höher als in den vorherigen und darauf folgenden Jahren, was den Verdacht andersgearteter Prozesshintergründe bestätigt.

139 Vgl. Manfred Mühlmann, Die Ursachen- und Konfliktforschung in der Zivilprozessrechtswissenschaft der DDR, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. III (wie Anm. 92), S. 65 – 79, insb. S. 72 f. zur geduldeten schlechten Zahlungsmoral. 140 Bei einem Median von 132 M, der damit Prozesse mit sehr einheitlichen Streitwerten ohne extreme Abweichungen nach oben oder unten andeutet. Der Streitwert in Prozessen um Versorgungsleistungen lag insgesamt bei durchschnittlich 197 M. In der zeitlichen Entwicklung sind allerdings nur die Jahrgänge zwischen 1963 und 1969 interessant, da nur in dieser Zeit in nennenswertem Ausmaß wegen Versorgungsleistungen geklagt wurde (jeweils 42, 52 und 72 Fälle). Den Jahrgang 1948, der mit 81 Fällen der mit Abstand am stärksten besetzte ist, soll aus der Betrachtung ausgeklammert werden, da es sich bei den Klägern noch nicht um sozialistische Institutionen gehandelt haben kann und somit von anderen Konfliktkonstellationen auszugehen ist. Tatsächlich waren in diesem Jahrgang die Streitwerte mit durchschnittlich 302 M (Median aber nur 91 M) signifikant höher als in allen darauf folgenden Jahrgängen.

C. Prozesse von sozialistischen Betrieben gegen Bürger

243

2. Prozessparteien Die anwaltliche Vertretung war ähnlich selten wie in den Wohnungssachen, also insgesamt gering und bei den Klägern fast nicht vorhanden. Lediglich die Verklagten nutzten in 4 Fällen die Rechtsantragsstelle.

3. Mahnverfahren Im Jahrgang 1948 war in 43% der Fälle dem Prozess ein Mahnbescheid vorausgegangen. In den anderen relevanten Jahrgängen wurde nur in rund 17% bzw. 23% der Prozesse auf Mahnbescheide reagiert; nur 1969 trat kein einziger derartiger Fall mehr auf. nur Berlin-Zentrum 120 100 80

Absolute Werte

60 40

ohne Mahnverfahren

20

nach Mahnverfahren

0 1948/51

1960/63 1954/57

1972/76 1966/69

1980/84

Jahrgang, aggregiert (Fälle gewichtet)

Grafik 5.29: Zahl der Prozesse um Versorgungsleistungen von Institutionen gegen Bürger nach Mahnverfahren

1948 folgten 79% dieser Prozesse auf ein Mahnverfahren, 1951 waren 86% dieser Prozesse auf ein Mahnverfahren gefolgt, 1954 waren es noch 44%.

4. Prozessablauf und -dauer a) Anwesenheit Typisch für diese Prozesse war die mehrheitliche alleinige Anwesenheit des Klägers (66%). Die wenigen Fälle, in denen keine Partei zur Verhandlung erschien, stammen fast ausnahmslos aus dem Jahrgang 1948. In den Jahrgängen 1963 bis 1969 war in 82% der Prozesse nur der Kläger anwesend, der Anteil der beidseitigen Anwesenheit verringerte sich entsprechend.

244

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

b) Beweisaufnahme Eine Beweiserhebung war nur in 3,8% der Fälle notwendig, davon wurden etwa gleich häufig Zeugen vernommen und Dokumentenbeweise gesichtet. Zeugenvernehmungen waren etwa bei illegalen Stromentnahmen, Dokumentvorlagen bei Zahlungsrückständen notwendig.

c) Schriftsatzaktivität Ebenso typisch war die geringe Schriftsatzaktivität sowohl der Kläger (in der Mehrzahl ein Schriftstück) als auch der Verklagten (überwiegend keine schriftliche Äußerung). Auch die Urteile waren mit durchschnittlich 1,2 Seiten recht kurz. Wieder stellt der Jahrgang 1948 eine Ausnahme dar; hier verfassten die Kläger im Durchschnitt 1,3 Schriftstücke, die Verklagten reichten sogar signifikant mehr Schriftsätze ein (0,9 statt später 0,3), wehrten sich also häufiger.

d) Termine und Dauer In den Jahrgängen zwischen 1963 und 1969 benötigten fast 90% der Prozesse nur einen Termin, in 10% der Fälle waren mehr Termine nötig. Im Gegensatz zu Prozessen um Wohnungssachen gab es aber kaum ein Verfahren, das ohne Termin abgeschlossen wurde. Die durchschnittliche Dauer der Prozesse um Versorgungsleistungen in der betreffenden Zeitspanne lag bei 42 Tagen.141 Die Dauer bis zum ersten Verhandlungstermin (32 Tage)142 deutet ein zügig betriebenes Verfahren an.

5. Prozessbeendigung a) Erledigungsart In der Zeit zwischen 1963 und 1969 wurden in zwei Dritteln der Fälle Versäumnisurteile bzw. Urteile wegen Nichterscheinens ausgesprochen. Mit den fehlenden Teilerfolgen stimmt die geringe Zahl von Vergleichen und streitigen Urteilen überein (12% bzw. 0,6%). Auch hier ist der Unterschied zum Jahrgang 1948 gravierend: In diesem Jahr wurden hauptsächlich Versäumnisurteile (27% Anteil), Vergleiche (21% Anteil) 141 Der Median lag bei 32 Tagen: Danach waren also mehr als die Hälfte der Prozesse noch kürzer. 142 Der Median betrug 28 Tage.

C. Prozesse von sozialistischen Betrieben gegen Bürger

245

und Klagerücknahmen (20% Anteil) ausgesprochen, auch streitige Urteile hatten noch einen Anteil von 19% am Jahrgang.

b) Erfolg Im Ausnahmejahrgang 1948 lag die Erfolgsquote bei nur 67%, der viel höhere Median von 100% deutet allerdings eine extreme Streuung in diesen Prozessen an.143 In den Jahrgängen zwischen 1963 und 1969 stieg die Erfolgsquote auf durchschnittlich 93%. In den Jahren vor 1963 und nach 1969 endeten die Prozesse der Versorgungsunternehmen viel häufiger erfolglos (mit Erfolgsquoten von insgesamt 75% bzw. 78%). In den Zeiten der Kampagnen, denen eine Vielzahl gleicher, meist unstreitiger Sachverhalte zu Grund lag, waren die Versorger demnach grundsätzlich erfolgreich. Wurden hingegen im normalen Geschäftsbetrieb Ansprüche gerichtlich verfolgt, so waren die Sachverhalte differenziert, die Verklagten wehrten sich und die Verfahren blieben mitunter für die Versorger erfolglos.

c) Berufung In drei Fällen wurde Berufung eingelegt, zweimal durch den Verklagten. Erfolge blieben weitgehend aus.144 6. Zwischenergebnis Die Zahl der Klagen von Versorgern war aufgrund der gleich bleibenden vertraglichen Beziehungen und der niedrigen Energiekosten sehr gering und spielte nur während zwei Zeitabschnitten eine größere Rolle. Für die Zeit um 1948 spiegeln die Prozesse der Gas-, Wasser- und Energielieferanten die Nachkriegssituation wider: Die Wohnverhältnisse der Versorgten waren ebenso unorganisiert wie die Betriebe der Versorger. Außerdem bereiteten die illegalen Stromentnahmen Probleme. Die Verfahren des Jahres 1948 wurden streitig, d. h. mit einer erhöhten Schriftsatzaktivität der Verklagten und Beweisaufnahmen, geführt. Sie hatten zwar überwiegend Erfolg, endeten aber durchaus öfter mit einer Niederlage für den Versorger. Die Prozesse der Jahre um 1963 bis 1969 waren das Resultat der Änderung der oben erwähnten Abrechnungspraxis der GASAG. Die Verfahren wurden zwar schnell, erfolgreich und meist ohne Gegenwehr der Verklagten abgeschlossen. 143 Teilerfolge und erfolglose Prozesse waren mit 18% bzw. 29% Anteil an diesem Jahrgang signifikant häufige Ergebnisse der Klagen von Versorgungsunternehmen. 144 Immerhin erreichte ein vorher Verklagter dabei eine Erfolgsquote von 20%.

246

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

Trotzdem belasteten sie den Geschäftsbetrieb der Gerichte auf Jahre, machten sie doch bis zu 60% der anfallenden Verfahren aus. Die Propagierung des Mahnverfahrens und vereinfachter Zahlungsmodalitäten waren eine Folge dieser Kampagne.

IV. Teilzahlungskredite Ab dem Jahr 1953 konnten in der DDR Kredite zum „Einkauf langlebiger Gebrauchsgüter“ gewährt werden. Diese Kredite von Institutionen an Bürger wurden Teilzahlungskredite genannt. Ab 1957 mussten sich die Ost-Berliner Zivilgerichte mit Klagen auf Herausgabe der unter Eigentumsvorbehalt veräußerten Teilzahlungsgegenstände beschäftigen. Eine Klagewelle hinsichtlich der Prozesse um Darlehen / Kredite von Institutionen gegen Bürger zeichnete die Jahrgänge 1960 und 1963 aus. Während Prozesse um Darlehen im gesamten Untersuchungszeitraum nur einen Anteil von 9% an allen Prozessen von Institutionen gegen Bürger hatten, stieg dieser Wert in den betreffenden Jahrgängen auf bis zu 48%. In dieser Zeit wurden (mit einer Ausnahme) ausschließlich Forderungen aus Kaufverträgen mit Teilzahlungskredit verhandelt. Diese Welle ebbte jedoch, ebenso wie sie innerhalb von drei Jahren anschwoll, innerhalb von drei Jahren wieder ab.

50

40

Anteil am Jahrgang

30

20

10

0 48

51

54

57

60

63

66

69

72

76

80

84

88

Jahrgang

Grafik 5.30145: Anteil der Prozesse um Darlehen von Institutionen gegen Bürger

145 Die bei einem Anteil von 5% eingezeichnete Hilfslinie in der Grafik verdeutlicht die Grenze, unterhalb derer sichere Aussagen wegen zu geringer Datenmengen nicht mehr getroffen werden können; vgl. Anhang 5: Erläuterung der verwendeten statistischen Methoden, S. 387 ff.

C. Prozesse von sozialistischen Betrieben gegen Bürger

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1. 1950 – 1953: Der Vorläufer des Teilzahlungskredits Der Grundstein für den Teilzahlungshandel wurde in einer Eigeninitiative der Sparkassen gelegt. Ab 1950 konnten DDR-Bürger Einrichtungsgegenstände durch das „Möbel-Sparen“ erwerben. In diesem Verfahren vereinbarten der Sparer und die Sparkasse mit einem Möbelspar- und Darlehensvertrag, dass der Sparer eine bestimmte Summe in Raten sparen würde. Im Gegenzug bekam er von der Sparkasse in gleicher Höhe und mit gleichem Abzahlungsmodus einen Kredit für Einrichtungsgegenstände.146

2. 1953 – 1956: Gewährung von Teilzahlungskrediten durch die Sparkassen Ein „echter“ Teilzahlungskredit wurde in der DDR mit der „Anordnung über die Finanzierung des Kaufs von Möbeln und anderen langlebigen Gebrauchsgütern“ vom 16. Oktober 1953 eingeführt.147 Dieser Teilzahlungskredit basierte auf der Richtlinie über die Gewährung kurzfristiger Kredite der Deutschen Notenbank von 1949.148 Mit der Anordnung wurde das „Möbel-Sparen“ – Verfahren von 1950 abgelöst. Diese konsumfreundliche Maßnahme wurde sicherlich auch in der Reaktion auf den 17. Juni 1953 eingeleitet. Die ersten Teilzahlungskredite wurden in der DDR von den Sparkassen gewährt. Zunächst wurde eine Kredithöchstgrenze von 2.000 M über höchstens 75% der Kaufsumme, eine Laufzeit von zwei Jahren und ein Zinssatz von 6% festgesetzt.149 Schon in der Einführungsphase der Teilzahlungskreditausgabe durch die Sparkassen soll aus Rundschreiben der Ministerien die Intention hervorgehen, den Handel selbst diese Kredite gewähren zu lassen.150 In den Jahren 1953 bis 1956 durften ausschließlich die Sparkassen, die in der DDR staatliche Organe waren, Teilzahlungskredite gewähren. Damit waren in diesem Zeitraum keine Betriebe oder Institutionen wie die 1945 neu gegründete Konsumgenossenschaft oder die 1949 gegründete Staatliche Handelsorganisation (HO) am Teilzahlungsgeschäft beteiligt.

146 Josef Wysocki / Hans-Georg Günther, Geschichte der Sparkassen in der DDR 1945 – 1990, Stuttgart 1996, S. 271. 147 Rundschreiben 65 / 53, zit. nach Josef Wysocki / Hans-Georg Günther, ebenda, S. 338. 148 Josef Wysocki / Hans-Georg Günther, ebenda, S. 338. 149 Josef Wysocki / Hans-Georg Günther, ebenda, S. 338. 150 Josef Wysocki / Hans-Georg Günther, ebenda, S. 338.

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Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

3. 1956 – 1962: Verkauf gegen Teilzahlung durch den Handel selbst Die Anweisung Nr. 31 / 56 des Ministeriums für Handel und Versorgung151 betreffend den „Verkauf von Waren im Teilzahlungsverfahren durch den staatlichen Einzelhandel“ verlagerte die Ausgabe der Teilzahlungskredite in die Hände des Handels.152 Der Handel trat in der DDR in Form der Konsumgenossenschaft bzw. der „Konsum“ genannten Verkaufsstätten und der staatlichen HO in Erscheinung. Vom 1. Oktober 1956 an konnten bestimmte, d. h. im Warenverzeichnis des MfHuV verzeichnete, Waren durch den Handel selbst gegen Teilzahlung verkauft werden.153 Daneben gewährten die Sparkassen weiter ihre eigenen Teilzahlungskredite in Form von Zweckspar- und Darlehensverträgen.154 Die Motivation dieser Verlagerung ist noch nicht ersichtlich. Angesichts der niedrigen Prozessrate zur Zeit der ersten Vergabestrecke durch die Sparkassen können die Gründe der Verlagerung nicht in der Prozessvermeidung gelegen haben. Die Erklärung könnte in einer möglicherweise vom Handel betriebenen „Lobbyarbeit“ liegen. Ziel des Handels könnte eine größere Einflussnahme auf das Teilzahlungsgeschäft gewesen sein. Mit dem abgeschlossenen Teilzahlungskreditvertrag und der erfolgten Anzahlung, Eigenmittelbeteiligung genannt, galt die Ware als abgesetzt.155 Eine höhere Teilzahlungskredit-Vergabequote bedeutete für den Handel also eine Absatzsteigerung. Eine derartige Instrumentalisierung des Teilzahlungsgeschäfts passt in das planwirtschaftliche System der DDR. Die Bedingungen des Teilzahlungskredithandels wurden in der Anweisung Nr. 31 / 56 genau festgelegt. Die Kaufhandlung wurde durch einen normierten Teilzahlungsvertrag abgeschlossen. Es waren nur bestimmte Mitarbeiter zum Abschluss dieser Verträge berechtigt.156 Nur für gesondert aufgeführte Waren wurde die Durchführung von Teilzahlungsgeschäften gestattet.157 Das MfHuV gab entsprechende Warenverzeichnisse in Anlagen zu Anweisungen heraus. Das erste Warenverzeichnis gab folgende Waren unter der Bedingung, dass der Verkaufspreis bzw. bei Meterwaren der Gesamtpreis mindestens 100 M betrug, für Teilzahlungsgeschäfte frei: „1. Möbel, einschließlich Polstermöbel; 2. Öfen und Herde mit Kohlen- und Holzfeuerung; Im Folgenden verkürzt „MfHuV“ benannt. Anweisung Nr. 31 / 56, Verfügungen und Mitteilungen des Ministeriums für Handel und Versorgung 1956, S. 195 ff. (Heft 20). 153 Rundschreiben 10 / 56, zit. nach Josef Wysocki / Hans-Georg Günther, Geschichte der Sparkassen in der DDR (wie Anm 146), S. 338. 154 So benannt in Verfügungen und Mitteilungen des Ministeriums für Handel und Versorgung 1961, Gemeinsame Anweisung Nr. 31 / 61, S. 195 (Heft 32). 155 Anweisung MfHuV Nr. 31 / 56 (wie Anm. 152), Ziffer 8, S. 195. 156 Anweisung MfHuV Nr. 31 / 56 (wie Anm. 152), Ziffer 5, S. 195. 157 Anweisung MfHuV Nr. 31 / 56 (wie Anm. 152), Ziffer 1, S. 195. 151 152

C. Prozesse von sozialistischen Betrieben gegen Bürger

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3. Nähmaschinen; 4. Staubsauger; 5. Teppiche (nur Flor); 6. Möbelstoffe; 7. Dekorations- und Vorhangstoffe, Tülle und Gardinen; 8. Super- und Musiktruhen und sonstige Rundfunkempfänger.“158

Später datierende Warenverzeichnisse bestimmten die Waren, die auf Teilzahlung gekauft werden konnten, nicht immer anhand von Warengruppen, sondern benannten auch einzelne Artikel, nahmen Artikel heraus oder bestimmten Verkaufsgebiete: „[ . . . ] 5. Kameras folgender Typen: Spiegelreflexkamera „Weltaflex“ Kleinbildkameras „Belplasca“ und „Belmira“ Rollfilmkameras „Certosix“ 6. Jugendprojektor „Muck“ (8-mm-Schmalfilm) [...] 8. Akkordeons (außer Weltmeister) [...] 11. Motorräder, -roller u. Mopeds (nur für die Berliner Randkreise Oranienburg, Nauen, Potsdam-Stadt, Potsdam-Land, Zossen und Bernau).“159

Diese Methodik lässt eine Absatzregulierung anhand der Warenverzeichnisse vermuten. Der Kunde der HO oder des Konsums wurde durch Vermerke auf den Artikeln in den Warenhäusern darauf aufmerksam gemacht, dass diese Ware auch auf Teilzahlung gekauft werden konnte. Hier zeigt sich eine deutliche Parallele zum Versandhandel, bei dem auch versucht wurde, den Absatz bestimmter, verfügbarer Waren zu fördern.160 Die Waren wurden gegen Vorlage einer Kreditkarte in Verbindung mit dem Deutschen Personalausweis auf Teilzahlung verkauft. Die Kreditkarten wurden in einigen Verkaufsstellen ausgegeben, auf ihnen wurde der Nettolohn durch den jeweiligen Arbeitgeber bestätigt.161 Ein Kreditbetrag über 0,35% pro Monat, vom ursprünglichen Kreditbetrag berechnet, wurde den Monatsraten zugeschlagen.162 Die Berechnung des Kreditbetrags wurde auf Grundlage der individuellen EinAnweisung MfHuV Nr. 31 / 56 (wie Anm. 152), Anlage 1, S. 197. Anweisung MfHuV Nr. 31 / 61 (wie Anm. 154), Anlage, S. 195. 160 Annette Kaminsky, Wohlstand, Schönheit, Glück. Kleine Konsumgeschichte der DDR, München 2001, S. 41 ff., 64 ff. 161 Anweisung MfHuV Nr. 31 / 56 (wie Anm. 152), Ziffer 11, S. 196. 162 Anweisung MfHuV Nr. 31 / 56 (wie Anm. 152), Ziffer 6, S. 195. 158 159

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Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

kommensverhältnisse vorgenommen. Der Kreditbetrag sollte jedoch höchstens 20% des Jahresnettoeinkommens des Käufers betragen.163 Die Eigenmittelbeteiligung, die zwischen 0% und 50% des Kaufpreises lag, wurde in den Warenverzeichnissen vorgegeben. Der Kreditrahmen wurde vom Handel 1956 von 2.000 M auf 3.000 M erhöht.164 Die Refinanzierung des Handels mussten die Sparkassen übernehmen. Forderungen mit mehr als zwei Monatsraten Rückstand wurden jedoch von der Refinanzierung ausgenommen. Es war den Innenrevisionen der Sparkassen aufgegeben, die diesbezüglichen Bestände des Handels monatlich zu prüfen.165 Abgesehen von der Einigung über den Kauf war eine ausdrückliche Vereinbarung im Teilzahlungsgeschäft nur für die nicht genormten Vertragselemente unerlässlich. Nicht von vornherein genormte Vertragselemente waren die Höhe und die Dauer der Ratenzahlungen. Diese Vertragselemente richteten sich nach dem individuellen Einkommen des Käufers in Verbindung mit der jeweiligen Höhe des Kaufpreises. Die Anweisung Nr. 31 / 56 gab ferner vor, dass aufgrund eines Teilzahlungskreditvertrags gekaufte Waren bis zur Zahlung des vollen Kaufpreises im Eigentum des staatlichen Einzelhandelsbetriebs 166 blieben. Die Waren mussten im Teilzahlungsgeschäft also unter Eigentumsvorbehalt verkauft werden. Entsprechend dem heutigen § 449 II BGB konnte auch der Verkäufer eines unter Eigentumsvorbehalt verkauften Gegenstandes in der DDR die Sache herausverlangen, wenn er vom Vertrag zurücktrat. Die HO klagte in den untersuchten Fällen ausschließlich auf Herausgabe nach § 985 BGB. Zu diesem Zweck wurde lediglich ein Klageschrift-Formular ausgefüllt. In dem Formular wurden in der Begründung jeweils die Nummer des Teilzahlungsvertrags, das Abschlussdatum, die unter Eigentumsvorbehalt verkaufte und übergebene Sache, der Anzahlungsbetrag, der Kreditaufschlag und die vereinbarten monatlichen Raten angeführt. Ferner wurde in den Formularen auf Folgendes hingewiesen: „[ . . . ] die Klägerin aufgrund der bestehenden Teilzahlungsbedingungen das Rücktrittsrecht für den Fall vorbehalten, dass der / die Verklagte mit mehr als einer Monatsrate im Verzuge ist“.167 Anweisung MfHuV Nr. 31 / 56 (wie Anm. 152), Ziffer 11, S. 196. Josef Wysocki / Hans-Georg Günther, Geschichte der Sparkassen in der DDR (wie Anm. 146), S. 338. 165 Josef Wysocki / Hans-Georg Günther, Geschichte der Sparkassen in der DDR (wie Anm. 146), S. 338. 166 In Verfügungen des MfHuV, Anweisung 31 / 61 (wie Anm. 154), wird der Begriff „sozialistischer Einzelhandel“ verwendet. Die Konsumgenossenschaft schloss aber wie unter schon Teilzahlungsverträge ab, so dass vom Begriff „staatlicher Einzelhandel“ von Anfang an auch die Konsumgenossenschaft erfasst wurde. 167 AZ 243 CV 418 / 60. 163 164

C. Prozesse von sozialistischen Betrieben gegen Bürger

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Weiter wurden dann die ggf. schon gezahlten Raten angegeben. Es wurde auf wiederholte Mahnungen und auf den Rücktritt hingewiesen: „Die Klägerin erklärte am . . . schriftlich den Rücktritt vom Vertrage gemäß § 346 BGB und forderte von dem Verklagten die Rückgabe der auf Teilzahlung gekauften Sache / n“.168

Erklärt wurde, dass der Verklagte die Sache / n nicht wie gefordert zurückgebracht und damit nicht herausgegeben habe und die Klage auf Herausgabe somit gerechtfertigt sei. Aus einigen Akten konnte darauf geschlossen werden, dass sich die HO und die Konsumgenossenschaft vorab und im laufenden Prozess gut über den säumigen Schuldner informierten. Der Konsum teilte dem Gericht, nachdem die Klageschrift zum Gericht mit dem Vermerk „unbekannt verzogen“ zurückgekommen war, in einigen Fällen die Adresse, unter der der Schuldner neuerdings polizeilich gemeldet war, mit.169 Fast die Hälfte der Verfahren wurde mit einem Vergleich beendet. Es wurde sich so verglichen, dass der Herausgabeanspruch der HO gehemmt war, solange der Schuldner die vereinbarten Raten pünktlich zahlte bzw. dass der Herausgabeanspruch erlosch, wenn alles getilgt wurde. Die Klagerücknahmen erfolgten oft, wenn der Antragsgegner unbekannt verzogen war, in anderen Fällen waren die Schulden getilgt worden und in seltenen Fällen waren die Schuldner republikflüchtig.170 Der An- und Abstieg von Prozessen um Darlehen / Kredite von Betrieben oder Institutionen gegen Bürger, der in der Klagewelle der Jahre 1960 – 1963 gipfelte, ist auf die Änderungen infolge der Anweisung Nr. 31 / 56 des MfHuV betreffend den „Verkauf von Waren im Teilzahlungsverfahren durch den staatlichen Einzelhandel“ zurückzuführen. Da die Sparkassen unabhängig von den Krediten des Handels auch in den Jahren 1956 bis 1962 ihre eigenen Teilzahlungskredite gewährten, die Kassen jedoch sehr vereinzelt klagten, müssen die Ursachen der Klagewelle, also die erheblichen Zahlungsrückstände, in der Vergabepraxis des Handels gesucht werden. Zum Abschluss der Teilzahlungsverträge waren nur bestimmte Mitarbeiter berechtigt. Es sind keine Informationen darüber zugänglich, ob bzw. wie diese Mitarbeiter geschult wurden und ob tatsächlich nur sie Kredite vergaben. Die großen Zahlungsrückstände der Teilzahlungskreditkunden des Handels deuten darauf hin, dass die Prüfung der Kreditwürdigkeit nicht so erfolgreich verlief, wie das bei der Kreditausgabe durch die Sparkassen der Fall war. Den Mitarbeitern des Konsums und der HO fehlte es möglicherweise an Fachwissen und Erfahrung. Diese These wird durch die Anweisung Nr. 31 / 56 als Anlagen beigefügten Tabellen unterstrichen. Eine „Tabelle zur Berechnung der Kreditlaufzeit und der Rückzahlungs168 169 170

AZ 243 CV 418 / 60. AZ 346 CV 102 / 59. AZ 243 CV 438 / 60.

252

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

raten“171 und eine „Tabelle zur Errechnung des Kreditaufschlages“ lassen für Berechnungen gar keinen Raum mehr, da sie alles vorgeben. Eine hohe Gewährungsquote von Teilzahlungsverträgen bedeutete für den Handel eine Absatzsteigerung. Es war also von Interesse für den Handel, viele Teilzahlungsverträge abzuschließen und dabei vielleicht auch das eine oder andere Mal die Kreditwürdigkeit keiner allzu genauen Prüfung zu unterziehen. Im planwirtschaftlichen Wirtschaftssystem der DDR bekamen die Verantwortlichen die Folgen ihres Handelns nicht unmittelbar auf betrieblicher Ebene zu spüren. Eine solche pseudo-absatzsteigernde Vergabepraxis durch den Handel würde auch die späte Einsendung der Klageschriften erklären. Die HO klagte oft mehr als ein Jahr nachdem der Schuldner mit einer Rate rückständig geworden war. Unter dem Gesichtspunkt, dass Forderungen mit mehr als zwei Monatsraten Rückstand von der Refinanzierung durch die Sparkassen ausgenommen waren, erscheint diese Verzögerung sehr unwirtschaftlich. Die ansonsten gewissenhafte Arbeit der Sparkassen im Teilzahlungsgeschäft steht der Annahme entgegen, dass die Innenrevisionen der Sparkassen die Bestände des Handels nicht monatlich prüften bzw. ihnen bei der Prüfung reihenweise Fehler unterliefen. Beim Handel bestand ein Interesse, den Absatz durch den Abschluss einer großen Anzahl von Teilzahlungsverträgen zu steigern. Es kann dem Handel also nicht daran gelegen haben, die Aufmerksamkeit mit umgehenden Klagen auf die Zahlungsrückstände zu lenken. Das MfHuV gebot der Vergabepraxis des Handels mit der Verlagerung der Gewährung von Teilzahlungskrediten zurück in den Verantwortungsbereich der Sparkassen 1962 auch Einhalt. Die Klagewelle in den Gerichtsbezirken Berlin-Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain ist auch auf die Klagepraxis der „HO Industriewaren Berlin-Mitte, Zentrale Kreditabteilung für Teilzahlung des sozialistischen Einzelhandels von Groß-Berlin“ zurückzuführen. Hans Nathan problematisierte in einem Aufsatz in der NJ schon 1960 die umgehende Klage der HO wegen Herausgabe: „Wie sich aus einer Information durch Berliner Gerichte ergibt, ist die Kreditabteilung des sozialistischen Einzelhandels seit einiger Zeit dazu übergegangen, den Käufer in allen Fällen des Verzugs mit Ratenzahlungen nicht mehr auf Zahlung der rückständigen Raten bzw. des gesamten Restbetrags, sondern auf die Herausgabe des unter Eigentumsvorbehalts veräußerten TZ-Gegenstands zu verklagen, also auch dann, wenn es keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass die Vollstreckung aus einem Zahlungstitel – in Lohnforderungen oder andere als die auf TZ gekauften Sachen – fruchtlos bleiben werde.“172

Nathan vertrat in dem Aufsatz weiter, dass die Klage auf Herausgabe dem Ziel der Erhöhung des Lebensstandards der Werktätigen entgegenstehe. Ferner war er der Auffassung, dass in vielen Fällen mit einem Zahlungsurteil abgeholfen werden könnte. Diese Lösung würde dem Schuldner in vielen Fällen auch einen WertverAnweisung MfHuV Nr. 31 / 56 (wie Anm 152), Anlage 4, S. 198 ff. Hans Nathan, Teilzahlungsverkauf und Rechtspositivismus, in: NJ 1960, S. 335 – 345; vgl. auch § 5 AbzG von 1896. 171 172

C. Prozesse von sozialistischen Betrieben gegen Bürger

253

lust ersparen. Im Zuge der Herausgabe würde ein Wertverlust oft dadurch entstehen, dass der Tauschwert der gebrauchten Sache den Gebrauchswert, den sie für den Schuldner hatte, bei weitem nicht erreiche. Aus der Vollstreckung aus einem Zahlungstitel würden nach Angaben Nathans aber Schwierigkeiten erwachsen, sobald bei dessen Vollstreckung auf den Kaufgegenstand zurückgegriffen werden müsste. Eine Pfändung würde in der Praxis viele rechtliche Probleme aufwerfen.173 Die Informationen, die Nathan von Ost-Berliner Gerichten erhielt, stimmten mit den Erkenntnissen, die aus den Originalakten gewonnen wurden, überein. Die HO klagte fast ausschließlich auf Herausgabe des unter Eigentumsvorbehalt veräußerten Teilzahlungsgegenstands. Eine Vollstreckung aus einem Zahlungstitel blieb fast ausnahmslos unversucht. Bemerkenswert ist, dass einige der Vergleiche den Zusatz enthielten, dass sich die Herausgabepflicht auch auf Sachen in verarbeiteter Form erstreckte. Es ist zu vermuten, dass bei dem Schuldner mit diesem Zusatz auf eine pünktliche Ratenzahlung bzw. eine fristgemäße Tilgung des Restbetrages in der Folge des Vergleichs hingewirkt werden sollte. Die Gewährung von Teilzahlungskrediten durch den Handel hat die Klagewelle zeitlich verzögert. Das liegt darin begründet, dass die HO die Klageschriften wie oben dargestellt erst nach Monaten rückständiger Zahlungen einreichte. Die Verfahren um Teilzahlungskredite wurden schnell abgewickelt, auch wenn sie kaum durch Mahnverfahren eingeleitet wurden (2% des Jahrgangs). Beide Parteien ließen sich nur im Ausnahmefall durch einen Rechtsanwalt vertreten, nur vier der Verklagten nutzten die Rechtsantragsstelle. Die niedrige Zahl der vom Verklagten eingereichten Schriftsätze (über 80% ohne Schriftsatz) deutet darauf hin, dass diese sich nicht allzu aktiv verteidigten. Passend dazu wurden in nur 6% der Prozesse Beweise erhoben (dies waren meist Urkunden und Dokumente wie Kreditverträge). Allerdings erschienen die Parteien in über der Hälfte der Verfahren beide. Über 80% der Prozesse benötigten dann nur einen Termin, der meist zu einem schnellen Abschluss führte.174 Die Dauer bis zum ersten Termin lag im Median bei 19 Tagen, was sehr zügige Verfahren andeutet. Dies ist nicht verwunderlich, bedenkt man die große Anzahl von Verfahren mit demselben Inhalt, die in kurzer Zeit bearbeitet werden mussten. In den meisten Verfahren war das Urteil nur ein wenig mehr als eine Seite lang (Mittelwert 1,2 Seiten, Median eine Seite). Fast die Hälfte der Verfahren (45%) wurde zwischen 1960 und 1963 mit einem Vergleich zwischen den Parteien abgeschlossen. Dies deutet darauf hin, dass den Verklagten die Möglichkeit eingeräumt wurde, ihre Schulden in Raten zurückHans Nathan, Teilzahlungsverkauf und Rechtspositivismus, in: NJ 1960, S. 335. Der Median der Dauer bis zum Erlass des Urteils betrug in den Jahrgängen 1960 und 1963 nur 21 Tage. Der Mittelwert lag allerdings mit 44 Tagen weit darüber, da einzelne Verfahren erheblich länger dauerten. 173 174

254

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

zuzahlen. Bei den Klagerücknahmen, die mit einem relativ hohen Anteil (27%) vertreten waren, konnten die Verklagten die Forderungen kurzfristiger erfüllen. Ebenso häufig wurden Versäumnisurteile ausgesprochen, streitige Urteile gab es praktisch nicht. Die durchschnittliche Erfolgsquote in den betreffenden Jahrgängen lag bei 93%. Die Prozesse im Jahrgang 1963 waren signifikant erfolgreicher (1960: 87%, 1963: 99%), wohl weil die Kläger zu Beginn der Klagekampagne noch ungeübter waren. Grundsätzlich hatten die Kläger in diesen Inkassoprozessen jedoch meistens Erfolg. 4. Ab 1962: Gewährung von Teilzahlungskrediten durch die Sparkassen Mit der „Anordnung über die Ausreichung von Teilzahlungskrediten zum Einkauf langlebiger Gebrauchsgüter“ des Ministeriums der Finanzen vom 14. Februar 1962 wurde ab dem 1. März 1962 die Teilzahlungsgewährung wieder auf die Sparkassen beschränkt.175 Die Teilzahlungsgewährung seitens des Handels hatte wie dargestellt aufgrund einer „wenig praktikablen“ sowie unsicheren Vergabepraxis erhebliche Zahlungsrückstände und damit eine Klagewelle nach sich gezogen. Dass die Teilzahlungsgewährung aus diesem Grund wieder ausschließlich in die Hände der Sparkassen gegeben wurde, geht auch aus einem Bericht des Referats Statistik des Ministeriums der Justiz aus dem Jahr 1963 hervor.176 Das Referat stellte angesichts der anhaltenden Klagewelle 1963 die Fragen der Arbeitsweise beim Abschluss und der Realisierung der Verträge wie die rechtzeitige Kontrolle der Ratenzahlung in den Vordergrund und wies darauf hin, dass in organisatorischer Hinsicht durch die Ausreichung der Kredite durch die Sparkassen bessere Voraussetzungen für eine effiziente Arbeitsweise getroffen würden. Den Sparkassen wurde direkt aufgegeben, aus den Fehlern der HO mit dem Ziel der Verhütung von Zahlungsrückständen und der erzieherischen Einschaltung gesellschaftlicher Kräfte wie Hausgemeinschaftsleitungen, Betriebskollektive oder auch Schiedskommissionen zu lernen. Ein Mitarbeiter der Sparkasse der Stadt Berlin beschreibt in einem Aufsatz in der Zeitschrift Deutsche Finanzwissenschaft die von den Sparkassen ergriffenen organisatorischen Maßnahmen, nachdem die Teilzahlungskreditgewährung wieder ausschließlich in deren Verantwortungsbereich lag:177 Durch die Anhebung der Betragsgrenze und das neue Warenverzeichnis vom Juli 1963 wurden mehr Kredite 175 Horst Strohschein, Vereinfachte Technik im Teilzahlungsgeschäft, in: Deutsche Finanzwirtschaft 21 / 1963, S. G 13. 176 AZ 2443-II-613 / 63, BA DP 1 VA8890, S. 20. 177 Horst Strohschein, Vereinfachte Technik im Teilzahlungsgeschäft (wie Anm. 175), S. G 13.

C. Prozesse von sozialistischen Betrieben gegen Bürger

255

in Anspruch genommen. Daraufhin ergriff die Sparkasse organisatorische Maßnahmen mit dem Ziel, maximale Zeit für das Mahnwesen zu gewinnen. Also wurden ab 1. Oktober 1963 in den acht Berliner Stadtbezirken Teilzahlungskredit-Buchhaltungen eingerichtet. Diese Buchhaltungen führten die Teilzahlungskredit-Konten des jeweiligen Bezirks. Zuvor war die Verwaltung der Konten von den Hauptzweigstellen der Bezirke eigenverantwortlich geführt worden. Es hatte also keine spezialisierten Abteilungen gegeben. Eine Absicherung der Kreditgewährung wurde ferner dadurch zu erreichen versucht, dass die Kraftfahrzeugbriefe der Kreditnehmer bis zur vollständigen Tilgung der Schuld bei der Sparkasse hinterlegt blieben. Die „Anordnung Nr. 4 über die Ausreichung von Teilzahlungskrediten zum Einkauf langlebiger Gebrauchsgüter“ vom 22. Juni 1964178 optimierte das Verfahren der Teilzahlungskreditgewährung weiter. In der Folge wurde ein Kreditkaufbrief mit Einlösungsabschnitten eingeführt, die wie Schecks in Zahlung gegeben werden konnten. Ferner wurde in der Anordnung festgelegt, dass die Sparkasse zur Sicherung des Kredits das Eigentumsrecht an den mit Kreditmitteln gekauften Gebrauchsgütern erwarb. Dieses Eigentumsrecht erlosch mit der vollständigen Rückzahlung des Kredits.179

V. Andere Streitgegenstände Streitigkeiten um Kaufverträge oder Werk- und Dienstverträge, die in der Bundesrepublik sehr häufig waren, kamen in der DDR kaum vor.180 Die Analyse der erfassten Fälle muss daher knapp ausfallen.

1. Darlehen Die Gruppe der Teilzahlungskreditklagen wurde dargestellt. Beachtenswert sind allerdings die Prozesse um Kredite, die nicht geführt wurden, nämlich ganz normale Darlehensprozesse. Es sind hierfür zwei Gründe zu vermuten. Zum einen erfolgte die öffentliche Kreditvergabe sehr zurückhaltend. Zum anderen zeigt sich der geringere Stellenwert des Geldes im Wirtschaftsleben der DDR. Oft war mehr Geld vorhanden als Ware erworben werden konnte. Es fehlten – überspitzt gesagt – nicht die Geldmittel zum Erwerb der Güter, sondern die Waren zum Ausgeben des Geldes.

GBl. II 1964 Nr. 67, S. 610. Josef Wysocki / Hans-Georg Günther, Geschichte der Sparkassen in der DDR (wie Anm. 146), S. 339. 180 Vgl. oben, Kapitel 5 – Ergebnisse der Untersuchung, C. I., S. 221 f. 178 179

256

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

2. Kaufvertragliche Prozesse Kaufvertragliche Streitigkeiten kamen nur in 2,5% aller Prozesse von Institutionen gegen Bürger vor. Die 52 Fälle lagen zu jeweils einem Viertel in den Jahrgängen 1951 / 54 sowie 1960. Bei genauerer Betrachtung lagen hier, wie zu erwarten war, fast nur Kaufpreisforderungen vor. Entsprechend lag die Zahl der vorangegangenen Mahnverfahren mit 52% weit über dem Durchschnitt von 22,5% in allen Prozessen von Institutionen gegen Bürger. Es handelte sich hier meist um typische Prozesse mit bis zu einem Termin und vollem Erfolg für den Kläger (52% der kaufvertraglichen Streitigkeiten). Die Prozesse endeten hauptsächlich mit Klagerücknahmen, wahrscheinlich weil der Verklagte sich schon im Vorfeld des Prozesses bereit erklärt hatte, den geforderten Kaufpreis zu bezahlen.

3. Dienstleistungsvertragliche Prozesse Auch Streitigkeiten um Dienstleistungsverträge wurden zwischen Institutionen und Bürgern nur in 2,5% aller Fälle geführt. Es bleibt zu beachten, dass besonders im Dienstleistungssektor während der gesamten DDR-Zeit viele Privatbetriebe weiter bestanden und der Schwarzmarkt blühte. Über die Hälfte der Fälle lag in den 50er Jahren, danach traten Konflikte mit diesem Streitgegenstand kaum noch auf. Der hohe Anteil der Prozesse, denen ein Mahnverfahren vorausging (65%), deutet darauf hin, dass die Betriebe regelmäßig die Bezahlung ihrer Leistungen, z. B. handwerklicher Art oder Reinigungen, forderten. Es wurden recht häufig Beweise erhoben (in 22% der Fälle, der Durchschnitt aller Prozesse von Institutionen gegen Bürger liegt bei 20%). Auch hier endeten 52% der Prozesse mit Klagerücknahme. Die Erfolgsquote in diesen 51 Prozessen war deutlich unterdurchschnittlich, da 36% der Klagen keinen Erfolg hatten. Der vergleichsorientierte DDR-Zivilprozess hatte sich noch nicht durchgesetzt. Zudem scheinen Dienstleister weniger professionell und die betreffenden Betriebe kleiner gewesen zu sein, so dass von ihnen seltener Justiziare eingesetzt werden konnten. 4. Prozesse um deliktischen Schadensersatz Nur in 82 Fällen (4% aller Fälle) kam es zwischen Institutionen und Bürgern zu Streitigkeiten wegen deliktischen Schadensersatzes. Nach den Daten des Ministeriums der Justiz gab es zwar etwas mehr, aber insgesamt auch wenige solcher Fälle.181 181 Warum in den im Projekt erhobenen Akten höchstens halb so viele Prozesse mit diesem Prozessgegenstand zu finden waren, als sie das Ministerium der Justiz angibt, kann nicht erklärt werden.

C. Prozesse von sozialistischen Betrieben gegen Bürger

257

Hier handelte es sich fast ausnahmslos um Konflikte wegen Gesundheits- oder Sachschaden, nie um Unterlassung. Ballungen solcher Konflikte waren im Jahrgang 1951 und in den letzten beiden Jahrgängen 1984 und 1988 zu bemerken. Während für die letzten Jahre von einer Zunahme der Prozesse nach einem Verkehrsunfall ausgegangen werden kann, sind für eine Erklärung der Fälle des Jahrgangs 1952 weitere Forschungen notwendig. Möglich ist, dass die Institutionen in dieser Zeit noch bestrebt waren, ihre Betriebe vor Schadenszufügungen und Behinderungen im Zuge der Enteignungen zu schützen und dies auch auf diesen Wegen taten. Die wenigen Prozesse endeten meist mit Vergleich oder Klagerücknahme, im Vergleich zu den anderen Streitgegenständen in dieser Konfliktkonstellation jedoch auch sehr oft mit einem Sachurteil (18% der Fälle), was für echte Auseinandersetzungen auf diesem Gebiet spricht. Das wird auch durch die mit durchschnittlich 111 Tagen und einem Median von nur 60 Tagen sehr verschieden lange Dauer der Prozesse mit häufiger Beweisaufnahme (29%) und ebenfalls sehr verschieden hohen Streitwerten (Durchschnitt 1.459 M, Median 200 M) indiziert.

5. Prozesse auf Herausgabe von Sachen Streitigkeiten mit diesem Thema machten nur 4,2% aller Prozesse zwischen sozialistischen Betrieben und Institutionen und Bürgern aus. Über die Hälfte der 86 Prozesse lagen im Jahrgang 1960, ein weiteres Viertel konzentrierte sich auf die letzten beiden Jahrgänge. Ein unterschiedlicher Prozesshintergrund in den beiden Zeitabschnitten deutet sich durch die verschiedene Verteilung der Streitwerte in den beiden relevanten Zeitabschnitten an: Während 1960 durchschnittlich 747 M mit extremer Streuung erreicht wurden, sank der Streitwert in den letzten beiden Jahrgängen auf 249 M mit nur noch moderater Varianz, also größerer Einheitlichkeit, ab. Während 1960 noch überwiegend Vergleiche und Klagerücknahmen ausgesprochen wurden, ergingen in den letzten Jahrgängen hauptsächlich Versäumnisurteile, was entweder auf andere Konflikte oder eine andere Art der Verklagten, mit ihnen umzugehen, hindeutet. Ebenfalls im Jahrgang 1960 fand sich ein relativ großer Anteil von Teilerfolgen (21%), der in den späteren Jahren nicht mehr auftrat. Die durchschnittliche Erfolgsquote wird für diesen Zeitraum trotzdem mit 93% angegeben, in den letzten beiden Jahrgängen lag sie sogar durchgängig bei 100%. Den Daten ist nicht zu entnehmen, was die Kläger genau herausverlangten. Für das Jahr 1960 ist zu vermuten, dass die GASAG auf die Herausgabe von Zählern klagte, da dies der erste Jahrgang der Kampagne der Versorgungsbetriebe war. Es wird hier zudem Überschneidungen zu den Teilzahlungskreditklagen gegeben haben. Für die letzten beiden Jahrgänge muss offen bleiben, was die Kläger herausverlangten. Unwahrscheinlich ist es, dass es sich um Gegenstände aus Schwarz-

258

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

marktgeschäften oder um unberechtigt genutzte Wohnungen handelte, denn bei diesen stand den Behörden der Verwaltungsweg zur Verfügung.

VI. Ergebnis zu Prozessen von sozialistischen Betrieben und Institutionen gegen Bürger Die Prozesse von Institutionen gegen Bürger wurden klar dominiert von Streitigkeiten um Wohnungssachen. Dabei waren zwei besondere Phasen zu beobachten: Von 1954 bis 1960 war eine wahre Flut dieser Klagen zu verzeichnen. Von 1969 ab stiegen sie von einem Tiefpunkt aus bis 1988 kontinuierlich wieder an. Die anderen Prozessgegenstände konzentrierten sich jeweils auf wenige Jahrgänge, wie z. B. die Klagen wegen Teilzahlungskrediten auf 1960 und 1963. Kaufund dienstleistungsvertragliche Forderungen traten erstaunlich selten auf. Die wirtschaftliche Umgestaltung der DDR in ein staatssozialistisches Land prägte auch den Zivilprozess. So wurde der DDR-Zivilprozess in den 50er Jahren zunächst, mehr als er es vorher war, ein Inkassoprozess. Freilich hatte das Inkassoverfahren nun sein Gesicht gewandelt. Es war nicht mehr das Inkassoverfahren eines selbstständigen Unternehmers, es war das Inkassoverfahren eines quasi staatlich legitimierten Gläubigers. Der Anteil dieses „Staatsinkassos“ an allen Prozessen von Institutionen gegen Bürger stieg in den 50er Jahren auf über 70% und blieb bis zum Beginn der 70er Jahre auf diesem hohen Niveau (vgl. Grafik 5.31). 80

70

Anteil am Jahrgang

60

50

40

30 48

51

54

57

60

63

66

69

72

76

80

84

88

Jahrgang

Grafik 5.31: Anteil der Inkassoprozesse an allen Prozessen von Institutionen gegen Bürger

Das Prozessgeschehen im DDR-Zivilprozess wurde damit bis zum Ende der 60er Jahre stark abhängig vom Verhalten der staatlichen und volkseigenen Institutionen und damit auch von politischen Entscheidungen. Immer wieder lassen sich Folgen von Kampagnen oder Entscheidungen dieser Institutionen feststellen.

C. Prozesse von sozialistischen Betrieben gegen Bürger

259

In den 50er Jahren hatte das scharfe Vorgehen gegen „Mietsünder“ die größte Bedeutung. Schnell klagten die staatlichen Wohnungsgesellschaften und die KWV auf Räumung wegen Nichtzahlung der Miete im Gegensatz zu den privaten Hausbesitzern (1954 gingen 89% der Klagen auf Räumung wegen Mietrückstands von staatlichen Wohnungsunternehmen aus). Das war in der ersten Hälfte des Untersuchungszeitraums die übliche Art, mit säumigen Mietzahlern umzugehen. Aus den Daten war leider nicht zu entnehmen, warum diese Praxis gegen Ende der 50er Jahre abebbte. Die Welle derartiger Klagen in den 50er Jahren war jedenfalls ein singuläres Ereignis, das den Charakter des Zivilprozesses in diesem Zeitraum entscheidend mitbestimmte. Die mitbestimmende Rolle wird deutlich, wenn man sich vor Augen hält, dass 1957 fast jeder zweite Prozess von dieser Art war. Außerdem wurde deutlich, dass der starke Rückgang der Prozesszahlen zum Ende der 50er Jahre ganz entscheidend von einem milderen Vorgehen gegen die Mietsünder verursacht wurde. Allerdings kann anhand der Daten nur spekuliert werden, woran dies gelegen haben mag (z. B. „weiche Welle“ nach dem Mauerbau). Die zweite Phase des Ulbricht-Regimes war von zwei Einzelphänomenen im Bereich des ökonomisch relevanten Zivilrechts und von einem langen Trend geprägt. Die Einzelphänomene sind allerdings ebenso bedeutsam, weil sie ein Schlaglicht auf die DDR der Ulbricht-Ära werfen: Es waren dies die Prozesse wegen Teilzahlungskrediten in den Jahrgängen 1960 und 1963 sowie die Klageexplosion der Versorgungsunternehmen zwischen 1966 und 1969. Trotz dieser beiden Forderungsberge, die die 60er Jahre bestimmten, ging die Zahl der Inkassoverfahren stetig zurück. Es wurden deutlich weniger Räumungsklagen wegen rückständiger Miete geführt und die spätere Praxis, auf rückständige und künftige Miete zu klagen, hatte sich noch nicht durchgesetzt. Grafik 5.32 belegt diese Abnahme der Anzahl der Staats-Inkasso-Prozesse.

nur Berlin-Zentrum 300 250 200

absolute Werte

150 100 50 0 48

51

54

57

60

63

66

69

72

76

80

Jahrgang (Fälle gewichtet)

Grafik 5.32: Zahl der Inkassoprozesse von Institutionen gegen Bürger

84

88

260

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

Der Rückgang der Inkassotätigkeit der staatsnahen Institutionen begann schon nach 1954 und hielt dann bis Anfang der 70er Jahre an. Nach dem Wegfall der Klagen von Privatbetrieben bestimmte diese Prozessform trotzdem noch sowohl quantitativ als auch qualitativ das Prozessgeschehen. Der relativ gleichmäßige Rückgang darf nicht darüber hinweg täuschen, dass sich phasenweise unterschiedliche Prozessgegenstände hinter dem Staatsinkasso verbargen. In den 50er Jahren waren es vor allem Klagen auf Räumung wegen rückständiger Miete, in den frühen 60er Jahren vor allem Teilzahlungskredite, dann folgten die Klagen der Versorgungsunternehmen wegen offener Rechnungen. Der Rückgang verschaffte anscheinend den Richtern Luft zu einem professionelleren Arbeiten. Die Rechtsanwaltsbeteiligung stieg182, Akten und Urteile wurden ausführlicher. Ab der Mitte der 70er Jahre fand wieder eine leichte Intensivierung des Staatsinkassos statt. Im Vordergrund standen nun wieder die Mietschuldner. Es wurde allerdings nicht mehr auf Räumung geklagt, sondern auf „rückständige und künftige Miete“. Die Bürger intensivierten ihre Prozesstätigkeit rund 3 Jahre vor dem Staat, zwischen 1969 und 1972. Es handelte sich dabei nur um eine leichte Erhöhung, weil aber gleichzeitig das Staatsinkasso zunächst noch zurückging (vgl. Grafik 5.31), schnellte der Anteil der Verfahren unter Bürgern in diesem Zeitraum auf über 50% hoch. Das DDR-Zivilrecht bekam in den 70er Jahren das Gepräge des bewundertbelächelten „Feierabendrechts“, bei dem Verfahren wegen Wohnungstausch und -untervermietung, Leihe und Klein- bzw. Schwarzhandel und gelegentlich Sachbeschädigung im Vordergrund standen. In den 80er Jahren dehnte der Staat seine Inkassotätigkeit weiter aus, während die Prozesstätigkeit der Bürger stagnierte, sodass 1988 der Anteil der Streitigkeiten zwischen Bürgern fast wieder auf dem Stand von 1969 fiel. Nach der bisherigen Untersuchung zerfiel das DDR-Zivilrecht im Wesentlichen in zwei Prozesstypen: Die Verfahren unter Bürgern, die zum großen Teil auf der „zweiten Ökonomie“ der DDR beruhten, und die Staats-Inkasso-Verfahren, mit denen die Interessen der Volkseigenen Betriebe und der Genossenschaften geschützt wurden. Damit stabilisierte der Zivilprozess die realsozialistische Ökonomie, ähnlich wie der westliche Zivilprozess die kapitalistische Ökonomie stabilisiert. Hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Inkasso- und Privatprozessen lässt sich eine 3-Phasentheorie anwenden. In den 50er Jahren wurde der Privatprozess konsequent zurückgedrängt (Phase 1), in den 60ern stagnierte er (Phase 2) und in den 70ern dehnte er sich wieder aus, um sich in den 80ern zu konsolidieren (Phase 3). Dieselben Phasen sind auch beim Staatsinkasso zu beobachten. Dies dehnte sich in 182 Der Anteil anwaltlich vertretener Kläger stieg von ca. 10% in den 50er Jahren auf über 20% in den 70er Jahren, der Anteil der Verklagten mit Anwalt bewegte sich parallel auf einem ungefähr 10% niedrigeren Niveau.

D. Prozesse unter Bürgern

261

den 50er Jahren massiv aus, war in den 60ern leicht rückläufig, während es in den 70er und 80er Jahren wieder expandierte. Diese Abhängigkeiten sind wahrscheinlich kein Zufall. Sie deuten darauf hin, dass auch der Zivilprozess der DDR von politischen Entscheidungsträgern direkt oder indirekt gesteuert wurde. Dabei ist hier weniger die Steuerung der Gerichte in Betracht zu ziehen, sondern mehr die der Volkseigenen Wirtschaft, die ja die Inkassoverfahren initiierte.

D. Prozesse unter Bürgern Wie viele Prozesse wurden unter Bürgern geführt? Worum stritten die Bürger untereinander im DDR-Zivilprozess und welche Unterschiede ergeben sich zum Zivilprozess der Bundesrepublik? Reflektiert der Zivilprozess einer Gesellschaft deren soziale, ökonomische und / oder politische Charakteristika? Wenn Bürger in der DDR vor Gericht gingen, richteten sich ihre Klagen zumeist gegen andere Bürger. Aus diesem Grunde wurde schon vom Zivilprozess der DDR als einem Feierabendrecht / -prozess gesprochen.183 In den im Projekt untersuchten Verfahren wurde in 2.053 Fällen zwischen Bürgern prozessiert – das entspricht einem Anteil von 42% aller untersuchten Prozesse.184

nur Berlin-Zentrum 300 250

200

absolute Werte

150

100

50 0 48

51

54

57

60

63

66

69

72

76

80

84

88

Jahrgang (Fälle gewichtet)

Grafik 5.33: Prozesse von Bürgern gegen Bürger

183 Siehe unten Schlussteil: Kapitel 5 – Ergebnisse der Untersuchung, F. Vom Inkassozum Feierabendprozess, S. 346 ff. 184 Gewichtet und auf das Berliner Zentrum beschränkt verringert sich diese Zahl auf 1.588 Prozesse bzw. 38% aller erhobenen Akten. Die folgenden Darstellungen beziehen sich auf diese Werte.

262

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

Verglichen mit der Gesamtzahl aller Prozesse war die Zahl der Prozesse unter Bürgern in den ersten beiden Jahrgängen des Untersuchungszeitraums signifikant hoch.185 In diesen beiden Jahrgängen waren Klagen von Institutionen noch nicht sehr häufig. Dies änderte sich mit dem Jahrgang 1954, in dem Bürger extrem häufig wegen Streitigkeiten untereinander vor Gericht gingen und auch oft von Wohnungsunternehmen verklagt wurden. Für alle Prozesse wies die interne Statistik des Ministeriums der Justiz zwischen 1957 und 1960 einen Rückgang der Verfahren um ca. ein Drittel aus, was dem in unserer Stichprobe ermittelten Rückgang von ca. 600 auf gut 400 Zivilverfahren (insgesamt) entspricht.186 In diesem Zeitraum sank auch die Zahl der von Bürgern gegen andere Bürger geführten Prozesse und zwar um mehr als zwei Drittel (von 245 auf 80 Fälle).187 Der Anteil der Prozesse unter Bürgern an allen Prozessen in Ost-Berlin188 ist nach den Daten des Ministeriums der Justiz zumindest in den Jahren ab 1976 vergleichbar mit der in unserem Projekt erhobenen Zahl: Beginnend auf dem selben Niveau von etwas über 50% Anteil an allen Verfahren im Jahrgang 1976 fiel dieser Wert bis 1987 / 88 in Ost-Berlin um ca. 6% ab, während in den im Projekt untersuchten Verfahren der Abfall steiler verlief. Dies deutet darauf hin, dass in unserer Stichprobe in den letzten zwei Jahrgängen der Erhebung ein höherer Anteil klagender und / oder verklagter Institutionen vorhanden war.189 Das Ministerium der Justiz nannte als Gründe für den Rückgang dieser Prozesse zum Ende der 50er Jahre neben der Verbesserung der Versorgungslage der Bevölkerung und dem wachsenden sozialistischen Bewusstsein der Bürger auch die Einrichtung der Sühnestellen im Jahr 1958.190

185 Für die Darstellung des Anteils von Prozessen unter Bürgern an allen Prozessen siehe oben Grafik 5.23, S. 219. 186 Vgl. dazu Grafik 5.1, S. 195. 187 Der beschriebene Rückgang der Prozesse unter Bürgern fand in Ost-Berlin auf einem ungefähr 10% niedrigeren Niveau statt. In den Akten des Projekts lag der Anteil der Prozesse unter Bürgern zwar im Jahr 1976 höher, 1988 aber wieder niedriger als in den Angaben des Ministeriums der Justiz für Ost-Berlin. Dies muss mit der Konzentration der Erhebung auf das Berliner Zentrum, wo viele Institutionen ansässig waren, sowie dem Sonderstatus OstBerlins als Hauptstadt eines zentralistischen Staates erklärt werden. 188 Die Zahl der Prozesse unter Bürgern wurde nach der in der Datensammlung (wie Anm. 12) unter Punkt D. Prozesse unter Bürgern vorgestellten Strategie aus den Angaben der Statistik des Ministeriums der Justiz errechnet. 189 Begründen lässt sich dies möglicherweise damit, dass die drei Stadtbezirke des OstBerliner Zentrums in der Stichprobe durch die Beschränkung auf insgesamt fünf Stadtteile mit mehr Gewicht vertreten sind als in den Daten für ganz Ost-Berlin. Im Zentrum von OstBerlin könnten mehr Institutionen angesiedelt gewesen sein als in den restlichen Stadtbezirken, so dass diese in unserer Stichprobe zahlreicher erscheinen als in den Daten des Ministeriums der Justiz. 190 BU DP 1 VA 8867.

D. Prozesse unter Bürgern

263

Das „wachsende sozialistische Bewusstsein der Bürger“ war ein offensichtlich ideologisch gefärbter und praktisch schwer nachweisbarer Grund. Von Sühnestellen, womit insbesondere die Schiedskommissionen gemeint waren,191 wurden 1960 7.500 Zivilsachen bearbeitet, was 14% aller Zivilsachen entsprach.192 Damit war zwar eine gewisse Entlastung gegeben, den starken Rückgang der Klagen von Bürgern gegen Bürger erklärt dies jedoch nicht. Zum einen wurden die Schiedskommissionen erst in den 60er Jahren umfassend eingerichtet, also erst nach dem Rückgang der Zivilprozesse. Zum anderen war der Rückgang der Prozesse bei den Zivilgerichten größer als der Zuwachs bei den Schiedskommissionen. Ein Hinweis des Ministeriums der Justiz auf die verbesserte Versorgungslage erscheint interessant. Die Steigerung der Industrieproduktion in den Jahren 1957 / 58, die Aufhebung der Lebensmittelrationierung im Mai 1958 und die Einführung des einheitlichen Preisniveaus im Einzelhandel und Lohnerhöhungen ermöglichten der Bevölkerung eine umfassendere Bedarfsdeckung, ohne auf die bis dahin teuren HO-Waren, Schwarz- und Tauschgeschäfte zurückgreifen zu müssen. Allerdings machten Prozesse aus diesen Gebieten nur einen Bruchteil aller Verfahren der frühen 50er Jahre aus. In der großen Mehrzahl handelte es sich um Mietprozesse, deren Rückgang nicht mit Verbesserungen im Handel erklärt werden kann.

80 60 40 20 0 BRD 1975

DDR 1976

Ost-Berlin 1976

Grafik 5.34193: Anteile der Prozesse unter Bürgern an allen Prozessen in Bundesrepublik, DDR und Ost-Berlin

Die Konfliktkommissionen wirkten fast ausschließlich auf arbeitsrechtlichem Gebiet. Jürgen Krug, Das zivilrechtliche Wirken der Schiedskommissionen, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 1), S. 252. 193 Vom Statistischen Bundesamt liegen nur für die Jahre 1982 bis 1984 Zahlen vor; BTDrs. 10 / 5317, S. 210. In dieser Zeit wurden zwischen 1.065.032 und 1.209.450 Verfahren von den Amtsgerichten erledigt. In diesen Verfahren waren 1982 57% der Kläger Bürger und in den folgenden beiden Jahren waren 56% der Kläger Bürger. Unter den Beklagten hatten Bürger Anteile von 80% bzw. 79%. Es ergaben sich für das Jahr 1982 ein Mindestanteil von 43,5% und ein Höchstanteil von 57,2%, den Prozesse unter Bürgern an allen Verfahren ausmachten. (Da die Konstellation der Parteien im Prozess nicht erhoben wurde, wurden wieder Berechnungen durchgeführt.) Bei Elmar Steinbach / Rolf Kniffka, Strukturen des amtsgerichtlichen Zivilprozesses. Ergebnisse einer rechtstatsächlichen Aktenuntersuchung (wie Anm. 27) hatten Prozesse unter Bürgern 1975 einen Anteil von 51,2%. 191 192

264

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

Für das Gebiet der Bundesrepublik liegen detaillierte Zahlen für die 70er und 80er Jahre vor. Danach hatten Prozesse unter Bürgern einen Anteil von rund 50% an allen Verfahren.194 Der Vergleich mit den Daten aus der Bundesrepublik zeigt zweierlei: (1) Der Anteil von Prozessen unter Bürgern war in der Bundesrepublik niedriger als in der DDR. (2) Die Differenz war mit rund 10% nicht sehr groß. Sie resultierte zu einem großen Teil aus dem weitgehenden Fehlen von Zivilprozessen unter Firmen bzw. sozialistischen Betrieben und Institutionen vor den Zivilgerichten. Solche Verfahren hatten 1975 in der Bundesrepublik einen Anteil von 8,3%.195 In der DDR konnte sich der Zivilprozess demnach mehr auf Prozesse unter Bürgern fokussieren als der Bundesrepublik. Es deutet sich ein „privateres“ Verfahren an.

I. Analyse nach einzelnen Prozessgegenständen Bürger stritten untereinander vor Gericht hauptsächlich um Wohnungssachen und deliktischen Schadensersatz. Die übrigen Streitgegenstände traten im Vergleich dazu eher selten auf.196 nur Berlin-Zentrum

28

Anteil in Prozent

24

16 12 5

5

6

4

Wohnungs delikt. KaufDienstDarlehen/ Heraus- Versor- sonstige/ sachen Schaden- vertrag leistungs- Kredite gabe gungs- familienersatz vertrag Sachen leistung bezogen (Fälle gewichtet)

Grafik 5.35: Prozessgegenstände in Prozessen unter Bürgern 194 BRD-Daten aus Elmar Steinbach / Rolf Kniffka, Strukturen des amtsgerichtlichen Zivilprozesses. Ergebnisse einer rechtstatsächlichen Aktenuntersuchung (wie Anm. 27), S. 235, (ähnlich in: BT-Drs. 10 / 5317, S. 210 [1982]), DDR-Daten des Jahres 1976 aus Tabelle 173 der Datensammlung (wie Anm. 12), vgl. Ministerium der Justiz, EDV-Zivilprozessstatistik 1976 – 1988, BA DP 1 VA 8912, Ost-Berlin: Daten des Projekts für 1976. 195 Elmar Steinbach / Rolf Kniffka, Strukturen des amtsgerichtlichen Zivilprozesses (wie Anm. 27), S. 235. 196 Ein methodisches Problem ergibt sich daraus, dass ein Viertel der Fälle unter die Kategorie „familienbezogene Streitigkeiten“ eingeordnet wurde. Diese Prozessgegenstände tauchten nur in den frühen Jahrgängen in signifikantem Maß auf, bildeten aber dort nach den Wohnungssachen die zweithäufigste Gruppe der Prozessgegenstände.

D. Prozesse unter Bürgern

265

Die Relevanz von Streitigkeiten um Wohnungssachen wird auch von SchulzRackoll für die Bundesrepublik betont.197 Sie machten in der Bundesrepublik im Zivilprozess unter Bürgern einen Anteil von 28% aus.198 Steinbach / Kniffka fanden in ihrer empirischen Untersuchung des bundesdeutschen Zivilprozesses verschiedene für Prozesse unter Bürgern typische Prozessgegenstände,199 die mit unseren Daten – beschränkt auf die Jahrgänge 1972 / 76 – verglichen werden können.

Mietvertrag Werk-/ Dienstvertrag Kauf / Tausch Projekt

unerlaubte Handlung

BRD 0

5

10

15

20

25

30

Grafik 5.36200: Prozessgegenstände in Prozessen unter Bürgern in Bundesrepublik und Ost-Berlin

Die Wohnung ist für die Bevölkerung des westlichen Europa nicht nur der wichtigste Aufenthaltsort, sie definiert auch über ihre Lage, Größe und Ausstattung den sozialen Status in nicht unbedeutendem Maß mit. 197 Vgl. Rolf Schulz-Rackoll, Der Wohnungs-Mietprozess, in: Klaus Röhl (Hrsg.), Der Vergleich im Zivilprozess. Untersuchungen an einem großstädtischen Amtsgericht, Opladen 1983, S. 239 – 269. 198 Elmar Steinbach / Rolf Kniffka, Strukturen des amtsgerichtlichen Zivilprozesses (wie Anm. 27), S. 235. Die Anteile für die Prozessgegenstände „Mietvertrag / Forderung“ und „Mietvertrag / Räumung“ wurden addiert. 199 Das Raster der Zählkartenstatistik, das die Grundlage für die Darstellungen des Statistischen Bundesamts bildet, ist für Vergleiche mit unseren Daten nicht zu gebrauchen, weil dort über 90% der Prozesse unter dem Gegenstand „gewöhnliche Prozesse“ zusammengefasst werden. Auch in der detaillierteren Fachserie Rechtspflege ist keine Aufteilung der Prozesse nach Streitgegenständen zu finden, die eine Vergleichbarkeit mit unseren Daten erlauben würde. 200 Elmar Steinbach / Rolf Kniffka, Strukturen des amtsgerichtlichen Zivilprozesses (wie Anm. 27), S. 235. Die Kategorie „Unerlaubte Handlung“ entspricht in unserer Erhebung der Kategorie „Schadensersatz“, „Werk- / Dienstvertrag“ entspricht „Dienstleistungsvertrag“. Vor allem Mietsachen, die auf Forderungen zielten (81% dieses Prozessgegenstands wurden in Prozessen unter Bürgern geführt), aber auch Prozesse um Räumungsklagen (64% dieses Prozessgegenstands), unerlaubte Handlungen, Forderungen aus Verkehrsunfällen (68% dieses Prozessgegenstands) und natürlich hauptsächlich Unterhaltsklagen (die in der DDR in das Familienrecht ausgelagert wurden und daher in unseren Akten kaum erscheinen) wurden verstärkt unter Bürgern geführt.

266

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

Während zur Miete wohnende Personen in den westlichen Industriestaaten je nach Marktsituation unter hohen und steigenden Mieten und möglichen Kündigungen durch den Vermieter „leiden“ müssen, wurden in der DDR durch staatliche Subventionierung der Miete, Zurückdrängung privater Vermietung von Wohnraum und praktisch nicht vorkommende Wohnungsräumungen diese Mieterängste weitgehend gebannt. Insofern war die Ausgangssituation in den beiden Systemen eigentlich unterschiedlich. Erstaunlich ist insofern, dass die Mietsachen im Zivilprozess hier wie da äußerst präsent waren. Leider kann aufgrund fehlender Daten aus der Bundesrepublik nur ein kurzer Zeitraum verglichen werden. Für frühere Jahrgänge war jedenfalls in der DDR eine starke Dominanz der Wohnungssachen festzustellen. Grafik 5.37 zeigt aus Gründen der Übersichtlichkeit nur den zeitlichen Verlauf der drei (mit Ausnahme der familienbezogenen Streitgegenstände) häufigsten Prozessgegenstände.201 nur Berlin-Zentrum 80

60

40

Absolute Werte

Wohnungssachen deliktischer Schadenersatz

20

Herausgabe von Sachen

0 48

54 51

60 57

66 63

72 69

80 76

88 84

Jahrgang (Fälle gewichtet)

Grafik 5.37: Prozessgegenstände in Prozessen unter Bürgern 201 Die Daten des Ministeriums der Justiz wurden nach dem in der Datensammlung unter Punkt D. Prozesse unter Bürgern (wie Anm. 12) dargestellten Schema umgerechnet, so dass die Mindestanzahl der Prozesse unter Bürgern ermittelt werden konnte. Für Ost-Berlin waren die Verhältnisse der Prozessgegenstände zueinander ähnlich. Durch die Beschränkung der Daten des Ministeriums der Justiz auf die Jahrgänge ab 1976 wird, um vergleichen zu können, eine ebensolche Einschränkung für die Daten des Projekts notwendig. Dabei verschwindet die Dominanz der Wohnungssachen in den Projektdaten, deren Anteil von 28% auf 25% abfällt. Der Anteil von Prozessen um Schadenersatz steigt währenddessen von 17% auf 34%, während die Anteile der Prozesse um Kaufverträge und Herausgabe von Sachen ebenfalls leicht ansteigen (von 5% auf 8% bzw. von 12% auf 17%). Prozesse um Sonstiges bzw. familienbezogene Sachen fallen von 25% auf knapp 8%. Lediglich der Anteil der Darlehensstreitigkeiten lag in unserem Untersuchungsgebiet deutlich höher – bis zu 8% im Jahrgang 1988 im Projekt, nur 0,2% in den Angaben des Ministeriums der Justiz. Dies kann auf eine genauere Aktenanalyse unserer Kodierer oder auf größere finanzielle Möglichkeiten der Einwohner im Zentrum Berlins zurückzuführen oder schlicht zufällig sein. In Ost-Berlin wie in den

D. Prozesse unter Bürgern

267

Die Dominanz der Streitigkeiten um Wohnungssachen besonders in den 50er Jahren reflektiert den nachkriegsbedingten Wohnraummangel in Ost-Berlin, wo über die Hälfte des Wohnungsbestandes zerstört oder nahezu unbewohnbar war,202 Besitzer und Mieter gewechselt hatten oder nicht mehr auffindbar waren. Die hohe Zahl der Wohnungssachen in Prozessen unter Bürgern über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg zeigt auch, dass die pauschale Wahrnehmung nicht zutreffen kann, Wohnraum sei in der DDR ausschließlich Volkseigentum gewesen und die besitzende Klasse wäre schnell und vollständig enteignet worden. Wir kommen später auf diese Thematik zurück.203 Die ersten Jahrgänge nach dem Krieg sind insofern als untypisch zu bezeichnen, als viele Verfahrensgegenstände in dieser Zeit stärker vertreten waren als zu jedem späteren Zeitpunkt. Einen Höhepunkt hatten 1948 Streitigkeiten um die Herausgabe von Sachen.204 Das typische Beispiel für Prozesse aus dieser Zeit war die Klage auf Herausgabe eines Kochtopfes. Fred Bär205 führt als Prozesshintergründe für die Nachkriegszeit Schwarzmarktgeschäfte, Wohnungsnot, Diebstahl aus großer wirtschaftlicher Not und psychische Deprivation durch Kriegserlebnisse an. Bei der Beurteilung dieses Jahrgangs ist außerdem zu beachten, dass 1948 das letzte Jahr war, in dem Berlin eine Justiz hatte, die für alle Besatzungssektoren zuständig war. Da in den folgenden Jahren zahlreiche Bürger Berlins vom östlichen in die westlichen Sektoren flohen, eine Währungsreform und Vermögensbeschlagnahmungen stattfanden, im Osten die sozialistische Planwirtschaft einsetzte, veränderten sich nun auch die soziale Zusammensetzung der Kläger- und Verklagtengruppen und die Prozessursachen.206 Auffällig ist weiterhin die große Zahl der Verfahren wegen deliktischen Schadensersatzes und Unterlassung in den 80er Jahren.207 Hier deutet sich eine Verlagerung der Konflikte ins Private, in den „Feierabend“ an, der später noch genauer nachgegangen wird. Daten des Projekts sank der Anteil der Wohnungssachen im letzten Jahrgang um fast 10 Prozentpunkte ab. Die Anteilswerte für Schadensersatz-Klagen hingegen stiegen zwar im Zeitverlauf in Ost-Berlin stärker an als in den Projektdaten, lagen aber immer noch vergleichsweise niedrig (1987 bei 28%). 202 Günter Peters, Gesamtberliner Stadtentwicklung von 1945 – 1990 (wie Anm. 66), S. 56. 203 Vgl. unten Kapitel 5 – Ergebnisse der Untersuchung, D. II., S. 268 ff. 204 Über 30% Anteil an allen Prozessen in diesem Jahrgang, später nur noch zwischen 5% und 15%. 205 Fred Bär, Die Berliner Justiz in der Besatzungszeit am Beispiel der Ziviljustiz am Amtsgericht Berlin-Mitte im Jahre 1948, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 1), S. 31 – 88. 206 Ernst Reuß, Berliner Justizgeschichte (wie Anm. 137). 207 In der Grafik nicht abgebildet sind die Prozessgegenstände „Kaufvertrag“, „Dienstleistungsvertrag“ und „Darlehen / Kredite“. Sie liegen über den gesamten Zeitraum hinweg auf sehr niedrigem Niveau und weisen im Verlauf (bis auf sehr viel höhere Zahlen im Jahrgang 1948) keine Auffälligkeiten auf.

268

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

Bezüglich des in Grafik 5.35 erkennbaren großen Anteils der „sonstigen / familienbezogenen Streitsachen“ ist eine Anmerkung notwendig. Bei einer genaueren Aufschlüsselung zeigte sich, dass in den Jahrgängen 1951 und 1957 fast alle unter dieser Rubrik dargestellten Prozesse der Kategorie Familiensachen zuzuordnen waren.208 In diesen Jahren waren die Zivilgerichte noch mit einer Vielzahl von Klagen auf Unterhalt beschäftigt.209 Häufig ging es dabei um die Abänderung bestehender Unterhaltspflichten,210 auch weil von der unterhaltsberechtigten Frau nun eine eigene Berufstätigkeit verlangt wurde bzw. sich die Einkommensverhältnisse stark verändert hatten. Dass solche Verfahren in unseren Akten zu finden waren, obwohl die Untersuchung Familiensachen eigentlich ausklammern wollte, erstaunte die Bearbeiter. Sie auszulassen wäre aber ein methodisches Vergehen gewesen. Diese Verfahren sind daher als Zeugnisse einer Zeit, in der die Rechtsprechung noch nicht wieder vollständig organisiert war und es – auch aufgrund Personalmangels – unklare Zuständigkeiten gab, zur Kenntnis zu nehmen. Für den Zivilprozess der DDR spielten sie eine untergeordnete Rolle.

II. Wohnungssachen In 579 Fällen (29% aller Verfahren)211 stritten sich Bürger untereinander vor Gericht um Wohnungssachen. Dies mag verwundern, deuten doch Streitigkeiten zwischen privaten Vermietern und Mietern an, dass ein beträchtlicher Anteil des Wohnungsbestandes in privatem Besitz war und blieb. Ein DDR-Handbuch der Bundesregierung von 1979 gibt den privaten Wohnungsbesitz mit 60% aller Wohngebäude an.212 In der Datensammlung von Günter Peters fällt der Anteil der Wohnungen in Privatbesitz von 85% im Jahr 1950 auf 24% im Jahr 1989 zurück.213 Für die Anfangsjahre der DDR besteht die Möglichkeit, dass verstärkt über Untermietverhältnisse gestritten wurde. Wegen der Wohnungsknappheit wurden unter 208 Im Jahrgang dazwischen (1954) wurden 90% der betreffenden Fälle als echte „sonstige Zivilsachen“ kodiert. 209 Z. B. AZ 404 c 3640 / 54 oder 440 c 1998.54: Die Amtsgerichte waren für alle familienrechtlichen Streitigkeiten nach der Verordnung betreffend die Übertragung von familienrechtlichen Streitigkeiten in die Zuständigkeit der Amtsgerichte zuständig geworden und viele Unterhaltsklagen wurden nicht als F wie Familiensachen, sondern als normale C (Zivilverfahren) geführt. 210 Hilde Benjamin (Leiterin des Autorenkollektivs), Zur Geschichte der Rechtspflege der DDR 1945 – 1949, Berlin (Ost) 1976, S. 300. 211 Gewichtet und auf Berlin-Zentrum beschränkt sinkt diese Zahl auf 441 bzw. 28%. 212 Stefan Wolle spricht von 41%, wobei die Ein- und Zweifamilienhäuser zu fast 85% in Privatbesitz waren: Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971 – 1989, 2. Auflage, Bonn 1999, S. 185. 213 Günter Peters, Gesamtberliner Stadtentwicklung von 1945 – 1990 (wie Anm. 66), S. 55.

D. Prozesse unter Bürgern

269

anderem viele Flüchtlinge und Kriegsheimkehrer von privaten Wohnungsbesitzern aufgenommen. In diesem Zusammenhang ist zu bemerken, dass nach den untersuchten Akten insbesondere Frauen – als Vermieterinnen – klagten. Ob dies auf dem höheren Anteil der Frauen an der Nachkriegsbevölkerung oder auf ihren tendenziell geringeren Möglichkeiten zur Selbsthilfe beruhte, kann hier nicht festgestellt werden. In den späteren Jahren kam es vor, dass Bürger Zweitwohnungen untervermieteten, statt sie zu kündigen, da die finanzielle Belastung durch die niedrigen Mieten gering war. Leider war aus unseren Daten nicht zu entnehmen, wie viele der Prozesse aus Untermiet- bzw. aus „echten“ Mietverhältnissen hervorgegangen waren. 80

60

40

20

abs. Werte (Fälle) Anteil am Jahrgang %

0 48

54 51

60 57

66 63

72 69

80 76

88 84

Jahrgang

Grafik 5.38: Prozesse um Wohnungssachen unter Bürgern

Für die absoluten Werte der Wohnungssachen sind deutlich drei signifikant voneinander abweichende Phasen zu erkennen: ein Hoch zwischen 1951 und 1954 (Phase 1), ein starker Rückgang der Verfahren ab 1957 (Phase 2) und ein langsames Einpegeln auf einem leicht höheren Niveau mit Schwankungen ab 1963 (Phase 3). Der Anteil der Wohnungssachen an allen anderen Prozessen unter Bürgern zeigt die Präsenz solcher Verfahren vor den Zivilgerichten. In den ersten Jahren des Untersuchungszeitraums war der Anteil der Wohnungssachen eher niedrig, was bedeutet, dass in dieser Zeit auch noch eine Vielzahl von anderen Prozessen unter Bürgern vor den Gerichten anhängig war. Streitigkeiten um Wohnungssachen waren zwar zahlreich – was die absoluten Zahlen belegen –, dominierten aber den Zivilprozess in diesen Jahren nicht. Dies änderte sich in den 60er Jahren, als die Zahl der Prozesse unter Bürgern insgesamt zurückging. Wohnungssachen machten in diesen Jahren fast die Hälfte aller Streitgegenstände aus. Ab 1972 stieg die Zahl aller Prozesse unter Bürgern wieder an, was zur Folge hatte,

270

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

dass der Anteil der Streitigkeiten um Wohnungssachen wieder sank, auch wenn sich die absolute Zahl der Prozesse nicht wesentlich veränderte. Die Zahl der Mahnverfahren hatte keinen Einfluss auf die Häufigkeit mietrechtlicher Prozesse.214 Für die Zeit ab 1976 konnten unsere Daten mit denen des Ministeriums der Justiz verglichen werden.

40 35 30 25 20 15 10

MdJ

5 0 1976

Projekt 1980

1984

1987

Grafik 5.39215: Anteile der Prozesse um Wohnungssachen an allen Prozessen unter Bürgern in Ost-Berlin

Der Verlauf der Daten des Ministeriums der Justiz für Ost-Berlin ähnelt den Projektdaten weitgehend. Warum die Bürger in unserer Stichprobe etwas häufiger in Wohnungssachen vor Gericht gingen, erklärt sich zumindest teilweise aus dem höheren Anteil älteren Wohnungsbestandes im Berliner Zentrum,216 der Mietern und Vermietern mehr Anlass zum Streit geben kann als modernisierte oder neue Wohnungen. Die Tabelle für Ost-Berlin 1976 zeigt, dass um Wohnungen, die nach dem Krieg erbaut worden sind, in Ost-Berlin insgesamt sehr selten gestritten wurde. Außerdem wurde bezüglich solcher Wohnungen eher auf Räumung geklagt, wogegen die Mieter älterer Wohnungen hauptsächlich wegen nicht gezahlter Mieten in Anspruch genommen wurden. Ein teilweise gravierendes Übergewicht von Klagen auf Räumung zeigt sich auch in der Stichprobe des Projekts217 und ist ein Indiz dafür, dass es sich hier bei den Klägern nicht um klassische Vermieter, sondern um Untervermieter oder Ehepartner in Scheidung gehandelt hat. Dies wird bestätigt durch die im Folgenden vorgenommene feinere Aufteilung der Streitgegenstände, Vgl. Tabellen 192 bis 194 in der Datensammlung (wie Anm. 12). Ministerium der Justiz, EDV-Zivilprozessstatistik 1976 – 1988, BA DP 1 VA 8910 (OstBerlin). Für den Vergleich der Projektdaten mit denen aus der Statistik des Ministeriums der Justiz war es erneut nötig, nach bereits erwähnten Strategie die fehlende Angabe der Parteienkonstellation auszugleichen. Die Projektdaten sind ungewichtet und beziehen sich auf alle erhobenen Stadtbezirke. 216 Vgl. oben Kapitel 5 – Ergebnisse der Untersuchung, C. II., S. 223 ff. 217 Vgl. Tabelle 177 in der Datensammlung (wie Anm. 12). 214 215

D. Prozesse unter Bürgern

271

bei der sich zeigt, dass die Räumungsklagen ab 1976 vorrangig mit Eigenbedarf begründet wurden (Grafik 5.40). Tabelle 10 Ost-Berlin 1976218 Prozessgegenstand

Baujahr des Hauses vor 1919

1919 – 1945 Nach 1945

Gesamt

Rückständige Miete

171 18,3%

94 22,8%

11 13,9%

276 19,4%

Rückst. / künftige Miete

545 58,4%

170 41,3%

23 29,1%

738 51,8%

Instandhaltung

44 4,7%

15 3,6%

2 2,5%

61 4,3%

Räumung

173 18,5%

133 32,3%

43 54,4%

349 24,5%

Gesamt

933 100%

412 100%

79 100%

1.424 100%

Klagen auf nicht gezahlte Mieten von privaten Vermietern betrafen demnach häufiger ältere Wohnungen, was angesichts des staatlichen Monopols im Wohnungsbau nachvollziehbar ist – Privatpersonen konnten in der DDR gar nicht selbst bauen und diese Wohnungen dann vermieten.

1. Konflikt- und Forderungsarten Eindeutige Mieteransprüche (insbesondere Klagen auf Instandhaltung) lagen nur rund 5% der einzelnen Wohnungssachen zu Grunde. Es handelte sich also bei nahezu allen Klagen in Wohnungssachen um die Geltendmachung von Ansprüchen durch Vermieter. Für spätere Jahrgänge ist zu beachten, dass die volkseigenen KWV auch für die Instandhaltung von privaten Wohnungen zuständig waren. Das erklärt die niedrigen Werte der Instandhaltungsklagen zwar teilweise, insgesamt scheinen aber Instandhaltungsbegehren von den Mietern mit anderen Instrumenten wie der Zurückbehaltung der Miete oder Eingaben verfolgt worden zu sein, worauf an anderer Stelle näher eingegangen wird.219

218 Zahlen nach Ministerium der Justiz, EDV-Zivilprozessstatistik 1976 – 1988, BA DP 1 VA 8910 (Ost-Berlin). 219 Siehe oben Kapitel 5 – Ergebnisse der Untersuchung, B. IV., S. 207 ff.

272

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung Tabelle 11

Prozessgegenstand „Wohnungssachen“

Anzahl

Räumung wegen Mietrückstands

Prozent

189

42,8

Räumung wegen Eigenbedarfs

38

8,6

Räumung aus sonstigen Gründen

23

5,2

Räumung wg. gröblicher Rechtsverletzung

28

6,4

Zahlung rückständiger Miete

66

15,0

Zahlung rückständiger / künftiger Miete

37

8,4

7

1,6

Andere Geldforderungen im Bereich Miete Malermäßige Instandhaltung

4

0,9

Bauliche Instandhaltung

2

0,5

Sonstige Instandhaltung

14

3,1

Sonstige Wohnungssachen

33

7,5

441

100,0

Gesamt

Grund zur Klage hatten die Mieter genügend: Besonders die Instandhaltung und Sanierung von Altbauwohnungen wurde bis Anfang der 70er Jahre zugunsten des massenhaften Neubaus von Plattenbausiedlungen stark vernachlässigt. Tabelle 12 Ost-Berlin 1976220 Prozessgegenstand

Eigentumsverhältnisse der Wohnung VEB, verwaltet durch KWV

Alle Wohnungen

Privat

Rückständige Miete

96 34,7%

112 40,4%

277 100%

Rückst. / künft. Miete

333 45,1%

230 31,2%

738 100%

Instandhaltung

10 16,4%

44 72,1%

61 100%

Räumung

136 39,0%

174 49,9%

349 100%

Gesamt

575 40,4%

560 39,3%

1.425 100%

220 Zahlen nach Ministerium der Justiz, EDV-Zivilprozessstatistik 1976 – 1988, BA DP 1 VA 8910 (Ost-Berlin). Nicht im Einzelnen dargestellt, aber in der Gesamtzahl der Wohnungen enthalten: Eigentum sonstiger Rechtsträger, der AWG sowie Privater, verwaltet durch die KWV.

D. Prozesse unter Bürgern

273

Obige Tabelle für Ost-Berlin 1976 zeigt, dass Instandhaltungsklagen trotzdem – wenn überhaupt – fast nur bei privat verwalteten Wohnungen auftraten. Der Gerichtsweg wurde bei Beschwerden gegen Institutionen generell selten eingeschlagen, auch weil die Instandsetzungspflicht in den Mustermietverträgen mit volkseigenen Vermietern durchweg dem Mieter auferlegt war.221 Da in den im Projekt erfassten Bezirken des Ost-Berliner Zentrums verhältnismäßig wenige Wohnungen in Privatbesitz waren,222 können auch nur wenige Instandhaltungsklagen in unseren Akten auftauchen. 70 60

Anteil am Jahrgang

50 40

rückständige Miete/ rückständige + künftige Miete

30

Räumung wegen Mietrückstands

20 Räumung wegen Eigenbedarfs

10 0 1948/51

1960/63 1954/57

1972/76 1966/69

1988 1980/84

Jahrgang, aggregiert

Grafik 5.40223: Anteil der häufigsten Prozessgegenstände in Prozessen um Wohnungssachen unter Bürgern

Ab 1972 wurde in Prozessen unter Bürgern nicht mehr auf Räumung wegen Mietrückstands geklagt, sondern nur noch auf rückständige und künftige Miete. Dieser abrupte Wechsel erklärt sich durch eine plötzliche Veränderung der Rechtslage.224 Zum Ende der DDR stieg der Anteil von Klagen auf Räumung wegen Eigenbedarfs auf über 30% (am Jahrgang 1988) an. Die hohen Anteilswerte basieren zwar auch auf den höchsten absoluten Zahlen in diesem Prozessgegenstand, es handelte 221 Vgl. Annett Kästner, Die Verfolgung zivilrechtlicher Ansprüche im Eingabenweg auf dem Gebiet des Mietrechts, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. II (wie Anm. 61), S. 129 – 149, und Dietmar Kurze, Sozialistische Betriebe und Institutionen als Verklagte im DDR-Zivilprozess (wie Anm. 21). 222 Vgl. oben Kapitel 5 – Ergebnisse der Untersuchung, C. II., S. 223 ff. 223 In Grafik 5.40 wurden die Prozessgegenstände „Zahlung rückständiger Miete“ und „Zahlung rückständiger und künftiger Miete“ zusammengefasst. In Prozessen unter Bürgern wurde in den meisten Fällen nur auf rückständige Miete geklagt, wohingegen volkseigene Wohnungsunternehmen ab dem Jahrgang 1966 fast ausschließlich zum Einklagen rückständiger und künftiger Miete übergingen. 224 Genauer betrachtet wird diese in Kapitel 5 – Ergebnisse der Untersuchung, C. II. 3., S. 232 ff.

274

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

sich aber trotzdem nur um 13 Fälle im Jahrgang 1988 (vgl. Tabelle 178 in der Datensammlung). Deshalb sollte dieser Anstieg nicht überbewertet werden; die hohen Anteilswerte wurden vor allem dadurch verursacht, dass die anderen Streitgegenstände in Wohnungssachen in den letzten beiden Jahrgängen an Gewicht verloren. Möglich ist, dass es sich um Kündigungen gegenüber Untermietern handelte oder Scheidungen eine größere Rolle spielten. In einem Prozess aus dem Jahrgang 1976 klagte beispielsweise eine Frau gegen ihren geschiedenen Ehemann auf Räumung wegen Eigenbedarfs. Ihm war nach der Scheidung noch keine neue Wohnung zugewiesen worden. Er hatte deshalb vorerst seine neue Freundin nebst Kind in die (noch) gemeinsame Wohnung aufgenommen.225 Auch die Kodierer bestätigten, dass häufig nach Scheidungen um Wohnungen gestritten wurde, weil den ehemaligen Eheleuten die Wohnung gemeinsam zugesprochen wurde und Anträge auf anderweitige Wohnungszuteilung häufig nicht bewilligt wurden.226 2. Streitwert Die Wohnungsstreitigkeiten waren durch einen relativ niedrigen, aber im Zeitverlauf kontinuierlich steigenden Streitwert gekennzeichnet. Der durchschnittliche Streitwert in Prozessen um Wohnungssachen lag bei 421 M, der Median gar nur bei 247 M. Nur Berlin-Zentrum 1200 1000

Mittelwert Streitwert

800 600 400 200 0 48

51

54

57

60

63

66

69

72

76

80

84

88

Jahrgang (Fälle gewichtet)

Grafik 5.41: Durchschnittlicher Streitwert in Prozessen um Wohnungssachen unter Bürgern AZ 740.Z.155.76. Beobachtung in Bemerkungen zu AZ 541 Z 315 / 76; nach einem Bericht des Ministeriums der Justiz dauerte es häufig mehrere Jahre, bis durch die staatlichen Organe dem zum Auszug Verurteilten geeigneter anderweitiger Wohnraum zugewiesen werden konnte. Zusätzliche Schwierigkeiten ergaben sich dabei, wenn die Betreffenden ihnen zugewiesenen Wohnraum als nicht angemessen betrachteten und einen Umzug ablehnten. Die nach mehrmaliger Zuweisung dann nur noch mögliche Zwangsräumung wurde trotz oft unhaltbarer Zustände im Zusammenleben der Beteiligten nur sehr zögerlich beantragt bzw. durchgeführt, BA DP 1 DA 8525. 225 226

D. Prozesse unter Bürgern

275

Der Streitwert lag dabei während des gesamten Untersuchungszeitraums deutlich unter dem Streitwert aller Zivilprozesse unter Bürgern (im Durchschnitt 1.038 M).227 Dies erklärt sich aus den massiv subventionierten Mieten in der DDR. Durchschnittsverdiener-Haushalte in der DDR mit einem Einkommen von monatlich 1.510 M gaben nur 5% von diesem für die Miete aus – in der Bundesrepublik waren es im Jahr 1982 dagegen 24%.228 Eine Erklärung für die stetige Zunahme des Streitwerts ist der allmähliche Anstieg der Mieten in der DDR auch in der Folge der allgemeinen Inflation der OstMark.

3. Prozessparteien a) Soziale Einordnung der Parteien Bei den Klägern waren Angehörige der Oberschichten als Vermieter (natürlich) überrepräsentiert und untere Schichten unterrepräsentiert.229 Eine ganz andere Verteilung ergab sich bei den Verklagten. Die oberen Unterschichten waren als Mieter eindeutig die bevorzugten Prozessgegner. Auch in der DDR gab es demnach eine gesellschaftliche Schichtung, die sich im alltäglichen Leben und auch in den Zivilprozessen niederschlug. Die privaten Vermieter waren vorrangig der Oberschicht zuzuordnen, während Mietschuldner tendenziell eher den unteren Schichten entstammten.

50 40 30 20 Kläger

10

Verklagte 0 OS / OMS / MMS

UMS

OUS

UUS / SV

Grafik 5.42: Soziale Schicht der Parteien in Prozessen um Wohnungssachen unter Bürgern

227 Er stieg über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg von anfangs 290 M stetig auf bis zu 1.050 M an. 228 Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Die DDR, in: Informationen zur politischen Bildung, Heft 205, Neudruck 1988, S. 55. 229 Die Verteilung über die Jahre hinweg war sowohl bei Klägern als auch Verklagten relativ gleichmäßig.

276

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

Nur ein geringer Teil der Kläger in Wohnungssachen kam aus West-Berlin oder dem „kapitalistischen Ausland“ (5% und 1%). Die meisten dieser Fälle stammten aus dem Jahr 1951. Danach klagten nur noch selten Vermieter aus West-Berlin. Die Mietshäuser waren zum größten Teil enteignet worden und standen daher unter staatlicher Verwaltung.

b) Rechtsanwaltliche Vertretung Ein relativ hoher Anteil von 39% der Kläger ließ sich durch einen Rechtsanwalt vertreten, nur 36% waren überhaupt nicht vertreten.230 Bei den Vermietern kann insofern auf eine gewisse Professionalität geschlossen werden. Die Beauftragung lohnte sich auch: Kläger, die sich nicht vertreten ließen, hatten mit durchschnittlich 78% eine signifikant geringere Erfolgsquote als solche, die sich von einem Rechtsanwalt oder einem Rechtsbeistand vertreten ließen – diese erreichten eine mittlere Erfolgsquote von immerhin 85%. Mit Hilfe einer Kreuztabelle kann genau ermittelt werden, bei welchen Konfliktbzw. Forderungsarten eher Rechtsanwälte beauftragt wurden. Signifikant häufig nahmen sich Kläger einen Rechtsanwalt bei Klagen auf Zahlung rückständiger231 und rückständiger / künftiger Miete.232 Signifikant selten war die Beauftragung bei Klagen auf Räumung wegen Eigenbedarfs233 und in sonstigen Wohnungssachen.234 Dies verstärkt die Vermutung, dass es unter den Klägern in Wohnungssachen zwei Gruppen gab: Zum einen Vermieter, die relativ professionell gegen säumige Mieter mit der Hilfe von Rechtsanwälten vorgingen und zum anderen Private, die eine unliebsame Person – den geschiedenen Ehemann oder einen Untermieter – aus der Wohnung klagen wollten. Von den Verklagten nahmen sich nur 6% einen Rechtsanwalt, ganze 91% blieben ohne jede Vertretung.235

Also auch nicht durch einen Rechtsbeistand. 51% dieser Prozesse wurden vom Kläger mit Anwalt bestritten, der Zusammenhang ist mit einem Residuum von 2,2 hoch signifikant. 232 79% dieser Prozesse wurden vom Kläger mit anwaltlicher Vertretung durchgeführt, der Zusammenhang ist mit einem Residuum von 4,4 hoch signifikant. 233 Nur 21% dieser Prozesse wurden vom Kläger mit Anwalt bestritten, der Zusammenhang ist mit einem Residuum von –2,1 hoch signifikant, aber in negativer Richtung. 234 Nur 8% dieser Prozesse wurden vom Kläger mit Anwalt bestritten, der Zusammenhang ist mit einem Residuum von –3,3 hoch signifikant, aber in negativer Richtung. 235 Der Anteil der Prozesse in Wohnungssachen, die ganz ohne Anwalt ausgefochten wurden, sank bis 1969 stark ab. Das lässt sich auf die wachsende Verfügbarkeit von Anwälten, Professionalisierung der Kläger oder komplizierter werdende Fälle zurückführen. Merkwürdig ist allerdings der erneute Anstieg der „Do-it-yourself-Prozesse“ ohne Anwalt in den 70er Jahren. 230 231

D. Prozesse unter Bürgern

277

c) Rechtsantragsstelle Die Rechtsantragsstelle wurde von 23% der Kläger und 3% der Verklagten genutzt. 70 60 50 40

Anteil am Jahrgang

Kläger mit RA

30 Kläger nutzt RAS

20

Verklagter mit RA

10

Verklagter nutzt RAS

0 1948/51

1960/63 1954/57

1972/76 1966/69

1988 1980/84

Jahrgang, aggregiert

Grafik 5.43: Anteil der Prozesse um Wohnungssachen unter Bürgern unter Zuhilfenahme eines Rechtsanwalts (RA) oder der Rechtsantragsstelle (RAS)

Während von den Verklagten nur in den Jahrgängen 1951 und 1963 mehr als 5% die Rechtsantragsstelle nutzten, stieg der Anteil der Kläger, die dieses staatliche Angebot annahmen, mit kleineren Schwankungen von ebenfalls knapp über 5% auf fast 65% Anteil im Jahr 1988 an. Es scheint, als hätten sich klagende Bürger mit den Jahren immer besser informieren wollen, wie sie ihre Interessen am besten gerichtlich geltend machen können. Die Nutzung der Rechtsantragsstelle kann als Indiz für besonders sparsame oder selbständige Bürger oder eine effiziente Beratung gesehen werden: nur 3% der Nutzer nahmen sich anschließend noch einen Rechtsanwalt, um ihre Interessen durchzusetzen.236 Wieder ist eine Zweiteilung in der Gruppe der Kläger auszumachen. Die Rechtsantragsstelle wurde signifikant selten vom Kläger in Forderungen nach rückständiger Miete,237 rückständiger und künftiger Miete238 und Räumung wegen Mietrückstands genutzt.239 Die Vermieter brauchten die Unterstützung der Rechtsantrags236 Der Zusammenhang zwischen den beiden Variablen ist hoch signifikant und von mittlerer Stärke (Cramers V = 0,46). Die Erfolgsquote fiel zwar von 84% auf 78%, wenn der Kläger die Rechtsantragsstelle nutzte, doch ist dieser Unterschied nicht signifikant, kann also auch zufällig sein. 237 Nur in 4% dieser Prozesse nutzte der Kläger die Rechtsantragsstelle, der Zusammenhang ist mit einem Residuum von –4,8 hoch signifikant, aber in negativer Richtung. 238 Nur in 7% dieser Prozesse nutzte der Kläger die Rechtsantragsstelle, der Zusammenhang ist mit einem Residuum von –2,7 hoch signifikant, aber in negativer Richtung.

278

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

stelle also nicht. Signifikant oft wurde diese jedoch wieder von den Privaten für Klagen auf Räumung wegen Eigenbedarfs,240 in sonstigen Wohnungssachen241 und Räumung wegen Sonstigem242 genutzt. Zudem wandten sich die Mieter bei „sonstigen Instandhaltungssachen“ signifikant häufig an die Rechtsantragsstelle.243 d) Mahnverfahren In 48 Fällen (11% aller Prozesse unter Bürgern) ging dem Prozess ein Mahnverfahren voraus. Diese Prozesse verteilen sich mit absteigender Häufigkeit auf die Jahrgänge 1951 / 1954, 1966 und 1972.244 Die meisten Mahnbescheide, auf die ein Prozess folgte, wurden zwischen 1951 und 1954 zugestellt. Danach spielten Mahnverfahren zumindest in Ost-Berlin anscheinend keine Rolle mehr. 4. Prozessablauf und -dauer a) Anwesenheit nur Berlin-Zentrum 50 40 30

Absolute Werte

nur Kläger anwesend

20 beide Parteien anwesend

10

keine Partei anwesend

0 48

54 51

60 57

66 63

72 69

80 76

88 84

Jahrgang (Fälle gewichtet)

Grafik 5.44: Anwesenheit der Parteien in Prozessen um Wohnungssachen unter Bürgern 239 In 13% dieser Prozesse nutzte der Kläger die Rechtsantragsstelle, der Zusammenhang ist mit einem Residuum von –4,1 hoch signifikant, aber in negativer Richtung. 240 In 66% dieser Prozesse nutzte der Kläger die Rechtsantragsstelle, der Zusammenhang ist mit einem Residuum von 5,6 hoch signifikant. 241 In 69% dieser Prozesse nutzte der Kläger die Rechtsantragsstelle, der Zusammenhang ist mit einem Residuum von 5,1 hoch signifikant. 242 In 55% dieser Prozesse nutzte der Kläger die Rechtsantragsstelle, der Zusammenhang ist mit einem Residuum von 2,7 hoch signifikant. Es gab allerdings nur insgesamt 33 Fälle mit diesem Gegenstand. 243 In 65% dieser Prozesse nutzte der Kläger die Rechtsantragsstelle, der Zusammenhang ist mit einem Residuum von 3,0 hoch signifikant. Es gab allerdings nur insgesamt 20 Fälle mit diesem Gegenstand. 244 Sie entsprechen dabei genau der Verteilung der absoluten Werte des Prozessgegenstandes „Wohnungssachen“ an sich, vgl. Grafik 5.37, S. 266.

D. Prozesse unter Bürgern

279

Im Vergleich mit Prozessen von staatlichen Wohnungsunternehmen gegen Bürger klagten die Vermieter in Prozessen unter Bürgern in den meisten Fällen ebenfalls auf Räumung wegen Mietrückstands.245 Inhaltlich dürfte es sich hier aber um andere Streitigkeiten gehandelt haben, da die Verklagten in diesen Prozessen oft zur Verhandlung erschienen, was sie in Prozessen gegen die KWV nicht taten. Das kann wieder auf eine persönliche Beziehung zwischen den Parteien hindeuten.

b) Beweisaufnahme Beweise wurden in weniger als einem Drittel (27% bzw. 119 Fälle) dieser Prozesse erhoben. In 82 % der Prozesse mit durchgeführter Beweiserhebung wurden Mietverträge, Kontoauszüge oder andere Beweise vorgelegt, nur in 12% wurden Gutachten verlangt. In 32% der Prozesse wurden Zeugen gehört. Die These, dass Mieter Zahlungen zurückhielten, um eine Instandhaltung zu erreichen und deshalb Prozesse wegen Mietschulden eigentlich verdeckte Instandhaltungsprozesse waren, wird durch die Art und die geringe Häufigkeit der Beweiserhebung nicht gestützt. Während bei (Mieter-)Klagen auf Instandhaltung Gutachten häufig waren, wurden diese in den Vermieterprozessen kaum angefordert. Dort kamen fast nur Beweise wie Urkunden zum Einsatz, etwa zum Nachweis, dass oder dass nicht gezahlt wurde. Dass so wenige Gutachten erstellt wurden, spricht gegen das Vorliegen einer größeren Zahl verdeckter Instandhaltungsklagen.246

c) Schriftsatzaktivität Tabelle 13 Zahl Schriftsätze Kläger

Anzahl

Prozent

0

19

4,3

1

255

57,8

2

113

25,6

3

29

6,6

Mehr als 3

25

5,7

441

100,0

Gesamt

Dies trifft besonders für die 50er Jahre zu. Tatsächlich wurden in Prozessen um Wohnungssachen von Institutionen gegen Bürger nur in 2% der Fälle Gutachten als Beweismittel erstellt. 245 246

280

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung Zahl Schriftsätze Verklagter

Anzahl

Prozent

0

295

67,3

1

88

20,1

2

31

7,1

3

10

2,3

Mehr als 3

14

3,2

438

100,0

Gesamt

Die durchschnittliche Zahl der Schriftsätze beider Parteien lag mit einem Mittelwert von 2,13 niedriger als in allen anderen Zivilprozessen unter Bürgern.247 Die Konflikte um Wohnungssachen unter Bürgern waren also offenbar regelmäßig in der Sache und von der Rechtslage her eindeutig. Deutlich wird auch, dass die Kläger meist nur einen Schriftsatz verfassten und die Verklagten sich in zwei Dritteln der Fälle gar nicht schriftlich äußerten, das Verfahren also passiv verfolgten.

d) Termine und Dauer Fast zwei Drittel der Verfahren in Wohnungssachen waren nach einem Termin abgeschlossen (63%), nur 18% benötigen zwei Termine, noch mehr waren sehr selten.248 nur Berlin-Zentrum 160 140 120 100

Mittelwert

80 60 40 48

51

54

57

60

63

66

69

72

76

80

84

88

Jahrgang (Fälle gewichtet)

Grafik 5.45: Durchschnittliche Dauer der Prozesse um Wohnungssachen unter Bürgern

247 Sie begann auf einem Tiefstand von einer halben Seite pro Verfahren (für beide Parteien), pegelte sich dann aber schnell zwischen zwei und 2,5 Schriftstücken ein. 248 Die Verteilung über die Jahre war sehr gleichmäßig, es sind keine Trends erkennbar.

D. Prozesse unter Bürgern

281

Der durchschnittliche Prozess um Wohnungssachen unter Bürgern dauerte 49 Tage bis zum ersten Termin und 66 Tage bis zum Erlass des Urteils, die Verhandlungen waren damit ebenfalls sehr kurz. Damit wurde der Durchschnitt aller Verfahren unter Bürgern (99,5 Tage bis zum Urteilserlass) weit unterschritten.249 Mietprozesse wurden auch unter Bürgern in der Regel schnell und grundsätzlich ohne größere Komplikationen abgewickelt. Die Prozesse im Jahr 1972 waren signifikant länger als in den anderen Jahrgängen und brauchten auch länger bis zum ersten Termin.250 Ab 1976 wurden die Verfahren dann noch schneller erledigt. Da in diesem Jahr das neue ZGB und die neue ZPO in Kraft traten, könnten diese Regelungen das Verfahren vereinfacht und einen beschleunigenden Effekt gehabt haben.251

5. Prozessbeendigung a) Erledigungsart Bei der Art der Erledigung der Verfahren waren Vergleiche bzw. Einigungen mit 38% eindeutig überrepräsentiert, streitige Urteile wurden eher selten ausgesprochen (in 12% der Fälle). Auffällig war auch die hohe Zahl von Versäumnisurteilen bzw. Urteilen bei Nichterscheinen (21%), die zeigt, dass in vielen Prozessen kein großes Interesse der Verklagten an der Verhandlung bestand. Sachurteile waren eher spezifisch für die ersten Jahrgänge des Untersuchungszeitraums, in denen der Vergleich noch nicht „in Mode gekommen“ war. In späteren Jahren wurden sie nur noch selten ausgesprochen. Ab 1951 begann die Zeit der vergleichsorientierten Prozesse, die ab 1960 aber seltener wurden und erst in den letzten Jahrgängen wieder an Gewicht gewannen.

249 Der Median folgt einer gleichen Verteilung, liegt allerdings konstant 20 Punkte tiefer, was auf eine geringe Zahl sehr langer Verfahren in jedem Jahrgang schließen lässt. Der hohe Wert für 1948 ist eindeutig nicht repräsentativ, da für diesen Jahrgang nur 5 Fälle vorlagen und der Wert stark streut. Interessant ist der Anstieg der Prozessdauer ab 1957. Hier stiegen nicht nur der Mittelwert, sondern auch der Median und die Standardabweichung langsam an, was tatsächlich auf einige längere, aber insgesamt auf stark verschieden lange Verfahren schließen lässt. Da die Zahl der Termine in diesem Zeitraum nicht stieg, liegt dies eventuell in der Herauszögerung von Verfahren oder der Überlastung der Gerichte begründet. 1972 ist auch der einzige Jahrgang neben 1988, in dem der Verklagten Widerklage erhob. 250 Noch länger waren die Prozesse im Jahrgang 1948. Auf eine mögliche Ursache, die bewusste Verschleppung des Prozesses, weist Fred Bär hin. Die Parteien mussten vor dem Prozess eine Versicherung abgeben, dass ihr Vermögen nicht von den Beschlagnahmebefehlen betroffen sei. Vgl. Fred Bär, Die Berliner Justiz in der Besatzungszeit am Beispiel der Ziviljustiz am Amtsgericht Berlin-Mitte im Jahre 1948, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 1), S. 61. 251 Genauer im Kapitel 5 – Ergebnisse der Untersuchung, E. I., S. 306 ff.

282

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung 60 50

40 VU/ Nichterscheinen

Anteil am Jahrgang

30

Vergleich/Einigung 20 Klagerücknahme 10

Sachurteil

0 1948/51

1960/63 1954/57

1972/76 1966/69

1988 1980/84

Jahrgang, aggregiert

Grafik 5.46: Anteile der häufigsten Erledigungsarten in Prozessen um Wohnungssachen unter Bürgern

Am Wechsel der Erledigungsarten im Zeitverlauf lässt sich ein Wandel zum „sozialistischen“ Zivilprozess ablesen: Sachurteile, in denen der Richterspruch verordnet wurde, kamen ab den 50er Jahren seltener vor. Vergleiche bzw. Einigungen und Klagerücknahmen bedeuteten meist, dass der Schuldner der Forderung schon nachgekommen war oder in der Verhandlung ankündigte, ihr nachzukommen. Klagerücknahmen und Versäumnisurteile waren insgesamt etwa gleich häufig. Letztere erlebten gegen Ende der 60er Jahre einen signifikanten Aufschwung, während erstere relativ regelmäßig über die gesamte DDR-Zeit verteilt waren. Dies lässt auf eine „Klagewelle“ von Bürgern in den 60er Jahren schließen,252 bei der die Verklagten (ähnlich wie in Prozessen von Wohnungsunternehmen gegen Bürger) gar nicht erst zur Verhandlung erschienen, sodass kein Vergleich geschlossen werden konnte. Vergleiche und Klagerücknahmen kamen dem sozialistischen Verständnis von Recht sehr viel näher, denn es konnte ein „Einsehen“ der Schuldner in den Akten vermerkt werden. So sollte die Erziehung der Menschen vorangetrieben werden. Die konstant hohe Zahl der Mietschuldner belegt allerdings, dass mit dem Wechsel vom Urteil zur „Einigung“ letztlich weitgehend kein deutlicher Erfolg zu verzeichnen war. b) Länge des Endurteils Die Urteile in Prozessen um Wohnungssachen waren generell sehr kurz: Mehr als die Hälfte (56%) beschränkte sich auf eine Seite, nur 8% umfassten über 2 Seiten. Der Mittelwert von 1,6 Seiten lag unter dem Durchschnittswert bei allen Prozessgegenständen (1,7 Seiten). 252 Obwohl es sich in den Jahrgängen 1966 und 1969 insgesamt nur um 55 Fälle handelte, in denen um Wohnungssachen gestritten wurde.

D. Prozesse unter Bürgern

283

nur Berlin-Zentrum 1,9 1,8 1,7

Mittelwert Seiten

1,6 1,5 1,4 1,3 1,2 1948/51

1954/57

1960/63

1966/69

1972/76

1980/84

1988

Jahrgang, aggregiert (Fälle gewichtet)

Grafik 5.47: Umfang des Endurteils in Prozessen um Wohnungssachen unter Bürgern

Aus dem steilen Anstieg der durchschnittlichen Urteilslänge bis 1969 sowie dem erneuten Abfall von durchschnittlich 2 Seiten im Jahr 1969 auf nur noch 1,5 Seiten im Jahrgang 1988 kann auf eine ähnliche Bewegung in der Grundgesamtheit aller Ost-Berliner Prozesse um Wohnungssachen geschlossen werden. Der tiefe Einschnitt 1954 / 57 ist hingegen ein zufälliges Resultat großer Schwankungen in den ersten Jahrgängen. Die zunehmende Knappheit der Urteile kann in der Professionalisierung der Rechtsprechung begründet sein. Nahe liegend ist ebenso, dass die Urteile weitgehend gleichförmig und knapp formuliert wurden, ohne größere Bemühungen um eine erzieherische Wirkung. c) Erfolg Die Erfolgsquote lag im Durchschnitt bei 83% und schwankte im Zeitverlauf um diesen Wert. Der Median der Erfolgsquote, der gegen Ausreißer mit abweichenden Werten relativ immun ist, lag während des gesamten Zeitraums (mit Ausnahme von 1954) bei 100%, d. h. die Hälfte aller Prozesse um Wohnungssachen unter Bürgern erreichte Erfolgsquoten von 100% oder sogar darüber.253 Im Vergleich zu den anderen Prozessgegenständen unter Bürgern waren Streitigkeiten um Wohnungssachen mit Abstand am erfolgreichsten für den Kläger. Folgende Tabelle zeigt die nach den einzelnen Verfahrensgegenständen aufgeschlüsselten Erfolgsquoten.254 253 Dies war möglich, wenn dem Kläger weitere Forderungen zuerkannt wurden, als er ursprünglich beantragt hatte, wie z. B. seit der Klageerhebung weiter angehäufte Mietschulden. 254 Es werden nur die Prozessgegenstände gezeigt, für die ausreichend große Fallzahlen vorlagen. In der Gesamtzahl sind daher noch weitere, nicht aufgeführte Prozessgegenstände enthalten.

284

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung Tabelle 14

Prozessgegenstand Zahlung rückständiger Miete Zahlung rückständiger / künftiger Miete

Anzahl 66

Mittelwert Erfolgsquote

Median Erfolgsquote

78,18

100,00

37

89,19

100,00

189

87,89

100,00

Räumung wegen Eigenbedarfs

38

88,83

100,00

Räumung wg. gröblicher Rechtsverletzung

28

76,36

100,00

Räumung wg. sonst.

23

85,61

100,00

Instandhaltung

18

65,17

85,80

Sonstige Wohnungssachen

24

74,65

100,00

439

82,92

100,00

Räumung wegen Mietrückstands

Gesamt

Klagen auf Instandhaltung scheinen für die Mieter im Durchschnitt weniger erfolgreich gewesen zu sein.255 Bei den Klagen der Vermieter auf Räumung wegen verschiedener Gründe gab es durchaus einzelne Prozesse mit stark nach unten abweichender Erfolgsquote. Das ergab sich aus den Eigenheiten der Räumungsklage: Ihr wurde entweder entsprochen, was einer Erfolgsquote von 100% entspräche, oder sie wurde abgelehnt (= Erfolgsquote von 0%). Teilweise Klagestattgaben, also die Räumung nur einzelner Räume, waren Ausnahmen. Die Regel bei Räumungsklagen war jedoch eine hohe Erfolgsquote.256 Gegen die Mietrückstände, die mit den Zahlungs- und Räumungsklagen regelmäßig geltend gemacht wurden, konnten die Mieter nur selten etwas einwenden. Zu notieren ist außerdem noch, dass die (wenigen) Eigenbedarfskündigungen sehr erfolgreich waren. Das Bild wird noch deutlicher, wenn bei der Auswertung nach „Vollem Erfolg“, „Teilerfolg“ und „Kein Erfolg“ unterschieden wird. Der Kläger war in über zwei Dritteln aller Verfahren in Wohnungssachen „voll“ erfolgreich.257

255 Allerdings ist die zugrunde liegende Fallzahl zu gering, um darüber gesicherte Aussagen treffen zu können. 256 Ein multipler Mittelwertvergleich ergibt keine signifikanten Unterschiede zwischen den Erfolgsquoten der einzelnen Prozessgegenstände, was angesichts der starken Streuung und der geringen Fallzahlen nicht verwundern darf. 257 Obwohl 1960 und 1969 erfolgreiche Jahrgänge für Kläger gewesen zu sein scheinen, sind diese Schwankungen nicht signifikant, während 1972 ein signifikanter Anstieg der Teilerfolge zu verzeichnen ist.

D. Prozesse unter Bürgern

285

d) Berufung Nur 1% (4 Fälle) der Kläger sowie 2% (10 Fälle) der Verklagten in Wohnungssachen gingen in Berufung. Sie hatten damit aber in fast 70% der Fälle keinen Erfolg. Die Verfahren wurden demnach so gut wie immer beim Kreisgericht abgeschlossen. Die hier wiedergegebenen Daten zur Dauer der Prozesse entsprechen damit weitgehend dem gesamten Gerichtsverfahren.

6. Besonderheiten Bemerkenswert sind noch Angaben zum einstweiligen Verfügungsverfahren. Nur 11 Fälle (3%) waren Anträge auf einstweilige Verfügungen. Es wird sich meist um Fälle von Trennungen gehandelt haben. Das nahezu komplette Fehlen irgendwelcher Fälle von Maßnahmen zur Erhöhung der gesellschaftlichen Wirksamkeit deutet darauf hin, dass Prozesse unter Bürgern in Wohnungssachen von den staatlichen Stellen nicht als vorbildwürdig erachtet wurden bzw. das Erziehungsmittel in fast keinem Bereich angewandt wurde. Wenn überhaupt, so wurden für erzieherische Zwecke Verfahren ausgewählt, bei denen auf der Klägerseite institutionalisierte Verwaltungen standen. So konnte man quasi „von Behörde zu Behörde“ interagieren und planen.

7. Zwischenergebnis Zivilprozesse um Wohnungssachen hatten fast nie Klagen von Mietern gegen ihren Vermieter zum Anlass. Eine Gruppe von Klägern waren Privatpersonen, die einen geschiedenen Lebenspartner oder einen Untermieter aus ihrer Wohnung entfernt wissen wollten. Diese Kläger wandten sich nicht an Rechtsanwälte, wohl aber an die Rechtsantragsstellen. Zum allergrößten Teil waren die Kläger jedoch private Vermieter, eine in der DDR gerne negierte „Spezies“. Solcherart Verfahren waren die schnellsten, unkompliziertesten, kürzesten, billigsten und erfolgreichsten Prozesse unter Bürgern. Es handelte sich um Standardfälle, die von den Richtern nur abgearbeitet werden mussten. Die Vermieter gingen relativ professionell vor und formulierten ihre Klageschrift selbst oder beauftragten einen Rechtsanwalt. Es scheint, dass es sich bei ihnen oft um so genannte „Vielfachprozessierer“258 handelte. Die Unstreitigkeit der meisten Ansprüche der Kläger spiegelt sich in der Passivität der Verklagten wieder. Die Kläger in Prozessen um Wohnungssachen reichten 258 Rolf Bender / Rolf Schumacher, Erfolgsbarrieren vor Gericht. Eine empirische Untersuchung zur Chancengleichheit im Zivilprozeß des Instituts für Rechtstatsachenforschung Stuttgart e.V., Tübingen 1980.

286

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

im Durchschnitt 1,6 Schriftsätze ein, die Verklagten in über zwei Drittel der Prozesse gar keinen.259 Damit waren die Verklagten zurückhaltender als im Durchschnitt aller Prozesse. Nur 3% der Verklagten nutzten die Rechtsantragsstelle, während dies in allen Verfahren 6% der Verklagten taten. Anwaltlich vertreten waren in Prozessen um Wohnungssachen nur 6% der Verklagten, gegenüber 13% in allen Prozessen. Die Mieter scheinen schnell resigniert zu haben. Sie formulierten kaum Schriftsätze, ließen sich nicht beraten und sparten sich in den meisten Fällen das Geld für einen Rechtsanwalt. Zum einen werden die Verklagten häufig die Miete nachgezahlt oder die Vollstreckung in ihr Arbeitseinkommen geduldet haben. Sorgen um die Wohnung mussten sie sich meistens auch bei Räumungsklagen nicht machen, denn eine angemessene Ersatzwohnung konnten die Vermieter selten anbieten. Zum anderen wird bei den Verklagten ein gewisser Anteil von Personen vorgelegen haben, für die Schulden weitgehend bedeutungslos waren und die daher auch mit dem Etikett „asozial“ versehen wurden.

III. Prozesse um deliktischen Schadensersatz Mit 260 Fällen (17%) waren Prozesse wegen deliktischen Schadensersatzes der zweithäufigste Prozessgegenstand in Streitigkeiten unter Bürgern. Sie verdienen daher eine genauere Betrachtung.

80

60

40

20

abs. Werte (Fälle) Anteil am Jahrgang %

0 48

54 51

60 57

66 63

72 69

80 76

88 84

Jahrgang

Grafik 5.48: Prozesse um deliktischen Schadensersatz unter Bürgern

259 Im Jahrgang 1948 waren Kläger und Verklagte signifikant inaktiv, danach traten kaum noch zeitliche Schwankungen auf.

D. Prozesse unter Bürgern

287

Der Anteil der Prozesse wegen deliktischen Schadensersatzes erlebte von 1951 an einen extremen Aufschwung von unter 5% auf fast 40% im Jahrgang 1980.260 Dieser Aufschwung war nur in den Jahren bis 1969 zum Teil dem Rückgang der Zahl anderer Prozesse geschuldet, da die absoluten Werte der Prozesse um Schadensersatz in dieser Zeit nicht anstiegen. Für die Zeit ab 1972 war eine konstant große Zahl dieser Prozesse zu konstatieren. Sie machten rund jede dritte zivilgerichtlich ausgetragene Streitigkeit unter Bürgern aus.

1. Konflikt- und Forderungsarten Zur weiteren Untersuchung war die Zusammenfassung der Konfliktarten in zwei Kategorien sinnvoll:261 Der „echte“ deliktische Schadensersatz, dem ein „Gesundheits- und / oder Sachschaden“ zugrunde lag, und Klagen auf „Störungsbeseitigung und / oder Unterlassung“. Tabelle 15 Anzahl Gesundheits- / Sachschaden

Prozent

146

56,2

Störungsbeseitigung / Unterlassung

98

37,7

sonstige Streitfälle

16

6,1

260

100,0

Gesamt

2. Gesundheits- / Sachschaden Klagen wegen Gesundheits- und / oder Sachschaden unter Bürgern machten 56% des Prozessgegenstandes „deliktischer Schadensersatz“ aus.262 Der Anteil dieser Prozesse stieg ab 1954 in zwei Stufen kontinuierlich an. Für die Zeit ab 1966 lässt sich vermuten, dass es den Menschen materiell besser ging und es deshalb mehr Anlässe für Prozesse wegen Gesundheits- und Sachschäden gab. Auch die Motorisierung wird Auswirkungen gehabt haben. Schließlich stieg die Ausstattung der Haushalte mit Pkw zwischen 1960 und 1970 um das Fünffache.263 Von 260 Die Anteile der Schadensersatzklagen verliefen auf ähnliche Weise, wenn auch auf deutlich höherem Niveau als nach den Daten des Ministeriums der Justiz für Ost-Berlin, vgl. Tabelle 216 in der Datensammlung (wie Anm. 12). 261 Neben der Residualkategorie „Sonstige Streitfälle“. 262 Es handelt sich dabei insgesamt um nur 260 Fälle, daher können Aussagen nur mit Vorsicht gemacht und interpretiert werden. 263 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DDR-Handbuch, 1. Auflage, Köln 1975, S. 667. Dieses bezieht sich auf das Statistische Jahrbuch der DDR und das Statistische Bundesamt.

288

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

den Prozessen von Bürgern gegen sozialistische Institutionen ist bekannt, dass sie ab den 70er Jahren fast ausschließlich Kfz-Unfälle zum Gegenstand hatten.264 Folgt man von Ellings Ausführungen zu den Möglichkeiten durch Straftaten Geschädigter, schon im Strafprozess Entschädigungsansprüche geltend zu machen, so wurde durch dieses Instrument die Zahl der zivilrechtlichen Schadensersatzprozesse weiter gesenkt.265 Der Anstieg verlief noch moderater.

60

50

40

30

20 Anteil am Jahrgang % 10 absol. Werte (Fälle) 0 1948/51

1960/63 1954/57

1972/76 1966/69

1988 1980/84

Jahrgang, aggregiert

Grafik 5.49: Prozesse wegen Gesundheits- / Sachschäden unter Bürgern

a) Streitwert In Klagen wegen Gesundheits- / Sachschäden lag der durchschnittliche Streitwert bei 1.389 M, der Median bei 410 M266. Einzelne Verfahren mit sehr hohem Streitwert zogen den Mittelwert nach oben, insgesamt waren die Streitwerte aber nicht höher als in anderen Verfahren. Die Einzelfälle mit größeren Gegenstandswerten sind wohl auf Fälle erheblicher Gesundheitsschädigung zurückzuführen, bei denen den Verletzten ggf. lebenslange Renten zugesprochen wurden.

264 Vgl. Dietmar Kurze, Sozialistische Betriebe und Institutionen als Verklagte im DDRZivilprozess (wie Anm. 21). 265 Bernhard von Elling, Die Stellung des Geschädigten im Strafverfahren der DDR, Berlin 2006. 266 Über die Verteilung im Jahresverlauf lässt sich wegen der geringen Fallzahlen nichts sagen.

D. Prozesse unter Bürgern

289

b) Prozessparteien aa) Soziale Einordnung Auch in diesem Prozessgegenstand ist ein deutliches Übergewicht der unteren Schichten sowohl bei den Klägern (68%) als auch bei den Verklagten (81%) zu erkennen. Entsprechend hatte die Arbeiterklasse einen Anteil von 57% bei den Klägern und 73% bei den Verklagten. Nur zwei Kläger und kein Verklagter kamen aus West-Berlin und ein Kläger aus der Bundesrepublik.267 Obwohl insbesondere Verkehrsunfälle die Möglichkeit für grenzüberschreitende Verfahren boten, sind solche Konflikte anscheinend meist auf anderen Wegen, etwa durch die Versicherungen, geregelt worden. bb) Rechtsanwaltliche Vertretung Die Zahl der anwaltlich vertretenen Parteien ruft den Eindruck streitiger Prozesse hervor: 20% der Kläger und 13% der Verklagten wurden durch einen Rechtsanwalt vertreten.268 c) Prozessablauf und -dauer aa) Anwesenheit In der Mehrzahl der Prozesse wegen Gesundheits- / Sachschaden waren beide Parteien anwesend, die alleinige Anwesenheit einer Partei war selten.269 Im Vergleich zu allen Prozessen unter Bürgern war hier überdurchschnittlich oft keiner zur Verhandlung anwesend. bb) Beweisaufnahme In 34% der Prozesse wegen Gesundheits- / Sachschäden wurden Beweise erhoben, was leicht über dem Durchschnitt aller Bürgerprozesse liegt. Davon entfielen 267 89% der Kläger (130 Fälle) hatten ihren Wohnsitz in Ost-Berlin und 9% (13 Fälle) in der sonstigen DDR. Von den Verklagten kamen 91% (133 Fälle) aus Ost-Berlin und 8% (12 Fälle) aus der sonstigen DDR. 268 Im Zeitverlauf sind leicht sinkende Tendenzen zu erkennen, ob diese trotz der geringen Fallzahlen für die Grundgesamtheit aussagekräftig sind, bleibt allerdings zweifelhaft. 269 Keine Partei war in 31% der Fälle anwesend. In 8% der Fälle war nur der Kläger anwesend, während in 4% der Fälle nur der Verklagte anwesend war. Dass beide Parteien anwesend waren, kam in 58% der Fälle vor. In allen Prozessen unter Bürgern war keine Partei in 21% der Fälle anwesend, nur der Kläger in 16% und beide Parteien in 61% der Fälle anwesend.

290

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

12% auf Gutachten (das ist sehr wenig für Prozesse wegen Sachschäden), 34% auf die Befragung von Zeugen und 80% auf die Heranziehung sonstiger Beweise wie Rechnungen und Dokumente.270 cc) Schriftsatzaktivität Der Mittelwert der Schriftsätze der Parteien lag insgesamt bei 2,2 Schriftstücken.271 Die Kläger schrieben im Durchschnitt 1,5 Schriftstücke, die Verklagten mit 0,7 deutlich weniger. Dies liegt unter dem Durchschnitt aller Prozesse unter Bürgern,272 obwohl bei Schadensersatz-Prozessen eine erhöhte Streitintensität über Schadensverursachung und -höhe erwartet werden kann.

dd) Termine und Dauer Schadensersatz-Prozesse dauerten etwas länger als andere Verfahren, auch wenn sie insgesamt zügig abgeschlossen wurden. 29% der Prozesse wegen Sachschäden kamen ohne Termin aus. Die Verfahren benötigten durchschnittlich 118 Tage bis zum Urteilserlass.273 d) Prozessbeendigung aa) Erledigungsart In den Prozessen um Gesundheits- / Sachschaden wurde anfangs wirklich gestritten, dann setzte sich der vergleichsorientierte Verhandlungsstil durch (allerdings nicht für lange, da die Vergleichszahl in den 70er Jahren wieder sank).274 Der in dieser Zeit steigende Anteil der Klagerücknahmen kann allerdings auch Vergleiche beinhaltet haben und dem allgemeinen Trend zur einvernehmlichen Konfliktlösung im Rechtssystem der DDR entsprechen, in dem der Richter die Parteien zu einer umfassenden Einigung führte, mit der prozessual regelmäßig eine Klagerücknahme einherging. 270 Die Summe der Prozente ergibt mehr als 100, da auch mehrere Arten der Beweiserhebung in einem Prozess vorkommen konnten. 271 Der Median bestätigt dies mit 2,0. 272 Durchschnittliche Zahl der Schriftsätze des Klägers: 1,68, des Verklagten: 0,88. 273 Die Streuung ist hier allerdings sehr hoch und der Median liegt bei 72 Tagen. 274 In Prozessen um Gesundheits- / Sachschaden wurden in den Jahrgängen 1966 und 1969 in bis zu 40% der Prozesse Vergleiche geschlossen. Der Anstieg der Klagerücknahmen auf einen Höchstwert von 30% im Jahr 1988 sowie der nicht formell abgeschlossenen Verfahren waren für den Rückgang der Vergleiche in dieser Zeit nicht verantwortlich (die Zahl dieser Erledigungsart sank auch absolut). Diese Aussagen sollten aber wegen der geringen Fallzahlen mit besonderer Vorsicht behandelt werden.

D. Prozesse unter Bürgern

291

50

40

Anteil am Jahrgang

30

20

Sachurteil Klagerücknahme

10

Vergleich / Einigung 0 1948/51

1960/63 1954/57

1972/76 1966/69

1988 1980/84

Jahrgang, aggregiert

Grafik 5.50: Anteile der Erledigungsarten in Prozessen wegen Gesundheits- / Sachschäden unter Bürgen

bb) Länge des Endurteils Etwa in der Hälfte der Verfahren beschränkte sich das Endurteil auf eine Seite, mehr als zwei Seiten waren jedoch selten. Der Mittelwert lag bei 1,7 Seiten.

cc) Erfolg Die Erfolgsquote in Prozessen wegen Gesundheits- / Sachschaden lag bei durchschnittlich 63%, der Median lag allerdings mit 90% deutlich darüber. Einige Prozesse mit sehr niedrigen Erfolgsquoten zogen den Mittelwert nach unten.275 In allen Prozessen unter Bürgern lag die durchschnittliche Erfolgsquote bei 70%, der Median bei 100%. Zumindest in einem Teil der Schadensersatzprozesse kam es zu differenzierten Ergebnissen, nach Verfahren, die nicht lediglich die Titulierung einer eigentlich unstreitigen Forderung zum Gegenstand hatten.

dd) Berufung In drei Fällen wurde ausschließlich durch den Kläger Berufung eingelegt. Ein Erfolg wurde dabei nicht erzielt. Die kleine Zahl erstaunt bei den Schadensersatzklagen, bei denen von einem höheren Konfliktpotential ausgegangen werden kann.276

275

Über die Verteilung im Zeitverlauf lässt sich wegen der genannten Hindernisse nichts

sagen. 276

Sie mag aber auch aus der geringen Fallzahl resultieren.

292

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

e) Zwischenergebnis Die relativ niedrigen Erfolgsquoten in Prozessen um Gesundheits- und / oder Sachschäden zeigen, dass in ihnen Konflikte differenziert ausgetragen wurden. Erstaunlich ist, dass auch dies zunehmend in einer DDR-typischen Art und Weise geschah: Die Verfahren waren schnell (kurze Dauer, wenig Berufungen), schnörkellos (wenige Gutachten und Schriftstücke, kurze Urteile) und wurden vergleichsorientiert geführt. Vielleicht hat auch der relativ geringe monetäre Wert der Streitgegenstände (durchschnittlicher Streitwert) die Streitfreudigkeit der Beteiligten gebremst.

3. Störungsbeseitigung / Unterlassung 60 50

40 30

20 Anteil am Jahrgang % 10

abs. Werte (Fälle)

0 1948/51

1960/63 1954/57

1972/76 1966/69

1988 1980/84

Jahrgang, aggregiert

Grafik 5.51: Prozesse um Störungsbeseitigung / Unterlassung unter Bürgern

Sowohl bei den absoluten Werten als auch bezüglich der Anteile an den Jahrgängen ist eine leicht steigende Tendenz von Prozessen um Unterlassung zu verzeichnen.277 Dies könnte ein Zeichen dafür sein, dass die Bürger in der DDR zunehmend Zeit und Muße hatten, sich wegen Störungen im menschlichen Miteinander, wahrscheinlich insbesondere in nachbarrechtlichen Konflikten, an das Zivilgericht zu wenden.

277 Der Abfall des Anteils an den Jahrgängen 1966 und 1969 sollte wegen der kleinen Fallzahl in dieser Periode nicht überbewertet werden. Für den erneuten leichten Abfall im Jahrgang 1988 gilt dies ebenso.

D. Prozesse unter Bürgern

293

a) Prozessparteien aa) Soziale Einordnung der Parteien In Prozessen um Unterlassung waren untere Schichten eindeutig überrepräsentiert – bei den Klägern war das Verhältnis von oberen zu unteren Schichten 2:5, bei Verklagten 1:4. Entsprechend betrug der Anteil der Arbeiterklasse bei den Klägern 63%, bei den Verklagten 74%. Daraus könnte geschlossen werden, dass unterschiedliche Konfliktverhaltensmuster in den Bevölkerungsschichten existierten. Offensichtlich waren Angehörige der unteren Gesellschaftsschichten eher geneigt, wegen zwischenmenschlicher Konflikte eine Klage zu erheben. Ein Beispiel aus den Akten soll dies erhellen.278 Eine Frau aus der unteren Mittelschicht hatte auf Unterlassung gegen einen Bekannten geklagt, der sie belästigte, da er sich von ihr hintergangen fühlte. Eine entsprechende einstweilige Verfügung wurde noch am Eingangstag des Antrags bewilligt. Der Beklagte drang jedoch weiter in die Wohn- und Geschäftsräume der Klägerin ein und beschimpfte und bedrohte sie. Also wurde ebenfalls sehr zügig, binnen zwei Tagen, ein Zwangsgeld festgesetzt. Dagegen legte der Beklagte bei der Rechtsantragsstelle Widerspruch ein. Vor Gericht wurde dann überhaupt nicht zur Sache verhandelt. Der Beklagte erklärte lediglich, dass er als polnischer Staatsbürger nicht der deutschen Gerichtsbarkeit unterliege (was offensichtlich Unsinn ist). Damit wurde die Sache nicht weiter betrieben.

bb) Rechtsanwaltliche Vertretung und Nutzung der Rechtsantragsstelle Der Charakter des streitigen Prozesses wird durch die Häufigkeit der Anwaltsvertretung der Parteien nicht bestätigt: 16% der Kläger und 13% der Verklagten waren in Prozessen wegen Unterlassung durch einen Anwalt vertreten. Das liegt zumindest auf der Klägerseite weit unter dem Durchschnitt aller Verfahren. Dort waren 30% der Kläger vertreten.279 Die Kläger gingen demnach meist den schnellen, direkten Weg zu Gericht, da sie sich von einem Rechtsanwalt keinen zusätzlichen Nutzen versprachen. Die hohe Beteiligung der Unterschichten schlägt sich auch in der Nutzung der Rechtsantragsstelle nieder. 77% der Kläger schrieben ihre Klage nicht selbst, sondern wandten sich an die Rechtsantragsstelle. Andererseits verfassten 75% der Verklagten ohne Anwalt gar keine Schriftstücke (im Vergleich zu 58% der nicht vertretenen Verklagten in allen Verfahren). Die Verklagten wehrten sich also entweder heftig (mit Hilfe eines Rechtsanwalts) oder gar nicht bzw. warteten einfach den Termin zur meist kurzfristig anberaumten mündlichen Verhandlung ab.280 AZ 7.G.173.48. Auch wenn man nur die „nicht-professionellen“ Kläger (also keine Vermieter etc.) betrachtet, wie es in den Unterlassungsverfahren zu erwarten war, lag er immer noch bei 25%. 278 279

294

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

b) Prozessablauf und -dauer aa) Anwesenheit Es waren etwa zu gleichen Teilen (48% bzw. 47%) überhaupt keine oder beide Parteien bei der Verhandlung anwesend. Die alleinige Anwesenheit einer Partei kam praktisch nie vor. Dass so oft gar keine Partei erschien, deutet darauf hin, dass die Konflikte schon auf anderem Weg gelöst oder zumindest entschärft worden waren. bb) Beweisaufnahme Beweise wurden in 13% der Klagen auf Unterlassung erhoben. Diese Zahl ist im Vergleich zu allen Verfahren (36%) sehr niedrig. Auch dies kann auf den häufigen Abbruch der Verfahren zurückgeführt werden. Mit Blick auf die 46% der Verfahren ohne Termin wird die seltene Beweisaufnahme erklärbar.

cc) Schriftsatzaktivität Die Schriftsatzaktivität der Parteien in Prozessen um Unterlassung lag mit einem Mittelwert von 2,3 Schriftsätzen pro Verfahren höher als im Durchschnitt aller Verfahren (1,3 Schriftsätze); ein Indiz für einen streitigen Ablauf281.

dd) Termine und Dauer Wegen der vielen Prozesse ohne Termin (46%) dauerten Prozesse wegen Unterlassung im Durchschnitt nur 33 Tage. Kam es doch zu einem Termin, dann blieb es meist bei diesem einen. Die Schnelligkeit deutet darauf hin, dass die Sachverhalte in diesen Verfahren recht einfach gelagert waren und durch die Richter leicht geklärt werden konnten. So bestanden fast zwei Drittel der Urteile aus nur einer Seite, ein weiteres Viertel hatte zwei Seiten. Ausführlichere Urteile traten kaum auf.

280 Die Dauer bis zum ersten Termin betrug in allen Prozessen unter Bürgern im Durchschnitt 59 Tage (Median 39 Tage). Der erste Termin in Prozessen wegen Unterlassung wurde hingegen schon nach durchschnittlich 37 Tagen (Median 24 Tage) anberaumt, womit diese die am schnellsten zur Verhandlung gebrachten Prozesse waren. 281 Der Median lag allerdings bei nur einem Schriftstück, was eine breite Streuung und Verzerrung nach oben nahe legt. Ein multipler Mittelwertvergleich gab einen signifikant höheren Mittelwert für 1948 / 1951 aus (4,5 Schriftsätze), die anderen Abweichungen sind durch die geringen Zahlen bedingt.

D. Prozesse unter Bürgern

295

c) Prozessbeendigung aa) Erledigungsart Tabelle 16 Anzahl Sachurteil

Prozent

15

16,0

VU / Nichterscheinen

1

1,1

Vergleich / Einigung

23

24,5

Klagerücknahme

16

17,0

4

4,2

32

34,0

Unbegründet / unzulässig Sonstiges nicht abgeschlossen Gesamt

3

3,2

94

100,0

Der auffällig große Anteil der Kategorie „Sonstiges“ indiziert eine versteckte Systematik. Eine stichprobenartige Sichtung der Akten ergab, dass in diesen Fällen oft das Verfahren durch Untätig-Bleiben der Parteien im Sande verlief. Das ist auch typisch für diesen Verfahrensgegenstand: Der Konflikt, etwa die Belästigung einer getrennt lebenden Ehefrau durch ihren Gatten war anderweitig geklärt worden, die Parteien hatten das Interesse an einer gerichtlichen Lösung verloren. Bei Streitigkeiten unter Nachbarn könnten auch andere Institutionen wie Schiedskommissionen oder Parteigremien eingeschaltet worden sein. Sachurteile erlebten in Klagen um Störungsbeseitigung / Unterlassung gegen Ende der 50er Jahre eine Hochphase mit über 50% Anteil am Jahrgang. Der Anteil der Vergleiche stieg von unter 5% auf fast 40% in den 80er Jahren an. Man kann also annehmen, dass in Prozessen um Unterlassung zu Anfang der DDR intensiv gestritten wurde, sich dann aber der vergleichsorientierte Verhandlungsstil durchsetzte.282 Zu erwähnen ist auch der hohe Anteil von Klagerücknahmen in den 80er Jahren (bis zu 37% Anteil in Unterlassungsklagen), der ebenfalls auf außergerichtliche Einigungen zurückführbar ist.

bb) Erfolg Die Erfolgsquote in Prozessen um Störungsbeseitigung / Unterlassung lag bei durchschnittlich 68%.283 Die Erfolgsquoten waren viel niedriger als in Prozessen 282 Generalisierende Aussagen sollten wegen der geringen Fallzahlen mit besonderer Vorsicht behandelt werden.

296

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

um Wohnungssachen (dort 82%). Entsprechend lag der Anteil der Klagen mit einem vollen Erfolg bei rund 60% und derjenigen ohne Erfolg bei rund 20% (etwa 75% bzw. 8% in Wohnungsprozessen). Dies kann als Indiz für wirkliche Konflikte im Gegensatz zu Prozessen zur Schuldeneintreibung gewertet werden, ist aber zum Teil auch die Folge der nicht weiter betriebenen Verfahren.

cc) Berufung Mit 7 Fällen (8%) legte in Prozessen wegen Unterlassung etwas häufiger als im Durchschnitt aller Prozesse unter Bürgern eine der Parteien – ausschließlich die Verklagten – Berufung ein. Dies ist kennzeichnend für intensiv ausgetragene persönliche Konflikte. Nur zwei von diesen Personen hatten im Berufungsverfahren Erfolg. d) Besonderheiten 73 Fälle (75%) hatten eine einstweilige Verfügung zum Ziel. Der hohe Wert ist jedoch für diesen Verfahrensgegenstand zu erwarten und normal. Politisch brisant waren die Fälle wohl grundsätzlich nicht. Die Staatsanwaltschaft wirkte in einem Fall am Prozess mit. e) Zwischenergebnis Prozesse unter Bürgern um Störungsbeseitigung / Unterlassung hatten ihre Ursachen meist in persönlichen Beziehungen bzw. Trennungen derselben oder seltener in nachbarrechtlichen Konflikten. Letztere wurden wohl häufiger bei den Schiedskommissionen verhandelt. Sie wurden, da meist ein akuter Konflikt zu befrieden war, häufig durch Anträge auf einstweilige Verfügungen eingeleitet. Allerdings klärten sich die Konflikte nicht selten ohne ein Urteil, so dass viele Verfahren formell unbeendet blieben. Auch in diesen Prozessen behalfen sich die vielfach aus einfachen Verhältnissen stammenden Beteiligten mit der Rechtsantragsstelle und beauftragten selten einen Rechtsanwalt.

283

sagen.

Über die Verteilung im Zeitverlauf lässt sich wegen der genannten Hindernisse nichts

D. Prozesse unter Bürgern

297

IV. Kaufvertragliche Prozesse In 117 Fällen (9% aller Prozesse unter Bürgern) stritten sich Bürger untereinander wegen Kaufverträgen.284 Offenbar wurden kaufvertragliche Streitigkeiten unter Bürgern nur selten vor Gericht ausgetragen.

40

30

20

10

Anteil am Jahrgang % absol. Werte (Fälle)

0 1948/51

1960/63 1954/57

1972/76 1966/69

1988 1980/84

Jahrgang, aggregiert

Grafik 5.52285: Prozesse um Kaufverträge unter Bürgern

Der Jahrgang 1948286 bildete mit fast 13% Anteil erneut einen Sonderfall in der ersten Hälfte des Untersuchungszeitraums. Bis 1969 waren Prozesse um Kaufverträge im Zivilprozess unter Bürgern selten. Ein Abgleich mit Daten des Ministeriums der Justiz für die Zeit ab 1976 zeigte, dass für diesen Prozessgegenstand eine fast vollständige Übereinstimmung mit unserer Stichprobe vorliegt.287 Der Anstieg ab 1972 könnte ein Zeichen für steigende wirtschaftliche Prosperität in der DDR sein.288

284 Diese Variable ist wieder eine Aggregation aus mehreren Verfahrensgegenständen, die aus Gründen der Übersichtlichkeit und um ausreichend große Fallgruppen zu erreichen zusammengefasst wurden. 285 Die bei einem Anteil von 5% eingezeichnete Hilfslinie in der Grafik verdeutlicht die Grenze, unterhalb derer sichere Aussagen wegen zu geringer Datenmengen nicht mehr getroffen werden können. 286 Er wurde aus Gründen der Übersichtlichkeit mit dem Jahrgang 1951 zusammen dargestellt. Hier lag der Anteil von Prozessen um Kaufverträge nur noch bei 2%. 287 Ministerium der Justiz, EDV-Zivilprozessstatistik 1976 – 1988, BA DP 1 VA 8910, 8911 (Ost-Berlin und DDR). 288 In den Jahrgängen danach wurde überdurchschnittlich oft um Kaufsachen gestritten (es handelt sich aber trotzdem nur um 29 Fälle).

298

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

1. Konflikt- und Forderungsarten Tabelle 17 Anzahl Garantieansprüche aus Kaufvertrag

Prozent

16

19,0

2

2,4

Kaufpreis

47

56,0

Sonstiges Kaufvertrag

19

22,6

Gesamt

84

100,0

Schadenersatz aus Kaufvertrag

Garantieansprüche aus Kaufverträgen traten in nennenswertem Umfang nur in den Jahren 1980 und 1984 auf, Streitigkeiten um Kaufpreise fast nur 1948 / 1951. Eine stichprobenartige Inhaltsanalyse der Gerichtsakten ergab, dass viele kaufvertragliche Prozesse um Kfz geführt wurden. Da Streitigkeiten aus Kaufverträgen um den Kaufpreis geballt im Jahr 1948 auftraten, in dem die Berliner Justiz noch nicht geteilt war, geschweige denn sozialistisch oder totalitär beeinflusst werden konnte, kann man sie nicht als typisch für den DDR-Zivilprozess ansehen. In den Jahren bis 1972 machten solche Kaufvertragsstreitigkeiten nicht einmal 5% Anteil am Jahrgang aus.

2. Streitwert Der durchschnittliche Streitwert lag bei 1.877 M, beschränkt auf die letzten Jahrgänge stieg er allerdings auf 3.340 M an.289 In jedem Fall lag der durchschnittliche Streitwert deutlich höher als bei den anderen Verfahrensgegenständen, was zum einen auf selbständig-geschäftsmäßige Tätigkeiten der Bürger 1948 / 51 und zum anderen auf Kfz-bezogene Verfahren hindeutet.

3. Prozessparteien Die sozialen Schichten waren auf Kläger- und Verklagtenseite relativ gleichmäßig verteilt. Bemerkenswert ist der Anteil von 50% der Freiberufler und Selbständigen in beiden Parteien, die allerdings dem erhöhten Anteil dieser Klasse in den ersten Jahren der DDR entsprachen.

289 Hier waren die Streitwerte der einzelnen Prozesse allerdings sehr unterschiedlich hoch, so dass diese Zahl nicht viel Aussagekraft hat.

D. Prozesse unter Bürgern

299

40% der Kläger ließen sich vor Gericht durch einen Rechtsanwalt vertreten, die Verklagten waren immerhin zu 26% anwaltlich vertreten. Nur 22% der Kläger nutzten die Rechtsantragsstelle. Dies wird durch die hohe Rechtsanwaltsbeteiligung und durch den frühen Zeitpunkt vieler Prozesse (1948) erklärt, in denen es noch keine Rechtsantragsstellen gab. Von den Verklagten betraten nur vier die Rechtsantragsstelle. 4. Prozessablauf und -dauer Passend zum hohen Streitwert äußerten sich die Parteien im Durchschnitt 3,5 mal schriftlich, davon gingen 1,9 Schriftsätze auf den Kläger und 1,6 auf den Verklagten. Das ist im Vergleich zu den anderen Verfahrensgegenständen ein sehr hoher Wert. Intensiver Streit wird auch angedeutet durch die Beweisaufnahme, diese fand in 41% der Fälle statt.290 Ein Termin war zwar auch hier am häufigsten (45%), aber vergleichsweise seltener als bei anderen Gegenständen (in Wohnungssachen über 60%).291 Insgesamt erstreckten sich diese Prozesse über deutlich längere Zeiträume als andere Verfahren. Der durchschnittliche Prozess um Kaufverträge dauerte 179 Tage (der Median lag bei 103 Tagen) und damit länger als in allen anderen Prozessgegenständen. Der Umfang des Endurteils lag trotzdem bei völlig durchschnittlichen 1,7 Seiten: 1948 wurde noch sehr an Papier gespart und die späteren Fälle waren wohl nicht allzu kompliziert.

5. Prozessbeendigung a) Erledigungsart Vergleiche bzw. Einigungen hatten ein eindeutiges Übergewicht. Dies betraf besonders Garantiesachen, bei denen es wohl beidseitiges Entgegenkommen gab. Im Verhältnis dazu fanden sich eine höhere Rate von Sachurteilen und weniger Klagerücknahmen als in anderen Verfahrensgegenständen. Bei den für sie wichtigen Konflikten ließen es die Bürger wohl oft auf ein Urteil ankommen. Auch das stark besetzte und DDR-untypische Jahr 1948 steigerte die Zahl der Sachurteile.292

290 Eine Aufschlüsselung nach einzelnen Beweisarten wäre wegen der geringen Fallzahlen unsinnig. 291 Kein Termin 13%, zwei Termine 23%, drei und mehr Termine 19%. In über zwei Dritteln der Fälle waren beide Parteien anwesend. 292 So war auch in 31% der Fälle (absolut 26 Fälle) dem Prozess ein Mahnverfahren vorausgegangen.

300

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

b) Erfolg Die Erfolgsquote lag bei durchschnittlich 63%, wobei sie in den letzten Jahrgängen auf bis zu 80% anstieg. Es entsteht das Bild von Prozessen, die nur dann geführt wurden, wenn es wirklich um hohe Werte ging (wie Autos oder teure, schwer beschaffbare Kleidungsstücke), da ein Erfolg nicht selbstverständlich war. Im Vergleich zu den anderen Prozessgegenständen lag die Erfolgsquote für Kaufvertragsstreitigkeiten auf dem letzten Platz.

6. Besonderheiten Von Staatsanwälten ist bekannt, dass sie sich am Verfahren beteiligten, wenn der Verdacht eines Schwarz- oder Überpreisgeschäftes bestand. Dies wären also regelmäßig kaufvertragliche Prozesse gewesen. Unsere Untersuchung kann dies jedoch nicht bestätigen. Staatsanwälte beteiligten sich nur zwei Mal an diesen Verfahren.

7. Zwischenergebnis Durch die Jahrgänge 1948 – 54 wurden in der Kategorie der kaufvertraglichen Prozesse noch viele Verfahren erfasst, bei denen Bürger selbständig-geschäftsmäßig handelten. Werden diese ausgeklammert, so verbleibt nur eine sehr kleine Zahl von Kaufvertragsstreitigkeiten unter Bürgern. Gerade in der Mangelwirtschaft der DDR wurde jedoch viel untereinander geund verkauft sowie getauscht. Daher ist gerade das Fehlen dieser Prozesse eine wichtige Erkenntnis. Auch wenn das ZGB der DDR von 1976 bemüht war, volksnah zu sein, scheint es einen erheblichen Teil des gesellschaftlichen Lebens nicht erfasst zu haben. Da viele der Bürger-Bürger-Geschäfte außerdem noch gegen Gesetze verstießen – man denke z. B. an den Gebrauchtwagenverkauf – konnte die Justiz nicht eingeschaltet werden. Das geschriebene und von der Ziviljustiz praktizierte Recht ging insoweit anscheinend an den Lebensverhältnissen der Bürger vorbei.293

293 Zur Methode der Nichtregelung, Karl A. Mollnau, Sozialistische Gesetzlichkeit in der DDR – Theoretische Grundlagen und Praxis, in: Gerd Bender / Ulrich Falk (Hrsg.), Recht im Sozialismus, Analysen zur Normdurchsetzung in osteuropäischen Nachkriegsgesellschaften (1944 / 45 – 1989), Bd. 3: Sozialistische Gesetzlichkeit (= Ius Commune, Studien zur Europäischen Rechtgeschichte, Bd. 115), Frankfurt a.M. 1999, S. 79; Klaus Heuer, Politische Vorgaben für das ZGB, in: Jörn Eckert / Hans Hattenhauer (Hrsg.), Das Zivilgesetzbuch der DDR vom 19. Juni 1975. Rechtswissenschaftliches Kolloquium an der Juristischen Fakultät der Universität Potsdam, Goldbach 1995, S. 21 f.

D. Prozesse unter Bürgern

301

V. Dienstleistungsvertragliche Prozesse Prozesse wegen Dienstleistungsverträgen wurden in 94 Fällen (5% aller Prozesse unter Bürgern) geführt. Die Fälle liegen fast alle in der ersten Hälfte des Untersuchungszeitraums und sanken danach auf ein statistisch nicht mehr interpretierbares Niveau. 50

40

30

20

Anteil am Jahrgang %

10

absol. Werte (Fälle) 0 1948/51

1960/63 1954/57

1972/76 1966/69

1988 1980/84

Jahrgang, aggregiert

Grafik 5.53294: Prozesse um Dienstleistungsverträge unter Bürgern

Die Aufschlüsselung in die einzelnen Verfahrensgegenstände zeigte, dass hier fast ausschließlich Forderungen nach Vergütung von Dienstleistungen (80 %) vorlagen. Die Kläger hatten eine Dienstleistung erbracht und klagten nun das Geld dafür ein.295 Das Übergewicht der Freiberufler / Selbständigen bei den Klägern (77%) spricht dafür, dass es sich hier um private Handwerker handelte, die später aus welchen Gründen auch immer – z. B. der Zusammenfassung in staatlichen PGH – nur noch selten im Zivilprozess erschienen.296 Dazu passt das Überwiegen der oberen Schichten bei den Parteien. Die Zahl der Schriftsätze der Parteien war mit durchschnittlich 3,6 die höchste aller Prozessgegenstände, die anwaltliche Vertretung lag allerdings mit 35% bei den Klägern und 14% bei den Verklagten im normalen Bereich. Einige der Selbständigen sparten sich anscheinend den Rechtsanwalt.

294 Die bei einem Anteil von 5% eingezeichnete Hilfslinie in der Grafik verdeutlicht die Grenze, unterhalb derer sichere Aussagen wegen zu geringer Datenmengen nicht mehr getroffen werden können. 295 Der durchschnittliche Streitwert war mit 709 M recht niedrig, was durch die Verlagerung dieser Prozesse in die frühen Jahre der DDR mit höherem Geldwert bedingt ist. 296 Ähnlich auch Dietmar Kurze, Sozialistische Betriebe und Institutionen als Verklagte im DDR-Zivilprozess (wie Anm. 21), der auf die Abgrenzungsproblematik eingeht.

302

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

Auch die weiteren Daten sprechen für die besondere Stellung dieser Verfahren im DDR-Zivilprozess: Mit 35% überwog bei den Erledigungsarten der Vergleich, an zweiter Stelle folgte mit 25% das Versäumnisurteil. Die Erfolgsquote lag im Mittel bei vergleichsweise niedrigen 65%. Wie bei den kaufvertraglichen Verfahren wurden in der DDR auch dienstleistungsvertragliche Konflikte zwischen Bürgern grundsätzlich nicht vor den Zivilgerichten ausgetragen, obwohl das gegenseitige „Aushelfen“ weit verbreitet war.

VI. Prozesse um Herausgabe von Sachen In 249 Fällen (12% aller Prozesse unter Bürgern) kam es zu Streitigkeiten über die Herausgabe von Sachen. Auch von diesen Fällen lagen signifikante 37% im Jahr 1948.297 Bei den Herausgabeklagen von Bürgern handelte es sich oft um während des Krieges ausgelagerte und untergestellte Hausratsgegenstände, besonders Wäsche.298 Nach einem steilen Abfall auf nur noch 3% Anteil am Jahrgang 1960 erlebten diese Prozesse dann aber wieder einen Aufschwung und erreichten 1984 einen Anteil von 19% an allen Verfahren.

100

80

60

40

Anteil am Jahrgang %

20

absol. Werte (Fälle) 0 1948/51

1960/63 1954/57

1972/76 1966/69

1988 1980/84

Jahrgang, aggregiert

Grafik 5.54299: Prozesse um Herausgabe von Sachen unter Bürgern

32% Anteil an diesem Jahrgang. BA DP 1 SE 114. 299 Durch die Aggregation der Jahrgänge stimmen die in der Grafik ablesbaren Anteilswerte nicht mit denen im Text überein. 297 298

D. Prozesse unter Bürgern

303

Dieser erneute Aufschwung zeigt, dass es sich bei Prozessen um die Herausgabe von Sachen nicht ausschließlich um eine Nachkriegserscheinung handelte. Mit der zunehmenden Knappheit von Gütern in der Mangelwirtschaft der DDR wurden ab den 70er Jahren auch wieder prozessuale Mittel zur Herausgabe von Sachen interessant.300 Der Streitwert der begehrten Güter lag mit durchschnittlich 927 M relativ hoch301 (der Median lag allerdings nur bei 500 M). Grundsätzlich stritten um eine Herausgabe eher die Leute, die weniger hatten, also die Unterschichten. Diese verzeichneten ein Übergewicht bei den Klägern, während die Schichtzugehörigkeit der Verklagten relativ gleichmäßig verteilt war. Dem entspricht ein recht hoher Anteil der Arbeiterklasse bei Klägern und Verklagten (57% bzw. 47%). Die Streitintensität oder auch Komplexität solcher Prozesse spiegelt sich in der hohen Zahl der eingereichten Schriftsätze der Parteien (3,13) und der Rekordlänge der Endurteile von 2,3 Seiten in der Zeit ab 1972.302 In der Zeit bis 1954 hatten Sachurteile noch mit 30% Anteil die häufigste Erledigungsart dargestellt, wogegen Klagerücknahmen und Vergleiche mit 15% bzw. 27% vergleichsweise selten waren. Der Anteil der Klagerücknahmen verdoppelte sich ab den Jahr 1972.303 Sie hatten einen ähnlich hohen Anteil wie Vergleiche.304 Es wurden gerade zu Beginn des Untersuchungszeitraums auch weniger aussichtsreiche Verfahren begonnen – sicher auch durch die Notsituation der Nachkriegsjahre bedingt: Die Erfolgsquote war bis 1954 mit 55%305 niedrig und erhöhte sich ab 1972 auf 68%.306 Während die Verfahren der Nachkriegsjahre auf die Not und Wirren dieser Zeit zurückzuführen sind, konnte bei den Prozessen ab 1972 nicht genau festgestellt werden, worum die Bürger stritten. Sicher führte der Mangel an bestimmten Gütern zu intensiven Auseinandersetzungen, allerdings blieb dabei die Zahl der Prozesse überschaubar.

300 Für diese Zeit liegen auch ähnliche Zahlen des Ministeriums der Justiz vor: Ministerium der Justiz, EDV-Zivilprozessstatistik 1976 – 1988, BA DP 1 VA 8910, 8911 (Ost-Berlin und DDR). 301 Eigentlich werden 2.047 M angegeben. Rechnet man den Ausreißer von 200.300 M im Jahr 1954 heraus, erhält man einen Durchschnitt von 927 M mit über die Jahre leicht steigender Tendenz. 302 Bis 1954 lag die Zahl der Schriftsätze der Parteien mit 3,14 ebenfalls sehr hoch, die Urteile waren mit durchschnittlich 1,7 Seiten etwas kürzer. 303 Der Anteil betrug dann 31%. 304 Der Anteil betrug dann 36%. 305 Der Median betrug 60%. 306 Der Median betrug 95%.

304

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

VII. Sonstige Verfahren Andere Verfahren spielten im DDR-Zivilprozess fast keine Rolle. Tabelle 18 Anzahl Darlehen

90

Kaufvertrag mit Teilzahlungskredit (HO) Andere Kredite

2 10

Gas- / Energie- / Wasser

6

Grundstückskauf / -überlassung

1

Eigentum / Besitz Grundstücke

1

Sonstige Grundstückssachen

2

Erbrecht

24

Unberechtigt erlangte Leistungen

17

Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel

1

Sonstige Zivilsachen

170

Familiensachen

169

Gesamt

493

Auf die Familiensachen der frühen Jahrgänge wurde oben eingegangen. Die danach größte Gruppe der Darlehensstreitigkeiten zeigte keine einheitlichen Merkmale. Die 90 Verfahren waren auf den gesamten Untersuchungszeitraum von 40 Jahren verteilt. Genauere Aussagen zu der Kreditvergabe unter Privaten sind auf dieser Datengrundlage nicht möglich. Schließlich gaben auch die „sonstigen Zivilsachen“ kein einheitliches Bild, so dass von einer Systematik nicht ausgegangen werden kann.

VIII. Zusammenfassung und Fazit Bürger klagten im Untersuchungsgebiet fast ausschließlich gegen andere Bürger. Die Zahl solcher Prozesse pro Jahr nahm aber ab 1957 parallel zu der der Prozesse von Institutionen gegen Bürger stark ab. Häufigste Erledigungsart war der Vergleich, was die ideologisch geforderte, auf Interessenausgleich und nachhaltige Konfliktlösung gerichtete Art der Prozessfüh-

D. Prozesse unter Bürgern

305

rung und -beendigung in der DDR widerspiegelt. Dass mit dieser äußeren Form zumindest teilweise ein falscher Eindruck vermittelt wurde, zeigt die hohe Erfolgsquote der Kläger von rund 70%. Die Einigung hatte häufig ein völliges Obsiegen des Klägers zum Inhalt. Die hohe Quote der Beweisaufnahme (33%) kann in einer gründlichen Sachverhaltsaufklärung durch den Richter oder in der Intensität der Streitigkeiten begründet sein. Rechtsanwälte und Rechtsbeistände wurden von den Klägern in 45% der Fälle beauftragt, was im Vergleich zu anderen Prozesskonstellationen relativ viel ist. Dass die Verklagten nur in 20% der Fälle, also viel seltener, einen Anwalt oder Rechtsbeistand beauftragten, ist eine auch in der Bundesrepublik anzutreffende Erscheinung.307 In den Prozessen zwischen Bürgern wurde also grundsätzlich mehr gestritten als in den von Institutionen gegen Bürger geführten Prozessen, die meist Inkassoverfahren waren. Die Kläger kamen gleichmäßig verteilt aus allen Schichten, während die Verklagten vornehmlich aus den unteren Schichten stammten. Die Klägerverteilung spricht für das Fehlen sozialer Barrieren für den Zugang zum Zivilgericht in der DDR. Das Übergewicht der unteren Schichten bei den Verklagten könnte als eine nur in modernen Gesellschaften anzutreffende Benachteiligung dieser Bevölkerungsgruppen interpretiert werden, die anscheinend auch in der DDR existierte. Die Auswertungsmöglichkeiten hierzu sind allerdings begrenzt, da unsere Untersuchung die ersten Daten dieser Art hervorgebracht hat und deshalb keine Vergleiche möglich sind. Allein Bender / Schumacher machen in ihrer Untersuchung zur Bundesrepublik308 Angaben zur Schicht, die allerdings auf einem anderen Schichtungsmodell beruhen und zudem nicht zwischen den Prozesskonstellationen differenzieren. Will man trotz dieser Einschränkungen mit der gebotenen Zurückhaltung ihre Ergebnisse unseren gegenüberstellen, so ergibt sich, dass in der Bundesrepublik der späten 70er Jahre zwei Drittel der Kläger zur Mittelschicht und ein Drittel zur Unterschicht gehören und die Verklagten jeweils zur Hälfte aus Mittelund Unterschicht stammen. Hier scheint schon der Zugang zum Gericht (also als Kläger) sozialen Beschränkungen zu unterliegen. Die gleichmäßige Verteilung der Schichten in der Verklagtengruppe widerspricht der These über die Benachteiligung der unteren Schichten in modernen Gesellschaften. Demnach scheinen die unteren Schichten in der DDR im Vergleich zur Bundesrepublik häufiger Adressaten von Klagen gewesen zu sein, was eine tendenzielle Schlechterstellung der unteren Schichten in der DDR bedeuten würde. Hier besteht noch erheblicher Forschungsbedarf.

307 84% der Kläger, aber nur 47% der Verklagten beauftragten dort im Durchschnitt einen Rechtsanwalt. Elmar Steinbach / Rolf Kniffka, Strukturen des amtsgerichtlichen Zivilprozesses (wie Anm. 27), S. 237 f. 308 Rolf Bender / Rolf Schumacher, Erfolgsbarrieren vor Gericht (wie Anm. 258).

306

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

Den größten Anteil an den Streitigkeiten hatten Wohnungssachen (30%), gefolgt von Schadensersatz (20%) und Herausgabe (12%). Die übrigen Prozessgegenstände (Kauf- und Dienstleistungsvertrag und Darlehen) hatten Anteile von unter 6% und spielten insofern nur eine Nebenrolle. Entweder gab es auf diesen Gebieten in der DDR wenig Konflikte oder sie wurden anders gelöst.309 Die Wohnungssachen stellten durchgängig von 1951 bis 1976 den größten Anteil der Verfahren, danach bekamen auch Streitigkeiten um Schadenersatz den gleichen Stellenwert. Bei den Wohnungssachen machten die Kläger fast nur Vermieterrechte geltend und dies mit einem hohen durchschnittlichen Erfolg (83% Erfolgsquote). Es gibt aber starke Anzeichen dafür, dass hinter diesen Verfahren nicht nur vermietende Eigentümer standen. Es deuten sich zwei weitere Konfliktkonstellationen an: Nach dem Krieg hatten viele Wohnungsinhaber Untermieter aufgenommen, deren Auszug später verlangt wurde. Auch nach Beginn der Aufbauprogramme war Wohnraum immer noch knapp und wurde zentral vergeben, so dass regelmäßig Konflikte entstanden, etwa wenn Ehepaare sich scheiden ließen und weiterhin zum Leben in einer gemeinsamen Wohnung gezwungen waren. Die Prozesse der Kategorie „deliktischer Schadensersatz“ teilten sich in zwei etwa gleich große Gruppen: Zum einen wurde „echter“ Schadensersatz wegen Gesundheits- oder Sachbeschädigung, zum anderen eine Unterlassung verlangt. Insbesondere die Unterlassungsklagen wurden ab 1976 zahlreicher, worin sich eventuell ein Wandel des sozialen Miteinanders in der DDR andeutet.

E. Einzelne Aspekte I. Der kurze DDR-Zivilprozess – ein Vorbild? Eine der häufig geäußerten Beschwerden über den bundesdeutschen Zivilprozess war und ist seine Länge. Wegen langer Prozesse wird mitunter der effektive Rechtsschutz in Frage gestellt. Allerdings sind die Gründe, die Gerichtsverfahren mitunter zu unendlichen Geschichten werden lassen, vielschichtig. An dieser Stelle kann das Problem von einer anderen Seite betrachtet werden, denn der DDR-Zivilprozess konnte sich einer bemerkenswerten Kürze rühmen. Der durchschnittliche Zivilprozess dauerte in den untersuchten Fällen weniger als 3 Monate.310 Die Hälfte aller Verfahren war in 43 Tagen abgeschlossen. Prozesse mit einer Dauer von mehr als drei Monaten gehörten in der DDR zur Ausnahme. Im Vergleich dazu war der Zivilprozess der BRD mit durchschnittlich 5,4 Monaten deutlich länger.311 309 Insbesondere in den Anfangsjahrgängen wurden von den Zivilkammern auch noch viele familienrechtliche Streitigkeiten behandelt. 310 83,5 Tage / 30 = 2,8 Monate.

E. Einzelne Aspekte

307

Es lässt sich belegen, dass die Dauer der Zivilprozesse im Untersuchungsgebiet seit 1948 schnell abnahm. nur Berlin-Zentrum 180 160

Median Dauer in Tagen

140 120 100 80 60 40 20 48

51

54

57

60

63

66

69

72

76

80

84

88

Jahrgang (Fälle gewichtet)

Grafik 5.55: Dauer der Zivilprozesse von Klageeingang bis Urteilserlass

Eine genauere Analyse konnte einige Ursachen für diese Entwicklung offenbaren. Besonders schnell wurden die Verfahren abgeschlossen, bei denen Zahlungen verlangt wurden, kein oder nur ein Termin stattfand und der Kläger voll obsiegte (die so genannten „Inkassoprozesse“). nur Berlin-Zentrum 200 180 160 140 120

Median Dauer

100 80

Nichtinkassoprozess

60 40

Inkassoprozess

20 0 48

54 51

60 57

66 63

72 69

80 76

88 84

Jahrgang (Fälle gewichtet)

Grafik 5.56: Dauer von Inkasso- und Nichtinkassoprozessen von Klageeingang bis Urteilserlass

311 Elmar Steinbach / Rolf Kniffka, Strukturen des amtsgerichtlichen Zivilprozesses (wie Anm. 27), S. 244. Die Vergleichbarkeit dieser Daten mit unseren Angaben ist gewährleistet, auch wenn wir uns auf den Jahrgang 1976 beschränken (vgl. Tabelle 362 in der Datensammlung, wie Anm. 12).

308

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

Dies ist grundsätzlich nicht überraschend, könnte aber bedeutsam werden, wenn beachtet wird, dass diese Verfahren immerhin 37% aller untersuchten Prozesse darstellten und so den Durchschnitt nach unten beeinflussten. Inkassoprozesse dauerten im Median 34 Tage.312 Allerdings lag der Median der anderen Verfahren nur bei 58 Tagen.313 Auch die „normalen“ Prozesse wurden also zügig zu Ende gebracht. Die Kürze des DDR-Zivilprozesses ist daher nur zu einem kleinen Teil mit den besonders kurzen Inkassoprozessen zu begründen. Andere Gründe lagen in der Gestaltung des Zivilprozesses. So wurde außerordentlich schnell terminiert. nur Berlin-Zentrum 140 120 100 80

Median Dauer

60 40 20 0 48

51

54

57

60

63

66

69

72

76

80

84

88

Jahrgang (Fälle gewichtet)

Grafik 5.57: Dauer der Zivilprozesse bis zum ersten Termin

Es dauerte oft nur einen Monat von der Einreichung der Klage bis zum ersten Termin. Daher wurde auch auf viele Schriftsätze verzichtet. Während die Kläger in fast zwei Dritteln der Prozesse (62%) nur einen Schriftsatz einreichten (andere nutzen die Rechtsantragsstelle), enthielten sich 60% der Verklagten jeder schriftlichen Äußerung, 25% antworteten wenigstens ein Mal auf die Klage. Kam es dann zu einem Termin, so blieb dieser meist der einzige. Nach den Daten des Projekts benötigten über zwei Drittel der Prozesse nur einen Termin. In den von Steinbach / Kniffka analysierten Zivilprozessen der BRD von 1975 wurden im Durchschnitt 2,4 Termine benötigt, ein Termin reichte in 48% der Verfahren für eine Beendigung aus, 37% der Prozesse benötigten jedoch auch drei und mehr Termine, was in den hier untersuchten Verfahren nur selten vorkam (7,7%). Kam es im Untersuchungsgebiet zu einem Urteil, so wurde dies meist unverzüglich nach der Verhandlung angefertigt. Die Richter fassten sich allerdings auch kurz: Im Durchschnitt hatten die Urteile eine Länge von ein bis zwei Seiten.314 Der Mittelwert lag bei 46 Tagen. Der Mittelwert lag bei 112 Tagen, allerdings mit einer hohen Standardabweichung, die auch von wenigen sehr langen Prozessen verursacht wurde. 312 313

E. Einzelne Aspekte

309

In diesen Bereichen hatte sich die Entformalisierung des DDR-Zivilprozesses ausgewirkt. Wie auch aus Zeitzeugeninterviews bekannt ist, nahmen sich die Richter viel Zeit für die einzelnen Verhandlungen. Das Bestreben, den Konflikt endgültig zu lösen, war nicht nur politisch gewollt, sondern durchaus vorhanden. Dies galt sowohl für Nachbarstreitigkeiten als auch für das Problem der Mietrückstände, bei denen versucht wurde, Ratenzahlungen oder Lohnabtretungen zu vereinbaren. Es scheint allerdings auch vorgekommen zu sein, dass die Beteiligten zu einer Einigung gedrängt wurden. Der Richter nutzte dabei seine Autorität aus. Die Dispositionsfreiheit hatte einen geringen Stellenwert. Ein Richter erzählte: „Ich persönlich bin ein Richter gewesen, der gerne Urteile geschrieben hat. Ich habe mich nicht davor gescheut, ein Urteil zu schreiben und ich habe die Leute lieber nicht gequält mit stundenlangen Güteverhandlungen, um irgendwelche gütlichen Einigungen abzuschließen, sondern lieber dann ein Urteil geschrieben . . . – Gut, die Urteile waren vielleicht auch ein bisschen kürzer als heutzutage . . . Ich weiß, dass es Kollegen gab, die lieber mit den Parteien eine halbe Stunde geredet haben, bis sie endlich eine Einigung abgeschlossen haben, weil sie sich davor gescheut haben, ein Urteil zu schreiben. Also, solche Fälle gab es auch.“315

Auch in der Erledigungsart schlug sich dies nieder, wie ein anderer Richter berichtete: „Mich hat man so ’78 / ’79 mal gerügt, im Rahmen der Justizwahlen, dass ich zu wenig Einigungen und zu viele Urteile gemacht habe. Das hing ein bisschen damit zusammen, dass ich mir sagte: Was bringt es mir, wenn ich in einer Verhandlung eine halbe Stunde auf eine Prozesspartei einrede und ihr dann sage, nun machen Sie doch die Einigung oder erkennen Sie das doch an usw., wenn ich ansonsten auf einer halben Seite die Rechtslage begründe. Denn ich habe mir gesagt: Ein Gericht ist ein Organ, welches Personen, die sich nicht zu einer Meinung verständigen können, als Drittorgan eine verbindliche Meinung aufdrückt. Dagegen hat auch keiner was gehabt, bis dann irgendwann der Senat merkte, wer viele Urteile machte, kriegte auch viele Berufungen. Und dann hatte ich eben verhältnismäßig viele Berufungen – wenig begründete zwar – aber da hat man gesagt: Du musst mehr Vergleiche zustande bringen. Das habe ich dann später auch versucht.“316

Beschleunigend wirkte auch, dass in der DDR auch Berufungen selten waren. Nur in 23 Fällen (1,1%) der Verfahren von sozialistischen Betrieben gegen Bürger ging eine der Prozessparteien in Berufung, während dies in 14% der Prozesse von Firmen gegen Bürger in der Bundesrepublik geschah.317 Im Wesentlichen gingen die Verklagten in Berufung (87% der Fälle). Die Berufungsverfahren waren prakNur 25% der Urteile waren länger als zwei Seiten. Ein Richter im Projekt-Interview 8 zu Frage 14, abrufbar im Internet unter http: // www rewi.hu-berlin.de / jura / ls / srd / Forschung / ddr.htm sowie in Rainer Schröder, Die DDRZiviljustiz im Gespräch – 26 Zeitzeugeninterviews, voraussichtlich Frankfurt a.M. 2008. 316 Ein Richter im Projekt-Interview 9 zu Frage 7, abrufbar im Internet unter http: // www. rewi.hu-berlin.de / jura / ls / srd / Forschung / ddr.htm sowie in Rainer Schröder, Die DDRZiviljustiz im Gespräch – 26 Zeitzeugeninterviews (wie Anm. 315). 317 Elmar Steinbach / Rolf Kniffka, Strukturen des amtsgerichtlichen Zivilprozesses (wie Anm. 27), S. 239. 314 315

310

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

tisch nie erfolgreich.318 In 71 Fällen (4,5%) der Prozesse unter Bürgern wurde Berufung gegen das Urteil eingelegt, davon in zwei Dritteln der Fälle durch den Verklagten. 20% dieser Verfahren waren erfolgreich, über zwei Drittel erreichten allerdings keinen Erfolg.319 In den Gerichtsakten des bundesdeutschen Zivilprozesses, die Steinbach / Kniffka analysierten, legte in 12% der Prozesse unter Bürgern eine Partei Berufung ein.320 Nach diesen Daten waren also die kurzfristige Terminierung, die Entformalisierung des Verfahrens sowie die ausführliche, einigungsorientierte mündliche Verhandlung Gründe für die schnelle Abwicklung der Prozesse. Im letzten Punkt wirkte sich auch die „paternalistisch-autoritäre“ Prozessführung der Richter aus, die allerdings mitunter zu Lasten der Dispositionsfreiheit der Parteien ging. Einige dieser Mittel fanden und finden auch im bundesrepublikanischen Zivilprozess Anwendung: Es werden „frühe erste Termine“ vergeben, Einigungen durch Kostenfolgen gefördert, den Richtern (zunehmend) Prozessleitungspflichten auferlegt, durch die der Konflikt umfassend und damit endgültig gelöst werden soll und Berufungen erschwert. Trotzdem dauert das Verfahren in der Bundesrepublik weiterhin länger. Es müssen also noch andere Gründe für die Kürze des DDRZivilprozesses vorliegen. Wie anfangs ausgeführt wurde, war besonders der Anteil der langen Prozesse mit mehr als drei Terminen in der DDR sehr klein. Dies kann darauf hin deuten, dass die Verfahren – sachlich oder rechtlich – weniger kompliziert waren. Hier lässt sich ein weiterer Zusammenhang anführen: Der Streitwert einer Sache beeinflusste die Dauer eines Verfahrens. Grafik 5.58 verdeutlicht: Je höher der Streitwert war, desto länger dauerte der Prozess. Wahrscheinlich stritten die Parteien intensiver, wenn der Konfliktgegenstand wertvoller war. Beachtet man weiter, dass in der DDR zum größten Teil um niedrige Werte gestritten wurde (86% unter 1.000 M), so lässt sich folgern, dass der selbst gesetzte Erfolgsdruck bei den Parteien niedriger war und lange Verfahren daher gemieden wurden. Da die Akten vornehmlich statistisch und nicht inhaltlich analysiert wurden, kann nur der Eindruck der Kodierer wiedergegeben werden, nach dem die Schrift318 Berufungsverfahren waren in den seltensten Fällen erfolgreich: Die durchschnittliche Erfolgsquote in Berufungsverfahren lag bei 10%. Dass der Kläger in der Berufung gar keinen Erfolg hatte, kam in 85% der Fälle vor. Trotz der sehr geringen Fallzahlen, die eine Verallgemeinerung auf eine größere Grundgesamtheit ausschließen, soll noch erwähnt werden, dass die Erfolgsquote von durchschnittlich 8% auf 25% stieg, wenn nicht die Verklagten, sondern die Kläger die Berufung eingereicht hatten. 319 Wegen der geringen Zahl dieser Prozesse können keine weiteren statistischen Aussagen getroffen werden. 320 Elmar Steinbach / Rolf Kniffka, Strukturen des amtsgerichtlichen Zivilprozesses (wie Anm. 27), S. 239. Leider wird hier nicht angegeben, welche Partei die Berufung angestrengt hatte.

E. Einzelne Aspekte

311

250

Mittelwert Dauer in Tagen

200

207

150

160 115

100 86 50

66

68

51 bis 200

201 bis 300

79

86

121

95

0 bis 50

301 bis 500

1.001 1.501 2.001 3.001 über 501 bis bis 5.000 bis bis bis 1.000 1.500 2.000 3.000 5.000

Streitwert in Mark (M)

Grafik 5.58: Durchschnittliche Dauer der Zivilprozesse bis Urteilserlass nach ihrem Streitwert

sätze und Urteile weniger kompliziert, weniger „juristisch“ waren. Dafür sprechen auch die kurzen Urteile, die wenigen Schriftsätze und das seltene Erscheinen eines Rechtsanwalts. Ob die Sach- oder die Rechtslage einfacher war, ist schwer zu beurteilen, wahrscheinlich trifft beides zu. Das ZGB von 1976 bestand aus grundsätzlich klaren, einfachen Regelungen. Im juristischen Schrifttum der DDR sind wenige dogmatische Auseinandersetzungen zu finden. Tendenziell komplizierte Verfahren unter Beteiligung von Privatbetrieben wurden vor den DDR-Zivilgerichten nicht verhandelt. Dieser Punkt gilt auch für die Sachlage: Dem Zivilrecht der DDR waren viele Gegenstände entzogen worden, so dass weitestgehend nur noch Inkassoverfahren und Prozesse unter Bürgern mit übersichtlichen Konfliktlagen übrig blieben. Dass im Untersuchungsgebiet nur halb so viele Gutachten- und Zeugenbeweise erhoben wurden321 wie im amtsgerichtlichen Zivilprozess der Bundesrepublik,322 unterstreicht diesen Gedanken. Die kurze Dauer des DDR-Zivilprozesses bleibt damit unbestritten. Ihn insoweit gegenüber dem bundesrepublikanischen Prozess als überlegen zu bezeichnen, wäre allerdings vorschnell. Die wohl schwerwiegendsten Gründe waren systembedingt: Die Ausgliederung der Wirtschaftsverfahren und die geringere materielle Bedeutung der Streitgegenstände. Andere Aspekte, wie die schnelle Terminierung und der einigungsorientierte Verhandlungsstil, verdienen dagegen durchaus Beachtung und haben sie auch schon gefunden. Kritisch zu diskutieren bleibt dabei immer der Konflikt zwischen richterlicher Prozessleitung und der Dispositionsfreiheit der Parteien.323 321 Zeugenvernehmung in 5,7% dieser Erhebung gegenüber 9,2% der Fälle in der Erhebung von Steinbach / Kniffka; Gutachten in 2,3% dieser Erhebung gegenüber 4,4% der Fälle in der Erhebung von Steinbach / Kniffka; Elmar Steinbach / Rolf Kniffka, Strukturen des amtsgerichtlichen Zivilprozesses (wie Anm. 27), S. 85 f. 322 Elmar Steinbach / Rolf Kniffka, Strukturen des amtsgerichtlichen Zivilprozesses (wie Anm. 27), S. 52 f.

312

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

II. Mitwirkung des Staatsanwalts In verschiedenen Rechtsordnungen wirkt die Staatsanwaltschaft als „Vertreterin des öffentlichen Interesses“ auch in Zivilverfahren mit. In der DDR sollte sie dabei die „Hüterin der sozialistischen Gesetzlichkeit“ sein.324 Am Anfang der 60er Jahre stand ein singuläres Ereignis, das man die „Staatsanwaltschaftskampagne“ nennen könnte. Niemals vorher und niemals nachher machte die Staatsanwaltschaft nennenswert von der Möglichkeit Gebrauch, sich an Verfahren des Zivilrechts zu beteiligen. Anfang der 60er Jahre aber tat sie das in vorher und nachher nie erreichtem Ausmaß, wie unsere Erhebung belegt. nur Berlin-Zentrum 60 50

40

absolute Werte

30

20

10 0 48

51

54

57

60

63

66

69

72

76

80

84

88

Jahrgang (Fälle gewichtet)

Grafik 5.59: Prozesse unter Mitwirkung der Staatsanwaltschaft

Obwohl das StAG schon 1952 in Kraft trat, war ein nennenswerter Anstieg staatsanwaltlicher Beteiligung am Zivilprozess auch in den Projektakten erst ab 1957 zu bemerken. Ernst Melsheimer, der erste Generalstaatsanwalt der DDR, führte als Gründe für dieses langsame Anlaufen die Überlastung der Staatsanwaltschaft durch Strafsachen325 sowie durch das ebenfalls 1952 in Kraft getretene Gesetz zum Schutz des Volkseigentums an.326 Aufgrund von dessen Einführung kam 323 Vgl. Gottfried Baumgärtel / Peter Mes (Hrsg.), Rechtstatsachen zur Dauer des Zivilprozesses (erste Instanz). Modell einer Gesetzesvorbereitung mittels elektronischer Datenverarbeitungsanlagen (= Prozeßrechtliche Abhandlungen, Bd. 31), Köln, Berlin u. a. 1971; Steinbach / Kniffka führen aus, dass der Verfahrensverkürzung auch Grenzen gesetzt sind, da Verzögerungen nicht nur vom Gericht, sondern auch von den Parteien abhängen, Elmar Steinbach / Rolf Kniffka, Strukturen des amtsgerichtlichen Zivilprozesses (wie Anm. 27), S. 102. 324 Hans-Peter Haferkamp, Die Mitwirkung des Staatsanwalts im Zivilverfahren der DDR, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 1), S. 369. 325 Ernst Melsheimer, Über die Arbeit der Staatsanwälte auf dem Gebiet des Zivil- und Arbeitsrechts, in: NJ 1955, S. 581 – 585. 326 Vgl. Falco Werkentin, Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht (= Forschungen zur DDR Geschichte, Bd. 1), Berlin 1995, S. 68 f.

E. Einzelne Aspekte

313

es zwischen Oktober 1952 und März 1953 zu einer Prozesswelle, die die in Schnellkursen ausgebildeten Staatsanwälte auch fachlich überlastete. Ein weiteres Problem dürfte die nachlässige Aktenführung der Zivilgerichte bis zum Ende der 50er Jahre gewesen sein; mitunter wurde selbst die Teilnahme des Staatsanwalts bzw. dessen Stellungnahmen nicht vermerkt, so dass eine nachträgliche Auswertung der Akten insoweit schwer fiel.327 Ab 1956 wurden von der Obersten Staatsanwaltschaft zentrale Rahmenarbeitspläne für die Bezirks- und Kreisstaatsanwälte erstellt, worin ein besonderer Wert auf die Mitwirkung an Verfahren gegen HO, Konsum oder Produktionsbetriebe gelegt wurde. Die Bemühungen resultierten schließlich in dem oben gezeigten Anstieg der Zahl der Mitwirkungen der Staatsanwaltschaft. Nach der offiziellen Statistik des Ministeriums der Justiz stieg der Beteiligungsanteil auf 37,5% bei den sozialistisches Eigentum betreffenden Verfahren, also bei solchen unter Beteiligung einer Institution.328 In den ausgewerteten Akten kam es in 115 Fällen329 zur Beteiligung der Staatsanwaltschaft. Nur in Einzelfällen ließ sich aus der Gerichtsakte mehr als die Beteiligung des Staatsanwalts am Verfahren feststellen. Unsere Kodierer sprachen deshalb von „Papierbeteiligungen“.330 Viele der interviewten Rechtsanwälte und Richter bemerkten, dass die Staatsanwälte für das Zivilrecht auch nicht genügend ausgebildet waren und daher kaum Einfluss auf das Zivilverfahren nehmen konnten: „Der arme Staatsanwalt, der tat einem schon vorher leid; er hatte null Ahnung auf der Strecke. Der hat mehr oder weniger geschnauft, wenn diese Mitwirkung irgendwo zum Tragen kommen sollte und die Rolle war nichts sagend, würde ich einfach einschätzen. Er hat ohnehin nur auf das Stichwort gewartet, um dann das zu sagen, was man vorher mit ihm vorbereitet hatte. Er konnte nichts und er wollte eigentlich auch nichts.“331

Die Daten des Ministeriums der Justiz für Ost-Berlin und die gesamte DDR geben den Abfall der Zahl und des Anteils der Prozesse, an denen sich Staatsanwälte beteiligten, ebenfalls gut wieder.

327 Hans-Peter Haferkamp, Die Mitwirkung des Staatsanwalts im Zivilverfahren der DDR, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 1), S. 383. 328 Offizielle DDR-Statistik 1959, BA DP 1 VA 8892. 329 Gewichtet: 106 Fälle. 330 Thomas Kilian, Ein „Volksnahes Verfahren“? – Der DDR-Zivilprozess in den Augen studentischer Codierer, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. III (wie Anm. 92), S. 91 ff., insb. S. 102. 331 Äußerung eines Richters zu Frage 24 im Projekt-Interview Nr. 7, abzurufen im Internet unter http: // www.rewi.hu-berlin.de / jura / ls / srd / Forschung / ddr.htm sowie in Rainer Schröder, Die DDR-Ziviljustiz im Gespräch – 26 Zeitzeugeninterviews (wie Anm. 315).

314

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung Tabelle 19332 Ost-Berlin

DDR

Mit Staatsanwalt Alle Verfahren

Mit Staatsanwalt Alle Verfahren

1959





7.702 13,3%

58.099

1964





833 2,4%

35.326

1973





585 1,8%

32.721

1976

176 3,6%

4.840

1.053 2,8%

37.029

1980

5 0,1%

6.643

117 0,3%

45.120

1984

27 0,4%

7.601

175 0,3%

52.047

1987 / 88

42 0,4%

9.424

267 0,4%

62.228

Dank der größeren Datenmengen, die diesen Auswertungen zugrunde lagen, kann sogar noch eine weitere Abstufung im zeitlichen Verlauf festgestellt werden: Zwischen 1976 und 1980 ist noch ein weiteres deutliches Absinken der Anteile von Prozessen mit Teilnahme des Staatsanwalts zu sehen, das sowohl für Ost-Berlin als auch die gesamte DDR gilt. Der Unterschied der absoluten Werte zwischen den Jahrgängen 1976 und 1980 war so groß, dass von einem „kontinuierlichen“ Rückgang333 nicht mehr gesprochen werden kann. Leider konnte aus den vorliegenden Daten und Dokumenten nicht erkannt werden, ob und welches weitere politische Ereignis für das endgültige Verschwinden der Staatsanwälte aus dem Bereich des Zivilrechts verantwortlich war. Im Folgenden wird untersucht, mit welchen Variablen die Staatsanwaltsbeteiligung zusammenhängt, um dadurch festzustellen, ob ihre Beteiligung von bestimmten Konstellationen oder Geschehnissen gefördert wurde oder in der anderen Richtung: ob die Staatsanwaltsbeteiligung sich auf den Prozess auswirkte.

Zahlen aus BA DP 1 VA 8892, 8910, 8911. Hans-Peter Haferkamp, Die Mitwirkung des Staatsanwalts im Zivilverfahren der DDR, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 1), S. 405. 332 333

E. Einzelne Aspekte

315

1. Status der Parteien a) An den Verfahren welcher Parteikonstellationen nahm der Staatsanwalt teil? nur Berlin-Zentrum 50

40

30 Institution gegen Bürger

absolute Werte

20

Bürger gegen Bürger

10 Institution gegen Privatbetrieb

0 48

54 51

60 57

66 63

76 69

88 84

Jahrgang (Fälle gewichtet)

Grafik 5.60: Mitwirkung der Staatsanwaltschaft am Verfahren

Im Sinne des § 20 StAG sollten Staatsanwälte vor allem an Verfahren mitwirken, die sozialistisches Eigentum betrafen. Tatsächlich nahm die Staatsanwaltschaft in den ausgewerteten Akten hauptsächlich an Verfahren teil, in denen Bürger oder Privatbetriebe von staatlichen Institutionen verklagt wurden (64% der Fälle mit Staatsanwalt wurden von Institutionen gegen Bürger geführt)334. Dies wird durch die Daten des Ministeriums der Justiz bestätigt.335 Einen ebenfalls nicht unerheblichen Anteil nahmen Prozesse unter Bürgern ein (19%). Hier erstreckte sich die Zahl der Verfahren, an denen die Staatsanwaltschaft teilnahm, jedoch über alle Jahrgänge des Untersuchungszeitraums und nicht, wie in den anderen Konstellationen, nur auf die beiden Jahrgänge 1957 und 1960 (vgl. Grafik 5.60). Die Hypothese lag nahe, dass es sich bei den staatsanwaltlich begleiteten Prozessen unter Bürgern inhaltlich um Fälle gehandelt haben muss, bei denen der Staatsanwalt tatsächlich einen Grund für seine Beteiligung hatte (eventuell bei Verfahren in der Folge von strafbaren Handlungen), während bei Prozessen von Institutionen gegen Bürger oder Privatbetriebe diese Beteiligung zeitspezifisch war.

Vgl. Tabelle 389 in der Datensammlung (wie Anm. 12). 1959 wirkte die Staatsanwaltschaft auf dem gesamten Gebiet der DDR an 37,5% der Prozesse mit, die sozialistisches Eigentum betrafen, BA DP 1 VA 8892. 334 335

316

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

b) Wie oft beteiligte sich der Staatsanwalt an Prozessen bestimmter Parteikonstellationen – wie hoch war die Chance, in einem Verfahren einem Staatsanwalt zu begegnen? Bürger gegen Bürger Bürger gegen Institution

4

Institution gegen Bürger

3

Institution gegen Institution

8

Bürger gegen Privatbetrieb

2

Privatbetrieb gegen Bürger Institution gegen Privatbetrieb

11

Privatbetrieb gegen Privatbetrieb

3 0

2

4

6

8

10

12

Anteil an Prozesskonstellation

Grafik 5.61: Anteil der Prozesse unter Mitwirkung der Staatsanwaltschaft an allen Prozessen einer Konstellation

Um eine andere Perspektive zu geben, zeigt diese Grafik den jeweiligen Anteil der Prozesse mit Staatsanwaltsmitwirkung an allen Prozessen einer Beteiligtenkonstellation. Es fiel auf, dass die Staatsanwaltschaft sich anteilsmäßig am häufigsten in Prozesse von Institutionen gegen Privatbetriebe und von Institutionen untereinander einschaltete, während die Prozesse unter Bürgern eher selten für den Staatsanwalt interessant waren. Die hohen absoluten Werte der Prozesse von Institutionen gegen Bürger resultierten aus ihrer generellen Prominenz im Zivilprozess der DDR. Die Prozesse von Institutionen gegen Privatbetriebe oder andere Institutionen bzw. von Bürgern gegen Institutionen traten insgesamt nur selten in unseren Akten auf (62, 24 bzw. 72 Fälle). Die hohen Anteilswerte für staatsanwaltlich begleitete Verfahren sollten deshalb nicht vorschnell interpretiert werden. Alle fraglichen Prozesse traten in der Zeit der Staatsanwalts-Kampagne (zwischen 1954 und 1966) auf, nur bei zwei dieser Verfahren war aus den Bemerkungen der Kodierer eine aktive Teilnahme des Staatsanwalts am Prozess zu entnehmen. In den restlichen 11 Fällen ist von der typischen „Papierbeteiligung“ der Staatsanwaltschaft auszugehen. 2. Prozessgegenstände Kurz nach Inkrafttreten des Staatsanwaltsgesetzes vom 23. Mai 1952 erläuterte eine Rundverfügung336 die Verfahrensgegenstände, bei denen eine Mitwirkung der 336 Rundverfügung Nr. 34 / 52 betr. Neuregelung in § 20 StAG, AZ.: Gen. 3700 – 83 / 52, BA DP 1 VA 454, Bl. 9 (ohne genaues Datum).

E. Einzelne Aspekte

317

Staatsanwaltschaft angedacht war. Dies sollten vor allem Fälle sein, die gesellschaftliches Eigentum betrafen, an denen also eine sozialistische Institution beteiligt sein musste.337 nur Berlin-Zentrum 1957-1960

80

60

Prozent

40

20

ohne Staatsanwalt mit Staatsanwalt

0 Wohnungs - delikt. sachen Schadenersatz

Kaufvertrag

Darlehen/ Kredite

Herausgabe Sachen

(Fälle gewichtet)

Grafik 5.62:338 Staatsanwaltsbeteiligung in Prozessen von Institutionen gegen Bürger nach Prozessgegenständen

In Prozessen, die im Beisein des Staatsanwalts von Institutionen gegen Bürger geführt wurden, nahmen Wohnungssachen neben der Herausgabe von Sachen den größten Anteil ein, obwohl der letztere Prozessgegenstand in dieser Konstellation insgesamt eher selten war. Der große Anteil der Wohnungssachen339 resultierte aus der überwältigenden Mehrheit dieses Prozessgegenstands in den betreffenden Jahrgängen (420 Fälle gegenüber 198 Fällen mit anderen Prozessgegenständen). Die Prozesse, die im Verhältnis zu ihrer sonstigen Häufigkeit am meisten in staatsanwaltlicher Anwesenheit stattfanden, betrafen deliktischen Schadensersatz. An zweiter Stelle stand die Herausgabe von Sachen, gefolgt von Streitigkeiten um Kaufverträge.340 Prozesse um Versorgungsleistungen wurden von der Staatsanwaltschaft kaum begleitet, obwohl sie insgesamt oft vorkamen. Streitigkeiten um Kaufverträge, Schadensersatz und besonders um Herausgabe von Sachen wurden im Vergleich zu ihrer sonstigen Häufigkeit statistisch signifikant von Staatsanwälten beobachtet. In Prozessen von Institutionen gegen Privatbetriebe interessierte sich die Staatsanwaltschaft vor allem für Streitigkeiten wegen Kaufverträgen, welche auch insgesamt in dieser Konstellation häufig auftraten.341 Heraus337 Fritz Krüger / Ludwig Langner, Über die Durchsetzung des sozialistischen Arbeitsstils in der Zivilrechtsprechung, in: NJ 1960, S. 571. 338 Um eine gemeinsame Vergleichsbasis zu haben, beschränken wir die Betrachtung auf die Jahrgänge, in denen die Staatsanwaltschaft aktiv war. 339 Vgl. Tabelle 390 in der Datensammlung (wie Anm. 12). 340 Die absoluten Häufigkeiten in diesen beiden Prozessgegenständen waren allerdings sehr niedrig. 341 Aus Gründen der Übersichtlichkeit ist für diese Prozesskonstellation keine Grafik abgebildet.

318

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

gabe, deliktischer Schadensersatz und Streitigkeit wegen Kaufverträgen sind Prozessgegenstände, bei denen ein straf- bzw. verwaltungsrechtlicher Hintergrund (Schwarzmarkt, Preisverstöße) möglich war. Den größten Anteil bei Prozessen unter Bürgern machten Prozesse wegen deliktischen Schadenersatzes aus. Hier könnte es sich um Fälle im Zusammenhang mit einem Strafprozess gehandelt haben, an denen die Staatsanwaltschaft in der Regel sowieso teilnahm.342 Weiterhin nahm der Staatsanwalt häufiger an Prozessen teil, in denen Bürger wegen Darlehen oder Krediten stritten. Die Beachtung solcher Streitigkeiten, bei denen es sich um Schulden aus Glücksspiel, Autoschieberei oder anderen illegalen Aktivitäten handeln konnte,343 durch staatliche Organe scheint verständlich. So ist die einzige Fallkonstellation, an die sich Anwälte aus der DDR heute noch in Interviews erinnern, eine Klage auf Rückzahlung des Überpreises für privat gekaufte PKW. Wenn klar war, dass der klagende Käufer von dem Überpreis gewusst hatte, dann sollte der Staatsanwalt diesen zugunsten des Staates einziehen, da es sich um eine Straftat handelte. In unseren Akten fanden sich drei derartige Fälle. 3. Einfluss auf den Erfolg? Ein wesentliches Ziel der Einbindung der Staatsanwälte in den Zivilprozess war, wie ausgeführt, der Schutz des sozialistischen Eigentums. Daher drängte sich der Verdacht auf, dass die Staatsanwaltschaft Einfluss auf die Erfolgsquote der klagenden sozialistischen Institutionen gehabt haben könnte. Staatsanwaltlich begleitete Prozesse von Institutionen gegen Bürger hatten eine signifikant höhere Erfolgsquote (88% gegenüber 53% in Prozessen unter Bürgern). Die Erfolgsquote der gegen Bürger klagenden Institutionen war aber generell sehr hoch und fiel nach Mitwirkung des Staatsanwalts sogar geringfügig von 93% auf 90% ab.344 Ein deutlicher Unterschied bestand zwischen den Prozessen unter Bürgern, je nachdem, ob ein Staatsanwalt anwesend war oder nicht. Der Abfall von durchschnittlich 70% auf 52%, sobald ein Staatsanwalt am Prozess teilnahm, kann wegen der geringen Fallzahlen (23 Fälle mit Staatsanwalt) jedoch nicht als eindeutig signifikant interpretiert werden.345

342 Die Fixierung der Staatsanwaltschaft auf das Strafrecht wurde bei der Bestandsaufnahme ihrer Tätigkeit auf der Leipziger Konferenz der Richter und Staatsanwälte vom 17. / 18. 12. 1955 deutlich, vgl. dazu der Bericht in: NJ 1956, S. 2 ff. 343 Äußerung eines Rechtsanwalts zu Frage 24 im Projekt-Interview Nr. 3, abrufbar im Internet unter http: // www.rewi.hu-berlin.de / jura / ls / srd / Forschung / ddr.htm sowie in Rainer Schröder, Die DDR-Ziviljustiz im Gespräch – 26 Zeitzeugeninterviews (wie Anm. 315). 344 Diese Zahlen stammen nur aus den Jahrgängen 1957 und 1960, während im Vergleich mit Prozessen unter Bürgern der gesamte Untersuchungszeitraum als Basis dient. 345 Die Irrtumswahrscheinlichkeit lag bei 8,5%.

E. Einzelne Aspekte

319

nur Berlin-Zentrum

90 88

88

80

Mittelwert Erfolgsquote

70 70 60

50 ohne Staatsanwalt

51

mit Staatsanwalt

40 Bürger gegen Bürger (Fälle gewichtet)

Grafik 5.63: Durchschnittliche Erfolgsquote nach Prozesskonstellation und Mitwirkung der Staatsanwaltschaft

Wenn die These von der Bevorzugung der Institutionen durch die Staatsanwaltschaft zuträfe, müssten auch in den einzelnen Prozessgegenständen die Erfolgsquoten bei Mitwirkung des Staatsanwalts am Verfahren signifikant steigen. Dies traf in Bezug auf die in der Prozesskonstellation Institution gegen Bürger am häufigsten auftretenden Prozessgegenstände (Wohnungssachen, Versorgersachen, Darlehen / Kredite) nur teilweise zu: Die Erfolgsquote in Wohnungssachen stieg signifikant von 94% auf 99% und in Versorgersachen von 85% auf 100% (obwohl hier nur zwei Fälle vorlagen). Der Anstieg der Erfolgsquote in Prozessen um Darlehen / Kredite von 84% auf 97% wurde ebenfalls als signifikant ausgegeben. nur Berlin-Zentrum 1957-1960

Wohnungssachen deliktischer Schadenersatz Kaufvertrag Darlehen / Kredite Herausgabe von Sachen

ohne Staatsanwalt

Gas / Energie / Wasser

mit Staatsanwalt 60

70 65

80 75

90 85

100 95

Mittelwert Erfolgsquote (Fälle gewichtet)

Grafik 5.64: Erfolgsquote in Prozessen von Institutionen gegen Bürger nach Gegenstand und Staatsanwaltsbeteiligung

320

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

Signifikant häufig hatte die Staatsanwaltschaft an Prozessen um Kaufverträge und die Herausgabe von Sachen teilgenommen. Interessanterweise lag die durchschnittliche Erfolgsquote bei diesen Prozessgegenständen z. T. erheblich niedriger, wenn sich ein Staatsanwalt im Gerichtssaal befand. Bei kaufvertraglichen Streitigkeiten fiel sie von durchschnittlich 100 % auf 66 % ab, bei der Herausgabe von Sachen von 95 % auf 89 %.346 Eventuell wurden einzelne Konflikte um illegale Geschäfte (Überpreise bei KfzVerkäufen) vor Gericht ausgetragen und unter der Aufsicht des Staatsanwalts wegen dieser Ungesetzlichkeit zu Ungunsten des Klägers entschieden.

4. Prozessausgang a) Prozesse unter Bürgern In Prozessen unter Bürgern, an denen der Staatsanwalt beteiligt war, kam es regelmäßig zu Klagerücknahmen und häufiger als in einer Normalverteilung erwartet zur Abweisung des Antrags des Klägers mit dem Beschluss einer unbegründeten oder unzulässigen Klage. Die Klagerücknahme war außerdem die Erledigungsart, die bei Beteiligung der Staatsanwaltschaft an Prozessen unter Bürgern am häufigsten auftritt (in 8 von insgesamt 22 Fällen). Es erscheint gut möglich, dass Bürger in ihren Streitigkeiten untereinander durch den Staatsanwalt angehalten wurden, ihre Klage zurückzuziehen bzw. ihren Streit außergerichtlich beizulegen oder dass sich sie nach Kenntnis der Mitwirkung des Staatsanwalts Angst vor strafrechtlicher Verfolgung fürchteten.

b) Prozesse von Institutionen gegen Bürger In Prozessen von Institutionen gegen Bürger schaltete sich die Staatsanwaltschaft am häufigsten bei Verfahren ein, die mit einem Vergleich beendet wurden. Bei der hohen Zahl der Vergleiche in allen Fällen dieser Prozesskonstellation (fast 30%) ist dies nicht verwunderlich. Signifikant häufig nahm der Staatsanwalt auch an Prozessen mit Sachurteil und mit Beendigung durch Beschluss auf Unbegründetheit der Klage teil. Im Vergleich zur absoluten Häufigkeit dieser Beendigungsart kam es eher selten zur Klagerücknahme durch die klagende Institution oder zu einem Versäumnisurteil. Die These von den zeitspezifischen Papierbeteiligungen in dieser Prozesskonstellation bestätigte sich aus diesen Daten allerdings nicht, da die Verteilung der Beendigungstypen in den staatsanwaltlich begleiteten Prozessen anders war als in den Prozessen von Institutionen gegen Bürger insgesamt in dieser Zeit. 346 Wegen der geringen Fallzahlen (nur in 8 Fällen war der Staatsanwalt in Kaufsachen anwesend) sind diese Entwicklungen allerdings nicht als signifikant anzusehen.

E. Einzelne Aspekte

321

nur Berlin-Zentrum 1957-1960 50 40 30

Prozent

20 ohne Staatsanwalt

10 0

mit Staatsanwalt

Sachurteil

Versäum- Vergleich/ KlageEinigung rücknahme nisurteil/ Nichterscheinen

(Fälle gewichtet)

Grafik 5.65: Erledigungsarten in Prozessen von Institutionen gegen Bürger nach Staatsanwaltsbeteiligung

Streitige Urteile scheinen, wenn sie überhaupt auftraten, durch die Mitwirkung des Staatsanwalts für den Kläger erfolgreicher geworden zu sein (die Erfolgsquote steigt von 94 % auf 100 %). Im Allgemeinen scheint es jedoch auch unter Betrachtung der Erledigungsart für die Erfolgsquote keinen großen Unterschied gemacht zu haben, ob der Staatsanwalt Interesse am Prozess bekundete.347 Eine Beeinflussung der Verfahren kann aus diesen Ergebnissen nicht gefolgert werden.

5. Aktivität der Parteien In den Prozessen unter Bürgern, an denen kein Staatsanwalt teilnahm, war ein deutlich geringerer Anteil an Klägern und Verklagten rechtsanwaltlich vertreten (28% bzw. 13%) als in denen mit Staatsanwaltsbeteiligung (45% bzw. 31%). Es scheint sich also bei diesen nicht zeitspezifischen Beteiligungen entweder um ausgesucht streitintensive Prozesse gehandelt zu haben oder die Bürger wollten sich wegen der Staatsanwaltsbeteiligung besonders absichern.348 Bei den klagenden Institutionen war dies nicht der Fall, wohl weil diese insgesamt selten einen Rechtsanwalt hinzuzogen.349

347

Der Abfall der Erfolgsquote von 87 % auf 76 % bei Klagerücknahme ist nicht signifi-

kant. 348 Hier müsste eine Einzelanalyse der Akten vorgenommen werden, um zu sehen, ob die Rechtsanwaltsbeteiligung von Anfang an oder erst nach dem Einschalten des Staatsanwalts erfolgte. 349 Die von Institutionen verklagten Bürger hatten in 1,3% der Prozesse ohne Staatsanwalt einen Rechtsanwalt dabei und in 4% der Prozesse mit staatsanwaltlicher Beteiligung. Bei den geringen Zahlen (es handelt sich um drei Fälle) sind weitere Aussagen hierzu nicht möglich.

322

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

Die durchschnittliche Zahl der Schriftsätze war nur in Prozessen unter Bürgern in Anwesenheit eines Staatsanwalts höher als ohne diese. Sie stieg von 2,2 Seiten auf 3,7 Seiten.350 Beweise wurden in Prozessen unter Bürgern ohne Beteiligung des Staatsanwalts in 35% der Fälle erhoben, mit seiner Beteiligung dagegen in 54% der Fälle.351 In Prozessen von Institutionen gegen Bürger stieg die Quote der Beweisaufnahme von 5,1% ohne Staatsanwalt auf 10,8% mit Staatsanwalt an. Dies kann in der Zeitspezifik der Mitwirkung des Staatsanwalts begründet sein, denn in den betreffenden Jahrgängen kamen fast nur Inkassoprozesse von Wohnungs- und Versorgungsunternehmen zur Verhandlung, bei denen die Beweislage eindeutig war. Da der Staatsanwalt an anderen Prozessen teilnahm und die Inkassoprozesse verschmähte, stieg die Quote der Beweisaufnahme wieder auf ein höheres Niveau, das wiederum für alle Prozesse dieser Konstellation immer noch recht niedrig war.

6. Zusammenfassung und Fazit Die Staatsanwaltsbeteiligung konzentrierte sich auf die Untersuchungsjahrgänge 1957 und 1960. Dabei war der Staatsanwalt im Wesentlichen bei Prozessen von Institutionen gegen Bürger anzutreffen. Die für den Staatsanwalt interessanten Prozesse von Institutionen gegen Bürger betrafen meist die Herausgabe von Sachen, Darlehen / Kredite, Kaufvertrags- oder Wohnungssachen. Dabei waren die Wohnungssachen mit Blick auf alle Prozesse unterrepräsentiert. Es scheint, als ob insbesondere bei Geschäften, die gegen Strafoder Verwaltungsvorschriften verstoßen haben könnten, die Staatsanwälte eingeschaltet wurden. Der Streitwert lag in allen Prozessen mit Staatsanwaltsbeteiligung deutlich über dem Durchschnitt. Es ist zu vermuten, dass die Staatsanwälte an aus staatlicher Sicht wichtigeren, weil von Institutionen initiierten und höherwertige Gegenstände betreffenden, Prozessen beteiligt waren. In unseren Akten fanden sich nur 22 Fälle, in denen der Staatsanwalt an Prozessen unter Bürgern teilnahm. Diese verteilten sich, anders als die Prozesse von Institutionen gegen Bürger, auf den gesamten Untersuchungszeitraum. Meist ging es um deliktischen Schadensersatz oder Darlehen. Bei ersterem handelte es sich offensichtlich um Zivilverfahren im Anschluss an Strafprozesse. Es bestand augenscheinlich ein Zusammenhang zwischen der Staatsanwaltsbeteiligung und der Erledigungsart. Die Beteiligung des Staatsanwalts scheint die Parteien einigungsbereiter gemacht zu haben. Ein weitergehender Einfluss auf die Verfahrensführung konnte nicht festgestellt werden. 350 Die Irrtumswahrscheinlichkeit für diesen Unterschied liegt allerdings mit 6,8% leicht über dem Signifikanzniveau von 5%, das wir als höchste Fehlerwahrscheinlichkeit akzeptieren wollen. 351 Der Chi-Quadrat-Test gibt mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit von 6,1% trotzdem keinen signifikanten Unterschied zwischen den Gruppen aus, weil die Fallzahlen zu klein sind.

E. Einzelne Aspekte

323

Klagende Institutionen hatten im Zivilprozess gegen Bürger wegen der Staatsanwaltsbeteiligung keinen deutlich überdurchschnittlichen Erfolg. Die sich andeutende geringere Erfolgsquote bei Prozessen mit Staatsanwaltsbeteiligung kann wegen der geringen Fallzahl nur mit Vorsicht interpretiert werden. Im Hinblick auf die häufige Erledigung der Verfahren durch Klagerücknahme scheint eine Konzentration dieser Prozesse auf illegale Überpreisgeschäfte und ähnliches möglich. Im Gros der Fälle hatten die Staatsanwälte aber auf den Verlauf und das Ergebnis der Verfahren wohl keinen Einfluss, weswegen der Begriff „Papierbeteiligung“ für diese zutreffend erscheint.

III. Versuche zur Erhöhung der erzieherischen Wirksamkeit im Zivilprozess In der DDR sollte es keinen Widerspruch zwischen den Interessen einzelner Bürger oder zwischen Bürger und Staat geben.352 Der sozialistische Zivilprozess stellte in diesem Verständnis eigentlich einen Anachronismus dar, da sich hier Parteien mit durchaus entgegen gesetzten Interessen gegenüber standen. Ziel des sozialistischen Zivilprozesses war es daher, „die ideologischen Ursachen des Konflikts aufzudecken, damit die Menschen zur bewussten Erfüllung ihrer Pflichten geführt und befähigt werden können, das zum Konflikt gewordene Verhältnis und darüber hinaus die Gesamtheit ihrer Beziehungen nach den Erfordernissen der sozialistischen Entwicklung zu gestalten“353. Schon früh wurde also erkannt, dass das sozialistische Bewusstsein sich bei den Menschen nicht von allein herausbilden würde, sondern durch erzieherische Arbeit z. B. der Gerichte erst entwickelt werden musste. Deutlich hervorgehoben wurde die Erziehungsfunktion des Rechts im Rechtspflege-Erlass des Staatsrats vom 4. April 1963.354 In der sozialistischen Gesellschaft waren Pflichten, z. B. Zahlungspflichten, stark moralisiert worden. Wer seine Pflichten nicht freiwillig und mit Blick auf seine Verantwortung für die sozialistische Gesellschaft erfüllte, offenbarte einen „moralischen Defekt“.355 Nach § 3 352 Rechtskonflikte waren als „Ausdruck gesellschaftlicher Widersprüche zu begreifen und durch seine Lösung [war] zur Entwicklung der Gesellschaft beizutragen“, vgl. Horst Kellner, Zivilprozeßrecht, in: Uwe-Jens Heuer (Hrsg.), Die Rechtsordnung der DDR. Anspruch und Wirklichkeit, Baden-Baden 1995, S. 531; Ulf Dahlmann, Konflikte in der DDRZivilrechtstheorie, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 1), S. 449 – 478. 353 Herbert Kietz / Manfred Mühlmann, Die Erziehungsaufgaben im Zivilprozess und die Rolle der gerichtlichen Entscheidungen, Berlin (Ost) 1962, S. 65. 354 Erlass des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik über die grundsätzlichen Aufgaben und die Arbeitsweise der Organe der Rechtspflege, insb.: Die Teilnahme der Werktätigen an der Rechtsprechung und die Erhöhung ihrer Wirksamkeit, GBl 1963, I Nr. 3. 355 Thomas Thaetner, Die Zwangsvollstreckung in der DDR (wie Anm. 108), S. 218.

324

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

des auf ihm beruhenden GVG von 1974 war es Aufgabe der Rechtsprechung, „das sozialistische Staats- und Rechtsbewusstsein der Bürger zu festigen und ihre gesellschaftliche Aktivität, Wachsamkeit und Unduldsamkeit gegen jegliche Rechtsverletzungen zu erhöhen“.356 Nach Artikel 87 der Verfassung der DDR wurde die Gesetzlichkeit durch die Einbeziehung der Bürger und ihrer Gemeinschaften in die Rechtspflege und in die gesellschaftliche und staatliche Kontrolle über die Einhaltung des sozialistischen Rechts gewährleistet. Zu diesem Zweck wurde neben der Einsetzung von Schöffen und Kollektivvertretern in den Rechtsprechungsprozess auch versucht, Gerichtsverhandlungen durch Einwirken auf Schuldner vor einer Klageerhebung entweder ganz zu verhindern oder im Vorfeld bzw. im Rahmen der Verhandlung erzieherisch auf die Prozesspartei(en) einzuwirken.357 Weiterhin sollte das Gericht mit anderen staatlichen Organen, gesellschaftlichen Organisationen (z. B. dem FDGB), Arbeitskollektiven und Hausgemeinschaften358 der Prozessparteien zusammenarbeiten, um das sozialistische Bewusstsein in diesen Menschen zu stärken. Vorliegend wurde nur die Anwendung dieser Mittel in „normalen“ Zivilverfahren untersucht. In Familiensachen und besonders in Arbeitsrechtsverfahren mögen sie eine andere Bedeutung gehabt und mehr bzw. eine andere Anwendung erfahren haben. 1. Einzelne Mittel Im Rahmen der Zivilprozesse kamen insbesondere zwei Mittel zur Erhöhung der gesellschaftlichen Wirksamkeit zur Anwendung: Die „Mitwirkung von Beauftragten von Kollektiven“, realisiert durch die Ladung eines Vertreters des Betriebes einer Prozesspartei oder eines Gewerkschaftsfunktionärs (§ 4 ZPO 1975), und die „Verhandlung vor erweiterter Öffentlichkeit“, etwa durch Ladung des Arbeitskollektivs oder der Hausgemeinschaft zur Verhandlung oder durch Verhandlung im Betrieb einer Prozesspartei oder in deren Wohnumfeld (§ 43 ZPO 1975). Diese „Mitwirkung“ konnte der Aufklärung des Sachverhalts, der Erhöhung der gesellschaftlichen Wirksamkeit des Verfahrens oder beiden Zwecken dienen.

GBl. 1974 I, S. 457 ff. So z. B. in AZ 340.C.737.72 und AZ 340 C 181 / 66. 358 Hausgemeinschaften mit Vorsitz durch den Hausvertrauensmann wurden seit 1953 als Stützpunkte der Nationalen Front für die politische Arbeit mit den Bürgern in jedem Mietshaus zu bilden versucht. Die Hausgemeinschaft hatte Pflichten wie die Gestaltung sozialistischer Beziehungen zwischen den Bewohnern, die Interessenvertretung gegenüber staatlichen Organen, die Beteiligung an Aufbaueinsätzen im Wohngebiet, die Anregung der Bürger zur Verschönerung der Grundstücke und die Durchsetzung der Hausordnung. Vgl. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), DDR-Handbuch, Bd. 1 A-L, 3. Auflage, Köln 1985, S. 507. 356 357

E. Einzelne Aspekte

325

2. Quantitative Bestandsaufnahme Insgesamt nahmen in 19 Fällen unseres Datensatzes Beauftragte des Arbeitskollektivs aktiv an der Verhandlung teil, davon fünf Mal, um bei der „Aufklärung des Sachverhalts“ zu helfen, vier Mal, um die „Wirksamkeit des Verfahrens“ zu erhöhen und in acht Fällen ohne Angabe besonderer Gründe. Bei zwei Prozessen wurde die Mitwirkung des Kollektivs sowohl zur Aufklärung als auch zur Erhöhung der Wirksamkeit des Verfahrens benötigt. Sechs Mal wurde das gesamte Arbeitskollektiv einer Prozesspartei (des Verklagten) zur Verhandlung geladen, jeweils zweimal wurde im Betrieb sowie im Wohnumfeld des Verklagten verhandelt. In zwei Fällen wurde das zur Verhandlung geladene Kollektiv auch noch zur Mitwirkung bei der „Aufklärung des Sachverhalts“ herangezogen. Alle Fälle, in denen Mittel zur Erhöhung der gesellschaftlichen Wirksamkeit angewandt wurden, bildeten zusammen nur einen Anteil von 0,7% an allen Verfahren.359 Für die Jahre 1976 und 1980 lagen Vergleichsdaten des Ministeriums der Justiz vor, welches besonderes Interesse an den Wohnungsstreitigkeiten zeigte. Tabelle 20 Mitwirkung gesellschaftlicher Kräfte am Zivilprozess 1976360

Zahlung / Instandhaltung Rückständige Miete Rückst. / künftige Miete

Verhandlung im Betrieb / Wohnumfeld

Mitwirkung staatl. Kräfte

Erzieherische Gesamt Einwirkung

DDR

292 4,7%

359 5,8%

478 7,7%

6.187

Ost-Berlin

11 1%

36 3,3%

22 2%

1.105

DDR

54 2,8%

129 6,6%

119 6,1%

1.955

Ost-Berlin

2 0,7%

8 2,9%

4 1,4%

277

DDR

180 7%

106 4,1%

249 9,7%

2.560

Ost-Berlin

9 1,2%

2 0,3%

16 2,2%

743

In Ost-Berlin wurden seltener Maßnahmen zur Erhöhung der gesellschaftlichen Wirksamkeit ergriffen als im gesamten Gebiet der DDR. Dies ist mit der höheren 359 Die Fälle erstrecken sich mit Ausnahme von 1948 über alle Jahrgänge, wobei Häufungen von sechs Fällen im Jahrgang 1966, von vier Fällen 1972 und zehn Fällen ab 1984 auftreten. 360 Statistik des Ministeriums der Justiz der DDR, BA DP 1 VA 8910, 8911.

326

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

Arbeitsbelastung dieser Gerichte zu erklären. Bei den in unserer Erhebung ausgewählten Variablen, die sich in der offiziellen Statistik wieder finden (Verhandlung im Betrieb / Wohnumfeld), zeigt sich, dass solche Lokaltermine bevorzugt bei Instandhaltungsklagen und Klagen auf rückständige / künftige Miete veranstaltet wurden. Es liegt nahe, dass sich das Gericht bei Einwendungen gegen Mietzahlungen wegen unzumutbarer Zustände in der Wohnung durchaus selbst einen Eindruck verschaffen wollte (was dann aber eigentlich einer Beweiserhebung durch Augenscheinnahme entsprechen würde) und dass bei notorischen Mietzahlungsrückständen, die Klagen auf künftige Miete rechtfertigten, der Betrieb des Verklagten als soziales Druckmittel eingeschaltet wurde. Der Auswertung des Ministeriums der Justiz für das Jahr 1980 lag eine andere Zählweise zu Grunde; sie zeigte so andere Aspekte genauer. Die Unterscheidung in „Verhandlung vor organisierter Öffentlichkeit im . . .“ und „. . . außerhalb des Gerichts“ zeigt, dass die Richter weite Wege grundsätzlich nicht scheuten und nur etwas öfter im Gericht als außerhalb verhandelten. Außerdem war nach dieser Aufstellung der Rückstand der Zivilgerichte in Ost-Berlin bezüglich erzieherischer Maßnahmen viel geringer, besonders was die Anteile der Verhandlungen vor organisierter Öffentlichkeit betraf. Bei den niedrigen Zahlen erscheint es aber ebenso möglich, dass die Richter in Ost-Berlin ihren Arbeitsstil etwas änderten, als dass statistisch-methodische Änderungen ausschlaggebend waren. Tabelle 21 Mitwirkung gesellschaftlicher Kräfte am Zivilprozess 1980361

Zahlung / Instandhaltung

Mitwirkung

Verhandlung vor organisierter Öffentlichkeit im Gericht

Verhandlung Gesamt vor organisierter Öffentlichkeit außerhalb

DDR

695 8,3%

106 1,3%

75 0,9%

8.366

Ost-Berlin

77 4,6%

20 1,2%

12 0,7%

1.668

100 4,8%

10 0,5%

16 0,8%

2.087

Ost-Berlin

9 3,5%

2 0,8%

1 0,4%

258

DDR

489 10,5%

83 1,8%

43 0,9%

4.660

Ost-Berlin

65 5,3%

17 1,4%

11 0,9%

1.226

Rückständige DDR Miete

Rückst. / künftige Miete

361

BA DP 1 VA 8910, 8911.

E. Einzelne Aspekte

327

Eine Betrachtung im Zeitverlauf war nur für die Jahre 1965 bis 1972 für das gesamte Gebiet der DDR – allerdings nicht beschränkt auf Wohnungssachen – möglich, da andere Daten mit der selben Kodierung aus den Statistiken des Ministeriums der Justiz nicht vorlagen. Tabelle 22362 Jahr

Verhandlung im Betrieb Anzahl Prozent

1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974 1976

87 0,2 297 39 0,1 182 24 0,1 165 37 0,1 165 30 0,1 101 23 0,1 74 35 0,1 94 56 0,2 123 39 0,1 122 21 0,1 108 38 0,1 77 50 0,1 72 Verhandlungen im Betrieb oder Wohnumfeld 184 0,5 181 0,4 183 0,4

1977 1978 1979

Verhandlung im Wohngebiet Anzahl Prozent 0,8 0,6 0,5 0,5 0,3 0,2 0,3 0,4 0,4 0,3 0,2 0,2

Gesamt 35.320 32.512 31.551 30.301 29.313 30.675 30.606 31.832 32.740 34.630 35.689 37.029 38.157 40.554 42.957

Soweit sich das für den kurzen betrachteten Zeitraum sagen lässt, lag der Anteil von Verfahren mit Maßnahmen zur Erhöhung der gesellschaftlichen Wirksamkeit in Zivilsachen insgesamt über die Jahre hinweg gleich bleibend niedrig. Der Vergleich mit den Daten von 1976 aus bestätigt, dass erzieherische Maßnahmen im Wesentlichen auf Mietsachen beschränkt waren, dort lagen die Anteile sehr viel höher als bei der Betrachtung aller Zivilsachen. Die Zahlen des Ministeriums der Justiz aus obiger Tabelle bestätigten den aus den hier ermittelten Daten hervorgehenden Trend: Die Mittel zur Erhöhung der Wirksamkeit des Zivilprozesses wurden sehr selten angewandt.

362 Daten aus BA DP 1 VA 8876, zit. nach Boris Alexander Braczyk, (Selbst-)Erziehung der Gesellschaft – Der „neue Arbeitsstil“ im Zivilverfahren der DDR ab 1958, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 1), S. 530. Gesamtzahlen aus BA DP 1 VA 8848, 8867 und Statistisches Jahrbuch der DDR 1989, S. 399. 363 AZ 442.C 403.66.

328

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

3. Qualitative Untersuchung Aus der inhaltlichen Untersuchung der 27 Fälle ergab sich bei der Beteiligung von Kollektivvertretern ein Schema. Geladen wurden Vertreter des Betriebs der Verklagten und Leiter der Hausgemeinschaftsleitungen. Zum einen sollten diese zur Sachverhaltsaufklärung beitragen. Dabei wurden anscheinend versucht, den „Leumund“ des Verklagten zu ermitteln. 1966 erschien in einer Mietsache der Verklagte nicht zum Termin, dafür aber der Vorsitzende der HGL. Er beschrieb den Verklagten als „asozialen Mieter“ und stellte die Notwendigkeit der Räumung von dessen Wohnung dar.363 Ebenfalls in einer Mietsache wurde eine Betriebsvertreterin vom Gericht zur Arbeitsdisziplin der Verklagten, ihrer Stellung im Kollektiv und ihrer Einstellung zu ihren Pflichten befragt.364 Zum anderen sollten die Vertreter auf die Verklagten einwirken, ihre Zahlungspflichten einzuhalten.365 Diese Fälle fanden sich vermehrt in den späteren Jahrgängen ab 1976. Teilweise wurde auf diese Weise an eine Lohnabtretung des vermeintlichen Schuldners vorangetrieben. Auch die Einbeziehung des Wohnumfeldes wurde oft mit einer Sachverhaltsaufklärung vor Ort, etwa einer Augenscheinnahme der Wohnung, verbunden.366 Vielleicht verbanden die Richter hier auch zwei ihrer Pflichten: die Beweisaufnahme und die Beteiligung der Öffentlichkeit. Mitunter ging aus den Akten hervor, wie mühsam die Organisation solcher „Veranstaltungen“ war. 1988 klagte eine KWV auf Zahlung rückständiger und künftiger Miete. Das Kollektiv des Verklagten wurde geladen. Zur Verhandlung erschien jedoch weder der Verklagte noch das geladene Kollektiv, da der Verklagte dort nicht mehr angestellt war.367 So scheinen die Maßnahmen zur Erhöhung der Wirksamkeit öfter so genannte „Asoziale“ getroffen zu haben: Menschen, die schon häufig negativ aufgefallen waren. Allerdings erschienen diese Personen wiederum auch nur selten zu den Gerichtsverhandlungen. 4. Fazit Die Mittel zur Verbreiterung der erzieherischen Wirkung des Zivilprozesses wurden in der DDR viel propagiert und wenig angewandt. Bei der Umsetzung gab es Probleme. Eine mündliche Verhandlung in einem Wohngebiet abzuhalten bedurfte einiger Vorbereitung und war daher arbeitsintensiv. Nach einigen schlechten Erfahrungen wuchs auch die Scheu davor, einzelne Schuldner öffentlich bloß zu stellen.368 Durch Versuche der öffentlichen Erziehung solcher Miet- oder Kredit364 365 366 367

AZ 04 Z 1490 / 88. AZ 340 C 181 / 66; AZ 04 Z 785 / 88; AZ 04 z 1322 / 84; AZ 04 z 1197 / 84. AZ 440 Z 945 / 80; AZ 04.Z.525.88. AZ 04 Z 1236 / 88.

E. Einzelne Aspekte

329

schuldner wurde sozialer Druck aufgebaut, der als Zwang positiv auf die Zahlungsmoral des Einzelnen, aber auch sehr diskriminierend wirken konnte. Hatte man eine solche Verhandlung dann organisiert, geschah es häufig, dass der hartnäckige Schuldner fernblieb. Kollektivvertreter und Mitglieder der Hausgemeinschaftsleitungen wurden zunächst oft als Leumund des Verklagten und zur sonstigen Sachaufklärung, wie dem Aufenthaltsort des Schuldners, befragt. Später erleichterte der Kontakt zu den Betrieben eine Lohnpfändung nach Abschluss des Verfahrens.369 Die Mittel zur Erhöhung der erzieherischen Wirksamkeit des Zivilverfahrens hatten, insbesondere gemessen an dem eigenen Anspruch an einen „sozialistischen Zivilprozess“, insgesamt eine geringe Bedeutung.

IV. Der kleine Unterschied: Männer und Frauen im Zivilprozess Die Rechtssoziologie hat sich erst vor verhältnismäßig kurzer Zeit dem Thema der Genderforschung zugewandt.370 Im Zusammenhang mit der Untersuchung von Hindernissen, die sich der Mobilisierung des Rechts als Zugang zu Anwälten und Gerichten zur Geltendmachung rechtlicher Ansprüche entgegenstellen, ergaben sich durchaus geschlechtsspezifische Unterschiede. Sie legen eine gesonderte Betrachtung von Männern und Frauen auch in der Rechtstatsachenforschung nahe. Barrieren und Defizite werden dabei vor allem in psychischen Schwellen wie der Furcht vor Gerichten, Kostenrisiken, schichtspezifischen Vorbehalten, negativen Erfolgsprognosen, einer langen Verfahrensdauer oder Unkenntnis gesehen. Besonders Kostenrisiken fallen für Frauen, die häufiger von Armut betroffen und in der Regel wirtschaftlich weniger gut gestellt sind als Männer, als Barrieren eher ins Gewicht. Daneben gibt es aber Forschungsansätze, die von generell anderen Konfliktlösungsansätzen und einer anderen Rechtsmoral ausgehen, die aus einer grundlegend anderen Realität geschlechtsspezifischer Lebenszusammenhänge von Frauen resultieren.371 368 Vgl. Projekt-Interviews Nrn. 8 und 9, abrufbar im Internet unter http: // www.rewi.huberlin.de / jura / ls / srd / Forschung / ddr.htm sowie in Rainer Schröder, Die DDR-Ziviljustiz im Gespräch – 26 Zeitzeugeninterviews (wie Anm. 315). 369 Thomas Thaetner, Die Zwangsvollstreckung in der DDR (wie Anm. 108), S. 154 f. 370 Doris Lucke, Recht ohne Geschlecht? Zu einer Rechtssoziologie der Geschlechterverhältnisse, Pfaffenweiler 1996; Ulrich Battis / Ulrike Schultz (Hrsg.), Frauen im Recht, Heidelberg 1990; Ute Gerhard (Hrsg.), Frauen in der Geschichte des Rechts, München 1997. 371 Vera Slupik, Weibliche Moral versus männliche Gerechtigkeitsmathematik? Zum geschlechtsspezifischen Rechtsbewusstsein, in: Brun-Otto Bryde / Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Rechtsproduktion und Rechtsbewusstsein (= Schriften der Vereinigung der Rechtssoziologie, Bd. 13), Baden-Baden 1988, S. 221 – 238.

330

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

Während erste Ergebnisse für das Arbeits- und Familienrecht vorliegen, sind bisher keine derartigen Publikationen für das Zivilrecht bekannt. Auch in der DDR beschäftige sich die Rechtssoziologie nicht mit Problemen der Genderforschung, wohl auch weil die vollständige Gleichberechtigung der Frau zentrale Errungenschaft des Sozialismus sein sollte. Die im Projekt erhobenen Angaben zum Geschlecht der Prozessparteien versetzen uns damit in die Lage, auf dem Gebiet der Genderforschung im Zivilprozess Daten bereitzustellen und erste explorative Untersuchungen anzustellen. Diese müssen, da das Projekt eine gänzlich andere Zielstellung verfolgt, notwendigerweise kurz bleiben, sollen aber als Grundlage und Anregung für weitere Forschung dienen. Die Ergebnisse der Untersuchung zeigten eine deutliche Dominanz männlicher Prozessteilnehmer. Lag der Anteil der Männer bei den Klägern mit 49% nur etwas über dem der Frauen (42%), so war er bei den Verklagten mit 51% zu 32% erheblich höher. Personenmehrheiten, also hauptsächlich Ehepaare,372 traten relativ selten auf.

Kläger

49

Verklagter

51

9

42

männlich

32

18

weiblich Personenmehrheit

0%

20%

40%

60%

80%

100%

Grafik 5.66: Geschlecht der Parteien im Zivilprozess

In einzelnen Konfliktkonstellationen waren auffällig viele Männer beteiligt. So war zwar die Zahl der Prozesse von Bürgern gegen Privatbetriebe generell sehr niedrig, das Übergewicht männlicher Kläger in dieser Konstellation ist mit 72% dennoch bemerkenswert. Es kann darauf zurückgeführt werden, dass die klagenden Männer selbständig und in einzelnen Gelegenheiten geschäftlich tätig gewesen sind, was Frauen anscheinend weniger taten.373 Auch von Privatbetrieben Verklagte waren zum überwiegenden Teil männlich, was die These der Dominanz von Männern im Geschäftsleben bekräftigt.

372 Trat nicht nur eine einzelne Person im Prozess auf, so wurden diese Kläger oder Verklagten als „Personenmehrheit“ erfasst. Dahinter verbergen sich hauptsächlich Ehepaare, der Anteil der geschäftlichen oder privaten Interessengemeinschaften wird als relativ gering geschätzt. 373 Ähnlich scheint es bei Verfahren von Bürgern gegen sozialistische Betriebe und Institutionen zu sein, bei denen zu 66% Männer klagten. Allerdings ist die Fallzahl hier sehr klein.

E. Einzelne Aspekte

331

In Prozessen unter Bürgern waren mehr als die Hälfte der Verklagten männlichen Geschlechts, gegen Frauen wurde in nur knapp einem Drittel der Fälle vorgegangen. Nur etwas ausgewogener war das Verhältnis bei den von Institutionen verklagten Bürgern, hier machten die Männer etwa 44% aus, die Frauen knapp 35% – dazu später. Frauen wurden überwiegend von Männern verklagt, Männer hingegen am häufigsten von Frauen.374 Personenmehrheiten blieben dagegen weitgehend unter sich. Die Konstellation mit dem größten Anteil war trotz der Dominanz der Männer bei Klägern und Verklagten, dass eine Frau gegen einen Mann klagte.375 Dies legt die Vermutung nahe, dass sich hinter den Konstellationen der Geschlechter typische Konfliktgegenstände verbergen. Vorweg genommen werden kann, dass Ehepaare oder Personenmehrheiten sowohl als Kläger als auch als Verklagte hauptsächlich in Wohnungssachen auftraten,376 denn in den meisten Fällen wurden Mietverträge von Ehepaaren unterzeichnet. 300 250 200

Absolute Werte

150 100 männlich

50 0

weiblich Wohnungs- delikt. sachen Schadenersatz

Kaufvertrag

Dienstleistungsvertrag

Darlehen/ Kredite

Herausgabe Sachen

Grafik 5.67: Geschlecht der Kläger in Prozessen unter Bürgern nach Prozessgegenständen

Die These von der Dominanz der Männer im Geschäftsleben bestätigte sich. Sowohl in Kauf- und Dienstleistungsvertragsstreitigkeiten als auch in Konflikten um 374 Letzteres erklärt sich zumindest teilweise aus der absoluten Mehrheit von Männern an den Klägern und Verklagten. Die genannten Konstellationen sind statistisch hoch signifikant, treten also häufiger auf, als dies in einer Normalverteilung erwartet wird. 375 Die Konstellationen verteilten sich in Prozessen unter Bürgern wie folgt: 29% Frauen gegen Männer, 25% Männer gegen Männer, 17% Männer gegen Frauen, 10% Frauen gegen Frauen, je 5% Männer bzw. Frauen gegen Personenmehrheiten, je 3% Personenmehrheiten untereinander bzw. gegen Männer und 2% gegen Frauen. 376 Wo Männer im Übrigen vergleichsweise selten zu finden waren. Dies mag darin begründet gewesen sein, dass in der DDR aufgrund der Wohnungsknappheit und der Vergabepolitik allein stehende Männer selten in eigenen Wohnungen lebten.

332

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

Darlehen stellten Männer die absolute Mehrheit der Kläger wie auch der Verklagten. Diese Fälle ballten sich in den frühen und späten Jahrgängen, also als noch private geschäftliche Tätigkeiten möglich waren bzw. aufgrund der schlechten Versorgungslage wieder aufblühten. Auch Prozesse wegen deliktischen Schadensersatzes wurden hauptsächlich von Männern und fast ausschließlich gegen Männer geführt, wahrscheinlich handelte es sich um Verfahren nach Verkehrsunfällen. Dies ist plausibel, da diese Fälle fast alle aus den Jahrgängen ab 1976 stammten. In dieser Zeit hatten Pkw auch in der DDR eine größere Verbreitung gefunden. Bezüglich der Frauen erstaunen die hohen Werte in den Wohnungssachen.377 Oben wurde gezeigt, dass solche Prozesse in den meisten Fällen von Vermietern geführt wurden und dass in fast 50% der Fälle auf Räumung geklagt wurde.378 Als Interpretation bieten sich drei Erklärungen an: entweder waren Frauen in der DDR deutlich häufiger Immobilien- oder Grundstücksbesitzer bzw. Unterzeichner des Mietvertrages und erschienen daher vor Gericht, oder hinter dem Verfahrensgegenstand „Räumung“ verbarg sich die Forderung an den Ex-Ehemann, die gemeinsame Wohnung zu verlassen.379 Dies würde dadurch bestätigt, dass Männer in Wohnungssachen hauptsächlich Frauen verklagten und Frauen vor allem Männer. Die dritte Erklärung wäre die schon vorgestellte These bezüglich der vielen Frauen, die nach dem Krieg Untermieter einquartierten und mit diesen dann in Konflikte gerieten (vgl. S. 268 ff.). Allerdings klagten zu dieser Zeit nicht mehr Frauen als Männer wegen Wohnungssachen, was gegen diese Annahme spricht. Einen vergleichsweise großen Anteil nahmen in der Gruppe weiblicher Verklagter auch Prozesse um die Herausgabe von Sachen ein.380 Hier dürften Ehestreitigkeiten als Konfliktursache in Frage kommen. Auch in den – nur in den frühen Jahrgängen erfassten – Familiensachen traten sehr viele Frauen als Kläger auf. In Prozessen um Unterlassung verklagten sich die Geschlechter fast ausschließlich gegenseitig, wobei in über der Hälfte der Fälle Männer von Frauen verklagt wurden. Auch der sozialistische Mensch hatte offenbar ganz „bürgerliche“ Beziehungsprobleme. Dies bestätigt auch eine Analyse der Verfahren zur Erlangung einer einstweiligen Verfügung. Wird gerichtlich von einer natürlichen Person eine einstweilige Verfügung gegen eine andere Person begehrt, so sind dabei in der Regel akute Konflikte der Anlass. Auf eher persönliche Ursachen des Streits könnte geschlossen werden, wenn die Verfügung etwa von einer Ehefrau gegen ihren Gatten erwirkt wird. Unter den Antragstellern, also den Personen, die die einstweilige Verfügung erwirken wollten, zeigte sich eine deutliche Dominanz von Frauen.381 In den einstweiligen 377 50% der Kläger in Wohnungssachen unter Bürgern waren Frauen, diese stellten auch mit 48% der Kläger in sonstigen Zivilsachen die Mehrheit. 378 Vgl. Kapitel 5 – Ergebnisse der Untersuchung, D. II. 1., S. 271 f. 379 In diesem Fall hätten die Kodierer den Prozessgegenstand juristisch falsch zugeordnet. 380 Genaue Werte finden sich in Tabelle 408 in der Datensammlung (wie Anm. 12).

E. Einzelne Aspekte

333

Verfügungsverfahren waren sie unter den Antragstellern doppelt so häufig wie Männer vertreten. Ähnlich sah es bei den Antragsgegnern aus, die von einer einstweiligen Verfügung betroffen waren: Männer waren bei den von einstweiligen Verfügungen Betroffenen in der Mehrheit. Sie erwirkten einstweilige Verfügungen signifikant häufig gegenüber Frauen und selten gegenüber anderen Männern. Bei Frauen war das Verhältnis genau umgekehrt. Die Hypothese, dass hier viele Prozesse wegen Ehestreitigkeiten und Beziehungsproblemen geführt wurden, wird dadurch gestützt, dass in 63% der Fälle mit einstweiligen Verfügungen Frauen gegen Männer oder umgekehrt vorgingen. Die Vermutung bestätigt sich ebenfalls nach einer Untersuchung der Prozessgegenstände.382 Hier waren fast ausschließlich Forderungen nach Unterlassung und Streitigkeiten um „Sonstige Zivilsachen“ (worunter auch Familiensachen fallen) anzutreffen. Interessanterweise war die Erfolgsquote von Männern, die einstweilige Verfügungen beantragten, mit durchschnittlich 57% signifikant niedriger als die von Frauen, die im Durchschnitt 78% erreichte. Auffällig war in Prozessen von Institutionen gegen Bürger, dass diese zwar hauptsächlich Männer verklagten, dass jedoch im mit Abstand häufigsten Prozessgegenstand der Wohnungssachen diese die kleinste Verklagtengruppe ausmachten. Offenbar wurde hier tatsächlich in der Regel gegen Frauen oder gegen Ehepaare vorgegangen, die gemeinsam den Mietvertrag unterzeichnet hatten. Diese beiden Gruppen machten besonders in den Jahrgängen 1954 / 57, also zur Zeit der Klagewelle der Wohnungsverwaltungen, den Hauptteil der Verklagten aus, während sich gegen Ende des Untersuchungszeitraums die Klagen hauptsächlich gegen Männer richteten. In der Klagewelle der Versorgungsunternehmen erschienen hingegen zum größten Teil Männer vor Gericht. Ob hier mehr allein stehende Männer säumig wurden oder die Männer in einer Ehegemeinschaft Verträge mit den Gaswerken abschlossen, kann hier nicht entschieden werden. Prozesse, in denen typischerweise Männer verklagt wurden, betrafen auch in den von Institutionen initiierten Fällen meist deliktischen Schadensersatz, Kaufund Dienstleistungsverträge und die Herausgabe von Sachen. Auch in Klagen wegen Versorgungsleistungen und Sonstigem / Unterhaltssachen stellten Männer die größte Zahl der Verklagten. 381 88% der einstweiligen Verfügungen wurden von Bürgern gegen andere Bürger erwirkt. Für die restlichen Fälle war lediglich festzustellen, dass sie vermehrt von Personenmehrheiten geführt wurden und hohe Streitwerte hatten. Daraus erhob sich der Verdacht, dass es sich hierbei um „Schnellprozesse“ gegen Selbständige handelte, die besonders in den frühen Jahrgängen auftraten. Ob sie ein Ausdruck der zu dieser Zeit geführten Kampagnen gegen Selbständige und Privatbetriebe waren, kann nur aus den vorliegenden Daten nicht entschieden werden. Einstweilige Verfügungen lagen jedoch auch insgesamt nur in 209 Fällen (4,2% des Datensatzes) vor. Der Anteil dieser Verfahren sank von 1948 bis 1966 von 4,6% auf knapp über 1% aller Prozesse. Zwischen 1966 und 1976 erlebten sie zwar einen leichten Anstieg auf über 8% der Verfahren, von diesem Zenit aus sank ihre Zahl bis 1988 jedoch wieder kontinuierlich bis auf ca. 3% ab. 382 Genaue Werte finden sich in den Tabellen 407 f. in der Datensammlung (wie Anm. 12).

334

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

Typisch weibliche Domänen waren neben Wohnungssachen, in denen jene die größte Verklagtengruppe stellten, nur Klagen wegen Darlehen / Krediten. Da rechtliche Auseinandersetzungen von Frauen eher als konsensverhindernde, aggressive Durchsetzungsprozesse angesehen werden und Frauen bezüglich der Durchsetzung ihres Rechts evtl. größere psychische Schwellen überwinden müssen,383 könnte vermutet werden, dass Frauen sich eher von Rechtsanwälten vertreten ließen. Die Vertretung durch einen Rechtanwalt könnte ihnen größere Sicherheit vermitteln. Eine besonders unterschiedliche Verteilung der Geschlechter in der Anwaltswahl war jedoch nicht ersichtlich: Personen beider Geschlechter ließen sich ungefähr im Verhältnis 70:30 nicht vertreten. Anders sieht es jedoch aus, betrachtet man die Nutzung der Rechtsantragsstelle: Fast die Hälfte aller weiblichen Kläger nutzte diese, hingegen nur ein Drittel der Männer. Da die Rechtsantragsstelle ein kostenloser Service für die Bürger war, spielten hier eventuell auch wirtschaftliche Faktoren eine Rolle, welche Frauen die Rechtsantragstelle dem Rechtsanwalt vorziehen ließen. Die stärkere Frequentierung der Rechtsantragsstellen durch Frauen kann auf eine größere Unsicherheit dieses Geschlechts bezüglich der Durchsetzung ihres Rechts hinweisen. Sie kann jedoch auch als Indikator einer Emanzipation der Frauen in der DDR interpretiert werden, die für die Durchsetzung ihres Rechts auch außerhalb ihres sozialen Netzwerks fachliche Unterstützung in Anspruch nahmen. An den Zivilprozessen der DDR waren mehr Männer als Frauen beteiligt. Insbesondere in Konflikten, die einen geschäftlichen Hintergrund hatten, dominierten Männer. In den Prozessen unter Bürgern wurden zwischen Frauen und Männern althergebrachte, „unsozialistische“ Beziehungskonflikte ausgetragen: Es ging um das Bleiberecht in der Wohnung nach einer Trennung und – insbesondere bei Einstweiligen Verfügungsverfahren – um die Abwehr meist von den Männern ausgehender Übergriffe. Die statistische Analyse lässt weiter zu differenzierende Konfliktstrukturen vermuten, die einer näheren Inhaltsanalyse der betreffenden Akten bedürften.

V. Verdächtig erfolgreich – Beeinflussung der Erfolgschancen? Mehr als zwei Drittel der 4.813 Verfahren, denen eine Erfolgsquote zugeordnet werden konnte, endeten in der ersten Instanz mit einem 100%igen Erfolg für den Kläger. Im Durchschnitt konnte der Kläger mit einem 80%igen Erfolg seines Begehrens rechnen. Die meisten Urteile sprachen dem Kläger dabei entweder 0% oder 100% seines geltend gemachten Anspruchs zu. Grafik 5.68 zeigt die durchschnittliche Erfolgsquote in den verschiedenen Jahrgängen unserer Untersuchung. 383 Vera Slupik, Weibliche Moral versus männliche Gerechtigkeitsmathematik? (wie Anm. 371), S. 221 – 238.

E. Einzelne Aspekte

335

nur Berlin-Zentrum 100 95 90 85 80

Mittelwert Erfolgsquote

75 70 65 60 55 50 48

51

54

57

60

63

66

69

72

76

80

84

88

Jahrgang (Fälle gewichtet)

Grafik 5.68: Durchschnittliche Erfolgsquote nach Jahren

Bis zum Jahrgang 1963 gab es noch größere und signifikante Schwankungen von 65% bis über 90%, danach lag die durchschnittliche Erfolgsquote im Zivilprozess wieder fast schwankungsfrei und niedriger bei um die 80%. Der Median der Erfolgsquote lag im ganzen Untersuchungszeitraum bei 100%, die einzige Ausnahme bildete der Jahrgang 1954 mit 95%. In 4.820 Fällen konnte den Akten zusätzlich die Variable „Erfolg“ mit den Ausprägungen „voller Erfolg“, „Teilerfolg“ und „kein Erfolg“ zugewiesen werden. Dabei erreichte der Kläger in 3.425 Fällen (71,1%) einen vollen Erfolg, das heißt mehr als zwei Drittel aller Fälle hatten eine Erfolgsquote von 95% bis 100%. Einen Teilerfolg erzielten 569 Kläger (11,8%), worin etliche Vergleiche mit einer Erfolgsquote von bis zu 90% enthalten sind. Keinen Erfolg hatten die Kläger in 826 Fällen (17,1%). Anscheinend wurden im DDR-Zivilprozess meist begründete Forderungen geltend gemacht. 90 80 70 60 50

Anteil am Jahrgang

40 30

voller Erfolg

20

Teilerfolg

10

kein Erfolg

0 48

54 51

60 57

66 63

72 69

80 76

88 84

Jahrgang

Grafik 5.69: Anteil der Erfolgsarten am Jahrgang

336

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

In Grafik 5.69 lassen sich drei Phasen erkennen: Bis 1957 liefen die Anteilskurven der erfolgreichen und der erfolglosen Prozesse immer weiter auseinander, erfolgreiche Prozesse gewannen immer mehr Anteil an den Jahrgängen. Ab 1954 gab es in dieser Entwicklung noch einmal einen Sprung, bei dem die erfolgreichen Prozesse von 66% auf 80% Anteil am jeweiligen Jahrgang stiegen. In der zweiten Phase ab 1957 konsolidierte sich der hohe Anteil der erfolgreichen Verfahren auf hohem Niveau, stieg anfangs sogar noch weiter an, während der Anteil der erfolglosen Prozesse weiter bis auf 5% im Jahr 1963 fiel. Auch die Prozesse, die mit Teilerfolgen für die Kläger beendet wurden, passten sich an diesen Verlauf an und lagen zwischen 1954 und 1972 unter 10%. In der dritten Phase schrumpfte der Abstand zwischen den beiden Kurven wieder: die erfolglosen Verfahren stiegen innerhalb eines Jahrgangs um mehr als 10% an, während die Prozesse mit vollem Erfolg von fast 85% auf unter 65% fielen. In den Daten des Bundesamts für Statistik fanden sich keine Angaben über die Erfolgsquoten der in der Bundesrepublik geführten Zivilprozesse. Es musste daher auf die Untersuchung von Steinbach / Kniffka zurückgegriffen werden, die nur Zivilprozesse aus dem Jahr 1975 betrachtet.384 Hier hatten 52% der Klagen vollen Erfolg, rund 7% erreichten Erfolgsquoten zwischen 60% und 90%. Keinen Erfolg (0% Erfolgsquote) hatten die Kläger in 24% der Prozesse. In der Bundesrepublik scheinen die Kläger weniger Erfolg gehabt zu haben. In den direkt vergleichbaren Jahrgängen 1976 / 1980 war der Unterschied allerdings geringer: In der DDR war der Anteil der „vollen Erfolge“ nur noch um knapp 10% größer. Die Ursachen für diese Entwicklungen waren im Wesentlichen in der Veränderung der Struktur der Prozesse, insbesondere bezüglich Prozessgegenstand und den Beteiligten, zu finden, auf die später eingegangen werden wird.385 Im Folgenden wird geprüft, ob der Status der Parteien (Bürger oder Institution), die Schichtzugehörigkeit der beteiligten Bürger oder der Prozessgegenstand einen Einfluss auf den Erfolg des Verfahrens hatten und ob die Beauftragung eines Rechtsanwalts oder eigene Aktivitäten die Erfolgschancen steigerten.

1. Einfluss des Status der Parteien Genau in der Zeit, in der die Zahl verlorener Prozesse so niedrig war (vgl. Grafik 5.69), erlebte der DDR-Zivilprozess einen Boom an Klagen von sozialistischen Betrieben und Institutionen, genauer von Versorgungs- und Wohnungsunternehmen, gegen Bürger. Die durchschnittliche Erfolgsquote in Prozessen unter Bürgern lag mit 70% signifikant niedriger als die in Prozessen von Institutionen gegen Bürger (88%), die insgesamt die höchsten Erfolge erzielten.386 Die Vermutung, die 384 Elmar Steinbach / Rolf Kniffka, Strukturen des amtsgerichtlichen Zivilprozesses (wie Anm. 27), S. 246. 385 Siehe Kapitel 5 – Ergebnisse der Untersuchung, F., S. 346 ff.

E. Einzelne Aspekte

337

durchschnittliche Erfolgsquote könnte vom Status der Parteien abhängen, lag also nahe. Dass der höhere Erfolg der sozialistischen Betriebe und Institutionen nicht auf staatlicher Einflussnahme begründet gewesen sein muss, zeigt, dass auch Privatbetriebe gegenüber Bürgern in der Regel hohe Erfolgsquoten erzielten. In den ersten Jahrgängen des Untersuchungszeitraums waren sie mit Erfolgsquoten um 75% durchaus erfolgreicher als Bürger, die untereinander klagten (65% Erfolgsquote). Auch in der Bundesrepublik waren Prozesse von Firmen gegen Bürger mit durchschnittlich 73%iger Erfolgsquote am erfolgreichsten für die Kläger.387 Prozesse unter Bürgern standen mit einer Erfolgsquote von 65% für den Kläger an zweiter Stelle, wogegen Prozesse von Bürgern gegen Firmen nur Erfolgsquoten von knapp über 40% erreichten; fast die Hälfte dieser Prozesse ging erfolglos für den Kläger aus.

90 80 70 60 50 40 30 20 10 0

Ost-Berlin BRD unter Bürgern

Firma gegen Bürger

Bürger gegen Firma

unter Firmen

Grafik 5.70388: Durchschnittliche Erfolgsquoten in verschiedenen Parteienkonstellationen in Ost-Berlin und Bundesrepublik

Besonders hoch waren die Erfolgsquoten in Prozessen von klagenden Betrieben und Institutionen gegen Bürger während der bereits beschriebenen Klagewellen. Wohnungsunternehmen erreichten dabei mit durchschnittlich 91% bei weitem die

386 Die anderen Konstellationen waren in der Stichprobe zahlenmäßig sehr schwach vertreten, weswegen die durchschnittlichen Erfolgsquoten hier wenig Aussagekraft haben. 387 In den Angaben von Elmar Steinbach / Rolf Kniffka, Strukturen des amtsgerichtlichen Zivilprozesses (wie Anm. 27) sind Firmen und andere juristische Personen unter „Nicht-Private“ zusammengefasst, in unseren Daten kamen nichtstaatliche Firmen praktisch nicht vor. „Firma“ ist daher nur als generalisierender Oberbegriff für „Nicht-Private Partei“ im bundesrepublikanischen Zivilprozess bzw. als Gegenstück zu „sozialistischer Institution“ im DDRZivilprozess zu verstehen, da beide eine ähnlich bestimmende Rolle für das Wirtschaftssystem des jeweiligen Staates innehaben. 388 Die Daten des Projekts wurden, um die Vergleichbarkeit mit den Daten von Steinbach / Kniffka zu gewährleisten, auf 1972 und 1976 eingeschränkt. Dadurch sank die Fallzahl besonders der seltenen Parteienkonstellationen (Bürger gegen Institution bzw. unter Institutionen) auf 8 bzw. 2 Fälle ab, weswegen von weitergehenden Vergleichen abgeraten werden muss.

338

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

höchsten Erfolgsquoten. Lediglich in den frühen Jahrgängen 1954 und 1957 hatten sie weniger Erfolg. Dies kann mit gewissen Anlaufschwierigkeiten der neu geschaffenen Institutionen erklärt werden. Auch die Versorgungsunternehmen hatten 1966 bis 1969 hohe durchschnittliche Erfolgsquoten. Lediglich die Klagen der HO-Geschäfte aus Teilzahlungskrediten im Jahrgang 1963 waren mit einer durchschnittlichen Erfolgsquote von 97% noch erfolgreicher. In diesem Zusammenhang wurden ebenfalls die Prozessgegenstände bezüglich ihrer Erfolgsquoten untersucht. Klagen in Wohnungssachen, wegen Darlehen sowie Versorgungsleistungen endeten im Durchschnitt am erfolgreichsten für den Kläger (Erfolgsquoten von 89% bzw. 83%). Es drängte sich sofort der Schluss auf, dass gerade diese Prozessgegenstände typisch für Prozesse von Institutionen gegen Bürger waren. Auch in der Untersuchung von Steinbach / Kniffka ergaben sich die höchsten durchschnittlichen Erfolgsquoten in Prozessen um Räumung von Wohnungen (95%) und Darlehensverträge (ca. 90%).389 Dies bestätigt auch Grafik 5.71. nur Berlin-Zentrum 100

Mittelwert Erfolgsquote

90 80 70 Bürger

60

sozialistische Institution

50 Wohnungs- delikt. Kaufsachen Schaden- vertrag ersatz

Dienstleistung

Darlehen/ Kredite

Herausgabe Sachen

(Fälle gewichtet)

Grafik 5.71390: Durchschnittliche Erfolgsquote nach Prozessgegenstand und Status des Klägers

In nahezu allen Prozessgegenständen erzielten klagende Institutionen z. T. deutlich höhere durchschnittliche Erfolgsquoten als klagende Bürger. Diese wiederum erzielten ihre höchsten Erfolge ebenfalls in Prozessen um Wohnungssachen. Aus den unterschiedlichen Erfolgsquoten von Bürgern und Institutionen könnte eine Bevorzugung der letzteren gefolgert werden. Eine nähere Betrachtung ergibt jedoch, dass nicht der Status, sondern der genaue Konfliktgegenstand ausschlaggebend war.391 389 Der Prozessgegenstand „Versorgungsleistungen“ existiert in dieser Erhebung nicht, so dass kein Vergleich möglich ist. Elmar Steinbach / Rolf Kniffka, Strukturen des amtsgerichtlichen Zivilprozesses (wie Anm. 27), S. 162. 390 Die Fälle, in denen um Versorgungsleistungen gestritten wurde, sind nicht dargestellt, da sie nur 7 Bürger betrafen.

E. Einzelne Aspekte

339

Genauer untersucht werden konnten Prozesse um Wohnungssachen, die in jeder Konstellation mit vielen Fällen vorhanden waren.392 Bei diesen erreichten Bürger im Durchschnitt um 10% geringere Erfolgsquoten als klagende Institutionen. Eine differenzierte Betrachtung dieses Prozessgegenstandes ergab darüber hinaus, dass die Kläger in beiden Statusgruppen hauptsächlich Vermieterforderungen stellten (Räumung, Mietzahlung). Auch wenn nur diese Vermieterforderungen betrachtet wurden, erreichten institutionelle Kläger um rund 10% höhere Erfolgsquoten. Zweifel an der Annahme einer Bevorzugung der Institutionen durch die Gerichte weckte zum einen die Tatsache, dass die Differenz von 10% nur relativ gering war, bei einer grundsätzlichen Benachteiligung der privaten Vermieter jedoch ein größerer Wert zu erwarten gewesen wäre. Die Erfolgsquote von Bürgern in Wohnungssachen war außerdem immer noch sehr hoch. Zum anderen könnten verschiedene weitere Gründe für die Differenz verantwortlich sein: Den privaten Vermietern könnten ältere und damit für Mängeleinreden „anfälligere“ Häuser gehört haben oder sie könnten öfter Untervermieter mit einer daraus folgenden anderen Konfliktstruktur gewesen sein. Schließlich könnten sie, weil sie die Wohnungsvermietung nicht hauptberuflich betrieben bzw. betreiben konnten, ihre Vermieterrechte einfach weniger professionell ausgeübt haben. Besonders groß war die Differenz der Erfolgsquoten von Bürgern und Institutionen in Prozessen um Darlehen. Auch hier lagen wahrscheinlich verschiedene Konfliktstrukturen vor. Während die Institutionen hauptsächlich leicht zu belegende Raten für Teilzahlungskredite einklagten, sind private Darlehensvereinbarungen potentiell strittiger in ihrer Auslegung und anfälliger für unbelegte Tilgungsbehauptungen. Die größte Differenz zwischen den Erfolgsquoten klagender Bürger und klagender Institutionen bestand allerdings bei Streitigkeiten um die Herausgabe von Sachen. Diese verringerte sich auch nicht, wenn jene Prozesse herausgenommen wurden, bei denen ein Zusammenhang mit Teilzahlungskreditklagen vermutet wurde: Genau in der Zeit der Teilzahlungskredit-Kampagne von 1960 war eine starke Häufung von institutionellen Herausgabeklagen zu erkennen,393 bei denen wohl die auf Kredit finanzierte Ware herausverlangt wurde. Auch wenn aus den hier erhobenen Daten nicht ermittelt werden konnte, was die Kläger im Einzelnen herausverlangten, können wieder verschiedene zugrunde liegende Konfliktstrukturen angenommen werden. Unter Bürgern wird es oft um materiell unbedeutende, dafür aber stark emotional besetzte Werte gegangen sein. 391 Die Erfolgsquote von Bürgern bei Prozessen um Versorgungsleistungen erlaubt aufgrund der verständlicherweise geringen Fallzahlen keine Rückschlüsse. In dieser Sache klagten Bürger nur im Ausnahmefall. Die dienstleistungsvertraglichen Prozesse wurden meistens in den Anfangsjahren des Untersuchungszeitraums von Privatbetrieben geführt, so dass auch hier wegen geringer Fallzahlen keine Bewertung der Differenz der Erfolgsquoten vorgenommen werden kann. 392 Bürger klagten in 455 Fällen in Wohnungssachen, Institutionen in 1.177 Fällen. 393 Auf eine grafische Darstellung wird hier verzichtet.

340

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

Bei den kaufvertraglichen Prozessen erhellte die genaue Aufschlüsselung des Gegenstandes die Unterschiede zwischen den Erfolgsquoten der verschiedenen Kläger: Während Institutionen fast ausschließlich den nicht gezahlten Kaufpreis einforderten, was regelmäßig Erfolg versprechend war, machten Bürger vermehrt Gewährleistungsrechte und „sonstige“ Rechte geltend, die schwerer zu belegen und deshalb tendenziell weniger erfolgreich einzufordern sind. Es blieb nun noch die Differenz zwischen den Erfolgsquoten in Klagen auf Schadensersatz zu erklären. Keine Bedeutung hatte dabei, dass nur unter Bürgern auf Unterlassung geklagt wurde, die Erfolgsquote war dort etwa so hoch wie bei Konflikten um sonstigen Schadensersatz. Gegen eine systematische Bevorzugung der Institutionen durch die Gerichte sprach, dass auch diese bei Klagen wegen Schäden an sozialistischem Eigentum im Durchschnitt recht niedrige Erfolgsquoten erzielten (76%). Mangels detaillierter Kenntnisse über die Streitgegenstände konnte die trotz allem bleibende Differenz nicht interpretiert werden. Die sozialistischen Betriebe hatten also insbesondere aus zwei Gründen meist Erfolg: Zum einen machten sie eine Vielzahl von gleichen Forderungen geltend, konnten also professionell und koordiniert handeln. Zum anderen machten sie meist unstrittige Forderungen geltend. Gegen die Einforderung von Zahlungsrückständen konnten die Bürger regelmäßig nichts einwenden, sodass die Prozesse als Inkassoverfahren reibungslos und für die Betriebe und Institutionen erfolgreich verliefen. In der Bundesrepublik scheinen diese Verfahren einen niedrigeren Anteil zu haben und auch von Firmen mehr strittige Prozesse geführt zu werden, was sich wiederum negativ auf die Erfolgsquote auswirkt. Die niedrige durchschnittliche Erfolgsquote der wenigen Bürger, die gegen sozialistische Betriebe und Institutionen im Untersuchungsgebiet vorgingen, ist hingegen äußerst auffällig.394 Hier wirkte sich zum einen aus, dass in diesen Verfahren noch häufiger intensiv gestritten wurde. Zum anderen senkten hier tatsächlich strukturelle Benachteiligungen der Bürger ihre Erfolgsaussichten.395 Es zeigte sich, dass die höheren Erfolgsquoten klagender Institutionen zum größten Teil darauf zurückzuführen sind, dass jene in anderen Prozessgegenständen klagten bzw. dass sie inhaltlich ganz andere Prozesse führten, z. B. zum großen Teil Inkassoprozesse.396 In einer Diskriminanzanalyse wurde zusätzlich getestet, ob und wie stark andere Variablen den Erfolg des Klägers bestimmten. Keine Variable, insbesondere nicht der Status des Klägers, hatte demzufolge einen nennens394 In dieser Konstellation wurden im Durchschnitt Erfolgsquoten von 46% erzielt; vgl. die Angaben in Tabelle 417 in der Datensammlung (wie Anm. 12). 395 Im Einzelnen: Dietmar Kurze, Sozialistische Betriebe und Institutionen als Verklagte im DDR-Zivilprozess (wie Anm. 21). 396 Eine Varianzanalyse ergibt, dass der Status des Klägers, bereinigt um die Einflüsse des Prozessgegenstandes und des Status des Verklagten, kaum Einfluss auf die Erfolgsquote hat.

E. Einzelne Aspekte

341

werten Einfluss auf den Erfolg im Prozess. Mit anderen Worten: Die Erfolgsquote des Klägers wurde auch im DDR-Zivilprozess hauptsächlich von der Konfliktstruktur des Falles bestimmt, weniger von anderen Einflüssen. Aus unseren Daten kann daher nicht auf eine systematische Bevorzugung klagender Institutionen im Zivilprozess geschlossen werden.

2. Einfluss rechtsanwaltlicher Vertretung Nahe liegend war auch die Vermutung, die Erfolgsquote könnte davon abhängig gewesen sein, ob die Parteien sich im Prozess von einem Rechtsanwalt vertreten ließen. Beschränkte man die Analyse auf Prozesse unter Bürgern,397 verbesserte eine anwaltliche Vertretung die Erfolgsquote für die Kläger von durchschnittlich 68% auf 74%. Ebenso verhielt es sich bei den Verklagten: Wenn sie in Begleitung eines Rechtsanwalts erschienen, sank die Erfolgsquote der Kläger auf durchschnittlich 51%, ohne einen Rechtsanwalt stieg sie auf 72%.398 Die niedrigsten Erfolgsquoten wurden erzielt, wenn ein Kläger ohne Rechtsanwalt gegen einen Verklagten mit Rechtsanwalt prozessierte (49%) – dies geschah aber auch in den seltensten Fällen; die höchsten Erfolgsquoten erreichte die umgekehrte Konstellation. Ebenfalls keine hohe Erfolgsquote ergab sich aber auch, wenn beide Parteien einen Rechtsanwalt bemühten (52%).399 Sicher kann auch in der DDR professionelle rechtliche Beratung die Chance, einen Prozess zu gewinnen, erhöht haben. Allerdings können auch andere Faktoren Einfluss gehabt haben. Auffällig ist, dass sich klagende Bürger vermehrt bei geschäftlichen Tätigkeiten, also Vermietungen, Kauf-, Dienstleistungs- und Darlehensverträgen, vertreten ließen. Bei diesen Inkassosachen war die Erfolgsaussicht schon aufgrund der Konfliktlage hoch. Bei schadensersatzrechtlichen Verfahren, etwa nach Verkehrsunfällen, beauftragten die Kläger dagegen nur selten einen Rechtsanwalt. Wurden nur die potentiell streitigen Nichtzahlungsklagen (wie erbrechtliche Prozesse, Herausgabe- und Unterlassungsverfahren) betrachtet, so ergab sich eine vollkommen ausgeglichene Erfolgsverteilung zwischen rechtsanwaltlich vertretenen und nicht vertretenen klagenden Bürgern. Dass die vertretenen Verklagten seltener unterlagen, mag ein Verdienst der Rechtsanwälte gewesen sein. Es wird sich aber auch ausgewirkt haben, dass die Verklagten in den Fällen, in denen sie sowieso keine Chance zur erfolgreichen Ver397 Da die Institutionen sehr selten einen Anwalt hinzuzogen und die Fallzahlen für die Privatbetriebe ohnehin zu klein waren. 398 Beide Entwicklungen sind hoch signifikant. 399 Der Einfluss der Anwaltsvertretung auf die Erfolgsquote wurde auch von der Varianzanalyse als vorhanden, wenngleich als sehr gering angegeben (R2 = 0,011).

342

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

teidigung sahen, auch keinen Rechtsanwalt beauftragten, denn in der DDR wurde selten versucht, durch den Prozess einen Zahlungsaufschub zu erreichen.

3. Einfluss der Schichtzugehörigkeit der Parteien In den Prozessen unter Bürgern war in nur 831 Fällen die Zuordnung des Klägers zu einer sozialen Schicht möglich. Wurden diese nach ihren Erfolgsquoten im Zivilprozess getrennt betrachtet, fiel auf, dass Angehörige der untersten Schichten erstens generell seltener als Kläger auftraten und zweitens im Durchschnitt niedrigere Erfolgsquoten (64% gegenüber mehr als 70% in allen anderen Schichten) erreichten. Der signifikante Zusammenhang zwischen der Schicht des Klägers und seiner Erfolgsquote wird jedoch verzerrt, weil nicht alle Schichten gleichartige Prozesse führten. Statt diejenigen Verfahrensgegenstände auszusondern, die das Bild verzerren,400 wurden hier mittels einer Varianzanalyse Einflüsse anderer Variablen wie des Prozessgegenstands ausgeschaltet.401 Das Ergebnis fiel ganz im Sinne der Nullhypothese aus: Die Schicht des Klägers hatte als Einzelfaktor keinen Einfluss auf die Erfolgsquote. Als nächstes interessierte die Verklagtenseite. Zunächst fiel hier eine deutlich andere Verteilung der Schichten auf. Die Unterschichten fanden sich wie im Zivilprozess der BRD deutlich häufiger auf der Verklagtenseite. Außerdem konnte auf der Verklagtenseite aus immerhin 1.292 Akten die Schichtzugehörigkeit bestimmt werden. Hier zeigten sich deutlichere Hinweise auf eine Benachteiligung der unteren Schichten: In Prozessen unter Bürgern erzielte man die höchsten Erfolgsquoten, wenn man Angehörige der untersten Schichten verklagte (88%). Diese lagen signifikant höher als in Prozessen gegen Angehörige der oberen Schichten (64%), die aber generell seltener verklagt wurden. Den geringsten Erfolg erreichte man offensichtlich, wenn man als Angehöriger der unteren Mittelschichten einen Angehörigen der oberen und Mittelschichten verklagte. Am aussichtsreichsten war es, als Angehöriger der oberen und Mittelschichten jemanden aus der oberen Unterschicht zu verklagen. Wieder ergab jedoch eine Varianzanalyse, dass ein Zusammenhang unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Prozessgegenstände nicht vorlag. Der Eindruck, die Unterschichten verlören als Verklagte öfter, ergab sich also dadurch, dass Unterschichtangehörige an anderen Prozessarten beteiligt waren. 400 So wie z. B. Rolf Bender / Rolf Schumacher, Erfolgsbarrieren vor Gericht (wie Anm. 258), S. 18 ff. 401 Dadurch erhält man für die Schicht des Klägers einen Signifikanztest, der korrigiert ist um die verzerrenden Effekte, die sich aus unterschiedlichen Verfahrensgegenständen in unterschiedlichen Schichten ergeben.

E. Einzelne Aspekte

343

Natürlich sind die Prozesse, die jemand führt, durchaus auch von seiner Schichtzugehörigkeit abhängig. Dann besteht der Nachteil aber nicht in Erfolgsbarrieren vor Gericht, sondern in einer gesellschaftlichen Ordnung, die Unterschichtangehörige prozessual in eine nachteilige Position bringt. Außerdem kann eine statistische Untersuchung wie die unsere nicht ausschließen, dass es eventuell doch einzelne Personengruppen geringen Umfangs gab, die bevorzugt oder benachteiligt wurden (z. B. so genannte „Asoziale“ oder hohe Funktionsträger). Es lässt sich nur als generelle Tendenz an der Hypothese festhalten, dass im Zivilprozess der DDR im Allgemeinen ohne Ansehen der sozialen Stellung geurteilt wurde.

4. Einfluss der Aktivität im Prozess Als Indikatoren für die Aktivität, die von den Parteien im Prozess gezeigt wurde, wurden die Beweisaufnahme, die Zahl der Schriftsätze, die Zahl der Termine und die Anwesenheit der Parteien im Prozess gewählt. Diese vier Faktoren zusammen beeinflussten die Erfolgsquote des Klägers in geringem Ausmaß, mehr noch in Prozessen unter Bürgern als in Prozessen von Institutionen gegen Bürger.402 Wenn Bürger sich also aktiv mit ihrem Prozess beschäftigten, konnten sie damit durchaus Einfluss auf den Erfolg ihrer Klage (oder Verteidigung) nehmen, in Prozessen von Institutionen war dies für verklagte Bürger schon schwerer. Hier kommen wieder die unterschiedlichen Konfliktstrukturen als erklärende Größen in Frage; bei den meist eindeutig darlegbaren Forderungen der Institutionen hätte auch die aktivste Verteidigung nichts genutzt. Den größten Einfluss hatten die Zahl der Schriftsätze (nur in Prozessen unter Bürgern) und die Anwesenheit der Parteien, bei den Prozessen von Institutionen hatte auch die Zahl der Termine einen gewissen Einfluss. a) Zahl der Schriftsätze Die Erfolgsquoten in Prozessen mit verschiedenen Zahlen von Schriftsätzen unterschieden sich in Prozessen unter Bürgern signifikant voneinander. Es lag jedoch keine lineare Korrelation vor. Mit einer durchschnittlichen Erfolgsquote von 84% waren solche mit nur einem Schriftsatz (wahrscheinlich der Klageschrift des Klägers) die erfolgreichsten Prozesse. Je mehr gestritten wurde, desto tiefer sank die Erfolgsquote. Da die meisten Prozesse unter Bürgern offenbar so streitig waren, dass drei und mehr Schriftsätze eingereicht wurden, sank so die durchschnittliche Erfolgsquote aller Prozesse unter Bürgern.403 402 R = 0,204 für Prozesse unter Bürgern, R = 0,138 für Prozesse von Institutionen gegen Bürger. 403 Die wenigsten Prozesse unter Bürgern kamen ohne Schriftverkehr der Parteien aus; in diesen wurden mit 38% die niedrigsten Erfolgsquoten dieser Konstellation erzielt.

344

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

In Prozessen von Institutionen gegen Bürger spielte die Zahl der Schriftsätze der Parteien dagegen keine große Rolle, jedoch lagen auch hier die Erfolgsquoten signifikant niedriger, sobald die Intensität des Schriftverkehrs stieg. Diese Fälle waren dann wahrscheinlich keine schematisch erledigten Inkassoprozesse mehr, so dass auch die Ansprüche der Institutionen eher erfolgreich bestritten werden konnten.

b) Anwesenheit der Parteien In Prozessen unter Bürgern waren in den meisten Fällen beide Parteien anwesend, hier wurden im Durchschnitt Erfolgsquoten von 70% erreicht. Signifikant erfolgreicher mit 94% waren die Kläger nur, wenn der Verklagte nicht zum Termin erschien (dann erging ein Versäumnisurteil, welches auch zu den höchsten Erfolgsquoten führte). In Prozessen von Institutionen gegen Bürger waren etwa gleich häufig beide Parteien oder nur der Kläger anwesend. Im letzten Fall wurde in der Regel durch Versäumnisurteil entschieden, bei denen der Kläger vollen Erfolg erzielte. Die durchschnittliche Erfolgsquote lag daher in diesen Prozessen bei 94%, erschien der Verklagte zur Verhandlung, sank sie auf 89% ab. Signifikant niedriger lag in Prozessen von Institutionen gegen Bürger nur die Erfolgsquote in Fällen, in denen keiner anwesend war (63%). Dies kam insgesamt selten vor und hat daher wenig Einfluss auf die generell hohe Erfolgsquote klagender Institutionen.

c) Zahl der Termine In den meisten Fällen benötigten die Richter für Prozesse unter Bürgern nur einen Termin. In diesen Verfahren war die Sachlage wohl klar und eigentlich unstreitig, weshalb hier auch mit 78% die signifikant höchsten Erfolgsquoten erzielt wurden. In Verfahren ohne Termin wurde die Klage wahrscheinlich oft vom Kläger zurückgezogen oder vom Richter zurückgewiesen, so dass hier die niedrigsten Erfolgsquoten (56%) vorlagen. In Prozessen von Institutionen gegen Bürger hatte die Zahl der Termine einen geringen Einfluss auf die Erfolgsquote. Hier erreichten die Kläger auch nach zwei Terminen noch beachtlich hohe Erfolgsquoten (88% gegenüber 92% nach einem Termin), signifikant niedriger lagen diese erst bei Verfahren mit noch mehr Terminen oder ganz ohne einen (66%).

E. Einzelne Aspekte

345

d) Beweisaufnahme Obwohl die Erhebung von Beweisen wenig direkten Einfluss auf die Erfolgsquote der Kläger hatte, ließen sich doch signifikante Unterschiede zwischen Verfahren mit und ohne Beweisaufnahme feststellen. In Prozessen unter Bürgern fiel die Erfolgsquote von durchschnittlich 74% auf 63%, sobald Beweise erhoben wurden. Dies deutet darauf hin, dass in diesen Fällen die Beweise von den Verklagten beigebracht wurden, die sich verteidigten. Es zeigte sich ebenfalls eine deutliche Zunahme an Prozessen mit Beweisaufnahme, die mit einem Teilerfolg endeten. In Prozessen von Institutionen gegen Bürger spielte die Beweisaufnahme dagegen keine Rolle. Die Erfolgsquote stieg zwar von 88% auf 89%, sobald Beweise erhoben wurden; was darauf schließen lässt, dass hier entweder der Kläger die Beweise vorlegte oder das Sich-Wehren gegen die Institution vom Richter nicht gern gesehen wurde. Der Anstieg war aber minimal und nicht signifikant.

5. Fazit Die Fälle aus den im Projekt erhobenen Akten endeten meist mit vollem Erfolg für den Kläger. Damit stimmten sie mit den Daten der Statistiken des Ministeriums der Justiz überein. Worauf lässt sich die Höhe der Erfolgsquote im Zivilprozess der DDR zurückführen? Prozesse unter Bürgern und Prozesse von Institutionen gegen Bürger lassen sich wegen völlig gegensätzlicher Konfliktstrukturen nur bedingt miteinander vergleichen. Als entscheidend für die von den Klägern erreichte Erfolgsquote stellte sich daher der Prozessgegenstand heraus. Dabei konnte es aber nicht nur darum gehen, aus welchem Bereich (Miete, Kauf, Kredit) der Konfliktgegenstand kam, sondern auch darum, welche Forderungsrichtung verfolgt wurde. Diese wiederum ergab sich aus der Rolle der Parteien bei der prozessauslösenden Beziehung. Während die sozialistischen Institutionen ähnlich wie Firmen in kapitalistischen Systemen grundsätzlich leistungsgewährend (als Vermieter, Verkäufer oder Kreditgeber) auftraten, war ein größerer Anteil der klagenden Bürger in einer anderen Rolle, nämlich nicht leistungsgewährend, am Konflikt beteiligt (z. B. als Nachbar, Ehepartner, Gebrauchtwarenkäufer). Die Struktur der Konflikte war also gänzlich verschieden. Andere untersuchte Faktoren wie die Beauftragung eines Anwalts oder die Aktivität im Prozess wirkten sich nur in geringem Maße auf die Erfolgsquote des Klägers aus. War nur eine Seite anwaltlich vertreten, so hatte diese bessere Chancen im Prozess. In Prozessen unter Bürgern steigerten die Beteiligten ihre Erfolgsaussichten ein wenig, wenn sie ihre Sache aktiv vertraten. Sobald die Zahl der Schriftsätze oder der Termine stieg, sank die durchschnittliche Erfolgsquote des Klägers signifikant

346

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

ab. In diesen Fällen repräsentieren die betrachteten „Aktivitäts-“Variablen auch ein hohes Streitpotential der betreffenden Prozesse, in denen die Sach- oder die Rechtslage nicht eindeutig waren und verweisen damit wieder auf eine andere, weniger Erfolg versprechende Konfliktstruktur. Die soziale Schicht hatte dagegen keinen Einfluss auf den Erfolg, wobei zu beachten bleibt, dass Angehörige der niedrigeren Schichten in der DDR wie in der Bundesrepublik generell öfter verklagt wurden.

F. Vom Inkasso- zum Feierabendprozess. Der „typische“ DDR-Zivilprozess In den vorangegangenen Kapiteln wurden die verschiedenen Arten von Zivilprozessen in der DDR beschrieben. Versucht man nun im Sinne einer Gesamtbetrachtung den „typischen“ Prozess zu benennen, so gerät man schnell in Schwierigkeiten. Einige Charakteristika konnten herausgearbeitet werden und sind schnell benannt: Der DDR-Zivilprozess war kurz und unkompliziert. Die kurzfristig anberaumten und ausführlichen mündlichen Verhandlungen machten umfangreichen Schriftverkehr überflüssig. Erzieherische Maßnahmen und staatsanwaltliche Überwachung spielten in Diskrepanz zu ihrer Präsenz im juristischen Schrifttum eine verschwindend geringe Rolle. Lediglich in den Arten der Verfahrensbeendigung zeigte sich der Wille, durch das gerichtliche Verfahren Konflikte nicht nur zu entscheiden, sondern zu lösen: Es gab viele Vergleiche, Einigungen und Klagerücknahmen, hingegen nur wenige Urteile. Ein näherer Blick offenbarte allerdings: Hier wurde weitgehend ein Etikettenschwindel betrieben. Bei Vergleichen, Einigungen und Klagerücknahmen erzielte der Kläger meist einen 100-prozentigen Erfolg. Der Verklagte hatte die Forderung regelmäßig anerkannt. Der Unterschied zum bundesdeutschen Anerkenntnis- oder Versäumnisurteil war marginal und, soweit sich das im Nachhinein absehen lässt, ohne weitere Auswirkungen. Dies alles waren Eigenschaften des DDR-Zivilprozesses. Zur Charakterisierung des „typischen“ Zivilprozesses ist es jedoch notwendig, den Konflikt zu beschreiben: Wer klagte gegen wen, und worum? Eine umfassende Einheitlichkeit wurde aus zwei Gründen nicht festgestellt: Zum einen gab es personell und vom Prozessgegenstand her verschiedene Gruppen von Verfahren. Zum anderen lag nach 40 Jahren DDR eine zeitliche Komponente vor, die eine umfassende Verallgemeinerung erschwerte. Dennoch konnten, auch mit statistischen Mitteln, Entwicklungslinien aufgedeckt werden, die selbstverständlich vergröbern müssen, aber so doch einen Überblick über die „typischen“ Zivilprozesse der DDR geben können. Diese Linien werden im Folgenden nachgezeichnet.

F. Vom Inkasso- zum Feierabendprozess

347

I. Einleitung In der Bundesrepublik ist die Konfliktursache in gestörten Kauf-, Miet- und Werk- oder Dienstvertragsverhältnissen meist einfach auszumachen: Der Leistungsempfänger (Käufer, Mieter) zahlt nicht (den Kaufpreis, die Miete, den Werklohn). Klagt nun der Leistungserbringer auf Zahlung, kann er seine Ansprüche meist problemlos durch Urkunden (Vertrag, Rechnung) dokumentieren und hat entsprechenden Erfolg. Oft sind die Kläger in der Bundesrepublik so genannte „Vielfachprozessierer“ – also professionell organisierte Unternehmen.404 Der Beklagte kann gegen die Forderung des Klägers nur selten etwas einwenden.405 Es wird bei solchen Prozessen von der „Inkassofunktion der Justiz“ gesprochen.406 Gab es nun auch in der DDR einen „Inkassoprozess“? Die Angabe der Kodierer, zeitweise seien ihnen Hunderte von Akten gleicher Art – Klagen auf „Miete“, „Miete und Räumung“, „Zahlung bei durch Teilzahlungskrediten finanzierten Käufen“ und „Zahlung wegen eines Versorgungsvertrages (Strom / Gas)“ – durch die Hände gegangen, deutet darauf hin. Auch in der rechtswissenschaftlichen Literatur der DDR wurden in diese Richtung gehende Erscheinungen erkannt.407 Mit den uns vorliegenden Daten wurde versucht die Frage zu beantworten, ob auch der Zivilprozess der DDR eine Inkassofunktion hatte und welche Merkmale diese Art von Prozessen besaß. Zur Auswertung wurde allerdings eine Definition für Inkassoprozesse benötigt, die erlaubt, eine „Wenn-Dann-Beziehung“ herzustellen, d. h.: Wenn eine oder mehrere Variablen in bestimmten Ausprägungen gegeben sind oder in einer Kombination vorliegen, kann ein Inkassoprozess angenommen werden. Eindeutige („Inkasso-“)Rechtsverhältnisse können bei Zahlungsklagen bestehen. Zunächst war deshalb der Klagegegenstand zu betrachten: Es wurde auf die genaue Kodierung mit 46 Ausprägungen zurückgegriffen und nicht die aggregierte Variable betrachtet. Ausgewählt wurden hieraus alle Zahlungsklagen, also Klagen auf Zahlung von Miete, Kaufpreis, Dienstleistung etc.408 Dies ergab folgendes Bild:

Rolf Bender / Rolf Schumacher, Erfolgsbarrieren vor Gericht (wie Anm. 258), S. 71, 76. Lässt man soziale Belange außen vor, die auf den Prozess grundsätzlich keinen Einfluss haben. 406 Rainer Schröder, Zivilprozess in der DDR: Vorurteil und Realität, in: ders. (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. I (wie Anm. 1), S. 108 m. w. N. 407 Herbert Kietz / Manfred Mühlmann, Konfliktursachen und Aufgaben der Zivil- und Familienrechtspflege, Berlin (Ost) 1969. 408 Ausgewählt wurden: Rückständige Miete, Rückständige / Künftige Miete, Räumung wegen gröblicher Rechtsverletzung, Räumung wegen Mietrückstands, Kaufpreis, Vergütung Dienstleistung, Darlehen, Teilzahlungskredite, andere Kredite, Versorgungsleistungen, Kaufvertrag mit Teilzahlungskredit. 404 405

348

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung 90

80

70

Anteil am Jahrgang

60

50

40

30 48

51

54

57

60

63

66

69

72

76

80

84

88

Jahrgang

Grafik 5.72: Anteil der Zahlungsklagen an allen Prozessen

Es kann jedoch nicht angenommen werden, dass immer, wenn Zahlung verlangt wird, der Verklagte außer persönlichem Unvermögen rechtlich nichts vorzutragen hat. Die Fälle mussten noch weiter gefiltert werden. Wenn der Verklagte nichts prozessual Relevantes einzuwenden hatte, so sollte der Inkassokläger einen „vollen Erfolg“ erringen. Von den Zahlungsklagen wurden also alle diejenigen abgezogen, die nicht mit einem „vollen Erfolg“ endeten.409 Danach traten voller Erfolg und Zahlungsklagen signifikant häufig zusammen auf.410 90 80 70 60

Anteil am Jahrgang

50 40 30 20 48

51

54

57

60

63

66

69

72

76

80

84

88

Jahrgang

Grafik 5.73: Anteil der Zahlungsklagen mit vollem Erfolg an allen Verfahren 409 Für diese Definition spricht auch eine Auswertung der Residuen, die die Stärke des Zusammenhangs zwischen dem Erfolg des Klägers und dem Prozessgegenstand anzeigen. 410 Eine Ausnahme bilden Prozesse um die Vergütung von Dienstleistungen, die relativ geringen Erfolg haben. Kläger sind hier meist Privatbetriebe. Es handelt sich um einen typischen Nachkriegsverfahrensgegenstand mit niedriger Erfolgsquote.

F. Vom Inkasso- zum Feierabendprozess

349

Immer noch konnte die Eingrenzung aber nicht als vollständig gelten, denn auch nach grundsätzlich erheblichen Einwendungen des Verklagten kann der Kläger noch voll obsiegen. Eine Sortierung nach Vielfach- und Einfachprozessierern war nicht möglich: Aus der einzelnen Akte ging nicht hervor, wie oft der Kläger schon vor Gericht gegangen war und noch weniger, ob er es vielleicht noch tun würde. Die Variable „Status“ auszuwerten hätte bedeutet, eine These als Kriterium zu nehmen, nämlich dass etwa nur Institutionen oder Privatbetriebe Vielfachprozessierer waren. Dass Bürger (in der DDR) aber keine Vielfachprozessierer waren, ist bisher nirgends festgestellt worden. Es wurde also an einer anderen Stelle angesetzt: der „Standardsituation“. Zu vermuten war, dass Inkassoprozesse im Allgemeinen relativ schnell abgehandelt wurden. Dies würde auf die Fälle zutreffen, die gar keinen oder nur einen Termin benötigten, in denen der Verklagte also ohne Verhandlung zahlte oder nach der ersten Verhandlung dazu bewegt wurde (in welcher Weise auch immer; durch Urteil oder 100%-Vergleich). Die Variable wurde also verfeinert: Jetzt sollten alle Zahlungsklagen mit vollem Erfolg und mit einem Verhandlungstermin und ohne einen Termin eingeschlossen sein. (verfeinert) 90 80 70 60

Anteil am Jahrgang

50 40 30

Zahlungsklagen

20

Inkassoprozesse

10 48

54 51

60 57

66 63

72 69

80 76

88 84

Jahrgang

Grafik 5.74: Anteil der Zahlungsklagen und Inkassoprozesse

Weitere Einschränkungen ließen sich aus den erhobenen Daten nicht machen. Im Folgenden konnte also mit zwei Arten von Prozessen gearbeitet werden: einerseits den Zahlungsklagen im Allgemeinen und andererseits den Zahlungsklagen mit vollem Erfolg und höchstens einem Verhandlungstermin, die „Inkassoprozesse“ genannt werden sollen. Es ist zu erkennen, dass Inkassoklagen in großer Zahl vorkamen und einen beträchtlichen Anteil an allen Prozessen hatten. Die Differenz zu den Zahlungsklagen ergab sich ungefähr je zur Hälfte aus Verfahren mit einem „Teilerfolg“ oder „kei-

350

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung nur Berlin-Zentrum 700 600 500

absolute Werte

400 300

Zahlungsklagen

200

Inkassoprozesse

100

alle Verfahren

0 48

54 51

60 57

66 63

72 69

80 76

88 84

Jahrgang (Fälle gewichtet)

Grafik 5.75: Zahlungsklagen, Inkasso- und alle Prozesse

nem Erfolg“ und aus solchen mit mehr als einem Termin. Sie bestand in relevanter Größe zumindest bis 1957. Die Verfahren, die keine Inkassoprozesse, aber doch Zahlungsklagen waren, ließen sich nicht eindeutig zuordnen. Es ist durchaus möglich, dass sie als Inkassoklagen gedacht waren, aber ohne vollen Erfolg und zügigen Abschluss endeten. Eventuell wurden sie von den neu organisierten sozialistischen Institutionen zunächst ineffektiv und rechtlich unbedarft geführt. Dafür sprach, dass diese Gruppe von Verfahren kontinuierlich und ab 1957 deutlich abnahm, die Institutionen also ihre Arbeit in dieser Zeit professionalisiert haben könnten. Im Weiteren wurden den Inkassoprozessen die Nicht-Zahlungsklagen gegenübergestellt, die kleine Gruppe dazwischen kann vernachlässigt werden.

II. Inkassoklagen 1. Status der Inkassokläger Jetzt war es interessant zu sehen, von wem die Zahlungs- und Inkassoklagen im DDR-Zivilprozess hauptsächlich betrieben wurden. Waren es nur die Institutionen und Privatbetriebe? Tatsächlich machten Inkassoklagen von Institutionen mit 76,8% aller Inkassoklagen den größten Anteil aus, an zweiter Stelle standen aber schon Klagen von Bürgern mit 15,6%, während Privatbetriebe nur 7,6% aller Inkassoprozesse führten. In Grafik 5.76 ist deutlich zu sehen, dass die Institutionen die Inkassoklagen der Privatbetriebe ab 1951 übernahmen. Ab diesem Jahrgang sprang der Anteil der sozialistischen Institutionen von knapp 40% auf über 80% am Jahrgang, 1969 und 1988 stieg der Anteil sogar auf über 90%. Es schien daher legitim, die folgenden

F. Vom Inkasso- zum Feierabendprozess

351

Betrachtungen auf Prozesse von Institutionen gegen Bürger zu beschränken (da Bürger mit Abstand die größte Gruppe der von Institutionen Verklagten bilden). Diese Prozesskonstellation hatte innerhalb der Inkassoklagen mit 75% den größten Anteil. Es soll aber auch nicht übersehen werden, dass ein dauerhafter Anteil von Inkassoklagen von Bürgern stammte (15% aller Inkassoklagen), der erst im Jahrgang 1988 auf unter 10% absank. 100 90 80 70 60

Anteil am Jahrgang

50 40

Privatbetriebinkasso

30 20

Staatsinkasso

10

Privatinkasso

0 48

54 51

60 57

66 63

72 69

80 76

88 84

Jahrgang

Grafik 5.76: Anteil der verschiedenen Inkassoprozesse an allen Inkassoprozessen

2. Prozessgegenstände der Inkassoklagen Inkassoprozesse von Institutionen gegen Bürger wurden fast ausschließlich wegen Wohnungssachen, Versorgungsleistungen und Teilzahlungskrediten gegen Bürger geführt, was bis 1972 in drei aufeinander folgenden Kampagnen geschah.411 Der einzige Prozessgegenstand, der nach 1972 noch in nennenswerter Zahl auftrat, waren Wohnungssachen. Oben wurde schon gezeigt, dass hier Klagen auf rückständige und künftige Miete ab Ende der 60er Jahre zum Teil in großer Anzahl geführt wurden.412 Trotzdem machten diese Prozesse nur noch ein Drittel aller Wohnungsprozesse aus, die anderen Prozessgegenstände verschwanden fast komplett aus dem Prozessalltag.

411 412

Vgl. Kapitel 5 – Ergebnisse der Untersuchung, C. VI., S. 258 ff. Vgl. Kapitel 5 – Ergebnisse der Untersuchung, C. II. 3., S. 232 ff.

352

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

III. Nicht-Zahlungsklagen nur Berlin-Zentrum 700 600 500 400

absolute Werte

300 200

Nicht-Zahlungsklagen

100 alle Verfahren

0 48

54 51

60 57

66 63

72 69

80 76

88 84

Jahrgang (Fälle gewichtet)

Grafik 5.77: Nicht-Zahlungsklagen und alle Prozesse

Nicht-Zahlungsklagen machten offenbar erst ab einschließlich 1972 einen größeren Anteil an allen Verfahren aus. In den Jahrgängen davor war die Differenz zur Zahl aller Verfahren noch sehr groß. Der Anteil der Nicht-Zahlungsklagen an allen Verfahren413 lag bis 1954 bei über 30%, sank in den frühen 60er Jahren auf bis zu 20% ab und stieg ab 1972 auf bis zu 64% im Jahrgang 1980.

1. Status der Nicht-Zahlungskläger Die Zahlungs- bzw. Inkassoklagen hingen, wie oben ausgeführt, mit der Beteiligung der Institutionen zusammen. Nicht-Zahlungsklagen wurden dagegen hauptsächlich (68,1%) unter Bürgern geführt. In nur 18,4% dieser Verfahren klagten Institutionen gegen Bürger. Im aus dem Rahmen fallenden Jahrgang 1960 klagten die Institutionen fast ausschließlich auf Herausgabe von Sachen, wahrscheinlich im Zusammenhang mit den Prozessen um Teilzahlungskredite, die zwischen 1960 und 1963 kampagnenartig geführt wurden.414 Man könnte in diesen Fällen also mit einiger Sicherheit von „verdeckten“ Inkassoklagen sprechen, auch wenn hier nicht Zahlung, sondern Herausgabe der nicht bezahlten Sache verlangt wurde.

413 414

Vgl. die Angaben in Grafik 55 in der Datensammlung (wie Anm. 12). Vgl. Kapitel 5 – Ergebnisse der Untersuchung, C. IV., S. 246 f.

F. Vom Inkasso- zum Feierabendprozess

353

nur Berlin-Zentrum 200

150

absolute Werte

100

Bürger gegen Bürger

50

Institution gegen Bürger 0 48

54 51

60 57

66 63

72 69

80 76

88 84

Jahrgang (Fälle gewichtet)

Grafik 5.78: Parteikonstellationen in Nicht-Zahlungsklagen

2. Prozessgegenstände der Nicht-Zahlungsklagen Es sollte weiter herausgefunden werden, welche Klageziele bei den Nicht-Zahlungsklagen verfolgt wurden und von wem. Dazu wurden nur die Nicht-Zahlungsklagen ausgewählt und ihr genauer Forderungsgegenstand analysiert. 100 90 80 70

Sonstiges

60

Herausgabe von Sachen

Anteil am Jahrgang

50 Dienstleistungsvertrag

40

Kaufvertrag

30 20

deliktischer Schadenersatz

10 Wohnungssachen

0 48

54 51

60 57

66 63

72 69

80 76

88 84

Jahrgang

Grafik 5.79: Anteile der Prozessgegenstände an allen Nicht-Zahlungsklagen unter Bürgern

Grafik 5.79 zeigt, dass besonders in den ersten Jahrgängen des Untersuchungszeitraums die Nicht-Zahlungsklagen unter Bürgern durch den Prozessgegenstand „Sonstiges“ dominiert wurden.415 Der bestimmende Anteil der „sonstigen“ Pro415 Für detailliertere Aussagen darüber, worum hier gestritten wurde, können der Tabelle 466 in der Datensammlung die genauen Prozessgegenstände der Nicht-Zahlungsklagen entnommen werden (wie Anm. 12).

354

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

zessgegenstände im ersten Zeitabschnitt der Grafik 5.79 kann auf die vielen Familiensachen, die noch vor den Zivilkammern „wilderten“, zurückgeführt werden. Interessanter ist die Zeit ab 1972, da sich hier eine wesentliche Änderung im DDR-Zivilprozess abzuzeichnen scheint: Zum einen schwand der Anteil der Zahlungs- und Inkassoklagen, zum anderen sank die Zahl der Klagen insgesamt in dieser Zeit. Die größten Anteile an den Nicht-Zahlungsklagen ab 1972416 hatten die Schadensersatzklagen, Klagen auf Herausgabe und die „sonstigen Zivilsachen“. Zu den letzteren kann zunächst nur so viel gesagt werden, dass sie zu 44% aus Familiensachen bestanden. In Nicht-Zahlungsprozessen unter Bürgern vor 1972 wurde am häufigsten um Wohnungssachen, Sonstiges, Schadensersatz und Herausgabe von Sachen gestritten. Im Vergleich zu den Häufigkeiten nach 1972 waren besonders Streitigkeiten um Dienstleistungsverträge und Sonstiges (was auch Familiensachen einschließt) überrepräsentiert, während Prozesse um Schadensersatz und Kaufvertrag auffällig selten auftraten. Streitigkeiten um Schadensersatz, Kaufverträge und Herausgabe von Sachen zählten damit zu den „typischen“ Prozessgegenständen des Zivilprozesses nach 1972 unter Bürgern.

IV. Clusteranalyse Mit der Methode der Clusteranalyse konnten die Charakteristika der Zivilprozesse noch weiter in verschiedene Gruppen differenziert werden. In der Clusteranalyse werden, stark vereinfacht, Fälle mit ähnlichen Merkmalsausprägungen, also ähnliche Konfliktkonstellationen, zusammengefasst. Es entstanden sowohl bei der Analyse mit 37 ausgewählten Variablen als auch bei der mit allen Variablen417 vier gut voneinander abgetrennte Cluster, die sich nur in der Größe leicht unterschieden.418 Der dritte und kleinste Cluster wurde in der Grafik nicht dargestellt. Er ist von der Größe und der Zusammensetzung von untergeordneter Bedeutung. Er enthält insbesondere im Vorfeld der Verhandlung erledigte Prozesse verschiedenster Art.

416 In Tabelle 467 in der Datensammlung (wie Anm. 12) finden sich Angaben zu den Prozessgegenständen in Prozessen unter Bürgern von 1948 bis 1969 und von 1972 bis zum Ende des Untersuchungszeitraums. 417 Eine Varianzanalyse ergab keine differenzierende Wirkung für einige Variablen, die nur in sehr wenigen Fällen gegeben waren: Klägerin / Verklagte Hausfrau (19 bzw. 63 Fälle), Kläger- / Verklagtenklasse Bauer (1 bzw. 13 Fälle), Kläger- / Verklagtenschicht Oberschicht (0 bzw. 1 Fall). Diese Variablen wurden aus der Analyse ausgeschlossen. 418 In Anhang 6, S. 399 befindet sich eine tabellarische Übersicht der Cluster mit den Anteilen der jeweils interessierenden Variablen.

F. Vom Inkasso- zum Feierabendprozess

355

70 60 50 40

30

Cluster 1 (vorwiegend Prozesse von Wohnungsunternehmen)

20

Cluster 2 (sonstige Inkassoprozesse) 10

Cluster 4 (typische „Feierabend“Prozesse)

0 48

54 51

60 57

66 63

72 69

80 76

88 84

Jahrgang

Grafik 5.80: Anteile der Haupt-Cluster an den einzelnen Jahrgängen

1. Charakterisierung der Cluster Der erste Cluster umfasste 1.166 Fälle und damit 24% des Datensatzes. Hier fanden sich ausschließlich Prozesse von Betrieben und Institutionen gegen Bürger, wobei es sich fast immer um Wohnungsunternehmen handelte. Diese klagten in der Regel auf Räumung wegen Mietrückstands (die, wie festzustellen war, fast nie durchgesetzt wurde) oder rückständige und künftige Miete. Die Verhandlung ging auch meist recht schnell voran und benötigte meist nur einen Termin. In der Hälfte der Fälle erschien der bzw. die Verklagte gar nicht erst zur Verhandlung. Endete das Verfahren einmal nicht mit einem der weit verbreiteten 100%-Vergleiche, bei denen dem Kläger alles zugesprochen und mit dem Verklagten Ratenzahlung vereinbart wurde, erging ein Versäumnisurteil. Relativ häufig nahm der Kläger aber auch seine Klage zurück, ohne dass sich dies auf die Erfolgsquote niedergeschlagen hätte. Fast alle dieser Prozesse gingen auf Zahlungsklagen der Wohnungsunternehmen zurück, 74% wurden als Inkassoprozesse eingeordnet (hatten also vollen Erfolg und benötigten nur einen Termin). Die Hälfte dieser Prozesse versammelte sich in den Jahrgängen 1954 und 1957, in denen die Klagewelle der Wohnungsunternehmen über die Ost-Berliner Zivilgerichte rollte. Obwohl dieser Cluster fast ausschließlich aus Prozessen von Wohnungsunternehmen gegen Bürger bestand, befanden sich doch nicht alle Prozesse von Wohnungsunternehmen gegen Bürger in diesem Cluster (nur 90%; die restlichen Prozesse dieser Art befinden sich in Cluster 3). Es liefen also offensichtlich nicht alle Prozesse in dieser Konstellation nach dem gleichen Muster ab. Der typische Prozess dieses Clusters war der einer allein stehenden Frau aus einfachen Verhältnissen, die ihre Miete nicht mehr gezahlt hatte. Sie wurde von der KWV wiederholt gemahnt, reagierte aber nicht. Schließlich erhob die KWV Klage auf zukünftige und rückständige Miete (bzw. besonders in den frühen Jahrgängen

356

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

auf Räumung wegen Mietrückstands). Die Mieterin und ein Vertreter der KWV erschienen zum Prozess, sie gestand dort ein, dass sie nicht gezahlt habe und erklärte sich bereit, die zukünftige und rückständige Miete zu bezahlen. Also erging ein entsprechender gerichtlicher Vergleich. Inwieweit die Frau beispielsweise vom Richter gedrängt worden war, einen Vergleich abzuschließen, ist den Akten leider nicht zu entnehmen. Aus den Terminbüchern der Gerichte ist aber bekannt, dass derartige Wohnungssachen im 10-Minuten-Takt terminiert wurden. Der zweite Cluster umfasste 1.679 Fälle und damit 34,4% aller Akten. Hier fanden sich diejenigen Inkassoprozesse, die von Nicht-Wohnungsunternehmen geführt wurden, neben Inkassoklagen von Bürgern. Sozialistische Betriebe und Institutionen traten hier vor allem als Versorgungsunternehmen und staatliche Organe auf (fast 80% aller volkseigenen Versorgungsunternehmen sowie 76% aller sozialistischen Genossenschaften befanden sich in diesem Cluster). Daneben waren aber noch mehr Bürger zu verzeichnen, die vor allem als Vermieter registriert wurden (und andere, die von den Kodierern als Selbständige eingeordnet wurden), und Privatbetriebe. So versammelten sich die klagenden Privatbetriebe mit einem Anteil von 54% am häufigsten in diesem Cluster, während in Cluster Nr. 4 nur 25% von ihnen vertreten waren. Fast alle Prozesse um Kaufverträge mit Teilzahlungskrediten, die von der HO eingeklagt wurden, erschienen in diesem Cluster, daneben die Hälfte aller Prozesse um Kaufpreise und die Vergütung von Dienstleistungen, was ebenfalls auf die Beteiligung von Betrieben schließen lässt. Die privaten Vermieter klagten vor allem auf Räumung wegen Rechtsverletzung oder Eigenbedarfs, seltener auf Zahlung rückständiger Miete. Die Prozesse aus diesem Cluster verteilten sich hauptsächlich auf drei zeitliche Phasen. Dies waren die ersten beiden Jahrgänge, in denen Privatbetriebe noch zahlreich vertreten waren, sowie die Jahre 1963 sowie 1969, in denen die Versorgungsunternehmen ihre Gas- und Wasserrechnungen bzw. staatliche Organe wie die Sparkassen die von ihnen gewährten Teilzahlungskredite in Kampagnen einforderten. Die Forderungen waren in den meisten Fällen unstreitig, worauf die sehr niedrige Rate der Beweiserhebung (in 9% der Prozesse) und die kurzen Urteile hindeuteten (im Durchschnitt 1,3 Seiten). Die Prozesse waren daher schnell abgeschlossen, häufig erschienen die Verklagten nicht zur Verhandlung (in 45% der Fälle). Taten sie es, wurde ein Vergleich mit vollem Erfolg für den Kläger geschlossen. Im dritten Cluster, das nur 829 Fälle bzw. 17% der Akten umfasste, versammelten sich im Vorfeld der Verhandlung erledigte Prozesse der verschiedensten Art. Ihnen allen gemein waren die mehrheitliche Beendigung durch Klagerücknahmen, sehr kurze Urteile und Prozesse ohne Termin, außerdem eine sehr niedrige Erfolgsquote mit einem hohen Anteil von erfolglosen Prozessen. Der Anteil nicht abgeschlossener Prozesse war in diesem Cluster mehr als dreimal so hoch wie in der Gesamtstichprobe.

F. Vom Inkasso- zum Feierabendprozess

357

Die Prozessgegenstände verteilten sich relativ gleichwertig auf Wohnungssachen, Schadenersatzforderungen und Sonstiges (worin meist Familiensachen und unberechtigt erlangte Leistungen gefasst sind). Die Kläger waren sowohl Bürger wie auch Institutionen und Privatbetriebe, wobei hier anscheinend diejenigen zusammengefasst wurden, deren Forderungen keinen Erfolg hatten oder die die Verklagten nicht einfach akzeptierten. Immerhin reichten 40% der Verklagten wenigstens einen Schriftsatz ein. In diesem Cluster waren ebenfalls fast zwei Drittel aller Verfahren zu verzeichnen, in denen eine einstweilige Verfügung beantragt worden war, sowie überdurchschnittlich viele vorausgegangene Mahnverfahren (26%). Auffällig waren auch der hohe Anteil der Selbständigen an den Klägern und Verklagten (je 38%) sowie ein überdurchschnittlich hoher Anteil von Angehörigen der oberen Schichten an den Verklagten (16%). Zeitlich erstreckten sich die Prozesse in diesem Cluster relativ einheitlich über den gesamten Untersuchungszeitraum, mit einer Ausnahme in den 60er Jahren, wo der Anteil der Inkassoprozesse im ersten Cluster sehr hoch lag und die im Vorfeld erledigten Prozesse verdrängte. In diesem Cluster fanden sich diejenigen Fälle, in denen eine außergerichtliche Einigung stattfand oder in denen der Kläger nach erneuter Prüfung der Rechtslage keine Chance auf Erfolg mehr sah. Es wurde natürlich in den Akten eher selten angegeben, warum der Kläger seine Klage zurückzog. Bei staatsnahen Gläubigern, vor allem Wohnungs- und Versorgungsunternehmen, ist aber bekannt, dass häufig Forderungen zu Unrecht geltend gemacht wurden, weil die Verwaltung sich geirrt hatte. In solchen Fällen waren die Gerichte äußerst großzügig bei der Gebührenfestsetzung.419 Eine andere Gruppe von Prozessen bildeten die vielen Verfahren mit Parteien aus dem westlichen Ausland. Ob hier aus politischen Gründen zwangsbeendete oder absichtlich verschleppte Prozesse vermutet werden können, bei denen hauptsächlich das Gesicht des sozialistischen Staats gewahrt werden sollte, kann allerdings anhand der vorliegenden Daten nicht entschieden werden. Dies würde jedenfalls die eindeutig niedrigeren Erfolgsquoten der Kläger aus dem Ausland und der BRD erklären (19% bzw. 40% gegenüber 57% der Ost-Berliner Kläger).420 Der vierte und letzte Cluster umfasste 24,8% (1.212 Fälle), die als typische „Feierabend“-Prozesse unter Bürgern charakterisiert werden können (81% der Kläger und 88% der Verklagten waren Bürger). Außerdem wurden hier noch die 419 Vgl. Thomas Kilian, Einführung in eine „Geheimwissenschaft“ – Ein Blick hinter die Kulissen der empirischen Sozialforschung im Projekt „Zivilrechtskultur der DDR“, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. II (wie Anm. 61), S. 195 – 251; ders., Ein „Volksnahes Verfahren“? – Der DDR-Zivilprozess in den Augen studentischer Codierer, in: Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. III (wie Anm. 92), S. 91 – 116. 420 Aufgrund der geringen Anzahl der Fälle, in denen der Kläger nicht aus Ost-Berlin stammte, kann keine Aussage über die Signifikanz dieses Zusammenhangs gemacht werden.

358

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

meisten der Prozesse von Bürgern gegen Institutionen eingeordnet (66%). Die Parteien trugen hier echte Konflikte aus, was sich in langen, terminreichen Verhandlungen mit intensiver Beweisaufnahme (in 58% der Prozesse) und hohen Streitwerten niederschlug. Die Prozessgegenstände waren vielfältig und reichten von den unvermeidlichen Wohnungssachen über als „Sonstiges“ kodierte Streitigkeiten (hauptsächlich Familiensachen, aber auch viele Erbschaftskonflikte), Schadenersatz und Herausgabe von Sachen. Vor allem Erbschaftsstreitigkeiten, die manchmal sehr verbissen geführt wurden, trieben den durchschnittlichen Streitwert in die Höhe. Bei genauer Betrachtung der Streitgegenstände und der extrem niedrigen Inkassorate zeigte sich, dass hier viele Mieter und Untervermieter vor Gericht erschienen, die auf Räumung wegen Eigenbedarfs oder Rechtsverletzung oder wegen Instandhaltung klagten. Die Verklagten wehrten sich zum Teil heftig gegen die Ansprüche der Kläger und reichten in fast jedem Fall einen oder mehrere Schriftsätze ein. Sie nutzten mehr als doppelt so häufig die Rechtsantragsstelle (zu 29%) und beauftragten mehr als dreimal so oft einen Rechtsanwalt (zu 23%) wie in der Gesamtstichprobe. Fast alle Prozesse, in denen Widerklage erhoben wurde, befanden sich in diesem Cluster. Dementsprechend wurden die meisten Verfahren mit echten Vergleichen beendet, bei denen beide Parteien teilweise obsiegten. Fast genauso häufig kam es aber auch zu Sachurteilen, die meist erfolgreich, oft aber auch ohne Erfolg für den Kläger ausgingen. Der zeitliche Verlauf der Prozesse in diesem Cluster entsprach fast exakt demjenigen der Nicht-Zahlungsklagen sowie (auf einem niedrigeren Niveau) demjenigen aller Prozesse unter Bürgern.

2. Zwischenergebnis Die vorgestellten vier Cluster liefern einen gewissen Überblick über die hauptsächlich unterscheidbaren Prozesstypen im Zivilprozess der DDR, die sich aus den Merkmalen vieler verschiedener Variablen zusammensetzten: die Inkassoprozesse der Wohnungsunternehmen, die Inkassoklagen aller anderen Unternehmen und der Bürger, die typischen Feierabend-Prozesse der Bürger sowie die im Vorfeld erledigten Prozesse. Letztere (Cluster 3) ergaben als kleinste und uneinheitliche Gruppe nur wenige Möglichkeiten zur Charakterisierung des DDR-Prozesses und können hier eher vernachlässigt werden. Die anderen Cluster entsprachen der Differenzierung in Inkasso- und Nichtzahlungsklagen und ergänzten sie. Der vierte Cluster umschreibt die Nichtzahlungsklagen näher. Cluster 1 und 2 zeigen Inkassoklagen, wobei differenziert werden kann: Die Mietklagen der sozialistischen Wohnungsverwaltungen bilden eine eigene Gruppe, in der anderen sammeln sich die Klagen der anderen staatlichen Versorger. Allerdings fanden sich in diesem Cluster fast zur Hälfte Inkassoklagen

F. Vom Inkasso- zum Feierabendprozess

359

von Privaten. Dies waren zunächst noch Selbständige, später meist Vermieter. Bei den Inkassoklagen dominierten die sozialistischen Betriebe und Institutionen demnach zwar deutlich, jedoch wurde auf dieser Art und Weise auch von Privaten vorgegangen.

V. Fazit: Vom Inkasso- zum Feierabendprozess 70

60

50

Anteil am Jahrgang

40

30 Nicht-Zahlungsklagen

20 Inkassoprozesse

10 48

54 51

60 57

66 63

72 69

80 76

88 84

Jahrgang

Grafik 5.81: Anteil der Inkasso- und Nicht-Inkassoprozesse

Ab 1954 hatte sich ein DDR-typischer Zivilprozess herausgebildet, der sich zum größten Teil als Inkassoprozess charakterisieren lässt. Ab 1972 verlor dann der Zivilprozess als Inkassoinstrument weitgehend seine Bedeutung und auch die Betriebe und Institutionen zogen sich in diesem Zusammenhang weitgehend aus den Verfahren zurück. Übrig blieb ein Zivilprozess, der sich im Wesentlichen mit privaten Konflikten zwischen Bürgern befasste und auf den deshalb die Bezeichnung „Feierabendrecht“ passt. Der ursprünglich 1958 von dem Justitiar der Deutschen Notenbank Rüdiger421 „erfundene“ Begriff des Feierabendrechts wurde von Göhring 1986 wieder aufgenommen, der damit gegen weitere Ausgliederungen aus dem Zivil421 Er kritisierte damit 1958 bei einer „Wissenschaftlichen Beratung im Ministerium der Justiz über die Schaffung eines Zivilgesetzbuches“, dass das persönliche Eigentum als Ausgangspunkt des ZGB genommen werde und das Familien- und das Arbeitsrecht ausgeschlossen wären. Wissenschaftliche Beratung im Ministerium der Justiz über die Schaffung eines Zivilgesetzbuches, in: NJ 1958, S. 738 – 741, S. 740; auf den Bericht Rüdigers verwiesen Joachim Göhring / Martin Posch (Leiter des Autorenkollektivs), Grundfragen des sozialistischen Zivilrechts (= Grundriß Zivilrecht, Heft 1), 1. Auflage, Berlin (Ost) 1977, S. 65 Fn. 26.

360

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

recht plädierte.422 Tatsächlich hatte sich der Wandel schon weitgehend vollzogen: Das Wirtschaftsrecht war schon lange aus dem Zivilrecht ausgegliedert. Klagen von Bürgern gegen sozialistische Betriebe und Institutionen waren erschwert und somit selten geworden. Beim größten Teil der Inkassoverfahren der staatlichen Versorger hatte man erzieherische Ziele aufgegeben und andere Wege als die gerichtliche Forderungsverfolgung gewählt. Die Mahn- und Verwaltungsverfahren wurden insbesondere bei Teilzahlungskrediten und vom ÖPNV ausgiebig genutzt. Lediglich bei Wohnungsmieten hielt man am Gerichtsweg fest, dies aber wohl mehr aus ideologischen denn aus Gründen der Effektivität. Übrig blieben Gerichtsverfahren unter Bürgern, die aus deren privatem Alltag entsprangen: Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall, Unterlassungen im privaten Bereich, Herausgabeverlangen und kaufvertragliche Ansprüche aus persönlichen Differenzen oder als Ausläufer der Schattenwirtschaft.

G. Schlussbemerkung: Diktaturprozesse? Die Formel, die diesem Buch den Namen gibt, vom Inkasso- zum Feierabendprozess, beschreibt den DDR-Zivilprozess und seine Entwicklung am besten. Mit dieser Beschreibung ist aber die Frage (noch) nicht beantwortet, ob der Zivilprozess in einer Diktatur diktaturspezifische Züge aufweist. Ist also der Prozess in einer Diktatur ein Diktaturprozess? Noch weiter ausgreifend muss man fragen, welche Bedeutung Zivilprozesse in einer Diktatur (noch) hatten? Es empfiehlt sich, die erste deutsche (viel schlimmere) Diktatur mit einzubeziehen und generell zu überlegen, warum Inkasso- und Feierabendrecht so relativ gut und ,normal‘ funktionieren. Der Vergleich des Rechts in Diktaturen gehört zu den spannendsten Materien, welche die juristische Zeitgeschichte momentan zu bieten hat – zumal hier, für die Rechtsgeschichte selten, die wissenschaftliche Diskussion eine politische Bedeu422 Er machte in Erinnerung an die Diskussion um die Abspaltung des Wirtschaftsrechts darauf aufmerksam, dass damals „auch extreme Auffassungen zum Zivilrecht vertreten“ worden seien, „die seine gesellschaftliche Bedeutung sehr gering“ eingeschätzt hätten, „was z. B. in der Formulierung ,Feierabendrecht‘ zum Ausdruck“ gekommen sei. Joachim Göhring (Leiter des Autorenkollektivs), Erfahrungen bei der Verwirklichung des Zivilgesetzbuches, Berlin (Ost) 1986, S. 25; dort verweist er freilich nicht auf die NJ 1958, sondern auf das unter seiner Leitung herausgegebene Lehrbuch – Zivilrecht Teil 1, Berlin (Ost) 1981, S. 56 ff.; nach 1990 wurde der Begriff zur Beschreibung des Zivilrechts der DDR wieder aufgenommen, z. B. von Johannes Klinkert, Das persönliche Eigentumsrecht im ZGB, in: Jörn Eckert / Hans Hattenhauer (Hrsg.), Das Zivilgesetzbuch der DDR vom 19. Juni 1975 (wie Anm. 293), S. 128; Gerhard Dilcher, Vom Bürgerlichen Gesetzbuch zu den „Rechtszweigen“ – Sozialistische Modernisierung oder Entdifferenzierung des Rechts?, in: ders. (Hrsg.), Rechtserfahrung DDR. Sozialistische Modernisierung oder Entrechtlichung der Gesellschaft?, Berlin 1997, S. 89 – 133, insb. S. 116. Dilcher verweist auch auf Horst Kellner, Probleme des Gegenstandes des sozialistischen Zivilrechts, in: NJ 1974, S. 196 – 201, der aber den Begriff des Feierabendrechts nicht verwandte, sondern vielmehr vom „Recht der Reste“ sprach, S. 196.

G. Schlussbemerkung: Diktaturprozesse?

361

tung haben würde. In Bezug auf das Zivilrecht muss man ernüchternd konstatieren: Diktaturen lassen nur die Konflikte zu, die sie nicht gefährden. Weil sowohl Inkasso- als auch Feierabendkonflikte für die Diktatur (nur in Ausnahmefällen) eine Gefährdung darstellen, kümmerte sich die DDR nicht darum. Diktaturen wollen nicht instabil werden, indem sie zumindest teilweise unabhängigen Gremien Entscheidungen überlassen, deren Ausgang sie nicht sicher vorhersehen können. Selbst wenn die Zivilgerichte wie in der DDR einer starken Lenkung und Anleitung ausgesetzt waren, so bargen ihre Entscheidungen doch das Risiko, dass unabhängige Geister wenig konforme Entscheidungen erließen. Statt den Gerichten die – wenn auch nur formale – Freiheit zu nehmen, entzog man ihnen die brisanten Materien. Konsequent gingen beide Diktaturen den Weg, die wichtigen – je unterschiedlichen – politischen Materien den Gerichten zu entziehen.423 So konnte Botur zeigen, wie alle möglichen Ansprüche gegen das Reich den Gerichten entzogen und auf die gut steuerbaren Verwaltungsbehörden übergeleitet wurden. Diese erwiesen sich dieses ,Vertrauens‘ bis hin zur den Geschehnissen um den 9. – 11. November 1938 als ,würdig‘, indem sie alle Ansprüche der Regimegegner abwiesen, diejenigen der ,alten Kämpfer‘, die behaupteten, in der „Systemzeit“ Schäden erlitten zu haben, hingegen wohlwollend prüften. Das gilt auch für weite Bereiche der Amtshaftung, wo (theoretisch) Fälle anhängig gemacht werden konnten, die mit den politischen Vorstellungen nicht übereinstimmten, so dass die Gerichte zu unerwünschten Entscheidungen hätten kommen können.424 Nicht dass solche Entscheidungen wahrscheinlich gewesen wären, denn der Rechtsstab unterliegt in einer Diktatur formell wie informell einem erheblichen Druck. Also nicht wahrscheinlich, aber möglich. Die anderen Mechanismen, wie man politisch unerwünschte Fälle von den ,ordentlichen‘ Gerichten in der DDR fernhielt, sind bereits beschrieben. In der DDR war alles, was mit dem System Wirtschaft und mit ihrer Steuerung zusammenhing, extrem politisch. Daher errichteten die Verantwortlichen Vertragsgerichte für ein ,neues‘ Rechtsgebiet, das Wirtschaftsrecht, welches sich auf die Rechtsbeziehungen, vor allem der VEB und Kombinate untereinander und auf deren Verhältnis zu Plan und Staat bezog. Die Beschreibung der Tätigkeit der Vertragsgerichte in westlichen Kategorien fällt nicht leicht. Vielleicht ist eine ,gerichtsähnliche Verwaltungsinstanz‘ mit privat- und öffentlichrechtlichen, sowie Bußgeldkompetenzen eine unschöne, aber zutreffende Beschreibung. Die Bezeichnung als Gericht trifft jedenfalls die Funktion nicht. Zumeist ging es um Planerfüllung und -durchset423 Andre Botur, Privatversicherung im Dritten Reich, Zur Schadensabwicklung nach der Reichskristallnacht unter dem Einfluß nationalsozialistischer Rassen- und Versicherungspolitik (= Berliner Juristische Universitätsschriften, Zivilrecht, Bd. 6), Berlin 1995. 424 Bezogen auf die DDR: Petra Thiemrodt, Die Entstehung des Staatshaftungsgesetzes der DDR. Eine Untersuchung auf der Grundlage von Materialien der DDR-Gesetzgebungsorgane mit zeitgeschichtlichen Bezügen (= Rechtshistorische Reihe, Bd. 315), Frankfurt a.M. 2005.

362

Kap. 5: Ergebnisse der Untersuchung

zung, also eher um Verwaltung und Organisation, aber nicht um subjektive Rechte. Bereiche von wirtschaftlicher und politischer Relevanz waren und wurden somit aus dem bürgerlichen Recht bzw. Zivilrecht ausgegliedert. Eine entsprechende Einbindung der Wirtschaft kannte auch das Dritte Reich, das zwar keine stringente Wirtschaftspolitik vorlegte, doch ,die‘ Wirtschaft völlig konsequent in den Dienst der Kriegsvorbereitung stellte.425 Auch hier wurden wirtschaftlich relevante Sachverhalte nicht mehr durch Gerichte entschieden, sondern Gesetze und Verordnungen, wie der Vierjahresplan, gaben klare Richtlinien vor. Eine Rolle spielte der zunehmend korporatistische Charakter der Wirtschaft, die Organisation in (Reichs-)Fachgruppen, die direkte Einflussnahme der Partei bis hin zum Freundeskreis Heinrich Himmlers, die Bereicherungsmöglichkeiten im Rahmen der „Arisierung“, dies alles ließ die Bereitschaft zum gerichtlich ausgetragenen Konflikt sinken.426 Jede Diktatur definiert ihre Feinde selbst. Auf den rassistischen Ansatz der Nationalsozialisten folgte in der DDR die Perhorreszierung allen privaten Vermögens an Produktionsmitteln. In der DDR waren es (auch) wirtschaftliche Fragen, die einen extrem hohen politischen Stellenwert hatten. Konsequent wurden hier Abweichungen von der Parteilinie ebenso scharf bekämpft wie in Fragen politischer Opposition. Im Grunde – und deshalb kann man sich hier auf einen kurzen Schluss beschränken – wird man ein ähnliches Ergebnis bei allen Diktaturen sehen: Nur das politisch irrelevante ,Feierabendrecht‘ und das politisch unverdächtige Inkasso bleiben untangiert. Hier funktioniert das Zivilrecht als Konfliktlösungsmechanismus mehr oder minder gut weiter. Das gilt auch für den Prozess, sofern es sich um ein Land handelt, in dem es schon zuvor eine entsprechende Rechtskultur gegeben hatte. Ob die Nationalsozialisten mit ihrer Rechtsverachtung noch weitergegangen wären, hätte ihre Diktatur ebenso lange bestanden wie die DDR, ist im Grunde müßig zu spekulieren. Die DDR jedenfalls ging strukturell den Weg vom Staatsinkasso durch Zivilrecht bis hin zum Feierabendrecht. Als Exkulpation taugt und taugte die (teilweise) ,Normalität‘ des Zivilrechts für keine der beiden Diktaturen. Wie ich schon in der Celler Studie geschrieben habe427 – die Richterinnen und Richter befanden sich in einem Dilemma: Wer redlich 425 Rainer Schröder, Steuerung der Wirtschaft durch Rechtsauslegung, in: Dieter Gosewinkel (Hrsg.), Wirtschaftskontrolle und Recht in der nationalsozialistischen Diktatur (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 180; Das Europa der Diktaturen, Bd. 4), Frankfurt a.M. 2005, S. 91 – 106; Johannes Bähr / Ralf Banken (Hrsg.), Wirtschaftssteuerung durch Recht im Nationalsozialismus. Studien zur Entwicklung des Wirtschaftsrechts im Interventionsstaat des „Dritten Reiches“ (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 199; Das Europa der Diktaturen, Bd. 9), Frankfurt a.M. 2006. 426 Und trug nebenher zur Senkung der Prozessrate bei. Ansatzweise Schilderung bei Rainer Schröder, „. . . Aber im Zivilrecht sind die Richter standhaft geblieben!“ Die Urteile des OLG Celle im Dritten Reich (wie Anm. 2).

G. Schlussbemerkung: Diktaturprozesse?

363

und korrekt die Zivilrechtsfälle abarbeitete, stützte das Regime, auch wenn sie oder er nur ,kassierend‘ oder in Feierabendfällen tätig war. Diese Fälle waren für die Parteien wichtig und indem die Richterinnen und Richter das taten, gerieten sie in ein unentrinnbares Dilemma.

427 Rainer Schröder, „. . . Aber im Zivilrecht sind die Richter standhaft geblieben!“ Die Urteile des OLG Celle im Dritten Reich (wie Anm. 2).

Anhang Anhang 1: Zeittabelle zur deutschen und DDR-Geschichte (1945 – 1990) 1945 8.5. 17.7. – 2.8. 3.-11.9.

Bedingungslose Kapitulation Deutschlands; Vierteilung Berlins Potsdamer Konferenz der Alliierten Verordnungen der Länder und Provinzialverwaltungen zur Durchführung der Bodenreform in der SBZ

1946 21. – 22.4.

Gründungsparteitag: KPD und SPD vereinigen sich zur SED

1948 20.3. 18.6. 20.6. 24.6.

Die sowjetischen Vertreter verlassen den Alliierten Kontrollrat Anfang der Blockade West-Berlins (Luftbrücke) Währungsreform in den drei Westzonen Währungsreform in der SBZ

1949 12.5. 23.5.

8.12.

Ende der Blockade West-Berlins Gründung der Bundesrepublik mit Grundgesetz und Regierungssitz in Bonn; Bundespräsident wird Theodor Heuss (FDP), Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) Gründung der DDR mit Verfassung (von der Provisorischen Volkskammer in Kraft gesetzt) und Regierungssitz Ost-Berlin; Staatspräsident wird Wilhelm Pieck (SED), Ministerpräsident Otto Grotewohl (SED) Oberster Gerichtshof und Staatsanwaltschaft der DDR gebildet

1950 29.9.

Aufnahme der DDR in den Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW)

7.10.

1952 23.7. 22.10. 1953 5.3. 30.4. 17.6.

Abschaffung und Aufteilung der fünf Länder der DDR in 14 Verwaltungsbezirke und 217 Kreise Gerichtsverfassungsgesetz der DDR Tod Josef Stalins Verordnung über die Neugliederung und die Aufgaben der Arbeitsgerichte; Gründung der Konfliktkommissionen Volksaufstand in Ost-Berlin und der DDR. Niederschlagung durch das sowjetische Militär

Anhang 1: Zeittabelle 16.7. 1955 20.9.

365

Amtsenthebung Max Fechners als Justizminister, Nachfolgerin wird Hilde Benjamin UdSSR bestätigt „volle Souveränität“ der DDR, Abschluss eines Beistandspakts

1956 27.1.

Aufnahme der DDR in den Warschauer Pakt

1958 29.5.

Abschaffung der Lebensmittelkarten in der DDR

1959 1.10.

Volkskammer beschließt Siebenjahrplan

1960 7.9.

Tod von Pieck; Walter Ulbricht wird Vorsitzender des Staatsrats der DDR

1961 1.7. 13.8. 16.8.

Gesetzbuch der Arbeit tritt in Kraft Beginn des Mauerbaus in Berlin Sperrung der Grenzen der DDR zur Bundesrepublik

1963 15. – 21.1. 24. – 25.6.

1964 21.9. 24.9. 1965 25.2. 15. – 18.12. 1966 1.4. 1967 20.2. 1968 9.4. 1.7. 1971 3.5.

VI. Parteitag der SED, Verabschiedung des Parteiprogramms und des Parteistatuts Wirtschaftskonferenz der SED und des Ministerrats über die „Richtlinie für das neue ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft“ (NÖSPL) Tod Grotewohls Willi Stoph wird Vorsitzender des Ministerrats und Stellvertreter des Vorsitzenden des Staatsrates „Gesetz über das Vertragssystem in der sozialistischen Wirtschaft„ 11. Tagung des ZK der SED beschließt zweite Etappe des „Neuen Ökonomischen System“ (NÖS) Familiengesetzbuch der DDR tritt in Kraft „Gesetz über die Staatsbürgerschaft der DDR“ Kurt Wünsche löst Hilde Benjamin als Justizminister ab Neue DDR-Verfassung tritt nach Volksentscheid in Kraft Neues Strafgesetzbuch und neue Strafprozessordnung treten in Kraft Ulbricht tritt vom Amt des Ersten Sekretärs des ZK der SED zurück, sein Nachfolger wird Erich Honecker. Ulbricht bleibt Vorsitzender des Staatsrats

366 15. – 19.6. 24.6.

1972 21.12.

1973 1.8. 3.10.

1974 27.9.

1976 1.1. 18. – 22.5.

Anhang VIII. Parteitag der SED, ökonomische Politik Ulbrichts wird aufgegeben, die „Einheit von Wirtschaft und Sozialpolitik“ proklamiert Honecker löst Ulbricht als Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrats ab, Direktive für den Fünfjahrplan 1971 – 1975

Unterzeichnung des Grundlagenvertrags in Ost-Berlin Hans Joachim Heusinger löst Wünsche als Justizminister ab

Tod Ulbrichts Stoph wird Vorsitzender des Staatsrats, Horst Sindermann Vorsitzender des Ministerrats

„Gesetz zur Ergänzung und Änderung der Verfassung der DDR vom 7. Oktober 1974“

16.11.

Zivilgesetzbuch und Zivilprozessordnung der DDR treten in Kraft IX. Parteitag der SED beschließt neues Parteiprogramm und -statut sowie Direktive zum Fünfjahrplan 1976 – 1980, Honecker wird Generalsekretär der SED Honecker wird Vorsitzender des Staatsrats, Sindermann Präsident der Volkskammer; Stoph wird wieder Vorsitzender des Ministerrats Wolf Biermann wird aus der DDR ausgebürgert

1978 1.1.

Neues Arbeitsgesetzbuch tritt in Kraft

29.10.

1979 1.8.

3. Strafrechtsänderungsgesetz mit erheblichen Verschärfungen des politischen Strafrechts

1983 29.6.

Milliardenkredit der BRD an die DDR bewilligt

1984 13.2.

Gespräch zwischen Honecker und Bundeskanzler Helmut Kohl in Moskau

1985 11.5.

1987 7. – 11.9.

Michail Gorbatschow wird Generalsekretär der Kommunistischen Partei der SU

Honecker besucht zu einem offiziellen Arbeitsbesuch zum ersten Mal die Bundesrepublik

Anhang 1: Zeittabelle

367

1989 Seit 10. / 11.9. Über 25.000 DDR-Bürger siedeln über Ungarn in die BRD aus 9.10. In Leipzig fordern in einer „Montagsdemonstration“ 70.000 Demonstranten demokratische Erneuerungen, Sicherheitskräfte halten sich erstmals zurück 18.10. Honecker wird von allen Ämtern entbunden, Egon Krenz wird neuer Generalsekretär der SED und (am 24.10.) Vorsitzender des Staatsrates 7.11. DDR-Regierung tritt geschlossen zurück 9.11. Öffnung der Grenzen zur Bundesrepublik und nach West-Berlin 17.11. Neuer DDR-Regierungschef Hans Modrow schlägt der Bundesregierung eine „Vertragsgemeinschaft“ vor 3.12. Politbüro und ZK der SED treten zurück, Honecker wird aus SED ausgeschlossen 1990 18.3. 1.7. 3.10.

Lothar de Maizière wird Ministerpräsident einer Koalitionsregierung aus DDR-CDU, DSU, DA, BFD, DFP, DDR-FDP und DDR-SPD Inkrafttreten der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen DDR und BRD Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland

368

Anhang

Anhang 2: Bilder vom Dachboden des Amtsgerichts Berlin-Mitte (zu DDR-Zeiten Stadtbezirksgericht Mitte), aufgenommen im Jahr 2000 Die Gerichtsakten, die für Historiker eine wahre Fundgrube darstellen, waren bis 1990 lediglich „deponiert“ worden. Die Art und Weise der Aufbewahrung erschwerte die Datenerhebung erheblich. Da diese Akten nur grob geordnet waren, musste jede einzelne herausgesucht und zur Bearbeitung in eine separate Kammer gebracht werden. Dort befanden sich zumindest ein Heizkörper und ein Fenster. Der Dachboden selbst war im Winter kalt und feucht und im Sommer heiß und stickig. Allein die Staubschicht blieb konstant.

Eingestaubte Gerichtsakten

Anhang 2: Bilder

Kartons, in denen die Akten bündelweise lagerten

369

370

Anhang

Der baufällige Dachboden

Anhang 3: Der Erhebungsbogen Die Daten der fast 5.000 Gerichtsakten wurden mit dem hier dargestellten Erhebungsbogen erfasst. Aus jeder einzelnen Akte wurde so eine große Anzahl von Angaben gesammelt. Es handelt sich um eine Access-Oberfläche. Sie erlaubte es, die Daten anschließend in das Statistik-Programm SPSS zu übernehmen. Die technische Handhabung war so relativ unkompliziert.

Anhang 3: Der Erhebungsbogen

371

372

Anhang

Anhang 4: Beispielsakte

373

Anhang 4: Beispielsakte – KWV Prenzlauer Berg . / . Mieter (Aktenzeichen: 351 Z 565 / 76) Auf den folgenden Seiten wird eine anonymisierte Gerichtsakte abgebildet. Der Rechtsstreit aus dem Jahre 1976 zwischen der Kommunalen Wohnungsverwaltung („KWV“) Prenzlauer Berg in Berlin und einem Bürger handelt von Mietschulden und Wohnungsmängeln. Er soll den Gegenstand des Projekts veranschaulichen. Der Rechtsstreit erhielt das Aktenzeichen 351 Z 565 / 76. Mit „351“ wurde die zuständige Kammer bezeichnet – es handelt sich um eine Kammer des Stadtbezirksgerichts BerlinPrenzlauer Berg. Das „Z“ steht für Zivilsachen; das früher übliche „C“ wurde überschrieben. „565 / 76“ bedeutet, dass es sich um den 565. Eingang im Jahr 1976 handelte. Da die Klage am 28. Juli 1976 bei Gericht einging, kann das Jahresaufkommen geschätzt werden: Es könnten ungefähr 1.000 Zivilklagen am Stadtbezirksgericht Prenzlauer Berg im Jahr 1976 anhängig geworden sein. Das Verfahren ist in einigen Punkten typisch für die untersuchten Prozesse, an anderen Stellen hebt es sich ab. In vielen Aspekten zeigen sich charakteristische Merkmale eines DDR-Zivilprozesses. 1. Für die hier untersuchten Prozesse ist die Konflikt- und Prozesskonstellation typisch: Eine Kommunale Wohnungsverwaltung klagte gegen einen Bürger auf Mietzahlungen. Es handelte sich um ein Massengeschäft. Das zeigt schon die Form der Klageschrift. Die Wohnungsverwaltung hatte einen Standardschriftsatz. Dort waren jeweils die richtigen Personen („der Verklagte“, „die Verklagte“ oder „die Verklagten“) sowie die wesentlichen Daten (Höhe der Mietschulden, Beginn und Gegenstand des Mietverhältnisses) einzusetzen. Dies glückte bei der stereotypen Bearbeitung nicht immer: Hier sollte unter Punkt 1 des Klageantrags noch „der Verklagte“ verurteilt werden, jedoch sollten unter Punkt 2 „die Verklagten“ eine Verwaltungsgebühr an die Klägerin zahlen. Kennzeichnend für die untersuchten Verfahren ist auch der schmale Umfang der Akte. Auf die kurze Klage wird vom Verklagten nicht schriftlich erwidert. Nach dem Verhandlungsprotokoll folgt noch eine Nachricht der Klägerin und die Akte wird geschlossen. 2. Der Rechtsstreit hebt sich jedoch von der Masse der Prozesse ab: Der Verklagte hat etwas einzuwenden. Das ist aus dem Protokoll der mündlichen Verhandlung zu ersehen. Der Verklagte macht einen Minderungsgrund geltend. In der Wohnung seien Maurerarbeiten vorzunehmen. Hier erging also nicht schnell ein Urteil, das den Mieter zu Zahlungen anhalten sollte. Der Verklagte sah seine Zahlungspflicht auch nicht ein, so dass eine Einigung nicht wie in vielen anderen Verfahren der Wohnungsverwaltung einen „leichten Sieg“ bescherte. Es bestand ein „echter“ Konflikt. Dies lässt nachvollziehen, wie in der DDR mit Konflikten umgegangen und wie das Zivilrecht angewandt wurde. 3. Ein besondere Möglichkeit im Zivilprozessrecht der DDR war der Antrag der Wohnungsverwaltung: Es wurde nicht nur die rückständige Miete, sondern auch Vorauszahlung verlangt. Dieses Mittel wurde ab den 1970er Jahren letztendlich pragmatisch im Umgang mit unkündbaren aber zahlungsunwilligen Mietern eingesetzt. Es war jedoch politisch und rechtsdogmatisch lange umstritten. Hierauf wurde bereits an anderer Stelle eingegangen.

374

Anhang

In einem bundesrepublikanischen Mietverfahren wird man auch selten Fragen zur Arbeitsstelle des Verklagten finden. In der DDR wurde mit einer solchen Frage dem Amtsermittlungsgrundsatz der Gerichte Rechnung getragen. Das große Interesse der Zivilkammer an einer umfassenden Aufklärung des Sachverhaltes wird auch durch das ausführliche Sitzungsprotokoll deutlich. Demnach ordnete das Gericht an, die Klägerin solle aufklären, warum auf eine Eingabe des Verklagten nichts geschehen sei. Schön ist auch das Bemühen des Verklagten zu erkennen, die handwerkliche Ausbesserung seiner Wohnung selbst in die Hand zu nehmen, da die Wohnungsverwaltung auf die Eingabe nicht reagierte. Allerdings habe der Verklagte erfahren, dass er von der KWV nur „einen Stundenlohn von 4,50 M erhalten würde. Dafür würde es der Maurer aber nicht machen.“ Trotzdem wird deutlich: Bei maroden Wohnungen waren Eigeninitiative und gute Kontakte zum Handwerker-(Schwarz-)Markt notwendig. Hier hat der Mieter offenbar Erfolg mit einer Taktik, die auf Eingaben und Mietzahlungsverweigerung beruhte. Die Klägerin sicherte schließlich zu, die Putzarbeiten durchführen zu lassen. Am Ende der Akte wird noch einmal der Prozessleitungsstil der DDR-Richter deutlich. Die – aufgrund der neuen ZPO ohnehin nicht mehr zulässige – Erledigungserklärung der Klägerin wird formlos in eine Klagerücknahme umgedeutet. Dem Verklagten wird pragmatisch und wohl auch ein wenig bevormundend unterstellt, er sei „aufgrund [seiner] Argumente . . . mit der Klagerücknahme einverstanden.“ Fast auf den Tag genau zwei Monate nach der Klageeinreichung endet das Verfahren.

Anhang 4: Beispielsakte

1. Aktendeckel

375

376

Anhang

2. Kostenrechnung

Anhang 4: Beispielsakte

3. Einlagebogen

377

378

Anhang

4. Klageschrift (2 Seiten)

Anhang 4: Beispielsakte

379

380

Anhang

5. Richterliche Verfügung, Ladung zum Termin

6. Postzustellungsurkunde

Anhang 4: Beispielsakte

7. Sitzungsprotokoll vom 6. 9. 1976 (2 Seiten)

381

382

Anhang

Anhang 4: Beispielsakte

8. Mitteilung der Klägerin über Erledigung der Rechtssache

383

384

Anhang

9. Verfügung: Mitteilung an den Verklagten über Beendigung der Rechtssache

Anhang 4: Beispielsakte

10. Rückseitiger Aktendeckel (innen)

385

386

Anhang

11. Rückseitiger Aktendeckel (außen)

Anhang 5: Erläuterung

387

Anhang 5: Erläuterung der verwendeten statistischen Methoden 1. Grundlegende Begriffe der statistischen Arbeit Für das Beschreiben und Untersuchen bestimmter (quantitativer) Sachverhalte ist das Auffinden geeigneter Daten die unverzichtbare Basis. Dafür bieten sich zwei Wege an: entweder man führt eine Totalerhebung durch und betrachtet somit alle in Frage kommenden Fälle, die interessieren: die Grundgesamtheit. Diesen Weg hatte das Ministerium der Justiz der DDR eingeschlagen. Es sammelte detaillierte Formblätter, die jeder Richter in der DDR über jeden von ihm geführten Zivilprozess ausfüllen musste, und wertete diese statistisch aus. Es ist einleuchtend, dass dieses Vorgehen mit größer werdender Grundgesamtheit zunehmend aufwändiger und teuer wird. Deswegen beschränken sich die meisten statistischen Erhebungen auf einen Ausschnitt aus der Grundgesamtheit, der im Allgemeinen als Stichprobe oder Sample bezeichnet wird. Diese Stichprobe umfasst eine bestimmte Zahl von Merkmalsträgern bzw. Objekten, die nach verschiedenen Auswahlverfahren aus der Grundgesamtheit entnommen wurden. Vorliegend wurde eine Zufallsauswahl getroffen.1 Ziel ist der Rückschluss auf Eigenschaften der Grundgesamtheit aus Eigenschaften der Stichprobe (z. B. der „typische“ DDR-Zivilprozess) oder die Überprüfung von Hypothesen, wie z. B. ob staatsnahe Beteiligte im Zivilprozess bevorzugt wurden. Als Merkmalsträger fungieren in empirischen Untersuchungen in der Regel befragte Personen, im Projekt „Zivilrechtskultur“ sind es Ost-Berliner Zivilprozesse bzw. deren Fixierung in Aktenform. In dem vorliegenden Band werden diese Akten oft in Anlehnung an die Wortwahl des Statistikprogramms SPSS als Fälle bezeichnet. Von den Merkmalsträgern bzw. Fällen zu unterscheiden sind die Variablen. Eine Variable bezeichnet ein Merkmal oder eine Eigenschaft eines Merkmalsträgers bzw. Falles. Im Projekt wurden z. B. die Eigenschaften „Status des Klägers“ oder „Erledigungsart“ als Variablen der jeweiligen Zivilprozesse erhoben. Jede Variable hat mehrere (mindestens zwei) Ausprägungen bzw. Kategorien. Die Variable „Status des Klägers“ hat z. B. die Kategorien „Bürger“, „Privatbetrieb“ und „sozialistische Betriebe und Institutionen“. Dabei ist zu beachten, dass Variablen und Kategorien willkürlich festgelegt werden und keine natürlichen Erscheinungen sind. Der Status „Bürger“ kann wiederum eine Variable mit den Kategorien „Bürger“ und „Nicht-Bürger“ sein.2 Die Untergliederung der Daten in Variablen ist häufig auf mehrere Arten sinnvoll und möglich. Variablen mit nur zwei Kategorien werden als dichotom (z. B. „Bürger“ / „Nicht-Bürger“ bzw. Bürger: Ja / Nein), Variablen mit mehr Ausprägungen als polytom bezeichnet. Nicht als polytom, sondern als stetige Variable wird z. B. der Streitwert bezeichnet, der keine vorher festgelegten Kategorien mehr, sondern viele verschiedene Messwerte enthält. Für die statistische Arbeit mit Variablen ist es oft angebracht, den einzelnen Kategorien Zahlen zuzuweisen (bei stetigen Variablen ist das natürlich nicht nötig). Derart kodierte Kate1 Eine ausführliche Diskussion zu Vor- und Nachteilen von Zufallsstichproben bietet Andreas Diekmann, Empirische Sozialforschung, Reinbek 1995, S. 355. 2 Dieses „Umkodieren“ von Variablen ist für bestimmte Untersuchungs- und Darstellungszwecke wie die Clusteranalyse recht häufig nötig.

388

Anhang

gorien nennt man Werte. Die Variable „Status des Klägers“ kann die Werte 0 (für Bürger), 1 (für Privatbetrieb) oder 2 (für Institution) aufweisen. Weitere Eigenschaften von Variablen ergeben sich aus ihrem Skalen- bzw. Messniveau.

2. Skalenniveaus und ihre Folgen Variablen können auf verschiedenen „Skalenniveaus“ liegen, was entscheidende Unterschiede in der Art der verwendbaren Maßzahlen (das können Mittelwert oder Median sein) und der zulässigen statistischen Tests nach sich zieht.3 Die meisten der Variablen im Projekt Zivilrechtskultur sind nominal skaliert und liegen damit auf dem niedrigsten Messniveau, der Nominalskala. Die Kategorien solcher Variablen stehen in keinerlei quantitativer Beziehung zueinander. Ein Beispiel ist der Status des Klägers. Dieser hat u. a. die Kategorie „Privatbetrieb“, die mit 1 kodiert wurde, und die Kategorie „sozialistische Betriebe und Institution“, die mit 2 kodiert wurde. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Betriebe und Institutionen doppelt so viel „wert“ wären wie Privatbetriebe, ja nicht einmal, dass sie überhaupt mehr wert wären. Die Kategorien könnten auch mit völlig anderen Zahlen oder Buchstaben kodiert werden, sie müssen auch überhaupt nicht kodiert werden.4 Daraus ergibt sich, dass bestimmte Maßzahlen für nominal skalierte Variablen keinen Sinn ergeben. Der arithmetische Mittelwert des Status‘ des Klägers ist eine derartige sinnlose Angabe (SPSS berechnet ihn trotzdem: er lautet 1,02), da die Zahlen, die den Kategorien zugewiesen wurden, keine inhaltliche Bedeutung haben. Außerdem würde sich bei jeder Umkodierung der Variablen das arithmetische Mittel ändern.5 Der einzige für nominal skalierte Variablen zulässige Mittelwert ist der Modalwert, der die am stärksten besetzte Kategorie anzeigt. Dies wären in unserem Beispiel die „sozialistischen Betriebe und Institutionen“. Da in dem Datensatz des Projekts (und in den meisten sozialwissenschaftlichen Datensätzen, da menschliche Verhaltensweisen und / oder Anschauungen selten quantifiziert werden können) fast nur nominal skalierte Variablen vorkommen, ist durch die wenigen sinnvoll anwendbaren Maßzahlen auch die Zahl der möglichen Tests beschränkt, mit denen aus der Stichprobe auf die Grundgesamtheit geschlossen werden kann. Einer der wenigen Tests, die verwendet werden, ist der Chi-Quadrat-Test. Ebenso können (unter bestimmten Voraussetzungen, die an geeigneter Stelle besprochen werden) Cluster- oder Diskriminanzanalysen durchgeführt werden. Auf dem Chi-Quadrat-Wert basieren auch die Zusammenhangsmaße „Cramers V“ und „Phi“, die auch Kontingenzkoeffizienten heißen und eine annähernde Aussage über die Stärke des Zusammenhangs zwischen zwei nominal skalierten Variablen erlauben. Diese können

3 Genauer zu den einzelnen Skalenniveaus vgl. Günter Clauß / Falk-Rüdiger Finze / Lothar Partzsch, Statistik für Soziologen, Pädagogen, Psychologen und Mediziner, Bd. 1, 2. Auflage, Frankfurt / M. 1995, S. 17 ff. 4 Zu den nominal skalierten Variablen gehören natürlich auch die dichotomen, denn ein Unterschied zwischen Ja und Nein lässt sich genauso wenig quantifizieren. 5 Der Mittelwert von 1,02 ergibt sich, weil dem Status „Bürger“ der Wert 0 zugewiesen wurde, „Privatbetriebe“ erhielten eine 1 und „Institutionen“ eine 2. Würden diese Ausprägungen stattdessen mit 1, 2 und 3 kodiert, verschöbe sich der Mittelwert auf 2,02.

Anhang 5: Erläuterung

389

Werte zwischen 0 und 1 annehmen, wobei ein Wert nahe 1 einen starken Zusammenhang anzeigt. Das nächst höhere Messniveau ist das ordinale Skalenniveau, das Variablen beinhaltet, deren Kategorien eine Rangordnung besitzen. Als Beispiel kann hier die Schichtzugehörigkeit des Klägers angeführt werden. Hier wird die Zugehörigkeit zur „Oberschicht“ mit 1 kodiert, die Zugehörigkeit zur untersten Schicht und den „sozial Verachteten“ mit 4. Vergleichbar mit Zensuren kann man hier durchaus sagen, dass die Zugehörigkeit zur Oberschicht gesellschaftlich angesehener, also in diesem Sinne „höherwertig“ ist als die zur Unterschicht. Es lässt sich allerdings nicht sagen, dass sie viermal mehr wert ist, da die genauen Abstände zwischen den Rängen bedeutungslos sind. Es wäre genauso möglich, die Oberschicht mit 1 und die unterste Schicht mit 10 zu kodieren, ebenso kann auch die Oberschicht den höchsten Wert zugewiesen bekommen. Wichtig ist allein, dass die Reihenfolge der Schichten erhalten bleibt. Die Berechnung des arithmetischen Mittelwertes ist auch bei ordinal skalierten Variablen unzulässig, möglich ist aber immerhin das Berechnen des Medians. Dieser wird auch Zentralwert genannt und teilt eine Reihe von der Größe nach geordneten Werten einer Variablen in zwei gleich große Hälften. Für die Schicht des Klägers mit vier Kategorien liegt der Median bei 2, d. h. in 50% aller erhobenen Zivilprozesse gehörte der Kläger den beiden unteren Schichten an, in der anderen Hälfte den beiden oberen.6 Auch das Spektrum einsetzbarer Tests erweitert sich; es wird u. a. der Kruskal-Wallis-Test und der Mann-Whitney-Test verwendet, um Rückschlüsse auf die Grundgesamtheit ziehen zu können. Zur Quantifizierung der Zusammenhänge zwischen zwei ordinal skalierten Variablen ist auch die Berechnung von Korrelationskoeffizienten (z. B. Spearmans R) möglich, und natürlich können auch alle Verfahren eingesetzt werden, die für nominal skalierte Variablen zulässig sind. Das wiederum nächst höhere Messniveau ist die Intervallskala, die nicht nur Informationen über die Rangordnung der Kategorien enthält, sondern auch Aussagen über die Abstände zwischen diesen erlaubt. Im Datensatz gibt es stetige Variablen wie den Streitwert, die Erfolgsquote, die Seitenzahlen von Endurteil und eingereichten Schriftsätzen, die Kosten des Verfahrens und dessen Dauer. Hier sind die einzelnen Kategorien nicht nur in Rängen geordnet, sondern auch über die Abstände zwischen ihnen können Aussagen getroffen werden. Z. B. kann nun ausgesagt werden, dass der Streitwert in Prozessen, die von Bürgern eingeleitet wurden, um 45% höher lag als in Prozessen von Betrieben und Institutionen. Sobald eine Variable intervallskaliert ist, steigen die Möglichkeiten einsetzbarer Testverfahren und Zusammenhangsmaße, von denen allerdings nur sparsam Gebrauch gemacht wird.7

6 Ebenso kann der Modalwert berechnet werden, der im Beispiel bei 3 liegt, d. h. die am häufigsten besetzte Kategorie ist die obere Unterschicht, die mit 3 kodiert wurde. 7 Da die meisten Tests eine Normalverteilung der getesteten Variablen verlangen (d. h. ihre Verteilung muss der Gaußschen Glockenkurve folgen, die vielen noch vom 10-DM-Schein bekannt sein dürfte), ist die Anwendung oft nur eingeschränkt möglich.

390

Anhang Tabelle A.1 Beispielstabelle: Streitwert Mittelwert Median Standardabweichung Minimum Maximum Quartile 25% 50% (Median) 75%

1.137,13 324,85 7.225,41 0,60 324.243,00 157,20 324,85 770,00

Um etwas über die Verteilung einer intervallskalierten Variablen aussagen zu können, ist eine einfache Häufigkeitstabelle nicht geeignet, da die Variable sehr viele Kategorien aufweist. Aus diesem Grund können diese Variablen auch nicht in Kreuztabellen mit anderen Variablen dargestellt werden.8 Als charakterisierende Maßzahl bietet sich der arithmetische Mittelwert an, der alle gültigen Werte addiert und die Summe durch die Gesamtzahl der Fälle teilt. Er ist damit von der gesamten Verteilung der Werte geprägt, da jeder Wert gleichermaßen in die Berechnung eingeht. Der sich daraus ergebende Nachteil ist, dass einzelne, stark vom Rest der Fälle abweichende Werte den Mittelwert verzerren können. Um dies zu prüfen, können die kleinsten und die größten Werte der Stichprobe ausgegeben werden. Es zeigt sich, dass es tatsächlich einen Fall gibt, der einen extrem hohen Streitwert aufwies (324.242 M) und der damit den Mittelwert nach oben gezogen hat. Dass für die gesamte Stichprobe von niedrigeren Streitwerten in den meisten Prozessen ausgegangen werden kann, zeigen außerdem die Lagemaße: der Median und die Quartile. Ersterer teilt die nach der Größe geordneten Streitwerte der einzelnen Prozesse in zwei gleich große Gruppen: 50% der Stichprobe wiesen also Streitwerte unter 324,85 M auf und 50% hatten einen höheren Streitwert. Da der Median um so viel niedriger liegt als der arithmetische Mittelwert, deutet sich auch hierdurch eine irreführende „Verzerrung“ des Mittelwerts nach oben an. Nach demselben Prinzip funktionieren die Quartile, die die nach der Größe geordneten Streitwerte nicht in zwei, sondern in vier Gruppen teilen. Dass die vierte Gruppe, die die größten Streitwerte umfasst, schon Werte ab 770 M enthält, zeigt ebenfalls, dass es sich bei den extrem hohen Streitwerten nicht um viele Fälle handeln kann. Eine weitere Möglichkeit, um den arithmetischen Mittelwert genauer zu interpretieren, gibt die Standardabweichung, die Angaben darüber macht, wie stark die Werte um den Mittelwert herum streuen. Schließlich macht es einen Unterschied, ob in (fast) allen Prozessen der Streitwert bei ungefähr 1.140 M lag, oder ob sich dieser Wert daraus ergibt, dass in der Hälfte der Prozesse um 10 M und in der anderen Hälfte um 100.000 M gestritten wurde. Es ist zu erkennen, dass die Standardabweichung mit über 7.000 M ziemlich hoch ist, von einem in allen Prozessen ähnlichen Streitwert also nicht ausgegangen werden kann. 8 Soll dies dennoch geschehen, muss die metrische Variable nachträglich „kategorisiert“ werden, d. h. mehrere nebeneinander liegende ihrer zahllosen Kategorien werden jeweils zu Gruppen zusammengefasst (der Streitwert kann etwa in Kategorien gefasst werden, die jeweils 1.000 M enthalten).

Anhang 5: Erläuterung

391

Um vom Mittelwert einer Variablen in der Stichprobe auf deren Mittelwert in der Grundgesamtheit schließen zu können, wird in der Regel der T-Test angewendet.9 Andere Verfahren sind die Varianzanalyse, die gleich mehrere Teilgruppen auf ihre Verteilung in der Grundgesamtheit hin prüft, und die Reliabilitätsanalyse, die die Aussagekraft verschiedener Variablen im Hinblick auf ein nicht direkt messbares Konstrukt (wie z. B. die Aktivität der Parteien im Prozess) prüft.

3. Bivariate Statistik – Zusammenhänge in Kreuztabellen Die Kreuztabelle dient zunächst dem Zweck, die Häufigkeitsverteilung zweier Variablen (mit beliebig vielen Kategorien) zusammen darzustellen.10 Der Nachteil der tabellarischen Darstellung ist die mangelnde Anschaulichkeit, weshalb nur selten darauf zurückgegriffen wird. Tabelle A.2 Jahrgang 1948

1951

1954

1957

Voller Erfolg Teilerfolg

Kein Erfolg

Gesamt

Anzahl

241

80

128

449

% von Jahrgang

53,7%

17,8%

28,5%

100,0%

% von Erfolg

7,0%

14,1%

15,5%

9,3%

Anzahl

318

80

89

487

% von Jahrgang

65,3%

16,4%

18,3%

100,0%

% von Erfolg

9,3%

14,1%

10,8%

10,1%

Anzahl

484

106

140

730

% von Jahrgang

66,3%

14,5%

19,2%

100,0%

% von Erfolg

14,1%

18,6%

16,9%

15,1%

Anzahl

488

37

82

607

% von Jahrgang

80,4%

6,1%

13,5%

100,0%

% von Erfolg

14,2%

6,5%

9,9%

12,6%

... Gesamt

Anzahl

3.425

569

826

4.820

% von Jahrgang

71,1%

11,8%

17,1%

100,0%

% von Erfolg

100,0%

100,0%

100,0%

100,0%

9 Da die vorgestellten metrischen Variablen allesamt nicht normalverteilt sind, beschränken wir uns auch deshalb auf den T-Test, weil dieser relativ robust auf Verletzungen der Normalverteilungsannahme reagiert. 10 Da Kreuztabellen mit wachsender Kategorienzahl der betrachteten Variablen zunehmend Platz benötigen und an Übersichtlichkeit verlieren, werden sie nur in Ausnahmefällen dargestellt. Bei der Darstellung von Zeilen- und Spaltenprozenten in einer Tabelle, wie es in Tabelle A.2 geschieht, geraten wir außerdem in ein Dilemma, da die Darstellung der Spaltenprozente analog zur Darstellungsweise in Grafik A.3 (S. 397) eine Beschränkung der Daten auf Berlin-Zentrum und Gewichtung verlangt, die der Zeilenprozente jedoch nicht.

392

Anhang

In der hier dargestellten Variante gibt die Tabelle in ihren einzelnen Feldern die absoluten Häufigkeiten der jeweiligen Kategorienkombination an (Zeile „Anzahl“). Außerdem werden die Anteile dieser Kombination an der jeweiligen Zeile (die Zeilenprozente, hier ausgewiesen als „% von Jahrgang“, da diese Variable in den Zeilen angeordnet ist) und an der jeweiligen Spalte (die Spaltenprozente oder hier „% von Erfolg“) ausgegeben. Es kann also hier auf einen Blick abgelesen werden, dass im Jahrgang 1954 66,3% der Verfahren mit einem „Vollen Erfolg“ endeten, wie auch, dass 14,1% der Verfahren mit einem „Vollen Erfolg“ im Jahr 1954 geführt wurden.11 Weiterhin ist die Betrachtung einer Kreuztabelle der erste Schritt, um herauszufinden, ob zwischen den in der Tabelle dargestellten Variablen ein Zusammenhang bestehen könnte.

Tabelle A.3 Status Kläger Voller Erfolg

Erfolg Teilerfolg

Kein Erfolg

Gesamt

Bürger

1.245 58,3% 36,4%

403 18,9% 70,8%

489 22,9% 59,2%

2.137 100,0% 44,3%

Privatbetrieb

265 67,4% 7,7%

51 13,0% 9,0%

77 19,6% 9,3%

393 100,0% 8,2%

Institution

1.915 83,6% 55,9%

115 5,0% 20,2%

260 11,4% 31,5%

2.290 100,0% 47,5%

Gesamt

3.425 71,1% 100,0%

569 11,8% 100,0%

826 17,1% 100,0%

4.820 100,0% 100,0%

Betrachtet man die in Tabelle A.3 dargestellten Variablen „Erfolg“ und „Status des Klägers“ in ihrer Kombination, wird schon durch die absoluten Häufigkeiten deutlich, dass die verschiedenen Statusgruppen im Zivilprozess unterschiedlich erfolgreich waren. Bestätigt wird dies durch die Zeilenprozente – während nur 58% der Bürger im Prozess einen vollen Erfolg erzielten, gelang dies fast 84% der sozialistischen Institutionen – sowie durch die Spaltenprozente: von allen Prozessen, die mit vollem Erfolg endeten, waren 36% der Kläger Bürger und 56% der Kläger Institutionen. Wie die Häufigkeiten in der Kreuztabelle aussehen würden, wenn kein Zusammenhang zwischen den Variablen bestehen würde, sie also gleich verteilt wären, zeigen die sogenannten „erwarteten Häufigkeiten“ in Tabelle A.4.

11 Die Zeilenprozente entsprechen den in Grafik A.4 (S. 398) dargestellten Anteilen der Erfolgsarten am Jahrgang.

Anhang 5: Erläuterung

393

Tabelle A.4 Status Kläger Voller Erfolg

Erfolg Teilerfolg

Kein Erfolg

Gesamt

Bürger Erwartete Häufigkeit

1.245 1.519

403 251

489 367

2.137 2.137

Privatbetrieb Erwartete Häufigkeit

265 279

51 47

77 67

393 393

Institution Erwartete Häufigkeit

1.915 1.627

115 271

260 392

2.290 2.290

Gesamt Erwartete Häufigkeit

3.425 3.425

569 569

826 826

4.820 4.820

Je mehr diese von den tatsächlich beobachteten Häufigkeiten abweichen, desto stärker ist der Verdacht auf einen Zusammenhang zwischen den Variablen. Bei Unabhängigkeit der Variablen müssten sich z. B. die 2.137 Bürger unter den Klägern im Verhältnis 3425 : 569 : 826 auf die einzelnen Erfolgsarten aufteilen. Es müssten also 2.137  3.425 / 4.820=1.519 Bürger einen „Vollen Erfolg“ erzielt haben. Eine übersichtlichere Möglichkeit, diese Abweichung darzustellen, sind die standardisierten Residuen.12

Tabelle A.5 Status Kläger Voller Erfolg

Erfolg Teilerfolg

Gesamt

Bürger Residuum

1.245 –7,0

403 9,5

489 6,4

2.137

Privatbetrieb Residuum

265 –,9

51 0,7

77 1,2

393

Institution Residuum

1.915 7,1

115 –9,4

260 –6,7

2.290

Gesamt

3.425

569

826

4.820

Kein Erfolg

Für alle standardisierten Residuen gilt: je weiter sie von Null (egal in welche Richtung) abweichen, desto stärker ist der Zusammenhang der Variablen. Die Faustregel lautet: Wird der Wert 2 überschritten, ist der Zusammenhang als signifikant zu betrachten.13 Was es mit diesem Zauberwort auf sich hat, wird im folgenden Abschnitt erläutert. 12 Die Höhe der Abweichung der erwarteten von den beobachteten Häufigkeiten wird vergleichbar gemacht, indem die Differenz zwischen beiden durch die Quadratwurzel der erwarteten Häufigkeiten dividiert wird. 13 Achim Bühl / Peter Zöfel, SPSS für Windows Version 6.1. Praxisorientierte Einführung in die moderne Datenanalyse, mit Ergänzungen zur Version 7.0 für Windows 95, NT 4.0, 3. Auflage, Bonn u. a. 1996, S. 189.

394

Anhang

Zwischen dem Status „Privatbetrieb“ und dem Prozesserfolg scheint es keinen Zusammenhang zu geben, die Residuen liegen nahe Null. Institutionen hingegen erreichten signifikant häufig „Volle Erfolge“ (und signifikant selten Teilerfolge bzw. gingen leer aus). D. h. bei einer zufälligen Verteilung, in der es keine Zusammenhänge gibt, hätten Institutionen viel weniger erfolgreiche Verfahren geführt. Umgekehrt waren Bürger signifikant häufig erfolglos bzw. erreichten nur Teilerfolge, während für eine zufällige Verteilung viel zu selten von ihnen volle Erfolge erzielt wurden.

4. Statistische Tests und Signifikanz Die standardisierten Residuen bilden die Grundlage für einen der statistischen Tests, die im Zusammenhang mit Kreuztabellen des Öfteren durchgeführt werden. Der Chi-QuadratTest, der für Kombinationen zweier Variablen in Kreuztabellen durchgeführt werden kann, prüft – stark vereinfacht ausgedrückt – die Wahrscheinlichkeit, mit der die vorliegende Abweichung zwischen beobachteten und erwarteten Häufigkeiten auch dann auftreten kann, wenn in Wirklichkeit kein Zusammenhang zwischen den Variablen besteht, die Abweichung also zufällig entstanden ist. Diese Annahme wird auch als Nullhypothese bezeichnet.14 Solange die vom Test ausgegebene Wahrscheinlichkeit (P) kleiner als 0,05 bzw. 5% ist,15 kann davon ausgegangen werden, dass in Wirklichkeit tatsächlich ein Zusammenhang besteht, die Nullhypothese also abgelehnt werden kann.16 Was hat es mit der Wahrscheinlichkeit von 5% auf sich? Da die Entscheidung des Tests natürlich nicht auf einer tatsächlichen Kontrolle aller Zivilprozesse basiert, ist es möglich, dass die Ablehnung der Nullhypothese ein Irrtum war und in Wirklichkeit doch kein Zusammenhang besteht. Die Wahrscheinlichkeit eines solchen Irrtums, der auch Fehler erster Art oder falsch positive Entscheidung genannt wird, gibt die „Irrtumswahrscheinlichkeit“ an.17 Liegt sie unter 5%, ist die Wahrscheinlichkeit für einen fälschlich angenommenen Zusammenhang zwischen dem Erfolg und dem Status des Klägers sehr gering. Das Testergebnis darf daher als „statistisch signifikant“ bezeichnet werden. Bezüglich der Variablen in Tabelle A.5 gibt der Chi-Quadrat-Test tatsächlich einen signifikanten Zusammenhang mit P < 0,01 an. Es kann also relativ sicher davon ausgegangen werden, dass ein Zusammenhang zwischen Erfolg und Status des Klägers vorliegt, dass also bestimmte Werte der einen Variablen gemeinsam mit bestimmten Werten der anderen Variable auftreten. Allerdings kann keine Aussage darüber getroffen werden, ob eine bzw. welche Variable die andere direkt beeinflusst. Ursache-Wirkungs-Beziehungen können mit statistischen Verfahren nicht berechnet werden – hier stößt die Statistik an ihre Grenzen.18

14 Es wird hier auf genaue Erläuterungen darüber verzichtet, was genau der Chi-QuadratTest berechnet und warum, da es für das Verständnis des Ergebnisses – Zusammenhang oder nicht – bedeutungslos ist. 15 Dieser Wert ist eine willkürliche, jedoch international verwendete Festlegung, vgl. Günter Clauß / Falk-Rüdiger Finze / Lothar Partzsch, Statistik für Soziologen, Pädagogen, Psychologen und Mediziner (wie Anm. 3), S. 184. 16 Tatsächlich ist es natürlich viel komplizierter. Eine kurze Einführung in die Problematik bietet Andreas Diekmann, Empirische Sozialforschung (wie Anm. 1) ab S. 585. 17 Für gibt es auch die Bezeichnung „Signifikanzniveau“.

Anhang 5: Erläuterung

395

Ebenfalls kann nicht von der Höhe der Irrtumswahrscheinlichkeit auf die Stärke oder die Richtung des Zusammenhangs geschlossen werden. Eine solche Quantifizierung erlaubt der Chi-Quadrat-Test nicht. Da dieser Test aber einer der wenigen Tests ist, die für nominale Variablen zulässig sind, und fast ausschließlich nominale Variablen erhoben wurden, wird er im Folgenden sehr häufig benutzt. Ein anderer gelegentlich verwendeter Test ist der T-Test, der den Mittelwert einer Variablen daraufhin prüft, ob dieser auch in der Grundgesamtheit so vorliegen kann. Allen verwendeten Tests gemeinsam ist die Angabe der Irrtumswahrscheinlichkeit, mit der ein Zusammenhang fälschlich angenommen werden kann. Liegt sie unter 5%, wird das Ergebnis als nicht zufällig, sondern signifikant betrachtet und ein Rückschluss auf die Grundgesamtheit wird als zulässig angesehen.

5. Darstellung zeitlicher Entwicklungen Für das Projekt wurden Gerichtsakten hauptsächlich aus den Stadtteilen Berlin-Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain erhoben, die im Folgenden als Berlin-Zentrum bezeichnet werden. Daneben lagen für einzelne Jahrgänge noch Akten aus den Gerichtsbezirken Köpenick und Lichtenberg vor.

800 700 600 500 400

Absolute Werte

300 200

Köpenick

100

Lichtenberg

0

Zentrum 48

54 51

60 57

66 63

72 69

80 76

88 84

Jahrgang

Grafik A.1: Anzahl der erhobenen Akten nach Stadtbezirken Wenn in den grafischen Auswertungen der vorausgegangenen Kapitel zeitliche Entwicklungen in absoluten Werten dargestellt sind, werden nur die Daten aus Berlin-Zentrum verwendet, weil Daten aus den anderen Stadtteilen nicht für alle Jahrgänge vorliegen. Ansonsten würde ein falscher Eindruck über die zeitliche Gesamtentwicklung entstehen (vgl. Grafik A.1).

18 Bezüglich der These, der Status des Klägers würde entscheiden, welchen Erfolg er im Prozess erreichte, wird auf Kapitel 5 – Ergebnisse der Untersuchung, E. V. 1. verwiesen.

396

Anhang

Zusätzlich werden in diesen Darstellungen die in ihrer Aktenzahl sehr kleinen Jahrgänge 1969 und 1976 gewichtet, um die für diese Jahrgänge fehlenden Daten der Stadtbezirke Prenzlauer Berg bzw. Friedrichshain zu berücksichtigen. Das bedeutet, dass die Akten aus den beiden Jahrgängen mit Gewichtungsfaktoren (für 1969: 1,63; für 1976: 1,42) versehen werden, die ihnen bei den nachfolgenden statistischen Darstellungen ein größeres Gewicht zuweisen. Das heißt, jeder einzelne Fall dieser Jahrgänge wird so behandelt, als wäre er 1,63mal bzw. 1,42mal mit identischen Werten in der Stichprobe enthalten.19 Aus nur 89 Fällen, die für den Jahrgang 1969 aus Berlin-Zentrum vorliegen, werden so – für die Berechnungen – 145 Akten, und die 106 Akten aus dem Jahrgang 1976 werden zu 151 Akten. Es wird also insofern „geschummelt“, um die Verteilung der Stichprobe näher an die „echte“ Verteilung, also an die Grundgesamtheit aller vorhandenen Akten aus den Zivilprozessen der entsprechenden Stadtteile, heranzubringen. Die Gewichtung wird durch eine Anmerkung unterhalb der Grafik angezeigt. nur Berlin-Zentrum 800 700 600 500 400

absolute Werte

300 200 100 0 48

51

54

57

60

63

66

69

72

76

80

84

88

Jahrgang Fälle gewichtet

Grafik A.2: Anzahl der erhobenen Akten Der beim Vergleich von Grafik A.1 und A.2 sichtbar werdende Effekt zeigt sich in einem sanfteren Verlauf in der zweiten Hälfte des Untersuchungszeitraums. Die generell zu bemerkende linkssteile U-Form bleibt jedoch erhalten.

6. Darstellungen absoluter und anteiliger Werte Neben den absoluten Zahlen werden auch die relativen Häufigkeiten, d. h. prozentualen Werte bestimmter Variablen dargestellt. Relative Häufigkeiten geben Auskunft über den Anteil der interessierenden Fälle an allen Fällen, also z. B. den Anteil aller Akten aus Köpenick an allen erhobenen Akten. Ein solcher Anteil wird in Prozent angegeben. 19 Diese Faktoren orientieren sich an den Anteilen, die Akten aus den fehlenden Stadtteilen in den anderen Jahrgängen eingenommen hatten.

Anhang 5: Erläuterung

397

Da die meisten Grafiken zwei Variablen zusammen darstellen, nämlich den Jahrgang und eine andere Variable (im Beispiel Grafik A.3 ist das der Erhebungsort mit der Ausprägung Berlin-Zentrum), müssen zwei verschiedene Arten von Aussagen unterschieden werden, die davon abhängig sind, was in einer Darstellung jeweils als „alle Fälle“, also 100%, angesehen wird. nur Berlin-Zentrum 20 18 16

16

14 13

12 10

11

12 9

8

Prozent

6

7 6

4

5

2

3

3

69

72

5

5

80

84

4

0 48

51

54

57

60

63

66

76

88

Jahrgang Fälle gewichtet

Grafik A.3: Erhobene Akten Zunächst können sich die Prozentzahlen auf alle Fälle, d. h. alle Jahrgänge zusammen, beziehen. Hierbei ergibt sich streng genommen genau die gleiche Verteilung wie bei einer grafischen Darstellung der absoluten Zahlen (vgl. Grafik A.2), nur sind die verwendeten Werte anschaulicher, da sie sich auf einen Gesamtwert von 100 anstatt auf die exakte Größe der dargestellten Stichprobe (4.129 Fälle) beziehen. Die Beschränkung der Fälle auf diejenigen aus dem Berliner Zentrum sowie die Gewichtung werden aus eben diesen Gründen in diesen Darstellungen auch beibehalten. Bei der Darstellung der Anteile einer Variablen am Jahrgang werden nicht alle Jahrgänge zusammen als 100%-Gesamtheit angenommen, sondern jeder einzelne Jahrgang gilt als eigene 100%-Gesamtheit. Da es bei dieser Betrachtungsweise unerheblich ist, wie viele Akten in den einzelnen Jahrgängen vorliegen, kann die Beschränkung auf das Berliner Zentrum sowie die Gewichtung der Fälle in den Jahrgängen 1969 und 1976 wegfallen. Bei der Darstellung mehrerer Variablen zusammen (bzw. mehrerer Ausprägungen einer Variablen), wie in Grafik A.4 werden auf diese Weise Aussagen über das Verhältnis der Variablen zueinander in den einzelnen Jahrgängen möglich, weshalb diese Art der Datenpräsentation vor allem für die Darstellung von zwei und mehr Variablen (bzw. von Variablenkategorien) verwendet wird, zwischen denen ein Zusammenhang vermutet werden kann. Allerdings ist zu beachten, dass die Betrachtung der Anteile am Jahrgang leicht über die tatsächliche Entwicklung der Häufigkeiten einer Variablen täuschen kann. Ein in den verschiedenen Jahrgängen konstanter absoluter Wert einer Variable kann z. B. bei gleichzeitigem absoluten Rückgang der Verfahren einen über die Jahre steigenden Anteil dieses Werts an den Jahrgängen bewirken, da ja die einzelnen Jahrgänge immer kleiner werden. Sind aber nur die Beziehungen der einzelnen Werte der Variablen untereinander von Interesse, geben anteilsmäßige Darstellungen anschauliche Informationen.

398

Anhang 100 90 80 70 60 50

Anteil am Jahrgang

40 30 Kein Erfolg 20 Teilerfolg

10 0

Voller Erfolg 48

54 51

60 57

66 63

72 69

80 76

88 84

Jahrgang

Grafik A.4: Anteile der Erfolgsarten am Jahrgang In Grafik A.4 wird deutlich, dass jeder Jahrgang die jeweiligen Anteile der verschiedenen Erfolgsarten präsentiert (die zu 100% fehlenden Werte sind statistische „missing“-Werte, für die – aus welchen Gründen auch immer – keine Kodierung vorgenommen wurde). Der Unterschied zur ersten Variante ist die fehlende Information über die Verteilung der Gesamtstichprobe – der Abfall der Verfahrensanzahl, in der überhaupt Erfolge erreicht werden konnten, wird hier nicht abgebildet. Dafür sind Aussagen über das Verhältnis der einzelnen Erfolgsarten zueinander möglich. Z. B. kann ausgesagt werden, dass in den Jahrgängen 1960 und 1963 sehr wenige der Zivilverfahren für die Kläger erfolglos endeten und dies hauptsächlich auf einen Anstieg des Anteils erfolgreicher Verfahren zurückgeführt werden kann, da die Prozesse mit Teilerfolgen in diesen Jahren ebenfalls zurückgingen.

Anhang 6: Clustertabelle In dieser Tabelle wurden einige Daten zusammengefasst, welche die Clusteranalyse lieferte. Die Clusteranalyse hat das Ergebnis der Untersuchung bestätigt. Dies bezieht sich insbesondere auf die in Kapitel 5 – Ergebnisse der Untersuchung, F. „Vom Inkasso- zum Feierabendprozess“ zusammengefassten Schlussfolgerungen. Die hier noch einmal detailliert dargestellten Analyseergebnisse sollen einen tieferen Einblick für den interessierten Leser geben.

Anhang 6: Clustertabelle

399

Cluster 1 (23,9%) Cluster 2 (34,4%) Cluster 3 (17,0%) Cluster 4 (24,8%) Inkassoklagen von Inkassoklagen von staatl. Wohnungs- Privatvermietern, -betrieben und verwaltungen volkseig. Versorgern Inkasso

74%

Im Vorfeld erledig- „Feierabend“te Prozesse (auch Prozesse unter Bürgern fehlgeschlagenes Inkasso)

46%

19%

4%

Prozess- 98% Wohnungsgegensachen, stand 2% Herausgabe v. Sachen

20% Wohnungssachen (davon 91% unter Bürgern), 16% Versorgungsleistungen, je 13% Darlehen / TZK und Sonstiges

24% Wohnungssachen, 22% Schadenersatz, 17% Sonstiges (darin 21% Familiensachen, 11% unberechtigt erlangte Leistungen) 14% einstw. Verfügung

20% Sonstiges (darin 33% Familiensachen, 9% Erbrecht), 19% Wohnungssachen, 17% Schadenersatz, 13% Herausgabe v. Sachen

Erfolg

94% (Median 100%) (91% voller Erfolg)

92% (Median 100%) (86% voller Erfolg, 10% Teilerfolg)

53% (Median 100%) (52% voller Erfolg, 47% kein Erfolg)

59% (Median 80%) (43% voller Erfolg, 30% Teilerfolg)

Streitwert

564 M (Median 324 M)

721 M (Median 233 M)

1.686 M (Median 230 M)

1.958 M (Median 600 M)

Dauer

49 Tage (Median 36)

61 Tage (Median 37)

60 Tage (Median 19)

156 Tage (Median 100)

Konstellation

100% Institution gg. Bürger (99% Wohnungsunternehmen)

44% unter Bürgern, 40% Institution gg. Bürger (darin 39% Versorger, 28% staatl. Organe), 13% Kläger Privatbetrieb

50% unter Bürgern, 32% Institution gg. Bürger, 10% Kläger Privatbetrieb

74% unter Bürgern, 9% Institution gg. Bürger, 6% Bürger gg. Institution

Schicht Verkl.

42% OUS, 44% OUS, 32% UMS, 32% 45% UUS, 3% OS 24% UUS, 9% OS OUS, 16% OS

41% OUS, 25% UMS, 17% OS

Urteil

37% Vergleich, 34% Versäumnisurteil, 20% Klagerücknahme

39% Versäumnisurteil, 37% Vergleich, 13% Klagerücknahme

70% Klagerücknahme, 11% sonstiges, 10% nicht abgeschlossen

36% Vergleich, 34% Sachurteil, 17% Klagerücknahme

Anwesenheit

50% beide, 48% nur Kläger

51% beide, 45% nur Kläger

96% keiner

91% beide

91% einer, 6% zwei

89% keiner, 8% einer

40% einer, 31% zwei, 26% drei

Termine 84% einer, 12% zwei

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Sachregister Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten 16 Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft 163 Arbeitsgesetzbuch 92, 98 Armenrecht 190 Babelsberger Konferenz 68, 81 Betriebsrätegesetz 94 Betriebsverfassung 97 Bezirksgericht 23 Bezirksvertragsgericht 27 Der Schöffe 21 Deutsche Justizverwaltung 12 Deutsche Wirtschaftskommission 46, 90 Deutsche Zentralverwaltung für Volksbildung 16 dialektischer Materialismus 65

Kassation 25 Kombinate 26 Kommunale Wohnungsverwaltung 163, 235, 373 Konfliktkommission 21, 97 Konfliktursachenforschung 70, 73 Kreisgericht 23-24 Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft 49, 90 Lohnpfändungsrecht 133 LPG-Recht 86 Ministerium für Staatssicherheit 32, 153 Ministerrat 26 Neue Justiz 20 Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft 51, 60

Eingaben 104, 113 Eingabewesen siehe Eingaben 104 Enteignung 52 Entnazifizierung 11, 15

Oberste Staatsanwaltschaft 18 Oberstes Gericht der DDR 14 ökonomisches System des Sozialismus 62

Frauenförderung 83 Freie Deutsche Jugend 57 Freier Deutscher Gewerkschaftsbund 57, 93, 152

Planwirtschaft 48 Potsdamer Abkommen 14 Produktionsgenossenschaft des Handwerks 59

Generalklausel 78 Genossenschaft 26, 161 Gerichtsvollzieher 25, 131 Gesellschaftliche Gerichte 100 Gesetzbuch der Arbeit 92, 97 Gewerkschaften 23, 93 Hausgemeinschaft 225-226 Inkassoprozess 258, 347

Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe 49 Rechtsauskunftstelle 127 richterliche Rechtsauskunft 125 richterliche Unabhängigkeit 42 Schiedskommission 22, 101 Schöffen 17 Sowjetische Aktiengesellschaft 46, 54 Sowjetische Militäradministration in Deutschland 11 sozialistische Gesetzlichkeit 30, 74

426 sozialistisches Eigentum 47 Staatliche Handelsorganisation 46 staatliches Vertragsgericht 26, 82 Stadtbezirksgerichte 23 Stalinismus 47 Sühnestelle 21

Sachregister Vertragsrecht 48, 51 Volkseigener Betrieb 54 Volksrichter 13, 17 Vollstreckungsstelle 139 Waldheimer Prozesse 21

Überbau, aktive Kraft des 14, 67 Vereinigung volkseigener Betriebe 57 Verschollenheitsrecht 76 Vertragsgesetz 27, 81

Zentrales Vertragsgericht 27 Zentralverwaltungswirtschaft 47 Zerrüttungsprinzip 84 Zwangsvollstreckung 25, 131

Der vorliegende Band bildet den Abschluss eines umfangreichen Forschungsprojektes zur „Zivilrechtskultur der DDR“. Kern des von der DFG geförderten Projekts war eine umfangreiche empirische Untersuchung, um die aus den Vorarbeiten gewonnenen Thesen überprüfen zu können. Hierfür mussten 10.000 Akten, größtenteils in erbarmungswürdigem Zustand auf dem Dachboden des Amtsgerichts Berlin-Mitte gelagert, gesichtet und die Daten erhoben werden. Durch die Auswertung dieses Materials ist das Bild einer Zivilrechtswirklichkeit in der DDR entstanden, die man auf anderem Wege kaum hätte rekonstruieren können. Zu Schlagwörtern verdichtet, spiegelt der Titel des nun vorliegenden Bandes das Ergebnis der Untersuchung wider. War der frühe Zivilprozess der DDR geprägt von Inkassoverfahren, verloren diese nach und nach an Gewicht. Im Zusammenhang mit zahlreichen Ausgliederungen, z. B. des Wirtschaftsrechts, aus dem Zivilrecht, blieben letztlich für das zivilgerichtliche Verfahren vorrangig privatrechtliche Konflikte unter Bürgern – Feierabendprozesse – übrig. In diesen Grenzen funktionierte der zivilrechtliche Alltag in der DDR ,normal‘. Aber trifft das nicht letztlich auf das Zivilrecht jeder Diktatur zu, da politisch brisante Fragen von vornherein ausgeklammert werden?

Rainer Schröder, geb. 1947 in Essen, Studium in Münster, Genf und München, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, privates Bau- und Immobilienrecht sowie Neuere und Neueste Rechtsgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: u. a. Neuere Rechts- und Sozialgeschichte (vor allem auch Arbeitsrechtsgeschichte: 1984 – Zur Arbeitsverfassung des Spätmittelalters; 1988 – Die Entwicklung des Kartell- und des kollektiven Arbeitsrechts durch das Reichsgericht; 1992 – Das Gesinde war immer frech und unverschämt), in letzter Zeit Arbeiten vor allem zur Entwicklung des Privatrechts in der DDR, der jungen Bundesrepublik und des Dritten Reiches (1988 – „ . . . aber im Zivilrecht sind die Richter standhaft geblieben!“) sowie zur vergleichenden Diktaturforschung.