Vom Aufbruch zum Umbruch: Die Bürgerbewegung in der DDR 1989 9783666359255, 9783647359250, 352535925X, 9783525359259


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Vom Aufbruch zum Umbruch: Die Bürgerbewegung in der DDR 1989
 9783666359255, 9783647359250, 352535925X, 9783525359259

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Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 142

V&R © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35925-0

Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka Hans-Peter Ullmann, Hans-Ulrich Wehler

Band 142 Karsten Timmer Vom Aufbruch zum Umbruch

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35925-0

Vom Aufbruch zum Umbruch Die Bürgerbewegung in der DDR 1989

von

Karsten Timmer

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35925-0

Umschlagabbildung: DDR-Bürgerrechtsprotest »Die Intelligenz ist feige« Menschenrechtsdemonstration vor dem Dresdner Verkehrsmuseum ©epd-bild/DER SPIEGEL

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Timmer, Karsten : Vom Aufbruch zum Umbruch : die Bürgerbewegung in der DDR 1989 / von Karsten Timmer. Göttingen : Vandenhoeck und Ruprecht, 2000 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 142) Zugl.: Bielefeld, Univ.Diss. 1999 ISBN 3-525-35925-X Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Nationalstiftung, der Axel Springer Stiftung, der Alfred Freiherr von Oppenheim-Stiftung und der Johanna und Fritz Buch-Gedächtnisstiftung. © 2000, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. - Printed in Germany. http:Wwww.vandenhoeck-ruprecht.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Umschlag: Jürgen Kochinke, Holle. Satz: Text & Form, Pohle. Druck und Bindung: Guide-Druck GmbH, Tübingen. Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35925-0

Inhalt Vorwort

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Einleitung

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I.

35 39 39

Die kognitive Konstituierung der DDR-Bürgerbewegung 1. Civil society-Konzepte in den osteuropäischen Staaten 1.1. Grundbegriffe und Hintergründe 1.2. Opposition und Zivilgesellschaft bei Vaclav Havel, György Konräd und Adam Michnik 2. Die kognitiven Grundlagen der DDR-Bürgerbewegung 2.1. Die praktische Konstituierung 1978-1985 2.2. Civil Society in den Farben der DDR

II. Ursachen und Faktoren der Mobilisierung 1. Strukturkrisen im Zeichen der »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« 1.1. Anspruch und Wirklichkeit der »Einheit von Wirtschaftsund Sozialpolitik« 1.2. Die Folgen des Scheiterns: Unzufriedenheit und Entfremdung 1.3. »Ex Oriente lux, ex occidente luxus« 2. Die Fluchtwelle über Ungarn: Mai bis September 1989 3. Die Ausreisewelle als »kritisches Ereignis« 3.1. »Es kann nur eine Wahrheit geben«: Eskalation durch die Reaktionen der SED 3.2. »Der Widerspruch wird unerträglich« - Enthüllung, Synchronisierung, Beschleunigung III. Die soziale Formierung der Bürgerbewegung - September 1989 .... 1. Die Trägergruppen der Bürgerbewegung 1.1. Netzwerkmobilisierung 1988/89 1.2. Das »Plattform-Fieber« - September 1989 1.3. Von staatsfeindlichen Träumern zur legitimen Opposition 2. Die Leipziger Montagsdemonstrationen 2.1. Die Friedenseebete in der Nikolaikirche 2.2. Entstehung und Dynamik der Montagsdemonstrationen ...

43 49 49 63 79 85 86 90 94 96 103 105 109 123 125 125 132 140 151 152 161 5

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2.3 Die Interaktion zwischen Trägergruppen und Demonstranten

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IV »Demokratie -jetzt oder nie!«: Die Entfaltung der Bewegung 1. Der kritische Moment: Leipzig, 9. Oktober 1.1. Mobilmachung der Staatsmacht 1.2. Leipzig, 9. Oktober 1989 2. Die landesweite Entfaltung der Bewegung 2.1. Mobilisierungsdynamik auf lokaler Ebene 2.2. Die Trägergruppen auf nationaler Ebene

175 175 175 179 189 193 215

V

225 225 232 233

»Wir sind das Volk« - Der Kampf um die Öffentlichkeit 1. Egon Krenz: Kurskorrektur der SED im Zeichen der Wende 2. Der Schritt zum öffentlichen Protest 2.1. Der Beginn der Demonstrationswelle 2.2. Dresden: Die »Gruppe der 20« als Vorreiter des Dialogs mit der Staatsmacht 3. Vom Argument der Macht zur Macht der Argumente 3.1. »Dialog oder Demonstration« - die ersten Angebote der Staatsmacht 3.2. Die Antwort der Bewegung: »Dialog und Demonstration« 3.3. Dialogdemonstrationen

VI. »Die Geschichte ist offen« - Die Bürgerbewegung zwischen Staat und Gesellschaft 1. Der Fall der Mauer - neue Chancen und Herausforderungen ... 2. Der November '89: Eine zivile Gesellschaft ziviler Bürger 2.1. Die Auseinandersetzung mit der SED 2.2. Das »Erlebnis Pluralismus« 3. Gesellschaft/Staat - Land/Nation: Das Dilemma der Bewegung 3.1. »La grande peur« - Die Monatswende vom November zum Dezember 1989 3.2. Die Lasten der Vergangenheit: Die Auflösung der Staatssicherheit 3.3. Die Debatte um die Zukunft: Die deutsche Frage

240 250 253 259 270 281 281 291 291 302 314 314 325 332

VII. Das Ende der Bewegung 350 1. »Aus tiefer Sorge um unser Land«: Der Runde Tisch 352 1.1. Zwischen allen Stühlen: Der Weg an den Runden Tisch .... 352 1.2. Die erste Sitzung des Runden Tisches am 7. Dezember 1989 364 2. Im Vorfeld der »Vor-Bundestagswahl« 371 6 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35925-0

Abkürzungsverzeichnis

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Quellen- und Literaturverzeichnis

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Register

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Vorwort

Hinter dem einzelnen Namen, der als Verfasser einer Dissertation genannt wird, verbergen sich immer viele andere, ohne deren Unterstützung die Arbeit nicht entstanden wäre. Dazu zählen zu allererst meine Eltern, die mir Zeit meines Studiums immer die Sicherheit gaben, die es braucht, um ein geisteswissenschaftliches Studium, ganz zu schweigen von einer Promotion, zu einem glücklichen Ende zu bringen. Weiterhin gilt mein besonderer Dank Professor Ingrid Gilcher-Holtey, deren Engagement weit über eine nur fachliche Unterstützung hinausging. Auch von der Betreuung durch Professor Detlef Pollack haben ich und die Arbeit gleichermaßen profitiert. Die finanzielle Basis der Promotion schufen die Deutsche Forschungsgemeinschaft sowie die Stiftung Bildung und Wissenschaft. Beiden Institutionen danke ich herzlich, ebenso wie dem Bielefelder Graduiertenkolleg »Sozialgeschichte von Gruppen, Klassen, Schichten und Eliten«. Für die finanzielle Unterstützung der Drucklegung danke ich der Deutschen Nationalstiftung, der Axel Springer Stiftung, der Alfred Freiherr von Oppenheim-Stiftung und der Johanna und Fritz Buch-Gedächtnisstiftung. Für die kritische Durchsicht des Manuskripts und für die Unterstützung bei der Veröffentlichung danke ich den Herausgebern der Kritischen Studien und vor allem Professor Hans-Ulrich Wehler, der die Erstellung des Buchmanuskriptes begleitet hat. Besonders verpflichtet aber bin ich Dr. Jan Kurz und vor allem Meike Vogel, ohne die die Arbeit in der vorliegenden Form nicht möglich gewesen wäre. Bielefeld, im April 2000

Karsten Timmer

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Einleitung »Wieviel Geschichte pro Tag erträgt ein gesunder Erwachsener?«,1 fragten die Redakteure der Süddeutschen Zeitung sich und ihre Leser in der Silvesterausgabe des Jahres 1989. Zweifel an dem menschlichen Fassungsvermögen für historische Ereignisse drängten sich auf: War man bis dahin gewohnt, bei geschichtlichen Prozessen in Jahren, Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten zu denken, straften die Ereignisse des Herbstes 1989 in der DDR alle Annahmen über langwierige Entwicklungsprozesse Lügen. Wie im Zeitraffer brach ein Regime zusammen, das vierzigJahre lang in der Selbst- wie in der Fremdwahrnehmung zu den politisch und wirtschaftlich stabilsten Ländern des Ostblockes gehört hatte. Angestoßen von den DDR-Bürgern, die im Sommer 1989 über Ungarn in den Westen flohen, entfaltete sich eine Kette von Ereignissen, welche die Öffentlichkeit in Ost und West in Atem hielten. Im Wochentakt kam es zu spektakulären Entwicklungen, die nur kurze Zeit zuvor noch niemand für möglich gehalten hätte, die jedoch kurze Zeit später wieder von neuen Sensationen in den Schatten gestellt wurden: Auf die ersten Massendemonstrationen seit 1953 folgte der Rücktritt Honeckers, der 18 Jahre lang das SEDRegime verkörpert hatte, und ohne daß Zeit blieb, sich an seinen Nachfolger Egon Krenz zu gewöhnen, war auch er bereits wieder zurückgetreten. Überall im Land kam es zu Friedensgebeten und gewaltfreien Demonstrationen, aber noch lange bevor geklärt war, wer oder was bei der entscheidenden Demonstration am 9. Oktober ein Blutbad in Leipzig verhindert hatte, übertrugen die Fernsehsender bereits die Bilder der jubelnden Menschen auf der Berliner Mauer in alle Welt. Zur gleichen Zeit machten oppositionelle Gruppen von sich reden; Namen wie Bärbel Bohley, Rainer Eppelmann oder Friedrich Schorlemmer, die vor 1989 nur einem kleinen Expertenkreis aus ostdeutschen MfS-Mitarbeitern und westdeutschen Journalisten bekannt waren, kursierten fast allabendlich in den Nachrichten, und verschwanden aus diesen wieder, als die Demonstranten im Dezember die Wiedervereinigung forderten. Hatte man zu diesem Zeitpunkt gerade realisiert, daß das SED-Regime zu Ende ging, war man nunmehr gezwungen, sich an den Gedanken zu gewöhnen, daß auch die DDR selbst von der Landkarte verschwinden würde. Insofern war das von der 1 Streiflicht in der Süddeutschen Zeitung vom 30./31.12.1989, S. 1. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um an dieser Stelle Prof. Uwe Thaysen zu danken, dem ich nicht nur den Hinweis auf dieses Zitat, sondern auch viele weitere Anregungen verdanke.

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Süddeutschen Zeitung als »Frage des Jahres '89« aufgeworfene Problem nicht unberechtigt: Wieviel Geschichte erträgt der Mensch - pro Tag? Diese Frage hat zehn Jahre später nicht an Bedeutung verloren. Wie die Zeitgenossen von 1989 sieht sich auch die historische Forschung mit dem Problem konfrontiert, daß sich die Ereignisse des Herbstes 1989 gegen eine umfassende Darstellung oder gar Erklärung sperren. Denn es war gerade das Zusammenspiel verschiedenster Faktoren, das die ungeahnte Dynamik erzeugte, die bis heute die Faszination von 1989 ausmacht. Unterschiedlichste Prozesse, die sich zum Teil gegenseitig beeinflußten oder strukturell bedingten, die zum Teil aber auch unabhängig voneinander verliefen und oft nur durch Zufälle in bestimmten historischen Situationen in Interaktion traten, ermöglichten den Ablauf der Ereignisse. Die Veränderungen in den anderen osteuropäischen Staaten, allen voran in der Sowjetunion, der Zusammenbruch des SED-Regimes, der Flucht- und Übersiedlerstrom in den Westen, die Welle von Demonstrationen in der DDR und die Proteste in ihren Nachbarländern bildeten Elemente dessen, was mit den Begriffen der ›Wende‹, des Zusammenbruchs oder der Revolution in der DDR nur unzulänglich beschrieben werden kann. Insofern bieten die Ereignisse des Jahres 1989 einen augenscheinlichen Nachweis der Prämisse, unter der Max Weber 1904 seine Theorie der sozialwissenschaftlichen Methode entwickelt hat. »Das Leben«, so Weber, bietet »eine schlechthin unendliche Mannigfaltigkeit von nach- und nebeneinander auftauchenden und vergehenden Vorgängen«.2 Welche Konsequenzen sah Weber mit dieser Tatsache verbunden? Es ist der Verzicht auf eine wissenschaftliche, insbesondere historische Forschung, die beansprucht, allumfassende und erschöpfende Erklärungen für historische Phänomene geben zu können. »Alle denkende Erkenntnis der unendlichen Wirklichkeit«, beruht, so Weber, »auf der stillschweigenden Voraussetzung, daß jeweils nur ein endlicher Teil derselben den Gegenstand wissenschaftlicher Erfassung bilden, daß nur er ›wesentlich‹ im Sinne von ›wissenswert‹ sein solle.«3 Daher verurteilt das Chaos geschichtlicher Wirklichkeit, in diesem Falle verkörpert durch die Entwicklungen zwischen September und Dezember 1989 in der DDR, jede Untersuchung und jeden Forscher dazu, Schwerpunkte zu setzen und einzelne Phänomene zu isolieren. Ein Überblick über die Forschung zu 1989 zeigt, daß bislang vor allem ein Aspekt für wesentlich und wissenswert erachtet wurde: Studien zum Staatsund Parteiapparat stellen den bei weitem überwiegenden Teil der Forschung dar, so daß die Frage, »warum es den Mächtigen nicht gelang, 1989 eine Revolution zu verhindern«,4 als umfassend bearbeitet, wenn auch noch nicht als 2 M. Weber, Objektivität, S. 171. 3 Ebd., S. 171. 4 So der Untertitel der Untersuchung von Süß, Staatssicherheit am Ende.

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letztendlich geklärt gelten kann. Für die Ebene der Herrschaftsstrukturen ist es so in den vergangenen Jahren gelungen, die wesentlichen Prozesse zu verdeutlichen, die zum Ende des SED-Regimes führten. Für die Ebene der Beherrschten läßt sich ein vergleichbarer Forschungsstand jedoch nicht behaupten. Die Dynamik der Proteste, die den Zusammenbruch des SED-Staates erst erzwangen, ist weithin ungeklärt. Nach wie vor offen sind die Fragen nach den Zusammenhängen zwischen den Demonstrationen und den oppositionellen Gruppen, zwischen den Friedensgebeten und den Runden Tischen, zwischen den Protesten in Leipzig und den Aktionen in anderen Städten, zwischen den Visionen der Protestierenden und der Realität, die sie durch ihr Engagement schufen. Diese Zusammenhänge zu untersuchen, zu veranschaulichen und zu erklären, ist der Anspruch dieser Arbeit. Sie beschränkt sich damit bewußt auf ein Element der Ereignisse, allerdings auf ein Element, das, so die grundlegende Hypothese, der zentrale und treibende Faktor des Umbruchs in der DDR war: auf die landesweite Protestwelle zwischen September und Dezember 1989. Auf ihre Entstehung, ihren Verlauf, ihre Eigenart und ihr Ende richtet sich das Erkenntnisinteresse der folgenden Untersuchung. Um diesen Anspruch einzulösen, lassen sich verschiedene übergeordnete Fragen entfalten, welche die gesamte Untersuchung leiten: Wie entwickelte sich der Prozeß des Protests zwischen September und Dezember 1989, und was strukturierte die Proteste, die sich im Verlauf der Entwicklung an die sich ständig verändernden Rahmenbedingungen anpassen mußten? Was prägte die interne Dynamik und Kohärenz der Protestwelle, und an welchen Punkten wurde ihr Verlauf durch externe Ereignisse und Entwicklungen beeinflußt? Inwieweit waren schließlich die Proteste eine abhängige Variable der äußeren Entwicklung, und inwieweit folgten sie einer autonomen Entwicklung? Mit anderen Worten: Inwiefern waren sie Produkt, inwiefern Produzent sozialen und politischen Wandels? Eine Analyse, die diese Fragen beantworten will, muß mehreren Voraussetzungen gerecht werden. Um die Dynamik der Protestwelle erfassen zu können, müssen drei inhaltliche und drei systematische Bedingungen berücksichtigt werden. In inhaltlicher Hinsicht ergibt sich, erstens, ein Zugang zu den Protesten erst dann, wenn sie als ein kollektives Phänomen verstanden werden. Nicht nur die zeitliche Parallelität des Protests in den Städten und Regionen, sondern auch die Gleichartigkeit der lokalen Entwicklungen, die überregionale Nachahmung von Aktionsformen, die wechselseitige Aufnahme von Demonstrationsslogans aus anderen Städten, die landesweite Präsenz der oppositionellen Gruppen und nicht zuletzt das allerorts gültige Prinzip der Gewaltlosigkeit verweisen darauf, daß es sich um mehr handelte als um ein unverbundenes Konglomerat einer Vielzahl individueller Protesthandlungen in verschiedenen Städten. Die Proteste erscheinen vielmehr als unterschiedliche Teile eines größeren sozialen Zusammenhanges. Diese These impliziert keinesfalls, daß die 13 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35925-0

Proteste in irgendeiner Art koordiniert oder gar zentral organisiert gewesen wären, wohl aber, daß sie durch eine kollektive Identität, durch Symbole, ein gemeinsames Wir-Gefühl und durch Organisationen in einem kollektiven Handlungszusammenhang integriert wurden. Aus dieser Arbeitshypothese leiten sich weitere Anforderungen für die Analyse ab. Sie muß, zweitens, die gesamte DDR in den Blick nehmen, anstatt sich auf einzelne Städte zu beschränken, und sie muß, drittens, sowohl die organisierten als auch die mobilisierten Teile der Protestbewegung als Elemente eines Phänomens begreifen. Damit wird keineswegs eine Konformität zwischen den Protesten in den einzelnen Städten oder eine Identität zwischen den verschiedenen Teilen der Bewegung behauptet. Im Gegenteil: Innerhalb des größeren Zusammenhanges der landesweiten Protestwelle gab es immer interne Spannungen und abweichende Entwicklungen, die erst dann deutlich werden, wenn der Horizont der Analyse weit genug ist, um sie zu erfassen. Nur so läßt sich etwa die Vorbildfunktion, welche die Leipziger Montagsdemonstrationen für den landesweiten Protest einnahmen, systematisch untersuchen; nur so können die Wechselwirkungen zwischen den organisierten und mobilisierten Teilen der Proteste einen wesentlichen Ansatz zur Erklärung der Dynamik bieten, die sich aus den unterschiedlichen Erwartungen, Zielen und Problemen der Beteiligten ergab. Neben den inhaltlichen Prämissen lassen sich drei systematische Anforderungen formulieren, denen eine Untersuchung der Protestwelle gerecht werden muß. Sie bedarf an erster Stelle eines begrifflichen Instrumentariums, das es erlaubt, den Untersuchungsgegenstand von anderen, zeitgleichen Entwicklungen abzugrenzen, innerhalb des untersuchten historischen Phänomens Zusammenhänge herzustellen und erklärungsbedürftigen Geschehnissen bestimmte Ursachen zuzurechnen. Gerade angesichts der Tatsache, daß sich im Untersuchungszeitraum dieser Arbeit unzählige Entwicklungen überschnitten und miteinander in Beziehung traten, ist es unerläßlich zu definieren, was Gegenstand der Analyse sein soll und was unberücksichtigt bleiben muß, da es außerhalb des Untersuchungsrahmens liegt. Spricht dieses Argument eher dafür, dem analytischen Rahmen möglichst enge Grenzen zu setzen, muß der Rahmen andererseits weit genug sein, um die Vielfalt der Protestformen und verläufe in der DDR zu erfassen. Die Tatsache, daß sich im Verlauf der vier untersuchten Monate fast täglich neue Anlässe und neue Chancen des Protests ergaben, führt zu einer weiteren systematischen Prämisse. Eine Arbeit, die der Dynamik der ›Wende‹ gerecht werden will, muß die Perspektive der Beteiligten rekonstruieren, muß ihre Handlungsbedingungen und -möglichkeiten untersuchen, um sich dem Prozeß des Protests nähern zu können. Strukturen mögen das Handeln bedingen, Ideen die Intentionen prägen, aber ›gemacht‹ wird Geschichte weder durch Strukturen noch durch Ideen, sondern allein von Menschen, die versuchen, 14 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35925-0

durch ihre Handlungen in den Gang der Ereignisse einzugreifen. Daher orientiert sich die Untersuchung an dem Anspruch, soziales Handeln aus der Perspektive der Akteure zu erklären, ohne sich jedoch die Perspektive der Akteure zu eigen zu machen. Sofern schließlich monokausale Erklärungsmodelle vermieden werden sollen, müssen für eine Untersuchung der Proteste in der DDR verschiedene Untersuchungsebenen miteinander in Beziehung gesetzt werden, um die Komplexität und Dynamik der Entwicklung erfassen zu können. Strukturelle Erklärungsfaktoren müssen ebenso Eingang in die Analyse finden, wie individuelle Aktionen; weder Ideen und ideelle Orientierungen noch Ereignisse und ihre katalysierende Wirkung können vernachlässigt werden. Nur wenn daher die Präjudizierung eines bestimmten historischen Wirkungsfaktors vermieden wird, kann die Analyse offen bleiben für die »Mischungs- und Interdependenzverhältnisse«5 zwischen verschiedenen Dimensionen und Erklärungsebenen. Erst durch die Überwindung der überholten Gegensätze zwischen Ereignis-, Struktur-, Ideen- und Sozialgeschichte wird eine Rekonstruktion der Proteste in der DDR möglich, die einerseits theoriegeleitet argumentiert, ohne die Akteure zu vernachlässigen, und die andererseits narrativen Elementen eine große Bedeutung einräumt, ohne nacherzählend zu sein. Welche Herangehensweise an die Proteste bietet sich unter diesen Voraussetzungen an? Genauer: Welche Begriffe und Konzepte sind in der Lage, ein Verständnis der Proteste zu vermitteln, das den inhaltlichen und systematischen Prämissen der Arbeit gerecht wird? Der geradezu inflationäre Gebrauch des Begriffs Revolution, der - verbunden mit den unterschiedlichsten Attributen6 - zur Beschreibung der Ereignisse im Herbst 1989 herangezogen wird, suggeriert, daß der Begriff mehr als andere angemessen ist, um die Entwicklung zu fassen. Für eine Untersuchung des Protests eignet er sich jedoch nicht. Denn trotz aller Vielfalt der Definitionen bezieht sich der Begriff Revolution immer primär auf das politische Gesamtsystem, dessen Zusammenbruch zwar Thema, aber nicht Gegenstand dieser Arbeit ist. Da der Begriff eher die Auswirkungen des Protests als den Protest selbst in den Blick nimmt, ist er im Rahmen dieser Arbeit wenig hilfreich, so daß die Debatte, ob sich die Ereignisse des Jahres 1989 als Revolution verstehen lassen oder nicht, im folgenden nicht weiter verfolgt wird.7 Begriffe wie Umbruch, 5 Wehler, S. 7. 6 Vgl. die Bezeichnungen als »friedliche« - (Helmut Kohl), »freiheitliche« - (Hans-Dietrich Genscher), »mißglückte« - (Konrad Weiß), »geklaute« - oder »protestantische« - (Ehrhart Neubert), »abgetriebene« - (Michael Schneider), »zivilgesellschaftliche« - (Volker Gransow/Konrad Jarausch), »nationaldemokratische« - (Hartmut Zwahr), »volkseigene« - (Karl-Dieter Opp), »nachholende« Revolution (Jürgen Habermas). 7 Vgl. zu der Diskussion verschiedener Revolutions-Begriffe und ihrer Anwendbarkeit auf die Ereignisse im Herbst 1989: Schlegelmilch, S. 118ff, Zwahr, Zwischenbilanz, S. 206ff. und M. Richter, Revolution, S. 5ff.

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Umsturz, Kollaps, ›Wende‹8 oder Implosion, die oft im Zusammenhang mit den Ereignissen verwandt werden, zeichnen sich durch dasselbe Problem aus, und sind zudem selten mehr als rein beschreibende Begriffe ohne analytischen Anspruch. Anders verhält es sich mit Ansätzen der Totalitarismusforschung, die zwar systematische Zugänge eröffnen, sich aber andererseits auf die Herrschaftsstrukturen und ihre Stabilität konzentrieren, so daß auch sie keinen Zugang zur Erklärung des sozialen Protesthandelns bieten, das das Regime überwand.9 Der Begriff der Opposition wird diesem Gegenstand zwar eher gerecht, schränkt den Blick aber zu stark auf organisierte Widerstandshandlungen ein, so daß das Charakteristikum der Proteste in der DDR, die beispiellose Massenmobilisierung, nicht erfaßt werden kann.10 Einen Konnex zwischen dem Protest einerseits und dem gesellschaftlichen Gesamtsystem andererseits stellen schließlich die Konzepte der Entstehung einer Zivilgesellschaft dar, die in den letzten Jahren in der historischen Forschung und nicht zuletzt auch in der osteuropäischen Geschichte verstärkt Anwendung gefunden haben.11 Helmut Fehr hat diese Konzepte bereits gewinnbringend auf die Bürgerbewegungen in Polen und der DDR angewandt, allerdings leidet seine Analyse darunter, daß er der Zivilgesellschaft verschiedene Funktionen zuweist, die nicht deutlich voneinander geschieden werden. Fehrs Verwendung des Begriffs schwankt kontinuierlich zwischen der Bedeutung als analytisches Konzept der Bewegungsforschung, als systematischer Rahmen der Systemtransformation und als beschreibende Kategorie der ideellen Prägung der Opposition.12 Da die Ideen einer Zivilgesellschaft in der vorliegenden Arbeit als inhaltliche Erklärung des Protests eine zentrale Rolle spielen, scheint es angebracht, der Verwechslungsgefahr zu entgehen, indem die Verwendung des Begriffs auf seinen spezifischen Geltungsbereich als ideeller Rah8 Gegen den Begriff der Wende spricht, daß er von Egon Krenz am 18.10.1989 als Kampfbegriff in die Debatte geworfen wurde. Noch dazu schloß sich Krenz unbewußt an einen nationalsozialistischen Sprachgebrauch an, denn der Begriff der Wende, der nach der Niederlage bei Stalingrad mit der Hoffnung auf die Wunderwaffen V1 und V2 verbunden wurde, zählt nach Klemperer zur Lingua Tertii Imperii, vgl. Klemperer, S. 60. 9 Zu den Grundlagen und Exponenten sowie den Ursachen der Renaissance der Totalitarismusforschung nach 1989 vgl Jesse, Totalitarismusforschung und Siegel. Zu Anwendungsmöglichkeiten und -problemen des Begriffs auf die DDR sieheJessen. 10 Nach Kleßmann (S. 52f.) bezeichnet der Begriff der Opposition »eine zumindest ansatzweise organisierte Form der Abweichung von der herrschenden politischen Linie mit erkennbaren ideologischen und politischen Alternativkonzepten.« Zur Diskussion um den Begriff der Opposition und seine Anwendbarkeit auf die DDR vgl. Knabe, Typologisierung. 11 Zu den Chancen und Problemen des Begriffs als analytische Kategorie vgl. Kumar. Eine Anwendung des Analysekonzepts Zivilgesellschaft auf die »Revolutionen von 1989« unternimmt Thaa. 12 Vgl. Fehr, Öffentlichkeit. Nicht zu unrecht stellte Hubertus Knabe in seiner Rezension zu Fehrs Analyse fest, der theoretische Rahmen sei »dem Verstehen der interessanten und diffizilen Prozesse oftmals eher hinderlich als förderlich.« (H. Knabe, in: DA 30 (1997), S. 992).

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men der Protestbewegung beschränkt bleibt. Zudem limitiert die Verwendung des Begriffs als analytisches Konzept die Untersuchung auf einen zwar zentralen, aber nicht erschöpfenden Bestandteil der Proteste. Man wird ihrer Vielfalt nicht gerecht, wenn nur diejenigen Phänomene untersucht werden, die in einem direkten politisch-sozialen Zusammenhang mit der Herstellung einer unabhängigen Öffentlichkeit standen. Keines der bislang diskutierten Konzepte ist, so läßt sich die Diskussion zusammenfassen, in der Lage, die Protestwelle derart zu fassen, daß sich einerseits Zugänge zur Erklärung des individuellen und kollektiven Handelns ergeben, ohne daß der Protest andererseits entweder zu stark auf einen Aspekt verkürzt oder aber in der begrifflichen Beliebigkeit aufgelöst wird. Trotzdem bleibt das Problem bestehen, daß die Untersuchung und Einordnung des Protests seine Anerkennung als eigenständiges Phänomen voraussetzt: Als ein historisches Phänomen, das als kollektiver Akteur den Prozeß des Zusammenbruches der DDR vorantrieb; als ein soziales Phänomen, das viele hunderttausend Menschen in einen einzigartigen Handlungszusammenhang einbezog; und schließlich als ein kulturelles Phänomen, das neue Wirklichkeitsdeutungen und Lebensentwürfe propagierte und umsetzte. Diese Dimensionen fallen zusammen in der Charakterisierung des Protests als eine soziale Bewegung, verstanden als ein »durch kollektive Identität abgestütztes Handlungssystem mobilisierter Netzwerke von Gruppen und Organisationen, welche sozialen Wandel mittels öffentlicher Proteste herbeiführen, verhindern oder rückgängig machen wollen.«13 Der Protest in der DDR steht nicht nur aufgrund der zeitgenössischen Selbst- und Fremdbezeichnung als Bürgerbewegung,14 sondern auch aufgrund seiner charakteristischen sozialen Struktur in einer langen Tradition von Bewegungen, welche die deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts nachhaltig geprägt haben. Jeweils auf ihre Art haben die Arbeiterbewegung, die Jugendbewegung, die nationalsozialistische Bewegung, die ›68er Bewegung oder auch die sogenannten Neuen Sozialen Bewegungen in der Bundesrepublik der achtziger Jahre die Gesellschaft ihrer Zeit beeinflußt und der Nachwelt neue Möglichkeiten und Belastungen hinterlassen. Was zeichnet diese Bewegungen aus? Sicherlich nicht eine Einheitlichkeit ihrer Ziele, Ursachen, Mittel oder Entwicklungen. In dieser Hinsicht gibt es keinen gemeinsamen Nenner, der es rechtfertigen würde, sie in einen Zusammenhang zu stellen. Ihre Gemeinsamkeit liegt vielmehr in ihrer Qualität als soziale Phänomene, die Unzufriedenheit gegen die herrschenden Bedingungen artikulierten, und zwar in einer spezifischen Art und Weise: durch öffentliche Protestaktionen, durch den Bezug 13 Raschke, Grundriß, S. 77. 14 Der Ausdruck Bürgerbewegung tauchte im Zusammenhang mit den Protesten in der DDR erstmals in der Bezeichnung der am 12.9.1989 gegründeten Gruppe Bürgerbewegung Demokratie Jetzt auf.

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auf weitreichende, gesellschaftsverändernde Ziele und Utopien, durch ein Wir-Gefühl, das die Protestierenden überregional integrierte und von ihren Gegnern abgrenzte, und schließlich dadurch, daß sich das kollektive Handeln der Bewegungen nicht in den Aktionen ihrer Organisationen, sei es der SPD, des Wandervogels, der NSDAR des SDS oder DER GRÜNEN erschöpfte. Der Protest in der DDR teilte diese Gemeinsamkeiten. Getragen von der gemeinsamen Überzeugung »Wir sind das Volk», versuchten die Beteiligten landesweit, das SED-Regime durch Friedensgebete, Demonstrationen und Kundgebungen zu demokratischen Reformen zu zwingen, wobei oppositionelle Gruppen wie das Neue Forum innerhalb der Protestwelle eine spezifische Rolle spielten, ohne daß sich der Protest auf ihre Aktivitäten reduzieren oder zurückführen ließe. Entstanden in den siebziger Jahren, hat sich die historische und systematische Untersuchung sozialer Bewegungen inzwischen zu einer eigenständigen Forschungsrichtung entwickelt, die versucht, die Charakteristika dieser speziellen Form kollektiven Handelns in analytische Modelle und Hypothesen zu übersetzen. Die Bewegungstheorie im Sinne eines einheitlichen oder verbindlichen Modells gibt es allerdings nicht. Es handelt sich vielmehr um eine internationale Diskussion, die ebenso dynamisch und offen ist wie der Untersuchungsgegenstand, dem sie sich widmet.15 Dennoch läßt sich ein relativ klar umrissenes Bild herausarbeiten, das soziale Bewegungen von anderen Formen kollektiven Handelns abgrenzt und Erklärungsansätze bietet, um sich dem Mobilisierungsprozeß zu nähern, der alle sozialen Bewegungen ausmacht. Damit ist bereits das zentrale Element sozialer Bewegungen genannt: Ihre Fähigkeit zu mobilisieren ist Existenzbedingung und Kennzeichen zugleich. Als eine spezifische Möglichkeit, Unzufriedenheit kollektiv zu äußern, grenzen sich soziale Bewegungen von anderen Formen der Artikulation von Protest ab: von Gewerkschaften, Parteien oder Verbänden einerseits, d. h. von intermediären Organisationen, die versuchen, sich mit ihren Vorstellungen und ihrer Kritik in den politischen Entscheidungsprozeß einzubringen, sowie von Aufruhr, Krawall oder feindseligen Ausbrüchen andererseits, also von unorganisierten und spontanen Formen kollektiver Meinungs- bzw. Mißfallensäußerungen. Soziale Bewegungen sind, so gesehen, nur eine Möglichkeit, zusammen mit anderen Menschen gegen gesellschaftliche, politische oder auch wirtschaftliche Mißstände anzugehen. Ihre Besonderheit liegt darin, daß sie als »halbstrukturierte«16 soziale Phänomene zwischen organisierter Aktivität einerseits und spontanen kollektiven Episoden andererseits angesiedelt sind. Im Unterschied zu Krawallen und Ausschreitungen sind Bewegungen eine Erscheinungsform kollektiven Handelns, das zielgerichteter, langlebiger, ge15 Zum State ofthe art der Bewegungsforschung vgl. den Sammelband von McAdam u.a. 16 Raschke, Begriff, S. 38.

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schlossener und homogener ist. Bewegungen verfolgen weitreichendere Ziele als die bloße Artikulation aktueller Unzufriedenheit. Um diesen Zielen Ausund Nachdruck zu verleihen, versuchen sie, Menschen zu einer möglichst kontinuierlichen Teilnahme an Protestaktionen zu mobilisieren. Sofern es ihnen gelingt, diese Mobilisierungsdynamik zu entfalten, entwickeln sie sich zu einem sozialen Phänomen, das nicht nur kurzfristig und punktuell agiert, sondern das Engagement einer Vielzahl von Menschen bündelt, strukturiert und auf gemeinsame Ziele ausrichtet. Indem die Individuen in einen sozialen, durch eine kollektive Identität integrierten Handlungszusammenhang einbezogen werden, kann aus einem unverbundenen Konglomerat vereinzelter Protestaktionen eine soziale Bewegung entstehen, die als kollektiver Akteur in das Geschehen eingreift. Organisationen spielen innerhalb der Konstituierung und des Verlaufes sozialer Bewegungen eine große Rolle. Sie gewährleisten die Kontinuität des Protests, die bewegungsinterne Kommunikation und das notwendige Mindestmaß an Koordination. Allerdings sind Organisationen nicht alles. Wenn es nicht gelingt, über den Kreis der organisierten Aktivisten hinaus Sympathisanten zu werben, die sich jenseits von Koordination und Mitgliedschaft engagieren, bleibt die Organisation, was sie ist: eine Organisation, keine Bewegung. Während sich letztere durch eine kollektive Identität sowie durch vielfältige, nicht institutionalisierte Partizipationsformen auszeichnet, wird kollektives Handeln innerhalb von Organisationen durch formale Strukturen geprägt, die jedem Mitglied mehr oder weniger klar umrissene Aufgaben innerhalb eines hierarchischen, arbeitsteiligen Aufbaus zuweisen. Demgegenüber ist die Bindung der Aktiven an eine Bewegung wesentlich instabiler. Die Machtgrundlage einer Bewegung ist prekär, da sie nur in einer erfolgreichen Mobilisierung von Ressourcen und an allererster Stelle von Menschen besteht. »Die aktive, permanente Suche nach Unterstützung, das In-Bewegung-Bleiben, ist deshalb«, so Joachim Raschke, »Merkmal sozialer Bewegung.«17 Ein weiterer fundamentaler Unterschied zu einer Organisation besteht schließlich darin, daß die Ziele einer Bewegung nicht klar vorgegeben oder gar in einem verbindlichen Programm fixiert sind. Zwar bietet eine grundlegende Übereinstimmung über die Ziele und Mittel der Bewegung das Bindeglied zwischen den teilnehmenden Individuen, aber innerhalb des grundlegenden Konsenses existiert eine Vielzahl von Tendenzen, Interessen und Vorstellungen, so daß die Ziele einem ständigen bewegungsinternen Aushandlungsprozeß unterworfen sind. Organisationen, genauer: Bewegungsorganisationen oder Trägergruppen kommt innerhalb dieses Kommunikationsprozesses eine große Bedeutung zu. Sie formulieren und propagieren Zielvorstellungen, die innerhalb der Bewegung Wirkung entfalten und dem Protest eine Richtung 17 Raschke, Grundriß, S. 78.

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weisen können. Allerdings sind, um einem verbreiteten Mißverständnis zuvorzukommen, die von den Bewegungsorganisationen formulierten Programme nicht gleichzusetzen mit den Zielen der Bewegung. Nicht nur, weil normalerweise verschiedene Organisationen miteinander konkurrieren, sondern auch, weil eine Bewegung immer mehr umfaßt als diejenigen, die sich innerhalb der Trägergruppen des Protests engagieren, stellen die Aktionen der Bewegungsorganisationen einen wichtigen, keinesfalls aber erschöpfenden Teil des kollektiven Handlungszusammenhanges soziale Bewegung dar. Eine Bewegung analytisch auf die Organisationen zu verengen, heißt daher, das Charakteristikum einer Bewegung aus dem Blick zu verlieren, nämlich das spannungsreiche und oft widersprüchliche Wechselverhältnis zwischen den organisierten und mobilisierten Teilen. Konstituiert durch eine Vielzahl von Individuen, die durch eine kollektive Identität integriert werden, und orientiert auf einen grundlegenden sozialen Wandel, der mittels öffentlicher Protestaktionen erreicht werden soll, stellen soziale Bewegungen daher eine spezifische Form kollektiven sozialen Handelns dar. Verstanden als ein »Prozeß des Protests«,18 wie die von Otthein Rammstedt 1978 formulierte und bis heute treffendste Charakterisierung des Wesens sozialer Bewegungen lautet, lassen sie sich in einer Binnenperspektive von ihrer gesellschaftlichen Umwelt abgrenzen und zugleich in einer Außenperspektive mit ihr in Beziehung setzen. Damit sind die beiden wesentlichen Linien der Untersuchung benannt. Als eigenständiger Akteur suigeneris konstituierte die DDR-Bürgerbewegung einen Handlungsraum, innerhalb dessen die Beteiligten miteinander - und unter Umständen auch gegeneinander - agieren. Auf diesem Bereich, also auf der sozialen Entfaltung des Protests in der DDR, liegt ein Schwerpunkt der Analyse, der versucht, den Gang der Ereignisse aus der Perspektive der Bewegung zu rekonstruieren. In den Blick kommen in diesem Zusammenhang die Mobilisierungsstrategien und -erfolge der Bewegung, ihre kognitiven Orientierungen und Wertbezüge, die Konflikte und Koalitionen zwischen den Bewegungsorganisationen, die Konfrontationen mit den Sicherheitskräften, die Interaktion zwischen den mobilisierten und organisierten Teilen der Bewegung, die diachronen Entwicklungen und Veränderungen der Zielsetzungen und auch die Aktionsformen, mit denen der Protest öffentlich artikuliert wurde. In dieser Perspektive steht daher die Bewegung selbst im Mittelpunkt. Sie ist der Protagonist, der den Prozeß des Protests strukturiert, seine Ziele bestimmt und auf die Umwelt einwirkt. Allerdings bliebe eine Untersuchung, die sich ausschließlich auf die Binnenperspektive beschränkte, unvollständig, da soziale Bewegungen immer auf die sie umgebende Gesellschaft gerichtet sind. Sie thematisieren gesellschaftliche Probleme und artikulieren Unzufriedenheit 18 Rammstedt, S. 130.

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durch Protestaktionen, die wiederum darauf abzielen, einen grundlegenden sozialen, politischen oder kulturellen Wandel herbeizuführen. Bewegungen handeln daher nicht voraussetzungslos oder kontextunabhängig, sondern sind auf allen Ebenen von ihrer Umwelt geprägt und in ihren Aktionen und Zielen auf sie bezogen. Unter diesen Prämissen richtet sich das Interesse auf strukturelle Krisen des wirtschaftlichen und politischen Systems der DDR, auf die sozialstrukturelle Verankerung der Trägergruppen, auf Mentalitäten und die politische Kultur, deren Deutungsmuster die Bürgerbewegung aufnahm und transformierte, auf die Herrschaftsstrukturen des politischen Systems, aber auch auf geographische Strukturen wie etwa die Anlage der Leipziger Innenstadt. Ansätze, die diese verschiedenen Elemente und Perspektiven miteinander in Beziehung setzen, sind von der Bewegungsforschung in großer Zahl entwickelt worden. Theorien und Modelle verschiedener Reichweite, divergierender soziologischer Schulen und unterschiedlicher Gegenstandsbereiche19 stellen ein breites Repertoire von systematischen Hilfsmitteln zur Verfügung, derer sich diese Arbeit bedienen kann. Die einzelnen Modelle wie die political opportunity structure, das Konzept des milling oder der framing - Ansatz sollen jedoch nicht hier, sondern erst an denjenigen Punkten der Arbeit eingeführt und weiter vertieft werden, an denen sie die konkrete Analyse leiten. Ansätze und Modelle der Bewegungsforschung sind bereits verschiedentlich zur Untersuchung von Protestphänomenen in der DDR angewandt worden. Die Diskussion um soziale Bewegungen in der DDR ist jedoch in zweifacher Hinsicht beschränkt. Sie konzentriert sich erstens weitgehend auf die Umwelt-, Friedens- und Frauengruppen, die vor 1989 unter dem Dach der evangelischen Kirche existierten. Die Auseinandersetzung um die Frage, ob es sich bei diesen Gruppen um soziale Bewegungen gehandelt hat, ist nachhaltig geprägt durch eine zweite Beschränkung der Debatte. Der Bewegungsbegriff, um den sie kreist, unterscheidet sich von dem hier verwandten darin, daß er inhaltlich festgelegt ist auf einen bestimmten Typ sozialer Bewegungen, namentlich auf die sogenannten Neuen Sozialen Bewegungen. Damit ist die Debatte ein charakteristischer Ausdruck der deutschen Bewegungsforschung, die zeitgleich mit der bundesdeutschen Umwelt- und Friedensbewegung Ende der siebziger Jahre entstand und sich seitdem so stark auf die Neuen Sozialen Bewegungen konzentriert, daß sie mitunter aus dem Blick verliert, daß diese nur eine spezifische Ausprägung sozialer Bewegungen sind.20 Diese Fixierung der Forschung 19 Vgl. zur Methodenvielfalt den Sammelband von Rucht, Research. Eine umfassende Formulierung der Eckpunkte der bewegungstheoretischen Diskussionen bietet Rasckke, Grundriß. 20 Einen Eindruck von der bundesdeutschen Debatte vermittelt das 1988 ins Leben gerufene Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, dessen Heft 4/1995 sich dem Erbe der Bürgerbewegungen in der DDR widmete.

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auf die Neuen Sozialen Bewegungen hat die Debatte zu 1989 nachhaltig und greift man den Ausführungen voraus - nachteilig beeinflußt. Was ist eine Neue Soziale Bewegung? Sie ist an allererster Stelle eine postmaterialistische Bewegung. Neue Soziale Bewegungen thematisieren Umwelt-, Friedens-, Dritte Welt- und andere, oft globale Themen, die erst nach der »silent revolution»21 während der wirtschaftlichen Prosperitätsphase der fünfziger und sechziger Jahre in das Bewußtsein der westlichen Gesellschaft traten. Bezüglich ihrer Erscheinungsform zeichnen sich Neue Soziale Bewegungen definitionsgemäß durch einen geringen Organisationsgrad aus; sie sind hierarchiefeindlich sowie weniger ideologisch als vielmehr thematisch orientiert, so daß sich häufig eine Vielzahl kleinerer, thematisch spezialisierter Bewegungen bildet, die untereinander eng vernetzt sind. Getragen werden sie maßgeblich von den sogenannten Humandienstleistenden, also von Angehörigen des Bildungs-, Sozial-, Gesundheits- und Kommunikationswesens.22 Nicht zuletzt die sozialstrukturelle Verankerung im Dienstleistungssektor, der für nachindustrielle Gesellschaften typisch ist, verdeutlicht, daß Neue Soziale Bewegungen moderne Bewegungen in dem Sinne sind, daß sie erst seit den siebziger Jahren auftraten und von den gesellschaftlichen Voraussetzungen her auch erst dann auftreten konnten. Ausgehend von diesen Definitionskriterien hat Hubertus Knabe bereits 1988 vorgeschlagen, die politisch-alternativen Gruppen in der DDR als Neue Soziale Bewegungen zu interpretieren.23 Unter Verweis auf die dezentrale und basisdemokratische Organisationsstruktur der Gruppen, auf die Herkunft vieler ihrer Mitglieder aus dem kirchlichen Humandienstleistungsbereich und auf die postmaterialistischen Wertbezüge des alternativen Milieus gelang Knabe damit ein innovativer Vorstoß auf einem Feld, das von der westdeutschen Forschung bis dahin weitgehend vernachlässigt worden war. Zugleich entfachte er eine Debatte über die Anwendbarkeit bewegungstheoretischer Ansätze in der DDR. Neben Zustimmung24 löste seine These allerdings auch Widerspruch aus, der geltend machte, daß die vor dem Hintergrund westlicher Gesellschaften entwickelten Ansätze auf östliche Bewegungen nicht anwendbar seien. Da die oppositionellen Gruppen während der achtziger Jahre mit repressiven Bedingungen zu kämpfen gehabt hätten, die jeglichen Mobilisierungsversuch zum Scheitern verurteilten, würden die bewegungssoziologischen Annahmen ihren Problemen und Möglichkeiten nicht gerecht, setzten sie doch demokratische Rahmenbedingungen voraus. Auch die Akzentuierung postmaterialisti21 Vgl. Inglehart, Revolution. 22 Vgl. zu den Charakteristika Neuer Sozialer Bewegungen Raschke, Grundriß, S. 411 ff. und Roth, S. 138-169. 23 Vgl. Knabe, Bewegungen. 24 Vgl. etwa Zander und Probst, Perspektiven, S. 30ff., die sich für eine Verwendung des NSBBegriffs aussprechen.

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scher Wertorientierungen, deren Bedeutung für osteuropäische Staaten nachhaltig relativiert wurde, gab Anlaß zu Zweifeln, ob die politisch-alternativen Gruppen der DDR tatsächlich als Neue Soziale Bewegungen zu verstehen seien.25 Aus der Auseinandersetzung um den Status der Gruppen in den achtziger Jahren lassen sich verschiedene Hinweise für die Frage gewinnen, inwieweit der Massenprotest von 1989 als soziale Bewegung verstanden werden kann. Erstens ist festzuhalten, daß die Bewegungstheorie tatsächlich eine westliche Theorie ist, die in demokratisch verfaßten Gesellschaften entstanden und in ihren Prämissen auf diesen Gesellschaftstyp ausgerichtet ist. Diese Tatsache spricht zwar nicht grundsätzlich gegen die Anwendung des Ansatzes auf nichtdemokratische Gesellschaften, sie mahnt jedoch zur Vorsicht. Zweitens kann man konstatieren, daß die inhaltlichen Voraussetzungen, die mit dem Begriff der Neuen Sozialen Bewegungen verbunden sind, die Anwendung dieses Konzeptes auf die achtziger Jahre fraglich, auf die Proteste des Jahres 1989 aber unmöglich machen. Anstelle einer Vielzahl kleinerer, thematisch spezialisierter Bewegungen handelte es sich 1989 um eine landesweite Protestbewegung, die alles andere als postmaterialistisch geprägt war. Die von den Demonstranten und oppositionellen Gruppen gleichermaßen erhobenen Forderungen zielten auf klassische, liberale Freiheitsrechte, die Bewegung insgesamt auf demokratische Reformen in der DDR, so daß die Charakterisierung als Neue Soziale Bewegung wenig hilfreich ist. Trotzdem hat sich der Begriff und mit ihm eine folgenschwere Implikation gehalten. Das Verständnis der Friedens- und Umweltgruppen der achtziger Jahre als »Vorformen«26 Neuer Sozialer Bewegungen führte dazu, daß der Protest des Jahres 1989 als Entfaltung dieser bis dahin latenten Bewegungen begriffen wird. Daher bleibt der Bewegungsbegriff zumeist systematisch auf die Neuen Sozialen Bewegungen, also die oppositionellen Gruppen beschränkt. Ungeachtet der Definition, der zufolge eine soziale Bewegung »immer viel mehr ist als die Organisation, die einen Teil der Bewegung bildet«,27 hat sich in der analytisch orientierten Forschung zu 1989 die Einschränkung des Bewegungsbegriffs auf die Bewegungsorganisationen etabliert. So debattiert Helmut Fehr ausführlich die theoretischen Ansätze und ihre Anwendbarkeit, um daraufhin das Neue Forum als soziale Bewegung einzuführen.28 Auch Jan Wielgohs setzt - ausgehend von der vorn zitierten Definition Raschkes - die Bürgerbewegung mit den am Runden Tisch vertretenen oppositionellen Gruppen 25 Vgl. Kühnel u.a., bes. S. 23. und Elvers/Findeis. Siehe hierzu auch die differenzierte Diskussion bei Brand, Bewegungen. 26 Kühnel u.a., S. 23. 27 Raschke, Grundriß, S. 78. 28 »Die Bürgerkomitees Solidarnosc und das Neue Forum - das ist meine zentrale These sind soziale Bewegungen«, Fehr, Öffentlichkeit, S. 33.

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und den lokalen Bürgerinitiativen gleich. Demgegenüber betrachtet er die »große Zahl der Demonstranten, die vor und auch während der ›Wende‹ über Protestaktionen hinaus nicht in organisierter Form politisch aktiv wurden«,29 explizit nicht als Teil der Bewegung. Insofern handelte es sich um eine Bewegung ohne Mobilisierte, und damit - zugespitzt formuliert - im Verständnis dieser Arbeit nicht um eine Bewegung. Pointiert hat Dieter Rink den vorherrschenden Forschungsansatz zusammengefaßt. Seiner Meinung nach ist der Sozialismus in der DDR »von einer (alten) sozialen Bewegung, der Arbeiterbewegung, aus der Taufe gehoben und - wie es scheint - von (neuen) sozialen Bewegungen, den Bürgerbewegungen, zu Grabe getragen«30 worden. In Abgrenzung von Rink geht die vorliegende Arbeit von der Überzeugung aus, daß es sich im Herbst 1989 um eine alte soziale Bewegung, die Bürgerbewegung, handelte. Der Begriff der Bürgerbewegung bezieht sich im folgenden ausschließlich auf denjenigen kollektiven Handlungszusammenhang, der zwischen September und Dezember 1989 den Massenprotest in der DDR trug. Er umfaßt alle, die sich innerhalb der oppositionellen Gruppen, in den Friedensgebeten oder Demonstrationen für eine basisdemokratische Erneuerung der DDR einsetzten. Erst ausgehend von diesem Verständnis ist es möglich, die Wechselwirkungen zwischen den oppositionellen Gruppen und den Demonstranten zu rekonstruieren, die dem Protest ihre Dynamik und Wirkung verliehen. Nicht zuletzt läßt sich auch die These, die Bürgerbewegungm, also das Neue Forum, der Demokratische Aufbruch und die anderen oppositionellen Gruppen, hätten als Totengräber des real existierenden Sozialismus fungiert, erst dann kritisch prüfen, wenn auch die mobilisierten Teile der Bewegung gleichberechtigt in die Analyse einbezogen werden. Um Mißverständnisse zu vermeiden, gilt es abschließend, vier Prämissen dieses Vorhabens zu akzentuieren. Erstens: Weder beanspruchen noch implizieren die Ansätze der Bewegungsforschung einen normativen Charakter. Sie sind heuristische Hilfsmittel, die abhängig von den empirischen Gegebenheiten gewählt werden und sich immer den jeweiligen Fragestellungen unterordnen. Es geht daher nicht darum, die ostdeutsche Bewegung durch westdeutsche Theorieangebote zu vereinnahmen.31 Das einzige Kriterium der Modelle ist ihre Nützlichkeit, die sie im Laufe der Analyse unter Beweis stellen müssen und werden.

29 Wielgohs, Auflösung, S. 426f. 30 Rink, Bewegungen, S. 45. 31 Diesen Vorwurf impliziert beispielweise Eckert in seiner Rezension zu Fehr, wenn er feststellt: »Bei der Anwendung des Begriffs der sozialen Bewegungen scheint es sich vielmehr um einen Versuch zu handeln, einen Terminus, der im westlichen sozialwissenschaftlichen Diskurs entstanden ist, nun auch auf die Bürgerbewegung des Ostens zu stülpen«, R. Eckert, in: ZfG Jg. 45, 1997, S. 955.

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Zweitens: Die Kennzeichnung als soziale Bewegung unterstellt keine Identi­ tät der Beteiligten.32 Es ist dieses Mißverständnis, das maßgeblich der verbreite­ ten Einschränkung der Bewegung auf ihre Bewegungsorganisationen zugrun­ de liegt, da diese von ihrer sozialen Struktur, ihren Denk- und Handlungsmu­ stern und ihren Zielen sowie Interessen leichter als soziales Kollektiv zu erken­ nen sind als der fluide Gesamtzusammenhang der Bewegung. Um die Perspek­ tive zu erweitern, ist es nötig, die Tatsache anzuerkennen, daß auch ein nur temporäres Aktionsbündnis von Individuen und Gruppen einen kollektiven Handlungszusammenhang konstituieren und historisch wirksam werden las­ sen kann. Es handelt sich, mit anderen Worten, nicht um eine Identität der Interessen, Ziele und Vorstellungen, sondern um eine Konstellation, in der Individuen mit verschiedensten Hintergründen, Interessen und Zielen für eine gewisse Zeit in eine soziale Interaktion treten, um miteinander Ziele zu errei­ chen, die sie allein nicht verwirklichen können. Drittens: Es ist irreführend davon auszugehen, daß die Aktivisten der Träger­ gruppen die Bevölkerung direkt und unvermittelt zu einer Teilnahme an den Protesten gewinnen müssen, um von Mobilisierung sprechen zu können.33 Damit wird dem Begriff der Mobilisierung eine Restriktion auferlegt, die sei­ nem dynamischen Charakter nicht gerecht wird. Erweitert man dagegen, wie oben vorgeschlagen, den Begriff der Bewegung auf die nichtorganisierten Teile, wird gerade im Falle der DDR-Bürgerbewegung deutlich, daß Mobilisierung keineswegs zwangsläufig von den Bewegungsorganisationen direkt und gezielt betrieben werden muß. Das Beispiel Leipzigs zeigt exemplarisch, daß es nicht die oppositionellen Gruppen, sondern die Demonstranten waren, die durch ihre Zahl, ihre konsensfähigen Ziele und ihr gewaltfreies Auftreten die Bewe­ gung repräsentierten und damit neue Demonstranten warben. Viertens: Die Frage, ob und wie die westliche Bewegungstheorie auf eine öst­ liche Bewegung anzuwenden ist, läßt sich nicht pauschal beantworten. Fraglos greifen verschiedene Modelle, die in den letzten Jahren entwickelt worden sind, in nichtdemokratischen Staaten ins Leere. Überlegungen, die wie der Ressourcenmobilisierungsansatz von Organisationen ausgehen, denen keine äußeren Beschränkungen auferlegt sind, so daß sie in der Wahl ihrer Mittel prinzipiell frei sind, gehen an den Problemen der Trägergruppen nicht nur in der DDR, sondern auch in Polen oder der ČSSR weit vorbei. Andererseits gibt es keinen plausiblen Grund, die Anwendbarkeit eines theoretischen Instru32 Dieses Verständnis liegt etwa Eckerts Kritik an Fehr zugrunde, dessen Anwendung des Bewegungsbegriffs in Frage gestellt wird; denn »in der DDR handelte es sich zum einen nicht um monolithische Zusammenschlüsse, und zum anderen wurden keine einheitlichen [...] Ziele ver­ folgt«, R. Eckert, in: ZfG, Jg. 45, 1997, S: 955. 33 Diesem Verständnis folgen beispielsweise Opp/Voß (S. 144), die konsequenterweise zu dem Ergebnis kommen, »daß die Oppositionsgruppen nicht in der Lage waren, auch nur einen gerin­ gen Teil der Bevölkerung direkt für die Proteste zu gewinnen. Die Mobilisierungsthese dürfte also kaum zutreffen.«

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mentariums, das sich zur Untersuchung der Französischen Revolution von 1789 eignet, für die DDR von 1989 prinzipiell in Frage zu stellen.34 Eine nicht abschließende, aber doch für diese Arbeit befriedigende Lösung des Problems besteht darin, die Unterteilung zu übertragen, die sich hinsichtlich der Idealtypen Max Webers etabliert hat,35 und zwischen soziologischen und historischen Elementen der Bewegungstheorie zu unterscheiden. Als eine Form kollektiven sozialen Handelns ist soziale Bewegung überzeitlich und nicht an bestimmte gesellschaftliche Rahmenbedingungen oder Voraussetzungen gebunden. Als solche ist sie daher sowohl in der Französischen Revolution als auch in der DDR des Jahres 1989 anzutreffen. Eine kategorische Ablehnung dieser Anwendung läßt sich nicht plausibel begründen. Auf der anderen Seite ist Vorsicht geboten, wo es sich um zeit- und kontextgebundene Ansätze handelt, die bestimmte gesellschaftliche oder auch technische Bedingungen voraussetzen. Das ist beispielsweise bei der Verwendung des Begriffs der Neuen Sozialen Bewegungen der Fall, auf dessen Anwendungsproblematik bereits verwiesen wurde. Bei dieserart inhaltlichen Ansätzen gilt es, differenziert vorzugehen, um nicht einzelne Theorieelemente unhinterfragt und »mechanistisch«36 auf die DDR zu übertragen. Ist man sich dieser Problematik bewußt, kann die Anwendung der Modelle und Hypothesen nicht zuletzt auch innovativ für die Bewegungsforschung selbst sein, die bislang die besonderen Probleme und Möglichkeiten sozialer Bewegungen in nichtdemokratischen Staaten weitgehend vernachlässigt hat.37 Auf der Grundlage dieser Überlegungen versucht die Arbeit, die DDR-Bürgerbewegung als einen eigenständigen Akteur zu untersuchen, ohne die Einbindung der Bewegung an die politischen Rahmenbedingungen und historischen Geschehnisse zu vernachlässigen. Um die Wirkung und Dynamik der Bewegung fassen zu können, verfolgt die Arbeit den Anspruch, die DDRBürgerbewegung zu untersuchen, also die landesweite Mobilisierungswelle zu erfassen, anstatt sich auf einzelne Städte zu konzentrieren. Diese Herangehensweise wird fraglos nicht allen regionalen und lokalen Entwicklungen gerecht; das ist jedoch auch nicht Ziel der Untersuchung. Vielmehr geht es darum, die Vielzahl lokaler Entwicklungen im Kontext der landesweiten Massenmobilisierung zu rekonstruieren. Zu diesem Zweck werden immer wieder lokale und regionale Entwicklungen herangezogen, sei es, um deren außerordentlichen Stellenwert für den landesweiten Prozeß des Protests zu akzen34 Vgl. zur historischen Reichweite des Bewegungsbegriffs Raschke, Grundriß, S. 22f. 35 Vgl. Käsler 1995, S. 233. 36 Den Vorwurf, Analyseraster in einer reduktionistischen Sichtweise mechanistisch auf die Proteste des Jahres 1989 zu übertragen, erhebt Helmut Fehr zu Recht gegen die Analysen von Oppl Voß sowie von Prosch/Abraham, vgl. die Rezension in: Soziologische Revue 18, Jg. 1995, S. 177. 37 Erste Ansätze einer bewegungssoziologischen Problematisierung und Auseinandersetzung mit den osteuropäischen Demokratiebewegungen der Jahre 1988/89 bieten Brand, Aufbruch; Tarrow, Aiming; Rucht, Unification und vorallemJohnson.

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tuieren, sei es, um nationale Entwicklungen auf lokaler Ebene exemplarisch aufzuzeigen und zu illustrieren. Die Attraktivität und Berechtigung dieser Vorgehensweise liegt meines Erachtens darin, daß ein Rahmen gewonnen werden kann, der es erlaubt, lokale Entwicklungen einzuordnen und auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der nationalen Mobilisierungsdynamik hin zu untersuchen. Ausgehend von diesen Vorüberlegungen orientiert sich der Aufbau der Arbeit zum einen an der Chronologie der Ereignisse, und zum anderen an der Prämisse, daß der Prozeß des Protests in der DDR von einer bewegungsinternen Dynamik sowie von äußeren Einflüssen und politischen Entscheidungen angetrieben wurde. Aufbauend auf der Vorgeschichte von Kritik und Krise in den achtziger Jahren, d. h. der Entwicklung der oppositionellen Gruppen einerseits, der Strukturkrisen und Probleme der DDR andererseits, setzt die Analyse der Bewegung im September 1989 ein. Zu diesem Zeitpunkt wurde die durch die Ausreisewelle angefachte Unzufriedenheit in der DDR durch die Gründung der oppositionellen Gruppen in Berlin und durch die Leipziger Montagsdemonstrationen in Protest überführt. Entlang diesen beiden Linien des Protests formierte sich die Bürgerbewegung, die in den folgenden Monaten eine beispiellose Mobilisierungsdynamik entfalten sollte. Die Darstellung endet im Dezember 1989, als die Bewegung ihre Dynamik einbüßte und unter dem Druck der deutschen Frage und des beginnenden Wahlkampfs wieder zerfiel. Die wissenschaftlichen Arbeiten über die Bürgerbewegung stehen in keinem Verhältnis zu dem großen Raum, den die Erinnerung an 1989 in der Publizistik und im öffentlichen Bewußtsein der Bundesrepublik einnimmt. Angesichts der in den letzten Jahren veröffentlichten und angekündigten Arbeiten38 kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß das akademische Interesse an den Protesten des Jahres 1989 sogar eher nachläßt als zunimmt. Verantwortlich für dieses Desinteresse ist nicht zuletzt die Tatsache, daß sowohl die DDR im allgemeinen als auch das Jahr 1989 im besonderen sich nicht in die institutionalisierten Fachinteressen der wissenschaftlichen Arbeitsteilung einfügen. So ist für die Geschichtswissenschaft der bislang vergangene Zeitraum von zehn Jahren offenbar noch zu kurz, um das Jahr 1989 in den Blickpunkt des historischen Interesses zu rücken.39 Die Soziologie, die den Umbruch in der DDR zunächst als sozialen Großversuch begrüßte und auf eine neu entfachte »soziologische 38 Ein aktueller Literaturüberblick, der sich ausschließlich der Bürgerbewegung widmet, liegt noch nicht vor. Einen Eindruck vermitteln jedoch die Sammelrezensionen von Müller (NPL 39, 1994, S. 459-474), Fehr (Soziologische Revue 18, 1995, S. 170-179) und Ammer (DA 32, 1997, S. 962-966) sowie die Diskussion des Forschungsstandes bei Pollack/Rink. Eine Orientierung über die laufenden Arbeiten bietet der Newsletter »Aktuelles aus der DDR-Forschung« im Deutschland-Archiv. 39 Zu den Schwerpunkten, Chancen und Problemen der Zeitgeschichtsforschung über die DDR siehe Kleßmann/Sabrow.

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Neugierde«40 hoffte, hat sich inzwischen weitgehend wieder aus der Forschung zurückgezogen. Von politikwissenschaftlicher Seite erfuhr und erfährt der Umbruch in der DDR demgegenüber große Aufmerksamkeit, doch richtet sich das Interesse primär auf die politischen Prozesse der deutschen Vereinigung, auf ihre interne Dynamik und ihre internationalen Rahmenbedingungen. Dem Protest, der diese Entwicklung erst ermöglichte, widmen die Studien meist jedoch nur kursorische Bemerkungen.41 Zugleich liegt die DDR hinsichtlich der regionalen Zuordnung der Forschungsinteressen im Niemandsland zwischen der westeuropazentrierten Zeitgeschichte einerseits und der Osteuropaforschung andererseits, deren Untersuchungsraum erst jenseits der Oder-Neiße-Grenze beginnt. Die DDRForschung wiederum, die sich seit langem in diesem Niemandsland etabliert hat, legt ihren Schwerpunkt nach wie vor auf die Zeit bis 1971, während die seit 1989 erheblich an Bedeutung und Ausmaß gewinnende Transformationsforschung erst mit dem Beginn der Transformation im Jahr 1990 einsetzt. Vor diesem Hintergrund kann es nicht verwundern, daß Konrad Jarauschs Feststellung aus dem Jahr 1995 bis heute gültig ist: Angefangen bei der Periodisierung und Datierung der Prozesse über die Erklärung ihrer beispiellosen Dynamik bis hin zur Identifizierung der entscheidenden Akteure und der tieferliegenden Ursachen »wirft der überraschende Umbruch viele ungelöste Fragen auf.«42 Ein großer Teil der bislang vorliegenden Publikationen zur Bürgerbewegung ist von direkt oder zumindest indirekt am Geschehen Beteiligten verfaßt worden.43 Zusammen mit den aus originär wissenschaftlichen Zusammenhängen entstandenen Arbeiten ergibt sich hieraus eine eigen- und gleichzeitig einzigartige Forschungssituation. Sie ist zum einen gekennzeichnet durch eine große Spezialisierung auf einzelne Elemente der Ereignisse, auf die Demonstrationen,44 auf den Einfluß, den Inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit auf den Verlauf der Proteste hatten,45 auf die Sprache im Umbruch,46 auf die personelle, organisatorische und ideelle Bedeutung der evangelischen Kirche,47 auf die 40 Lepsius, Plädoyer, S. 71. Der Titel des Aufsatzbandes lautet: »Experiment Vereinigung: Ein sozialer Großversuch«. Einen bis heute maßgeblichen Ausfluß der soziologischen Neugier stellt etwa derJoas/Kohli vorgestellte Band zu den Ursachen und Folgen dar. 41 Vgl. Glaeßner oder jüngst die Studie vonJäger zum »innerdeutschen Prozeß der Vereinigung 1989/90«, in der - so Ulrich Mählert in seiner Rezension des Buches - die Demonstranten und Aktivisten der Bürgerbewegung zu »Statisten degradiert« werden. (SZ vom 25.5.1999, S. 14). 42 Jarausch, Einheit, S. 14. 43 Dies gilt vor allem für die erste und bislang einzige Arbeit, die eine Gesamtdarstellung der DDR-Opposition von 1949 bis 1989 bietet, vgl. Neubert, Geschichte. 44 Dem Verlauf der Demonstrationen und den Teilnahmemotiven der Demonstranten widmen sich u.a. Lindner, Kultur; Opp/Voß; Döhnert/Rummel; Breitenborn/Rink, McFalls. 45 Vgl. Süß, Staatssicherheit am Ende, S. 225ff.; 560ff; Gutzeit, Stasi; Wolle. 46 Vgl. Reiher und die anderen Aufsätze in diesem Band. 47 Dieser Bedeutung widmen sich - aus unterschiedlichen Perspektiven - etwa Neubert, Kultur; Pollack, Protestantische Revolution; Ziemer; J. Schmid;Jansen-de Graaf.

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Entwicklung einzelner oppositioneller Gruppen48 oder aber auf den Runden Tisch.49 Die vorherrschende Form der Spezialisierung jedoch besteht weniger in einer thematischen als in einer regionalen Konzentration. Teils in Form von Erinnerungen und Dokumentationen damals Beteiligter,50 teils als wissenschaftliche Arbeiten51 und Promotionen52 verfaßt, stellen Studien über den Verlauf der Proteste in einzelnen Städten einen maßgeblichen Teil der vorliegenden Literatur dar. Abgesehen von dem Manko, daß gerade die Ereignisse in Berlin noch nicht bearbeitet sind, vermitteln die zahllosen Regionalstudien ein flächendeckendes Bild der Protestwelle, deren lokale Ausprägungen sich in die landesweite Dynamik einordnen lassen. Neben den thematisch sowie regional spezialisierten Untersuchungen einzelner Aspekte der Bürgerbewegung ist die Literatur zu den Protesten des Jahres 1989 zum anderen dominiert von Quelleneditionen aller Art. Das Spektrum reicht von hektographierten Broschüren bis zu kritischen Editionen,53 von Interviewbänden bis zu Sammlungen der Dokumente einzelner oppositioneller Gruppen,54 von Dokumentationen über die Arbeit der Bürgerkomitees zur Auflösung der Staatssicherheit bis hin zu Protokollen lokaler Runder Tische,55 von Zeitzeugenberichten einzelner Demonstranten hin zu den Autobiographien prominenter Vertreter der Bewegung.56 Verschiedene Dokumentationen über die Geschichte der alternativen Gruppen in den achtziger Jahren,57 Ausgaben programmatischer Schriften osteuropäischer Dissidenten,58 48 Vgl. die Aufsätze zu den ›Bürgerbewegungen‹ in Müller-Enbergs u.a.; Kammradt zum DA sowie von zur Mühlen und den Band von Dove/Eckert zur SDP. 49 Die bis heute maßgeblichen Ergebnisse der Arbeit von Thaysen, Runder Tisch sind inzwischen ergänzt worden von Semtner; Thaysen/Kloth und Hahn. 50 Vgl. Glöckner zu Greifswald; Küttler zu Plauen; Reum/Geißler zu Karl-Marx-Stadt; LütkeAldenhövel u.a. zu Mühlhausen; Bahr zu Dresden; Victor zu Weimar; Adler zum Eichsfeld; Drescher u.a. zu Schwerin; Beratergruppe Dom des Gebetes zu Magdeburg; M. Schneider zu Görlitz; Völlger/Butzke zu Halle; Radeloff zu Dessau; Dietrich zu Leipzig; Heydenreich zu Neubrandenburg. 51 Vgl. Probst, Norden zu Rostock; Franz zu Gotha; Schlegelmilch zu Wurzen; Zwahr, Selbstzerstörung zu Leipzig; Richter/Sobeslavskv zu Dresden und Langer zu den drei Nordbezirken. 52 Vgl. Schnitzler zu Erfurt; Schmidtbauer zu Rostock; Mrotzek zu Parchim; Abrokat zu Wismar. 53 Vgl. die hervorragende Dokumentation der Leipziger Friedensgebete von Dietrich/Schwabe. 54 Vgl. u.a. die Leitfadeninterviews in Findeis u.a., die Zusammenstellungen von Dornheim/ Schnitzler; Herzberg/von zur Mühlen; Kuhn, die Interviews von Philipsen oder die Zeitzeugengespräche in Deutscher Bundestag/Enquete-Kommission. Dokumente einzelner oppositioneller Gruppen bieten u.a. die umfassenden Sammlungen von Rein, Opposition und Schüddekopf; die Dokumentationen zum NF (DGB-Bundesvorstand; Michelis) oder zu NF, VL, UFV (AstA der TU Berlin). 55 Zu den Bügerkomitees vgl. Vogel (Magdeburg); Werdin (Frankfurt/Oder) und den vom Leipziger Bürgerkomitee herausgegebenen Band. Die Arbeit von Runden Tischen zeigt u.a. Lintzel, der den Runden Tisch des Bezirks Halle in Beschlüssen und Protokollen dokumentiert. 56 Vgl. etwa die Tagebuchaufzeichnungen in Tetzner, der einen Eindruck der Entwicklung der Leipziger Montagsdemonstrationen vermittelt. Autobiographische Texte bzw. Textsammlungen bieten Reich; E. Richter; Schorlemmer; Eppelmann. 57 Vgl. u.a. Rüddenklau; Meckel/Gutzeit. 58 Havel, Leben; Konrád; Michnik, Frieden.

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Textsammlungen aus der DDR-Opposition vor 1989 und Reprints ostdeutscher Samisdat-Zeitungen,59 Bild- und Textdokumentationen einzelner Demonstrationsverläufe60 und die veröffentlichten Ergebnisse zeitgenössischer Meinungsumfragen61 runden das Bild eines hervorragend dokumentierten, bislang aber zuwenig analysierten Phänomens ab. Darüber hinaus erstrecken sich die Quelleneditionen nicht nur auf die Vorgeschichte und den Verlauf der Bürgerbewegung, sondern auch auf ihre Verbündeten und ihre Gegenspieler. So sind etwa die Resolutionen, in denen sich Schriftsteller, Schauspieler, Musiker oder auch Betriebsbelegschaften mit den Protesten solidarisierten, in veröffentlichter Form zusammengestellt.62 Auch hinsichtlich der Evangelischen Kirchen lassen sich die Formen und Ziele des Engagements aus verschiedenen Quelleneditionen rekonstruieren, die zahlreiche Dokumente aus den bzw. über die Kirchen zugänglich machen.63 Schließlich sind auch die Absichten und Probleme derjenigen Instanzen umfassend dokumentiert, die in der Bewegungsterminologie als Kontrollinstanzen bezeichnet werden, also im Falle der DDR Staat und Partei. Verschiedene Autoren haben in den letzten Jahren die einzigartige Archivsituation in den neuen Bundesländern genutzt, um Akten- und Archivbestände einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Interne Dokumente und Sitzungsprotokolle der SED-Führung sowie lokaler SED-Organe64 liegen seitdem ebenso vor wie Lageberichte der Volkspolizei65 und verschiedenste Sammlungen von Dokumenten, Berichten und Informationen des Ministeriums für Staatssicherheit.66 59 Vgl. u.a. Bickhardt, Recht; Rein, Revolution und die Reprints des Grenzfalls (Hirsch/Kopelew) und der Arche Nova (Jordan/Kloth) oder die Dokumentation zahlreicher Beiträge der Umweltblätter in Rüddenklau. 60 Bilder und Texte etwa der Leipziger Demonstrationen sind dokumentiert in: W. Schneider; Neues Forum Leipzig und Naumann, Wendetagebuch. Zur Berliner Demonstration vom 4.11.1989 siehe: Hahn u.a. 61 Vgl. die Veröffentlichung von Daten, die das Leipziger ZIJ in den siebziger und achtziger Jahren erhoben hat, in Friedrich. Förster/Roski präsentieren die Ergebnisse von Umfragen unter Leipziger Demonstranten. 62 Vgl. Schüddekopf. 63 Vgl. Demke u.a. für eine Dokumentation aus der Sicht der Kirche; Bester/Wolf"für eine Dokumentation der Arbeit der Kirche aus der Sicht des MfS. 64 Vgl. etwa die Sammlung von internen Dokumenten und Protokollen der SED-Führungsspitze bei Stephan oder die Wortprotokolle der letzten Sitzungen des Zentralkomitees bei Hertle/ Stephan. Dokumente lokaler SED-Leitungen bietet etwa der Quellenanhang in Drescher u.a. zu Schwerin. 65 Vgl. die Dokumentation von Lageberichten der Volkspolizei für den Bezirk Neubrandenburg von Herbstritt. 66 Neben der vielzitierten Sammlung interner MfS-Dokumente von Mitter/Wolle bieten Dietrich/Schwabe zahlreiche MfS-Materialien zu den Leipziger Friedensgebeten und Demonstrationen, während etwa Ammei'/Memmler die Tätigkeit der Rostocker BVfS dokumentieren. Die Einwände, die in den letzten Jahren gegen die Verwendung von MfS-Quellen geltend gemacht worden sind, halten m.E. einer sorgfältigen Prüfung nicht Stand. Sofern für diese Bestände die Regeln historischer Quellenkritik beachtet werden, handelt es sich um Quellen, die wie alle ande-

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Insgesamt ergibt sich aus der vorliegenden Literatur die bereits angesprochene eigen- und einzigartige Ausgangslage dieser Arbeit. Die bislang unternommenen Untersuchungen zu einzelnen Elementen der Proteste, darunter besonders die Regionalstudien auf der einen, die Quelleneditionen auf der anderen Seite, bieten eine große Vielfalt an unterschiedlichstem Material, dessen Synthese allerdings bislang noch aussteht. Charakteristischerweise untersucht etwa die erste umfassende Arbeit zur ›Wende‹zeit, die 1995 erschienene Studie Konrad Jarauschs,67 die Massenproteste und Aktivitäten der oppositionellen Gruppen in zwei inhaltlich wie systematisch getrennten Kapiteln, so daß das Wechselspiel zwischen beiden kaum erfaßt wird. Die 1999 auf deutsch erschienene Arbeit von Charles Maier vermeidet demgegenüber diesen Fehler und bietet ein breites und facettenreiches Bild der Ereignisse, die in einem weiten historischen Kontext betrachtet und eingeordnet werden. Eine detaillierte Rekonstruktion der Abläufe und Entwicklungen bietet die Arbeit Maiers aber ebensowenig wie einen Blick über die Zentren des Protests - Berlin, Leipzig, Dresden - hinaus.68 Vielfältiges unveröffentlichtes Material findet sich in den Beständen verschiedener Archive, die in der Tradition der Bürgerbewegung stehen.69 Von ehemaligen Akteuren fachkundig betreut, verfügen vor allem das Robert-Havemann-Archiv und das Matthias-Domaschk-Archiv in Berlin sowie das Archiv Bürgerbewegung Leipzig über breite Sammlungen zu vielen Aspekten von Opposition und Protest in der DDR. Sie ermöglichen systematische Zugriffe auf lokale und überregionale Flugblätter, Zeitzeugenberichte, Denkschriften, Protokolle, Bild- und Filmdokumentationen. Zur Rekonstruktion von Ereignisabläufen, aber auch zur programmatischen Entwicklung der oppositionellen Gruppen wurden zudem zeitgenössische west-, ab November 1989 zunehmend auch ostdeutsche Zeitungen ausgewertet.70 Für diejenigen Trägergruppen, die sich als Parteien konstituierten und daher seitens der Aufarbeitung der Bürgerbewegungen weitgehend unberücksichtigt bleiben,71 verfügen die von den Stiftungen der ehemaligen Schwesterparteien SPD und CDU verwalteten ren aus einer bestimmten Wahrnehmung heraus bestimmte Aspekte beleuchten und als solche Eingang in diese Arbeit finden, (vgl. zu der besonderen Problematik der Akten des Mfs Gauck und Engelmann). 67 Vgl. Jarausch, Einheit. 68 Vgl Maier. 69 Zur Archivsituation und dem Verbleib von Selbstzeugnissen der Bewegung siehe Knabe, Selbstzeugnisse. 70 Hier sei vor allem auf die tageszeitung hingewiesen, die aufgrund ihrer räumlichen und ideellen Nähe zur Bürgerbewegung nicht nur in der eigenen Wahrnehmung die beste und differenzierteste Berichterstattung unter allen ausgewerteten Zeitungen bot. (vgl. »Streicheleinheiten«, in: die tageszeitung vom 17.10.1989, S. 4). 71 Charakteristisch ist hierfür die Auswahl der Beiträge in Müller-Enbergs u.a., die sich allen Gruppen außer den Parteien SDP und DA widmen.

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Archive über ausgewählte Bestände, so daß sich auch die Aktionen und internen Prozesse der SDP und des Demokratischen Aufbruchs rekonstruieren lassen.72 Die regionale Ebene schließlich, die dieser Arbeit als Fundament der Thesenbildung und Darstellung dient, läßt sich nicht nur durch die - oftmals mit ausführlichen Quellenanhängen versehenen - Regionalstudien erfassen, sondern auch durch die systematische Auswertung verschiedener Lokal- bzw. Regionalzeitungen, die ab Ende Oktober zunehmend unvoreingenommener über die lokalen Proteste berichteten.73 Um sich für diejenigen Städte, zu denen bislang noch keine Regionalstudien vorliegen, nicht nur auf die zeitgenössische (Partei-)Presse verlassen zu müssen, stützt sich die Rekonstruktion der Ereignisse in Berlin und Dresden darüber hinaus auf Material lokaler Archive.74 Für alle Archivmaterialien gilt, daß sie, sofern sie auch in veröffentlichter Form vorliegen, nach ihren publizierten Fundstellen zitiert werden, um Argumentation und Darstellung so weit wie möglich nachvollziehbar zu machen. Während sich die Untersuchung der Bewegung in verschiedenen Aspekten auf unveröffentlichtes Material stützt, wurde aus mehreren Gründen darauf verzichtet, die Aktionen von Staat und Partei durch eigene Archivstudien abzudecken. Bezüglich der prinzipiell für die Arbeit sehr interessanten Bestände des Bundesbeauftragen für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, muß man feststellen, daß eine Akteneinsicht allein wegen der extrem langen Wartezeiten erheblich erschwert, wenn nicht sogar im Rahmen einer auf drei Jahre angelegten Dissertation fast unmöglich ist. Zudem sind die (Re-)Aktionen der Herrschaftsebene inzwischen nicht nur in zahlreichen Quelleneditionen dokumentiert, sondern auch umfassend erforscht.75 Zumal da sowohl das Robert-Havemann-Archiv und das Archiv Bürgerbewegung Leipzig als auch das Archiv der sozialen Demokratie in Bonn über umfangreiche Bestände relevanter Akten verschiedener Ebenen von MfS und SED verfügen, ist es möglich, diesen Bereich, der eher die Rahmenbedingungen als den Gegenstand der Arbeit ausmacht, ohne Zuhilfenahme der staatlichen Archive 72 Als besonders ergiebig erwiesen sich hierbei der »Bestand Martin Gutzeit« im Archiv der sozialen Demokratie/Friedrich-Ebert-Stiftung, sowie die Bestände »Michael Walter« und »DA Thüringen« im Archiv für Christlich Demokratische Politik/Konrad-Adenauer-Stiftung. 73 Neben der Union, der Tageszeitung der CDU in den Bezirken Dresden und Karl-MarxStadt, wurden die folgenden Organe der jeweiligen SED-Bezirkleitungen ausgewertet: Berliner Zeitung/BerYm; Sächsische Zeitung/Dresden; Das Volk/Eriurt; Volkswacht/Gera; Freie PressefKzrlMarx-Stadt; Volksstimme/Magdeburg; Ostsee-Zeitung/Rostock; Schweriner Volkszeitung/Schwer'm; Leipziger Volkszeitung/Leipzig; Freies Wort/Suhl. 74 Neben den gennannten Archiven in Berlin bieten die Bestände des Stadtmuseums Dresden/Abt. Schriftgut einen Zugang zu den Ereignissen um die Dresdener »Gruppe der 20«.. 75 Zum MfS im Herbst 1989 vgl. Süß, Staatssicherheit am Ende; zu den Repressionsplänen Auerbach und Arnold; zur SED Bortfeldt und Hertle/Stephan; zum Mauerfall Hertle, Mauer und zum Zusammenbruch der staatlichen Ordnung auf kommunaler Ebene Liehold.

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zu SED und MfS zu untersuchen. Die einzige Ausnahme stellt die Berliner SED-Bezirksleitung dar, deren Bestände im Landesarchiv Berlin eingesehen wurden. Eine andere Quellengattung, die sich in den Arbeiten über 1989 großer Beliebtheit erfreut, bleibt in dieser Untersuchung ebenfalls unberücksichtigt. Von eigenen Zeitzeugeninterviews, die eine oral history der Bewegung ermöglichen könnten, wurde weitgehend abgesehen. Denn in Anerkennung der unbestrittenen Möglichkeiten, die sich der in dieser Hinsicht privilegierten Zeitgeschichte bieten, bestehen gegen die Verwendung von Interviews als Quellengrundlage grundlegende Einwände. Die methodischen Bedenken gegen eine Rekonstruktion von Ereignissen aus den späteren Erinnerungen Beteiligter beziehen sich vor allem auf die Diskrepanzen zwischen den zeitgenössischen Wahrnehmungen, den nachfolgenden Erfahrungen und den aktuellen Deutungen.76 Eine Möglichkeit, diese Brüche hinreichend zu reflektieren und dadurch die quellenkritischen Einwände auszuräumen, bieten serielle Leitfadeninterviews, die weit über den konkreten Gegenstand des Interesses hinausgehen. Nur so läßt sich aus Zeitzeugengesprächen eine aussagekräftige und überzeugende Quellenbasis gewinnen. Der erforderliche Aufwand steht jedoch in keinem Verhältnis zu dem Nutzen, der sich im Rahmen der Fragestellungen dieser Arbeit aus Interviews ergäbe. Anders als im Falle von Studien über die Trägergruppen des Protests, liegt der Akzent der folgenden Untersuchung weniger auf den gruppeninternen Prozessen, als vielmehr auf ihren Aktionen und deren Bedeutung für die Mobilisierungsdynamik der Bewegung. Diese Aspekte lassen sich, wo sie durch das oben genannte Material nicht hinreichend abgedeckt sind, durch Aussagen aus veröffentlichten Interviewsammlungen und vor allem durch die zahllosen zeitgenössischen Interviews, die Vertreter der Bewegung mit Presse, Funk und Fernsehen führten,77 besser erfassen als durch stichprobenartige Gespräche zehn Jahre danach. Darüber hinaus aber wurde nicht gänzlich auf die Einbeziehung des Wissens von Zeitzeugen verzichtet. Abgesehen davon, daß sich die Darstellung an verschiedenen Punkten auf Detailinformationen aus Gesprächen stützt, die in den Fußnoten einzeln ausgewiesen werden, hat sich das Verfahren bewährt, verschiedene Teile der Arbeit von Beteiligten gegenlesen zu lassen.78 76 Vgl. die kritische Auseinandersetzung mit biographischen Sinnkonstruktionen bei jureit. 77 Neben den Interwievs in den ausgewerteten Zeitungen und Nachrichtensendungen wurde hier u.a. auf die vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung herausgegebene 25bändige Presedokumentation »Deutschland 1989« zurückgegriffen, in der neben dpa-Meldungen auch Transskriptionen von Interviews aus Fernseh-Magazinen und Radiosendungen abgedruckt sind. 78 In diesem Zusammenhang danke ich vor allem Marc-Dietrich Ohse, der mir als DDRForscher einerseits und Zeitzeuge andererseits vor allem bei den Kapiteln zu den Leipziger Montagsdemonstrationen sehr geholfen hat.

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Um weiße Flecken innerhalb der Forschung zu füllen, greift die Arbeit schließlich auf Quellengattungen und -bestände zurück, die sich bislang in der historischen Forschung noch nicht etabliert haben. Hierzu zählt an erster Stelle die systematische Auswertung der Nachrichten- und Fernsehberichterstattung über die Bürgerbewegung. Durch die freundliche Kooperation der tagesschau/ tagesthemen-Redaktion von NDR-aktuell in Hamburg, die mir sowohl ausführliche Sendepläne als auch Aufzeichnungen zeitgenössischer Sendungen zur Verfügung stellte, war es möglich, die verbreitete These von der ersten Medienrevolution inhaltlich zu füllen und die Funktion der Medien im Prozeß des Protests zu erfassen. Zur Rekonstruktion der in den westdeutschen Zeitungsberichten und den MfS-Informationen nur mit Vorbehalten greifbaren Stimmungslage der Bevölkerung in der Zeit der Sprachlosigkeit während des Sommers 1989, stellte mir Ruth Eberhardt freundlicherweise ihr Wissen als ehemalige Mitarbeiterin des Ressorts Leserbriefe bei der Berliner Zeitung und darüber hinaus ihr Privatarchiv von damals unveröffentlichten Leserbriefen zur Verfügung.

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I. Die kognitive Konstituierung der DDR-Bürgerbewegung Zwei grundlegende Fragen drängen sich zu Beginn dieser Untersuchung auf. Erstens: Warum entfaltete sich der Protest in der DDR gerade im September 1989, warum nicht früher wie in Polen oder erst später wie in der ČSSR? Zwei­ tens: Warum nahm der Protest die Formen an, für die er berühmt geworden ist; warum war er gewaltfrei und blieb es auch dann noch, als die Möglichkeit zu Racheakten und Vergeltung bestand; warum war er so konsequent auf die Her­ stellung von Öffentlichkeit, auf Dialog und auf die Einlösung der Bürger- und Menschenrechte fixiert? Diesen Fragen ist das einleitende Kapitel der Arbeit gewidmet. Während die Konstellation, in der sich die Proteste im September 1989 entfalten konnten, im nächsten Abschnitt untersucht werden soll, wird sich die Analyse zunächst auf die zweite Frage konzentrieren: Woher rührten die Eigenarten und Spezifika der Bürgerbewegung, wer oder was prägte die Formen und Ziele des Protests? In der Literatur werden zwei unterschiedliche Antworten auf diese Fragen angeboten. Auf der einen Seite läßt sich die Tendenz beobachten, die Charak­ teristika der Bewegung primär aus äußeren Faktoren zu erklären. So wird etwa eines der prägnantesten Elemente der Proteste, die Gewaltlosigkeit der De­ monstrationen, zumeist auf situative Faktoren wie die Bedrohung durch die Sicherheitskräfte zurückgeführt.1 Auch die zentralen Forderungen der Bewe­ gung erscheinen in dieser Perspektive als eine Reaktion auf die undemokrati­ schen Herrschaftsstrukturen, an deren Krisenerscheinungen sich die Bewe­ gung in ihrer Programmatik kurzfristig und »in sehr kluger Form«2 anpaßte. Angesichts des offensichtlichen Mangels an Bürgerrechten und Öffentlichkeit in der DDR, so läßt sich das Argument zuspitzen, konzentrierten sich die Pro­ teste fast zwangsläufig auf diese Themen. Auf der anderen Seite wird die Prägung der Bürgerbewegung auf das Enga­ gement der oppositionellen Gruppen zurückgeführt, die im September 1989 »zu einem neuen Hoffnungsträger für die resignierten Dulder, für die trotzigen Hierbleiber, für den massenhaften, aber in seiner Vereinzelung ohnmächtigen 1 Vgl. Pollack, Protestantische Revolution, S. 67: »Die viel bewunderte Gewaltlosigkeit der Demonstrationen hatte also weniger mit einem Geist der Friedfertigkeit zu tun als mit taktischem Kalkül.« 2 Süß, Revolution, S. 913.

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Protest« wurden. In dem Moment der Krise und der Sprachlosigkeit »erreichte die Botschaft des ›Aufbruch 89‹ [des Neuen Forums, d.vf.] die stumme Öffentlichkeit der DDR«,3 bündelte die Unzufriedenen und wies ihnen Form, Ziel und Richtung ihres Engagements. Die beiden genannten Erklärungsfaktoren sollen im folgenden durch einen weiteren ergänzt werden. Denn auch wenn die Proteste in Form und Inhalt fraglos von den Rahmenbedingungen und den Aktionen des Neuen Forums geprägt wurden, waren sie - anders als es die genannten Erklärungen nahelegen -weder durch die gesellschaftlichen Probleme determiniert noch gezielt durch die oppositionellen Vereinigungen herbeigeführt. »Die Tatsache allein, daß Probleme oder Organisationen existieren, hätte keinerlei Konsequenz«, stellte Ronald Inglehart in diesem Sinne fest, um auf einen entscheidenden dritten Faktor für die Mobilisierung von Protest zu verweisen: Gesellschaftliche Probleme und oppositionelle Gruppen werden nicht handlungsrelevant, »wenn nicht ein Wertsystem oder eine Ideologie die Menschen zum Handeln motivierte.«4 Damit löst Inglehart die methodische Überzeugung ein, daß Interessen und Situationsdeutungen an Wertbezüge und Ideen gebunden sind, die bestimmten Elementen der Wirklichkeit einen bestimmten Sinn verleihen und diese handlungsrelevant für Individuen und Kollektive machen. Im Anschluß an diese Überzeugung läßt sich daher die Hypothese formulieren, daß Weltbilder und Ideen auch im Falle der Bürgerbewegung von Bedeutung waren, indem sie »als Weichensteller die Bahnen bestimmt [en], in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte«, wie Max Weber in seiner Untersuchung religiöser Erlösungsideen feststellte. »Nach dem Weltbild«, so Weber, »richtete es sich ja: ›wovon‹ und ›wozu‹ man ›erlöst‹ sein wollte«5 bzw. wie man sich - übertragen auf die DDR-Bürgerbewegung - mit welchem Ziel und in welcher Form aus der Herrschaft der SED befreien konnte. Die Bewegungsforschung versucht seit Mitte der achtziger Jahre verstärkt, ihre klassischen Erklärungsansätze zu erweitern und auch die Bedeutung ideeller und kognitiver Faktoren in ihre Modelle einzubinden. Während ältere Ansätze eine relativ direkte Beziehung zwischen Unzufriedenheit und Protesthandeln unterstellten, setzt sich seitdem die Überzeugung durch, daß weniger ein konkretes, reales Problem, sondern die Wahrnehmung eines Problems kollektives Verhalten initiiert. Erst in dem Augenblick, in dem ein Problem als solches wahrgenommen wird, kann das Ziel seiner Veränderung zum handlungsleitenden Motiv werden. Kollektives Protesthandeln setzt daher voraus, daß eine Vielzahl von Menschen in einen kollektiven Sinnzusammenhang einbezogen wird, innerhalb dessen Wirklichkeit und Handlungsbedingungen neu gedeutet werden, so daß neues Verhalten - Protest - entsteht. Nicht ein Automatismus von Unzufriedenheit und nachfolgendem Protest kennzeich3 Schulz, S. 11.

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net daher die Mobilisierung einer sozialen Bewegung. Es handelt sich vielmehr um einen Prozeß der Ausbreitung neuer Deutungen der Bedingungen, unter denen gehandelt wird, und neuer Ziele, an denen sich das Handeln ausrichtet.6 Gesellschaftliche Unzufriedenheit ist damit nach wie vor eine conditio sine qua non für die Mobilisierung. Wie und in welcher Richtung die Unzufriedenheit aber handlungsrelevant wird, ist weder zufällig noch zwangsläufig, sondern abhängig von den jeweiligen Problemdeutungen und Wirklichkeitswahrneh­ mungen der Bewegten. Auch wenn sich diese Problemdeutungen, zumindest wenn sie erfolgreich sein sollen, an der gesellschaftlichen Realität orientieren müssen, sind sie doch Konstruktionen, welche die Realität im Rahmen be­ stimmter Wertbezüge und Erklärungsmuster interpretieren. Der kognitive Rahmen einer Bewegung ist im Prozeß des Protests zwar be­ grenzt wandelbar und läßt unterschiedliche Fraktionen zu, die Grundposi­ tionen aber werden von allen Beteiligten geteilt. Sidney Tarrow hat dies mit dem Vergleich zwischen Free Jazz und einer Symphonie illustriert: Der kogni­ tive Rahmen einer Bewegung ist nicht wie eine Symphonie schriftlich fixiert und strikt vorgegeben, sondern er gibt ein Grundthema an, auf dessen Grund­ lage sich die Mitwirkenden frei bewegen können, ohne daß der Komponist noch Kontrolle über die Improvisationen hätte.7 Was aber war das Grundthema der DDR-Bürgerbewegung? Der Begriff Bürgerbewegung verweist auf das Selbstverständnis: die Bewe­ gung der Bürger- eine Selbstbezeichnung aus dem September 1989,8 welche die vielen Verbindungen vorwegnahm, die der Begriff des Bürgers im Laufe des Herbstes 1989 in Form von Bürgerbüros, Bürgerwachen oder Bürgerkomitees eingehen sollte. Die Betonung des Bürgers verweist auf die Nähe der DDRBürgerbewegung zum tschechoslowakischen Bürgerforum oder den polni­ schen Bürgerkomitees Solidarność. Sie alle stießen auf ähnliche strukturelle Voraussetzungen und beruhten, so die These, auf ähnlichen Handlungs- und Denkschemata: auf den in verschiedenen osteuropäischen Staaten entwickel­ ten antitotalitären Konzepten einer zivilen Gesellschaft. Innerhalb der polnischen oder auch der tschechoslowakischen Opposition hatte sich seit den siebziger Jahren eine regimekritische Gegenelite herausge­ bildet, die nicht nur die Zivilgesellschafts-Konzepte theoretisch ausarbeitete, sondern auch 1989 eine prominente Rolle innerhalb der nationalen Revolutio4 Invlehart, Umbruch, S. 461. 5 M. Weber, Wirtschaftsethik, S. 252. 6 Vgl. Snow u.a.; Klandermans; Eyerman/Jamison; Gamson; Tarrow, Mentalities und Gilcher-Holtey, S. 44ff. 7 Tarrow, Mentalities, S. 191. 8 Der Begriff Bürgerbewegung wurde zuerst als Selbstbezeichnung in der Gründungserklä­ rung der Bürgerbewegung Demokratie Jetzt (12.9.1989) verwandt. Im Laufe der Entwicklung wurde er zu einem Synonym für die Bürgerrechtsgruppen insgesamt und gleichzeitig zur Selbstund Fremdbezeichnung der Bewegung.

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nen spielte. Die Symbolfigur dieser Gegeneliten ist der spätere Staatspräsident der Tschechischen Republik Vaclav Havel, der seit den siebziger Jahren nicht nur einer der maßgeblichen Zivilgesellschafts-Theoretiker war, sondern als Regimekritiker auch mehrjährige Gefängnisstrafen unter dem sozialistischen System verbüßte. In der DDR gab es demgegenüber weder ähnlich prononcierte Theoretiker noch ähnlich prominente Dissidenten, die 1989 oder danach eine vergleichbare Rolle gespielt hätten. Aufgrund spezifisch (ost-)deutscher Bedingungen verlief die Entwicklung der Opposition in der DDR gänzlich anders und führte doch in Theorie und Praxis zu ähnlichen, zivilgesellschaftlich geprägten Ergebnissen.9 Die Bürgerbewegung von 1989 wurde von den oppositionellen Gruppen weder vorgedacht noch erwartet. Alle Aktionsformen, Zielvorstellungen und Problemdeutungen der Bürgerbewegung sind aber bereits vor 1989 von den oppositionellen Gruppen entwickelt und umgesetzt worden. Es sind die diesem Engagement zugrunde liegenden Deutungsmuster - Bürger- und Menschenrechte, Dialog, Gewaltfreiheit und Herstellung von Öffentlichkeit -, die im Herbst 1989 unter dem Eindruck der Sprachlosigkeit der SED-Führung ihre mobilisierende Wirkung entfalten konnten. Es war daher weder zwangsläufig noch zufällig, daß die Bewegung gewaltfrei für Bürgerrechte und Öffentlichkeit eintrat, anstatt sich auf ähnlich naheliegende Themen wie wirtschaftliche Reformen oder die deutsche Einheit zu konzentrieren. Verantwortlich für diese Prägung war vielmehr, daß die historische Krisensituation im September 1989 eine Konstellation schuf, in der die zivilgesellschaftlichen Ansätze und Ideen ihre Wirkung entfalten konnten. Die Übersetzung von Vaclav Havels »Versuch, in der Wahrheit zu leben« in die allgegenwärtige Metapher des Aufrechten Ganges zeigt, daß nicht nur die Aktiven im Neuen Forum, im Demokratischen Aufbruch oder in der SDP diesen Ideen bewußt oder unbewußt verbunden waren. Sie wurden auch von den Demonstranten auf den Straßen geteilt und in Aktionen und Slogans umgesetzt. Dabei mochte, wie Timothy Garton Ash feststellt, »die Vorstellung des Normalbürgers vom Aufbau einer Zivilgesellschaft [...] den politischen Theoretiker vielleicht nicht befriedigen«. Trotzdem prägten diese Vorstellungen das Handeln der Akteure und verliehen der DDR-Bürgerbewegung ihre Kohärenz und Eigenart: »Auf freiwilliger, authentischer und demokratischer Basis sollten nationale, regionale, lokale und berufliche Vereinigungen möglich werden, die nicht von einem Parteistaat kontrolliert oder manipuliert werden können. Die Bürger sollten zivilisiert sein, das heißt höflich, tolerant und, allem voran, gewaltlos. Eine zivile Gesellschaft der zivilisierten Bürger. [...] Die Menschen hatten einfach genug davon, immer nur Komponen9 Vgl. Fehr, Dissidenz und Maier, S. S. 297ff. 38 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35925-0

ten einer vorsätzlich atomisierten Gesellschaft zu sein. Sie wollten Bürger sein, Individuen mit Würde und Verantwortung, mit Rechten, aber auch mit Pflichten, frei vereint in einer Zivilgesellschaft.«10

1. Civil sorieiy-Konzepte in den osteuropäischen Staaten 1.1. Grundbegriffe und Hintergründe Die osteuropäischen Zivilgesellschafts-Konzepte waren Interpretationen von Krisen der zeitgenössischen real-sozialistischen Systeme und stellten ihnen den Gegenentwurf einer zivilen Gesellschaft gegenüber. Gleichzeitig reihen sie sich in eine ideengeschichtliche Tradition ein, deren Ursprünge in den antiabsolutistischen Lehren des 18. Jahrhunderts liegen.11 In dieser Zeit, als es galt, die Autonomie des Individuums gegenüber dem absoluten Machtanspruch der Fürsten zu verteidigen, versuchten verschiedene Autoren, eine zivile gesellschaftliche Sphäre zu begründen und staatsunabhängige Formen bürgerlicher Vereinigungen zu entwerfen. Nicht zu Unrecht hat man daher die osteuropäische Renaissance der Ansätze auf strukturell ähnliche Ausgangspositionen und Probleme zurückgeführt.12 Weder aus der ideengeschichtlichen Tradition noch aus den osteuropäischen Interpretationen läßt sich indes ein einheitliches, klar definiertes Konzept von Zivilgesellschaft herauslesen. Daß die Rede von der zivilen Gesellschaft in den letzten Jahren auch in den westlichen Demokratien in die politische und politologische Diskussion eingegangen ist, trägt zu der uneinheitlichen Verwendungsweise des Begriffs ein Übriges bei.13 Ebenso kann man kaum von ›der‹ osteuropäischen Rezeption sprechen, da es sowohl zwischen den einzelnen Ländern als auch innerhalb der jeweiligen nationalen Oppositionen signifikante Unterschiede in den Interpretationen gab. Dennoch aber läßt sich ein Kernbestand von Deutungsmustern, Zielvorstellungen und Strategien feststellen, der allen osteuropäischen Zivilgesellschafts-Konzep10 Garton Ash, S. 467f. 11 Zur ideengeschichtlichen Tradition siehe Taylor; Gransow, Maier, S. 300ff. 12 Vgl. Rödel u.a., S. 96: »Wie einst der Anspruch der absolutistischen Fürsten, die Gesellschaft als Ganze zu verkörpern, in Frage gestellt und ausgehöhlt wurde, so zerbricht in ähnlicher Weise der Anspruch der Kommunistischen Partei, die neue Gesellschaft und deren Zukunft zu verkörpern«. 13 Vgl. Gransow, S. 253, der in seiner Bilanz der historischen und aktuellen Diskussionen um die Zivilgesellschaft zu dem Ergebnis kommt, daß noch »zahlreiche - wenn nicht alle - Fragen offen sind. Insbesondere scheint der Begriff methodologisch noch manche Klärung zu benötigen, um nicht unreflektiert normativ aufgeladen zu werden.« Einen Überblick über die Breite der aktuellen Diskussion vermitteln die Beiträge in Das Argument 206 (1994); Cohen/Arato und der Band von Walzer.

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tionen gemein war und der auch - wie in einem zweiten Schritt gezeigt werden wird - von der Opposition in der DDR geteilt wurde.14 Die Ähnlichkeiten der Ansätze beruhten wesentlich darauf, daß die Opposition in allen osteuropäischen Ländern prinzipiell ähnliche politische, kulturelle und wirtschaftliche Bedingungen vorfand. Zu diesen Bedingungen zählten die Erfahrungen des Prager Frühlings. Seine Niederschlagung löste grenzüberschreitende Lernprozesse aus, die zu einer Neuorientierung der Oppositionen in den siebziger Jahren führten. So demonstrierte die gewaltsame Beendigung des Prager Frühlings nachhaltig, daß tiefgreifende politische, wirtschaftliche und institutionelle Reformen auf nationaler Ebene durch die Hegemonie der Sowjetunion unmöglich gemacht wurden. Für die weitere oppositionelle Aktivität implizierte das die Überlegung, daß es letztlich sinnlos war, sich über politische Programme und abstrakte Reformen des politischen Systems Gedanken zu machen, deren Umsetzung die Sowjetunion ohnehin verhindern würde. Gleichzeitig wurde 1968 deutlich, daß die nationalen kommunistischen Parteien praktisch keinen Spielraum für Reformen hatten. Die im Prager Frühling geweckte Hoffnung, eine Partei könne aus sich heraus das Subjekt von Veränderungen werden, wurde enttäuscht und war für die weitere Entwicklung nicht mehr von Bedeutung. Schließlich prägte sich das Erlebnis von 1968 vor allem als eine Demonstration politischer Macht ein, als ein Mißbrauch unkontrollierter und unkontrollierbarer Macht, welche die Bevölkerung einer lebensfernen Staatsräson unterwarf. Vor diesem Hintergrund vollzogen sich in den siebziger Jahren die entscheidenden Neuorientierungen der Opposition.15 An die Stelle der Entwicklung abstrakter - und nach dem Erlebnis von 1968 vor allem reformsozialistischer Gesellschaftsmodelle trat das Individuum als Mittel- und Bezugspunkt des Denkens; das revolutionäre Subjekt wurde nicht mehr in der avantgardistischen Partei, sondern in der Gesellschaft gesehen, und allen machtpolitischen Ansprüchen wurde eine klare Absage erteilt. Zusammen mit dem Bewußtsein der eigenen Marginalität führten diese Überlegungen zu einem neuen oppositionellen Selbstverständnis, das »nicht ganz erwachsen, nicht ganz rational, ein bißchen zu kindlich, ein bißchen zu greisenhaft [war], um westlich vernünftig zu sein.«16 Die Grundbegriffe der als Ergebnis der Lernprozesse entstandenen 14 Zu den nationalen Unterschieden vgl. Garton Ash, S. 209ff.; Stammen; Fehr, Dissidenz, S. 301-319. Versuche, die Gemeinsamkeiten der osteuropäischen Ansätze zu systematisieren, bieten Mehlhom, Umbruch, S. 1415f.; Deppe u.a., S. 12f.; Garton Ash, S. 199-209; Stammen und Fehr, Dissidenz, S. 319-332. 15 Mit dem Begriff der Opposition bezeichne ich im Anschluß an Christoph Kleßmann »eine zumindest ansatzweise organisierte Form der Abweichung von der herrschenden politischen Linie mit erkennbaren ideologischen und politischen Alternativkonzepten« (Kleßmann, S. 52f.). Zur zeitgenössischen und wissenschaftlichen Diskussion um den Begriff der Opposition zur Beschreibung des Status der politisch-alternativen Gruppen in der DDR vgl. Knabe, Typologisierung. 16 Konrád, S. 115.

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zivilgesellschaftlichen Denkansätze lassen sich anhand Havels Beispiel des Gemüsehändlers exemplarisch verdeutlichen. »Ein Leiter eines Gemüseladens placierte im Schaufenster zwischen Zwiebeln und Möhren das Spruchband »Proletarier aller Länder, vereinigt euch!«. Warum hat er das getan? Was wollte er damit der Welt mitteilen? Ist er wirklich persönlich so für die Idee der Vereinigung der Proletarier aller Länder begeistert?« Havels Antwort auf seine rhetorischen Fragen ist nein: »Ich glaube, daß man mit Recht voraussetzen kann, daß die überwiegende Mehrheit der Gemüsehändler über die Texte der Spruchbänder in ihren Schaufenstern im Grunde genommen nicht weiter nachdenkt.« Es kommt ihnen, so Havel weiter, nicht auf die konkreten Inhalte, sondern auf die hinter ihnen versteckte Bedeutung an. »Verbal könnte man sie etwa so formulieren: Ich, der Gemüsehändler XY, bin hier und weiß, was ich zu tun habe; ich benehme mich so, wie man es von mir erwartet. [...] Würde man dem Gemüsehändler befehlen, die Parole »Ich habe Angst und bin deshalb bedingungslos gehorsam« in das Schaufenster zu stellen, würde er sich ihrem semantischen Inhalt gegenüber bei weitem nicht so lax verhalten.«17 Was aber haben der Gemüsehändler und die Zivilgesellschaft miteinander zu tun? Nichts, denn der Gemüsehändler ist Teil einer durchstaatlichten Gesellschaft; eines Staates, der in alle Lebensbereiche der Menschen eindringt und sie seiner lebensfremden Logik unterwirft: »Das Leben«, so Havel, »tendiert in seinem Wesen zur Pluralität, zur Vielfarbigkeit, zur unabhängigen Selbstkonstitution und Selbstorganisation, einfach zur Erfüllung seiner Freiheit. Das posttotalitäre System dagegen verlangt monolithische Einheit, Uniformität und Disziplin.«18 Erst in dem Moment, in dem der Gemüsehändler mit den ritualisierten Spielregeln bricht, das Spruchband abhängt und aufhört, zu Wahlen zu gehen, von denen er weiß, daß es keine sind, wird er nach Havels Überzeugung »wieder seine unterdrückte Identität und Würde finden, seine Freiheit verwirklichen. Seine Rebellion wird ein Versuch um das Leben in Wahrheit sein.«19 Mit anderen Worten: Er wird zivil. Kaum ein Text illustriert die doppelte Bedeutung, die der Grundbegriff zivil in dem Denken osteuropäischer Dissidenten einnahm, besser als Havels Beispiel des Gemüsehändlers: Zum einen stand zivil für zivilisiert im Sinne eines ontologischen Verständnisses von authentisch-menschlichen Wesenszügen und Bedürfnissen. Daß Menschen wie der Gemüsehändler diesen Wesenszügen entfremdet waren, wurde auf die allumfassende Dominanz des lebensfremden Staates zurückgeführt. Die Rekonstruktion authentischer sozialer Beziehungen hing daher in den Worten Konráds davon ab, das Leben »von der 17 Havel, Leben, S. 14. 18 Ebd., S. 16. 19 Ebd., S. 27f. 41 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35925-0

Politik zu befreien wie von einer Heuschreckenplage.«20 Zivil implizierte daher zweitens die Bedeutung von nicht-staatlich. Die beiden Komponenten des Begriffs bedingten sich gegenseitig: Die Wiederherstellung menschlicher Beziehungen und Lebensbedingungen fiel inhaltlich zusammen mit der Entstaatlichung der Gesellschaft. Die vordringliche Aufgabe der zivilgesellschaftlichen Oppositionsbewegungen in den mittel- und osteuropäischen Ländern wurde deshalb darin gesehen, den Staat aus den sozialen Beziehungen zurückzudrängen. Es galt, Staat durch Gesellschaft zu beschränken oder gar zu ersetzen. Den folgenden Ausführungen liegt die These zugrunde, daß zivilgesellschaftliche Orientierungen, die in den achtziger Jahren in der DDR entwickelt worden waren, 1989 prägend in die Konstituierung der DDR-Bürgerbewegung eingingen. Die Voraussetzung dafür war, daß das politisch alternative Milieu in der DDR, aus dem im Herbst 1989 die Trägergruppen der Bürgerbewegung hervorgingen, seit etwa 1985/86 nachhaltig von der Vision einer Zivilgesellschaft getragen war. Es geht daher, um es mit den Begriffen von Rainer Lepsius zu formulieren, zunächst um die Rekonstruktion des Entstehungszusammenhangs der Ideen, die 1989 in einer spezifischen historischen Krisensituation ihre Wirkung entfalten konnten.21 Da die Konzepte in der DDR aber primär praktisch umgesetzt und weniger theoretisch-abstrakt ausformuliert wurden, scheint es mir sinnvoll zu sein, dem Nachweis von Existenz und Wirkung der Zivilgesellschafts-Konzepte in der DDR einen systematischen Bezugs- und Vergleichsrahmen voranzustellen. Das ist um so nötiger, da die These einer zivilgesellschaftlichen Prägung der DDR-Opposition im Gegensatz zu den vorherrschenden Interpretationen steht, welche die Entwicklungen in der DDR auf die ein oder andere Weise aus dem Zusammenhang der osteuropäischen Oppositionsbewegungen herauslösen. Auf der einen Seite stehen dabei Arbeiten wie die von Joppke, Torpey oder Jander,22 die die These einer (reform-) sozialistischen Prägung des oppositionellen Milieus in der DDR vertreten. Man habe, so die These, den sozialistischen Grundkonsens der DDR nicht verlassen und daher an der Verbesserung, nicht der Überwindung des Sozialismus in der DDR gearbeitet. Denkfiguren einer demokratischen, zivilen Gesellschaft hätten demgegenüber in der DDR keine Rolle gespielt. Ebenso wie diese Untersuchungen löst auch eine zweite Gattung von Analysen die DDR aus dem osteuropäischen Kontext heraus. In den Arbeiten, die sich auf die zivilgesellschaftliche Prägung der osteuropäischen Dissidenten konzentrieren, werden zwar die Entwicklungen in Polen, der 20 Konrád, S. 212. 21 Zum Zusammenhang von Ideen und Interessen, von kognitiven Strukturen und Handeln vgl. Lepsius, Interessen. 22 Vgl. Joppke, Dissidents; Torpey, Intellectuals und Jander. Siehe auch die Entgegnung auf Joppke, Torpey und Jander von Thaysen, Abrechnung.

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ČSSR und in Ungarn analysiert, die DDR wird jedoch in diesem Zusammen­ hang nicht erwähnt.23 In Abgrenzung von diesen Arbeiten führen die folgenden Ausführungen den Nachweis, daß zivilgesellschaftliche Orientierungen inner­ halb der DDR-Opposition der achtziger Jahre sehr wohl eine prägnante Rolle spielten und in die Konstituierung der Bürgerbewegung von 1989 eingingen. Auch wenn diese These bereits verschiedentlich vertreten worden ist, hat sie bislang noch keine systematische Entfaltung erfahren.24 Zu diesem Zweck ist es nötig, einen Vergleichsrahmen zu schaffen, um die Entwicklungen in der DDR einordnen zu können, so daß zunächst die seit den siebziger Jahren in Osteuro­ pa theoretisch formulierten Ansätze einer zivilen Gesellschaft im Mittelpunkt stehen. Die Rekonstruktion der Zivilgesellschafts-Konzepte konzentriert sich dabei auf eine Synthese aus den Texten der drei prononciertesten nationalen Vertre­ ter. Es sind dies Vaclav Havel von der tschechoslowakischen Charta 77, der Ungar György Konrád und Adam Michnik, der sowohl vor als auch während der Zeit der Solidarność einer der einflußreichsten Intellektuellen innerhalb der polnischen Opposition war. 1.2. Opposition und Zivilgesellschaft bei Václav Havel, György Konrád und Adam Michnik 1.2.1. Die Zielvorstellungen: »Postdemokratische Gesellschaft« als Vision und Prozeß Schon 1955 hat Hannah Arendt die soziale Atomisierung, die Zerstörung aller »nach Fortfall der politisch-öffentlichen Sphäre noch verbleibenden Beziehun­ gen zwischen Menschen«25 als eine zentrale Eigenschaft und Herrschaftstech­ nik totalitärer Systeme beschrieben. Ausgehend von der Lebenswelt des Indivi­ duums gelangten die zivilgesellschaftlichen Analysen zu einem frappierend ähnlichen Ergebnis. Fast gleichlautend wie Arendt beschrieb Adam Michnik 1980 die staatssozialistische Gesellschaft als eine »gesellschaftliche, ökono­ mische und politische Ordnung, deren Wesen darin besteht, daß keine außer den von den Machthabern dekretierten gesellschaftlichen Bindungen und an­ deren zwischenmenschlichen Beziehungen existieren.«26 Analog zum Begriff 23 Vgl. Luks und Merkel/Lauth sowie die anderen Beiträge in diesem Band. Allein Helmut Fehr hat es in den vergangenen Jahren unternommen, systematische Bezüge zwischen der DDR und den anderen osteuropäischen Staaten herzustellen, (vgl. Fehr, Dissidenz). 24 Vgl. die Ausführungen in Maier, S. 297ff.; Jarausch, Einheit, S. 82ff. und Probst, Perspekti­ ven, S. 78ff. Alle Autoren konstatieren die Bedeutung zivilgesellschaftlicher Orientierungen, ohne sie weiter systematisch zu untersuchen. 25 Arendt, S. 696. 26 Michnik, Wollen, S. 17.

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zivil zeigt sich hier ein enger Zusammenhang zwischen der lebensweltlichen und der politischen Dimension: Die soziale Atomisierung der Menschen trägt zu ihrer sozialen Depravierung bei, und gleichzeitig ist sie ein zentrales Element der Herrschaftstechnik, da die immerwährende Anpassung an die staatlichen Spielregeln allen Widerstand im Keim, d.h. bei den Motivationen der Individuen erstickt. Denn sobald der einzelne am öffentlichen Leben teilhaben will, ist er gezwungen, den Ritualen zu folgen, die ihm selbst so in Fleisch und Blut übergehen, daß sie ihm zur zweiten Natur werden. Das in westlichen Ohren oft naiv klingende Ziel der Rückgewinnung der ursprünglichen, menschlichen Natur, bekommt vor diesem Hintergrund eine immense politische Qualität, denn, so Havel, »durch jedes Heraustreten aus dem ›Leben in Lüge‹ wird es als Prinzip negiert und als Ganzes bedroht.« Das Leben in Wahrheit hat so »nicht nur eine existentielle Dimension (es bringt den Menschen zu sich selbst zurück), nicht nur eine noetische (es enthüllt die Wirklichkeit wie sie ist) und nicht nur eine moralische (es dient als Beispiel). Es hat dazu noch eine deutliche politische Dimension.«27 Der Gegensatz, den Havel, Michnik und Konrád zwischen Leben und Wahrheit einerseits und Staat, Politik und Lüge andererseits konstruieren, schlägt sich in ihren Visionen einer zukünftigen Gesellschaft nieder. Das essentielle Kennzeichen der angestrebten »postdemokratischen»28 Gesellschaft ist, daß sie als eine Gemeinschaft mündiger Bürger nicht mehr Objekt staatlicher Entscheidungen, sondern Subjekt ihrer eigenen Entwicklung sein soll. Zu diesem Zweck werden in ihr Bedingungen gegeben sein, die es den Bürgern erlauben, selbstbestimmt, frei und verantwortungsvoll zu handeln. Auf diese Weise werden sie in die Lage versetzt, ihre Belange selbst zu regeln und damit staatliche Eingriffe überflüssig zu machen. Großes Gewicht wird dabei auf die Gewährleistung von Rechtsstaatlichkeit, Menschen- und Bürgerrechten gelegt. Durch sie wird die Freiheit und Zugänglichkeit eines öffentlichen Raumes garantiert, in dem die Bürger zusammenkommen und ihre Angelegenheiten diskursiv aushandeln können. Innerhalb dieses öffentlichen Raumes kann sich ein Netzwerk von staatsunabhängigen, aufgabenorientierten Zusammenschlüssen von Bürgern bilden, auf deren Grundlage sich die Gesellschaft selbst organisiert und eigenständig verwaltet. Der konkreten technischen Ausgestaltung der Gesellschaftsmodelle, wie etwa den Mechanismen der Willensbildung und Entscheidungsfindung, werden kaum weitere Ausführungen gewidmet, denn ausgehend von dem positiven, idealistischen Menschenbild trägt sich eine selbstorganisierte Gesellschaft von allein: Befreit von der staatlichen Bevormundung finden die Menschen 27 Havel, Leben, S. 28. 28 Zu der im folgenden umrissenen Ausgestaltung der »postdemokratischen Gesellschaft«, vgl. ebd., S. 87f.

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idealiter zu ihrer wahren Natur zurück, und die Wiederentdeckung von Tugenden wie Toleranz, Aufrichtigkeit, Solidarität und Verantwortung gewährleistet das Funktionieren der Selbstorganisation. Die gesellschaftliche Entwicklung wird daher als ein eigendynamischer Prozeß gedacht, für den sich keine Ziele vorgeben lassen. In der Konsequenz bleibt die inhaltliche Bestimmung der postdemokratischen Gesellschaft daher - gemessen an westlichen Politikbegriffen - unbestimmt und inhaltsleer. Ihre Präzisierung nimmt bei Havel ganze zwei von 95 Seiten seines Buches vom »Versuch, in der Wahrheit zu leben« ein.29 Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird deutlich, daß auch die repräsentativen Demokratien des Westens für die osteuropäischen Oppositionellen kein Ziel darstellten. Explizit grenzen sich die Autoren von den westlichen Systemen ab, in denen ihrer Meinung nach der Alleinvertretungsanspruch der sozialistischen Machthaber seine Entsprechung in der Dominanz der Parteien findet. Obwohl den Bürgern, so Havel, zwar alle politischen Rechte garantiert seien, beschränke sich ihre politische Aktivität auf die Teilnahme an den Wahlen. Ihre Gestaltungsmöglichkeiten hätten sie an die Parteien abgetreten, die ebenso machtpolitisch (und damit lebensfremd) regierten wie die Kommunistischen Parteien Osteuropas, »nur ist die Art, wie sie den Menschen manipulieren, unendlich feiner und raffinierter«.30 Die Abgrenzung von den westlichen Demokratien macht deutlich, daß Demokratie nicht als Staats-, sondern als Lebensform begriffen wurde. Sie wird nicht durch die institutionelle Absicherung von individuellen Freiheitsrechten gewährleistet, sondern allein vom Engagement und Willen der Bürger. Demokratie ist daher weder östlich noch westlich, sondern zivil, nicht-staatlich und systemindifferent. Nur im »unkontrollierbaren Meer der Privatgespräche«, so formulierte es György Konrád, »nimmt unser eigenes Wertsystem Gestalt an, es ist mit dem staatlichen Wertsystem nicht identisch, allerdings auch nicht mit dem Wertsystem des Kapitalismus.«31 Die Voraussetzungen für dieses zivile Wertsystem zu schaffen, war das Ziel aller zivilgesellschaftlichen Überlegungen. Da Staat und Politik diesem Ziel entgegenstanden, richteten sich die Überlegungen nicht auf eine Demokratisierung des Staates, sondern auf seine Abschaffung. Trotz aller Analogien der osteuropäischen Zivilgesellschafts-Konzepte zu der ideengeschichtlichen Tradition unterscheiden sie sich daher in einem zentralen Punkt. In den antitotalitären Überlegungen des 18. Jahrhunderts und auch in den aktuellen Diskussionen um eine zivile Gesellschaft bleibt diese immer positiv auf den Staat bezogen. Sie stellt seine demokratische Infrastruktur, die 29 Vgl. ebd., S. 87f. 30 Ebd., S. 85. 31 Konrád, S. 184f.

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den Bürger schützen und den Staat stützen soll.32 In den osteuropäischen Kon­ zepten dagegen ist eine wechselseitige Beziehung zwischen Staat und Zivilge­ sellschaft letztlich ausgeschlossen. Wo Staat ist, kann keine Zivilgesellschaft sein; wo eine zivile Gesellschaft existiert, ist der Staat überflüssig und überwun­ den. 1.2.2. Die Träger der Veränderung Die in den Schriften der Autoren allgegenwärtige Stilisierung der Gesellschaft als »Subjekt ihrer selbst«33 bezog sich jedoch nicht nur auf die Vision der zu­ künftigen Gesellschaft. Selbstorganisation und Selbstverwaltung, die für György Konrád »das organisatorische Zentrum der mitteleuropäischen Ideologie«34 verkörperten, lagen auch den Definitionen von Opposition und Widerstand in den osteuropäischen Staaten zugrunde: Selbstverständnis, Aktionsformen und Strategien der oppositionellen Gruppen richteten sich darauf, Prozesse einer gesellschaftlichen Selbstkonstituierung anzuregen und zu unterstützen. Eine immense Bedeutung für den Prozeß der gesellschaftlichen Verände­ rungwurde den oppositionellen Gruppen zugesprochen, die als exemplarische Gemeinschaften in der Theorie und in der Praxis die gesellschaftliche Selbstor­ ganisation im kleinen Rahmen vorwegnehmen sollten. Innerhalb des verstaat­ lichten öffentlichen Raumes konstituierten sie in der Sicht der Theoretiker eine staatsunabhängige Sphäre, in der - idealiter - die authentischen Bedürf­ nisse der Menschen ausgelebt und menschliche Umgangsweisen eingeübt werden konnten. Als gemeinschaftliche Versuche, in der Wahrheit zu leben, lag die Bedeutung dieser vom tschechischen Dissidenten Vaclav Benda so genann­ ten »Parallelstrukturen»35 darin, daß in ihnen Bereiche entstanden, in denen die lebensweltlichen und sozialen Herrschaftsmechanismen des Staates außer Kraft gesetzt waren. Ein politisches Engagement im engeren Sinne war kein notwendiges Kriterium; eine »eventuelle politische Selbstartikulierung«, so Havel, »entsteht und reift erst sekundär, eher als Folge der Konfrontationen«.36 Der Begriff der Parallelstrukturen umfaßte daher nicht nur die politisch arbei­ tenden Gruppen, sondern ein breites Spektrum staatsunabhängiger Gemein­ schaften, die in den siebziger und achtziger Jahren in der ČSSR, in Ungarn, in der DDR und vor allem in Polen entstanden.37 Dazu zählten private Lesezirkel, 32 Walzer, S. 24: »Only a democratic State can create a democratic civil society; only a democratic civil society can sustain a democratic State.« 33 Konrád, S. 176. 34 Vgl. ebd., S. 183. 35 Vgl. Benda u.a., S. 214-222. 36 Havel, Leben, S. 37. 37 Vgl. Fehr, Dissidenz, Fehr, Öffentlichkeit. Siehe auch die Beiträge in Deppe u.a.

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Theateraufführungen, Konzerte, Lesungen, fliegende Universitäten, unabhän­ gige Zeitschriften und Verlage ebenso wie Arbeitskreise, die sich für Häftlinge oder sozial Benachteiligte einsetzten. Bei allen nationalen Unterschieden im einzelnen waren die Gruppen und Netzwerke in allen Staaten dezentral aufgebaut und die Gruppen basisdemo­ kratisch organisiert. Überall wurden Führer und hierarchische Organisations­ formen abgelehnt und jegliche Tendenz abgewehrt, die Gruppen in ihrer Au­ tonomie zu beschränken. Gerade bei den Organisationsstrukturen wird die charakteristische Mischung aus individuellen Erfahrungen, normativen und pragmatischen Überlegungen deutlich, die der osteuropäischen Oppositions­ szene ihre grenzübergreifend ähnliche Ausprägung gab: Die Autonomie der Gruppen wurde erstens als ein Gegenentwurf zu der alltäglich erfahrenen Star­ re der staatssozialistischen Regime verteidigt; zweitens wurde sie mit dem nor­ mativen Argument begründet, daß in ihnen Selbstorganisation und Pluralität vorweggenommen würden, und schließlich trug sie der pragmatischen Über­ legung Rechnung, daß dezentrale und führerlose Gruppen den staatlichen Repressionen besser standhalten bzw. ausweichen können als zentralistische Organisationen.38 Insofern eigneten sich die zahllosen Gruppen und Gruppie­ rungen, die bereits unter den staatssozialistischen Regimen eine unabhängige Öffentlichkeit schufen, als Träger der Veränderung, welche die im folgenden Abschnitt umrissene Strategie der Selbstbeschränkung umsetzen sollten. 1.2.3. »Selbstbeschränkung« als Strategie In der Hoffnung auf eine gesellschaftliche Transformation setzten die Zivilgesellschafts-Konzepte nicht mehr auf die Aktionen eines einzelnen avant­ gardistischen Akteurs, sondern auf einen basisdemokratischen Prozeß der ge­ sellschaftlichen Re-Konstituierung. Daher war das Überschreiten der engen Grenzen des alternativen Milieus ein konstitutiver Bestandteil des opposi­ tionellen Selbstverständnisses. In der Hoffnung auf die Mobilisierung aller Menschen, »die in der Lüge leben und zu jeder Zeit - zumindest theoretisch von der Kraft der Wahrheit ergriffen werden können«,39 zielten die Strategien vor allem darauf ab, durch symbolische Aktionen die Menschen aus ihrer teils selbst-, teils fremdverschuldeten Unmündigkeit zu befreien. Das war aller­ dings nicht zu erreichen, wenn man die bislang für oppositionelle Dissiden­ tenzirkel typische konspirative Ausrichtung beibehalten hätte. Statt dessen versuchten Gruppen wie die polnische Solidarność und ihr Vorgänger, das 38 Vgl. Konrád, S. 123: »Freundschaft kann nicht illegalisiert werden. Unsere Organisationen sind Sympathienetzte, wir besitzen keine Zentralen und Führer.« 39 Havel, Leben, S. 30.

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Komitee für gesellschaftliche Selbstverteidigung (KOR), die tschechoslowakische Charta 77 oder auch die Initiative Frieden und Menschenrechte in der DDR, innerhalb ihrer begrenzten Möglichkeiten Öffentlichkeit über gesellschaftliche Probleme herzustellen. Alle Beteiligten waren jedoch realistisch genug, um zu wissen, daß ihr Engagement keine direkten Folgen in Form politischer Reformen haben würde. Dieser Tatsache trug das Konzept der sich selbstbeschränkenden Revolution Rechnung, das der polnische Dissident Jacek Kuron nach den Erfahrungen von 1968 entwickelte.40 Kuron ging von der Überzeugung aus, daß jegliche gesellschaftliche Veränderung untrennbar mit einem Bewußtseinswandel der einzelnen Individuen verbunden sei. Zusammen mit der Erkenntnis, daß Reformen von oben weder zu erwarten noch hilfreich sein würden, beschrieb er einen an der Basis ansetzenden, langwierigen Prozeß, in dessen Verlauf immer mehr Menschen in den Handlungszusammenhang der unabhängigen zweiten Kultur einbezogen werden sollten. Das Ziel dieses Prozesses war es nicht, die Menschen zu mobilisieren, um in den staatlichen Einflußbereich einzudringen und einen Wandel des Herrschaftssystems herbeizuführen. Kuron und anderen, die sich seine Überlegungen zu eigen machten, ging es im Gegenteil darum, die Menschen und schließlich die gesamte Gesellschaft schrittweise der staatlichen Einflußsphäre zu entziehen. Die Kernpunkte der von den Gruppen verkörperten Herstellung von Öffentlichkeit lagen somit darin, Foren dafür zu schaffen, »daß die Gesellschaft unter der Regierung erstarkt, daß sich die bislang unabhängigen Menschen mehren und sich das Gewebe der von oben nicht zu kontrollierenden Gespräche verdichtet.«41 Im Rahmen dieses von Michnik 1976 als Neuer Evolutionismus bezeichneten Prozesses wurde die Aufgabe der Opposition darin gesehen, »kontinuierlich und systematisch am öffentlichen Leben teilzunehmen, politische Tatsachen durch kollektive Aktionen zu schaffen und Alternativen vorzuschlagen.«42 Ansonsten aber wurde der Prozeß der Selbstorganisation der Gesellschaft notwendigerweise als offen und eigendynamisch verstanden und damit unvereinbar mit einer Lenkung oder Steuerung gleich welcher Art. Das hat nachhaltige Auswirkungen auf die Stellung, welche die oppositionellen Gruppen im Zuge des angestrebten Emanzipationsprozesses einnehmen sollten. Ihre programmatischen Vorgaben hatten sich im wesentlichen auf zwei Aspekte zu beschränken: erstens auf die Einforderung von Bürger- und Menschenrechten und zweitens auf die allgegenwärtige Betonung der Notwendigkeit eines gesamtgesellschaftlich geführten öffentlichen Dialogs; mit anderen Worten: auf die Anerkennung und Legalisierung des diskursiv gebildeten wahren Willens 40 Vgl Kuron. 41 Konrád, S. 185. 42 Michnik, Evolutionismus, S. 53f.

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der Bevölkerung. Jede weitere inhaltliche Präzisierung der Forderungen, etwa hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung einer zukünftigen Gesellschaft, wurde kategorisch ausgeschlossen. Sie hätte ein starres Modell durch ein anderes ersetzt und deshalb der erhofften Selbstentfaltung der gesellschaftlichen Pluralität im Wege gestanden. Der programmatischen Selbstbeschränkung entsprach die untergeordnete Rolle, die den Gruppen in organisatorischer Hinsicht innerhalb der erhofften Emanzipationsbewegung zugeschrieben wurde. »Sie übernehmen«, stellt Havel fest, »nicht die messianische Rolle irgendeiner gesellschaftlichen ›Avantgarde‹ oder ›Elite‹«, und wichtiger noch, »sie wollen auch niemandenführen«.43Denn wo Leben und Menschlichkeit als Wesensgegensatz zu Staat und Macht interpretiert werden, impliziert jedes (macht-)politische Engagement laut Konrád eine »Gehirnkastration«44, der man sich nicht entziehen kann, sobald man sich auf die Spielregeln machtpolitischer Erwägungen einläßt. Die Übernahme von Führungspositionen sowohl im Zuge des Emanzipationsprozesses als auch innerhalb der zukünftigen Gesellschaft wird daher entschieden abgelehnt; es widerspräche den Prinzipien der Selbstorganisation der Gesellschaft und dem Politikverständnis der osteuropäischen Opposition, die von Konrád nicht als politische, sondern als antipolitische Opposition beschrieben wird. »Antipolitik ist das Politisieren von Menschen, die keine Politiker werden und keinen Anteil an der Macht übernehmen wollen. Antipolitik betreibt das Zustandekommen von unabhängigen Instanzen gegenüber der politischen Macht, Antipolitik ist eine Gegenmacht, die nicht an die Macht kommen kann und will.« 45 2. Die kognitiven Grundlagen der DDR-Bürgerbewegung 2.1. Die praktische Konstituierung 1978-1985 Vergleichbar elaborierte Konzepte einer Zivilgesellschaft sucht man in der Vorgeschichte der ›Wende‹ in der DDR vergebens. Gegenüber den Dissidentenzirkeln in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn, wo schon in den siebziger Jahren die Leitideen der späteren Emanzipationsbewegungen formuliert wurden, kamen zivilgesellschaftliche Ansätze innerhalb der DDR-Opposition erst seit der Mitte der achtziger Jahre zum Tragen. Darüber hinaus blieben die theoretischen Auseinandersetzungen auch nach der Durchsetzung der Konzepte in 43 Havel, Leben, S. 75. 44 Konrád, S. 187. 45 Ebd., S. 213. Vgl. auch Havel, Politik, S. 112: »Antipolitische Politik ist möglich. Politik von unten. Politik des Menschen, nicht des Apparates. Politik, die aus dem Herzen kommt, nicht aus der These.« 49 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35925-0

der DDR weniger abstrakt und die Folgerungen, die aus ihnen gezogen wurden, weniger radikal. Der grundsätzliche Unterschied zwischen der DDR und den anderen osteuropäischen Staaten bestand darin, daß die Beschäftigung mit der nationalen Bürger- und Menschenrechtssituation in der DDR nicht den Ausgangspunkt der oppositionellen Gemeinschaftsbildungen dargestellt hatte. Vielmehr setzten sich zivilgesellschaftliche Orientierungen in der DDR innerhalb eines schon bestehenden oppositionellen Milieus durch. Es handelte sich um einen fließenden Übergang von einer an globalen Themen orientierten »Friedensbewegung»46 zu einer auf DDR-interne Probleme konzentrierten zivilgesellschaftlichen Opposition. Dieser Übergang setzte 1985/86 ein und wurde in den folgenden Jahren bis 1989 sukzessive von den verschiedenen Gruppen vollzogen. Die Unterschiede in den thematischen Orientierungen verdecken zwei wesentliche Gemeinsamkeiten, welche die DDR-Friedensbewegung der Jahre 1978 bis 1985 mit den osteuropäischen Dissidentenzirkeln teilte: Sie agierte innerhalb ähnlicher gesellschaftlicher und sozialer Rahmenbedingungen und war - analog zu den Zivilgesellschafts-Konzepten - getragen von einem individualistisch-kulturorientierten Ansatz, der nicht zuletzt durch den protestantischen Glauben an die »Freiheit eines Christenmenschen« gestützt wurde.47 Auf diesen vergleichbaren Ausgangspositionen beruhte der Umstand, daß die Friedensbewegung von Beginn an zahlreiche Parallelen zu den zeitgenössischen osteuropäischen Dissidentenkreisen aufwies. Ausgehend von diesen Parallelen liegt den folgenden Ausführungen die These zugrunde, daß die thematischen Übergänge und Neuorientierungen der Jahre 1985/86 kein Einschnitt in der Entwicklung waren, sondern nur der explizite Ausdruck der Tatsache, daß die Friedensbewegung in der Praxis von Beginn an eine zivilgesellschaftliche Opposition darstellte. Die Entwicklung der im Herbst 1989 umgesetzten Handlungs- und Denkschemata reicht daher weiter zurück als bis zur expliziten Formulierung zivilgesellschaftlicher Konzepte ab Mitte der achtziger Jahre. Die Ursprünge der 46 Der Verwendung des Begriffs Friedensbewegung unterliegt im folgenden kein analytisches Verständnis im Sinne der Bewegungsforschung. Er dient der Umschreibung des Spektrums der politisch alternativen Gruppen, wobei zu beachten ist, daß der Begriff Frieden in der DDR weitaus weiter gefaßt wurde als in den westlichen Friedensbewegungen. Da auch etwa die Umwelt- und Dritte-Welt-Gruppen (Frieden mit der Natur, Frieden mit dem fernen Nächsten) als Teile der Friedensbewegung gesehen wurden, umfaßt der Begriff der DDR-Friedensbewegung im Anschluß an den gängigen Sprachgebrauch im folgenden nicht nur die Friedens-, sondern auch die Umwelt-, Frauen-, Dritte-Welt- und Menschenrechts-Gruppen. 47 Vgl. Hans Jochen Tschiche: »Gesellschaftliches und politisches Handeln kann sich dauerhaft nur ändern, wenn das Verhalten der einzelnen Menschen sich ändert. Tuet Buße - also verändert Euer Verhalten, ist der Ruf, der mit dem Evangelium erklingt« (HJ. Tschiche: »Horizonte unserer Kirche«, in: Bickhardt, Recht, S. 36) und das von Garton Ash, S. 201 herausgearbeitete »gemeinsame Motto« der Zivilgesellschafts-Konzepte: »Zuerst ändere Dich selbst.«

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theoretischen Überlegungen zu den Strategien und Zielen oppositionellen Engagements in der DDR liegen in den Erfahrungen und Lernprozessen der Jahre zwischen 1978 und 1985. 2.1.1. Die Entfaltung der DDR-Friedensbewegung 1978-1982 Markiert die Überleitung von Protest in Institutionen oder Organisationen oft das Ende von Bewegungen, war in der DDR das Gegenteil der Fall: Die Friedensbewegung entwickelte sich aus einer Organisation, der Evangelischen Kirche, heraus. Nach jahrzehntelangen Auseinandersetzungen zwischen der Kirche und dem SED-Regime war es im Laufe der siebziger Jahre allmählich zu einer Annäherung gekommen, die in einem Spitzengespräch zwischen Erich Honecker und Vertretern der Kirchenleitung am 6. März 1978 ihren Ausdruck fand. Ohne daß vertragliche Regelungen getroffen worden wären, wurde durch dieses Treffen die Anerkennung der jeweiligen Eigenständigkeit von Staat und Kirche demonstriert. Beide Seiten signalisierten ihre Bereitschaft, von der Konfrontation zu einer Politik des Kompromisses und der begrenzten Übereinkunft überzugehen. Das für die staatssozialistischen Systeme typische Freund-Feind-Schema der politischen Loyalität hatte damit in der DDR eine einzigartige Grauzone erhalten. Denn wurden bislang nicht-sozialistische Orientierungen gleich welcher Art als staatsfeindlich kriminalisiert, bedeutete die staatliche Akzeptanz der weltanschaulichen Verschiedenheit der Kirche ihre Anerkennung als »offiziell zugelassener Freiraum vom offiziellen Gesellschaftssystem«.48 Im Rahmen der Kirche waren damit sowohl die erforderlichen Ressourcen als auch der nötige Schutz für staatsunabhängige Gemeinschaftsbildungen gegeben. Sie bot die notwendigen Bedingungen, welche die Entstehung der Friedensbewegung innerhalb der bewegungsfeindlichen Rahmenbedingungen der DDR ermöglichten. Als Kirche im Sozialismus, die »in dieser so geprägten Gesellschaft, nicht neben ihr, nicht gegen sie«49 agieren wollte, sah die evangelische Kirche ihren Auftrag nunmehr in einer kritischen und konstruktiven Partizipation an der gesellschaftlichen Entwicklung. Damit verband sich eine gewisse Annäherung an staatliche Positionen. Gleichzeitig aber erweiterte sich der Wirkungsanspruch der Kirche im Sozialismus über die rein innerkirchlichen Angelegen48 Pollack, Religion, S. 239. Zur gesellschaftlichen Lage und Bedeutung der Kirche siehe auch Pollack, Organisationsgesellschaft, S. 284ff 49 Erklärung der Bundessynode 1971, in: epd- Dokumentation 34/1971, S. 14. (Herv. d. Vf.) Zu Geschichte, Status und Selbstverständnis der evangelischen Kirchen in der DDR siehe Henkys; Pollack, Organisationsgesellschaft; Alsmeier sowie die Beiträge in den Bänden VT/1 und 2 der Materialien in Deutscher Bundestag/Enquete-Kommission.

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heiten hinaus auf eine eigenverantwortliche und selbständige Mitwirkung an gesamtgesellschaftlichen Aufgabenstellungen, so daß mit dem opportunistischen Moment der Annäherung ein oppositioneller Aspekt der Abgrenzung einherging. Einen ersten Schritt auf der Gratwanderung zwischen Opposition und Opportunität tat die Evangelische Kirche, als sie 1978 beschloß, gegen die Militarisierung der Gesellschaft anzugehen. In diesem Jahr wurde an den allgemeinbildenden Polytechnischen Oberschulen der DDR das Fach Wehrkundeunterricht eingeführt, dem die Kirchen auf der Bundessynode 1978 eine Friedenserziehung entgegensetzten, die von der Kirchenleitung entworfen und auf der lokalen Gemeindeebene umgesetzt werden sollte. Dieses zentral ausgearbeitete Rahmenkonzept führte innerhalb der Gemeinden zu einer verstärkten Beschäftigung mit dem Friedensthema. Vor allem jüngere Gemeindemitglieder fanden sich in Arbeitskreisen zusammen, um sich über die normale Gemeindearbeit hinaus mit dem Thema Frieden auseinanderzusetzen. Diese seit 1978 entstehenden Friedenskreise bildeten den entscheidenden Nukleus, aus dem sich in den achtziger fahren die Friedensbewegung entfalten sollte.50 Befördert durch die zentral koordinierte und lokal umgesetzte Friedensarbeit,51 entstanden in den Jahren 1978 bis 1982 in allen größeren und vielen kleineren Städten der DDR Gruppierungen, die eine wachsende Zahl von zumeist jungen Menschen in den Zusammenhang der Friedensbewegung einbezogen.52 Ohne in dieser Form beabsichtigt gewesen zu sein, entwickelte sich aus der kirchlichen Initiative der Friedenserziehung eine Vielzahl von zunächst unabhängig voneinander agierenden Initiativen und Gruppen, die durch überregionale Friedensseminare, Friedenswerkstätten und Friedensforen DDRweite Kommunikationsstrukturen schufen. Auch wenn die einzelnen Gruppen nach wie vor an lokale Gemeinden oder Stadtjugendpfarrämter angebunden waren, entstand zwischen ihnen ein Zusammenhang, der sich zu einem zunehmend eigenständigen Phänomen innerhalb der Kirche entwickelte. Die Formierung der Friedensbewegung ist indes nicht einfach als Reflex auf die Einführung des Wehrkundeunterrichts oder auf die Diskussion um den NATO-Doppelbeschluß zu verstehen. Die Entfaltung der Bewegung war ein dynamischer Prozeß, der auf zwei sich gegenseitig beeinflussenden Elementen beruhte. Dies waren zum einen die Deutungen der Ziele, Mittel und Hinter50 Vgl. hierzu und zum folgenden vor allem Neubert, Geschichte, S. 335ff.; Pollack, Politischer Protest und Choi; des weiteren Ehring/'Daliwitz; Büscher/Wensierski; Kuhrt und Zander. Zu den zeitgleich entstehenden Umweltgruppen siehe Wensierski; Becker und Kühnel/Sallmon-Metzner. 51 Vgl. etwa die seit 1980 in den einzelnen Gemeinden abgehaltenen Friedensdekaden, die inhaltlich von der Kirchenleitung vorbereitet und mit Material und Losungen versehen wurden. 52 Genaue Angaben über die Mitgliederzahlen lassen sich zu keinem Zeitpunkt machen. Anhaltspunkte bieten die Teilnehmerzahlen an überregionalen Treffen, wie dem Dresdener Friedensforum 1982 oder der Friedenswerkstatt in der Erlöserkirche in Berlin-Lichtenberg 1982, an denen jeweils ca. 5.000 Menschen teilnahmen, (vgl. Zander, S. 279-298; Kroh, S. 161).

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gründe des Engagements für den Frieden, die seitens der Kirche angeboten wurden. Ähnlich wie das Konzept der Friedenserziehung 1978 als Rahmendeutung für die ersten Ansätze der Friedensbewegung gedient hatte, schufen die Verlautbarungen und Texte kirchlicher Institutionen und prominenter kirchlicher Vertreter53 einen integrativen Rahmen für die in der ersten Hälfte der achtziger Jahre republikweit entstehenden Friedenskreise. Zum anderen aber entwickelten die Gruppen gleichzeitig eine Eigendynamik, die weit über die thematisch-inhaltlichen Impulse der Kirche hinausging. Wie Detlef Pollack anhand der Teilnahmemotive gezeigt hat, beruhte die Attraktivität der Gruppen nur in zweiter Linie auf der Möglichkeit, sich für den Frieden respektive die Umwelt, die Dritte Welt oder die Menschenrechte zu engagieren. Das vorrangige Teilnahmemotiv bestand vielmehr darin, daß die Gruppen einen sozialen Rückhalt für ihre Mitglieder boten, die in der Hoffnung kamen, »durch die gruppeninterne Kommunikation emotional entlastet zu werden«.54 Nicht zufällig werden die Gruppen von Beteiligten im Nachhinein als »Lebensgemeinschaft«55 oder als »eine Art Familie«56 bezeichnet. Die internen Kommunikations- und Vergemeinschaftungsprozesse hatten einen hohen Eigenwert, der neben dem inhaltlichen Engagement für den Frieden eine zweite nicht minder wichtige Komponente des Mobilisierungsprozesses darstellt. Beide Komponenten, der seitens der Kirche angebotene theoretische Überbau und die lebensweltlichen Gruppenerlebnisse, prägten die Dynamik, mit der sich die Friedensbewegung ausbreitete und nach innen konsolidierte. Die Wirkung des Zusammenspiels beruhte vor allem darauf, daß Theorie und Praxis von derselben inhaltlichen Prämisse ausgingen: Der Mensch ist Ausgangs-, End- und Bezugspunkt jeglicher Veränderung der Probleme der Menschheit und der Gesellschaft. In den theoretischen Diskussionen der Zeit fand diese Prämisse ihren Niederschlag darin, daß Friedensgefährdung und Umweltverschmutzung nicht als politische oder wirtschaftliche, sondern als ethische Probleme gedeutet wurden. Die Gefährdung von Frieden und Umwelt erschien als Ausdruck der globalen Modernisierung und Industrialisierung und verwies auf ein Grundproblem der modernen Zivilisation: auf die Entfremdung des Menschen von sich, seinen Mitmenschen und der Umwelt. »Die Abhängigkeit von der Technik findet heute ihren Ausdruck in unserem Lebensstil«, hieß es dazu in einer Veröffentlichung des Kirchlichen Forschungsheims Wittenberg. Der Lebens53 Prägend waren vor allem die Veröffentlichungen des Kirchlichen Forschungsheimes Wittenberg und der Theologischen Studienabteilung beim Bund der Evangelischen Kirchen. Einflußreiche Personen dieser Zeit waren etwa Friedrich Schorlemmer, Markus Meckel, Heino Falke, Rainer Eppelmann, Edelbert Richter, Ehrhard Neubert und Hans-Jochen Tschiche. 54 Pollack, Sozialethische Gruppen, S. 129. 55 Interviewäußerung Jochen Läßigs, zit. nach Findeis, S. 241. 56 Interviewäußerung Bärbel Bohleys, in: Findeis u.a., S. 51.

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stil, »unsere Beziehungen zur Natur (und untereinander) sind von Prinzipien geprägt, wie sie sich aus den wissenschaftlich-technischen Methoden ergeben.«57 Das wahre Gefährdungspotential der atomaren Bedrohung lag nach diesem Verständnis nicht in den Waffen, sondern in dem dahinterstehenden Denken. Das Grundproblem der modernen Zivilisation wurde darin gesehen, daß das Denken und Handeln der Menschen von Prinzipien wie Machbarkeit, Besitz und Leistung, von Egoismen, Feindbildern und Abgrenzungen geprägt war. Dementsprechend konnte Abrüstung allein das Problem des Friedens nicht lösen. Verstanden als ein »Prozeß der Versöhnung, in dem die Selbstverwirklichung des anderen ein notwendiges Moment der eigenen Selbstverwirklichung ist«,58 wurde Frieden zu einer Frage der individuellen Friedensfähigkeit, der Gültigkeit von sozialen Normen wie Toleranz, Solidarität und Rücksichtnahme. Globale Probleme konnten demnach nur durch eine Veränderung des individuellen Lebensstils gelöst werden, in dem egoistische und verantwortungslose Verhaltensweisen durch »geistig-kulturelle Betätigung, soziales Engagement und solidarische Lebenshaltung«59 ersetzt werden müssen. Von diesem Punkt führte der theoretische Bogen zurück zu der strategischen Bedeutung der Gruppen: »Man kann aufzeigen, daß die drei großen Überlebensprobleme der heutigen Welt gemeinsame Wurzeln in unseren Grundeinstellungen in der Neuzeit haben, etwa die Orientiertheit an Macht und schrankenlosem Verfügen, Orientiertheit am Haben statt am Sein usw. Die Ansätze eines anderen Lebensstils in den Gruppen sind dementsprechend der Versuch einer ganzheitlichen Korrektur, die eben relevant ist für Fragen des Friedens, wie auch der Ökologie und den fernen Nächsten.« 60 U m zu einem »Trainingsfeld sozialen Verhaltens«61 zu werden, bedurften die Gruppen allerdings nicht der theoretischen Fundierung durch kirchliche Institutionen und Vertreter. Denn von Beginn an dominierte in ihnen eine Praxis, deren essentieller Gegenstand die Gestaltung authentischer zwischenmenschlicher Beziehungen war. Wie sich in vielen zeitgenössischen Quellen erkennen läßt, wurden die moralisch geprägten Handlungsorientierungen und U m gangsformen primär als lebensweltlicher Gegenentwurf zu der alltäglich erfah57 Kirchliches Forschungsheim Wittenberg: »Kein Sonnenschein ohn' Unterlaß. Naturzerstörung in der DDR und ein Handlungskatalog«. [1980], in: Wensierski/Büscher, S. 51-84, Zitat S. 59. 58 M. Meckel: »Zur Selbstverständigung von Friedenskreisen« [1984], in: Meckel/Gutzeit, S 129. 59 Kirchliches Forschungsheim Wittenberg: »Kein Sonnenschein ohn' Unterlaß. Naturzerstörung in der DDR und ein Handlungskatalog« [1980], in: Wensierski/Büscher, S. 51-84, Zitat S.72. 60 Falke, S. 48. 61 Poppe, Potential, S. 70. Zu Umgangsformen und Gruppenklima siehe Findeis, S. 241-250.

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renen Bevormundung und der sozialen Schizophrenie des Doppellebens zwischen privater und öffentlicher Sphäre verstanden.62 Die Gruppen dienten als Alternative zu den traditionellen Sozialisationsinstanzen wie der Familie, den Jugendorganisationen oder Gemeinden, die individualistische und partizipatorische Wertorientierungen zunehmend weniger befriedigen konnten.63 Der Religionssoziologe Ehrhart Neubert verband diese gesellschaftliche Qualität der Gruppen mit dem Schlagwort der »sozialisierenden Gruppen‹, deren Konstitution in einem Sozialisationsnotstand der Gesellschaft begründet ist.«64 Der hohe Eigenwert der gruppeninternen Prozesse und die Hochschätzung sozialer Tugenden wie Toleranz, Solidarität, Friedfertigkeit und Ehrlichkeit haben daher als alternative Lebens- und Umgangsformen einen gänzlich weltlichen Hintergrund. Sie waren aber - und das ist entscheidend - absolut kompatibel mit den christlich geprägten Argumentations- und Deutungsangeboten, die von den kirchlichen Vertretern und Institutionen zu den Friedens- und Umweltthemen angeboten wurden. Wenn Heino Falke in dem oben angeführten Zitat die Gruppen aufgrund ihrer inneren Struktur als ganzheitliche Korrekturmechanismen zur Lösung globaler Probleme interpretierte, deckte sich dieses abstrakte Verständnis mit dem in vielen Quellen dokumentierten persönlichen Erlebnis der befreienden und befriedenden Wirkung des Aufbaus authentischer sozialer Beziehungen. Obwohl die Rahmendeutungen des Friedensengagements und die Praxis in den Gruppen aus unterschiedlichen Zusammenhängen entstanden waren, teilten sie ähnliche Prämissen, so daß sie sich im Zuge der Entfaltung der Friedensbewegung gegenseitig ergänzen und verstärken konnten. In den Prinzipien »Offenheit und Öffentlichkeit, Emotionalität, Basisdemokratie, Ablehnung von patriarchalischen, hierarchischen und autoritären Strukturen, Gewaltfreiheit, Spiritualität, Einheit von privatem und öffentlichem Bewußtsein«65 fielen daher die individuellen Teilnahmemotive, die internen Prinzipien der Gruppen und die Veränderungsstrategien und Zielvorstellungen einer zukünftigen Gesellschaft zusammen. Auch und gerade angesichts der Vielfalt der thematischen Orientierungen innerhalb des Spektrums der Friedensbewegung gewährleisteten diese Prinzipien einen Grundkonsens, der seitens der Gruppen weniger theoretisch fundiert als vielmehr in der Praxis vollzogen wurde. Inhaltlich wies dieser Grundkonsens viele Parallelen zu den Prinzipien und Handlungsorientierungen auf, die in den anderen osteuropäischen Ländern im Rahmen der Zivilgesellschafts-Konzepte formuliert wurden. Darüber hinaus ähnelten sich auch die grundlegenden Denkfiguren, denn die Überlegungen 62 Vgl. die in den die von Büscher/Wensierski und Haase u.a. herausgegebenen Quellensammlungen zusammengestellten Aussagen. 63 Siehe hierzu die Untersuchungen von Friedrich; Lemke sowie Thaa u.a., S. 123-240. 64 Neubert, Religion, S. 35. 65 Poppe, Potential, S. 65.

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zieltenjeweils darauf ab, durch kleine exemplarische Gemeinschaften den individuellen Lebensstil zu verändern, um so zu einer Veränderung politischer oder gesellschaftlicher Probleme zu gelangen. Der wesentliche Unterschied bestand indes darin, daß die Gruppen der DDR-Friedensbewegung als Korrekturmechanismen zu globalen Krisen der modernen Zivilisation verstanden wurden. Solange sie aber soziale Gegenentwürfe zu globalen Problemen waren, blieb ihre politische Qualität zunächst relativ diffus; ihnen fehlte der Staat als (anti-)politisches Gegenüber. Dennoch wurden in diesen Jahren die Voraussetzungen für den späteren Übergang zu einer zivilgesellschaftlichen Orientierung geschaffen. Dieser Übergang war verbunden mit einem bewegungsinternen Lernprozeß, der die Friedensbewegung 1985/86 von der Auseinandersetzung mit den globalen Problemen Frieden und Umwelt zu einer Beschäftigung mit DDR-internen Mißständen führte. Die Handlungsorientierungen und Denkfiguren, die sich bereits in den Anfängen der Friedensbewegung entwickelt hatten, konnten im Zuge dieser Schwerpunktverlagerung den gesellschaftlichen Verhältnissen in der DDR gegenübergestellt werden. Die Vorprägungen der Jahre seit 1978 führten deshalb zusammen mit dem Lernprozeß der Jahre 1985/86 dazu, daß sich die Gruppen nicht länger als Gegenentwurf zu globalen Krisenphänomenen verstanden, sondern als zivilgesellschaftliche Gegenmodelle zu den DDRinternen Herrschaftsmechanismen. Warum und wie sich das Engagement der Friedensbewegung auf die DDR selbst verlagerte, ist Gegenstand des folgenden Abschnittes. 2.1.2. Die Ausweitung zum politisch alternativen Milieu 1982-1985 Auf der Grundlage des eben genannten Grundkonsenses entwickelte sich die Friedensbewegung aus der Organisation Kirche heraus zu einem zunehmend eigenständigen sozialen Zusammenhang, für den Wielgohs/Schulz den Begriff des politisch alternativen Milieus66 prägten. Mit dem sozialisierenden Element besaß die DDR-Friedensbewegung eine Komponente, deren besondere Bedeutung auf DDR- bzw. Osteuropa-spezifischen Eigenheiten der politischen Systeme beruhte. Diese osteuropäische Komponente wurde seit 1981/82 prägender, da sie - wie Carola Becker für die Umweltgruppen gezeigt hat - maßgeblich dafür verantwortlich war, daß das zunächst kirchlich gebundene Mitgliederpotential überschritten wurde. Als »Freiraum für Andersdenkende« zogen die Gruppen seit der ersten Hälfte der achtziger Jahre mehr und mehr Nicht-Christen an, »die sich selbständig und autonom zusammenfinden wollten. Wer kontrovers diskutieren, seine Meinung offen sagen, sich mit Gleich66 Vgl. Wielgohs/Schulz, Krise, S. 1968, passim.

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gesinnten treffen wollte, der ging in die Kirche.«67 Dieser Motivation folgten zum einen Jugendliche, bei denen eine verstärkte Artikulation von Bedürfnissen nach Selbstbestimmung und Individualität mit einer deutlichen Erosion sozialistischer Überzeugungen einherging.68 Auf diesem Mobilisierungspotential beruhten die seit 1981 steigenden Zahlen der Gruppen und Gruppenmitglieder. Neben den Jugendlichen wurde jedoch noch eine zweite Altersgruppe, die sich aus etwa 10 - 15 Jahre älteren Erwachsenen zusammensetzte, in den Zusammenhang der Friedensbewegung einbezogen. Diese von Gerd Poppe als »eine Art DDR-68er«69 bezeichnete Generation der Jahrgänge 19451955 hatte den Prager Frühling bewußt miterlebt und sich zum Teil schon in den siebziger Jahren in verschiedenen oppositionellen Zusammenhängen engagiert. Die neuen Mitglieder gaben der Friedensbewegung neue Impulse, wobei vor allem die DDR-68er eine zunehmende Bedeutung bekamen. Enttäuscht von den »konspirativen Zirkeln, die völlig uneffektiv waren« hatte diese Generation erkannt »daß wir an die Öffentlichkeit mußten, eine eigene Gegenöffentlichkeit oder so etwas wie Parallelstrukturen - auch dies ein Begriff, der von den Ostmitteleuropäern zu uns herüberschwappte - schaffen mußten.«70 Mit nichtchristlichen Mitgliedern einerseits und dezidierteren Schritten an die Öffentlichkeit andererseits stellte sich die Frage nach der kirchlichen Qualität der Gruppen aufs Neue. Diese Frage bewegte nicht nur die Kirche, sondern vor allem die Sicherheitsbehörden. Denn sobald das Engagement der Gruppen nicht mehr als kirchlich klassifiziert werden konnte, war es eine logische Schlußfolgerung des SED-Regimes, die Friedensbewegung als staatsfeindliche politische Untergrundtätigkeit (PUT) zu interpretieren und strafrechtlich zu verfolgen.71 Aus der Sicht des Ministeriums für Staatssicherheit wurden die Gruppen und Aktionen der Friedensbewegung damit zum Ausdruck für »die Bildung von verfassungsfeindlichen Personenzusammenschlüssen und die Versuche der antisozialistischen Kräfte, auch unter Ausnutzung legaler Möglichkeiten öffentlichkeitswirksam zu werden«.72 Im krassen Gegensatz zu dieser Wahrnehmung stand das Selbstverständnis der Betroffenen, welche die Kriminalisierung als ungerecht und vor allem als ungerechtfertigt empfanden. Weder dem Inhalt noch dem Anspruch nach ver67 Becker, S. 225. 68 Vgl. Wielgohs/Johnson, S. 344. Anm. 17. 69 Diskussionsbeitrag Gerd Poppes in Deutscher Bundestag/Enquete-Kommission, Bd. VII/1, S. 288. 70 Diskussionsbeitrag Gerd Poppes in: ebd., S. 288. Zu den Einstellungen, Prägungen und Diskursen dieser Generationsgruppe siehe Land/Possekel, S. 60-66. 71 Die zur Verfolgung maßgeblich herangezogenen gesetzlichen Regelungen des Strafgesetzbuches der DDR finden sich zum Teil im Abschnitt Verbrechen gegen die DDR (§§ 99,106,107), zum Teil im Abschnitt Straftaten gegen die staatliche Ordnung (§§ 215, 216, 217, 218, 220). 72 So die Definition der maßgeblichen Erscheinungsformen der politischen Untergrundtätigkeit im Wörterbuch des MfS, vgl. Suckut, S. 377f.

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stand man sich als Opposition. Vielmehr nahm man für sich in Anspruch, aus einer eigenen Perspektive bestimmte Aspekte der Gesellschaft zu kritisieren, um Verbesserungsmöglichkeiten des existierenden Systems vorzuschlagen. Aufgrund der Ausrichtung an sozialen und kulturellen Fragen wurde dieses Engagement aber nie als ein machtpolitisches verstanden. Die staatliche Wahrnehmung, die Gruppen seien Staatsfeinde oder strebten gar die Machtübernahme in der DDR an, sei deshalb »absurd«, betonte Markus Meckel 1983 in dem Versuch einer Richtigstellung des Verhältnisses zwischen Friedensbewegung und Staat. Zwar denke man in den Gruppen über mögliche Veränderungen nach, das »Ziel dieser Veränderungen ist aber gerade nicht Sturz des Staates, sondern seine wirkliche Stabilität.« 73 Anders als es in diesem Selbstverständnis zum Ausdruck kommt, berührte die Friedensbewegung jedoch nicht nur mit ihrer Aktivität, sondern schon durch ihre schiere Existenz die machtpolitischen und ideologischen Fundamente des DDR-Regimes. Sie war, mit anderen Worten, von Beginn an Opposition. Denn unabhängig davon, ob man die DDR als totalitär, autoritär oder »autalitär«74 begreift, ist der totale Macht- und Wahrheitsanspruch der SED unbestritten, so daß die DDR ungeachtet der Frage, inwieweit es ihr gelang, diesen Anspruch durchzusetzen, als Diktatur zu bezeichnen ist.75 Ihre Herrschaftsgrundlage beruhte, wie Claude Lefort für die staatssozialistischen Systeme gezeigt hat, auf der Aufhebung der Trennung von Staat und Gesellschaft, an deren Stelle die Einheit von Gesellschaft, Volk, Partei und Staat gesetzt wurde.76 Innerhalb der ideologisch bestimmten »einheitsverkörpernden Öffentlichkeit«77 konnte es weder unpolitische Bereiche noch ein staatsunabhängiges Engagement oder gar eine autonome Öffentlichkeit geben - genau diese Prinzipien wurden aber durch die Friedensbewegung konterkariert: Ihre eigenständigen Beiträge zur gesellschaftlichen Entwicklung, so konstruktiv und unpolitisch sie auch gemeint waren, stellten das Wahrheitsmonopol der Partei in Frage, und das Bestreben, in den Gruppen autonome Gemeinschaftsbezüge herzustellen, war gleichbedeutend mit einem Gegenentwurf zur Einheit der einen sozialistischen Gesellschaft. Soweit der totalitäre Charakter der DDR auf dem Macht-, Wahrheits- und Deutungsmonopol der Partei, der Verstaatlichung der öffentlichen Sphäre und der damit einhergehenden sozialen Atomisierung der Menschen beruhte, kann man die Friedensbewegung in ideologischer, sozialer und kultureller Hinsicht nur als antitotalitär bezeichnen. 73 M. Meckel: »Friedensarbeit im Widerspruch« [1983], in: Meckel/Gutzeit, S. 133-152, Zitat S. 135. 74 Jesse, DDR, S. 23. 75 Zur Auseinandersetzung um die begriffliche Einordnung der DDR als moderne -, oder aber als Fürsorgediktatur vgl. Kocka bzw. farausch, Sozialismus. 76 Vgl. Lefort. 11 Häuser u.a., S. 59.

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Allerdings ging mit der antitotalitären Praxis lange Zeit weder ein entsprechendes Selbstverständnis noch eine antitotalitäre Theorie einher. Von der SED und den Sicherheitsorganen wurde die hinter dem loyalen Nonkonformismus der Friedensbewegung stehende Bedeutung durchaus erkannt. Am deutlichsten wurde dies, als die Staatsmacht gegen die Verwendung offizieller Symbole und Slogans einschritt, deren staatsfeindliche Qualität eben darin lag, daß sie staatsunabhängig verwandt wurden. Das bekannteste Beispiel hierfür ist der Aufnäher »Schwerter zu Pflugscharen», der auf der Friedensdekade 1981 verbreitet wurde. Seine Träger riskierten eine Verhaftung, obwohl der Aufnäher eine Plastik darstellte, welche die UdSSR der UNO geschenkt hatte, obwohl sich der Bibelvers »Schwerter zu Pflugscharen« (Micha 4,3) zusammen mit der Statue im offiziellen Lehrbuch für die Jugendweihe fand und obwohl die Deutsche Zeitschriftfür Philosophie den Vers kurz zuvor noch zustimmend im Sinne des Marxismus-Leninismus ausgelegt hatte.78 Das MfS richtete seine Maßnahmen jedoch nicht nur gegen die unabhängigen Meinungsäußerungen, sondern auch gegen die unabhängigen Gemeinschaftsbildungen. Seit 1983 wurde verstärkt versucht, die Gruppen durch eine systematische Zerstörung der sozialen Beziehungen von innen zu sprengen. »Bewährte anzuwendende Formen der Zersetzung« waren dabei etwa die »systematische Diskreditierung des öffentlichen Rufes«, die »systematische Organisierung beruflicher und gesellschaftlicher Mißerfolge«, »Erzeugung von Mißtrauen und gegenseitigen Verdächtigungen«, »Ausnutzen und Verstärken von Rivalitäten« und das »Einschränken der gegenseitigen Beziehung der Mitglieder einer Gruppe«.79 Diese aus der Sicht des M ß überaus erfolgreichen Maßnahmen dienten primär dazu, die Gruppen mit sich selbst zu beschäftigen, um sie von Aktionen abzuhalten. Das ungewöhnliche Maß an Aufwand und Perfidie, mit dem die Zersetzungsmaßnahmen auch bei nicht-aktionsorientierten Gruppen umgesetzt wurden, verweist jedoch darauf, daß ihr Zweck über eine rein strategische Bedeutung hinausging. Die Maßnahmen zielten auch darauf, die Gruppen als autonome Freiräume innerhalb der Gesellschaft zu zerstören.80

78 Vgl. dazu Zander, S. 259-262. 79 »Richtlinie 1/76 zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge«, in: Gill/Schröter, S. 346-402, Zitate S. 390f. 80 Zu den staatlichen Reaktionen auf die Gruppen während der achtziger Jahre siehe Choi, S. 149ff.; zur sog. weichen Repression in der DDR, die die Strategie offener Repressionen ablöste, vgl. Knabe, Verfolgung.

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2.1.3. Übergänge 1985/86 Der äußere Druck stellte in der Entwicklung der Friedensbewegung ein synchronisierendes Moment dar, das die Solidarität nach innen verstärkte und alle Beteiligten gleichermaßen vor die Frage stellte, wie man mit der Enttäuschung, der persönlichen Bedrohung und der Benachteiligung in Schule, Beruf und alltäglichem Leben umgehen sollte bzw. konnte. Die Antworten auf diese Fragen bestanden in zwei verschiedenen Versuchen, Auswege aus den Widersprüchen zwischen Praxis, Theorie und Repression zu finden. Zum einen lassen sich seit 1985 Ansätze einer Radikalisierung in dem Sinne feststellen, daß der unpolitische Charakter der Friedensbewegung hinterfragt wurde. So betonte Wolfgang Templin 1985 nachdrücklich, daß die Hoffnung, im Rahmen des Herrschaftssystems der DDR Partialkritik üben zu können, ohne als Staatsfeind diskriminiert zu werden, ebenso aussichtslos wie unangemessen war: »Probleme der Abrüstung, der äußeren und inneren Sicherheit, der Friedenserziehung und der Ökologie werden von der Friedensbewegung aufgenommen und greifen zugleich in die Interessensphäre des Staates ein. Dieses Interessenspiel muß der Friedensbewegung durch nüchterne Analyse hinter allen möglichen ideologischen Umhüllungen bewußt werden. [...] Mit einer eigenen politischen Identität wird sie sich zwischen die Stühle von Kirche und Staat setzen und den ›Vorwurf‹ der Opposition aushalten müssen.« 81 Soweit sich Gruppen und Einzelpersonen dieser Überzeugung anschlossen, vollzogen sie einen Lernprozeß, der sich auch in anderen osteuropäischen Ländern beobachten ließ: Die Verweigerung von Artikulationsmöglichkeiten führte über kurz oder lang dazu, daß sich zunächst systemindifferente Kritiker gezwungen sahen, sich mit den innergesellschaftlichen Voraussetzungen freier Meinungsäußerung und Willensbildung auseinanderzusetzen.82 In der DDR vollzog sich dieser Lernprozeß in Form eines Bedeutungswandels des zentralen Begriffs Frieden, der bis in die Mitte der achtziger Jahre primär als weltweiter Frieden thematisiert worden war. Nunmehr aber verlagerte sich der Schwerpunkt auf die innenpolitische Dimension des Friedensbegriffs, der aus dem militärischen Zusammenhang herausgelöst und unter dem Schlagwort des inneren Friedens auf die Bürger- und Menschenrechtsfrage in der DDR übertragen wurde. Einen deutlichen Ausdruck fand der fließende Bedeutungswandel des Friedensbegriffs in der Gründung der Initiative Frieden und Menschenrechte 81 Wolfgang Templin: Arbeitspapier für »Frieden konkret« III/Schwerin 1985, in Gutzeit, Weg,S.91,Anm. 13. 82 Vgl.Judt, S. 205: »There is almost no theme open to adoption by the Opposition which does not, sooner or later, bring the discussion back to rights and feedoms.« 60 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35925-0

(IFM). In ihr schlossen sich um die Jahreswende 1985/86 mit Ulrike und Gerd Poppe, Bärbel Bohley, Wolfgang und Regina Templin, Ralf Hirsch, Peter Grimm, Werner Fischer, Reinhard Weißhuhn und anderen ein großer Teil der milieu-internen Elite der Friedensbewegung zusammen.83 Der Hintergrund der Initiative war die im inoffiziellen Gründungsdokument formulierte Überzeugung, derzufolge die »Erfahrungen der letzten Jahre belegen, daß die Ziele von Friedensarbeit von der Durchsetzung demokratischer Grundrechte und freiheiten abhängig sind«.84 Mit der IFM konstituierte sich damit erstmals in der Geschichte der DDR-Friedensbewegung eine Gruppe, die sich explizit der Bürger- und Menschenrechtssituation in der DDR widmete. Wie Peter Eisenfeld anhand des Friedenskreises Dresden-Johannstadt gezeigt hat, blieb die Orientierung auf die Bürger- und Menschenrechtsfrage nicht auf Berlin beschränkt. Zeitgleich zur Gründung der IFM kam es auch in anderen Städten zu vergleichbaren Entwicklungen, neben Dresden beispielsweise auch in Leipzig, wo der Arbeitskreis Gerechtigkeit oder die Arbeitsgruppe Menschenrechte die Bürgerrechtsproblematik aufnahmen.85 Zu der regionalen und zahlenmäßigen Ausweitung von Gruppen, die sich nicht länger mit globalen Problemen, sondern mit den DDR-internen Voraussetzungen ihrer Veränderung beschäftigten, trugen nicht zuletzt auch die Umweltgruppen bei. Sie machten seit Jahren die Erfahrung, daß ihre Vorschläge und Initiativen auf taube Ohren stießen, während sich die Umweltsituation in der DDR rapide verschlechterte. Analog zum Friedensthema lag daher auch für die Umweltgruppen die Schlußfolgerung nahe, »daß ein wirksamer Umweltschutz in der DDR erst nach Reformen im politischen System möglich sein würde.«86 Als erste der beiden eingangs angedeuteten Antworten auf die Repression kann man daher eine Radikalisierung und Politisierung feststellen, die weite Teile der Friedensbewegung erfaßte und ab 1985/86 zu einer Beschäftigung mit den innenpolitischen Verhältnissen und insbesondere der Bürger- und Menschenrechtssituation in der DDR führte. Diese Tendenz wurde jedoch konterkariert durch die zweite Reaktion auf den staatlichen Druck: die Ausbildung zum Teil bewußter, zum Teil auch unbewußter Schutzmechanismen, mit denen die staatliche Repression unterlaufen oder ganz vermieden werden sollten. Die jahrelange Erfahrung der Repression demonstrierte, wie Martin Gutzeit später feststellte, »die Aussichtslosigkeit, als Feind gesellschaftlich überleben zu können« so nachhaltig, daß »oppositionelles und widerständiges Denken und Verhalten davon nicht unbeeinflußt blieben 83 Wielgohs/Johnson, S. 347. Zur IFM siehe Hirsch; Hirsch/Kopelew; Templin/Weißhuhn; Rüddenklau, S. 51 ff., passim; Thaa u.a., S. 415-424. 84 »Dokument III« der Initiative Frieden und Menschenrechte, Januar 1986, in: Rüddenklau, S.55. 85 Vgl. Eisenfeld. Zu Leipzig: Unterberv, S. 26-39 und Dietrich, S. 598ff. 86 Unterberg, S. 27.

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und Denk- und Handlungsmuster suchten, die nicht unmittelbar den Verlust bürgerlicher Existenz bedeuteten«.87 Da die Existenzgefährdung primär von den staatlichen Vorwürfen ausging, antisozialistisch und staatsfeindlich zu sein, bezogen sich die über Jahre entwickelten Konfliktvermeidungsstrategien wesentlich auf die Zurückweisung dieser beiden inkriminierenden Anklagen. Die Aufnahme der Bürger- und Menschenrechtsthematik ließ diese Argumentationen jedoch hinfällig werden, schlimmer noch: mit der Konzentration auf das sensible Thema demokratischer Reformen in der DDR schienen die staatlichen Vorwürfe bestätigt und inhaltlich gerechtfertigt zu werden, so daß die Gründung der IFM durchaus nicht einhellig begrüßt wurde.88 Diese Spannungen charakterisieren die ambivalente Stellung der Friedensbewegung, deren gesamte Entwicklung von den Widersprüchen zwischen den internen Ansprüchen und den äußeren Möglichkeiten geprägt war. Die Gratwanderung zwischen Opposition und Opportunität stellte ein existentielles Problem dar, das kontinuierlich zu Spannungen führte zwischen dem, was man wollte, und dem, was man konnte. In dem Maße, wie verschiedene Gruppen zunehmend offensiver für die Bürger- und Menschenrechte eintraten, verstärkte sich andererseits das Bemühen, das Regime nicht noch zusätzlich zu provozieren. Die vielen Widersprüche in der Entwicklung der Friedensbewegung wie das Nebeneinander von systemsprengenden Demokratieforderungen und Loyalitätserklärungen an den real existierenden Sozialismus oder die Vermeidung öffentlichkeitswirksamer Aktionen trotz des Zieles, die Öffentlichkeit zu erreichen, sind ohne Berücksichtigung dieser Grundspannung nicht zu verstehen. Aus dieser Grundspannung heraus entstand jedoch gleichzeitig ein systematischer Ideenzusammenhang, in dem individuelle Erfahrungen (Selbstbestimmung statt Bevormundung), pragmatische Erwägungen (dezentrale Strukturen, um die Repression zu unterlaufen) und normative Überlegungen (Pluralität als Vorwegnahme der erstrebten Gesellschaft) zu einem civil-societyKonzept in den Farben der DDR zusammengefaßt wurden. Der neue Ansatz konnte sich vor allem deshalb durchsetzen, weil die Friedensbewegung in den Jahren 1978 bis 1985 viele Elemente vorweggenommen hatte, die im Rahmen der Zivilgesellschafts-Konzepte eine große Rolle spielten. Diese alten Elemente erhielten in dem Moment eine neue Bedeutung, als 1985/86 der Staat DDR zum Gegenüber der Friedensbewegung wurde. Anstatt unpolitische Gegenentwürfe zum globalen Unfrieden zu sein, ließen sich die Gruppen nunmehr als anti-politische Gegenmodelle zu den gesellschaftlichen Verhältnissen in der DDR deuten. Es bedurfte daher keiner Neuorganisation der Bewegung, sondern nur einer Neuinterpretation von Prozessen, die in der bisherigen Ent87 Gutzeit, Widerstand, S. 238. 88 Vgl. zu den ablehnenden Reaktionen auf die IFM Templin/Weißhuhn, S. 150 und die Interviewäußerungen Werner Fischers, in Findeis u.a., S. 99.

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wicklung angelegt waren. Es handelte sich um einen bewegungsinternen Lernprozeß, in dessen Verlauf der zivilgesellschaftlichen Praxis der Friedensbewegung eine zivilgesellschaftliche Theorie zur Seite gestellt wurde. Das ist nicht als eine reine Übernahme der osteuropäischen Ideen zu verstehen, zumindest nicht in dem Sinne, daß die osteuropäischen Theoretiker rezipiert und ihre Konzepte auf die DDR übertragen worden wären. Die Schriften der Dissidenten waren zwar durchaus bekannt; sie wurden in die DDR eingeschmuggelt, von verschiedenen Initiativen, beispielsweise der OsteuropaGruppe des Leipziger Arbeitskreises Gerechtigkeit übersetzt und unter anderem über die Zeitschrift der IFM, den Grenzfall, verbreitet. Dabei fand gerade Vaclav Havels »Versuch, in der Wahrheit zu leben« laut Ulrike Poppe ein dankbares Publikum und wurde »in den Gruppen mit Begeisterung gelesen und diskutiert«.89 Die Wirkung der Rezeption ist letztlich nicht exakt zu beurteilen. Das gilt nicht zuletzt auch für den Einfluß, den Wolfgang Templin, Reinhard Weißhuhn oder Gerd Poppe in der IFM und Ludwig Mehlhorn im Arbeitskreis »Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung« hatten. Sie alle unterhielten zum Teil schon seit den siebziger Jahren Kontakte zu osteuropäischen Oppositionsgruppen, doch wie sehr sie durch diese geprägt waren und wie stark sie ihrerseits die Diskussionen in den Gruppen prägten, läßt sich kaum genau angeben.90 Vieles deutet darauf hin, daß die Entwicklung der DDR-Friedensbewegung einer eigenen, inneren Logik folgte und durch die Rezeption der osteuropäischen Theoretiker eher unterstützt als verursacht wurde. 2.2. Civil Society in den Farben der DDR Zur Rekonstruktion der kognitiven Grundlagen der Friedensbewegung wird im folgenden Kapitel die deskriptive Perspektive der bisherigen Darstellung zugunsten einer systematischen Ebene verlassen, um spezifische Elemente herauszuarbeiten und innerhalb eines kohärenten Ideenzusammenhanges verständlich zu machen. Dabei ist es nicht das Ziel dieses Kapitels, die Friedensbewegung und ihre kognitiven Grundlagen zu untersuchen. Die folgende Darstellung trifft eine Auswahl, deren Kategorien und Kriterien sich aus den eingangs aufgestellten Arbeitshypothesen ergeben: Erstens, die grundlegenden Orientierungen der oppositionellen Gruppen in der DDR ordneten sich systematisch in die seit den siebziger Jahren in Osteuropa entwickelten Konzepte ziviler Gesellschaft ein, und zweitens: Die in den Gruppen entwickelten Konzepte gingen prägend in die Konstituierung der Bürgerbewegung von 1989 ein. Unter dieser Perspektive ist die folgende Darstellung eine in zweierlei Hinsicht 89 Poppe, Weg, S. 258. 90 Zu den Verbindungen und Kontakten zwischen der Friedensbewegung und den osteuropäischen Oppositionskreisen siehe Templin; Dalos; Mehlhorn, Umbruch.

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idealtypisch zugespitzte Konstruktion. Sie konzentriert sich auf zivilgesellschaftliche Elemente innerhalb des oppositionellen Milieus, und sie systematisiert die kognitiven Orientierungen der Friedensbewegung nach den Kategorien, die für die Entfaltung der Bürgerbewegung von 1989 entscheidend werden sollten: Welche Problemdeutungen und Ziele lagen dem Engagement zugrunde; welche Strategien wurden verfolgt; welche Aktions- und Organisationsformen wurden gewählt? Damit verbindet sich nicht die Behauptung, daß es neben den zivilgesellschaftlichen Elementen nicht noch andere Ansätze gegeben hätte; ebenso steht es außer Frage, daß die Ideenzusammenhänge seitens der Beteiligten weder in so homogener Form formuliert noch als Systematik begriffen wurden. Der kognitive Rahmen der Bewegung ist eine Konstruktion, die Zusammenhänge herstellt, die den Beteiligten nicht unbedingt bewußt waren. Sie versucht, die grundlegenden Denk- und Handlungsschemata zu erfassen, deren zentrale Elemente sich in den Rahmen zivilgesellschaftlicher Konzepte einordnen. 2.2.1. Kategorien der Wirklichkeitswahrnehmung und Problemdeutung Am 13. August 1986 kettete sich Reinhard Lampe, ein Vikar an der Ostberliner Bartholomäus-Gemeinde, anläßlich des 25. Jahrestages der Berliner Mauer an das Fensterkreuz einer Wohnung unmittelbar gegenüber der Mauer. Die halbe Stunde, welche die Sicherheitskräfte benötigten, um in die Wohnung einzudringen und ihn festzunehmen, zog eine längere Untersuchungshaft nach sich, aus der Lampe erst im Dezember entlassen wurde. Unter dem Eindruck dieser Erfahrung bildete sich noch im Dezember 1986 eine Arbeitsgruppe, der außer Lampe zwei weitere Mitglieder angehörten: Stephan Bickhardt, zu der Zeit Studienreferent bei der Evangelischen Studentengemeinde Berlin, und Ludwig Mehlhorn, studierter Mathematiker und Programmierer, seit 1985 allerdings infolge eines Berufsverbotes Hilfspfleger an einer kirchlichen Einrichtung für geistig behinderte Kinder. Die Absicht des Arbeitskreises war es, einen Antrag zu formulieren, in dem die Landessynode der Berlin-Brandenburgischen Landeskirche aufgefordert wurde, öffentlich zu den negativen Folgen der deutschen Teilung und der mangelnden Reisefreiheit der DDR-Bürger Stellung zu nehmen. Die Landessynode lehnte den sogenannten »Antrag auf Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung« im April 1987 jedoch ab; ebenso die im Herbst tagende Bundessynode. Als eine Reaktion auf diese Rückschläge wurde der Arbeitskreis auf ca. 30 Mitglieder erweitert, die in den folgenden Jahren zu einem »intellektuellen Diskussionszirkel«91 wurden. Mehr als andere Gruppen kon91 Interviewäußerung Ludwig Mehlhorns, in: Findeis u.a., S. 157.

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zentrierte sich der Arbeitskreis »Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung« darauf, die Entwicklung der Friedensbewegung durch eigenständige theoretische Beiträge zu begleiten und systematische Deutungs- und Analysekonzepte anzubieten. So gehörten die Veröffentlichungen des Arbeitskreises, für die neben Hans-Jürgen Fischbeck, Wolfgang Ullmann, Hans-Jochen Tschiche und Edelbert Richter auch der Philosoph Rudolf Schottlaender, der Psychologe Ludwig Drees und die Schriftsteller Adolf Endler und Rainer Schedlinski Beiträge schrieben, zu den prononciertesten und grundsätzlichsten Auseinandersetzungen mit den zeitgenössischen Problemen und den Perspektiven der Friedensbewegung.92 Den gemeinsamen Ansatzpunkt der Analysen bildete der Begriff der Abgrenzung, der erstmals im »Antrag auf Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung« verwandt worden war. Der Begriff stellte eine neue Kategorie oppositionellen Denkens und Handelns dar, die von dem gleichnamigen Arbeitskreis weiterentwickelt wurde und sich als eines der zentralen Deutungsmuster innerhalb der Friedensbewegung etablierte. Wie der Arbeitskreis selbst, aus dem im September 1989 die Bürgerbewegung Demokratie Jetzt hervorging, übersetzte sich der Begriff später in die Bürgerbewegung des Herbstes 1989. Da in dem Konzept der Abgrenzung die zentralen Kategorien und Mechanismen der Problem- und Wirklichkeitsdeutung so deutlich wie nirgendwo sonst zum Ausdruck kommen, sollen die grundlegenden Züge einer Zivilgesellschaft in den Farben der DDR an den Bezügen und Bedeutungswandlungen dieses Begriffs exemplarisch aufgezeigt werden. Die Ausgangspunkte der Begriffsbildung waren soziale und seelische Probleme, und aus dieser Perspektive gewann der Begriff seine eigentliche Bedeutung. So berichtete Stephan Bickhardt später, die drei Antragsteller seien in ihren Diskussionen »immer wieder von den eigenen belastenden Erfahrungen ausgegangen.« Eine Vielzahl individueller Probleme, wie die Vereinzelung und Vereinsamung der Menschen, Gewalt und Diskriminierung, der Mangel an Toleranz und Verantwortungsbewußtsein, schienen ihren gemeinsamen Nenner in dem Begriff der Abgrenzung zu finden, den Reinhard Lampe in seiner theologischen Examensarbeit ausgearbeitet hatte. Im Zuge der Diskussionen stießen die drei Antragsteller auf immer mehr Phänomene, die mit der Praxis der Abgrenzung verbunden zu sein schienen - als ubiquitär und »übermächtig« hätte man diese empfunden, und, so Bickhardt weiter, »langsam wurde klar, daß hinter diesen Auswüchsen ein Prinzip steht, ein anonymes, meist politisches Kalkül, das aber dennoch Menschen zu verantworten haben.«93 Nach Überzeugung der Autoren bestand zwischen den zwischenstaatlichen Problemen 92 Zu Geschichte und Entwicklung des Arbeitskreises siehe die bei Bickhardt, Recht; Rein, Opposition, S. 59-83 und Rein, Revolution, S. 24-34 veröffentlichten Texte. Siehe auch Wielgohs/ Müller-Enbergs; Ullmann und das Interview mit Ludwig Mehlhorn in: Findeis u.a., S. 154-174. 93 Bickhardt, Recht, S. 113.

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nach außen und den zwischenmenschlichen Problemen im Inneren ein wechselseitiger Zusammenhang; sie waren jeweils Ausprägungen ein und desselben Prinzips: Standen die innerdeutschen Reiserestriktionen einerseits einer internationalen Vertrauensbildung im Wege, führte der Mangel an Kontaktmöglichkeiten andererseits in der DDR zu den geistig-kulturellen Krisen, die den Ansatzpunkt des Antrages gebildet hatten. »Unser Leben ist in der Einengung eintönig, privatisiert, dumpf und provinziell geworden«, stellte der Psychologe Ludwig Drees in einem Beitrag für die im Mai 1988 vom Arbeitskreis herausgegebenen »Aufrisse« fest. »In den Fähigkeiten zu demokratischer Mitwirkung verkümmert und mit kleinbürgerlich verengtem ästhetisch-kulturellem Horizont haben wir unser Selbstgefühl klein und unmündig gelassen.«94 Der innere Aspekt der äußeren Abgrenzung schlug sich daher in verschiedenen Symptomen einer »Isolationskrankheit« nieder, zu denen Hans-Jürgen Fischbeck neben einem Minderwertigkeitskomplex gegenüber dem Westen auch DDRinterne Folgen zählte, namentlich »Resignation und Perspektivlosigkeit«, »Verantwortungsscheu« und die »spezifische Unselbständigkeit als Hospitalisierungserscheinung unserer bevormundeten Existenz«.95 Das Beispiel der nationalen Isolation der DDR, die den ersten Anwendungsfall des Begriffs der Abgrenzung darstellte, verdeutlicht zunächst, daß der Begriff verschiedene Ebenen beinhaltet. Er stellt Beziehungen zwischen internationalen, nationalen, zwischenmenschlichen und individuellen Auswirkungen her und ordnet Phänomene wie die Blockkonfrontation und die alltägliche Intoleranz in den systematischen Zusammenhang von Praxis und Prinzip der Abgrenzung ein. Die zugrundeliegende Denkfigur geht davon aus, daß es eine Vielzahl von Verhaltensweisen gibt, die durch das Prinzip der Abgrenzung geprägt sind. Dieses Prinzip ist jedoch keine abstrakte Größe, sondern verdankt seine Existenz und seine Wirkung wiederum dem Vollzug, der Praxis. Abgrenzung, so Ludwig Mehlhorn, ist eine »Praxis, die sich [...] nach außen, nach innen, psychologisch, gesellschaftlich, kulturell, politisch, wirtschaftlich und so weiter manifestiert. Dieses Geflecht von verschiedenen Praktiken aber konstituiert ein Prinzip, eben das Prinzip der Existenz oder Lebensform dieser Gesellschaft.«96 Als ein internalisiertes Denk- und Handlungsschema kennt Abgrenzung zwar Profiteure und Leidtragende, nicht aber Verursacher. Wie ein perpetuum mobile wird das Prinzip getragen durch seine eigenen Folgen, die sich in der Praxis niederschlagen. Für Ulrike Poppe, die 1987 zum Arbeitskreis kam, ist aus dieser Perspektive die Unmündigkeit der DDR-Bürger »eine selbstverschuldete«, denn: 94 Ludwig Drees: Abgrenzung - die Mauer in den Köpfen, in: die tageszeitung vom 16.8.1988, S.16. 95 Hans Jürgen Fischbeck: »Gedanken zur Einbringung des Antrages in die Synode BerlinBrandenburg«, in: Bickhardt, Recht, S. 18-23, Zitat S. 21. 96 Interviewäußerung Ludwig Mehlhorns in: Findeis u.a., S. 156.

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»Nicht die Mächtigen sind schuld, weil sie uns aus der gesellschaftlichen Verantwortung ausgrenzen, sondern wir alle, die wir dieses System mit unserem willfährigen oder zumindest duldenden Verhalten mittragen.«97 Der Kreis der Argumentation schließt sich somit bei dem Verlust an Demokratiefähigkeit, die Drees in dem oben angeführten Zitat zu den Folgen der äußeren Abgrenzung der DDR zählte. Abgrenzung selbst ist aber kein perpetuum mobile. Sie kann überwunden werden, und zwar an genau einem Punkt: der individuellen Absage. Denn solange Existenz und Wirkung des Prinzips der Abgrenzung auf der (Re-) Produktion in der Praxis beruhen, impliziert ein Bruch mit der Praxis konsequenterweise, daß das Prinzip selbst untergraben wird. Institutionelle Regelungen sind hierfür sekundär; primär muß es darum gehen, die Zusammenhänge bewußt zu machen und die Menschen dazu zu bewegen, mit den etablierten Handlungs- und Denkmustern zu brechen. So wie die Abgrenzung auf wechselseitigen Beziehungen zwischen verschiedenen Ebenen beruht, kommen auch ihrem Gegenentwurf, einem selbstbestimmten Denken und Handeln, mehrere Bedeutungen zu: Auf der individuellen Ebene hat es eine »befreiende -wenn man so will, therapeutische Wirkung«98 für den einzelnen, der die negativen Folgen der Abgrenzung in seinem (Sozial-)Verhalten überwindet. Auf der kognitiven Ebene versetzt es den selbstbestimmt Denkenden in die Lage, durch sein Engagement zwischenmenschliche und gesellschaftliche Abgrenzungsprozesse zu durchbrechen, und auf der gesellschaftlich-politischen Ebene schließlich werden die Menschen zur Mündigkeit befähigt, welche die Voraussetzung einer gesamtgesellschaftlichen Emanzipation bildet. Dem anonymen, selbstreferentiellen Prinzip der Abgrenzung wird damit ein letztendlich eigendynamischer Prozeß gegenübergestellt, der wie die Abgrenzung seine Wirkung aus der Praxis gewinnt: Durch das individuelle Erlebnis der Selbstbefreiung überwindet der einzelne die sozialen und mentalen Barrieren der Abgrenzung, so daß das Prinzip negiert und - auf lange Sicht - eine gesellschaftliche Neukonstituierung möglich wird. Die Ziele und Strategien dieser gesellschaftlichen Veränderungen sind Gegenstand der folgenden Kapitel; an dieser Stelle soll noch auf die besondere Qualität der Abgrenzung als ein Muster der Problemwahrnehmung eingegangen werden. In der Entwicklung des Arbeitskreises läßt sich geradezu idealtypisch nachvollziehen, wie immer neue äußere Ereignisse und Krisen in den Kategorien des Abgrenzungsbegriffs wahrgenommen und als Probleme gedeutet wurden. Schon der hinhaltend taktierende Umgang, mit dem die Landessynode im April 1987 versuchte, der Behandlung des Antrages auszuweichen, führte zu 97 Poppe, Potential, S. 71. 98 Hans Jürgen Fischbeck: »Gedanken zur Einbringung des Antrages in die Synode BerlinBrandenburg«, in: Bickhardt, Recht, S. 18-23, Zitat S. 21.

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ersten Ausweitungen des Begriffs, der ursprünglich anhand der innerdeutschen Reiserestriktionen entwickelt worden war. Die Tatsache, daß sich die kirchlichen Gremien aufgrund der ungeschriebenen Spielregeln ihres Verhältnisses zum Staat nicht dazu entscheiden konnten, dem Antrag stattzugeben, führte Hans-Jürgen Fischbeck zu der Feststellung, »daß diese sogenannten Spielregeln selbst eine Form der Abgrenzung sind.« Von diesem Punkt war es nur ein kurzer Weg zu den allgemeinen Herrschaftsprinzipien des SED-Regimes. Die Geheimdiplomatie zwischen Kirche und Staat schien nur stellvertretend für die Abgrenzung zu stehen, die das politische System der DDR in den Augen Fischbecks charakterisierte: »Es ist dies die tief gestaffelte Abgrenzung im System des demokratischen Zentralismus zwischen den Macht- und Entscheidungsträgern einerseits, [...] und der übrigen Bevölkerung andererseits, deren erste Bürgerpflicht es ist, ziemlich glücklich und zufrieden zu sein.«99 Mit diesem Übergang von dem Thema des äußeren Friedens zum politischen Frieden in der DDR hatte der Arbeitskreis die Radikalisierungsprozesse der Friedensbewegung innerhalb kürzester Zeit nachvollzogen. Wiederum in Reaktion auf ein äußeres Ereignis, die Verschärfung der staatlichen Repressionspolitik zur Jahreswende 1987/88,100 erfuhr der Abgrenzungsbegriff eine weitere Ausweitung und wurde von den Herrschaftsprinzipien auf die Herrschaftstechniken des SED-Regimes übertragen. Als grundlegende Elemente wurden dabei verschiedene Maßnahmen herausgearbeitet, »die eben das bewerkstelligten, was wir dann Abgrenzung im Inneren nannten: dieses Leuteisolieren, Milieus-voneinander-isolieren, das Nomenklaturaprinzip, [...] die Restriktionen in der Kulturpolitik, die Zensur und so weiter.« Zusammengenommen liefen diese Maßnahmen in der Sicht des Arbeitskreises »darauf hinaus, daß eine wirkliche Mitsprache nicht möglich und eine unabhängige Öffentlichkeit nicht gegeben waren.«101 Im Ergebnis führte die Untersuchung der Herrschaftsmechanismen in den Kategorien der Abgrenzung zu der Feststellung zweier Grundzüge des Systems: einer sozialen Atomisierung auf der lebensweltlichen Ebene und einer allgegenwärtigen Dominanz des Staates in allen öffentlichen und politischen Belangen. Aufbauend auf diesem Ergebnis ergab sich aus der Diagnose von Abgrenzungsprozessen eine systematische Aufwertung des Begriffs der Öffentlichkeit, der zu einer grundlegenden Kategorie der Problemdefinition wur99 Ebd., S. 21. 100 Nach einer Tauwetterperiode, in der im Zusammenhang mit dem SED/SPD-Papier und dem Honecker-Besuch in Bonn einige Zugeständnisse an die Gruppen gemacht worden waren, bedeutete die Stürmung der Berliner Umweltbibliothek in der Nacht vom 24. zum 25. November 1987 das Ende der staatlichen Zurückhaltung. Die Verschärfung gipfelte in den Festnahmen im Zusammenhang mit der Luxemburg/Liebknecht-Demonstration am 17. Januar 1988, in deren Folge Freya Klier, Stefan Krawczyk, die Ehepaare Templin und Wollenberger, Bärbel Bohley, Werner Fischer und Ralf Hirsch faktisch ausgewiesen wurden. 101 Interview mit Ludwig Mehlhorn in: Findeis u.a., S. 159.

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de. Übertragen auf die innergesellschaftlichen Probleme erschien das Fehlen einer unabhängigen Öffentlichkeit als ein zentrales Element der staatlichen Herrschaftsmechanismen. Die soziale Atomisierung, die Verkümmerung sozialer Tugenden, die allgegenwärtigen ideologischen Phrasen und Rituale und die Unterdrückung freier Meinungsäußerung fielen zusammen in dem Fehlen eines staatsunabhängigen, öffentlichen Raumes, der den Bürgern die Möglichkeit böte, sich sozial und politisch zu engagieren. Solange eine solche unabhängige Öffentlichkeit nicht gegeben war, konnte sich das SED-Regime weiterhin auf die wechselseitige Verstärkung von Prinzip und Praxis der innergesellschaftlichen Abgrenzungsprozesse stützen. Das Grundproblem der DDR-Gesellschaft, die Abgrenzung zwischen Herrschern und Beherrschten, ließ sich daher letztlich darauf zurückführen, daß durch die Eliminierung einer unabhängigen Öffentlichkeit das verbindende Element zwischen Bürger und Staat zerstört worden war. Die Analyse des DDR-Systems kulminierte daher in der Forderung, daß »die Öffentlichkeit als Raum des Politischen reorganisiert werden (muß). Nur dadurch kann das Vakuum zwischen Staat und Bürger gefüllt werden.«102 Diese Formulierung markiert den endgültigen Übergang zu einer zivilgesellschaftlichen Orientierung, die in dem Konzept der Abgrenzung angelegt war. Von der Ähnlichkeit des Prinzips der Abgrenzung mit der von Havel konstatierten apersonalen »Eigenbewegung«103 der sozialistischen Systeme über die wechselseitige Beziehung von Lebenswelt und Politik bis hin zum Ansatzpunkt bei der Selbstbefreiung des Einzelnen durch das Heraustreten aus dem System der Lüge bzw. der Abgrenzung glichen die Überlegungen zu Praxis und Prinzip der Abgrenzung den osteuropäischen Klassikern der Zivilgesellschafts-Konzepte frappierend. Sie konvergierten vor allem in der gemeinsamen Ausrichtung an der Herstellung einer staatsunabhängigen Öffentlichkeit, in der zivilisierte Bürger die Möglichkeit haben sollten, in einem zivilen Rahmen ihre bürgerlichen Rechte und Pflichten wahrzunehmen. In dem Abgrenzungsbegriff gewann daher ein DDR-spezifisches Konzept der zivilen Gesellschaft an Kontur, das zwar einen anderen Ausgangspunkt, aber das gleiche Ergebnis hatte wie Havels »Versuch, in der Wahrheit zu leben«. 2.2.2. Zielvorstellungen gesellschaftlicher Veränderungen Seit Mitte der achtziger Jahre kann man davon sprechen, daß Demokratie zu einer Leitidee oppositionellen Handelns und Denkens in der DDR wurde. Ahnlich wie Abgrenzung oder Öffentlichkeit war auch Demokratie ein denk102 Ludwig Mehlhorn, in: »Aufrisse« (Mai 1988), zit. nach Elvers, S. 233. 103 Havel, Leben, S. 24ff.

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bar offener Begriff, der mit verschiedensten Bedeutungsinhalten verbunden wurde. Allen Vorstellungen war jedoch gemeinsam, daß Demokratie nicht als staatlich-institutionelle Ausgestaltung einer Staatsform verstanden wurde, sondern als ein sozialer Prozeß bzw. als eine bestimmte Art sozialen Verhaltens. Am nächsten kommt man daher dem Verständnis des Begriffs, wenn man Demokratie in Anlehnung an die Definition, die Markus Meckel 1984 für den Frieden gab, als einen »Prozeß der Versöhnung« versteht, »in dem die Selbstverwirklichung des anderen ein notwendiges Moment der eigenen Selbstverwirklichung ist.«104 Das zentrale Kriterium der demokratischen Vision bestand in diesem Sinne in dem Grad, in dem die Bürger fähig und willens waren, sich zu engagieren und eine Gemeinschaft mündiger Bürger zu bilden. Angestrebt wurde eine Gesellschaft, deren Existenzberechtigung darauf beruhen sollte, daß die Bürger sich in die Gesellschaft einbringen können und deren Existenzprinzip darin besteht, daß die Bürger sich engagieren müssen. Eine solche Gesellschaft kennt keine machtpolitischen Zwänge und keine abstrakte Staatsräson; soweit es einen Staatszweck gibt, besteht er darin, daß die staatliche Gewalt sich darauf zu beschränken hat, den Bürgern alle Möglichkeiten zur Selbstentfaltung zu bieten. Demokratie wird daher von den Bürgern aus definiert. Je weniger Staat vorhanden ist, desto mehr Möglichkeiten haben die Bürger und desto demokratischer ist die Gesellschaft. Letztlich wird Demokratie nicht nur zu einem Gegenmodell zu den totalitären Herrschaftsstrukturen der DDR, sondern auch zu einem Gegenbegriff zum Staat gleich welcher institutionellen Verfassung: »Der Staat, einerseits direkt oder potentiell Unterdrückungsinstrument und andererseits anachronistisch geworden, unfähig, auf die Herausforderungen des Atomzeitalters mit der notwendigen Innovationskraft und Flexibilität zu reagieren, müsse«, so faßte Ulrike Poppe das Verhältnis der Gruppen zum Staat zusammen, »zur Machtübergabe an die aufgeklärte, zivile Gesellschaft gezwungen werden.«105 Diese Überzeugung ergab sich nicht nur aus den angeführten theoretisch-normativen Überlegungen; ihre Glaubwürdigkeit und Wirkung beruhte ebenso sehr auf individuellen Erfahrungen mit der Reformunfähigkeit und den Repressionen des SED-Regimes, die dazu führten, »daß im Bewußtsein der Menschen Staat eine von ihnen abgelehnte Realität wurde.«106 An die Stelle einer besseren Staatsform trat daher die Vision einer staatslosen, herrschaftsfreien Gemeinschaft mündiger Bürger, die sich in einem kontinuierlichen gesellschaftlichen Prozeß engagieren würden, nachdem sie sich von den egoistischen Denkmustern befreit hätten. 104 M. Meckel: »Zur Selbstverständigung von Friedenskreisen« [1984], in: Meckel/Gutzeit, S 129. 105 Poppe, Weg, S. 261. 106 Meckel, Aufbrüche, S. 40.

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Notwendigerweise blieb daher offen, wie die zukünftige Gesellschaft konkret ausgestaltet werden sollte. Erst 1989 kristallisierten sich unter dem Druck der äußeren Verhältnisse Versuche heraus, die zukünftige Gesellschaftsordnung durch Rückgriffe auf räte- oder direktdemokratische Modelle institutionell näher zu bestimmen.107 Die Schwierigkeiten dieser Versuche, die Selbstbestimmung der Gesellschaft in staatliche Formen zu bringen, bestätigten im Nachhinein die Überzeugung, daß die Demokratisierung der Gesellschaft »ein Weg des gemeinsamen Suchens und Lernens sein (wird), für den es keine Modelle und Rezepturen gibt«,108 wie die IFM anläßlich des zehnjährigen Bestehens der Charta 77 betonte. Der angedeutete Such- und Lernprozeß richtete sich durchaus darauf, einen dritten Weg zu finden. Dieser aber sollte nicht in einem Mittelweg zwischen Sozialismus und Kapitalismus bestehen, sondern in einer Alternative zu allen bislang etablierten Staatsformen. An deren Stelle sollte eine Gesellschaft treten, deren selbstbestimmte Form nicht mehr »in den Rastern der überkommenen Ismen«109 zu fassen sein würde. Zu diesen Ismen zählte in erster Linie der Sozialismus. Trotzdem aber hält sich sowohl in der öffentlichen Wahrnehmung als auch in der wissenschaftlichen Aufarbeitung hartnäckig die These, die DDR-Opposition sei im Grunde sozialistisch orientiert und darüber hinaus bis in den Herbst 1989 hinein unfähig gewesen, sich aus ihren sozialistischen Denkmustern zu befreien.110 Offensichtlich ist, daß sich Friedensbewegung und Sozialismus auf ähnliche Ideale beriefen: Freiheit, Solidarität und Gleichheit hatten hier wie dort eine große Bedeutung. Aber in den Wegen, auf denen diese Werte verwirklicht werden sollten, unterschieden sich Friedensbewegung und Sozialismus fundamental. Geht man den Zusammenhängen nach, in denen die unbestreitbar zahlreichen Bezüge der DDR-Friedensbewegung auf den Sozialismus stehen, so zeigt sich schnell, daß sozialistische Ansätze weder bei der Analyse der gesellschaftlichen Probleme noch für die Veränderungsstrategien und Zielvorstellungen eine Rolle spielten. Auf der Grundlage der bisherigen Ausführungen kann man noch weiter gehen: In systematischer Hinsicht war die DDR-Opposition nicht nur mcfe-sozialistisch ausgerichtet, sie verfolgte vielmehr Ansätze, die jeglicher Art von reform-sozialistischen Überlegungen diametral entgegengesetzt wa107 Forderungen nach der Einführung direktdemokratischer Elemente wie Volksabstimmungen oder Plebiszite waren allen Gruppen gemeinsam. Rätedemokratische Modelle wurden vor allem durch Teile von DJ und VL vertreten, während sich DA und SDP für parlamentarische Systeme aussprachen. Einen neuen dritten Weg schlug demgegenüber das Neue Forum Leipzig ein, das ein System der Runden Tische forderte, (vgl. Probst, Perspektiven, S. 138f). 108 Initiative Frieden und Menschenrechte: »Zehn Jahre Charta 77«, in: Hirsch, S. 225-226, Zitat S. 226. 109 Wolfgang Templin, in: Bickhardt, S. u.a.: »Spuren« [1988], zit. nach Poppe, Weg, S. 271. 110 Die beiden dezidiertesten Vertreter dieser These sindJoppke, Dissidents und Torpey, Intellectuals.

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ren. Das gilt vor allem für die individualistisch-kulturorientierte Prägung der Friedensbewegung. In ihrer »Orientierung an der Friedensfähigkeit des einzelnen als Alternative zu der Orientierung an der Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse« sehen Rainer Land und Ralf Possekel zu Recht den »fundamentalen Unterschied zu einem wie auch immer reformierten sozialistischen Modell«.111 Aus diesen konzeptionellen wie kulturellen Unterschieden in den Prämissen resultierten gänzlich verschiedene Folgerungen. Bezüglich der Gestaltung einer zukünftigen Gesellschaft heißt es in der Selbstdarstellung der IFM in deutlicher Abgrenzung von sozialistischen Teleologien: Der Einsatz für Menschen- und Bürgerrechte als Voraussetzungen der angestrebten gesellschaftlichen Selbstentfaltung »bedeutet zwangsläufig, gesellschaftliche Entwicklung nicht mehr an einer bestimmten Ideologie, einem bestimmten utopischen Gesellschaftsbild messen zu können.«112 Mit der zivilgesellschaftlichen Überzeugung von der notwendigen pluralistischen Offenheit der Gesellschaft war die Verfolgung in sich geschlossener Gesellschaftsmodelle grundsätzlich nicht zu vereinbaren. Die Propagierung einer »einheitlichen, alles erklärenden Weltanschauung»113 stand den erhofften eigendynamischen Entfaltungsprozessen im Wege und wurde daher von den Gruppen kategorisch abgelehnt, wie sich nicht zuletzt in den späteren Schwierigkeiten der Programmdiskussionen nachhaltig zeigen sollte. Nicht weniger grundsätzliche Unterschiede zu sozialistischen Modellen bestanden auch in der Strategie der Veränderung. Hierzu meinte Robert Havemann 1979, man müsse »nur mit einer kleinen Gruppe von Leuten in den Politbüros reden«, um »eine vor langer Zeit begonnene Revolution zu vollenden, und zwar von oben«114. Weiter kann eine Reformstrategie von der Hoffnung der Friedensbewegung auf einen an der Basis ansetzenden, gesamtgesellschaftlichen Dialog kaum entfernt sein. Trotz aller Unterschiede bleibt jedoch die Tatsache bestehen, daß sich in den Quellen zahlreiche, explizit positive Bezüge auf den Sozialismus nachweisen lassen. Die These, daß hinter diesen Bezügen keine innere Überzeugung stand, 111 Land/Possekel, S. 64. 112 Vorstellung der Initiative Frieden und Menschenrechte zum Tag der Menschenrechte am 10.12.1987, in: Hirsch/Kopelew, S. VIII. 113 Mit diesem Argument wurden vereinzelte sozialistische Ansätze, wie etwa die der Gruppe Gegenstimmen, zurückgewiesen. Wolfgang Rüddenklau erklärte seine Vorbehalte mit dem bezeichnenden Argument: »Was die Friedensbewegung braucht, ist nicht ein irgendwie gearteter Monismus, eine einheitliche, alles erklärende Weltanschauung, sondern eine Vielfalt von Meinungen und Initiativen.«, W. Rüddenklau (unter dem Pseudonym r.l.) in: »Die Umwelt-Bibliothek« vom 24. Januar 1986, in: Rüddenklau, S. 92. 114 Robert Havemann in einem Interview mit der tageszeitung vom 11.6.1979, zit. nach Kroh, S. 31 f. Man darf in diesem Zusammenhang auch nicht übersehen, daß die oft hervorgehobene Hinwendung Havemanns zu den Bürger- und Menschenrechten unter der Prämisse stand, das Image der DDR zu verbessern, um die Voraussetzungen der »großen sozialistischen Wende in Europa« zu schaffen. (Havemann , S. 198) Havemann zu den direkten theoretischen Vordenkern der Friedensbewegung zu zählen, scheint mir daher fragwürdig.

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führt zu der Vermutung, daß es sich hierbei um eine eher taktische Verwendung des Begriffs handelte. Es liegt nahe, die Bezüge auf den Sozialismus als Bestandteil der oben angesprochenen bewußten und unbewußten Schutzmechanismen zu interpretieren. Dies deckt sich mit zahlreichen Erklärungen von Beteiligten, die unisono darauf verweisen, daß der Begriff des Sozialismus vor allem als Vorbehalt gegen Kriminalisierung und Tabuisierung verwandt wurde.115 An vielen Stellen wird darüber hinaus deutlich, daß der Bezug auf den Sozialismus den HorizontdenkbarerVeränderungen umschreibt. Die vordergründige Stabilität der DDR, ihre internationale (und auch westliche) Anerkennung, ihre Rückendeckung durch die Sowjetunion sowie die unangefochtene und scheinbar unanfechtbare Position der SED schienen grundsätzliche Veränderungen des Gesellschaftssystems unmöglich zu machen. Dieser Eindruck verfestigte sich vor allem bei denen, die über Jahre hinweg für Veränderungen eintraten und sich daher besonders deutlich mit der Folgenlosigkeit ihres Handeln konfrontiert sahen. Die scheinbare Allmacht und Unangreifbarkeit der SED demonstrierte den Gruppen der Friedensbewegung nachhaltig, daß Veränderungen in der DDR maximal in Kurskorrekturen innerhalb des sozialistischen Horizontes bestehen würden. Eine grundsätzliche Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse lag weit jenseits des Erwartungs- und vor allem des Denkhorizontes. Lange Jahre der Auseinandersetzung mit der SED hatten zu einer Fixierung auf die SED und auf den sozialistischen Status quo geführt, aus der sich viele Beteiligte auch 1989 nicht lösen konnten. Hier liegt eine wesentliche Ursache dafür, daß viele Aktivisten in den Bürgerrechtsgruppen im Herbst 1989 die Veränderungsprozesse und den Machtverfall der SED nicht oder aber zu spät realisierten.116 In diesem Sinn erscheint der Bezug auf den Sozialismus nicht als Vision der angestrebten Gesellschaft, sondern als pragmatischer Kompromiß hinsichtlich der denkbaren Veränderungen. Aus dieser Tatsache eine reformsozialistische Prägung herauszulesen, scheint mir nicht zulässig zu sein.117 Auf eine dritte Konnotation, die der Begriff des Sozialismus im Gebrauch der Gruppen hatte, machte Ulrike Poppe aufmerksam. Ihr zufolge verband sich mit dem Bezug auf den Sozialismus der Hinweis, »daß nicht die einfache Kopie 115 Vgl. etwa die Aussagen zum Sozialismus von Gutzeit, Widerstand, S. 240 (»die einzige Denkmöglichkeit, [...] sich in den Kategorien auszudrücken, die vielleicht die Tabuisierung zu durchbrechen ermöglichten«) oder G. Poppe: »Dieser Begriff sollte nicht immer in seiner ideologischen Ausprägung behandelt werden; er hatte außerordentlich viel pragmatischen Gehalt«, in: Deutscher Bundestag/Enquete-Kommission, Bd. VII/1, S. 117. 116 Diese Wahrnehmungsschwierigkeiten bestätigt etwa Werner Fischer: »Das Verrückte ist und ich glaube, das Problem haben viele, die jahrelang in der Opposition gestanden haben - daß ich noch lange Zeit auf die Beibehaltung des alten Zustandes fixiert war«, Interviewäußerung von W. Fischer in Findeis u.a., S. 101. 117 Vgl. hierzu auch Pollack, Alternativ.

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des westlichen Systems angestrebt wurde.«118 In diesem Abgrenzungsversuch kulminierten verschiedene Probleme, die sich aus den Repressionsmechanismen, der spezifischen (ost-)deutschen Situation und der angestrebten Gesellschaft jenseits der überkommenen Ismen ergaben. Denn die Forderung nach Demokratie weckte zwangsläufig Assoziationen an westliche Modelle und leistete damit der staatlichen Wahrnehmung Vorschub. Diese betrachtete jede Opposition als notwendigerweise fremd- und das hieß westgesteuert, da in der DDR »keine objektive politische und soziale Grundlage«119 für abweichende Meinungen existierte. Beides aber, die Gleichsetzung mit dem Westen wie die staatliche Kriminalisierung, wollte man vermeiden, so daß nur ein Ausweg blieb: die vordergründige Betonung der sozialistischen Loyalität. Aus diesem Neben- und Gegeneinander verschiedener Abgrenzungszwänge resultierte eine Vielzahl von Widersprüchen und Mißverständnissen, die sich nicht zuletzt auch in der westlichen Wahrnehmung niederschlugen und nach wie vor niederschlagen. Das Beharren auf der Eigenständigkeit der DDR verbunden mit der vordergründigen Forderung nach ihrer sozialistischen Umgestaltung ist maßgeblich dafür verantwortlich, daß sich die These einer sozialistischen Prägung so hartnäckig halten kann. Vielleicht ist es nach den bisherigen Überlegungen eine Selbstverständlichkeit, angesichts der Vorurteile gegen die Bewegung scheint es aber trotzdem die Hervorhebung wert zu sein: Erhalten werden sollte nicht der Sozialismus, sondern die Eigenständigkeit der DDR. Daß dies -wie die Ereignisse von 1989 gezeigt haben - einer Quadratur des Kreises gleichkam, hat die Bewegung weder realisiert noch reflektiert. In der Fixierung auf die DDR kommt ein weiteres Element der kognitiven Grundlagen der Friedensbewegung zum Ausdruck: Kognitiv und geographisch war die DDR der grundlegende Bezugsrahmen für das oppositionelle Denken und Handeln. Bei aller Wertschätzung einer deutsch-deutschen Annäherung im Rahmen einer friedenssichernden Zusammenarbeit wurde die staatliche Einheit weder für möglich noch für nötig gehalten.120 Wenig sinnvoll schien sie vor allem deswegen, weil in der Hoffnung auf eine zivile Gesellschaft die westdeutsche »parlamentarische Demokratie eine Möglichkeit, möglicherweise eine Zwischenstufe, aber gewiß nicht ein erstrebenswertes Modell«121 für die DDR darstellte. Wichtiger noch als solche normativen Begründungen der Ablehnung einer Vereinigung war aber der Bezug zur DDR selbst, die nicht nur der Schauplatz der jahrelangen Auseinandersetzungen mit der SED war, sondern auch und vor allem der Lebensmittelpunkt aller Beteiligten. »Ich habe 118 Poppe, Weg, S. 270. 119 Kleines Politisches Wörterbuch, 7. überarb. Auflage, Berlin 1988, S. 707. 120 Zu den Versuchen und Problemen deutschlandpolitischer Positionsbestimmungen siehe Neubert, Geschichte, S. 550ff. 121 Diskussionsbeitrag Werner Fischer in: Deutscher Bundestag/Enquete-Kommission, Bd. VII/1, S. 105.

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diesen Staat nicht geliebt, ganz im Gegenteil. Aber das war nun mal Heimat. Das war Heimat in dem Sinne, daß man sich auskannte und sich gerieben hat an den politischen Verhältnissen. Man wußte, wo der Feind steht, und man kannte sich bis ins Detail in den Strukturen aus.«122 Mit dem positiven Bezug zum Land, nicht zum Staat DDR ging ein wichtiges nationales Element in die kognitiven Grundlagen der Bürgerbewegung ein, das im Herbst 1989 angesichts der Ausreisewelle und dem späteren Schwenk weiter Bevölkerungsteile hin zur deutschen Einheit eine große Bedeutung erhalten sollte. 2.2.3. Strategien der Veränderung In den bisherigen Ausführungen ist deutlich geworden, daß die Gruppen nicht auf gesellschaftliche Veränderung durch Reform von oben setzten, die sie ohnehin weder erwarteten noch durchsetzen konnten. Nicht das politische System, sondern die politische Kultur sollte verändert werden, so daß institutionelle Reformen nicht nur am Kern der Sache vorbeizielen mußten, sondern auch eher als kontraproduktiv denn nützlich betrachtet wurden, »werden sie doch das System einer alles umfassenden Verstaatlichung nicht abschaffen, sondern allenfalls im Interesse größerer Effizienz perfektionieren.«123 Zu erreichen war das Ziel der gesellschaftlichen Selbstentfaltung nur durch einen Prozeß der Selbstentfaltung, der in der angestrebten Gesellschaft nicht zu seinem Ende, sondern zu seiner vollen Blüte kommen sollte. Das primäre Ziel einer Veränderungsstrategie mußte es deshalb sein, in der DDR die Möglichkeiten und Fähigkeiten demokratischer Entwicklungen zu schaffen; in anderen Worten: eine gegenkulturelle Öffentlichkeit herzustellen.124 Dieser Aufgabe widmeten sich eine wachsende Zahl von Zeitschriften (Grenzfall, Umweltblätter, Friedrichsfelder Feuermelder, u.v.a.),125 überregionale Treffen sowie ein Netz von Bibliotheken, wie der Berliner Umweltbibliothek, die zu einem Knotenpunkt der oppositionellen Netzwerke wurde. In den Jahren 1986 bis 1989 entstand in der DDR ein zunehmend dichtes, dezentrales Kommunikationsnetz, das in seiner Pluralität und Unkontrollierbarkeit ebenso wie in dem Bestreben, unabhängige Strukturen zu schaffen, die wesentlichen Grundzüge einer Parallelstruktur in sich ver122 Diskussionsbeitrag Werner Fischer in: ebd., S. 111. 123 Vorstellung der Initiative Frieden und Menschenrechte zum Tag der Menschenrechte am 10.12.1987, in: Hirsch/Kopelew, S. VIII. 124 Vgl. Poppe, Potential, S. 65: Die »Reformbestrebungen werden nicht mit einem eigenen Herrschaftsanspruch verbunden, nicht nach politischen Spielregeln strategisch und taktisch geplant. Stattdessen wird mit einem Minimum an organisatorischer Struktur eine politische und soziale Gegenkultur gelebt.« 125 Vgl. zu den Strukturen einer unabhängigen Öffentlichkeit in der DDR Fehr, Öffentlichkeit, S. 203ff. Zum Samisdat siehe Thaa u.a., S. 415-424; Neubert, Geschichte, S. 752ff. und Knabe, Samisdat.

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einte. Als Bereich einer unabhängigen Öffentlichkeit sollte sie den Ansatzpunkt einer Entwicklung bilden, deren Ziel es war, immer mehr Menschen in einen Lernprozeß der Überwindung undemokratischer Denk- und Handlungsmuster einzubeziehen. Im Zuge dieses an der Basis ansetzenden Prozesses würden, so die Hoffnung, den undemokratischen Herrschaftsmechanismen die sozialen und kulturellen Grundlagen entzogen werden. Im Rahmen dieser Entwicklung sollten die oppositionellen Gruppen eine entscheidende Funktion erfüllen, denn sie bildeten demokratische Gesellschaften en miniature, in denen die essentiellen Voraussetzungen für eine Demokratisierung gegeben waren. Sie boten Freiräume, in denen solidarisches Verhalten und freier Meinungsaustausch möglich waren, sie ermöglichten individuelle Akte der Selbstbefreiung aus den undemokratischen Praktiken, und sie waren gleichzeitig Übungsfelder zur Erprobung der neugewonnenen Demokratiefähigkeit. Auf dieser exemplarischen Vorwegnahme einer demokratischen Gesellschaft beruhte die Bedeutung, die den Gruppen in ihrem Selbstverständnis als »Keimzellen für eine pluralistische Gesellschaft«126 beigemessen wurde. Sie sollten die demokratische Selbstentfaltung der Gesellschaft nicht lenken oder steuern, sondern als Impuls und Forum des Demokratisierungsprozesses dienen. Anders als durch dezentrale und basisdemokratische Organisationsformen war dieser Demokratisierungsprozeß nicht zu gewährleisten. Feste Organisationsstrukturen oder vorgefertigte Programme wären kontraproduktiv gewesen, denn die Gruppen und Netzwerke sollten nicht politische Schlagkraft entfalten, sondern Kommunikationsräume schaffen. Daß von dieser antipolitischen Struktur durchaus große politische Wirkungen ausgehen konnten, zeigte der spätere Erfolg des Neuen Forums, das den Anspruch, ein Basisbaustein der zivilgesellschaftlichen Demokratisierung zu sein, prägnant formulierte: »Wir bilden [...] gemeinsam eine politische Plattform für die ganze DDR, die es Menschen aus allen Berufen, Lebenskreisen, Parteien und Gruppen möglich macht, sich an der Diskussion und Bearbeitung lebenswichtiger Gesellschaftsprobleme in diesem Land zu beteiligen.«127 Die - nicht zuletzt für die Initiatoren selbst - überraschende Mobilisierungswirkung, die der Aufruf des Neuen Forums im September 1989 erzielen sollte, verweist bereits auf die Tatsache, daß die zivilgesellschaftlichen Denk- und Verhaltensmuster in die Konstituierung der Bürgerbewegung eingingen. Entwikkelt im oppositionellen Milieu der achtziger Jahre, entfalteten die Begriffe von Öffentlichkeit und Dialog, die basisdemokratischen Partzipationsformen und die gewaltfreien Aktionen im Herbst 1989 eine Dynamik, die weit über den Kreis der oppositionellen Gruppen hinausging. In gewaltfreien Demonstratio126 Poppe, Potential, S. 70. 127 Gründungsaufruf des Neuen Forums (September 1989), in: Rein, Opposition, S. 14.

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nen, in Fürbitt- und Solidaritätsgottesdiensten, in Menschenketten und Mahnwachen wurden Hunderttausende in einen Handlungszusammenhang einbezogen, der seinen kognitiven Rahmen in den zivilgesellschaftlichen Deutungsmustern fand. Demonstrationen und Friedensgebete wurden zu Orten der Selbstbefreiung, wo im Zuge der Gespräche Öffentlichkeit hergestellt und der Aufrechte Gang gelernt wurde.128 Das Symbol des Mobilisierungsprozesses, die Metapher des Aufrechten Ganges, mußte dabei nicht erst von der Bürgerbewegung erfunden werden. Sie war innerhalb der Friedensbewegung seit längerem gebräuchlich und spiegelte nichts anderes wider als die zivilgesellschaftliche Überzeugung, daß die lebensweltliche und die politische Ebene im Zuge des gesellschaftlichen Emanzipationsprozesses eine wechselseitige Einheit bilden müßten. Diese Überzeugung wurde im Herbst von der Bürgerbewegung aufgenommen und in die Praxis umgesetzt. Nicht äußere Umstände prägten daher die hochemotionalisierte Atmosphäre der Demonstrationen, sondern die Tatsache, »daß in ihnen die zivile Macht (es entsteht ein öffentlicher Raum) und die körperliche Dimension (Menschen sind beieinander) Hand in Hand gehen: Gesellschaft und Gemeinschaft scheinen für einen Augenblick fast zusammenzufallen.«129 Um abschließend auf die eingangs formulierte These zurückzukommen, die charakteristische Prägung der Bürgerbewegung von 1989 sei weder zwangsläufig noch zufällig zustandegekommen und weder durch die Rahmenbedingungen determiniert, noch durch die oppositionellen Gruppen gezielt herbeigeführt worden, eröffnet sich vor dem Hintergrund der vorstehenden Ausführungen ein neuer Zugang: Es waren, so die These, zivilgesellschaftliche Kategorien, welche die Krise der DDR-Gesellschaft auf den Generalnenner der fehlenden Öffentlichkeit brachten; es waren zivilgesellschaftliche Aktionsstrategien, die die Gewaltfreiheit und die kommunikative Ausrichtung der Aktionen des Herbstes 1989 prägten; es war die zivilgesellschaftliche Transformationsstrategie, die den gesellschaftlichen Dialog und die Herstellung von Öffentlichkeit zu den zentralen Themen des Herbstes machten. Mit einem Wort: Es war die Metapher des Lebens in Wahrheit, die sich in das Schlagwort des Aufrechten Ganges übersetzte. Offen bleibt aber die Frage, wie die Ideen einer zivilen Gesellschaft in die Massenmobilisierung eingehen konnten. Denn die bloße Existenz alternativer Deutungsmuster bedingte noch nicht ihre erfolgreiche Diffusion. Diese war, wie im folgenden Kapitel gezeigt werden soll, erst in dem Moment einer tiefgreifenden Krise der DDR möglich. Diese Situation war im September 1989 128 Stellvertretend für viele andere Günther Müller, 56jähriger Renter aus Leipzig: »Als ich am 25.9. [1989, d Vf.] mit Bekannten und den Demonstranten das amerikanische Bürgerechtslied sang, standen mir die Tränen in den Augen, ich fühlte mich nicht alleingelassen, wir lernten den aufrechten Gang«, in: Neues Forum Leipzig, S. 31. 129 T. Schmid, S. 23.

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gekommen: Langfristige Strukturkrisen der DDR, ein akutes Krisenbewußtsein infolge der Ausreisewelle und das Engagement der oppositionellen Gruppen erzeugten eine kontingente Situation, in der die oppositionellen Gruppen durch verschiedene Faktoren, die zum großen Teil von ihnen selbst nicht beeinflußt werden konnten, in die Lage versetzt wurden, ihre Deutungsansätze zu propagieren.

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II. Ursachen und Faktoren der Mobilisierung

Am Abend der Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 konstatierten die staatlichen Stellen der DDR 98,85% Ja-Stimmen für die Kandidaten der Nationalen Front. Die Wahlbeteiligung lag den offiziellen Angaben zufolge bei 98,78%. Soweit glich diese letzte Wahl im Einparteiensystem der DDR dem gewohnten Bild. Außergewöhnlich war aber, daß zum ersten Mal in der Geschichte der DDR eine unabhängige Kontrolle stattgefunden hatte. Vertreter oppositioneller Gruppen hatten die gesetzlich vorgesehene Möglichkeit genutzt, bei der Stimmenauszählung anwesend zu sein, um Wahl und Auszählung zu beobachten. Die inoffiziellen Hochrechnungen, welche die Gruppen auf der Grundlage ihrer Beobachtungen anstellten, ergaben teilweise erhebliche Abweichungen von den offiziell verkündeten Ergebnissen.1 In den folgenden Tagen und Wochen versuchten die Vertreter der Opposition durch Eingaben und Einsprüche, die Behörden zu einer Stellungnahme zu zwingen. Parallel dazu zielten Demonstrationen und Appelle darauf, die Öffentlichkeit zu mobilisieren. Im Grunde waren damit relativ günstige Ausgangsbedingungen gegeben, um den Protest über die Grenzen des oppositionellen Milieus hinaus auszuweiten. Erstens war der Wahlbetrug ein Thema, das jeden Bürger unmittelbar betraf und vielen als kritikwürdig erschien. Zweitens stellten die oppositionellen Gruppen nicht nur einen gewissen organisatorischen Rahmen für den Protest bereit, sondern boten auch schlüssige und griffige Argumentationsmuster für die Kritik an den Wahlen an.2 Darüber hinaus widmeten die westdeutschen Medien dem bislang nur vermuteten, jetzt aber erstmals nachgewiesenen Wahlbetrug in der DDR eine große Aufmerksamkeit in ihrer Berichterstattung, die den Gegensatz zwischen den selbstherrlichen Erklärungen der SED-Führung und der Bevölkerung weiter verstärkte. Und dennoch passierte - nichts. Während nur wenige Monate später Zehntausende auf die Straßen gingen, gelang es im Mai nicht, Menschen außerhalb des oppositionellen Milieus zu 1 Vgl. zur Wahlbeobachtung und den nachfolgenden Protestaktionen Rüddenklau (Dok. 1221/1989, S. 328ff.); Neubert, Geschichte, S. 810ff. und Fricke. 2 So erklärte etwa der Arbeitskreis Solidarische Kirche, daß die Wahlen in der DDR dazu mißbraucht würden, »ein Einverständnis innerhalb der Bevölkerung mit der Politik der DDRRegierung vorzutäuschen, das immer weniger gegeben ist. Die Offenlegung tatsächlich vorhandener Meinungs- und Mehrheitsverhältnisse bedeutet eine notwendige Voraussetzung für den breiten innergesellschaftlichen Dialog, den wir anstreben.« Erklärung des Arbeitskreises Solidarische Kirche, Regionalgruppe Thüringen, in: Grenzfall 1-5/1989, S. 20-21 (MDA, Schuber Grenzfall).

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erreichen und dem Protest eine breitere Basis zu verschaffen. Der Unmut über den Wahlbetrug schlug sich weder in den Teilnehmerzahlen an den Demonstrationen gegen die Wahlfälschung nieder noch in den Leserbriefen an die Tageszeitungen, die für die weitere Entwicklung ein guter Indikator des Stimmungsbildes sind.3 Warum? Bis in den Sommer 1989 herrschten in der DDR Bedingungen, die sich als hochgradig bewegungsfeindlich beschreiben lassen. Das gilt zunächst für den staatlichen Repressionsapparat, dessen Bedrohungspotential einer Mobilisierung nachhaltige Schranken setzte. Dabei waren es nicht nur die konkreten Maßnahmen von MfS und Volkspolizei, die durch ihr Eingreifen einzelne Aktionen verhinderten. Wie Rolf Henrich im Frühjahr 1989 in seinem Buch über den vormundschaftlichen Staat feststellte, war die »alltägliche Funktion« des staatlichen Gewaltpotentials »keinesfalls die Vollstreckung polizeilicher Gewalt.« Der primäre Zweck des Sicherheitsapparates bestand vielmehr in der »Verbreitung einer diffusen Atmosphäre der Ohnmacht und Angst bei den Menschen.«4 Die Androhung von staatlichen Übergriffen verband die Teilnahme an Aktionen mit einem eminent hohen persönlichen Risiko, das von Diskriminierungen in Ausbildung und Beruf über Gefängnisstrafen bis hin zur Ausweisung reichen konnte. Dem möglichen Nutzen einer Teilnahme standen daher zumindest potentiell sehr hohe Kosten gegenüber. Damit wurde einzelnen Protesthandlungen systematisch die Basis einer weiterreichenden Mobilisierung entzogen. Legt man die Kriterien des amerikanischen Bewegungsforschers Sidney Tarrow an die DDR an, werden weitere hemmende Faktoren einer Mobilisierung deutlich. Tarrow zufolge gibt es verschiedene Eigenheiten politischer Systeme, die der Entstehung sozialer Bewegungen förderlich sind, weil sie in der Wahrnehmung der Beteiligten die Erfolgschancen einer Bewegung erhöhen und so die Teilnahme an einer Bewegung als aussichtsreicher und erfolgversprechender erscheinen lassen.5 Zu den begünstigenden Faktoren zählt er einen offenen Zugang zum politischen System, die Instabilität langfristiger politischer Bindungen, das Vorhandensein einflußreicher Verbündeter und schließlich Spannungen und Spaltungen innerhalb der herrschenden Eliten. Keiner dieser Faktoren war in der DDR gegeben; die wahrnehmbaren Erfolgsaussichten einer 3 Laut der Aussage der damals bei der Berliner Zeitung für die Leserpost zuständigen stellvertretenden Ressortleiterin Frau Ruth Eberhardt, schlug sich die Thematik der Kommunalwahlen kaum in der Leserpost nieder. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen auch Wielgohs/Schulz, Reformbewegung, S. 18, Anm. 12. 4 Henrich, S. 191f 5 Vgl Tarrow, Gelegenheitsstrukturen. Tarrow bezieht sich in seiner Untersuchung primär auf demokratische Systeme; seine Kategorien sind aber für die Erklärung des Ausbleibens sozialer Bewegungen in den osteuropäischen Staaten durchaus nützlich und übertragbar. Zur Anwendung des Ansatzes auf die Untersuchung der Mobilisierungsdynamik in den osteuropäischen Staaten siehe Tarrow, Aiming und Brand, Aufbruch.

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sozialen Bewegung in der DDR waren daher bis in den Sommer 1989 gleich null.6 Zunichte gemacht wurden die Aussichten einer erfolgreichen Mobilisierung jedoch nicht nur durch die Barrieren, die potentielle Teilnehmer zu überwinden hatten. Ebenso nachhaltig wirkten sich die Beschränkungen aus, denen die Trägergruppen einer Mobilisierung unterworfen waren. Gezielte Mobilisierungskampagnen, etwa durch Flugblätter, öffentliche Veranstaltungen, Postwurfsendungen, Presseerklärungen oder Unterschriftensammlungen standen aufgrund der fehlenden Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit nicht zur Wahl. Daneben waren etwa Telephonketten, die auch zur Verständigung der Aktivisten untereinander wichtig gewesen wären, schon wegen der sporadischen Verteilung von Telephonen in der DDR ebenso unwirksam wie öffentliche Aktionen, deren Wirksamkeit aufgrund der Pressezensur zumeist auf die unmittelbaren Augenzeugen beschränkt blieb. Der Mobilisierung von Protest waren daher mehr als enge Grenzen gesetzt. Bewegungsfeindlich waren indes nicht nur die politischen Rahmenbedingungen in der DDR. Einer Mobilisierung standen auch gesellschaftliche und sozialpsychologische Strukturen im Wege. Sigrid Meuschel hat zu Recht darauf hingewiesen, daß in der DDR Gegeneliten fehlten, die in der Lage gewesen wären, gesellschaftliche Probleme zu artikulieren und alternative Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen.7 Die Bezeichnung als »Rufer in der Wüste«,8 die Günter Schabowski für die oppositionellen Gruppen der DDR-Friedensbewegung prägte, traf ihre gesellschaftliche Stellung durchaus: In den Augen der Bevölkerung stellten sie kaum eine Gegenelite dar, von der man sich und seine Interessen oder Probleme vertreten sah. Gleichzeitig konnten die etablierten Intellektuellen in der DDR aufgrund ihrer Privilegien und ihrer Nähe zum System kaum als Gegenelite angesehen werden.9 Damit fehlte in der Gesellschaft der DDR eine kritische Instanz, welche die Aufgabe hätte wahrnehmen können, die subjektiv und individuell empfundene Unzufriedenheit breiter Bevölkerungskreise zu bündeln, zu deuten und in kollektives Protesthandeln zu überführen. Eine Mobilisierung kollektiven Protests mußte darüber hinaus an der Art und Weise scheitern, mit der weite Teile der Bevölkerung der DDR auf die Politisierung vieler alltäglicher Lebensbereiche reagiert hatten. Während soziale Bewegungen gerade auf der Bereitschaft zur Konfrontation mit dem politi6 Allein das dritte Kriterium ließe sich als zumindest teilweise erfüllt ansehen, wenn man die Kirche als Verbündete versteht. 7 Vgl. Meuschel, S. 309f. 8 Schabowski, Absturz, S. 153. 9 Nicht zu Unrecht stelltJoppke, Dissidents, S. 101 fest, daß sich Christa Wolf, Ernst Bloch und ein bekannter Parteireformer hätten zusammenfinden müssen, um ein Bündnis zu formen, das dem der Erstunterzeichner der Charta 77 (Vaclav Havel, Jiri Hajek, Jan Patocka) an Prestige und Status entsprochen hätte.

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schen Gegenspieler aufbauen, lag der Nischengesellschaft der DDR das genaue Gegenteil zugrunde: Das gezielte Ausweichen in unpolitische Bereiche des alltäglichen Lebens zielte auf die Vermeidung von Konfrontation und auf eine Individualisierung, die von der divide et impera-Strategie der SED nachhaltig verstärkt wurde. Der Charakter der DDR als eine Nischengesellschaft impliziert daher zusätzliche Hürden für ein öffentliches Protesthandeln. Die Entstehung kollektiver Proteste hätte vorausgesetzt, die verbreitete Abneigung gegen ein wie auch immer geartetes politisches Engagement zu überwinden. Zumal da der Schritt vom privaten zum öffentlichen Widerspruch mit nachhaltigen staatlichen Sanktionen bedroht war, gelang es bis 1989 nicht, diese Anpassungsstrategien zu durchbrechen. Auch bei noch so kritik- und protestwürdigen Anlässen wie der Kommunalwahl im Mai 1989 waren daher alle Bemühungen, Bewegung in das starre System der DDR zu bringen, systematisch zum Scheitern verurteilt. Nach vierzig Jahren hatten sich in der DDR Strukturen herausgebildet, die der Entstehung sozialer Bewegungen die politischen, sozialen, individuellen und sozialpsychologischen Voraussetzungen weithin entzogen. Trotzdem fehlte es in der DDR nicht an konfliktträchtigen Problemen und Krisen. Politische Bevormundung, realitätsferne Berichterstattung der DDRMedien, Versorgungsengpässe und die Widersprüchlichkeiten des planwirtschaftlichen Wirtschaftssystems erzeugten im Laufe der achtziger Jahre in vielen gesellschaftlichen Bereichen eine zunehmende Unzufriedenheit. Die grundsätzliche Frage dieses Kapitels zu den Ursachen und Faktoren der Mobilisierung richtet sich daher darauf zu erklären, wie es gelang, das über die achtziger Jahre nachweisbar wachsende Potential gesellschaftlicher Unzufriedenheit in eine Protestbewegung umzusetzen. Vor dem Hintergrund der bewegungsfeindlichen Umwelt läßt sich diese Fragestellung weiter zuspitzen: Inwiefern veränderten sich im Sommer 1989 die Bedingungen in der DDR so, daß es innerhalb der ehemals bewegungsfeindlichen Umwelt zu einer beispiellosen Massenmobilisierung kommen konnte? Die Arbeitshypothese lautet, daß es im Sommer 1989 zu einem Transformationsprozeß kam, der zuvor latente in nunmehr manifeste gesellschaftliche Krisen umschlagen ließ. Ermöglicht und ausgelöst wurde dieser Prozeß durch die Ausreisewelle über Ungarn. Sie brachte die vielfältigen Unzufriedenheiten in der DDR auf einen gemeinsamen Nenner, der die einzelnen Krisen transzendierte. Die Unzufriedenheit über Versorgungsmängel, politische Bevormundung, Probleme in den Betrieben und mangelnde Reisefreiheit kulminierte im Sommer 1989 in der ›Angst um unser Land‹, dessen Zukunft in den Augen weiter Bevölkerungsteile durch die bornierte Reformunwilligkeit der SEDFührung aufs Spiel gesetzt wurde. Analytisch lassen sich die Wirkungen der Ausreisewelle mit dem Modell des kritischen Ereignisses fassen, das der französische Soziologe Pierre Bourdieu entwickelt hat. Als eine Abfolge kritischer 82 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35925-0

Ereignisse bündelte die Fluchtwelle zuvor latente Krisen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen und führte einen Zustand »elementarer Gemeinsamkeit kollektiver Gefühlslagen«10 herbei, auf dem die Massenmobilisierung der Bürgerbewegung aufbauen konnte. Bourdieus soziologische Überlegungen zielen darauf ab, die in den Sozialwissenschaften verbreitete Denkfigur eines Gegensatzes zwischen Strukturen und Ereignissen zu überwinden. Dieses Gegensatzpaar verstellt seiner Meinung nach den Zugang zu der Erklärung, wie und warum Neues in einer strukturell verankerten Gesellschaft entstehen kann. Der Polarität Struktur-Ereignis stellt Bourdieu das Modell einer allgemeinen Krise entgegen, in der die strukturellen Bedingungen gesellschaftlicher Prozesse außer Kraft gesetzt sind. In bestimmten historischen Situationen sieht er einen Moment der Offenheit gegeben; einen »kritischen Moment«, in dem »alles möglich wird (oder doch erscheint), in dem die Zukunft wirklich kontingent, das Kommende wirklich unbestimmt, der Augenblick wirklich als solcher erscheint - in der Schwebe, abgehoben, ohne vorhergesehene noch vorhersehbare Folge.«11 Entgegen monokausalen Ansätzen, die eine bestimmte gesellschaftliche, wirtschaftliche oder politische Krise für das Entstehen solch revolutionärer Situationen verantwortlich machen, sieht Bourdieu das besondere allgemeiner Krisen darin, daß in ihnen eine Vielzahl von Krisen in Interaktion treten, die sich parallel und unabhängig voneinander in verschiedenen gesellschaftlichen Zusammenhängen entwickelt haben. Die Krise, das ist die »Konjunktion unabhängiger Kausalreihen«,12 die in einem bestimmten, kritischen Moment ineinandergreifen, sich gegenseitig verstärken und latente Konflikte unabhängiger gesellschaftlicher Bereiche miteinander in Beziehung setzen. Nicht das Entstehen einer Krise steht daher im Mittelpunkt des Modells, sondern das Zusammenspiel verschiedener Krisen; die Aufhebung von Autonomie, Zeit, Logik und Spezifik verschiedener gesellschaftlicher Bereiche, deren Probleme auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden. Der Prozeß der Synchronisierung wird maßgeblich durch Ereignisse, Bourdieu bezeichnet sie als kritische Ereignisse, befördert. Diese müssen nicht gezielt herbeigeführt werden, schon gar nicht von den späteren Protagonisten des Protests. Das Ereignis selbst kann durchaus zufällig sein, seine Wirkung indes nicht. Denn der synchronisierende Effekt, den das kritische Ereignis aus10 Bourdieu, Moment, S. 278. 11 Ebd., S. 287. Der bei Bourdieu zentrale Begriff des Feldes umschreibt »autonome Sphären, in denen nach jeweils besonderen Regeln ,gespielt‹ wird« (Bourdieu, Rede, S. 187). Auch wenn dieser Ansatz grundsätzlich auf die DDR übertragbar ist, ist eine Feldstudie zur DDR bislang noch nicht unternommen worden. Um zu verdeutlichen, daß diese Grundlagenforschung für die DDR noch aussteht, wird der Begriff des Feldes hier und im folgenden durch den Begriff gesellschaftlicher Bereich ersetzt. 12 Ebd., Moment, S. 275.

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löst, ist daran gebunden, daß sich die Akteure aus verschiedenen gesellschaftlichen Zusammenhängen in strukturell vergleichbaren Positionen befinden.13 Dieses Modell läßt sich auf die Vorgänge des Sommers 1989 in der DDR übertragen. Die greifbare ›Angst um unser Land‹ wurde durch ein äußeres Ereignis ausgelöst, durch die Ausreisewelle über Ungarn. Der Funke der Synchronisierung kam von außen, seine Wirkung aber beruhte auf den inneren Bedingungen der DDR. Denn ihre gesamtgesellschaftliche Wirkung konnte die Ausreisewelle nur erreichen, weil sich die gesamte Bevölkerung in derselben Situation befand: Sie war das Objekt der als verantwortungslos und wirklichkeitsfremd empfundenen Herrschaft der SED. Während sich der überwiegende Teil der Bevölkerung bislang mit den alltäglichen Problemen im wesentlichen arrangiert hatte, erzeugte die Ausreisewelle die von Bourdieu beschriebene kritische Wirkung: Durch sie wurden »die häufiger stillschweigenden als ausdrücklichen Formen des Augen-Verschließens, Sich-Anpassens und Sich-Abfindens [...], die das Leben erträglich machen, hintertrieben oder unterbunden«.14 Die Mobilisierungsbarrieren der Nischengesellschaft zerbrachen daher in dem Moment, als das Gefühl, der SED-Führung ausgeliefert zu sein, im Sommer 1989 bis an die Grenze des Erträglichen gesteigert wurde. Die Anpassung hatte ein Ende, als die Protestbewegung unter dem Slogan »Wir sind das Volk» die Initiative ergriff und dabei auf das größtmögliche gesellschaftliche Mobilisierungspotential zurückgreifen konnte: auf die Beherrschten in der DDR. Auf der Grundlage dieser Überlegungen stehen fortab nicht die Ursachen des Zusammenbruches der DDR, sondern die Faktoren der Massenmobilisierung im Mittelpunkt des Interesses. Diese Komplexe sind zwar in vielen Aspekten miteinander verwoben, aber nicht miteinander identisch. Das Ziel dieses Kapitels ist es, die Voraussetzungen der Massenmobilisierung in der bewegungsfeindlichen Umwelt DDR unter Zuhilfenahme des Modells des kritischen Ereignisses zu analysieren. In einem ersten Abschnitt stehen daher zunächst die strukturellen Bedingungen der Unzufriedenheit in der DDR im Vordergrund, bevor in einem zweiten Schritt die Zuspitzung der Krise bis Anfang Oktober 1989 untersucht wird. Das Relais zwischen beiden Teilen bildet die Ausreisewelle, die in einem eigenen Unterkapitel dargestellt wird.

13 Eine Synchronisation tritt nach Bourdieu nur ein, »wenn ein Verhältnis der objektiven wechselseitigen Abstimmung besteht zwischen den von der Krise betroffenen Akteuren eines Feldes, das einen kritischen Zustand erreicht, und anderen Akteuren mit ähnlichen, weil von ähnlichen sozialen Lebensbedingungen hervorgebrachten Dispositionen«, ebd., S. 276. 14 Ebd., S. 285.

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1. Strukturkrisen im Zeichen der »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« Orientiert an der Frage ›Wie konnte es dazu kommen?‹ hat die DDR-Forschung seit 1989 eine Vielzahl von Thesen über die Krisen und Probleme hervorgebracht, die zum plötzlichen Zusammenbruch der vordergründig so stabilen DDR geführt haben: die marode Wirtschaftslage, die oftmals deprimierenden Arbeitsumstände, die undemokratischen Züge des politischen Systems, die realitätsfremden Rituale des öffentlichen Lebens, die mangelnde Systemidentifikation, das Versagen der politischen Sozialisation, der Mentalitäts- und Wertewandel, die fehlende Reisefreiheit, die katastrophale Umweltsituation, die Führungsschwäche der SED-Spitze, die Nähe Westdeutschlands, die gesellschaftlichen Desintegrationsprozesse - die Reihe konfliktträchtiger gesellschaftlicher Spannungsherde ließe sich fast beliebig fortsetzen.15 Die verschiedenen Krisen haben unterschiedliche Hintergründe und Ursachen. Zum Teil waren sie chronisch in den Strukturprinzipien des Herrschaftsund Gesellschaftssystems des Staatssozialismus verankert, zum Teil waren es akute Probleme der DDR der achtziger Jahre. Eines jedoch hatten alle genannten Probleme gemein. Sie wurden zugespitzt durch die seit 1971 propagierte Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik. Wichtiger noch im Rahmen der Fragestellung ist die Tatsache, daß der gesamtgesellschaftliche Anspruch des neuen Kurses die Grundlage für die strukturelle Ähnlichkeit vieler unabhängiger Krisen in der DDR legte. Die Gesellschaftspolitik der SED entwickelte eine Dynamik, die viele einzelne Problemfelder miteinander verband und in einen systematischen Zusammenhang brachte, der sich in dem Maße gegen die SED kehrte, wie ihre Politik an ihre Grenzen stieß. Die folgenden Überlegungen konzentrieren sich daher nicht auf die Aufzählung verschiedener Krisen und Ursachen des Zusammenbruchs der DDR. Im Mittelpunkt steht vielmehr die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik, die in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen denjenigen Grundkonflikt etablierte, der 1989 durch die Ausreisewelle aktualisiert wurde: den Konflikt Herrscher gegen Beherrschte.16

15 Einen guten Überblick über die Forschungslage bieten die im Sammelband vonJoas/Kohli zusammengefaßten Aufsätze, die Arbeit von Kumpf und Maier, S. 37ff. 16 Vgl. zum folgenden vor allem Meusckel, S. 211-241; Wielgohs/Schulz, Krise, S. 1952-1963 und Staritz,S. 276-281.

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1.1. Anspruch und Wirklichkeit der »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« Der VIII. Parteitag der SED 1971 stand im Zeichen eines außergewöhnlichen Ereignisses. Nur wenige Wochen zuvor hatte erstmals in der Geschichte der DDR ein Führungswechsel an der Spitze der Partei stattgefunden; Erich Honecker hatte den seit 1950 amtierenden Walter Ulbricht abgelöst. Der Wechsel an der Parteispitze setzte Ulbrichts gesellschaftspolitischem Versuch ein Ende, die DDR zu einem Sonder-, besser: Musterfall unter den sozialistischen Staaten zu machen. Ulbrichts Formel der sozialistischen Menschengemeinschaft wurde durch den neuen Parteichef Honecker revidiert. Im Einklang mit der UdSSR und den anderen osteuropäischen Staaten wurde die DDR nunmehr als eine entwickelte sozialistische Gesellschaft beschrieben, die es weiter zu vervollkommnen galt.17 Als Maßstab dieser Vervollkommnung trat die kommunistische Vision zugunsten der realen Bedingungen der gesellschaftlichen Verhältnisse in den Hintergrund. Als Bezugspunkt der gesellschaftlichen Entwicklung sah man nicht mehr eine utopische Perspektive, »nicht irgendein Idealbild des Sozialismus«, sondern den »real existierenden Sozialismus«.18 Nicht der zukünftige Soll-Stand, sondern der gegenwärtige Ist-Stand der Gesellschaft wurde damit zur zentralen Bezugsgröße der Gesellschaftspolitik erhoben. Inhaltlich wurde der reale Sozialismus auf die realen gesellschaftlichen Bedingungen bezogen, namentlich auf die erfolgreiche Befriedigung der materiellen Bedürfnisse der Bevölkerung. Dementsprechend formulierte Honecker 1971 als neue »Hauptaufgabe« der SED die »Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus des Volkes auf der Grundlage eines hohen Entwicklungstempos der sozialistischen Produktion, der Erhöhung der Effektivität, des wissenschaftlich-technischen Fortschrittes und des Wachstums der Arbeitsproduktivität.«19 Wohnungsbau, sozialpolitische Maßnahmen, Umweltschutz, vor allem aber die Versorgung der Bevölkerung mit Waren des täglichen Bedarfs, mit Konsumgütern, Ersatzteilen und Dienstleitungen wurden damit zu den neuen Leitwerten der Politik. Seit 1971 wurde unter dem Schlagwort der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik die gesamte Planung auf eine Gesellschaftspolitik ausgerichtet, die 17 »Entwickelte sozialistische Gesellschaft - das heißt [...] die Annäherung aller Klassen und Schichten auf der Grundlage der marxistisch-leninistischen Weltanschauung der Arbeiterklasse, der sozialistischen Produktionsverhältnisse, der ständigen Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen [...] planmäßig zu vollziehen.« Programm der SED 1976, in: DA 9,1976, S. 744-779, ZitatS. 751. 18 Kurt Hager auf der 9. Tagung des ZK der SED 1973, in: DA 6, 1973, S. 774-778, Zitat S. 776. 19 Erich Honecker: Bericht des ZK an den VIII Parteitag der SED, in: DA 4,1971, S. 854-869, Zitat S. 856.

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der neuen Hauptaufgabe Rechnung tragen sollte. Der Wirkungsmechanismus der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik war frappierend einfach: Von der Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen erhoffte man sich einen Produktivitätsschub und damit ein wirtschaftliches Wachstum, das wiederum die sozialpolitischen Maßnahmen finanziell und materiell gewährleisten sollte. Dieser Mechanismus beschrieb ein sich selbst tragendes, dynamisches Modell, das nach Ulbrichts Versuchen, einzelne Marktmechanismen zu integrieren, erneut der Primat der Politik etablierte. Mit der Erklärung, »für unsere Gesellschaft ist die Wirtschaft Mittel zum Zweck«,20 sanktionierte Honecker 1971 die Tatsache, daß die Wirtschaft in der DDR künftig eine dienende Funktion gegenüber den sozialpolitischen und ideologischen Zielvorgaben einnehmen würde. Damit wurden in der Folgezeit wirtschaftliche Überlegungen in der Planung und Steuerung durch politisch-ideologische Rationalitätskriterien verdrängt. Die neue Parole hieß laut Schabowski, daß »nicht die Zahlungsbilanz, sondern die Beschlüsse des VIII. Parteitages, die Einheit von Wirtschaftsund Sozialpolitik, Richtschnur für das sozialistische Wirtschaften seien.«21 Mit großem finanziellen und materiellen Aufwand wurden in den siebziger Jahren die Vorgaben des VIII. Parteitages umgesetzt und die neuen Planziele forciert. Das schlug sich vor allem in einer spürbaren Verbesserung der Konsumgüterversorgung nieder. Autos, Fernsehgeräte, Kühlschränke und Waschmaschinen wurden im großen Maßstab produziert und zu erschwinglichen Preisen bereitgestellt.22 Flankiert wurde das verbesserte Warenangebot durch ein über die Jahre kontinuierlich steigendes Monatseinkommen.23 Einen wichtigen Faktor für die Verbesserung der wirtschaftlichen Situation der Bevölkerung stellte darüber hinaus auch die Entscheidung dar, die steigenden Produktionskosten nicht über Preiserhöhungen an die Verbraucher weiterzugeben, sondern durch Subventionen abzufangen. Die Tatsache, daß Mieten, Fahrpreise, Waren des Grundbedarfes und Industriegüter durch Subventionen gestützt wurden und darum auf einem sehr niedrigen Preisniveau gehalten werden konnten, bedeutete eine spürbare Verbesserung für alle Bevölkerungsteile. Auch von dem Wohnungsbauprogramm profitierten weite Kreise der Bevölkerung. Allein zwischen 1971 und 1975 war die Schaffung bzw. Modernisierung von 500.000 Wohnungen vorgesehen; den offiziellen Angaben zufolge soll dieses Planziel sogar noch um mehr als zwanzig Prozent übererfüllt worden sein. Parallel zu diesen Maßnahmen in den Bereichen Konsum und Lebensstandard 20 Erich Honecker: Bericht des ZK an den VIII Parteitag der SED, in: ebd. S. 856. 21 Schabowski, Absturz, S. 123. 22 Die Versorgungsquoten mit langfristigen Konsumgütern schnellten über die 70er Jahre in die Höhe. Dies gilt für PKWs (1970: 15 pro 100 Haushalte; 1975: 26 1980: 38), für Fernsehgeräte (1970: 69, 1975: 82), Kühlschränke (1970: 56, 1975: 86) und Waschmaschinen (1970: 53, 1975: 73, 1980: 84), vgl. H. Weber, S. 83f. 23 Das durchschnittliche Monatseinkommen erhöhte sich von 755 Μ (1970) auf 860 Μ (1974) und 1021 Μ (1980), vgl. Staritz, S. 287.

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verbesserten sich in den siebziger Jahren auch die Bedingungen des Arbeitslebens. Systematisch wurden die existierenden Unterschiede im Lohnsystem nach oben angeglichen, die Mindestlöhne erhöht, Arbeitszeitverkürzungen eingeführt und der Schwangerschafts- und Mindesturlaub verlängert.24 Den positiven Ergebnissen in der Umsetzung der sozialpolitischen Maßnahmen entsprach ein weiterer Erfolg. Soweit es heute noch rekonstruierbar ist, stieg die Akzeptanz der SED durch die Bevölkerung in den siebziger Jahren nachhaltig.25 Diese Steigerung von Loyalität und Zufriedenheit war weder ein Zufall noch ein unbeabsichtigter Nebeneffekt der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik - es war ihr eigentlicher Kernpunkt. Denn nachdem die SED die kommunistische Vision als Nahziel der gesellschaftlichen Entwicklung aufgegeben hatte, sah sie sich gezwungen, eine »Sinnstiftung diesseits der Utopie«26 zu erreichen. Eben diese Funktion hatten die sozialpolitischen Maßnahmen der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik, welche die sozialistischen Visionen soziale Sicherheit und soziale Gleichheit in der Gegenwartsgesellschaft einlösen sollten. Die SED bot »den von ihr Beherrschten einen neuen Gesellschaftsvertrag« an, dessen Inhalt Sigrid Meuschel folgendermaßen beschrieben hat: »De facto traten die Individuen weiterhin und stillschweigend ihre politischen Rechte an Staat und Partei ab; diese versprachen Vollbeschäftigung, steigenden Lebensstandard, soziale Sicherheit und gemeinschaftliche Gleichheit.«27 Die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik sollte in dieser Austauschbeziehung von Anpassung und Versorgung die Angebotsseite von Staat und Partei sicherstellen. Die Umsetzung der sozialpolitischen Maßnahmen wurde damit zu einem zentralen Element der Herrschaftssicherung. Dieses Konzept scheint in den siebziger Jahren weitgehend aufgegangen zu sein. Die steigende Akzeptanz der DDR läßt darauf schließen, daß die Bevölkerung die Anstrengungen der Führung honorierte. Schon früh wurden aber Zweifel an der wirtschaftlichen Machbarkeit der ehrgeizigen sozialpolitischen Ziele laut. Bereits 1972 hatte Gerhard Schürer, von 1965 bis 1989 Vorsitzender der Staatlichen Plankommission, warnend darauf hingewiesen, daß die ehrgeizigen Pläne Honeckers nur durch Kredite des Westens oder durch ein Absenken der Akkumulationsrate finanziert werden könnten.28 Schürers Prognose sollte sich bewahrheiten. Das Programm der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik hatte die Wirtschaftskraft der DDR 24 Zu den Erfolgen und Ergebnissen der sozialpolitischen Maßnahmen siehe Michalsky und Staritz, S. 282ff. 25 Zu diesem Ergebnis kommt Niemann, S. 31, 48f. auf der Grundlage zeitgenössischer Meinungsumfragen. 26 Meuschel, S. 231. 27 Ebd., S. 234f. 28 Vgl. Schabowski, Absturz, S. 121 f. Die Akkumulationsrate bezeichnet den für Nettoinvestitionen verwandten Teil des Nationaleinkommens.

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bei weitem überschätzt. Aus dem Hauptwiderspruch der Verschränkung wirtschaftlicher Prozesse mit wirtschaftsfremden Rationalitätskriterien ergaben sich in der Folge zahlreiche Nebenwidersprüche, die das ehrgeizige Projekt systematisch zum Scheitern verurteilten. Was sich in den siebziger Jahren abzeichnete, wurde zu Beginn der achtziger Jahre manifest. Die Wirtschaft der DDR war nicht in der Lage, den Gegenwert der sozialpolitischen Maßnahmen zu erbringen. Die Verschuldung der DDR im Westen stieg in den Jahren der Ära Honecker von 2 Mrd. Valutamark 1970 über 18,6 Mrd. 1978 auf schließlich 49 Mrd. im Jahre 1989.29 Zweimal, 1982 und erneut 1989, stand die DDR am Rande des Staatsbankrottes. Allein der Schuldendienst entzog dem Binnenmarkt während der achtziger Jahre immense Mittel, die dringend für Modernisierungen benötigt wurden. Da die Aufwendungen für die Konsumption jedoch infolge der Konsumversprechen nicht angetastet werden konnten, gingen die notwendigen Einsparungen einseitig zu Lasten der Investitionsquote, die von 29% im Jahr 1970 auf 21% für den Plan 1989 sank. Der Teufelskreis zwischen der Vernachlässigung produktiver Investitionen, Innovations- und Modernisierungsrückständen, Importzwängen, Exportproblemen, Verschuldung, Schuldenspirale und neuen Einsparungen bei den Investitionen war damit vorgezeichnet.30 In der Logik der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik geriet die SED daher unter einen immensen Zug- und Erfolgszwang. Die Verknüpfung der wirtschaftlichen Leistungen mit den politisch-ideologischen Zielsetzungen zwang sie dazu, Unzufriedenheit durch eine Steigerung der sozialpolitischen Anstrengungen aufzufangen und das ruinöse Subventionsprogramm fortzusetzen. Dadurch aber waren erneute Investitionskürzungen und Sparmaßnahmen ohne Rücksicht auf die Arbeits- und Umweltsituation vorprogrammiert. Der drohende Loyalitätsverlust zwang die SED immer wieder zu Eingriffen in die Planung und Steuerung, deren kurzfristige Erfolge langfristig eine »politisch induzierte Chaotisierung der Ökonomie«31 nach sich zogen. Eine planmäßige Durchführung der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik wurde unmöglich. Sie war als ein perpetuum mobile konzipiert worden und verkehrte sich in dem Maße, wie die Probleme eskalierten, in eine unentrinnbare Problemspirale. »Wir wußten«, so beschrieb Alexander Schalck-Golodkowski später die Zwangslage der Führung, »daß nicht alles zu finanzieren war, und haben

29 Zur Schuldenspirale der DDR vgl. Hertle, Diskussion. 30 Die Auseinandersetzung um die Hintergründe der DDR-Wirtschaftskrise ist außerordentlich umfangreich. Vgl. allgemein Staritz, S. 318-329; zu den Widersprüchen im Planungssystem Kusch u.a. 1991, S. 86-140; zu den kontraproduktiven Wirkungen der Einheit von Wirtschaftsund Sozialpolitik Weinert; zu den systemimmanenten Modernisierungsblockaden Voskamp/Wittke und zu den Problemen der politischen Wirtschaftführung Ganßmann sowie Hertle, Diskussion. 31 Ganßmann, S. 174.

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trotzdem weitergemacht, aus Angst, daß es Konsequenzen haben würde - daß die Leute auf die Straße gehen würden.«32 1.2. Die Folgen des Scheiterns: Unzufriedenheit und Entfremdung Zu dieser Konsequenz kam es indes erst 1989. Bis dahin gab es, abgesehen von der steigenden Zahl der Ausreiseanträge, kaum offene Anzeichen für tiefgreifende Probleme in der DDR. Die gesellschaftlichen Krisen blieben latent und unverbunden, so daß auch Anfang 1989 noch nichts darauf hindeutete, daß sich die Unzufriedenheit nur wenige Monate später in einer Massenmobilisierung Bahn brechen sollte. Aber auch wenn sich die Protestbewegung überraschend formierte, waren ihre Ursachen längerfristig in dem Scheitern der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik angelegt. Dabei waren es weniger die wirtschaftlichen und politischen Schwierigkeiten, die durch die neue Gesellschaftspolitik erzeugt wurden. Versorgungsengpässe, politische Bevormundung und realitätsferne Berichterstattung der Medien - all diese Probleme waren nicht neu. Neu war jedoch die Struktur der Unzufriedenheit, die sich aus der unmittelbaren Verknüpfung von wirtschaftlichen Versorgungsleistungen mit dem Legitimationsanspruch der SED ergab. Denn in dem Maße, wie die DDR an ihre wirtschaftlichen und finanziellen Grenzen stieß, war die SED zunehmend weniger in der Lage, die Erwartungen ihrer Bürger zu befriedigen. Der steigenden Erwartungshaltung der Bevölkerung, die zum Teil durch den Vergleich mit der Bundesrepublik, zum Teil durch die Versprechen der SED auf eine Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen hoffte, stand eine sinkende, bestenfalls stagnierende Lebensqualität gegenüber. Defizite, Mängel und Mißstände wurden in vielen verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen spürbar. Zum zentralen Kritikpunkt an der DDR wurden die Konsummöglichkeiten, die gemessen an den Erwartungen chronisch defizitär blieben. Eine »Lawine an Versorgungskritik«,33 berichtet Niethammer, brach sich in den Interviews Bahn, die er 1987 in der DDR führte. Auch die Berichte des MfS über die Motive der Flüchtlinge kamen zu dem Ergebnis, daß die Versorgungslage »den größten Umfang im Motivationsgefüge« der Ausreisewilligen einnahm. Unmut erregten laut MfS die Versorgungs- und Qualitätsmängel im Angebot von Konsumgütern, Ersatzteilen, Baustoffen, Dienstleistungen und Waren des täglichen Bedarfes. Als besonders belastend wurden darüber hinaus die alltäglichen Einschränkungen empfunden, das »Schlange stehen, das Herumlaufen 32 »Ich habe mich korrekt abgemeldet». Interview mit Alexander Schalck-Golodkowski in: Die Zeit vom 11.1.1991, S. 9-11, Zitat S. 11. 33 Lutz Niethammer: Glasnost privat 1987, in: Niethammer u.a., S. 39f.

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und die Suche nach bestimmten Artikeln, das Beschaffen und Organisieren auch während der Arbeitszeit«.34 Obwohl sich die SED in den achtziger Jahren bemühte, diese Mängel und Probleme in den Griff zu bekommen, stimmten 1988 62% der Befragten in einer Umfrage der Akademie für Gesellschaftswissenschaften darin überein, daß sich das Warenangebot in der DDR in den letzten fünfJahren verschlechtert habe.35 Eine ähnlich deutliche Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit tat sich bei der versprochenen Verbesserung der Produktionsbedingungen auf. Obwohl dieser Bereich zu den ideologisch präferierten Politikfeldern der SED gehörte, war die SED nicht in der Lage, befriedigende Arbeitsbedingungen zu schaffen. In den Aussagen der Interviewpartner Niethammers dominierten resignierende Klagen über die Unstimmigkeiten im Arbeitsablauf, über die Mechanismen der Plandiskussionen, die man mit »der Faust in der Hosentasche«36 ertrug, über den Leerlauf, die Untätigkeit und die Stillstände im Produktionsablauf,37 über den Verschleiß der Maschinen, die belastenden Arbeitsumstände38 und die Tatsache, daß jedes Engagement an den Strukturen der Planwirtschaft zu scheitern schien. So manchem Arbeiter geriet daher die Antwort auf die Frage nach den Arbeitsbedingungen zu einer »hilflosen Klage über die Beleidigungen seines Arbeitsstolzes durch die real existierende Industrie der DDR.«39 Die Liste der Problemfelder ließe sich fortsetzen. Zu ihnen zählte der schlechte Zustand der Straßen, Dörfer und Städte, in denen die Altbausubstanz systematisch verfiel; zu ihnen zählten die Umweltbedingungen, die am Ende der achtziger Jahre vor allem in den Industriezentren im Süden unerträglich wurden,40 zu ihnen zählten viele weitere Bereiche des täglichen Lebens, dessen Einschränkungen gerade im Vergleich mit dem Westen zu Unmut führten. Aus der Sicht der SED war dies eine überaus gefährliche Entwicklung. Nachdem sie ihre Legitimationsstrategie in den siebziger Jahren erfolgreich hatte etablieren können, sah sie sich nun mit der Tatsache konfrontiert, der selbstauferlegten Leistungskontrolle durch die Gesellschaft nicht mehr standhalten zu können. Dieses Problem stellte die SED vor die Wahl zwischen zwei 34 MfS/ZAIG: »Hinweise auf wesentliche motivbildende Faktoren im Zusammenhang mit Anträgen auf ständige Ausreise nach dem nichtsozialistischen Ausland und dem ungesetzlichen Verlassen der DDR» (9.9.1989), in: Mitter/Wolle, 141-147, Zitat S. 142f 35 Gensicke,S. 1271. 36 Dörthe Grothaus, Stahlfacharbeiterin, in: Niethammer u.a., S. 130. 37 »Das wird so hingewurschtelt. Guck Dir bloß unsere Firma an hier, die steht jeden Tag, möcht ich sagen, drei, vier Stunden.« Rudolff Ohlsen, Schmelzer, in: ebd., S. 403. 38 Dem 1990 erstellten »Sozialreport DDR» zufolge war jeder vierte Werktätige und mehr als jeder dritte Produktionsarbeiter »gegenüber pathogenen Arbeitsfaktoren exponiert.« Vgl. Winkler, S. 91. 39 Kommentar Niethammers zu den Aussagen seines Interviewpartners Rudolff Ohlsen, in: Niethammer u.a., S. 404. 40 Die Umweltsituation wurde den Umfragen zufolge neben der Versorgungslage zum dominierenden Kritikpunkt an den Lebensumständen, vgl. die Umfragedaten bei Gensicke, S. 1270f.

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Optionen: Da die versprochenen Verbesserungen nicht eintraten, konnte man entweder die Theorie der Wirklichkeit anpassen oder aber die Wirklichkeit der Theorie. Die erste Variante hätte bedeutet, die Probleme einzugestehen, das Konzept zu revidieren und Reformen einzuleiten. Dies stellte für die Führung keinen gangbaren Weg dar; dahingehende Vorschläge wurden im Politbüro nie auch nur ansatzweise diskutiert.41 Damit blieb der Führung nur die zweite Reaktion auf die Probleme: die Flucht in die Fiktion. Um ihren Legitimationsanspruch aufrecht erhalten zu können, war die SED gezwungen, Erfolge zu machen, wo Erfolge ausblieben. Die Verlautbarungen der Partei und die Berichte der Medien entfernten sich damit zunehmend von den realen, alltäglichen Lebensbedingungen der Bevölkerung; eine Tendenz, die für die staatssozialistischen Staaten nicht außergewöhnlich war, die in der DDR jedoch aufgrund der unmittelbaren Verbindung mit dem Herrschaftsanspruch der Partei eine besondere Bedeutung hatte. Wie das MfS in einer Analyse der motivbildenden Faktoren der Flüchtlinge des Sommers 1989 feststellte, wurde diese Diskrepanz besonders stark empfunden bei den Berichten über die Erfüllung und Übererfüllung von Plankennziffern, bei den Steigerungsraten der Konsumgüterproduktion sowie bei den Statistiken über die Wohnungsversorgung.42 Im Gegensatz zu der Zeit vor 1971, als die Berichterstattung kaum wirklichkeitsgetreuer war, veränderte sich nach 1971 weniger der Wahrheitsgehalt der Meldungen als vielmehr ihre Bedeutung: Solange man noch eine kommunistische Utopie angeboten hatte, konnte man die Probleme der Gegenwart durch das Versprechen einer besseren Zukunft relativieren. Nunmehr aber diente die Berichterstattung über die Leistungen der SED unmittelbar der Stützung ihres Legitimationsanspruchs. Durch die Dogmatisierung setzte sie sich daher der Gefahr aus, »die Legitimitätsgrundlagen des Regimes als schiere Fiktion zum Zwecke des Machterhaltes bloßzustellen.«43 Tatsächlich mußte die SED im Laufe der achtziger Jahre einen rapiden Legitimationsverlust hinnehmen. Nach relativ konstanten Werten für den Zeitraum 1975 bis 1985 lassen sich seit 1985 in den Daten des Zentralinstitutes für Jugendforschung (ZIJ) in Leipzig dramatische Einbrüche in der Bindung an die DDR feststellen. Hatten 1984 noch 50% der befragten Lehrlinge eine historische Perspektive für den Sozialismus gesehen, waren es 1988 gerade noch 10%. Die starke Identifikation mit der SED, der 1986 noch 26% der Befragten Ausdruckverliehen hatten, war Anfang 1989 auf 10% gefallen, eine starke Identifikation mit der DDR empfanden 1986 48% der Lehrlinge, im Mai 1988 noch 28%, im Oktober 1988 18%.44 Wie dramatisch auch das Vertrauen in die Lö41 Vgl. Hertle, Diskussion. 42 MfS/ZAIG: »Hinweise auf wesentliche motivbildende Faktoren im Zusammenhang mit Anträgen auf ständige Ausreise nach dem nichtsozialistischen Ausland und dem ungesetzlichen Verlassen der DDR» (9.9.1989), in: Mitter/Wolle, 141-147, Zitat S. 146. 43 Meuschel, S. 26.

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sungskompetenz der Führung gesunken war, belegt eine Studie von 1988: Gefragt nach den als äußerst dringlich empfundenen Aufgaben nannten 84% der Befragten die Umweltsituation und 74% die Versorgungslage, Hoffnung auf eine erhebliche Verbesserung bis zum Jahre 2000 hatten indes nur noch 24 bzw. 23%.45 Wenn Lothar Fritze daher feststellt, daß sich die DDR am Ende der achtziger Jahre in einer Lage befand, die »von einer großen Anzahl von Bürgern als hoffnungs- und perspektivlos empfunden wurde«,46 scheint dies die Konsequenz aus der Tatsache zu sein, daß alle Entscheidungskompetenzen bei einer Instanz monopolisiert waren, die in den Augen der Bevölkerung weder fähig noch willig war, die immer spürbareren Probleme anzuerkennen, geschweige denn anzugehen. Wer anders aber als die SED hätte Verbesserungen einleiten können; woher, wenn nicht aus der SED hätten Initiativen für Reformen kommen können? Ohne die Möglichkeit einer Interessenartikulation, ohne intermediäre Instanzen, die einen Interessenausgleich hätten gewährleisten können, spitzte sich der Gegensatz zwischen Partei und Bevölkerung bis 1989 immer weiter zu. Auch wenn sich die Unzufriedenheit in der DDR im einzelnen an den unterschiedlichsten Gegenständen und Problemen festmachten, gab es doch eine grundlegende Gemeinsamkeit: Zuständig und damit verantwortlich für die Mißstände war in den Augen der Betroffenen die SED. Ihr Anspruch auf das Macht- und Entscheidungsmonopol machte sie zum alleinigen Adressaten der Erwartungen auf eine Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, für die sie sich 1971 explizit zuständig erklärt hatte.47 Die SED beantwortete diese Erwartungen jedoch mit einer immer größer werdenden Distanz zu den realen Verhältnissen. Auf diese Weise entstand in den achtziger Jahren eine »Spirale von Erwartungen und Frustrationen«,48 in der die Führung und die Bevölkerung immer unmittelbar auf einander verwiesen blieben, während sie sich gleichzeitig zunehmend voneinander entfernten.

44 Friedrich, S. 29f. Ähnliche Tendenzen zeigten sich auch bei den anderen befragten Gruppen, den Studenten und den jungen Arbeitern. 45 Gensicke, S. 1270. 46 Fritze, S. 11. 47 Vgl. Meuschel, S. 27: »Aufgrund der mono-organisatorischen Struktur des Herrschaftssystems richteten sich alle Erwartungen an die Partei resp. an den Parteistaat. Verlieh ihm dieser Umstand eine gewisse Flexibilität, [...] bestand doch grundsätzich die Gefahr, daß Unzufriedenheit sich unmittelbar an ihn adressierte.« 48 Grunenberg, S. 229.

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1.3. »Ex Oriente lux, ex occidente luxus« Die Wahl Gorbatschows und seine seit 1987 forcierten Reforminitiativen spitzten die Spannungen in der DDR weiter zu. Denn während die perestroika in der Bevölkerung Hoffnung auf Reformen des politischen Systems in der DDR weckte, reagierte die DDR-Führung mit einer erneuten Verhärtung ihrer ideologischen Positionen.49 Auf dem Plenum ZK der KPdSU im Januar 1987 hatte Gorbatschow erstmals öffentlich die Grundzüge der perestroika entworfen. Um den Sozialismus in der Sowjetunion lebensfähig zu machen, propagierte er die Einbeziehung der Bevölkerung in die gesellschaftlichen Prozesse, Transparenz in Staat, Partei, Medien und Betrieben, Wahlrechtsreformen und lokale Selbstverwaltungsrechte.50 Die von Gorbatschow benannten Probleme der Stagnation und Verknöcherung waren der Bevölkerung in der DDR nicht fremd.51 Nachdem der Satz »Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen» jahrzehntelang ein zentraler Bestandteil des Inventars der politischen Propaganda gewesen war, konnte die SED daher nicht verhindern, daß Gorbatschows Ansätze auf die DDR übertragen wurden. Schon kurz nach dem Januarplenum der KPdSU meldete das MfS, das Programm der perestroika gebe in der Bevölkerung »Anlaß für vielfältige, häufig stark emotional geprägte Diskussionen, die teilweise sehr differenzierte Standpunkte erkennen lassen hinsichtlich der Bewertung der Vorgänge in der UdSSR sowie daraus abzuleitender Schlußfolgerungen für die DDR.«52 Erstmals wurde der Zustand der DDR zum Gegenstand einer kritischen Diskussion in der Bevölkerung, die ihre Kritik an der DDR mit dem Verweis auf die Sowjetunion legitimieren konnte. Mit den Reformen der Führungsmacht rückten daher seit 1987 auch in der DDR Veränderungen des politischen Systems in den Bereich des Denkbaren. Gorbatschow wurde zu einem Symbol der Reformhoffnungen und stellte eine Herausforderung dar, der sich die SED nicht entziehen konnte. Sie mußte auf den Kurswechsel der langjährigen Führungsmacht reagieren und Gorbatschows Reformansätzen eine eigenständige Rechtfertigung ihrer Politik gegenüberstellen. Die einzige Möglichkeit einer dauerhaften Herrschaftssicherung der SED hätte 1987 ohne Zweifel darin bestanden, die Initiative Gorbatschows aufzunehmen und Reformen einzuleiten. Unabhängig von der Frage, welchen Erfolg diese Strategie gehabt hätte, wäre dies die letzte Chance der SED gewesen, den innenpolitischen Legitimitätsverfall aufzuhalten und die außenpolitische 49 Zur Rezeption der Reformen Gorbatschows durch die SED-Führung vgl. Süß, Perestrojka. 50 Vgl. die Rede Gorbatschows (Gorbatschow, Demokratie). 51 Zur Rezeption und Wirkung Gorbatschows in der DDR-Bevölkerung vgl die Aufsätze in Löw. 52 MfS/ZAIG: »Erste Hinweise über Reaktionen der Bevölkerung auf des Plenum des ZK der KPdSU» (3.2.1987), zit. nach: Crome/Franzke, S. 162.

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Isolation im Blockverband zu vermeiden. Statt dessen aber blockte die SEDFührung jegliche Reformüberlegung ab. Durchaus zutreffend war die Führungsspitze der SED der Überzeugung, daß die Existenzberechtigung der DDR nur darin liegen konnte, daß sie sich hinreichend vom kapitalistischen Westen unterschied. Otto Reinhold, Direktor der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK des SED, stellte Ende August 1989 in diesem Sinne unmißverständlich fest, daß die DDR »nur als antifaschistischer, als sozialistischer Staat, als sozialistische Alternative zur BRD denkbar (ist).« Reformen nach dem Vorbild Gorbatschows, die in der Sicht der SED-Spitze den sozialistischen Charakter der DDR gefährdet hätten, wären daher einer Preisgabe der DDR insgesamt gleichgekommen, denn »welche Existenzberechtigung sollte eine kapitalistische DDR neben einer kapitalistischen BRD haben? Natürlich keine.«53 Die SED entschied sich daher, an ihrem einmal eingeschlagenen Kurs festzuhalten. Dabei nutzte sie die von Gorbatschow eingeleitete Liberalisierung des sozialistischen Blockverbandes, um einen eigenständigen Weg zum Sozialismus zu rechtfertigen: »Wir gestalten die entwickelte sozialistische Gesellschaft hier in diesem Lande, nicht im luftleeren Raum und auch nicht unter Verhältnissen, wie sie anderswo, aber nicht hier bei uns bestehen. Wir gestalten sie in den Farben der DDR.«54 Hinter der Formel des Sozialismus in den Farben der DDR stand jedoch keine positive Standortbestimmung. Es handelte sich um eine reine Abgrenzungsformel, die ihre Bedeutung ex negativo aus der Ablehnung von Reformen gewann. Mit dem Verweis auf die angeblichen Erfolge bei der Umsetzung der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik wurde die Formel des Sozialismus in den Farben der DDR in den letzten Jahren der DDR zur Grundlage des Legitimitätsanspruchs der SED-Führung. Angesichts der Probleme in der DDR war die Wirksamkeit dieses Legitimationsanspruchs zweifelhaft. Das Bestreben, die Überlegenheit des real-existierenden Sozialismus in der DDR zu postulieren, stieß auf zunehmendes Unverständnis in einer Bevölkerung, welche die DDR politisch an Gorbatschow und wirtschaftlich an der BRD maß. Die Entfremdung zwischen Herrschern und Beherrschten in der DDR beruhte somit letzten Endes auf Gegenseitigkeit. Je mehr sich im Politbüro der Eindruck festsetzte, gegenüber den Herausforderungen durch Gorbatschow Härte, Kontinuität und Standfestigkeit zeigen zu müssen, desto mehr stellte sich bei der Bevölkerung der Eindruck ein, daß die SED-Spitze eine wirklichkeitsfremde Strategie der Machtsicherung betrieb. Repressionen wie etwa die Vorgänge um das Verbot der russischen Zeitung Sputnik, die Sprachlosigkeit 53 Otto Reinhold in Radio DDR am 22.8.1989, dokumentiert in: die tageszeitung vom 28.8.1989, S. 8. 54 Erich Honecker: Rede auf der Festveranstaltung anläßlich das 70. Jahrestages der Gründung der KPD, in: ND vom 30.12.1988, S. 4.

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auch gegenüber den eigenen Parteimitgliedern55 und die wirklichkeitsfremde Schönfärberei in den Medien, führten den Verlust der Definitions- und Handlungsmacht der Führung nachhaltig vor Augen. Ebenso deutlich aber war, daß die SED nicht willens war, auf ihr Macht- und Deutungsmonopol zu verzichten. Sie machte keinerlei Zugeständnisse bei ihren allumfassenden Kompetenzen und zeigte sich gleichzeitig zunehmend unfähig, den daraus entstehenden Verpflichtungen nachzukommen. Dieser Widerspruch, durch die Strukturkrisen der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik vorbereitet, wurde mit den durch Gorbatschow geweckten Erwartungen eklatant. Dennoch wurde noch im Mai 1989 die Erklärung der Parteispitze, die Kommunalwahlen seien ein Ausweis der Verbundenheit zwischen Bevölkerung und Führung, von den meisten Bürgern widerspruchslos hingenommen. Die Spannungen in der DDR blieben latent, da keines der Probleme für sich allein drängend genug war, um breitere Bevölkerungskreise zu Protest bewegen zu können. Es bedurfte der »befreienden Verunsicherung«56 durch die Ausreisewelle, um die Isolation gesellschaftlicher Unzufriedenheiten aufzubrechen. Dem Zustandekommen dieses kritischen Ereignisses haftete durchaus ein Moment der Zufälligkeit an. Die Ausreisewelle war eine nichtintendierte Folge der ungarischen Entscheidung, das Grenzregime zum Westen zu lockern. Ihre Wirkung in der DDR war jedoch keineswegs zufällig. Denn im Sommer 1989 eskalierte die Spirale aus Erwartungen und Frustrationen, die im Zuge des Scheiterns der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik in den achtziger Jahren entstanden war. Ausgelöst durch die Ausreisewelle konnte es so zu einem Zusammenspiel einer Vielzahl von bislang unverbundenen Krisen kommen, die auf einen Punkt zentriert waren: auf die SED-Führungsspitze. Auf der Grundlage dieses gemeinsamen Nenners entstand im Sommer 1989 ein Krisenbewußtsein, das innerhalb von Wochen alle sozialen und regionalen Grenzen in der DDR überschreiten konnte. 2. Die Fluchtwelle über Ungarn: Mai bis September 1989 Am Dienstag, dem 2. Mai 1989, begannen ungarische Grenzer, die Sperranlagen entlang der Westgrenze des Landes zu demontieren. Vor den Augen der westlichen Medien wurden an vier Stellen die Stacheldrahtverhaue zerschnitten und die Kontaktdrähte deaktiviert. Niemand rechnete zu diesem Zeitpunkt 55 Viele Parteimitglieder hofften darauf, so das MfS, daß die SED-Spitze »rasch zum KPdSUPlenum Stellung nehmen« würde. Auf das Ausbleiben einer Stellungnahme reagierte die Parteibasis »auf Grund fehlender Orientierungen übergeordneter Leitungen verunsichert«. (MfS/ZAIG: »Erste Hinweise über Reaktionen der Bevölkerung auf des Plenum des ZK der KPdSU» (3.2.1987), zit. nach: Crome/Franzke, S. 163). 56 Fischbeck u.a., S. 1208.

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jedoch damit, daß das Loch im eisernen Vorhang eine Massenflucht auslösen könnte. Das öffentlichkeitswirksam inszenierte Durchschneiden des Stacheldrahtes war in erster Linie ein symbolischer Akt, der vor allem dem Westen demonstrieren sollte, daß Ungarn es mit dem 1987 eingeleiteten Reformprozeß ernst meinte. Hoch verschuldet hatte Ungarn 1987 begonnen, den durch Gorbatschows Revision der Breschnew-Doktrin entstandenen Spielraum innerhalb des sozialistischen Lagers zu nutzen. Den Auftakt des Reformprozesses bildete die Absetzung des seit 1956 amtierenden Parteichefs Jänos Kadär, der im Mai 1988 durch Karoly Grósz abgelöst wurde. Im November 1988 wurde mit Miklos Németh ein dezidierter Reformer zum Ministerpräsidenten gewählt, der in der Folge versuchte, Ungarn durch kontrollierte Reformen zu liberalisieren und zum Westen zu öffnen, ohne die östliche Blocksolidarität aufs Spiel zu setzen. In heftigen innenpolitischen Auseinandersetzungen wurde Imre Nagy und mit ihm der Volksaufstand von 1956 rehabilitiert und nach der Zulassung politischer Parteien beschloß die USAP im Februar 1989, auf das Machtmonopol zu verzichten, ein Mehrparteiensystem zu etablieren und noch 1989 freie Wahlen abzuhalten.57 Von den weniger reformfreudigen Nachbarn CSSR und Rumänien argwöhnisch beobachtet, erfolgten diese Reformen zunächst ohne direkte Rückendeckung aus Moskau. Erst bei einem Besuch in Moskau im März 1989 erhielt Németh von Gorbatschow die Versicherung, daß die Sowjetunion glasnost und perestroika in Ungarn toleriere und begrüße. Die geplante Demontage der Grenzanlagen wurde aber nur in Andeutungen besprochen. Das beredte Schweigen Gorbatschows wertete Nemeth jedoch als stillschweigendes Einverständnis.58 Da die ungarische Regierung ihren Bürgern schon 1988 die Reisefreiheit gewährt hatte, stellten die Grenzbefestigungen einen teuren Anachronismus dar, mit dessen Demontage sich mehrere Vorteile verbanden. Denn abgesehen von der Möglichkeit, die Ausgaben für den Unterhalt der Grenzanlagen einsparen zu können, versprach der Abbau des Stacheldrahtes auch Sympathien und Kredite im Westen. Eine vorbehaltlose Grenzöffnung stand jedoch aufgrund der Bündnispflichten innerhalb des Warschauer Paktes nicht zur Debatte. Ein so weitreichender Schritt hätte unkalkulierbare Folgen haben und den Reformprozeß gefährden können.

57 Zum Reformprozeß in Ungarn siehe Brunner und Szabo, Ungarn. Zur Aufgabe der Breschnew-Doktrin: Küchenmeister/Stephan. Zur Ausreisewelle insgesamt siehe Maier, S. 213 und die umfassende Darstellung der politisch-diplomatischen Dimension von Hertle, Mauer. 58 Nemeth verließ das Gespräch nach seinen Worten mit dem Gefühl, Gorbatschow halte »es offenbar auch nicht für wahrscheinlich, daß nach ihrem Abbau [der Grenzanlagen, K.T.] womöglich Millionen unzufriedene Menschen aus dem Osten in den Westen flüchten könnten«, Interview in Kurz, S. 134.

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Die Regierung Németh löste ihr Dilemma durch einen Kompromiß: Während den Westmedien die Demontage des Stacheldrahtes vorgeführt wurde, blieb das Grenzregime selbst unverändert. Nach wie vor wurden Flüchtlinge abgefangen und verhaftet, die Kontrollen im Grenzvorland wurden noch verstärkt, die Wachtürme blieben besetzt und der Streifendienst aktiv. Bei der Demontage handelte es sich daher um reine Grenzkosmetik. Der medienwirksam zerschnittene Zaun war nur der erste Teil der Befestigungsanlagen; ein Flüchtling hätte nach wie vor die restlichen Zäune und Sperren überwinden müssen, die von den Baggern unberührt geblieben waren. Ungeachtet der Bedeutung, welche die ersten Löcher im Eisernen Vorhang für die weitere Entwicklung im Jahr 1989 bekommen sollten, bestand daher zunächst weder für Ungarn noch für die DDR Grund zur Beunruhigung. Faktisch hatte sich an den Bedingungen nichts verändert und dahingehend hatten die ungarischen Behörden auch die Regierungen der Bündnisstaaten informiert.59 Dennoch scheiterte die zweigleisige Strategie, die Grenzanlagen abzubauen und die Grenzsicherung trotzdem aufrecht zu erhalten. Die Voraussetzung für den Erfolg dieser Strategie wäre es gewesen, daß die geladenen Medienvertreter das Zerschneiden des Stacheldrahtes als das dargestellt hätten, was es war: als den Beginn der Demontage der Grenzanlagen. Mit dieser Erwartung hatte man aber die Tendenz der westlichen Medien unterschätzt, Ereignisse zu dramatisieren und Zusammenhänge zu vereinfachen: Die aufsehenerregenden Vorgänge in Ungarn verleiteten mehrere Berichte dazu, die Demontage so darzustellen, als ob die Grenze bereits geöffnet worden sei.60 In der DDR wurde diese Berichterstattung besonders von den fast 90.000 offiziell registrierten AstA, den Antragstellern auf ständige Ausreise,61 aufmerksam verfolgt. Für sie wurde die vermeintliche Grenzöffnung zum Signal. Die Entscheidung, ihre Heimat gen Westen zu verlassen, hatten sie bereits gefällt, und ihre Koffer waren in der Hoffnung auf die Genehmigung der Ausreise oft buchstäblich schon gepackt. Zudem waren sie nach ihrer Antragstellung nachhaltigen Repressalien durch Vorgesetze und Behörden ausgesetzt. In dieser 59 Noch an dem gleichen Tag, an dem Ungarn mit der Demontage begann, konnte DDRVerteidigungsminister Keßler dem Politbüro daher mitteilen, er habe »solide Informationen« aus Ungarn, daß »sich trotz Abbaus der befestigten Grenze am Grenzregime selbst nichts ändern werde«, zit. nach Schabowski, Absturz, S. 221. 60 Anfang Mai, so berichtete später ein Flüchtling, der nach wiederholten Fluchtversuchen Anfang August in den Westen gelangt war, habe das Westfernsehen »einen ›furchtbar naivem Film über den Abbau des Eisernen Vorhangs gebracht. Man habe den Eindruck gehabt, man könne einfach über die Grenze spazieren«, zit. nach FAZ vom 9.8.1989, S. 3. 61 Für den Zeitraum vom 1.1. bis 30.6.1989 zählte das MfS insgesamt 125.429 Anträge auf ständige Ausreise in die BRD, von denen 36.484 (29,1%) genehmigt worden waren. 15.469 Anträge waren abgelehnt worden, 72.066 Anträge waren noch anhängig. Vgl. MfS/ZAIG: »Information über die Lage und Entwicklungstendenzen der ständigen Ausreise von Bürgern der DDR nach der BRD und Westberlin sowie des ungesetzlichen Verlassens der DDR in der Zeit vom 1. Januar bis 30. Juni 1989» (Juli 1989), in: Mitter/Wolle, S. 82-92, S. 84.

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Lage waren viele der Ausreisewilligen gerne bereit, der westlichen Berichterstattung Glauben zu schenken und die Flucht zu wagen.623 Daß die Grenze jedoch keineswegs geöffnet war, erfuhren die Flüchtlinge meist erst beim Fluchtversuch selbst: »Über die Medien haben wir gehört, der Grenzzaun ist weg. Dann sind wir hergefahren und sind auf die Stolperdrähte getreten. Die Posten schirmen die Grenze tiefgestaffelt und dicht ab, da war kein Durchkommen möglich.«63 Bei Nacht und Nebel, zu Fuß oder schwimmend über den Neusiedler See versuchten die Flüchtlinge ihr Glück und scheiterten zum größten Teil an den nach wie vor intakten Sperranlagen. Noch Mitte August schätzen Beobachter, daß maximal ein Viertel der Fluchtversuche erfolgreich war. Über viertausend Flüchtlinge wurden zwischen Anfang Mai und Mitte August an der Grenze abgefangen.64 Die Nachricht von der vermeintlichen Grenzöffnung hatte daher weniger eine Fluchtwelle, denn eine Welle von zumeist vergeblichen Fluchtversuchen ausgelöst. Darüber hinaus verpflichtete ein Geheimabkommen mit der DDR die ungarischen Behörden, die Flüchtlinge nicht nur zu verhaften, sondern auch zur Strafverfolgung in die DDR zu überstellen. Ein Teil der Flüchtlinge wurde daher direkt in die DDR abgeschoben, der überwiegende Teil jedoch wurde lediglich ausgewiesen. Ihre Pässe wurden mit einem Stempel versehen, der sie verpflichtete, innerhalb von 24 Stunden das Gebiet der Ungarischen Volksrepublik zu verlassen. Diese Praxis bildete den Auftakt für den zweiten Akt des Fluchtdramas: die Botschaftsbesetzungen. Der Stempel im Paß veränderte die Bedingungen eines Flüchtlings grundlegend. Einerseits war sein weiterer Aufenthalt in Ungarn nunmehr illegal, andererseits war ihm der Rückweg in die DDR abgeschnitten, weil ihn der inkriminierende Stempel bei der Wiedereinreise in die DDR als Republikflüchtling ausgewiesen hätte. In dieser Lage gab es nur eine naheliegende Anlaufstelle: die bundesdeutsche Botschaft in Budapest. Von ihr konnten die DDR-Bürger aufgrund der Nichtanerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft durch die Bundesrepublik Beistand und Hilfe erwarten. Nachdem Mitte Juni erstmals einige DDR-Bürger Einlaß in die Botschaft verlangt hatten, beherbergte sie am 16. Juli schon 30, am 21. Juli 52, am 1. August 100 und am 7. August bereits 180 Flüchtlinge.65 Mit dieser Entwicklung verlagerte sich das Problem der Fluchtwelle grundsätzlich. Zuvor hatten sich die Maßnahmen der Bundesregierung noch auf wiederholte Appelle an die DDR-Bürger beschränken können, auf 62 Zu den Motiven der Ausreisewilligen und Flüchtlingen des Sommers 1989 siehe Hilmer. 63 So ein Flüchtling in der Budapester Botschaft Anfang August (zit. nach die tageszeitung vom 10.8.1989, S. 7). Zu Berichten über erfolgreiche und gescheiterte Fluchtversuche vgl. die tageszeitung, 25.7.1989, S. 7; die tageszeitung vom 9.8.1989, S. 3; FAZ vom 9.8.1989, S. 3. 64 So die ungarische Nachrichtenagentur MIT unter Berufung auf offizielle Angaben, in: FAZ vom 18.8.1989, S. 2. 65 Zu der Entwicklung der Flüchtlingszahlen vgl. die Darstellung bei Hertle, Mauer, S. 91-109 und die zeitgenössischen Presseberichte.

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Fluchtversuche zu verzichten, »damit die Wiedervereinigung der Deutschen nicht in der Bundesrepublik« stattfinde.66 Jetzt aber stand die Bundesregierung unmittelbar in der Pflicht. Die Fluchtwelle und die Situation in der Botschaft wurde zu einem Problem der internationalen Beziehungen. Im Gegensatz zu den zahlreichen Botschaftsbesetzungen, die im Laufe der achtziger Jahre stillschweigend zwischen den beteiligten Regierungen geregelt worden waren, beharrte die DDR dieses Mal auf ihrer Rechtsposition. Sie verurteilte das Engagement der Bundesrepublik als eine »typisch großdeutsche Anmaßung«,67 die jeder völkerrechtlichen Grundlage entbehre und beschränkte den Verhandlungsspielraum von Rechtsanwalt Vogel, um unmißverständlich klar zu machen, daß sich die DDR nicht länger durch die Besetzung von Botschaften erpressen lassen würde.68 Eine einvernehmliche Lösung des Problems war daher nicht mehr möglich. Den DDR-Bürgern, die mittlerweile nicht nur die Botschaft in Budapest, sondern auch in Prag und Ost-Berlin besetzt hatten, blieb nur noch die Perspektive, auf eine direkte Ausreise in die Bundesrepublik zu warten. In dieser verfahrenen Situation löste ein völlig unabhängiges Ereignis einen Quantensprung in der Entwicklung aus: In der DDR begannen die Schulferien, die über eine Million DDR-Bürger in Ungarn verbringen wollten. Innerhalb von Tagen vervielfachten sich die Zahlen der DDR-Bürger in Ungarn, die entschlossen waren, auf die eine oder andere Art in den Westen zu gelangen. Während die österreichischen Behörden Ende Juli noch 15 bis 20 erfolgreiche Fluchtversuche pro Woche registriert hatten, schnellten die Zahlen im August rapide in die Höhe: Die FAZ berichtete am 15. August von hundert Fluchten täglich, am 22. August waren es schon über dreihundert Flüchtlinge, die sich jeden Tag in der bundesdeutschen Botschaft in Wien meldeten, und am 24. August gab das Auswärtige Amt in Bonn bekannt, daß allein in den vier vorangegangenen Tagen zweitausend DDR-Bürger die Grenze überwunden hätten. Den Höhepunkt dieser Entwicklung bildete das am 19. August auf einem Grenzstreifen bei Sopron veranstaltete Paneuropäische Frühstück, in dessen Verlauf über sechshundert DDR-Bürger durch ein angelehntes Tor im Grenzzaun nach Österreich gelangten, ohne von den danebenstehenden Grenzern behindert zu werden.690 Daß Fluchtversuche indes keineswegs risikolos waren, wurde nur wenige Tage später deutlich, als ein Flüchtling bei einem Handgemenge mit Grenzsoldaten getötet wurde. Auch wenn sich der Schuß auf Kurt 66 Walter Priesnitz, Staatssekretär im Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, zit. nach die tageszeitung vom 24.7.1989, S.4. 67 »Erreichtes nicht leichtfertig aufs Spiel setzen», in: ND vom 8.8.1989, S. 2. 68 Whitney (S. 90) führt den unnachgiebigen Kurs der SED-Führung darauf zurück, daß Honecker sich zur fraglichen Zeit im Genesungsurlaub befand und Krenz nicht die Kompetenz hatte, Kompromisse anzubieten. 69 Vgl. das »Dossier» in: Die Zeit vom 19.8.1994, S. 11-13 und Die Zeit vom 25.8.1989, S. 3.

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Werner Schulz unbeabsichtigt gelöst hatte, herrschte doch nach wie vor unter den Flüchtlingen eine große Angst und Unsicherheit über das Verhalten der Grenzer. Die Fluchtumstände blieben schwierig und schreckten viele von einem Versuch ab. Ein Ventil für die immer weiter ansteigende Zahl der Botschaftsbesetzer bot die Grenze noch nicht. Den sichersten Anlaufpunkt bot daher nach wie vor die bundesdeutsche Botschaft in Budapest. Vor den Augen der westlichen Medien und der DDRStaatssicherheit kletterten ganze Familien mit kleinen Kindern über den Zaun der Botschaft, die auf den Ansturm in keiner Weise vorbereitet war. »Eingepfercht in 9 bis 13 Quadratmeter große Räume leben hier Männlein und Weiblein und Kinder«, beklagen sich 33 der Besetzer in einem offenen Brief an den Spiegel über die unhaltbaren Zustände. »Mit zwei Toiletten und nur teilweise mit einer Hose und einem Hemd kann man, nein - darf man nicht leben. Das ist menschenunwürdig.«70 Kaum besser war die Situation in der näheren Umgebung der Botschaft, wo mehrere hundert Fluchtwillige von dem Botschaftspersonal und vom ungarischen Roten Kreuz mit Nahrung, Kleidung und Schlafgelegenheiten versorgt wurden. Mitte August war die Lage so unhaltbar geworden, daß im Budapester Stadtteil Zugliget ein erstes Flüchtlingslager eingerichtet werden mußte, dem in den folgenden Wochen noch weitere folgten. Wenige Tage nach der Eröffnung am 16. August mußte der ungarische Malteser-Caritas-Dienst in Zugliget schon vierhundert Menschen betreuen; zehn Tage später waren es bereits 1.800 DDR-Bürger. Am 1. September gingen die Schulferien in der DDR zu Ende. Der überwiegende Teil der Urlauber kehrte in die DDR zurück, allerdings schätzte der ungarische Innenminister Horvath die Zahl derjenigen, die trotz des Urlaubsendes in Ungarn geblieben waren, um auf eine Ausreisemöglichkeit zu warten, auf insgesamt 20.000. Eine Lösung zeichnete sich aber nach wie vor nicht ab: Ungarn hielt die Grenze geschlossen und tat alles, um bei den Flüchtlingen keine Hoffnung auf eine baldige Lösung aufkommen zu lassen. Der Sprecher des ungarischen Außenministeriums dementierte am 30. August nachdrücklich, daß eine Grenzöffnung geplant sei, und auch Horvath schloß eine Nachtund-Nebel-Aktion öffentlich aus. Eine geregelte Ausreise der DDR-Bürger sei nicht zu erwarten.71 In den Lagern gingen diese Meldungen, wie die Korrespondentin der Berliner tageszeitung berichtete, in »Tränen, Sorgen und Suff« unter. Angesichts der hoffnungslosen Lage wurden neue, immer verzweifeltere Fluchtpläne geschmiedet, andere - so ging das Gerücht - planten einen Hungerstreik, um die beteiligten Regierungen endlich zum Handeln zu zwingen.72 Niemand wußte, daß die Entscheidung bereits gefallen war. 70 »Wir bitten nicht-wir fordern», in: Der Spiegel vom 14.8.1989, S. 24. 71 Vgl. die tageszeitung vom 31.8.1989, S. 1; die tageszeitung vom 5.9.1989, S. 1. 72 Vgl. Heide Platten: »Die DDR rief-und keine(r) kam», in: die tageszeitung vom 7.9.1989, S.7.

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Die Wochen zuvor waren von hektischer Aktivität auf diplomatischer Ebene geprägt gewesen, ohne daß man einer Lösung nähergekommen wäre. Trotz eines intensiven Notentausches zwischen Ost-Berlin und Bonn hatten die entgegengesetzten Positionen der Beteiligten kaum Verhandlungsspielraum für Kompromisse gelassen.73 Leidtragende des diplomatischen Patts war die ungarische Regierung, die sich ihrerseits in einem Dilemma befand. Eine Öffnung der Grenze hätte die innenpolitische Lage der östlichen Bündnispartner erschüttert; hielt man aber das Grenzregime aufrecht, gefährdete man nicht nur die öffentliche Ordnung im eigenen Land, sondern auch die erstrebte Unterstützung aus dem Westen. Keine dieser beiden Konsequenzen wollte man in Kauf nehmen. Derweil sicherten die Medien dem Flüchtlingsdrama eine weltweite Aufmerksamkeit, und innenpolitisch wie international sah sich die Regierung Nemeth vor die Frage gestellt, warum das reformorientierte Ungarn die Rolle eines Hilfs-Grenzpolizisten für die DDR übernahm.74 Ungarn mußte eine Entscheidung treffen, und diese fiel am 22. August im engsten Kreis des Kabinetts zugunsten einer humanitären Lösung. Am 25. August reisten Nèmeth und Horn zu einem geheimen Treffen mit Kohl und Genscher nach Bonn, um die Bundesregierung von der Entscheidung zu unterrichten. Kohl - »wirklich, er weinte«, so Nèmeth75 - sagte hocherfreut zu, eventuelle Vergeltungsmaßnahmen der DDR finanziell abzugleichen und stellte Ungarn einen zusätzlichen Kredit von fünfhundert Millionen DM, die Aufhebung des Visazwanges und Unterstützung bei dem angestrebten EG-Beitritt in Aussicht. Am 31. August flog Horn nach Ost-Berlin, um Außenminister Fischer und Günter Mittag die ungarische Entscheidung zu erläutern. Ultimativ setzte Horn den 11. September als Termin der Entscheidung fest: Falls die DDR in der bis dahin verbleibenden Frist keine konstruktive Lösung anböte, sehe Ungarn sich gezwungen, die Grenze zu offnen.76 Die SED, das hatte Fischer im Gespräch mit Horn deutlich gemacht, betrachtete das Ultimatum als Erpressung und Verrat.77 Da die DDR nicht bereit war, sich dieser Erpressung zu beugen, ließ sie die Frist verstreichen.78 73 Zu den diplomatischen Bemühungen siehe Hertle, Mauer, S. 98ff. Einzelne Dokumente des Notenwechsels in Stephan. 74 So bemerkte ein Kommentar des ungarischen Rundfunks am 11.8.1989 kritisch: »An unseren westlichen Grenzen haben wir den Eisernen Vorhang nicht deshalb liquidiert, um jenes Tor zu öffnen, das die Berliner Mauer zugesperrt hat«, zit. nach: die taveszeitung vom 12.8.1989. 75 So Nèmeth in einem Interview mit Friedrich Kurz (S. 156). Vgl. zu diesem Treffen auch Horn, S. 317ff. 76 Vgl. zu den Gesprächen in Ost-Berlin die Erinnerungen Horns (S. 323ff.) und den Vermerk Mittags über sein Gespräch mit Horn in: Stephan, S. 109-112. 77 Vgl. Horn, S. 324. 78 Vergeblich hatte die DDR versucht, in Moskau auf ein Treffen der Warschauer Pakt Staaten zu dringen, um Ungarn zur Räson zu bringen. Abgesehen von der Initiative der Mobilen Konsularischen Beratungsstellen in Budapest (vgl. die tageszeitung vom 7.9.1989, S. 7) verfolgte die SED

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Noch aber war die dramatische Zuspitzung, welche die Entwicklung durch das ungarische Ultimatum erfahren hatte, nicht öffentlich geworden. Budapest, Bonn und Ost-Berlin hatten Stillschweigen bewahrt, um die Situation nicht zusätzlich zu verkomplizieren. Wie eine Befreiung wirkte in dieser Situation der Satz, mit dem Gyula Horn am Sonntag, den 10. September, im ungarischen Fernsehen die Öffnung der Grenze verkündete: »Die Bürger der DDR können das Land verlassen.«79 Dichtgedrängt um den Monitor im Lager Zugliget brachen fünftausend DDR-Flüchtlinge in Jubel aus. Nach mehreren Wochen der Angst und Ungewißheit war die Grenze endlich offen, das Warten hatte ein Ende. Noch in derselben Nacht setzte sich ein Konvoi aus Autos, Taxis, Bussen, Motorrädern und Sonderzügen in Bewegung, Tausende überquerten ab Mitternacht die Grenze. Rund 14.000 DDR-Bürger verließen in den nächsten fünf Tagen Ungarn in Richtung Bundesrepublik. Zusammen mit den ca. 6.000 erfolgreichen Fluchten vor der Grenzöffnung waren seit Mai 1989 über 20.000 Menschen aus der DDR geflohen. 3. Die Ausreisewelle als »kritisches Ereignis« Die dramatischen Vorgänge in Ungarn wurden von der Bevölkerung in der DDR mit sehr gemischten Gefühlen aufgenommen. Denn anders als Bärbel Bohley im August vermutete, war durchaus nicht jeder zweite DDR-Bürger auf dem Sprung in den Westen.80 Im Gegenteil: Bei allen Problemen, vor die der Staat DDR seine Bürger stellte, war das Land DDR für den überwiegenden Teil der Bevölkerung ein Zuhause, das man weder aufgeben wollte noch konnte. Die Zukunft der DDR ebenso wie die persönliche Lebensplanung ihrer Bürger schienen im Sommer 1989 jedoch durch die Fluchtwelle existentiell gefährdet zu sein. Vor allem die Tatsache, daß junge Menschen und Facharbeiter, Ärzte und Handwerker flohen, nährte die verbreitete Befürchtung, daß die Ausreisewelle zu einem »Aderlaß werden kann, an dem wir kaputtgehen.«81 Mit jeder neuen Nachricht über geglückte Fluchten wuchs daher eine zunächst noch diffuse ›Angst um unser Land‹, der Stefan Heym schon Anfang August in die Entwicklung nervös, aber hilflos. Vgl. die Gesprächsvermerke von DDR-Offiziellen mit sowjetischen, ungarischen und bundesdeutschen Vertretern und die verschiedenen Fernschreiben des DDR-Botschafters in Budapest, Gerd Vehres, in Stephan. 79 Zu den Ereignissen der Nacht vom 10./11.9. vgl. die ausführliche Berichterstattung der tageszeitung vom 12.9.1989, S. 1,2,3 und der FAZ vom 12.9.1989, S. 1, 3. 80 »In Wirklichkeit ist es aber so, daß von den 16,5 Millionen DDR-Bürgern jeder zweite einen Ausreiseantrag hat oder überlegt, ob er einen stellen wird«, Bärbel Bohley in: die tageszeitung vom 9.8.1989, S. 3. 81 Rainer Eppelmann in einem Telephoninterview mit der Berliner Morgenpost am 20.8.1989, in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bd. 9, S. 302.

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der ARD Ausdruck verlieh: »Ich kann nur sagen, daß das ein fürchterliches Phänomen ist. Das droht die ganze DDR zu vernichten.«82 Zu einem Schlüsselereignis in dieser Entwicklung wurde das Ferienende in der DDR am 1. September. Hatte die Fluchtwelle bis dahin primär in Ungarn und im Westfernsehen stattgefunden, wurden ihre Auswirkungen nunmehr in der DDR selbst unmittelbar spürbar. Überall warteten Ende August Angehörige, Kollegen, Freunde und Nachbarn gespannt darauf, wer aus dem Ungarnurlaub zurückkommen würde und wer nicht. Über 200.000 DDR-Bürger hielten sich zu dieser Zeit noch in Ungarn auf oder mußten das Land im Transit durchqueren. Die Bilanz des 1. Septembers war verheerend. Gerade von den dringend benötigten Facharbeitern und Spezialisten hatten viele die Chance zur Flucht ergriffen, so daß an vielen Betrieben das Schild »Wegen Urlaub geschlossen» über das Ende der Urlaubszeit hinaus hängen blieb. Immer öfter mußten die Kunden und Kollegen feststellen: »Der arbeitet nicht mehr für uns. Der ist im Westen.«83 Besonders hart traf es den ländlichen Bereich, wo der geflohene Bäcker, Friseur, Gastwirt oder Automechaniker oft der einzige am Ort gewesen war. Aber auch in den Städten entstanden durch die Lücken, welche die Ausgereisten gerissen hatten, ernsthafte Versorgungsprobleme bei den Dienstleistungen, im Handwerk und im medizinischen Bereich. So mußte, weil Ärzte und Krankenschwestern fehlten, in Leipzig-Grünau eine Zahnklinik ganz schließen, in Ueckermünde wurden Chirurgen aus der Umgebung zwangsverpflichtet, um den Betrieb des Kreiskrankenhauses aufrechtzuerhalten, und in vielen ländlichen Kreisen galt die medizinische Versorgung der Bevölkerung nicht mehr als gesichert.84 Als die westdeutschen Medien schl ießlich am 11. September die Bilder der jubelnden Botschaftsbesetzer nach ihrer Ankunft im Westen ausstrahlten, konnten nur wenige Bürger der DDR, »Des Dummen Restes», wie die zeitgenössische Übersetzung lautete, die Freude teilen. Die Trauer über den Verlust von Freunden, Verwandten und Kollegen und das Gefühl, von den Flüchtlingen im Stich gelassen worden zu sein, überwogen bei weitem. Die Lücken in der Versorgung, noch mehr aber die Lücken im Freundesund Verwandtenkreis führten der gesamten Bevölkerung nachhaltig vor Augen, daß die DDR vor ein existentielles Problem gestellt war, für das dringend eine Lösung gesucht und gefunden werden mußte. Darüber hinaus sah sich jeder einzelne vor die zumindest hypothetische Frage gestellt, ob er gehen oder bleiben sollte, so daß niemand der Auseinandersetzung mit der DDR, mit ihren 82 Stefan Heym im Bericht aus Bonn, 11.8.1989, in: ebd., S. 292. 83 Zit. nach Marlis Menge: »Empörung über das Schweigen von oben», in: Die Zeit vom 1.9.1989, S. 4. 84 Vgl. die Berichte in: Der Spiegel vom 4.9.1989, S. 21-24, FAZ vom 2.9.1989, S. 3, Die Zeit vom 1.9.1989, S. 4.

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Problemen und mit der persönlichen Lebenssituation ausweichen konnte.85 Erheblich zugespitzt wurde diese Entwicklung durch die Interviews, die geflüchtete DDR-Bürger in den westdeutschen Medien gaben. Frustrierte Äußerungen wie »Ich hatte das Gefühl, mein Leben vergammelt«86 und desillusionierte Urteile: »Dieses Land geht unter; die sind am Ende«,87 trugen ihren Teil dazu bei, daß eine Krisenstimmung entstand, die zur Auseinandersetzung mit der DDR und ihren Perspektiven zwang. Das Bewußtsein, daß es so jedenfalls nicht mehr weitergehen könne, war allgegenwärtig. 3. 1. »Es kann nur eine Wahrheit geben«:88 Eskalation durch die Reaktionen der SED »Für wie dumm halten Sie mich und bestimmt viele Bürger mehr, um solch einen Mist zu schreiben?«,89 mußte sich die Berliner Zeitung am 6. Juni 1989 von ihren Lesern fragen lassen. Zwei Tage zuvor hatte die chinesische Armee auf dem Platz des Himmlischen Friedens ein Blutbad unter demonstrierenden Studenten angerichtet. Am folgenden Tag hatten das Neue Deutschland und gleichlautend auch die Berliner Zeitung das brutale Massaker als einen Einsatz zum »Schutz des Lebens und des Eigentums des Volkes« gerechtfertigt. Ihren Berichten zufolge waren die Demonstranten diejenigen gewesen, die die öffentliche Ordnung bedroht und die Panzer der Armee angegriffen hatten. Das mutige Einschreiten der Armee gegen die Konterrevolutionäre sei notwendig gewesen und habe »die Zustimmung der Massen und der Studenten«90 gefunden. Gerade diese Bemerkung provozierte wütende Leserbriefe, die sich auf die 85 Vgl. Hirschman (S. 343ff.), der angesichts dieses Zusammenhanges und ähnlicher Mechanismen sein Modell von exit und voice revidierte, um der Tatsache gerecht zu werden, daß die Ausreisewelle (exit) in der DDR eine unmittelbare Bedeutung für die Entstehung von Protest (voice) hatte. 86 Aussage eines Ungarn-Flüchtlings in der ARD-Sendung Im Brennpunkt vom 9.8.1989, zit. nach »Das droht die DDR zu vernichten», in: Der Spiegel vom 14.8.1989, S. 19. 87 So ein Ausgereister am 4.10.1989 vor den Kameras von ZDF und ARD, zit. nach Pollack, Bedingungen, S. 318, Anm. 25. 88 Am 20.6.1989 sprachen Vertreter des Friedenskreises Berlin-Weißensee im Kreisausschuß der Nationalen Front vor, um ihrer Eingabe bezüglich der Kommunalwahlergebnisse Nachdruck zu verleihen. Die Zweifel an den offiziellen Wahlergebnissen tat der Sektretär der NF mit der Bemerkung ab: »Unsere Antwort stand in der Presse. Und das ist die Wahrheit. Es kann nicht zwei Wahrheiten geben«, in: Rüddenklau, S. 330. 89 Roland G., Leserbrief an die Berliner Zeitung vom 6.6.1989, Bestand des Vf. Zur Auswertung der Leserreaktionen auf die Artikel über die Ereignisse in China vgl. Zusammenfassende Informationen über die bei der Berliner Zeitung und der BZ am Abend im Juni 1989 eingegangenen Leserzuschriften. Vorlage zur Sitzung der Bezirksleitung Berlin der SED am 26. Juli 1989‹, LA Berlin, BPA IV F-2; 05375/66, S. 2. 90 »Konterrevolutionärer Aufruhr in China wurde durch Volksbefreiungsarmee niedergeschlagen», in: ND vom 5.6.1989.

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Frage zuspitzen, ob mit den Studenten wohl diejenigen gemeint seien, »die auf Fahrrädern fahrend oder in Zelten liegend von Panzern überrollt wurden? Oder die, die auf der Flucht von entmenschten Soldaten in den Rücken geschossen wurden?« Und weiter: »Sind Ihnen die Leser der Berliner Zeitung nicht mündig genug, um diese Wahrheit zu erfahren?«91 Explizit nahmen die Leserbriefschreiber Bezug auf die westdeutschen Medien, deren Darstellung sie mit der Präsentation in den Zeitungen der DDR konfrontierten. Das Ergebnis dieses Vergleiches fiel denkbar schlecht aus. Die Diskrepanz zwischen den Versionen und die - gemessen an den Informationen aus dem Westfernsehen - zynische Berichterstattung über den konterrevolutionären Aufruhr war vielen Bürgern ein offensichtlicher Beleg dafür, daß sie für dumm und unmündig gehalten wurden. Durch alle Leserzuschriften zieht sich das Gefühl, der bizarren und wirklichkeitsfremden Berichterstattung und den dahinterstehenden Interessen hilflos ausgeliefert zu sein. Die Unterschiede zwischen der Berichterstattung Ost und West waren nicht neu. Neu aber war, daß die Nachrichten über China nicht mehr wie zuvor stillschweigend hingenommen wurden. Nicht nur, daß das Massaker ein besonders brutales Ereignis war, sondern auch die Tatsache, daß viele Bürger Parallelen zu den fehlenden demokratischen Freiheiten in der DDR zogen, verlieh dem Ereignis eine neue Qualität. Vor allem aber berührte die Berichterstattung der Medien einen der zentralen Pfeiler des Selbstverständnisses der DDR, die sich in den achtziger Jahren erfolgreich als Friedensstaat präsentiert hatte. Die Rechtfertigung des chinesischen Massakers war mit dem Eintreten für Frieden allerdings so wenig zu vereinbaren, daß der DDR die Berechtigung abgesprochen wurde, sich weiterhin als Friedensstaat zu bezeichnen.92 Die Diskrepanz der Berichte zu den tatsächlichen Vorgängen und zum Selbstverständnis der DDR war so eklatant, daß viele Bürger nicht mehr bereit waren, diesen Widerspruch stillschweigend hinzunehmen. Die Ereignisse in Ungarn steigerten die Zumutung erneut. In dem Maße, wie die Ausreisewelle als ein bedrohliches Phänomen wahrgenommen wurde, wuchs in der Bevölkerung das Bewußtsein, daß eine offene Auseinandersetzung mit den aktuellen Problemen unausweichlich sei. Dem in der Bevölkerung verbreiteten Bedürfnis, sich der Ausreisewelle zu stellen, begegneten Staatsführung und Medien aber in gewohnter Weise: Bis Anfang August wurden die Vorgänge in Ungarn ignoriert, dann als eine Erfindung der westlichen Medien dementiert. Noch am 10. August, als die Fluchtwelle schon längst zu einem Massenphänomen geworden war, meldete der Bonner Korrespondent 91 Frank K., Leserbrief an die Berliner Zeitung vom 6.6.1989, Bestand d. Vf. 92 »Sie berichten oft vom Friedensengagement der DDR. Mit Ihrer Berichterstattung von den Vorgängen in Peking legen Sie aber kein Friedenszeugnis ab.« Jens B., Leserbrief an die Berliner Zeitung vom 5.6.1989, Bestand d. Vf. Zur Legitimationsstrategie als Friedensstaat siehe Meuschel, S. 294ff.

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des Neuen Deutschland, »hier in Bonn« frage sich so mancher überrascht, »was die hysterische Kampagne der Massenmedien mit einigen Leuten soll, die [...] illegal die DDR verlassen wollen.«93 Gänzlich unberührt von den Vorgängen in Ungarn zeigte sich auch Erich Honecker, als er am 15. August feststellte, das »Triumpfgeschrei westlicher Medien« sei das Geld nicht wert, das dafür verwandt werde, denn »den Sozialismus in seinem Lauf, hält weder Ochs noch Esel auf«.94 Nicht einmal Andeutungen ließen daher darauf schließen, daß sich die Staats- und Parteiführung der Krise bewußt war. Bis in den Oktober hielt sie hartnäckig an der Vision des Potemkinschen Dorfes einer erfolgreichen und von glücklichen Menschen bevölkerten DDR fest. Mit jeder neuen Beteuerung der heilen Welt DDR heizte sie das Krisenbewußtsein jedoch weiter an, so daß die SED-Führungsspitze gerade durch ihr Nichthandeln zu einem zentralen Akteur in den Ereignissen wurde. Um ihren Motiven nachzugehen, ist ein Wechsel der Handlungsebene erforderlich. Die Art und Weise, in der das Politbüro der Ausreisewelle begegnete, war wesentlich durch die langfristig erlernten Deutungsmuster bestimmt, in denen die altgedienten Kader an der Parteispitze die sozialistische Gesellschaft wahrnahmen.95 Die Prämisse ihrer Auseinandersetzung mit der DDR bestand in der Vorstellung von der Einheit der sozialistischen Gesellschaft, die in ihrem Inneren die objektiven Bedingungen für Opposition und Unzufriedenheit überwunden hatte. Sehr anschaulich schildert Schabowski die Konsequenz aus dieser Überzeugung: Auf Kritiker und Unzufriedene reagierte die Parteispitze damit, »daß wir uns sofort bewußt oder unbewußt der gängigen Klischees bedienten und sie als sozialismusfeindlich ansahen. Wer sozialismusfeindlich ist, kann nur ferngesteuert sein. Denn der Sozialismus bringt nichts Artfremdes hervor.«96 Diese Perspektive bestimmte auch die Wahrnehmung der Ausreisewelle: Da DDR-interne U rsachenper definitionem ausgeschlossen waren, konnte es sich nur um einen Angriff des imperialistischen Gegners handeln, der auf unsichere Kantonisten in der DDR zielte. Die Linie der Auseinandersetzung war damit vorbestimmt: »Wir müssen den Feind angreifen. Das ist der Imperialismus in der BRD. Das sind die eigentlichen Schuldigen«, so Schabowski auf der Politbüro-Sitzung am 29. August 1989. Die Ausreisewilligen erschienen demgegenüber als »Verleitete«97 oder in den Worten Sindermanns als »verwirrte Leute«, die »dem Gegner ins Netz« gingen.98 93 Olaf Dietze: »Was steckt hinter der Frontberichterstattung», in: ND vom 10.8.1989, S. 2. 94 Erich Honecker: »Wer den Sozialismus stärkt, handelt zum Wohl des Volkes», in: ND vom 15.8.1989, S. 3. 95 Eine systematische Untersuchung von Herkunft und Prägung der DDR-Machtelite bietet Meyer. 96 Schabowski, Politbüro, S. 19. 97 Günter Schabowski in der Politbüro-Sitzung am 29.8.1989, Wortprotokoll der Sitzung in Stephan, S. 96-107, Zitat S. 99. 98 Horst Sindermann in der Politbüro-Sitzung am 29.8.1989, ebd., S. 99.

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Diese Fixierung auf einen Angriff von außen wurde durch die Reformen in Polen, der Sowjetunion und Ungarn nachhaltig verstärkt: »Früher hatten wir nur den Frontalangriff in deutscher Sprache von vorn«, erklärte Harry Tisch während der Politbüro-Sitzung am 29. August, »jetzt entwickelt er sich im Rücken an allen Ecken und Kanten.«99 Die Verunsicherung durch die Reformen der Bündnispartner führte zur Entstehung einer ausgeprägten Lagermentalität. Der SED-Spitze erschien die DDR als »Turm in der Schlacht«,100 als letztes »Bollwerk des Sozialismus«,101 das es gegen Freund und Feind zu verteidigen galt. Je bedrängter sich daher die Führungsspitze fühlte, desto weniger konnten die Probleme der DDR thematisiert werden. Jedes öffentliche Eingeständnis von Problemen wäre in der Sicht des Politbüros ein Zeichen der Schwäche gewesen. Dieser Logik folgten auch die Diskussionen im Politbüro selbst, in dem, so Schabowski, Sodomie eher toleriert worden wäre als Fraktionsbildung.102 Die Ausreisewelle verstärkte dieses Tabu im September außerordentlich. Im Moment der verschärften Bedrohung durch den imperialistischen Gegner, mußte sich jede abweichende Meinung unmittelbar dem Verdacht aussetzen, bereits der Hetze des Klassenfeindes anheimgefallen zu sein.103 Diejenigen Mitglieder des Politbüros, die sich aus diesen Denkfiguren zumindest teilweise befreien konnten, trafen auf weitere Entscheidungs- und Diskussionsblockaden, die sich aus der konkreten Situation im August und September 1989 ergaben. Hierzu zählt vor allem die Tatsache, daß Erich Honecker den größten Teil des Sommers nicht handlungsfähig war. Gesundheitlich angeschlagen hatte er nach dem Gipfeltreffen des Warschauer Paktes am 10. Juli seinen Urlaub angetreten, aus dem er erst am 11. August zurückkehrte. Bereits eine Woche später, am 16. August, mußte er sich einer Gallenblasen-Operation unterziehen, die ihn bis Ende September vom Zentrum der Macht fernhielt. Ohne Honeckers persönliche Anwesenheit konnten jedoch keine weitreichenden Entscheidungen getroffen werden.104 So verpaßte die SED-Spitze am 5. September ihre vielleicht letzte Chance, die Entwicklung in ihrem Sinn zu beeinflussen. In der Politbüro-Sitzung dieses Tages hatte Werner Krolikowski die Frage aufgeworfen, »ob es nicht, verteufelt noch mal, an der 99 Harry Tisch in der Politbüro-Sitzung am 29.8.1989, ebd. S. 102. 100 Gerhard Müller in der Politbüro-Sitzung am 29.8.1989, ebd. S. 104. 101 Günter Mittag in der Politbüro-Sitzung am 29.8.1989, ebd., S. 104. 102 Schabowski, Politbüro, S. 25. 103 So reagierte Hager in der Politbüro-Sitzung am 12.9.1989 auf die Kritik an seinem Vorschlag, den DDR-Botschafter aus Budapest zurückzurufen, mit der Beteuerung: »Ich bin doch nicht das Sprachrohr des Gegners«, ohne daß ein solcher Vorwurf auch nur angedeutet worden wäre. Vgl. das Wortprotokoll der Sitzung in: Stephan, S. 146-154, Zitat S. 149. 104 Verschiedene Mitglieder des Politbüros haben im Nachhinein die beherrschende Stellung Honeckers in diesem Gremium beschrieben. So konstatierte Werner Krolikowski ein »Regime der persönlichen Macht durch Honecker«, das die übrigen Politbüro-Mitglieder zur »äußeren Staffage« degradierte. Vgl. W. Krolikowski: Handschriftliche Aufzeichnung vom 16.1.1990, in: Przybylski, Bd. 1, S. 321-339, Zitat S. 328.

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Zeit sei, daß sich das Politbüro mit einer Erklärung an das Volk wende».105 Auf diese Initiative hin kam es im Politbüro zu einer ungewöhnlich offenen Diskussion über grundsätzliche Fragen. Nach einer kurzen, aber hitzigen Debatte meldete sich jedoch Hager zu Wort und setzte den Abbruch der Diskussion mit dem Argument durch, »sie habe einen so grundsätzlichen Charakter angenommen, daß sie nicht ohne den Generalsekretär geführt werden könne.»106 Eine öffentliche Fehlerdiskussion wurde schließlich auch durch den bevorstehenden 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober verhindert. Alle Beteiligten, vor allem aber Honecker, waren völlig darauf fixiert, sich die feierliche Stimmung durch nichts trüben zu lassen.107 Auch im Politbüro galten die Probleme der DDR bis zum Jahrestag als tabu, so daß Honecker nach seiner Rückkehr aus dem Genesungsurlaub zwar eine Grundsatzdebatte ankündigte, sie aber im gleichen Atemzug auf die Zeit nach dem 7. Oktober verschob. Dieser Termin verurteilte das Politbüro in einer Situation zur Handlungsunfähigkeit, in der sich die Ereignisse täglich überschlugen. Alle Krisenanzeichen bestärkten die SED-Spitze jedoch nur noch weiter in ihrer Überzeugung, dem imperialistischem Angriff mit Härte und Standfestigkeit begegnen zu müssen. Je dramatischer daher die Entwicklung der Ausreisewelle wurde, desto weniger war die Führung in der Lage, konstruktiv auf die Probleme zu reagieren und eine öffentliche Fehlerdiskussion zuzulassen. 3.2. »Der Widerspruch wird unerträglich«108Enthüllung, Synchronisierung, Beschleunigung Die Ausreisewelle hatte im August zwei gegenläufige Entwicklungen ausgelöst: Der wachsenden ›Angst um unser Land‹ stand die zunehmende Dogmatisierung der Führung diametral gegenüber. Eine immer schnellere Abfolge von Ereignissen ließ diese entgegengesetzten Entwicklungen im September eskalieren. Das Ferienende am 1. September, die Ausreise der Budapester Botschaftsbesetzer am 11. September, die zwei Etappen der Züge mit den Prager Bot105 Werner Krolikowskiaufder Politbüro-Sitzung am 5.9.1989, zit. nach Schabowski, Absturz, S. 229. 106 Kurt Hager auf der Politbüro-Sitzung am 5.9.1989, zit. nach Schabowski, Absturz, S. 230. Vgl. zu dieser Sitzung auch Bortfeldt, S. 57f. 107 »Jeder Schritt Honeckers war in dieser Zeit davon beherrscht, die für die DDR unangenehme Situation möglichst zuzudecken, um das Renomee der DDR zum 40. Jahrestag nicht weiter zu beschädigen«, so Schabowski, Politbüro, S. 69. 108 »Die Zumutung des Widerspruches zwischen dem, was der einzelne im Alltag erfährt und dem, was er in der Zeitung liest, wird unerträglich«, Christoph Demke, Bischof der Kirchenprovinz Sachsen: Fragen nach der Wirklichkeit-ein Brief aus Magdeburg (26.8.1989), in: Hildebrandt/ Thomas, S. 7-11, Zitat S. 7.

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schaftsbesetzern am 1. und am 3. Oktober, die gewalttätigen Demonstrationen von Ausreisewilligen in Dresden ab dem 4. Oktober und schließlich der Geburtstag der DDR am 7. Oktober -jedes dieser Ereignisse bot einen neuen Fokus, der das Krisenbewußtsein in der Bevölkerung verschärfte und die SEDFührung zu immer groteskeren Reaktionen zwang. Waren große Teile der Bevölkerung bislang bereit gewesen, die Politik der SED nolensvolenszu tolerieren, wurde das Verhalten der Parteiführung im Sommer 1989 zum Inbegriff der Krise in der DDR.109 Mit den staatlichen Reaktionen auf die Ausreisewelle wurde der Punkt erreicht, an dem viele Bürger nicht mehr stillschweigend hinnehmen konnten, daß die Verantwortlichen wie »politische Autisten«110 die Probleme ignorierten und die Zukunft des Landes anscheinend mutwillig aufs Spiel setzten. Die bislang latenten Hoffnungen auf personelle und politische Veränderungen in der DDR wurden daher in dem Maße manifest, wie die Ausreisewelle die Einleitung von Reformen zur Überlebensfrage der DDR werden ließ.111 Dieser Problemdruck brachte Bewegung in die arrangierte Nischengesellschaft DDR; das kritische Ereignis der Ausreisewelle entfaltete seine Wirkung. Während ehrliche Auseinandersetzungen mit Staat und Partei vierzigJahre lang nur im Privaten stattgefunden hatten, wurde die Ausreisewelle und mit ihr die SED nun auch in der Öffentlichkeit zum »Thema Nummer eins«.112 Immer mehr gesellschaftliche Gruppen überwanden die Blockaden, die offene Kritik bis 1989 verhindert hatten, und wandten sich mit Protestresolutionen, Eingaben und Erklärungen an die SED. 3.2.1. Die DDR: »Heimstatt der Geborgenheit«? - 11. bis 21. September Nachdem die SED mit keinem Wort auf die Lücken eingegangen war, welche die Geflohenen zum Urlaubsende am 1. September in der DDR gerissen hatten, prallten die unterschiedlichen Wahrnehmungen am 11. September erneut 109 So mußte die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe des MfS am 11.9.1989 feststellen, daß die »Diskussionsinhalte von Werktätigen [...] in wachsendem Maße die Tendenz erkennen lassen, die Partei- und Staatsführung für die entstandene Lage verantwortlich zu machen, ihr, vor allem unter Hinweis auf die altersmäßige Zusammensetzung, die Fähigkeit abzusprechen, die vielfältigen Probleme zu lösen.« (MfS/ZAIG: »Hinweise auf beachtenswerte Reaktionen von Mitgliedern und Funktionären der SED zu einigen aktuellen Aspekten der Lage in der DDR und zum innerparteilichen Leben» (11.9.1989), in: Mitter/Wolle, S. 148.) 110 Klaus Bölling: »Ist Honecker ein Fremder im eigenen Land geworden?», in: die tageszeitung vom 21.8.1989, S. 5. 111 Vgl. Franz Bertele, der Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin, in der Welt am Sonntag vom 3.9.1989, S. 3: »Das wichtigste Thema, das die Menschen hier bewegt, [ist] die Frage, wird es grundsätzliche Reformen geben oder nicht.« 112 »Die Ausreiser sind bei meinen Fahrgästen derzeit Thema Nummer eins. Vor allem ältere schimpfen so offen und harsch wie noch nie auf ›die da oben‹«, so zitierte Der Spiegel vom 4.9.1989, S. 22 einen Ost-Berliner Taxifahrer.

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aufeinander. Für die Bevölkerung war die Massenausreise der Budapester Botschaftsbesetzer ein doppelter Verlust. Die Flüchtlinge - so ein junger Ost-Berliner - »fehlen uns doch nicht nur als Ärzte, Ingenieure und Facharbeiter. Jeder ist doch Freund, Verwandter, Kollege von Menschen hier. Jeder, der geht, verstärkt unsere Hoffnungslosigkeit.«113 Vor diesem Hintergrund erhielt eine Rede, die Hermann Axen einige Tage zuvor gehalten hatte, eine unfreiwillige Wirkung. Sie wurde am 11. September im Neuen Deutschland abgedruckt, so daß die Leser, während sie die Ankunft der jubelnden Flüchtlinge in Bayern am Radio oder im westdeutschen Fernsehen verfolgten, lesen konnten, was »die Bürger unseres Landes empfinden: Unsere sozialistische Heimat ist die Heimstatt des Friedens, der Humanität, der sozialen Sicherheit und Geborgenheit, in der ein jeder gebraucht wird und jeder die Möglichkeit hat, sich zu verwirklichen.«114 Die Diskrepanz in der Wahrnehmung der DDR als krisengeschütteltes Land auf der einen und einer Heimstatt der Geborgenheit auf der anderen Seite, wurde durch die Kommentare der Parteipresse zur Grenzöffnung noch weiter verstärkt. Ungeachtet der persönlichen Schicksale, die mit der Ausreisewelle verbunden waren, verurteilte das Neue Deutschland die Vorgänge in Ungarn als ein »eiskaltes Geschäft mit DDR-Bürgern«, die von Ungarn für »Silberlinge« an die Bundesrepublik verkauft worden seien, um dem westdeutschen Arbeitsmarkt billige und willige Arbeitskräfte zu verschaffen.115 Angesichts solcher Reaktionen zog die Auseinandersetzung um die Zukunft der DDR nach dem 11. September immer weitere Kreise und übersetzte sich in gesellschaftliche Bereiche, die bislang als SED-nah gelten mußten. Nachdem die Ausreiseproblematik in der Bevölkerung bereits seit dem Ferienende für Diskussionen gesorgt hatte, meldeten sich nun auch etablierte Verbände und Personen zu Wort, die die Sprachlosigkeit der Führung zum Anlaß nahmen, im Namen der DDR zu sprechen und für Veränderungen einzutreten.116 Die ersten, die das offizielle Schweigen durchbrachen, waren die Berliner Schriftsteller, deren Verband am 14. September »aus Sorge um die weitere Entwicklung« eine aufsehenerregende Erklärung veröffentlichte. Der Leidensdruck, unter dem Christa Wolf, Helga Königsdorf und andere die Erklärung verfaßt hatten, schlug sich in dem Text deutlich nieder: Angesichts der Lage im Land könne und wolle man »offizielle Verlautbarungen nicht hinnehmen, die behaupten, ›nichts, aber auch gar nichts‹ spreche ›für die Notwenigkeit einer Kurskorrektur^ Es ist uns unerträglich, wie die Verantwortung für diese Situa113 Zit nach Marlis Menge: »Der Widerspruch wird unerträglich», in: Die Zeit vom 15.9.1989, S.2. 114 Herrmann Axen: »Faschismus und Militarismus sind und bleiben in unserem Staat für immer ausgerottet», in: ND vom 11.9.1989, S. 3f., Zitat S. 4. 115 »Provokation gegen die DDR stabsmäßig organisiert», in: ND vom 12.9.1989, S. 2. 116 Zusammenfassend zu den Entwicklungen dieser Tage vgl. Fania Carlsson/Kuno Kruse/ Walter Süß: »Aufbruch ins eigene Land», in: Die Zeit vom 29.September, S. 17-20.

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tion abgeschoben wird, obwohl die Ursachen in nicht ausgetragenen Widersprüchen im eigenen Land liegen.«117 Zum Wohle der DDR müsse die Möglichkeit geschaffen werden, neue Ansätze und Ideen zu diskutieren und durchzusetzen. Wenige Tage später folgten die Rockmusiker und Unterhaltungskünstler mit einer Resolution, die jeweils vor den Konzerten der über 50 Unterzeichner verlesen wurde. Wiederum diente die Loyalität zum Land DDR als Legitimation der Kritik. »Wir wollen in diesem Land leben, und es macht uns krank, tatenlos mit ansehen zu müssen, wie Versuche einer Demokratisierung [...] kriminalisiert bzw. ignoriert werden.« Offen benannten die Unterzeichner »unerträgliche Ignoranz der Staats- und Parteiführung« als Ursache der Probleme der DDR. Die einzige Lösung bestehe darin, das »feige Abwarten« zu beenden und endlich eine offene und ehrliche Auseinandersetzung über die Probleme zu beginnen. Als eine Plattform dieses Dialogs wurde das kurz zuvor gegründete, oppositionelle Neue Forum »ausdrücklich« begrüßt.118 Zu einem weiteren Ort der Kritik wurde die Bundessynode des Evangelischen Kirchenbundes vom 15. bis zum 19. September in Eisenach. In einem ausführlichen Beschlußtext stellte die Synode Ursachen und Auswirkungen der Ausreisewelle dar und benannte Voraussetzungen dafür, »daß Menschen auch in unserem Land gerne leben.« Was Anfang des Monats in einem offenen Brief der Konferenz der Kirchenleitungen noch als Bitte an Honecker formuliert worden war, geriet nun zu einem Forderungskatalog: Wir brauchen, hieß es dort, »die offene und öffentliche Auseinandersetzung mit unseren gesellschaftlichen Problemen«; Reise-, Demonstrations- und Wahlfreiheit und eine »verantwortliche pluralistische Medienpolitik«.119 Die öffentliche Kritik der Schriftsteller, der Musiker und der Kirche war ein deutlicher Ausdruck für die katalysierende Wirkung der Fluchtwelle: Die Bedrohung der DDR transzendierte die Krisen in einzelnen Bereichen, deren spezifische Problemlagen angesichts der Ausreisewelle in den Hintergrund traten. Das fortgesetzte Schweigen der SED-Führung zwang immer neue gesellschaftliche Gruppen dazu, die etablierten Anpassungsmechanismen öffentlich zu durchbrechen. Als sich Mitte September erstmals auch etablierte politische Kräfte auf die Seite derer stellten, die sich der Starrheit der Führung ausgelie117 Erklärung des Schriftstellerverbandes Berlin vom 14.9.1989, in: MDV, Bd. I, S. 19. Die offizielle Verlautbarung, auf die sich der Text bezieht, stammt von Kurt Tiedke, dem Rektor der SED-Parteihochschule, im ND vom 30.8.1989, S. 3. 118 Resolution der Sektionen Rockmusik und Lied/Kleinkunst des Komitees für Unterhaltungskunst vom 18.9.1989, in: MDV, Bd. I, S. 22f. 119 Beschlußtext der Synode des Bundes der evangelischen Kirchen in der DDR vom 19.9.1989, in: MDV, Bd. I, S. 23-26, Zitate S. 25f Vgl. auch den Brief der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen an den Vorsitzenden des Staatsrates der DDR vom 2.9.1989, in: ebd., S. 6f.

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fert sahen, erreichte die kritische Wirkung der Ausreisewelle das politische System. Am 17. September wurde über die westdeutschen Medien ein offener Brief bekannt, den vier kirchlich gebundene Mitglieder der ostdeutschen CDU am Rande der Bundessynode verfaßt hatten. In dem so genannten Weimarer Brief forderten sie ihre Parteiführung auf, endlich Verantwortung zu übernehmen und »sich der Situation unseres Landes, wie sie wirklich ist, zu stellen.«120 Es war das erste öffentliche Anzeichen dafür, daß sich die gesellschaftliche Unruhe auch in den Reihen der Blockparteien niedergeschlagen hatte. In die »stehenge bliebene Zeit«,121 die der Dresdener Schriftsteller Thomas Rosenlöcher am 17. September in seinem Tagebuch beschrieb, platzte zwei Tage später eine Sensation: Manfred Gerlach, seit 1967 Vorsitzender der LDPD und seit 1960 stellvertretender Staatsratsvorsitzender, brach öffentlich das offiziell verordnete Schweigen. Die schlichte Anerkennung der Tatsache, »daß auch Mitglieder der LDPD das Land verlassen«,122 wirkte auf viele Bürger wie eine Erlösung, denn damit hatte erstmals ein Mitglied der Staatsführung erkennen lassen, daß man sich auch dort des Problems bewußt war. In ungewöhnlich offenen Worten setzte sich Gerlach über das Dogma des imperialistischen Angriffs hinweg, indem er anerkannte, daß die Führung für die Perspektivlosigkeit verantwortlich war, welche die Ausreisenden aus dem Land getrieben hatte. Wer allerdings diesen Vorstoß als Anzeichen einer Veränderung verstanden hatte, sah sich getäuscht. Nur wenige Tage nach der Stellungnahme Gerlachs erreichte die Pressekampagne der SED ihren vorläufigen Höhepunkt. Eine ausführliche Dokumentation über den Menschenhandel, der von den westdeutschen Medien fälschlich als Fluchtwelle dargestellt werde, hatte das Neue Deutschland bereits am 19. September veröffentlicht. Der als Mentholzigaretten-Story bekannt gewordene Erlebnisbericht von Hartmut Ferworn, »Ich habe erlebt, wie BRD-Bürger ›gemacht‹ werden», trieb die Absurdität jedoch auf die Spitze. Denn während sich die Parteipresse bislang noch darauf beschränkt hatte, die Ausreisewelle als großangelegte Abwerbungsaktion darzustellen, offenbarte Hartmut Ferworn, daß es sich tatsächlich um eine generalstabsmäßig organisierte Verschleppung handelte. Auf Seite 1 brachte das Neue Deutschland das Interview, in dem der Mitropa-Koch berichtete, wie er in Budapest von professionellen, westdeutschen Menschenhändlern mit einer Mentholzigarette betäubt worden sei, um wenig später in Wien den Medien zusammen mit anderen Verschleppten als glücklicher Neu-Bundesbürger präsentiert 120 M. Huhn/M. Kirchner/C. Lieberknecht/G. Müller: Weimarer Brief an die CDU der DDR, in: Gransow/Jarausch, S. 61-63, Zitat S. 62f. 121 Rosenlöcher, S. 15. 122 Manfred Gerlach: 40 Jahre DDR - historische Kontinuität und demokratische Erneuerung; Rede vom 19.9.1989 (veröffentlicht in der LDPD-Parteizeitung Der Morgen), in: MDV, Bd. I, S. 28f. Vgl. auch M. Gerlach, S. 270ff.

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zu werden. Nur durch die Hilfe der DDR-Botschaft in Wien sei es ihm gelungen, sich aus den Fängen der Schlepper zu befreien und in die DDR zurückzukehren.123 Artikel wie dieser taten das ihre dazu, die beklemmende Atmosphäre in der DDR zu verstärken. Die Tatsache, daß die Führung auch zwei Monate nach Beginn der Fluchtwelle noch zu glauben schien, der Bevölkerung weismachen zu können, daß es weder eine Massenflucht noch Probleme gäbe, erzeugte Zorn und Resignation. Es gab jedoch keine Alternative; wer bleiben wollte, konnte nur daraufwarten, daß das Politbüro endlich seinen Kurs korrigieren würde. Bis dahin blieb wenig mehr zu tun, als »das verhaltensgestörte Politbüro auf die Couch zu legen und immer wieder nach den Motiven für sein seltsames Tun zu forschen«,124 wie es Jurek Becker beschrieb. Mehr und mehr spitzte sich die Frage des Überlebens der DDR auf dieses seltsame Tun zu. Auch wenn die Motive der Kritik an der SED im einzelnen sehr unterschiedlich waren, zielten alle Äußerungen auf dasselbe Problem: das inadäquate Verhalten der Parteiführung. In der Angst um die Zukunft des Landes, im Unverständnis über das Politbüro und in der Überzeugung, daß Reformen unabdinglich waren, wuchs das Bewußtsein einer »Schicksals- und Notgemeinschaft«,125 in der Koalitionen und Gemeinsamkeiten möglich wurden, die nur wenige Wochen zuvor noch undenkbar gewesen wären. 3.2.2. »Man soll ihnen keine Träne nachweinen« 22. September bis 2. Oktober In die vordergründig so starre DDR kam Ende September zunehmend Bewegung. Die unhaltbare Situation und der Wille, die DDR lebenswert und zukunftsfähig zu machen, veranlaßte nun auch Gruppierungen von Gewerkschaften, FDJ und SED dazu, sich mit offenen Briefen an ihre Spitzenfunktionäre zu wenden.126 Erstmals artikulierte sich Protest auch in den Betrieben - für die Partei der Arbeiterklasse ein besonders sensibler gesellschaftlicher Bereich.127 123 »Ich habe erlebt, wie BRD-Bürger ›gemacht‹ werden», in: ND vom 21.9.1989, S. 1 und 3. 124 »Eine nicht ganz vollzogene Scheidung», Interview mit Jurek Becker in: die tageszeitung vom 25.9.1989, S. 12. 125 Karlheinz Blaschke (Dozent an der kirchlichen Hochschule Leipzig): »Ich bleibe», in: FAZ vom 5.10.89, S. 14. 126 Vgl. die Aufzählung offener Briefe in dem Bericht des MfS über »beachtenswerte Reaktionen von Antragstellern auf die Ablehnung der Anmeldung der Vereinigung Neues Forum» (2.10.1989), in: Mitter/Wolle, S. 185f. Siehe auch »Resolutionen setzen SED unter Druck», in: die tageszeitung vom 4.10.1989, S. 3. 127 Vgl. z.B. den »Offenen Brief der Vertrauensleute von Bergmann Borsig an Harry Tisch» (29.9.1989), in: MDV, Bd. I, S. 32-34.

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Gleichzeitig nutzten auch Schriftsteller und Künstler die Bühnen, die ihnen zur Verfügung standen, um sich auf ihre Weise öffentlich Gehör zu verschaffen. In der Tradition Brechts traten Schauspieler »aus ihren Rollen heraus»128 und machten die Theatersäle seit Ende September zu Orten der Kritik. Mitglieder der Semper-Oper, die Schauspieler der Berliner Sprechtheater und das Ensem­ ble des Staatstheaters Dresden nutzten Aufführungen, um Protestaufrufe zu verlesen.129 Einer Bühne ganz anderer Art bedienten sich die prominenten Schriftsteller der DDR, die sich in der letzten Septemberwoche zu Wort melde­ ten. Über Interviews und Erklärungen in den westdeutschen Medien griffen Lutz Rathenow, Stefan Heym, Stephan Hermlin und Christa Wolf in die Dis­ kussionen ein.130 Vor allem Christa Wolf warb dabei offen um Verständnis und Anerkennung für die oppositionellen Gruppen, die sie als Ausdruck einer wachsenden Bereitschaft der Bürger verstand, »den Begriff der Mündigkeit und der Reife mit Realität auszufüllen.« Trotz aller Schwierigkeiten der SEDFührung, sich einer offenen Diskussion zu stellen, sei die Forderung nach Dia­ log und öffentlicher Auseinandersetzung der richtige Weg, um nicht »die Re­ gierung in dumpfer Wut zu Maßnahmen zu drängen, die einer Selbstaufgabe nahekämen.«131 Zu Maßnahmen, die einer Selbstaufgabe nahekämen, wurde die SED Ende September jedoch weniger von innen als von außen gedrängt. Die Behörden der DDR hatten unmittelbar nach der ungarischen Grenzöffnung verschiede­ ne Schritte eingeleitet, um potentielle Flüchtlinge unter den Ungarnreisenden zu ermitteln und ihnen die Reise zu verwehren.132 Gleichzeitig verschärften die tschechoslowakischen Grenztruppen die Kontrollen an der Grenze zu Ungarn, so daß dieser Fluchtweg seit Mitte September abgeschnitten war. Dennoch kam es nicht zu der erhofften Eindämmung der Fluchtwelle. Die Ausreisewil­ ligen suchten und fanden vielmehr ein neues Ziel: die bundesdeutsche Bot­ schaft in Prag, die leicht zu erreichen war, da eine Reise in die ČSSR weder Paß noch Visum erforderte. Nachdem der Weg über Ungarn abgeschnitten war, setzte ein ungeahnter Ansturm auf Prag ein. Die Zahl von 400 DDR-Bürgern, 128 Vgl.: »Wir treten aus unseren Rollen heraus». Wortmeldung des Ensembles der Staatsthea­ ter Dresden (6.10.1989), in: ebd., S. 50f. 129 Vgl. »Aufruf von Mitgliedern der Semper-Oper» (29.9.1989), in: ebd., S. 34f.; Gemeinsa­ me Erklärung der Berliner Sprechtheater (4.10.89), in: die tageszeitung vom 6.10.1989; »Wortmel­ dung des Ensembles der Staatstheater Dresden» (6.10.1989), in: MDV, Bd. I, S. 50f. 130 Vgl. das Interview mit Lutz Rathenow im SRF am 21.9.1989 (in: Presse- und Informations­ amt der Bundesregierung, Bd. 6, S. 14a,b); das Interview mit Stephan Hermlin im Deutschlandfunk am 27.9.1989 (in der FAZ vom 28.9.1989, S. 2) und das Interview mit Stephan Heym im Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt (in: die tageszeitung vom 26.8.1989, S. 2). 131 Christa Wolf, Rede auf dem Symosium der Internationalen Ärzte gegen den Atomtod (1.9.1989, Ascona), zit. nach die tageszeitung vom 2.10.1989, S. 9. 132 Vgl. »Maßnahmeplan zum rechtzeitigen Erkennen und zur vorbeugenden Verhinderung des Mißbrauchs von Reisen nach der bzw. durch die Ungarische Volksrepublik», in: Mitter/Wolle, S. 151f.

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die sich am 18. September in der Botschaft aufhielten, schnellte innerhalb einer Woche auf 1.200 hoch. Am 28. September waren es bereits 2.500 Menschen, die sich auf dem Botschaftsgelände drängten.133 In dieser Situation war es ein für alle Beteiligten glücklicher Zufall, daß Ende September eine UN-Vollversammlung stattfand, denn am Rande der Tagungen bot sich die Möglichkeit zu informellen Gesprächen auf höchster Ebene. Unter dem Eindruck der stündlich steigenden Flüchtlingszahlen in Prag diskutierten Hans-Dietrich Genscher und der DDR-Außenminister Fischer in New York verschiedene Lösungswege, bis die DDR-Regierung am 30. September ihr Einverständnis zu einem Kompromiß signalisierte: Die Flüchtlinge sollten in Sonderzügen der Deutschen Reichsbahn die Prager Botschaft in Richtung Bundesrepublik verlassen können. Allerdings bestand die DDR darauf, die Flüchtlinge offiziell auszuweisen; die Züge mußten daher einen Umweg über DDR-Territorium in Kauf nehmen. Mit dieser Zusage flog Genscher am 30. September nach Prag. Um 18.58 Uhr am Abend desselben Tages setzte Genscher auf dem Balkon der Prager Botschaft zu einer Erklärung an: »Liebe Landsleute, wir sind gekommen, um Ihnen zu sagen...» der Rest ging im Jubel der inzwischen 3.500 Menschen unter.134 Noch in der gleichen Nacht passierten die Züge die DDR, gegen sechs Uhr morgens erreichten die ersten das bayerische Hof Insgesamt ca. siebentausend Flüchtlinge aus der DDR kamen im Laufe dieser Nacht und des nächsten Tages in die Bundesrepublik.135 Das Echo, das die Flüchtlingszüge in der DDR hervorriefen, war gespalten. Die Tatsache, daß Bürger aus der DDR flohen »als müßten sie einer Naturkatastrophe entkommen«,136 empfanden viele als bedrückend und demütigend. In die verbreitete Betroffenheit mischte sich gleichzeitig, wie die Zeit-Redakteurin Marlis Menge weiter berichtete, »blanke Wut« auf die Flüchtlinge, welche die DDR ohne Rücksicht auf die Zurückbleibenden verließen. Auch die Meldung, daß Eltern ihre Kinder verlassen hatten, um fliehen zu können, sorgte für Empörung. Wenn sich aber das Gefühl der Ausweglosigkeit in Teilen der Bevölkerung zunächst im Ärger über die Flüchtlinge entlud, reichte ein Satz im Neuen Deutschland des folgenden Tages, um die DDR-Führung wieder in den Mittelpunkt des Krisenbewußtseins zu rücken. In das Manuskript des Kom133 Vgl. zu der Entwicklung in Prag Herle, Mauer, S. 107ff. Zu den diplomatischen Bemühungen den Zeitzeugenbericht von Frank Elbe, dem Büroleiter Genschers, in: Kiessler/Elbe, S. 33-44. 134 Vgl. zu den Gesprächen in New York und den »bewegendsten Stunden meines Lebens» Genscher, S. 14-24. 135 Nachdem die Ausreise bekannt geworden war, waren zahlreiche DDR-Bürger noch in der Nacht nach Prag gekommen, so daß sich die Zahl der ungefähr viertausend Botschaftsbesetzer um noch einmal ca. dreitausend Personen erhöhte. Zeitgleich wurden auch die sechshundert Besetzer der Warschauer Botschaft ebenfalls mit Sonderzügen in die Bundesrepublik gebracht. 136 Marlis Menge: »Hoffentlich knallt es nicht», in: Die Zeit vom 6.10.1989, S. 9.

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mentars zu den Geflohenen, die sich - so der Titel - »selbst aus der Gesellschaft ausgegrenzt» hätten, hatte Honecker handschriftlich noch den Satz eingefügt: »Man sollte ihnen deshalb keine Träne nachweinen.«137 Dieser Versuch, Emotionen gegen die Flüchtlinge zu schüren, beruhte auf einem fatalen Fehlurteil. Denn bei aller Wut und Verärgerung über die Flüchtlinge dominierte in der Bevölkerung - und vor allem bei den Hunderttausenden, deren Freunde, Verwandte und Kollegen bereits geflohen waren, - das Gefühl eines schmerzlichen Verlustes. Der Zynismus der Parteiführung, die einen Massenexodus ihrer eigenen Bevölkerung ungerührt zur Kenntnis nahm, machte diesen Satz daher nicht nur für Christa Wolf zum Beispiel und Inbegriff der entmenschlichten Sprache der DDR.138 Selbst Mitglieder der SED hätten, berichtet Schabowski, wütend und verzweifelt in der Berliner Bezirksleitung angerufen, um zu fragen, ob »die Führung von allen guten Geistern verlassen» sei.139 Die polarisierende Auseinandersetzung um die Ausreisewelle hatte damit endgültig auch die Reihen der herrschenden Partei erreicht. Die Parteiführung ließ sich jedoch weiterhin durch nichts von ihrem Kurs abbringen; nicht durch Resolutionen, die inzwischen angeblich wäschekörbeweise im ZK eintrafen,140 nicht durch Interventionen von bekannten Schriftstellern oder von Politikern wie Gerlach, nicht durch die Krisenstimmung im Land. Die gesamte DDR, Führung wie Bevölkerung, wartete auf den 7. Oktober, den Tag des Jubiläums zum 40. Jahrestag der DDR. Bis dahin, das war offensichtlich, wollte die Führung nichts unternehmen, was ihrer Meinung nach das Renommee der DDR beschädigen oder die Feierlichkeiten stören könnte. Was jedoch danach passieren würde, war völlig ungewiß. »Die Frage ist«, so ein ungenanntes SED-Mitglied in der tageszeitung vom 4. Oktober, »geben sie dann nach - oder schlagen sie dann zu?«141 3.2.3. »Gorbi, rette uns« - 3. bis 7. Oktober Zunächst mußte die Führungjedoch noch einmal dem Druck der Fluchtwelle nachgeben. Innerhalb von nur zwei Tagen hatte sich die Prager Botschaft, die erst in der Nacht zum 1. Oktober geräumt worden war, erneut mit über fünf137 »Sich selbst aus der Gesellschaft ausgegrenzt», in: ND vom 2.10.1989, S. 2. Zu Honeckers handschrifticher Änderung Schabowski, Absturz, S. 235. 138 Vgl. Christa Wolf, Interview im Deutschlandfunk am 9.10.1989, in: Rein, Opposition, S. 155-165, bes. S. 160. 139 Schabowski, Absturz, S. 235f. 140 So zwei Mitarbeiter des ZK gegenüber den Verfassern einer Resolution der FDJ der Kunsthochschule Weißensee, vgl. T. Lehmann: »Uns allen hier ist zum Kotzen zumute», in: die tageszeitung vom 6.10.1989, S. 5. 141 Zit nach: »Resolutionen setzen die SED unter Druck», in: die tageszeitung vom 4.10.1989, S.3.

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tausend Flüchtlingen gefüllt. In dem Bestreben, das Ärgernis Prag bis zum 40. Jubiläum endgültig aus der Welt zu schaffen, traf die SED zwei folgenreiche Entscheidungen. Über die Tatsache, daß man den Besetzern die Ausreise ge­ statten mußte, bestand in der wie immer am Dienstagmorgen stattfindenden Politbürositzung am 3. Oktober kein Zweifel.142 Diskutiert wurde lediglich die Reiseroute, und hier setzte sich Honecker mit seinen Vorstellungen durch. Er lehnte die unauffällige Route über Bad Brambach ab und bestand statt dessen darauf, die Züge wie zuvor über Dresden und damit über 250 Kilometer DDRGebiet zu leiten, um so die Souveränität der DDR zu demonstrieren. Die Si­ tuation in Prag sollte diesmal jedoch nicht nur kurzfristig entspannt, sondern endgültig beendet werden. Dieses Ziel sollte durch die zweite Entscheidung realisiert werden: Noch am Nachmittag des gleichen Tages wurde der paß- und visafreie Verkehr in die ČSSR ausgesetzt, um »weitere Provokationen zum 40. Jahrestag der DDR«143 zu unterbinden. Ab 15.00 Uhr des 3. Oktobers war da­ mit die letzte Außengrenze der DDR geschlossen. In der Retrospektive ergeben die Maßnahmen der DDR-Führung eine Ket­ te, die das Problem der Ausreise immer näher an die DDR selbst heranbrach­ ten. Das Bestehen auf der Stempelpraxis an der ungarischen Westgrenze hatte die Ausreisewelle zunächst in die Budapester Botschaft gelenkt, mit der fakti­ schen Schließung der Grenze an der Donau war Prag zum Mittelpunkt gewor­ den. Jetzt - nach der Schließung der Grenze zur ČSSR - verlagerte sich das Problem in die DDR selbst zurück, und zwar zunächst nach Dresden, wo sich im Laufe des 3. Oktobers diejenigen versammelten, die auf dem Weg nach Prag von der Grenzschließung überrascht worden waren. Die Züge aus Prag schienen ihnen die letzte Hoffnung auf eine Ausreise zu bieten. Da die Route der Züge bekannt war, warteten sie vor dem Dresdener Hauptbahnhof, der auf der angekündigten Strecke lag. Als die Wartenden am gleichen Abend einen Zug auf dem ČSSR-Gleis fahren sahen, versuchten ver­ suchten von ihnen, den Zug zu stürmen. Polizei und Sicherheitskräfte hielten dagegen. Es begann eine mehrstündige Straßenschlacht in und um den Dres­ dener Hauptbahnhof, die erst morgens um 1 Uhr zu Ende ging. Am folgenden Tag riegelte die Polizei die Bahnhofseingänge ab, die seit dem Vormittag von Ausreisewilligen belagert wurden. Wiederum kam es am Abend zu Ausschrei­ tungen, in denen Wasserwerfer, Knüppel und Reizgas gegen die Demonstran­ ten eingesetzt wurden, die sich ihrerseits mit Flaschen und Steinen behalfen. Mittlerweile hatten die Züge mit den inzwischen 7.500 Flüchtlingen Prag ver­ lassen. Sie passierten Dresden in den frühen Morgenstunden des 5. Oktobers. 142 Vgl. zu den EntScheidungsprozessen Hertle, Mauer, S. 107ff. und C. Schnibben: »Makka­ roni mit Schinken, bitte» Wie Erich Honecker und sein Politbüro die Konterrevolution erlebten, Teil II, in: Der Spiegel vom 23.4.1990, S. 78-98; bes. S. 88f. 143 »Zur zeitweiligen Aussetzung des paß- und visafreien Verkehrs zwischen DDR und CSSR», in: ND vom 4.10.1989, S. 2.

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Die Belagerung des Bahnhofes war damit jedoch noch nicht zu Ende. Obwohl der eigentliche Grund für die Belagerung entfallen war, kam es am 5. und auch noch am 6. Oktober zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen. Die Bilanz der Tage vom 3. bis zum 6. Oktober waren zahllose Verletzte und fast tausend Verhaftungen.144 Was als Maßnahme zur Bereinigung des Ausreiseproblems gedacht gewesen war, hatte daher zum ersten und gleichzeitig letzten Mal im Herbst 1989 zu Auseinandersetzungen geführt, in denen Demonstranten die Gewalt der Sicherheitskräfte erwiderten. In den DDR-Medien wurde die äußerst peinliche Tatsache, daß im Vorfeld und noch während der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag gewalttätige Demonstrationen um den Dresdener Bahnhof tobten, konsequent verschwiegen.145 Nicht so allerdings in den westdeutschen Medien, die nicht nur das Prager Flüchtlingsdrama ausführlich dokumentierten, sondern seit dem 5. Oktober auch über die Zwischenfälle am Dresdener Hauptbahnhof berichteten.146 Zunächst in Wort-, seit dem 6. Oktober auch in Bildbeiträgen verbreiteten sie in der ganzen DDR die Nachricht, die von vielen befürchtet worden war: Die Bevölkerung hatte begonnen, die Gewalt des Staates mit Gegengewalt zu beantworten; die Gefahr eines Bürgerkrieges schien greifbar nahe.1478 Während die Straßenschlachten in Dresden noch andauerten, begannen in Berlin die Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR, der mit großem organisatorischen und propagandistischen Aufwand am 6. und 7. Oktober begangen wurde. Nichts ließ bei den offiziellen Festveranstaltungen darauf schließen, daß die Führung gewillt war, sich den immer dringlicher werdenden Forderungen nach Reformen zu stellen. Die Feierlichkeiten gerieten zu einer Selbstdarstellung der SED-Führung, die für sich selbst und für die ausländischen Staatsund Parteiführungen eine DDR inszenierte, die mit den realen Verhältnissen nur noch wenig gemein hatte. Honecker präsentierte in seiner Festansprache den Gästen aus dem In- und Ausland eine DDR, die in keinster Weise von Problemen belastet war. Anlässe zu Veränderungen sah er nicht. Jede Zeile der Rede war eine Enttäuschung für diejenigen, die auf Anzeichen einer Reform144 Zu den Ereignissen in Dresden siehe die ausführliche Dokumentation von Bahr. Zu den Verhaftungen und dem Verhalten der Sicherheitskräfte vgl. den Abschlußbericht der Untersuchungskommission an die Stadtverordnetenversammlung, ebd. S. 153-176. 145 Honecker selbst betonte vor Journalisten, in Dresden sei »alles normal, alle gehen ihrer Arbeit nach«, zit. nach die tageszeitung vom 7.10.1989, S. 2. 146 Vgl. die Programmabläufe der Tagesschau/Tagesthemen-Sendungen vom 5./6/7.10.1989. Freundlicherweise zur Verfügung gestellt durch die Redaktion der Tagesschau, NDR Hamburg, Bestand d. Vf. 147 So hieß es in der »Wortmeldung des Ensembles der Staatstheater Dresden», die am 6.10.1989 vor dem Hintergrund der Ereignisse am Dresdener Hauptbahnhof verfaßt wurde: »Ein Volk, das zur Sprachlosigkeit gezwungen wurde, fängt an, gewalttätig zu werden.«, in: MDV, Bd. I, S. 50f.

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Bereitschaft hofften. Vor allem Sätze wie, »unser Anliegen ist, daß die Bürger sich immer aktiver und konkreter an den Staatsgeschäften beteiligen«,148 sprachen der Situation im Lande Hohn. Sie offenbarten ein Maß von Zynismus und Wirklichkeitsferne, das die -wie das MfS am Tag nach den Jubiläumsfeierlichkeiten meldete - in Partei und Bevölkerung nunmehr offen diskutierte Erkenntnis beförderte, »daß die Partei- und Staatsführung nicht mehr in der Lage sei, die Situation real einzuschätzen und entsprechende Maßnahmen für dringend erforderliche Veränderungen durchzusetzen.«149 Nach wie vor aber sah sich die Bevölkerung vor die Frage gestellt, wer diese dringend erforderlichen Veränderungen würde einleiten können. Niemand wußte, daß Krenz und Schabowski inzwischen begonnen hatten, Honeckers Sturz vorzubereiten. Nach außen wirkte das Politbüro nach wie vor geschlossen. Wie verzweifelt die Suche nach Möglichkeiten, die Führung zum Einlenken zu bewegen, geworden war, zeigte sich nicht zuletzt darin, daß Gorbatschow in Berlin wie ein Retter in der Not begrüßt wurde. Er selbst berichtet in seinen Erinnerungen, daß er sich über die gesamten zwei Tage seines Besuches in Ost-Berlin mit den Rufen »Gorbatschow, hilf!», »Gorbatschow, rette uns» konfrontiert gesehen habe.150 Es lag aber nicht in Gorbatschows Interesse, die DDR innenpolitisch durch offene Kritik zu destabilisieren. Daher verzichtete er in seinen Ansprachen und Äußerungen auf die von vielen erhoffte direkte Mahnung an die SED, sich den Prinzipien der perestroika nicht länger zu verschließen. Die Probleme in der DDR sprach er nur in sehr allgemeiner Form an und betonte gleichzeitig sein Vertrauen in die Kompetenz der SED. Trotzdem wurde der Ruf nach ›Gorbi‹ auf den Demonstrationen laut, die am Abend des 7. Oktobers in vielen Städten der DDR stattfanden. Die Spannung hatte inzwischen, so Jens Reich, dessen Tochter an diesem Abend im Polizeikessel im Prenzlauer Berg gefangen war, »jenen Grad von Leidensverachtung«152 erreicht, der die Furcht vor Repressionen aufhob. Mehrere zehntausend Bürger demonstrierten in Leipzig, Dresden, Plauen, Karl-Marx-Stadt, Magdeburg, Jena, Arnstadt und Potsdam für Reformen in der DDR. Auch in Ost-Berlin kam es zu Protesten, die hier wie auch in allen anderen Städten von den Sicherheitskräften außerordentlich brutal aufgelöst wurden.152 Die SED demonstrierte nachhaltig, daß sie bereit war, alle Kritik als Staats- und sozia148 Erich Honecker: Festansprache zum 40. Jahrestag der DDR (6.10.1989), in: ND vom 9.10.1989, S. 3. 149 MfS/ZAIG: »Hinweise über Reaktionen progressiver Kräfte auf die gegenwärtige innenpolitische Lage in der DDR» (8.10.1989), in: Mitter/Wolle, S. 204-207, Zitat S. 204. 150 Vgl. den Bericht über den Staatsbesuch am 6. und 7. Oktober 1989 in Ost-Berlin in Gorbatschow, Erinnerungen, S. 933-935. Siehe auch »Gorbatschow: Hier kann uns nichts mehr erstaunen», in: die tageszeitung vom 7.10.1989, S. 1,2 und Schabowski, Absturz, S. 238ff. 151 Jens Reich: Gethsemanekirche -in Trance, in: Reich, S. 175-177, Zitat, S. 176. 152 Zu den Ereignissen in Berlin, Leipzig und Dresden vgl. Dahn/Kopka; Berliner Verlags-Anstalt Union und Neues Forum Leipzig, S. 64-71.

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lismusfeindlich abzutun und notfalls mit Gewalt zu unterdrücken. Völlig losgelöst von den Entwicklungen zeigte sich die Staatsführung immun gegen alle Krisenzeichen. Nichts, so schien es, konnte das Politbüro zum Einlenken bewegen. Eine Lösung der Krise war nicht abzusehen, und es stand zu befürchten, daß die SED tatsächlich hoffte, sich ohne Reformen bis zum nächsten Parteitag retten zu können, der im Mai 1990 stattfinden sollte. Das Bild eines Dampfdrucktopfs drängt sich auf: Die Grenzen waren geschlossen, jeder Ausweg versperrt, die Erkenntnis, daß es so nicht weitergehen könne, allgegenwärtig und die SED erhaben über jede Kritik- die Situation war zum Zerreißen gespannt. »Nur einen Funken«, so Bärbel Bohley am 5. Oktober, brauche es, »damit hier irgend etwas losgeht.«153 Dieser Funken sollte nur zwei Tage nach den Jubiläumsfeierlichkeiten überspringen. Er kam schneller als irgendjemand zu erwarten gewagt hätte und zudem nicht aus Berlin, sondern aus Leipzig. Dort kulminierten in der Montagsdemonstration vom 9. Oktober die Prozesse, die von der Ausreisewelle ausgelöst worden waren: 70.000 Menschen wußten keinen anderen Ausweg mehr, als sich über die Gefahr einer chinesischen Lösung hinwegzusetzen und auf die Straße zu gehen, während die entscheidungs- und handlungsunfähige Führung die Demonstration nicht verhindern konnte. Mit dieser Demonstration zeichnete sich eine neue Perspektive für die DDR ab. Ein neuer Akteur hatte die politische Bühne der DDR betreten und bot die unerwartete Möglichkeit, Bewegung in die ausweglose Situation zu bringen. Ruft man sich abschließend die eingangs beschriebenen Elemente der bewegungsfeindlichen Umwelt DDR in Erinnerung, wird deutlich, daß die Ausreisewelle einen grundlegenden Bruch in der Entwicklung der DDR herbeigeführt hatte. Die »befreiende Verunsicherung«154 durch die Ausreisewelle überwand innerhalb weniger Wochen einen maßgeblichen Teil der politischen, sozialen, individuellen und sozialpsychologischen Barrieren, die bis zum Sommer 1989 der Mobilisierung von Protest entgegengestanden hatten. Die Angst vor der Repression und der Rückzug ins Unpolitische wurden vor dem Hintergrund der Ausreisewelle fragwürdig, die Fragmentierung der Gesellschaft angesichts der umfassenden Bedrohung durch das kritische Ereignis aufgehoben. Die Krise des Septembers 1989 stellte die etablierten Strukturen, Verhaltensund Anpassungsmuster in Frage. Innerhalb der festgefügten Gesellschaft der DDR eröffnete sich damit der Raum für etwas Neues, für einen neuen gesellschaftlichen Akteur. Vor allem die Sprachlosigkeit der SED-Führung setzte das Mobilisierungspotential einer Bewegung frei, die im Namen von Dialog und Öffentlichkeit für eine Demokratisierung der DDR eintrat. Sie bot allen, die Veränderungen in der DDR für nötig hielten, eine Möglichkeit, sich selbst für 153 Bärbel Bohley am 5.10.1989, zit. nach: die tageszeitung vom 6.10.1998, S. 1. 154 Fischbeck u.a., S. 1208.

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diese Veränderungen zu engagieren, anstatt der SED-Führung weiterhin ohnmächtig und tatenlos zusehen zu müssen. Mangels anderer Artikulationsmöglichkeiten konnte die Zuspitzung des Krisenbewußtseins in der DDR daher zur Formierung einer sozialen Bewegung führen, die Unzufriedenheit in Protest transformierte und ein Ventil für den Handlungsdruck bot. Allerdings bot die Stimmung in der Bevölkerung nur die notwendige, nicht aber die hinreichende Bedingung für die Konstituierung der Bürgerbewegung. Die Ausreisewelle erzeugte zwar das Potential der Bewegung, nicht aber die Bewegung selbst. Denn die Umsetzung des Mobilisierungspotentials in Protestwar kein Selbstläufer. Sie bedurfte organisatorischer Kristallisationspunkte, an die sich der Protest anlagern konnte, und ideeller Deutungsangebote, in deren Rahmen die Unzufriedenheit gebündelt und die Krise interpretiert werden konnte. Unter diesen Voraussetzungen erfolgt im folgenden Kapitel ein grundlegender Wechsel der Perspektive. Standen bislang die Voraussetzungen, Rahmenbedingungen und äußeren Faktoren im Mittelpunkt der Darstellung, wendet sich die Untersuchung nunmehr der sozialen Formierung der Bewegung zu. In den Mittelpunkt tritt die Umsetzung der Unzufriedenheit in Protest, der sich Anfang September an zwei Orten auf zwei unterschiedliche Arten entwickelte: in Berlin, wo sich verschiedene oppositionelle Gruppen gründeten, und in Leipzig, wo sich der Protest in Demonstrationen Bahn brach.

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III. Die soziale Formierung der Bürgerbewegung September 1989 Soziale Bewegung ist ein kollektiver Handlungszusammenhang, der sich sowohl von kurzlebigen, spontanen Aktionen als auch von organisiertem Handeln unterscheidet. Auf keines dieser beiden Elemente kann eine soziale Bewegung verzichten. Sie braucht Spontaneität, um in Bewegung zu bleiben, sie bedarf aber auch der Organisation, um ihren Zielen und Aktionen eine gewisse Konsistenz zu verleihen. »Das Besondere der sozialen Bewegung«, betont daher Joachim Raschke, »liegt gerade in der Dialektik zwischen den (Bewegungs-)Organisationen und den fluiden Teilen der Bewegung.«1 Vor allem in der Phase der Formierung einer Bewegung haben die organisierten Trägergruppen jedoch eine besondere Bedeutung: Sie artikulieren Unzufriedenheit, zeichnen die Linien des Konfliktes vor, formulieren die Ziele und Ursachen des Protests und bieten der entstehenden Bewegung Handlungsmöglichkeiten und Wertorientierungen an. Die hervorgehobene Stellung der Bewegungsorganisationen hat dazu geführt, daß die Formierung einer Bewegung in der westlichen Forschung oft als ein Prozeß verstanden wird, den die Trägergruppen gezielt herbeiführen, indem sie versuchen, durch Mobilisierungskampagnen Anhänger und Ressourcen zu gewinnen, um ihre Ziele durchzusetzen.2 Einen solchen, gezielt herbeigeführten Mobilisierungsprozeß für die DDR zu unterstellen, wäre absurd. Das rechtfertigt es jedoch nicht, den Herbst 1989 als eine »Revolution ohne Vordenker«3 zu verstehen. Denn auch wenn die Mobilisierung nicht gezielt erfolgte, bleibt die Tatsache bestehen, daß die Unzufriedenheit nicht im luftleeren Raum in Protest überführt wurde. Es handelte sich vielmehr um eine Entwicklung, in deren Verlauf die Unzufriedenheit in der DDR zunächst an zwei Orten öffentlich artikuliert wurde. Die Leipziger Montagsdemonstrationen und die oppositionellen Gruppen in Berlin, die jeweils im September 1989 Gestalt gewannen, waren die ersten Keime der sich formierenden Bewegung. Sie nahmen die Linien vorweg, entlang derer sich der Protest später landesweit entfaltete. Die Entwicklungen in Leip1 Raschke, Grundriß, S. 80. 2 Vgl. die klassische Formulierung des Ressourcenmobilisierungs-Ansatzes bei McCarthy/ Zald. Die Nichtanwendbarkeit dieses Ansatzes auf die Bewegungen in Osteuropa betonen Tarrow, Aiming undJohnson. 3 Joachim Fest: »Schweigende Wortführer«, in: FAZ vom 30.12.1989, S. 25.

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zig und Berlin wurden dabei jeweils auf ihre Art strukturbildend für die Aktionen der Bürgerbewegung, die im Oktober durch Friedensgebete und Demonstrationen einerseits und durch die Gründung oppositioneller Gruppen andererseits Menschen in der ganzen DDR mobilisieren sollte. Wenn im folgenden die Leipziger Friedensgebete und die Formierung der oppositionellen Gruppen zunächst getrennt untersucht werden, so deshalb, weil es sich um zwei unabhängige Entwicklungen handelte, die beide einer jeweils eigenen Logik folgten. Spannungen im oppositionellen Milieu hatten bereits vor 1989 bei verschiedenen Vertretern der DDR-Friedensbewegung den Wunsch geweckt, neue Strukturen der politischen Arbeit zu schaffen. Unabhängig voneinander waren seit Ende 1988 mehrere Initiativen verfolgt worden, die im September 1989 in eine Welle von Neugründungen in und um Berlin mündeten. Die Vorgeschichte der Leipziger Friedensgebete reicht sogar noch weiter, bis 1981, zurück. Sie hatten sich im Laufe der achtziger Jahre als ein Ort der Selbstverständigung etabliert, dessen Reichweite so lange nicht über das oppositionelle Milieu hinausging, bis die Ausreisewilligen 1988 zu den Gottesdiensten stießen. Ohne die Ausreisewelle des Sommers 1989 wären diese Veränderungen das geblieben, was sie ursprünglich waren: milieuinterne Prozesse, die von der Bevölkerung der DDR kaum wahrgenommen wurden. Die Ausreisewelle aber veränderte die Bedingungen elementar. Die Versuche, durch Friedensgebete und politische Vereinigungen Foren einer unabhängigen Öffentlichkeit zu schaffen, die als Ansatzpunkt einer gesellschaftlichen Veränderung von unten dienen sollten, trafen nunmehr auf ein immenses Protestpotential, dem jegliche Artikulations- und Handlungsmöglichkeit fehlte. In dieser historischen Situation kam es zu einer Interaktion zwischen der Bevölkerung und der Opposition. Das kritische Ereignis Ausreisewelle führte die Friedensgebete, die oppositionellen Gruppen und das gesellschaftliche Protestpotential zu einem Aktionsbündnis gegen die Sprachlosigkeit der SED zusammen. Um handlungsfähig zu werden, bedurfte das Protestpotential organisatorischer Strukturen vor Ort und fand diese in den Friedensgebeten, die bereits zuvor begonnen hatten, den Raum der Kirche zu verlassen, um die Straße als Ort des Protests zu erobern. Um die Unzufriedenheit breitenwirksam artikulieren zu können, bedurfte es politischer Sprecher, welche die Ursachen der Unzufriedenheit und die Ziele des Protests fokussierten. Mit dieser Aufgabe sahen sich die im September in Berlin gegründeten Gruppen konfrontiert. Sie bündelten den Protest auf der politischen Ebene und wurden, ohne daß sie es geahnt hätten, zu den Sprechern einer demokratischen Massenbewegung. Trennt man daher die Mobilisierungsdynamik einer sozialen Bewegung in die zwei Schritte der Konsens- und Aktionsmobilisierung,4 kommt den oppo4 Vgl. Kla nderma ns.

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sitionellen Gruppen analytisch die Funktion zu, durch die Propagierung ihrer Anliegen und Forderungen den ideellen Konsens des Protests hergestellt zu haben, während die Friedensgebete vor Ort zum Kristallisationspunkt der Aktionen wurden. Zusammen stellten sie die Kerne einer Bewegung dar, welche die bis an die Grenze des Unerträglichen zugespitzte Unzufriedenheit in Protest überführte und innerhalb von Wochen mehrere Hunderttausend Menschen in einen kollektiven Handlungszusammenhang einbezog. 1. Die Trägergruppen der Bürgerbewegung 1.1. Netzwerkmobilisierung 1988/89 Am 17. Januar 1988 war es am Rande der offiziellen Kampfdemonstration zu Ehren von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zu Protestaktionen gekommen, die von der Arbeitsgruppe Staatsbürgerschaftsrecht, in der sich vor allem Ausreisewillige engagierten, initiiert worden waren. Über hundert Demonstranten wurden verhaftet, unter ihnen zum einen zahlreiche Ausreisewillige, zum anderen aber auch prominente Vertreter der oppositionellen Szene Berlins. Wenige Tage später folgte eine zweite Verhaftungswelle, in deren Verlauf Freya Klier, Bärbel Bohley, Werner Fischer, Ralph Hirsch, Lotte und Wolfgang Templin inhaftiert wurden. Diese Vorgänge lösten eine DDR-weite Solidaritätswelle aus, die zum bislang größten Mobilisierungserfolg der DDROpposition wurde.5 Allerdings gelang es den Sicherheitskräften, die schwelenden Konflikte zwischen den oppositionellen Gruppen, den Ausreisewilligen und der Kirche so geschickt zu schüren, daß die Welle der Solidarität innerhalb von Tagen in sich zusammenbrach. Die Ausreiseproblematik wurde so gezielt mit den Anliegen der Opposition vermischt, daß sich die Zurückgebliebenen von den Abgeschobenen, den Ausreisewilligen und von der Kirchenleitung verraten und verkauft fühlten.6 Zum Abschluß der so genannten Aktion Störenfried konnte die Bezirksverwaltung der Staatssicherheit Berlin im Februar 1988 daher zufrieden Bilanz ziehen: »Insgesamt kann eingeschätzt werden, daß [...] in der Mehrzahl der Gruppierungen eine desolate Situation eingetreten

5 In Berlin, Leipzig, Dresden und vielen anderen Städten fanden Mahnwachen und Infomationsveranstaltungen statt, in Berlin kamen bis zu dreitausend Menschen zu den Solidaritätsgottesdiensten, siehe Rüddenklau, S. 171ff., 203ff.; Neubert, Geschichte, S. 696-700. 6 Die Kirchenleitung hatte sich für eine humanitäre Lösung eingesetzt und das bedeutete angesichts der drohenden Haftstrafen eine »Konfliktlösung durch Abschiebung«, die der Kirchenleitung als »Komplizenschaft« mit dem Staat ausgelegt wurde. Vgl. Erklärung der »Kirche von Unten« vom 20.2.1988, zit. nach Rüddenklau, S. 222.

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ist.«7 Innerhalb der Berliner Oppositionsgruppen herrsche Enttäuschung und Unsicherheit, die Gruppen seien gespalten und aktionsunfähig.8 Zu diesem Zeitpunkt gab es in der DDR etwa dreihundert oppositionelle Gruppen, deren Mitgliederzahl sich durchschnittlich auf ca. zwanzig Personen belief.9 Sie waren dezentral und basisdemokratisch organisiert und hatten seit 1986 erfolgreich versucht, durch Samisdat-Zeitschriften, Bibliotheken und regelmäßige Treffen dem SED-Regime einen Bereich staatsunabhängiger Öffentlichkeit abzutrotzen. Die engere Vernetzung zwischen den Gruppen hatte es mit sich gebracht, daß einige Personen innerhalb der Szene eine hervorgehobene Position einnahmen. Es hatte sich eine milieuinterne Elite10 gebildet, die eine informelle Führungsrolle ausübte. Tschiche zählte ca. hundert Personen zu diesem Kreis, das MfS bezifferte den »harten Kern [... der] maßgeblichen Organisatoren/ Inspiratoren politischer Untergrundtätigkeit«11 auf sechzig Personen. Es war dieser harte Kern, für den die Ereignisse der Luxemburg-Affäre 1988 zu einem »Paukenschlag«12 wurden, wie es Markus Meckel im Nachhinein beschrieb. Für Meckel und andere wurde das Scheitern der Mobilisierungswelle zum Ausweis der Unzulänglichkeiten der bisherigen oppositionellen Arbeit. Die basisdemokratischen Strukturen verurteilten die Gruppen zur programmatischen Handlungsunfähigkeit, organisatorisch waren die dezentralen Netzwerke nicht fähig, schnell und republikweit zu agieren, die Opposition war weitgehend von Stasi-Spitzeln unterwandert und vom Wohlwollen der Kirchenleitungen abhängig.13 Die Erfahrungen des Frühjahrs 1988 führten daher zu der Erkenntnis, daß neue Strukturen der oppositionellen Arbeit geschaffen werden mußten. Die aus der Sicht des MfS höchst erfolgreiche Repression im Rahmen der Aktion Störenfried wurde so zum Anstoß für eine Entwicklung, 7 MfS/BVfS Berlin, Abt. XX: »Einschätzung der derzeitigen Reaktionen in den operativ bedeutsamen Gruppierungen des politischen Untergrundes der Hauptstadt« (16.2.1989), in: Rüddenklau, S. 239-242, Zitat S. 239. 8 Ein beredetes Beispiel der internen Zerstrittenheit ist die Schmähschrift, in der Reinhard Schult die Ausgewiesenen als »gewogen und für zu leicht befunden« bezeichnete. Vgl. Extrablatt des Friedrichsfelder Feuermelder, April 1988, in: Rüddenklau, S. 223-232. 9 Ulrike Poppe zählte 1988 325 Gruppen, die im Netzwerk Frieden konkret erfaßt waren (Poppe, Potential, S. 68) Eine Studie des Kirchlichen Forschungsheimes Wittenberg bezifferte die Anzahl 1988 auf 316 Gruppierungen, vgl. Neuben, Geschichte, S. 705f. Zu den Zahlen und thematischen Schwerpunkten vgl. auch Choi, S. 191ff. 10 Vgl. Wielgohs/Johnson, S. 347. 11 MfS/ZAIG: »Information über beachtenswerte Aspekte des aktuellen Wirksamwerdens innerer feindlicher, oppositioneller und anderer negativer Kräfte in personellen Zusammenschlüssen« (1.6.1989), in: Mitter/Wolle, S. 46-71, Zitat S. 48. 12 Meckel, Konsequenzen, S. 59. 13 Vgl. den Tagebucheintrag Martin Gutzeits vom 3.2.1988, in dem Gutzeit die Probleme der Opposition reflektiert und Konsequenzen für ein weiteres oppositionelles Engagement zieht, in: Meckel/Gutzeit, S. 353f.

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die im September des folgenden Jahres in der Gründung des Neuen Forums und der anderen Vereinigungen resultieren sollte. Noch im Sommer 1988 kam es zu ersten Initiativen und Diskussionen darüber, wie die Opposition ihre Handlungsfähigkeit wiedergewinnen konnte. Zwei unterschiedliche Ansätze kristallisierten sich dabei heraus. Zum einen setzte man darauf, festere und verbindlichere Strukturen zu schaffen. Diesem Ansatz war etwa das Projekt »Bürgerbeteiligung - Verein zur Förderung der Mitarbeit am gesellschaftlichen und politischen Leben in der DDR« verbunden, das Markus Meckel und Martin Gutzeit im Juni 1988 verfolgten. Die beiden späteren Gründer der SDP entwarfen ein Vereinsstatut, das bindende Beschlüsse durch Mehrheitsentscheidungen und gewählte Sprecher mit Mandat vorsah. Unter Beibehaltung der basisdemokratischen Grundstruktur hofften sie damit das Problem zu überwinden, daß »(wir) bei jeder Diskussion von vorn mit der Klärung der Frage anfangen mußten, was wir wollen oder nicht wollen.«14 Die zweite Linie der Auseinandersetzung betrafweniger die internen Schwächen der Gruppen, sondern die äußeren Blockaden, namentlich die Abhängigkeit von der evangelischen Kirche. Ihre ambivalente Pufferfunktion zwischen Staat und Gruppen hatte seit Mitte der achtziger Jahre immer häufiger zu Konflikten geführt. Es handelte sich dabei, wie Detlef Pollack gezeigt hat, weniger um einen Zielkonflikt als um einen Konflikt um die Mittel. Beide, Kirche wie Gruppen, strebten eine Veränderung der DDR-Gesellschaft an. Während die Gruppen jedoch offensiv für Reformen eintraten, blieben die leitenden Kirchenfunktionäre ihrer Strategie treu, durch Verhandlungen mit dem Staat schrittweise Verbesserungen zu erreichen.15 Das Interesse der Kirche, provokative Aktionen zu verhindern, um das Verhältnis zu den staatlichen Stellen nicht zu stören, führte dazu, daß das ambivalente Verhalten der Kirche im Sozialismus seitens der Aktivisten der Friedensbewegung zunehmend als Bevormundung empfunden wurde.16 So war für Bärbel Bohley das humanitäre Engagement der Kirche während ihrer Verhaftung in der Luxemburg-Affäre der Anlaß zum endgültigen Bruch mit der Kirche, deren Hilfe in Bohleys Sicht vor allem darin bestanden habe, »daß ich schnell im Westen landete [...]. Sie haben alle nur daraufhingearbeitet, daß wieder Ruhe in der DDR ist.«17 Aber auch kirchenloyale Vertreter der Opposition sahen 1988 die Zeit gekommen, den Raum der Kirche zu verlassen. Alle Initiativen und Überlegun14 Diskussionsbeitrag von Markus Meckel in: Deutscher Bundestag/Enquete-Kommission, Bd. VII/1, S. 292. Zum »Vereinsprojekt Bürgerbeteiligung« siehe den Entwurf in Meckel/Gutzeit, S. 355f. 15 Vgl. Pollack, Außenseiter, S. 1219f. 16 Vgl. etwa die Diskussionsäußerung von Katrin Eigenfeld in: Deutscher Bundestag/EnqueteKommission, Bd. VII/1, S. 256: »Sie haben uns wohlmeinend schützen wollen, behüten wollen, damit entmündigt und die Arbeit sehr erschwert.« 17 Bärbel Bohley, Interview, in: Findeis u.a., S. 55.

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gen dazu, wie eine handlungsfähige Opposition beschaffen sein müßte, gingen von der Tatsache aus, daß die Kirche strukturell nicht in der Lage war, die Rolle einer »Ersatzopposition«18 zu spielen. Die treibende Kraft hinter den Initiativen war daher die Erkenntnis, daß das Ziel der Opposition, die Herstellung von Öffentlichkeit, solange nicht erreicht werden konnte, wie sich diese Öffentlichkeit auf den Binnenraum der evangelischen Kirche beschränkte.19 Um einen gesamtgesellschaftlichen Dialog in Gang zu bringen, mußte der Aktionsradius über den kirchlichen Schutzraum hinaus in die Gesellschaft hinein erweitert werden. Es waren vor allem Einzelpersonen und kleine Kreise, die seit der Jahreswende 1988/89 verschiedene Projekte und Ideen einer Neuorganisation der Opposition verfolgten.20 Gutzeit und Meckel hatten inzwischen ihr Vereinsprojekt aufgegeben. Während sie zuvor die Gründung einer oppositionellen Partei, wie sie Hans-Jochen Tschiche schon seit Beginn 1988 vorschwebte, abgelehnt hatten, kamen sie im Januar 1989 überein, eine sozialdemokratische Partei gründen zu wollen.21 Zeitgleich, doch ohne von den anderen Initiativen zu wissen, beschäftigten sich auch Rainer Eppelmann und Steffen Reiche mit der Möglichkeit einer sozialdemokratischen Parteigründung. Tschiche verfolgte demgegenüber inzwischen die Idee eines offenen »Forums, in dem alle Bürger drin sein können.«22 Auch Bärbel Bohley dachte eher an eine breite Sammlungsbewegung als an eine Partei. Seitdem sie im August 1988 aus dem erzwungenen West-Exil zurückgekehrt war, plädierte sie eindringlich für ein entschiedeneres Vorgehen, um konstruktive Gegenpositionen und Veränderungsperspektiven entwickeln zu können.23 Auf dem Treffen »Frieden konkret VII«, zu dem Ende Februar 1989 fast zweihundert Delegierte verschiedener Gruppen aus der ganzen DDR nach Greifswald kamen, wurde erstmals im größeren Rahmen über die Vorstöße beraten. Fertige Konzepte gab es zu dieser Zeit noch nicht; die Diskussion war nach wie vor im Fluß. So stand neben Anträgen, aus Frieden konkret eine institutionalisierte Vereinigung zu machen, der Vorschlag Tschiches, aus dem Seminar her18 Friedrich Schorlemmer: »Gesellschaft und Verantwortung in der DDR«, Vortrag am 4.9.1989 in der Reformierten Kirche Leipzig, in: Rein, Opposition, S. 138-149, Zitat S. 148. 19 Bei aller Anerkennung ihrer Leistungen konnte die Kirche, so formulierte es Martin Gutzeit, »die Gesellschaft als Sphäre des Politischen nicht ersetzten.« Vgl. das Interview in Herzberg/von zur Mühlen, S. 92. 20 Die im folgenden dargestellten Entwicklungen sind bislang kaum weiter systematisch untersucht worden. Hinweise finden sich bei Gutzeit, Weg, S. 91 ff; Wielgohs/Johnson und Neubert, Geschichte, S. 827ff 21 Vgl. die Statuten- und Programmentwürfe aus der Zeit von Februar bis Juli 1989 (AdsD, Bestand Martin Gutzeit I, Bl. llff). 22 Hans Jochen Tschiche, Interview in Rein, Revolution, S. 432. 23 Vgl. Bärbel Bohley: »DDR-Zwischenzeiten«, in: Grenz/all 1-12/1988, S. 28-30 (MDA, Schuber Grenzfall).

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aus eine Vereinigung zur Erneuerung der Gesellschaft zu gründen. Daneben warb Markus Meckel um Anhänger für sein Vorhaben einer sozialdemokratischen Parteigründung. Das Plenum lehnte alle Vorschläge jedoch ab. Die Delegierten sahen sich durch festere Strukturen in ihrer organisatorischen und programmatischen Eigenständigkeit gefährdet und beharrten darauf, daß die Vielfältigkeit der Arbeitsformen und Ziele gewährleistet bleiben müsse.24 Diejenigen, die wie Bärbel Bohley gegen die oppositionellen »Weltverbesserer«25 polemisierten und sich dafür einsetzten, daß die DDR-Friedensbewegung sich programmatisch wie organisatorisch zu ihrer Rolle als Opposition bekennen sollte, sahen sich durch die abwehrende Haltung der Mehrheit der Gruppen in ihren Erwartungen enttäuscht. Die Erkenntnis, daß es unmöglich war, den, wie Meckel es nannte, »so breit ausdifferenzierten Haufen«26 in eine gemeinsame, handlungsfähige Vereinigung zu transformieren, führte zur letzten Etappe auf dem Weg zu den Gründungen im September 1989. Da die Versuche, die oppositionellen Strukturen insgesamt zu reorganisieren, gescheitert waren, verlegten sich die Initiatoren darauf, Einzelpersonen aus ihren bisherigen Gruppen herauszulösen und für die Gründung neuer Vereinigungen zu gewinnen. Als Reaktion auf den Widerstand der Mehrheit der oppositionellen Szene kam es zu einer Reorganisation der Milieuelite. Die weitere Entwicklung war geprägt von verschiedenen, miteinander konkurrierenden Einzelinitiativen. Unter konspirativen Umständen wurden Treffen und Kontakte genutzt, um potentielle Gründungsmitglieder und Anhänger zu werben. Dabei kristallisierten sich im Juni schließlich erste konkrete Gründungsvorhaben heraus. Es war bekannt, daß Bärbel Bohley, Katja Havemann und Rolf Henrich planten, am 9./10. September zusammenzukommen, um eine programmatisch offene Vereinigung zu gründen, die legal angemeldet werden sollte.27 Parallel dazu warben auch Gutzeit und Meckel für ihr Projekt einer sozialdemokratischen Partei. Eine dritte Initiative formierte sich am Rande eines Kolloquiums der Evangelischen Studienabteilung am 21./22. Juni, als Edelbert Richter, Friedrich Schorlemmer, Ehrhart Neubert, Wolfgang Schnur, Rainer Eppelmann und Rudi Pahnke vereinbarten, sich am 21. August in Dresden zu treffen, um konkrete Schritte zur Gründung einer weiteren Vereinigung abzusprechen. Schon zu diesem frühen Zeitpunkt zeichnete sich ab, daß die drei Initiativen später auch zu drei verschiedenen Gründungen, zum Neuen 24 Zu den Diskussionen auf dem Seminar siehe Neubert, Geschichte, S. 793-800. Auch der Bericht des MfS spiegelt die Organisationsdebatten wider, vgl. »Information über die Durchführung des sogenannten Friedensseminars ›Konkret für den Frieden VII‹ vom 24. bis 26. Februar 1989 in Greifswald« (4.3.1989), in: Mitter/Wolle, S. 21-27. 25 Bärbel Bohley: »DDR-Zwischenzeiten«, in: Grenzfall 1-12/1988, S. 28-30, Zitat S. 29 (MDA, Schuber Grenzfall). 26 Markus Meckel, Interview in Herzberg/von zur Mühlen, S. 119. 27 Zu den Überlegungen und Vorbereitungen, die zur Gründung des NF führten, siehe das Interview mit Bärbel Bohley in Philipsen, S. 294ff.

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Forum, zur Sozialdemokratischen Partei und zum Demokratischen Aufbruch, führen würden. Was unterschied die einzelnen Gruppen voneinander? Das Konzept einer offenen Dialogplattform, das vor allem von den Initiatoren des späteren Neuen Forums vertreten wurde, war mit der Idee einer Parteigründung prinzipiell unvereinbar. Denn bei den Auseinandersetzungen um die Organisationsformen ging es nur in zweiter Linie um die Frage von lockeren oder verbindlichen Strukturen. Hinter den unterschiedlichen Ansichten standen zwei sich gegenseitig ausschließende Denkansätze. Während Gutzeit und Meckel ein repräsentatives Demokratieverständnis verfochten, das eine demokratisch legitimierte Herrschaft grundsätzlich anerkannte, war »das Legitime der politischen Macht als Handlungsautorität« bei den übrigen oppositionellen Gruppen »kaum im Blick«,28 wie Ulrike Poppe rückschauend feststellte. Sie waren in hohem Maße dem charakteristischen Zug der osteuropäischen Zivilgesellschafts-Konzepte verpflichtet, deren Kernpunkt nicht in einer Demokratisierung, sondern in der Abschaffung von Staat und Herrschaft bestand. Anstatt Regierungsgewalt und Verantwortung an politische Leitungsgremien zu delegieren, sollte sich die Gesellschaft ihrem Ideal zufolge selbst organisieren, so daß politische Macht in einem herrschaftslosen Zustand aufgehoben werden konnte. Diese in den Worten Konráds anti-politische Meinungs- und Willensbildung sollte allein durch eine pluralistische Vielfalt von autonomen Verbänden getragen werden. Angesichts ihrer Funktion, einen herrschaftsfreien Dialog zu ermöglichen, durften diese Verbände notwendigerweise nicht hierarchisch strukturiert sein. Es bedurfte inhaltlich und organisatorisch offener Plattformen, in denen, so der Gründungsaufruf des Neuen Forums, »die vielfältigen Einzel- und Gruppenaktivitäten zu einem Gesamthandeln finden« 29 könnten. Letztlich lag diesem basisdemokratischen Modell die Prämisse einer fundamentalen Identität von Einzel- und Allgemeininteresse zugrunde. Nur auf der Basis dieser Überzeugung war die Annahme sinnvoll, daß ein gesamtgesellschaftlicher Dialog über kurz oder lang auch zu einem gesamtgesellschaftlichen Konsens führen werde. Diese Prämisse wurde von Meckel und Gutzeit jedoch als »strukturell totalitär«30 verworfen. Als Konsequenz aus dieser Überzeugung sahen sie eine Partei als einzig sinnvolle Organisationsform an: »Warum eine Partei? Eine Partei deshalb, weil sie vom Begriffe her schon klar sagt, sie ist ein Teil, ein pars, d.h. ein Teil, das sich zwar um die allgemeinen Angelegenheiten kümmert, aber nicht glaubt, für alle reden zu können, sondern nur 28 Poppe, Weg, S. 261. »Der Staat,« so fährt sie in ihrer Rückschau fort, »einerseits direkt oder potentiell Unterdrückungsinstrument und andererseits anachronistisch geworden [...] müsse zur Machtabgabe an die aufgeklärte, zivile Gesellschaft gezwungen werden.« 29 »Aufbruch '89- Neues Forum«, in Rein, Opposition, S. 13-14, Zitat S. 14, Herv. des Vf. 30 Markus Meckel, Interview in Herzberg/von zur Mühlen, S. 119.

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für die, die sich hinter das Parteiprogramm stellen.«31 Dieser Schritt hin zu einer parlamentarischen Demokratie implizierte nicht zuletzt auch die prinzipielle Anerkennung von Staat und Herrschaft: »Demokratisierung«, so betonte der SDP-Initiativaufruf ausdrücklich, »bedeutet nicht die Aufhebung des Staates und seines Gewaltmonopols, sondern demokratische Kontrolle der einzelnen [...] staatlichen Institutionen.«32 Mit diesem Bekenntnis zur Legitimität staatlicher Herrschaft wandten sich die Gründer der SDP gegen die Auffassung des überwiegenden Teiles der DDR-Opposition, die in einer repräsentativen Demokratie bestenfalls eine »Zwischenstufe«33 auf dem Weg in eine herrschaftslose zivile Gesellschaft sah. Bei ihren Versuchen, weitere Gründungsmitglieder zu finden, stießen Meckel und Gutzeit bis in den Sommer 1989 hinein daher zumeist auf entschiedene Ablehnung.34 Während die Initiatoren der SDP aus konzeptionellen Gründen eine eigenständige Gründung verfolgten, waren die Differenzen, welche die übrigen Initiativkreise trennten, weniger weltanschaulicher als persönlicher Art. Ein Versuch Richters, Bohley und Eppelmann dazu zu bringen, ihre Initiativen zugunsten eines gemeinsamen Vorgehens zurückzustellen, scheiterte im Juni an den unüberbrückbaren wechselseitigen Antipathien.35 Der einzige Kompromiß, den die beiden schließen konnten, bestand in der Vereinbarung, daß den Treffen ihrer jeweiligen Gruppen bis zum 1. Oktober keine öffentlichen Verlautbarungen folgen sollten.36 Diese Frist schien genug Zeit für die notwendigen Vorbereitungen zu lassen. Wie vereinbart traf sich der Kreis um Eppelmann am 21. August in Dresden. Die neun Anwesenden, acht Pfarrer und ein Laie, beschlossen, zunächst eine Vereinigung zu gründen, die den programmatischen Namen »Demokratischer Aufbruch« tragen sollte. Als Termin der Gründung wurde der 1. Oktober festgelegt. Bis dahin sollten nach dem Schneeballsystem weitere Anhänger geworben werden, indem jeder der Anwesenden zehn weitere Gründungsmitglieder gewann.37 Nach einem ähnlichen System gingen auch die Initiatoren der SDP 31 Meckel, Konsequenzen, S. 60. 32 »Aufruf zur Bildung einer Initiativgruppe mit dem Ziel, eine sozialdemokratische Partei ins Leben zu rufen«, in: Rein, Opposition, S. 86. 33 Werner Fischer, Interview in: Findeis u.a., S. 105. Vgl. auch Jochen Läßig (Neues Forum Leipzig): »Für mich gibt es drei Stufen von Demokratie: die höhere, die Basisdemokratie, die parlamentarische Demokratie und als letzte gar keine Demokratie«, in: ebd., S. 139. 34 Vgl. etwa Meckel, der betonte, die Mehrheit der Angesprochenen habe »mit einer parlamentarischen, das heißt repräsentativen Demokratie nichts am Hut« gehabt, Interview in Herzberg/ von zur Mühlen, S. 121. 35 Vgl. E. Richter, S. 15f. 36 Die Existenz dieses Stillhalteabkommens bestätigen zahlreiche Beteiligte, vgl. E. Richter, S. 15f. und die Interview in Philipsen mit Mehlhorn (S. 211), F. Eigenfeld (S. 227), Wagner (S. 229) und Eppelmann (S. 241). Allein Bärbel Bohley negierte später, daß es dementsprechende Absprachen gegeben habe (ebd. S. 297). 37 Vgl. E. Richter, S. 16f; Schorlemmer, S. 312; Eppelmann, S. 335ff.

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vor, um Unterstützer zu werben. Meckel und Gutzeit hatten bereits Ende Juli einen ersten programmatischen »Aufruf zur Bildung einer Initiativgruppe mit dem Ziel, eine sozialdemokratische Partei ins Leben zu rufen« verfaßt. Auf einem Menschenrechtsseminar, das am 25./26. August in der Berliner Golgathagemeinde veranstaltet wurde, fanden sie in Ibrahim Böhme und Arndt Noack zwei weitere Befürworter ihrer Idee. Zu viert bildeten sie die Initiativgruppe und beschlossen, in den nächsten Wochen unter ihren Bekannten noch zusätzliche Mitglieder zu werben, mit denen am 7. Oktober ein Gründungsakt vorgenommen werden sollte. Allerdings war zu diesem Zeitpunkt noch nicht entschieden, ob im Oktober eine Partei oder eine Parteiinitiativgruppe ins Leben gerufen werden würde. Denn ursprünglich waren Gutzeit und Meckel von einem zweistufigen Vorgehen ausgegangen, das zunächst die Konstituierung einer etwa zehnköpfigen Vorbereitungsgruppe vorsah, der die eigentliche Parteigründung ein Jahr später folgen sollte.38 Eine ähnlich langfristige Perspektive verfolgten auch das zu dieser Zeit noch nicht gegründete Neue Forum und der Demokratische Aufbruch. Auch ihre Initiatoren planten vorerst nur die Gründung einer Gruppe von 30 bis 50 Personen, die in der Folge als organisatorischer Kern zum Aufbau landesweiter Strukturen dienen sollte. Schon beim nächsten Treffen der SDP-Gründer am 12. September stand die Frage Partei oder Initiativgruppe jedoch nicht mehr zur Diskussion, denn inzwischen hatte die Ausreisewelle die Handlungsbedingungen radikal verändert. Nun mußte gesprungen werden. 1.2. Das »Plattform-Fieber« - September 1989 Aus der Perspektive eines Beteiligten hat Reinhard Schult die Gruppengründungen treffend beschrieben als »Versuche, die Grenzen des politisch Machbaren zu testen und zu erweitern.«39 Diese Grenzen veränderten sich seit Anfang September schlagartig. Die laufenden Gründungsvorbereitungen erhielten durch die Ausreisewelle eine grundsätzlich neue Bedeutung und eine ungeahnte Dynamik. Denn in der Wahrnehmung der Akteure war die Opposition der DDR-Friedensbewegung die einzige gesellschaftliche Instanz, die die »fatale Alternative auflösen« konnte, »in die die Politik der SED dieses Land geführt hat. Die Alternative heißt: entweder Fortsetzung der Politik der SED oder Chaos«.40 Die Umsetzung der Gründungsinitiativen im September und Okto38 Vgl. die Interviews mit Gutzeit in Herzberg/von zur Mühlen, S. 93ff.; Meckel, ebd. S. 212ff.; Bogisch, ebd. S. 214ff. 39 Reinhard Schult: »Von der Bürgerbewegung zur organisierten Verantwortungslosigkeit«, Presseerklärung vom 7.9.1995, S. 2 (RHA, Ordner: Presseauswertung, Band S, ohne Pag.). 40 Friedrich Schorlemmer in einem Interview am 20.8.1989, gesendet am 30.8.1989 in der ZDF-Sendung Kennzeichen D, in: Schorlemmer, S. 198-203, Zitat S. 199.

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ber erfolgte daher in einer doppelten Frontstellung: zum einen gegen die Ausreisewelle und in dem Bestreben, dazu beizutragen, »daß dieser Flächenbrand sich nicht weiter ausbreitet«,41 und zum anderen gegen die SED, die mit ihrem Verhalten gegenüber der Ausreisewelle die Opposition in ihrer Kritik drastisch bestätigte. Der seit Jahren thematisierte Mangel an Öffentlichkeit nahm mit der Weigerung der SED, angesichts der Ausreisewelle eine öffentliche Fehlerdiskussion zuzulassen, bedrohliche Ausmaße an. Das Jahrelange Bemühen der Opposition, Öffentlichkeit herzustellen, schien das Gebot der Stunde zu sein. Die zivilgesellschaftlichen Überzeugungen boten der Opposition aber nicht nur geeignete Interpretationsansätze, die es ihr erlaubten, die gesellschaftliche Krise in den Kategorien Öffentlichkeit, Dialog, Mündigkeit42 und Demokratie zu deuten. Die Strategie der sich selbst beschränkenden Revolution wies darüber hinaus auch einen Weg der Veränderung, der in dem Moment besonders erfolgsversprechend war, in dem die Staatsführung jegliche Initiative zur Lösung der Krise vermissen ließ. Anstatt weiterhin auf Reformen von oben zu hoffen, setzte man darauf, Möglichkeiten einer aktiven gesellschaftlichen Eigeninitiative von unten zu schaffen.43 Vor dem Hintergrund der Ausreisewelle erschienen die laufenden Gründungsvorbereitungen, die zunächst eine Reaktion auf oppositionsinterne Probleme gewesen waren, nunmehr als ein Ausweg aus der akuten gesellschaftlichen Krise der DDR. In dem Maße wie die SED demonstrierte, daß sie auch um den Preis eines völligen Legitimationsverlustes nicht gewillt war, ihr Herrschaftsmonopol aufzugeben, gewannen die allen Initiativen gemeinsamen Forderungen nach Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung, Versammlungs-, Meinungs- und Pressefreiheit, freien Wahlen und sozialer Gerechtigkeit an Bedeutung. Erstmals in der Geschichte der Opposition verband sich damit die Hoffnung, der seit Jahren kritisierten Abgrenzung zwischen Führung und Bevölkerung eine Alternative entgegenzustellen, die über den Raum der evangelischen Kirche hinaus eine gesamtgesellschaftliche Akzeptanz finden könnte.44 Bevor jedoch die Mechanismen und Kanäle untersucht werden, durch die die Gruppen an die Öffentlichkeit gingen, sollen zunächst die vier für die Mobilisierungsphase entscheidenden Gründungen kurz dargestellt werden.45 41 Hans-Jochen Tschiche, Interview in: Die Welt vom 14.9.1989, S. 4. 42 Vgl. Friedrich Schorlemmer: »Erst wenn wir diesem Land im Streit die Treue halten [...] statt entmündigt zu fliehen und Entmündigte zurückzulassen, erst dann wird es wirklich weitergehen.« (F. Schorlemmer: »Gesellschaft und Verantwortung in der DDR«, Vortrag am 4.9.1989 in der Reformierten Kirche Leipzig, in: Rein, Opposition, S. 138-149, Zitat S. 148.). 43 In diesem Sinne erklärte Bärbel Bohley auf die Frage »Was will das Neue Forum?«: »Wir wollen den Dialog eröffnen, nicht mit der Regierung, die ja augenblicklich ziemlich gesprächsunfähig scheint, sondern untereinander«, Interview mit der Abendzeitung vom 13.9.1989, S. 7. 44 »Die Bevölkerung sagt: ›Es muß endlich etwas geschehen. Wenn doch jemand da wäre, der es mache‹«, Hans-Jochen Tschiche, Interview in: Die Welt vom 14.9.1989, S. 4. 45 In dieser Darstellung der Trägergruppen bleibt die IFM, die weiterhin unter ihrem alten

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Die erste Gruppe, die sich im Herbst 1989 konstituierte, war das Neue Forum, das am 9./10. September im Haus von Katja Havemann, der Witwe Robert Havemanns, in Grünheide bei Berlin gegründet wurde. 30 Personen hatten sich an diesem Wochenende getroffen, um, wie Jens Reich die Motive der Beteiligten beschrieb, »endlich aus dieser wuseligen Unverbindlichkeit herauszukommen und eine legal angemeldete Vereinigung zu gründen.«46 Die Zusammensetzung des Kreises war ein Ausdruck der erfolgreichen Netzwerkmobilisierung der vergangenen Wochen und Monate. Nur die Hälfte der Anwesenden war aus Berlin, neben fünfÄrzten, vier promovierten Physikern und vier Theologen befanden sich auch drei Studenten, ein Krankenpfleger und ein Drechsler im Kreis der Gründer. Darüber hinaus umfaßte die Initiativgruppe nicht nur prominente Aktivisten der DDR-Friedensbewegung wie Bärbel Bohley, Martin Böttger, Katja Havemann, Hans-Jochen Tschiche und Sebastian Pflugbeil, sondern auch Vertreter der ›»reputierlichen‹ Gesellschaft«47. Dieses Element wurde vor allem durch die Mitglieder des Freitagskreises um den Molekularbiologen Jens Reich repräsentiert; ein Lese- und Debattierzirkel, der sich seit den siebziger Jahren mit philosophischen, historischen und zeitgeschichtlichen Fragestellungen befaßt hatte. Dazu kam mit Rolf Henrich eine profilierte, wenngleich innerhalb der oppositionellen Szene nicht unumstrittene Figur.48 Auf dem Treffen in Grünheide entstand der Gründungsaufruf »Aufbruch '89- Neues Forum«. Der Text, der maßgeblich auf Entwürfen von Jens Reich und Rolf Henrich basierte, begann mit der programmatischen Zeile: »In unserem Land ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört.« Um diese Kommunikation wieder in Gang zu bringen, ohne vorgefertigte Programme vorzugeben, verzichtete der Aufruf auf inhaltliche Festlegungen. Die Konsequenz, die aus einem kurzen Abriß gesellschaftlicher Probleme gezogen wurde, beschränkte sich auf die Feststellung, daß es dringend an der Zeit sei, Möglichkeiten zu schaffen, um die Widersprüche offen, legal und DDR-weit zu thematisieren. Da in den bestehenden Strukturen keine Artikulationsmöglichkeiten gesehen wurden, wollte man diesem Dialog ein neues Forum schaffen: »Wir bilden deshalb gemeinsam eine politische Plattform für die ganze DDR, die es Menschen aus allen Berufen, Lebenskreisen, Namen agierte, ebenso unberücksichtig wie die Vereinigte Linke (VL), da beide Gruppen keine entscheidende Bedeutung für die Mobilisierungsphase hatten. Zur IFM siehe Templin/weißhuhn; zur VL Wielgohs, Vereinigte Linke. 46 Reich, S. 184. Zur Entstehungsgeschichte des Neuen Forums siehe Schulz und Pflugbeil. 47 Reich, S. 185. 48 Henrich, SED-Mitglied und Rechtsanwalt in Eisenhüttenstadt, hatte im Frühjahr 1989 das Buch »Der vormundschaftliche Staat« im Westen veröffentlicht, in dem er das Versagen der SED in einer eigenwilligen Mischung aus sozialistischen, zivilgesellschaftlichen und metaphysischen Kategorien analysiert hatte. Zur Person Henrichs siehe Neubert, Geschichte, S. 773f. 49 »Aufbruch '89- Neues Forum«, in Rein, Opposition, S. 13-14, Zitat S. 14.

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Parteien und Gruppen möglich macht, sich an der Diskussion und Bearbeitung lebenswichtiger Gesellschaftsprobleme in diesem Land zu beteiligen.«49 Alle Bürger, die an einer demokratischen Umgestaltung der Gesellschaft mitwirken wollten, wurden aufgerufen, sich an dieser Diskussion zu beteiligen und Mitglied des Neuen Forums zu werden, dessen Tätigkeit durch die Anmeldung als Vereinigung auf eine legale Basis gestellt werden sollte.50 Noch am gleichen Tag übergaben Bohley und Havemann den hektographierten Text befreundeten westlichen Journalisten. Die Nachricht von der Gründung überraschte nicht nur die Öffentlichkeit in Ost und West, sondern auch die anderen Gründungsinitiativen, mit denen im Juni vereinbart worden war, bis zum 1. Oktober alle Verlautbarungen zurückzuhalten. Durch den Alleingang des Neuen Forums sahen sich die anderen Initiativen unter Zugzwang gesetzt.51 Die laufenden Vorbereitungen wurden weiter forciert, und schon bevor die Gründungsveranstaltungen stattgefunden hatten, begann zwischen den einzelnen Gruppen ein Wettlauf um Popularität und Medienpräsenz; die »Medienkönige«, bemerkte Gerd Poppe Ende September spöttisch, begannen sich zu »kabbeln«.52 Der Demokratische Aufbruch, dessen Gründung für den 1. Oktober geplant war, profitierte dabei von dem Zufall, daß Richter und Eppelmann unabhängig voneinander zu dieser Zeit im Westen waren. Nachdem sie aus den Medien von der Gründung in Grünheide erfahren hatten, nutzten sie unverzüglich die Gelegenheit, um ihrerseits in Interviews in Presse und Fernsehen die Ziele des Demokratischen Aufbruchs zu propagieren, dessen Gründung allerdings noch nicht vollzogen war. In die dramatischen Fernsehberichte über die Fluchtwelle mischten sich so ab Mitte September mehr und mehr die Nachrichten von einer sich formierenden DDR-Opposition. Auch am Arbeitskreis Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung waren die Auseinandersetzungen um eine Neuorientierung der Opposition nicht vorbeigegangen. Vor allem Ulrike Poppe hatte sich in den Diskussionen um das Wie und Warum oppositioneller Neugründungen engagiert, und schon am 13. August, dem Jahrestag des Mauerbaus, hatten Mitglieder des Kreises auf einer Versammlung in der Berliner Bekenntniskirche dafür plädiert, eine landesweite Sammlungsbewegung ins Leben zu rufen.53 Die Ausreisekrise in der Kategorie 50 Die offizielle Anmeldung entsprang weniger, wie Reich später spöttisch bemerkte, der Tendenz deutscher Revolutionäre, Bahnsteigkarten zur Revolution zu lösen (Reich, S. 187), sondern der Überzeugung, daß ein gesellschaftlicher Dialog nicht nur legitim ist, sondern auch legal sein muß. 51 So machte Harald Wagner, Gründungsmitglied des DA, die durch den Alleingang des NF entstandene Dynamik dafür verantwortlich, daß es nicht zu einer gemeinsamen Plattform der Opposition kam, vgl. das Interview in Philipsen, S. 229ff 52 Gerd Poppe, zit. nach Fania Carlsson u.a. »Aufbruch ins eigene Land«, in: Die Zeit vom 29.9.1989, S. 18. 53 Vgl. »Die DDR-Opposition geht an den Start«, in: die tageszeitung vom 15.8.1989, S. 3. Zur Entstehungsgeschichte von DJ siehe Wielgohs/Müller-Enbergs; Fischbeck; Bickhardt, Revolutionsromantik und Mehlhom, DemokratieJetzt.

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der Abgrenzung zu interpretieren, lag nahe. Die Fluchtwelle ließ sich als Abgrenzung der Ausreisewilligen von der DDR verstehen ebenso wie das Verhalten der SED ihre Abgrenzung von der Bevölkerung der DDR demonstrierte. Um diesen Prozessen entgegenzutreten, nutzten die Mitglieder des Arbeitskreises ein lange zuvor vereinbartes Arbeitstreffen am 12. September zur Gründung der Bürgerbewegung Demokratie Jetzt. Im Unterschied zum Neuen Forum, das gezielt versucht hatte, Personen aus verschiedenen Bereichen einzubinden, rekrutierten sich die Gründer von Demokratie Jetzt fast vollständig aus dem Arbeitskreis um Ludwig Mehlhorn, Ulrike Poppe, Konrad Weiß, Stephan Bickhardt und Wolfgang Ulimann. Ähnlich wie das Neue Forum sah auch Demokratie Jetzt seine Aufgabe darin, der politischen Krise des staatssozialistischen Systems durch die Initiierung eines basisdemokratischen Dialogs zu begegnen. Der noch auf dem Gründungstreffen vorgebrachte Vorschlag, gleich mit dem Neuen Forum zu fusionieren, wurde allerdings abgelehnt. Zum einen sah Demokratie Jetzt in der vom Neuen Forum angekündigten offiziellen Anmeldung ein unnötiges Risiko, vor allem aber stieß die dezidierte programmatische Offenheit der Dialogplattform Neues Forum auf Ablehnung. Demokratie Jetzt griff demgegenüber auf eine Strategie zurück, die sich in den Jahren zuvor schon im »Konziliaren Prozeß« bewährt hatte.54 Um nicht wie das Neue Forum »die ganze Kümmerlichkeit des Nullpunktes ertragen«55 zu müssen, verfaßten die Initiatoren die »Thesen für eine demokratische Umgestaltung in der DDR«, die mit dem Gründungsdokument »Aufruf zur Einmischung in eigener Sache« veröffentlicht wurden. Jeder Leser war aufgefordert, sich mit Verbesserungs- und Änderungsvorschlägen zu diesem »ersten unfertigen, unvollständigen und verbesserungswürdigen Gesprächsbeitrag«56 an die Kontaktadressen zu wenden. So sollte ein wechselseitiger Dialog zwischen der Bevölkerung und den Initiatoren in Gang gebracht werden, der inhaltlich nicht am Nullpunkt beginnen mußte und dennoch offen für alle Meinungen und Interessen blieb. Sowohl von Demokratie Jetzt als auch vom Neuen Forum unterschied sich wiederum der Demokratische Aufbruch. Nachdem die Gruppe durch die Stellungnahmen seiner Initiatoren in den West-Medien bereits seit Mitte September bekannt geworden war, kamen am 1. Oktober ca. achtzig Oppositionelle nach Berlin, um die formale Gründung zu vollziehen. Die in den vergangenen Wochen nach dem Schneeballsystem mobilisierten Unterstützer waren, wie Neubert später feststellte, »ein bunter Haufen mit großem Spannungsbogen«.57 Da es sich zumeist um Freunde und Kollegen der Initiatoren handelte, waren kirchliche Mitarbeiter und Laien unter ihnen stark vertreten. 54 55 56 57

Zum Konziliaren Prozeß in der DDR siehe Ziemer. Rolf Henrich, Interview in: die tageszeitung vom 27.9.1989, S. 2. »Aufruf zur Einmischung in eigener Sache«, in: Rein, Opposition, S. 59-61; Zitat S. 61. Interview mit Eberhart Neubert, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 40 (1989), S. 762.

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Als die Gründungsmitglieder wie vereinbart am 1. Oktober um 14.00 Uhr zum beabsichtigen Ort der Gründung, der Samariterkirche in Berlin, kamen, sahen sie sich jedoch einem großen Aufgebot von Sicherheitskräften gegenüber, die ihnen den Zugang zur Kirche verwehrten. Erstmalig versuchte die Staatsmacht, die durch den IM Wolfgang Schnur über die Absichten und Pläne genau informiert war, die Gründung einer Gruppe zu verhindern. Das gelang jedoch nur unvollständig. Ein Teil der Anwesenden wich in die Wohnung Neuberts aus, die ebenfalls nach kurzer Zeit abgeriegelt wurde. Der Rest traf sich in den Räumen der Gemeinde von Ruth Misselwitz in Pankow, so daß schließlich in zwei getrennten Runden - mit übereinstimmenden Ergebnissen58 - über die Gründung debattiert wurde. Die Drohung der Sicherheitskräfte, die Versammlungen aufzulösen, wurden nach einem Vermittlungsversuch von Bischof Forck nicht in die Tat umgesetzt; am Abend war es Eppelmann, Neubert und Pahnke sogar noch möglich, eine improvisierte Pressekonferenz abzuhalten.59 In programmatischer Hinsicht war der DA den beiden bereits gegründeten Gruppen sehr ähnlich.60 Allerdings wollten die Gründer, wie die Staatssicherheit besorgt feststellte, »im Gegensatz zum ›Neuen Forum‹ stärker das ›politische Handeln‹ in den Vordergrund stellen«.61 Seinem Selbstverständnis nach wollte der DA nicht eine offene Dialogplattform, sondern eine handlungsfähige, programmatisch arbeitende Organisation aufbauen, die im Falle eines Einlenkens der SED die Interessen der Bevölkerung gegenüber der Regierung vertreten könnte.62 Daher versuchte man, »dieses Verschwommene«63 des NF zu überwinden, indem verbindliche Organisationsstrukturen angestrebt wurden. Die Gründung einer Partei wurde jedoch abgelehnt, da man die Bedingungen für einen Parteienpluralismus noch nicht gegeben sah. Auch wenn das Vorhaben einer Partei als langfristige Perspektive nicht aufgegeben wurde, waren die Initiatoren des DA der Meinung, »daß es erst mal nötig ist, daß alle die,

58 »Die Absprachen, die in der Wohnung getroffen wurden entsprechen fast genau den Vorstellungen der Pankower Gruppe. Schreiben Neuberts an die Teilnehmer der Treffen am 1.10.1989 (2.10.1989), ACDP Bestand Michael Walter: VI-064-003, ohne Pag. 59 Zur Entstehungsgeschichte des DA siehe Kammradt, S. 48ff; E. Richter, S. 15-28; Eppelmann, S. 335ff. und Neubert, Aufbruch. 60 »Die Unterschiede inhaltlicher Art sind nicht gravierend. Außerdem gibt es Absprachen«, Edelbert Richter im Interview mit der tageszeitung vom 16.9.1989, S. 7. Vgl. dazu die frühen Programm- und Statutenentwürfe des DA (ACDP, Bestand Michael Walter: Vl-064-003, ohne Pag.). 61 MfS/ZAIG: »Information über eine geplante Zusammenkunft zur Konstituierung einer oppositionellen Sammlungsbewegung Demokratischer Aufbruch‹« (29.9.1989), in: Mitter/Wolle, S. 178-179, Zitat S. 178. 62 Schon am 20.8.1989 hatte Schorlemmer erklärt, er hoffe darauf, daß »ein Dialog erst einmal in der Partei stattfindet, und die Partei dann in der Gesellschaft Dialogpartner sucht, die sich aber erst organisieren müssen«, Interview mit Friedrich Schorlemmer, gesendet am 30.8.1989 im Kennzeichen D, in: Schorlemmer, S. 200. 63 Edelbert Richter im Interview, in: Dornheim/Schnitzler, S. 42-49, Zitat S. 46. 137 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35925-0

die demokratische Öffentlichkeit überhaupt wollen, sich zusammenfinden.«64 Darüber hinaus hätte eine Parteigründung den expliziten Schritt in die Illegalität bedeutet, und das hätte die Möglichkeit, einen konstruktiven und legalisierten gesellschaftlichen Dialog zu eröffnen, grundsätzlich in Frage gestellt.65 Diese Bedenken hatten die Initiatoren der SDP inzwischen hinter sich gelassen. Während die anderen Gruppen schon an die Öffentlichkeit traten, hielt sich die Initiativgruppe der SDP zunächst noch bedeckt. Die beabsichtigte Gründung einer Partei erforderte nicht nur eine intensivere inhaltliche Vorbereitung, sondern bedeutete auch, daß sich die Gründer in besonderem Maße von Repressionen des MfS bedroht sahen, so daß die Arbeit unter konspirativen Umständen vorangetrieben wurde.66 Bevor es am 7. Oktober zur Gründung kam, hatte eine zehnköpfige Gruppe die wesentlichen Vorarbeiten geleistet. Ohne daß Anleihen bei der westdeutschen SPD gemacht worden waren, lag ein Statut im Entwurf vor; die programmatischen Schwerpunkte ebenso wie der Name der Partei waren bereits beschlossen.67 Die Diskussion über den Ort der Gründung hatte in der Nacht vom 1. auf den 2. Oktober auf kleinen Zetteln stattgefunden, die aus Angst vor Wanzen schweigend hin und her geschoben wurden. Diese Idee war allerdings zum Scheitern verurteilt, da mit Böhme ein Informant des MfS mit am Tisch saß.68 Die ca. fünfzig Personen, die am 7. Oktober zur offiziellen Gründung in den kleinen Ort Schwante bei Berlin kamen, waren in den Wochen zuvor auf informellen Wegen kontaktiert worden. Da Meckel, Gutzeit und Noack dabei vor allem auf innerkirchliche Kommunikationswege und Kontakte zurückgegriffen hatten, waren auch hier wie schon beim Gründerkreis des Demokratischen Aufbruchs überdurchschnittlich viele kirchliche Mitarbeiter vertreten. Weil 64 Edelbert Richter am 15.9.1989 im DLF, in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bd. 16, S. 390. Dort heißt es weiter: »Wir haben uns überlegt, ob das sinnvoll ist, auf eine Parteigründung zuzugehen und haben gemeint, daß das jetzt vielleicht noch nicht an der Zeit ist.« 65 Ähnlich wie das NF kündigte auch der DA in seinem Gründungsaufruf die beabsichtigte offizielle Anmeldung an. Rechtlich war dies nur in der Form einer Vereinigung möglich. Mit diesem Argument hatte der Rechtsanwalt und MfS-Mitarbeiter Schnur den übrigen Initiatoren zuvor erfolgreich von einer Parteigründung abgeraten. 66 Zur Wahrnehmung der SDP durch das MfS siehe Eckert, S. 726. Zur Entstehungsgeschichte der SDP siehe von zur Mühlen; Schuh/von der Weiden, S. 38-69; Gutzeit/Hilsberg und die Interviews in Herzberg/von zur Mühlen. 67 Einen Eindruck der Vorbereitungsarbeiten und der damit verbundenen Koordinationsschwierigkeiten vermitteln die Abhörprotokolle, die die Staatssicherheit von den Telephonaten des Initiatorenkreises anfertigte. (AdsD, Bestand Martin Gutzeit I, Bl. 153ff.) Vgl. auch die Protokolle der vorbereitenden Sitzungen am 18.9, 25.9. und 1.10., ebd. Bl. 164, 256, 271. 68 Die Tatsache, daß mit Böhme im engsten Kreis der SDP-Initiatoren ein IM piaziert war, hat verschiedentlich zu der Vermutung geführt, die SDP und mithin die ganze Bürgerbewegung sei vom MfS gesteuert worden. (Vgl. Henryk M. Broder: »Eine schöne Revolution«, in: Die Zeit vom 10.1.1992, S. 41). Dieser Vorwurf ist mit Verweis auf die Strategie des MfS und den tatsächlichen Anteil Böhmes an der SDP überzeugend zurückgewiesen worden, vgl. Gutzeit, Stasi; Wolle; allgemeiner hierzu Süß, Taktik.

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man sich nicht als programmatisch offene Sammlungsbewegung, sondern als Partei konstituieren wollte, war das Gründungstreffen von dem Bemühen geprägt, der Initiative mit Statut, Programm und Vorstand eine formale Struktur zu geben. Um den hohen Anteil von Theologen nicht übermäßig zu betonen, wählten die Versammelten den Programmierer Stephan Hilsberg zum ersten Sprecher der Partei; seine Stellvertreter wurden Angelika Barbe und Markus Meckel, und als Geschäftsführer wurde Ibrahim Böhme bestimmt. Zuvor hatte Markus Meckel in einer programmatischen Grundsatzrede die Eckpunkte der zukünftigen Arbeit umrissen, die im Parteistatut aufgenommen und beschlossen wurden.69 Eine formale Anmeldung beabsichtigten die Gründer Jedoch nicht, da sie der SED das Recht absprachen, über die Legalität und Legitimität der Initiative zu befinden. Die Führungsrolle der SED wurde als ein totalitärer Anspruch verstanden und kategorisch zurückgewiesen. Damit bezog die SDP eine ungleich schärfere Frontstellung zur SED als die anderen oppositionellen Gruppen. Sie war, wie Meckel es formulierte, ein »Tritt vor das Schienbein der SED«,70 deren Machtmonopol die Initiatoren durch die Gründung einer Partei explizit bestreiten wollten. Die Entscheidung, sich als sozialdemokratische Partei in die Tradition der deutschen Arbeiterbewegung zu stellen und damit bewußt auch die historischen Legitimationsgrundlagen der SED anzufechten, verschärfte die Konfrontation noch erheblich. Am 4. Oktober veröffentlichten NF, DA, DJ, SDP, IFM und Vertreter verschiedener Friedenskreise eine Gemeinsame Erklärung, in der die verbindenden Ziele der Opposition artikuliert wurden. Unter Berufung auf die Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen und die KSZE-Dokumente forderten sie erstens eine offene gesellschaftliche Diskussion und zweitens freie und geheime Wahlen, die unter der Kontrolle der UNO stattfinden sollten.71 Auch wenn, wie Jens Reich später feststellte, zu dieser Zeit keinem der Beteiligten bewußt war, daß »die Herstellung einer Bürgergesellschaft [...] die Existenz der DDR beenden würde«,72 konstituierten sich die Gruppen mit ihren Forderungen als eine Fundamentalopposition, welche die in Artikel 1 der Verfassung der DDR festgeschriebene Führungsrolle der SED grundsätzlich bestritt. Auf dieser Basis kam es zu vielfältigen Formen der Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Gruppen, die gemeinsame Informationsveranstaltungen organisierten und sich gegenseitig bei ihren jeweiligen Gründungstreffen unterstützten. Das Bewußtsein, gemeinsam für eine Demokratisierung der DDR einzutreten, 69 Vgl. das Protokoll der Gründungsveranstaltung am 7.10.1989 (AdsD, Bestand Martin Gutzeit I, Bl. 332f.) 70 Markus Meckel, Interview in Rein, Revolution, S. 377. 71 Vgl. die Gemeinsame Erklärung, in Rein, Opposition, S. 122f. Zu der Erklärung und den vorangegangenen Diskussionen siehe Gutzeit, Weg, S. 102ff. 72 Reich, S. 139.

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verhinderte indes nicht, daß es gleichzeitig zu einer ausgeprägten Konkurrenz um Medienpräsenz und Mitglieder kam.73 Desgleichen führte die verbindende Frontstellung gegen die SED nicht zu der von vielen propagierten Vereinigung der verschiedenen Gruppen in einer gemeinsamen Plattform. Der Versuch, die bisherigen Gründungsinitiativen zusammenzuführen, war auf einem Treffen am 24. September an der Eigendynamik der Gründungswelle, aber auch an persönlichen Animositäten zwischen den Gründerkreisen gescheitert.74 Die in der Gemeinsamen Erklärung ausdrücklich begrüßte Vielfalt der entstehenden Gruppen setzte endgültig allen Versuchen, eine oppositionelle Plattform zu bilden, ein Ende.75 Die Konkurrenz und das Beharren auf Eigenständigkeit stellte jedoch den Grundkonsens der oppositionellen Gruppen nicht in Frage. Sie alle definierten sich als erste Ansätze demokratischer Gemeinschaften, die eine pluralistische Meinungsbildung in der Gesellschaft ermöglichen wollten. Die jeweilige Organisationsform war dabei sekundär. Unabhängig davon, ob es sich um eine Plattform wie das Neue Forum, eine Bürgerbewegung wie Demokratie Jetzt, um eine Vereinigung wie den Demokratischen Aufbruch oder eine Partei wie die SDP handelte, beanspruchten die Gruppen, Bausteine einer »Zivilgesellschaft« zu sein, »die unterhalb der staatlichen Ebene und oberhalb der privaten Ebene sich den Fragen zuwendet, die das Allgemeinwohl aller betreffen und die dann auch eine Willensbildung in dieser Gesellschaft möglich machen.«76 1.3. Von staatsfeindlichen Träumern zur legitimen Opposition Trotz der Euphorie, welche die Gründungsveranstaltungen begleitete, hatte doch niemand zu hoffen gewagt, daß der Schritt aus der gesellschaftlichen Marginalität so schnell gelingen würde. In der damaligen Situation, in der die Staatspartei mit allen Mitteln demonstrierte, daß sie nicht bereit war, ihr Macht- und Wahrheitsmonopol kampflos aufzugeben, mußten alle Beteiligten 73 So berichtet E. Richter (S. 23), er habe die Mitgliederwerbung des NF auf einer gemeinsamen Veranstaltung am 26.9. in Erfurt als »unlauteren Wettbewerb« empfunden. Die, so Richter, lautstarke und inhaltlich nicht fundierte Präsenz des NF in den Medien, habe es in seinen Augen zu einem »Konkurrenzunternehmen« gemacht. 74 Vgl. hierzu das Streitgespräch zwischen Harald Wagner (Gründungsmitglied des DA) und Frank Eigenfeld (Gündungsmitglied des NF) in Philipsen, S. 233ff. 75 Das Vorhaben, ein gemeinsames Aktionsbündnis zu bilden, wurde aufverschiedenen Treffen im September diskutiert. Während am 18.9.1989 in Berlin ein solches Treffen eher zufällig zustande kam, (vgl. Meckel, Konsequenzen, S. 64) trafen sich am 24.9. Vertreter aller oppositionellen Gruppen in Leipzig, um Möglichkeiten eines gemeinsamen Vorgehens zu beraten, vgl. E. Richter, S. 21; Neubert, Geschichte, S. 841. 76 Ludwig Mehlhorn, Interview aus dem Oktober 1989 (in: Rein, Opposition, S. 73-83, Zitat S. 80).

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davon ausgehen, daß die »weitere Entwicklung der DDR über dieses Jahrtausend hinaus ohne die SED nicht zu denken ist«, wie Rainer Eppelmann Anfang Oktober feststellte.77 Alle Gruppen hatten sich daher auf eine langwierige Auseinandersetzung eingerichtet und dementsprechend langfristig angelegt waren auch die Pläne des weiteren Vorgehens.78 Vor allem die Aktivisten selbst waren daher überrascht von dem Echo, das die Gruppen schon in den ersten Tagen nach ihrer Gründung erhielten: Bereits Ende September hatten über zehntausend Menschen den Aufruf des Neuen Forums unterschrieben, und zu den Informationsveranstaltungen der Gruppen kamen oft mehrere tausend Menschen in die Kirchen des Landes. Nicht zuletzt der Ruf der Leipziger Montagsdemonstrationen Neues Forum zulassen dokumentierte, daß die Gruppen und vor allem das Neue Forum innerhalb weniger Wochen zu Trägergruppen der entstehenden Bewegung wurden. Die strukturelle Voraussetzung dieser Entwicklung war die Krise, die durch die Ausreisewelle entstanden war. Ohne sie wäre die Massenmobilisierung unmöglich gewesen. Aber: Den Mobilisierungserfolg nur durch die externen Bedingungen zu erklären, hieße die Eigenleistungen der oppositionellen Gruppen zu unterschätzen. Die Formierung der Bürgerbewegung war nicht das Ergebnis einer gezielten Mobilisierungskampagne, ebensowenig aber eine zwangsläufige Folge der Ausreisekrise. Es handelte sich vielmehr um ein Zusammenspiel zweier zunächst relativ unabhängiger Entwicklungen. Erst die Sprachlosigkeit der SED machte größere Teile der Bevölkerung empfänglich für die Interpretationen der oppositionellen Gruppen, und erst die infolge der Ausreisewelle entstandene Polarisierung eröffnete die Lücke zwischen Regierung und Bevölkerung, die es den oppositionellen Gruppen ermöglichte, sich als Sprecher und Repräsentanten des Volkes zu etablieren. Anders gesagt: Auch wenn die Gruppen die Dynamik des Mobilisierungsprozesses weder intendierten noch ahnten, übernahmen sie doch wichtige Funktionen innerhalb dieses Prozesses, indem sie durch ihr Engagement konsensfähige Interpretationen der zeitgenössischen Krise anboten, die Unzufriedenheit bündelten und Perspektiven einer Veränderung aufwiesen. Die Frage, wie es den Gruppen unter den herrschenden repressiven Bedingungen gelang, ihre Forderungen so zu propagieren, daß sie innerhalb von nur wenigen Wochen zu dem Synonym von Opposition wurden, ist daher die leitende Fragestellung der folgenden Überlegungen. Mit diesem Problem verbin77 Rainer Eppelmann, Interview mit der tageszeitung vom 3.10.1989, S. 8. 78 So hatte der Gründerkreis des NF am 10.9. 1989 beschlossen, daß sich diejenigen, die bis dahin nicht verhaftet worden wären, erst am 2.12.1989 wiedertreffen sollten, um die Ergebnisse der Gründung auszuwerten (vgl. Reinhard Schult: »Von der Bürgerbewegung zur organisierten Verantwortungslosigkeit«, Presseerklärung vom 7.9.1995, S. 2f, RHA, Ordner Presseauswertung, Band S) DJ plante sogar, erst im Januar oder Februar 1990 ein erstes Vertretertreffen einzuberufen, vgl. »Aufruf in eigener Sache« (12.9.1989), in: Rein, Opposition, S. 61.

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det sich die Frage, warum es gerade das Neue Forum war, das alle anderen Gruppen in der öffentlichen Wahrnehmung in den Schatten stellte. 1.3.1. Framing unter dynamischen Rahmenbedingungen Den Thesen, die von der Bewegungsforschung in den letzten Jahren zu den Bedingungen einer erfolgreichen Mobilisierung formuliert worden sind, liegt die Überzeugung zugrunde, daß Unzufriedenheit erst dann in soziales Handeln umgesetzt werden kann, wenn sie auf bestimmte Zielvorstellungen und Orientierungsmuster bezogen wird. Erst wenn ein ideeller Konsens über die Ursachen, Gegenstände und Lösungsmöglichkeiten der Unzufriedenheit hergestellt worden ist, kann eine Bewegung ihre potentiellen Teilnehmer zu einem aktiven und kollektiven Engagement mobilisieren. Die Diffusion neuer Deutungsmuster (frames) wird mit dem Begriff desframing umschrieben. Verschiedene Voraussetzungen eines erfolgreichen framings lassen sich identifizieren. Damit neue Deutungsmuster akzeptiert werden, müssen sie erstens Komplexität reduzieren, also verständlich sein, Schlagworte und Symbole anbieten und klare Freund-Feind-Zuordnungen erlauben. Zweitens müssen sie eine erfolgversprechende Strategie entwerfen, die ein Engagement lohnenswert erscheinen läßt. Drittens müssen sie nachvollziehbare Bezüge zur bestehenden Ordnung aufweisen, das heißt, um möglichst viele Menschen zu erreichen, müssen die Deutungsangebote adäquat und glaubhaft sein, in einer verständlichen und daher an den herrschenden Duktus angelehnten Sprache verfaßt sein und die Lebenswelt der Angesprochenen tangieren.79 Betrachtet man die Aufrufe der oppositionellen Gruppen vor diesem Hintergrund, wird deutlich, daß sie die meisten Kriterien eines e r f o l g r e i c h e n / ^ erfüllen. Die in jahrelanger Auseinandersetzung mit dem SED-Regime entwickelten Ansätze erwiesen sich im Moment der Krise des Regimes als überaus aktuelle und breitenwirksame Konzepte. Im Vordergrund stand dabei die Analyse der gesellschaftlichen Krise im Rahmen der Kategorien Öffentlichkeit, Dialog und Demokratie. Diese Interpretationsansätze waren angesichts der eklatanten Sprachlosigkeit der SED nur allzu leicht nachzuvollziehen, zumal sie in den Aufrufen aller Gruppen unmittelbar mit den alltäglichen Erfahrungen der DDR-Bürger in Beziehung gesetzt wurden. Bei allen Stellungnahmen handelte es sich um klare, einfache Analysen, welche die Krise der DDR auf wenige Schlagworte reduzierten und mit lebensweltlichen Bezügen verbanden. Sie formulierten eine deutliche Abgrenzung von der Politik der SED und wiesen gleichzeitig einen Weg, der in dem Maße attraktiver wurde, wie sich das Warten auf Initiativen der Partei als hoffnungslos herausstellte. Die Perspektive, 79 Vgl. Snow u.a.; Klandermans/Oegema; Klandermans; Tarrow, Mentalities; Snow/Benford.

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neue und staatsunabhängige Strukturen aufzubauen, in denen ein Reformkonzept entwickelt werden sollte, schien nicht nur ein möglicher Weg der Veränderung zu sein, sondern bot auch den Anreiz, sich aktiv engagieren zu können, anstatt weiter passiv zusehen zu müssen, wie die Ausreisewelle und die SED das Land in den Ruin trieben. In der Situation zur Monatswende vom September zum Oktober 1989 erwies sich darüber hinaus auch die programmatische Offenheit als ein mobilisierungsstrategischer Vorteil. In der Tradition der sich selbstbeschränkenden Revolution formulierte vor allem das Neue Forum bewußt nur relativ allgemeine, inhaltlich kaum weiter präzisierte Analysen der zeitgenössischen Probleme. Das Bestreben, Bürger aller Berufe, Schichten und Gruppen zu integrieren, legte es nahe, möglichst unverbindliche und damit konsensfähige Denk- und Handlungsorientierungen anzubieten. Diese Rechnung ging im Zuge der Ausreisekrise auf. Schon »relativ schlichte Problemdeutungen«, so Wielgohs/Johnson, »reichten aus, um die ›stumme Öffentlichkeit ihrer gemeinsamen Unzufriedenheit mit dem Regime zu vergewissern und die Identifikation potentieller Sympathisanten mit den Forderungen der Opposition nach demokratischen Reformen herzustellen.«80 Von besonderer Bedeutung für die Gruppen war schließlich das Bestreben, zwei Stigmata zu überwinden: das staatliche Stigma, verfassungs- und sozialismusfeindlich zu sein, und zweitens das in der Bevölkerung verbreitete Image der Träumer und Chaoten. In diesen Zusammenhang gehören die Bezüge auf den Sozialismus, die sich vor allem als Argument gegen die Kriminalisierung verstehen lassen. Zum anderen können sie als symbolische Loyalitätserklärungen an die DDR gelesen werden,81 die ebenso wie die allgegenwärtigen Appelle an eine gemeinsame Identität der DDR-Bürger dem Ziel dienten, sich als konstruktive und vor allem legitime Opposition zu profilieren. Dies war einer der entscheidenden Mechanismen, durch den die ideelle Gemeinsamkeit von Opposition und Bevölkerung hergestellt werden sollte. Die Betonung einer DDR-Identität machte es möglich, die Gesellschaft der DDR von der SED einerseits und von den Flüchtlingen andererseits abzugrenzen. Das so konstruierte gesellschaftliche Interesse an einer eigenverantwortlichen Zukunft der DDR erlaubte es der Opposition, ihre Forderungen und Anliegen als Rettungsmaßnahmen im Namen der »Heimat«82 DDR zu präsentieren. Vor 80 Wiebohs/Johnson, S. 354, vgl. auch Rucht, Unification, S. 49ff. 81 Daß mit den Bezügen auf den Sozialismus kein kohärentes sozialistisches Reformkonzept verbunden wurde, wird in vielen Äußerungen zum Thema deutlich. Vgl. etwa S. Pflugbeil: »Wir möchten ausdrücklich eine sozialistische DDR. Wobei wir allerdings Schwierigkeiten haben, jetzt ganz konkret zu sagen, wie unser Sozialismus aussehen soll«, Interview in den Bremer Nachrichten vom 4.10.1989, S. 4. Zu den Konnotationen des Sozialismus-Begriffs siehe auch die Äußerungen Meckels und Gutzeits in: Herzherg/von zur Mühlen, S. 295-311 sowie Pollack, Alternativ. 82 Vgl. etwa Markus Meckel, der in seinem Programmatischen Vortrag zur Gründung der SDP (7.10.1989) die DDR-Bürger dazu aufrief, »zu bedenken, ob die dann anders geartete DDR

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dem Hintergrund der ›Angst um unser Land‹, die auch in den Aufrufen nachdrücklich beschworen wurde, konnten Kritik und Protest damit als eine moralisch fundierte Verpflichtung legitimiert werden. Für die Frage nach den Voraussetzungen eines erfolgreichen framings ist dieses sozusagen nationale Deutungsmuster von großer Bedeutung, konnte es doch prinzipiell von allen DDR-Bürgern für ein oppositionelles Engagement in Anspruch genommen werden. 1.3.2. »Bitte abschreiben und weitergeben«: Öffentlichkeit in einer geschlossenen Gesellschaft Der Bekanntheitsgrad, den die Gruppen innerhalb kürzester Zeit erreichten, stand in keinem Verhältnis zu den Möglichkeiten, die ihnen für eine Öffentlichkeitsarbeit zur Verfügung standen. Die Gründerkreise der Gruppen umfaßten insgesamt kaum zweihundert Personen, die sich mit ihren Aufrufen und Stellungnahmen gegen die Repressionen des Regimes durchsetzen mußten, ohne daß sie in ausreichendem Maße auf Papier und Druckmöglichkeiten, auf Telephone, etablierte Organisationsstrukturen, Geld oder Büros zurückgreifen konnten. Wie gelang es ihnen, den Ressourcenmangel zu kompensieren und gleichzeitig die staatlichen Repressionsmechanismen zu unterlaufen? In dem Bestreben, landesweite Strukturen aufzubauen, versuchten alle Gruppen, ihren Aktionsradius über den Gründerkreis und über Berlin hinaus auszuweiten. Dabei konnten sie auf die bestehenden oppositionellen Netzwerke zurückgreifen, die in verschiedensten Städten ein großes Potential an Aktivisten besaßen. Informationen, Aufrufe und Papiere wurden durch die Kontakte zu Einzelpersonen und bestehenden Gruppen weitergegeben und zirkulierten bald innerhalb der oppositionellen Szene in der ganzen DDR. Überall fanden sich daraufhin in den jeweiligen Städten einzelne, welche die Initiative ergriffen und das Risiko auf sich nahmen, eine lokale Gruppe zu gründen. Sie wiederum verfügten vor Ort über die notwendigen Kontakte und Netzwerke, die es ihnen ermöglichten, den Gründerkreis auszuweiten. Durch Mund-zu-Mund Propaganda - die Buschtrommel - sowie durch Handzettel und Anschläge in den Kirchen wurden die Neugründungen bekannt gemacht, so daß immer neue Mitglieder, die ihrerseits wieder Interessenten kannten, in die Zusammenhänge einbezogen werden konnten.83 Die Nachricht von den für sie nicht doch noch oder wieder zu einer Heimat werden kann, in der sie leben wollen«, in: Herzberg/von zur Mühlen, S. 331. 83 Zu den Prozessen der Netzwerkmobilisierung in einzelnen Städten vgl. für Leipzig Unterberg, S. 81ff; für Berlin-Friedrichshain: Viertel, S. 27ff., für Halle die Kontaktprotokolle des MfS über Frank und Katrin Eigenfeld (NF), in: Das Andere Blatt, S. 53-61; für Rostock: Probst, Norden, S. 37ff; für Erfurt: Schnitzler, S. 66ff.

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Berliner Gründungen wirkte daher wie ein Impuls auf die lokalen Milieus, welche die Entwicklung der Milieuelite nachvollzogen: Alte Gruppen und bestehende Zusammenhänge lösten sich auf, um sich als Neues Forum, SDP, Demokratie Jetzt oder Demokratischer Aufbruch neu zu konstituieren.84 Auch hier hatte das Neue Forum einen gewissen Vorteil, weil es schon in seinem Gründerkreis Personen aus verschiedenen Bezirken der DDR vereinigte, die in ihren Heimatstädten als sogenannte Kontaktadressen fungierten. Nicht zuletzt dies ermöglichte es dem Neuen Forum, am 19. September in elf Bezirken die offizielle Anmeldung zu beantragen. Systematisch gesehen vereinte dieses Schneeballsystem der Mobilisierung alle Vorzüge auf sich, die mit einer dezentralen Struktur von Bewegungsorganisationen verbunden sind. Eine dezentrale Netzwerkmobilisierung vermindert den Arbeits- und Ressourcenaufwand, verschafft durch die Vielfältigkeit der beteiligten Akteure Kontakte in verschiedenste gesellschaftliche Bereiche und Nischen und ist quasi unmöglich zu unterdrücken.85 Der Nachteil, noch nicht über formalisierte Organisations- und Kommunikationsstrukturen zu verfügen, erwies sich daher im September 1989 als Vorteil. Während eine zentralistische Arbeitsweise für die Staatssicherheit leicht zu kontrollieren gewesen wäre, sah sie sich gegenüber den informellen Wegen der Mobilisierung relativ machtlos. Sie konnte nicht verhindern, daß bis Anfang Oktober in allen größeren und in vielen kleinen Städten Gruppen gegründet wurden, die begannen, auf lokaler Ebene Arbeitsstrukturen im Namen der neuen Vereinigungen aufzubauen. Durch die Mobilisierung der überregionalen und lokalen Netzwerke war es möglich, daß potentielle Interessenten bereits Ende September in vielen Städten der DDR sogenannte Kontaktadressen der verschiedenen Gruppierungen vorfanden, also erste Ansprechpartner, die Interessenten mit Material und Informationen versorgen konnten. Zu ihrer Überraschung sahen sich die Kontaktpersonen vor Ort mit einem Zulauf konfrontiert, auf den sie in keiner Weise vorbereitet waren und der die noch kaum vorhandenen Arbeitsstrukturen völlig überlastete.86 Auch der Staatssicherheit blieb Anfang Oktober wenig mehr als die resignierende Feststellung, daß bei den Informationsveranstaltungen der Gruppen »eine überdurchschnittliche Besucherresonanz erreicht wird und Teilnehmerzahlen zwischen tausend und zwietausend Personen nicht selten sind.«87 Bereits zu diesem Zeitpunkt hatte die Mobilisierung daher die 84 So konstatieren Blattert u.a. (S. 413f.) für Berlin eine »Sterbewelle der ›alten‹ Gruppen«, da über die Hälfte der von ihnen untersuchten Gruppierungen aus den 80er Jahren 1989 in den neuen Bürgerrechtsgruppen aufging. 85 Vgl. L.P. Gerlach, bes. S. 825ff. 86 Vgl. die Darstellung der Anfangszeit des Leipziger Neuen Forums in Unterberv, S. 84ff. 87 MfS/ZAIG: »Information über die weitere Formierung DDR-weiter oppositioneller Sammlungsbewegungen« (9.10.1989), in: Mitter/Wolle, S. 208-213, Zitat S. 208.

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Grenzen des oppositionellen Milieus weit überschritten. Ohne daß vor Ort die erforderlichen Möglichkeiten gegeben waren, um öffentlich für die Gruppen und ihre Aktionen zu werben, war es innerhalb kürzester Zeit gelungen, überall in der DDR Menschen zu mobilisieren, die zuvor keinen Kontakt zu der regimekritischen Szene hatten. Da sie nicht über die informellen Kommunikationswege des oppositionellen Milieus erreicht werden konnten, stellt sich an diesem Punkt der Analyse die Frage, über welche Kanäle sie mobilisiert worden waren. Das einzige nicht vom SED-Regime kontrollierbare Kommunikationsmedium, das diese Aufgabe leisten konnte, waren die Westmedien. Ihre Berichte über die Gruppen sollten zwei essentiell wichtige Funktionen übernehmen: Sie machten die Opposition DDR-weit bekannt und leisteten durch die überaus positive und wohlwollende Art der Berichterstattung einen wesentlichen Teil der Überzeugungsarbeit für ihre kritischen Analysen und Forderungen. Mit einem Minimum an Aufwand konnten die Gruppen damit eine maximale Wirkung erzielen. Öffentliche Mobilisierungskampagnen vor Ort, die allein schon am Einschreiten der Sicherheitskräfte gescheitert wären, waren nicht mehr nötig, weil die Bevölkerung durch die Medienberichterstattung zumindest in Grundzügen bereits über die Gruppen und ihre Ziele informiert war. Für die westdeutschen Medien war das Auftreten einer Opposition in der DDR eine Sensation, der sie große Aufmerksamkeit widmeten. Der Bedarf der Sender an Informationen und Bildern wurde von der Opposition intensiv genutzt. Allen Beteiligten war bewußt, daß ein großer Teil der DDR-Bevölkerung jeden Abend die Sendungen der westlichen Programme verfolgte. Sie waren der einzige Weg für die Gruppen, um sich und ihre Anliegen schnell, DDRweit und flächendeckend88 bekannt zu machen, denn - wie Eppelmann später bemerkte - »Wie sollte das sonst bei uns gehen? Sollten tausend Leute per Fahrrad ausschwärmen, um anderen schnell Bescheid zu sagen, was wir gerade überlegt hatten? [...] Für uns damals in der DDR war es eine glückliche Situation, daß es das westliche Fernsehen und die anderen westlichen Medien gab.«89 Dementsprechend bestand der erste Akt nach der Gründung aller Gruppen darin, die Gründungsdokumente und Aufrufe so schnell wie möglich westlichen Korrespondenten zukommen zu lassen. Steffen Reiche, der diese Aufgabe bei der SDP übernommen hatte, verpaßte sogar seine Wahl in den Vorstand der Partei, weil er sich unverzüglich auf den Weg zur Süddeutschen Zeitung in der 88 Flächendeckend bezieht auch das sog. Tal der Ahnungslosen im Südosten der DDR mit ein. Dresden war zu einem Drittel an private Satellitenschüsseln angeschlossen und dort, wo tatsächlich kein Fernsehempfang möglich war, diente mit dem RIAS und anderen Sendern das Radio als Informationsquelle. Zur Nutzung der Westmedien in der DDR siehe Friedrich, S. 31 f. und Lemke, S. 187ff. 89 Diskussionsbeitrag Rainer Eppelmanns, in: Deutscher Bundestag/Enquete-Kommission, Bd.VII/l,S.303.

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Ho-Chi-Minh-Straße gemacht hatte.90 Um den Medien Material zu liefern und gleichzeitig das offizielle Interviewverbot zu unterlaufen, machte Bärbel Bohley für das Neue Forum sogar eigene Videoaufzeichnungen von führenden Vertretern.91 Die Bänder sollten über Ralph Hirsch den westlichen Sendern zugespielt werden und die Berichte, Telephoninterviews und Kommentare ergänzen, mit denen die westlichen Nachrichtensendungen seit Mitte September beinahe täglich über die DDR-Opposition berichteten.92 Angesichts der Tatsache, daß die hektographierten Gründungsaufrufe mit der Aufforderung »Bitte abschreiben und weitergeben« in letztlich verschwindend geringer Zahl zirkulierten, kann man davon ausgehen, daß nur ein Bruchteil der Bevölkerung aus erster Hand über die Opposition informiert war. Fast alle Bürger aber sahen die westlichen Nachrichten, so daß die Wahrnehmung der Gruppen in der DDR primär durch das Bild bestimmt wurde, das die westlichen Medien vermittelten. Dieses Bild unterschied sich zum Teil signifikant von den tatsächlichen Verhältnissen. Es lag in der Logik der Medien, daß sie das ambivalente Verhältnis der Gruppen zur Staatspartei SED genauso wenig thematisierten wie die Tatsache, daß alle Gruppen organisatorisch wie programmatisch bestenfalls über rudimentäre Strukturen verfügten. Auch die Hintergründe der oppositionellen Aktivitäten oder die Unterschiede zwischen den einzelnen Vereinigungen fanden nicht ihren Weg in die Berichte. Denn diese Informationen kamen weder dem vermuteten Interesse der - westdeutschen - Zuschauer entgegen, noch der politischen Grundaussage der Berichte. Für die westlichen Sender stand das prinzipielle Demokratiedefizit und damit der Reformbedarf des SED-Regimes außer Frage. Dies schlug sich unmittelbar auf die Darstellung der Gruppen nieder, die von Beginn an als eine einheitliche, gegen die SED gerichtete Bewegung präsentiert wurden. Darüber hinaus nahmen die Sender auch die oft etwas verschwommenen Aussagen der Gründungsaufrufe auf und reduzierten sie auf die eingängigen Schlagworte »Demokratie«, »freie Wahlen«, »Dialog«, »Bürgerrechte«, und »Öffentlichkeit«. Ungeachtet dessen, daß es sich bei den Gruppierungen zunächst um programmatisch mehr als ungefestigte Kreise von wenigen Dutzend Personen handelte, wurden sie daher in den Medien unter dem Schlagwort »die Opposition in der DDR« als Herausforderer der SED dargestellt und mit einem festen Bild, mit Gesichtern und klaren Anliegen verbunden. Allen DDR-Bürgern, die ihre Unzufriedenheit mit der Ausreisewelle und der SED artikulieren wollten, aber nicht wußten wie und wo, wurden die 90 Vgl. das Interview mit Steffen Reiche in Herzberg/von zur Mühlen, S. 193f 91 Vgl. MfS/BVfS Berlin: »Information über Aktivitäten von Untergrundkräften zur Popularisierung der feindlichen Vereinigung Neues Forum durch westliche Medien«, 19.9.1989. (RHA, Ordner Neues Forum A, ohne Pag.). 92 Vgl. die Sendepläne von Tagesschau und Tagesthemen, Bestand d. Vf.

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oppositionellen Gruppen damit als die geeigneten Ansprechpartner und als Volks-Vertreter präsentiert. Dreht man die Perspektive der Untersuchung um, wird ein erster Effekt dieser Berichterstattung deutlich: »Ich hatte«, berichtete etwa Karin Barthold, eine der späteren Mitbegründerinnen des Neuen Forums Karl-Marx-Stadt, »im September von der Bildung des Neuen Forum über westliche Medien gehört, und es war mir gleich klar, daß dies auch für mich die Chance war.« 93 Stellvertretend für viele andere Zitate dieser Art wird hier deutlich, daß die oppositionellen Gruppen vor dem Hintergrund der Ausreisewelle tatsächlich als Chance, als neue Handlungsmöglichkeit begriffen wurden. Diese - über die Westmedien vermittelte - Wahrnehmung führte in vielen Städten dazu, daß lokale Basisgruppen gegründet wurden, ohne daß es zuvor Kontakte zu den Berliner Initiativkreisen gegeben hatte.94 Die Medien entbanden die neugegründeten Vereinigungen daher von der Aufgabe, in jeder Stadt gezielt Ortsgruppen ins Leben zu rufen, was angesichts der organisatorischen und technischen Möglichkeiten ohnehin unmöglich gewesen wäre. Die These, daß die Wahrnehmung der Opposition wesentlich durch die Darstellung in den Medien geprägt wurde, bietet schließlich auch eine Antwort auf die oft diskutierte Frage, warum es das Neue Forum war, das alle anderen Gruppen in den Schatten stellte. Denn die Tatsache, daß das Neue Forum die erste Gruppe war, die sich zu Wort meldete und darüber hinaus auch über gute Kontakte zu westlichen Korrespondenten verfügte, führte schnell dazu, daß sich die Berichterstattung fast ausschließlich auf das Neue Forum konzentrierte. Die Medien brauchten Namen, Ansprechpartner sowie eingängige Labels und fanden sie beim Neuen Forum, dessen Name bald als Synonym für die Opposition in der DDR verwandt wurde. Einen entscheidenden Anteil an der Profilierung des Neuen Forums hatte auch die offizielle Anmeldung am 19. September und ihre zwei Tage später erfolgte Ablehnung. Beiden Ereignissen wurde eine breite Berichterstattung gewidmet, die der Strategie des NF, ein breitenwirksames Exempel an sich statuieren zu lassen,95 die nötige Aufmerksamkeit verschufen. Die Tatsache, daß das Neue Forum »vom Westfernsehen als quasi institutio93 Karin Barthold, in: Reum/Geißler, S. 28. Ähnlich auch Stefan Waldau, später Mitbegründer des NF Görlitz: »In Scharen gingen die Menschen nach Ungarn. In dieser desolaten Situation kam dann dieses Interview [mit Jens Reich im DLF, d.Vf.], und das baute mich wieder auf, da habe ich das erste mal wieder Luft geholt...«, in: M. Schneider, S. 37. 94 So berichtet Dietlind Glüer, Mitbegründerin des Neuen Forums/Rostock, sie habe »diese Massenflucht am Bildschirm miterlebt. Das war sehr beängstigend. [...] Zu diesem Zeitpunkt hörte ich vom Gründungsaufruf des Neuen Forums in Berlin über das Fernsehen. Da war ich elektrisiert. Es war wirklich eine Signalwirkung.« Interview in Probst, Norden, S. 128. 95 Vgl. hierzu Bärbel Bohley im Interview mit der tageszeitung vom 26.9.1989, S. 7: »Jeder hat das Empfinden, wenn das schon als staatsfeindlich eingestuft wird, dann kann ich kaum noch Luftholen in diesem Land. Und das will sich niemand bieten lassen.«

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nalisierter Ansprechpartner für DDR-Opposition«96 präsentiert wurde, erklärt sich nicht zuletzt durch die Arbeitsbedingungen der westlichen Journalisten. Ihr Arbeitsradius beschränkte sich mehr oder weniger auf Berlin, so daß sie oppositionelle Ereignisse, die außerhalb Berlins stattfanden, in bekannte Zusammenhänge einordneten und dem Neuen Forum zurechneten. Das galt vor allem für die Leipziger Montagsdemonstrationen, zu denen abgesehen vom 4. September kein Bildmaterial vorlag und die in den Wortbeiträgen immer so unmittelbar auf das Neue Forum bezogen wurden, daß der Eindruck entstehen konnte, es handle sich um reine Kundgebungen für eine Legalisierung des Neuen Forums.97 Noch deutlicher wird die sich selbst verstärkende Wirkung der Berichte über das Neue Forum angesichts der Meldungen zum Treffen der oppositionellen Gruppen am 24. September in Leipzig. Obwohl die Anwesenden die Bildung einer gemeinsamen Organisation oder gar ein Zusammengehen unter der Ägide des Neuen Forums kategorisch ausschlossen, meldete die tagesschau am selben Abend, die oppositionellen Gruppen der DDR hätten auf ihrem Treffen in Leipzig das Neue Forum als »Dachorganisation« anerkannt.98 Die »Sogwirkung der Medienberichterstattung«,99 die den Gruppen einen immensen Zulauf von Sympathisanten sicherte, wirkte sich daher eindeutig zugunsten des Neuen Forums aus. Die mobilisierende Wirkung beruhte allerdings nicht nur auf der reinen Bekanntmachung der Gruppen. Es war auch die Art und Weise der Darstellung, die dazu beitrug, die Distanz zwischen Opposition und Bevölkerung zu überbrücken. Schon die Aufwertung der Gruppen zu einer einheitlichen, schlagkräftigen Opposition war eine kaum zu überschätzende Hilfestellung angesichts der Lebenserfahrung vieler DDR-Bürger, denen der gesunde Menschenverstand sagte, daß Protest nicht nur gefährlich, sondern auch völlig sinnlos war. Die Tatsache, daß die Wahrnehmung von Erfolgschancen innerhalb der Bewegungsforschung übereinstimmend als einer der wesentlichen Faktoren einer erfolgreichen Mobilisierung identifiziert worden ist,100 läßt die Tragweite einer Berichterstattung deutlich werden, welche 96 Hesse, S. 338. Zur Funktion der Medien für die Mobilisierungsprozesse in der DDR siehe außerdem Ludes, Rolle; Feige und die Beiträge in den Bänden von Hall und Bohn u.a. 97 Vgl. zur Demonstration am 25.9.1989: »Gestern Abend hatten in Leipzig mehrere Tausend Menschen für die Legalisierung des Neuen Forums demonstriert« (Tagesschau, 26.9.1989, 20:04 Uhr), zu der Demonstration vom 2.10.1989: »Die etwa zehntausend Demonstranten forderten die Zulassung der Oppositionsgruppe Neues Forums« (Tagesschau, 2.10.1989, 20:07 Uhr). 98 Wortbeitrag der Tagesschau am 24.9.1989, 20:03 Uhr: »Etwa 80 Mitglieder von Reformgruppen beschlossen heute auf einem vorgezogenen Treffen in Leipzig, die Demokratiebewegung Neues Forum zur Dachorganisation zu machen.« Tatsächlich war kein derartiger Beschluß gefällt worden, vgl. »Niederschrift über die Zusammenkunft verschiedener Bürgerinitiativgruppen und -bewegungen am 24.9.1989 in Leipzig« (ABL, Hefter 17: Material des Neuen Forums von 8/89 bis 12/89, ohne Pag.). 99 Blattert u.a., S. 417. 100 Diese Annahmen werden vor allem von dem political opportunity-approach vertreten. Vgl. dazu Tarrow, Gelegenheitsstrukturen.

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die kleinen und ressoucenschwachen Vereinigungen als Träger eines erfolgversprechenden Protests präsentierte, in dem es sich zu engagieren lohnte. Vorhandene Schwellenängste und Teilnahmebarrieren wurden darüber hinaus auch durch lebensnahe Berichte aus Bärbel Bohleys Wohnung (»In einem heruntergekommenen Altbauhaus wohnt die Malerin Bärbel Bohley ... 101 ) abgebaut oder aber durch ausdrückliche Betonung der Tatsache, daß Menschen aller Bevölkerungsgruppen von Arbeitern über SED-Mitglieder bis hin zu NVAOffizieren bereits den Aufruf des Neuen Forums unterschrieben hatten.102 Nicht zuletzt auch suggestive Einzelschicksale verdeutlichten, daß es sich bei den Gruppen in den Augen der westlichen Berichterstatter um die eigentlichen Hoffnungsträger der DDR-Gesellschaft handelte: »Gestern«, so Franz Alt am 22. September in den tagesthemen, »sagte mir jemand in Ost-Berlin: Eigentlich wollte ich auch über Ungarn fliehen, aber jetzt, wo es das Neue Forum gibt, bleibe ich hier.‹«103 In der scheinbar ausweglosen Situation des Septembers 1989 erzeugte die westliche Medienberichterstattung daher einen Effekt, der den Gruppen einen Status von Kristallisationspunkten verlieh, in denen die ohnmächtige Wut über die SED einen konstruktiven Ausweg finden konnte. Noch kurze Zeit zuvor als »Träumer und Chaoten«104 verspottet, erschienen die oppositionellen Vereinigungen nunmehr als eine legitime und handlungsfähige Alternative. Mit den oppositionellen Gruppen konstituierten sich die ersten Akteure, welche die Unzufriedenheit in der DDR artikulierten und dem Protest eine organisatorische Basis gaben. Sie fanden schon bald in prominenten Schriftstellern wie Christa Wolf oder auch in den Rockmusikern Verbündete, die den Forderungen durch öffentliche Solidaritätserklärungen zusätzliches Gewicht verliehen. Dabei verdeutlicht gerade die Resolution der Rockmusiker vom 18. September den Erfolg des Bestrebens, konsensfähige Deutungen anzubieten und Anstöße für Diskussionen zu geben.105 Solange die Staats- und Parteiführung Jedoch nicht auf die Diskussion in der Gesellschaft einging, blieben alle positiven Rückmeldungen, welche die Gruppen aus der Bevölkerung erfuhren, reine Achtungserfolge. Hier sah sich die Opposition einem strategischen Dilemma gegenüber, denn um die Führung zu zwingen, sich den Diskussionen zu öffnen, bedurfte es politischen Druckes, und den konnten und wollten die Gruppen nicht erzeugen. Schon um die an101 Anmoderation eines Beitrags über Bärbel Bohley in den Tagesthemen vom 18.9.1989, 22:31 Uhr. 102 Wortbeitrag in den Tagesthemen vom 22.9.1989, 22:41 Uhr. 103 Franz Alt: Kommentar in den Tagesthemen vom 22.9.1989, 22:40 Uhr. 104 Pollack, Ursachen, S. 18. 105 In der Resolution heißt es: »(Wir) finden in dem Text [des Neuen Forums, d.Vf.] vieles, was wir selber denken, und noch mehr, was der Diskussion und des Austausches wert ist«, Resolution der Sektionen Rockmusik und Lied/Kleinkunst vom 18.9.1989, in: MDV, Bd. I, S. 22.

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gestrebte Legalisierung ihrer Aktivitäten nicht zu gefährden, war es ihnen unmöglich, Demonstrationen öffentlich gutzuheißen. Vor allem aber widersprachen Demonstrationen in gewissem Maße dem Selbstverständnis der Gruppen und ihrer Strategie Dialog statt Druck: So betonte das NF-Gründungsmitglied Eberhard Seidel Anfang Oktober, daß »das Neue Forum eine Plattform für die politische Meinungs- und Willensbildung darstellt und keine Organisation, die Aktionen im ganzen Land organisiert.« Mit Blick auf die Demonstrationen am 7. Oktober warnte er ausdrücklich vor »unüberlegtem Aktionismus«, denn nicht öffentlicher Druck, sondern »das Gespräch ist der entscheidende Faktor.«106 Diese Überzeugung kam auch in dem Aufruf zum Ausdruck, mit dem sich das Neue Forum am 4. Oktober »an alle Sympathisanten« wandte.107 In ähnlicher Weise sprach sich Rainer Eppelmann Anfang Oktober im RIAS dafür aus, alle Protestaktionen für zwei Wochen auszusetzen und eine Denkpause einzulegen, um dann in einen konstruktiven Dialog treten zu können.108 Ohne Druck aber hätte sich die SED-Führung auf absehbare Zeit nicht gezwungen gesehen, den Dialog aufzunehmen oder gar die Gruppen als Gesprächspartner zu akzeptieren. Die Entwicklung, welche die Vertreter der Opposition zweieinhalb Monate später an den Zentralen Runden Tisch brachte, hing entscheidend von der Kombination von Dialog und Druck ab. Den Dialog boten die (Berliner) Gruppen an, der Druck jedoch ging von Leipzig aus. Die dort allwöchentlich skandierte Forderung »Neu-es Fo-rum zu-las-sen« war dabei nur der äußere Ausdruck einer wechselseitigen Beziehung zwischen Massenmobilisierung und Bewegungsorganisationen. Auch wenn die Entstehung der Leipziger Montagsdemonstrationen einer gänzlich anderen Logik folgte als die Gruppengründungen in Berlin, griffen beide Entwicklungen an einem bestimmten Punkt ineinander. Synchronisiert durch die Ausreisewelle wurden sie zu zwei Teilen eines gemeinsamen Phänomens: des kollektiven Handlungszusammenhanges DDR-Bürgerbewegung. 2. Die Leipziger Montagsdemonstrationen Seitdem am 9. Oktober 1989 70.000 Menschen durch ihre Teilnahme an der entscheidenden Montagsdemonstration einen Wendepunkt in der Entwicklung der DDR herbeigeführt haben, reißt die Diskussion darüber, wessen Verdienst die Massenteilnahme gewesen ist, nicht ab. Zwei Ansätze stehen sich gegenüber: Karl-Dieter Opp kommt auf der Grundlage einer umfangreichen 106 Eberhard Seidel, Interview in: die taeeszeitung vom 5.10.1989, S. 6. 107 Im »Aufruf an alle Sympathisanten« des Neuen Forums vom 4.10.1989 heißt es: »Wir wollen den besonnenen Dialog, ernstes Nachdenken über unsere Zukunft, keine blinden Aktionen«, in: Rein, Opposition, S. 15. 108 Vgl. FAZ vom 11.10.1989, S. 2.

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Befragung von Beteiligten zu dem Ergebnis, daß das Engagement der Oppositionellen in den individuellen Kosten-Nutzen-Rechnungen der Teilnehmer praktisch keine Rolle gespielt habe. Die Mobilisierung der Massen sei vielmehr spontan erfolgt, so daß das Verdienst dem Volk selbst zukomme, das sich eine »volkseigene Revolution« geschaffen habe.109 Opps These der rationalen ad-hoc-Entscheidungen ist von Helmut Fehr als »analytisch unterkomplex«110 verworfen worden. Fehr betont die kognitiven und sozialen Lernprozesse, welche die Teilnehmer und Beobachter der Demonstrationen von Woche zu Woche machten. Da die ersten Demonstrationen maßgeblich von Mitgliedern der oppositionellen Gruppen getragen worden seien, wurden die späteren Massenproteste seiner Meinung nach durch die Oppositionellen initiiert und in Form und Inhalt entscheidend durch ihre Denk- und Handlungsmuster geprägt. Die Konfrontation zwischen den Vertretern der verschiedenen Forschungsrichtungen hat bislang den Blick auf die Tatsache verstellt, daß sich die beiden Ansätze keineswegs ausschließen. Sie verfolgen unterschiedliche Perspektiven, die sich gegenseitig bedingen und ergänzen. Denn bevor größere Bevölkerungsteile persönliche Kosten-Nutzen-Rechnungen über die Teilnahme an dem Protest anstellen konnten, bedurfte es des in der Nikolaikirche geschaffenen Angebotes, über das entschieden werden konnte. Auf der anderen Seite ging die Nachfrage weit über das hinaus, was die Leipziger Oppositionsgruppen hätten organisieren können, so daß sie nur durch die vieltausendfache individuelle Entscheidung für eine Teilnahme zu erklären ist. Um diesem wechselseitigen Zusammenhang Rechnung zu tragen, stehen im folgenden zunächst die Ereignisse bis zum Sommer 1989 im Mittelpunkt des Interesses. Bis zu diesem Zeitpunkt war es gelungen, den Leipziger Nikolaikirchhof als oppositionellen Handlungsraum zu erobern und wichtige Voraussetzungen der weiteren Entwicklung zu schaffen. Daß die durch die Gruppen geschaffenen Voraussetzungen allerdings nicht mit den Ursachen der Massenmobilisierung zu verwechseln sind, zeigt der zweite Teil des Kapitels, der die Ausweitung der Proteste im September 1989 untersucht. 2.1. Die Friedensgebete in der Nikolaikirche »Nikolaikirche offen für alle« - so verkündete seit 1986 ein an der Kirche angebrachtes Schild, das auf die Initiative des Gemeindepfarrers Christian Führer zurückging. Ein wesentliches Element dieser offenen Kirche waren die Friedensgebete, die seit Anfang der achtziger Jahre jeweils montags um 17.00 Uhr stattfanden. Sie waren von Beginn an nicht nur kirchliche Gottesdienste, son109 So der Titel des Buches von Opp/Voß. 110 Fehr, Öffentlichkeit, S. 276. Zum folgenden vgl. ebd. S. 239-251.

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dem hatten zugleich den Charakter einer politischen Veranstaltung. Mit Gebet, Predigt, Fürbitte und Segen handelte es sich in Form und Status um einen Gottesdienst, der dem direkten Zugriff des Staates entzogen war. Die Inhalte und Themen jedoch zielten nicht nur auf die Gemeindemitglieder und auch nicht nur auf Christen. Während 1982, auf dem Höhepunkt der Debatte um die atomare Nachrüstung in Europa, der militärische Frieden in der Welt im Mittelpunkt stand, erfuhren die Themen in den folgenden Jahren in dem Maße eine Ausweitung, wie der Friedensbegriff auf andere Bereiche übertragen wurde. Als »Frieden mit der Umwelt«, »Frieden mit der Dritten Welt«, »Frieden in der Gesellschaft« konnten alle Themen, welche die Menschen bewegten, zum Gegenstand der Gespräche werden. Pfarrer Christoph Wonneberger, dem seit 1986 die Koordination der Friedensgebete oblag, formulierte die Überschneidung von christlichen und politischen Anliegen später folgendermaßen: »Es kann aber auch so weit gehen, daß das Kyrie zum Protest führt. Der Protest wird gemeinsam artikuliert, [...] dadurch wird Öffentlichkeit hergestellt. Die Friedensgebete haben die Funktion eines Zwischengliedes zwischen Persönlichem und Öffentlichem. Sie gründen sich tief in der Theologie, führen aber bis zum aktuellen politischen Handeln.«111 Getragen wurden die Friedensgebete durch die verschiedenen Leipziger Oppositionsgruppen, welche die Veranstaltungen im wöchentlichen Wechsel gestalteten. Für sie waren die Gebete der zentrale Treff- und Kommunikationspunkt. Hier wurden Informationen bekannt gegeben und Texte verlesen, die eine - wenn auch beschränkte - Öffentlichkeit erreichten.112 Welche Gruppe wann die Gestaltung übernahm, wurde seit 1986 von einem eigens dafür eingerichteten Ausschuß der Bezirkssynode koordiniert, der sich zu gleichen Teilen aus Vertretern der Kirche und der Gruppen zusammensetzte. Das Verfahren gewährleistete, daß die Veranstaltungen in der Nikolaikirche von der Kirchenleitung als kirchliche Veranstaltungen toleriert und von den Gruppen als politisches Forum akzeptiert wurden. Diese Übereinkunft wurde im September 1988 allerdings in Frage gestellt, als Superintendent Magirius den Gruppen das Recht entzog, die Friedensgebete weiterhin eigenständig zu gestalten. Was war passiert? In Leipzig gab es ungefähr 25 Gruppen mit insgesamt ca. dreihundert Mitgliedern, die in ihrem Engagement das gesamte oppositionelle Themenspektrum von Friedens-, Menschenrechts-, Frauen-, Dritte-Welt- und Umweltgruppen widerspiegelten.113 Sie waren eng in die DDR-weiten Netzwerke der 111 Wonneberger, S. 195. 112 Die Teilnehmerzahlen der Gebete schwankten über die Jahre zwischen wenigen Dutzend und mehreren Hundert Personen. Zur Entstehung und Entwicklung der Friedensgebete bis 1989 siehe Feydt u.a.; die Einleitung und die Dokumente in Dietrich/Schwabe und Dietrich. 113 Zu der Leipziger Oppositionsszene vgl. Pollack, Sozialethische Gruppen; Elvers/Findeis; Rink, Alternativmilieu und Dietrich. Darstellungen der einzelnen Gruppen bieten Unterberg, S. 26ff. und Dietrich/Schwabe, S. 495ff.

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Opposition eingebunden: Leipzig war oft der Treffpunkt überregionaler Aktivitäten und aufgrund der geographischen Lage eine Drehscheibe für die Kontakte mit der tschechoslowakischen Opposition, deren Texte regelmäßig von Mitgliedern Leipziger Gruppen aus Prag mitgebracht und übersetzt wurden.114 Nicht zuletzt war mit Michael Arnold im September 1989 auch ein Leipziger unter den Gründungsmitgliedern des Neuen Forums in Grünheide. Seit 1988 läßt sich für Leipzig eine Entwicklung feststellen, die derjenigen der Berliner Szene sehr ähnelte: Einzelne Personen und Kreise radikalisierten sich in dem Sinne, daß sie die Bürger- und Menschenrechtsproblematik vor die Beschäftigung mit Umwelt- und Friedensthemen stellten. Wie in Berlin waren auch in Leipzig die Ereignisse um die Luxemburg-Liebknecht-Demonstration ein wesentlicher Impuls dieser Entwicklung. Denn in der Folge der Ereignisse im Januar 1988 drängten immer mehr Ausreisewillige in die Friedensgebete, und anders als in Berlin und vielen anderen Städten der DDR wurden sie in Leipzig akzeptiert und integriert.115 Aufgrund der Beschäftigung mit den Hintergründen und Ursachen der Ausreiseproblematik rückten die innenpolitischen Probleme der DDR immer mehr in den Blickpunkt. Die Friedensgebete veränderten ihren Charakter. Mit den Ausreisewilligen kamen Menschen, die mit den christlichen Formen und Inhalten oft wenig anfangen konnten, und auch die Zuspitzung der Themen auf brisante innenpolitische Fragen überschritt in der Sicht der Kirchenleitung den Rahmen dessen, was man als kirchlich tolerieren konnte und wollte. Nach der Sommerpause der Friedensgebete wurde den Gruppen im September 1988 deshalb die Gestaltungsfreiheit entzogen. Da ihr Protest gegen den Ausschluß kein Gehör fand, reagierten die Betroffenen, indem sie ihre Aktivität aus der Kirche heraus auf den Platz vor der Kirche verlagerten. Die Gottesdienste selbst verfolgten sie stumm, nach dem Gottesdienst aber trafen sie sich zu Gesprächen auf dem Kirchhof. Materialstapel der Bauarbeiten, die zu dieser Zeit im Gangewaren, dienten als improvisierte Bühnen, von denen Ansprachen gehalten und Texte verlesen wurden. Auch die von Pfarrer Führer initiierten Gesprächsrunden für Ausreisewillige, die bislang in der Kirche abgehalten worden waren, fanden nun ebenfalls vor der Kirche statt, so daß mitunter mehrere hundert Personen im Anschluß an die Gebete im Kirchhof blieben.116 Erstmals wurde damit ein öffentlicher Platz zum Forum einer oppositionellen Öffentlichkeit. Die Erfahrungen mit den allwöchentlichen Versammlungen auf dem Nikolaikirchhof bestätigten die Beteilig114 So Uwe Schwabe im Gespräch mit dem Autor am 30.1.1998 in Leipzig. 115 Während sich die Berliner Gruppen nach der Luxemburg-Affäre strikt von den Ausreisewilligen abgrenzten, kam es in Leipzig zu einer ausgeprägten, wenn auch nicht spannungsfreien Kooperation, vgl. Dietrich, S. 607ff.;Joppke, Leipzig, S. 401 ff. 116 Vgl. hierzu Dietrich, S. 617ff Die Auseinandersetzungen zwischen den Gruppen, der Gemeinde- und der Kirchenleitung sind dokumentiert in Dietrich/Schwabe, S. 178ff

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ten darin, daß es möglich war, durch Aktionen außerhalb der kirchlichen Mauern eine weitere Öffentlichkeit zu erreichen. Damit vollzogen die Leipziger Gruppen -wenn auch zunächst unfreiwillig- denselben Schritt, den auch Teile der Berliner Szene zu dieser Zeit propagierten: Der kirchliche Schutzraum wurde zugunsten eigenständiger Ausdrucks- und Handlungsformen verlassen. Während jedoch die Berliner Initiativen, die später unter anderem zur Gründung des Neuen Forums führten, vor allem auf eigenständige Organisations-zusammenhänge zielten, stand in Leipzig die Umsetzung eigenständiger Aktionsformen im Vordergrund. Hier wie dort waren die Impulse von zivilgesellschaftlichen Leitideen getragen. Eines der zentralen Elemente der zivilgesellschaftlichen Ansätze bestand, wie im einleitenden Kapitel dargestellt worden ist, in der Überzeugung, daß nicht die Herrschafts- und Repressionsapparate die tragende Kraft der staatssozialistischen Systeme waren, sondern die Beherrschten selbst, die durch ihr duldendes Verhalten die Regime stützten. Die Voraussetzung einer Demokratisierung wurde daher in der »Überwindung politischer Teilnahmslosigkeit und Trägheit der Bürger zu bewußter Meinungsbildung und -äußerung«117 gesehen. Die Frage war, wie dieser Prozeß befördert werden konnte. Es war ein Kreis von dreißig bis fünfzig Personen aus dem Leipziger Oppositionsmilieu, denen nach den Erfahrungen der Kirchhofgespräche öffentlichkeitswirksame Aktionen als geeignetes Medium dieses Prozesses erschienen.118 Sie verstanden die Demonstrationen nur in zweiter Linie als Mittel zu dem Zweck, konkrete politische Ziele zu erreichen, denn dies war unter den gegebenen Bedingungen weder realistisch noch beabsichtigt. Vielmehr wurden die Demonstrationen als Selbstzweck in dem Sinne verstanden, daß die bloße Teilnahme an der Aktion schon der erste Schritt der Demokratisierung war: Die persönliche Entscheidung des Einzelnen, sich aktiv für seine Belange zu engagieren, implizierte bereits, daß er sich aus den undemokratischen Handlungs- und Denkmustern befreit hatte. Die Teilnahme an einer Aktion sollte daher, wie es Christian Dietrich später formulierte, zu einem »politischen Outing«119 werden, das den vormaligen Untertanen zu einen autonomen Bürger machte. Dabei war allen Beteiligten bewußt, daß einer aktionsorientierten Strategie enge staatliche Grenzen gesetzt waren. Sich an die staatlichen Vorschriften zu halten, hätte jedoch bedeutet, auf Aktionen zu verzichten. Der Umkehrschluß aus dieser Tatsache lag nahe und wurde in Leipzig deutlicher als in anderen Städten gezo117 Erklärung der im Januar 1989 verhafteten Leipziger Gruppenmitglieder (23.1.1989), in: ebd., S. 268. 118 Zu den Gruppen und den Radikalisierungsprozessen siehe Unterberg, S. 41 ff. und Dietrich, 634ff. 119 In dem »politischen Outing« der Bürger und dem damit verbundenen »Abdanken der Untertanen als Untertanen« wurde, so Dietrich (S. 634) der wesentliche »Hebel zur Beendigung des geschlossenen Systems und der SED-Herrschaft« gesehen.

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gen: Wo jede abweichende öffentliche Meinungsäußerung illegal war, schien ein öffentliches Engagement nur auf dem »Weg der gewaltlosen, symbolischen bzw. begrenzten Gesetzesverletzung möglich« - hieß es in einem Positionspapier der Demokratischen Initiative, deren Mitglieder sich zuvor mit den Klassikern des zivilen Ungehorsams auseinandergesetzt hatten.120 Von diesen strategischen Erwägungen blieben die Friedensgebete nicht unberührt. Sie wurden zu einem Experimentierfeld, auf dem die Reaktionen der Staatsmacht und die Grenzen des Möglichen getestet wurden. Obwohl die Gruppen seit Beginn des Jahres 1989 wieder in die Gestaltung der Gottesdienste einbezogen waren, fanden die anschließenden Versammlungen weiterhin auf dem Vorplatz statt, weil man sich die einmal erkämpfte Öffentlichkeit des Kirchhofes nicht mehr nehmen lassen wollte. Anders als die spektakulären Formen der Regelverletzung, wie etwa die verschiedenen Demonstrationen im ersten Halbjahr 1989,121 die klare Straftatbestände erfüllten und ein entsprechend rigoroses Eingreifen der Sicherheitskräfte zur Folge hatten, stellten die Versammlungen auf dem Kirchhof die staatlichen Verantwortlichen vor ein Dilemma: Einerseits lag der Straftatbestand einer Zusammenrottung vor,122 andererseits gaben die Versammelten durch ihr defensives Verhalten keinen Anlaß zu einem gewaltsamen Einschreiten. Zudem handelte es sich bei den Versammelten um Gottesdienstbesucher, die sich in unmittelbarer Nähe der Kirche befanden, so daß sich ein Eingreifen dem Vorwurf eines Willküraktes gegen eine kirchliche Aktivität ausgesetzt hätte. Die staatlichen Stellen tolerierten die Treffen daher zunächst und versuchten, Druck auf die Kirchenleitung auszuüben, um das Ärgernis auf indirektem Wege aus der Welt zu schaffen. Diese Versuche griffen jedoch ins Leere, weil die Kirchen- und Gemeindeleitung darauf verweisen konnte, daß die Geschehnisse nach Beendigung des Gottesdienstes nicht in die Verantwortung der Kirche fielen und von dieser deshalb auch nicht zu kontrollieren waren.123 Da auch Einschüchterungsversuche und Geldbußen für einzelne oppositionelle Rädelsführer nicht zum gewünschten Ergebnis geführt hatten, konzen120 Positionspapier der »Demokratischen Initiative« (Februar 1989), in: Dietrich, S. 640. 121 Am 15.1.1989 war es zum Gedenktag der Ermordung von Luxemburg und Liebknecht zu einer Demonstration von ca. siebenhundert Personen auf dem Marktplatz gekommen. Am Abend des 7.5. demonstrierten ca. tausend Menschen gegen die Fälschung der Kommunalwahlen und am 4.6. wurde der traditionelle Pleiße-Gedenkmarsch abgehal-ten. Besonderes Aufsehen erregte das Straßenmusikfestival am 10.6., als die Polizei gegen Musikanten und ca. tausend Zuhörer einschritt, (vgl.: ABL, Hefter 1, Ordner: Ereignisse: 10.6.1989, Leipziger Straßenmusikfestival). 122 §217.1 des Strafgesetzbuches der DDR bedrohte die Teilnahme an einer »die öffentliche Ordnung und Sicherheit beeinträchtigenden Ansammlung« mit bis zu zwei, für »Rädelsführer« (§217.2) mit bis zu acht fahren Freiheitsstrafe. 123 Dieses Argument wurde vor allem in den Auseinandersetzungen im Vorfeld des Friedensgebetes am 4.9.1989 betont (vgl die Dokumente 192 und 194 in Dietrich/Schwabe, S. 377 und 379). Die Lage des Nikolaikirchhofes in der Grauzone zwischen Staat und Kirche beschreiben Dietrich/ Schwabe daher als eine »perfekte strategische Konstellation« (ebd. S. 483).

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trierten sich die Leipziger Behörden auf die zweite Teilnehmergruppe an den Versammlungen: die Ausreisewilligen, die seit Anfang des Jahres 1988 vermehrt an den Gottesdiensten und Gruppenaktivitäten teilnahmen. Vor konfliktträchtigen Ereignissen wurden die Ausreiseanträge von engagierten Antragstellern genehmigt, die daraufhin zum Teil binnen 24 Stunden ausreisen mußten. So wurde beispielsweise in den Tagen vor den Kommunalwahlen im Mai 1989 2.000 Anträgen stattgegeben - ein »Kardinalfehler«,124 wie der Leipziger Superintendent Richter später feststellte, denn diese Genehmigungspraxis machte die Teilnahme für andere Antragsteller um so attraktiver. Nicht nur aus Leipzig, sondern auch aus der Umgebung und aus angrenzenden Bezirken kamen Ausreisewillige, die, wie das MfS notierte, in Verhören »unverhohlen« erklärten, »daß sie mit ihrer Teilnahme an der Formation das Ziel verfolgten, [...] ihrem Antrag Nachdruck zu verleihen bzw. auf sich aufmerksam zu machen.«125 Anstatt dem Protest den Boden zu entziehen, schuf diese Maßnahme ein neues Mobilisierungspotential, das die Teilnehmerzahlen deutlich erhöhte. Zusammen mit den Mitgliedern der oppositionellen Gruppen nahmen die Ausreisewilligen Montag für Montag die Gelegenheit wahr, die Friedensgebete als Ort der Selbstverständigung und des Protests zu nutzen. Da die Versammlungen auf dem Kirchhof stets versuchten, die Grenzen des Machbaren auszuloten, kam dem Verhalten der Polizei eine große Bedeutung zu, denn schließlich war sie es, die diese Grenzen in der konkreten Situation definierte. Bis Anfang Mai hielten sich die Sicherheitskräfte an den Montagabenden zurück, so daß die Versammelten sich nicht direkt mit den Polizisten konfrontiert sahen. Dadurch wurde der Spielraum des Machbaren zwar vergrößert, andererseits aber fehlte den Aktionen in gewissem Sinne ein Gegenüber. Der Strategiewechsel, den die Sicherheitskräfte Anfang Mai vollzogen, veränderte diese Situation grundlegend. Hatte man die Versammelten bislang ohne Polizeipräsenz gewähren lassen, zogen seit dem 8. Mai Montag für Montag Polizeiketten um den Kirchhof auf, die den Ereignissen eine neue Qualität verliehen. Die Konfrontation mit den Sicherheitskräften erzeugte eine Dynamik, die eine entscheidende Bedeutung für die weitere Entwicklung bekommen sollte. Denn erst die starre Repressionstaktik machte aus den Versammlungen auf dem Kirchhof Zusammenrottungen und erzeugte diejenigen Personenbewegungen, die den Kern der späteren Massendemonstrationen darstellten. Der Verlauf des 8. Mai war strukturbildend für die weitere Entwicklung. Am Tag nach den Kommunalwahlen, die auch in Leipzig von Vertretern der Opposition kontrolliert worden waren, hatten sich neunhundert Personen zum Friedensgebet eingefunden. Obwohl Oberkirchenrat Auerbach die Anwesenden 124 Johannes Richter, Interview in Rein, Opposition, S. 183. 125 MfS/BVfS Leipzig: »Untersuchung des Vorkommnisses im Anschluß an das Friedensgebet am 22.05.1989« in Dietrich/Schwabe, S. 331-334, Zitat S. 332.

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am Ende der Veranstaltung aufforderte, unverzüglich und ruhig nach Hause zu gehen, blieben rund dreihundert Personen im Kirchhof, um zu reden und zu diskutieren. Der weitere Verlauf der Ereignisse wurde von den Beteiligten unterschiedlich wahrgenommen: Laut MfS kam es um 18.25 Uhr zu einer »Personenbewegung in losen Gruppen von ca. zweihundert Personen über die Nikolaikirche in Richtung Grimmaische Straße. Bereits 18.28 Uhr war diese Abgangsmöglichkeit in Richtung Innenstadt und auch andere Abgangsstraßen in dieser Richtung durch Kräfte der VP abgesperrt. Nach Aufforderung durch die VP zur Auflösung erfolgte ca. 18.40 Uhr der zögernde Rücklauf in Richtung Nikolaikirche.« Bei der »Unterbindung der versuchten Provokation«, so der Bericht weiter, »erfolgten insgesamt 12 Zuführungen wegen unterschiedlicher Handlungen.«126 Aus der Sicht der Demonstranten stellten sich die Ereignisse genau umgekehrt dar: Nach einer halben Stunde wollte man den Kirchhof verlassen und in kleinen diskutierenden Gruppen Richtung Innenstadt gehen. Dort traf man auf die Polizeiketten, die alle Straßen absperrten, so daß die einzelnen Grüppchen zu einer geschlossenen Menge zusammengedrängt wurden. Dadurch, daß nur der Abgang in Richtung Nikolaikirche offen geblieben war, entstand eine einheitliche Marschrichtung, die aus den eigentlich auf dem Heimweg befindlichen Individuen eine kollektive Demonstration machte.127 Dieser Ablauf der Ereignisse, die Katrin Hattenhauer später mit einem »Viehtrieb«128 verglich, entwickelte sich in den folgenden Wochen zu einem Ritual: Nach dem Verlassen der Kirche gegen 18.00 Uhr sahen sich die durchschnittlich sechshundert Teilnehmer des Gottesdienstes Polizeiketten gegenüber, die den Kirchhof abriegelten. Wer nicht gleich nach Hause ging, wurde auf dem Kirchhof oder in den Nebenstraßen eingekesselt und dann mit den übrigen aufgefordert, die Personenkonzentration aufzulösen. Nur selten leisteten die Anwesenden dieser Aufforderung Folge. Mitunter versuchten einzelne, den Kirchplatz zum Ausgangspunkt einer Demonstration zu machen, in den meisten Fällen aber blieben die Gottesdienstbesucher auf dem Platz, sangen, diskutierten, riefen Sprechchöre, setzten sich auf den Boden und zündeten Kerzen an. Die Sicherheitskräfte reagierten mit Übergriffen und versuchten, den Platz zu räumen, wobei es unerheblich war, daß die Demonstranten nur passiven Widerstand leisteten. Denn sobald die Versammlung einmal als feindlich-negative Zusammenrottung klassifiziert war, bot jede Handlung Anlaß zum Einschreiten, so daß Verhaftungen unter anderem »wegen aktivem Wider126 MfS/BVfS Leipzig: »Information über die Unterbindung des Versuches einer organisierten Personenbewegung im Anschluß an das ›Friedensgebet‹ in der Nikolaikirche am 8.5.1989«, in: ebd., S. 332f. 127 Vgl. Dietrich, S. 646 und die Aussagen der an diesem Abend Verhafteten (Untersuchungsergebnisse der BVfS Leipzig zum 8.5.1989, in: Dietrich/Schwabe, S. 323ff.). 128 Katrin Hattenhauer (Mitglied im AKG und Mitbegründerin der Demokratischen Initiative), Interview in: Neues Forum Leipzig, S. 297.

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stand durch Unterhaken«129 oder auch wegen »dem Anbrennen von Kerzen«130 vorgenommen wurden. Das Kalkül, den Staat vor die Wahl zu stellen, entweder die Versammlungen zu tolerieren und seine ordnungspolitische Autorität einzubüßen oder aber gegen friedliche Demonstranten vorzugehen und damit die moralische Legitimation zu verlieren, ging auf. Die Reaktionen der Staatsmacht, die im April Leipziger Betriebskampfgruppen üben ließ, Plätze und Straßen zu räumen, weil - so das Szenario der Übung - »kirchliche Kreise die Bevölkerung aufwiegeln und es schon zu Zerstörungen gekommen sei«,131 wurden als unnötig und ungerechtfertigt empfunden. Das überzogene Vorgehen der Volkspolizei gegen das eigene Volk sollte zur Basis einer Solidarisierung werden, die weit über den Kreis der unmittelbaren Teilnehmer hinausging. Denn Montag für Montag fanden sich mehr Neugierige in der Umgebung des Kirchhofes ein, die hinter den Sperrketten standen und die Ereignisse beobachteten. Vielen von ihnen fiel es schwer, das offiziell verbreitete Bild der Randalierer und staatsfeindlichen Rowdys132 mit den Umständen in Einklang zu bringen, die sie selbst miterlebten. Die Übergriffe auf friedliche, sitzende und singende Demonstranten erzeugten bei den Umstehenden Empörung, die zu spontanen Solidarisierungen führte. Unbeteiligte Personen griffen bei unverhältnismäßig brutalen Verhaftungen ein und nahmen das Risiko der eigenen Verhaftung in Kauf, wenn sie die Sicherheitskräfte zu einem gemäßigteren Vorgehen bringen wollten.133 Die Mechanismen des Überganges vom Beobachter zum Teilnehmer veranschaulicht der Bericht von Detlef Pollack, der am 7. Mai miterlebte, wie die Polizei willkürlich einzelne Personen aus der Menge herausgriff und auf bereitstehende Lastwagen warf. Als plötzlich der Mann neben ihm herausgegriffen wurde, »war zum ersten Mal meine Beobachterrolle völlig weg. Ich bin zum Teilnehmer geworden und zwar so, daß ich selber so empört gewesen bin, daß ich mit den Leuten zusammen geschrien habe.«134 129 Information der SED-Stadtleitung Leipzig »über das ordnungswidrige Verhalten von Teilnehmern nach dem Friedensgebet am 12.6.1989«, in: Dietrich/Schwabe, S. 353f., Zitat S. 354. 130 Fernschreiben des Leiters der BVfS Leipzig an leitende Mitarbeiter des MfS über den Verlauf des Friedensgebetes am 3.7.1989, in: ebd., S. 371f., Zitat S. 372. 131 So der »Tagesbefehl zur angenommenen Lage« einer Betriebskampfgruppenübung in Delitzsch, der seitens der Beteiligten zu Protest und Befehlsverweigerungen führte. Vgl. den diesbezüglichen Bericht der BVfS Leipzig in: Besier/Wolf, S. 608. 132 Vgl. die Zusammenstellung von Berichten aus der LVZ in: Neues Forum Leipzig, S. 41 f., S. 59ff. 133 So schritt S.K., der seine Kinder vom Gebet abholen wollte, am 8.5. gegen die rabiate Art und Weise einer Verhaftung ein mit der Folge, daß man ihm den Arm auf den Rücken drehte, seinen Kopf auf die Motorhaube eines PKWs schlug, ihm Handschellen anlegte und schließlich verhaftete. Vgl. MfS/BVß Leipzig: »Untersuchungsergebnisse im Zusammenhang mit den Verhaftungen im Anschluß an das Friedensgebet am 8.5.1989«, in: Dietrich/Schwabe, S. 323-325. 134 Detlef Pollack, zit. nach Opp/Voß, S. 194.

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Auf diese Weise entstand zwischen den Demonstranten, den Sicherheitskräften und den Zuschauern eine Interaktion, für die der Nikolaikirchhof mit fünf Straßeneinmündungen und seiner Lage in der relativ unübersichtlichen Innenstadt ideale Voraussetzungen bot. Die Gottesdienstteilnehmer drängten nach dem Friedensgebet auf den Kirchhof, darum herum standen die Polizeiketten, und hinter diesen wiederum befanden sich die interessierten Passanten. In diesem Arrangement zeichneten sich bereits die Mechanismen der späteren Massenmobilisierung ab. Zunächst allerdings wurden die Friedensgebete durch die alljährliche Sommerpause unterbrochen, so daß an diesem Punkt der Analyse drei Entwicklungen hervorgehoben werden sollen, die sich vor der Sommerpause etablierten und nach der Wiederaufnahme der Gebete am 4. September 1989 eine entscheidende Bedeutung erlangen sollten. Erstens führten die wiederholten Demonstrationen und ihre Auflösungen dazu, daß ganz Leipzig wußte, wann und wo die Möglichkeit bestand, seinem Unmut Luft zu machen. Wer es nicht persönlich miterlebt oder erzählt bekommen hatte, erfuhr es aus der Leipziger Volkszeitung, die durch ihre Hetzartikel eine unfreiwillige Mobilisierungshilfe bot, indem sie Termin und Treffpunkt der Friedensgebete veröffentlichte.135 Zweitens konnten die Beteiligten Erfahrungen mit den Aktionsformen sowie mit den Reaktionen der Sicherheitskräfte sammeln. Die Gewaltlosigkeit des zivilen Ungehorsams zeigte sich dabei auch in taktisch-strategischer Hinsicht als Mittel der Wahl. Konnte dadurch zum einen ein noch härteres Vorgehen der Sicherheitskräfte vermieden werden, wurde zum anderen deutlich, daß die Gewaltlosigkeit eine zentrale Bedeutung für die Einbeziehung weiterer Bevölkerungsteile hatte, die sich kaum mit gewalttätigen Demonstranten solidarisiert hätten. Darüber hinaus führten die persönlichen Erfahrungen mit der »komischen Repression«136 dazu, daß die Aktivisten ihre Angst vor staatlichen Sanktionen verloren. Auch das bekräftigte sie darin, ihr Engagement nach der Sommerpause fortzusetzen. Drittens etablierte sich in den allwöchentlichen Demonstrationen zwischen Mai und Juli eine Protestkultur, die maßgeblich von den zivilgesellschaftlichen Begriffen der Öffentlichkeit und des aufrechten Ganges getragen und auf eine strikte Gewaltlosigkeit verpflichtet war. 135 Vgl. »Was trieb Frau A.K. ins Stadtzentrum?«, in der LVZ vom 24./25. Juni 1989. 136 Der Begriff der »komischen Repression« (Rüddenklau, S. 361) kennzeichnet die halbherzige Nutzung der strafrechtlichen Möglichkeiten durch die DDR-Behörden, die dazu führte, daß die Repression an Bedrohlichkeit verlor, (vgl. hierzu Süß, Taktik, S. 251 ff.) Dementsprechend selbstbewußt erklärte Jochen Läßig gegenüber staatlichen Vertretern, die ihn vor der Durchführung des Straßenmusikfestivals in Leipzig am 10.6.1989 warnen wollten, daß das zu erwartende Eingreifen der Sicherheitskräfte nicht sehr problematisch sei. Er erklärte: »Ich bin selbst auch schon zugeführt worden. Dann läßt man uns wieder frei. Wenn wir von einer Stelle weggejagt werden, gehen wir an eine andere und machen weiter«, MfS/BVfS Leipzig, Abt. XX/9: »Vorschlag zum Anlegen des Operativvorganges ›Trompete‹« (31.5.1989), in: Besier/Wolf, S. 685-695, Zitat S. 693).

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Abschließend läßt sich feststellen, daß die spezifischen Bedingungen in Leipzig das Ergebnis eines Zusammentreffens von verschiedenen Faktoren waren. Das entschiedene Engagement einiger evangelischer Pfarrer,137 die Integration der Ausreisewilligen, die Aktionsorientierung eines Teiles der Leipziger Oppositionsgruppen und die Lage des Nikolaikirchhofes schufen in Leipzig eine Konstellation, die zur Voraussetzung, nicht aber zur Ursache der späteren Massenmobilisierung wurde. Diese folgte einer gänzlich anderen Logik, welche die oppositionellen Gruppen weder kontrollieren noch beeinflussen konnten. 2.2. Entstehung und Dynamik der Montagsdemonstrationen Das erste Friedensgebet nach der Sommerpause stand unter neuen Vorzeichen. Gebannt verfolgte die Bevölkerung die Ereignisse in Ungarn, wo Anfang September Zehntausende DDR-Bürger nach dem Ende der Urlaubszeit ausharrten und auf eine Öffnung der Grenze warteten. Währenddessen bereitete sich die SED-Führung auf ein besonderes Ereignis vor: auf die Herbstmesse in Leipzig, zu der wie immer zahlreiche internationale Aussteller und Journalisten erwartet wurden. Die Tatsache, daß das erste Friedensgebet nach der Sommerpause mit der Messewoche zusammenfallen sollte, führte zu hektischer Betriebsamkeit. Aus Angst, daß die westlichen Kamerateams den Demonstranten eine öffentlichkeitswirksame Bühne bieten könnten, versuchten die staatlichen Vertreter, die Kirchen- und Gemeindeleitung dazu zu drängen, die Veranstaltung abzusetzen oder doch wenigstens um eine Stunde zu verschieben, um die Zahl der Schaulustigen zu verringern, die nach den Erfahrungen aus der Zeit vor der Sommerpause um 18.00 Uhr an der Nikolaikirche erwartet wurden.138 Die Kirchenvertreter ließen sich allerdings nicht davon abbringen, den Gottesdienst wie üblich stattfinden zu lassen. Wenige Tage vor dem 4. September mußte der Leiter der Leipziger Bezirksverwaltung für Staatssicherheit seinem Minister Mielke daher melden, daß die Entwicklung in den vergangenen Monaten eine Eigendynamik gewonnen habe, die es unmöglich mache, die Ereignisse zu verhindern.139 137 Neben den Pastoren Wonneberger, Führer, Kaden, Turek und anderen war auch das Engagement von Landesbischof Hempel und den beiden Leipziger Superintendenten Magirius und Richter von großer Bedeutung, da sie ihren Handlungsspielraum oft strapazieren mußten, um die Veranstaltungen zu decken. Insgesamt aber waren es nur wenige der ca. 60 Leipziger Pfarrer, die in den 80er Jahren bereit waren, die oppositionellen Gruppen in ihren Aktivitäten zu unterstützen, vgl. Elvers/ Findeis 1990a, S. 60. 138 Vgl. die Briefe und Gespräche, in denen der Leipziger Oberbürgermeister Bernd Seidel und Vertreter des Rates des Bezirks versuchten, Druck auf die Kirchen- und Gemeindeleitung auszuüben, in: Dietrich/Schwabe, S. 376ff. 139 Vgl. die Aussage von Manfred Hummitzsch auf einer Dienstbesprechung beim Minister für Staatssicherheit am 31.8.1989: »Diese ›Friedensgebete‹ brauchte man nicht mehr zu organisie-

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Nicht nur die staatlichen Stellen, sondern auch viele Gottesdienstteilnehmer rechneten mit der Möglichkeit, die Anwesenheit der westlichen Journalisten für eine Demonstration zu nutzen. Nach dem Ende des Friedensgebets, zu dem an diesem Tag 1.200 Menschen gekommen waren, entrollten Vertreter oppositioneller Gruppen vorbereitete Transparente.140 Auch wenn ihnen die Plakate von zivilen Sicherheitskräften bereits nach wenigen Momenten aus den Händen gerissen wurden, gelang es den Oppositionellen, den westlichen Kamerateams ihre Botschaften zu präsentieren: »Für ein offenes Land mit freien Menschen«, »Reisefreiheit statt Massenflucht« und »VersammlungsfreiheitVereinigungsfreiheit«. Der Versuch, einen Demonstrationszug zu initiieren, scheiterte jedoch an den Ausreisewilligen, die vor der Kirche bei den westlichen Medienvertretern stehenblieben, um nun ihrerseits auf sich aufmerksam zu machen. Die Rufe »Wir wollen raus« und »Nehmt uns mit in die Bundesrepublik« übertönten das trotzige »Wir bleiben hier«, das an diesem Tag zum ersten Mal skandiert wurde. Es kam zu einer Konkurrenz um die Medienaufmerksamkeit, durch die sich die Aktionen gegenseitig aufschaukelten. Sie wurden zur Top-Meldung der abendlichen tagesschau, die den Ereignissen einen ausführlichen Bildbericht widmete, in dem die Aktionen der Oppositionellen in den Vordergrund gestellt wurden.141 Darüber hinaus machte der Bericht deutlich, daß die Sicherheitskräfte die Geschehnisse weitgehend toleriert hatten. Bis auf das Entreißen der Transparente hatten sie sich angesichts der Medienpräsenz zurückgehalten und keinen der Beteiligten verhaftet. Die Ausreisewelle und die Medienberichterstattung boten den Auftakt einer Dynamik, die sich im Laufe des Septembers 1989 von Woche zu Woche zuspitzen sollte. Nach der Eroberung des Kirchhofes durch die oppositionellen Gruppen im Herbst 1988 und nach der Eskalation durch die Übergriffe der Sicherheitskräfte seit Mai 1989 war es nun ein dritter Akteur, der zunehmend die Ereignisse bestimmte: die Leipziger Bevölkerung. Die Massenmobilisierung ist allerdings weder allein durch die massenhaften Entscheidungen für eine Demonstrationsteilnahme noch durch das Engagement der oppositionellen Gruppen zu erklären. Es handelte sich vielmehr um einen Prozeß, in dessen Verlauf mehrere Ebenen ineinandergriffen. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung und das Wissen um die Demonstrationen spielten hierbei eine entscheiren, das ist seit Monaten ein solches traditionelles Treffen dieser Leute, da braucht man keine Flugblätter, da braucht man keine anderen Aktivitäten. Die Leute gehen völlig selbständig dorthin«, in: Mitter/Wolle, S. 128. 140 Zu den Ereignissen am 4.9.1989 siehe Rummel, S. 160f; Karl-Heinz-Baum: »Nach Gießen reisen oder Leipzig verändern- das ist die Frage«, in: FR vom 6.9.1989, S. 3; Dietrich, S. 650f. sowie den Bericht des MfS in Dietrich/Schwabe, S. 384f. 141 Vgl. den Bildbericht der Tagesschau vom 4.9.1989, 20:00 Uhr und die Anmoderation zu dem Beitrag in den Tagesthemen um 22:30 Uhr: »Nicht alle der jungen Leute wollen ausreisen. Es gingen vor allem die mit auf die Straße, die sich in der DDR für mehr Demokratie und Reisemöglichkeiten einsetzen.«

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dende Rolle. Aus individuellen Entscheidungen und kollektiven Lernprozessen entstand ein dynamisches Wechselspiel, das jeden Montagabend wieder neue Möglichkeiten und Handlungsbedingungen schuf. Schon am folgenden Montag, dem 11. September, fanden sich bereits während des Gebetes über hundert Schaulustige auf dem Nikolaikirchhof ein, obwohl die Volkspolizei schon seit 16.00 Uhr präsent war. An diesem Tag konnten die Demonstranten nicht mehr auf die schützende Rolle der Westmedien zählen, denn nach der Messewoche beschränkte sich der Arbeitsradius der Korrespondenten wieder auf Berlin. Die über tausend Gottesdienstbesucher sahen sich daher nach dem Verlassen der Kirche dem gewohnten Szenario gegenüber: »Kleine Grüppchen stehen auf dem Kirchplatz. Es wird geschwatzt, geraucht, man sucht Bekannte. Die schaulustige Leipziger Bevölkerung hat sich auch heute außerhalb der dichten Reihen Bereitschaftspolizei versammelt. Hunde bellen, eine Stimme aus dem Megaphon eines der grünen Wagen ist zu vernehmen: ›Bürger! Verlassen Sie den Nikolaikirchhof! Bei Nichtbefolgen polizeiliche Maßnahmen!‹ Sie wird übertönt durch Buh-Rufe und lautes Pfeifen von inner- und auch außerhalb der Barrieren stehenden Menschen. Stehen. Warten. [...] Einige wenige gehen. Nun erfolgen die Maßnahmen. Die kaum bereiten Bereitschaftspolizisten, die uns kaum in die Augen blicken können, werden von den in der zweiten Reihe stehenden Grauhemden, die wohlbestückte Schultern erkennen lassen, und den ›Unauffälligen‹ mittels gebrüllter Befehle und drängender Hunde auf die Menge zugeschoben. Sie kreisen die Gruppe ein. Immer enger. Die ›Hintermänner‹ greifen sich indessen einzelne aus der Masse heraus. Teilweise erscheint dies gezielt- teilweise ohne System- vor sich zu gehen. Jeweils drei Polizisten schleifen eine/n weg. Wer sich wehrt, wird an den Haaren fortgezogen, Hände werden auf dem Rücken zusammengedreht, Finger werden umgebogen. Manche lassen sich schweigend abführen, andere werden auf die LKWs getragen, Schreie von Frauen, Männern und auch Kindern werden laut...« 142 Bei keiner der vorhergehenden Montagsdemonstrationen hatten die Sicherheitskräfte so hart eingegriffen. Auch die Zahl der Verhaftungen lag deutlich über den bisherigen Erfahrungen, ebenso die Strafen, die gegen die Verhafteten verhängt wurden. Vielen der 89 Inhaftierten wurde ohne Gerichtsverfahren eine Geldbuße zwischen tausend und fünftausend Mark auferlegt, 13 von ihnen blieben in Untersuchungshaft und wurden später zu Gefängnisstrafen zwischen vier und sechs Monaten verurteilt. Eine Abschreckung konnte die Staatsmacht dadurch jedoch nicht bewirken. Im Gegenteil: Die Inhaftierungen wurden zum Auslöser einer Solidaritätswelle. In Leipzig fanden in den folgen142 Erlebnisbericht von Katharina Führer zum 11.9.1989, in: Dietrich/Schwabe, S. 386f. Vgl. zum 11.9. auch den Bericht von K. Boche (ebd., S. 388ff.); die Information der SED-Bezirksleitung (ebd. S. 390ff.); Rummel, S. 163 ff.; den Teilnehmerbericht in Sievers, S. 34f; das Interview mit Katrin Hattenhauer in Neues Forum Leipzig, S. 296-301; die verschiedenen Erlebnisberichte im ABL, Hefter 1, Ordner: 4.9.1989 bis 6.10.1989 und die Filmaufnahmen des MfS (ABL: Videocassette 22, Stasiaufnahmen Leipzig).

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den Wochen täglich Fürbittandachten für die Verhafteten statt. Darüber hinaus stellte die Empörung über die Verhaftungen eine Gemeinsamkeit her, die den Protest von Leipzig in andere Städte überspringen ließ, wo oppositionelle Gruppen Solidaritätsveranstaltungen und Fürbitten organisierten.143 Kaum weniger wichtig als die aktiven Solidaritätsbekundungen war, daß die gewalttätigen Übergriffe auch bei der bislang unbeteiligten Leipziger Bevölkerung auf Unverständnis trafen. Sie weckten weiteres Interesse an den Demonstrationen, die spätestens seit den Fernsehberichten vom 4. September eine große Aufmerksamkeit genossen. Der Impuls, sich selbst ein Bild von den Vorgängen zu verschaffen,144 führte dazu, daß die Zahlen der Gottesdienstbesucher und vor allem die der umstehenden Neugierigen am folgenden Montag erneut anstiegen. Das Fehlen der Ausreisewilligen, von denen nach der inzwischen erfolgten Grenzöffnung Ungarns nur noch wenige kamen, wurde mehr als kompensiert. 1.800 Personen füllten am 18. September die Nikolaikirche, in der erstmals auch die zweite Empore geöffnet werden mußte, um des Ansturms Herr zu werden. In den angrenzenden Straßen sammelten sich über tausend Schaulustige. Sie sollten an diesem Tag zum ersten Mal aktiv in das Geschehen eingreifen. Unter dem Eindruck der brutalen Übergriffe am vorherigen Montag folgten die Gottesdienstteilnehmer an diesem Tag der Aufforderung, den Kirchhof nach der Veranstaltung unverzüglich zu verlassen.145 Zur Verwunderung der Beteiligten wurden sie von den abermals aufgezogenen Polizisten ohne weitere Vorkommnisse durchgelassen. Nachdem die anwesenden Pastoren die letzten noch Zögernden persönlich durch die Sperrketten geleitet hatten, war der Platz gegen 18.30 Uhr fast leer, so daß die Sicherheitskräfte die Ketten auflösten. Nun strömten die Schaulustigen, die zuvor außerhalb der Absperrungen gestanden hatten, auf den Platz, tausend, andere Quellen sprechen von dreitausend Menschen, die nicht am Friedensgebet teilgenommen hatten, füllten den Platz, stimmten die »Internationale« und »We shall overcome« an und skandierten »Wir bleiben hier«. Hatte sich dieser Slogan auf den vorherigen Demonstrationen gegen das »Wir wollen raus« der Ausreisewilligen gerichtet, diente er 143 Die von der Koordinationsgruppe der Leipziger Friedensgebete erstellte Übersicht Fürbittandachten/Solidarität nennt Solidaritätsaktionen in Dresden, Quedlinburg, Gera, Zwickau, Zittau, Potsdam, Halle, Merseburg, Berlin, Eisenach (ABL: Hefter 1, Ordner: 7.10.1989 und folgende, Bl. 50). 144 »In der Zeitung stand ›Zusammenrottungen‹ - aber ich wollte mir eine eigene Meinung bilden über das, was dort in und vor der Nikolaikirche passierte. Ich ging Anfang September das erste Mal. Es war keine Zusammenrottung, da waren Leute, die forderten, was die Mehrheit der Menschen in unserem Land wollte.« (Wolfgang Hentzschel, in: Neues Forum Leipzig, S. 32). 145 Vgl. zum 18.9. den Ereignisbericht von Pf. Führer (in: Dietrich/Schwabe, S. 399f); die Information der Kontaktgruppe vom 23.9.1989 (ebd. S. 414ff); den Bericht der ZAIG des Mfs (ebd. S. 400ff.) und Petra Bornhöft: »Wieder Massenfestnahmen in Leipzig«, in: die tageszeitung vom 20.9.1989, S. 1/2, die die Zahl von 3000 demonstrierenden Schaulustigen nennt.

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dieses Mal eher als gegenseitige Selbstvergewisserung und als eine PositionsBestimmung im eigentlichen Sinne des Wortes: »Wir bleiben hier in der DDR und treten hier für Reformen ein«. Kurze Zeit später griff die Polizei ein. Sie verhaftete auf dem Nikolaikirchhof und an anderen Stellen der Innenstadt zahlreiche Demonstranten, die bis weit in die Nacht hinein festgehalten wurden. Die Ereignisse des 18. Septembers markierten einen Wendepunkt in der Entwicklung. Denn während bislang allein die Gottesdienstbesucher die Demonstrationen getragen hatten, wurden am 18. September erstmals die Schaulustigen zu aktiven Demonstranten. Diese Transformation wiederholte sich an den nächsten Montagen tausendfach: Neugierige, interessierte, aber noch zögernde Menschen reihten sich nach und nach in den Demonstrationszug ein, der am 25. September erstmals den Nikolaikirchhof verließ und über den Leipziger Innenstadtring zog. Zur Erklärung der Massenteilnahme müssen zwei Schritte systematisch auseinandergehalten werden. Erstens: Warum kamen die Menschen in die Innenstadt?, und zweitens: Wie vollzog sich der Übergang vom neugierigen Zuschauen zum aktiven Teilnehmen? Die Antwort auf die erste Frage liegt in den besonderen Strukturkrisen der Region bzw. der Stadt, die wie kaum eine andere unter den bereits dargestellten Problemen der DDR zu leiden hatte. Denn der Schwerpunkt der lokalen Wirtschaftsstruktur auf traditionellen Industriezweigen wie der Metallverarbeitung, der Braunkohleförderung und der Chemieindustrie führte dazu, daß die Honeckersche Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik in Leipzig besonders spürbare Folgen hatte. Die notwendige Modernisierung der Produktionsanlagen scheiterte an der Finanzmisere ebenso wie der Erhalt der Infrastruktur, die Ansiedlung neuer, innovationsfähiger Wirtschaftsbetriebe oder der Ausbau des Dienstleistungssektors. Die Entscheidung der DDR, heimische Rohstoffe zu nutzen, um die Rohstoffimporte drosseln zu können, verstärkte die Konzentration auf den Braunkohletagebau und die weiterverarbeitende Chemieindustrie noch zusätzlich. Die direkte Folge war, daß die Stadt Leipzig zu den ökologisch am stärksten belasteten Gebieten der DDR gehörte. Der Tagebau, der Anfang der achtziger Jahre die Stadtgrenze erreichte, ließ ganze Dörfer und Landschaften verschwinden, und die Kohlekraftwerke sorgten dafür, daß man - wie ein geflügeltes Wort hieß - in Leipzig sah, was man atmete. Die marode Bausubstanz tat ein Übriges dazu, daß Leipzig die einzige Großstadt war, die trotz der Landflucht in der DDR an Bewohnern verlor.146 Darüber hinaus machte die Konkurrenz zu Berlin, für das systematisch Kapazitäten und Ressourcen aus Leipzig und anderen Städten abgezogen wurden, die Ursachenzuschreibung leicht: Daß die in Berlin Schuld an der Misere waren, hatte nicht nur eine politische, sondern auch eine lokalpatriotische Komponente. 146 Zur Strukturkrise der Stadt und der Region Leipzig siehe Hofmann/Rink; Zwahr, Selbstzerstörung, S. 11ff.;Dietrich, S. 582ff.

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Die Unzufriedenheit mit der SED hatte sich im Frühjahr 1989 schon bei den Kommunalwahlen geäußert, bei denen - nach den inoffiziellen Hochrechnungen der Opposition - über 8% der Leipziger Wähler der Abstimmung ferngeblieben waren und über 9% den Wahlvorschlag der Einheitsliste abgelehnt hatten.147 Um edoch die Unzufriedenheit und die individuellen Widerstandsakte in ein kollektives Protestverhalten zu überführen, bedurfte es über die Strukturkrisen der Region hinaus noch zweier weiterer Faktoren: der Ausreisewelle und eines Kristallisationspunktes des Protests. Karl-Dieter Opp hat anhand von umfangreichen Umfragen unter damaligen Demonstrationsteilnehmern gezeigt, daß die Ausreisewelle drei Faktoren beeinflußt hat, die von der Bewegungsforschung als wichtige Bedingungen einer Mobilisierung herausgestellt worden sind. Erstens bestätigen seine Ergebnisse, daß die Ausreisewelle die Unzufriedenheit mit den herrschenden Bedingungen erheblich erhöhte. Die Tatsache, daß sich diese Unzufriedenheit nicht auf einzelne Probleme, sondern auf die Herrschaftsstrukturen richtete, verdeutlicht den Zurechnungsmechanismus, der in den Augen der Bevölkerung die verschiedensten Probleme in der Verantwortlichkeit der politischen Führung zusammenfallen ließ. Dieser Mechanismus wurde durch die Fluchtwelle dramatisch verschärft.148 Ein zweiter Effekt der Ausreisewelle war, daß die Reaktion der SED-Führung offensichtlich als ein Zeichen der Schwäche gesehen wurde. Während in den Jahren zuvor eine Mobilisierung nicht zuletzt aus dem Grund unterblieb, weil weiten Teilen der Bevölkerung ein persönliches Engagement schlicht sinnlos erschien, da man nicht glaubte, damit etwas erreichen zu können, veränderte die Ausreisewelle die Wahrnehmung der Erfolgschancen von Protest entscheidend. Immerhin 68% der Befragten gaben an, daß sie im September und Oktober 1989 zunehmend realistischere Erfolgschancen für kollektive Protestaktionen sahen. Parallel dazu stieg auch die Wahrnehmung des Einflusses, die jeder einzelne seinem potentiellen Engagement beimaß. Angesichts der Tatsache, daß die Beurteilung des wahrgenommenen Einflusses von Protest von der Bewegungsforschung als einer der zentralen Faktoren von Mobilisierungsprozessen nachgewiesen worden ist, läßt sich die Bedeutung dieser Veränderung kaum unterschätzen. Das gilt auch für die dritte Auswirkung der Ausreisewelle, die sich mit Opp als Zuspitzung moralischer Anreize beschreiben läßt. Dazu zählte vor allem, 147 Die oppositionellen Gruppen kontrollierten die Stimmauszählung in 83 von 84 Leipziger Wahllokalen. Dabei konstatierten sie eine Wahlbeteiligung von 91,65% (offizielles Endergebnis für Leipzig: 98,54%) und einen Nein-Stimmen Anteil von 9,07% (offizielles Endergebnis 3,96%), vgl. Unterberg, S. 50. 148 Siehe hierzu und zum folgenden Opp/Voß, bes. S. 108-126 und 251ff Leider sind weder die von Opp ermittelten Daten noch seine Auswertungen unproblematisch. So hält er es etwa nicht für nötig, das erstaunliche Ergebnis zu problematisieren, daß 33% der Befragten angeben, die Kommunalwahlen boykottiert zu haben (ebd. S. 43). Insgesamt aber bietet seine Untersuchung interessante Anhaltspunkte zu Einstellungen und Tendenzen des damaligen Stimmungsbildes.

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daß Wut und Empörung über die SED-Führung dem Gefühl Vorschub leisteten, dem selbstherrlichen Verhalten der Parteispitze eine Gegeninitiative entgegenstellen zu müssen. Der Eindruck, angesichts der Ausreisewelle etwas tun zu müssen, bevor es zu spät war, erzeugte einen immensen Handlungsdruck, der die Bevölkerung aus ihrer Teilnahmslosigkeit riß. Dabei spielte die Ungewißheit um die Zukunft des Landes ebenso eine Rolle wie die Angst um die individuellen Lebensumstände, die sich in vielen Äußerungen von Demonstrationsteilnehmern niederschlug.149 Harald Wagner, damals Pfarrer in Leipzig, brachte die stimulierende Wirkung der Ausreisewelle auf den Punkt: »In Verbindung damit, daß die anderen in den Westen rannten, haben die Leute dann gesagt: ›Entweder- oder. Wir machen nicht mehr mit.‹ Leute, die 45,50,55 Jahre alt sind, die früher nie etwas gesagt haben, denen das alles egal war, [...] die haben jetzt Angst gehabt, daß sie am nächsten Tag ihre Kinder aus dem Fernsehen in Prag oder Budapest winken sehen. Das hat sie motiviert.«150

Anders als in allen anderen Städten der DDR wußten die Leipziger, wohin sie gehen konnten, wenn sie ihre Protestbereitschaft in Protest umsetzen wollten: montags, 17.00 Uhr, Nikolaikirche. Damit istJedochdie Antwort auf die zweite Frage noch nicht gegeben: Wie vollzog sich angesichts der drohenden Übergriffe der Sicherheitskräfte der Übergang vom interessierten Zuschauer zum aktiven Demonstranten? Am 25. September hatten sich bereits zu Beginn des Friedensgebetes um 17.00 Uhr ca. tausend Menschen auf dem Kirchhof versammelt, die in der Kirche keinen Platz mehr gefunden hatten. Dort sprach Pfarrer Wonneberger vor mehr als zweitausend Besuchern über das Thema Gewalt, das auch Gegenstand der abschließenden Anregungen war, in denen Johannes Fischer, Mitglied der Arbeitsgruppe Menschenrechte, Grundregeln des gewaltfreien Widerstandes erläuterte. Er rief die Anwesenden auf, sich und ihre Nachbarn unter Kontrolle zu halten, keine Gewalt anzuwenden, den Sicherheitskräften gegenüber höflich und korrekt zu bleiben und gemeinsam zu singen, um Ängste abzubauen und den Willen zur Gewaltlosigkeit zu demonstrieren.151 Nach letzten Belehrungen für das Verhalten bei einer Verhaftung verließen die Anwesenden die Kirche. Der Vorplatz füllte sich mit 3.500 Menschen, die warteten, was passieren würde. Die Belehrungen über gewaltfreies Verhalten waren ein Anzeichen dafür gewesen, daß man mit erneuten Auseinandersetzungen mit 149 Vgl. bspw. Wolfgang Hentzschel zur Montagsdemonstration am 25.9.1989: »Ich bin mitgegangen- auch aus persönlichen Gründen. Ich bin Vater von drei Kindern, und ich möchte, daß sie in der DDR bleiben [...] Mein Sohn wollte ausreisen; nur weil er ein kleines Kind hat, ist er geblieben. Sonst wäre er gegangen. Jetzt würde der das vielleicht nicht mehr machen.« (in: Neues Forum Leipzig, S. 32f.). 150 Harald Wagner, Interview in Rein, Opposition, S. 175-181, Zitat S. 180. 151 Die Texte aller Friedensgebete sind veröffentlicht in G. Hanisch u.a.; zum 25.9. siehe S. 26-32.

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der Polizei rechnete. Daß es an diesem Abend jedoch zum ersten Mal zu einem Demonstrationszug kommen würde, ahnte niemand.152 Viele von denen, die sich nach Beendigung des Friedensgebets in der Umgebung der Nikolaikirche aufhielten, waren schon zu früheren Gebeten gekommen; andere hatten sich an diesem Tag zum ersten Mal entschlossen, am Gebet teilzunehmen oder auch nur in die Umgebung der Kirche zu kommen, um die Ereignisse zu beobachten. Diese Konstellation wurde erst durch den Ort und den Termin möglich. Die unübersichtliche Lage der vielen Straßen und Plätze sowie die kaum kontrollierbare Bewegung nach dem Ladenschluß der Geschäfte in der nahegelegenen Innenstadt konnte für den Fall, daß man von den Sicherheitskräften angesprochen wurde, als unschuldige Erklärung der Anwesenheit dienen. Nur so war es möglich, sich am Ort des Geschehens aufzuhalten, ohne das Risiko einzugehen, schon wegen der bloßen Anwesenheit verhaftet zu werden. Diese Tatsache bot die Voraussetzung dafür, daß sich auf dem Kirchhof etwas abspielte, was in der Bewegungsforschung als milling (engl.: ziellos herumlaufen) bezeichnet wird: Eine Ansammlung von Personen, die auf den ersten Blick relativ ziellos herumgehen und -stehen, die sich in kleinen Gruppen unterhalten und auf etwas, auf eine Initiative oder ein Ereignis warten. In dem Moment, wo eine Initiative zu einer Aktion erfolgt, entscheidet jeder einzelne, ob er mitmachen will oder nicht. Soziologisch läßt sich zeigen, daß vier Faktoren diese Entscheidung beeinflussen: Erstens sind die Versammelten um so empfangsbereiter für Einflüsse und Entscheidungen anderer, je größer ihre Ungewißheit über die weitere Entwicklung ist. Zweitens ist die Entscheidung des einzelnen von den Diskussionen in den kleinen debattierenden Grüppchen abhängig, in denen sich innerhalb der Menge eine dezentrale Meinungsbildung vollzieht. Drittens hängt die Entscheidung von der Art und Weise der Aktion ab, also der Frage danach, ob man die Mittel und Ziele der Aktion mittragen kann und will. Viertens schließlich wird die individuelle Entscheidung über die Teilnahme von der Anzahl derer beeinflußt, die bereits an der Aktion teilnehmen: Schließen sich nur wenige an, ist das persönliche Risiko hoch; hat sich bereits eine große Menge entschlossen, sinkt das individuelle Risiko und gleichzeitig steigt die Erwartung, tatsächlich etwas bewirken zu können.153 152 Zum Ablauf der Ereignisse am 25.9. siehe die Darstellungen bei Zwahr, Selbstzerstörung, S. 23ff.; Sievers, S. 44f.; Döhnert/Rummel, S. 150f.; Jochen Steinmayr: »Unglaubliches ist geschehen«, in: Die Zeit vom 29.9.1989, S. 7. Außerdem die Aussagen von Beteiligten in Neues Forum Leipzig, S. 31-33; das Fernschreiben des amtierenden Ersten Sekretärs der SED-BL Leipzig, Hakkenberg, an das ZK der SED, in: Dietrich/Schwabe, S. 423f. und den Bericht der ZAIG des MfS in: Mitter/Wolle, S. 174-176. 153 Die Verwendung des milling-Ansatzes schlägt Johnson, S. 68 vor. Zu diesem Ansatz siehe die theoretischen Überlegungen bei McPhail/Wohlstein und Oliver. Die Anwendung des Schwellenwert-Modells auf die Leipziger Montagsdemonstrationen versucht Braun.

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Angesichts der Tatsache, daß am 25. September niemand eine Demonstration geplant oder angekündigt hatte, ist es sinnvoll, die Formierung der Demonstration als eine Vielzahl individueller Entscheidungen zu verstehen, die in der konkreten Situation getroffen wurden. Allerdings waren diese Entscheidungen nicht voraussetzungslos, sondern orientierten sich an den vier genannten Faktoren, die an diesem Abend aus der Versammlung vor der Kirche eine geschlossene Demonstration entstehen ließen. So heterogen die Menge auf dem Kirchhof auch ist, teilt sie verschiedene Gemeinsamkeiten: die Erwartung, daß etwas passieren wird, die Bereitschaft zu Protest, die Angst vor den Sicherheitskräften und ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das wesentlich auf der Abgrenzung von den Sicherheitskräften beruht, die in den Nebenstraßen Stellung bezogen haben. Die Stimmung schwankt zwischen Angst, Euphorie, Beklemmung und Erwartung: »Es liegt was in der Luft. Ein seltsames Gefühl unausgesprochener Gemeinsamkeit.«154 Es werden Lieder gesungen, »We shall overcome« nach den Liedblättern aus dem Gottesdienst, und die Internationale, mangels Textkenntnis nur der Refrain. Rund um die Nikolaikirche herum und in die angrenzenden Nebenstraßen hinein stehen die Menschen, diskutieren und warten. Die detaillierten Filmaufnahmen, die das MfS von dem Geschehen anfertigen ließ, vermitteln das Bild eines Ameisenhaufens:155 Manche verlassen den Hof, andere kommen, man geht herum, trifft Freunde, sucht Bekannte. Um viertel nach sechs kommt zum ersten Mal eine zielgerichtete Bewegung in die Menge. Ohne daß sich klar ausmachen läßt, wer den ersten Schritt getan hat, entsteht eine Bewegung in Richtung Grimmaische Straße, der großen Einkaufsstraße, die keine hundert Meter vom Kirchplatz entfernt ist. Dort sperren Polizeiketten den Weg ab, den die vorherigen Demonstrationen genommen hatten: Die Marschroute Richtung Marktplatz ist blockiert. Damit wird die Bewegung Jedoch nicht aufgehalten, sondern umgelenkt: Nach wenigen Metern in die andere Richtung erreichen die ersten den Karl-Marx-Platz. Sie tasten sich langsam vor, man zögert noch vor roten Ampeln, während gleichzeitig diejenigen, die in der Innenstadt zunächst erwartungsvoll und gespannt abgewartet hatten, auf verschiedenen Wegen ebenfalls zum Karl-Marx-Platz laufen. Innerhalb von Minuten sind es mehrere Tausend und jeder, der kommt, zieht einen weiteren mit. Mit der anwachsenden Zahl steigt auch der Mut. Autos werden zum Anhalten gebracht, Straßenbahnen bleiben im Gewühl stecken und immer wieder werden Sprechchöre laut. Derweil reagiert die Polizei nicht schnell genug, um den sechsspurigen Leipziger Innenstadtring absperren zu können. Ohne daß jemand ein Signal gegeben 154 So der Bericht von Lutz Löscher und Jürgen Vogel zum 25.9.1989, in: Heym/Heiduczek, S. 130. 155 Die Staatssicherheit bediente sich zur Dokumentation der Demonstrationen nicht nur der festinstallierten Kameras auf den umliegenden Häusern, sondern ließ auch Aufnahmen mit einer Handkamera anfertigen, vgl ABL, Videocassette 22, Stasiaufnahmen Leipzig.

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hätte, bewegt sich die Menge in Richtung Hauptbahnhof, den sie gegen 18.50 Uhr erreicht. Der Zug nimmt die volle Straßenbreite ein, wobei in den Grünanlagen und auf den Fußgängerwegen am Straßenrand die Grenze zwischen Marschierenden und Zuschauern so undeutlich ist, daß sich noch Zögernde vorsichtig an den Zug herantasten können.156 Insgesamt ca. fünftausend Menschen erreichen den Punkt, an dem die Demonstration an diesem Tage endet: die Biegung des Ringes am Friedrich-Engels-Platz, wenige hundert Meter vor der Runden Ecke, dem Gebäude der Leipziger Staatssicherheit, das an diesem Tag noch nicht passiert wird. Statt dessen kehrt der Zug um zum Hauptbahnhof, wo ca. achthundert Personen die Westhalle besetzen. Erst jetzt, zu einem Zeitpunkt, als die Demonstration bereits beendet ist, schreiten die Sicherheitskräfte ein und räumen das Gebäude. Drei Teilnehmergruppen hatten diese erste große Montagsdemonstration getragen: Mitglieder der oppositionellen Gruppen, ca. zweitausend Friedensgebetsteilnehmer, die vor der Demonstration die Ansprachen und Verhaltensmaßregeln in der Nikolaikirche gehört hatten, und schließlich ca. 2.500 Personen, die sich erst im Zuge der Formierung der Demonstration entschlossen, sich einzureihen. Worauf beruhte der grundlegende Konsens, der die verschiedenen Teilnehmergruppen zu einem Aktionsbündnis werden ließ? So offen die Situation auf dem Kirchhof auch gewesen war - unstrukturiert war sie nicht. Denn alle Anwesenden teilten das Wissen um die Aktionen der vorhergehenden Wochen. Die Erwartungshaltung, daß etwas passieren würde, stützte sich auf die bisherigen Erfahrungen, die das weitere Verhalten strukturierten. In diesem Sinne verweist Zwahr zurecht auf einen »normativen Konsens der Demonstrationsgemeinschaft«,157 der bei aller Eigendynamik, welche die Ereignisse gewannen, die Bahnen der Entwicklung bestimmte. Ohne daß die Aktionen am 25. September organisiert oder die Ziele und Slogans vorgegeben worden wären, herrschte daher auf dem Kirchhof Übereinstimmung in mehreren zentralen Punkten: Die eventuell bevorstehende Demonstration sollte gewaltfrei verlaufen und wichtiger als Konfrontation mit den Sicherheitskräften war die Kommunikation untereinander. Darüber hinaus gehörte auch die Überzeugung, daß die Aktion nur in zweiter Linie auf eine Auseinandersetzung mit der SED zielte, zum normativen Konsens. Im Vordergrund stand demgegenüber das persönliche Erlebnis, nach Jahren der politischen Apathie aktiv für seine Rechte einzutreten. Kaum zu trennen davon ist das Gemeinschaftserlebnis, das an diesem Abend vielen Teilnehmern die Tränen in die 156 Die Bedeutung der Grauzone zwischen dem eigentlichen Demonstrationszug und den umstehenden Zuschauern verdeutlicht die Aussage des Studenten Dirk Barthel, der im Fall einer Verhaftung um seinen Studienplatz fürchten mußte: »Ich habe mich dann eingereiht oder besser, ich bin immer an der Seite gelaufen, denn ich hatte Angst, da ich auch wußte, was für mich auf dem Spiel steht, wenn ich in die Fänge der Polizei komme«, in: Neues Forum Leipzig, S. 45. 157 Zwahr, Selbstzerstörung, S. 79.

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Augen trieb.158 Detlef Pollack hat zu Recht festgestellt, daß es sich bei den ersten Demonstrationen in Leipzig nicht um politische Demonstrationen im eigentlichen Sinne des Wortes handelte. Es ging nicht um die Durchsetzung konkreter politischer Forderungen, sondern darum, daß sich die Masse als politischer Akteur konstituierte.159 Die Parallelen zu den Konzepten der Zivilgesellschaft lassen sich kaum übersehen: Gewaltfrei und kollektiv schufen die Demonstranten einen öffentlichen Raum, in dem der einzelne die befreiende Wirkungeines selbstbestimmten Engagements erfahren konnte. Die Dynamik, die sich aus dieser Situation ergab, bestätigte die Hoffnungen auf eine individuelle und kollektive Selbstkonstituierung, in welcher der Übergang vom Untertanen zum autonomen Subjekt vollzogen werden konnte. Zugleich erhielten die Demonstrationen mit der massenhaften Teilnahme neue Impulse und Möglichkeiten. Erst der Übergang von einer oppositionellen Protestöffentlichkeit zum Massenprotest machte es möglich, daß aus den Provokationen auf dem Nikolaikirchhof aufsehenerregende Demonstrationszüge wurden. Darüber hinaus erweiterte die Demonstration am 25. September die Protestkultur um ein weiteres Element, das in den folgenden Wochen zu einem festen Bestandteil des Rituals Montagsdemonstration werden sollte. Auch hier zeigt sich wieder die entscheidende Rolle des Wissens um die Abläufe der vorherigen Montage. Ohne daß Jemand die Marschrichtung hätte vorgeben müssen, folgen alle weiteren Demonstrationen der Route, welche die Demonstranten am 25. September genommen hatten: vom Karl-Marx-Platz links herum in Richtung Hauptbahnhof und weiter über den Ring, der am 9. Oktober erstmals vollständig umrundet wurde. Am 2. Oktober, dem Tag nach der aufsehenerregenden Ausreise der Prager Botschaftsbesetzer, wurden die Teilnehmerzahlen erneut übertroffen. Der Ansturm auf die Friedensgebete war so groß, daß auf Initiative des Superintendenten Magirius neben der Nikolaikirche auch die Reformierte Kirche für die Gebetsteilnehmer geöffnet wurde.160 Trotz des erweiterten Platzangebotes sammelten sich ab 17.00 Uhr ca. dreitausend Menschen in der gewohnten Umgebung der Nikolaikirche. Wiederum war die Innenstadt voll von Menschen, die auf das warteten, was sich nach 18.00 Uhr ereignen würde: »Keiner 158 Vgl. Günther Müller über seine Teilnahme am 25.9.: »Ich bin parteios und 56 Jahre alt. [...] Als ich am 25.9. mit Bekannten und Demonstranten das amerikanische Bürgerrechtslied sang, standen mir die Tränen in den Augen, ich fühlte mich nicht alleingelassen, wir lernten den aufrechten Gang. Es war wunderschön ...«, in: Neues Forum Leipzig, S. 31. 159 Vgl. Pollack, Politischer Protest, S. 221. 160 Zur Demonstration am 2.10.1989 siehe die Darstellungen in Sievers, S. 51 ff; Döhnert/ Rummel, S. 151f; Zwahr, Selbstzerstörung, S. 36-45. Außerdem die Berichte von Teilnehmern in Neues Forum Leipzig, S. 45-51; Werner Heiduczek in: Heym/Heiduczek, S. 86-97; Sievers, S. 53-55; Zwahr, Selbstzerstörung, S. 46-50; Tetzner, S. 7-9. Die Perspektive der Sicherheitskräfte verdeutlichen die Materialien in: Dietrich/Schwabe, S. 437ff. und der Bericht der ZAIG des M ß in Mitter/ Wolle, S. 190f

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wußte so recht, was eigentlich geschehen sollte, hinwiederum verließ auch niemand den Nikolaihof.«161 Erneut formierte sich gegen 18.30 Uhr der Demonstrationszug auf eine Art und Weise, die es den Sicherheitskräften unmöglich machte, dem Auftrag Honeckers nachzukommen, demzufolge die Demonstrationen »im Keime erstickt werden müssen«.162 Hätte eine bestimmte Gruppe die Führung übernommen und sich an die Spitze eines klar ausmachbaren Zuges gesetzt, wäre es den Polizisten möglich gewesen, die Aktion zu unterbinden. Dadurch aber, daß ohnehin die gesamte Innenstadt in Bewegung war, war es praktisch unmöglich, den Moment zu bestimmen, in dem das milling, das ziellose Hin- und Herstreifen, eine Richtung bekam und zu einem Demonstrationszug wurde. Dementsprechend mußte die SED-Bezirksleitung Honecker am nächsten Tag melden, daß »die vorbereiteten Varianten zur Räumung des Kirchvorplatzes und zur Kanalisierung der Bewegungsrichtung«163 versagt hatten. Der Versuch der Volkspolizei, den Zug gegen 19.15 Uhr durch eine dreifache Sperrkette am Hauptbahnhof zu stoppen, kam zu spät. Ein Teil der Demonstranten umging die Sperre, die wenig später dem Ansturm von ca. achttausend Menschen weichen mußte. Gewaltfrei bahnte sich die Menge ihren Weg, der sie dieses Mal an der Runden Ecke vorbei bis zur Thomaskirche führte. Erst als dort gegen 20.20 Uhr 1.500 Personen versuchten, den Ring zu verlassen und in die Innenstadt zu ziehen, kam es zu gewalttätigen Übergriffen der Polizei. Sie beschränkte sich nicht darauf, die Demonstration aufzulösen, sondern veranstaltete mit den an diesem Abend erstmals eingesetzten Hundestaffeln eine regelrechte Jagd auf die Demonstranten.164 Der größte Teil der Demonstranten war zu dieser Zeit schon wieder auf dem Heimweg. Es war ihnen an diesem Tag zum zweiten Mal gelungen, einen Kontrapunkt zur Ausreisewelle einerseits und zur Hinhaltetaktik der SED-Führung andererseits zu setzen. 2.3 Die Interaktion zwischen Trägergruppen und Demonstranten Die Ausreisewelle und das Verhalten der SED waren die Grundlage für die zunächst noch indirekte Interaktion der Demonstranten mit den neugegründeten oppositionellen Gruppen in Berlin. Der gemeinsame Hintergrund der Ausreisekrise machte es möglich, daß in der Folge ein Handlungszusammen161 Erlebnisbericht von Werner Heiduczek, in: Heym/Heiduczek, S. 93. 162 Fernschreiben Erich Honeckers an die Ersten Sekretäre der Bezirksleitungen der SED (22.9.1989), als Faksimile abgedruckt in: Der Spiegel 17/1990 vom 23.4.1990, S. 79. 163 So Helmut Hackenberg am 3.10.1989 in einem Fernschreiben an Erich Honecker, in: Dietrich/Schwabe, S. 437-440, Zitat S. 439. 164 Siehe die Filmaufnahmen von diesem Abend in der Fernsehdokumentation von E. Kuhn: »Der Tag der Entscheidung: Leipzig 9. Oktober«, 3.10.1990 im ZDF.

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hang zwischen den beiden Entwicklungen entstand, obwohl sie jeweils völlig unterschiedliche Entstehungsbedingungen hatten, unterschiedlichen Entwicklungslogiken folgten und gänzlich verschiedene Mittel und Strategien einsetzten. Die gemeinsame Basis von Opposition und Bevölkerung bestand in dem Willen, in der DDR zu bleiben und vor Ort für Veränderungen einzutreten, anstatt in den Westen zu flüchten. »Wir bleiben hier« war nicht nur die zentrale Aussage der Montagsdemonstrationen, sondern auch das treibende Motiv hinter den Gründungsaufrufen des Neuen Forums und aller anderen Gruppen. Bei aller Ungewißheit darüber, wie die Veränderungen in der DDR im einzelnen aussehen sollten und was man überhaupt verlangen konnte, waren sich die Demonstranten in Leipzig und die sich formierenden Trägergruppen in einem einig: »De-mo-kra-tie -jetzt oder nie«. In diesem Slogan, der für den 25. September in Leipzig zum ersten Mal belegt ist, artikulierte sich die gemeinsame Grundlinie der Auseinandersetzung mit dem SED-Regime. Inhaltlich war diese Forderung ebenso offen wie die Positionsbestimmungen in den oppositionellen Gründungsaufrufen, und ähnlich wie dort speiste sich die relativ unbestimmte Forderung nach Demokratie aus der Überzeugung, daß es so jedenfalls nicht weitergehen könne. Der entscheidende Nexus zwischen den oppositionellen Gruppen und den Demonstranten bestand in der gemeinsamen Überzeugung, daß das Volk selbst die Initiative ergreifen müsse, wenn man nicht tatenlos zusehen wollte, wie die SED das Land immer weiter in den Ruin trieb. Vor allem den Demonstranten stellte sich die Frage, wer in der verfahrenen Situation zum Träger einer demokratischen Veränderung werden könnte. Die einzigen Akteure, die in dieser Zeit beanspruchten, die wahren Interessen des Volkes gegenüber der SED zu vertreten, waren die oppositionellen Gruppen. Der überwiegende Teil derer, die seit dem 25. September Montag für Montag in Leipzig »Neu-es Fo-rum zu-las-sen« riefen, wird nie einen Aufruf der Gruppe persönlich in der Hand gehabt und gelesen haben. Das war jedoch nicht nötig. Von den Westmedien als legitimer Träger der Hoffnungen für demokratische Veränderungen präsentiert, wurde das Neue Forum zu einem Symbol des gesellschaftlichen Aufbruchs, zu einen Schlagwort für eine Opposition, die gegen den Machtanspruch der SED auftrat. Viel eher als die Gruppen selbst stellten die Demonstranten mit ihrer Forderung nach der Zulassung des Neuen Forums die Verbindung zwischen sich und den Gruppen her. Diejenigen, die mit dem Postulat »Wir sind das Volk« auf die Straße gingen, schrieben den oppositionellen Gruppen einen Status als Volksvertreter im eigentlichen Sinne des Wortes zu. Zusammenfassend läßt sich daher festhalten, daß die durch die Ausreisewelle entstandene Krise an zwei Orten der DDR dazu führte, daß sich Protest nicht nur öffentlich, sondern zum ersten Mal auch öffentlichkeitswirksam artikulieren konnte. Durch Organisationen in Berlin und durch Aktionen in Leipzig 173 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35925-0

wurden Möglichkeiten realisiert, die sich in der spezifischen Konstellation im September 1989 boten. Bislang allerdings standen diese beiden Linien der Mobilisierung noch relativ unverbunden nebeneinander; zu einer Bewegung zusammengeführt wurden sie erst in dem Moment, als ein weiteres Ereignis die Handlungsbedingungen für oppositionelle Aktivitäten in der DDR radikal veränderte: die Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989.

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IV »Demokratie -jetzt oder nie!«: Die Entfaltung der Bewegung 1. Der kritische Moment: Leipzig, 9. Oktober In den ersten Oktobertagen sah sich die SED nicht nur mit den bislang größten Demonstrationen seit 1953 konfrontiert, sondern auch mit einem erneuten Höhepunkt der Ausreisewelle, die sich inzwischen auf die bundesdeutsche Botschaft in Prag konzentrierte. Auf diese doppelte Bedrohung reagierte die SED-Führung mit einer drastischen Maßnahme: Sie ließ am 3. Oktober um 15.00 Uhr die Grenzübergänge zur ČSSR schließen. Auch wenn diese Maß­ nahme primär darauf abzielte, die Ausreisewelle zu unterbinden, übermittelte sie gleichzeitig ein deutliches Signal an die Unzufriedenen in der DDR: Mit der Schließung der letzten bislang noch offenen Grenze machte die SED unmißverständlich klar, daß die Entscheidung über die Zukunft der DDR im Lande selbst getroffen werden würde und nicht in Budapest oder Prag. Die SED-Führung ließ es auf diese Machtprobe ankommen. Ungeachtet dessen, daß weite Bevölkerungsteile die ungetrübte Freude der Parteispitze über die 40jährige Erfolgsgeschichte der DDR nicht mehr teilen konnten, hielt die SED unbeirrt an ihrem Kurs fest und schürte so die Unzufriedenheit, der sie am 3. Oktober endgültig das Ventil der Ausreise genommen hatte. Die Grenz­ schließung beschwor daher eine innere Auseinandersetzung herauf, die durch die Polarisierung in Freund oder Feind des Sozialismus bis auf das Äußerste ideologisch aufgeladen war. Die SED suchte die Entscheidung, indem sie alle ihr zur Verfügung stehenden Machtmittel mobilisierte, um den Protest zu un­ terdrücken. Um so bedeutsamer war es, daß diese Mittel am 9. Oktober in Leipzig versagten. Die Tatsache, daß die SED nicht verhindern konnte, daß 70.000 Menschen in Leipzig für demokratische Reformen demonstrierten, wurde zum Symbol ihrer Niederlage. 1Λ. Mobilmachung der Staatsmacht Am 3. Oktober schärfte Erich Mielke den Leitern der Bezirksverwaltungen des MfS ein, daß die Lage in der DDR nunmehr explosiv geworden sei. »Jetzt muß gehandelt werden«, erklärte Mielke nach Aussage eines beteiligten MfS-Offi175 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35925-0

ziers, »sonst geht der Sozialismus den Bach runter. Wir brauchen jetzt Konsequenz und Härte.«1 Während die SED-Führung bislang versucht hatte, dem Protest mit dem Einsatz von Polizei und Staatssicherheit zu begegnen, führte die veränderte Wahrnehmung der Situation Anfang Oktober zu einer beispiellosen Mobilisierung machtpolitischer Reserven. Dreh- und Angelpunkt dieser Mobilmachung war die ideologische Aufwertung der Proteste, die nicht mehr als feindlich-negativ, sondern nach dem Diktum des Generalsekretärs als konterrevolutionär2 galten. Diese äußerste Form der Gegnerschaft zog den Einsatz äußerster Mittel nach sich. Um den konterrevolutionären Aktivitäten Herr zu werden, aktivierte die SED in der ganzen DDR Einsatzstrukturen und Pläne, die eigentlich für den äußeren Notstand, also für einen Krieg, vorbehalten waren. Den Auftakt dieser Entwicklung gab Erich Honecker, der den Befehl zur Unterdrückung der Unruhen am Rande der Feierlichkeiten zum Geburtstag der Republik am 7. Oktober in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates erließ.3 Damit brachte er eine Instanz zum Einsatz, deren Tätigkeit verfassungsmäßig auf die Landesverteidigung beschränkt war, wobei sie im Verteidigungsfall als Notstandsregierung fungieren und den Oberbefehl über die bewaffneten Organe übernehmen sollte.4 Zugleich wurden mit den Bezirks- und Kreiseinsatzleitungen auch die nachgeordneten Notstandsstäbe aktiviert. Auch sie sollten auf Befehl Honeckers als Schaltzentralen der Repression gegen den inneren Feind eingesetzt werden.5 Mit der gleichen Zielrichtungaktivierte man ein weiteres Notstandsszenario. In der ganzen DDR wurde der sogenannte Vorbeugekomplex aktualisiert, der umfangreiche Listen von Personen umfaßte, die während einer Mobilmachung oder im Kriegsfall kurzfristigverhaftet und in eigens vorbereiteten Internierungslagern inhaftiert werden sollten. Seit Anfang Oktober brachten die Dienststellen des MfS diese Listen auf den neusten Stand und erweiterten sie auf Befehl Mielkes um alle Personen, bei denen »antisozialistische [...] Aktivitäten zu erwarten bzw. nicht auszuschließen« seien.6 Darüber hinaus wurden auch weitere bewaffnete Kräf1 So ein namentlich nicht genannter hoher Offizier des MfS im Interview mit Kuhn, S. 41. 2 Fernschreiben Erich Honeckers an die Ersten Sekretäre der Bezirksleitungen der SED (22.9.1989), als Faksimile abgedruckt in: Der Spiegel vom 23.4.1990, S. 79. 3 »Befehl 8/89 des Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates« (26.9.1989), in: PrzybylskL Bd. 2, S. 367-369. 4 Vgl. Art. 73 der Verfassung der DDR: »Der Staatsrat [...] organisiert die Landesverteidigung mit Hilfe des Nationalen Verteidigungsrates.« 5 In den Einsatzleitungen waren unter dem Vorsitz des 1. Sekretärs der SED-Bezirks- bzw. Kreisleitung die Spitzen von Volkspolizei, Staatssicherheit und Nationalen Volksarmee zusammengefaßt. Vgl. Arnold, S. 37-73. 6 Fernschreiben Erich Mielkes an die Leiter der Diensteinheiten vom 8.10.1989, in: Mitter/ Wolle, S. 201-203, Zitat S. 202. Wie aus verschiedenen Städten belegt ist, kamen die nachgeordneten MfS-Stellen dem Befehl in kürzester Zeit nach. Zu den Planungen und der Umsetzung in Gera, Rostock und Leipzig vgl. Auerbach, bes. S. 128f.

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te mobilisiert. Betriebskampfgruppen und sogar Einheiten der NVA erhielten den Befehl, Volkspolizei und MfS bei ihren Einsätzen gegen die Demonstrationen zu unterstützen.7 Der Sicherheits- und Parteiapparat, das belegen diese Maßnahmen deutlich, nahm die Auseinandersetzung mit den Protesten außergewöhnlich ernst. Die Forcierung der Repressionsmaßnahmen ab Anfang Oktober führte in den Tagen vom 4. bis 9. Oktober zu einer bislang beispiellosen Eskalation der Gewalt, die in den Straßenschlachten um den Dresdener Hauptbahnhof ihren Anfang nahm. Am Abend des Republikgeburtstages, in dessen Umfeld keinerlei Protest geduldet werden sollte, griff die Entwicklung auf andere Städte über. In Berlin, Leipzig, Dresden, Plauen, Karl-Marx-Stadt, Rostock, Magdeburg und Potsdam kam es am 7. Oktober zu den bislang brutalsten Einsätzen gegen friedlich demonstrierende Bürger. Es gab Hunderte von Verletzten, insgesamt ca. 3.500 Personen wurden festgenommen.8 Angesichts der Einsätze am 7. Oktober stellte sich die bange Frage, wie die SED erst reagieren würde, wenn die prestigeträchtigen Feierlichkeiten vorbei und die Staatsgäste abgereist wären. Alle Anzeichen sprachen dafür, daß es nun erst recht zu einer Entfesselung der Gewalt kommen würde. Der Rhythmus der Demonstrationen rückte erneut Leipzig in den Mittelpunkt der Ereignisse: Bei der Montagsdemonstration am 9. Oktober sollte sich zeigen, ob die Einsätze während des Wochenendes nur eine Generalprobe gewesen waren. Hier, und nicht in Berlin, sollte die Machtprobe entschieden werden. Dementsprechend rüstete sich die Staatsmacht in bisher nicht gekanntem Ausmaß, um am 9. Oktober in Leipzig die endgültige Entscheidung herbeizuführen. »Heute entscheidet es sich«, so ein Politoffizier bei der Einweisung von Leipziger Bereitschaftspolizisten am Morgen des 9. Oktobers, »entweder die oder wir.«9 Wie in allen anderen Städten, in denen es zu Demonstrationen kam, oblag auch in Leipzig die Planung und Durchführung der Einsätze den lokalen Sicherheitskräften, die ihre Maßnahmen in der Bezirkseinsatzleitung koordinierten.10 Im Rahmen der am 8. Oktober von Honecker nochmals erneuerten Vor7 Am 27.9.89 befahl Verteidigungsminister Keßler erhöhte Gefechtsbereitschaft für verschiedene Truppenteile in und um Berlin. Eingesetzt wurden NVA-Einheiten erstmals am 4.10.89 in Dresden, weitere Einsätze erfolgten in Berlin, Leipzig, Frankfurt, Chemnitz und Plauen. Zur Rolle der NVA im Herbst 1989 vgl. W. Hanisch. 8 Vgl. zu den Übergriffen am 7.10.1989 die Gedächtnisprotokolle von Beteiligten aus Berlin, Leipzig und Dresden in: Berliner Verlags-Anstalt Union; zu Berlin die Dokumentation in Dann/ Kopka; zu Leipzig die Ereignisberichte in Neues Forum Leipzig, S. 64-70 und Naumann, Wendetagebuch, S. 12ff; zu Karl-Marx-Stadt: Reum/Geißler, S. 35-47. Die Zahl von 3456 Festnahmen nannte Günter Wendland, der Generalstaatsanwalt der DDR, am 18.11.89 vor der Volkskammer, vgl. den Bericht im ND vom 20.11.1989, S. 3. 9 So die Aussage von fünf Bereitschaftspolizisten, in Neues Forum Leipzig, S. 92. 10 Vgl. zur Leipziger BEL die Aussagen von Gerhard Straßenburg, Chef der BDVP, in: Kuhn, S. 132.

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gabe, die zu erwartenden »Krawalle [...] von vornherein zu unterbinden«,11 erstellten die Leiter von Volkspolizei, Staatssicherheit und NVA jeweils für ihre Truppen Einsatzpläne, die sie mit ihren zuständigen Ministern in Berlin abstimmten. Ebenfalls über Berlin liefen die Gesuche des Leipziger Volkspolizeichefs, Betriebskampfgruppen einzusetzen und Polizeieinheiten aus Halle und Neubrandenburg zur Verstärkung nach Leipzig zu beordern. Auch die NVA zog auf Geheiß von Verteidigungsminister Keßler Truppen aus anderen Bezirken in und um Leipzig zusammen.12 Das Ergebnis der Mobilmachung war ein Aufgebot von insgesamt achttausend Mann.13 Da die Verantwortlichen in Leipzig für den 9. Oktober mit bis zu 50.000 Demonstranten rechneten, entwickelten sie ein taktisches Vorgehen, das durch drei aufeinander aufbauende Maßnahmen die Formierung einer Demonstration verhindern sollte. Das erste Ziel war es, potentielle Demonstranten durch das massive Aufgebot abzuschrecken. Sollte dieses Vorhaben mißlingen, sah die zweite Stufe vor, eine Demonstration nicht zuzulassen, das heißt, schon an der Nikolaikirche im Entstehen zu unterbinden. Erst wenn diese präventive Maßnahme versagen und es zu einem Demonstrationszug kommen würde, sollten die vorbereiteten Pläne einer gewaltsamen Auflösung zum Einsatz kommen. Der kritische Punkt dieser dritten Stufe war der Ost-Knoten des Innenstadtringes zwischen Karl-Marx-Platz und Hauptbahnhof, wo der Zug aufgehalten und aufgelöst werden sollte.14 Dabei sollten auch Schützenpanzerwagen zum Einsatz kommen, die mit Maschinenpistolen und aufmontierten Räumschilden bestückt waren. Ihre Kommandanten hatten den Auftrag, auf Befehl mit ihren Fahrzeugen in die Menge zu fahren, um sie aufzuhalten und abzudrängen.15 Die Masse der eingesetzten Truppen und das schwere Gerät schienen einen Erfolg der Strategie »abschrecken, nicht zulassen, auflösen« zu garantieren. Und doch versagten die staatlichen Maßnahmen. An diesem Abend formierte sich die bislang größte und angesichts des Bedrohungspotentiales eindrucksvollste Demonstration des Herbstes 1989. Wie konnte es dazu kommen? 11 Fernschreiben Honeckers an die 1. Sekretäre der SED-Bezirksleitungen vom 8.10.89, in: Mitter/Wolle, S. 200. 12 So wurde etwa das Luftsturmregiment 40 am Abend des 8.10. für 24 Stunden von Berlin nach Leipzig verlegt, vgl. die Aussage von Streletz in Dahn/Kopka, S. 128, 134. 13 Zu diesen ca. 8.000 Mann zählten 3.100 Volkspolizisten, 8 Hundertschaften der Kampfgruppen sowie Mitarbeiter und Einheiten der Staatssicherheit. Zu den Vorbereitungen und Planungen der Sicherheitskräfte für den 9.10. siehe Hollitzer. 14 Zu den taktischen Planungen siehe den »Entschluß des Chefs der BDVP Leipzig zum Ordnungseinsatz am 9. Oktober 1989« (in: Arnold, S. 699ff); die Erläuterungen des Chefs der BDVP, Gerhard Straßenburg in: Kuhn, S. 45ff, 79 und die Aussagen des Oberstleutnants der Bereitschaftspolizei Wolfgang Schröder, ebd., S. 80. 15 Vgl. die Aussagen von zwei Kommandanten, die am 9.10. Schützenpanzerwagen in Leipzig befehligten, in: »Der 9,Oktober in Leipzig«. Versuch einer dokumentarischen Rekonstruktion von R. Rubitzsch und R. Burkhadt [1989], ausgestrahlt am 18.10.1990 auf lPlus.

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ί.2. L eipzig, 9. Oktober 1989 Die bevorstehende Demonstration war schon seit dem Morgen des 9. Oktobers das alles beherrschende Stadtgespräch in Leipzig. Jeder wußte etwas anderes zu berichten, aber alle Informationen ergaben dasselbe Bild: Die Staatsmacht war entschlossen, die Demonstration zu verhindern, und zwar, wie der Kommandeur einer Leipziger Kampfgruppenhundertschaft in der Leipziger Volkszeitung am 6. Oktober öffentlich verkündet hatte, »wenn es sein muß, mit der Waffe in der Hand«.16 Nachdem Krenz wenige Tage zuvor bei einem Besuch in Peking relativ unverhohlen die Möglichkeit einer chinesischen Lösung in der DDR angedeutet hatte, gewannen solche Aussagen erheblich an Glaubwürdigkeit.17 Viele Leipziger waren am Montagmorgen an ihrer Arbeitsstätte, in der Schule oder der Universität davor gewarnt worden, am Nachmittag in die Innenstadt zu gehen, weil dort an diesem Tag »mit der Konterrevolution aufgeräumt« werden sollte.18 Die Nachricht, daß die Geschäfte in der Innenstadt angehalten waren, am frühen Nachmittag zu schließen, schien diese Drohung ebenso zu bestätigen wie die Information, daß Eltern ihre Kinder bis 15.00 Uhr aus den Kindergärten in der Innenstadt abholen sollten. Aus den unterschiedlichsten Quellen kamen immer neue Informationen und Gerüchte, bei denen man schon bald nicht mehr zwischen wahr und falsch unterscheiden konnte. Offenbar waren die Leipziger bereit, ihrer Führung alles zuzutrauen, was dazu diente, ihre Macht zu sichern. So hieß es, die Krankenhäuser seien angewiesen worden, Bettenkapazitäten und Blutkonserven bereitzustellen; die Ärzte hätten Bereitschaftsdienst, und man habe eigens für diesen Tag Spezialisten für Schußwaffenverletzungen angefordert. Wieder andere kannten Funktionäre der Partei, die von einem 10-Punkte-Programm des ZK wußten, demzufolge die Konterrevolution in Leipzig gewaltsam niederzuschlagen sei. NVA-Angehörige, so wurde erzählt, evakuierten ihre Familien aus Leipzig; alle Kasernen seien in Alarmbereitschaft; am Messegelände stünden Panzer; der Schießbefehl sei ausgegeben und auch Skinheads mit MPs sollen gesehen worden sein.19 Die Abschreckungskampagne der SED zeigte Wirkung: Die Informationen und Gerüchte, gleich ob wahr oder falsch, dokumentieren die Angst vor einem anscheinend unausweichlichen Blutvergießen. Diejenigen, die sich trotzdem entschlossen zu demonstrieren, gingen in dem »Bewußtsein, Teilnehmer einer 16 Kommandeur Günter Lutz im Auftrag der Kampfgruppenhundertschaft Hans Geiffert, Leserbrief in der LVZ vom 6.10.1989, S. 2. 17 Vgl. etwa die Äußerungen in dem Bericht »Generalsekretär des ZK der KP Chinas empfing Delegation der DDR«, in: ND vom 27.9.1989, S. 1,2. 18 Siehe die zahlreichen Aussagen von Schülern, Lehrern und Arbeitern in Kuhn, S. 75ff. und in Neues Forum Leipzig, S. 82, 87. 19 Zu den Gerüchten vgl. die Berichte von Sievers, S. 69; Tetzner, S. 17; Pfarrer Führer (in Kuhn, S. 74), Ewald Diehn (in: Neues Forum Leipzig, S. 86) und »AlexZ.« (in Zwahr, Selbstzerstörung, S. 96).

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blutigen Auseinandersetzung zu werden.«20 Eltern organisierten die Fürsorge ihrer Kinder für den Fall, daß sie nicht zurückkämen; von vielen Ehepaaren ging nur einer in die Stadt, damit der andere die Kinder versorgen könnte; andere nahmen Proviant mit, um im Falle einer Belagerung in den Kirchen aushalten zu können.21 Dennoch waren die Folgen der Abschreckungskampagne zwiespältig. Einerseits hatten die Menschen Angst, »panikartige Angst«,22 doch andererseits ließen sie sich dadurch nicht von einer Teilnahme abhalten. Die Androhung von Repression wirkte an diesem Abend eher radikalisierend und mobilisierend denn abschreckend - die SED hatte die ihr noch verbliebene Deutungsmacht bei weitem überschätzt und die Polarisierung zu weit getrieben. Die am 9. Oktober in Leipzig heraufbeschworene Entscheidungssituation ließ den Verlust an Glaubwürdigkeit und Legitimation kulminieren. Einerseits sah sich die Bevölkerung dem Zwang ausgesetzt, Stellung zu beziehen, andererseits war es vielen Menschen unmöglich, sich auf die Seite einer Staatsführung zu stellen, die sich nun auch noch bereit zeigte, Volksarmee und Volkspolizei auf das Volk schießen zu lassen.23 Die Androhung einer chinesischen Lösung geriet in den Augen der Bevölkerung zum letzten und fundamentalen Beleg des Zynismus der SED-Spitze. Die ideologische Zuspitzung verbunden mit der offenen Gewaltandrohung stellte auch Angehörige der SED und der Sicherheitskräfte vor die Alternative, entweder die Entwicklung mitzuverantworten oder aber sich zu verweigern. Kompromisse waren nicht mehr möglich, und kaum etwas spiegelt den Legitimitätsverlust der SED-Herrschaft deutlicher wider als die zahlreichen Angehörigen der Partei und der Sicherheitskräfte, die der SED an diesem Abend die Gefolgschaft verweigerten.24 Die Hoffnung, der Demonstration durch Abschreckung Teilnehmer zu entziehen, verkehrte sich somit in ihr Gegenteil. Die erste Stufe der Sicherheitsstrategie versagte, als sich der von der SED erzeugte Entscheidungszwang in dem Klima der Angst, Wut und Resignation gegen sie selbst kehrte: »Aus dieser Verzweiflung, aus dieser Angst, aus dieser Hoffnungslosigkeit heraus«, beschrieb eine 20 Susanne Rummel, in: Neues Forum Leipzig, S. 83. 21 Vgl. die Äußerungen von Beteiligten inKuhn, S. 75,125ff. und in Neues Forum Leipzig, S. 83. 22 So beschrieb Walter Friedrich, der Direktor des Zentralinstitutes für Jugendforschung, die Stimmung unter dem Eindruck, daß sich angesichts des Aufmarsches die schlimmsten Befürchtungen zu bewahrheiten schienen, (in: Kuhn, S. 85). 23 »Irgendwann muß man doch mal mitreden. Spätestens dann, wenn die Volkspolizei ihr Volk verprügeln will.« Gudrun Fischer, in: Neues Forum Leipzig, S. 84. 24 Zu der Solidaritätserklärung dreier Sekretäre der SED-Bezirksleitung siehe unten. Unter den Sicherheitskräften kam es zu zahlreichen Befehlsverweigerungen, so wurden insgesamt 140 (!) Angehörige der fünf Kampfgruppen-Hundertschaften in den Tagen nach dem 9.10. wegen Befehlsverweigerung vom Dienst suspendiert, vgl. MfS/BVfS Leipzig »Zur politisch-ideologischen Situation in den Kampfgruppen-Hundertschaften« (12.10.1989), in: Sèlitrenny/Weichert, S. 220.

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Teilnehmerin ihre Motivation, war der Entschluß zur Demonstration zu gehen »die einzige Möglichkeit: Jetzt. Entweder die oder wir.«25 Gegen 17.00 Uhr begannen die Friedensgebete. Außer der Nikolaikirche und der Reformierten Kirche waren an diesem Tag auch die Michaeliskirche und die Thomaskirche geöffnet worden, um möglichst viele Menschen in die Sicherheit der Kirchen zu bringen. Das erweiterte Platzangebot sprach sich schnell herum, so daß die Menschen von der Nikolaikirche, die seit dem frühen Nachmittag von etwa tausend SED-Mitgliedern schon zur Hälfte besetzt war,26 auf die anderen Kirchen ausweichen konnten. Insgesamt ca. siebentausend Menschen versammelten sich um 17.00 Uhr in den vier Kirchen.27 Sie alle hatten die Gerüchte gehört und die demonstrativ aufmarschierten Sicherheitskräfte gesehen. Die Stimmung, so eine Teilnehmerin des Friedensgebetes in der Nikolaikirche, »war zum Zerreißen gespannt. Irgendwie schienen wir uns alle zu ducken in Erwartung eines fürchterlichen Schlages. [...] Keiner von uns wollte das Wort Bürgerkrieg oder Blutvergießen aussprechen, aber allen schien es greifbar nahe.«28 Auch die Redner dieses Abends standen unter einer immensen Anspannung. Während von draußen schon die ersten Sprechchöre in die Kirchen drangen, beschworen sie die Versammelten in Predigten und Ansprachen, auf Gewalt zu verzichten. Gewalt seitens der Demonstranten, so der Tenor aller Ansprachen, sei nicht nur aus prinzipiellen Gründen abzulehnen, sondern werde den Sicherheitskräften den Anlaß zum Einsatz geben.29 Dann die Sensation: In allen vier Kirchen wurde der sogenannte Aufruf der Sechs verlesen, den drei Sekretäre der SED-Bezirksleitung, Kurt Meyer, Jochen Pommert und Roland Wötzel, zusammen mit dem Gewandhauskapellmeister Kurt Masur, dem Kabaret25 Interview in: Kuhn, S. 75. Vgl. auch die Äußerung einer anderen Beteiligten: »Es hätte wirklich alles passieren können. Es war aber so unerträglich hier gewesen, daß kein anderer Weg übrigblieb«, ebd., S. 127. 26 Laut dem Maßnahmeplan der SED-Bezirksleitung vom 5.10. sollten 2000 der insgesamt 5.000 eingesetzten gesellschaftlichen Kräfte die Nikolaikirche sofort nach ihrer Öffnung besetzten, damit der »Zugang negativer Kräfte weitgehend eingeschränkt wird«, vgl. Fernschreiben des 2. Sekretärs der SED-Bezirksleitung Leipzig an E. Krenz, in: Dietrich/Schwabe, S. 445-447, Zitat S. 446. 27 Die ungefähren Teilnehmerzahlen verteilten sich wie folgt auf die einzelnen Kirchen: Nikolaikirche: 2500; Reformierte Kirche: 1100; Michaeliskirche: 900; Thomaskirche: 2000 (vgl. Zwahr, Selbstzerstörung, S. 89). Dies ergibt eine Gesamtzahl von ca. 6500 Menschen. Pfarrer Führer sprach später von 9.000, (in: Kuhn, S. 121), während das MfS 5000 Teilnehmer meldete, (vgl.: Mß/ZAIG: »Infomation über eine Demonstration und Zusammenkünfte oppositioneller Kräfte in Leipzig ...« , in: Mitter/Wolle, S. 216-219). 28 Erlebnisbericht von Susanne Rummel, in Neues Forum Leipzig, S. 83f 29 Die Ansprachen, die an diesem Tag in den verschiedenen Kirchen gehalten wurden, sind abgedruckt in G. Hanisch u.a., S. 39-59. Zu Inhalt und Ablauf der Veranstaltungen an diesem Tag vgl. Feydt u.a., S. 128-131; Sievers, S. 72ff. und die zahlreichen Erlebnisberichte in Kuhn, S. 120ff. und in Neues Forum Leipzig, S. 83ff. Aufschlußreich ist auch der Bericht der abgeordneten SEDMitglieder über den Verlauf des Gottesdienstes, in: Dietrich/Schwabe, S. 458ff.

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tisten Bernd-Lutz Lange und dem Theologen Peter Zimmermann verfaßt hatten. Die prominenten Unterzeichner baten um Gewaltlosigkeit und versprachen, daß sie sich gemeinsam einsetzen wollten, um in Leipzig und in der DDR den notwendigen Dialog zu initiieren. Erstmals hatten damit hohe Parteifunktionäre zu erkennen gegeben, daß es auch innerhalb der SED Kräfte gab, welche die Notwendigkeit von Reformen einsahen. Frenetischer Beifall, auch von den in die Nikolaikirche abgeordneten SED-Mitgliedern, folgte der Verlesung des Aufrufes, der erst Minuten vor Beginn der Gottesdienste fertiggestellt worden war.30 Der kurze Moment der Erleichterung wich allerdings schnell wieder der Angst, als von draußen die ersten Pfiffe und »Stasi raus«-Rufe zu hören waren, mit denen die Demonstranten schon in den letzten Wochen auf Übergriffe reagiert hatten. Eindringlich wiederholten Vertreter oppositioneller Gruppen noch einmal die Bitte um Gewaltlosigkeit und gaben den Gottesdienstbesuchern letzte Verhaltensregeln mit auf den Weg: »Durchbrecht keine Polizeiketten«, »Greift keine Personen oder Fahrzeuge an«, »Werft keine Gegenstände und enthaltet euch gewalttätiger Parolen.«31 Um diesen Bitten Nachdruck zu verleihen, wurde ein Flugblatt des Neuen Forums verteilt, das dazu aufforderte, sich auch aktiv für Gewaltfreiheit einzusetzen: »Schützt die Polizisten vor Übergriffen« und »Stoppt Betrunkene, Provokateure, alle Gewalttätigen«.32 Schon während der Friedensgebete waren mehrere Zehntausend Menschen in die Innenstadt geströmt. Noch bevor die Gottesdienstbesucher die Kirchen verließen, herrschte im Stadtzentrum bereits Gedränge. Nicht nur, daß die Menschen den Termin und den Ort des Protests kannten, sondern auch, daß sie ohne weitere Absprachen gemeinsam auf das Ende der Gottesdienste warteten, zeigt, wie entscheidend das Wissen um die Ereignisse der letzten Wochen für die Entwicklung am 9. Oktober war. Dieses Wissen prägte auch den weiteren Ablauf des Abends, als kurz vor sechs Bewegung in die Menschenmenge kam, die sich zwischen den Einheiten der Sicherheitskräfte hin und her bewegte. Da noch kein Anlaß zum Einschreiten bestand, sah die Polizei dieser unkoordinierten, wenngleich nicht ziellosen Personenbewegung tatenlos zu und registrierte, wie sich die Menschen zu den Orten orientierten, an denen sich in den letzten Wochen die Demonstrationen formiert hatten: zur Nikolaikirche und zum Karl-Marx-Platz. »17.55 Uhr: Starke Personenbewegung bzw. Zulauf aus den unterschiedlichen Richtungen zum Karl-Marx-Platz/ Goethestr.«, »17.59 30 Die sechs Unterzeichner hatten sich erst am Montag nachmittag um 15.00 Uhr zusammengefunden, um den Text zu verfassen. Zu den dramatischen Entstehungsumständen des Aufrufes siehe die Interviews mit den Beteiligten in Kuhn, S. 112-119 und in Neues Forum Leipzig, S. 273-293. Der Text selbst ist u.a. abgedruckt in: Rein, Opposition, S. 171. 31 Gemeinsamer Appell der Leipziger Gruppen Arbeitskreis Gerechtigkeit, Arbeitsgruppe Menschenrechte und Abreitsgruppe Umweltschutz vom 9.10.1989, in: Kuhn, S. 83f. 32 Aufruf im Namen von Mitgliedern und Unterstützern des Neuen Forum vom 9.10.1989, in: Kuhn, S. 82f.

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Uhr: Starker Zustrom [...] zum Bereich Markt/ Peterstr./ Grimmaische Str.«, »18.02 Uhr: Die Konzentration im Bereich Messehaus am Markt/ Peterstr./ Grimmaische Str. nimmt ständig zu. Straße undurchlässig ,..«.33 Mitten in diesen Zustrom hinein treffen die Besucher der Friedensgebete, die ab 18.00 Uhr kurz nacheinander zu Ende gehen. Die Gottesdienstbesucher bringen zusätzliche Bewegung in die Innenstadt, und auch sie laufen in Richtung Karl-Marx-Platz, auf dem inzwischen 30.000 bis 40.000 Menschen »angsterfüllt und gespannt«34 auf die weiteren Ereignisse warten. Nach wie vor ist den Menschen der drohende Schießbefehl bewußt,35 so daß viele wie schon in den Wochen zuvor versuchen, demonstrativ unbeteiligt zu wirken: »Überall«, so erinnert sich ein Teilnehmer, »stehen wie zufällig Leute auf der Straße [,...] zögernde Sympathisanten tarnen sich als Neugierige«.36 Andere nehmen die Empfehlung aus den Gottesdiensten auf und gehen auf die Sicherheitskräfte zu, um sie in Gespräche zu verwickeln.37 Auch wenn es gegen 18.15 Uhr bereits Zehntausende sind, die sich mit Sprechchören gegenseitig Mut machen, können die Einsatzleiter nach wie vor keine geschlossene Demonstration feststellen. Die Lage ist für die Demonstranten ebenso unübersichtlich wie für die Sicherheitskräfte, die trotz aller Überwachungsanstrengungen den entscheidenden Moment verpassen, in dem die unübersehbare Menschenmenge, die die Straßen füllt, eine gemeinsame Richtung bekommt und in einen Demonstrationszug übergeht. Ohne eine erkennbare Führung folgen die Menschen dem Weg über den Innenstadtring, den die Demonstrationen der vergangenen Wochen vorgezeichnet haben. Damit hatte auch die zweite Stufe der Repressionsstrategie versagt: Um kurz vor halb sieben beginnt die Demonstration.38 33 Lageplan der BDVP Leipzig vom 6.-9.10.1989, abgedruckt in Lindner, Land, S. 78-93, Zitate S. 91f. 34 Walter Friedrich, in: Kuhn, S. 128. 35 Bezeichnend hierfür war der erste Gedanke von Beteiligten, die den Aufruf der Sechs im Stadtfunk akustisch nicht verstanden hatten: »Ist das jetzt der Aufruf zum Schießen gewesen oder was?«, in: ebd, S. 129. 36 Tetzner, S. 16f. 37 Vgl. den Bericht von Susanne Rummel, in Neues Forum Leipzig, S. 84. Die deeskalierende Wirkung dieser Gesprächsinitiativen belegt der Berichte eines Angehörigen der Kampfgruppen, ebd. S. 91. 38 Die Rekonstruktion der Demonstration stützt sich maßgeblich auf die zeitgenössischen Filmmitschnitte der Demonstration: ABL, Videocassette 22: »Stasiaufnahmen Leipzig«; »Der 9,Oktober in Leipzig«. Versuch einer dokumentarischen Rekonstruktion von R. Rubitzsch und R. Burkhadt [1989], ausgestrahlt am 18.10.1990 auf 1Plus, und »Der Tag der Entscheidung: Leipzig 9. Oktober«, red. von E. Kuhn, ausgestrahlt im ZDF am 3.10.1990. Siehe auch die unveröffentlichten (ABL, Hefter 1: Ereignisse in der Stadt Leipzig von 1985- 1989) sowie veröffentlichten Zeitzeugenberichte: Tetzner, S. 16ff; Kuhn, S. 127ff; Neues Forum Leipzig, S. 83ff; Zwahr, Selbstzerstörung, S. 96ff; Naumann, Wendetagebuch, S. 17ff; die Berichte von SED und MfS in: Dietrich/Schwabe, S. 460f. und in Mitter/Wolle, S. 216f; daneben die Darstellungen von Döhnert/Rummel, S. 152ff; Zwahr, Selbstzerstörung, S. 98ff. und die Photodokumentation von W. Schneider.

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Binnen Minuten erreicht die Spitze des Zuges den Bahnhof, wo die zur Auflösung vorgesehenen Kräfte konzentriert sind. ›»Kein neues China‹ rufen wir beim Anblick des bewaffneten Aufgebotes. Niemand weiß, wie unser Protest ausgehen wird. Wir versuchen, unsere ungeheure Spannung in Sprechchören zu entladen.«39 Der befürchtete Einsatz bleibt jedoch aus, die Menge zieht unbehindert am Hauptbahnhof vorbei. Durch die ganze Innenstadt hallen die Sprechchöre der Menge: »Wir sind keine Rowdys«, sondern: »Wir sind das Volk«. Immer und immer wieder heißt es »Keine Gewalt«. Noch ist den Beteiligten nicht klar, was für eine gewaltige Menschenmenge bereits dem Ruf »Schließt Euch an« Folge geleistet hat. Erst einige hundert Meter später, von der Fußgängerbrücke über den Ring, wird deutlich, was sich in der Leipziger Innenstadt abspielt. Von dem erhöhten Blickwinkel der Brücke aus »waren keine Einzelheiten zu erkennen, die ganze Straße war ein sich bewegendes Menschenmeer [...]. Die Straße war so überfüllt, daß kein Pflaster zu sehen war; nur die Bäume am Rand schauten über die Leute hinweg.«40 Kaum jemand steht mehr abwartend und beobachtend am Straßenrand: Die Zögernden haben sich inzwischen in den Zug eingereiht, aber nicht nur sie sind verschwunden, sondern auch - wie den Demonstranten erst nach und nach bewußt wird - die Polizisten. Sie haben bereits um kurz vor halb sieben, als die Menschen in den Straßen noch das Damoklesschwert des Schießbefehls über sich sahen, den Befehl zum Rückzug bekommen. Denn nach dem Versagen der ersten beiden Stufen der Strategie »abschrecken, nicht zulassen, auflösen« sah sich der Einsatzleiter der Volkspolizei, Straßenburg, außerstande, den Befehl zur Auflösung der Demonstration zu geben, so daß er seine Einheiten zurückzog, um eine Eskalation zu vermeiden.41 Hatte schon allein die Tatsache, daß es Zehntausende waren, die auf dem Ring marschierten, ein nie gekanntes Gemeinschaftsgefühl ausgelöst, ließ der Rückzug der Sicherheitskräfte die Angst und Anspannung des Tages endgültig in Euphorie umschlagen. Es war eine gewaltige Menge von Menschen, »bis zu Hundert Leute nebeneinander, ein unübersehbarer Menschenstrom, den nichts mehr aufhalten kann.«42 Auch die Runde Ecke, die Bezirksverwaltung der Staatssicherheit, wird ohne weitere Zwischenfälle passiert; die normalerweise vor dem Gebäude postierten Sicherheitskräfte sind abgezogen worden. Erstmals wird an diesem Tag der gesamte Innenstadtring umrundet. Während die ersten den Ausgangspunkt der Demonstration am Karl-Marx-Platz wieder 39 Tetzner, S. 18. 40 Erlebnisbericht von Alexander Z. (Schüler, Jg. 1971), in: Zwahr, Selbstzerstörung, S. 9698, Zitat S. 97. 41 Straßenburg berichtet, er habe um 18.25 Uhr seinen Einheiten den Befehl zum Rückzug gegeben, nachdem er kurz zuvor mit seinem Vorgesetzen, Innenminister Dickel, Rücksprache gehalten habe, in: Kuhn, S. 133. 42 Tetzner, S. 18.

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erreichen, befindet sich das Ende des Zuges noch auf halber Strecke. 70.000 Menschen demonstrieren das neugewonnene Selbstbewußtsein des Volkes. Anhand der Sprechchöre läßt sich der Stimmungswandel der Demonstranten deutlich nachvollziehen: Zunächst dominierten die Rufe, in denen die Selbstermutigung und die Angst vor der drohenden Gewaltanwendung zum Ausdruck kam: »Keine Gewalt«, »Wir sind keine Rowdys«, »Schließt euch an«. Erst nachdem die konkrete Bedrohung abgewendet war, rückten diese aus der Situation entstandenen Sprechchöre zugunsten der Artikulation der weitergehenden Forderungen in den Hintergrund. In den Sprechchören nahm ein Meinungsbild Gestalt an, das die Linien der weiteren Entwicklung bestimmte: »Wir sind das Volk«, »Demokratie, jetzt oder nie«, »Wir wollen Reformen«, Freie Wahlen« und »Neues Forum zulassen«.43 Die Tatsache, daß die SED diese Demonstration toleriert hatte, machte die Forderungen nach einer demokratischen Umgestaltung zu einem Faktum, dem sich nach diesem Abend niemand mehr entziehen konnte. Die SED hatte eine Machtprobe heraufbeschworen, alles in die Waagschale geworfen und verloren. Warum aber hatten die Sicherheitskräfte darauf verzichtet, die vorbereiteten Maßnahmen zur Auflösung der Demonstration umzusetzen? Ausschlaggebend für den staatlichen Gewaltverzicht war zum einen die Zahl der Demonstranten, die einen Einsatz zu einem unkalkulierbaren Risiko gemacht hätte, das niemand mehr zu tragen bereit war. Der entscheidende Grund jedoch bestand in der Gewaltlosigkeit der Demonstranten. Denn auch nach dem Rückzug der Sicherheitskräfte war die Gefahr noch nicht gebannt: Die Volkspolizei und auch die Truppen der Staatssicherheit in der Runden Ecke hatten die Anweisung, sich gegen Ausschreitungen zur Wehr zu setzen, gleich ob Gebäude oder Mitarbeiter angegriffen wurden.44 Im Falle einer Gewaltanwendung seitens der Demonstranten hätte die Situation daher nach wie vor eskalieren können. Wie aber war es möglich, daß aus einer euphorisierten Menge von 70.000 Menschen nicht ein einziger Pflasterstein geworfen wurde, daß in der hochemotionalen Situation dieses Abends nicht ein Schaufenster zu Bruch ging und kein Polizist tätlich angegriffen wurde? Die Antwort scheint zwischen den Polen eines »taktisch-strategischen Kalküls« angesichts der Übermacht der Sicherheitskräfte einerseits und einem »Geist der Friedfertigkeit« andererseits zu

43 Die Abfolge der Sprechchöre läßt sich in den oben zitierten Ereignisberichten und Filmaufnahmen deutlich nachvollziehen. Die Sprechchöre und Lieder dieses Abends sind dokumentiert in W. Schneider, S. 42. 44 Die Volkspolizei befand sich nach ihrem Rückzug im Zustand der Eigensicherung und auch die Staatssicherheit war darauf eingestellt, sich - notfalls mit Waffengewalt - zu verteidigen, »wenn es um Leben und Tod gegangen wäre«, wie der damalige Leiter der BVfS Leipzig später zu Protokoll gab. Vgl. das Interview mit Hummitzsch, in Riecker u.a., S. 219.

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liegen.45 Drei Elemente spielten an diesem Abend eine Rolle: Wichtig war erstens, daß die 70.000 Menschen am 9. Oktober in der Tradition der vorangegangenen Demonstrationen standen. Auch wenn sicherlich zahlreiche der 70.000 Teilnehmer nicht genau über die Hintergründe und Ziele der bisherigen Aktionen informiert waren, nahmen sie doch an einer Demonstration teil, die bereits über eine etablierte Protestkultur verfügte. Der zentrale und allgemein bekannte Bestandteil dieser Protestkultur war die strikte Verpflichtung zur Gewaltlosigkeit, die sich in den Wochen und Monaten zuvor bewährt und etabliert hatte. Zweitens hatten die eindringlichen Mahnungen, die an diesem Abend in den Kirchen ausgesprochen worden waren, und auch der im Laufe der Demonstration über die Lautsprecher des Stadtfunks verbreitete Aufruf der Sechs einen nennenswerten Teil der Demonstranten erreicht. Die Autorität der kirchlichen Würdenträger und der sechs Leipziger Prominenten verpflichteten zu einem gewaltlosen Verhalten, das durch die Handlungsanweisungen der oppositionellen Gruppen weiter präzisiert worden war. Angesichts der unmittelbar drohenden Gegengewalt der Sicherheitskräfte waren diese Appelle nur zu plausibel. Zahlreiche Beispiele des Abends belegen, daß die Anweisungen von vielen befolgt wurden, die Betrunkene zurückhielten, auf die Sicherheitskräfte zugingen und sich schützend vor das Gebäude der Staatssicherheit an der Runden Ecke stellten. Der entscheidende Hintergrund der Gewaltlosigkeit war jedoch die übergeordnete Zielstellung der Demonstration: Den Motivationen und Zielen der Teilnehmer lag das Bestreben zugrunde, die eigene, persönliche Zukunft in der DDR lebenswert zu gestalten. Dementsprechend richtete sich die Demonstration im Namen der Menschen der DDR gegen die Politik der SED. Der deutlichste Ausdruck dieser Gemeinsamkeit war der Ruf »Wir sind das Volk«, der die Sicherheitskräfte explizit mit einbezog.46 In der Wahrnehmung der Beteiligten war es eine Demonstration gegen den SED-Staat DDR, aber für das Land DDR, als dessen Bürger man sich nach wie vor, vielleicht an diesem Abend sogar mehr alsJezuvor fühlte. Von diesem Selbstverständnis führte kein Weg zu Ausschreitungen und Gewaltanwendungen. Wie aber hatte es überhaupt so 45 Vgl. Pollack, Protestantische Revolution, S. 67: »Die viel bewunderte Gewaltlosigkeit der Demonstrationen hatte also weniger mit einem Geist der Friedfertigkeit zu tun als mit taktischem Kalkül.« Taktisches Kalkül mag gerade zu Beginn der Demonstration eine Rolle gespielt haben, ist aber letztendlich als Erklärung wenig überzeugend. Zum einen ist es fraglich, ob 70.000 hochemotionalisierte Menschen tatsächlich so rational handeln würden, und zum anderen erklärt das taktische Kalkül nicht die Tatsache, daß die Demonstrationen bis in den Dezember gewaltfrei blieben. 46 So hieß es in dem in den Kirchen verlesenen Appell der Leipziger Oppositionsgruppen: »An die Einsatzkräfte appellieren wir: Enthaltet Euch der Gewalt! Reagiert auf Friedfertigkeit nicht mit Gewalt! Wir sind ein Volk.« (in: Kuhn, S. 84). Auch der Ruf der Demonstranten »Polizisten, schließt Euch an!« (in: W. Schneider, S. 42) zeigt, daß eine grundlegende Gemeinsamkeit unterstellt wurde.

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weit kommen können, daß sich trotz aller Vorbereitungen der Sicherheitskräfte eine Demonstration formierte? Warum hatten die Vorbereitungen versagt? Hinter den Kulissen des Machtapparates hatten sich an diesem Tag verschiedene Handlungsstränge entwickelt, die auf den engsten Kreis derer beschränkt waren, die eine Auflösung der Demonstration hätten befehlen können. Die Tatsache, daß sie an diesem Abend überhaupt in diese schwierige Entscheidungssituation kamen, lag allerdings nicht an der Entwicklung in Leipzig, sondern an der ideologischen Fehleinschätzung der Proteste insgesamt. Denn der Auftrag, eine Konterrevolution niederzuschlagen, suggerierte den Sicherheitskräften ein bestimmtes Bild. Wie man dem Wörterbuch der Staatssicherheit entnehmen kann, implizierte die Bezeichnung als konterrevolutionär, daß sich die Einsätze gegen Proteste richteten, die klassengebunden, machtorientiert, gewalttätig, westgesteuert und gut organisiert waren.47 Diesem Feindbild, das in allen fünf Punkten völlig am Charakter der Proteste vorbeiging, trugen die Einsatzplanungen der Sicherheitskräfte Rechnung. Besonders Mielkes Befehle vom 8. Oktober machen deutlich, worauf man sich einstellte: Er ordnete an, »jegliche Terror- und andere Gewalthandlungen« zu verhindern und »alle Möglichkeiten des Inbesitzbringens von Waffen und Munition« auszuschließen.48 Da selbst die Erfahrungen mit den Demonstrationen zum Monatsanfang nicht dazu führten, daß die Repressionsstrategie korrigiert wurde,49 gingen auch die Leipziger Planungen für den 9. Oktober von einer drohenden Konterrevolution aus. Ganz besonders deutlich wird dies in der Einsatzplanung der NVA, die mit dem Hauptbahnhof, dem Hauptpostamt und dem Sender Leipzig diejenigen Punkte sicherte, die schon Lenin als neuralgische Punkte des revolutionären Kampfs identifiziert hatte.50 Die Strategie »abschrecken, nicht zulassen, auflösen« unterstellte somit einen gewalttätigen und organisierten Gegner und griff daher ins Leere. Die unkoordinierte Formierung der Demonstration und die Gewaltlosigkeit der Menge waren in den Planungen nicht vorgesehen, so daß die Entstehung der Demonstration nicht verhindert werden konnte. Erst nachdem die präventiven Maßnahmen versagt hatten und sich die Verantwortlichen in Leipzig mit einer Demonstration konfrontiert sahen, die vor 47 Siehe den Eintrag Konterrevolution im Wörterbuch der Staatssicherheit (Suckut, S. 221 f.). 48 Fernschreiben Erich Mielkes an die Leiter der Diensteinheiten vom 8.10.1989, in: Mitter/ Wolle, S. 201-203, Zitat S. 202f. 49 So resümierte Schabowski die Erfahrungen vom 7.10.1989 in Berlin folgendermaßen: »Unverkennbar war eine systematisch geplante und zielgerichtet geführte Organisation dieser Provokation«, weshalb in Zukunft »ein frühzeitiges Eingreifen mit Zwangsmitteln« erfolgen sollte, um die Rädelsführer unschädlich zu machen. (Brief an Erich Honecker vom 8.10.1989, in: Dahn/Kopka, S. 322f.). 50 Vgl. die diesbezügliche Aussage von Günter Dietrich, Chef des Wehrbezirkskommandos, zu den Aufgaben der NVA am 9.10., in: »Der 9,Oktober in Leipzig«. Versuch einer dokumentarischen Rekonstruktion von R. Rubitzsch und R. Burkhadt [1989], ausgestrahlt am 18.10.1990 auf 1Plus.

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allem in dieser Größe nie hätte entstehen sollen, ergab sich eine Situation, in der eine Entscheidung gefällt werden mußte: Auflösen oder nicht auflösen? Das konnte unter Umständen heißen: Schießen oder nicht schießen? Diese Frage konnten die Einsatzleiter vor Ort nicht beantworten. In hektischen Telephonaten mit ihren Vorgesetzten in den Berliner Ministerien versuchten sie, sich Anweisungen für ihr weiteres Vorgehen zu verschaffen.51 Aber über die staatlichen Befehlslinien war die Antwort nicht zu bekommen. Nur die Partei konnte eine so weitreichende Entscheidung treffen. Als amtierendem Ersten Sekretär der SED-Bezirksleitung oblag daher Helmut Hackenberg die Aufgabe, seine Vorgesetzten zu einer eindeutigen Aussage zu bewegen. Hackenberg, schon irritiert durch die Solidarisierung dreier seiner Sekretäre mit den Demonstranten, suchte Rücksprache bei seinem direkten Ansprechpartner in Berlin, dem ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen Egon Krenz, den er kurz vor halb sieben erreichte. Die Situation in Leipzig erforderte eine schnelle Entscheidung, denn wenn man den Demonstrationszug aufhalten wollte, dann mußte es kurz vor dem Hauptbahnhof passieren, wo die für eine Auflösung vorgesehenen Einsatzkräfte konzentriert waren. Anstatt aber eine Entscheidung zu treffen, vertröstete Krenz den aufgeregten Hackenberg: »Augenblick, ich rufe zurück.«52 Krenz hatte zu diesem Zeitpunkt schon einen anstrengenden Tag hinter sich. Allerdings war es nicht die bevorstehende Demonstration in Leipzig, die ihn beschäftigte, sondern sein Vorhaben, den Generalsekretär der SED abzusetzen. Die Verschwörung hatte erst am Sonntag Konturen gewonnen, als Krenz Honecker einen Text zukommen ließ, in dem in vorsichtigen Worten Konzessionen an die Stimmung in der Bevölkerung gemacht wurden. Honecker wies den Textentwurf empört zurück und bat Krenz für den nächsten Tag zu einem persönlichen Gespräch. Krenz riskierte viel: Schlug seine Initiative fehl, standen seine Stellung, seine Karriere und seine Privilegien auf dem Spiel. Dementsprechend war er am Montag vollauf damit beschäftigt, sich auf das Gespräch mit Honecker vorzubereiten. Nachdem diese Unterredung ergebnislos zu Ende gegangen war, entschied er sich, seine Kompetenzen zu überschreiten und den Text an Honecker vorbei als Vorlage in die Politbürositzung am nächsten Morgen einzubringen. Für Krenz war die entscheidende Frage des 9. Oktobers daher, wie er welche Mitglieder des Politbüros auf seine Seite ziehen konnte.53 51 Vgl. die Aussagen der verantwortlichen Leiter der Sicherheitskräfte in »Der 9.0ktober in Leipzig«. Versuch einer dokumentarischen Rekonstruktion von R. Rubitzsch und R. Burkhadt [1989], ausgestrahlt am 18.10.1990 auf 1Plus. Siehe auch die Aussagen Straßenburgs (in Kuhn, S. 78f, 132ff.) und die Aussagen des Leiters der Leipziger BVfS, Hummitzsch (in: Riecher u.a., S. 207f). 52 Zu den Ereignissen in der Leipziger Bezirksleitung siehe den Bericht Wötzels in Kuhn, S. 131. 53 Dem Verlauf der Verschwörung gegen Honecker widmet sich das folgende Kapitel.

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Aus diesem Grund hatte er weder die Zeit noch die Muße, sich eingehender mit der Entwicklung in Leipzig zu beschäftigen. Tatsächlich hatte er von den befürchteten Ausschreitungen erst am Montagmorgen erfahren, und das noch nicht einmal über die Kanäle der Partei, sondern durch seinen Freund Walter Friedrich, den Direktor des Leipziger Zentralinstitutes für Jugendforschung, der kurz entschlossen am Morgen nach Berlin gefahren war, um das drohende Blutvergießen abzuwenden.54 In Unkenntnis der Einsatzplanung war Krenz, der kein Interesse daran haben konnte, seine geplante Inthronisierung durch ein Blutbad zu belasten, mit der Entscheidung Auflösen oder Tolerieren überfordert und mußte sich nach dem Anruf Hackenbergs erst mit den verantwortlichen Ministern Dickel, Keßler und Mielke kurzschließen. Derweil wartete Hackenberg in der Bezirksleitung ab. Er selbst konnte die Entscheidung, auf eine Demonstration von 70.000 Menschen schießen zu lassen, nicht fällen, so daß ihm nichts anderes blieb, als nach einiger Zeit festzustellen: »Nu brauchen se auch nicht mehr anzurufen, nu sind se 'rum!«55 Als Krenz sich um kurz nach 19.00 Uhr, eine halbe Stunde nach dem ersten Gespräch, wieder meldete, hatte der Demonstrationszug den kritischen Punkt bereits lange passiert. Nicht aufgrund einer Entscheidung, sondern weil eine Entscheidung ausgeblieben war, verzichtete die Staatsmacht an diesem Abend auf einen Einsatz. Der einzige, der außer Krenz noch befugt und nach Lage der Dinge auch willens gewesen wäre, eine gewaltsame Auflösung der Demonstration zu befehlen, war Erich Honecker. Es ist eine Ironie der Geschichte, daß Honecker nicht zu erreichen war: Er empfing eine chinesische Delegation, die unter Umständen die chinesische Lösung in Leipzig verhinderte. 2. Die landesweite Entfaltung der Bewegung »Dann hatte ich eben in den Spätnachrichten gehört, daß bei dieser Demonstration in Leipzig 70.000 waren und daß es friedlich abgelaufen ist [..., und ich] hab' mir 'nen ganz großen Slibowitz eingegossen, und ich wußte irgendwie, das war der Untergang der DDR, das hatte sich erledigt. Die ganzen Leute hatten Mut gefaßt.«56 - so schilderte ein Ingenieur aus Wurzen seine Eindrücke von der Nachricht aus Leipzig. Nicht nur dort, sondern in der ganzen DDR hatten die Menschen am Abend des 9. Oktobers gespannt auf den Ausgang der Demon54 Zu den dramatischen Umständen dieses Besuches siehe die Erinnerungen Friedrichs in Kuhn, S. 84ff., wo auch das Faksimile des Schreibens abgedruckt ist, in dem Friedrich um Gewaltverzicht bat und Krenz zugleich die Ablösung Honeckers nahelegte. 55 Mit diesen Worten habe Hackenberg nach der Erinnerung Wötzels die Tatsache kommentiert, daß die Möglichkeit, den Zug aufzulösen, verstrichen war, ohne daß ein Befehl aus Berlin erfolgt war, vgl. die Aussage Wötzels in: Kuhn, S. 134. 56 Zit. nach Schlegelmilch, S. 131 f.

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stration gewartet. Da die Telephonverbindungen aus der Stadt an diesem Abend völlig überlastet waren und ohnehin nicht jeder Bekannte in Leipzig hatte, waren es die westlichen Medien, welche die Nachricht von dem friedlichen Verlauf DDR-weit verbreiteten. Während die 20.00 Uhr tagesschau noch keine genaueren Informationen hatte als die Meldung, daß »wie wir gerade erfahren, nach dem traditionellen Montagsgebet wieder mindestens zehntausend Menschen für Demokratie und Reformen demonstriert«57 haben, berichteten die Spätausgaben der Nachrichtensendungen, daß »mehr als 50.000, eher 80.000«58 Menschen an diesem Abend unbehelligt und friedlich demonstriert hatten. Die Wirkung der Tatsache, daß sich erstmals seit 1953 eine so gewaltige Anzahl von Demonstranten erfolgreich gegen die Sicherheitskräfte durchgesetzt hatte, war kaum zu überschätzen. Der 9. Oktober wurde zu einem Symbol des Aufbruchs; ein Symbol, das mehrere Botschaften übermittelte: Es war möglich, einen Ausweg aus der verbreiteten Resignation zu finden, indem man die Unzufriedenheit aktiv in Protest umsetzte; die Staatsmacht war nicht länger in der Lage, Proteste zu unterbinden, und: Proteste waren nicht nur möglich, sondern auch erfolgversprechend, denn schließlich, so schien es, hatte sich die Staatsmacht gezwungen gesehen, in Gestalt der drei Leipziger SED-Bezirksleitungssekretäre Verhandlungsbereitsschaft zu signalisieren.59 Auch die zwar vorsichtige, aber dennoch aufsehenerregende Erklärung des Politbüros vom 11. Oktober schien zu belegen, daß die SED sich der Wirkung der Demonstration nicht länger entziehen konnte. Obwohl die Verlautbarung, in der die SED erstmals Probleme in der DDR eingestand und einen Dialog in Aussicht stellte, ein Produkt der Verschwörung von Krenz gegen Honecker war, wurde sie in der Bevölkerung als eine Reaktion der SED-Führung auf die Demonstrationen wahrgenommen.60 Die Demonstration der 70.000 wurde so zu einem Beispiel, das Mut zu weiteren Aktionen machte und diesen Aktionen gleichzeitig eine Richtung wies. Die vom Fernsehen in die ganze DDR übertragenen Slogans und Sprechchöre aus Leipzig artikulierten konkrete Forderungen, die nicht staatsfeindlich, sondern konstruktiv und vor allem konsensfähig waren. 57 Horst Hano in einem Beitrag über die Ereignisse in der DDR in der Tagesschau vom 9.10.1989, 20.03 Uhr. 58 Christoph Wonneberger im Telephoninterview in den Tagesthemen vom 9.10.1989, 22.39 Uhr. 59 Die Eigeninitiative der drei SED-Sekretäre wurde von vielen als ein Manöver der Staatsführung (miß-)verstanden. So mutmaßte Christoph Wonneberger bereits am Abend des 9.10. in einem Telephoninterview der Tagesthemen, daß die Initiative der drei SED-Sekretäre »von ganz oben« gekommen sein könnte. Vgl. die Tagesthemen vom 9.10.1989, 22.38 Uhr. 60 Vgl. Erklärung des Politbüros des ZK der SED, in: ND vom 12.10.1989, S. 1. Siehe dazu den Eintrag bei Tetzner, S. 20: »Abends höre ich die Erklärung des SED-Politbüros. Die Demonstrationen haben die SED-Führung zu ersten Zugeständnissen gezwungen.«

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Die Krise in der DDR wurde durch die Ereignisse in Leipzig in ein neues Stadium überführt. Die erfolgreiche Demonstration wirkte wie ein Fanal, das dem passiven Erdulden der Krise ein Ende setzte. Nachdem die Bevölkerung seit Wochen verfolgt hatte, wie die SED die Stimmung im Land ignorierte und die Proteste gewaltsam unterdrückte, veränderte der 9. Oktober die Bedingungen und Möglichkeiten von Protest radikal. Hatte die Ausreisewelle die Wahrnehmung der Bevölkerung auf das Bewußtsein einer existentiellen Krise zugespitzt, erreichte die Entwicklung mit dem zukunftsweisenden Signal des 9. Oktobers einen kritischen Punkt, genauer: den »kritischen Moment«, in dem, so die systematische Definition Pierre Bourdieus, »gegen die alltägliche Erfahrung der Zeit als bloße Weiterführung der Vergangenheit [...] alles möglich wird (oder doch erscheint), in dem die Zukunft wirklich kontingent, das Kommende wirklich unbestimmt, der Augenblick wirklich als solcher erscheint- in der Schwebe, abgehoben, ohne vorhergesehene oder vorhersehbare Folgen.«61 Der 9. Oktober markierte den Moment einer allgemeinen Krise, die innerhalb der festgefahrenen Strukturen der politischen Kultur der DDR den Raum für etwas Neues, für einen neuen gesellschaftlichen Akteur öffnete. Der Bruch mit dem Bekannten und Gewohnten schuf die Möglichkeit eines Neuanfanges, so daß in dem Moment, als die alten Strukturen überwunden zu sein schienen, die Ideen und Ansätze der im Entstehen begriffenen Bürgerbewegung ihre Wirkung entfalten konnten. Ohne daß eine landesweite Koordination nötig gewesen wäre, wurde der Raum für etwas Neues von dem Neuaufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen auf lokaler Ebene gefüllt. Die Voraussetzungen zu dieser Entwicklung waren bereits in den Tagen vor dem 9. Oktober geschaffen worden. Denn wenngleich Leipzig der Schauplatz der bislang größten und aufsehenerregendsten Proteste gewesen war, hatte sich nicht nur dort Widerspruch gegen die SED geregt. Auch in anderen Städten hatte es bereits Friedensgebete und zum Teil auch erste Demonstrationen gegeben; vielerorts hatten sich schon Initiativkreise des Neuen Forums gebildet. In einer Gesellschaft, die von dem jahrzehntelangen Bemühen der Staatsmacht geprägt war, Informations- und Kommunikationsbarrieren zu errichten, blieben diese ersten Ansätze jedoch zunächst relativ unverbunden. Erst durch die landesweite Signalwirkung des 9. Oktobers erhielten die lokalen Initiativen im Land einen neuen Charakter. Die Teilnehmerzahlen an den Aktionen stiegen sprunghaft an, und die Protestwelle breitete sich aus, so daß schon Mitte Oktober kaum noch eine Stadt ohne Friedensgebet war. Die Veränderungen waren indes nicht nur quantitativer, sondern auch qualitativer Natur: Denn während die Proteste bislang regional getrennt verlaufen waren und die oppositionellen Gruppen weitgehend unabhängig von den Demonstranten agiert hatten, griff nun die Erkenntnis Raum, daß es sich bei den 61 Bourdieu, Moment, S. 287.

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Protesten um etwas Neuartiges handelte: Die vielen lokalen Ansätze des Protests verbanden sich zu einem DDR-weiten Handlungszusammenhang. Indem das Leipziger Erfolgserlebnis der Protestbewegung zugerechnet wurde, setzte sich die Erkenntnis durch, daß die verschiedenen regionalen Ausprägungen des Protests Teile einer Bewegung waren. Damit einher ging eine Kooperation zwischen den Demonstranten und den oppositionellen Gruppen, die nunmehr von beiden Seiten als ein gemeinsames Aktionsbündnis gegen die SED gesehen wurden. Eine Nebenwirkung der Demonstration verstärkte diese Entwicklung noch erheblich. Seit dem 9. Oktober korrigierten die westlichen Journalisten in ihren Beiträgen die bisherige Sprachregelung. Hatten sie bislang von den Protesten in Leipzig, Berlin, Dresden und anderswo berichtet, gingen sie unter dem Eindruck der Bilder aus Leipzig dazu über, von der Protestbewegung in der DDR zu sprechen. Damit stellten sie einen klaren Bezug zwischen den Aktionen in den einzelnen Städten her, die als regionale Ausprägungen eines gemeinsamen Protests präsentiert wurden.62 Diese Außenwahrnehmung blieb nicht ohne Folgen für die Selbstwahrnehmung der Beteiligten, die sich nun nicht mehr als vereinzelte Aktivisten, sondern als Teil einer großen und DDR-weit agierenden Bewegung fühlen konnten. Unter den repressiven Bedingungen, denen sich die Akteure noch Anfang Oktober ausgesetzt sahen, waren die Berichte Bestätigung und Ermutigung zugleich: »Information, Enttabuisierung, Entängstigung«, so Peter Ludes, »waren immer rückgekoppelt mit der landesweiten Meldung vom Westfernsehen: ›Ihr seid nicht die einzigen, ihr werdet nicht niedergeknüppelt, was ihr macht, ist gut für Freiheit und Demokratie^«63 Indem der Bewegung in den Berichten einheitliche Ziele und Mittel des Protests zugeschrieben wurden, prägten die Medien nicht nur die Selbstwahrnehmung der einzelnen Akteure, sondern zugleich die Wahrnehmung der Bewegung insgesamt. Der große Raum, den die Medien den gewaltfreien Protestformen widmeten, ebenso wie die Berichte über das Engagement für Freiheit und Demokratie verliehen der Bewegung ein charakteristisches Bild, das identitätsstiftend und stabilisierend wirkte, indem es die Ziele, Aktionen und Interessen bündelte. Menschen, die bereits an Aktionen teilgenommen hatten, konnten sich so durch die Medienaufmerksamkeit bestätigt fühlen; potentiellen Teilnehmern wurde eine kohärente und machtvolle Bewegung präsentiert, die ein Engagement sinnvoll erscheinen ließ. 62 Zu den Zusammenhängen zwischen Bewegungen und Medien siehe Schmitt-Beck, bes. S. 645: »Gegenstand der Berichterstattung der Massenmedien zu sein, erleichtert sozialen Bewegungen die Bildung einer kollektiven Identität, da ihre Existenz als einheitliche Aktuere von makropolitischer Relevanz durch die Medienberichterstattung quasi ›ratifiziert‹ wird.« 63 Ludes, Interviews, S. 31. Zu den Wirkungen der Westmedien auf den Protest siehe auch Lindgens/Mahle.

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Es war daher wiederum ein Ereignis, das die Bedingungen für Protest in der DDR grundlegend veränderte. Der Protest, den die oppositionellen Gruppen seit Jahren geübt hatten, wurde aus den marginalisierten Kreisen unter dem Dach der evangelischen Kirche in die Gesellschaft übersetzt und bot den Auftakt für eine Bewegung, die Menschen unterschiedlichster sozialer Herkunft in einem gemeinsamen Aktionsbündnis zusammenführte. Analytisch läßt sich die Entwicklung in den ersten Wochen des Oktobers mit Bourdieu als die »Konjunktion unabhängiger Kausalreihen«,64 beschreiben, bestand die Wirkung des 9. Oktobers doch vor allem darin, die bislang unverbundenen Ansätze des Protests zu einer Bewegung zu verbinden. Auch wenn sich die Proteste in den einzelnen Städten primär in ihrem spezifischen kommunalen Rahmen bewegten, zeichneten sie sich doch überall in der DDR durch gleiche Ziele, Inhalte und Formen aus. Diese Gemeinsamkeiten wirkten ebenso integrierend wie die landesweiten Strukturen der oppositionellen Gruppen, die ideellen Bezüge auf die Vision einer zivilen Gesellschaft und das Zusammengehörigkeitsgefühl, das sich schon bei der Solidaritätswelle für die Leipziger Verhafteten gezeigt hatte. Die Ausbreitung und Entfaltung der Protestwelle läßt sich daher verstehen als die Konstituierung einer sozialen Bewegung, die sich um ein einigendes Thema, um eine Achse zentrierte: um das Ziel, die DDR durch Reformen zu demokratisieren und zu erhalten. Aus den verstreuten Protesten wurde damit »ein mobilisierender kollektiver Akteur, der [...] mittels variabler Organisations- und Aktionsformen das Ziel verfolgt, grundlegenden sozialen Wandel herbeizuführen, zu verhindern oder rückgängig zu machen.«65 Die Art und Weise, wie sich der kollektive Akteur Bürgerbewegung in der DDR konstituierte, ist der Gegenstand des folgenden Kapitels, in dem die Entfaltung und Ausbreitung der Protestbewegung bis zum Rücktritt Honeckers am 18. Oktober 1989 nachvollzogen werden soll. 2Λ. Mobilisierungsdynamik auf lokaler Ebene Vergleicht man im Zeitraum von Mitte September bis Mitte Oktober die Ent­ wicklung in verschiedenen Städten der DDR, läßt sich eine fast idealtypische Verlaufsform der lokalen Mobilisierung feststellen. Bis Ende September prägten zunächst kleine Kreise und Einzelpersonen, die zumeist aus der DDR-Friedensbewegung stammten, die Szenerie, indem sie die Gründung einer lokalen Basisgruppe der oppositionellen Vereinigungen vorantrieben. In den meisten Fällen handelte es sich um Gründungen, die sich am Neuen Forum orientierten, das in dieser Zeit die dominante Gruppe in den Regionen und Städten war. 64 Bourdieu, Moment, S. 275. 65 Raschke, Grundriß, S. 77.

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Der gleiche Personenkreis, erweitert um Pfarrer und andere kirchliche Mitarbeiter, machte ebenfalls Ende September erste Vorstöße, um regelmäßige Friedensgebete zu initiieren, soweit es in der jeweiligen Stadt kein traditionelles Gebetsforum gab. Seit dem 9. Oktober stiegen die Teilnehmerzahlen an den Aktionen sprunghaft an, und mit atemberaubender Geschwindigkeit breiteten sich die Proteste über das ganze Land aus. Friedensgebete in Magdeburg, Stralsund, Merseburg, Neubrandenburg, Rostock, Erfurt, Görlitz, Plauen, Gotha, Wurzen, Schwerin, Greifswald, Potsdam, Bergen und sogar in kleinen Dörfern wie im thüringischen Laucha brachten Zehn-, wenn nicht Hunderttausende in die Kirchen des Landes. Parallel dazu wurden die Kirchen auch von den Aktivitäten und Informationsveranstaltungen der oppositionellen Gruppen gefüllt. Aufgrund des unerwarteten Andrangs von oft über Tausend Menschen mußten die Veranstaltungen, wie sie etwa in Erfurt, Schwerin, Karl-Marx-Stadt, Weimar, Saalfeld, Berlin, Arnstadt, Leipzig, Wismar, Rostock, Parchim und Potsdam abgehalten wurden, zum Teil mehrmals wiederholt werden.66 Insgesamt läßt sich feststellen, daß die Entwicklungen in den einzelnen Städten jeweils ca. zwei Wochen versetzt zu den Leipziger Ereignissen verliefen, wobei der Süden der DDR dem Norden nochmals um eine Woche voraus war. Daß der Verzug des Nordens dabei als solcher wahrgenommen und moniert wurde,67 zeigte, wie sehr sich das Bewußtsein, eine gemeinsame Bewegung zu sein, bereits durchgesetzt hatte. Ein zweiter Zyklus der Proteste, der im nächsten Kapitel untersucht werden wird, begann mit dem Rücktritt Honeckers am 18. Oktober. Bis zu diesem Zeitpunkt, als der Protest die Kirchen verließ und die Straßen und Rathäuser eroberte, dominierten diejenigen Formen des Protests, die schon die Formierung der Bewegung im September gekennzeichnet hatten: Aktionen der oppositionellen Gruppen einerseits und Friedensgebete andererseits. Die Tatsache, daß der Protest in der DDR weder auf bestimmte Bevölkerungsteile noch auf einzelne Städte oder Regionen beschränkt blieb, sondern ein ganzes Land vom Süden bis in den Norden, von den Großstädten bis zu den Dörfern in Bewegung setzte, ist eines der herausragenden Spezifika der DDRBürgerbewegung. Gleichzeitig war diese historisch einmalige Massenmobilisierung eine wesentliche Bedingung der Wirkung, welche die Bewegung entfaltete, denn nur so konnte bei den Mächtigen der Eindruck entstehen, tatsächlich mit dem Volk konfrontiert zu sein. Im folgenden Kapitel soll daher neben der Frage, wie die Entfaltung und Mobilisierung in den Regionen verlief, besondere Aufmerksamkeit auf diejenigen Faktoren gelegt werden, welche die 66 Einen Überblick über die Aktionen im Land bieten die Protestchroniken in: Neues Forum Leipzig, S. 305ff.; Spittmann/Helwig; MDV, Bd. II sowie Bahrmann/Links. 67 Vgl. die Aussage Reiner Sendziks aus Schwerin, der berichtet, daß Autos aus dem Norden im Süden mit der Bemerkung »Was ist mit euch los, schlaft ihr?« nicht mehr betankt wurden, in: Drescher u.a., S. 58.

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Dynamik und die Homogenität der Protestwelle erzeugten. Erste Anhaltspunkte dazu werden deutlich, wenn man die Situation im September in ein Modell von Angebot und Nachfrage übersetzt. Die Nachfrage nach Möglichkeiten, Unzufriedenheit zu artikulieren, war immens groß; das Angebot demgegenüber relativ klein: Gleichsam monopolartig beherrschten die Friedensgebete und die Veranstaltungen der oppositionellen Gruppen den Markt. Aus dieser Stellung ergab sich, so die These, zum einen die Dynamik der Proteste und zum anderen die Tatsache, daß sie überall in der DDR ähnliche Inhalte und Formen annahmen, ohne daß sie zentral koordiniert worden wären. Das Protestpotential in der Bevölkerung konzentrierte sich allein auf die Friedensgebete und die oppositionellen Gruppen, so daß die lokalen Mobilisierungszusammenhänge überall in der DDR in ähnliche Bahnen gelenkt wurden. Mit anderen Worten: Unzufriedene Menschen und Gründe, unzufrieden zu sein, gab es zahllose; Möglichkeiten, diese Unzufriedenheit zu artikulieren, zunächst nur zwei. 2.1.1. Die Friedensgebete Die Tatsache, daß Menschen sowohl das Recht als auch die Möglichkeit haben, sich über ihre Unzufriedenheit und über politische Veränderungsperspektiven auszutauschen, wird in demokratischen Gesellschaften als selbstverständlich angesehen und daher von der westlichen Bewegungsforschung kaum weiter hinterfragt. Die Kennzeichnung sozialer Bewegungen als »Kommunikationssysteme«68 macht deutlich, daß Bewegungen notwendigerweise darauf angewiesen sind, daß ihre Teilnehmer sich kontinuierlich über Ursachen, Ziele und Mittel des Protests verständigen können. Nur so kann eine Bewegung kollektive Handlungsziele entwickeln; nur so ist es ihr möglich, auf neue Bedingungen und Herausforderungen zu reagieren; nur so kann sie in Bewegung kommen und bleiben. Vor diesem Hintergrund wird die unverzichtbare Bedeutung faßbar, welche die Stadt- und Dorfkirchen in der DDR für die Ereignisse im Herbst hatten: Während der Zeit, in der es der Bewegung noch nicht gelungen war, die Straßen durch Demonstrationen zur »Tribüne des Volkes«69 zu machen, waren die Kirchen die einzigen Orte, die das boten, worauf keine Bewegung verzichten kann: die Möglichkeit, sich über gesellschaftliche Probleme und Veränderungsperspektiven auszutauschen. Es stellen sich daher die Fragen, warum Pfarrer überall im Land ihre Kirchen öffneten und warum dieses Angebot eine so außerordentliche Attraktivität entwickelte. 68 Ahlemeyer, S. 85ff. 69 Marion van de Kamp: Rede auf dem Berliner Alexanderplatz am 4.11.89, in: Hahn u.a., S. 119.

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Der bei weitem überwiegende Teil der Friedensgebete des Herbstes 1989 war ein Phänomen der Umbruchszeit. Nur in wenigen Städten hatte es bereits vor 1989 Friedensgebete gegeben; zu ihnen zählten etwa Leipzig, Erfurt, Dresden, Weimar, Magdeburg, Güstrow, Schwerin oder Greifswald.70 Trotz ihrer relativ geringen Anzahl hatten die traditionellen Friedensgebete mit ihrer Form, ihren Inhalten und ihrem regelmäßigen, wöchentlichen Termin jedoch eine große Bedeutung für die Ereignisse im Herbst 1989. Denn zum einen wurde mit ihnen eine Veranstaltungsform gefunden und etabliert, auf die im Herbst zurückgegriffen werden konnte. Zum anderen sorgten die Diskussionen, die innerhalb des Klerus um die Friedensgebete geführt wurden, dafür, daß die Institution Friedensgebet innerhalb der evangelischen Kirche allgemein bekannt war. Wenn Pfarrer daher im September und Oktober 1989 dem teils selbstgestellten, teils von außen an sie herangetragenen Auftrag gerecht werden wollten, der gesellschaftlichen Unzufriedenheit ein Ventil zu bieten, war es naheliegend, auf die etablierte, bekannte und bewährte Form des Friedensgebetes zurückzugreifen. Bei der Diffusion dieser Aktionsform spielte darüber hinaus auch der Vorbildcharakter Leipzigs eine zentrale Rolle. Die prägende Kraft, welche die Entwicklung in Leipzig für die landesweite Ausbreitung des Protests hatte, wird unter anderem daran deutlich, daß viele der neuinitiierten Friedensgebete den Montagstermin übernahmen, um wie beispielsweise in Stralsund im hohen Norden ein explizites »Zeichen der Solidarität mit dem Leipziger Montagsgebet«71 zu setzen. Ob, wann und wo ein Friedensgebet ins Leben gerufen wurde, hing in den jeweiligen Städten unmittelbar davon ab, ob sich Einzelpersonen oder Gruppen fanden, die sich dazu bereit erklärten, die Organisation und die Verantwortung zu übernehmen. Daran jedoch herrschte im September kein Mangel, denn immer mehr kirchliche Würdenträger und Laien leiteten aus der Selbstdefinition als Kirche im Sozialismus die Pflicht und das Recht ab, konstruktiv und gleichzeitig kritisch an den gesellschaftlichen Entwicklungen zu partizipieren. Es war dieses kritisch-engagierte Potential, das im Herbst 1989 eine zentrale Rolle für die Mobilisierung spielen sollte: Überall in der DDR fanden sich Pfarrer, die angesichts der Stimmung im Land bereit waren, Friedensgebete zu initiierten oder aber ihre Kirche auf entsprechende Anregungen hin zur Verfügung zu stellen. Da auch die verantwortlichen Gemeindegremien dem Ansinnen meist zustimmend gegenüberstanden - mitunter ging die Initiative sogar vom Gemeindekirchenrat selbst aus72 - stand einer Öffnung der Kir70 Da zahlreiche dieser regelmäßigen Veranstaltungen durch Ausreisewillige geprägt waren, spielten die traditionellen Termine in vielen Städten für die spätere Mobilisierung keine Rolle, so etwa in Magdeburg oder Weimar. 71 Ursula Kaden, Mitglied des Stralsunder Friedenskreises, zu den Entstehungsursachen der Stralsunder Friedensgebeten, zit. nach Langer, S. 87. 72 So etwa in Magdeburg, wo der GKR am 14.9.1989 beschloß, parallel zu den traditionellen

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chen nur selten etwas im Wege. Wo dies nicht der Fall war, wo also kirchliche Mitarbeiter nicht von sich aus aktiv wurden, waren es lokale Gruppen und Kreise aus der DDR-Friedensbewegung, die Gebetsveranstaltungen initiierten, indem sie mit einer entsprechenden Bitte an Pfarrer ihrer Stadt herantraten. Auf solche Anstöße von außen gingen etwa die Friedensgebete in Stralsund (seit dem 18.9.), in Rostock (seit dem 5.10.), in Görlitz (seit dem 6.10.) oder in Neubrandenburg (seit dem 11.10.) zurück.73 Die Vielzahl von Initiativen aus verschiedenen Bereichen einerseits und die Unterstützung durch einen maßgeblichen Teil der evangelischen Kirche andererseits machte es möglich, daß in der Zeit zwischen Mitte September und Mitte Oktober ein flächendeckendes Netz von Friedensgebeten entstand, das sich bis in kleine Dörfer erstreckte.74 Was aber machte die besondere Attraktivität aus, die dazu führte, daß in den folgenden Wochen Zehntausende in die Friedensgebete kamen? Auch wenn verschiedentlich versucht wurde, den christlichen Charakter der Veranstaltungen zurückzunehmen, um Berührungsängste abzubauen, legten die Verantwortlichen doch Wert darauf, daß die Gebete nicht gänzlich säkularisiert wurden, so daß viele traditionelle Formen, Inhalte und Symbole der Kirche auf die Friedensgebete übertragen wurden. Daß diese christliche Prägung in einer weitgehend atheistischen Gesellschaft nicht abschreckend, sondern anziehend wirkte, lag nicht zuletzt an einer Eigenheit der ostdeutschen Gottesdienste, die neben Gebeten, Liedern, Symbolen und Kerzen in die Friedensgebete Eingang fand. Stärker als etwa in Westdeutschland waren die evangelischen Gottesdienste in der DDR darauf orientiert, die Gemeindemitglieder nicht nur zum passiven Zuhören anzuhalten, sondern zum aktiven Mitgestalten zu bewegen.75 Eine verbreitete Form dieser Partizipation war die Fürbitte, während der die einzelnen Gottesdienstbesucher selbst zu Wort kamen, indem sie vor die Gemeinde traten und von ihren Sorgen und Nöten berichteten. Die hinter der Fürbitte stehende Idee, individuelle Probleme durch Artikulation öffentlich zu machen, um den einzelnen durch die Gemeinde aufzufangen, wurde in den Friedensgebeten erfolgreich übernommen. Oft waren es Vertreter lokaler Oppositionsgruppen, die die Fürbitten gestalteten und mit politiFriedensgebeten, die stark von Ausreisewilligen frequentiert waren, eine Gebetsveranstaltung zu initiieren, die sich nur an diejenigen richten sollte, die in der DDR bleiben und ihre Unzufriedenheit artikulieren wollten, vgl. Beratergruppe Dom des Gebetes, S. 14. 73 Vgl. zu Stralsund: Langer, S. 87f.; zu Rostock: Probst, Norden, S. 38; zu Görlitz: M. Schneider, S. 17 und zu Neubrandenburg: Heydenreich, S. 5. 74 So fanden auch in der thüringischen 3000-Seelen-Gemeinde Laucha seit dem 24.9. Friedensgebete statt, die zunächst 22 Besucher zählten, am 8.10. bereits 43 und am 22.10. 600. Die Initiative war in diesem Fall von Annemarie Müller, der Frau des örtlichen Pfarrers, ausgegangen. Vgl. Darnton, S. 150-159. 75 Vgl. Strawinski, bes. S. 99ff. und den Abschnitt »Gemeinde als Gesprächsraum« in dem im Auftrag des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR herausgegebenen Band: Aufschlüsse - ein Glaubensbuch, Gütersloh 1977, S. 312-318.

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sehen Inhalten füllten, oft aber waren es auch Teilnehmer, die ihre persönliche Betroffenheit über wirtschaftliche, politische, ökologische oder alltägliche Probleme zum Ausdruck brachten. Zusammen mit dem sozialen Kontext, den die Veranstaltungen im Rahmen der ursprünglichen Intention der Fürbitten entwickelten, machte die Möglichkeit, seine Meinung öffentlich und frei äußern zu können, die Friedensgebete zu einer einzigartigen Institution. Sie boten Artikulationsmöglichkeiten, wie sie nirgendwo anders in der DDR zu finden waren. Eine zutiefst religiöse Institution, die Andacht im Kreis der Gläubigen, konnte damit in ein Forum gesellschaftlicher Selbstverständigung und politischer Meinungsäußerung transformiert werden. Betrachtet man die Friedensgebete unter bewegungssoziologischen Gesichtspunkten, wird deutlich, daß sie als Aktionsform den gegebenen Bedingungen in der DDR optimal angepaßt waren. Denn neben ihrer Funktion, das Bedürfnis nach Information und Kommunikation zu befriedigen, vereinten sie noch zahlreiche weitere Vorzüge auf sich. Anders als verschwiegene Hinterzimmer waren die Stadtkirchen zum einen auf große Teilnehmerzahlen eingerichtet, und zum anderen stellten sie bekannte und öffentliche Orte dar, die sich als Anlaufstellen anboten. Darüber hinaus waren die Verantwortlichen durch ihren Status vor Verfolgung geschützt, ebenso wie die Teilnehmer keine Repressionen zu befürchten hatten, da die Staatsmacht davor zurückscheute, Gebete zu stören oder gar zu sprengen. Ohnehin war die Teilnahme an einem Gottesdienst in den Augen vieler Besucher wesentlich unverfänglicher als die Mitarbeit bei einer oppositionellen Gruppe, so daß die Hemmschwelle relativ niedrig lag. Hinsichtlich ihrer Bedeutung im Herbst 1989 darf schließlich vor allem ein Faktor nicht übersehen werden, der die besondere Anziehungskraft der Friedensgebete ausmachte, nämlich der Status, den die Leipziger Friedensgebete im September 1989 erlangt hatten. Die Ereignisse in Leipzig stachelten andere Städte an, ebenfalls zur Aktion zu schreiten, und jeder wußte, wohin er gehen mußte, wenn er es den Leipzigern nachtun wollte: zum Friedensgebet in seiner jeweiligen Stadtkirche. Aus diesem Grund war es auch kaum nötig, vor Ort für die Veranstaltungen zu werben. Vielerorts wartete die Bevölkerung bereits darauf, daß ein Friedensgebet nach dem Leipziger Vorbild auch in ihrer Stadt eingerichtet wurde,76 so daß es ausreichte, Ort und Termin über die kirchlichen Kommunikationswege bekannt zu geben. Die Ankündigung in der regulären Predigt und der Aushang im Schaukasten der Gemeinde gaben den Impuls, der über Mund-zu-MundPropaganda weitergetragen und in der ganzen Stadt verbreitet wurde. Sobald es 76 Ein eindrucksvolles Beispiel dieser Erwartungshaltung war die Stadt Demmin. Dort wurde der Kreiskirchenrat, der sich weigerte, ein Friedensgebet anzubieten, durch Proteste, die verärgerte Bürger vor der Kirche abhielten, gezwungen, diesem Bedürfnis zu entsprechen. Zu der ersten Veranstaltung am 1.11.1989 kamen 1.500 Teilnehmer, vgl. Langer, S. 89.

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gelungen war, ein erstes Friedensgebet abzuhalten, wirkten die Teilnehmer selbst als Multiplikatoren für die weiteren Veranstaltungen, wobei es sich als besonders vorteilhaft erwies, daß alle Friedensgebete im Wochenrhythmus immer zum gleichen Termin abgehalten wurden. Die Nachricht sprach sich herum, so daß sich die Teilnehmerzahlen von Woche zu Woche vervielfachten und in vielen Städten bald nicht mehr nur eine, sondern mehrere Kirchen geöffnet werden mußten. In Rostock etwa waren am 26. Oktober vier große Kirchen nötig, um den Andrang zu fassen, nachdem die Teilnehmerzahlen von fünfhundert Besuchern am 5. Oktober über dreitausend am 12. Oktober, neuntausend am 19. Oktober aufweit über 10.000 hochgeschnellt waren. Ähnlich explosionsartig stiegen auch die Zahlen in Magdeburg. Dort kamen zum ersten Gebet am 18. September 130 Menschen, am 25. September 450, am 2. Oktober waren es bereits 1.300, am 9. Oktober, dem Tag der Entscheidung in Leipzig, 4.500 und am 16. Oktober 7.500. In Neubrandenburg verzehnfachte sich die Zahl sogar innerhalb nur einer Woche von 250 Besuchern, die am 11. Oktober statt der erwarteten 30 Personen zum ersten Friedensgebet kamen, auf über zweitausend Menschen am folgenden Mittwoch. 77 Überrascht wurden die Veranstalter jedoch nicht nur von dem Ansturm der Menschen, sondern auch von ihrer unerwarteten Bereitschaft, aufzustehen und Stellung zu beziehen. Hierbei spielte die bereits angesprochene Fürbitte eine große Rolle, denn sie ermöglichte es den Anwesenden, sich zu Wort zu melden, und gewährleistete gleichzeitig, daß der Einzelne mit seiner Meinung symbolisch in den Kreis der Anwesenden integriert wurde. Der Ablauf der Friedensgebete in Görlitz, die seit dem 6. Oktober abgehalten wurden, macht deutlich, wie ideal sich kirchliche Formen und politische Inhalte ergänzten. Johannes Witoschek, Mitinitiator der Friedensgebete in Görlitz, erinnert sich: »Viele Kerzen brannten am Altar und wir forderten die Anwesenden dazu auf, nach vorne zu treten und ihre Probleme und Sorgen zu schildern. Diese waren ganz unterschiedlich. Da ging es um Kenntnisse der Stasi-Aktivitäten, über Verhaftungen im Bekannten- oder Verwandtenkreis, Geschehnisse in den Betrieben oder aber auch über diejenigen aus dem Familien- und Freundeskreis, die in den Westen abgehauen waren. Und jeder, der einen Beitrag geleistet hatte, ist zum Altar getreten und hat eine Kerze ausgelöscht. Dadurch wurde es immer dunkler in der Kirche. Danach kam die Ansprache des Pfarrers, es war eine Mischung aus Predigt und Rede. Zum Abschluß wurden diejenigen aufgefordert vorzutreten, die etwas Positives zu berichten wußten, oder einen Ausweg aus einer bestimmten kritischen Situation aufweisen wollten -jeder von diesen zündete danach am Altar wieder eine Kerze an. [...] Natürlich sprachen sich 77 Zu der Entwicklung in Rostock siehe Probst, Norden und Schmidtbauer, zu Magdeburg: Beratergruppe Dom des Gebetes; zu Neubrandenburg: Heydenreich. Vgl. auch die Entwicklung der Friedensgebete in Gotha (Franz), Görlitz (M. Schneider), Stralsund, Schwerin, Bergen, Doberan und Malchin (Langer, S. 87f.), Plauen (Küttler), Wurzen (Schlegelmilch) oder Mühlhausen (Lütke

Aldenhövel u.a.).

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diese regelmäßigen Veranstaltungen herum und der Andrang wurde immer größer. So groß, daß wir das dritte Friedensgebet [am 20.10., d. Vf.] am gleichen Abend noch mal veranstalteten. Wir mußten auf weitere Kirchen ausweichen.« 78

Für die Zeit bis zum Rücktritt Honeckers waren die Friedensgebete die beherrschende Aktionsform der Massenmobilisierung, die mit dem 9. Oktober einen weiteren Schub bekam. Das flächendeckende Netz von Friedensgebeten, das bis Anfang Oktober entstanden war, ermöglichte es Zehntausenden, ihrem Unmut Ausdruck zu verleihen. Allerdings blieben diese Unmutsäußerungen so lange auf den Raum der Kirchen beschränkt, bis die Friedensgebete nach dem 18. Oktober überall im Land zum Ausgangspunkt der Demonstrationen wurden. Bis dahin waren die Veranstaltungen weniger nach außen, an die SED und die Regierung, als vielmehr nach innen, an die Teilnehmer selbst gerichtet. Die tragenden Elemente waren zum einen die individuelle Vergewisserung der Teilnehmer, mit der persönlichen Unzufriedenheit nicht allein zu sein, zum zweiten das Gemeinschaftserlebnis, das die Teilnahme vermittelte, und drittens die überwältigende Erfahrung, einen Ort gefunden zu haben, an dem man öffentlich über das reden konnte, was sonst nur im kleinen Kreis und hinter vorgehaltener Hand besprochen wurde: »Viele«, so beschreibt die Magdeburger Dompredigerin Waltraut Zachuber die Stimmung während der Gebete, »viele sprechen aus, was sie auf dem Herzen haben. Die Klage um Menschen, die das Land verließen, [...] die Sorge um die Zukunft, die Last des Lügens und Verschweigens, die Not in der Wirtschaft und in der Volksbildung. Es ist eine Befreiung, einfach all das aussprechen zu können. Und es gibt Kraft, gemeinsam nicht mehr zu schweigen ...‹‹79 Berichte wie dieser machen deutlich, daß der in den Zivilgesellschafts-Konzepten beschriebene Weg der gesellschaftlichen Erneuerung im Herbst 1989 in soziales Handeln umgesetzt wurde: Die Friedensgebete waren der Ort, an dem sich der von Havel vorgezeichnete Übergang von dem durch Lüge, Verstellung und Selbstverleugnung geprägten Leben in Lüge in das von Aufrichtigkeit, Offenheit und Solidarität getragene Leben in Wahrheit vollzog. Daher formulierte Wolfgang Ulimann nicht nur ein theoretisches Verständnis, sondern auch die praktische Erfahrung der Aktionsteilnehmer, als er später feststellte, daß der Begriff »demokratisch« nicht eine abstrakte Regierungsform, sondern »die Menschlichkeit der Gemeinsamkeit definierte«.80 Die Friedensgebete hatten eine unverzichtbare Funktion als Orte der Kommunikation; den Schritt zur Entwicklung konkreter Lösungsvorschläge für die Probleme der DDR konnten und sollten sieJedochnicht leisten. Diese Aufgabe wiederum kam den oppositionellen Gruppen zu, die mit ihren Programmen, 78 Erlebnisbericht von Johannes Witoschek, Mitinitiator der Görlitzer Friedensgebete, in: M. Schneider, S. 17f. 79 Zachhuber/Quast, S. 15. 80 Wolfgang Ullmann: Rede im Berliner Reichstag am 16.6.1990, in: Thaysen, Runder Tisch, S. 212.

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Aufrufen und Erklärungen in den Kommunikationsprozeß intervenierten, der in den Kirchen in Gang kam. Sie waren es, die über die reine Artikulation von Unzufriedenheit hinausgingen, die Probleme aufgriffen und mit politischen Forderungen verbanden. Die unterschiedliche Aufgabenstellung von Friedensgebeten und Aktivitäten der oppositionellen Gruppen brachte Joachim Gauck, damals Pastor und Studentenpfarrer in Rostock, zum Ausdruck, als er die Situation in seiner Stadt folgendermaßen beschrieb: »Wir hatten hier einen wunderbaren Ansatz von engagierten Studenten, die [...] Fürbitte hielten für die Inhaftierten in Leipzig. Das war damals das, was ihnen möglich erschien. Die Menschen gingen dorthin, und Beobachter spürten: Jetzt muß die Lage gedeutet werden; wir müssen weiter motivierend wirken, und das Ganze muß eine Richtung bekommen.« Deswegen, so fährt Gauck fort, »habe ich mich dieser Bewegung angeschlossen, die sichJainzwischen landesweit etabliert hatte, und ich bin Mitglied des Neuen Forum geworden.«81 Im Gegensatz zu der in der Forschungsliteratur verbreiteten Tendenz, die oppositionellen Gruppen von der Volksbewegung zu trennen, ist es daher eher angemessen, die Mobilisierung auch und gerade auf lokaler Ebene als eine arbeitsteilige Zusammenarbeit zu beschreiben. Zwischen den Initiatoren und Teilnehmern der Friedensgebete einerseits und den Vertretern der oppositionellen Gruppen andererseits kam es zu zahlreichen Formen der Kooperation, die allein schon aus dem Grund entstanden, daß es viele personelle Überschneidungen zwischen den Initiativ- und Vorbereitungskreisen gab. Darüber hinaus etablierte es sich allerorts bald, neben Predigten, Andachten und Fürbitten einen Informationsteil in die Veranstaltungen zu integrieren, in dem die Aufrufe von Demokratie Jetzt, dem Demokratischen Aufbrauch, der SDP und dem Neuen Forum verlesen wurden. Schließlich zeigt auch die Tatsache, daß prominente Vertreter der Gruppen in die Gebete eingeladen wurden, um sich und ihre Ziele zu präsentieren,82 daß von einem unabhängigen Agieren keine Rede sein konnte. Der 9. Oktober beförderte dieses gemeinsame Vorgehen noch zusätzlich. Die Unterscheidung in wir und die verlief seit diesem Tag nicht mehr zwischen der Volksbewegung und den oppositionellen Gruppen, sondern zwischen der Bewegung und der SED. Das ›Wir‹ umfaßte dabei sowohl die organisierten als auch die mobilisierten Teile der Protestbewegung, und zwar nicht nur in einer Stadt, sondern überregional, landesweit. Anders ist die Konstruktion des »Wir werden gewinnen«, mit der beispielsweise Christoph Victor vom Neuen Fo81 Interview mit Joachim Gauck, in: Probst, Norden, S. 103-113, Zitat S. 105. 82 So sprachen zum Beispiel Arndt Noack (SDP) und Sebastian Pfugbeil (NF) am 6.10. in Schwerin (vgl. Drescher u.a., S. 32), während Hans-Jochen Tschiche (NF), Ulrike Poppe (DJ), Hans-Jürgen Fischbeck (DJ), Ehrhart Neubert (DA) ihre Gruppen am 9.10. im Magdeburger Gebet um gesellschaftliche Erneuerung vorstellten, (vgl. Beratergruppe Dom des Gebetes, S. 24.).

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rum in Weimar auf die Nachricht der erfolgreichen Demonstration in Leipzig reagierte, nicht zu erklären: »Als ich nach einer Arbeitsgruppensitzung des Neuen Forum gemeinsam mit Erich Kranz die Spätausgabe der Tagesschau sehe und wir erfahren, daß die Montagsdemonstration in Leipzig friedlich verlief, kommen mir beinahe die Tränen in die Augen. Geschafft! Sie haben es nicht gewagt! Wir werden gewinnen! Die Revolution ist unumkehrbar geworden«.83

Bevor diese Entwicklung weiterverfolgt wird, ist es angebracht, diejenigen Träger der Massenmobilisierung zu untersuchen, die neben den Initiatoren der Friedensgebete die Entwicklungen vor Ort prägten: die oppositionellen Gruppen. 2.1.2. Die Mobilisierung durch die oppositionellen Gruppen War die Gründungswelle der Friedensgebete durch die Ressourcen der evangelischen Kirche gewährleistet, standen die Initiatoren der oppositionellen Gruppen an einem organisatorischen und logistischen Nullpunkt. Die Kirche konnte auf Personal, auf etablierte Strukturen und Netzwerke, auf Ressourcen wie Telephone, Kopierer, öffentliche Schaukästen oder Lautsprecheranlagen, auf Räume, Know-how und Technik für die Abhaltung großer Veranstaltungen und nicht zuletzt auf eine gewisse Immunität gegenüber staatlichen Einschüchterungsversuchen zurückgreifen. Die oppositionellen Gruppen hatten nichts von alledem, statt dessen sahen sie sich bei ihren Bemühungen der allgegenwärtigen Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung ausgesetzt, die schon die Unterzeichnung einer Unterschriftenliste mit mehrjährigen Haftstrafen bedrohte.84 Um so erstaunlicher war es, daß es vor allem dem Neuen Forum gelang, innerhalb kürzester Zeit ein Netzwerk lokaler Gruppen zu etablieren, die in den einzelnen Städten eine zweite Mobilisierungsstruktur neben den Friedensgebeten schufen. Schon im September, als der Demokratische Aufbruch und die SDP noch nicht einmal gegründet waren, entwickelte das Neue Forum eine Aktivität, die es in den Mittelpunkt der folgenden Ausführungen rückt. Um die Entwicklungsdynamik zu untersuchen, die das Neue Forum auf lokaler Ebene entfaltete, bietet es sich an, eine bestimmte Region herauszugrei83 Victor, S. 58. Herv. d. Vf. 84 Die politisch-ideologische Diskriminierung des Neuen Forums als Staats- und verfassungsfeindliche Vereinigung hatte - zumindest potentiell - nachhaltige strafrechtliche Folgen: § 106 des Strafgesetztbuches der DDR bedrohte den Straftatbestand der Staatsfeindlichen Hetze mit Haftstrafen von mindestens einem bis zu acht Jahren, § 107.3 stellte für jedwede Unterstützung eines verfassungsfeindlichen Zusammenschlusses Haftstrafen von ein bis fünf Jahren anheim.

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fen, da es unmöglich ist, die zahllosen informellen Kontakte, Treffen und Aktivitäten für die gesamte DDR zu rekonstruieren. Ein Beispiel, an dem sich sowohl die Arbeit des Neuen Forums vor Ort als auch die überregionalen Vernetzungsprozesse exemplarisch aufzeigen lassen, sind die drei ehemaligen Nordbezirke der DDR, also in etwa die Region des heutigen Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern. Der Norden der DDR war in allen Initiativkreisen der oppositionellen Gruppen gegenüber Berlin und dem Süden unterrepräsentiert bzw. überhaupt nicht vertreten. Unter den dreißig Personen, die am 9./10. September das Neue Forum gründeten, war gerade einer, der aus dem Norden der DDR zu der Veranstaltung in Grünheide anreiste: Martin Klähn, der in Schwerin als Bauingenieur arbeitete und sich zugleich seit langem in einem Lesekreis engagiert hatte, in dem zuletzt Rolf Henrichs »Vormundschaftlicher Staat« gelesen worden war.85 Die Ausgangsposition, die Klähn in Schwerin vorfand, als er am Abend des 10. September mit einem Exemplar des Gründungsaufrufes »Aufbruch '89 - Neues Forum« aus Grünheide nach Schwerin zurückkehrte, läßt sich in wenigen Worten beschreiben: Er verfügte zum einen mit dem Gründungsaufruf über »ziemlich heißes Material«86 und zum anderen über Kontakte vor Ort, die sich aus seiner Arbeit und seinem Alltag, vor allem aber aus seinem oppositionellen Engagement ergaben. In dieser Hinsicht war das Beispiel Klähns in Schwerin typisch: Seien es Matthias Büchner in Erfurt, Hans Jochen Tschiche in Magdeburg, Michael Arnold in Leipzig, Katrin und Frank Eigenfeld in Halle oder Martin Klähn in Schwerin - diejenigen, die zum lokalen Ausgangspunkt der Bemühungen des Neuen Forums wurden, waren jeweils »eine Art Galionsfigur der regimekritischen Szene in der Stadt«,87 in der sie wohnten. Durch ihre exponierte Stellung verfügten sie über ein Netzwerk, das gerade in der ersten Zeit von zentraler Bedeutung war. Innerhalb des oppositionellen Milieus der Stadt fanden sie erste Ansprechpartner, Sympathisanten und zukünftige Aktivisten, so daß sie den Kreis der Initiatoren bald auf mehrere Personen erweitern konnten. Mit den Netzwerken verband sich ein zweiter entscheidender Vorteil: Die Mobilisierung von materiellen Ressourcen war in einem Staat, in dem Telephone rar, Drucktechnik indiziert und Zugriffe auf Kopierer an eine Zugangsberechtigung gebunden waren, ein prinzipielles Problem. Um so mehr kam es darauf an, über die entsprechenden Verbindungen zu verfügen, um diese Handicaps auszugleichen. Waren solche informellen Strukturen in der DDR ohne85 Zur Konstituierung des Neuen Forums in Schwerin vgl. die Beiträge und Dokumente in Drescher u.a., S. 16ff. und 73ff. 86 So Jörn Mothes im Interview mit Martin Klähn, ebd., S. 17. 87 Schnitzler (S. 67) über Matthias Büchner, der die Gründung des Neuen Forums in Erfurt initiierte.

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hin etablierter als im Westen,88 bekamen sie im Herbst eine unverzichtbare Bedeutung. So konnte Klähn das Problem der Vervielfältigung des Aufrufes bereits am Tag nach dem Gründungswochenende in Grünheide lösen, indem er die Sekretärinnen seines Betriebes dazu bewegte, den Aufruf zu kopieren. Einen zweiten Zugang zu Vervielfältigungsmöglichkeiten eröffneten kurz danach die Kontakte zur evangelischen Kirche, so daß Aufrufe und Unterschriftenlisten bald in ausreichender Zahl zur Verfügung standen.89 Ein weiteres Problem, mit dem sich die Initiativkreise konfrontiert sahen, bestand in den Fragen, wer bereit war, als Kontaktadresse zu fungieren und wo die Unterschriftenlisten ausliegen und verwaltet werden sollten. Auch in dieser Hinsicht wurde in Schwerin eine für viele Städte typische Lösung gefunden: Mit Uta Loheit, wie Klähn Mitglied des schon erwähnten Lesekreises, hatte sich eine Vertreterin der lokalen oppositionellen Szene bereit erklärt, eine erste Liste zu führen. Eine zweite Liste lag beim Theater Schwerins; auch dies ein verbreitetes Phänomen, denn in vielen Städten fand das Neue Forum Verbündete unter den Künstlern, Schauspielern und Musikern.90 In Schwerin unterstützten neben den Schauspielern und Mitarbeitern des Theaters auch verschiedene Musikgruppen das Neue Forum, indem sie vor ihren Auftritten die Protestresolution verlasen, in der sich die Unterhaltungsmusiker der DDR am 18. September mit den Zielen des Neuen Forums solidarisch erklärt hatten.91 Die dritte Liste schließlich lag bei einem Pfarrer, den Klähn gezielt geworben hatte, um eine stadtbekannte Persönlichkeit, die über jeden Zweifel der Staatsfeindlichkeit erhaben war, dazu zu bewegen, für das Neue Forum einzutreten. Das entscheidende Argument gegenüber Pfarrer Rietzke war: »Du bist bekannt hier in Schwerin wie ein bunter Hund. Wie wäre das, wenn Du da oben Deinen Namen als ersten hinschreibst und versuchst, hier ein wenig zu werben?«92 Die Rechnung ging auf: Während die ersten Unterzeichner der Liste noch Mitarbeiter und Freunde waren, ging der Kreis der Interessenten bald weit über den persönlichen Bekanntenkreis heraus: 88 Vgl zu diesem Aspekt der Informalität der DDR-Gesellschaft Pollack, Bedingungen, S. 308ff. 89 Mit anderen Ansprechpartnern, aber den gleichen Mechanismen der Netzwerkmobilisierung gelang es Frank Eigenfeld in Halle, die Aufrufe zu vervielfältigen und zu verteilen, vgl. das Interview in Philipsen, S. 228f. 90 In zahlreichen Städten solidarisierten sich Künstler mit den Protesten (vgl. die zahlreichen Resolutionen von Schriftstellern, Musikern und Künstlern, in: Schüddekopß. Verschiedentlich ging die Kooperation sogar soweit, daß nicht Kirchen sondern Theater die Schauplätze der ersten öffentlichen Versammlungen wurden, so etwa der Luxor-Palast in Karl-Marx-Stadt, vgl. Reum/ Geißler, S. 32ff. 91 So etwa die Liedermachergruppe Circus lila bei einem Auftritt im Haus der Freundschaft am 19.9.1989, vgl. den Bericht des MfS/BVß Schwerin, in Drescher u.a., S. 122. 92 Mit diesen Worten, so Hansjürgen Rietzke, Pfarrer an der Schweriner Paulsgemeinde, habe Klähn ihn geworben, eine Liste zu übernehmen, (ebd., S. 19).

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»Andauernd«, so Rietzke, »klingelte es an der Tür und Leute fragten: ›Wo ist denn die Liste? Wir haben gehört, hier ist eine.‹ Oder: es bimmelte das Telefon, und nachdem die Leute sich mit Namen und Adressen vorgestellt hatten, kam dann: ›Stimmt es, daß bei Ihnen eine Liste für Mitgliedserklärungen liegt? Wir wollen mitmachen beim Neuen Forum, wir kommen gleich rüber.‹«93

Binnen einer Woche, bis zum 18. September, sollten allein auf der Liste bei Pfarrer Rietzke über hundert Menschen unterschreiben. Die Erklärung der Anziehungskraft, die das Neue Forum entwickelte, kann angesichts der rudimentären Strukturen nicht in den Bemühungen der Initiativkreise selbst liegen. Verantwortlich für diesen Zulauf waren die zwei Kompensationsmechanismen, mit denen die fehlende Öffentlichkeit in der DDR ausgeglichen wurde: Das Westfernsehen erfüllte die unverzichtbare Funktion, das Neue Forum überhaupt erst landesweit bekannt zu machen, es zu legitimieren und seine Forderungen zu umreißen. In denjenigen Landesteilen, in denen kein Westfernsehen empfangen werden konnte, waren es die westlichen Rundfunksender, vor allem der RIAS und der DLF, welche die Informationen verbreiteten.94 Die als Buschtrommel bekannt gewordene Mund-zu-MundPropaganda führte diese Aufklärungsarbeit vor Ort weiter und paßte die Informationen den lokalen Bedingungen an. Private Kontakte und sich überschneidende persönliche Netzwerke gewährleisteten, daß die Kontaktadressen und Anlaufstellen in den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen kursierten und in Betrieben, Schulen, Läden und Freundeskreisen verbreitet wurden. Das gesellschaftliche Krisenbewußtsein und das Bedürfnis nach Möglichkeiten, sich konstruktiv und politisch zu engagieren, taten ein Übriges dazu, daß sich die Initiativkreise des Neuen Forums vor Interessenten bald kaum noch retten konnten. Aber auch wenn die Nachfrage nicht durch das Neue Forum oder die anderen oppositionellen Gruppen geschaffen wurde, bleibt festzuhalten, daß sie es waren, die diese Nachfrage befriedigten. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, gingen die Initiatoren nach einer ersten Konsolidierungsphase dazu über, öffentliche Aktionen zu planen. Ein erstes Treffen des Schweriner Initiativkreises fand am 18. September in einer Privatwohnung statt. Wie das MfS notierte, berieten die Versammelten über das weitere Vorgehen, wobei zunächst die für diesen Tag geplante Anmeldung des Neuen Forums im Bezirk Schwerin auf der Tagesordnung stand.95 Ein weiteres Ergebnis des Treffens war ein Flugblatt, mit dem sich das Neue 93 Hansjürgen Rietzke, ebd., S. 19. 94 In Görlitz war es ein DLF-Interview mit Jens Reich, das Stefan Waldau dazu animierte, noch am gleichen Nachmittag bei Reich in Berlin anzurufen und die Gründung des Neuen Forums in Görlitz voranzutreiben, vgl. den Bericht Waldaus in: M. Schneider, S. 37ff. 95 Vgl. dazu den MfS-Bericht über das Treffen, MfS/BVfS Schwerin: »Infomation 131/89 über Aktivitäten oppositioneller Kräfte zur Gründung einer politischen Vereinigung ›Neues Forum‹ in Schwerin« (22.9.1989), in: Drescher u.a., S. 120-125.

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Forum Schwerin unter den Stichworten »Wer sind wir?, Was wollen wir? Was können wir tun?«96 vorstellte. Der eigentliche Auftakt und das erste öffentliche Auftreten des Neuen Forums sollte jedoch eine Veranstaltung am 2. Oktober sein, auf der, wie Klähn erläuterte, ein größeres Publikum für »eine theoretisch fundierte Arbeit für oppositionelle Alternativen in der DDR«97 gewonnen werden sollte. Zu diesem Zweck war geplant, zunächst das Neue Forum, seine Aufrufe und Forderungen darzustellen. Danach war eine offene Diskussion vorgesehen, die sich im Rahmen des Anfang Oktober erstellten Offenen Problemkatalogs bewegen sollte, in dem die Berliner Initiatoren des Neuen Forums die brennendsten Probleme der DDR zusammengefaßt hatten. Die Selbstdefinition als basisdemokratische Plattform kam in dem Problemkatalog deutlich zum Tragen: Es handelte sich weniger um einen programmatischen Entwurf, in dem präzise Forderungen gestellt wurden, sondern vielmehr um eine Diskussionsgrundlage, die mit den Forderungen nach Rechtsstaatlichkeit, freien Wahlen, Gewaltfreiheit, sozial und ökologisch verträglichen Wirtschaftsstrukturen, Demonstrations-, Versammlungs-, Presse- und Meinungsfreiheit den grundlegenden Konsens absteckte. Auf dieser Grundlage wurden zum einen erste Forderungen und zum anderen weitergehende Fragen entwikkelt, die als Impulse für den angestrebten gesellschaftlichen Dialog dienen sollten.98 An diesen Vorgaben orientierte sich auch der Einsatz des Problemkatalogs in Schwerin: Er sollte die Diskussion stimulieren und strukturieren, ohne ihre Ergebnisse vorwegzunehmen. Als dritter Programmpunkt der Veranstaltung am 2. Oktober war vorgesehen, Arbeitsgruppen zu verschiedenen thematischen Bereichen zu bilden. Sie sollten in der weiteren Entwicklung eine typische Organisationsform des Neuen Forums werden. Auch bei ihnen stand das Bestreben Pate, Formen für einen basisdemokratischen Dialog zu etablieren, denn in den Arbeitsgruppen sollten sich Interessierte, wenn möglich auch Experten auf freiwilliger Basis zusammenfinden, um an konkreten Problemfeldern weiterzuarbeiten und Lösungsvorschläge zu entwickeln. Als ein Schwerpunkt ihrer Arbeit waren lokale Probleme vorgesehen; zugleich aber standen auch grundsätzliche Fragen der Wirtschaftsordnung, des Bildungssektors oder der politischen Verfassung auf der Tagesordnung. Nachdem das Programm für den Ablauf der ersten öffentlichen Veranstaltung des Neuen Forums in Schwerin umrissen war, sahen sich die Organisato96 Flugblatt des Neuen Forums Schwerin, Faksimile in: ebd., S. 105. 97 Martin Klähn zu den Zielen der Veranstaltung am 2.10.1989, ebd., S. 28. 98 »Welche Ziele wollen wir mit unserer Wirtschaft verfolgen?«, »Wie kann die Geldwertstabilität gewährleistet und ein wachsendes Mißverhältnis zwischen Preis und Leistung vermieden werden?«, »Wie kann sich eine neue Kultur des Umgangs miteinander herausbilden?«, vgl. Initiativgruppe des Neuen Forums: »Offener Problemkatalog« (Anf Oktober), Faksimile in: DGBBundesvorstand, S. 8f.

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ren vor die Frage gestellt, wo die Veranstaltung stattfinden konnte. Die Initiativgruppe selbst verfügte nur über die Privatwohnungen ihrer Mitglieder. Dort allerdings konnte man Treffen im kleinen Kreis abhalten, nicht jedoch eine Veranstaltung, die sich an eine größere Öffentlichkeit richtete. Dazu kam noch ein weiteres Argument, das gegen eine Versammlung in Privaträumen sprach, nämlich die drohenden Gegenmaßnahmen der Staatssicherheit, die das Neue Forum nach wie vor als Staats- und verfassungsfeindliche Vereinigung verfolgte. Die Ausweichmöglichkeit lag nahe: »Wenn wir nicht verhaftet werden wollten,« so Heiko Lietz, »dann hatten wir gar keine andere Möglichkeit, als den kirchlichen Raum zu nutzen.«99 Hier kamen erneut die persönlichen Verbindungen zum Tragen, welche die Initiatoren des Neuen Forums während ihres jahrelangen Engagements zur Kirche geknüpft hatten. So berichtet Pfarrer Martin Scriba von der Paulsgemeinde in Schwerin, das Neue Forum habe »angeklopft und gefragt, ob wir Räume zur Verfügung stellen könnten«.100 Damit kam Scriba in eine gewisse Zwangslage, denn die offizielle Linie der Kirche machte es schwer, dem Neuen Forum kirchliche Räumlichkeiten für ausschließlich politische Veranstaltungen zu überlassen. Wiederum waren es Einzelpersonen, die in die Bresche sprangen und wie Pfarrer Scriba die Veranstaltungen deckten. Indem er seine Kirche zur Verfügung stellte, dem innerkirchlichen und staatlichen Druck, die Veranstaltung abzusagen, widerstand und sich öffentlich mit den Forderungen des Neuen Forums solidarisierte, leistete Scriba wie viele andere Pfarrer im ganzen Land eine wichtige Starthilfe für eine Organisation, die existentiell auf materielle Ressourcen und auf Legitimationshilfen angewiesen war. Wie bei vergleichbaren Veranstaltungen der oppositionellen Gruppen in anderen Städten übertraf der Zulauf zu der Veranstaltung in Schwerin, die am 2. Oktober in einem Gemeindehaus stattfinden sollte, alle Erwartungen. Anhand der bislang geleisteten Unterschriften hatte man sich auf eine Teilnehmerzahl von etwa 250 Personen eingestellt; so viele waren jedoch eine Stunde vor dem geplanten Beginn um 20.00 Uhr schon gekommen, so daß der Saal bereits gegen 19.00 Uhr voll besetzt war. Unter den enttäuschten Rufen derer, die keinen Platz mehr gefunden hatten, mußte kurzfristig improvisiert werden: Die Veranstaltungwurde in die benachbarte Paulskirche verlegt, die den schließlich ca. neunhundert Interessenten gerade noch ausreichend Platz bot.101 Angesichts der Umstände, des kurzfristigen Umzuges in die Kirche und des unerwarteten Andrangs war an die Durchführung des geplanten Programmablaufes nicht mehr zu denken. Einzig die Vorstellung des Neuen Forums konnte wie geplant 99 Heiko Lietz, in: Drescher u.a., S. 24. 100 Marin Scriba, in: ebd., S. 25. 101 Die Angaben der Teilnehmerzahlen differierten zwischen achthundert bis tausend, wobei auch das MfS seine erste Schätzung von 320 Personen auf achthundert bis neunhundert korrigierte. Vgl. die Berichte in Drescher u.a., S. 25ff. und die Berichte des MfS, ebd. S. 135 bzw. 137.

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verlaufen. Die Redner unterstrichen dabei neben den Zielen und Forderungen der Gruppe vor allem die Notwendigkeit einer politischen Opposition, der die Staatsführung in ihrer offiziellen Begründung der Ablehnung keinen gesellschaftlichen Bedarf attestiert hatte. Daß dieser Bedarf sehr wohl bestand, dokumentierten die neunhundert Anwesenden nachhaltig. Gleichzeitig zeigten sichJedochschon zu diesem frühen Zeitpunkt verschiedene Probleme, mit denen sich das Neue Forum im gesamten Verlauf seiner Entwicklung konfrontiert sehen sollte. Nach Jahren der Arbeit in kleinen, marginalisierten Zirkeln waren die Verantwortlichen vor Ort mit dem Andrang völlig überfordert. So wurden am 2. Oktober die geplanten Diskussionen im Rahmen des Problemkataloges ergebnislos abgebrochen, und auch die Konstituierung der Arbeitsgruppen erwies sich wegen der Menge der Interessenten als unmöglich - die rudimentären Strukturen des Neuen Forums erlitten einen ›Mobilisierungs-Overkill‹.102 Diese Entwicklung wurde durch ein zweites Phänomen weiter verschärft: Anstatt daß die Interessenten sich eigenständig engagieren und ihre persönlichen Qualitäten in die Arbeit einbringen wollten, formulierten viele eine deutliche Erwartungshaltung, die bereits in der Veranstaltung am 2. Oktober zum Ausdruck kam: »Macht mal, wir machen mit.«103 Das war nicht das, was sich die Initiatoren erträumten. Die erhoffte Aktivierung der Gesellschaft erfaßte zwar viele, die sich später in den Arbeitsgruppen engagierten, ein großer Teil der Sympathisanten aber wartete auf ein gewisses Maß an Führung. Schien dieses Problem in der Anfangsphase vor allem eine Frage der Kapazität der Mitglieder und Strukturen des Neuen Forums zu sein, sollte im Laufe der Entwicklung deutlich werden, daß es sich um ein prinzipielles Problem handelte: Die zivilgesellschaftliche Utopie setzte Menschen voraus, die - einmal befreit von den staatlichen Fesseln - ihre sozialen Tugenden entfalteten und alles daran setzten, sich für ihre individuellen wie für die kollektiven Wünsche und Ziele zu engagieren. Die Tatsache, daß dieses idealistische Menschenbild, auf das auch die Organisationsprinzipien zugeschnitten waren, von der Realität eingeholt wurde, führte auf Dauer zu erheblichen Spannungen und Problemen. Zunächst jedoch erlebten die Initiatoren den Zuspruch der Bevölkerung wie in einem Rausch: Während Uta Loheit das Ereignis als »sehr erleichternd«, um nicht zu sagen »total überwältigend« empfand,104

102 Rucht (Unification, S. 48f.) hat als erster daraufhingewiesen, daß die Entwicklungen in der DDR 1989 in vielen Punkten gängigen Annahmen der Bewegungstheorie widersprechen, so etwa der Überzeugung, daß ein starker Zulauf grundsätzlich positiv für Bewegungen ist. Die Probleme des Neuen Forums sieht er zu Recht als einen Beleg für das Gegenteil: »Explosive growth can be a danger rather than a gain.« 103 So zitierte Uta Loheit verschiedene Teilnehmer an der Veranstaltung am 2.10.1989, in: Drescher u.a., S. 29. 104 Uta Loheit, in: ebd., S. 29.

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hatte es Dietlind Glüer schlicht »umgehauen, so spannend und bewegend war es.«105 Die erste große Veranstaltung am 2. Oktober war der Punkt, an dem sich die Entwicklung des Neuen Forums in Schwerin in zwei Richtungen differenzierte: Auf der einen Seite wurde versucht, die Arbeitsstrukturen vor Ort zu konsolidieren, und auf der anderen Seite entwickelte die Schweriner Gruppe eine Ausstrahlung auf das Umland, die zum Anstoß einer überregionalen Mobilisierungwurde. In Schwerin wurden, gemäß der vorläufigen Organisationsstruktur, die der Berliner Gründerkreis vorgeschlagen hatte,106 Sprecher gewählt, die weniger als Organisatoren denn als Schaltstellen der Informationsübermittlung dienen sollten.107 Da Schwerin Bezirksstadt war, wurde zugleich ein Koordinierungsausschuß ins Leben gerufen, der als Sprechergremium des Neuen Forums auf Bezirksebene fungieren sollte. Auch wenn die Arbeit der Sprecherräte und Koordinierungsausschüsse aufgrund der personellen und organisatorischen Probleme nur schleppend in Gang kam, zeichneten sich die Züge einer zivilgesellschaftlichen Gesellschaftsutopie in den Organisationsprinzipien des Neuen Forums deutlich ab: Wie Havel bereits 1978 in seiner Schrift über den »Versuch, in der Wahrheit zu leben« gefordert hatte, war der basisdemokratische Aufbau des Neuen Forums von der Intention getragen, formalisierte politische Institutionen zu ersetzen durch ein Netzwerk von unabhängigen Bürgervereinigungen, die »selbstverständlich von unten entstehen, als Ergebnisse der authentischen gesellschaftlichen ›Selbstorganisation‹.«Es sollten, so Havel, »offene, dynamische und kleine Strukturen« sein, »Strukturen, die keine Organe oder Institutionen, sondern Gemeinschaften sind«, denn »besser als ein statischer Komplex formalisierter Organisationen, sind Organisationen, die ad hoc entstehen, voller Begeisterung für ein konkretes Ziel«.108 Es war diese Idee, die hinter der Initiative stand, thematische Arbeitsgruppen, Sprecherräte und Koordinierungsausschüsse ins Leben zu rufen. Sie sollten den gesellschaftlichen Dialog tragen, indem die Ergebnisse der lokalen Diskussionsgruppen durch ein Sprechersystem auf eine überregionale und schließlich nationale Ebene übersetzt wurden. Gleichzeitig sollte ein basisdemokratisches Subsidiaritätsprinzip gewährleisten, daß diejenigen Themen, die auf lokaler Ebene diskutiert und entschieden werden konnten, nur von den lokalen Gruppen behandelt wurden. Nur das, 105 Dietlind Glüer, Gründungsmitglied des NF Rostock, die am 2.10. in Schwerin war. Interview in Probst. Norden. S. 128. 106 »Brief an die Freundinnen und Freunde des Neuen Forums« (1.10.1989), in: DGB-Bundesvorstand, S. 5f. 107 »Die Sprecherinnen/er transportieren Arbeitsergebnisse und Informationen, halten Kon takt zu anderen Gruppen und zum Koordinierungsausschuß«, Brief des Neuen Forums/Bezirl Schwerin an die Mitglieder im Bezirk vom 9.10.1989, in: Drescher u.a., S. 161. 108 Havel, Leben, S. 87f. Herv. im Original.

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was die Kreis-, Bezirks- oder nationale Ebene betraf, gehörte zum Aufgabengebiet der überregionalen Arbeitsgruppen, welche die Ergebnisse aus den Diskussionen im Lande synthetisieren sollten.109 Wie auch die Entwicklung in anderen Städten zeigte, war der Erfolg dieser Strategie ambivalent. Einerseits wurde schon bald deutlich, daß die Vorstellung, über basisdemokratische Strukturen einen gesamtgesellschaftlichen Willen zu generieren, schwieriger umzusetzen war als gedacht. Gerade in der Phase der Massenmobilisierung aber erwiesen sich die offenen und flexiblen Strukturen andererseits als außerordentlich attraktiv, denn im ganzen Land schossen thematische und regionale Arbeitsgruppen des Neuen Forums wie Pilze aus dem Boden.110 Die Tatsache, daß Untergliederungen mitunter bis auf die Ebene einzelner Straßenzüge oder Häuserblocks hinunter reichten, dokumentiert den Mobilisierungserfolg, den das Neue Forum mit seinen lokalen Strukturen erreichen konnte. Sie boten vielen Tausenden im Land die Möglichkeit, sich konstruktiv zu engagieren und dem allgegenwärtigen Gefühl zu entsprechen, daß etwas getan werden mußte. Ihre eigentliche Wirkung konnten die Mobilisierungsstrukturen des Neuen Forums jedoch erst in dem Moment entfalten, in dem sie über die großen Städte wie Schwerin hinausgingen und auch die benachbarten Städte miteinbezogen. Dies ist die zweite Entwicklungslinie, die sich anhand des Neuen Forums in Schwerin rekonstruieren läßt: die mobilisierende Ausstrahlung in das Umland. Wie bereits erwähnt, hatte Schwerin eine besondere Bedeutung im Prozeß der Formierung des Neuen Forums in den Nordbezirken. Die Stadt verdankte ihre exponierte Stellung der Tatsache, daß mit Martin Klähn eines der Gründungsmitglieder der Gruppe am 10. September aus Grünheide zurückkehrte, so daß die Arbeit in Schwerin unverzüglich aufgenommen werden konnte. Schwerin blieb jedoch nicht die einzige Stadt im Norden, in der das Neue Forum Fuß faßte. Auch in Orten, in denen es zunächst keine persönlichen Verbindungen zum Gründerkreis gab, traten innerhalb von wenigen Wochen nach dem 10. September Ortsgruppen des Neuen Forums an die Öffentlichkeit. Es stellt sich daher die Frage, wie sich das Neue Forum in denjenigen Städten konstituierten konnte, in denen es zunächst keine Anlaufstelle gab. Grundsätzlich kann man feststellen, daß nicht das Neue Forum potentielle Initiatoren für die Gründung einer neuen Ortsgruppe fand, sondern daß das Neue Forum von zukünftigen Mitgliedern gesucht und gefunden wurde. Drei 109 Vgl. dazu die Vorläufige Organisationsstruktur, die der Berliner Gründerkreis des Neuen Forums in dem Zirkularbrief vom 1.10.1989 vorschlug. (Faksimile in: DGB-Bundesvorstand, S. 6). 110 Bislang gibt es noch keine Untersuchung, die über Randbemerkungen zu den thematischen Arbeitskreisen, Basis- und Betriebsgruppen des NF und der anderen oppositionellen Vereinigungen hinausgeht. Allein Unterberg (S. 149-155) zeigt am Beispiel Leipzigs die Bedeutung, die diese Foren für die lokalen Mobilisierungszusammenhänge entwickelten.

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Wege, Anschluß an das Neue Forum zu finden, lassen sich dabei unterscheiden: Eine wesentliche Rolle spielten die überregionalen Netzwerke der DDROpposition, über die persönliche Kontakte hergestellt und Dokumente ausge­ tauscht werden konnten. Ein zweiter Anstoß mit überregionalen Auswirkun­ gen waren Großveranstaltungen wie die in Schwerin, die von zahlreichen Interessenten besucht wurden, die von außerhalb anreisten mit dem Ziel, die Initiative in ihrer Heimatstadt weiterzuführen. Der dritte Weg schließlich war das von Berlin aus initiierte Kontaktadressensystem, das überall in der DDR Anlauf- und Informationsstellen schuf, die das Interesse von Sympathisanten aus der Region befriedigen konnten. Alle drei Wege lassen sich von Schwerin aus nachvollziehen. So gingen bei­ spielsweise die Gründungen der Gruppen in Crivitz oder im Kreis Gadebusch auf Kontakte zurück, die über die Kanäle der oppositionellen Netzwerke mit dem Schweriner Gründerkreis hergestellt wurden.111 In Crivitz, einer Klein­ stadt 10 km östlich von Schwerin, war es der ehemalige Landesbischof Hein­ rich Rathke, der die Initiative ergriff und sich zum nahegelegenen Schwerin orientierte. »Wir haben uns«, erklärte er später, »natürlich ein wenig hier ange­ hängt. Martin Klähn habe ich sehr schnell entdeckt, ebenso Jens Reich in Ber­ lin, und dann haben wir in Crivitz unser Neues Forum gegründet.«112 Auch im Kreis Gadebusch waren es, in der Diktion des MfS, »feindlich-negative Kräfte, wie der Kunstwissenschaftler Rudolph, Ulrich aus Bülow, Kreis Gadebusch,« die am 27. September in Bülow, einem Dorf 30 km nordwestlich von Schwerin, das Neue Forum ihres Kreises gründeten. Der Gründung war eine ähnliche Entwicklung vorausgegangen wie schon in Crivitz, nur daß die Verbindung diesmal über Rudolph zustande kam, der, wie das MfS in seiner Angst vor einer stabsmäßigen Organisation ausdrücklich betonte, »Kontakte zu Klähn hat«.113 Neben den informellen Kontakten stellten die Großveranstaltungen des Neuen Forums einen zweiten Faktor dar, der in das Umland ausstrahlte. So waren zum Beispiel zu der Versammlung in der Schweriner Paulskirche am 2. Oktober nicht nur die Initiativkreise aus den umliegenden Orten gekommen, sondern auch Interessierte aus anderen Städten, die hier diejenigen Anstöße sammelten, die wenige Tage später zur Gründung des Neuen Forums in Wis­ mar und Rostock führen sollten. Fritz Kalf, Guntram Erdmann und Franz­ Norbert Krőger, die alle drei am 2. Oktober in Schwerin gewesen waren, initi­ ierten am 9. Oktober ein Gründungstreffen des Neuen Forums Wismar, zu 111 Zu den oppositionellen Gruppen und Netzwerken im Norden vgl. Lietz. 112 Heinrich Rathke, in: Drescher u.a., S. 30. Aufmerksam auf das NF war Rathke am Rande der Ev. Bundessynode geworden, so daß man die kirchlichen Kommunikationsstrukturen als ei­ nen weiteren Weg der Informationsübermittlung zählen kann, vgl. den Brief Rathkes an Klähn vom 21.9.89, RHA 3.1.3.: Briefe an das Neue Forum/Martin Klähn, Schwerin, keine Pag. 113 MfS/BVfS Schwerin: »Infomation 140/89 über sicherheitspolitisch bedeutsame Aspekte der Lage im Bezirk« (3.10.1989), in: Drescher u.a., S. 142-151, Zitat S. 144.

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dem über 120 Menschen in das Haus Kalfs kamen. Da auch zu diesem Treffen wiederum viele Interessierte aus dem Umland anreisten, wurde es seinerseits zum Impuls für die Gründung weiterer Initiativkreise, so etwa im Kreis Grevesmühlen.114 Die Eigendynamik, welche die Ausbreitung des Neuen Forums im Norden ausgehend von Schwerin entfaltete, erreichte schließlich auch Rostock, wo seit Mitte September mehrere kleine Kreise unabhängig voneinander eine Gründung verfolgten und nach Anschluß an das Neue Forum suchten. Diese Situation war durchaus typisch für Städte, in denen es keinen direkten Kontakt zu den Berliner Gründerkreisen gab. Wie anderswo gewährleistete das Westfernsehen, daß sich die Nachricht von der Konstituierung des Neuen Forums auch in Rostock verbreitete; allerdings blieb für Interessierte das Problem bestehen, vor Ort Anlaufstellen oder Mitinitiatoren zu finden. So suchte nicht nur Dietlind Glüer, die seit der Nachrichtenmeldung über die Gründungsinitiative Bärbel Bohleys am 10. September wie »elektrisiert«115 war, nach Kontakten, sondern auch Christoph Kleemann, der auf einer Dienstreise in den Süden der Republik von den dortigen Aktivitäten des Neuen Forums erfahren hatte. »Eigentlich«, so Kleemann, »liefen in Rostock zu dieser Zeit eine ganze Menge von Leuten herum und suchten den, der den Kontakt jetzt aufnimmt.«116 Hergestellt wurde dieser schließlich durch Dietlind Glüer auf der Veranstaltung in der Schweriner Paulskirche am 2. Oktober. Auch wenn sie nur mehr oder weniger zufällig in die Veranstaltung geraten war, kehrte sie zurück »mit dem festen Vorsatz: Jetzt muß das in Rostock auch losgehen. [...] Und dann habe ich mich umgehorcht. Michael Steinbach, der Methodistenprediger, sollte dazugehören. Ich habe meine alte Kollegin angesprochen und zu ihr gesagt: ›Beate, wir müssen nach Kühlungsborn [dem Wohnort Steinbachs, d. Vf.]. Da ist ein Mensch vom Neuen Forum, den müssen wir interviewen; das muß sein.«117 Die Tatsache, daß Glüer an Michael Steinbach verwiesen wurde, war wiederum kein Zufall, sondern ein Ergebnis der dritten Kontaktmöglichkeit, die Interessenten den Weg zum Neuen Forum wies. Anfang Oktober hatte das Neue Forum eine Liste herausgegeben, auf der für jeden Bezirk der DDR die aktuellen Kontaktadressen aufgeführt waren. Steinbach fungierte auf dieser Liste als offizielle Kontaktperson des Neuen Forums für den Bezirk Rostock.118 Die Bedeutung der Kontaktadressen, die selten mehr waren als eine erste Anlaufstelle, wird am Beispiel Rostock sehr deutlich: Sie stellten nicht nur Material und Informationen zur Verfügung, sondern leisteten noch eine zweite Aufgabe, die 114 Zur Entwicklung des Neuen Forums Wismar siehe Abrokat, S. 159ff.; zu den Impulsen nach Grevesmühlen Langer, S. 85. 115 Dietlind Glüer, Interview in: Probst, Norden, S. 128. 116 Christoph Kleemann, Studentenpfarrer in Rostock; Interview in ebd., S. 116. 117 Dietlind Glüer, Interview in: ebd., S. 128. 118 Kontaktadressen des Neuen Forums (Anf. Oktober 1989), RHA: 3.1.1.1.1.2, ohne Pag. 212 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35925-0

in der unübersichtlichen Aufbruchszeit im September und Oktober eine große Bedeutung hatte. Denn nicht selten bildeten sich in ein und derselben Stadt verschiedene Initiativkreise, die sich - ohne voneinander zu wissen - mit Gründungsabsichten trugen. Sofern man nicht über die informellen Netzwerke voneinander erfuhr, waren die überregionalen Kontaktadressen oft die einzige Möglichkeit, eine Verbindung zwischen diesen kleinen, getrennt agierenden Kreisen herzustellen und sie so zu einer Initiative zu bündeln.119 Nach dem Treffen mit Steinbach in Kühlungsborn begann in Rostock eine Entwicklung, die der in Schwerin bis auf die Tatsache, daß sie zeitlich um einige Tage versetzt war, weitgehend glich. Bereits einen Tag nach dem Besuch Glüers bei Michael Steinbach konstituierte sich der Initiativkreis des Neuen Forums Rostock.120 Die erste Aktion der sechs Gründungsmitglieder, die sich am Tag des ersten Friedensgebetes in der Rostocker Methodistenkirche trafen, bestand neben der Sammlung von Unterschriften für den Aufruf »Aufbruch '89 - Neues Forum« in den Planungen für eine öffentliche Informationsveranstaltung, die am 11. Oktober stattfinden sollte. Da man die Unterstützung des Pfarrers erhielt, war es auch in Rostock eine Kirche, die es der Gruppe ermöglichte, erstmals öffentlich in Erscheinung zu treten. Unter der Leitung Glüers stellte sich das Neue Forum am 11. Oktober in der mit fünfhundert Menschen gefüllten Methodistenkirche vor und initiierte eine Diskussion über die Ziele, die in den Aufrufen und Resolutionen formuliert worden waren. Gleichzeitig gelang es bei dieser Gelegenheit, erste Wohngebiets- und Arbeitsgruppen zu etablieren, die schon bald die Arbeit aufnahmen. Parallel dazu konstituierte sich der Kreis der sechs Initiatoren als provisorischer Sprecherrat. Wie Schwerin entwickelte sich auch die Bezirksstadt Rostock in der Folge zu einem überregionalen Zentrum, das mit Untergliederungen in Rostock-Land die Arbeit im Bezirk koordinierte. Das Schneeball-System der Mobilisierung erwies sich daher als außerordentlich effektiv: Es war aufgrund der informellen Kommunikationskanäle weder zu kontrollieren noch zu unterbinden, entsprach in den Elementen der Selbstorganisation von unten den ideellen Vorstellungen des Gründerkreises, und erforderte einen minimalen Organisationsaufwand, da es von der Nachfrage nach Kontakten mit dem Neuen Forum profitieren konnte. Auf diese Weise war es möglich, ein Netz von lokalen Initiativen zu schaffen, die vor Ort selbständig arbeiteten und zugleich in überregionale Strukturen eingebunden wurden. Dabei gilt es zu beachten, daß die Entwicklung in den Nordbezirken die Gesamtentwicklung nur exemplarisch verdeutlichen sollte. Die Formierungsprozesse des Neuen Forums blieben nicht auf den Norden beschränkt, 119 Ein Bild von der Arbeit der Kontaktpersonen vor Ort vermittelt Unterberg (S. 85ff.) am Beispiel Leipzigs. 120 Zur Konstituierung des Neuen Forum/Rostock vgl. Probst, Norden, S. 37ff. und Schmidtbauer, S. 75ff.

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sondern erfaßten die gesamte DDR, in der es seit Anfang Oktober zu einer Welle von Gruppengründungen kam. Überall initiierten Ortsgruppen des Neuen Forums Informationsveranstaltungen, die in großen Städten wie KarlMarx-Stadt (3.10.: 400 Besucher), Weimar (4.10.: 3.000-4.000) oder Erfurt (26.9.: 1.000, 9.10.: 1.750) einen ebenso großen Teil der Bevölkerung anzogen wie in kleineren Städten wie Nordhausen (4.10.: 560), Saalfeld (6.10.: 1.000), Ribnitz (9.10.: 130), Waren (15.10.: 130) oder Wismar (18.10.: 1.500-2.000).121 Analysiert man die Aktionen der oppositionellen Gruppen in den Kategorien der Bewegungsforschung, wird deutlich, daß sie - im Rahmen ihrer Möglichkeiten - alle drei Funktionen erfüllten, die Joachim Raschke für Bewegungsorganisationen herausgearbeitet hat.122 So ist, erstens, die Mobilisierung von Ressourcen, zu denen nicht nur Menschen, sondern auch Räume, Material, Kommunikations- und Vervielfältigungsmöglichkeiten zählen, dauerhaft und systematisch nur durch organisierte Gruppen möglich. Es war auf lokaler Ebene vor allem das Neue Forum, das es verstand, sich diese Mittel zu verschaffen, um seinen Forderungen und Zielen Nachdruck zu verleihen. Aktionen bedürfen nicht unbedingt der Organisation, sie können, wie im Herbst 1989 nur allzu oft geschehen, auch spontan entstehen. Aber sobald es darauf ankommt, verschiedene Handlungsansätze innerhalb eines großen Gebietes zu integrieren und zu koordinieren, versagen spontane Interventionen. Diese zweite wichtige Aufgabe von Trägergruppen innerhalb einer sozialen Bewegung konnte in der DDR des Spätsommers 1989 nur eine Organisation leisten, die wie das Neue Forum darauf angelegt war, eine pluralistische Vielfalt von Ansätzen in einer basisdemokratischen Organisation zu vereinen. Da, drittens, die Ziele einer sozialen Bewegung nicht fest fixiert, sondern immer fluide sind, bedürfen sie in hohem Maße der öffentlichen Debatte und Reflexion. Diese Kommunikationsprozesse zum einen zu initiieren, zum anderen aber auch zu verstetigen, ist die vielleicht wichtigste Aufgabe, die einer Bewegungsorganisation zukommt. Das heißt nicht, daß die Ziele von den Organisationen definiert oder dogmatisch vorgegeben werden, wohl aber, daß Bewegungsorganisationen durch ihre Aufrufe, Stellungnahmen und öffentlichen Auftritte die Debatten prägen und ihre Bahnen bestimmen, wie es sich bei den Diskussionen im Rahmen des Problemkataloges des Neuen Forums exemplarisch zeigen läßt. Gerade an diesem Punkt wird deutlich, wie sich die zivilgesellschaftlichen Ansätze der Gruppen in die öffentlichen Diskussionen 121 Einen eindrucksvollen Überblick über Aktionen des Neuen Forums in der DDR vermittelt das Protokoll vom Treffen der Erstunterzeichner und Kontaktadressen des Neuen Forums am 14.10.89 in Berlin (RHA 3.1.1.1.2.: Repblikforen, Bl. 1166) Zu der Veranstaltung in Karl-MarxStadt vgl. Reum/Geißler, S. 27ff; zu Weimar: Victor, S. 54ff; zu Erfurt: Schnitzler, S. 69f; zu Saalfeld: E. Richter, S. 29; zu Ribnitz und Waren: Langer, S. 80ff und zu Wismar: Abrokat, 11 lff. 122 Zu Position und Funktion von Bewegungsorganisationen siehe Raschke, Grundriß, S. 205-214, bes. S. 206f.

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übersetzen konnten. Ihre programmatischen Vorgaben bestimmten die Bahnen und die Grenzen der Diskussionen, ihre Vertreter repräsentierten den Protest nach außen, und ihre Organisationsvorstellungen prägten die Möglichkeiten des Engagements vor Ort. Die Präsenz, die vor allem das Neue Forum auf lokaler Ebene zeigte, ermöglichte die Fortführung des framings, das durch die West-Medien bereits begonnen worden war. Durch ihre Aktionen, Veranstaltungen, Aufrufe und Resolutionen fungierten die Vertreter der Gruppen als Sprecher einer unkoordinierten und führerlosen Protestwelle und schufen so den Rahmen, der die diffuse Unzufriedenheit in eine einheitliche Richtung lenkte. Auf diese Weise konnten die zivilgesellschaftlichen Kategorien der Öffentlichkeit und des Dialogs in die Deutung der Situation und in die Umsetzung der Unzufriedenheit in politische Forderungen eingehen. Zunächst stand dabei die Artikulation grundlegender Bedürfnisse und Interessen im Vordergrund. In diesem Punkt bestand ein weitgehender Konsens zwischen allen Teilen der Bewegung, gleich ob Aktivist oder Teilnehmer: »Im Grunde genommen«, so betonte Gauck, »war es wichtig, erst einmal Sehnsüchte und Träume in Worte zu fassen. Als man das konnte, da konnte man auch mobilisieren und den Kampf anleiten.«123 2.2. Die Trägergruppen auf nationaler Ebene Da sich dieser Kampf primär gegen die SED richtete, die ihre Entscheidungen nicht auf lokaler, sondern auf zentraler Ebene in Berlin traf, gewannen die Gründerkreise der oppositionellen Gruppen im Zuge der Mobilisierung eine Bedeutung, welche die Erwartungen der Initiatoren weit übertraf Ihnen sollte - relativ unverhofft - die Aufgabe zukommen, die entstehende Bewegung nach innen zu integrieren und nach außen zu vertreten. Seit Ende September war für diejenigen, die der Gründerkreis des Neuen Forums als Ansprechpartner benannt hatte,124 an ein normales Leben nicht mehr zu denken. »Nahezu pausenlos«,125 so Jens Reich, habe sein Telephon geklingelt; in Bärbel Bohleys Atelier gaben sich die Besucher die Klinke in die Hand, und eine täglich anschwellende Flut von Briefen an die Kontaktadressen überforderte selbst die Kontrolleure der Staatssicherheit.126 Nicht nur aus Ber123 Joachim Gauck, Interview in Probst, Norden, S. 105. 124 Der Zirkularbrief vom 1.10.1989 nennt im Namen des Neuen Forums die Adressen von 17 Personen, »über die wir uns vorerst verständigen wollen.« (Faksimile in: DGB-Bundesvorstand, S. 5f.). 125 Reich, S. 185. 126 Überaus interessant für die Formierungsphase des Neuen Forums sind die Berichte Reinhardt Pumbs, der nach Aktenlage als IM Paule/IM Pille der einzige Inoffizielle Mitarbeiter war, den das MfS im Gründerkreis des Neuen Forums piazieren konnte. (Vgl. RHA 3.1.2.1.08: IMVorgänge).

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lin, sondern aus der ganzen DDR wandten sich Menschen an das Neue Forum, um Material und Informationen anzufordern, um Anregungen zu geben, um ihre Mitarbeit anzubieten oder aber um einfach nur ihrer Sympathie und Solidarität Ausdruck zu verleihen. Angetreten, um als Diskussionsplattform der Vielfalt der gesellschaftlichen Meinungen und Interessen einen öffentlichen Raum zu bieten, wurde das Neue Forum in den Briefen geradezu euphorisch begrüßt. So sehr die Opposition in der DDR über Jahre diskriminiert und marginalisiert worden war, so sehr wurde sie in der Situation, in der die Notwendigkeit und die Möglichkeit einer politischen Alternative zu bestehen schien, für viele der Hoffnungsträger einer demokratischen Erneuerung. Daß vor allem dem Neuen Forum aufgrund seines Zeit- und Publizitätsvorsprunges die Funktion als Wortführer zugeschrieben wurde, verdeutlicht stellvertretend für viele andere Zuschriften das folgende Zitat aus einem Brief vom 14. Oktober, dessen Verfasser betont, »daß der treffend unter das Motto ›Aufbruch 89‹ gestellte Gründungsaufruf mit jedem Wort den Nerv unserer seit Jahren schwelenden moralischen Krise trifft, und deswegen [...] einen so ungeteilten Widerhall gefunden hat. Den Initiatoren, besonders Bärbel Bohley und Rolf Henrich, gebührt der Dank aller für diese schon befreiend wirkende Tat.«127

Die Schlüsselstellung des Neuen Forums als Repräsentant der wahren gesellschaftlichen Interessen und Hoffnungen umschreibt ein anderer Brief: »Auf der Suche nach dem Medium, nach den Möglichkeiten, diese unsere Dornröschengesellschaft wachzuküssen, kommt keiner mehr an der [...] Gruppe ›Neues Forum‹ vorbei.«128 Das öffentliche Interesse an den Gruppen und ihrer Aktivität veränderte die Bedingungen, unter denen die Opposition agierte, grundlegend. Nachdem die Oppositionellen über Jahre unter dem Dach der Kirche eine eher randständige Existenz ohne größere gesellschaftliche Aufmerksamkeit geführt hatten, ergaben sich aus dem Zuspruch der Bevölkerung völlig neue Handlungsarmem, aber auch neue Handlungszwänge: An erster Stelle stand dabei die Bewältigung der zahllosen Anfragen nach Kontakten und Materialien, die an das Neue Forum gerichtet wurden. Wie eine Auswertung der Briefe, die das Neue Forum im Zeitraum von Mitte September bis Mitte Oktober erhielt,129 zeigt, zentrierten sich in Berlin anders als bei den regionalen Kontaktadressen wie etwa Mar127 Briefvon Günther C. Hansen an das Neuen Forums vom 14.10.1989 (RHA3.1.3.: Briefe an das Neue Forum, ohne Pag.). 128 Briefvon Torsten Seifert an Christian Tietze (NF) vom 19.10.1989 (RHA 3.1.3.: Briefe an das Neue Forum, ohne Pag.). 129 Vgl. RHA 3.1.3.: Briefe an das Neue Forum. Allein die im Robert-Havemann-Archiv archivierten Briefe, die Bärbel Bohley und Christian Tietze im Oktober 1989 erhielten, füllen mehr als zwei große Leitz-Ordner.

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tin Klähn in Schwerin, nicht nur Anfragen aus der Stadt selbst. Die Briefe kamen aus der gesamten DDR, so daß auch Bitten um Informationen über Termine und Treffpunkte in anderen Städten beantwortet werden mußten. Ohne organisatorische Strukturen und ohne festes Personal sahen sich die Kontaktpersonen und ihre Mitarbeiter bald völlig überfordert: Einerseits wollten sie dem Interesse gerecht werden, andererseits waren sie »nicht mehr in der Lage, alle anstehenden organisatorischen Probleme zu lösen«, wie Reinhardt Pumb, der nach Aktenlage einzige Informant der Staatssicherheit im Gründerkreis des Neuen Forums am 5. Oktober meldete. Pumb, dessen IM-Aktivität keine operativen Aufgaben umfaßte, sondern sich auf die Beobachtung der Vorgänge beschränkte,130 betonte weiterhin, der Gründerkreis des Neuen Forums sei »überrascht und zum Teil fassungslos über die Reaktion, die der Aufruf des ›Neuen Forums‹ unter breiten Teilen der DDR-Bevölkerung ausgelöst hat.«131 Ein besonderes Problem resultierte für das Neue Forum aus der Tatsache, daß der Gründungsaufruf als Unterschriftenliste konzipiert worden war, so daß die Kontaktadressen des Neuen Forums in Berlin einen täglich ansteigenden Rücklauf von oft selbstgefertigten und kaum lesbaren Unterschriftenlisten zu bewältigen hatten - 200.000 Unterschriften sollen es nach interner Schätzung bereits am 14. Oktober gewesen sein;132 wenig später gab man es auf zu zählen. Da die Unterzeichner mit ihrer Unterschrift nicht nur ihre Sympathie, sondern ihre Bereitschaft zur Mitarbeit erklärten, waren die Listen für das Neue Forum von größtem Interesse. Aus diesem Grund wurde an den beiden Computern bei Reinhard Schult und Jens Reich Tag für Tag getippt, um mit dem Ansturm Schritt zu halten. Weil man eine einheitliche, zumindest vorläufige Mitgliederkartei erstellen wollte, wurden die unterschiedlichen Computersysteme darüber hinaus am 12. Oktober auf dbase - wie ein IM, der selbst mit dem Tippen beauftragt war, in seinem Bericht hinzufügte: »sprich: dibäs«133 - umgestellt. Parallel zu der Beantwortung der Anfragen begannen das Neue Forum, die SDP, der Demokratische Aufbruch und Demokratie Jetzt damit, zumindest 130 Die Aktivitäten der »agents pacificateurs« (Süß, Taktik, S. 264) sind anhand der zugänglichen Quellen bislang nur bruchstückhaft faßbar. Pumbs »Auftrag und Verhaltenlinie« vom 16.10.89 zufolge bestand seine Tätigkeit primär in der teilnehmenden Beobachtung der Aktivitäten des NF-Gründerkreises, vgl. MfS/KD Lichtenberg: Treffbericht IM Paule (16.10.1989), RHA 3.1.3.1.08: IM-Vorgänge, II/2: IM Paule/Pille, Bl. 8. 131 MfS/KD Lichtenberg: »Operativinformation Nr. 146/89 zu Aktivitäten des Neuen Forum« (5.10.1989), RHA 3.1.3.1.08: IM-Vorgänge, II/2: IM Paule/Pille, Bl. 283. 132 Diese Zahl wird in dem Mß-Bericht über das Treffen der Kontaktadressen des NF am 14.10.1989 in Berlin zitiert, vgl.: MfS/KD Lichtenberg: »Information über die Regionaltagung der Vertreter des Neuen Forums«, RHA 3.1.3.1.08: IM-Vorgänge, II/3: IM Paule/Pille, Bl. 1. 133 Handschriftlicher Bericht des IM Andreas, RHA 3.1.2.1.08: IM-Vorgänge, I: IM Andreas, Bl. 155.

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rudimentäre überregionale Organisationsstrukturen zu etablieren.134 Auch hierbei profitierte das Neue Forum von seinem Zeitvorsprung, den es gerade gegenüber der erst am 7. Oktober gegründeten SDP hatte. Während diese am 14. Oktober in einem Flugblatt erstmals zur Bildung von Ortsverbänden aufrief,135 gelang es dem Neuen Forum am selben Tag, die Regionalvertreter aus der ganzen DDR zu einem ersten, gemeinsamen Treffen in Berlin zu versammeln. Angesichts der nach wie vor schwierigen Kommunikationsmöglichkeiten bot dieses Treffen die Möglichkeit, erstmals systematisch Informationen aus den verschiedenen Teilen des Landes auszutauschen und erste zentrale Beschlüsse vorzubereiten. Ein wichtiger Tagesordnungspunkt war die zukünftige Gestaltung der Organisationsstruktur des Neuen Forums.136 Zur Debatte stand der Vorschlag Henrichs, einen provisorischen Sprecherrat der Republik zu wählen, der in seiner Zusammensetzung aus den Sprechern der Bezirke und der thematischen Arbeitsgruppen die basisdemokratischen Vorstellungen demonstrieren sollte, die in der Organisationsstruktur des Neuen Forums zum Tragen kamen. Basisdemokratisch war nicht zuletzt auch die Art und Weise der Beschlußfassung, denn der Vorschlag Henrichs wurde nicht verabschiedet, sondern zunächst in den Bezirken zur Diskussion gestellt, damit auf dem nächsten Treffen, das am 11. November stattfinden sollte, eventuelle Gegen- oder Verbesserungsvorschläge in die Entscheidung miteinbezogen werden konnten. Dieses Verfahren war schleppend und angesichts der sich überstürzenden Ereignisse auch unbefriedigend,137 schienJedocham ehesten geeignet zu sein, den im Gründungsaufruf postulierten Willen umzusetzen, »die vielfältigen Einzelund Gruppeninitiativen zu einem Gesamthandeln finden«138 zu lassen. Der unerwartete Zuspruch stellte die Gruppen Jedoch nicht nur vor Probleme, sondern eröffnete ihnen zugleich ungeahnte Möglichkeiten, denn erstmals in ihrer Geschichte konnten sie sich als Repräsentanten eines nennenswerten Teiles der Bevölkerung sehen.139 Fragt man nach der Bedeutung des Verhältnisses, das sich zwischen den Trägergruppen einerseits und den Demonstranten und Sympathisanten andererseits herausbildete, liegt hier eine der entschei134 Zu den organisatorischen Bemühungen der einzelnen Gruppen vgl. die Beiträge in: Müller-Enbergsu.a.. 135 »Aufruf zur Mitgliedschaft und zur Bildung von Ortsverbänden der SDP« (14.10.1989), in: Rein, Opposition, S. 93f. 136 Vgl. »Protokoll des Treffens der Erstunterzeichner und Kontaktadressen des Neuen Forum am 14.10.«, in: DGB-Bundesvorstand, S. llff. 137 »Das wird dauern«, so Jens Reich in einem Kommentar zum Treffen am 14.10., aber »so ist das eben mit der Basisdemokratie«, in: die tageszeitung vom 16.10.1989, Seite 1. 138 »Aufbruch '89- Neues Forum«, in Rein, Opposition, S. 13-14, Zitat S. 14. 139 Vgl. Eberhard Seidel, Gründungsmitglied des Neuen Forums, in einem Interview mit der tageszeitung vom 5.10., S. 6: »Daß so viele Menschen in Leipzig die Zulassung des Neuen Forums gefordert haben, ist ein Ausdruck dafür, daß sie eine Opposition wünschen. Eine Opposition, die sie ein bißchen aus der Verzweifelung holt und Mut gibt.«

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denden Beziehungen zwischen den organisierten und mobilisierten Teilen der Bewegung: Die Gruppen interpretierten die öffentliche Anerkennung als Legitimation ihres politischen Engagements, so daß sie nach außen wie nach innen als Sprecher der demokratischen Kräfte auftraten. Dieser Status wurde durch die westlichen Medien bestärkt, die auf der Suche nach repräsentativen Interviewpartnern zwangsläufig auf die einzigen für sie erreichbaren Ansprechpartner, die Vertreter der oppositionellen Gruppen, zurückgriffen. Damit wurde der Einruck unterstützt, daß diese für die Bewegung sprachen und gleichsam an ihrer Spitze standen. Der Bedarf der Korrespondenten nach Informationen traf sich dabei mit dem Bestreben der Opposition, die Medien zu nutzen, um öffentlich und aktuell zur Situation in der DDR Stellung nehmen zu können. Die von der Staatssicherheit minutiös registrierten - aber nie unterbundenen140 - Besuche und Anrufe westlicher Journalisten bei führenden Vertretern verdeutlichen das Resultat dieser sich gegenseitig ergänzenden Interessen: Seit der Gründung des Neuen Forums am 10. September verging kein Tag, an dem Bärbel Bohley nicht mindestens ein Interview gab, an einigen Tagen gaben sich die Journalisten buchstäblich die Klinke in die Hand, so etwa am 19. September, als nacheinander Redakteure von RIAS II, Radio 107 (Hamburg), RIAS I, dem Bayrischen Rundfunk, dem Holländischen Rundfunk, dem SWF, von Profil aus Österreich und der Financial Times in ihre Wohnung kamen.141 Da es den westlichen Journalisten aufgrund der schwierigen Arbeitsbedingungen mitunter nicht möglich war, persönlich Kontakt aufzunehmen, waren Telephoninterviews eine zweite, ebenfalls intensiv genutzte Möglichkeit, die Forderungen zu erklären und bekannt zu machen.142 Das neue Selbstbewußtsein, das die Gruppen aus dem öffentlichen Zuspruch gewannen, schlug sich schon bald in ihren Erklärungen nieder. Während sie sich bislang in ihren Aufrufen vor allem auf die ›Angst um unser Land‹ berufen hatten, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, so wurde die Legitimation nunmehr durch explizite Bezüge auf die Zustimmung aus der Bevölkerung ergänzt, in deren Namen Forderungen an die Öffentlichkeit und an die SED formuliert wurden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung war, 140 Gegenüber der westlichen Berichterstattung war das MfS letztendlich machtlos. So berichtet Jens Reich (S. 186), es sei nur ein einziges Mal vorgekommen, daß das MfS ein Telephonat unterbrochen habe. Da es sich dabei um eine live-Schaltung mit dem DLF gehandelt habe, sei die Wirkung für die Hörer »besonders eindrucksvoll und dramatisch« gewesen. 141 »Ubersicht über operativ festgestellte Besuche westlicher Korrespondenten in der Wohnung der Bohley, Bärbel«, RHA 3.1.2.1.07, OV, OPK/I: OV Bohle, ohne Pag. 142 Auch telephonisch gab Bärbel Bohley mitunter über ein halbes Dutzend Interviews pro Tag; so etwa am 12.10. gegenüber RIAS II, Reuter, Radio Schleswig-Holstein, RIAS-TV, ITCHolland, dem Schweizer Radio und der Hamburger Morgenpost. Vgl. »Übersicht über Telephoninterviews und telephonische Auskünfte, die die Bohley, Bärbel westlichen Korrespondenten gab«, RHA 3.1.2.1.07, OV, OPK/I: OV Bohle, ohne Pag.

219 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35925-0

daß Forderungskatalogen und Aufrufen Einleitungen vorangestellt wurden, die wie Präambeln das neuerworbene Mandat formulierten: »Ermutigt durch die große Zahl von Sympathieerklärungen aus allen Teilen der Bevölkerung, legitimiert durch die tausendfachen Rufe nach Zulassung des Neuen Forums und aus tiefer Sorge um die weitere Entwicklung unseres Landes wiederholen wir heute: 1. Wir fordern sofort, jetzt und hier den öffentlichen, gleichberechtigten Dialog [...] 2. Wir fordern eine Öffnung der Medien ,..«143 Auch wenn die Gruppen, wie Detlef Pollack zu recht feststellt, ohne es geahnt oder geplant zu haben an die Spitze der Bewegung »gespült«144 worden waren, akzeptierten sie damit bald die neue und ungewohnte Sprecherrolle, die ihnen zugewachsen war. Dabei zeigte sich allerdings eine gewisse Ambivalenz im Gebrauch der allgegenwärtigen, fast magischen Formel Dialog. Die Betonung der Notwendigkeit, einen gesellschaftlichen Dialog zu führen, ließ zwei unterschiedliche Bewertungen der Funktion zu, die den Gruppen zukommen sollte: Zum einen verstanden sie sich als Interessenvertretung, d.h. als eine intermediäre Instanz, die den Anspruch erhob, zwischen der Bevölkerung und der Staatsführung zu vermitteln. In dieser Perspektive stand hinter der Forderung nach einem Dialog vor allem das Ziel, mit der Regierung ins Gespräch zu kommen, um die Anliegen der Bevölkerung in das politische System zu vermitteln. Als Sprecher in diesem Sinne formulierten die Gruppen ihre Forderungen nach freien Wahlen, nach einem freien Zugang zu den Medien, nach Bürgerrechten und einer Neugestaltung der Reiseregelungen - im Namen der Bevölkerung wurden hier Forderungen erhoben, die in der Hoffnung, bei der Regierung Gehör zu finden, an die SED adressiert wurden. Besonders deutlich wurde diese Zielrichtung in konkreten Interventionen, etwa wenn sich der Demokratische Aufbruch in einem offenen Brief an den Berliner Oberbürgermeister Krack der Interessen von »Demonstranten und Zuschauern, die polizeiliche Gewalt erfahren haben,«145 annahm, um eine paritätisch zusammengesetzte Untersuchungskommission zu fordern, welche die staatlichen Übergriffe am Rande der Jubiläumsfeierlichkeiten der DDR am 7./8. Oktober in Berlin untersuchen sollte. Eine gänzlich andere Definition von Dialog und damit von der Funktion der Gruppen stand hinter dem Selbstverständnis als Diskussionsplattform, deren primäre Aufgabe es sein sollte, ihre Mitglieder miteinander ins Gespräch zu bringen, anstatt sie gegenüber der Staatsführung zu vertreten. Deutlichster Ausdruck dieser Orientierung waren die zahlreichen Anleitungen zu einem basisdemokratischen Verhalten, welche die Gruppen ihren Mitgliedern an die 143 Aufruf des Neuen Forums Leipzig vom 12.10.1989, in: Neues Forum Leipzig, S. 104. 144 Pollack, Außenseiter, S. 1223. 145 Berliner Initiativgruppe des Demokratischen Aufbruchs: Offener Brief an den Berliner Oberbürgermeister Krack vom 15.10.1989, in: Rein, Opposition, S. 37f. 220

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Hand gaben. So veröffentlichte das Neue Forum am 23. Oktober einen engbedruckten zweiseitigen Leitfaden, der in 26 Punkten basisdemokratische Grundregeln formulierte: »Suche das konstruktive Gespräch. Versuche, Mekkerrunden in konstruktive Bahnen zu bekommen. Sei ein dialogfähiger Partner [...]. Behalte die Kontrolle über Dich selbst und über den Gang der Diskussion. Übe wirkungsvoll zu streiten.« Gegenüber dem nach außen gerichteten Verständnis als Interessenvertretungen traten die Gruppen hier als Schulen der Demokratie in Erscheinung, die den politischen Wandel nicht durch Zugeständnisse der Regierung, sondern durch einen an der Basis ansetzenden Demokratisierungsprozeß erreichen wollten. Dementsprechend rief Punkt neun des Leitfadens dazu auf: »Übe mit Deinen Freunden demokratische Formen der Meinungsbildung. Was Du dabei im kleinen Rahmen lernst, brauchen wir bei der Gestaltung einer zukünftigen demokratischen Staatsordnung.«146 Solange die Gruppen ihre primäre Aufgabe darin sahen, zunächst überhaupt Grundvoraussetzungen einer wie auch immer gearteten demokratischen Entwicklung in der DDR zu schaffen, blieb das Problem, die widersprüchlichen Aufgabenstellungen miteinander zu vereinbaren, weitgehend verdeckt. Oft kamen beide Konnotationen in den Stellungnahmen parallel zueinander zum Tragen, wobei bei der SDP in ihrem Verständnis als Partei konsequenterweise die erste Variante dominierte, der auch der Demokratische Aufbruch zuneigte, während bei Demokratie Jetzt und Neuem Forum das Verständnis als gesellschaftliche Plattform im Vordergrund stand. Allerdings waren die Unterschiede zwischen den Gruppen nicht trennscharf; es gab zahlreiche Überschneidungen, die zunächst jedoch ebenso wenig reflektiert wurden wie die Widersprüche, die aus den unterschiedlichen Verständnissen resultierten. Es waren auch nicht die internen Diskussionen um den Dialog, sondern äußere Ereignisse, welche die Bahnen der weiteren Auseinandersetzung bestimmen sollten. Denn der Prozeß des Protests wurde nicht nur durch die bewegungsinterne Dynamik geprägt, sondern auch durch die politischen Rahmenbedingungen, die sich seit dem 9. Oktober rapide veränderten. Von zentraler Bedeutung war, daß das SED-Politbüro am 11. Oktober seinerseits das Zauberwort vom Dialog in die Debatte warf. Am Morgen des 10. Oktobers war es im Politbüro zu der mit Spannung erwarteten Diskussion gekommen, deren Vorbereitung Krenz am Tage zuvor davon abgehalten hatte, sich eingehender mit der Demonstration in Leipzig zu beschäftigen. Das Ergebnis der Debatte war, daß eine vierköpfige Kommission eingesetzt wurde, die den Auftrag erhielt, eine öffentliche Erklärung des Politbüros auszuarbeiten. Die Kommission bestand aus zwei linientreuen Vertretern Honeckers, Mittag und Herrmann, die den beiden Reformern Krenz und Schabowski wenig Widerstand entgegen146 Neues Forum: Ansätze zur Basisdemokratie, Berlin 23.10.1989, Faksimile in: DGB-Bundesvorstand, S. 15f.

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setzten, so daß es diesen gelang, einige Sätze in die Erklärung zu lancieren, die vor dem Hintergrund der bisherigen Verlautbarungen der SED einen deutlichen Wendepunkt markierten. Dazu zählten Bemerkungen, die sich als direkte Zurücknahme des Kommentars, man solle den Ausgereisten keine Träne nachweinen, lasen. Nachdem die SED durch diese Äußerung viel politisches Kapital verloren hatte, setzten sich Krenz und Schabowski mit ihrem Anliegen durch, im Namen des Politbüros zu erklären, es sei »nicht gleichgültig«,147 daß sich so viele Menschen von der DDR losgesagt hatten. War diese Korrektur von eher moralischer Bedeutung, bargen andere Passagen politischen Sprengstoff: Die SED gestand ein, zumindest einen Teil der Verantwortung für die Ausreisewelle zu tragen, sie erklärte ihre Bereitschaft zu einer Fehlerdiskussion und stellte einen sachlichen Dialog über die Probleme und Perspektiven der DDR in Aussicht. Alle drei Punkte implizierten einen radikalen Bruch mit der bisherigen politischen Praxis der SED unter Erich Honecker. Die Hoffnung der Reformer um Krenz, mit diesen Signalen einer vorsichtigen Öffnung die verlorengegangene Initiative zurückzugewinnen, gingjedoch nicht auf. Die Proteste hatten bereits eine Dynamik gewonnen, die sich durch späte und halbherzige Zugeständnisse nicht mehr stoppen ließ.148 Zudem war die Erklärung nicht dazu angetan, den Verdacht zu zerstreuen, es handele sich, wie Wolfgang Ullmann von Demokratie Jetzt vermutete, um einen »Versuch, an den bestehenden Strukturen nichts zu verändern und die Forderungen der Opposition erst mal zu vertagen.«149 Aus der Sicht der Gruppen bestand das Problem des in Aussicht gestellten Dialogs vor allem darin, daß er von der SED mit verschiedenen Bedingungen verbunden wurde: Er sollte erstens ohne weitere Demonstrationen und andere öffentliche Proteste oder Aufrufe vonstatten gehen150 und zweitens in den vorhandenen Formen und Foren der sozialistischen Demokratie - in anderen Worten: ohne die Beteiligung der oppositionellen Gruppen erfolgen. Diese Bedingungen blieben weit hinter den Erwartungen zurück, so daß dieser erste Versuch der SED, den Protest durch Zugeständnisse zu besänftigen, fehlschlug.151 147 »Erklärung des Politbüros des ZK der SED«, in: ND vom 12.10.1989, S. 1. Zur Entstehung der Erklärung siehe Schabowski, Absturz, S. 253ff. 148 So notierte Heike Liebsch (S. 51), Mitarbeiterin im Rat des Stadtbezirkes Dresden/Mitte, in ihrem Tagebuch zum 11.12.89: »Es ist nicht zu fassen - da raffen sie sich fünf nach zwölf auf- und verspielen ihre Chance so leichtfertig. Für wie blöd halten die uns?« 149 Wolfgang Ullmann, zit. nach M. Geis/K.-H. Donath: »Die Opposition sieht noch keinen Durchbruch«, in: die tageszeitung vom 13.10.1989, S. 3. 150 »Gemeinsam wollen wir über alle grundlegenden Fragen unserer Gesellschaft beraten [...] Doch wir sagen auch offen, daß wir gegen Vorschläge und Demonstrationen sind, hinter denen die Absicht steckt, Menschen irrezuführen und das verfassungsmäßige Fundament unseres Staates zu verändern.« (»Erklärung des Politbüros des ZK der SED«, in: ND vom 12.10.1989, S. 1). 151 Die kritische Einschätzung der Erklärung seitens der Bevölkerung wird u.a. deutlich in dem Bericht des MfS/ZAIG: »Hinweise auf Reaktionen der Bevölkerung zur Erklärung des Politbüros des ZK der SED« (16.10.1989), in: Mitter/Wolle, S. 225f.

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Indem die SED mit dem Angebot eines Dialogs jedoch eine gewisse Gesprächsbereitschaft signalisierte, beeinflußte sie die weitere Auseinandersetzung nachhaltig. Denn ohne es zu wollen, leistete sie der Aufwertung der Gruppen zu intermediären Vermittlungsinstanzen Vorschub. Die Ankündigung eines Dialogs war ein erster Schritt, der von den Gruppen wie von der Bevölkerung als ein Nachgeben unter dem Druck des Protests und daher als ein Zeichen der Schwäche interpretiert wurde. Gleichzeitig schien die Erklärung ein »erster Silberstreif am Horizont«152 zu sein, der die Hoffnung nährte, daß die SED sich zu weiteren Kompromissen gezwungen sehen werde. Worin dieser zweite Schritt bestehen könnte, wurde auf den Demonstrationen bereits lautstark formuliert: In der Anerkennung der oppositionellen Vereinigungen und namentlich in der Zulassung des Neuen Forums, denn wer anderes als die Gruppen hätte die Auseinandersetzung mit der SED tragen können? Die Opposition reagierte schnell auf die veränderten Möglichkeiten, die sich aus der Erklärung des Politbüros ergaben. Die Tatsache, daß sich die SED auf ihrer Suche nach Auswegen aus der schwierigen Situation gezwungen gesehen hatte, ihre Bereitschaft zu einem Dialog zu erklären, geriet die Staatspartei erstmals in die Position eines Verhandlungspartners, dem man weitere Zugeständnisse abtrotzen könnte. Die Zwangslage der SED stärkte das Selbstbewußtsein der neugegründeten Vereinigungen, die nun ihrerseits Bedingungen für einen Dialog formulierten. »Voraussetzung für jedes Gespräch«, hieß es am 12. Oktober in der Stellungnahme des Neuen Forums zur Erklärung des Politbüros, »ist die Freilassung aller bei den Demonstrationen Inhaftierten, die Einstellung der Ermittlungsverfahren, die Aufhebung der Strafbefehle und Ordnungsstrafen. Echter Dialog bedeutet: 1. Zulassung des Neuen Forums und aller anderen Basisgruppen, Parteien und Bürgerinitiativen [...], 2. Zugang zu den Massenmedien, 3. Pressefreiheit und Abschaffung der Zensur, 4. Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit.«153 Wolfgang Ullmann ging im Namen von Demokratie Jetzt noch einen Schritt weiter. Wenn der SED, so Ullmann am 12. Oktober, daran gelegen sei, die DDR »von einer Bastion des kalten Krieges zu einem modernen, demokratischen Staat auf sozialistischer Grundlage«154 zu machen, dann müsse sie nicht nur die Kirche als Gesprächspartner akzeptieren, sondern auch die oppositionellen Gruppen. Im Bewußtsein, als Volks-Vertreter für die SED unverzichtbar zu sein, forderte Ullmann Gespräche, in denen die SED, die Kirchen und die Opposition gleichberechtigt über Mittel und Wege einer demokrati152 Rolf Henrich, zit. nach M. Geis/K.-H. Donath: »Die Opposition sieht noch keinen Durchbruch«, in: die tageszeitung vom 13.10.1989, S. 3. 153 Stellungnahme des Neuen Forum zur Erklärung des Politbüros vom 12.10.1989, in: DGB-Bundesvorstand, S. 10. 154 Wolfgang Ullmann, zit. nach M. Geis/K.-H. Donath: »Die Opposition sieht noch keinen Durchbruch«, in: die tageszeitung vom 13.10.1989, S. 3. 223 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35925-0

sehen Umgestaltung beraten sollten. Dem Inhalt nach war der Vorschlag Ullmanns nicht neu;155 seine Brisanz verdankte er vielmehr der Tatsache, daß er in dem Moment erhoben wurde, wo sich die politischen Rahmenbedingungen zugunsten der Protestbewegung zu verändern schienen. Vor dem Hintergrund der neuen Möglichkeiten, die sich für sie aus dem öffentlichen Zuspruch und aus den ersten Zugeständnissen der SED ergaben, versuchten die Trägergruppen des Protests daher, ihre seit langem im kleinen Kreis diskutierten Vorschläge in die Auseinandersetzung mit der SED einzubringen. Was am 12. Oktober noch utopisch und illusionär schien, war nur zehn Tage später bereits Wirklichkeit geworden. Die sich entfaltende Bewegung zwang die SED tatsächlich zu weiteren Konzessionen. Anstatt allerdings weiterhin vorsichtige Zugeständnisse zu machen, entschloß man sich zu einem radikalen Schritt, der Absetzung Honeckers. Damit wurde dem Protest erneut eine völlig neue Perspektive eröffnet, welche die Bewegung in eine neue Phase überleiteten. Die Basis dieser neuen Etappe im Prozeß des Protests waren die Strukturen, die sich bis Mitte Oktober herausgebildet hatten: die DDR-weit flächendeckenden lokalen Mobilisierungszusammenhänge im Rahmen der Friedensgebete einerseits und die Etablierung der oppositionellen Gruppen als organisatorische Kerne und politische Sprecher der Bewegung andererseits.

155 Bereits im Juli 1989 hatte der Arbeitskreis Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung »autorisierte Gesprächsrunden« gefordert, vgl. »Offener Brief des Arbeitskreises Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung« (Juli 1989), in: Rein, Opposition, S. 66.

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V »Wir sind das Volk« Der Kampf um die Öffentlichkeit

1. Egon Krenz: Kurskorrektur der SED im Zeichen der ›Wende‹ Am Abend des 18. Oktobers sah sich die Bevölkerung in der DDR einem ebenso ungewöhnlichen wie unerwarteten Fernsehbild gegenüber: Die Bildunterschrift »Generalsekretär des ZK der SED« zierte nicht mehr wie in den vergangenen 18 Jahren das Gesicht Erich Honeckers, sondern das von Egon Krenz, den das Zentralkomitee der SED erst am Nachmittag des selben Tages einstimmig zum neuen Generalsekretär gewählt hatte. Zuvor war der Antrag, Erich Honecker »aus gesundheitlichen Gründen« von seinen Funktionen zu entbinden, auf nur eine einzige Gegenstimme gestoßen.1 Die Bedeutung dieser Abstimmung war immens. Aus der Sicht der Verschwörer um Krenz war die Entscheidung, Honecker zu entmachten, ein außergewöhnlicher Schritt, dessen Tragweite von der Aussage Schabowskis illustriert wird, das Vorhaben, Honecker abzusetzen, sei ihm vorgekommen »wie eine unsaubere, treulose Anwandlung, deren man sich zu genieren hätte.«2 Der Umstand, daß sich die Spitzenkader am 18. Oktober trotzdem fast einmütig dazu durchrangen, Honecker abzulösen, zeigt, wie groß der Problem- und Handlungsdruck auf die SED geworden war. Aber auch wenn der Führungswechsel die weitreichendste Maßnahme war, welche die SED in der Situation Mitte Oktober treffen konnte, verfehlte sie ihr Ziel: Anstatt die Bevölkerung zu besänftigen, forderte der Übergang von Honecker zu Krenz weitere Proteste heraus. Rainer Eppelmann sprach sogar davon, daß die SED der Bewegung mit der Nominierung von Krenz einen »Gefallen« getan habe, denn »so gehen wir weiter auf die Straße, weil es das ja nicht gewesen sein kann.«3 Die Tatsache, daß der Kreis um Krenz und Schabowski das aus seiner Sicht Äußerste wagte und trotzdem weit hinter den Erwartungen der Bürger zurückblieb, offenbart ein Dilemma der SED-Führung. Im Nachhinein gesehen wäre es sinnvoller gewesen, entweder mit aller Härte gegen die Protestbewegung 1 Zum Machtwechsel in der SED vgl. Hertle, Sturz und die Erinnerungen der Beteiligten Honecker (ndert/Herzberv, S. 25-37); Krenz, S. 11-38 und Schabowski, Absturz, S. 243-273. 2 Schabowski, Absturz, S. 231. 3 Diese zeitgenössische Äußerung auf einer Diskussionsveranstaltung gibt Eppelmann (S. 369) in seinen Erinnerungen wieder.

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vorzugehen oder aber die Waffen zu strecken und durch tiefgreifende Reformen auf den absoluten Führungsanspruch der Partei zu verzichten. Keine der beiden Varianten war jedoch politisch durchsetzbar, so daß sich die ganze Hoffnung der Verschwörer auf den Machtwechsel von Honecker zu Krenz richtete. So radikal und gewagt ihnen aber dieser Schritt auch erschien - mehrere Faktoren führten dazu, daß er zu dem schwersten strategischen Fehler wurde, den die SED begehen konnte. Krenz selbst hat in seinen Memoiren auf das größte Problem des Machtwechsels hingewiesen. Obwohl ihm seit längerem bewußt gewesen sei, daß es galt, »das fatale Schweigen des Politbüros zu brechen«, um die Partei aus ihrer »verhängnisvollen Hypnose«4 zu befreien, hielt er zu lange an der Vorstellung fest, die Kursänderung in der Politik der SED gemeinsam mit Honecker einleiten zu können. Erst als dieser auch gegenüber den engsten Führungskreisen der SED weiterhin darauf beharrte, daß die aktuellen Schwierigkeiten der DDR ein Resultat der imperialistischen Angriffe des Klassengegners seien,5 rangen sich Krenz und seine Mitwisser zu der Erkenntnis durch, daß der Generalsekretär einem notwendigen Kurswechsel der SED im Wege stand. Als Honecker am 13. Oktober nur mit Mühe von der Idee abgebracht werden konnte, am folgenden Montag Panzer in Leipzig auffahren zu lassen,6 stand für die Verschwörer endgültig fest, daß sie handeln mußten. Um die Partei zu retten, kamen sie überein, Honecker am nächstmöglichen Termin zu entmachten. Die Entscheidung sollte auf der nächsten Politbüro-Sitzung fallen, so daß nur fünf Tage für die Vorbereitungen blieben; fünf Tage, in denen alle Energie darauf verwandt wurde, insgeheim die erforderlichen machtpolitischen Schachzüge auszuarbeiten. Während die Verschwörer nachts in Trainingsanzügen auf Trampelpfaden durch Wandlitz schlichen, um den Coup vorzubereiten, blieb zu weitergehenden Überlegungen, was genau man verändern wollte, keine Zeit.7 Angesichts der Umstände der Verschwörung hatten Krenz und seine Mitwisser keine Alternative zu dem Weg, den sie einschlugen. Ohne es zu wissen, vor allem aber ohne es verhindern zu können, legten sie in den Tagen bis zur entscheidenden Politbüro-Sitzung am 17. Oktober die Grundlagen für das Scheitern ihrer mit dem Führungswechsel verbundenen Hoffnungen. Das entscheidende Problem, das sich mit dem Machtwechsel verband, war Egon Krenz selbst. Offensichtlich war weder ihm noch seinen Mitwissern bewußt, wie schlecht das Image des Kronprinzen Honeckers in der Bevölkerung war. Wolf Biermann brachte die öffentliche Abneigung in gewohnt drastischen 4 Krenz, S. 13. 5 Zum Treffen der 1. Sekretäre der SED-Bezirksleitungen am 12.10.1989 vgl. Schabowski, Absturz, S. 256f 6 Vgl. hierzu Hertle, Mauer, S. 129f. 7 Vgl. Schabowski, Politbüro, S. 99.

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Worten auf den Punkt: Für ihn war Krenz »der Jubelperser des Politbüros, der optimistische Idiot, Egon Krenz, das ewig lachende Gebiß«.8 Eine Alternative zu Krenz gab es jedoch nicht. Der potentielle Nachfolger Honeckers mußte aus dem Politbüro kommen, und Krenz war der einzige in diesem Kreis, der zum einen über die nötige Hausmacht und zum anderen über »ein paar PerestroikaEigenschaften«9 verfügte. Schon allein die Person Krenz konterkarierte jedoch die Hoffnung, das verlorengegangene Vertrauen der Bevölkerung zurückzugewinnen, wurde er doch nicht nur für die Fälschungen der Kommunalwahlen im Mai 1989 verantwortlich gemacht, sondern auch für die brutalen Übergriffe der Sicherheitskräfte am Rande der Jubiläumsfeierlichkeiten. Auch der Schulterschluß im Kampf gegen die antisozialistischen Kräfte, den Krenz noch Anfang Oktober mit der chinesischen Parteiführung in Peking demonstriert hatte, war kaum dazu angetan, ihm das Image eines Reformers zu verleihen. Als eine weitere Erblast sollte sich die Art und Weise des Machtwechsels erweisen. Schabowski und Krenz planten alles andere als eine Revolution, so daß ihnen an einem möglichst fließenden Übergang von Honecker zu Krenz gelegen war. Der einzige Weg, dies zu bewerkstelligen, war der Weg über die etablierten Parteigremien, deren Mitglieder die Verschwörer insgeheim für sich zu gewinnen versuchten. In der entscheidenden Politbüro-Sitzung am 17. Oktober traf der für die Nichteingeweihten überraschende Antrag, die Genossen Honecker, Mittag und Herrmann von ihren Funktionen zu entbinden, auf eine unerwartet einmütige Zustimmung: Alle Anwesenden, auch diejenigen, die man bislang noch nicht eingeweiht hatte, schlossen sich der Abrechnung mit der Politik Honeckers an und stimmten für den Antrag - selbst die drei Betroffenen stimmten ihrer Absetzung zu. Ähnlich reibungslos verlief die kurzfristig für den folgenden Tag einberufene Tagung des Zentralkomitees, des satzungsgemäßen Wahlgremiums: Keine zehn Minuten nach Beginn der Sitzung hatte das ZK Honeckers Rücktrittsgesuch angenommen und Egon Krenz einstimmig zum neuen Generalsekretär gewählt.10 Die Entmachtung war gelungen. Gerade der Erfolg und der reibungslose Verlauf des Führungswechsels jedoch verurteilten den von Krenz propagierten Neuanfang zur Unglaubwürdigkeit. Die Tatsache, daß sowohl die Abstimmung im Politbüro als auch die im ZK einmütig verliefen, verstärkte den Eindruck, daß die SED-Spitze mit Honecker ein Bauernopfer anbot, um die Macht der Partei zu retten. Eine Absage an die etablierten Herrschaftsprinzipien war angesichts der Art und Weise des Machtwechsels nicht zu erkennen; zu deutlich stand Krenz in der Tradition seines Vorgängers, nach dessen Vorbild er die Macht in Staat und Partei in seiner 8 Wolf Biermann: »Das ewig lachende Gebiß«, in: die taoeszeitunQ vom 19.10.1989, S. 2. 9 Schabowski, Absturz, S. 232. 10 Vgl. die Transskription des Tonbandmitschnitts der Sitzung in Hertle/Stephan, S. 103-133.

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Person konzentrierte.11 Daß Krenz darüber hinaus noch von Honecker selbst vorgeschlagen worden war,12 ließ ihn um so mehr als Bewahrer alter Positionen denn als Erneuerer erscheinen. Krenz war, wie Klaus Hartung in einem zeitgenössischen Kommentar treffend formulierte, »der Kandidat der Machterhaltung, der Kandidat der Angst im Apparat.«13 In der Fernsehansprache, mit der sich Krenz noch am Abend des 18. Oktobers an die Bevölkerung wandte, kulminierten die Probleme, die sich auf seinem Weg an die Parteispitze angesammelt hatten. Der deutlichste Beleg für die Tatsache, daß niemand konzeptionell über den Sturz Honeckers hinaus gedacht hatte, war, daß Krenz keine Rede an das Volk vorbereitet hatte. Mangels eines anderen Manuskriptes trug er daher am Abend diejenige Rede vor, die er bereits am Nachmittag im ZK gehalten hatte. Was jedoch die Funktionäre befriedigt hatte, war in keiner Weise geeignet, die Bevölkerung zu überzeugen. Der abgelesene Vortrag der im Partei-Duktus verfaßten Rede nahm ihr jede aufrüttelnde Wirkung. Auch der Inhalt der Ansprache setzte keine zukunftsweisenden Akzente. Der Maßnahmenkatalog mit dem erklärten Ziel, die Partei wieder in »die politische und ideologische Offensive« zu bringen, ging davon aus, daß Liberalisierungen innerhalb des etablierten politischen Systems ausreichen würden, um die Initiative wiederzugewinnen. Krenz gestand ein, die SED-Führung habe »in den vergangenen Monaten die gesellschaftliche Entwicklung in unserem Land in ihrem Wesen nicht real genug eingeschätzt«, so daß nunmehr »die traditionelle Stärke unserer Partei, ihr Vertrauensverhältnis mit dem Volk, beeinträchtigt« sei. Die von ihm verkündete Öffnung der SED für einen »ernstgemeinten innenpolitischen Dialog« sollte das gestörte Vertrauensverhältnis von zwei Seiten angehen: Einerseits hoffte Krenz, die Bürger durch eine stärkere Einbindung in die politischen Prozesse befriedigen bzw. befrieden zu können, und andererseits sollte die SED durch einen verstärkten Dialog mit der Basis ein realistischeres Bild der Gesellschaft erhalten, so daß sie in Zukunft vor weiteren Fehlurteilen bewahrt bleiben würde. Nachdrücklich machte Krenz deutlich, wie dieser von ihm angestrebte Dialog vonstatten gehen sollte: innerhalb der etablierten Formen der sozialistischen Demokratie. Dementsprechend wertete Krenz die Blockparteien und Massenorganisationen der Nationalen Front als »tragende Säule unserer sozialistischen Gesellschaft« ebenso auf wie die Medi11 Der Wahl zum Generalsekretär des ZK der SED am 18.10. folgte am 24.10. die Abstimmung in der Volkskammer, die Krenz mit 26 bzw. 8 Gegenstimmen und 26 bzw. 17 Enthaltungen zum Staatsratsvorsitzenden und zum Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates wählte. 12 Offenbar war es Krenz selbst gewesen, der Honecker gedrängt hatte, die in der von Schabowski formulierten Abdankungsrede offen gelassene Frage eines Nachfolgers zu beantworten und ihn, Krenz, zur Wahl vorzuschlagen, vgl. die Aussagen von Schabowski (Absturz, S. 271) und Honecker (in: Andert/Herzberg, S. 33f). 13 Klaus Hartung: Sturz und Machterhaltung, in: die tageszeitung vom 19.10.1989, S. 8.

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en, von denen er »eine stärkere öffentliche Auseinandersetzung mit Erscheinungen, die dem Wesen des Sozialismus und unserer Politik widersprechen«, erwartete. Schon der Nachsatz machte Jedoch die Reichweite der von Krenz angestrebten Liberalisierung deutlich. Trotz der geforderten kritischen Auseinandersetzung dürften die Medien nicht zum »Tummelplatz für Demagogen« oder gar zur »Tribüne eines richtungslosen, anarchistischen Geredes werden.«14 Solche Halbherzigkeiten kennzeichneten die gesamte Rede: Die Reformansätze, die Krenz vorstellte, ließen keinerlei Ambitionen erkennen, eine grundsätzliche demokratische Erneuerung der DDR einzuleiten - kaum zufällig fehlte das Demokratiedefizit auf der Liste der Probleme, die Krenz als erstes Ergebnis seiner bisherigen Gespräche mit der Arbeiterklasse präsentierte. Statt ernstgemeinter Pläne, das Wahlrecht zu reformieren oder andere, neue Formen der Mitbestimmung einzuführen, erschöpfte sich das Angebot von Krenz in der Ankündigung eines Dialogs, von dem die oppositionellen Gruppen nach wie vor ausgeschlossen sein sollten.15 Der kaum verhohlene Sinn dieses Gesprächsangebotes bestand darin, die politischen Konflikte in die etablierten Formen und Foren zurückzulenken, die zu diesem Zweck modifiziert, keineswegs aber radikal umgestaltet werden sollten. Hatten die SED und ihr neuer Generalsekretär gehofft, mit diesen Zugeständnissen eine ›Wende‹ in der DDR einzuleiten, durch welche die Partei die verlorengegangene Initiative wiedergewinnen würde, sahen sie sich getäuscht. Aus der Sicht der SED entpuppte sich der Führungswechsel als ein katastrophaler strategischer Fehler. Die Reformen, die Krenz entwarf, dienten zu offensichtlich dem Machterhalt, als daß sie der Protestbewegung den Boden entziehen konnten. In den Augen der Bevölkerung demonstrierte die SED, daß sie sich angesichts des innenpolitischen Druckes gezwungen sah, Kompromisse zu machen und einige Forderungen der Bewegung zu erfüllen. Zugleich jedoch war nicht zu übersehen, daß die freiwilligen Zugeständnisse in keinem Punkt über das hinausgingen, was im Rahmen einer Schadensbegrenzung unbedingt nötig war. Die Machtbewahrungsstrategie der SED forderte daher weiteren Protest heraus16 und schuf der Bewegung zugleich neue Handlungsmöglich14 Alle Zitate der Rede sind dem Abdruck im Neuen Deutschland entnommen, »Rede des Genossen Egon Krenz«, in: ND vom 19.10.1989, S. 1, 2. 15 Das Politbüro beschäftigte sich nach dem Führungswechsel in mehreren Vorlagen mit Maßnahmen, durch die die Bedeutung der nach wie vor nicht anerkannten oppositionellen Gruppen beschränkt werden sollte, vgl. die Dokumente in: Stephan, S. 168-178. 16 So erklärte etwa die Magdeburger Dompredigerin Waltraut Zachuber angesichts des Führungswechsels: »Krenz ist Staatsratsvorsitzender. Das ist keine gesellschaftliche Erneuerung. Darum« , so Zachuber, dürfe der begonnene Weg »nicht aufgegeben werden. Im Gegenteil, größere Entschiedenheit ist nötig. Es muß sich wirklich etwas ändern«, in: Beratergruppe Dom des Gebetes, S.27.

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keiten, weil Krenz signalisierte, daß von der SED nunmehr keine gewaltsamen Lösungen mehr zu befürchten seien.17 Die Folgen dieser neuen Bedingungen lassen sich an der Chronik der folgenden Tage deutlich ablesen. In der ganzen DDR wurden die Aktionen aus den Kirchen heraus auf die Straßen und in die Rathäuser getragen, wo der Unmut über die ›Schadensbefererczung‹ und den ›Ego(n)ismus‹ in Demonstrationen und Dialogveranstaltungen neue Formen der Artikulation fand. Mit anderen Worten: Nicht die Partei gewann wie geplant die Initiative, sondern die Bürgerbewegung, die infolge der Maßnahmen von Krenz erneut einen verstärkten Zulauf erhielt. Damit sind die ersten Elemente der Wechselwirkungen zwischen den Aktionen der Kontrollinstanzen und der Bewegung bereits genannt: Die deutliche Distanzierung von gewaltsamen Lösungen und das Angebot des Dialogs schufen konkrete neue Bedingungen, die von der Bewegung genutzt wurden. Hinter diesen konkreten Auswirkungen auf die Handlungsbedingungen der Bürgerbewegung stand noch eine Ebene, deren Bedeutung kaum überschätzt werden kann: die massenpsychologische Wirkung des Machtwechsels, die mit den Ansätzen der bislang noch westfixierten Bewegungsforschung nicht hinreichend erfaßt werden kann. Denn viele Indizien sprechen für die Annahme, daß Bewegungen in nichtdemokratischen Staaten noch weitaus sensibler auf das Verhalten der Regime reagieren, als Bewegungen in Systemen, deren Staatsorgane an demokratische Regeln gebunden sind. Das weitaus größere Repressionspotential nichtdemokratischer Regierungen, die in den Augen ihrer Untertanen ohnehin unangreifbar zu sein scheinen, aber auch die Angst vor möglichen Repressionen und die damit verbundene Selbstzensur des Denkens und Handelns schaffen in Staaten wie der DDR gänzlich andere Mobilisierungsvoraussetzungen als in demokratisch verfaßten Gesellschaften.18 Daß gänzlich anders allerdings nicht per se schwieriger heißt, zeigen die Ereignisse in der DDR nach dem 18. Oktober: Wurde die Mobilisierung in der Formierungsphase der Bürgerbewegung durch die repressiven Rahmenbedingungen erschwert, wirkte die Ablösung Honeckers in einem Maße mobilisierend, das bislang nur wenige Bewegungen erreicht haben. Worauf beruhte diese außergewöhnliche Wirkung? Ausgehend von den Fragen, warum die Revolutionen in Osteuropa zum einen so unerwartet entstanden und zum anderen so dynamisch verliefen, ent17 Nachdrücklich hatte Krenz in seiner Ansprache seiner »festen Überzeugung« Ausdruck verliehen, »daß alle Probleme in unserer Gesellschaft politisch lösbar sind«, »Rede des Genossen Egon Krenz«, in: ND vom 19.10.1989, S. 2. 18 Will man die Analyse der osteuropäischen Bewegungen nutzen, um daraus Lehren für die systematischen Ansätze der westlichen Forschung zu ziehen, so liegt hier ein zentraler Aspekt, an dem die entsprechenden Modelle wie das der political opportunity structure erweitert werden können bzw. müssen.

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wickelte Timor Kuran 1991 das Modell des »element of surprise in the East European revolutions«. Eine zentrale Rolle innerhalb des Modells spielen die Vorstellungen, welche die Bürger von ihren Regimen hatten. Kuran zufolge saßen die Beherrschten - ebenso wie die Herrscher selbst - der staatstragenden Illusion auf, die Regime seien stabil und durch Proteste nicht zu beeindrucken. Diese Vorstellung eines unanfechtbaren Staates wurde, so Kuran, durch die Repression hervorgerufen und durch die Selbstzensur am Leben gehalten: »By suppressing their antipathies to the political Status quo, the East Europeans misled everyone, including themselves, as to the possibility of a successful uprising. In effect, they conferred on their privately dispised governments an aura of invincibility.«19 Solange das Regime stabil war, haftete ihm demnach eine Aura der Unbesiegbarkeit an, welche die Bevölkerung von Protesten abhielt. In dem Moment aber, wo das Regime an einem entscheidenden Punkt Schwäche zeigte, erzeugte es unwillentlich daselementofsurprise, das die Situation in der DDR nach dem 18. Oktober 1989 adäquat beschreibt. Denn mit der Entmachtung Honeckers hatten verschiedene, in vierzig Jahren DDR-Geschichte gewonnene Erfahrungen gleichsam über Nacht ihre Gültigkeit verloren: Anders als bisher konnte sich die SED nicht länger unberührt über die Stimmung im Land hinwegsetzen; anders als 1953 sah sich die SED außerstande, öffentlichen Protest zu unterdrücken, sondern mußte auf die Kritik in der Bevölkerung reagieren; und erstmals in der Geschichte der DDR hatte Protest nachhaltige und direkte Auswirkungen auf das politische System zur Folge gehabt. Diese neuen Erfahrungen fielen in der massenhaften Feststellung zusammen, daß das unverwundbar geglaubte SED-Regime überraschend instabil und angreifbar war. Das Überraschungsmoment des 18. Oktobers bewirkte deshalb das genaue Gegenteil dessen, was Krenz intendiert hatte. Sein Versuch, die Herrschaft der Partei durch vorsichtige Zugeständnisse zu retten, löste einen Prozeß aus, in dem jeder Kompromiß, den die Partei der Bewegung anbot, neuen Forderungen und Aktionen Vorschub leistete, so daß die SED eine Position nach der anderen aufgeben mußte. Für Herrscher wie Beherrschte begannen mit dem Machtwechsel drei turbulente Wochen, deren Dynamik Ernst Timm, der Erste Sekretär der SED-Bezirksleitung Rostock, am 6. November 1989 ebenso resigniert wie treffend auf den Punkt brachte: »Die Ereignisse des Tages überholen unsere geistigen Vorstellungen. Was gestern noch war, ist heute schon anders, und was heute ist, ist morgen nicht mehr so.«20 Innerhalb von nur drei Wochen geriet die SED auf allen Ebenen in die Defensive, bis eine letzte Rettungsmaßnahme die Handlungsbedingungen wiederum fundamental verändern sollte: die Öffnung der Mauer am 9. November.

19 Kuran, Abstract. 20 Ernst Timm, Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung am 6.11.1989, zit. nach Langer, S. 111.

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2. Der Schritt zum öffentlichen Protest Wenn Joachim Gauck sich später erinnerte, daß es angesichts der Aufbruchsstimmung in den Rostocker Friedensgebeten Mitte Oktober »einfach eine Frage der Zeit war, bis die Menschen auf die Straße gehen würden«,21 so war diese Zeit mit dem Machtwechsel an der SED-Spitze am 18. Oktober gekommen. Bereits am Tag danach formierte sich in Rostock im Anschluß an das Friedensgebet spontan die erste Donnerstagsdemonstration, der in den folgenden Wochen noch zahlreiche weitere folgen sollten. Dasselbe Bild bot sich in immer mehr Städten der DDR. Sei es in Neubrandenburg und Greifswald (18.10.), in Erfurt, Rostock (19.10.), Dessau, Mühlhausen (20.10.), Magdeburg, Schwerin, Stralsund oder Zwickau (23.10.) -jeweils abhängig vom Termin der lokalen Friedensgebete wurden in den Tagen nach dem 18. Oktober die Kirchen verlassen, um den Protest auf die Straße zu tragen. Innerhalb weniger Tage entstand so eine Welle von Demonstrationen, die von Tag zu Tag mehr Menschen mobilisierte: Gab es in der Woche vom 9. bis 15. Oktober insgesamt drei Demonstrationen mit ca. 75.000 Teilnehmern, 70.000 davon alleine in Leipzig,22 zählte das MfS in dem Zeitraum vom 16.- 22. Oktober bereits 24 Demonstrationen mit 140.000 Teilnehmern und in der folgenden Woche 145 Demonstrationen mit insgesamt 540.000 Teilnehmern.23 Allerorts schlug der Protest nach dem 18. Oktober in öffentliche Aktionen um, die den Schutz durch die Kirchen nicht mehr in Anspruch nahmen.24 Die Tatsache, daß die Bürgerbewegung überall zu öffentlichen Aktionen überging, läßt sich jedoch nur zum Teil durch die im Sinne Kurans überraschende Wirkung der Absetzung Honeckers erklären. Neben diesem äußeren Einfluß auf die Handlungsbedingungen der Bewegung sind noch zwei bewegungsinterne Faktoren zu berücksichtigen, ohne die die Entstehung der landesweiten Demonstrationswelle nicht zu erklären ist. Hierzu zählt zum einen die Vorbildfunktion, die Leipzig als »Leuchtturm der Bewegung«25 innehatte. Entscheidend waren darüber hinaus auch die jeweils lokalen Mobilisierungszu21 Joachim Gauck, Interview in Probst, Norden, S. 106. 22 Die anderen beiden Demonstrationen in dieser Woche waren die Solidaritätsdemonstration für Leipzig in Halle am 9.10.89 mit ca. zweitausend Teilnehmern und die Demonstration in Plauen am 14.10.1989. 23 MfS/ZAIG: Informationen 471/89 (23.10.1989) und 496/89 (7.11.1989), zit nach Süß, Entmachtung, S. 10. 24 Diese Periodisierung steht im Gegensatz zu den gängigen Einschätzungen. Für Lindner (Kultur, S. 16) war der 9.10. in Leipzig das auslösende Ereignis der Demonstrationswelle, während Zwahr (Zwischenbilanz, S. 242) die Demonstrationen zum Republikgeburtstag am 7.10. als Auftakt der Demonstrationswelle ansieht. Städte, in denen Demonstrationen erst nach dem Machtwechsel begannen, stellen für Zwahr den »Verlaufstyp [...] eines relativ späten Einsetzens der Demonstrationen« dar. 25 Reiner Krauße (NF Magdeburg), zit. nach Petra Bornhöft: »DDR-Opposition will Taten statt Reden«, in: die tageszeitung vom 20.10.1989, Seite 2.

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sammenhänge, welche die Basis für die Aktionen vor Ort darstellten. Der Übergang zu der neuen Aktionsform der Demonstration läßt sich nur aus dem Zusammenspiel dieser drei Faktoren rekonstruieren. Aufbauend auf diesen Überlegungen erstreckt sich die Untersuchung im folgenden zunächst auf den Zeitraum vom 18. bis zum 24. Oktober; die Zeit der Entstehung der Demonstrationswelle. Um der Dynamik der Ereignisse gerecht zu werden, wird die Darstellung der Demonstrationen dann unterbrochen durch eine Untersuchung der ersten Dialoge, welche die SED als Reaktion auf die Proteste anbot. Ausgehend von der These, daß sich Demonstrationen und Dialoge im Laufe der Entwicklung gegenseitig be- und verstärkten, soll durch den Wechsel der Perspektive in diesem Kapitel versucht werden, das dynamische Wechselspiel zwischen diesen beiden Aktionsformen nachzuvollziehen. 2.1. Der Beginn der Demonstrationswelle In Leipzig hatten sich nach dem 9. Oktober bereits Ansätze dieses Wechselspiels gezeigt, als Oberbürgermeister Dr. Bernd Seidel wenige Tage nach der Demonstration im Namen des Rates der Stadt Leipzig seine Bereitschaft zu einem »offenen, freimütigen und sachlichen Meinungsaustausch« erklärte, den er »mit allen Bürgern und auf allen Ebenen der Stadt«26 führen wollte. Die Aussicht auf einen Dialog konnte jedoch nicht verhindern, daß es am 16. Oktober zu einer Demonstration kam, welche die Teilnehmerzahl der Vorwoche um fast das Doppelte übertraf: Circa 140.00027 Menschen zogen an diesem Tag um den Leipziger Innenstadtring. Das neugewonnene Selbstbewußtsein der Demonstranten dokumentierte sich darin, daß das Bild der Demonstration am 16. Oktober zum ersten Mal von Transparenten geprägt war, die man in der vorhergehenden Woche noch nicht mitzunehmen gewagt hatte. Nunmehr aber konnten die Teilnehmer beobachten, wie »vorsichtig erste Plakate über die Köpfe gehalten werden. Pressefreiheit^ ›Ehrliche Reformern sehe ich verblüfft«, so Reiner Tetzner, »und spähe nach Ordnungshütern. Wird das geduldet?«28 Es wurde geduldet, denn die Sicherheitskräfte hatten für diesen Tag neue Befehle aus Berlin erhalten, die einen Einsatz nur im Fall von Gewaltanwendungen seitens der Demonstranten autorisierten.29 Dementsprechend 26 Mitteilung in der LVZ vom 13.10.1989, S. 3. 27 Das MfS ging demgegenüber von einer Teilnehmerzahl von nur 70.000 Personen aus, so daß die Leipziger Demonstranten nur die Hälfte der 140.000 Demonstrationsteilnehmer ausmachten, die das MfS in der Woche vom 16.-22.10. zählte (vgl.: die Information 471/89 der ZAIG, in Mitter/Wolle, S. 235). 28 Erlebnisbericht von Tetzner (S. 22) zur Demonstration am 16.10. 29 Vgl. »Befehl 9/89 des Vorsitzenden des NVR über Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit und Ordnung in Leipzig« (13.10.1989), abgedruckt in: Auerbach, S. 139ff.

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hielten sich Polizei und Staatssicherheit im Hintergrund. Die demonstrative Zurückhaltung der Sicherheitskräfte, die Transparente sowie die Sprechchöre konnten ihre Wirkung Jedoch erst im Zusammenhang mit einer weiteren neuen Entwicklung an diesem Tage entfalten: Erstmals konnten die westlichen Nachrichtensendungen ihre Berichte über die Demonstration nicht nur mit Photos und Interviews dokumentieren, sondern mit Filmausschnitten, die aus Leipzig herausgeschmuggelt worden waren.30 Im wahrsten Sinne des Wortes geriet Leipzig damit erneut in den Blickpunkt der Bevölkerung, die ihre Unzufriedenheit in den anderen Städten der DDR zu diesem Zeitpunkt noch innerhalb der Kirchen artikulierte. Die Ereignisse in Leipzig wurden jedoch noch nicht zum Signal, die Kirchen zu verlassen. Nirgendwo führte die staatliche Zurückhaltung in Leipzig zu dem Schluß, daß Demonstrationen nunmehr auch anderswo gefahrlos seien. Noch immer war Honecker an der Macht und Leipzig schien ein Ausnahmefall zu sein, dessen Bedingungen nicht ohne weiteres auf andere Städte übertragen werden konnten. Übertragbar, wenn auch noch nicht praktizierbar, waren jedoch die Formen des Protests, die durch die Fernsehbilder aus Leipzig eindrücklich in die gesamte DDR ausgestrahlt wurden. In einer Gesellschaft, in der die Vorstellungen von Demonstrationen bislang durch die inszenierten Massenkundgebungen der SED besetzt war, präsentierten die Bilder aus Leipzig einen neuen Typus von Demonstrationen, der unverwechselbar mit der entstehenden Demokratiebewegung in der DDR verbunden war. Die Bedeutung der Leipziger Montagsdemonstrationen für die landesweite Demonstrationswelle lag daher vor allem in ihrem Vorbildcharakter. Die Erwartung, es den Leipzigern nachzutun, implizierte nicht nur den Wunsch, ebenfalls auf die Straße zu gehen, sondern auch die Absicht, dies in einer bestimmten Art und Weise zu tun. Mit den Kerzen, den Slogans, den Transparenten, der Gewaltlosigkeit, der Einheit von Friedensgebet und Demonstration, dem wöchentlichen Rhythmus und nicht zuletzt auch mit dem regelmäßigen Montags-Termin boten die Leipziger Demonstrationen Handlungsmuster, die für die gesamte DDR strukturbildend werden sollten. Wenn jedoch in den einzelnen Städten der DDR nicht bereits bestimmte Voraussetzungen vorhanden gewesen wären, hätte das Beispiel Leipzigs keine Nachahmer finden können. Erst dadurch, daß die Entwicklungen in Leipzig auf die jeweiligen lokalen Mobilisierungszusammenhänge trafen und vor deren Hintergrund wahrgenommen wurden, konnte diejenige Dynamik entstehen, welche die Demonstrationswelle in den Tagen nach dem 18. Oktober entwickelte. Aus mehreren Gründen wurden die Friedensgebete, die Mitte Oktober in fast allen Städten der DDR abgehalten wurden, zum Dreh- und Angelpunkt 30 Vgl. die Tagesschau vom 17.10.1989.

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des Übergangs von den halböffentlichen Aktionen in den Kirchen zu den öffentlichen Aktionen auf den Straßen. Sie versammelten zum einen die potentiellen Demonstranten und galten zum anderen nach dem Vorbild Leipzigs als fast selbstverständlicher Ausgangspunkt für eventuelle Demonstrationen. Das infolge der ansteigenden Teilnehmerzahlen wachsende Bewußtsein der eigenen Stärke und die eindrucksvollen Bilder und Nachrichten aus Leipzig weckten weitergehende Erwartungen, die über das bis dahin Erreichte hinausgingen. Nachdem es gelungen war, Öffentlichkeit innerhalb der Kirchenmauern herzustellen, wurde daher in vielen Friedensgebeten im Land der Wunsch laut, den Protest auch außerhalb der Kirchen zu artikulieren. Stellvertretend für viele andere bekundete ein Teilnehmer der allwöchentlich in der Potsdamer Erlöserkirche abgehaltenen »Andacht aktuell«, er habe »ein geradezu körperliches Bedürfnis nach Demonstrationen«.31 Als ein »Akt gesellschaftlicher Hygiene des befreiten Selbstbewußtseins gegen die bisherige Heuchelei und das Schweigen«32 schienen Demonstrationen eine konsequente Fortsetzung des Prozesses der gesellschaftlichen Selbstbefreiung zu sein, der in den Friedensgebeten begonnen hatte. Allerdings war der Schritt auf die Straße in der Wahrnehmung der Beteiligten bis zur Absetzung Honeckers mit dem unkalkulierbaren Risiko einer gewaltsamen Eskalation verbunden, so daß Demonstrationen bis zum 18. Oktober in den allermeisten Fällen unterblieben. Dort, wo nicht schon allein die Angst vor Repressionen die Demonstrationsbefürworter von der Verwirklichung ihres Wunsches abhielt, waren es die kirchlichen Würdenträger, die in ihrer Verantwortung für die Gottesdienstteilnehmer versuchten, die Rufe nach Demonstrationen zu mäßigen und entsprechende Initiativen zu bremsen.33 Auf den wenigen Demonstrationen, zu denen es trotzdem vor dem 18. Oktober außerhalb Leipzigs kam, wurde alles getan, um die staatliche Toleranzschwelle möglichst nicht zu überschreiten. Die Kleinstadt Waren an der Müritz, wo am 16. Oktober die erste Demonstration im Norden der DDR überhaupt stattfand, war ein typischer Fall: Die dreihundert Menschen, die sich dort zeitgleich zur Leipziger Montagsdemonstration zu einem Zug formierten, wählten die Form eines Schweigemarsches von Kirche zu Kirche, so daß sich die Demonstration in der Grauzone zwischen einer kirchlichen Prozession und einer politischen Kundgebung bewegte.34 Das Beispiel Waren machte Schule in benachbarten Städten wie Neubrandenburg. Als Reaktion auf den immer lauter werdenden Ruf nach einer De31 Zit. nach »Demonstrationen gehören zum Dialog«, in: die tageszeitung vom 23.10.1989, S. 2. 32 Giselher Quast: Einleitung zum Gebet um gesellschaftliche Erneuerung im Magdeburger Dom am 23.10.1989, in: Beratergruppe Dom des Gebetes, S. 122. 33 So beispielsweise in Neustrelitz (vgl. Langer, S. 91) oder in Magdeburg, wo sich Domprediger Quast am 9.10. gegen den aufkeimenden Wunsch nach einer Demonstration aussprach, vgl. Beratergruppe Dom des Gebetes, S. 91. 34 Vgl Langer, S. 91.

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monstration kam auch dort am 16. Oktober die Idee auf, im Anschluß an das mittwochs stattfindende Friedensgebet einen Schweigemarsch von Kirche zu Kirche abzuhalten. Bevor die Idee aber am Abend des folgenden Mittwochs, dem 18. Oktober, umgesetzt wurde, hatten sich die Rahmenbedingungen, unter denen der Schweigemarsch geplant worden war, grundlegend verändert. Nachdem die Ablösung Honeckers bekannt geworden war, übertraf die Anzahl derer, die es wagten, sich in den Demonstrationszug einzureihen, die Erwartungen der Veranstalter bei weitem. Außer den 1.500 Friedensgebetsteilnehmern und den tausend Personen, die vor der Kirche gewartet hatten, schloß sich noch einmal dieselbe Anzahl von Menschen spontan dem Zug an, der an seinem Ende ca. fünftausend Demonstranten zählte.35 Die mobilisierende Wirkung, die der Führungswechsel bereits am selben Abend in Neubrandenburg hatte, sollte sich in den folgenden Tagen in anderen Städten wiederholen. Der Machtwechsel war ein synchronisierendes Ereignis, in dessen Folge der Druck, der allerorts in den Kirchen entstanden war, auf die Straße getragen wurde, ohne daß es irgendeine Art von landesweiter Koordination gegeben hätte. Der Drang zu demonstrieren entwickelte eine Dynamik, die keiner Organisation bedurfte. Die Demonstrationen formierten sich spontan aus den Gottesdiensten heraus und waren weder von besorgten Kirchenvertretern noch von der Staatsmacht aufzuhalten. Beispiele wie Mühlhausen, wo es am 20. Oktober zu der ersten Demonstration kam, machen deutlich, daß es nunmehr - ähnlich wie bei den ersten Demonstrationen in Leipzig - genügte, daß einzelne einen Impuls gaben, der durch die Solidarität der übrigen vielfach verstärkt und in eine Demonstration umgesetzt wurde: »Wir sind tief ergriffen und gleichzeitig sehr froh«, erinnert sich Sibylle Preuß an das Friedensgebet, das an diesem Abend zum ersten Mal abgehalten wurde, »daß wir genügend Menschen an unserer Seite haben, die das Gleiche wollen. Nach Abschluß des Friedensgebetes steht die Menge noch vor der Kirche, und keiner weiß, wie es weitergehen soll. Wollen wir schon nach Hause? - Nein, ein junger Mann ergreift die Initiative, steckt eine Kerze an und setzt sich mutig an die Spitze des sich in Bewegung setzenden Zuges. Wir gehen mit.«36 Auf ähnliche Art und Weise hatte sich am Tag zuvor, dem 19. Oktober, die erste Demonstration in Rostock formiert, wo ein Plakat in der Form eines Schmetterlings mit der Aufschrift »Gewaltfrei für Demokratie« vorbereitet worden war, das als Symbol des Aufbruchs dienen sollte. Ohne daß im vorangegangenen Friedensgebet zu einer Demonstration aufgerufen worden wäre, traf sich die Initiative im Anschluß an die Versammlung mit den Erwartungen der Teilnehmer: »Als sich die erste Gruppe von Menschen unter dem bunten Schmetterling in Bewegung setzt«, berichtet Christoph Kleemann, »reiht sich alles ein.« 35 Vgl. Heydenreich, S. 8ff. 36 S. Preuß: Chronologie der Demonstrationen, in: LütkeAldenhövel u.a., S. 68-75, Zitat S. 70. 236 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35925-0

Auf den ersten Metern trauen die Menschen der neugewonnenen Freiheit noch nicht, es gibt viele »ängstliche Blicke, ob Polizei über die Demonstranten heárfllt. Nichts geschieht. [...] Dann kommt das Kröpeliner Tor in Sicht. Ein Blick nach hinten - ein fast endloser Zug. Und bisher ohne Zwischenfälle.« Erste Sprechchöre werden laut, »Reiht Euch ein« und »Rettet das Land« und immer wieder rhythmisches Klatschen, das in den Straßenschluchten »höllisch hallt, gewaltig.«37 In dem Maße, wie die Menge der Demonstranten wächst, steigt das Selbstbewußtsein der Beteiligten. Schließlich wagt man sogar, mit Buh-Rufen und Pfiffen am gefürchtetsten Gebäude der Stadt, der Bezirksverwaltung der Staatssicherheit, vorbeizuziehen. Die Aufforderung »Verlassen Sie den Platz! Lösen Sie die Demonstration auf!«, die nur wenige Tage zuvor noch mit einem unmittelbar bevorstehenden Polizeieinsatz assoziiert worden wäre, erntete an diesem Abend Gelächter und neue Sprechchöre: »Stasi in die Produktion«. Was bleibt sind die Kerzen, die einige auf dem Vorplatz des Gebäudes festgetropft haben. Erst vor dem Rathaus am Marktplatz löst sich der Zug schließlich auf. Mit dieser ersten Demonstration war der Bann gebrochen. Von diesem Tag an fanden jeden Donnerstag Demonstrationen in Rostock statt. Darüber hinaus wurden die Donnerstagsdemonstrationen bereits zwei Tage später durch Samstagsdemonstrationen ergänzt, die allwöchentlich die Erinnerung an die Rostocker Ereignisse am Rande der Jubiläumsfeierlichkeiten des 7. Oktobers wachhalten sollten. Das Zusammenspiel der drei zentralen Faktoren - die Vorbildfunktion Leipzigs, die lokalen Bedingungen und der SED-Führungswechsel - gab daher den Auftakt für eine Welle von Demonstrationen, die sich seit dem 18. Oktober in einer Stadt nach der anderen formierten. Die Bürgerbewegung hatte eine neue Form gefunden, ihren Forderungen Aus- und Nachdruck zu verleihen. Nur selten waren es konkrete Protestanlässe wie die Wahl von Krenz zum Staatsratsvorsitzenden am 24. Oktober, die öffentliche Protestkundgebungen herausforderten.38 Vielmehr war der Takt der Demonstrationen bestimmt vom Rhythmus der lokalen Friedensgebete. Da sie in der Mehrzahl nach Leipziger Vorbild am Montag stattfanden, erreichte die Demonstrationswelle ihren ersten zahlenmäßigen Höhepunkt nicht zufällig am Montag, dem 23. Oktober.39 Wenn bislang vor allem diejenigen Mechanismen, die zur Entstehung der 37 Erlebnisbericht von Christoph Kleemann zur Demonstration am 19.10., zit. nach Probst, Norden, S. 43f. 38 So etwa in Berlin, wo es am Abend der Volkskammerabstimmung zu einer Demonstration von ca. 10.000 Menschen kam, vgl.: Tobias Lehmann: »Das Volk muß am Ball bleiben!«, in: die tageszeitung vom 26.10.1989, S. 7. 39 An diesem Tag kam es nicht nur in Leipzig zu einer Demonstration von ca. 250.000 Menschen, sondern auch in Städten wie Eisenach, Halle (10.000), Dresden (ca. 50.000), Magdeburg (ca. 30.000), Schwerin (40.000), Stralsund (ca. 5.000), Zwickau (ca. 15.000), Forst (300) oder Heiligenstadt (200).

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Demonstrationen führten, im Mittelpunkt der Untersuchung standen, ist der Ablauf der Aktionen nicht weniger wichtig. Denn erst dadurch, daß der Protest überall die gleichen Formen und Inhalte annahm, agierte die Bewegung als ein kollektiver Akteur und wurde von außen - und nicht zuletzt von der SED - als eine einheitliche Protestwelle wahrgenommen. Wie schon bei den Friedensgebeten handelte es sich auch bei den Demonstrationen um einen Prozeß der überregionalen Verbreitung von Aktionsmustern und Aktionsformen. Alle Voraussetzungen einer solchen Diffusion waren gegeben: Zum einen ein Ursprungsort, der in der Anfangsphase vor allem in Leipzig lag, und zum anderen überregionale Kommunikationsmedien, zumeist die westdeutschen Sender, oft aber auch der weit verbreitete Demo-Tourismus. Eine dritte Voraussetzung des »Anschlußhandelns«,40 wie Hartmut Zwahr den Prozeß der Diffusion bezeichnet, war schließlich der Umstand, daß die Rezipienten, also die Demonstranten in den jeweiligen Städten, ähnliche Problemdeutungen und Zielvorstellungen teilten, denen sie in ähnlichen Formen Ausdruck verliehen. Ohne daß daher eine überregionale Koordination nötig war, beruhten die Demonstrationen in allen Städten auf einem Handlungsrepertoire, »für das«, so Heidrun Senz über den Ablauf der ersten Demonstration in Mühlhausen, »die Fernsehbilder (brennende Kerzen) prägende Muster geliefert« hatten.41 Im Rahmen dieser Muster wurde die entschiedene Gewaltfreiheit der Leipziger Demonstranten ebenso in andere Städte transportiert wie die Kerzen, die auf fast allen Demonstrationen im Land als Symbole der Friedfertigkeit mitgetragen und an gewaltträchtigen Stellen - dem Rathaus oder den Gebäuden der Sicherheitskräfte - niedergesetzt wurden. Auf dieser Grundlage konnten sich auch die Sprechchöre verbreiten. »Wir bleiben hier«, »Keine Gewalt«, »Neues Forum zulassen«, »Demokratie -jetzt oder nie«, »Stasi in die Produktion« und vor allem der wohl berühmteste Slogan des Herbstes: »Wir sind das Volk« - all diese Sprechchöre der Leipziger Montagsdemonstrationen fanden im ganzen Land ihren Widerhall. Diese Nachahmungseffekte schmälern allerdings keineswegs ein weiteres Charakteristikum der Demonstrationen: die Kreativität, welche die Demonstranten allerorts entwickelten. Besonders die zahllosen Variationen über Egon Krenz verdeutlichen den Wortwitz, der in Sprechchören und Plakaten zum Ausdruck kam: »Egon Krenz, wir sind nicht deine Fans«, »Egon, leit Reformen ein, sonst wirst du der nächste sein«, »Egon, wir sind nicht die Olsenbande«, »Egon Krenz, mach Dir keinen Lenz«, »Krenzt das Neue Forum nicht aus«, »eGOn«, »Kein Ego(n)ismus«, »Krenz - kein Lenz, Hans - der kann's«,42 »Egon Krenz, keine Lizenz«, »Keine Schadensbekrenzung«, »Es ist 40 Zwahr, Zwischenbilanz, S. 238. 41 Heidrun Senz: »Die Informationsveranstaltung am 22.10.1989«, in: Lütke Aldenhövel u.a., Zitat S. 94. 42 Sprechchor von der Dresdener Demonstrationen am 26.10.1989, gemeint ist Hans Modrow, vgl. »Nicht verbale, sondern reale Reformen«, in: Union vom 28./29.10.1989, S. 2.

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nicht alles Gold, was krenzt«, »Wir brauchen Reformen ohne Krenzen«, »Egon Krenz, wir sind die Konkurrenz«, etc.43 Die Bedeutung der Slogans erschöpfte sich jedoch nicht in ihrer Kreativität. Die Texte formulierten politische Forderungen, die durch die Sprechchöre und Plakate an die Öffentlichkeit getragen wurden. Weil die Demonstranten mit ihren Forderungen ständig auf die sich rasant wandelnden Rahmenbedingungen reagierten, fand die Kritik immer wieder neue Gegenstände und neue Ziele. Da sich selbst innerhalb der drei Wochen zwischen dem 18. Oktober und dem 9. November die Schwerpunkte des Protests zum Teil radikal veränderten, sind für ihre Untersuchung kurze Zeitschritte zu wählen. Für die erste Phase der landesweiten Demonstrationswelle, also für die Woche vom 18. bis zum 24. Oktober, lassen sich die Forderungen auf vier gemeinsame Nenner bringen: Vorherrschend waren, erstens, Forderungen nach demokratischen Reformen innerhalb des institutionellen und politischen Systems: freie Wahlen, Meinungs-, Presse-, Demonstrations- und Vereinigungsfreiheit und nicht zuletzt auch Reisefreiheit. In einem direkten Zusammenhang mit diesen lautstark eingeklagten Rechten stand zweitens die Forderung nach Zulassung der oppositionellen Gruppen, allen voran des Neuen Forums. Zwei Aspekte machten diese Forderung zu einem zentralen Punkt der Agenda: Zum einen wäre die Legalisierung der unabhängigen Bürgervereinigungen ein deutliches Zeichen des Reformwillens der SED gewesen, zum anderen trug die Forderung »Neues Forum zulassen« dem Bestreben der Demonstranten Rechnung, nicht nur auf Reformen von oben warten zu wollen, sondern durch eine unabhängige Instanz im politischen System repräsentiert zu sein. Ein dritter Schwerpunkt der Demonstrationen bestand in der Kritik an der SED sowie ihren führenden Vertretern. Auch wenn zu diesem frühen Zeitpunkt die Führungsrolle der Partei noch nicht explizit in Frage gestellt wurde, hatte die SED nicht zuletzt auch aufgrund der Selbstkritik von Krenz ihre sakrosankte Stellung eingebüßt. Offene Kritik an ihr und ihren Vertretern wurde möglich. Einen vierten und letzten Ansatzpunkt der Kritik bildeten schließlich die direkten Gegenspieler der Demonstranten, die Sicherheitskräfte und namentlich die Staatssicherheit, deren Anwesenheit allerorts mit »Stasi raus«Rufen quittiert wurde. Gerade der überall anzutreffende Slogan »Stasi in die Produktion« ist ein typisches Beispiel für die von Warneken treffend als »Symbolsprengung von innen«44 beschriebene Taktik der Demonstranten, Institutio43 Auch wenn sich diese Zusammenstellung im Wesentlichen an einer Sammlung von Leipziger Demonstrationstexten (W. Schneider, S. 60f. und S. 74) orientiert, ist im Einzelnen kaum mehr festzustellen, wo genau die Slogans zum ersten Mal auftauchten. 44 Wameken, Straße, S. 10. Ebenfalls in diesen Zusammenhang gehört das Absingen der Internationalen oder auch der Slogan »Wir sind das Volk«, mit dem der inflationäre Gebrauch des Begriffs Volk (volkseigen, Volkspolizei, Volkskammer,...) um eine entscheidende Variante erweitert wurde.

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nen des sozialistischen Staates mit seinen eigenen Waffen und Begriffen zu schlagen. Wie im Falle der Partei wurde damit auch mit der offenen Kritik an der Staatssicherheit ein Tabu gebrochen, das vierzigJahre Bestand gehabt hatte. Ein weiteres Tabu blieb demgegenüber zunächst unangetastet: Die staatliche Integrität der DDR wurde nicht in Frage gestellt. Bei aller Ablehnung der SEDHerrschaft und ihrer Folgen, war die Loyalität zum Land DDR, die bereits dem Slogan »Wir bleiben hier« zugrunde gelegen hatte, eine Konstante, auf der alle Forderungen der Bewegung beruhten. Die Kritik und die Reformvorstellungen bewegten sich auf der Grundlage des Motivs »Rettet das Land«,45 das durch freie Wahlen und Reisefreiheit attraktiver gestaltet werden sollte. Der geographische wie politische Rahmen der erhofften Veränderungen war daher die DDR, die nicht nur für reformbedürftig, sondern vor allem auch für reformfähig gehalten wurde. Die Demonstranten wie die oppositionellen Gruppen waren sich einig in der Überzeugung, daß eine DDR ohne SED und ohne Mauer nicht nur erstrebenswert, sondern auch möglich war.46 Wer daher wie Hartmut Zwahr die Forderung nach freien Wahlen prinzipiell als eine »Option gegen die DDR« interpretiert, übersieht die grundlegende Motivation des Protests und überschätzt den Horizont der für die Beteiligten denk- und vorstellbaren Veränderungen. Die Kritik der Bewegung zielte auf eine Überwindung der DDR als SED-Staat, keinesfalls aber auf die Überwindung der DDR selbst. Um so mehr jedoch sah sich die SED gezwungen zu reagieren. Nachdem die Option, sich der Demonstrationen durch Gewalt und Einschüchterung zu entledigen, nicht mehr bestand, mußte sie politische Lösungen für den Konflikt finden. Dabei stand es außer Diskussion, der Bewegung dadurch zu begegnen, daß man ihren Forderungen nach einschneidenden Reformen nachkam. Das Mittel der Wahl war der Dialog, den die SED bereits in der Politbüro-Erklärung vom 11. Oktober in Aussicht gestellt hatte. Initiiert in der Absicht, den Demonstrationen den Boden zu entziehen, sollten die Dialogveranstaltungen unter dem Druck der Straße zu einem zweiten Aktionsfeld werden, das sich der Bewegung eröffnete. 2.2. Dresden: Die »Gruppe der 20« als Vorreiter des Dialogs mit der Staatsmacht Für die Entstehung der Bürgerbewegung hatte die Entwicklung in Leipzig eine immense Bedeutung, der die bisherige Untersuchung Rechnung getragen hat. Eine weitere lokale Sonderentwicklung, die im Oktober eine überregionale 45 Sprechchor auf der Rostocker Donnerstagsdemonstration am 19.10.1989, Erlebnisbericht von Christoph Kleemann, zit. nach Probst, Norden, S. 43f. 46 Vgl.: »Ein Land ohne Mauer, ein Land ohne Draht, dort ist keiner sauer auf seinen Staat«, Transparent auf der Leipziger Montagsdemonstration vom 30.10.1989, in: W. Schneider, S. 75.

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Bedeutung gewann, ist demgegenüber in dieser Arbeit bislang zurückgestellt worden: Dresden, wo die Ereignisse ebenso wie in Leipzig am 8. und 9. Oktober an einem Scheideweg zwischen einer gewaltsamen und einer friedlichen Lösung standen. Während in Leipzig eine gewaltsame Auflösung der Demonstration nicht zuletzt an der Menge von 70.000 Menschen scheiterte, wurde in Dresden angesichts einer drohenden chinesischen Lösung ein anderer Ausweg gefunden. Bereits am Morgen des 9. Oktobers kam es zu einem Dialog zwischen einer Gruppe von zwanzig unabhängigen Bürgervertretern und dem Dresdener Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer. Ähnlich wie die Leipziger Montagsdemonstrationen war die Entwicklung in Dresden singulär. An einen Dialog mit den staatlichen Verantwortlichen war zu diesem frühen Zeitpunkt in anderen Städten noch ebenso wenig zu denken wie an Demonstrationen nach dem Leipziger Vorbild. Ebenso aber wie der Ausnahmefall Leipzig durch seine Sonderstellung eine Vorbildfunktion für die Friedensgebete und Demonstrationen einnahm, gewann das Dresdener Modell des Dialogs in dem Moment eine Signalwirkung, als Gespräche mit der Staatsmacht nach dem 18. Oktober auch in anderen Städten möglich wurden. Daher rückt der Sonderfall Dresden erst an dieser Stelle der Arbeit in den Mittelpunkt des Interesses, auch wenn dies einen Bruch in der Chronologie und einen Rückgriff auf Ereignisse von Anfang Oktober mit sich bringt. Die Darstellung der Dresdener Entwicklung orientiert sich vor allem daran, das Wechselspiel aus Demonstrationen und Dialogen nachzuvollziehen, das in Dresden vorweggenommen wurde, bevor es nach dem 18. Oktober zu einem landesweiten Merkmal der Aktionen der Bürgerbewegung werden sollte. Schon vor dem Beginn der Dialoge war Dresden ein Sonderfall. Es war die einzige Stadt in der DDR, in der Demonstranten die Gewalt der Staatsmacht mit massiver Gegengewalt, mit Molotow-Cocktails und Pflastersteinen beantwortet hatten. Vier Tage lang, vom 3. bis zum 6. Oktober, lieferten sich Ausreisewillige mit den Sicherheitskräften Auseinandersetzungen, die bürgerkriegsähnliche Ausmaße annahmen.47 In der Dresdener Bevölkerung sorgten die Straßenschlachten für Empörung und Entsetzen. Herausgefordert durch die Krawalle kamen täglich mehr Bürger, die an einer friedlichen Lösung interessiert waren, zum Hauptbahnhof, um sich selbst ein Bild zu verschaffen und um die Auseinandersetzungen in andere, friedlichere Bahnen zu lenken. Auf diese Art vollzog sich ein schleichender Umschwung in der Teilnehmerschaft, der sich in den Formen und Inhalten des Protests niederschlug. Manifest wurden diese Veränderungen am 7. Oktober, als sich zum ersten Mal ein Demonstrationszug vom Bahnhof löste, der unter den Sprechchören »Wir bleiben hier Reformen brauchen wir«, »Keine Gewalt«, »Bruder- schlag nicht«, »Neues Fo47 Vgl. zu den Ausschreitungen Bahr und für die Sicht und Strategie der Sicherheitskräfte: Süß, Staatssicherheit am Ende, S. 253ff

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rum« und »Dialog« in Richtung Innenstadt zog.48 Die Ausreisewilligen waren an diesem Tag abgelöst worden von Bürgern, die den ideellen Konsens der entstehenden Bürgerbewegung teilten und gewaltfrei für Reformen in der DDR eintraten. Am Verhalten der Sicherheitskräfte änderte die neue Form der Proteste allerdings zunächst nichts. Am 7. und auch am 8. Oktober lösten sie die wiederholt in der Innenstadt entstehenden Demonstrationen gewaltsam auf. Am Abend des 8. Oktobers kam es zu einer prekären Situation. Als die Volkspolizei versuchte, eine Demonstration auf der Prager Straße auseinanderzutreiben, sah sich eine große Menschenmenge unvermittelt mitten auf der Prager Straße von der Polizei eingekesselt. Spontan setzten sich die Demonstranten im Kessel auf die Straße, während in 50 Meter Abstand um sie herum Polizeiketten mit Schilden, Schlagstöcken und Hundestaffeln in Stellung gingen. Die Stimmung war zum Zerreißen gespannt. Das Vorgehen der Sicherheitskräfte hatte eine Situation geschaffen, die nur noch durch Gewalt lösbar schien. Alles wartete auf den unvermeidlichen Befehl zum Einsatz.49 Doch während die Polizei noch zögerte, gegen sitzende und wehrlose Demonstranten vorzugehen,50 ergriffen die beiden im Kessel eingeschlossenen Kapläne Frank Richter und Andreas Leuschner die Initiative zu einer friedlichen Lösung. Sie bahnten sich den Weg zum verantwortlichen Polizeioffizier und schlugen ihm Verhandlungen vor. »Wir forderten ihn auf«, erinnert sich Kaplan Richter, »sich um einen kompetenten Gesprächspartner von staatlicher Seite zu bemühen; wir würden unterdessen mit den Demonstranten sprechen und sie nach ihrer Gesprächsbereitschaft befragen.«51 Zurückgekehrt in den Kessel unterrichtete Richter die Versammelten von dem Gespräch und rief sie auf, Vertreter zu bestimmen, die für die Demonstranten sprechen sollten. Aus den vielen Freiwilligen, die sich meldeten, wählte er spontan einige aus, bis eine »einigermaßen repräsentative und gesprächsfähige Gruppe von 20 Demonstrationsvertretern übrigblieb.«52 Unter ihnen befanden sich Arbeiter, Ingenieure, Studenten, Lehrlinge, Frauen und Männer verschiedener Altersgruppen, deren Legitimation als Sprecher per Akklamation durch den Beifall der

48 Verschiedene Erlebnisberichte dieses Tages dokumentieren den Umschwung des Protests, vgl.: Ordner »Gruppe der 20, Gedächtnisprotokolle«, Stadtmuseum Dresden/Abt. Schriftgut, Standort 7/3 und Bahr, S. 89-114. 49 Vgl. zum Ablauf dieses Abends vor allem Richter/Sobeslavsky, S. 41 ff. 50 Vgl. die Aussage des Einsatzleiters vor Ort: »Es herrschte eine ziemliche Unentschlossenheit, was nun zu tun sei. [...] Das waren ja keine Rowdys und Skinheads ...«, in: Bahr, S. 130. 51 Bericht von Kaplan Frank Richter zum 8.10.1989, in: ebd., S. 124-129, Zitat S. 125. 52 Herbert Wagner (heute Oberbürgermeister von Dresden, seit dem 9.10.1989 anstelle von Kaplan Richter Mitglied der Gruppe der 20): »Die Mühen der Ebene oder: Demokratisierung in Dresden«, S. 1 (Stadtmuseum Dresden, Abt. Schriftgut, Standtort 7/3: Ordner »Gruppe der 20«, ohne Pag.).

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Menge bestätigt wurde.53 Auf Zuruf ließ sich die Gruppe Themen nennen, die sie gegenüber ihren staatlichen Gesprächspartnern zur Sprache bringen sollte. Danach einigten sich die im Kessel Eingeschlossenen über die Bedingungen, unter denen man bereit war, die Staatsmacht aus ihrem Dilemma zu befreien und die Demonstration friedlich aufzulösen. Dafür erwartete man Zusagen: Das Gespräch sollte am Morgen des folgenden Tages mit dem Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer geführt werden, und anschließend müsse die Möglichkeit gegeben sein, die Ergebnisse öffentlich bekannt zu machen. Über die Einsatzleitung der Polizei wurde Berghofer unverzüglich von der Entwicklung unterrichtet. Ihm blieb keine Alternative: Wollte er eine gewaltsame Auflösung des Kessels vermeiden, mußte er einer Verhandlungslösung zustimmen.54 Daher kam er der Aufforderung nach und lud die »Gruppe der 20« für den folgenden Tag zu einem Gespräch ein. Eine Bedingung wies er jedoch erfolgreich zurück: Eine öffentliche Bekanntgabe der Gesprächsergebnisse auf der Prager Straße oder im Dynamo-Stadion, wie es die »Gruppe der 20« gefordert hatte, lehnte er ab. Statt dessen schlug er vor, die Informationsveranstaltungen in Kirchen abzuhalten; ein Kompromiß, der auf Zustimmung stieß. Nachdem die Demonstranten von den Verhandlungsergebnissen unterrichtet worden waren, löste sich der Kessel friedlich auf Der Druck der Straße hatte den Zugang zum Rathaus erzwungen. Zur selben Zeit, als in Leipzig der Aufmarsch der Sicherheitskräfte begann und alles auf eine Konfrontation zwischen den Demonstranten und der Staatsmacht hinwies, fand sich die »Gruppe der 20« am Morgen des 9. Oktobers bei Berghofer im Rathaus ein. Entsprechend ihrem Selbstverständnis als unparteiischer »Mittler des Dialogs zwischen Staats- und Parteiorganen und der Bevölkerung in der Stadt Dresden«55 unterbreitete die Gruppe die Forderungen, die ihr am Vortag aus dem Kessel heraus genannt worden waren: Freilassung der inhaftierten Demonstranten, eine objektive Darstellung in den Medien, umfassende Informationen über das Neue Forum, freie Wahlen, Reisefreiheit, Demonstrationsrecht und Fortsetzung des gewaltfreien Dialogs.56 Die Aus53 Vgl. die Liste der Mitglieder der »Gruppe der 20« vom 15.10.1989 (Stadtmuseum Dresden, Abt. Schriftgut, Standtort 7/3: Ordner Gruppe der 20, ohne Pag.). 54 Vgl. zum Strategiewechsel Berghofers: Süß, Staatssicherheit am Ende, S. 270ff. und die Anmerkungen von Heike Liebsch, die als damalige Mitarbeiterin des Rats des Stadtbezirkes Dresden/Mitte einen Eindruck von der Konfusion und Überforderung der staatlichen Stellen vermittelt, vgl. Liebsch, bes. S. 29ff. 55 »Erklärung der Gruppe der 20 in der Stadt Dresden«, o.D., ca. 14.10.1989 (Stadtmuseum Dresden, Abt. Schriftgut, Standtort 7/3: Ordner »Gruppe der 20«, Bestand Dieter Brandes, ohne Pag.). 56 Zusagen erhielt die »Gruppe der 20« nur in Bezug auf die Fortsetzung des Dialogs und die Freilassung der Inhaftierten, die binnen 24 Stunden erfolgen sollte. Zu dem Gespräch siehe die Aussagen der Beteiligten in Bahr, S. 139ff. und den Bericht über das Gespräch des Oberbürgermeisters der Stadt Dresden mit 24 Teilnehmern der Demonstration am 8.10.89, (9.10.1989), ABL: Hefter 1: Ereignisse in der Stadt Leipzig von 1985-1989, Bl. 25.

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einandersetzung hatte damit eine völlig neue Qualität gewonnen: Anstatt daß die Demonstranten weiterhin allein darauf angewiesen waren, ihren Zielen in Sprechchören und Transparenten Ausdruck zu verleihen, wurden ihre Forderungen nunmehr direkt ins politische System vermittelt. Auch wenn sich Berghofer sträubte, die »Gruppe der 20« offiziell als Bürgervertretung anzuerkennen, indem er darauf beharrte, lediglich mit »20 Bürgern Dresdens, die einen konkreten Namen haben«57 zu sprechen, implizierte das Rathausgespräch einen weitreichenden Bruch mit dem sozialistischen Staats- und Gesellschaftsverständnis, das auf der Prämisse der Einheit von Volk, Partei und Staat beruhte. Ohne es zu wollen, aber auch ohne es verhindern zu können, legitimierte Berghofer die »Gruppe der 20« faktisch als Vertreter einer Bevölkerungsgruppe, die sich durch das etablierte System der politischen Institutionen nicht mehr repräsentiert sah. Wie groß dieser Teil der Bevölkerung tatsächlich war, wurde am selben Abend deutlich, als in vier Dresdener Kirchen die zuvor vereinbarten Informationsveranstaltungen stattfanden. Sie nahmen die Form konstituierender Versammlungen an, in denen insgesamt ca. 20.000 Menschen ihren Repräsentanten - der »Gruppe der 20«, wie sie sich inzwischen selbst nannte - Rechenschaft abforderten und ihnen zugleich das Mandat für weitere Verhandlungen erteilten.58 Es waren die ersten Aktionen der Bewegung, die von staatlicher Seite explizit toleriert wurden. Damit war es erstmals gelungen, dem DDR-Regime den Bereich einer staatsunabhängigen Öffentlichkeit abzutrotzen, die eine Alternative zu den etablierten Institutionen darstellte. Was hatte diese Entwicklung ermöglicht? Vergleicht man die Ereignisse in Dresden mit denjenigen Städten, in denen es ebenfalls noch während der Amtszeit Honeckers zu einem Dialog kam, werden zwei notwendige Bedingungen für den Erfolg der Bewegung deutlich: Die conditio sine qua non der staatlichen Gesprächsangebote waren Demonstrationen, welche die Staatsmacht unter Handlungszwang setzten. Demonstrationen alleine hatten jedoch nicht automatisch Dialoge zur Folge; es bedurfte zweitens lokaler Vertreter von Staat und Partei, die angesichts der drohenden Ausschreitungen in ihrer Stadt bereit waren, einen friedlichen Kompromiß zu suchen. Diese beiden Bedingungen teilte Dresden mit denjenigen Städten, die noch vor dem 18. Oktober eine ähnliche Entwicklung nahmen, bevor Dialoge mit dem Kurswechsel von Krenz überall in der DDR zur Tagesordnung wurden: mit Plauen, wo sich Bürgermeister Martin gezwungen sah, am 12. Oktober eine »Gruppe der 25« zu empfangen, nachdem die Volkspolizei bereits am 7. Oktober einen Demonstrationszug nicht daran hindern konnte, zum Rathaus zu ziehen; mit Halle, wo es nach der gewaltsamen Auflösung einer Solidaritäts57 Dies erklärte Berghofer in der Pressekonferenz nach dem 2. Rathausdialog am 16.10.1989, zit. nach: »Ein Schritt weiter«, in: Die Union vom 18.10.1989, S. 2. 58 Vgl. zu den Informationsveranstaltungen am 9.10. Richter/Sobeslavsky, S. 75ff.

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kundgebung für Leipzig am 15. Oktober zu einem Treffen zwischen dem Oberbürgermeister Pratsch und einer »Gruppe der 15« kam, und mit KarlMarx-Stadt, wo am 13. Oktober eine »Gruppe der 25« zu einem Rathausgespräch mit Oberbürgermeister Langer zusammentraf, nachdem es in den Tagen zuvor zu gewaltsamen Zwischenfällen im Zusammenhang mit der Durchfahrt der Züge aus Prag und den Jubiläumsfeiern gekommen war.59 Diese Ausnahmefälle waren in dem Sinne typisch, daß sie zahlreiche Aspekte aufwiesen, die seit dem 18. Oktober auch die Entwicklungen in allen anderen Städten der DDR prägen sollten. Da viele Elemente des Wechselspiels von Dialogen und Demonstrationen in Dresden, Halle, Plauen und Karl-MarxStadt vorweggenommen wurden, eignet sich eine eingehendere Untersuchung dieser Sonderfälle, um die Grundmuster zu verdeutlichen, welche die Linien der weiteren Entwicklung der Bürgerbewegung prägten. Die Tatsache, daß es vor dem Machtwechsel an der SED-Spitze nur in solchen Städten zu einem Dialog kam, in denen es zu Monatsanfang Demonstrationen gegeben hatte, zeigt die grundlegende Motivation der staatlichen Gesprächsbereitschaft: Ein Dialog war der Preis, den die staatlichen Verantwortlichen zu zahlen bereit waren, wenn sie damit Demonstrationen verhindern konnten. Konsequent versuchten sie daher, die Bürgervertreter vor die Alternative Dialog oder Demonstration zu stellen. Dabei ging die SED von der - falschen - Prämisse aus, daß es sich bei den Demonstrationen um Aktionen handelte, die von ihren Gesprächspartnern geplant und somit beeinflußbar waren. Dementsprechend unmißverständlich erklärte der Oberbürgermeister von Halle den Unterhändlern der »Gruppe der 15« am 14. Oktober, daß »jeder äußere Druck, z.B. durch Demonstrationen, den Abbruch des Dialogs zur Folge hat.«60 Auch wenn dieser Erpressungsversuch nicht griff, blieb die Tatsache bestehen, daß die SED versuchte, den Dialog als Köder einzusetzen, um den Protest von der Straße in die Rathäuser zu lenken und die Konflikte hinter verschlossenen Türen auszutragen. Diese Strategie, welche die SED in Dresden, Halle, Plauen und Karl-Marx-Stadt gleichermaßen verfolgte, sollte nach dem 18. Oktober überall in der DDR zu einem Grundmuster der Auseinandersetzung zwischen der Bewegung und den Machthabern werden. Eine zweite Kontinuitätslinie war der Kampf um Öffentlichkeit, der in den Gesprächen geführt wurde. Überall, wo es zu einem Dialog kam, stießen zwei absolut gegensätzliche Vorstellungen aufeinander, die sich vor allem im Grad der Öffentlichkeit unterschieden. Am Beispiel Dresdens läßt sich zeigen, daß Status und Reichweite der Gespräche seitens der Staatsmacht so gering wie möglich angesetzt wurden. Der Dialog sollte mit einer möglichst kleinen 59 Vgl. zu Plauen: Küttler/Röder und Kiittler; zu Halle: Völlger/Butzke und Das Andere Blatt; zu Karl-Marx-Stadt: Reum/Geißler. 60 Diese Äußerung gibt der »Tagesbericht zur Entwicklung der politisch-operativen Lage im Bezirk Halle am 14.10.1989« wider, den die BVß Halle erstellte, in: Das Andere Blatt, S. 71.

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Gruppe in einem möglichst kleinen Raum und Rahmen stattfinden, so daß ein Publikum weitestgehend ausgeschlossen blieb. Auch die Informationsveranstaltungen zu den Gesprächen sollten, so weit es ging, nicht öffentlich sein und daher in den Kirchen und nicht - wie von der »Gruppe der 20« vorgeschlagen - im Stadion oder auf der Prager Straße stattfinden. Ebenso informell war schließlich auch der Status, den die SED ihren Gesprächspartnern zumaß. Berghofer beharrte auf der Feststellung, Gespräche mit 20 Einzelpersonen zu führen, so daß die Verhandlungen mit der »Gruppe der 20« offiziell nichts anderes waren als Diskussionen, die der Bürgermeister im Rahmen seiner Arbeit mit interessierten Bürgern führte. Die SED tat alles, um sich nicht dem Verdacht auszusetzen, sie führe Gespräche mit Sprechern einer bestimmten Bevölkerungsgruppe oder gar mit einer Opposition.61 Thematisch versuchte die SED schließlich, die Reichweite des Dialogs auf konkrete, möglichst kommunale Fragen zu begrenzen, während politische Grundsatzfragen nicht zur Debatte standen.62 Die Verhandlungsposition, mit der die Vertreter von Staat und Partei den Dialog begannen, war daher in allen Belangen darauf fixiert, möglichst wenig Öffentlichkeit zuzulassen. Demgegenüber waren die Vorstellungen, welche die Bewegung und ihre Sprecher mit dem Dialog verbanden, auf die Herstellung eines maximalen Grades von Öffentlichkeit gerichtet. Auch diese Absicht wurde bereits in Dresden deutlich: Den Vorstellungen der »Gruppe der 20« zufolge sollten die Gespräche erstens über den Sender Dresden und die Tagespresse angekündigt werden, zweitens ohne thematische Tabus als Podiumsdiskussionen in ausreichend großen Räumlichkeiten stattfinden sowie drittens schriftlich festgehalten und auf öffentlichen Plätzen publik gemacht werden.63 Zudem kämpfte die »Gruppe der 20« um die Anerkennung als legale und legitime Volksvertretung, die den Anspruch erhob, als Alternative zu der durch die Fälschung der Kommunalwahlen im Mai des Jahres diskreditierten Stadtverordnetenversammlung für die Bürger Dresdens zu sprechen.64 61 In Halle erklärte Oberbürgermeister Pratsch ein Gespräch mit dem Neuen Forum kategorisch als »indiskutabel«, so daß die Einladung zum Treffen am 15.10., die unter Bezug auf das Neuen Forum erfolgt war, korrigiert werden mußte, bevor Pratsch seine Gesprächsbereitschaft signalisierte. Vgl. den Bericht des MfS in: ebd., S. 70f. 62 Diese Leitlinien eines Dialogs gehen auch aus einem Strategiepapier der Leipziger SEDStadtleitung vom 10.10.1989 hervor: »Vorschläge zur Weiterführung der Volksbewegung zur Erfüllung der Aufgaben und zur Volksaussprache zu den die Menschen bewegenden Fragen«. (ABL/ Hefter 15: SED/FDT). 63 Vgl. Gruppe der 20: »Gesprächsthemen zum Gespräch am 16.10.1989«, (Stadtmuseum Dresden, Abt. Schriftgut, Standtort 7/3: Ordner »Gruppe der 20«, Bestand Dieter Brandes, ohne Pag.). 64 Vgl. »Erklärung der Gruppe der 20 in der Stadt Dresden«, o.D., ca. 14.10.1989 (Stadtmuseum Dresden, Abt. Schriftgut, Standort 7/3: Hefter Gruppe der 20/Bestand Dieter Brandes) und die Rede von Frank Neubert vor der Stadtverordnetenversammlung am 26.10.1989, in: Die Union vom 27.10.1989, S. 6.

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Angesichts dieser divergierenden Vorstellungen entwickelte sich in den Dialogen ein Kampf um Öffentlichkeit, der allerorts von der Bewegung gewonnen werden sollte. Die Art und Weise, wie in Dresden, Halle, Plauen und KarlMarx-Stadt gegen den Widerstand der SED und der staatlichen Organe Öffentlichkeit hergestellt wurde, zeigt vor allem zwei Mechanismen, die sich in der weiteren Entwicklung als besonders erfolgreich und wirkungsvoll erwiesen. Beide ließen sich in Dresden beobachten.65 Sehr bewußt hatte die »Gruppe der 20« von Beginn an darauf geachtet, dem Bestreben der SED entgegenzuwirken, den Rathausdialog in der Tradition der Gespräche zwischen Staat und Kirche hinter verschlossenen Türen zu führen. Für die »Gruppe der 20« war die Öffentlichkeit der Gespräche ein Ziel, das einen immens hohen Eigenwert besaß. Da sich die SED weigerte, die Rathausgespräche öffentlich zu führen und die »Gruppe der 20« zunächst keinen Zugang zu den staatlich kontrollierten Medien hatte, konnte die Veröffentlichung der Gesprächsergebnisse nur durch direkte Kommunikation und Bekanntgabe erfolgen. Die Informationsveranstaltungen in den Kirchen waren daher ein integraler Teil des Dresdener Dialogs.66 Die Strategie einer kontinuierlichen Rückkoppelung zwischen den Bürgern und ihren Sprechern etablierte ein Modell, das später überall dort Nachahmer fand, wo die Staatsmacht versuchte, durch Gespräche hinter verschlossenen Türen zu Kompromissen mit den Bürgervertretern zu kommen. Eine andere Einschränkung konnte die »Gruppe der 20« jedoch nicht aus eigener Kraft überwinden. Auch im zweiten Dresdener Rathausgespräch, das am 16. Oktober stattfand, konnte sie sich nicht mit ihrer Forderung durchsetzen, die Informationsveranstaltungen an einem öffentlichen Ort abzuhalten. Abermals war sie auf die großen Stadtkirchen verwiesen, die seitens der Kirchenleitung nur unwillig bereitgestellt wurden, denn, so erklärte Superintendent Christof Ziemer: »Information, die alle angeht, gehört auf öffentliche Plätze.«67 Hier jedoch gab Berghofer zunächst nicht nach, und weder die »Gruppe der 20« noch die Kirchenleitung konnten bzw. wollten diese Forderung einseitig durchsetzen. An diesem Punkt kam ihnen eine Entwicklung zur Hilfe, welche die SED um jeden Preis hatte verhindern wollen. Anläßlich der Gespräche kam es zu Demonstrationen, deren Teilnehmer sich nicht von der Drohung, die Dialoge abzubrechen, beeindrucken ließen. Im Gegenteil: Gerade die ersten Dialoge sollten einen Anlaß bieten, die Forderungen der Bürger65 Zu den Aktivitäten der »Gruppe der 20« vgl. Richter/Sobeslavsky. 66 Auch in Karl-Marx-Stadt wurde dieses Vorgehen gewählt, so daß am 13.10. unmittelbar nach dem Besuch der »Gruppe der 25« im Rathaus Informationsveranstaltungen mit ca. 16.000 Besuchern stattfanden, vgl.: Reum/Geißler, S. 60. 67 Mit diesen Worten eröffnete Ziemer vor 5.000 Besuchern die Informationsveranstaltung am 17.10. in der Kreuzkirche, zit. nach: Clara Coq: »Die unten wollen nicht mehr«, in: die tageszeitung vom 19.10.1989, S. 3.

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Vertreter durch Demonstrationen zu unterstützen und die staatlicherseits nur halbherzig gewährte Öffentlichkeit eigenständig zu erweitern. Wie sich an den Ereignissen in Dresden zeigen läßt, waren Demonstrationen nicht nur der Anlaß zum Dialog, sondern auch der wesentliche Faktor, der seine Ausweitung erzwang. Gemäß den Absprachen zwischen der »Gruppe der 20« und dem Oberbürgermeister sollte das zweite Rathausgespräch abermals unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfinden. Die Informationsveranstaltungen waren sogar erst für den Abend des folgenden Tages angesetzt. Niemand hatte damit gerechnet, daß das Zustandekommen eines Dialogs, das in der Woche zuvor noch als großer Erfolg gewertet worden war, nunmehr hinter den Erwartungen vieler zurückblieb. So konnten die Teilnehmer des Rathausgesprächs beobachten, wie sich vor dem Gebäude eine Menge von zehntausend Menschen versammelte, die lauthals forderte, nicht länger von den Gesprächen ausgeschlossen zu werden: »Wir wollen den Bürgermeister sprechen« wurde skandiert und zur Melodie von »ja, wir san mit'm Radi da« hieß es: »Wo bleibt denn der Dialog?«. Die Demonstranten forderten eine Lautsprecheranlage, um das Gespräch im Rathaus live mitverfolgen zu können, und eine Informationsveranstaltung, die am selben Abend auf dem Rathausplatz stattfinden sollte. Die Intervention war erfolgreich. Da sich die Demonstranten weder von den Vertretern der »Gruppe der 20« noch von Mitarbeitern des Oberbürgermeisters besänftigen ließen, trat Berghofer die Flucht nach vorn an. Die Dialoge abzubrechen kam für ihn nicht in Frage, weil abzusehen war, daß die Demonstrationen in diesem Fall endgültig unkontrollierbar werden würden. Daher trat Berghofer auf den Rathausbalkon und eröffnete den ersten direkten Meinungsaustausch mit der protestierenden Bevölkerung, die seine Beschwichtigungsversuche mit Gelächter, Pfiffen und ungeduldigen Sprechchören quittierte.68 An diesem Abend waren es die Demonstranten, die durch ihre Aktion vor dem Rathaus die Bedingungen des Dialogs im Rathaus definierten. Sie hebelten die staatliche Alternative Dialog oder Demonstration aus, ohne daß die Staatsmacht diese Entwicklung verhindern konnte, da ihr weder Repressionsmöglichkeiten noch überzeugende Argumente zur Verfügung standen. Das hatte gravierende Folgen. Das Wechselspiel aus Dialogen und Demonstrationen erzeugte eine Dynamik, die den Dresdener SED-Chef Hans Modrow am 24. Oktober zu der Erkenntnis zwang, »daß in der DDR ein kleines ›A‹ gesagt wurde und in den nächsten Tagen ein großes ›B‹ folgen müsse.«69 Dieses Eingeständnis verdeutlicht, daß die SED die Kontrolle über die Ent68 Zum 2. Rathausgespräch und der Demonstration vgl. »Ein Schritt weiter«, in: Die Union vom 18.10.1989, S. 2 und »Reformen á la Hager sind uns zu mager«, in: die tageszeitung vom 18.10.1989, S. 3. 69 Hans Modrow in einem Gespräch mit dem Neuen Forum, zit nach: »Spannungen auffangen«, in: Die Union vom 27.10.1989, S. 1.

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wicklung verloren hatte und zu Rückzugsgefechten gezwungen war, und zwar nicht nur in Dresden, sondern in der gesamten DDR, wo sich nach dem 18. Oktober überall dasjenige Grundmuster zeigte, das schon die Ereignisse in Dresden geprägt hatte: Jedes Zugeständnis von Staat und Partei schuf neue Protestanlässe und weitergehende Erwartungen, so daß jede Position, die die SED aufgab, von der Bewegung besetzt und mit neuen Protesten verbunden wurde. In Dresden selbst erreichte diese Entwicklung ihren Höhepunkt am 26. Oktober, als sich Modrow und Berghofer auf dem Platz der sogenannten Cokker-Wiese einer offenen, direkten und vorbehaltlosen Diskussion mit der Bevölkerung stellten. Während die lokalen Spitzen von Staat, SED und Blockparteien auf einem erhöhten Podium Platz nahmen, standen vor ihnen über 100.000 Menschen, die über mehrere auf dem Platz verteilte Mikrophone Rechenschaft von den Verantwortlichen verlangten. Die Fragen aus dem Publikum reichten von der Kritik an der Überalterung der Staats- und Parteispitze bis hin zu lokalen Themen wie der Wohnraumverteilung oder den Privilegien der örtlichen Parteispitze. Im Verlauf der mehrstündigen Veranstaltung kamen Forderungen nach personellen Konsequenzen und baldmöglichsten Neuwahlen ebenso zur Sprache wie freie Reisemöglichkeiten, die Umweltsituation und das Demonstrationsrecht, Wirtschaftsreformen, die Entideologisierung der Volksbildung und vieles mehr. Auf jede neue ausweichende oder unbefriedigende Antwort auf die Fragen folgten neue Vorwürfe, so daß die Veranstaltung zu einer generellen Abrechnung mit dem SED-Regime wurde, dessen Vertreter dem Ansturm von Fragen kaum mehr entgegenzusetzen hatten, als die Versicherung, die Partei werde nunmehr eine Wende einleiten und vorantreiben.70 Die Dresdener Dialogveranstaltung blieb die größte ihrer Art. In keiner anderen Stadt sollte es zu einer offenen Diskussion mit 100.000 Menschen kommen.71 Insofern markierte die Veranstaltung vom 26. Oktober den Höhepunkt des besonderen Verlaufs, den die Bewegung in Dresden nahm. Außergewöhnlich war die Dresdener Entwicklung aber vor allem aufgrund des zeitlichen Vorsprunges vor den anderen Städten der DDR; systematisch gesehen nahm sie deren Entwicklung nur vorweg.

70 Vgl. den ausführlichen Bericht: »Nicht verbale, sondern reale Reformen«, in: Die Union vom 28.729.10.89, S. 2. 71 Die mit 500.000 Teilnehmern wesentlich größere Veranstaltung am 4.11. in Berlin sah keine Beteiligung des Publikums vor.

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3. Vom Argument der Macht zur Macht der Argumente Verdankten Dresden, Karl-Marx-Stadt, Plauen und Halle ihre besondere Entwicklung dem Zusammentreffen von Demonstrationen einerseits und kompromißbereiten Bürgermeistern andererseits, wurden Dialoge durch den Strategiewechsel von Krenz im ganzen Land zur offiziellen Parteilinie. Im Neuen Deutschland widmete sich die eigens eingerichtete Rubrik »Dialog im ganzen Lande« dem Nachweis, daß es der SED mit ihrem Angebot ernst war. Auch in den Bezirkszeitungen der SED nahmen die Gesprächsinitiativen der Funktionäre seit dem 18. Oktober einen breiten Raum ein. Sei es der Dialog der Erfurter Bezirksleitung mit dem Kollektiv der Schweinemästerei in der LPG Tierproduktion Wachsenburg, die Gespräche des Ersten Sekretärs der Bezirksleitung Gera, Herbert Ziegenhahn, im dortigen Fleischkombinat oder der Meinungsaustausch zwischen Heinz Ziegner, dem Ersten Sekretär der Bezirksleitung Schwerin, und den Werktätigen im VEB Spanplattenwerk Malliß - überall signalisierte die SED, daß der von Krenz angekündigte Dialog in Gang kam.72 Allerdings war diese Art von Gesprächen mit der Bevölkerung weit von der Dresdener Entwicklung entfernt; die Dialogoffensive der Partei folgte vielmehr dem Modell, das Krenz in seiner Antrittsrede umrissen hatte. Es ging der SED um die Wiederbelebung der parteiinternen Meinungsbildung und um das Gespräch mit loyalen Kräften. Verfolgt man jedoch die Entwicklung in den drei eben genannten Städten weiter, zeigt sich, daß es keine zwei Wochen dauerte, bis sich die SED gezwungen sah, ihre Vorstellung von einem Dialog grundsätzlich zu revidieren. Noch vor Ende Oktober fanden in Erfurt und Schwerin die ersten Dialogveranstaltungen statt, auf denen sich Vertreter der SED wie schon auf der Dresdener Cocker-Wiese der Bevölkerung stellen mußten, und auch in Gera sahen sich die lokalen Verantwortlichen am 2. November mit 10.000 Bürgern konfrontiert, die ihnen Rechenschaft abverlangten. Erfurt, Schwerin und Gera stehen stellvertretend für eine Entwicklung, die in den letzten Oktoberwochen in allen Städten der DDR anzutreffen war. Die begrenzten Partizipationsmöglichkeiten, welche die SED der Bevölkerung mit dem Dialogangebot einräumte, wurden zu einem Einfallstor, das der Bewegung zunächst auf kommunaler Ebene den Weg in das politische System ebnete. Allerdings ist nicht zu übersehen, daß es - abhängig von den beteiligten Personen und den spezifischen Bedingungen - lokale Ausprägungen im Ablauf und der zeitlichen Abfolge der landesweit zu beobachtenden Entwicklungen gab. Daher sollen im folgenden zunächst die systematischen Rahmenbedin72 Vgl. »Der Dialog ist im Gange«, in: Das Volk (Erfurt) vom 18.10.1989, S. 1; »Aktives Handeln - so lösen wir gemeinsam, was jetzt zu tun ist«, in: Volkswacht (Gera), vom 18.10.1989, S. 3; »Tatkräftig mit anpacken - so lösen wir die Probleme«, in: Schweriner Volkszeitung vom 18.10.1989, S. 1.

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gungen und Faktoren rekapituliert werden, bevor die Analyse auf die inhaltliche Ebene zurückkehrt. Zwei wesentliche Elemente der Entwicklung sind bereits benannt worden. Dazu zählte zum einen der Kurswechsel der SED durch Egon Krenz, der wider Willen die landesweite Demonstrationswelle auslöste und gleichzeitig dem Protest mit der Ankündigung von Dialogen ein neues Aktionsfeld eröffnete. Zum anderen war die Auseinandersetzung geprägt von einer Bewegung, die auf die Herstellung von Öffentlichkeit und auf eine friedliche Umgestaltung der DDR fixiert war und daher das Angebot eines Dialogs annahm. Bislang noch nicht zur Sprache gekommen ist demgegenüber der strukturelle Rahmen, in dem die Interaktion zwischen der Bewegung und den Kontrollinstanzen erfolgte. Sigrid Meuschel hat 1992 in ihrer Arbeit zum »Paradox von Stabilität und Revolution« überzeugend darauf hingewiesen, daß sich sowohl die vierzigjährige Stabilität des SED-Regimes als auch der abrupte Zusammenbruch 1989 maßgeblich auf das Fehlen von intermediären Vermittlungsinstanzen zurückführen lassen. Während in pluralistischen Systemen eine Vielzahl von Verbänden, Organisationen, Gewerkschaften, Parteien und Medien einen dynamischen Interessenaustausch und -ausgleich zwischen der Bevölkerung und den politischen Entscheidungsträgern ermöglichen, fehlte es in der DDR an Instanzen, die diese Funktionen hätten wahrnehmen können.73 Dieses gewollt herbeigeführte Manko, das vierzig Jahre lang die Stabilität des SED-Regimes gewährleistet hatte, war in den letzten Wochen der Ära Honecker ein wesentlicher Faktor der Entstehung der Bürgerbewegung, welche die gesellschaftliche Unzufriedenheit außerhalb der blockierten institutionalisierten Bahnen artikulierte. Mit dem von Krenz eingeleiteten Strategiewechsel war das Problem der fehlenden Vermittlungsinstanzen keineswegs gelöst, es entfaltete nunmehr erst seine eigentliche Sprengkraft. Denn in dem Moment, als Krenz zu erkennen gab, daß er bereit war, zumindest partiell auf die Interessen der Bevölkerungeinzugehen, machte sich das Fehlen von Vermittlungsinstanzen schmerzlich bemerkbar. Ohne ein intermediäres System, das als Puffer zwischen der Bevölkerung und den politischen Institutionen gestanden hätte, waren die Organe von Staat und Partei der Bevölkerung im wahrsten Sinne des Wortes unvermittelt ausgesetzt. Aus dieser Konstellation ergaben sich die vier tragenden Entwicklungen der für die weiteren Ereignisse entscheidenden Zeit zwischen dem 18. Oktober und dem 9. November. Erstens kam es im Rahmen der Dialoge mangels intermediärer Organisationen zu einer unmittelbaren Interaktion zwischen den politischen Kontrollin73 Es hatten sich, so Meuschel (S. 14), »keine hinreichend eigenständigen gesellschaftlichen, politischen oder kulturellen Strukturen herausgebildet, die das Aufbrechen des Antagonismus [zwischen Herrschern und Beherrschten, d. Vf.] hätten kanalisieren und auf denen eine bewußte Transformation hätte aufruhen können.«

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stanzen und der Bewegung, die mit dem vieltausendfachen Ruf »Wir sind das Volk« den Anspruch erhob, die Interessen des Volkes zu vertreten. Die Veranstaltung am 26. Oktober auf der Dresdener Cocker-Wiese, wo 100.000 Bürger in direkten Meinungsaustausch mit den lokalen Spitzen von Staat und Partei traten, zeigt, daß es sich hierbei um eine außergewöhnliche und in der Geschichte sozialer Bewegungen einzigartige Aktionsform handelte. Damit ist bereits ein zweites Charakteristikum der Entwicklung angesprochen: Der Dialog, der ursprünglich ein Angebot von Staat und Partei war, wurde binnen kürzester Zeit in eine Aktionsform der Bürgerbewegung transformiert. Denn in der Hoffnung, die Dialogveranstaltungen als Forum der Agitation nutzen zu können, hatte die SED die Dynamik der Bürgerbewegung bei weitem unterschätzt. Diese transformierte die Veranstaltungen ihrerseits in »von der Bewegung her gesehen nach außen, auf die Beeinflussung von gesellschaftlichen oder politischen Machtträgern gerichtete Aktivitäten«,74 wie die systematische Definition von Aktionen lautet. Damit einher ging ein weiteres, drittes Grundmuster der Entwicklung: Je mehr die SED darauf angewiesen war, auf die Wünsche und Bedürfnisse der Bevölkerung einzugehen, desto dringlicher wurde die Notwendigkeit, Ansprechpartner zu finden, die im Namen der Bevölkerung verhandeln konnten. Mangels etablierter Organisationen, die diese Aufgabe hätten wahrnehmen können, blieb keine Alternative zu den einzig verfügbaren Ansprechpartnern, den oppositionellen Gruppen. Ihre Bedeutung stieg in dem Maße, wie sie nicht nur von der Bevölkerung, sondern nunmehr auch von den Machthabern als Sprecher und Volksvertreter anerkannt wurden. Das vierte und letzte Merkmal war die rasante Geschwindigkeit der Entwicklung, welche die Vertreter der Bewegung in vielen Städten bereits Anfang November in die Stadtparlamente führte, wo ihnen Mitarbeit und Rederecht angeboten wurde. Diese Dynamik war nur in einem System denkbar, in dem ein Marsch durch die Institutionen weder möglich noch nötig war. Das intermediäre Vakuum in der DDR befreite die Bürgerbewegung von dem Problem westlicher Bewegungen, die ihre Interessen nur »durch dieses Vermittlungssystem hindurch«75 in die politischen Entscheidungszentren einbringen können. In der DDR hingegen konnte die Bewegung direkten Druck ausüben und sich einen Zugang zu den politischen Institutionen bahnen. Diese vier Grundmuster bieten einen systematischen Rahmen, der es erlaubt, die Bürgerbewegung als eine landesweite Bewegung zu untersuchen, die primär kommunal agierte. Auch wenn, mit anderen Worten, die jeweils lokalen Entwicklungen spezifische Eigenheiten und zeitliche Verschiebungen aufwiesen, war das Handeln der Akteure in den einzelnen Städten von denselben 74 Raschke, Grundriß, S. 274. 75 Ebd., S. 338.

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strukturellen Handlungsbedingungen und vor allem von den gemeinsamen zivilgesellschaftlichen Orientierungen und Zielen getragen, so daß die lokalen Entwicklungen überall den genannten Tendenzen folgten. Auf dieser Grundlage soll im folgenden versucht werden, der Tatsache gerecht zu werden, »daß es in der damaligen DDR viele ›Revolutionen‹ in Stadt und Land gegeben hat«,76 ohne dadurch den kollektiven Handlungszusammenhang Bürgerbewegung in seine regionalen Bestandteile aufzulösen. 3. i. »Dialog oder Demonstration« - die ersten Angebote der Staatsmacht Der Dreh- und Angelpunkt bei dem Zustandekommen der Dialoge war die Welle von Demonstrationen, die seit dem 18. Oktober eine Stadt nach der anderen ergriff. Mit ihren konkreten Gesprächsangeboten in den jeweiligen Städten reagierten die Verantwortlichen von Staat und Partei jedoch nicht nur auf den Druck der Straße allgemein, sondern auch auf eine Besonderheit, welche die Demonstrationen im Land von den Leipziger Montagsdemonstrationen unterschied. Denn in einer Hinsicht waren die Leipziger Demonstrationszüge unnachahmlich: Die Route um den Innenstadtring war in dieser Form nur in Leipzig möglich, so daß die Demonstrationen in anderen Städten eine Route wählen mußten, die den gegebenen Bedingungen angepaßt war. Darum suchten und fanden die Demonstrationen in den Städten der DDR ein neues Ziel. Fast ohne Ausnahme führten sie zu den Rathäusern, die - zumeist an großen Plätzen in der Innenstadt gelegen - nicht nur geographisch ein naheliegender Anlaufpunkt waren, sondern auch politisch. Während die Bürgermeister und Stadträte bislang nur indirekt mit dem Protest konfrontiert gewesen waren, mußten sie daher beispielsweise in Greifswald (18.10.), in Rostock (am 19. und erneutam21.10.),inMühlhausen (20.10.), Heiligenstadt (23.10.)Jena (25.10.) oder Leinefelde (26.10.) erleben, wie der Protest bis vor ihre Türen getragen wurde und dort in lautstarken Kundgebungen endete.77 Diese direkte Konfrontation schuf eine völlig neue Situation. Niemand hatte bislang etwas Vergleichbares erlebt, und die nur wenige Tage zuvor noch unausweichliche Lösung, die Proteste gewaltsam aufzulösen, stand nicht mehr zur Wahl. Ohne klare Verhaltenslinien und ohne Erfahrungen mit solchen Situationen sahen sich die Ratsherren vor die Frage gestellt, wie sie sich aus einer Lage befreien sollten, die einer Belagerung ähnelte. Aber auch auf der Seite der Demonstranten herrschte Unsicherheit. In Mühlhausen, wo am 22. Oktober 76 Zu dieser Überzeugung kommt Urich (S. 19) anläßlich einer Untersuchung der Ereignisse in Dresden. 77 Vgl. zu Greifswald: Glöckner, S. 25f.; zu Rostock: Schmidtbauer, S. 79ff.; zu Mühlhausen die Beiträge in: Lütke Aldenhövel u.a.; zu Jena: »Friedliche Demonstration durch Innenstadt von Jena«, in: Volkswacht vom 26.10.1989, S. 1; zu Leinefelde: Adler, S. 34.

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eine Informationsveranstaltung über die oppositionellen Gruppen mit dem Ruf »Na dann zum Rathaus« geendet hatte, standen kurze Zeit nach Ende der Veranstaltung über tausend Menschen vor dem Rathaus und warteten auf das, was kommen würde. Besorgt um »die geradezu knisternde Stimmung, die in der Luft lag, und um die Rufe und Pfiffe, die ja signalisierten, nun sagt ihr aus dem Rathaus mal was«,78 reagierte Bürgermeister Klaus Neukirch, indem er sich auf dem Balkon zeigte und einen spontanen Dialog begann. Das zentrale Thema der Auseinandersetzung war die Frage, wann und wo sich der Rat der Stadt zu einer öffentlichen Dialogveranstaltung bereit finden würde. Der Bürgermeister hatte wenig Spielraum: Wenn er die Demonstranten, die inzwischen begannen, auch den Rathaussaal zu besetzen, überzeugen wollte, nach Hause zu gehen, dann nur um den Preis der Ankündigung einer regulären Dialogveranstaltung, die er schließlich auch zugestand. Bereits am Tag darauf wurde auf Initiative des Rates der Stadt eine Gruppe ins Leben gerufen, die eine Dialogveranstaltung in der Mühlhausener Marienkirche vorbereiten sollte. Der Ablauf dieses Abends, der sich in ähnlicher Form in zahlreichen Städten wie Greifswald, Jena, Weimar oder Saalfeld wiederholte,79 machte vor allem eines deutlich: Die Initiative war an die Bewegung übergegangen, die nun ihrerseits die Bedingungen des weiteren Vorgehens diktierte. Demgegenüber gerieten Staat und Partei in die Defensive. Sie mußten auf die Aktionen der Bewegung reagieren und taten dies überall im Rahmen desselben Argumentationsmusters, mit dem sich auch der Jenaer Oberbürgermeister Hans Span am 25. Oktober aus der Situation zu befreien suchte, in der sich sein Mühlhausener Kollege wenige Tage zuvor befunden hatte. Angesichts von fünftausend Demonstranten, die nach dem Friedensgebet in der Michaelis-Kirche in einem Demonstrationszug zum Rathaus gezogen waren, bat Span die Versammelten inständig, »die Probleme nicht auf der Straße zu lösen, sondern im Dialog mit den Verantwortlichen des Rates der Stadt zu klären.«80 Mit solchen Versuchen, die Konflikte von der Straße weg- und in institutionalisierte Bahnen zurückzulenken, reagierte die Staatsmacht nicht nur angesichts einer konkreten Demonstration, sondern oftmals auch schon dann, wenn eine Demonstration nur bevorstand. Kaum zufällig bemühte sich der Stellvertreter des Rostocker Bürgermeisters persönlich in das Friedensgebet am Abend des 19. Oktobers, um die Teilnehmer explizit zu den Dialogveranstaltungen einzuladen, die der Rat der Stadt am folgenden Tag in der Ostsee78 Zum Ablauf dieses Abends vgl. Heidrun Senz: »Die Informationsveranstaltung in der Marienkirche«, in: Lütke Aldenhövel u.a., S. 93-98, Zitate S. 95f. 79 Vgl. etwa Greifswald, wo es am 18.10. zu einer Demonstration kam, die »vor dem Rathaus endete. Dort standen spätabends die Ratsherren vor der Tür und diskutierten mit der Menge. »Wir brauchen ein Forum für viele Gespräche« hieß es. Die Kirchen kamen in Vorschlag. Da bot der Rat der Stadt den großen Eßsaal der Mensa an.« (Glöckner, S. 26). 80 Zit nach »Friedliche Demonstration durch Innenstadt von Jena«, in: Volkswacht vom 26.10.1989, S. 1.

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Zeitung anbot.81 Auch in Weimar fiel das öffentliche Angebot des Oberbürgermeisters, sich »den Weimarer Bürgern und allen sie bewegenden Fragen«82 zu stellen, mit dem Tag der ersten Demonstration am 24. Oktober zusammen. Eklatant war der Zusammenhang schließlich in Erfurt, wo seit Tagen das Gerücht kursierte, daß nach dem Friedensgebet am 24. Oktober die erste große Demonstration stattfinden sollte. Das Gerücht erreichte am 23. Oktober die SED-Stadtleitung, die hastig auf die Nachricht reagierte, »daß von Vertretern des Neuen Forums und des Demokratischen Aufbruchs sehr deutlich gesagt wird, wenn jetzt nicht der breite Dialog in der Stadt Erfurt beginnt, gehen wir am Donnerstag nach den kirchlichen Veranstaltungen auf die Straße.«83 Auf einer kurzfristig einberufenen Sondersitzung am Morgen des 24. Oktobers beschloß die Stadtleitung der SED, noch am Abend des gleichen Tages einen Dialog anzubieten. Nicht zuletzt diese präventiven Angebote erzeugten eine Dynamik, die in kürzester Zeit auch in den Städten zu Dialogangeboten führten, in denen es bislang noch keine Demonstrationen gegeben hatte. Parallel zum Anschwellen der Demonstrationswelle in den Tagen nach dem 18. Oktober, so läßt sich zusammenfassen, kam es in der ganzen DDR zu Dialogveranstaltungen, die binnen kürzester Zeit einen grundlegenden Wandel durchlaufen hatten. Der als Gespräch mit verdienten Kollektiven und SED-loyalen Bürgern gedachte Dialog, den Krenz in seiner Rede am 18. Oktober umrissen hatte, geriet unter dem Druck der Straße zu einem öffentlichen Forum der Diskussion, die der ganzen Bevölkerung offen stand. Aber auch wenn es sich aus der Sicht der SED bei der Ausweitung der Gesprächsangebote um ein Zugeständnis handelte, wollte man der Bewegung nicht kampflos weichen, sondern die Dialogveranstaltungen für die eigene Sache nutzen.84 In diesem Sinne gab Egon Krenz den SED-Bezirks- und Kreisleitungen die Inhalte vor, die sie in den Dialogen vermitteln sollten: Das »Ergebnis der Gespräche muß sein, daß unsere Partei die Initiative behält oder zurückgewinnt. [...] Es muß deutlich werden, daß sich das gesamte Spektrum der demokratischen Einrichtungen der DDR unter Führung der SED im Aufbruch befindet.«85 Deutlicher noch wurde die Bezirksverwaltung des MfS in 81 Vgl. Probst, Norden, S. 45 und »Angebot zum offenen Dialog durch den Rat der Stadt«, in: Ostsee-Zeitung vom 20.10.1989, S. 2. 82 Zit. nach Victor, S. 61. 83 Protokoll der Sondersitzung der SED-Stadtleitung Erfurt am 24.10.1989, zit. nach Schnitzler, S. 93. 84 Vgl. die »offensiven Maßnahmen«, die in einer Politbürovorlage vom 23.10.1989 formuliert wurden: Erich Mielke u.a.: »Vorlage für das Politbüro betreffs Maßnahmen zur Verhinderung der weiteren Formierung und zur Zurückdrängung antisozialistischer Sammlungsbewegungen vom 23.10.1989«, Anlage 2: »Maßnahmen«. (AdsD, Bestand Martin Gutzeit II, Bl. 444ff.). 85 Undatiertes Fernschreiben von Krenz an die 1. Sekretäre der SED-Bezirks- und Kreisleitungen, zit. nach Langer, S. 181 f.

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Erfurt, die den am Dialog beteiligten SED-Funktionären unmißverständlich darlegte, daß es sich bei ihrer Aufgabe um »eine zweckbestimmte, absichtsvolle Kommunikation« handele. Denn das MfS ging davon aus, daß man es bei der Bewegung mit zwei Personengruppen zu tun habe: Der Großteil seien »politisch Schwankende, Irregeleitete und politisch Mißbrauchte«, und auf diese Gruppe müsse sich die Gesprächsführung konzentrieren, um sie von dem harten Kern »verfestigter feindlich-oppositioneller Personenkreise«86 zu isolieren. Das Feindbilddenken der Staats- und Sicherheitsorgane hatte sich daher anders als die politischen Verlautbarungen mit dem Machtantritt von Krenz nicht verändert. Und ähnlich wie schon am 9. Oktober in Leipzig das Denken in den Kategorien der Konterrevolution zum Scheitern der Repressionsstrategie geführt hatte, sollten sich die Maßnahmen zur Wiedergewinnung der politisch Irregeleiteten als ungeeignet erweisen. Die SED überschätzte ihre Überzeugungskraft bei weitem und handelte, ohne sich der Dynamik bewußt zu sein, welche die Bewegung inzwischen gewonnen hatte. Obwohl die Ereignisse in Dresden deutlich gezeigt hatten, daß es kaum möglich war, die Gespräche zu kontrollieren, hatten die Dresdener Vorstellungen weiterhin Bestand: Die Ausgangspositionen, unter denen die Vertreter von Staat und Partei einen Dialog anboten, waren überall von dem Bestreben getragen, die Öffentlichkeit auf ein Minimum zu beschränken, den Demonstrationen den Boden zu entziehen, den Protest zu kanalisieren und die Kritik an grundlegenden Problemen der DDR in sachorientierten Gesprächen auf weniger verfängliche Themen umzuleiten. Die Widersprüchlichkeit der SED-Strategie zeigte sich allerdings schon früh. Während man einerseits alles daran setzte, den oppositionellen Gruppen auf den Veranstaltungen kein Forum zu bieten, so daß die Aktuelle Kamera sogar in ihrem Bericht über den Leipziger Gewandhausdialog am 22. Oktober jede Nennung des Neuen Forums aus den Wortbeiträgen schnitt,87 war man doch andererseits auf die Kooperation der Opposition angewiesen. Dies hatte sich bereits zu einem Zeitpunkt abgezeichnet, bevor die ersten Dialoge überhaupt stattgefunden hatten, denn schon bei den Vorbereitungen der Veranstaltungen konnte man kaum auf die oppositionellen Gruppen verzichten. Denn wen sonst sollten die Vertreter von Staat und Partei ansprechen, wenn sie Kompromisse und Verhandlungen anbieten oder aber Drohungen aussprechen wollten?88 Der weitere Verlauf der oben bereits begonnenen Darstellung der 86 MfS/BVfS Erfurt: »Erfordernisse, Möglichkeiten und geeignete Formen einer gezielten politisch-ideologischen Einflußnahme auf Mitglieder und Sympathisanten politisch-oppositioneller Sammlungsbewegungen« (23.10.1989), zit. nach Schnitzler, S. 94. 87 Vgl. Petra Lux im Namen der Sprechergruppe des Neuen Forums Leipzig: »Dialog - Vereinnahmung und Anhörung-nein!« (26.10.1989), ABL, Hefter 17: Material des Neuen Forums von 8/89 bis 12/89, ohne Pag. 88 Eine naheliegende Alternative für die staatlichen Stellen waren natürlich die Kirchen, die

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Ereignisse in Mühlhausen verdeutlicht die Antwort auf diese Frage: Nachdem der Bürgermeister unter dem Eindruck der Demonstration vor dem Rathaus einen öffentlichen Dialog zugesagt hatte, mußte er sich den Fragen stellen, wie, in welcher Form und mit wem er reden sollte, um den Forderungen gerecht zu werden. Um diese Fragen zu beantworten, kam der Rat der Stadt überein, Vertreter aus der Bevölkerung an den Vorbereitungen zu beteiligen, wobei man vor allem an die Verantwortlichen für die Demonstration vom Vortag dachte.89 Die Suche nach diesen Bürgervertretern gestaltete sich allerdings schwierig, da es niemanden gab, den man kraft seiner Funktion oder seines Amts hätte fragen können. Mangels Alternative wandte sich der mit den Einladungen beauftragte Stadtrat schließlich an Heidrun Senz, die am vorhergehenden Abend das Neue Forum vorgestellt hatte, und bat sie um Mithilfe bei dem Auftrag, »die sogenannten führenden Köpfe‹ zu suchen und ins Rathaus zu bitten.«90 Je mehr man daher in den oppositionellen Gruppen die Organisatoren der Proteste sah, um so bedeutsamer wurden sie für die SED in dem Moment, als sie der Demonstrationen nicht mehr durch Repressionen, sondern durch Kompromisse Herr werden wollte.91 Auf seiten der oppositionellen Gruppen war man sich der Bedeutung, die sich aus den Dialogangeboten ergab, durchaus bewußt: »Täglich flattert«, so Petra Lux vom Neuen Forum Leipzig am 26. Oktober, »ein ganzer Berg von Einladungen auf unseren Tisch, Seminargruppen, Parteigruppen, Massenorganisationen, Wissenschaftler, Universitätssektionen [... ] usw. usf. - alle wollen das Gespräch.« 92 Nur allzu deutlich schienen diese Bitten um Gespräche die gesellschaftliche Notwendigkeit des Neuen Forums unter Beweis zu stellen, die die DDR-Regierung in ihrer Ablehnung des Zulassungsantrages negiert hatte. Die Wandlung vom Feind zu einem gesuchten Gesprächspartner blieb nicht ohne Folgen: Sie bestätigte das Neue Forum in der Selbstwahrnehmung, als staatsunabhängige Diskussionsplattform Träger, Inbegriff und Symbol des jedoch darauf bedacht waren, sich nicht direkt in die Auseinandersetzungen einzumischen. Sie verwiesen die staatlichen Vertreter daher an die oppositionellen Gruppen oder beteiligten diese zumindest an den Gesprächen. Vgl. bspw. die Verhandlungen in Neubrandenburg am 24.10. (Heydenreich, S. 12f.) und in Erfurt am 24.10. (Schnitzler, S. 93). 89 Heidrun Senz berichtet, daß der 1. Sekretär der SED-Stadtleitung in der Überzeugung, »jede Demonstration brauche eine Führungsspitze« darauf beharrte, mit den führenden Köpfen zu reden, vgl. den Beitrag von Heidrun Senz, in: Lütke Aldenhövel u.a., S. 98. 90 Heidrun Senz, ebd., S. 97. 91 Zu ähnlichen Gesprächen zwischen Vertretern von Staat und Partei einerseits und Vertretern des Neuen Forums und anderer oppositionellen Gruppen andererseits kam es in diesen Tagen beispielsweise auch in Parchim, Schwerin, Rostock und Neubrandenburg, vgl. Langer, S. 108ff. 92 Petra Lux im Namen der Sprechergruppe des Neuen Forums Leipzig: »Dialog - Vereinnahmung und Anhörung- nein!« (26.10.1989), ABL, Hefter 17: Material des Neuen Forums von 8/ 89 bis 12/89, ohne Pag.

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notwendigen gesellschaftlichen Dialogs zu sein, denn »überall da, wo Leute über gesellschaftliche Probleme sprechen, ist im Prinzip das Neue Forum.«93 Aus dieser Position heraus nahmen die Gruppen die ersten Anzeichen einer Kompromißbereitschaft der SED zum Anlaß, um neue und weitergehende Forderungen zu erheben. Im Mittelpunkt der Kritik stand dabei die Asymmetrie der Dialoge, die völlig zu Recht als Strategie der Machterhaltung erkannt wurden.94 So sahen sich etwa die Vertreter der Nationalen Front in Magdeburg in ihrer Hoffnung getäuscht, die Proteste durch die Ankündigung von thematischen Gesprächsforen über »Fragen der Entwicklung des Wohngrüns in Magdeburg« oder »Wie hilft Ihnen»mi«[magdeburg Information, d. Vf ] bei der Gestaltung der Freizeit?«95 zu besänftigen. Dem hielt das Neue Forum Magdeburg entgegen, man stehe für Gespräche, die »wie Trostpflasterchen auf kommunale Wunden wirken«,96 nicht zur Verfügung. Das offensichtliche Bedürfnis der SED nach Ansprech- und Dialogpartnern gab den Gruppen die Möglichkeit, nun ihrerseits Bedingungen zu formulieren, die mit der Prämisse verbunden wurden, daß nur ein Dialog zwischen gleichberechtigten Partnern konstruktiv und sinnvoll sei. Dieses Argument ermöglichte es, der Forderung nach Zulassung und Anerkennung des Neuen Forums neuen Nachdruck zu verleihen, denn »der Dialogpartner Bürger muß genau so wie der Dialogpartner SED die Möglichkeit haben, sich zusammenzuschließen. Er muß die Möglichkeit erhalten, durch eigene Vertreter seine Interessen im Staat wahrzunehmen. Das Neue Forum versucht sich dieser Aufgabe zu widmen«, um »in allen Bereichen der Gesellschaft die Mängel schonungslos aufzudecken und die Verantwortlichen beim Namen zu nennen«97 Mit den ersten offiziellen Dialogangeboten sahen sich die oppositionellen Gruppen somit nicht nur in einer neuen Position, sondern verfügten zugleich über eine neue Argumentationslinie, der sich die SED kaum entziehen konnte. Auf der anderen Seite lief die Drohung der SED, die Gespräche abzubrechen, wenn das Neue Forum nicht zur Beendigung der Demonstrationen auf93 »Selbst herausfinden, was Demokratie ist«, Interview mit Lothar Koch, NF Dresden-Nord, in: Union vom 31.10.1989, S. 6. 94 Vgl. Petra Lux im Namen der Sprechergruppe des Neuen Forums Leipzig: »Dialog - Vereinnahmung und Anhörung - nein!« vom 26.10.1989 (ABL, Hefter 17: Material des Neuen Forums von 8/89 bis 12/89, ohne Pag.): Solange die »Bedingungen für einen rechtlich abgesicherten gleichberechtigten Dialog« nicht erfüllt werden, »dient jeder Dialog des Neuen Forum mit der Macht der Erhaltung von Strukturen, die es zu überwinden gilt.« 95 Dialogveranstaltungen zu diesen und weiteren Themen kündigten die Nationale Front und der Rat der Stadt Magdeburg am 18. und 21.10. an, siehe: »Die nächsten Foren«, in: Volksstimme vom 21.10.1989, S. 8. 96 »Egon Krenz -Wende oder Himmlischer Friede«, in: 1. Sonderausgabe Bezirksinfoblatt Magdeburg vom 23.10.1989 (in: Beratergruppe Dom des Gebetes, S. 127). 97 Manuskript der Rede von Jochen Läßig (Neues Forum Leipzig) für die Ansprache nach der Demonstration am 23.10.1989. (ABL, Hefter 17: Material des Neuen Forums von 8/89 bis 12/89, ohne Pag.).

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riefe, ins Leere. Es handelte sich um eine Alternative, die keine war.98 Angesichts der Parallelentwicklung von Demonstrationen und Dialogen wurde die staatliche Alternative des entweder-oder im ganzen Land mit einem klaren sowohl-als-auch beantwortet, und das nicht nur von den oppositionellen Gruppen, sondern auch von den Demonstranten. Sie reagierten auf die ersten Angebote thematischer Dialogveranstaltungen mit neuen Protesten unter dem Slogan »Der Dialog wird zur Phrase, drum geh'n wir weiter auf die Straße«.99 Die Vorstellungen, die Krenz und die SED ursprünglich mit dem Dialogangebot verbunden hatten, waren daher bereits überholt, bevor die ersten Dialogveranstaltungen stattgefunden hatten. Die Auseinandersetzungen und Entwicklungen im Vorfeld der Veranstaltungen hatten die Gewichte bereits so stark zugunsten der Bewegung verschoben, daß es für die Verantwortlichen von Staat und Partei nicht mehr möglich war, auf dem geplanten Dialog in den etablierten Formen und Foren der sozialistischen Demokratie zu bestehen. 3.2. Die Antwort der Bewegung: »Dialog und Demonstration« 3.2.1. Dynamik und Ausweitung des Dialogs Nachdem die Strategie Dialog oder Demonstration schon in den ersten Tagen nach dem 18. Oktober versagt hatte, kam es seit etwa dem 22. Oktober - parallel zur landesweiten Demonstrationswelle - zu einer Vielzahl von Dialogveranstaltungen auf kommunaler Ebene. Die Dynamik, die diese Veranstaltungen entfalten sollten, machte die Hoffnung auf einen kontrollierten Dialog unter der Veranstaltungsregie der SED binnen weniger Tage endgültig obsolet. In Erfurt etwa hatte Oberbürgermeisterin Rosemarie Seibert in Absprache mit der SED-Stadtleitung am 24. Oktober zu einem ersten Dialog im Rathaus eingeladen. Mit einer zu diesem Zeitpunkt noch ungewöhnlichen Geste hatte man Matthias Büchner vom Neuen Forum, Edelbert Richter für den Demokratischen Aufbruch und Kerstin Schön für die Initiative Frauen für Veränderung erlaubt, neben Seibert und den Vertretern der Parteien auf dem Podium Platz zu nehmen. Dieses Zugeständnis wurde jedoch dadurch abgeschwächt, daß man die Anzahl der interessierten Teilnehmer auf hundert Personen beschränkte und sich vehement gegen die Forderung der Oppositionsvertreter wehrte, den Dialog in größere Räumlichkeiten zu verlegen.100 Schon am nächsten Tag, bei der Wiederholung der Veranstaltung, sah sich Seibert jedoch ge98 Vgl. Michael Turek vom Neuen Forum Leipzig: »Wir können die Leute nicht von der Straße schicken, weil wir sie nicht hinschicken«, Interview in: die tageszeitung vom 18.10.1989 S. 8. 99 Slogan auf der ersten Demonstration in Würzen bei Leipzig am 23.10.1989, vgl. Schlegelmilch, S. 135. 100 Vgl. Schnitzler, S. 92ff.

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zwungen, ihr Konzept aufzugeben und ein weiteres Gespräch anzubieten, das in der mit dreitausend Plätzen größten Halle der Umgebung, der Erfurter Thüringenhalle, stattfinden sollte. Was war geschehen? Während die erste Veranstaltung am 24. Oktober noch nicht öffentlich angekündigt worden war, erschien am folgenden Tag ein Bericht in der Erfurter SED -Bezirkszeitung Das Volk, in dem das Gespräch des Vortages resümiert und besonders die Diskussionen über die Kommunalwahlen, die Zulassung der oppositionellen Gruppen und das Demonstrationsrecht als »ziemlich haarig«101 bezeichnet wurden. Darüber hinaus informierte der Bericht darüber, daß die Beteiligten überein gekommen seien, die Veranstaltung am folgenden Tag zu wiederholen, wobei Ort und Termin ausdrücklich genannt wurden. Diesmal also war dem Gespräch eine öffentliche Ankündigung vorausgegangen, so daß sich am Abend mehrere hundert Menschen vor dem Rathaus versammelten, die sich an dem Gespräch beteiligen wollten. Wie schon in Dresden versuchten die Bürger, Einfluß auf die Bedingungen des Dialogs im Rathaus zu nehmen, und erneut war ihr Versuch von Erfolg gekrönt. Denn analog zu der Stimmung auf dem Rathausplatz wurde auch die Stimmung der Funktionäre angesichts der vermeintlichen Bedrohung durch die Demonstration zusehends gespannter, so daß Seibert sich nicht traute, einen Emissär der Menge mit einer abschlägigen Nachricht zu den Demonstranten zurückzuschicken. Statt dessen revidierte sie unter dem Druck der Straße ihren Widerstand gegen eine öffentliche Veranstaltung und stellte die Thüringenhalle als Ort der dritten Veranstaltung am 28. Oktober in Aussicht. Zumeist aber ließen es die verantwortlichen Funktionäre erst gar nicht auf solche Machtproben ankommen und boten von sich aus die Verlegung in größere Hallen an, sobald sich abzeichnete, daß das Platzangebot in den vorgesehenen Räumlichkeiten nicht ausreichte. Wegen eines solchen präventiven Zugeständnisses fanden etwa in Suhl die ›Gespräche im Rathaus‹ von Beginn an in der Stadthalle statt. Auch in Weimar, wo unter dem Eindruck der bevorstehenden Demonstration am 24. Oktober ein Dialog im Kinosaal der Fachhochschule für Staatswissenschaften angeboten worden war, wurde die Veranstaltung kurzfristig in die Weimarhalle verlegt. Dort nahmen am 25. Oktober über zweitausend Menschen an der Veranstaltung teil, während weitere viertausend Bürger die live übertragene Diskussion auf dem Vorplatz verfolgten.102 Infolge dieser Dynamik etablierte sich landesweit ein charakteristischer Typus des Dialogs: Auf der einen Seite ein Podium, auf dem die lokalen Repräsentanten von Staat und Partei, also die Bürgermeister, die Vorsitzenden der Block101 »Der notwendige Dialog ist im Gange«, in: Das Volk vom 25.10.1989, S. 2. 102 Vgl. zu der Veranstaltung am 23.10. in Suhl: »Lernen, miteinander zu reden« in: Freies Wort vom 25.10.1989, S. 6. Zu Weimar vgl. Victor, S. 61ff. und »Im Gespräch mit Bürgern der Stadt Weimar«, in: Das Volk vom 27.10.1989, S. 2.

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parteien und die Ersten Sekretäre der SED-Stadt- oder Bezirksleitungen, Platz nahmen und vor ihnen in den Hallen oder auf den Plätzen die Bevölkerung, die über offene Mikrophone die Gelegenheit hatte, ihren Fragen und Vorwürfen Gehör zu verschaffen. Anders als die SED gehofft hatte, wurden die Veranstaltungen jedoch bald mehr vom Publikum als vom Podium geprägt. Aufweiche Art und Weise ein Angebot des Regimes in eine Aktionsform der Bewegung transformiert wurde, verdeutlichen die Ereignisse in Zwickau. Dort hatte der Kreisausschuß der Nationalen Front am 25. Oktober zu einer Veranstaltung aufgerufen, die nicht als Dialog, sondern als Agitationskundgebung geplant war, auf der die Vertreter der SED und der Blockparteien zur Bevölkerung sprechen sollten. Entgegen den Erwartungen der Veranstalter hatten sich jedoch auf dem Zwickauer Hauptmarkt nicht nur parteitreue Bürger eingefunden, sondern auch kritische, welche die Reden mit Pfiffen, Sprechchören und Buh-Rufen begleiteten. Angesichts des kritischen Echos aus der Menge entglitt den Verantwortlichen zusehends die Veranstaltungsregie und ging ihnen schließlich vollends verloren, als einige Bürger Zugang zum Rathaus und schließlich zum Rednerbalkon fanden, um den Monologen ein Ende zu setzen. Mit Hilfe der Menge, welche die Ansprachen der spontanen Redner mit Beifall unterstützte, wurde die Veranstaltung übernommen und zu einer Volksversammlung gemacht. Die Organisatoren konnten sich noch nicht einmal mehr mit dem Versuch durchsetzen, die Veranstaltung zu beenden, so daß sie tatenlos mit ansehen mußten, wie immer neue Redner ihre Bühne nutzten, um mit der SED-Herrschaft abzurechnen. Schließlich mußte sich der Oberbürgermeister unter dem Beifall der versammelten Menge von einem Vertreter des Neuen Forums noch einen Antrag auf Zulassung überreichen lassen, bevor die Menschen den Platz verließen, um in einem Demonstrationszug durch die Innenstadt zu ziehen.103 Solche Beispiele machen deutlich, wie wenig die SED der Dynamik der Entwicklung entgegenzusetzen hatte. Nicht zuletzt nachdem in Schwerin am 23. Oktober der Versuch der SED, sich mit einer Gegenveranstaltung zu einer Demonstration des Neuen Forums zu behaupten, in einem Fiasko geendet hatte,104 wurde spürbar, daß die Partei nicht mehr Herr der Lage war. Sie hatte in den vorhergehenden Wochen so sehr an Legitimation verloren, daß es ihr nicht mehr gelang, das Vertrauen der Bürger zurückzugewinnen. Statt dessen schuf sich die Bevölkerung in der Bürgerbewegung eine eigene und staatsunab103 Vgl. »Tausende auf Kundgebung im Stadtzentrum von Zwickau«, in: Freie Presse vom 26.10.1989, S. 1/2. 104 Angesichts der bevorstehenden, oppositionellen Demonstration hatte die Schweriner SED zu einer Kundgebung aufgerufen, die zur selben Zeit und am selben Ort stattfinden sollte. Sie mußte so mitansehen, wie ca. 40.000 Schweriner auf einer Demonstration durch die Innenstadt zogen und danach den Platz besetzten. Vgl. die Interviews und Dokumentationen in: Drescher u.a., S.45ff. und!73ff.

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hängige Artikulationsmöglichkeit, unter deren Druck die SED gezwungen war, eine Position nach der anderen zu revidieren. Einen vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklung markierten die Tribunale, zu denen die Dialogveranstaltungen in den letzten Oktobertagen allerorts gerieten. Typisch für diese Entwicklung ist etwa der Dialog in Mühlhausen, dessen Vorgeschichte vorn bereits dargestellt worden ist. Die Veranstaltung am 28. Oktober, die der Bürgermeister eine Woche zuvor in der Hoffnung auf eine Beruhigung der Lage angekündigt hatte, ähnelte in der Sicht der Beteiligten einem »Tribunal. Fast drei Stunden lang wurden Schicksale vorgetragen, Verzweiflung, Zorn und Verbitterung über Erlebtes artikuliert. Es war die Stunde des Bankrotts der Worthülsen, Standardargumente und Schlagworte einer von der Bevölkerung losgelösten Parteiführung, die sich weit von den Realitäten entfernt hatte.«105 Der Umstand, daß die tatsächlichen Lebensbedingungen und Probleme der Menschen erstmals wieder Eingang in den öffentlichen Diskurs fanden, sorgte bei den Teilnehmern für Euphorie: »So etwas haben wir noch nie erlebt, unsere Funktionäre werden ausgelacht und ausgepfiffen. Es kommt uns wie eine Explosion der Gefühle vor, daß jeder ungehindert seinen Frust auf diese Weise erstmals herauslassen kann. Es ist einfach unbeschreiblich«, erinnert sich eine Teilnehmerin der Veranstaltung. »Die Menschen, die nun vor das Mikrophon treten, ihren Namen öffentlich nennen und anklagen, sind wirklich mutig. Die Themen, die angesprochen werden, reichen von Wohnungsmißständen, Städtepartnerschaften und kommunaler Selbstverwaltung über Korruption in Verwaltungen und Betrieben und Diskriminierung der Christen bis zur Forderung nach der Absetzung des TV-Kommentators Karl-Eduard von Schnitzler. Es wird gehörig Dampf abgelassen. Jeder Beitrag wird stürmisch beklatscht ...‹‹106 Diese Beschreibung kann sowohl hinsichtlich der Themen als auch der Stimmung als charakteristisch für die zahllosen Veranstaltungen gelten, auf denen sich die lokalen Vertreter der Machthaber vor der Bevölkerung verantworten mußten. Wie eine Welle gingen die Dialogveranstaltungen durch die Städte und Dörfer der DDR. Allein die Aufzählung der Großveranstaltungen mit oft mehreren Tausend Teilnehmern ergibt eine eindrucksvolle Reihe: am 23. Oktober in Suhl, am 25. Oktober in Greifswald, Neubrandenburg und Weimar, am 26. Oktober in Dresden, Gera, Halle und Görlitz, am 27. Oktober in Ilmenau, am 28. Oktober in Rostock, Plauen, Halberstadt, Erfurt, Mühlhausen und Forst, am 29. Oktober in Berlin, Görlitz, Gotha, Leipzig und Waren, am 30. Oktober in Cottbus, Schwerin und Heiligenstadt, am 31. Oktober in Stadtroda und auch 105 Rolf Luhn: »1989- Thomas Müntzer, St. Marien und viel Hoffnung«, in: Lütke Aldenhövel u.a., S. 118. 106 Sibylle Preuß: Chronologie der Demonstrationen und Friedensgebete, in: ebd. S. 71. Siehe auch den Bericht »Die Verantwortung für die Wende haben wir alle«, in: Das Volk vom 30.10.1989, S. 2. 262 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35925-0

in Kleinstädten wie Lobenstein oder Küllstedt. Während am 1. November in Neubrandenburg bereits die zweite große Dialogveranstaltung stattfand, diesmal mit über 25.000 Teilnehmern, kamen nach wie vor neue Städte dazu, so Schmalkalden und Breitungen am 1. November, Leinefelde am 2. November, Dessau am 3. November und Magdeburg und Gadebusch am 4. November.107 Angesichts der Tatsache, daß parallel zu diesen Ereignissen nach wie vor thematische Dialogveranstaltungen abgehalten wurden - allein in Dresden fanden zeitgleich zur Großveranstaltung auf der Cocker-Wiese am 26. Oktober insgesamt fünfhundert Gesprächsforen zu konkreten Themen statt -, waren die lokalen Entwicklungen des Protests in diesen Wochen vorrangig von Dialogen aller Art bestimmt. Allerorts bot sich nach Jahren der Sprachlosigkeit die Möglichkeit, Vorwürfe und Forderungen direkt an die Verantwortlichen und vor allem an die Öffentlichkeit zu richten. Wenn Christa Wolf wenige Tage später die Befreiung der Sprache als das prägende Moment des Umbruchs bezeichnete, so waren die Dialogveranstaltungen daher einer der wesentlichen Orte dieser Befreiung: »Soviel wie in diesen Wochen«, so Wolf in ihrer Rede auf dem Berliner Alexanderplatz, »ist in unserem Land noch nie geredet worden, miteinander geredet worden, noch nie mit dieser Leidenschaft, mit soviel Zorn und Trauer, aber auch mit soviel Hoffnung. [...] Das nennt sich nun Dialog.«108 War die fehlende Legitimation der SED bereits eine wesentliche Ursache dafür gewesen, daß es überhaupt zu den öffentlichen Tribunalen gekommen war, gewann der Vertrauensverlust der Führung im Zuge der Dialogveranstaltungen nochmals an Geschwindigkeit und Radikalität. Denn mit der wachsenden Euphorie auf der Seite der Fragenden korrespondierte eine zunehmende Hilflosigkeit auf der Seite der Befragten, und in dem Maße, wie die Funktionäre ihre Ohnmacht zu erkennen gaben, nährten sie das Mißtrauen gegenüber ihrer Herrschaftsfähigkeit und ihrer Herrschaftsberechtigung. Besonders fatal wirkte sich dabei die Tatsache aus, daß die lokalen Vertreter von Staat und Partei nicht die Kompetenz hatten, zu den Schlüsselthemen der Gespräche verbindliche Zusagen zu machen, weil die Frage der politischen und wirtschaftlichen Reformen nur auf der zentralen Ebene in Berlin entschieden werden konnte. Fast zwangsläufig wirkten die Antworten zu diesen Themen daher inkompetent, ausweichend und hinhaltend. So konnte Oberbürgermeisterin Seibert am 28. Oktober den über zweitausend Erfurtern in der Thüringenhalle zwar zusagen, die Möglichkeit einer generellen Parkerlaubnis auf dem Erfurter Domplatz zu prüfen, aber als der Vorsitzende des Rates des Bezirks, Arthur Swatek, auf die Preissteigerungen und Subventionen angesprochen wurde, konnte er nur daraufverweisen, daß es sich hierbei um eine »außerordentlich komplizier107 Vgl. neben den bereits zitierten Regionalstudien und Zeitungsartikeln die Protestchroniken in: MDV, Bd. II; Spittmann/Helwig und Neues Forum Leipzig, S. 307ff. 108 Christa Wolf, Rede auf dem Berliner Alexanderplatz am 4.11.1989, in: Hahn u.a., S. 171.

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te Frage« handle, die »im Komplex durchdacht werden« müsse. Im übrigen sei er informiert worden, so Swatek, daß in Berlin an der Lösung des Problems gearbeitet werde. Nicht viel besser erging es auf derselben Veranstaltung Gerhard Müller, dessen Antwort auf die Frage nach der Legitimation der Machtkonzentration in der Person Krenz nicht einer gewissen Komik entbehrte: »Zur Zeitdauer gibt es unterschiedliche Auffassungen. Manche arbeiten erst nach 10 bis 15 Jahren gut. Andere nicht. Darüber kann man weiter diskutieren.«109 Aus dem Mund des amtierenden Ersten Sekretärs der SED-Bezirksleitung und damit des mächtigsten Mannes in Erfurt war diese Antwort kaum dazu angetan, das Vertrauen in den demokratischen Veränderungswillen der SED zu stärken. Allzu deutlich fehlte Müller das Bewußtsein, daß nicht nur Kaderauswahl und Effizienz, sondern auch Wahlen und demokratische Legitimation Kriterien der Personalauswahl sein können. Der rapide Vertrauensverlust der Führung beförderte eine Entwicklung, die den Fortgang der Ereignisse entscheidend prägen sollte: Je mehr sich die Funktionäre von Staat und Partei diskreditierten, um so erfolgreicher konnten sich die oppositionellen Gruppen profilieren. Die im Verlauf der Dialogveranstaltungen immer offensichtlicher werdende Unzulänglichkeit der politischen Strukturen und ihrer Vertreter machte deutlich, wie defizitär das etablierte System des demokratischen Sozialismus war. Diese Erkenntnis gab den Vertretern der oppositionellen Gruppen die Möglichkeit, sich aus dem Publikum heraus als eine Alternative zu den etablierten Volksvertretern darzustellen. So ergriff bereits in der dritten Wortmeldung am offenen Mikrophon des ersten Montagsgespräches im Schweriner Marsstall mit Hartmut Ebel ein Vertreter des Neuen Forums das Wort, um das hochrangig besetzte Podium mit der Feststellung zu konfrontieren, »daß das Podium unvollständig sei«, weil das Neue Forum nach wie vor wegen des angeblich fehlenden gesellschaftlichen Bedarfes unterdrückt werde. Gerade weil auf dem Podium mit den Ersten Sekretären der SED-Bezirks- und Kreisleitungen, dem Vorsitzenden des Rates des Bezirks, den Vorsitzenden der Blockparteien und dem Oberbürgermeister die Spitzenvertreter der lokalen Organe versammelt waren, wirkte diese Feststellung wie eine Provokation, der sich die lokalen Machthaber jedoch nicht entziehen konnten, nachdem zuvor 40.000 Schweriner mit dem Ruf »Neues Forum zulassen« durch die Innenstadt gezogen waren.110 Die offizielle Begründung der Ablehnung wurde damit ebenso fragwürdig wie der Alleinvertretungsanspruch, der durch die auf dem Podium versammelten Vertreter der etablierten Kräfte repräsentiert wurde. 109 Die Äußerungen Müllers und Swateks sind zitiert nach »Über 2.000 Erfurter in demokratischer Aussprache«, in: Das Volk vom 30.10.1989, S. 1/2. 110 »Mehrere Tausend Teilnehmer beim ersten Montagsgespräch im Marsstall«, in: Schweriner Volkszeitung vom 31.10.1989, S. 1/2.

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Das Forum der Dialogveranstaltungen bot den oppositionellen Gruppen zahlreiche Möglichkeiten, sich zu profilieren und die SED-Herrschaft gleichzeitig zu delegitimieren. Mit wieviel Gespür für symbolische Aktionen diese Möglichkeiten genutzt wurden, verdeutlicht eine Episode aus einer Dialogveranstaltung in Rostock. Dort wandte sich Reinhard Haase vom Neuen Forum an den auf dem Podium sitzenden Ersten Sekretär der SED-Bezirksleitung, Ernst Timm, und bat ihn, drei Fragen zu beantworten: Haase: »Wie stehen Sie zur Diktatur des Proletariats?« Timm: »Ja, wie soll man dazu stehen? Bis jetzt... Moment... Ich stehe eigentlich so dazu, wie es schon von Lenin formuliert worden ist (Zwischenrufe: ›Wie denn?‹) Ja, da müßte man jetzt nachlesen. [...]« Haase: »Danke schön. Zweite Frage: Welche politische Strukturveränderung planen Sie, und gehört die Auflösung der Nationalen Front dazu?« Timm: »Bis jetzt nicht. [...]« Haase: »Ist die sozialistische Demokratie des Volkes ein Fortschritt gegenüber der Diktatur des Volkes, gegenüber der Diktatur des Proletariats?« Auch bei dieser letzten Frage konnte Timm nicht glänzen: Timm: »Ich würde sagen, beides kann man nicht gegenüberstellen.«111 Während Timms Antworten in Gelächter untergingen, stieg Haase auf das Podium und entfaltete unter dem Beifall der Versammelten ein Schild »Neues Forum«, mit dem er neben dem Vertreter der LDPD Platz nahm.112 Spontan, eindrücklich und gewaltfrei setzte er damit das Thema der Dialogveranstaltung »Parteienpluralismus und Bürgermitbestimmung« symbolisch in die Tat um. Angesichts solcher Erlebnisse ist es nicht verwunderlich, daß sich Jens Reich unter dem Motto »Oktober, zum Henker!« so vehement gegen die Bezeichnung ›Novemberrevolution‹ wehrte: »Ich will den November nicht schlechtmachen. Aber die große Zeit der Befreiung war wirklich der Oktober!«113 In der Tat waren die letzten beiden Wochen des Oktobers nach der spannungsreichen Phase des Aufbruches die Zeit der entscheidenden Erfolge, mit denen sich die Bürgerbewegung gegen das Regime durchsetzen konnte. 3.2.2. Dynamik und Radikalisierung der Demonstrationen Zu diesen Erfolgen zählten nicht zuletzt die immer zahlreicheren Demonstrationen, welche die SED von Woche zu Woche zwangen, ihre Strategie zu revidieren. Hatte die Staatspartei den ersten Zyklus der Demonstrationen in der Woche nach dem 18. Oktober nur widerwillig geduldet, tolerierte sie die 111 Wortprotokoll des Dialoggespräches »Parteienpluralismus und Bürgermitbestimmung«, Rostock 5.11.1989, zit. nach: Schmidtbauer, S. 93. 112 Vgl. Probst, Norden, S. 45 und Schmidtbauer, S. 93. 113 Reich, S. 171. 265 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35925-0

Aktionen in der letzten Oktoberwoche bereits halboffiziell, bevor seit Anfang November immer mehr Demonstrationen amtlich genehmigt wurden. Der Hintergrund dieser Entwicklung war der zweite Teil der Antwort der Bewegung auf die staatliche Alternative»Demonstrationoder Dialog‹. Parallel zu der Dynamik der Dialogveranstaltungen kam es zu einer rapiden Ausweitung der Demonstrationen, die immer neue Städte ergriffen. Nachdem es in der ersten Woche nach dem 18. Oktober bereits Demonstrationen in Neubrandenburg, Greifswald, Rostock, Zeulenroda, Karl-Marx-Stadt, Mühlhausen, Magdeburg, Schwerin, Stralsund, Zwickau, Weimar, Anklam, Meiningen und Meißen gegeben hatte, reihten sich eine Woche nach dem Machtwechsel Jena und Halberstadt in die Reihe der landesweiten Demonstrationswelle ein. Am Donnerstag den 26. Oktober folgten Parchim, Gera, Wittenberg, Hagenow, Boitzenburg, Teterow und Röbel, am folgenden Tag Görlitz, Gotha, Güstrow, Friedrichroda, Lauchhammer und Saalfeld, am 28. Oktober Greiz und am 29. Oktober Ueckermünde. Während es noch am Montag, dem 30. Oktober, in Cottbus und Pößneck zu den ersten Demonstrationen des Herbstes kam, hatten zahlreiche Städte bereits einen zweiten Demonstrationszyklus erlebt, wobei sich überall die Teilnehmerzahlen vervielfacht hatten. Den Anfang machten Neubrandenburg und Greifswald, wo es bereits am 18. Oktober zu Demonstrationen von fünftausend bzw. tausend Menschen gekommen war. Die zweiten Demonstrationen am 25. Oktober zählten hier bereits 20.000 bzw. 6.000 Teilnehmer. Am folgenden Tag fand die zweite Erfurter Donnerstagsdemonstration statt, die diesmal allerdings 40.000 statt zweihundert Teilnehmer hatte, und auch in Rostock überstieg die Teilnehmerzahl von 25.000 Menschen am 26. Oktober die Demonstration der Vorwoche um mehr als das Doppelte.114 Die zweiten Freitagsdemonstrationen in Mühlhausen und Karl-Marx-Stadt, die zweite Samstagsdemonstration in Rostock, die zweiten Montagsdemonstrationen in Magdeburg und Stralsund, die zweiten Dienstagdemonstrationen in Meißen und Meiningen zeigten alle denselben Trend: Wo einmal eine Demonstration stattgefunden hatte, war der Bann gebrochen, so daß sich immer mehr Menschen zur Teilnahme entschlossen. Im Zentrum dieser Entwicklung stand wiederum Leipzig, wo die Zahl von über 300.000 Teilnehmern am 30. Oktober alle anderen Städte in den Schatten stellte.115 Angesichts dieser Entwicklung blieb der SED, nachdem sie auf die Option der gewaltsamen Unterdrückung verzichtet hatte, wenig anderes, als die Demonstrationen als Tatsache zu akzeptieren. Nachdem sie den politischen Schaden nicht mehr vermeiden konnte, beschränkte sie sich darauf, eine unter 114 Vgl. neben den bereits zitierten Regionalstudien und Zeitungsartikeln die Protestchroniken in: MDV, Bd. II; Spittmann/Helwig; Neues Forum Leipzig, S. 307ff. 115 Zur Leipziger Demonstration vom 30.10.1989 vgl. die Dokumentation in: Neues Forum Leipzig, S. 167ff.

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Umständen gewaltsame Eskalation und Übergriffe auf Gebäude oder Personen der Staats- und Sicherheitsorgane zu vermeiden. Damit befand sie sich in Übereinstimmung mit dem grundlegenden Anliegen der Bewegung, die ihre Ziele um jeden Preis auf gewaltfreie Art und Weise erreichen wollte. Die Interessenübereinstimmung aller Beteiligten führte zu der Institution der Sicherheitspartnerschaften, die zwischen den Vertretern der kommunalen Staatsund Sicherheitsorgane einerseits und den jeweiligen Ansprechpartnern der Bewegung andererseits geschlossen wurden. Die Initiative zu den lokalen Sicherheitspartnerschaften ging zumeist von den staatlichen Behörden aus, die sich an die für sie erreichbaren Sprecher der Bewegung vor Ort wandten, um über den Ablauf und die Route der Demonstrationen zu beraten und das Verhalten der Sicherheitskräfte abzusprechen. Aufgrund des Mißverständnisses der staatlichen Vertreter waren es erneut die oppositionellen Gruppen, die von dieser Konstellation profitierten, weil man in ihnen die Organisatoren oder zumindest die Verantwortlichen für die Demonstrationen sah. Die Notlage des Staates wurde beispielsweise in Parchim deutlich, wo im Friedensgebet am Abend des 25. Oktobers der Vorschlag gemacht und begrüßt wurde, am folgenden Tag erneut zusammenzukommen, um auch in Parchim endlich eine erste Demonstration zu veranstalten. Die staatlichen Stellen reagierten schnell auf die bevorstehende Aktion. Bereits am Morgen des folgenden Tages wurden die Vertreter der Interessengemeinschaft Umgestaltung (IGU)116 zum Rat des Kreises geladen, der mit ihnen über die Modalitäten der Demonstration verhandeln wollte. Anstatt allerdings auf dem Rechtsstandpunkt zu beharren, daß die Demonstration nicht genehmigt sei und deswegen nicht stattfinden dürfe, versuchte der Rat des Kreises das Problem zu lösen, indem er der IGU, die wenig später im Neuen Forum aufgehen sollte, »die volle Verantwortung für Ablauf und evtl. Schäden«117 aufbürdete. Damit hatten sich die Verhältnisse verkehrt, denn mit diesem Schritt hatten die staatlichen Organe auf ihre Verantwortung für die öffentliche Ordnung und Sicherheit verzichtet. Die einzige Möglichkeit, ihrer Aufgabe gerecht zu werden, bestand darin, mit der IGU über die Route und den Ablauf der Demonstration zu verhandeln, um so eventuelle Ausschreitungen zu verhindern.118 Auf Seiten der Bewegung kam man diesen staatlichen Friedensangeboten gerne nach. Die oppositionellen Gruppen und zum Teil eigens gegründete Bürgerkomitees befaßten sich mit der Aufgabe, bereits im Vorfeld mit den staatlichen Stellen zu verhandeln und während der Aktionen durch Handzettel, Aufrufe und persönliche Interven116 Die IGU, die 30 Parchimer am 4.10.1989 gegründet hatten, war eine eigenständige lokale Gruppe, die am 1.11. im Neuen Forum aufging. Vgl. Mrotzek, S. 121ff.; 140ff. 117 »Aktenvermerk des Landessuperintendenten Blanck über das Gespräch von Vertretern der IGU mit Herrn Rühe im Rat des Kreises am 26.10.1989«, zit. nach Mrotzek, S. 135. 118 Vgl. hierzu und zum Ablauf der Demonstration in Parchim am 26.10.1989: Mrotzek, S. 135ff.

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tionen auf die Demonstranten einzuwirken, um sie zur Gewaltlosigkeit anzuhalten.119 Das sichtbare Ergebnis der Sicherheitspartnerschaften war in diesen Tagen, daß die Volkspolizei nicht mehr ausrückte, um die Demonstrationen auseinanderzujagen, sondern um ihnen den Weg durch die Innenstädte freizumachen, indem der Verkehr geregelt und solange aufgehalten wurde, bis die Menschenströme passiert waren.120 Die offiziellen Genehmigungen, welche die Demonstrationen seit Ende Oktober in immer mehr Städten erhielten, waren angesichts dieser Entwicklung nur die konsequente Fortsetzung einer Entwicklung, gegen die sich die SED nicht länger sperren konnte.121 Die Zugeständnisse der SED wirkten sich direkt auf die Demonstrationen aus. Der endgültige Verzicht auf die Kriminalisierung der Protestierenden ließ die Zahl der Teilnehmer erneut steigen. Nachhaltiger noch schlugen sich die Konzessionen in der qualitativen Entwicklung der Demonstranten nieder. Die Tatsache, daß die Demonstrationen nunmehr mit Billigung der Staatsmacht stattfanden, bot den Anlaß, weitergehende Forderungen zu erheben, nachdem mit der faktischen Gewährung des Demonstrationrechts eine erste grundsätzliche Forderung erfüllt worden war. Gegenüber dem ersten Zyklus von Demonstrationen in der Woche nach dem Machtwechsel verschoben sich nunmehr die Schwerpunkte des Protests. So wurde zwar die Forderung nach freien Wahlen aufrecht erhalten, zugleich aber verliehen ihr die Demonstranten eine neue Qualität, indem sie die Forderung nunmehr explizit gegen die bestehenden Herrschaftsstrukturen richteten: »Im Namen des Volkes: Keine Anerkennung der Regierung ohne freie Wahlen«.122 Hatte man, mit anderen Worten, in der Woche zuvor noch Reformen verlangt, welche die SED zur Demokratisierung der DDR einleiten sollte, wurde die Demokratisierung jetzt in der Beendigung der Parteiherrschaft selbst gesehen. Die SED registrierte diesen schleichenden, aber dennoch radikalen Wandel sehr genau: »Im Vergleich zum 23.10.89«, so hieß es in einer SED-internen Auswertung der Leipziger Demonstration vom 30. Oktober, »trugen die Losungen militante Forderungen, die in 119 Vgl. etwa das Unabhängige Bürgerkomitee in Rostock, das nach der ersten Donnerstagsdemonstration aus Vertretern der oppositionellen Gruppen und der Kirche gegründet wurde. Vgl. Schmidtbauer, S. 79 passim. 120 Vgl. zu solchen Kooperation der Volkspolizei die Demonstration am 26.10. in Gera (vgl. »Friedliche Demonstration in der Geraer Innenstadt«, in: Volkswacht, vom 27.10.1989, S. 1/2) oder die Demonstration von 20.000 Menschen in Güstrow am 27.10. (vgl. »Demonstration in Güstrow mit Gespräch im Dom«, in: Schweriner Volkszeitung vom 28./29.10.1989, S. 1). 121 Die erste offiziell genehmigte Demonstration des Herbstes war die am 28.10. in Greiz (vgl. »Friedliche Demonstration in Greiz«, in: Volkswacht vom 30.10.1989, S. 2). In den Tagen danach fanden genehmigte Demonstration in Karl-Marx-Stadt (30.10.), Weimar (31.10.), Ilmenau (1.11.), Erfurt (2.11.), Parchim und nicht zuletzt Berlin (4.11.) statt. 122 Transparent auf der Leipziger Montagsdemonstration vom 30.10.89, in: W. Schneider, S. 74.

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ihrer politischen Tragweite langfristig angelegt sind, so u.a.: ›Wir stellen die Machtfrage‹, Demokratie statt SED-Machtmonopol·«.123 Was provozierte diesen Wandel? Wenn man nicht davon ausgeht, daß die Infragestellung des SED-Machtanspruchs eine zwangsläufige Entwicklung war, ist man darauf verwiesen, die Antwort auf diese Frage in der Zeit und der Perspektive der Bewegung selbst zu suchen. Was also veränderte die Wirklichkeitswahrnehmung binnen kürzester Zeit so grundlegend, daß sich die Forderungen im Verlauf einer Woche verschoben und nunmehr auf die Grundfesten des politischen Systems der DDR abzielten? Nicht nur die zeitliche Parallelität rückt an dieser Stelle erneut die Dialogveranstaltungen, die hier nur aus Darstellungsgründen von den Demonstrationen getrennt untersucht worden sind, in den Mittelpunkt des Interesses. Im Prozeß des Protests ließen sich die Aktionen kaum voneinander trennen: So sehr die Demonstrationen die Entwicklung der Dialogveranstaltungen befördert hatten, so sehr wurden die Demonstrationen ihrerseits von der beginnenden Welle der Dialoge beeinflußt. Ein wesentlicher Faktor der Radikalisierung war das element of surprise, denn mit der Erkenntnis, daß die SED offensichtliche Probleme hatte, sich und ihre Position zu behaupten, ging auf der Seite der Bevölkerung ein wachsendes Bewußtsein der eigenen Stärke einher. Im Prozeß des Protests kam daher eine interne Dynamik zum Tragen, die zu immer selbstbewußteren und weitergehenden Forderungen führte. Verstärkt wurde diese Dynamik durch eine unvorhergesehene Nebenwirkung der Dialoge, in deren Verlauf immer mehr bislang verschwiegene oder geleugnete Probleme an das Licht der Öffentlichkeit kamen. Was man bis dahin über Mißwirtschaft und Privilegien, über Umweltprobleme und Machtmißbrauch nur vermutet hatte, wurde auf den Dialogveranstaltungen bestätigt, wobei die Wahrheit die schlimmsten Befürchtungen oft noch übertraf Das tatsächliche Ausmaß der politischen und wirtschaftlichen Krise in der DDR wurde mit jeder Information greifbarer und bedrohlicher. Hier liegt ein entscheidender Faktor der Radikalisierung, denn die Erkenntnis, wie verfahren die Lage, wie komplex die Probleme und wie unfähig die Verantwortlichen tatsächlich waren, machte viele Teilnehmer der Dialoge »total fertig«, wie Sibylle Preuß in Mühlhausen beobachtete: »Wir haben es zwar immer vermutet, daß einiges nicht mit rechten Dingen zugeht, aber jetzt, als die ganze Tragweite bekannt wird, sind wir einfach nur noch wütend und irgendwie auch einfach nicht mehr kompromißbereit. Jetzt gibt es kein Zurück mehr, wir spüren es, jetzt wird abgerechnet!«124 In das Zentrum der Kritik rückte da123 Bericht von Hackenberg an Egon Krenz: »Information zur Lage am 30.10.1989 im Zusammenhang mit den sogenannten Montagsgebeten und einer Demonstration durch die Leipziger Innenstadt«, Bl. 3. (ABL, Hefter 15: SED/FDJ, ohne Pag.). 124 Sibylle Preuß: »Chronologie der Demonstrationen und Friedensgebete«, in: Lütke Aldenhövel u.a., S. 72.

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mit diejenige Instanz, die für all diese Mißstände verantwortlich gemacht wurde: die SED. Dieser Mechanismus der Zurechnung aller Probleme auf die alleinverantwortliche Partei war der SED bereits während der Ausreisewelle zum Verhängnis geworden. Nun aber, wo sich die Liste der Probleme mit jeder Dialogveranstaltung verlängerte, blieb es nicht bei der bloßen Identifizierung des Verantwortlichen. Je deutlicher sich das Ausmaß der Probleme abzeichnete, desto dringlicher wurde in den Augen der Demonstranten die Überwindung des SED-Machtmonopols. »14 Tage nach der Wende, gebt der Diktatur ein Ende!«, »Zick, zack, Zahn raus, mit der Führungsrolle ist es aus«, »Gegen Wahrheitsmonopol und Führungsanspruch der SED«, »Mit neuen Strukturen wider die alten Figuren«, »Privilegierte aller Länder, beseitigt Euch!«, »Weg mit den Alten, wir woll'n uns selbst verwalten«125 - diese Plakate der Leipziger Montagsdemonstration vom 30. Oktober dokumentieren die neue Qualität, welche die Forderungen im Laufe der zweiten Woche landesweiter Demonstrationen gewonnen hatten. Sie richteten sich nunmehr direkt gegen die SED und stellten ihre Herrschaft grundsätzlich in Frage. Vor dem Hintergrund der eingangs aufgezeigten vier Charakteristika läßt sich daher zusammenfassend festhalten, daß die direkte Interaktion zwischen der Bewegung und den Vertretern von Staat und Partei ungeahnte Möglichkeiten eröffnete, welche die Bewegung innerhalb kürzester Zeit nutzte. Die Dialoge, von den Machthabern angeboten, um den Protest zu besänftigen, wurden transformiert in Foren der Kritik, auf denen sich anstelle der Vertreter von Staat und Partei die oppositionellen Gruppen profilieren konnten. Mehr noch als die Demonstrationen waren die Dialogveranstaltungen durch die direkte Interaktion zwischen Herrschern und Beherrschten ein Ort der Delegitimation der etablierten Ordnung. Zustandegekommen durch den Druck der Demonstrationen wirkten die Dialogveranstaltungen ihrerseits auf die Demonstrationen zurück, deren Ziele sich innerhalb kurzer Zeit von allgemeinen Reformforderungen auf die Infragestellung der SED-Herrschaft zuspitzten. Aber auch wenn sich bis zu diesem Zeitpunkt bereits binnen zweier Wochen atemberaubende Veränderungen vollzogen hatten, hatte die Dynamik ihren Höhepunkt noch nicht erreicht. 3.3. Dialogdemonstrationen Mit dem Beginn der dritten Woche der Demonstrationen am Mittwoch, dem 1. November, hatte sich die Bewegung endgültig gegen alle Beschwichtigungsund Einschüchterungsversuche durchgesetzt. Demonstrationen gehörten nunmehr, wie Günter Schabowski bereits am 29. Oktober auf einer Dialogver125 Transparenttexte der Leipziger Montagsdemonstration vom 30.10., in: W. Schneider, S. 74f.

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anstaltung am Roten Rathaus in Berlin vor 20.000 Menschen erklärt hatte, zur »politischen Kultur«.126 Die normative Kraft des Faktischen, die Schabowski zu dieser Feststellung zwang, wurde in den folgenden Tagen durch eine nochmalige Steigerung der Demonstrations- und Teilnehmerzahlen eindrucksvoll unterstrichen: Die vom MfS registrierten 210 Demonstrationen mit 1,4 Millionen Teilnehmern in den Tagen vom 30. Oktober bis zum 5. November markierten den absoluten Höhepunkt, den die Mobilisierungswelle im Herbst erreichte.127 Auf allen Ebenen verschoben sich die Gewichte zugunsten der Bewegung. Nunmehr waren es nicht mehr die Bürger, die zu Dialogen eingeladen wurden, sondern die Vertreter von Staat und Partei, die zu den Demonstranten kamen, um sich einem Dialog zu stellen. In den lokalen Rhythmen des Protests etablierte sich von nun an die Trias Friedensgebet-Demonstration-Kundgebung. Exemplarisch für viele andere Veranstaltungen war die Erfurter Kundgebung vom 2. November, zu der sich 40.000 Menschen auf dem Domplatz einfanden. Zuvor hatten in vier Kirchen Friedensgebete stattgefunden, an die sich die inzwischen fast schon traditionelle Donnerstagsdemonstration angeschlossen hatte. Kurz vor 19.00 Uhr traf der Demonstrationszug am Domplatz ein, wo er von mehreren Tausend Menschen bereits erwartet wurde. Als mit Kerstin Schön, Sprecherin der lokalen Erfurter Initiative Frauen für Veränderung, eine Vertreterin der Opposition die Abschlußkundgebung eröffnete, war klar, daß an diesem Abend in Erfurt erstmals eine Großkundgebung stattfinden sollte, die nicht von der SED organisiert worden war, sondern von der Opposition. Die Rednerliste spiegelte diese Tatsache wider: Nicht nur, daß überhaupt Vertreter der oppositionellen Gruppen auf dem Podium saßen, sondern auch der Umstand, daß sie vor den Vertretern der etablierten Parteien reden sollten, machte deutlich, daß sich die Verhältnisse geändert hatten.128 In Anwesenheit der SED-Funktionäre nutzten die Vertreter der Opposition in ihren Reden die Gelegenheit zu einer Generalabrechnung mit dem SEDRegime. Den Anfang machte Jürgen Döller vom Demokratischen Aufbruch, der in Erfurt relativ stark vertreten war, weil mit Edelbert Richter einer der Initiatoren der Gruppe aus Erfurt kam. Döller bezog Position: »Insbesondere«, so rief er unter dem Beifall der Versammelten, »ist die Zuordnung der politischen Kräfte frei zu bestimmen, statt die führende Rolle einer Partei von vornherein festzuschreiben.«129 Nachdem auch Vertreter des Neuen Forums 126 Günter Schabowski im »Sonntagsgespäch« am 29.10.1989, zit nach: »Fast fünf Stunden vor dem Roten Rathaus in Berlin: 20.000 im Streitgespräch«, in: ND vom 30.10.1989, S. 3. 127 Vgl. zur Entwicklung der Teilnehmerzahlen die Wochenberichte der ZAIG (RHA: Neues Forum/B1) und die systematische Auswertung von Protestereignissen im Herbst 1989 in Johnson, S. 84ff. Zum »Herbst 1989 in Zahlen« vgl. auch Schwabe. 128 Vgl. zu dieser Veranstaltung die Darstellung von Schnitzler, S. 109ff. 129 Rede Jürgen Döllers am 2.11.1989, zit. nach Schnitzler, S. 111.

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und der Frauen für Veränderung im Namen ihrer Vereinigungen Stellung genommen hatten, kam schließlich die SDP zu Wort, für die Markus Meckel sprach, da es bislang noch keine Erfurter Ortsgruppe der SDP gab. Erst nach den vier Reden der Opposition folgten die Ansprachen von Vertretern der etablierten Parteien, zunächst von der LDPD und CDU, die in ihren Beiträgen nachdrücklich betonten, daß sie mit den Zielen der Bewegung sympathisierten und sich ebenfalls für eine Demokratisierung der DDR einsetzten. Schließlich war es Zeit für eine Stellungnahme der SED, die nicht mehr zu Dialogen einlud, sondern eingeladen wurde. Es sprach die Oberbürgermeisterin Rosemarie Seibert. Sollte sie gehofft haben, die Protestierenden durch ihre Rede besänftigen zu können, erwies sich diese Hoffnung schnell als Illusion. Der Auftritt Seiberts geriet zu einem Fiasko, das die SED-Parteizeitung Das Volk am folgenden Tag der mangelnden politischen Reife der Versammlungsteilnehmer anlastete: »Ein jegliche Fairneß im gemeinsamen Dialog vermissendes Pfeifkonzert empfing die Oberbürgermeisterin der Stadt Erfurt, Rosemarie Seibert, die immer wieder von Buh-Rufen und unsachlichem Geschrei unterbrochen wurde«.130 Kaum etwas dokumentierte die neuen Machtverhältnisse, die in der Öffentlichkeit entstanden waren, besser als die Tatsache, daß die Vertreterin der SED auf eine Intervention der oppositionellen Gruppen angewiesen war: Erst nachdem Kerstin Schön die Versammelten um Verständnis und Ruhe gebeten hatte, konnte Seibert ihre Rede halten. Diese neue Rollenverteilung ließ sich in den folgenden Tagen aufvielen ähnlichen Kundgebungen beobachten: am 4. November in Suhl mit 20.000 Menschen und in Magdeburg mit 35.000 Menschen,131 am Tag darauf in Stralsund mit 10.000 und in Jena mit 40.000 Teilnehmern132 und am Montag, dem 6. November, erneut in Magdeburg, wo sich im Anschluß an Friedensgebet und Demonstration 50.000 Teilnehmer zu einer Abschlußkundgebung auf dem Alten Markt einfanden.133 Diese Zahl wurde am gleichen Tag noch von 60.70.000 Karl-Marx-Städtern übertroffen, die nach der Montagsdemonstration an einer Dialogkundgebung teilnahmen. Wie schon in Erfurt war auch in KarlMarx-Stadt der Platz der oppositionellen Gruppen nicht mehr unter den Bürgern vor dem Podium, sondern zwischen den Vertretern der etablierten Kräfte aufdem Podium. Und wie in Erfurt nutzten sie die von der Stadtverwaltung zur Verfügung gestellte Lautsprecheranlage, um das Demokratiedefizit in der DDR 130 »Zehntausende demonstrieren gestern abend auf dem Dompatz«, in: Das Volk vom 3.11.89, S. 2. 131 Vgl. zu Suhl: »Über 20.000 demonstrieren am Samstag in der Bezirksstadt«, in: Freies Wort vom 6.11.1989, S. 1/2; zu Magdeburg: »Magdeburgs Domplatz wurde zu einem politischen Forum«, in: Volksstimme vom 6.11.1989, S. 1/3. 132 Vgl. zu Stralsund: Langer, S. 160; zu Jena: »Öffentlicher Meinungsstreit für die Politik der Wende«, in: Volkswacht vom 6.11.1989, S. 3. 133 Vgl. »Der 120minütige Disput auf dem Alten Markt«, in: Volksstimme vom 8.11.1989, S. 1.

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anzuprangern und den Machtanspruch der SED zugunsten freier und pluralistischer Wahlen zurückzuweisen. Erst dann kamen die Vertreter von Staat und Partei zu Wort, die auf die Forderungen reagieren mußten. Angesichts der Stimmung auf dem Platz blieb ihnen wenig anderes, als ihre Kompromißbereitschaft zu demonstrieren. Wiederum sahen sich die Vertreter der SED einem gnadenlosen Pfeifkonzert ausgesetzt, vor dem sie von Oppositionsvertretern in Schutz genommen wurden. Diesmal war es mit dem Ersten Sekretär der SED-Bezirksleitung Siegfried Lorenz ein Mitglied des Politbüros, das angesichts der nicht enden wollenden Rufe »Lüge, Lüge«, »Lorenz raus«, »Abtreten« auf den Beistand eines Vertreters des Neuen Forums angewiesen war. Erst nachdem dieser an die Versammelten appelliert hatte: »Hören wir einander zu, was wir zu sagen haben«, konnte Lorenz seine Rede halten, die in einem persönlichen Schuldbekenntnis gipfelte. Zugleich sprach er sich dafür aus, das Neue Forum zu legalisieren und in das politische System mit einzubeziehen.134 Damit wurde auch in Karl-Marx-Stadt signalisiert, daß die vormalige Denkfigur: »Wir brauchen keine Opposition, denn es kann niemand gegen den Sozialismus sein, weil der Sozialismus im Interesse aller ist«,135 ihre Gültigkeit verloren hatte. Die Forderung nach einer formellen Anerkennung der oppositionellen Gruppen wurde nunmehr auch von Vertretern der etablierten Parteien aufgenommen. Die in der SED um sich greifende Erkenntnis, daß das System der sozialistischen Demokratie um Vertreter der oppositionellen Gruppen erweitert werden müßte, bedeutete ein Eingeständnis der Tatsache, daß das etablierte System seinem ideologisch verankerten Führungs- und Alleinvertretungsanspruch nicht mehr gerecht wurde. Da die SED und die Blockparteien offensichtlich nicht in der Lage waren, die Anliegen der Bevölkerung befriedigend zu vertreten, blieb den Herrschenden kaum eine Alternative: Im Interesse der Aufrechterhaltung der staatlichen Stabilität, die in ihrer Sicht durch die außerparlamentarischen Aktionen gefährdet war, akzeptierten sie das Neue Forum als eine neuartige Form der Volksvertretung, die Schritt für Schritt in das politische System integriert werden sollte. Damit verband sich die Hoffnung, die Legitimation der etablierten Institutionen zu stärken bzw. zu retten. Im Mittelpunkt standen dabei die kommunalen Organe, deren Legitimation vor dem Hintergrund der gefälschten Kommunalwahlen im Mai des Jahres besonders prekär war. Hier eröffnete sich eine weitere Ebene, auf der sich die Gewichte Anfang November deutlich zugunsten der Bewegung verschoben: Die oppositionellen Gruppen sahen sich nicht mehr als Bittsteller abgewiesen, sondern als unverzichtbare Kooperationspartner gesucht. 134 Vgl. Reum/Geißler, S. 89 und »Erneut zehntausendfacher Ruf für radikale Veränderungen«, in: Freie Presse vom 7.11.1989, S. 1/2. 135 Schabowski, Politbüro, S. 54.

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Diese Entwicklung wurde nachhaltig durch die Demonstrationen befördert, die sich seit Wochen mit den Rufen »Neues Forum zulassen« für eine Legalisierung der oppositionellen Gruppen stark machten. Die seit Ende Oktober immer lauter werdende Forderung nach der Überwindung der SED-Herrschaft verlieh der Auseinandersetzung um den Status der oppositionellen Gruppen eine zusätzliche Brisanz, die sich in zusehends nachdrücklicheren Forderungen niederschlug.136 Tatsächlich bestand ein enger Zusammenhang zwischen den beiden Entwicklungen, denn wo die Ablösung der alten Kräfte und Personen gefordert wurde, stellte sich zwangsläufig die Frage, welche neuen Kräfte den notwendigen Wandel tragen könnten. Die Antwort lag nahe: »In die Volkskammer, Egon, das muß sein, gehört das Neue Forum rein«. Erneut profitierten die oppositionellen Gruppen daher von dem intermediären Vakuum, das in dem Moment besondere Chancen bot, als die Herrschaft der SED in Frage gestellt wurde. Die Hoffnung, das Neue Forum als Volkskammerfraktion zu sehen, überschätzte die tatsächliche Bedeutung und Leistungsfähigkeit der Gruppe zwar bei weitem, unverkennbar aber zeichnete sich in den Forderungen eine Neubewertung der Gruppen ab: Nachdem sie bislang als Sprecher gegen die SED aufgetreten waren, sollten sie nun als Vertreter des Volkes »Neues Forum ist des Volkes Wille - Egon, schlucke diese Pille«137 -, als politische Repräsentanten tätig werden. Wie in den nächsten Tagen und Wochen immer deutlicher werden sollte, verband sich damit eine neue Definition der Rolle, die den oppositionellen Gruppen zugeschrieben wurde: Nicht mehr die Opposition gegen die SED stand im Vordergrund, sondern die Erwartung, daß die Gruppen innerhalb des politischen Systems Verantwortung übernehmen sollten, um die Überwindung der SED-Herrschaft in einen demokratischen Neuanfang zu überführen. Den Anfang dieser Entwicklung markierte Dresden, wo die »Gruppe der 20« bereits am 26. Oktober mit Rederecht an der Sitzung der Stadtverordnetenversammlung teilnahm. In seiner Ansprache machte der Sprecher der Gruppe deutlich, aus welchem Grund er anwesend war: Die auf den Demonstrationen erhobene Forderung nach Neuwahlen, so Frank Neubert, »betrifft Sie in diesem Hause direkt. Ihr Mandat wird von vielen Bürgern angezweifelt.«138 Als eine unabhängige und direkt von der Bevölkerung legitimierte Bürgervertretung sei die »Gruppe der 20« ein Ausdruck dieses Mißtrauens und erhebe daher den Anspruch, im Namen der Dresdener Bevölkerung im Stadtparlament zu sprechen. 136 »Neues Forum zulassen - seid bereit, notfalls Streik«, »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben - deshalb Neues Forum jetzt«, Transparenttexte der Leipziger Demonstration vom 30.10., in: W. Schneider, S. 74f. 137 Transparenttext der Leipziger Montagsdemonstration vom 30.10., ebd., S. 74. 138 F. Neubert, Rede vor der Dresdener Stadtverordnetenversammlung am 26.10.1989, zit. nach: Union vom 27.10.1989, S. 6.

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Mit der Einladung von Bürgervertretern in die Stadtverordnetenversammlung wurde in Dresden abermals eine Entwicklung vorweggenommen, die kurze Zeit später auch andere Städte prägen sollte - mit einem Unterschied: Der Status als Volksvertreter kam in allen anderen Städten nicht spezifischen lokalen Gruppen zu, sondern den Ortsgruppen der landesweit agierenden oppositionellen Vereinigungen, allen voran den Gruppierungen des Neuen Forums. Abgesehen von dieser Abweichung blieb Dresden nicht lange allein; auch anderswo setzten unabhängige Bürgervertreter zum kurzen Marsch durch die Institutionen an. Bereits am 31. Oktober kündigte der Weimarer Oberbürgermeister Baumgärtel auf einer Dialogveranstaltung eine außerordentliche Sitzung der Stadtverordnetenversammlung an, auf der gemeinsam mit dem Neuen Forum über anstehende Probleme beraten werden sollte. Noch am gleichen Abend nahmen unabhängige Bürgervertreter an den Sitzungen der 13 Ständigen Kommissionen der Weimarer Stadtverordnetenversammlung teil.139 Nachdem Heinz Hahn, der Oberbürgermeister Neubrandenburgs, auf einer Dialogkundgebung am 1. November vor 30.000 Menschen ebenfalls ein entsprechendes Angebot gemacht hatte,140 rief auch der Geraer Oberbürgermeister am 1. November in einem Gespräch mit Vertretern des Neuen Forums zu einer Mitarbeit in den kommunalen Organen auf, sofern »Bürger, die das Neue Forum unterstützen, in Ständigen Kommissionen der Stadtverordnetenversammlung [...] mitarbeiten möchten.«141 Wiederum nur einen Tag später, am 2. November, erhielt auch das Neue Forum Rostock ein Angebot von Oberbürgermeister Schleiff, der die neugewählte Sprechergruppe aufforderte, auf der Stadtverordnetenversammlung am 6. November die Standpunkte des Neuen Forums darzulegen und in verschiedenen Arbeitsgruppen mitzuarbeiten.142 Die Vertreter der oppositionellen Gruppen nutzten ihrerseits die Notlage der kommunalen Organe aus, um die Mitarbeit von bestimmten Bedingungen abhängig zu machen. So stieß etwa der Vorsitzende des Rates des Bezirks Magdeburg mit der Aufforderung, das Neue Forum solle sich an den Stadtverordnetenversammlungen beteiligen, auf Ablehnung. In dem Bewußtsein, daß die staatlichen Institutionen inzwischen auf ihr Engagement angewiesen waren, um sich aus der Legitimationskrise zu befreien, bestanden Erika Drees, HansJochen Tschiche und Heidemarie Wüst im Namen des Neuen Forums darauf, daß zunächst die oppositionellen Gruppen zugelassen und Neuwahlen abgehalten werden müßten, bevor man über eine offizielle Kooperation verhandeln 139 140 141 142 S. 1/5.

Vgl. »Weitere Demonstrationen in Städten der DDR«, in: Freies Wort vom 1.11.1989, S. 2. Vgl. »Weitere Demonstrationen in Städten der DDR«, in: Freies Wort vom 2.11.1989, S. 2. Zit. nach »Im Dialog mit Forum«, in: Volkswacht vom 2.11.1989, S. 8. Vgl. »Weiteres Treffen mit Vertretern Neues Forum«, in: Ostsee-Zeitung vom 3.11.1989,

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könne.143 Auf andere Weise nutzte das Neue Forum Rostock die Möglichkeiten, die sich aus der Legitimationskrise der staatlichen Organe eröffneten. Mit der Mitarbeit in dem durch die Rostocker Stadtverordnetenversammlung am 6. November ins Leben gerufenen Gerechtigkeitsausschuß, der Rechtsverletzungen von Staatsfunktionären untersuchen sollte, wurden zum ersten Mal unabhängige Bürgervertreter an der Kontrolle der staatlichen Machtausübung beteiligt.144 Nur wenige Wochen, wenn nicht Tage nachdem das Neue Forum noch als staatsfeindlich diskriminiert worden war, galt es daher nunmehr als staatstragend. Es wurde auch von selten des etablierten Systems nolens volens als Träger des notwendigen demokratischen Wandels angesehen und damit als Bestandteil des politischen Lebens akzeptiert. Ihren formellen Niederschlag fand diese veränderte Wahrnehmung in der offiziellen Zulassung des Neuen Forums, dessen Anmeldung als politische Vereinigung am 8. November 1989 vom Innenministerium der DDR bestätigt wurde. Mit den ersten offiziellen Kooperationsangeboten der Staatsmacht auf lokaler Ebene begann Anfang November eine Entwicklung, die nur einen Monat später am Zentralen Runden Tisch in Berlin enden sollte. Da sich diese neue Entwicklung jedoch erst im weiteren Verlauf des Novembers voll entfalten sollte, wird sie im folgenden Kapitel ausführlicher untersucht. An dieser Stelle ist zunächst festzuhalten, daß die Mobilisierungswelle, die am 18. Oktober ihren Anfang genommen hatte, in kürzester Zeit zu einer nachhaltigen Liberalisierung des politischen Systems der DDR führte. Die Etablierung von Demonstrationen als Bestandteil der politischen Kultur, die Erosion des Wahrheits- und Machtmonopols der SED und nicht zuletzt die beginnende Integration der Bewegungsorganisationen in die Kommunalparlamente dokumentieren Erfolge, welche die Bewegung dem SED-Regime abgerungen hatte. Aus den ersten Zugeständnissen der SED unter Egon Krenz und den Reaktionen der Bewegung hatte sich in der Systematik des element of surprise binnen dreier Wochen eine Mobilisierungsdynamik entwickelt, die Anfang November ihren Gipfel erreichte. Während sich die Verhandlungen über eine Mitarbeit in den Stadtverordnetenversammlungen noch im Anfangsstadium befanden, strebte die »teutonische Dialogwalze«145 zu diesem Zeitpunkt ihrem Höhepunkt zu. Nachdem die öffentlichen Aktionen Ende September in Leipzig begonnen und sich im Verlauf des Oktobers über das ganze Land ausgebreitet hatten, verlagerten sie sich Anfang November aus der Provinz ins Zentrum: Am 4. November wurde erstmals die Hauptstadt Berlin zum Brennpunkt der Ereignisse. Auf 143 Vgl. »Auf der Suche nach einem gemeinsamen Nenner: Vertreter des Neuen Forums bei Siegfried Grünwald«, in: Volksstimme vom 6.11.1989, S. 3. 144 Zum Rostocker Gerechtigkeitsausschuß siehe Schmidtbauer, S. 103ff. 145 Wolfgang Dore: »Eine halbe Million auf Leipzigs Straßen«, in: die tageszeitung vom 1.11.1989, S. 7.

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dem Alexanderplatz, wo die Sicherheitskräfte exakt vier Wochen zuvor, am 7. Oktober, noch auf Demonstranten eingeprügelt hatten, demonstrierten am Samstag, den 4. November, über 500.000 Menschen. »Der Griff nach dem Attribut des Historischen ist zumeist überzogen«, kommentierte die Süddeutsche Zeitung diese größte Protestkundgebung der deutschen Geschichte: »Hier ist er am Platz, hier ist an ihm gar nicht vorbeizukommen.«146 Die Initiative zu der Demonstration war bereits Mitte Oktober von den Schauspielern und Mitarbeitern der Berliner Theater ausgegangen. Unter dem Eindruck der Übergriffe am Rande der Jubiläumsfeierlichkeiten hatten sie am 15. Oktober beschlossen, ihr Engagement für eine demokratische DDR durch eine Demonstration zu dokumentieren.147 Der zwei Tage später gestellte Antrag auf Genehmigung der Demonstration sorgte bei SED und MfS für einige Aufregung. Nach langen Debatten darüber, ob man die Demonstration verhindern, verbieten oder instrumentalisieren sollte, entschloß man sich am 26. Oktober dazu, die Aktion zu genehmigen, nachdem zwischen den Veranstaltern und der Volkspolizei detaillierte Absprachen über die Route und die Sicherheitsmaßnahmen getroffen worden waren.148 Daraufhin stellten die Organisatoren eine Rednerliste zusammen, die in ihrer Ausgewogenheit dokumentieren sollte, daß der begonnene Wandel in der DDR nur von allen politischen Kräften gemeinsam gestaltet werden konnte. Daher standen am 4. November neben den Vertretern des etablierten Systems, das von Günter Schabowski, Lothar Bisky, Markus Wolf, Manfred Gerlach und Gregor Gysi repräsentiert wurde, auch Jens Reich für das Neue Forum, Konrad Eimer für die SDP, Marianne Birthler für die IFM und Friedrich Schorlemmer für den Demokratischen Aufbruch auf dem Podium. Schauspieler der Berliner Bühnen und die schriftstellerische Prominenz der DDR, Stefan Heym, Christa Wolf, Heiner Müller und Christoph Hein, vervollständigten die Liste der Redner. Als der Demonstrationszug am 4. November nach einem anderthalbstündigen Marsch gegen 11.00 Uhr den Alexanderplatz erreichte, hatte sich das Ende des Zuges noch nicht in Bewegung gesetzt. Es war eine unüberschaubare Menschenmenge, die sich nicht nur aus Berlinern zusammensetzte, wie die überfüllten Fernzüge und die Autokennzeichen aus allen Teilen der DDR zeigten. Auf Tausenden von Transparenten wurden die Slogans, mit denen die Bevölkerung in den letzten Wochen auf die Straße gegangen war, durch Berlin getragen.149 Eine Forderung fehlte allerdings, wie Jens Reich noch fünfJahre später 146 Hermann Rudolph: »Vision eines freien Lebens«, Leitartikel der SZ vom 6.11.1989, S. 3. 147 Walter Süß berichtet, daß die eigentliche Initiative vom Neuen Forum ausgegangen sei, das die Schauspielerin Jutta Wachowiak dazu animiert habe, die Idee einer Demonstration auf einer Versammlung von 800 Berliner Theaterleuten am 15.10. in die Diskussion zu bringen. Vgl. zu den Vorbereitungen Süß, Demonstration und Hahn u.a., S. 217ff. 148 Vgl. die amtliche Anmeldung vom 26.10.1989, in: Hahn u.a., S. 219. 149 Zur Kundgebung am 4.11. vgl. Zwahr, Demonstrationsvergleich, S. 447ff. und die Zusammenstellung der Transparenttexte in Hahn u.a., S. 12-111.

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verwundert feststellte. Die naheliegende Mauer wurde nicht thematisiert; sie lag ebenso wie die Wiedervereinigung noch außerhalb des Horizontes dessen, was man sich vorstellen und gegebenenfalls wünschen konnte.150 Im Mittelpunkt der Veranstaltung stand vielmehr die Demokratisierung der DDR, die symbolisch an den beiden Verfassungsartikeln 27 und 28 festgemacht wurde. Das bedeutete allerdings nicht, daß es sich um eine »parteifromme« Veranstaltung handelte, wie Peter Wensierski und Hartmut Peterson 1995 im Spiegel vermuteten.151 Zwar war es eine Demonstration für zwei Verfassungsartikel, die beide einen Bezug auf die in Artikel 1.1. festgeschriebene Führungsrolle der SED beinhalteten, aber aus dieser Tatsache eine Parteifrömmigkeit abzuleiten hieße, die DDR mit der SED gleichzusetzen. Schon in den einleitenden Worten von Ulrich Mühe, Schauspieler am Deutschen Theater, wurde dieses Mißverständnis ausgeräumt, als Mühe sich im Namen der Veranstalter für die Streichung des Artikels 1.1. aussprach. Nach den Eröffnungsbeiträgen der Berliner Schauspieler begann mit Gregor Gysi die lange Reihe der Reden, die alle von ein und demselben Tenor beherrscht wurden. Alle Redner stimmten aus ihren unterschiedlichen Perspektiven darin überein, daß demokratische Reformen in der DDR notwendig seien. Diese Übereinstimmung war letzten Endes wesentlich wichtiger als der Inhalt der kurzen Statements, die trotz ihrer Kürze von wenigen Minuten die Belastbarkeit des Publikums im Verlauf der dreistündigen Veranstaltung auf die Probe stellten. Aber die Tatsache, daß die öffentliche und vom DDR-Fernsehen live übertragene Kundgebung zeigte, wie die Vertreter der SED immer wieder unterbrochen von Sprechchören und Pfeifkonzerten hilflos und fast mitleidsheischend um Verständnis für ihre neugewonnene Demokratiefähigkeit warben,152 machte die Wirkung der Veranstaltung aus. Auch wenn man sich im Nachhinein über den genauen Zeitpunkt streiten kann, an dem der Umbruchsprozeß unumkehrbar wurde, war aus der Perspektive vieler Beteiligten mit dem 4. November der point of no return erreicht. Die Veranstaltung dokumentierte, daß sich die Machtverhältnisse in der DDR grundlegend verändert hatten. Nunmehr waren es die Herrschenden, die sich »in die Rolle des »Andersdenkenden‹ gedrängt«153 sahen, wie Schabowski seine Eindrücke beschrieb, während die Vertreter der Opposition ihren bislang größten und eindrucksvollsten Erfolg erlebten: »Als ich sah«, so Bärbel Bohley, die in der Nähe von 150 Vgl. die Äußerungen von Jens Reich in: »Wir waren abgedriftet«, in: Der Spiegel vom 7.11.1994, S.40f. 151 Peter Wensierski/Hartmut Peterson: »Pakate von der Stasi«, in: Der Spiegel vom 6.11.95, S. 72-79, Zitat S. 77. 152 Vgl. etwa Günter Schabowski, der das pfeifende Publikum beschor: »Ich will es noch einmal deutlich sagen: Wir sind gewillt, und wir lernen unverdrossen ...«, Text der Rede in: Hahn u.a., S. 156f, Zitat S. 158. 153 Schabowski, Absturz, S. 281. Vgl. auch die Eindrücke von Gerlach, S. 310ff.

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Markus Wolf stand, »daß seine Hände zitterten, weil die Leute gepfiffen haben, da sagte ich zu Jens Reich: So, jetzt können wir gehen. Die Revolution ist gelaufen.«154 Die Ereignisse dieser Tage gaben Bohleys Einschätzung recht. Die Demontage des alten Systems erreichte nach vielen politischen Zugeständnissen nunmehr die personelle Ebene. Mit Margot Honecker, der Verantwortlichen für die Volksbildung, dem langjährigen FDGB-Vorsitzenden Harry Tisch und den Vorsitzenden der Blockparteien CDU und NDPD, Gerald Götting und Heinrich Homann, die alle am 2. November ihre Posten aufgaben, begann eine Rücktrittswelle, die auf den Demonstrationen bereits seit Tagen gefordert worden war. Auf der Ebene der SED-Bezirksleitungen machten Herbert Ziegenhahn in Gera und Hans Albrecht in Suhl am 2. November den Anfang, am Tag darauf folgte ihnen Heinz Ziegner in Schwerin, und wiederum einen Tag später löste Roland Wötzel, einer der Unterzeichner des Leipziger »Aufruf der Sechs« vom 9. Oktober, Horst Schumann als Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung Leipzig ab. Bereits am 3. November hatte die Rücktrittswelle auch die höchsten Organe erreicht: Fünf Politbüromitglieder, unter ihnen Erich Mielke, reichten das Gesuch ein, von ihren Aufgaben entbunden zu werden.155 Am 7. November zog die DDR-Regierung die Konsequenz aus ihrer Verantwortung und trat geschlossen zurück; ein Schritt, den am Tag danach auch das Politbüro zum Auftakt der ZK-Tagung vom 8.- 10. November vollzog. Dem Rücktritt des höchsten Parteigremiums folgte die sofortige Neuwahl eines von 21 auf 11 Vollmitglieder reduzierten Kreises. Die bis zu 66 Gegenstimmen, die einzelne Kandidaten erhielten, wiesen die Veränderungen an der Parteispitze ebenso aus wie das neue Politbüromitglied Hans Modrow, der als exponierter Vertreter eines Reformflügels in der SED galt.156 Auf derselben Sitzung beschloß das ZK ein Aktionsprogramm, das eine umfassende Demokratisierung der DDR umriß, die von den Spuren von 40 Jahren Einparteienherrschaft gereinigt werden sollte. Ein neues Wahlgesetz, das freie, geheime und transparente Wahlen vorsah, die Trennung von Partei und Staat, dessen Organe wieder zu souveränen Machtorganen werden sollten, ein von den Grund- und Menschenrechten ausgehender Rechtsstaat, Meinungs-, Versammlungs-, Vereinigungs- und Pressefreiheit, eine unabhängige Justiz mit einer Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit, Transparenz und parlamentarische Kontrolle der Sicherheitsorgane, die Einführung eines Zivildienstes, die Entideologisierung des Bildungswesens, eine ökologisch orien154 Bärbel Bohley, Diskussionsbeitrag, in: »Wir waren abgedriftet«, in: Der Spiegel vom 7.11.1994, S. 40. 155 Neben Mielke waren dies Herrmann Axen, Kurt Hager, Erich Mückenberger und Alfred Neumann. 156 Vgl. zur 10. Tagung des ZK vom 8.-10.11.89 Hertle/Stephan, S. 62-81.

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tierte Wirtschaftsreform - bis auf die Forderung nach baldigen Neuwahlen gab das ZK der SED allen Forderungen nach, die von der Bewegung erhoben worden waren.157 Zum Beweis, daß es der SED mit ihren Ankündigungen ernst war, wurde noch am 8. November das Vereinigungsrecht in die Tat umgesetzt, indem der Anmeldung des Neuen Forums stattgegeben wurde. Auf den Tag genau drei Wochen, nachdem Krenz angetreten war, um den Protest durch kontrollierte Zugeständnisse zu besänftigen, stand er daher vor den Trümmern der Parteiherrschaft, die er zu retten gehofft hatte. Die Bürgerbewegung hingegen war in den vergangenen drei Wochen von Erfolg zu Erfolg geeilt, und es war nicht abzusehen, wodurch ihre Dynamik noch aufgehalten werden konnte.

157 Vgl. »Schritte zur Erneuerung - Aktionsprogramm der SED«, in: ND vom 11 ./l2.11.1989, S. 1/2.

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VI »Die Geschichte ist offen« - Die Bürgerbewegung zwischen Staat und Gesellschaft 1. Der Fall der Mauer - neue Chancen und Herausforderungen Nachdem die Entwicklung in den vorangegangenen Wochen fast täglich neue und kurz zuvor noch für unmöglich gehaltene Ereignisse produziert hatte, sah sich die Bevölkerung der DDR am 3. November mit einem dejä-vu-Erlebnis konfrontiert. Bilder aus der bundesdeutschen Botschaft in Prag zeigten - wie schon Anfang Oktober - Tausende DDR-Bürger, die das Botschaftsgelände besetzten, um ihre Ausreise in die Bundesrepublik zu erzwingen. Die Bot­ schaftsbesetzer hatten die wenige Tage zuvor erfolgte Wiedereröffnung der Grenzübergänge in die ČSSR genutzt und brachten durch ihre Aktion die Fra­ ge der Reiseregelung wieder auf die politische Tagesordnung der DDR. Unter Zugzwang gesetzt, veröffentlichte die DDR-Regierung am 6. November den Entwurf eines neuen Reisegesetzes, das jedem Bürger Privatreisen in das nicht­ sozialistische Ausland erlaubte. Der Entwurf beschränkte den Umfang der Reisen allerdings auf 30 Tage pro Jahr und deutete darüber hinaus an, daß die Reisenden nicht mit den notwendigen Devisen ausgestattet werden könnten. Die öffentliche Reaktion auf ihren Vorstoß erfuhr die Regierung bereits am selben Tag, als die abendlichen Montagsdemonstrationen den Gesetzentwurf aufnahmen und einhellig ablehnten: »Nur 30 Tage und ohne Moos - Egon laß das Steuer los«.1 Unter dem Eindruck der öffentlichen Proteste und unter dem diplomatischen Druck der ČSSR, die ein Übergreifen der Unruhen auf ihr Land befürchtete, machte sich der Verwaltungsstab der inzwischen zurück­ getretenen DDR-Regierung daran, eine neue Regelung zu finden, die sowohl die Frage der Privatreisen als auch das Problem der ständigen Ausreise lösen sollte. Der neue Text, der am Morgen des 9. Novembers fertiggestellt wurde, gab allen Forderungen nach: Privatreisen wie Übersiedlungen sollten ohne Voraus­ setzungen möglich sein, die entsprechenden Genehmigungen und Visa kurz­ fristig erteilt werden.2 An eine Grenzöffnung war jedoch nicht gedacht. Nach wie vor war eine Genehmigung der Reisen durch die Volkspolizeikreisämter 1 Transparenttext auf der Leipziger Demonstration vom 6.11.1989, in: W. Schneider, S. 90. 2 Vgl. den vom ZK diskutierten Text der Vorlage in Hertte/Stephan, S. 304f.

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(VPKÄ) vorgesehen, um den zu erwartenden Ansturm nicht auf die Grenze, sondern auf die Behörden zu konzentrieren. Darüber hinaus waren Reisen an den Reisepaß gebunden, über den nicht jeder DDR-Bürger verfügte. Damit hoffte man, den Reisestrom zeitlich strecken zu können, da nur die Paßinhaber sofort reisen konnten, während alle anderen zunächst auf ihre Reisedokumente warten mußten. Die Tatsache, daß die VPKÄ am Wochenende nach der Bekanntmachung geschlossen waren, verschob den Beginn des Ansturms ohnehin um einige Tage, und der Umstand, daß die meisten Bürger ihren Jahresurlaub bereits aufgebraucht hatten, gab zu der Hoffnung Anlaß, daß die eigentliche Reisewelle erst zu Beginn des Jahres 1990 einsetzen werde. Geplant, faßt Hans-Hermann Hertle seine Untersuchung zum 9. November zusammen, war »ein dosierter, kontrollierbarer Reiseverkehr«, aus dem die DDR innenwie außenpolitisch Kapital schlagen könnte, ohne die Mauer als »Faustpfand«3 für westdeutsche Kredite und Finanzhilfen aus der Hand zu geben. Der Dreh- und Angelpunkt des Gelingens dieses Planes war eine Sperrfrist, welche die Veröffentlichung der neuen Reiseregelungen auf den Morgen des 10. Novembers terminierte. Bis dahin sollten die nachgeordneten staatlichen Stellen, die örtlichen VPKÄ und die Besatzungen der Grenzübergänge, Gelegenheit haben, sich auf die neuen Regelungen vorzubereiten. Diese Zeit sollte ihnen allerdings nicht bleiben. Die charakteristische Verschränkung von Staat und Partei führte innerhalb des Herrschaftsapparates zu Eigenmächtigkeiten und Blockaden, die noch in derselben Nacht zum Fall der Mauer führten.4 Gegen 16.00 Uhr hatte Krenz am 9. November die Sitzung des ZK unterbrochen, um dem Gremium den neuen Entwurf der geplanten Reiseregelungen bekannt zu geben. Nach einer kurzen Debatte wurde der Text mit marginalen Änderungen beschlossen und hätte eigentlich an den Ministerrat zurückgeleitet werden müssen, da es sich offiziell um eine Vorlage der DDR-Regierung handelte. Die jahrelange Praxis, die Gremien der Partei als eigentliche Regierung zu betrachten, verleitete Krenz jedoch zu einer folgenreichen Eigenmächtigkeit. Da die Vorlage nach der Zustimmung des ZK als beschlossen galt, regte er während der Debatte relativ beiläufig an, den Text »gleich«5 verkünden zu lassen. Damit setzte er sich allerdings nicht nur über die Kompetenzen der DDR-Regierung hinweg, sondern auch über die im Entwurf vorgesehene Sperrfrist. Ohne die staatlichen Stellen zu informieren, die in dem Glauben an die Gültigkeit des Sperrvermerkes gerade erst damit begonnen hatten, sich abzustimmen und die nachgeordneten Stellen zu unterrichten, gab Krenz das 3 Hertle, Mauer, S. 303f. 4 Vgl zu den Motiven und der Entstehung des neuen Reisegesetzentwurfes Hertle, Mauer, S. 138ff., 208ff, auf dessen Rekonstruktion der Ereignisse die folgende Darstellung maßgeblich beruht. 5 So Egon Krenz laut dem Tonbandprotokoll der ZK-Sitzung am 9.11., in: Hertle/Stephan, S. 305.

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Blatt mit dem Entwurf an Schabowski, der es am Abend in der Pressekonferenz des ZK verlesen sollte. Schabowski wiederum war während der entscheidenden Minuten der Beratung über die Vorlage nicht im Saal gewesen, so daß er nicht über die ganze Tragweite des Inhaltes informiert war. Er ging davon aus, daß die Neuregelungen nur die Problematik der »ständigen Ausreisen«, also die Übersiedlungen beträfen, nicht aber die Privatreisen.6 In diesem Glauben eröffnete er um 18.00 Uhr die denkwürdige Pressekonferenz, die sich nahtlos in die Geschichte der kommunikativen Mißverständnisse, unbeabsichtigten Handlungsfolgen und Zufälle einreihte, die schon die Entwicklungen der vorangegangenen Wochen geprägt hatten. Da die auf der Pressekonferenz versammelten Journalisten nicht wußten, daß das ZK an diesem Tage einen radikalen Kurswechsel in der Reisefrage beschlossen hatte, dauerte es fast eine Stunde bis der italienische Korrespondent Riccardo Ehrmann Schabowski kurz vor dem Ende der Veranstaltung nichtsahnend auf die Problematik der Reisen und Ausreisen ansprach. In dem Glauben, nur eine ohnehin schon an die Presse ausgegebene offizielle Mitteilung des Ministerrates bekannt zu geben, las Schabowski nach einigen allgemeinen Ausführungen zum Thema Reisen die am Nachmittag besprochene Vorlage vom Blatt ab: »Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen - Reiseanlässe und Verwandschaftsverhältnisse - beantragt werden.« Er vergaß jedoch, die durch seine Äußerungen ohnehin gegenstandslos gewordene Sperrfrist zu erwähnen. Auf sie war aber das Datum der Gültigkeit bezogen, das Schabowski auf Nachfrage nochmals betonte: »Das tritt nach meiner Kenntnis - ... ist das sofort, unverzüglich.«7 Ohne über weitere Informationen zu verfügen, brach Schabowski die Pressekonferenz kurze Zeit später ab, nachdem er unwissentlich die gesamte Konstruktion der neuen Reiseregelung konterkariert hatte. Statt dessen produzierte er eine Topmeldung, die von den Medien begierig aufgegriffen und zugespitzt wurde: Bereits eine Stunde nach Ende der Pressekonferenz beendete die tagesschau die Unsicherheit über den genauen Inhalt dessen, was Schabowski verkündet hatte. Die Schlagzeile um 20.00 Uhr lautete unmißverständlich: »DDR öffnet Grenze«.8 Bereits zu diesem Zeitpunkt hatten sich die ersten Neugierigen an den innerstädtischen Grenzübergangsstellen Berlins eingefunden. Vor allem zur Bornholmer Straße am dichtbesiedelten Kneipenviertel Prenzlauer Berg kamen nach der tagesschau -Meldung immer mehr Menschen, die sich auf die Fernsehmeldung beriefen und die Öffnung der Schlagbäume verlangten. Die Menge 6 Dementsprechend kündigte Schabowski seine Ausführungen zu den Reiseregelungen mit den Worten an, es sei beschlossen worden, daß man einen Entwurf »in Kraft treten läßt, der [... ] die ständige Ausreise regelt, also das Verlassen der Republik.« Vgl. die Transkription der Pressekonferenz bei Hertle, Mauer, S. 170. 7 So Schabowski auf die Nachfrage »Wann tritt das in Kraft?«, ebd, S. 171. 8 Bildunterschrift der Tagesschau vom 9.11.1989, 20:00.

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zeigte sich besser informiert als die Grenzer, die über den Dienstweg noch nichts von der bevorstehenden Neuregelung gehört hatten, denn sie sollten nach dem ursprünglichen Szenario erst im Laufe der Nacht informiert werden. Mehr noch: Während die Grenzposten ohne jegliche dienstliche Anweisung waren, konnten sich die Demonstranten auf diejenige Autorität berufen, deren Beschlüsse und Verlautbarungen stets mehr Gewicht hatten als jede Regierungsanweisung: auf das ZK, in dessen Namen Schabowski die Öffnung der Grenzen ab sofort verfügt hatte. Noch dazu waren in dem von Schabowski verlesenen Text die Volkspolizeikreisämter nur im Zusammenhang mit den »ständigen Ausreisen« genannt worden. Erst um 22.30 Uhr präzisierte die Aktuelle Kamera, daß auch Privatreisen bei den VPKÄ beantragt werden müßten.9 Dieser Versuch, den Andrang von der Grenze in die Ämter umzuleiten, um zu retten, was zu retten war, kam zu spät. Die Grenzer an der Bornholmer Straße hatten nach Rücksprache mit ihren Vorgesetzten schon um 21.30 Uhr damit begonnen, einzelne Personen unter Vorlage des Personalausweises passieren zu lassen. Anstatt jedoch dem Ansturm ein Ventil zu bieten, verstärkten die ersten Grenzgänger den Drang der Wartenden, so daß eine Stunde später die Schlagbäume an der Bornholmer Straße endgültig für den ersten freien und unkontrollierten Grenzverkehr seit 28 Jahren geöffnet wurden. Bis Mitternacht waren alle Berliner Übergangsstellen diesem Beispiel gefolgt- die Grenze war offen. Angetrieben von den ersten Sondersendungen, die von den Ereignissen an den Grenzübergängen berichteten, erreichte die Entwicklung gegen ein Uhr morgens ihren Höhepunkt am Symbol der deutschen Teilung, dem Brandenburger Tor, wo die Mauer von beiden Seiten der Grenze erobert wurde. Spätestens zu diesem Zeitpunkt, als die Fernsehbilder von der Vereinigung unter dem Brandenburger Tor um die Welt gingen, wurde deutlich, daß die DDR nach dieser Nacht nicht mehr so sein würde, wie sie gewesen war. Die Existenz der DDR als Mauerstaat war beendet. Vor allem die Tatsache, daß die Bevölkerung selbst die Grenzöffnung erzwungen hatte, verurteilte in den folgenden Tagen jede Hoffnung auf einen dosierten und kontrollierten Reiseverkehr zum Scheitern. Zwar gelang es, dem vorgesehenen Genehmigungsverfahren durch die VPKA Geltung zu verschaffen, zu einer Kontrolle über die Reisewelle führte diese Maßnahme jedoch nicht. Die Bilder aus Berlin und von den Grenzübergängen an der innerdeutschen Grenze erzeugten eine Massenhysterie, welche die VPKÄ wie in Leipzig zwang, unter dem Ansturm der Bevölkerung noch in derselben Nacht bereits gegen 2.00 Uhr morgens zu öffnen. Die Behörden in anderen Städten konnten ihren Dienst zwar pünktlich beginnen, mußten jedoch bis in die frühen Morgenstunden des Samstags hinein die geduldig wartende Menschenmenge ab9 Vgl. hierzu und zum folgenden Hertle, Mauer, S. 176ff.

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fertigen.10 Anstatt wie erhofft als erster Puffer des Reisestromes zu dienen, wurde das Wochenende des 11./12. Novembers so zum Datum der ersten deutsch-deutschen Besuchswelle, die Autobahnen wie Reisezüge hoffnungslos überlastete: Bis zum Sonntagmittag wurden 4,3 Millionen Visa erteilt; bis zum 22. November stieg diese Zahl auf 11 Millionen. Innerhalb von zwei Wochen nutzten über zwei Drittel der DDR-Bevölkerung die Gelegenheit zur Reise in den Westen, davon kehrten 19.982 nicht in die DDR zurück, sondern siedelten dauerhaft in die Bundesrepublik über.11 Welche Auswirkungen hatte die Grenzöffnung auf die Bürgerbewegung? Ein Überblick über die Forschungs- und Erinnerungsliteratur zeigt, daß man zwei Geschichten der Bürgerbewegung nach der Maueröffnung schreiben kann: eine Erfolgsgeschichte, die von der Etablierung einer pluralistischen »Herbstgesellschaft«12 über die spektakuläre Auflösung der Staatssicherheit bis hin zur »Doppelherrschaft«13 am Runden Tisch führte, und zum anderen eine Geschichte des Niederganges der Bewegung. Die zweite Perspektive konstatiert eine »organisatorische Zersplitterung«14 der oppositionellen Gruppen, die Anfang Dezember den »taktischen Fehler«15 begingen, auf die Machtübernahme zu verzichten. Statt dessen nahmen sie mit der SED an einem Runden Tisch Platz, der zu einem bloßen »Abwicklungsunternehmen«16 der DDR wurde. Beide Perspektiven lassen sich begründen, sie lassen sich jedoch nicht im Sinne eines entweder-oder vertreten. Vielmehr waren der Erfolg und der Niedergang untrennbar miteinander verwoben. Beide kulminierten jeweils in dem am 7. Dezember einberufenen Zentralen Runden Tisch in Berlin, der sowohl den Höhepunkt wie den Endpunkt der Bürgerbewegung markierte. Die Prozesse und Ereignisse zwischen dem Fall der Mauer und der Einberufung des Runden Tisches waren daher von einer paradoxen Wechselbeziehung zwischen Erfolg und Niedergang geprägt. Rückblickend betrachtet wurde die organisatorische, programmatische und ideelle Struktur der Bewegung mit jedem Erfolg unangepaßter an die Erfordernisse der Zeit, so daß die Bürgerbewegung systematisch die Bedingungen ihrer eigenen Marginalisierung schuf. Expost-Urteile über die Zwangsläufigkeit der Entwicklungen können daher zwar die Zusammenhänge der Ereignisse verdeutlichen, nicht aber ihre Dynamik. Sie erschließt sich nur aus der Zeit selbst, aus der Perspektive der Akteure und aus ihrer Wahrnehmung der Situation, ihrer Chancen und Probleme. Mit an10 Zu Leipzig vgl. W. Schneider, S. 102; zu Mühlhausen, wo das VPKA bis 1.30 Uhr geöffnet hatte, vgl. den Beitrag von Sibylle Preuß in: Lütke Aldenhövel u.a., S. 73. 11 Vgl. die Mitteilungen im ND vom 13.11.1989, S. 1 und vom 23.11.1989, S. 2. 12 Neubert, Geschichte, S. 877. 13 Schulz, S. 25. 14 Meuschel, S. 323. 15 Rucht, Vereinigung, S. 14. 16 ThaysenWoth, S. 1720.

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deren Worten: So zutreffend etwa das verbreitete Urteil der »politischen Naivität«17 der Bürgerbewegung auch sein mag, verkennt diese Einschätzung doch die Tatsache, daß eben die Naivität der Akteure eine treibende Kraft der Entwicklung war, denn »ohne diese Naivität wäre wohl überhaupt nichts bewegt worden. Auf diesem nicht ohne Naivité zu denkenden Begeisterungsüberschwang wurde der Elan des Umbruchs doch erst möglich. Das ist nur zu verstehen aus der jählings aufgeschossenen, aufgewallten, überschießenden Begeisterung eines - wie wir damals glaubten - totalen, radikalen Umbruchs politischer Verhältnisse, der eine neue Lebensmöglichkeit eröffnete.«18 Worin, so lautet daher die übergeordnete Frage des folgenden Kapitels, bestand dieser Traum einer neuen Lebensmöglichkeit und woran zerbrach die überschießende Begeisterung? Inwieweit gelang es der Bewegung, weiterhin Menschen dafür zu mobilisieren, die Utopie einer Zivilgesellschaft zu realisieren? Welche anderen Möglichkeiten ergaben sich, und inwiefern gefährdeten sie die Mobilisierungsdynamik der Bürgerbewegung? Die Möglichkeiten und Grenzen des alternativen Lebenstraumes wurden unmittelbar nach der Maueröffnung in den ambivalenten Reaktionen der Bewegung deutlich. Nur wenige begrüßten den Fall der Mauer mit so ungeteilter Freude wie Wolfgang Ulimann und Konrad Weiß, die als Sprecher von Demokratie Jetzt »mit Genugtuung« feststellten, »daß mit der Öffnung der Mauer ein Zustand beendet worden ist, der das Leben der Deutschen jahrzehntelang traumatisch belastet hat.«19 In der Perspektive des Arbeitskreises Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung, aus dem DJ hervorgegangen war, sahen sie mit dem Mauerfall einen wesentlichen Abgrenzungsmechanismus überwunden und forderten über die Reisefreiheit der Ostdeutschen hinaus die Aufhebung aller Reisebeschränkungen für Westdeutsche. Auch die Demonstranten, von denen sich am 13. November wiederum 200.000 in Leipzig einfanden, sahen keinen Widerspruch zwischen der Nutzung der neugewonnenen Reisefreiheit einerseits und ihrem Engagement für eine Demokratisierung der DDR andererseits: »Gestern in Bayern auf ein Bier, aber heute zur Demo sind wir hier«,20 hieß es dort. Aber bereits in der ersten offiziellen Stellungnahme des Neuen Forums zeigte sich, daß die Freude über den »Festtag«21 der Maueröffnung nicht ungetrübt war. Die Verfasser um Jens Reich und Bärbel Bohley verwiesen auf die Gefahren, die sich aus der Maueröffnung für die DDR ergaben: Das 17 So attestiert Schnitzler (S. 196) den Bürgerkomitees zur Auflösung des MfS »ein hohes Maß legalistischer Naivität«. 18 Wulf Kirsten, Schriftsteller und Mitglied von Demokratie Jetzt; Interview in: Domheim/ Schnitzler, S. 109. 19 »Erklärung von Demokratie Jetzt« (15.11.1989), dok. in: dietageszeitungvom 17.11.1989, S. 4. 20 Transparenttext auf der Leipziger Montagsdemonstration vom 13.11.1989, in: W. Schneider, S. 104. 21 Initiaitvgruppe des Neuen Forums: »Die Mauer ist gefallen« (12.11.1989), in: Michelis, S. 20.

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krasse Wirtschaftsgefälle werde zu Schwarzhandel und Devisenschmuggel führen, der DDR stehe ein Ausverkaufvon Kulturgütern und subventionierten Waren bevor. Obwohl mit der Reisefreiheit eine der zentralen Forderungen der Bewegung erfüllt worden war, hielt sich die Freude über diesen Erfolg daher in Grenzen; Schorlemmer empfahl sogar, die Mauer an den Teilen, wo sie noch geschlossen war, noch bestehen zu lassen.22 Worauf beruhte diese Ambivalenz? In der verbreiteten Wahrnehmung der Grenzöffnung als »Finte«23 der SED zeichnete sich die erste, unmittelbare Befürchtung ab, die sich mit dem 9. November verband: die Angst, daß die aus Sicht der Bewegung noch nicht abgeschlossene Auseinandersetzung mit der SED durch die Maueröffnung zum Erlahmen kommen könnte. In diesem Sinne dichteten die Demonstranten in Halle »Mit Reisefreiheit wollt ihr uns kaufen, aber wir werden unseren Sieg erlaufen«, während der Leipziger Demonstrationsruf »Demokratie ist nicht nur Reisefreiheit«24 daran erinnerte, daß auch nach dem Fall der Mauer noch vieles zu tun war, um die begonnene Demokratisierung der DDR erfolgreich abzuschließen. Allerdings schien die Maueröffnung nicht nur die Auseinandersetzung mit der SED zu gefährden, sondern - wichtiger noch - auch die in den vorangegangenen Wochen geweckten Hoffnungen. Nachdem die DDR-Opposition zehn Jahre lang in kleinen Kreisen von einer gerechten, solidarischen und friedlichen Gesellschaft geträumt hatte, schien dieser Traum im Herbst Wirklichkeit zu werden, hatten die Erfolge der vorangegangenen Wochen doch gezeigt, daß es möglich war, Hunderttausende für ein gewaltloses und demokratisches Engagement zu gewinnen. Die Bürger der DDR hatten sich, so Peter Stosiek vom Neuen Forum Görlitz am 2. Dezember, eigenständig aus der jahrzehntelangen Existenz als »Ratten von Hameln«25 befreit, die dem Rattenfänger Honecker willig gefolgt waren. In den Kategorien Havels hatten sie damit den ersten und wichtigsten Schritt der zivilgesellschaftlichen Veränderungsstrategie vollzogen: Sie hatten sich der undemokratischen Denkund Handlungsmuster entledigt und damit den Schritt aus dem Leben in Lüge in das Leben in Wahrheit getan: »Das Volk hat sich erhoben und ist dabei, sich die wahren Werte des Lebens in der Gesellschaft zu erstreiten.«26 22 »Das Nebeneinander zweier politischer und sozialer Systeme wird noch große Probleme aufwerfen. Daher bin ich dafür, daß die Mauer, dort wo noch keine Durchgänge sind, noch ein bißchen bestehen bleibt«, F. Schorlemmer im Interview mit der tageszeitung vom 14.11.1989, S. 3. 23 So erklärte etwa Rolf Sprink im Informationsblatt Nr. 5 des Neuen Forum Leipzigs: »Um wieder ›Ruhe und Ordnung‹ auf den Straßen der DDR-Städte herzustellen, läßt sie [die SED, d. Vf.] die Bürgerinnen und Bürger auf den Ku-Damm, nach Lübeck, Kassel usw. Das Ziel heißt: Ablenkung«, in: Neues Forum Leipzig, S. 232. 24 Zu Halle vgl. den Lagebericht des AfNS vom 20.11. in: Das Andere Blatt, S. 113; zu Leipzig die Zusammenstellung der Losungen vom 13.11 in: W. Schneider, S. 104. 25 Peter Stosiek, NF/Görlitz, Rede auf der Kundgebung des Neuen Forums am 2.12.1989 in Görlitz, in: M. Schneider, S. 69. 26 »Eine Betrachtung der Wende«, Flugblatt des DA Erfurt, Nov. 1989 (ACDP, DA Thüringen, VI-061-005/3, ohne Pag.), Herv. im Original.

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Diese Wahrnehmung gab Anlaß zu der Hoffnung, nunmehr eine wahrhafte, partizipatorische Demokratie in der DDR aufbauen zu können; eine Chance, um die die Bürgerbewegung nicht zuletzt auch von der bundesdeutschen Linken beneidet wurde.27 Mehr noch, die Krise des Staatsapparates verurteilte die Verantwortlichen zu einer außergewöhnlichen Kompromißbereitschaft, die strukturelle Räume öffnete und neue Formen der politischen Willens- und Entscheidungsfindung in den Bereich des Machbaren rückte. Der Aufbau einer selbstverwalteten und zivilen Gesellschaft schien so nicht nur möglich, sondern auch nötig, um das nach dem Zusammenbruch des SED-Regimes absehbare Vakuum mit einer selbstbestimmten, demokratischen Gesellschaft zu füllen. Mit dem Fall der Mauer drohte dieser Vision allerdings aus zwei Richtungen Gefahr, die beide im Konzept der Zivilgesellschaft angelegt waren. Bereits 1986 hatte Timothy Garton Ash auf zwei systematische Schwächen der osteuropäischen Ansätze einer zivilen Gesellschaft hingewiesen. Aufgrund ihres idealistischen Menschenbildes vernachlässigten sie zwei Aspekte sträflich, obwohl deren Existenz, Bedeutung und historische Wirkungsmächtigkeit außer Frage standen: den Materialismus und den Nationalismus.28 Wie zum Nachweis der Berechtigung dieser Kritik entzündete sich die Auseinandersetzung der Bewegung mit der Entwicklung nach dem Mauerfall exakt an diesen beiden wunden Punkten. Während in den vorangegangenen Wochen das zivilgesellschaftliche Idealbild des Menschen Konturen anzunehmen schien, paßten die durch den West-Besuch angestachelten Konsumwünsche und -erwartungen vieler Bürger nicht in das Bild des Menschen als ein soziales Wesen »frei für die eigene Entscheidung, frei von Angst, frei von materieller Not, aber auch frei von Besitzgier«.29 Der Konsumrausch traf daher in weiten Teilen der Bewegung auf Unverständnis: »Ihr seid die Helden einer politischen Revolution«, beschwor das Neue Forum die Bevölkerung in seiner Stellungnahme zur Maueröffnung, »laßt Euch jetzt nicht ruhigstellen durch Reisen und schuldenerhöhende Konsumspritzen.«30 Das Schwarz-Weiß-Schema Demokratie oder Bananen, das diesem Appell zugrunde lag, war nicht nur innerhalb der oppositionellen Gruppen anzutreffen. Auch die Demonstranten, die in den Tagen nach dem 9. November vielerorts an den Warteschlangen vorbeizogen,

27 Vgl. etwa K. Hartung: »Demokratie DDR«, in: die tageszeitung vom 9.12.1989, S. 8: »Der Begriff der Demokratie hat in der DDR eine Leuchtkraft und inhaltliche Füllung, wie er sie in der Bundesrepublik nie gehabt hat. ...« 28 Vgl. Garton Ash, S.217ff. 29 Konrad Weiß: »Ich habe keinen Tag in diesem Land umsonst gelebt«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 35 (1990), S. 555-558, Zitat S. 557, Herv. d.Vf. 30 Initiativgruppe des Neuen Forums: »Die Mauer ist gefallen« (12.11.1989), in: Michelis, S.20.

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die sich vor den Genehmigungsstellen für Westreisen bildeten, machten ihrem Unmut über die Reisenden Luft.31 Seinen deutlichsten Ausdruck fand der Gegensatz von Idealismus und Materialismus schließlich in der Angst um die Würde der DDR-Bürger, die angesichts der Szenen aus den westdeutschen Kaufhäusern mitunter als »Sklaven« und »Menschen ohne Würde« 32 bezeichnet wurden; eine Denkfigur, die ebenfalls von vielen Demonstranten geteilt und in zahlreichen Demonstrationsslogans aufgegriffen wurde.33 Verhinderte das Unverständnis über den Materialismus der Bürger eine konstruktive Auseinandersetzung mit der virulenten Konsumthematik, berührte die Angst vor einem unter Umständen aufkeimenden Nationalismus ein lange gehütetes Tabu: die deutsche Einheit. Ohne Ausnahme waren alle Ansätze, welche die DDR-Opposition in den achtziger Jahren zur deutschen Teilung entwickelt hatte, von dem Bewußtsein der schuldhaften deutschen Vergangenheit geprägt, so daß die deutsche Teilung als Folge und Sühne für die Verbrechen des Dritten Reiches der Diskussion weitgehend enthoben war.34 Sowohl bei den Aktivisten als auch bei den Demonstranten beschworen offene Bekenntnisse zur deutschen Einheit das Gespenst eines »Vierten Reiches«35 herauf. Paradoxerweise tauchte das Gespenst eines gesamtdeutschen Nationalstaates darüber hinaus genau in dem Moment auf, als eine eigene DDRIdentität Konturen zu gewinnen schien. Nicht nur für Wolfgang Ullmann war Anfang November der Moment gekommen, in dem das »Staatsvolk der DDR auf einmal Wirklichkeit wurde, indem jene Million um den Alexanderplatz herum sagte: Wir sind das Volk.« In dem demokratischen Aufbruch der letzten Wochen schien eine selbstbewußte Gesellschaft der DDR Gestalt anzunehmen, die Ullmann nach den Erfahrungen der vorangegangenen Wochen zu der Überzeugung führte, daß sich die Bürger der DDR als resistent gegenüber den westlichen Verlockungen erweisen würden: »Ich hätte das früher unserer Bevölkerung auch nicht zugetraut«, fuhr er fort, »aber nach den Erfahrungen des 31 »Uns geht es doch nicht um Bananen, sondern um Demokratie, die wir wollen«, so zitiert die tageszeitung vom 16.11.1989, S. 4 die Äußerung einer Demonstrantin in Borna am 12.11. zu den Wartenden vor dem VPKA. 32 So Dompredigerin W. Zachuber in ihrer Predigt im Magdeburger Friedensgebet am 13.11.. Sie fuhr fort: »Menschen aus unserem Land betteln Bundesbürger an, stehlen in westlichen Kaufhäusern, schaffen Geld und Waren dorthin, um alles in harte Währung umzusetzen. Menschen ohne Rückgrat. Sklaven«, in: Beratergruppe Dom des Gebetes, S. 195. 33 Vgl. »Gegen Reisepanik - behaltet Eure Würde« oder: »Je mehr wir haben, um so weniger werden wir Menschen sein«, Transparenttexte der Leipziger Demonstrationen vom 20./ 27.11.1989, in: W. Schneider, S. 118; 128. 34 Zu den Schwierigkeiten der Opposition mit der deutschen Frage siehe Neubert, Geschichte, S. 558ff. 35 »Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch! Wiedervereinigung? Wir wollen kein Viertes Reich!«, Transparent der Leipziger Montagsdemonstration vom 4.12.1989, in: W. Schneider, S. 141.

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Oktober und November bin ich da viel optimistischer«,36 stellte er noch am 17. November fest. Um so mehr, da sich diese Überzeugung im November als krasses Fehlurteil erweisen sollte, ist Ullmanns Aussage geeignet, den Erwartungshorizont der Bewegung zu verdeutlichen. Die ungeahnte Mobilisierungsdynamik, aber auch die Erfolge in der Auseinandersetzung mit dem SED-Regime übertrafen alle Hoffnungen einer gesellschaftlichen Veränderung, so daß in der Euphorie Anfang November die Möglichkeit greifbar schien, die Utopie einer zivilen Gesellschaft Wirklichkeit werden zu lassen. Vor dem Hintergrund dieser Hoffrfung werden nicht nur die zum Teil überzogenen Reaktionen auf den Fall der Mauer verständlich, sondern auch die weitere Entwicklung, die von dem Versuch der Bewegung getragen war, die historische Chance zu nutzen und die Bevölkerung der DDR zu einer wahrhaft demokratischen Gesellschaft zu formen. Auf dieser Grundlage agierte die Bewegung weiterhin als ein Aktionsbündnis aus organisierten und mobilisierten Teilen, das in den vorangegangenen Wochen, in den Worten Bischof Leichs, eine »neue Identität aus erlebter Volksbewegung«37 gewonnen hatte. Auch wenn daher der 9. November retrospektiv als der Moment der Wende in der ›Wende‹ erscheint, führte die Öffnung der Mauer weder unmittelbar noch zwangsläufig zur Marginalisierung und Auflösung der Bewegung. Vielmehr agierte sie weiterhin als ein kollektiver Akteur, dessen Teile jeweils auf ihre Art versuchten, durch Stellungnahmen, Aufrufe, Demonstrationen und Kundgebungen die SED-Herrschaft endgültig zu brechen und eine neue, bessere Gesellschaft aufzubauen. Erst in dieser Perspektive wird die Dynamik der weiteren Entwicklung deutlich, die so zwangsläufig sie auch scheinen mag - nicht von Strukturen determiniert, sondern von Akteuren gemacht wurde. Im Unterschied zu den vorangegangenen Wochen, in denen die Bewegung von einem Erfolg zum nächsten geeilt war und die politische Landschaft gleichsam konkurrenzlos beherrscht hatte, führte die demokratische Liberalisierung in der DDR dazu, daß neue Akteure die politische Bühne betraten. Der demokratische Ausbruch aus dem SED-Regime, den die Bürgerbewegung initiiert hatte, erzeugte in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen eine Aufbruchsstimmung, die eine immense Eigendynamik entfaltete. Von der Basis der SED über die neu entstehende Öffentlichkeit bis hin zu den Regierungen der Bundesrepublik und der DDR schalteten sich neue Akteure in den Umbruchsprozeß ein, der nicht länger allein von der Bewegung und ihren Aktionen dominiert wurde. Beginnend mit dem Mauerfall sah sie sich zusehends gezwungen, auf externe Entwicklungen und Ereignisse reagieren zu müssen. 36 Wolfgang Ulimann (DJ) im Interview mit der tageszeitunv vom 18.11.1989, S. 9. 37 So Bischof Werner Leich auf der Tagung der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR am 10./11.11.1989 in Berlin, zit. nach Bester, S. 455.

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2. Der November '89: Eine zivile Gesellschaft ziviler Bürger Da die bewegungsinternen und -externen Probleme, die eben im Rahmen der Geschichte des Niederganges der Bewegung bereits angedeutet worden sind, erst gegen Ende November kulminierten, steht im folgenden zunächst die Zeit im Vordergrund, in der die deutsche Einheit weder für die Bewegung noch für die Bevölkerung der DDR das Thema Nr. 1 war. Den Vorrang hatte im November die Demokratisierung der DDR, die nach dem Mauerfall außerordentlich erfolgreich vorangetrieben wurde. Dabei bedingten sich zwei Prozesse wie zwei Seiten einer Medaille gegenseitig: Der öffentliche Druck, der die SED aus ihren Machtpositionen in Staat und Gesellschaft zurückweichen ließ, wurde begleitet von dem Versuch, die entstehenden Räume für den Neuaufbau von Strukturen zu nutzen, in denen Demokratie gelernt, erprobt und praktiziert werden konnte. Diese beiden Prozesse stehen im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen, bevor in einem weiteren Teil die Zuspitzung der Ereignisse um die Monatswende vom November zum Dezember untersucht wird. 2. 1. Die Auseinandersetzung mit der SED 2.1.1. Die Fortführung des Protests »Volk sei wachsam, noch lügen sie«38 - mit diesem Slogan brachten die von der Maueröffnung noch nichts ahnenden Teilnehmer der Rostocker Donnerstagsdemonstration am Abend des 9. Novembers die Leitlinie zum Ausdruck, welche die Aktionen der Bewegung auch nach dem Fall der Mauer prägen sollte. Alle Bekenntnisse der SED zu einer demokratischen Wende änderten nichts an dem Mißtrauen gegenüber der Staatspartei, die nach wie vor zu versuchen schien, ihre Macht und ihre Führungsrolle zu verteidigen. In dieser Perspektive wirkte auch die Öffnung der Mauer als eine Machtbewahrungsstrategie, die dem Protest um den Preis der Aufgabe des Grenzregimes den Boden entziehen sollte.39 Insofern hatte die neue Reisefreiheit zwiespältige Auswirkungen. Bis auf wenige Ausnahmen sanken die Teilnehmerzahlen an den Demonstrationen. Nachdem die Zahlen der Teilnehmer seit Mitte Oktober von Woche zu Woche gestiegen waren, hatten sie mit der Maueröffnung ihren Höhepunkt überschritten. Es war evident, daß viele, die bislang für demokratische Rechte auf 38 MfS/BVfS Rostock: Losungen von den Rostocker Demonstrationen, in: Ammer/Memmler, S.40. 39 So hieß es am 20.11. auf der Leipziger Montagsdemonstration: »SED und Stasi lacht: Volk durch Visa besoffen gemacht«, in: W. Schneider, S. 118.

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die Straße gegangen waren, mit der Reisefreiheit ein maßgebliches, persönliches Ziel erreicht sahen, so daß die ursprüngliche Motivation für einen Teil der Demonstranten hinfällig wurde. Andererseits führte diese Entwicklung bei denjenigen, die trotzdem weiterhin demonstrierten, dazu, die ursprünglichen Ziele um so entschiedener zu vertreten; schließlich schien es nötig zu sein, die angestrebte Demokratisierung der DDR nunmehr nicht mehr nur gegen die SED, sondern auch gegen die Reisewelle und damit gegen das nachlassende politische Engagement der Bevölkerung durchfechten zu müssen. Beide Trends zeigten sich bei der ersten Leipziger Montagsdemonstration nach dem 9. November. Als Gradmesser der Protestkontinuität mit Spannung erwartet, bot die Leipziger Demonstration vom Montag, dem 13. November, ein wenig eindeutiges Bild: Gegenüber der mit über 400.000 Menschen größten Leipziger Demonstration in der Vorwoche war die Teilnehmerzahl etwa um die Hälfte gesunken, so daß die nachlassende Mobilisierung nicht zu übersehen war.40 Andererseits aber dokumentierten die ca. 200.000 Demonstranten am 13. November nicht nur durch ihre Anzahl, sondern auch durch ihre Forderungen, daß der Protest gegen die SED trotz Maueröffnung weiterging.41 Wie schon im Sommer, als die Ausreisewelle über Ungarn zum treibenden Faktor der ersten Demonstrationen wurde, erzeugte auch die offiziell sanktionierte Reisewelle im November ein Krisenbewußtsein, daß zu einer Radikalisierung der Forderungen führte. Angesichts des Reisestroms mußte es um so mehr darum gehen, den ersten Reformmaßnahmen weitere folgen zu lassen, um die Herrschaft der SED endgültig zu brechen und eine konkrete Perspektive für einen Neuanfang zu schaffen. Nicht nur in Leipzig, sondern auf allen Demonstrationen konzentrierten sich die Forderungen daher auf zwei zentrale Themen: erstens auf die Streichung des Artikels 1.1. der Verfassung der DDR, in dem die DDR als sozialistischer Staat deklariert und die Führungsrolle der SED festgeschrieben wurde,42 und zweitens auf die Forderung nach freien Wahlen. Beide Forderungen verfolgten ein gemeinsames Ziel: einen Macht- und Systemwechsel in der DDR. Die Herrschaft der SED sollte durch das Volk beendet werden: »Matt in zwei 40 Auch in anderen Städten sanken die Zahlen um etwa die Hälfte, so in Plauen, wo sich die Teilnehmerzahlen von zuvor ca. 50.000 nach dem 9.11. auf ca. 20.000 einpendelten (vgl. das Interview mit S. Kretschmar in Lindner, Land, S. 133), oder in auch in Erfurt, wo am 16.11.35.000 statt wie zuvor 80.000 Menschen demonstrierten (vgl. Schnitzler, S. 156ff.). 41 Dies verdeutlichten auch die 100.000 Demonstranten am 13.11. in Dresden (vgl. »Montag am Fucikplatz«, in: Union vom 15.11.1989) und die 50.000 bzw. 80.000 Demonstranten am 13. bzw. 20.11. in Karl-Marx-Stadt, vgl. Reum/Geißler, S. 97, 103. 42 »Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat deutscher Nation. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land, die gemeinsam unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei den Sozialismus verwirklichen.« (Artikel 1.1. der Verfassung der DDR).

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Zügen: 1.: §1, 2.: freie Wahlen«, so daß das Volk seine Rolle als demokratischer Souverän wiedererlangen konnte: »Und jetzt: freie Wahlen, Verfassungsänderung Artikel 1!Alle Macht geht vom Volke aus«.43 Auch wenn die Sprechchöre sich unterschieden, wurden diese beiden Forderungen von Leipzig bis Rostock und von Ueckermünde bis Anklam44 so einmütig erhoben, daß die Bewegung nach dem Mauerfall einheitlicher denn je zu agieren schien. Das galt auch für die weiteren Themen, die den Protest im November prägten. Verschiedene Forderungen, die bereits vor dem Mauerfall erhoben worden waren, wurden nunmehr an die sich wandelnden Bedingungen angepaßt sowie konkreter und dringlicher formuliert. Dazu zählte zunächst die Herstellung von Öffentlichkeit über weiße Flecken in Staat und Gesellschaft der DDR. Getragen von der Überzeugung, daß ein Neuanfang der Bestandsaufnahme gesellschaftlicher Probleme bedurfte, reklamierte die Bewegung ein uneingeschränktes Informationsrecht für die Bürger der DDR. Neben der Forderung nach Aufklärung der polizeilichen Übergriffe auf die Demonstrationen zu Anfang Oktober 1989 wurde vor allem für zwei Bereiche ein Informationsrecht eingeklagt. Erstens verlangten die Demonstranten ebenso wie die oppositionellen Gruppen nachdrücklich die Offenlegung der wirtschaftlichen Lage der DDR, um - wie das Neue Forum betonte - die Kraft »der Millionen fleißiger Bürger unseres Landes [... ] nicht aus blindem Vertrauen, sondern aus umfassender Kenntnis und Kompetenz«45 schöpfen zu können. Der zweite Schwerpunkt lag auf der Forderung nach einer Untersuchung von Korruption und Amtsmißbrauch durch die alten Eliten.46 Ein weiterer Komplex, an dem sich der Protest entzündete, waren die Machtpositionen, über die die SED noch immer verfügte. Gerade vor dem Hintergrund der sinkenden Teilnehmerzahlen war dies ein Thema, dem sich die Bewegung im November mit besonderem Nachdruck widmete. Denn aus ihrer Sicht war die Auseinandersetzung mit der SED keineswegs abgeschlossen, so daß sich der Appell »Bürger gebt acht, die SED hat noch Macht«47 nicht 43 Beide Slogans als Transparente auf der Leipziger Demonstration vom 13.11., vgl. W. Schneider, S. 104. 44 »Artikel 1 muß weg- sonst hat es keinen Zweck«, Rostock am 16.11. (vgl. die MfS-Liste der Losungen in: Ammer/Memmler, S. 41), »Geheime Wahlen - Änderung Art. 1«, Ueckermünde am 19.11. (vgl. die Lageberichte der Volkspolizei, in: Herbstritt, S. 196); »Hätten wir freie Wahlen: nie wieder SED«, Anklam 20.11. (ebd. S. 201). 45 AG Wirtschaftspolitik des Neue Forums: »Offenlegung unserer wirtschaftlichen Situation« (13.11.1989), in: Michelis, S. 22. Auch viele Demonstrationsslogans zielten in diese Richtung, so etwa: »Herr Mittag, wo bleibt die Abrechnung?« in Rostock am 16.11.1989, vgl. die MfS-Liste der Rostocker Losungen, in: Ammer/Memmler, S. 41). 46 In diesem Sinne fragten 80.000 Demonstranten am 20.11. in Karl-Marx-Stadt: »SED-Genossen- wo sind die Devisen hin?«, vgl. Reum/Geißler, S. 103. 47 Transparenttext der Leipziger Montagsdemonstration vom 20.11.1989, in: W. Schneider, S. 118.

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nur an die Partei richtete, sondern auch an die Bevölkerung, die zum weiteren Engagement aufgerufen wurde. Schließlich war der Einfluß der SED in weiten Bereichen von Staat und Gesellschaft ungebrochen, wie ein Plakat der Leipziger Montagsdemonstration vom 20. November verdeutlichte: »SED- immer noch fest im Griff: Medien, Wirtschaft, Organisationen, Sport, Justiz, Verwaltung, Schule, Polizei, Kultur, usw.!«48 Der zentrale Punkt des Mißtrauens gegen die SED war jedoch die nach wie vor unangetastete Position des Symbols für Unfreiheit und Unterdrückung, des Ministeriums für Staatssicherheit, von dem eine ungeminderte Bedrohung ausging. Die Tatsache, daß die Regierung, die Partei und das Ministerium selbst nicht bereit waren, Einblicke in die Tätigkeit der Staatssicherheit zu gewähren, verstärkte die Angst und schürte die Empörung über den Fortbestand des Überwachungsapparates, dessen Umbenennung am 17. November in Amt für Nationale Sicherheit (AfNS) nicht der Aufklärung, sondern der Verschleierung zu dienen schien. Nicht zuletzt weil die Demonstrationsrouten vielerorts an den lokalen Dienststellen des MfS vorbeiführten, spitzte sich die Auseinandersetzung zu. In den direkten Konfrontationen eskalierte die Stimmung von Woche zu Woche. Noch hielten zwar die eher symbolischen, mit Kerzen bewehrten Schutzketten, die Angehörige der oppositionellen Gruppen vor den MfS-Gebäuden bildeten, aber der Konsens der Gewaltlosigkeit schien angesichts der Stimmung vor den Gebäuden ernsthaft in Gefahr zu sein.49 Die Öffnung und anschließende Auflösung des MfS stellte daher neben den Forderungen nach freien Wahlen, Streichung des Führungsanspruchs der SED und Herstellung von Öffentlichkeit einen vierten, zentralen Schwerpunkt dar, auf den sich der Protest konzentrierte. Insgesamt kann man für die Tage nach dem Mauerfall festhalten, daß die Bewegung in ihren Forderungen außerordentlich geschlossen auftrat. Neben dem äußeren Druck durch die Grenzöffnung war auch ein weiterer Faktor für diese Entwicklung verantwortlich: Die Tatsache, daß sich die Stadtverwaltungen, in vielen Fällen auch Massenorganisationen oder Betriebe bereit erklärten, Bühnen, Lautsprecheranlagen und Megaphone zu stellen, brachte eine Professionalisierung der Aktionen mit sich, die durch die amtliche Zulassung des Neuen Forums verstärkt wurde. Denn nach der Zulassung, die faktisch - wenn auch noch nicht formal - auf die anderen Gruppen übertragen wurde, war es möglich, Veranstaltungen offiziell anzumelden und für sie in der Öffentlichkeit zu werben. Aktionen wie die erste offizielle Kundgebung des Neuen Forums Leipzig am 18. November fanden nunmehr im ganzen Land in großer Zahl

48 Transparenttext der Leipziger Montagsdemonstration vom 20.11.1989, ebd, S. 118. 49 Zu der Situation am 13.11. vor der BVfS Leipzig, der sog. Runden Ecke, siehe Axel Vornbäumen: »Sicherheit für die Staatssicherheit«, in: FR vom 15.11.1989, S. 3.

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statt und boten den Gruppen die Gelegenheit, sich zu präsentieren und für ihre Anliegen zu mobilisieren.50 Mit welchem Erfolg die Gruppen dabei in der Lage waren, bestimmte Themen zu besetzen, zeigte sich in dem Echo auf den Aufruf zu einem Volksentscheid über die Führungsrolle der SED, den Demokratie Jetzt Ende Oktober in die Debatte warf51 Diese Initiative verlieh der Diskussion um die Art und Weise der Überwindung der SED-Herrschaft einen Impetus, der eine immense Wirkung entfaltete. Innerhalb von vier Wochen, bis Ende November, gingen Listen mit insgesamt 175.000 Unterschriften bei den Initiatoren ein. Andere Unterschriftenlisten, die diesem Vorbild folgten, aber direkt an die Volkskammer gerichtet wurden,52 verstärkten das öffentliche Echo noch erheblich.53 Darüber hinaus wurde die Idee, die Vormachtstellung der SED direktdemokratisch durch das Wahlvolk zu brechen, auch auf den Demonstrationen aufgenommen, welche die Forderungen nach freien Wahlen und nach Streichung des Artikels 1.1. vielerorts mit der Forderung nach einem Volksentscheid verbanden.54 Auch wenn die Volkskammer einem Plebiszit über die Führungsrolle zuvorkam, indem sie von sich aus am 1. Dezember den Artikel 1.1. aus der Verfassung strich, zeigte die Resonanz auf den Vorstoß die zentrale Bedeutung, die das Ziel der endgültigen Ablösung des SED-Regimes mit demokratischen Mitteln im November gewann. Mit jedem Erfolg auf diesem Weg wurde jedoch die Frage drängender, was passieren sollte, wenn dieses Ziel erreicht war. Die Überwindung der SEDHerrschaft war das eine, die erfolgreiche Überführung des gesellschaftlichen Aufbruchs in einen demokratischen Neuanfang das andere.

50 Zu der Veranstaltung in Leipzig mit ca. 30.000 Teilnehmern siehe die Reden in: Neues Forum Leipzig, S. 262ff. und den Bericht in der LVZ 20.11.1989, S. 1/2. Zu der ähnlich eigenverantwortlich organisierten Veranstaltung in Dresden am 13.11. vgl.: »Montag am Fucikplatz«, in: UnionVom15.11.1989, S. 2. 51 Vgl. »Demokratie Jetzt für Volksentscheid«, (Ende Oktober 1989), in: Rein, Opposition, S. 68. 52 Der Artikel 21.2. der Verfassung der DDR sah Volksabstimmungen als Mittel der politischen Mitbestimmung vor; ihre Durchführung war nach Art. 53 von der Volkskammer zu beschließen. 53 Zur DJ-Unterschriftenaktion siehe: Wielgohs/Müller-Enbergs, S. 117. Im Eichsfeld sammelte die Demokratische Initiative im November 8.172 Unterschriften für eine Volksabstimmung über den Art. 1 und für ein neues Wahlgesetz (vgl. Adler, S. 78f), in Neubrandenburg wurden für dieselben Anliegen 3.619 Unterschriften gesammelt (vgl. Heydenreich, S. 17f). 54 Vgl. etwa »Volksentscheid: §1 der Verfassung«, »Volksentscheid - Freie Wahlen«, Slogans der Demonstration am 13.11. in Neubrandenburg, zit. nach den Lageberichten der Volkspolizei in: Herbstritt, S. 180.

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2.1.2. Eine neue Form des Dialogs: Die Initiative zu einem Runden Tisch Bereits Ende Oktober war den Berliner Initiativ- und Gründerkreisen der oppositionellen Gruppen zusehends bewußt geworden, daß sich für sie aus den Erfolgen der Bewegung neue Möglichkeiten, aber auch neue Zwänge ergaben: Je erfolgreicher es gelang, öffentlichen Druck zu erzeugen, um so dringlicher stellte sich die Frage, wie dieser Druck in konstruktive Bahnen gelenkt werden konnte. Zudem hatte der Schwerpunkt der Aktionen bislang primär auf der lokalen und kommunalen Ebene gelegen. Von dort waren die entscheidenden Impulse ausgegangen, welche die SED zu Kompromissen gezwungen hatten. In dem Maße aber, wie die lokalen Proteste begannen, die politische Kultur des Landes zu verändern, zeichnete sich ab, daß das Vorgehen der Bewegung nicht länger nur in lokalen Aktionen bestehen konnte. Auch auf nationaler Ebene mußten Antworten gefunden werden. Die Wiederaufnahme der Idee einer gemeinsamen Kontaktgruppe der Opposition ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Wie bereits beim ersten Treffen, das am 4. Oktober den Abschluß der Gründungsphase der Gruppen markiert hatte, sollte durch ein gemeinsames Gremium ein koordiniertes Vorgehen der Opposition gewährleistet werden. Dies schien um so nötiger, da nicht nur die Funktionäre der SED, sondern auch die Aktivisten der Bewegung durch die Dynamik der Entwicklung »jeden zweiten Tag vor völlig veränderten Konstellationen standen«,55 wie Gerd Poppe später betonte. Ab dem 3. November nahm daher die Kontaktgruppe ihre Tätigkeit wieder auf und vereinbarte einen wöchentlichen Tagungsrhythmus, um mit der Entwicklung Schritt halten zu können.56 Ohne daß sie mit formalen Kompetenzen ausgestattet gewesen wäre, sollte die Kontaktgruppe in der folgenden Zeit eine maßgebliche Rolle spielen, da von ihr die entscheidende Initiative zum Zentralen Runden Tisch der DDR ausging. Im Vordergrund der Überlegungen stand die Frage nach den Konsequenzen aus einem möglichen Erfolg der Bewegung: Wer sollte nach dem Verzicht der SED die Führungsrolle im Staat einnehmen? Welche Instanz in der DDR wäre legitimiert, die Forderung nach freien Wahlen umzusetzen und ein demokratisches Wahlrecht zu beschließen? Und schließlich: Welche Institution könnte die erforderlichen Entwürfe einer neuen Verfassung erarbeiten? Die einzig sichere Antwort auf die Fragen war, daß weder die SED noch die Volkskammer oder die Regierung der DDR in Frage kamen, diese Aufgaben wahrzunehmen. In dem Maße, wie Anfang November absehbar wurde, daß der demokratische Umbruch in der DDR unumkehrbar war, wurde daher von Tag zu Tag deutli55 Gerd Poppe, Interview in Semtner, S. 170. 56 Vgl. »Gemeinsame Erklärung der Vertreter von DJ, DA, Netzwerk Arche, IFM, VL, NF und SDP« vom 3.11.1989 (RHA 3.2.02: Demokratischer Aufbruch, ohne Pag.).

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cher, daß mangels etablierter demokratisch legitimierter Institutionen eine neuartige Instanz gefunden werden mußte. Anders konnte die Zeit bis zu den Neuwahlen, die frühestens im Oktober 1990, wenn nicht gar erst im Frühjahr 1991 für möglich gehalten wurden,57 nicht überbrückt werden. Die Möglichkeit, daß die oppositionellen Gruppen selber diese Funktionen wahrnehmen könnten, wurde nie ernsthaft erwogen. Allen Beteiligten war bewußt, daß die oppositionellen Gruppen schon allein aufgrund ihres organisatorischen und programmatischen Entwicklungsstandes nicht in der Lage waren, legislative oder exekutive Verantwortung zu übernehmen. Eine Kooperation mit der SED, die trotz aller Krisenzeichen mit ihrem Apparat, ihren Kadern, ihrem Herrschaftswissen und ihren Ressourcen immer noch die mächtigste Kraft im Lande bildete, war daher unumgänglich.58 Getragen von der Hoffnung auf eine reformfreudige »zweite Garde« in der Partei,59 richteten sich die Überlegungen deshalb darauf, wie die zu diesem Zeitpunkt noch übermächtige SED zu einem konstruktiven Dialog über die demokratische Entwicklung gezwungen werden konnte und in welchen Formen diese Zusammenarbeit stattfinden sollte. Auf der Suche nach Modellen für diesen Dialog wurden die bisherigen Formen der Dialogveranstaltungen ebenso wie das Modell der Dresdener »Gruppe der 20« verworfen: »Überall«, so Wolfgang Ullmann von Demokratie Jetzt, wurde »dialogisiert, bis hin zum Platz vor dem Roten Rathaus [in Berlin, d. Vf.]. Wir fanden das nicht schlecht, aber es war unverbindlich.«60 Um die Zeit der demokratischen Umgestaltung bis zu den Wahlen zu gestalten, griff Demokratie Jetzt daher im Zusammenhang mit der Forderung nach einem Volksentscheid auf ein Dialogmodell zurück, das sich im Frühjahr 1989 bereits in Polen bewährt hatte: »Während der Diskussion über den Volksentscheid bzw. dessen Vorbereitung«, so Ulimann in seiner Rede am 27. Oktober in der Berliner Gethsemanekirche, »könnte ein Runder Tisch zur Arbeit an einer neuen Verfassung eingesetzt werden.«61 An diesem Tisch sollten außer den oppositionellen 57 Vgl. die Ansprache von Arnold Vaatz (NF Dresden) auf der Dresdener Kundgebung vom 13.11., der das symbolische Datum des 7.10.1990 als Wahltermin nannte (vgl. »Montag am Fucikplatz«, in: Union vom 15.11.1989). Die SDP sprach sich am 8.11. sogar für einen Wahltermin im Frühjahr 1990 aus, vgl. »Schritte auf dem Weg zur Demokratie«, Erklärung des Geschäftsführenden Ausschuß der SDP vom 8.11.1989 (AdsD Bestand Martin Gutzeit III, Bl. 818). 58 Vgl. Friedrich Schorlemmer: »Wir wollen und wir können unser Land jetzt nicht ohne die SED aufbauen, aber sie muß nicht führen«, Interview in: die tageszeitung vom 17.11.1989, S. 5. 59 Vgl. Wolf Ullmann: »Wir hoffen ja auch, daß es in der SED reformwillige Kräfte genug gibt, damit wir mit ihnen zusammen das durchführen können, was wir vorhaben: eine Wahlrechts- und Verfassungsreform.« (Interview in: die tageszeitung vom 18.11.1989, S. 9) Zu Widerspruch und Reformansätzen innerhalb der SED siehe Land und Otto, bes. S. 1476ff. 60 Ullmann, S. 72f. 61 Rede von W. Ullmann auf der Veranstaltung von DJ am 27.10. in der Berliner Gethsemanekirche, in: DemokratieJetzt, Nr. 7: Nov. 1989 (RHA 3.2.02.02: DemokratieJetzt/Zeitungen, ohne Pag.), Herv. d.Vf.

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Gruppen und den etablierten Parteien auch Vertreter der Kirchen, Arbeitervertreter und Delegierte der technischen, künstlerischen und wissenschaftlichen Intelligenz teilnehmen, um gemeinsam die Voraussetzungen zu einer demokratischen Entwicklung zu schaffen. Nachdem der Gründerkreis von Demokratie Jetzt das Konzept eines Runden Tisches schon im Sommer 1989 diskutiert, zu diesem Zeitpunkt für die DDR aber noch verworfen hatte,62 wirkte die Wiederaufnahme der Idee Ende Oktober wie eine Initialzündung auf die laufenden Diskussionen. Die SDP griff die Idee in ihrer Zeitung Depesche bereits am 31. Oktober auf, und wenige Tage später baute Stephan Bickhardt das Konzept zu einem »Vierseitigen Tisch« von SED, Blockparteien, Kirche und Opposition aus, bevor der geschäftsführende Vorstand der SDP am 8. November ebenfalls einen Runden Tisch anregte, der eine verfassungsgebende Versammlung vorbereiten sollte.63 Die Maueröffnung am 9. November beeinflußte diese Diskussionen nicht grundsätzlich. Allenfalls verstärkte sie das Bewußtsein, schnell und geschlossen handeln zu müssen, so daß der Vorschlag zum Thema des darauffolgenden Treffens der Kontaktgruppe wurde, deren Gemeinsame Erklärung vom 10. November den Beginn der Entwicklung hin zum Runden Tisch markierte. In seiner Zusammensetzung aus den etablierten Kräften und den »neuentstandenen demokratischen Gruppierungen und Parteien« ebenso wie in der Zielstellung, die »Voraussetzungen für eine Verfassungsreform und für freie Wahlen zu schaffen«,64 sollte der Runde Tisch aus der Sicht der Opposition einen entscheidenden Spagat leisten: »Er sollte einerseits«, stellte Martin Gutzeit fest, »die alten politischen Kräfte bei ihrer Verantwortung belassen und sie kontrollieren, andererseits aber die Voraussetzungen für [...] eine demokratisch geordnete Veränderung der politischen Institutionen schaffen.«65 Der Runde Tisch war jedoch wesentlich mehr als nur ein Gebot der Stunde, das den zeitgenössischen Erfordernissen entsprang. Er war von Beginn an auch ein Symbol für eine neue politische Kultur, die, so Hans Jürgen Fischbeck, »dieses Repräsentationssystem und das Repräsentationsdenken überwinden (wollte) zugunsten eines mündigen Bürgers, der selbst an der Meinungs- und 62 Die »autorisierten Gesprächrunden«, die der Arbeitskreis Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung im Juli 1989 eingefordert hatte, zielten bereits in diese Richtung. (vgl. den Brief an die Leitungsgremien der Kirchen in der DDR, in: Rein, Opposition, S. 66) Allerdings ließ man die Idee wegen der fehlenden Voraussetzungen in der DDR wieder fallen, vgl. Ulimann, S. 72. 63 Vgl. Depesche - Unabhängige Wochenzeitung, Jg. 1/Nr. 1. vom 31.10.1989 (AdsD Bestand Martin Gutzeit II, Bl. 595); »Schritte auf dem Weg zur Demokratie«, Erklärung des Geschäftsführenden Ausschuß der SDP vom 8.11.1989 (ebd. III, Bl. 818); S. Bickhardt: »Für vierseitigen Tisch, Volksabstimmung und freie Wahlen«, in Demokratie Jetzt, Nr. 4/Nov. 89 (RHA 3.2.02.02, ohne Pag.). 64 Gemeinsame Erklärung von DJ, DA, GP, IFM, VL, SDP, 10.11.1989 (RHA 3.8.1.00: Runder Tisch., ohne Pag) 65 Gutzeit, Weg, S. 111.

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Willensbildung partizipiert, aus der sich dann die politische Kraft entwickelt, über die im Staat Politik gemacht werden kann.«66 Aus diesem Grund wurden die Beteiligten nicht müde zu betonen, daß es sich bei dem Konzept des Runden Tisches »um die Entdeckung einer ganz anderen politischen Struktur als die des Parlaments und der repräsentativen Demokratie«67 handelte. Das Neuartige, das den Runden Tisch auszeichnete, wird erst vor dem Hintergrund des zivilgesellschaftlichen Gesellschaftsbildes deutlich. Wie im Eingangskapitel dargelegt, basierten die Ansätze auf einem fundamentalen Gegensatz von staatlich/politisch einerseits und menschlich/zivil andererseits. Da es den Menschen in der DDR im Oktober gelungen war, sich in den Worten György Konräds »von der Politik zu befreien wie von einer Heuschreckenplage«,68 hatten sie nicht nur ihr Leben verändert, sondern - in den zivilgesellschaftlichen Kategorien - auch ihr Wesen: Aus uniformierten, disziplinierten und eingeschüchterten Untertanen waren verantwortungsbewußte, mündige und solidarische Bürger geworden. Auf dieser Überzeugung basierte das Verständnis einer zivilen Gesellschaft. Sie war von einem Fundamentalkonsens getragen, der sich aus der Tatsache ergab, daß die von den machtpolitischen und egoistischen Motiven befreiten Menschen uneigennützig auf ein Gemeinwohl hinarbeiten würden. Der politische Prozeß wurde daher nicht als ein konfrontativer Verhandlungsprozeß verstanden, in dem widerstreitende gesellschaftliche Interessen miteinander konkurrieren und unter Umständen gegeneinander durchgesetzt werden müssen. Die Vision einer Zivilgesellschaft ging vielmehr von einem konsensualen Prozeß aus, der die Interessen und Anliegen der Bürger durch einen gesamtgesellschaftlichen Dialog zusammenführen sollte. In dieser Perspektive bezeichnete Ullmann den Runden Tisch als eine Institution der Konsensfindung, »in der keine Seite der anderen den Rücken zukehrt, weil sie alle auf ein unsichtbares Zentrum hin orientiert sind: Die nicht mit Gewalt und Konkurrenz erzwingbare, sondern nur im gemeinsamen Diskurs und gemeinsamer Entscheidung realisierbare Zukunft.«69 Damit werden die Unterschiede zum Parteienparlament deutlich: Gemeinwohlorientierung statt Lobbyismus, Dialog und Konsens statt Streit und Eigennutz und schließlich mündige Bürger statt Parteifunktionäre sollten diese antipolitische Politik auszeichnen und dafür sorgen, am Runden Tisch »das alte Ideal des germanischen Things«70 wiederzubeleben. Da die Zeit drängte, wurde die Initiative von der Kontaktgruppe im November konsequent vorangetrieben. Bereits auf dem Treffen am 17. November 66 67 68 69 70

Hans Jürgen Fischbeck (DJ) in einem Interview 1990, in: Findeis u.a., S. 95. Wolfgang Ulimann in einem Interview 1990, in: Semtner, S. 148. Konrád, S. 212. Wolfgang Ullmann in einem Interview 1990, in: Semtner, S. 210. Konrad Weiß in einem Interview 1990, ebd., S. 181.

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zeichnete sich die spätere Form des Runden Tisches ab. Die noch in der Erklärung vom 10. November bekundete Absicht, Arbeiter und Künstler an den Runden Tisch zu rufen, wurde wieder fallengelassen, ebenso wie die ursprüngliche Überlegung, auch die Massenorganisationen wie die FDJ oder den FDGB zu beteiligen.71 Stimmberechtigt teilnehmen sollten, so beschloß die Kontaktgruppe schließlich am 24. November, einerseits die fünf in der Volkskammer vertretenen etablierten Parteien, andererseits sieben neue Gruppierungen: der Demokratische Aufbruch, Demokratie Jetzt, die Grüne Partei, die Initiative Frieden und Menschenrechte, das Neue Forum, die SDP und die Vereinigte Linke. War damit die ursprüngliche Zielstellung beibehalten worden, einen Runden Tisch »zum Zweck der Vorbereitung freier Wahlen durch ein neues Wahlrecht und einer Verfassungsreform«72 einzuberufen, hatte sich der Charakter des Gremiums im Zuge der Vorbereitungen verändert. Das Konzept eines Things wurde von dem Eindruck eines Machtkampfs überlagert, der sich in der - ursprünglich nicht vorgesehenen - Idee einer Parität zwischen den alten und neuen Kräften niederschlug: Den Überlegungen der Kontaktgruppe zufolge sollten die Blöcke mit jeweils 14 Vertretern am Tisch Platz nehmen; eine Zahl, die am 1. Dezember auf jeweils 15 Vertreter erhöht wurde, wobei dem Neuen Forum auf Seiten der Opposition ein zusätzlicher, dritter Platz zuerkannt wurde.73 Als neutrale Instanz in dieser Auseinandersetzung sollte die Kirche fungieren, die nach dem Willen der Kontaktgruppe auch die Einladung zu den Gesprächen aussprechen sollte, um der SED eine Zusage zu erleichtern.74 Noch bevor aber die evangelische und katholische Kirche am 30. November gemeinsam die Einladungen an die Vertreter versenden konnten, hatte die SED bereits reagiert. Bereits am 23. November erschien im Neuen Deutschland eine Mitteilung, in der ein Runder Tisch als Vorschlag der SED präsentiert wurde: Das Politbüro, hieß es dort, mache den Vorschlag, sich mit »anderen politischen Kräften des Landes an einem ›Runden Tisch‹ zusammenzufinden [...]. Dort könnten Vorstellungen über das neue Wahlgesetz, die Durchführung demokratischer freier Wahlen und eine Verfassungsreform erörtert werden.«75 Auch wenn die SED auf diese Weise versuchte, die Idee des Rundes Tisches zu vereinnahmen, war diese Meldung ein deutliches Signal. Die SED erkannte die Notwendigkeit und die zentralen Zielstellungen eines Runden Tisches an 71 Vgl. zu diesem Treffen Neubert, Geschichte, S. 891 f. 72 Schreiben der Kontaktgruppe an das Sekretariat der Berliner Bischhofskonferenz und an das Sekretariat des Bundes der Ev. Kirchen in der DDR vom 24.11.1989 (RHA 3.8.1.00, ohne Pag.). 73 Vgl. die Aktennotiz über die Beratung der Kontaktgruppe am 1.12.1989 (RHA 3.8.1.01, ohne Pag.). 74 Zu dem Versteckspiel um die Einladung siehe Thaysen, Runder Tisch, S. 32ff. und Hahn, S. 56ff. 75 »Politbüro: Für Dialog am Runden Tisch«, in: ND vom 23.11.1989, S. 1.

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und gab zu verstehen, daß sie sich weder einer neuen Verfassung noch demokratischen Neuwahlen widersetzen werde. Vor allem aber akzeptierte sie die oppositionellen Gruppen als Verhandlungspartner im Prozeß des Überganges. Damit war der Weg frei zu einem Zentralen Runden Tisch, dessen erste Sitzung am 7. Dezember stattfinden sollte. Man hatte ein Gremium gefunden, das in der Lage zu sein schien, die Zeit zwischen dem Ende der SED-Herrschaft und dem demokratischen Neubeginn zu überbrücken und zu gestalten. Die Vorbereitungen seitens der Kontaktgruppe, so läßt sich zusammenfassen, waren zum einen geprägt von der jahrelangen Auseinandersetzung mit der übermächtigen SED und zum anderen von der Wahrnehmung der laufenden Ereignisse, die die endgültige Brechung der SED-Herrschaft als vordringlichste Aufgabe erscheinen ließ. Daraus erklärt sich die Fixierung auf die SED, die sich während der Konstituierungsphase des Runden Tisches vor allem in den Beschlüssen über die Zusammensetzung des Gremiums niederschlug. Zu Recht haben Uwe Thaysen und Hans Michael Kloth festgestellt, daß die aus dieser Wahrnehmung resultierende Form des Runden Tisches zum Zeitpunkt seiner ersten Sitzung bereits ein »Anachronismus«76 war. Die rasanten Entwicklungen der letzten Tage des Novembers und der ersten Dezemberwoche sollten die Rahmenbedingungen grundlegend verändern, die Konfliktlinien verschieben und andere Fragen auf die Tagesordnung setzen. Um so wichtiger ist es, die seitens der oppositionellen Gruppen mit dem Runden Tisch verbundenen Vorstellungen und Hoffnungen festzuhalten. Aus ihrer Sicht war diese neuartige Institution eine einzigartige Möglichkeit, auf höchster Ebene Einfluß auf die demokratische Zukunft des Landes zu nehmen, und zwar in einer Form, die ein hohes Maß von Öffentlichkeit und direkter Bürgerbeteiligung zuließ. Darüber hinaus war ein Runder Tisch die einzige Instanz, die in der Lage zu sein schien, einen Ausweg aus der Krise zu bieten und den Übergang zur Demokratie zu gestalten. Nicht zuletzt schließlich verkörperte der Runde Tisch das Projekt einer zivilen Institution im politischen System; ein Projekt, auf dessen Realisierung sich die Hoffnungen der oppositionellen Gruppen konzentrierten, so daß sie ungeachtet der neuen Möglichkeiten, die sich aus den Entwicklungen zum Monatsende ergaben, auf diese Perspektive fixiert blieben. Mit der Fortführung des Protests zum einen und den Überlegungen zu der institutionellen Absicherung des Demokratisierungsprozesses zum anderen, ist die eine Seite der eingangs beschriebenen Medaille umrissen: die Auseinandersetzung mit der SED. Unmittelbar mit dieser Auseinandersetzung verbunden war die zweite Seite der Medaille: der Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen, die einen nicht minder wichtigen Teil des Projektes der Entstaatlichung der Gesellschaft bildeten. Nach der Initialzündung durch die Gruppengründun76 Thaysen/Kloth, S. 1715.

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gen im September, die erste Ansätze ziviler, von Bürgern und nicht vom Staat getragener Strukturen darstellten, war der November der Monat, in dem diese ersten Ansätze ausgebaut und weitergeführt wurden. Daher waren die in den folgenden Ausführungen beschriebenen Entwicklungen ein unverzichtbarer Bestandteil der Entfaltung der Bürgerbewegung, der es im November gelang, ihre Zielvorstellung von einer zivilen Gesellschaft über die Grenzen der Bewegung hinaus in die DDR-Gesellschaft zu vermitteln. Der zeitliche Rahmen des nächsten Abschnittes bewegt sich nach wie vor im November, da auch der Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen zu den ambivalenten Erfolgen der Bewegung zählte, deren Entstehung in dieser Arbeit analytisch wie darstellungstechnisch von ihren - aus der Sicht der Bewegung nachteiligen Konsequenzen getrennt wird. 2.2. Das »Erlebnis Pluralismus« Das »Erlebnis Pluralismus« - mit diesem Schlagwort hat Bernd Lindner in seiner Periodisierung des Herbstes 1989 diejenige Phase beschrieben, die mit dem Mauerfall ihren Anfang nahm.77 Lindners Bezeichnung trägt den Entwicklungen im November sehr treffend Rechnung: Die Flut von kritischen Leserbriefen, mit denen die Zeitungen eingedeckt wurden, zahllose Aufrufe, Appelle, Stellungnahmen78 sowie neuentstehende Bürgerinitiativen wie die Aktion »Für Chemnitz«, die in Karl-Marx-Stadt für die Wiederaufnahme des traditionellen Namens warb,79 belegen eine beispiellose Politisierung der Bürger, die innerhalb der noch bestehenden alten Strukturen ihre demokratischen Partizipationsrechte wahrnahmen. Ein erheblicher Teil des neuentstehenden Meinungspluralismus wurde dabei von den oppositionellen Gruppen gestaltet, deren Arbeitsbedingungen sich im November nachhaltig verbesserten. Die ersten Büros nahmen ihre Arbeit auf,80 in vielen Städten wurden eigene - wenn auch noch auflagenschwache - Zeitungen herausgegeben, und nicht zuletzt dadurch, daß die Parteizeitungen vielerorts den Gruppen eigene Seiten zur Verfügung stellten,81 gewann die vormals verstaatlichte öffentliche Meinung in der DDR im November an Vielfältigkeit. Rückgrat und Garant eines Meinungspluralismus, darin stimmen alle - nicht nur die osteuropäischen - Konzepte einer zivilen Gesellschaft überein, ist ein pluralistisches Verbandswesen, das den Meinungsbildungsprozeß sozial ab77 Vgl. Lindner, Sprung, S. 171. 78 Vgl. die Texte in Schüddekopf und in Naumann, Geschichte. 79 Zur Initiative Für Chemmitz, gegründet am 25.11.1989, vgl. Reum/Geißler, S. 110. 80 Vgl. für Leipzig: Unterberg, S. 157ff.; für Rostock: Probst, Norden, S. 80f. 81 Vgl. »Forum des Neuen Forum« in: Freie Presse (Karl-Marx-Stadt) vom 18.11.1989, S. 6 oder »Hier spricht die Opposition«, in: LVZ vom 9./10.12.1989, S. 12/13.

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stützt und politisch umsetzbar macht. Verbände, Parteien, Gewerkschaften, Bürgerinitiativen und politische Vereinigungen bieten nach innen einen Raum für Austausch und Diskussionen, deren Ergebnisse sie nach außen artikulieren und in den politischen Entscheidungsprozeß einbringen. In der DDR, wo die existierenden Verbände und Parteien kaum mehr als Herrschaftsinstrumente der SED waren, bestand daher im November nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Notwendigkeit, die organisatorische Basis einer Zivilgesellschaft zu schaffen. In diesem Sinne erklärte der Leipziger Sprecher des Neuen Forums, Edgar Dusdal, am 18. November 1989: »Langsam lernen wir den aufrechten Gang, doch damit wir nicht ins Leere laufen und uns wieder im Privaten verlieren, brauchen wir neue Vereinigungen, neue Parteien, neue freie Gewerkschaften, neue Jugendverbände.«82 Dieser Aufforderung bedurfte es indes nicht: Fast täglich meldeten die Zeitungen im November die Gründung neuer Organisationen, die zwar den von der Bürgerbewegung geschaffenen Freiraum nutzten, von ihr aber nicht initiiert oder gar koordiniert wurden. Vielmehr agierten die neu ins Leben gerufenen Organisationen autonom und versuchten in ihren jeweiligen gesellschaftlichen Bereichen, demokratische Gegengewichte zu den bestehenden Interessenvertretungen der Studenten, der Jugend, der Arbeiter, der Frauen oder der Postler zu schaffen.83 Im Zentrum dieses zivilgesellschaftlichen Aufbruches aber standen die oppositionellen Gruppen, für die im November die Phase der organisatorischen und programmatischen Konsolidierung begann. Angesichts der konspirativen und unkoordinierten Mechanismen, denen die Mitgliederwerbung in der Anfangsphase gefolgt war, sahen sich alle oppositionellen Gruppen mit demselben Problem konfrontiert: Aufgrund der Tatsache, daß die Gruppenzugehörigkeiten oftmals eher dem Zufall als der weltanschaulichen Affinität geschuldet waren,84 vereinigte sich in allen »ein bunter Haufen mit großem Spannungsbogen«,85 wie Neubert für den Demokratischen Aufbruch feststellte. Nachdem im November wesentliche Hauptziele erreicht und 82 Edgar Dusdal, Rede auf der Kundgebung des NF am 18.11.89 in Leipzig, zit. nach LVZ 20.11.1989, S. 1/2. 83 An fast allen Universitäten der DDR gründeten sich im November unabhängige Studentenräte und -verbände, die am 17.11.89 zu einer gemeinsamen Demonstration von 10.000 Studenten in Berlin zusammenkamen (vgl. Bahrmann/Links, S. 116). Zur Gründung des Revolutionären Autonomen Jugendverbandes am 15.11. siehe Reum/Geißler, S. 98. Zur Initiative für unabhängige Gewerkschaften, die am 4.11. mit einem Aufruf an die Öffentlichkeit trat, vgl.Jander. Zu den neuenstehenden Frauenverbänden, die sich Anfang Dezember im Unabhängigen Frauenverband zusammenschlossen, siehe Hampele. Zur Gründung der Freien und Unabhängigen Postgewerkschaft am 12.12.89 in Erfurt siehe das Interview mit Reinhard Krex in: Dornheim/Schnitzler, S. 127ff. 84 Vgl. Gerd Poppe: »Wo etwas entstand, da ging man hin, in einem Ort die SDP, in einem anderen das Neue Forum; es war keine Entscheidung für eine Richtung, sondern für das, wo man gerade war«, Interview in Semtner, S. 169. 85 Ehrhart Neubert, Interview in: Gewerkschaftliche Monatshefte 40 (1989), S. 762.

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die Zeiten der Illegalität und Konspiration beendet waren, nutzten alle Gruppen daher die neuen Freiräume dazu, ihre Organisationsstrukturen zu festigen und ihre programmatische Ausrichtung zu bestimmen. Zwar gab es nach wie vor Stimmen, die für eine Vereinigung der verschiedenen Gruppen plädierten,86 die Entwicklung des Novembers aber zeigte einen gegenläufigen Trend: War bislang kaum die Zeit gewesen, über mittel- und langfristige Perspektiven nachzudenken, offenbarten sich in den Positionsbestimmungen, die im November vorgenommen wurden, deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Ansätzen, die zu einer Ausdifferenzierung des Gruppenspektrums führten. Nach wie vor aber bestand ein Konsens in zentralen Punkten: das gemeinsame Ziel einer Demokratisierung stand ebenso wenig in Frage wie die gemeinsame Frontstellung gegen die SED. Auf dieser Basis agierten die verschiedenen Initiativen weiterhin als Trägergruppen des Protests innerhalb einer Bewegung und kooperierten etwa bei den Vorbereitungen zum Runden Tisch. Ein weiterer Aspekt des Konsenses betraf das grundlegende Selbstverständnis der Gruppen. Sie alle sahen sich als Bestandteile einer neuentstehenden »demokratischen Infrastruktur«,87 die es in der DDR unterhalb der staatlichen Ebene aufzubauen galt. Über diese grundlegende Gemeinsamkeit bestand große Einigkeit, gleich welche organisatorischen Formen die Gruppen im einzelnen annahmen. Lediglich in der Frage, wie und mit welchem Ziel die Bevölkerung in die Gruppenstrukturen eingebunden werden sollte, wurden unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt: Bestandteil einer zivilen Gesellschaft zu sein, hieß für die einen, in basisdemokratischen Formen die gesellschaftlichen Diskussions- und Willensbildungsprozesse zu fördern, während die anderen parteiförmige Strukturen anstrebten, die darauf abzielten, die Ergebnisse der Willensbildungsprozesse an der Basis in das politische System zu vermitteln, ohne den basisdemokratischen Anspruch aufzugeben. Während sich im November immer deutlicher zeigte, daß sich das Neue Forum, Demokratie Jetzt, die Initiative Frieden und Menschenrechte und die Vereinigte Linke an einem basisdemokratischen Modell ausrichteten, tendierte außer der SDP nun auch der Demokratische Aufbruch seit Ende Oktober zu dem Selbstverständnis als Partei. Am 29./30. Oktober hatte der Initiativkreis des Demokratischen Aufbruchs zu einer Wiederholung der Gründungsversammlung eingeladen, die am 1. Oktober noch von Polizei und Staatssicherheit gestört worden war.88 Wie sehr 86 Vgl. etwa den Aufruf der Koalition der Vernunft, zu der sich die Leipziger Ortsgruppen von NF, DA, DJ und SDP am 11.11. zusammenschlossen, dok. in: die tageszeitung vom 13.11.1989, S.7. 87 Vgl. Ludwig Mehlhorn: »We knew that is was essential for a democratic society to have a democratic infrastructure, structures of a civil society that we could not build from one day to the other«, Interview in Philipsen, S. 373. 88 Vgl. die Einladung zum Treffen am 29./30.10.1989 in dem Schreiben Neuberts an die

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sich die Verhältnisse in dem Zeitraum zwischen den beiden Veranstaltungen verändert hatten, zeigte sich in dem am 29. Oktober gefällten Beschluß, den Demokratischen Aufbruch mittelfristig als Partei zu organisieren.89 Hatte man im September aus Angst vor den Reaktionen der SED noch gezögert, diesen Schritt zu vollziehen, erschien den Initiatoren die Gründung einer Partei Ende Oktober zum einen gefahrlos, da die Repressionsdrohung obsolet geworden war, und zum anderen auch angebracht, um ein Organ zu schaffen, das in dem dynamischen Demokratisierungsprozeß handlungsfähig sein sollte. Daher gab sich der Demokratische Aufbruch am 29. Oktober ein Statut, das den Status der Gruppe explizit als Partei beschrieb und entsprechende Organisationsstrukturen festlegte.90 Noch am gleichen Tag wurde der vorläufige Parteivorstand gewählt, der die Geschäfte bis zum Gründungsparteitag führen sollte. Erster Vorsitzender der jungen Partei wurde der Rechtsanwalt (und IM der Staatssicherheit) Wolfgang Schnur.91 Auch wenn sich der Demokratische Aufbruch in seinem Statut von der Organisationsstruktur der offenen Diskussionsplattformen wie dem Neuen Forum abgrenzte, distanzierte er sich zugleich von den hierarchischen Strukturen westlicher Parteien. Ein Diskussionspapier, das am Tag nach der Verabschiedung des Statuts das Selbstverständnis des Demokratischen Aufbruchs präzisierte, zeigte deutlich, daß der Demokratische Aufbruch analog zum Neuen Forum weder den gesamtgesellschaftlichen Anspruch noch die basisdemokratische Orientierung aufgegeben hatte. Als eine Partei »im Sinne eines neuen basisorientierten Demokratieverständnisses«92 beanspruchte der Demokratische Aufbruch, eine »Partei neuen Types«93 zu sein. Bei der Einlösung dieser Postulate sah sich die Partei aber vor immense Probleme gestellt, die besonders in der Programmfindung deutlich wurden. Bereits auf der ersten Vorstandssitzung am 4. November war für diese Aufgabe eine Kommission bestimmt worden, die mit Edelbert Richter und Ehrhart Teilnehmer des Gründungstreffens am 1.10.1989 (2.10.1989), ACDP: Bestand Michael Walter: VI-064-003, ohne Pag. 89 Das Partei-Statut, das am 29.10. beschlossen wurde, bestimmte den DA als »eine politische Vereinigung, die sich zur Partei entwickeln will.«, Statut des DA vom 29.10.1989, in: Rein, Opposition, S. 43. 90 Vgl. das Parteistatut des DA vom 29.10.1989, in: Rein, Opposition, S. 38-45. Zur Entwicklung des DA vgl. Kammradt, S. 59ff.; Eppelmann, S. 339f; E. Richter, S. 35ff; das Interview mit H. Wagner in Philipsen, S. 234ff. und die zeitgenössischen Interviews mit Eppelmann und Neubert in Rein, Opposition, S. 49ff. 91 Vgl. das Protokoll des Treffens: »Beschluß vom 29.10.1989« (ACDP, DA Thüringen, VI-061-005/3, ohne Pag.). Zur Person Schnurs und seinem Engagement als IM siehe Süß, Staatssicherheit am Ende, S. 698. 92 Diskussionspapier des DA vom 30.10.1989, in: Schüddekopf, S. 166-170, Zitat S. 167. Im Statut, das der Mitgliederversammlung eher akklamatorische Funktionen zusprach, kam diese Orientierung allerdings nicht zum Tragen. 93 Rainer Eppelmann, Interview in der Jungen Welt vom 9./10.12.1989, S. 6.

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Neubert aus den beiden Personen bestand, die schon im September die ersten Programmentwürfe gestaltet hatten. Jedoch zeigte sich schnell, daß die Hoffnung getrogen hatte, durch die Gründung einer Partei in kürzester Zeit zu handlungsfähigen Strukturen und aussagekräftigen Positionen gelangen zu können. So berichtet Richter, er habe auf der ersten offiziellen Pressekonferenz des Demokratischen Aufbruchs am 10. November einen »peinlichen Widerspruch zwischen dem Aufwand an Öffentlichkeit und dem spärlichen Inhalt, den wir mitzuteilen hatten«94 empfunden. Die Ursachen dieses Defizits, das allen Gruppen gemeinsam war, lassen sich am Beispiel des Demokratischen Aufbruchs exemplarisch verdeutlichen. Bezüglich der konkreten Arbeitssituation sahen sich Richter und Neubert vor dieselben Probleme gestellt, die auch die Bemühungen aller anderen Gruppen prägten. Es mangelte ihnen an allem, was einen reibungslosen Arbeitsablauf hätte gewährleisten können. Telephone, Kopierer, etablierte Kommunikationsmechanismen, feste Büros, Computer sowie Vervielfältigungs- und Veröffentlichungsmöglichkeiten fehlten fast völlig und mußten durch private oder kirchliche Ressourcen ersetzt sowie durch persönliches Engagement ausgeglichen werden. Die materiellen Probleme erschwerten die ohnehin zeitintensive Programmarbeit, die von den Beauftragten zusätzlich zu ihren privaten und beruflichen Verpflichtungen sowie ihren anderen oppositionellen Aktivitäten - von Kundgebungsreden bis zu Gremiensitzungen - geleistet wurde.95 Wie alle anderen, die versuchten, programmatische Aussagen zu formulieren, betraten Neubert und Richter Neuland. Sie standen vor einer Situation, die sich in jeder Hinsicht von ihren bisherigen Erfahrungen unterschied. Hatten sie früher im kleinen Kreis Gleichgesinnter diskutiert, ohne je an die konkrete Umsetzung ihrer Überlegungen denken zu müssen, waren sie nun gezwungen, einer politischen Vereinigung ein Programm zu geben, mit dem man die Öffentlichkeit erreichen, politische Verantwortung übernehmen, Mitglieder werben und konstruktive Alternativen für die Zukunft aufzeigen konnte. Für diese Aufgaben mußten neue Themen besetzt und neue Ansätze entwickelt werden. So gut es Richter und Neubert auch gelang, diesen Anforderungen gerecht zu werden, konnten sie sich ebenso wenig wie die Vertreter anderer oppositioneller Gruppen aus den Wahrnehmungsmustern und Lösungsstrategien befreien, die aus den Konfliktlagen der achtziger Jahren resultierten. Von der Zurückweisung des Anspruchs der Massenorganisationen (FDJ, FDGB usw.), im Parlament vertreten zu sein, bis hin zu der Auseinandersetzung mit der effektiveren Gestaltung der Pläne für die volkswirtschaftliche Produktion, entwickelten sie ihre programmatischen Aussagen vor dem Hintergrund der 94 E. Richter, S. 37. 95 Einen Eindruck von der zeitlichen Belastung der Aktivisten vermittelt der autobiographische Text von E. Richter, S. 35ff.

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Krisen des SED-Regimes, d.h. der alten DDR. Das galt nicht zuletzt für das Festhalten an der Fortexistenz zweier deutscher Staaten, die nach dem Willen des Demokratischen Aufbruchs im Rahmen einer europäischen Friedensordnung kooperieren sollten.96 Zusammenfassend läßt sich für den Demokratischen Aufbruch festhalten, daß er organisatorisch wie programmatisch im November noch weit davon entfernt war, über handlungsfähige Strukturen, einen schlagkräftigen Apparat und politikfähige Programmvorstellungen zu verfügen. Seine Konstituierungsphase war nicht nur empirisch, sondern auch formal noch nicht abgeschlossen, denn erst ein Parteitag konnte den vorläufigen Strukturen Verbindlichkeit verleihen. Ein Parteitag jedoch erforderte ein immenses Maß an Vorbereitung, das Mitte Dezember als den frühestmöglichen Termin erscheinen ließ. Bis dahin standen alle Aktionen, Stellungnahmen und Maßnahmen unter Vorbehalt. In grundsätzlichen Fragen war die Partei bis Mitte Dezember formal entscheidungsunfähig. In einer vergleichbaren Situation befand sich die Sozialdemokratische Partei (SDP), die sich am 7. Oktober als letzte aller Gruppen gegründet hatte. Auch wenn man bereits Anfang Oktober die Grundsatzentscheidung über die Konstituierung als Partei gefällt und einen Vorstand gewählt hatte, waren die internen Debatten über Programm und Statut keineswegs zu einem Ende gekommen. Bis zum Parteitag, der im Falle der SDP erst vom 6.- 9. April 199097 stattfinden sollte, wurden unterschiedliche Modelle und Ansätze diskutiert. Organisatorisch standen dabei lange Zeit Entwürfe zur Diskussion, die zeigten, daß auch Teile der SDP die Vision einer Partei neuen Types verfolgten, die aus den negativen Erfahrungen mit der Staatspartei SED entstehen sollte. Innerhalb der Partei wollte man eine duale Struktur etablieren, welche die effektiven Strukturen eines traditionellen Parteiaufbaus durch rätedemokratische Elemente ergänzte, um ein Höchstmaß an innerparteilicher Demokratie zu gewährleisten.98 Auch programmatisch war die junge Partei noch nicht eindeutig festgelegt. Zwar hatte man sich in dem »Anspruch, etwas mehr Programmatik zu bieten«99 als das Neue Forum, frühzeitig über die Grundlinien eines Parteiprogramms geeinigt, aber bei dem Versuch, das Bekenntnis zu Rechtsstaatlichkeit, Parla96 Vgl. Vorläufige Grundsatzerklärung des DA im Statut vom 29.10.89, in: Rein, Opposition, S. 43-45. Zur Entwicklung des Programms vgl die Entwürfe aus der Zeit September bis November: ACDP, DA Thüringen, VI-061-005/3, ohne Pag. 97 Diesen Termin, der später auf den 22.-25.2.90 vorgezogen wurde, beschloß der SDP-Vorstand am 26.11.1989, vgl. das Protokoll der SDP-Vorstandssitzung am 26.11.1989 (AdsD, Bestand Martin Gutzeit III, Bl. 874). 98 Zur Statuendiskussion in der SDP vgl. Eimer und die Statutenentwürfe im Anhang des Bandes. 99 Ibrahim Böhme, Interview im Vorwärts (Nov. 1989), in: Jahrbuch der SPD 1988-1990, Bonn 1991, S. B14.

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mentarismus und sozialer Marktwirtschaft100 in ein politikfähiges Programm zu übersetzen, traf die SDP auf dieselben Probleme wie der DA: »Wir hatten kein Telefon«, so Angelika Barbe im Januar 1990 rückschauend auf den Herbst, »wir mußten aus der ganzen DDR anreisen. Die Vertreter wechselten von Sitzung zu Sitzung. Die Vorstandsmitglieder leisteten [... ] mehrfache Arbeit. Das heißt, da waren die Informationsveranstaltungen, damals noch in den Kirchen des ganzen Landes. Dann wirkten wir bei der Begründung vieler Bezirks-, Kreis- und Ortsverbände mit und arbeiteten gleichzeitig nachts an der Programmarbeit. Es kam zu endlosen Nachtsitzungen, um auf die sich überstürzenden Tagesereignisse überhaupt reagieren zu können.«101 Die Gründung von SDP-Ortsverbänden, die im November in großer Zahl entstanden,102 fügte zu den schwierigen Arbeitsumständen der Führungsgremien noch das Problem der innerparteilichen Kommunikation hinzu. Der Anspruch, als Partei einheitlich zu agieren, blieb daher noch bis in das Jahr 1990 weitgehend eine Fiktion, da weder Mitgliedskarteien noch etablierte Ansprechpartner der Regionalgliederungen existierten, die einen funktionierenden Informationsfluß hätten gewährleisten können. Einen völlig anderen Weg der gesellschaftlichen Selbstorganisation verfolgten das Neue Forum, Demokratie Jetzt, die Initiative Frieden und Menschenrechte sowie die Vereinigte Linke.103 Sie alle verfochten das Konzept offener Sammlungsbewegungen, in denen sich ein gesamtgesellschaftlicher Diskussionsprozeß entfalten sollte. Gegenüber den wenigen Hundert Mitgliedern von IFM und Demokratie Jetzt104 war vor allem das Neue Forum angesichts der weit über 200.000 Unterschriften in der Lage, diesen Anspruch einzulösen. Der grundsätzliche Unterschied zu den Parteien bestand darin, daß die Meinungs- und Willensbildung, die sich innerhalb des Neuen Forums entfalten sollte, nicht ergebnisorientiert war. Bevor die Bevölkerung, so die Überlegung, ihre Interessen durch Parteien vertreten konnte, mußte sie lernen, sich erstens 100 Vgl. die programmatischen Abschnitte im SDP-Statut vom 7.10.1989 (in: Dove/Eckert, S. 121ff.) und den programmatischen Vortrag Meckels am 7.10.1989 (in: Herzberg/von zur Mühlen, S. 319ff.). 101 Angelika Barbe: Rede auf der SDP-Delegiertenkonferenz am 13./14.1.1990, in: Jahrbuch der SPD 1988-1990, Bonn 1991, S. B20. 102 SDP-Verbände gründeten sich etwa in Rostock am 8.11., Plauen am 16.11., Magdeburg am 18.11. und in Greiz am 24.11., vgl »Gründungserklärungen von Orts-, Kreis- bzw. Bezirksverbänden« (AdsD Bestand Martin Gutzeit III, Bl. 804-817). 103 Die Vereinigte Linke, die zwar von der weltanschaulichen Ausrichtung am homogensten war, da sie explizit den Anspruch verfolgte, das linke Spektrum in sich zu vereinen, konnte erst Ende November ein erstes landesweites Arbeitstreffen abhalten. Vgl. Wielgohs, Vereinigte Linke, S. 286ff. und die Quellensammlung in AstA der TU Berlin, Bd.3: »Dokumente der Vereinigten Linken«. 104 Die IFM war durch die Mitgliederabwanderung im September geschwächt und konzentrierte sich wie DJ auf die inhaltliche Arbeit und weniger auf die Mitgliederwerbung, vgl. Templin/ Weißhuhn, 157ff. und Wielgohs/Müller-Enbergs, S. 113ff.

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ihrer eigenen Interessen bewußt zu werden und diese zweitens verantwortungsbewußt wahrzunehmen. In diesem Sinne als Schule der Demokratie zu verstehen, stand für das Neue Forum daher die Aktivierung und Politisierung der Bevölkerung im Vordergrund. Organisatorisch schlug sich dieses Ziel in einem dualen Aufbau nieder: Parallel zu den Orts-, Kreis- und Bezirksverbänden, welche die Informations- und Organisationsarbeit leisteten, bestanden auf jeder Ebene thematische Arbeitsgruppen, in denen ohne inhaltliche Vorgaben diskutiert werden konnte. Diesen Diskussionsforen kam aus der Perspektive des Neuen Forums eine immense Bedeutung zu. Sie sollten die eigentliche Demokratisierung der Gesellschaft leisten, indem sie in der konkreten Arbeit den Anspruch einlösten, die Bürger politisch zu aktivieren. Tatsächlich gab die Attraktivität, welche die thematischen Arbeitsgruppen überall im Land entwikkelten, zu Hoffnungen Anlaß. Allein in Berlin existierten achtzig Themengruppen, eine Aufstellung aus Weimar zählte 13 Arbeitskreise, die sich unter anderem zu den Themen Kulturpolitik, Volksbildung, Medien, Baupolitik, Verkehrsplanung oder Ethik gebildet hatten, und auch in zahlreichen anderen Städten bildeten sich thematische Diskussionsgruppen in ähnlicher Zahl.105 Allerdings zeichnete sich bald ab, daß die Binnenentwicklung des Neuen Forums hinter den Anforderungen zurückblieb. Mitglieder wie Sympathisanten erwarteten von der größten oppositionellen Gruppe konkrete inhaltliche Aussagen sowie effektive organisatorische Hilfestellungen.106 Auch das Neue Forum sah sich daher gezwungen, organisatorische Strukturen und programmatische Leitlinien zu entwickeln, obwohl beides den ursprünglichen Intentionen der Gründer zuwiderlief, die das Neue Forum als Ort eines offenen, eigendynamischen und vorgabenlosen Diskussionsprozesses sahen. Aus der Not, die Offenheit in feste Formen zu gießen, versuchte das Neue Forum, eine Tugend zu machen, indem die im November einsetzende Organisationsdebatte zu einem Exempel basisdemokratischer Willensbildungsprozesse stilisiert wurde. Mit dem Versuch, die kontroversen Vorstellungen zu einem gemeinsamen Ergebnis zusammenzuführen, ohne einzelne Stimmen zu unterdrücken, hoffte man, das Projekt einer selbstorganisierten und selbstverwalteten Gesellschaft erstmals in die Praxis umsetzen zu können. Die inhaltliche Breite der verschiedenen Vorstellungen, die innerhalb des Neuen Forums zur zukünftigen Organisationsform existierten, beschrieb Hans-Jochen Tschiche am 15. November folgendermaßen: »Übernahme politischer Verantwortung sagen die einen. Die anderen wollen so etwas wie eine außerparlamentarische Opposition bleiben. Wieder andere optieren für eine 105 Vgl. zu Berlin: Schulz, S. 20; zu Weimar: Victor, S. 139 und zu Leipzig: Unterberg, S. 150ff. 106 »Nun stehen wir hier in Wittenberg vor dem Problem, uns konstituieren zu wollen und dafür zwar eine Basis zu haben, aber keinen »Überbau« (Brief des NF Wittenberg an S. Pflugbeil vom 11.11.1989, in: Lintzel, S. 20). Solche und ähnliche Klagen über mangelnde Informationen und Organisationstrukturen waren Legion, vgl. RHA 3.1.3.: Briefe an das NF.

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Partei. Ich glaube, wir sollten ähnlich wie Solidarność vorgehen, als eine Platt­ form, die über einen politischen Arm verfügt«.107 Wenige Tage zuvor hatten die verschiedenen organisatorischen Modelle auf dem zweiten DDR-weiten Koor­ dinierungstreffen des Neuen Forums für kontroverse Auseinandersetzungen gesorgt. Während die Mitglieder des Gründerkreises um Bärbel Bohley auf einem möglichst offenen Konzept beharrten, meldeten sich aus Weißwasser oder Dresden Stimmen, die angesichts der veränderten Bedingungen für effek­ tivere und damit verbindlichere Strukturen plädierten. Um zu einer einver­ nehmlichen Lösung des Konfliktes zu gelangen, wurde nach der Wahl des Landessprecherrates eine Kommission gebildet, die bis zur Landesdelegierten­ konferenz Anfang Januar einen Statuten-Entwurf vorbereiten sollte.108 Anders allerdings als bei den Parteien wurde die Basis unmittelbar in den Meinungsbil­ dungsprozeß mit einbezogen. Bis zur ersten Sitzung der Kommission sollten aus allen Basisgruppen Vorschläge eingereicht werden, auf deren Grundlage die Kommission arbeiten sollte. In den folgenden zwei Wochen wurden die verschiedensten Ansätze in den Ortsgruppen beraten, dann auf der Kreis- und schließlich auf der Bezirksebene zusammengetragen, um von dort durch die Delegierten der Bezirke in die erste Sitzung der landesweiten Statutenkommission am 25. November übermittelt zu werden.109 Aus den sechs unterschiedlichen Entwürfen, die der Kommission an diesem Tag vorlagen, entwickelte sie ihrerseits einen Kompromißvorschlag, den sie wiederum zur Diskussion stellte.110 Bis zum 15. Dezember sollten Anregungen und Verbesserungen eingebracht werden, bevor auf dem nächsten Treffen am 20. Dezember eine Endfassung redigiert werden würde, die der Landesdelegiertenkonferenz am 6. Januar zur Abstimmung vorgelegt werden sollte.111 Im Rahmen des Zeitplanes gingen in den ersten Dezemberwochen Hunder­ te von Rückmeldungen ein, in denen einzelne Mitglieder, Ortsgruppen und thematische Arbeitsgruppen des Neuen Forums Änderungen zu marginalen Punkten und Formulierungen anbrachten oder auch den Vorschlag um neue

107 Hans-J ochen Tschiche, NF-Gründungsmitglied und Sprecher des Neuen Forum Mag­ deburg, Interview in: die tageszeitung vom 15.11.1989, S. 3. 108 Vgl. den Filmmitschnitt »Sprechertreffen 11.11.1989« (RHA Video NF 010: Sprechertref­ fen November); das Protokoll: »Zweites DDR-weites Koordinierungstreffen, 11.11. in Berlin« (RHA 3.1.1.1.1.2: Republikforen 1989/90, ohne Pag.) und Schulz, S. 36ff. 109 Vgl. dazu etwa die »Bemerkungen-Statuierungsschritte« in der 3. Sonderausgabe des Be­ zirksinfoblattes des NF/Magdeburgs, in: DGB-Bundesvorstand, S. 42. 110 Vgl. die Veröffentlichung des Vorschlages mit dem Kommentar: »Wir geben also nur ein Gerüst vor und bitten, dieses Skelett mit Fleisch zu füllen«, Neues Forum/Karl-Marx-Stadt in der Freien Presse vom 2.12.1989. 111 Begleitschreiben der Kommission zum Statutenvorschlag vom 25.11.1989, in: DGBBundesvorstand, S. 78.

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Punkte, Abschnitte und Themen erweiterten.112 Theoretisch wie praktisch sollte durch dieses Verfahren, das von Beginn an auf Konsensfindung gerichtet war, gewährleistet werden, daß das Neue Forum in seinen programmatischen und organisatorischen Zielstellungen »vollkommen verbunden mit dem Willen der vielen Menschen (blieb), die Veränderungen wünschten.«113 Der Preis für diese Verbundenheit mit allen, die an einer Demokratisierung interessiert waren - ein Kreis, der weit über das Neue Forum hinausging -, waren überaus langwierige Abstimmungsprozesse und offene interne Konflikte, die nicht von allen Mitgliedern des Neuen Forums als Ausdruck eines neuerwachten Pluralismus einhellig begrüßt wurden.114 Nicht zuletzt die Etablierung eines Geschäftsführenden Ausschusses, der faktisch Vorstandsfunktionen wahrnehmen sollte, zeigte, daß sich auch die Führungsgremien des Neuen Forums der Unzulänglichkeit des basisdemokratischen Ansatzes bewußt waren. Der Ausschuß, in dem nicht gewählte Vertreter, sondern die durch ihr Engagement legitimierten Erstunterzeichner des Gründungsaufrufes dominierten,115 war nicht nur hinsichtlich seiner demokratischen Legitimation äußerst fragwürdig. Seine Position innerhalb des Neuen Forums bedeutete einen Bruch mit den basisdemokratischen Prinzipien, denen der Organisationsaufbau der Vereinigung verpflichtet war. Als »heimliche Zweit-Regierung« 116 neben dem Landessprecherrat bedeutete das nicht an vorherige Basisdiskussionen gebundene Engagement der Initiativgruppe um Bärbel Bohley aber gleichzeitig - wie die Vielzahl von Appellen und Stellungnahmen zeigte - einen Gewinn an Handlungsfähigkeit. Während die Parteien daher versuchten, ihren hierarchischen Aufbau durch basis- und rätedemokratische Elemente zu öffnen, sah sich das Neue Forum gezwungen, seine offene Struktur durch Exekutivgremien zu ergänzen, um politisch handlungsfähig zu werden. Damit verfügte das Neue Forum seit Anfang Dezember zwar über die Möglichkeit, schneller als zuvor auf die Tagesereignisse zu reagieren; ein fertiges Programm lag jedoch auch hier noch nicht vor. In dem Glauben, 112 Vgl. die zahlreichen Briefe und Anschreiben zur internen Statutendiskussion, RHA 3.1.1.1.2.: »Statut«. 113 Ulrich Rogge: »Kurze Bemerkungen-Statuierungsschritte« in der 3. Sonderausgabe des Bezirksinfoblattes des NF/Magdeburgs, in: DGB-Bundesvorstand, S. 42. 114 Siehe etwa die kritischen Anmerkungen des NF Teterow zum Kontakttreffen am 11.11.1989: »Jetzt reden wir durcheinander und streiten uns wie die Affen in Kiplings Dschungelbuch ...«, in: neuesforum 2/1989, S. 3 (Nov. 1989), RHA: 3.1.1.1.5.: »Neues Forum Bulletin« ohne Pag. 115 Vgl. das Protokoll der »Beratung der Initiativgruppe und des Landessprecherrates am 5.12. im Französischen Dom/Berlin« (RHA: 3.1.1.1.1.1.: Neues Forum Republiksprecherrat: Protokolle 1989- 1990, ohne Pag.) Besetzt wurde der Ausschuß mit Bärbel Bohley, Jens Reich, Rolf Henrich, Sebastian Pflugbeil, Jutta Seidel, Eberhard Seidel und Christian Tietze. 116 Dietmar Halbhuber: »Rot? Grün? Schwarz? Blau? Bunt!«, in: neues forum 2/1989, S. lf. (Nov. 1989), RHA: 3.1.1.1.5.: »Neues Forum Bulletin«.

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noch über genügend Zeit zu verfügen, bekannte man sich ausdrücklich zu dem langwierigen Verfahren der basisdemokratischen Meinungsbildung, die erst Anfang Januar zu ersten Ergebnissen führen sollte.117 Die Auseinandersetzungen um die Organisationsformen prägten nicht zuletzt auch die verschiedenen Neugründungen, die im November innerhalb des Spektrums der oppositionellen Gruppen erfolgten. So waren unter den Protagonisten der Umweltgruppen, die in den achtziger Jahren einen großen Teil des politisch-alternativen Milieus der DDR ausgemacht hatten, im Herbst 1989 schon früh Stimmen laut geworden, die dafür eintraten, der Umweltproblematik einen eigenen organisatorischen Ausdruck zu verschaffen, weil sie sonst »im Rausch der Aktivitäten des Herbstes unter(zu)gehen« drohte.118 Aber auch wenn die Notwendigkeit der Gründung einer ökologisch orientierten Vereinigung unumstritten war, sorgte die Frage Partei oder Basisbewegung für Spannungen, die Anfang November zum Eklat führten. Ohne weitere Diskussionen abzuwarten, verkündete ein Initiativkreis am Rande eines überregionalen Treffens von Ökologie-Gruppen die Konstituierung einer Grünen Partei, die am 24. November offiziell gegründet wurde.119 Damit waren die Hoffnungen auf eine gemeinsame ökologische Initiative hinfällig, so daß sich diejenigen, die eine Parteigründung ablehnten, als Reaktion auf die Grüne Partei in dem Netzwerk Grüne Liga zusammenschlossen. Das Thema Umwelt wurde daher von zwei unterschiedlich verfaßten Organisationen besetzt, ohne daß in Sachfragen Differenzen zwischen den beiden bestanden.120 Den umgekehrten Weg gingen die zahlreichen Frauengruppen, die seit Oktober 1989 entstanden waren. Nachdem sich bereits Anfang Oktober mehrere Frauengruppen mit überregionalem Anspruch gegründet hatten, schlossen sich die verschiedenen Initiativen Anfang Dezember auf einem Frauenkongreß in der Berliner Volksbühne zu einem gemeinsamen Dachverband zusammen. Ein auf dem Gründungstreffen am 3. Dezember verabschiedeter Sofortmaßnahmenkatalog sollte auf frauenspezifische Probleme aufmerksam machen und die Interessen von Frauen im Umbruchsprozeß gewährleisten.121 Wie die Grüne Partei und die Grüne Liga verstand sich auch der Unabhängige Frauen117 Zu den weiteren Debatten und den ersten Programmentwürfen des Neuen Forums vgl. Schulz, S. 51ff. 118 Mario Hammel (Mitbegründer der Grünen Partei), zit. nach Kühnel/Sallmon-Metzner, S. 185. 119 Vgl. »Gründungsaufruf zur Grünen Partei in der DDR«, in: Schüddekopf, S. 186ff. Zu den Auseinandersetzungen um die Parteigründung siehe Kloth und Neubert, Geschichte, S. 862ff. 120 Vgl. dazu Kühnel/Sallmon-Metzner, S. 184ff.; »Grüne Partei versus Grüne Liga in der DDR«, in: die tageszeitung vom 27.11.1989, S. 5 und die ersten Texte von GP und GL im Anhang zu Jordan/Kloth, S. 475ff. 121 Vgl. zum UFV: Hampele; das Interview mit Ina Merkel in: die tageszeitung vom 6.12.1989, S. 8 und die Quellensammlung in: AstA der TU Berlin, Bd. 2: »Dokumente aus der Frauenbewegung in der DDR«.

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verband explizit als Teil der demokratischen Opposition, dessen Spektrum durch ein bestimmtes Thema ergänzt werden sollte. Insofern standen die neugegründeten Gruppen nicht nur im Zusammenhang mit der Ausdifferenzierung der oppositionellen Gruppen, sondern auch mit der eingangs angesprochenen Entstehung eines pluralistischen Verbandswesens. Als Teil der demokratischen Infrastruktur hatten sie ihren Anteil am »Erlebnis Pluralismus«, das im November, so Friedrich Schorlemmer, »ein kurzes Aufflackern von Demokratie als freier Kommunikation«122 ermöglichte. Für alle Gruppen läßt sich festhalten, daß sie im November noch vollauf mit ihrer programmatischen und organisatorischen Konsolidierung befaßt waren. Unabhängig davon, wie sie sich im einzelnen organisierten, stand für alle das kurzfristige Ziel im Vordergrund, effektive Formen für die Auseinandersetzung mit der SED zu finden. Daneben verfolgten alle Gruppen eine gemeinsame mittel- bis langfristige Perspektive. Die interne Konsolidierung war überall mit der Hoffnung auf einen gesellschaftlichen Neuanfang verbunden, der in der DDR nach der Überwindung der SED-Herrschaft eine bürgernahe und partizipatorische Demokratie etablieren sollte. Innerhalb dieser neuen Gesellschaft sollten die Projekte der Parteien neuen Types und der offenen Sammlungsbewegungen ihre Wirkung entfalten, wobei man, wie die anvisierten Wahltermine Ende 1990 zeigten, von relativ langen Zeiträumen ausging. Fügt man diesem Fazit die Ergebnisse des erstens Teiles dieses Kapitels hinzu, so läßt sich zusammenfassend konstatieren, daß sich die Bewegung im November noch nicht in einer neuen Phase der Auseinandersetzung sah. Nach wie vor bestand das primäre Ziel der oppositionellen Gruppen wie der Demonstranten in der Überwindung der SED; mittelfristig ging es um den Neuaufbau demokratischer Strukturen in der DDR, und bestenfalls langfristig stand die Frage der deutschen Einheit zur Diskussion, die erst nach der Demokratisierung der DDR auf die politische Tagesordnung gesetzt werden sollte. Aus der Sicht der Bewegung gab es daher keinen Anlaß, daran zu zweifeln, daß sich die bislang so erfolgreichen Strategien auch weiterhin bewähren würden. Tatsächlich aber sollten sich die Verhältnisse im Laufe des Novembers grundlegend verändern. Die Demokratisierungsprozesse gewannen unter dem Druck der Bewegung eine Eigendynamik, die weder vorhersehbar noch kontrollierbar war. Der unaufhaltsame Zusammenbruch der Herrschaftsstrukturen von Partei und Staat, ein eskalierendes Krisenbewußtsein, das von der sukzessiven Offenlegung der tatsächlichen Lage der DDR geschürt wurde, und nicht zuletzt die Tatsache, daß die neugeschaffene Öffentlichkeit auch Raum für unvorhergesehene Stimmen bot, überführten die Auseinandersetzung um die Demokratisierung in eine neue Phase. Sie war durch zwei zentrale Themen gekennzeichnet: durch die Gewaltfrage und durch die deutsche Frage, die je122 Schorlemmer, S. 302.

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weils zentralen Prinzipien der Bürgerbewegung entgegenliefen. Denn nach wie vor war die Bewegung einer gewaltfreien Demokratisierung verpflichtet, deren politischer Rahmen die DDR sein sollte. Um so mehr sah sich die Bewegung gezwungen, auf diese Entwicklungen zu reagieren, die ihre Erfolge in Frage zu stellen drohten. Bevor jedoch die Reaktionen der Bewegung auf die neuen Herausforderungen untersucht werden, soll zunächst die Rekonstruktion derjenigen Prozesse im Mittelpunkt stehen, die Anfang Dezember die Handlungsbedingungen und -möglichkeiten der Akteure nachhaltig veränderten. Um die Dynamik dieser Entwicklung nachzuvollziehen, verlagert sich der Schwerpunkt der Darstellung daher erneut von der Bewegung auf die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen. 3. Gesellschaft / Staat - Land / Nation: Das Dilemma der Bewegung 3.1. »La grande peur« Die Monatswende vom November zum Dezember 1989 Die Maueröffnung am 9. November hatte die SED-Führung in einem denkbar ungünstigen Moment überrascht. Sie traf mitten in die zweitägigen Beratungen des Zentralkomitees, das versuchte, durch personelle und programmatische Signale der Erneuerung Anschluß an den demokratischen Wandel zu finden. Durch die Maueröffnung war das vom ZK beschlossene Aktionsprogramm der SED jedoch bereits zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung am 10. November Makulatur, so daß das ZK bereits drei Tage nach dem Ende der 10. Tagung erneut zu einem Treffen zusammengerufen wurde. Diesmal reagierte die SEDFührung jedoch weniger auf den Protest der Bürgerbewegung. Ausschlaggebend für das erneute Treffen war vielmehr der Druck der eigenen Basis, die in Demonstrationen, Protestbriefen und offenem Widerstand auf den Beratungen der Bezirks- und Kreistage gegen die halbherzigen Reformmaßnahmen der Parteiführung opponierte.123 Auf besonderen Unmut war der Beschluß des ZK gestoßen, angesichts der angespannten Lage nur eine Parteikonferenz einzuberufen, während die Mitglieder einen Parteitag verlangten, der als höchstes Organ der Partei berechtigt war, Grundsatzentscheidungen zu fällen und über die Besetzung der gesamten Führungsebene zu bestimmen. Drei Tage, vom 10. bis zum 13. November, 123 Bereits in der Eröffnung der 11. Tagung des ZK der SED am 13.11.1989 verwies Krenz auf »Zehntausende Briefe«, während Frank Fichte sowie Herbert Richter von »erschüttenden« und »bestürzenden« Szenen auf den Kreis- und Bezirkstagen berichteten, vgl. die Dokumentation der Beratungen in Hertle/Stephan, S. 440, 447f.

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dauerte es, bis sich die SED-Basis durchsetzte und das ZK zwang, der Forderung nachzugeben und sich selbst sowie die Zukunft der Partei durch die Einberufung eines außerordentlichen Parteitages zur Disposition zu stellen. Eine Regelung im Parteistatut verlieh der Auseinandersetzung eine besondere Bedeutung. Sollte das ZK, so bestimmte der Artikel 35, dem erklärten Willen der Mitglieder nach einem Parteitag nicht nachkommen, hatte die Basis das Recht, ein Komitee zu bilden, das an der Parteiführung vorbei und notfalls auch gegen deren Willen einen Parteitag einberufen konnte. Damit stand auf der ZKTagung am 13. November erstmals die konkrete Gefahr einer Spaltung der SED im Raum.124 Durch die Ankündigung eines außerordentlichen Parteitages konnte die Spaltung zwar verhindert werden, trotzdem aber markierte das Aufbegehren der Parteibasis den Beginn eines internen Auflösungsprozesses der SED, deren Niedergang im November, so Walter Süß, »in einen rasanten Sturzflug«125 überging. Bereits der Protest gegen die Ankündigung einer Parteikonferenz hatte gezeigt, daß die ehemals akklamatorische Einbeziehung der Basis der Vergangenheit angehörte. Sorgte der ungewohnte Widerspruch bereits für Verunsicherung an der Parteispitze, wurde die Partei durch die Veränderungen, die sich im Kadersystem vollzogen, noch empfindlicher getroffen. Während die SED auf der höchsten Ebene, dem Politbüro und dem ZK, nur einige belastete Funktionäre auswechselte, war der personelle Neuanfang auf den nachgeordneten Ebenen fast vollständig. Bis zum 20. November waren alle 15 Ersten Sekretäre der SED-Bezirksleitungen und 13 ihrer Stellvertreter abgesetzt worden, 142 Erste Sekretäre von SED-Kreisleitungen waren zurückgetreten, und drei weitere hatten Selbstmord verübt. Von denjenigen, die noch im Amt verblieben waren, meldeten sich Hunderte krank. Der Rückschlag für die Handlungsfähigkeit der Partei, der mit dem Verlust so zahlreicher altgedienter Kader einherging, wurde durch die Art und Weise der Neubesetzung der Posten noch verstärkt. Anstatt darauf zu warten, daß die Kader von oben bestimmt und eingesetzt wurden, wählten die jeweiligen Parteiorganisationen ihre Sekretäre auf einmal selbständig. Die Tatsache, daß die Parteispitze die Namen der neuernannten Funktionäre mitunter erst aus den Tageszeitungen erfuhr, dokumentierte den Zusammenbruch des Nomenklatursystems und damit eines der zentralen Funktionsprinzipien einer kommunistischen Partei.126 Ende des Monats erreichte der Selbstauflösungsprozeß der SED eine neue Stufe. Einzelpersonen und Grundorganisationen der Partei sahen sich in ihrem Unmut über die Führung zu Schritten veranlaßt, die wenige Wochen zuvor als 124 Vgl. die Eröffnungsansprache von Krenz und den Kommentar von Hager, der angesichts der Angriffe auf die Führung eine Parallele zur »mittelalterlichen Inquisition« zog, ebd., S. 440, 447. 125 Süß, Entmachtung, S. 53. 126 Vgl. Bortfeldt, S. 119ff

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offene Fraktionierung unweigerlich Parteikontrollverfahren und Parteiausschlüsse nach sich gezogen hätten. Als »Plattform WF« schlossen sich am 30. November 150 SED-Mitglieder aus verschiedenen Berliner Betrieben und wissenschaftlichen Einrichtungen zusammen, um der Parteiführung offenen und organisierten Widerstand entgegenzusetzen. Mit der Erklärung: »Der Parteiführung und dem sie stützenden Apparat entziehen wir unser Vertrauen«,127 verband die Plattform den Anspruch, sich in die laufenden Parteitagsvorbereitungen einzuschalten, da man dem Erneuerungswillen der Parteiführung mißtraute. Die öffentliche Demontage der Parteiführung erfuhr am 2. Dezember ihre Fortsetzung, als Hans-Joachim Willerding seinen Rücktritt aus dem Politbüro mit der Bekanntgabe von Interna begründete und in einer vom Neuen Deutschland abgedruckten Erklärung feststellte, daß das Politbüro »den Anforderungen einer revolutionären Erneuerung in unserem Land und in der Partei nicht gerecht«128 werde. Die radikale Kritik aus der eigenen Partei entzog der SED-Führung das Mandat. Krenz, der Anfang Dezember erleben mußte, daß er als Generalsekretär der SED auf einer Demonstration von SED-Mitgliedern vor dem ZKGebäude niedergeschrieen wurde,129 gab am 3. Dezember auf. »Ohne den geringsten Versuch einer Gegenwehr«,130 so resümieren Hans-Hermann Hertle und Gerd-Rüdiger Stephan, löste sich an diesem Morgen zunächst das Politbüro auf, bevor am Nachmittag des gleichen Tages das ZK und sein Generalsekretär Krenz zurücktraten. Die gegenseitigen Schuldzuweisungen, persönlichen Schuldbekenntnisse und verzweifelten Unschuldsbeteuerungen auf dieser letzten ZK-Tagung offenbarten eine Handlungsunfähigkeit, die an Hilflosigkeit grenzte. Den dramatischen Höhepunkt der Sitzung schuf mit Bernhard Quandt einer der ältesten und altgedientesten Funktionäre, der als ehemaliger Häftling in Sachsenhausen und Dachau das antifaschistische Erbe der Partei personifizierte. Unter Tränen ergriff er das Wort, um der Runde kämpferisch seine Waffe, die er zur »Verteidigung der Revolution« benutzt habe, zu präsentieren und die Wiedereinführung der Todesstrafe zu fordern, um »alle standrechtlich zu erschießen, die unsere Partei in eine solche Schmach gebracht haben«.131 Nachdem die Volkskammer bereits am 1. Dezember den in Artikel 1 der Verfassung verankerten Führungsanspruch der SED annulliert hatte, war die Existenz der SED als Herrschaftsapparat mit dem Rücktritt aller zentralen Füh127 Zur Plattform WF, benannt nach dem Treffpunkt, dem Werk für Fernsehelektronik, vgl. Gysi/Falkner, S. 56ff, Zitat S. 62. 128 »Erklärung Hans-Joachim Willerdings«, in: ND vom 4.12.1989, S. 3. 129 Vgl. Klaus Hartung: »Die Wende wird zum Wandlitzgate«, in: die tageszeitung vom 4.12.1989, S. 3. 130 Hertle/Stephan, S. 97. 131 Wortmeldung von Bernhard Quandt auf der ZK-Tagung am 3.12.1989, dok. in: ebd, S. 469ff.

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rungsgremien am 3. Dezember faktisch beendet. Die immense Geschwindigkeit des Niederganges ebenso wie die groteske Intervention Quandts sind jedoch aus einer parteiinternen Perspektive allein nicht zu erklären. Die Schmach der SED und die mit den Händen greifbare Angst der Spitzenkader, persönlich zur Verantwortung gezogen zu werden, waren Teil einer Entwicklung, der sich seit Ende November alle Ereignisse in der DDR unterordneten. »La Grande Peur« - diese Bezeichnung steht in Frankreich für die allgegenwärtige Furcht vor namenlosen Räubern, deren angeblich bevorstehendes Auftauchen am Vorabend der Französischen Revolution weite Teile Frankreichs in Angst und Schrecken versetzte und vielerorts zu Unruhen führte. Der Aufruhr stand allerdings in keinem Verhältnis zu der tatsächlichen Gefahr. Es war, wie der französische Historiker Georges Lefebvre 1932 herausgearbeitet hat, eine bestimmte historische Konstellation, welche die Panik erzeugte. Strukturell war die Angst mit der Wirtschaftskrise verbunden, die Versorgungsengpässe und Hungersnöte befürchten ließ. Zugleich gingen zeitgenössische politische Probleme in sie ein, da hinter den Räuberbanden eine aristokratische Verschwörung vermutet wurde. Diese Elemente der Furcht boten jedoch nur die Voraussetzung für das eigentliche Spezifikum der Großen Angst: die Eigendynamik der Gerüchte. Informationen über die Taten und Pläne der Räuber wurden im ganzen Land kolportiert, und die Überzeugungskraft der Nachrichten wuchs proportional zur Angst, die ihrerseits wieder neue Beweise für die Anwesenheit der Räuber hervorbrachte. Während Dörfer und ganze Städte sich auf das unweigerlich bevorstehende Eintreffen der Räuber vorbereiteten, gediehen Gerüchte und Geschichten, die schon deswegen Glauben fanden, weil man die Banden ohnehin erwartete. Ebenso geriet jede staatliche Gegenmaßnahme zu einem augenscheinlichen Beweis für die drohende Gefahr, so daß sich die Große Angst innerhalb von Tagen mit immenser Geschwindigkeit durch Frankreich ausbreiten konnte.132 Die Situation, die zur Monatswende vom November zum Dezember 1989 in der DDR herrschte, war der von 1789 nicht unähnlich. Abgesehen davon, daß die Räuber diesmal Namen hatten - Honecker, Tisch, Schalck-Golodkowski -, zeigten sich viele Elemente der »Grande Peur«, die als historische Parallele dazu dienen kann, die Entwicklung in der DDR nachzuzeichnen. Den Anstoß für die Krisenentwicklung in der DDR boten die ersten Informationen über das tatsächliche Ausmaß der Wirtschaftsprobleme, die seit Mitte November an die Öffentlichkeit drangen. Auf der Volkskammertagung am 13. November, die erstmals den Charakter eine parlamentarischen Debatte trug, mußte Finanzminister Höfner dem Drängen der Abgeordneten nachgeben und Fragen zur Finanzsituation der DDR beantworten. Die bislang streng gehüteten Zahlen sorgten für Entsetzen. 130 Milliarden Mark, so Höfner, betru132 Vgl. Lefebvre, bes. S. 161ff.

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gen die Verbindlichkeiten der DDR, wobei er nicht von den Auslands-, sondern nur von den Inlandsschulden sprechen konnte. Bezüglich der wesentlich sensibleren Frage der Auslandsverschuldung wurde das Parlament weiterhin in Ungewißheit gehalten, da Gerhard Schürer darauf verwies, daß diese Zahlen geheime Verschlußsache seien und deshalb nicht bekanntgegeben werden dürften.133 Die Geheimhaltung fachte Spekulationen indes nur noch weiter an, so daß die Schulden bereits zwei Tage später auf 20 Milliarden Dollar geschätzt wurden, wie die Berliner Zeitung mutmaßte, bevor Christa Luft die Nettoverschuldung am 30. November offiziell auf 10 Milliarden Dollar bezifferte.134 Unmittelbar greifbar wurden die Wirtschafts- und Finanzprobleme der DDR in der Konfrontation mit der westdeutschen Wirtschaftskraft, die zwar nicht eine Hungersnot, aber doch eine Währungsknappheit und einen drohenden Ausverkauf der DDR an den Westen befürchten ließ. Der von Tag zu Tag, von West-Reise zu West-Reise bis auf 1:20 gegenüber der D-Mark sinkende Umtauschkurs entlarvte die Behauptung der internationalen Konkurrenzfähigkeit der DDR als Propaganda und verlieh den Meldungen über einen drohenden Ausverkauf der DDR ihre Glaubwürdigkeit. Die neue DDRRegierung unter Hans Modrow, der die Angst vor einem Ausverkauf zur Begründung seiner Abgrenzungspolitik gegenüber der Bundesrepublik nutzte, tat das Ihre dazu, diese Befürchtungen zu schüren. Die offizielle Mitteilung, daß bereits die horrende Summe von drei Milliarden Ost-Mark in den Westen abgeflossen sei, bot den Anlaß zu der Verordnung, daß bestimmte Waren in der DDR nur noch bei Vorlage eines DDR-Personalausweises verkauft werden durften.135 Diese einschneidende Maßnahme schien das Ausmaß der Bedrohung nachdrücklich zu bestätigen. Gab die manifeste Angst vor einem Waren-, Devisen- und Währungsmangel allein schon Anlaß zur Sorge, war die Krisenstimmung doch nur die Grundlage für den eigentlichen Skandal. Die Diskrepanz zwischen der Waren- und Devisenknappheit in der Bevölkerung auf der einen Seite und die verantwortungslose Mißwirtschaft der ehemaligen Spitzenfunktionäre auf der anderen Seite bereiteten das Feld, auf dem die Gerüchte, Schauermeldungen und Verschwörungstheorien gedeihen konnten, welche die DDR Anfang Dezember in Atem hielten. In ihrem Bemühen, sich als neue Kraft des Umbruchs zu präsentieren, war es die Regierung der DDR, welche die ersten greifbaren Anhaltspunkte für Kor133 Vgl. die Wortbeiträge der Volkskammertagung vom 13.11.1989 in: Herles/Rose, Parlaments-Szenen, S. 170ff. (Höfner) und 179ff. (Schürer). 134 Christa Luft, stellv. Vorsitzende des Ministerrates für Wirtschaft, bezifferte die Auslandsschulden der DDR auf 19 Mrd. Dollar, denen 9 Mrd. Dollar Guthaben gegenüberstanden, vgl. »Baldige Einigung über Devisenfonds«, in: ND vom 1.12.1989, S. 1. 135 Vgl. zu den »Maßnahmen gegen Schieber und Spekulanten« die Mitteilungen im ND vom 24.11.1989, S. 1/2.

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ruption und Machtmißbrauch lieferte. Die Verfügung des Landwirtschaftsministers Bruno Lietz, der am 15. November anordnete, die sogenannten Sonderjagdgebiete der Staats- und Parteielite aufzulösen, wurde zur regierungsamtlichen Bestätigung der Tatsache, daß es tatsächlich große Waldgebiete in der DDR gab, in denen die Spitzenfunktionäre nach Gutsherrenart Privatjagden veranstalteten.136 Die Nachricht, daß diese Waldgebiete von volkseigenen Forstbetrieben betreut und mit Devisen finanziert worden waren, gab das Thema für die folgenden Auseinandersetzungen vor: Bereicherung auf Kosten der Bevölkerung in Kombination mit einer rücksichtslosen Verschwendung der knappen Devisenbestände.137 Die DDR-Medien, nur wenige Wochen zuvor noch kaum mehr als Sprachrohre der Parteimeinung, nahmen sich dieses Themas mit investigativem Journalismus an. Bereits am 18. November präsentierte die Berliner Zeitung einen ehemaligen Mitarbeiter des VEB Spezialbau Potsdam, der über Sonderaufträge berichtete, die sein Betrieb über Jahre für »Leute, die Referenzen von ihren Politiker-Vätern, -Großvätern, -Onkeln mitbrachten,« geleistet hatte. Unter anderem für die Häuser der Kinder von Horst Sindermann und Günter Mittag seien »kanadisches Holz, italienisches Fußbodenmosaik, westdeutsche Sanitärkeramik«138 beschafft sowie Bidets als Standardausstattung der Bäder montiert worden. Nach diesen ersten, noch vereinzelten Nachrichten erhielten die Mutmaßungen über Vetternwirtschaft und Verschwendung kurz darauf einen Namen: Wandlitz, die Wohnsiedlung der Parteispitze im Norden Berlins. Schon bald kursierten Gerüchte über ein verschwenderisches Angebot von Luxuswaren, die durch nächtliche LKW-Kolonnen nebst anderer Beweismittel aus der Siedlung herausgeschafft worden sein sollten. Alle Versuche, diesen Gerüchten durch offizielle Erklärungen und einen Besichtigungstermin für die DDRPresse entgegenzutreten, blieben erfolglos. Wiederum war es die Berliner Zeitung, die einen Informanten fand, der die Unschuldsbeteuerungen Lügen strafte. Als Mitarbeiter eines Intershop-Lagers bestätigte er, daß in den vorhergehenden Wochen hundert Paletten mit Kosmetika und Unterhaltungselektronik aus westlicher Produktion angekommen seien, bei denen es sich um Waren aus Wandlitz gehandelt habe, die in den Intershops verschwinden sollten.139 Meldungen aus den Gebieten, in denen die Datschen der Funktionäre lagen, sorgten gegen Ende des Monats dafür, daß kaum noch ein Tag ohne neue Enthüllungen verging. Von den Zeitungen jeweils wechselseitig aufgenommen und abgedruckt, ergab eine Serie von Artikeln über die Häuser und ihre luxu136 »Die Sonderjagdgebiete werden aufgelöst«, in: Berliner Zeitung vom 16.11.1989, S. 2. 137 Vgl. den Artikel in den Norddeutschen Neuesten Nachrichten zum Jagdgebiet Schürers, in: Bahrmann/Links, S. 126. 138 »Geheimnisvolle Bauten hinter dichten Hecken«, in: Berliner Zeitung vom 18./19.11.1989, S. 6. 139 Vgl. »Dior-Packung kam direkt aus Wandlitz«, in: Berliner Zeitung vom 28.11.1989, S. 1/2.

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riöse Ausstattung mit westlichen Bädern, Computern, Kühlschränken und Fernsehgeräten das einheitliche Bild einer systematischen Veruntreuung und Bereicherung an Waren, die für den durchschnittlichen DDR-Bürger unerfüllbare Konsumträume symbolisierten.140 Dieser Eindruck wurde am 1. Dezember 1989 offiziell bestätigt, als der am 13. November von der Volkskammer eingesetzte Untersuchungsausschuß zu Amtsmißbrauch und Korruption einen ersten, vorläufigen Bericht vorlegte, dessen Ergebnisse alle Spekulationen übertrafen.141 Als schließlich noch bekannt wurde, daß der FDGB 100 Millionen Mark aus einem Spendenfonds für notleidende Völker abgezweigt hatte, um das Propagandaspektakel des FDJPfingstfestivals zu finanzieren, war das Bild der Räuber komplett. Die Telephonnummer 2020 der am 4. Dezember eigens eingerichteten Anlaufstelle zur Meldung von Fällen von Amtsmißbrauch und Korruption avancierte binnen Stunden zur »meistgewählten Nummer im Land«,142 unter der Tausende von Bürgern ihre Beobachtungen zu den Machenschaften der Spitzenfunktionäre meldeten. Die Dynamik von Erwartung und Bestätigung, von vermuteten Mißständen und ihrer nachfolgenden Entdeckung, nahm ihren Lauf. Auf den Demonstrationen im Land überlagerte die Empörung über die Enthüllungen alle anderen Themen. Klang die Verbitterung in Rostock bereits am 16. November mit dem historischen Zitat »Arbeiteraristokraten haben uns verraten«143 an, verdrängte die Auseinandersetzung mit den Privilegien seit dem 20. November landesweit die bislang dominanten Themen der freien Wahlen und der Streichung des Artikels 1 der Verfassung. Ausnahmslos auf allen Demonstrationen brach sich eine ohnmächtige Wut über den Verrat an den sozialistischen Idealen, den Verrat am Volk Bahn: »Wandlitz, Leben wie aufWolke 7 und was ist für das Volk geblieben?«, hieß es in Erfurt, während ein Leipziger Transparent die Stimmung in der Bevölkerung auf den Punkt brachte: »Wir warn das Tier im Jagdrevier«.144 In den Volkszorn mischten sich bald Stimmen, die das neugewonnene Selbstbewußtsein des Volkes in eine Lynch- und Selbstjustiz überführten: »Harry [Tisch, d. Vf.] bleib in deinem Wald, zur Treibjagd kommen wir bald das Volk«.145 Angesichts der aufgeheizten Stimmung versuchten die Vertreter 140 Vgl. »Mit dem Hubschrauber zur ›Datsche‹«, Nachdruck eines Artikels der »Freien Erde« in der Berliner Zeitung vom 29.11.1989, S. 2, in dem ausführlich über Stophs Haus in Mecklenburg und die Kühlschränke, Weine, Süßigkeiten und Computer, »von A-Z aus westlicher Produktion« berichtet wurde. 141 Zu Arbeit und Ergebnissen des Untersuchungsausschusses siehe Klemm, bes. S. 71 ff. 142 Vera Gaserow: »Ventile für den Volkszorn«, in: die tageszeitung vom 6.12.1989, S. 3. 143 Slogan auf der Rostocker Demonstration vom 16.11.1989; Bericht der BVfS Rostock, in: Ammer/Memmler, S. 41. 144 Slogans von der Erfurter Donnerstagsdemonstration vom 30.11. (in: Schnitzler, S. 160) und von der Leipziger Montagsdemonstration am 4.12. (in: W. Schneider, S. 140). 145 Beide Slogans in Leipzig auf der Montagsdemonstration vom 27 11., in: W. Schneider, 128.

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der oppositionellen Gruppen ihr Möglichstes, um eine Eskalation zu verhindern, die den Konsens der Gewaltfreiheit in Frage gestellt hätte: »Wir haben ein Recht auf diesen Zorn, wir haben ein Recht auf unsere Wut, wir haben auch ein Recht auf Gerechtigkeit«, beschwor Klaus Zeh vom Demokratischen Aufbruch die über 10.000 Teilnehmer der Erfurter Demonstration vom 23. November. »Aber«, so fuhr er fort, »wir haben kein Recht auf Rache, wir haben kein Recht auf blinden Haß.«146 Die Eskalation der Stimmung hatte jedoch zunächst nur eine erste Stufe erreicht. Erst als sich immer deutlicher abzeichnete, daß die Verbrechen nicht nur von Einzelpersonen, sondern von Staats wegen begangen worden waren, schlug die Empörung in eine Große Angst um. Zum Symbol dieser Entwicklung wurde die KoKo, das Devisenbeschaffungsunternehmen des Alexander Schalck-Golodkowski. Von der Existenz der KoKo, der dem ZK der SED direkt unterstellten Abteilung kommerzielleKoordinierung«,erfuhr die Öffentlichkeit in Ost und West erstmals durch einen Artikel im Spiegel vom 20. November. Auf einer relativ dünnen Materialbasis, die sich vor allem auf länger zurückliegende Vorgänge stützte, zeichnete der Artikel ein Bild, das einer skrupel- und gesichtslosen Krake ähnelte: Betrügerische Tarnfirmen, verschobene Devisenmillionen, geheime Waffenverkäufe, lukrative Geschäfte am Rande der Legalität und vielfältige Verstrickungen mit der Staatssicherheit dienten, wie der Artikel nachdrücklich suggerierte, einem Ziel: der Beschaffung von Devisen zur Befriedigung der Sonderwünsche »vom Volvo für Politbüromitglieder bis zu Delikatessen für die fröhlichen Feste der Führungscrew«.147 Als am 2. Dezember tatsächlich bei Rostock ein Waffenlager entdeckt wurde, dessen Bestände unter dem Deckmantel der IMES-GmbH Bestandteil des Devisenhandels der KoKo waren, erreichte die Empörung ein neues Ausmaß. Daß die antifaschistische und friedliebende DDR im Staatsauftrag Waffenhandel betrieb, um den Luxusbedarf der Führung zu decken, kostete sie den letzten Rest von Legitimation, der ihr noch verblieben war. Nunmehr traute man der Führungsspitze alles zu.148 Dabei war es vor allem der undurchsichtige Charakter der Verstrickungen zwischen der KoKo, der Staatssicherheit und der ehemaligen Staats- und Parteiführung, die das Element der geheimnisumwitterten Machenschaften in die öffentliche Diskussion einführte und auf die Große Angst zuspitzte: auf die 146 Manuskript der Rede von Klaus Zeh (DA Erfurt) auf der Demonstration am 23.11.1989, ACDP, DA Thüringen, VI-061-006/3, ohne Pag. 147 »Fanatiker der Verschwiegenheit: Das einträgliche Geschaft des DDR-Staatssekretärs Schalck-Golodkowski«, in: Der Spiegel vom 20.11.1989, S. 49-59; Zitat S. 49. 148 Vgl. die Texte der Leipziger Demonstration am 4.12.: »Gestern: Amtsmißbrauch - heute: Waffenhandel - morgen: Drogenhandel - was erfahren wir noch?«, »Jetzt auch noch Waffenhandel - ist das die SED im Wandel?«, in: W. Schneider, S. 140f.

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Angst vor Seilschaften, die versuchten, sich aus ihrer Verantwortung zu stehlen, und die zugleich daran arbeiteten, ihre Pfründe zu retten und damit der DDR die dringendst benötigten Ressourcen vorzuenthalten. Für diese Verschwörungstheorie gab es stichhaltige Indizien wie die Verhaftung von Prominenten wie Harry Tisch und Günter Mittag am 3. Dezember, die Verhaftung eines Mannes, der mit einer halben Million D-Mark und verschiedenen Dokumenten in zwei Handkoffern versuchte, das Haus der Elektroindustrie in Berlin durch den Hinterausgang zu verlassen, und vor allem die Flucht von Schalck-Golodkowski, der sich in der Nacht vom 2. auf den 3. Dezember in den Westen absetzte.149 Ihre Wirkung entfaltete die Angst jedoch durch die Gerüchte, die mit jedem Beweis glaubwürdiger wurden: Das ZK der SED habe versucht, belastende Akten durch die staatliche Flugstaffel nach Rumänien ausfliegen zu lassen;150 Schalck-Golodkowski, nach dem nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch in Israel und der Schweiz gefahndet wurde, habe mehrere Milliarden D-Mark auf private Konten abgezweigt, und die Staatssicherheit betreibe seit Wochen eine großangelegte Aktenvernichtung. Die Gerüchte, die um Gold- und Silberbarren auf Schweizer Nummernkonten kursierten, fanden ihren Weg sogar bis in eine Anfrage in der Volkskammer.151 Jedes Gerücht fand Anhänger, und jeder Hinweis fügte ein neues Teil in das Puzzle aus Vertuschung und Bereicherung durch die alten Eliten ein. Unabhängig davon, welche Informationen stimmten und welche nicht, führte die Überzeugung, einer großen Verschwörung gegenüberzustehen, in den ersten Dezembertagen zu einer aufgeladenen Krisenstimmung, die allseits die Befürchtung von gewaltsamen Racheakten gegen Mitglieder der verdächtigten Organisationen wachrief »Terrorhandlungen, Geiselnahmen und ähnliches«152 befürchtete etwa der Leiter der Mß-Nachfolgeorganisation AfNS Wolfgang Schwanitz, der angesichts der vermeintlichen Bedrohung die Bezirks- und Kreisdienststellen seiner Behörde am 3. Dezember zu erhöhter Wachsamkeit aufrief. Selbst die Führung des Militärs, das nach der Entdeckung der Waffenlager in Verdacht geraten war, sah sich gezwungen, öffentlich vor Übergriffen auf NVA-Angehörige und -Gebäude zu warnen und das Gespenst von »Anarchie und Chaos«153 zu beschwören. Daß es sich bei diesen Maßnahmen nicht um die Auswüchse eines berufsbedingten Verfolgungswahnes der Sicherheitsorgane handelte, zeigten Initiativen wie der»Appellan die Vernunft, in dem zahlreiche Personen des öffentlichen Lebens eindringlich vor einer Es149 Zu der Kette von Ereignissen Anfang Dezember siehe die Chronik von Bahrmann/Links, S. 155ff. 150 Vgl. »ZK-Akten ins Ausland?«, in: die tageszeitung vom 5.12.1989, S. 1. 151 Redebeitrag des Abgeordneten Staegemann (NDPD) in der Volkskammer am 1.12.1989, zit. nach Hertle/Stephan, S. 470, Anm. 19. 152 Telegramm von Schwanitz an die Leiter der Dienststellen vom 3.12.1989, zit. nach Süß, Staatssicherheit am Ende, S. 611. 153 »Aufruf der Nationalen Volksarmee und Grenztruppen«, in: ND vom 7.12.1989, S. 2.

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kalation des »berechtigten Zorns«154 der Bevölkerung warnten. In der Erläuterung, die Konrad Weiß von Demokratie Jetzt am 5. Dezember zu dem Appell gab, wird die konkrete Angst vor einem Abgleiten der DDR in eine gewaltsame und unkontrollierbare Situation greifbar. So sagte Weiß in einem Interview mit der tageszeitung: »Wir sind in Sorge, daß die gegenwärtige Verschleierungspraxis der Stasi und anderer staatlicher Behörden viel Unmut hervorgerufen hat, daß es zu spontanen Handlungen kommt, die letzten Endes auch Leib und Leben von Menschen gefährden. [...] So wie die Stimmung im Augenblick ist, kann ich mir vorstellen, daß das [...] sehr schnell in Gewalttätigkeiten umschlägt. Oder daß der Volkszorn so aufbrandet, daß es zu Mißhandlungen von Sicherheitsleuten kommt.«155 Angesichts der unkalkulierbaren Reaktion, die solche Übergriffe seitens der Sicherheitsorgane nach sich gezogen hätten, schienen die Früchte des bislang Erreichten, der begonnene Umbruch und seine Gewaltlosigkeit, ernsthaft gefährdet zu sein. Die Forderung nach Öffentlichkeit über die Funktionsmechanismen des SED-Staates hatte mit einer rasanten Geschwindigkeit zu Ergebnissen geführt, welche die Erfolge der Bewegung in Frage stellten. Innerhalb von Wochen, wenn nicht Tagen hatte sich damit die Problemlage in der DDR radikal verändert. Die Wahrnehmung einer potentiell gewaltsamen Eskalation setzte neue Prioritäten und verdrängte die Demokratisierung der DDR von der Spitze der politischen Tagesordnung. Die Existenz der DDR selbst schien nunmehr auf dem Spiel zu stehen, so daß sich alle Bemühungen auf die Kontrolle der Situation und die Vermeidung von gewaltsamen Ausschreitungen konzentrierten. Gefährdet schien die Existenz der DDR nicht zuletzt auch durch eine erste, unvorhergesehene Folge, welche die Krisenstimmung bereits Ende November nach sich gezogen hatte: Immer mehr Bürger sahen den einzigen Ausweg aus den Problemen der DDR in einer deutschen Vereinigung. Die Perspektive einer deutschen Vereinigung hatte nicht unmittelbar nach dem Mauerfall an Attraktivität gewonnen, sondern erst mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung. Ihr Hintergrund war die Große Angst um die Zukunft und Zukunftsfähigkeit der DDR. Es ist daher irreführend, die Forderung nach der deutschen Einheit als automatische Folge der massenhaften Westbesuche zu verstehen.156 Auch wenn die Möglichkeit einer Vereinigung bereits seit dem 9. November prinzipiell denkbar war, wurde sie erst in dem Moment handlungsleitend, als das Krisenbewußtsein ein manifestes Interesse schuf, die DDR 154 »Appell an die Vernunft« (4.12.1989), in: Berliner Zeitung vom 5.12.1989, S. 1. Unterzeichnet hatten u.a. Albrecht Schönherr, Christoph Hein, Volker Braun, Toni Krahl, Wolfgang Berghofer, Gregor Gysi, Friedrch Schorlemmer und Konrad Weiß. 155 Konrad Weiß im Interview mit der tageszeitung vom 6.12.1989, S. 3. 156 So etwaJarausch, Einheit, S. 101: »Erste Eindrücke vom Westen widerlegten die Notwendigkeit der ostdeutschen Eigenstaatlichkeit.« 323 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35925-0

als Staat aufzugeben und für eine Vereinigung einzutreten. Als Ausdruck der Kombination von Krisenbewußtsein, materiellen Interessen und konkreter Lösungsperspektive waren die »Deutschland, einig Vaterland«-Sprechchöre deshalb nicht früher als Ende November lautstark zu vernehmen. Von diesem Zeitpunkt an jedoch entwickelte das Zusammenwirken der drei Faktoren eine Dynamik, die das Thema deutsche Einheit innerhalb von Tagen zum beherrschenden Thema der Demonstrationen und der öffentlichen Debatte machen sollte. Nicht nur die Vergangenheit der DDR, die mit den Affären um Korruption und Amtsmißbrauch für Furore sorgte, sondern auch ihre ungewisse Zukunft zwischen Eigenstaatlichkeit und Vereinigung, ließen die Situation in den ersten Dezembertagen eskalieren. Neue Perspektiven der weiteren Entwicklung rückten in den Bereich des Möglichen: Glitt die DDR in gewaltsame, bürgerkriegsähnliche Zustände ab? Konnte die Verwirklichung der Utopie einer wahrhaften, zivilen Demokratie gelingen oder plante die Staatssicherheit bereits die Konterrevolution?157 Würde die DDR den Aderlaß von Menschen, Waren und Währung in Richtung Westen verkraften? Übernahmen die oppositionellen Gruppen die Macht von der darniederliegenden SED? Oder sollten die westdeutschen Parteien vom Machtvakuum profitieren? Niemand hätte sagen können, welche Richtung die Entwicklung einschlagen würde. Für einen kurzen historischen Moment war die Situation ungeklärt, die Geschichte offen. Für die Untersuchung der Frage, mit welchen Möglichkeiten, Problemen und Erfolgen die Bürgerbewegung auf die neuen Bedingungen reagierte, bietet es sich an, die verschiedenen Herausforderungen in drei zentrale Aufgabenbereiche zu differenzieren. Aus der Sicht der Zeit heraus stellte sich erstens das Problem der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit und ihrer Folgen, also die Überwindung der SED-Herrschaft und vor allem die Auseinandersetzung mit der Staatssicherheit. Die zweite brennende Frage war, wie die Übergangszeit bis zur Etablierung eines neuen Systems gestaltet und gewaltfrei gehalten werden konnte, und drittens standen alle Akteure vor der Herausforderung, Zukunftsperspektiven für die DDR zu entwickeln. Auch wenn sich diese drei Aufgaben in vielen Fällen nur analytisch voneinander trennen lassen, soll ihre getrennte Behandlung im folgenden dazu dienen, das Engagement der Bürgerbewegung vor dem Hintergrund der Krise in der DDR zu untersuchen und ihre Erfolge und Probleme bei der Umsetzung ihrer Ziele zu erklären.

157 Am Runden Tisch wurde später tatsächlich ein Schreiben bekannt, in dem Mitarbeiter des BAfNS Gera am 9.12.1989 relativ unverhohlen zum Putsch aufriefen (Faksimile in Thaysen, Runder Tisch, S. 60f.).

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3.2. Die Lasten der Vergangenheit: Die Auflösung der Staatssicherheit Die Auflösung des Staatssicherheitsapparates war bereits seit dem Beginn der Protestwelle ein zentrales Thema der Demonstrationen gewesen. Vor dem Hintergrund der Gerüchte um Vertuschung und Verstrickung gewann die Forderung in den ersten Dezembertagen jedoch nochmals erheblich an Aktualität und Schärfe. Als Inbegriff des systematischen Macht- und Amtsmißbrauchs in der DDR rückte die Staatssicherheit in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Der Haß war zu groß, und die Vermutung, daß die Staatssicherheit inkriminierende Akten vernichtete,158 lag zu nahe, als daß die Beschwichtigungsversuche seitens der Regierung und des Ministeriums hätten Glauben finden können.159 Die rückhaltlose Auflösung der Strukturen und die Aufdekkung der Überwachungs- und Unterdrückungsmethoden schienen angesichts der verbreiteten Angst vor gewaltsamen Auseinandersetzungen das einzige Mittel zu sein, eine Eskalation zu vermeiden. Die Frage aber war, wie diese Maßnahmen durchgesetzt werden konnten, fehlte der Regierung doch offensichtlich der nötige politische Wille. In dieser Situation, in der eine Auflösung der Staatssicherheit zwar unabwendbar, von oben aber unmöglich zu sein schien, erfolgte der entscheidende Anstoß, der dem Fortbestand der Staatssicherheit von unten ein Ende setzte. Bereits die schon erwähnte Entdeckung des Waffenlagers, das die KoKo unter dem Deckmantel der IMES GmbH bei Rostock unterhielt, war nicht das Ergebnis einer staatlichen Intervention gewesen. Nicht die Polizei oder die Staatsanwaltschaft, sondern Anwohner und die lokalen Vertreter des Neuen Forums hatten die Waffenlager am 2. Dezember entdeckt und die Gebäude gewaltfrei besetzt.160Einen Tag später machte sich der Berliner Initiativkreis des Neuen Forums diese Initiative zu eigen, als er am Sonntag, dem 3. Dezember, während eines Treffens in der früheren Stammkneipe Robert Havemanns in Grünheide von der Flucht Schalck-Golodkowskis überrascht wurde: »Biermann warf einige Runden Cognac«, erinnert sich Matthias Büchner an das Treffen, zu dem Wolf Biermann und Jürgen Fuchs dazugekommen waren, »und die revolutionäre Stimmung stieg.« Dann aber die Nachricht: »Der Devisenbeschaffer Alexander Schalck-Golodkowski war verschwunden, Geld ins Ausland verschoben und Akten vernichtet.«161 Diese »Absatzbewegungen und Verschleierungsversuche«, so postulierte ein Aufruf, den die Anwesenden als 158 Tatsächlich hatte das MfS bereits am 6.11. begonnen, auf eine zentrale Anweisung hin belastende Materialien zu vernichten, vgl. M. Richter, Staatssicherheit, S. 61 ff. 159 Verschiedendlich versuchten die Verantwortlichen, die Bevölkerung zu beschwichtigen: Vgl. etwa »Öffentlichkeit ist auch für uns ein Thema«, Interview mit S. Hähnel (Leiter der BVfS Berlin), in: Berliner Zeitung vom 16.11.1989, S. 3. 160 Vgl. dazu Schmidtbauer, S. 94f. 161 Matthias Büchner, Interview in: Dornheim/Schnitzler, S. 293.

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Reaktion auf die Nachricht verfaßten, »müssen verhindert werden.« Das Mittel dazu sollten nicht staatliche Maßnahmen sein, sondern zivile. Dementsprechend richtete sich der Aufruf nicht an die Regierung der DDR. Die Bürgerinnen und Bürger waren es, denen das Mandat erteilt wurde und die zu Zivilcourage und Eigeninitiative aufgerufen wurden: »Ruft Belegschaftsversammlungen zusammen, die Kontrollgruppen für die Verhinderung solcher Machenschaften einsetzen. [...] Verständigt Euch mit anderen Betrieben und mit Bürgerbewegungen Eures Vertrauens. Beschließt wo nötig gemeinsame Kontrollmaßnahmen und sorgt für deren Öffentlichkeit...« 162 Damit waren die Linien der weiteren Auseinandersetzung vorgegeben, die Bedrohung jedoch keineswegs abgewendet. Erneut rückte Leipzig, wo am Montag, den 4. Dezember, eine weitere Montagsdemonstration erwartet wurde, in den Brennpunkt des Geschehens. Dort war es bereits in den vergangenen Wochen immer wieder zu Zwischenfällen vor der Runden Ecke gekommen, dem Gebäude der Leipziger Bezirksverwaltung des MfS, das direkt an der Demonstrationsroute lag. Nachdem noch am Morgen des 4. Dezembers ein Mitarbeiter der Hauptabteilung XXII des MfS (Terrorabwehr) im Radio ausführlich berichtet hatte, daß seine Abteilung Unterlagen in der Heizungsanlage verbrannt habe, wurde für die abendliche Montagsdemonstration in Leipzig das Schlimmste befürchtet.163 Es konnte nicht ausgeschlossen werden, daß Zehntausende aufgebrachter Demonstranten versuchen könnten, sich gewaltsam Zutritt zur Runden Ecke zu verschaffen. Zu der Stürmung des Gebäudes, das nach wie vor von bewaffneten Posten bewacht wurde, kam es jedoch nicht. Schon bevor die Demonstration in Leipzig begonnen hatte, war ein Weg zu einer gewaltfreien und friedlichen Lösung gefunden worden, als ein Bürgerkomitee den Demonstranten zuvorkam und das Gebäude besetzte. Die Art und Weise dieser Besetzung war indes keine Leipziger Sonderentwicklung. Wie in vielen anderen Städten, in denen am 4. Dezember die Gebäude der Staatssicherheit friedlich besetzt wurden, konnte man auch in Leipzig mit dem Bürgerkomitee eine Institution übernehmen, die man am Morgen des Tages in Erfurt gefunden hatte. Schon seit Tagen waren in Erfurt wie in allen anderen Städten Gerüchte über eine großangelegte Aktenvernichtung in den Gebäuden der Staatssicherheit kursiert. Niemand hatte es jedoch bislang gewagt, der Aktivität Einhalt zu gebieten, denn das Bedrohungspotential des Sicherheitsapparates war ebenso wie die über Jahre systematisch erzeugte Angst vor der Stasi ungebrochen. Wie 162 »Das Neue Forum wendet sich an alle Bürgerinnen und Bürger der DDR« (3.12.1989), RHA: 3.1.1.1.1.1.: Neues Forum Arbeitsausschuß/Vertreterrat, ohne Pag.. Derselbe Aufruf erschien am folgenden Tag wortgleich als gemeinsamer Aufruf von SDP, NF, DA, DJ und IFM (in: Michelis, S. 26). 163 Vgl. die Interviews in Leipziger Bürgerkomitee, S. 21ff. 326 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35925-0

allerdings Georges Lefebvre für 1789 anhand der Bürgerwehren feststellen konnte, führte auch die Große Angst von 1989 zu neuen Formen kollektiver Aktionen, in denen die Angst überwunden und den ›Räubern‹ Gegenwehr geleistet wurde. Wie 1789 war es auch in Erfurt eine Mischung aus Gerüchten und konkreten Anhaltspunkten, die zur Aktion führte. Am Morgen des 4. Dezembers erhielt Almut Falke einen Anruf von Kerstin Schön, die sie aus der Gruppe Frauen für Veränderung kannte. Aus der Andreasstraße, dem Sitz der Erfurter Bezirksverwaltung (bzw. seit dem 17. November dem Bezirksamt für Nationale Sicherheit), wurden, berichtete Schön, »Container abgefahren, und der Schornstein raucht schwarz.« Die Schlußfolgerung lag auf der Hand: »Die bringen Akten auf die Seite.« Was tun? »Trommel zusammen, wen du findest und besetz' die Tore. Ich mach' das gleiche.«164 Wie ein Lauffeuer verbreitete sich der Aktionsaufruf über Telephonketten von Haus zu Haus, von Pfarrei zu Pfarrei und von Betrieb zu Betrieb.165 Die Kaufhäuser und die Verkehrsbetriebe, die sich dem Aufruf anschlossen und Durchsagen in den Läden und Bussen machten, taten ein Übriges dazu, daß sich binnen kürzester Zeit eine große und stetig anwachsende Menschenmenge vor den Toren der Andreasstraße einfand. Bald war der Gebäudekomplex von einer Menschenkette umgeben, aus quergestellten Autos wurden provisorische Straßensperren vor den Eingängen errichtet, die Kofferräume von verdächtigen Autos wurden kontrolliert und Lastwagen an der Durchfahrt gehindert. Den Zutritt zum Gelände selbst jedoch hatte man noch nicht erzwungen, so daß die Stimmung trotz der Anfangserfolge gespannt blieb, zumal da man befürchten mußte, daß hinter den geschlossenen Toren bewaffnete Einheiten bereitstanden. Um die Lage zu entspannen und den Verantwortlichen im Gebäude eine Verhandlungslösung anzubieten, versuchte Kerstin Schön, die Erfurter Staatsanwaltschaft zu einem Eingreifen zu bewegen, das die Konfrontation in legale und geordnete Wege lenken sollte. Dort aber zögerte man und verwies sie an die Militärstaatsanwaltschaft, die schließlich drei Militärstaatsanwälte schickte. Diese betraten gegen 10.00 Uhr das Gebäude. Kurz darauf erlaubte Generalmajor Schwarz, der verantwortliche Offizier, einer Delegation von zehn Bürgern, in das Gebäude zu kommen. In Gegenwart der Staatsanwälte präsentierten die Bürgervertreter ihre Forderungen: Einsicht in alle Räume, vor allem in die Archive und in den Heizraum, Vorlage eines Gebäudeplanes, Zugang zum Computer. Schwarz sah jedoch keinen Anlaß, auf die Forderungen einzugehen. Er wiegelte ab und versuchte, die Delegation zu vertrösten, allerdings nur bis zu dem Zeitpunkt, als die Meldung eintraf, daß 164 So gab Falke später in einem Interview den Inhalt des Anrufes wider, zit. nach Domheim, S.72. 165 Zu den Ereignissen in Erfurt vgl. Domheim, S. 71ff; Schnitzler, S. 167ff.; das Interview mit M. Büchner in: Domheim/Schnitzler, S. 293ff. und - für die Perspektive des MfS -Süß, Staatssicherheit am Ende, S. 613ff.

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mehrere hundert Personen das Gebäude gestürmt hatten. Die Entwicklungen um das Gebäude herum hatten die Verhandlungen überholt. Denn in der Zwischenzeit war es mehrmals zu Konfrontationen an den Eingängen gekommen. An einem der Hintereingänge hatte eine Gruppe um Kerstin Schön versucht, die bewaffneten Posten dazu zu bewegen, ihnen den Zutritt zu gewähren. Als plötzlich jemand aus der Gruppe sah, daß aus einem Schornstein Rauch aufstieg, war kein Halten mehr. Mit dem Ruf »Die verbrennen was« wurden die Bewaffneten beiseite geschoben, das Gelände betreten und das Hauptportal von innen geöffnet. Zu Hunderten strömten die Demonstranten nun auf das Gelände und schwärmten im Gebäude aus. Räume und verschlossene Türen wurden geöffnet, halbverkohlte Akten aus der Heizung gerettet und die technische Einrichtung der Abhörzentrale besichtigt. Im Überschwang des Erfolges und unter dem Eindruck der ersten bedrückenden Fundstücke wurde den Besetzern jedoch schnell bewußt, daß der spontanen Inbesitznahme des Gebäudes eine systematische und geordnete Übernahme folgen mußte. Wenn auch aus anderen Motiven - der Angst vor Übergriffen auf Material und Mitarbeiter - war inzwischen auch den Offizieren der Staatssicherheit daran gelegen, die Sichtung und Sicherung von Gebäuden und Akten in geordnete Bahnen zu lenken. Die Staatsanwaltschaft besaß jedoch ebenso wenig wie die Volkspolizei das notwendige Vertrauen der Bürger, die das einmal Erreichte nicht wieder aus der Hand geben wollten. Diese Situation eröffnete den Raum für die Entstehung einer einzigartigen Institution des Herbstes 1989: der Bürgerkomitees. Noch am Abend der Besetzung trafen sich rund hundert Erfurter Bürger, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Es galt, den Erfolg der Aktion zu sichern, die Vernichtung von Beweismaterial zu verhindern, weitere Gebäude, Waffenlager und Dienststellen ausfindig zu machen und über die reine Sichtung der Akten hinauszugehen, indem eine Aufarbeitung der sensiblen Bestände in Angriff genommen wurde. Staatliche Instanzen, die Polizei, der Rat der Stadt oder die Staatsanwaltschaft - das stand außer Frage - sollten und konnten dabei höchstens eine untergeordnete Rolle spielen. Die Kontrolle über die Staatssicherheit sollte denen zufallen, die unter ihr gelitten und die sie schließlich bezwungen hatten: den Bürgern selbst. Als Organ einer zivilen Kontrolle über die Staatssicherheit wurde daher ein Bürgerkomitee ins Leben gerufen. In ihm sollten diejenigen Platz finden, die beanspruchen konnten, das Volk in seinem demokratischen Aufbruch unterstützt und vertreten zu haben: Mit jeweils fünf Stimmberechtigten waren das Neue Forum, die SDP,der Demokratische Aufbruch, die Frauen für Veränderung, die Offene Arbeit, die Grüne Partei und auch die Blockparteien LDPD, NDPD, CDU und DBD vertreten. Außen vor blieb die SED, der auch später lediglich ein Beobachterstatus eingeräumt wurde. Der Ort der konstituierenden Sitzung des Bürgerkomitees, die am Morgen 328 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35925-0

des 5. Dezembers stattfand, verdeutlichte den politischen Anspruch. Man traf sich im Rathaus und signalisierte dadurch symbolisch, daß die Bürger der Stadt Erfurt nunmehr selbst die Verantwortung für die gewaltfreie Entwicklung in ihrer Stadt übernahmen.166 Um diesen Anspruch umzusetzen, wurden dem Bürgerkomitee verschiedene Organe zur Seite gestellt, deren Bezeichnung jeweils den zivilen Charakter ihrer Legitimation und Zusammensetzung verdeutlichten. Ein Bürgerrat sollte als Leitungs- und Exekutivgremium das Komitee in seiner Arbeit unterstützen, Bürgerwachen bezogen Posten in den Gebäuden der Staatssicherheit, um zu verhindern, daß weitere Akten und Beweise zur Seite geschafft wurden, und ein Bürgerbüro fungierte seit dem 7. Dezember als unabhängige Anlaufstelle für alle, die Hinweise, Berichte und Fragen zur Tätigkeit des MfS hatten. Eine parallel dazu gegründete Untersuchungskommission war dazu befugt, Einsicht in die Akten zu nehmen. Auch wenn im Nachhinein Zweifel an der Effektivität der Überwachung laut wurden,167 war damit der gesamte Komplex von Aufarbeitung, Kontrolle und Bewältigung der Erfurter Staatssicherheit unter zivile Verantwortung gestellt. Die Nachricht von dem »Schritt in die Tabuzone«,168 wie Walter Süß das aus der Sicht der Beteiligten nicht gefahrlose Eindringen in das Erfurter Staatssicherheitsgebäude treffend bezeichnet hat, verbreitete sich schnell in der ganzen DDR. Neben den Medien, welche die Nachricht aufgriffen, erwiesen sich auf der einen Seite die internen Anweisungen innerhalb des Staats- und Sicherheitsapparates, auf der anderen Seite die überregionalen Koordinierungsmechanismen innerhalb des Neuen Forums als außerordentlich effektiv.169 Als am Abend des 4. Dezembers die zahlreichen Montagsdemonstrationen im Land begannen, waren die Ereignisse in Erfurt sowohl den Angehörigen des Sicherheitsdienstes als auch den oppositionellen Gruppen bekannt. Die Tatsache, daß alle beteiligten Parteien von der friedlichen Lösung in Erfurt wußten, bot einen Ausweg aus der anscheinend unvermeidlichen Konfrontation, die an diesem Abend in zahlreichen Städten befürchtet wurde. In Leipzig, wo die Lage in Erwartung von weit über 100.000 Menschen vor der Runden Ecke besonders prekär war, erschien am Nachmittag eine Delegation aus Mitgliedern des Demokratischen Aufbruchs und des Neuen Forums an der Pforte des Bezirksamtes, wo Falk Hoquel vom Neuen Forum dem 166 Vgl. den Aufruf des Komitees in Schnitzler, S. 169. 167 Matthias Büchner mutmaßte später, daß ein Zehntel der Erfurter Bürgerwachen IMs der Staatssicherheit gewesen seien (Interview in Dortnheim/Schnitzler 1995, S. 295). 168 Süß, Staatssicherheit am Ende, S. 613. 169 Vgl. den Bericht von Ilona Weber, der Beauftragten für die überregionalen Kontaktpersonen im NF: »Durch den schnellen Informationsaustausch wurden wir sofort von der Erfurter Aktion [...] informiert und konnten schon selbigen Tages die Gründung eines Bürgerkomitees durchsetzen.« (»Bericht der überregionalen Kontaktperson auf dem Koordinierungstreffen des Bezirks Leipzig« (15.12.1989), ABL: Hefter 17: Material des Neuen Forums von 8/89 bis 12/89, ohne Pag.).

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Diensthabenden erklärte, daß das Gebäude nunmehr besetzt werde: »Sie haben sicher Kenntnis von Erfurt, und wenn Sie nicht wollen, daß 100.000 es machen, machen wir es in einer Form, die Ihnen vielleicht lieber ist.«170 Tatsächlich ging die Staatssicherheit »recht erleichtert«171 auf diesen Vorschlag ein. Die Alternative, dem Volkszorn ausgeliefert zu werden, erzeugte eine große Kompromißbereitschaft, die sogar soweit ging, den Besetzern, die sich als Bürgerkomitee konstituierten, Megaphone zur Verfügung zu stellen, mit denen sie die anwachsende Menge vor dem Gebäude beruhigen sollten. Auch die Staatsanwaltschaft hatte inzwischen auf die Ereignisse in Erfurt reagiert. Laut einer zentralen Anweisung, die Generalstaatsanwalt Wendland am Nachmittag gegeben hatte, war die Staatsanwaltschaft gehalten, die Besetzung zu begleiten und ihr eine rechtliche Form zu geben, die für alle Parteien akzeptabel war.172 Als der Leipziger Demonstrationszug am Abend des 4. Dezembers die Runde Ecke erreichte, schallte ihm schon vom Balkon des Gebäudes die Nachricht entgegen, daß das Gebäude an das Bürgerkomitee übergeben worden sei und man nunmehr auf den Staatsanwalt warte, um die Räume zu besichtigen und zu versiegeln. In der gleichen Nacht konstituierten sich auch in Leipzig Bürgerwachen, welche die Runde Ecke und andere Gebäude überwachten, während das Komitee Verhandlungen mit dem Leiter der Dienststelle, Generalmajor Manfred Hummitzsch, aufnahm, um die weiteren Schritt zu beraten.173 Ähnlich wie in Erfurt und in Leipzig wurden am 4. und 5. Dezember noch zahlreiche weitere Dienststellen der Staatssicherheit bzw. ihrer Nachfolgeorganisation, des Amtes für Nationale Sicherheit (AfNS), besetzt. Eine interne und unvollständige - Bestandsaufnahme des AfNS listete neben den Bezirksämtern Erfurt und Leipzig des weiteren auf: das Bezirksamt Rostock, das Kreisamt Stralsund sowie die Kreisämter Bad Doberan, Greifswald, Angermünde, Templin, Saalfeld, Jena, Weißwasser, Rathenow, Parchim, Werningerode, Stendal und Zittau.174 Auf dieser Liste nicht berücksichtigt waren die Besetzungen in Weimar, Frankfurt, Suhl, Mühlhausen, Görlitz, Greifswald, Magdeburg und Wismar. Überall verlief die Besetzung nach dem Muster, das sich in Erfurt entwickelt und in Leipzig bewährt hatte:175 Zwischen dem hinhaltenden Wi170 Falk Hoquel (Neues Forum Leipzig) im Interview, zit. nach Unterberg, S. 183. 171 So Ilona Weber im Interview in Leipziger Bürgerkomitee, S. 32. Vgl. zur Besetzung der Runden Ecke auch die weiteren Interviews in diesem Band, ebd. S. 21 ff. sowie Kabus und Zwahr, Selbstzerstörung, S. 117ff. 172 Zu den Aktivitäten der Staatsanwaltschaft im Zuge der Besetzungen siehe Süß, Staatssicherheit am Ende, S. 617ff. 173 Vgl. die Filmmitschnitte von diesen Verhandlungen, ABL: Videocassette 22: »Stasiaufnahmen Leipzig«. 174 Vgl. »Information 519/89 über das Erzwingen des Zutritts von Kräften von Bürgerbewegungen zu den Dienstobjekten von Bezirks und Kreisämtern des Amts für Nationale Sicherheit am 4.12.1989« (o.D), RHA: Ordner »Neues Forum B2«. 175 Vgl. zu den Besetzungen in Weimar: Victor, S. 74ff; in Suhl: die Interviews mit S. Geißler

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derstand des AfNS und dem in manchen Fällen nur mit Mühe im Zaum zu haltenden Volkszorn176 war das Bürgerkomitee diejenige Instanz, die den Kon­ flikt entschärfte. Mit Hilfe der Staatsanwälte wurden die Gebäude besetzt und versiegelt sowie Akten und Waffen sichergestellt. Nachdem die unmittelbare Bedrohung abgewandt war, etablierte sich ein Bürgerkomitee - zumeist anders als in Erfurt ohne Beteiligung der etablierten Parteien -, das als Kontrollinstanz der Staatssicherheit fungierte. Mit den Komitees wurden daher in einem Mo­ ment, in dem der Staat als politische Ordnungsmacht versagte, Ansätze einer zivilen Selbstorganisation der Gesellschaft geschaffen; Ansätze, die auf lokaler Ebene zu einem unverzichtbaren Bestandteil des politischen Lebens wurden.177 Die Bürgerkomitees, Bürgerbüros, Bürgerwachen und Bürgerräte waren zum überwiegenden Teil aus der Auseinandersetzung mit der Staatssicherheit entstanden und blieben in der weiteren Entwicklung auf die Beschäftigung mit dem Staatssicherheitsdienst fixiert. Als Ausdruck einer direkten und kollekti­ ven Partizipation der Bürger an der Kontrolle staatlicher Macht realisierten sie die Vision antipolitischer Institutionen und leisteten als solche einen entschei­ denden Beitrag dazu, die drohende Eskalation der Gewalt zu durchbrechen und mit der Staatssicherheit die letzte, symbolträchtigste und zugleich bedroh­ lichste Bastion des SED-Regimes einer öffentlichen Kontrolle zu unterwerfen. Die Aufgabe, diese Kontrolle auch auf die politischen Institutionen auszuwei­ ten, kam jedoch nicht den Bürgerkomitees, sondern den Runden Tischen zu, die sich zur selben Zeit auf nationaler wie auf regionaler und lokaler Ebene konstituierten. Wie in Polen im Frühjahr 1989 sollten sie es sein, die den Über­ gang des Landes in eine demokratische Zukunft gewährleisteten, indem sie sich an der Machtkontrolle beteiligten, ohne die Macht selbst zu übernehmen. Im Unterschied zu Polen aber, wo die Gewerkschaft Solidarność im Zuge der zweimonatigen Verhandlungen zwischen Februar und April 1989 die Voraus­ setzungen einer demokratischen Entwicklung aushandeln konnte, sollte den Akteuren in der DDR nicht mehr die Zeit bleiben, um eigenständig über ihre Zukunft zu entscheiden. Die Ursache dieser unterschiedlichen Wege und Möglichkeiten liegt auf der Hand: Ohne ein reiches und kooperationsbereites West-Polen mußten sich Polen ebenso wie die ČSSR einen eigenen Weg bahund B. Winkelmann, in: Dornheim/Schnitzler, S. 33ff, 173ff.; in Mühlhausen (aus der Sicht des MfS) G. Siegel, in: Lütke Aldenhöuel u.a., S. 219ff.; in Görlitz: S. Waldau in: M. Schneider, S. 73ff; in Parchim: Mrotzek, S. 176ff.; in Rostock: G. Rogge in: Ammer/Memmler, S. 29ff.; in Greifswald: Glöckner, S. 35ff.; in Frankfurt/Oder: Werdin, S. 9ff.; in Magdeburg: Vogel; in Wismar: Abrokat, S. 167ff.. Siehe auch die Darstellungen in M. Richter, Staatssicherheit, S. 73ff. und Süß, Staatssicher­ heit am Ende, S. 615ff. 176 »Hängt sie auf« skandierten etwa die Demonstranten am 5.12. vor dem Kreisamt Weimar, das anschließend von einem Bürgerkomitee besetzt wurde, vgl. Victor, S. 73. 177 Zur Arbeit der Bürgerkomitees in Leipzig vgl. Unterberg, S. 183 ff.; zu Magdeburg siehe Vogel; für Erfurt: Schnitzler, S. 195ff. und für Rostock: Schmidtbauer, S. HOff.

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nen. In der DDR wurden diese langwierigen Diskussionen jedoch bereits Anfang Dezember 1989 von der deutschen Frage überschattet. 3.3. Die Debatte um die Zukunft: Die deutsche Frage Ordnet man die Ereignisse Anfang Dezember in den Rahmen der eingangs dieses Abschnitts eingeführten Aufgaben - Vermeidung von Gewalt, Gestaltung des Überganges, Entwicklung von Zukunftsperspektiven - ein, dann wird deutlich, daß die Bürgerkomitees einen entscheidenden Beitrag zur Lösung der ersten Aufgabe leisteten. Dieser Beitrag war in seiner Form historisch einmalig und mit seiner friedlichen Orientierung höchst angemessen, um die drohende Spirale von Gewalt und Gegengewalt zu durchbrechen. Die Tatsache, daß die Bewegung in dieser Auseinandersetzung besonders erfolgreich agierte, war kein Zufall. Sowohl die Probleme Gewalt und Staatssicherheit als auch die Lösungsansätze Gewaltfreiheit, Selbstorganisation und Zivilcourage berührten den Kernbereich ihres zivilgesellschaftlichen Selbstverständnisses. Die drohende Gewalt erregte daher die ungeteilte Aufmerksamkeit der Bewegung, die mit den in den antitotalitären Konzepten entworfenen Mitteln schnell und adäquat auf die Situation reagieren konnte. Was sich jedoch in dem Konflikt mit der Staatssicherheit als Vorteil erwiesen hatte, sollte sich bei der Bewältigung der zweiten Aufgabe, die sich zur selben Zeit stellte, als ein Nachteil erweisen. Denn anders als die Vermeidung einer gewaltsamen Konfrontation mit der Staatssicherheit war die Auseinandersetzung um die Zukunft der DDR geprägt von Problemen, die in der Wahrnehmung der Bewegung bestenfalls eine untergeordnete Rolle spielten: die wirtschaftlichen und materiellen Probleme der Bevölkerung, die staatliche Verfassung der DDR und die Einheit Deutschlands. Mit den Themen Wirtschaft, Staat und Nation verlagerte sich diese Auseinandersetzung zur Monatswende vom November zum Dezember auf Ebenen, auf denen die Bewegung weder die notwendige Sensibilität noch Antworten oder Lösungen besaß. Da nicht der Zusammenbruch der DDR, sondern die DDR-Bürgerbewegung das Thema dieser Arbeit ist, richtet sich die Untersuchung des Meinungsumschwungs zugunsten der deutschen Einheit im folgenden auf die Bedeutung und die Konsequenzen, die für die Bewegung aus dem Aufkommen der deutschen Frage erwuchsen. Im Mittelpunkt steht daher nicht die deutsche Frage an sich, sondern die Dynamik der Auseinandersetzung, die sich um dieses virulente Thema entwickelte. Es war keineswegs eine zufällige Ironie der Geschichte, daß das Aufkommen der Forderung »Deutschland, einig Vaterland« denselben Mechanismen folgte, mit denen sich im September der Slogan »Wir bleiben hier« gegen die Sprechchöre »Wir wollen raus« durchgesetzt hatte. Profitierte die Bewegung in ihrer 332 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35925-0

Entstehungsphase von den Freiräumen, die von den risikobereiteren Ausreisewilligen geschaffen worden waren, besetzten die Vereinigungsbefürworter ihrerseits wiederum den öffentlichen Raum, den die Bürgerbewegung im November erkämpft hatte. Dabei wurde jeweils ein neues Thema auf die politische Agenda gesetzt, das an neuralgischen Punkten der herrschenden Deutungsmuster ansetzte. War es im September die Forderung nach Demokratie und Öffentlichkeit gewesen, der die SED nichts entgegenzusetzen hatte, war es nun das Thema deutsche Einheit, das ein langjähriges Tabu in der DDR brach und nicht nur die Bürgerbewegung unvorbereitet traf. Um die Parallelen noch weiter zu ziehen, läßt sich sowohl für den September als auch für den November feststellen, daß die neuen Forderungen zunächst nur von einigen wenigen erhoben wurden. In beiden Fällen initiierten sie jedoch eine Dynamik, welche die Forderungen innerhalb kürzester Zeit zu einem Massenruf werden ließ. Erstmals belegt sind explizite Forderungen nach der deutschen Einheit für die Leipziger Montagsdemonstrationen vom 13. November. Vereinzelte Plakate und Sprechchöre nahmen an diesem Tag die lange nicht mehr gesungene Textzeile der DDR-Nationalhymne auf und forderten ein »Deutschland, einig Vaterland«.178 Die Forderung nach der deutschen Vereinigung blieb an diesem Tag jedoch ohne Resonanz. Von der Hoffnung auf eine Demokratisierung der DDR, der die Demonstranten nach wie vor verpflichtet waren, gab es keinerlei Anknüpfungspunkte zur deutschen Einheit, so daß die wenigen »Deutschland, einig Vaterland«-Rufe weitgehend unbeachtet blieben. Auch eine Woche später, am 20. November, war es nur eine kleine Minderheit der Demonstranten, welche die Forderung nach der deutschen Einheit erhob.179 Trotzdem hatte sich ihr Stellenwert verändert, da sich der Schwerpunkt der Demonstration mittlerweile unter dem Eindruck der ersten Enthüllungen über das Ausmaß von Amtsmißbrauch, Wirtschaftsmisere und Privilegien in der DDR verschoben hatte. Das wachsende Krisenbewußtsein war zum beherrschenden Thema geworden. Durch diesen Stimmungswandel war innerhalb einer Woche eine neue Atmosphäre entstanden, in der die Forderung nach einer Vereinigung eine neue Bedeutung bekam. Sie wies eine Perspektive, die einen Ausweg aus der von Wirtschaftsproblemen und Seilschaften geprägten verfahrenen Lage der DDR bot. Insofern lassen sich diejenigen, die am 13. und 20. November den Ruf »Deutschland, einig Vaterland« in die Demonstrationen brachten, analytisch als »early risers« beschreiben.180 Sie brachen das Tabu der nationalen Einheit und setzten ein neues Thema auf die politische Tagesordnung. Auch wenn die »early 178 W. Schneider (S. 104f.) listet für diese Demonstration insgesamt fünf Plakattexte auf, die für die Vereinigung eintraten, wobei eventuelle Wiederholungen allerdings nicht berücksichtigt sind. 179 Vgl. die Zusammenstellung der Texte und Slogans dieses Tages, ebd., S. 118f. 180 Vgl. Tarrow, Democracy, S. 144f.

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risers« mit ihren Forderungen einem tiefverwurzelten, lange verschütteten Nationalempfinden gefolgt sein mögen,181 war die Dynamik, die »Deutschland, einig Vaterland« innerhalb weniger Wochen zum Massenruf werden ließ, von anderen Motiven getragen. Es war die eskalierende Krisenstimmung, welche die Perspektive der Vereinigung in dem Maße attraktiver werden ließ, wie die Informationen über die Wirtschaftsmisere der DDR an Dramatik gewannen.182 Während die Große Angst ihrem Höhepunkt entgegenstrebte, gewannen daher die Forderungen nach der Vereinigung an Resonanz: »Die Stimmung in Leipzig kippt«, so betitelte die tageszeitung ihren Bericht über die Demonstration vom 27. November, und tatsächlich stellten die Sprechchöre und Plakate für die Einheit erstmals einen nennenswerten und unüberhör- bzw. unübersehbaren Teil der Forderungen. Zum ersten Mal in der Geschichte der Demonstrationen sahen sich an diesem Tag Redner der oppositionellen Gruppen mit einer aggressiven und feindlichen Stimmung konfrontiert, die nur wenige Wochen zuvor den SED-Funktionären bei ihren öffentlichen Auftritten entgegengeschlagen war. Die oppositionellen Forderungen nach freien Wahlen und nach Freilassung der Inhaftierten stießen bei vielen Demonstrationen auf Desinteresse; Michael Arnold erntete mit seinen Bedenken gegen die Vereinigung sogar Pfiffe.183 Ende November war es den Befürwortern der deutschen Einheit somit gelungen, ihre Forderung auf den Demonstrationen zu etablieren, auch wenn sie bei weitem noch nicht die Mehrheit der Demonstranten stellten. Fraglich bleibt, ob es sich bei dieser Entwicklung um einen Teilnehmer- oder um einen Meinungswandel gehandelt hat; ob also Demonstranten, die zuvor schon an Aktionen gegen die SED teilgenommen hatten, sich nun der Forderung nach der Einheit anschlossen, oder ob neue Teilnehmer hinzukamen, die den durch die Demonstrationen geschaffenen Raum mit ihren Forderungen besetzten. Obwohl zeitgenössische Umfragen eher einen Teilnehmerwechsel vermuten lassen, kann diese Frage nicht endgültig geklärt werden.184 Unstrittig ist jedoch, daß die Befürworter der Vereinigung, gleich ob sie neu hinzukamen oder aber ihre Meinung im Laufe der Zeit änderten, den Grundkonsens der Bewegung in mehrfacher Hinsicht verließen. Seit der durch die Ausreisewelle des Sommers angefachten ›Angst um unser Land‹ war die DDR 181 Vgl. etwa die Rede des parteilosen Arbeiters Manfred Bär auf der Veranstaltung auf dem Leipziger Dimitroffplatz am 18.11., der die deutsche Einheit als »unser aller gemeimer Wunsch« bezeichnete, vgl. den Abdruck der Rede in: Neues Forum Leipzig, S. 266f. 182 Plakattexte wie »Nur die Einheit Deutschlands kann unsere Rettung sein« (Leipzig 20.11.) oder: »Unsere Umwelt läßt keinen zweiten Versuch der SED zu. Herr Kohl, hilf uns und unseren Kinder-jetzt Wiedervereinigung« (Leipzig, 27.11.) machen diesen Zusammenhang deutlich, (vgl. W. Schneider, S. 118; 128) Zu den strukturellen Hintergründen des Meinungswandles siehe Meuschel, S. 316ff. 183 Vgl. Naumann, Wendetagebuch, S. 63; Tetzner, S. 61ff. und Christiane Peitz: »Deutschland, einig Vaterland - Die Stimmung in Leipzig kippt«, in: die tageszeitung vom 29.11.1989, S. 2. 184 Vgl. Förster/Roski, S. 161ff. und Mühler/Wilsdorf, S. 163f.

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der geographische, politische und kognitive Rahmen der Aktionen, die sich auf eine eigenständige Demokratisierung des Landes richteten. Soweit eine deutsche Einheit überhaupt angedacht wurde, erschien sie als ein Fernziel, das erst nach einer demokratischen und wirtschaftlichen Stabilisierung der DDR und nur im Rahmen einer europäischen Friedenslösung erreicht werden könnte. Diejenigen, die mit »Deutschland, einig Vaterland« auf sich aufmerksam machten, verfolgten einen Weg, der dem der Bewegung diametral entgegengesetzt war: Nicht die Demokratisierung sollte - eventuell - den Weg zur Einheit ebnen, sondern die Einheit den Weg zu Demokratie und Wohlstand. Aufgrund dieses fundamentalen Unterschiedes ist es irreführend, die Auseinandersetzung um die deutsche Frage als Spaltung der Bewegung zu beschreiben.185 Nicht zuletzt die Tatsache, daß die Befürworter der Einheit mit der etablierten Protest- und Demonstrationskultur der Bewegung brachen, indem sie Mitdemonstranten auspfiffen und am Reden hinderten, zeigt, daß sie sich nicht als Teil oder als eine Strömung innerhalb der Bürgerbewegung verstehen lassen, sondern als ein neuer Akteur, der als Konkurrent der Bewegung auftrat. Anders gesagt: So wenig, wie die Leipziger Ausreisewilligen Teil der Bewegung gewesen waren, obwohl sie im September an den Friedensgebeten und ersten Demonstrationen teilgenommen hatten, so wenig waren es diejenigen Demonstranten, die im November für die Einheit eintraten. Sie entwickelten sich zu einem eigenständigen Akteur, der sich zwar die von der Bewegung geschaffenen Räume zunutze machte, deswegen aber nicht mit ihr identisch war. Nur in dieser Perspektive kann die Dynamik deutlich werden, die sich seit Ende November zwischen den Vereinigungsbefürwortern einerseits und den mobilisierten wie organisierten Teilen der Bewegung andererseits entfaltete. Ein maßgeblicher Teil dieser Dynamik ging auf die Berichterstattung der Medien zurück. Sie berichteten nunmehr seit Wochen von den Demonstrationen, deren Nachrichtenwert im Laufe der Zeit deutlich gesunken war. Der Ruf nach »Deutschland, einig Vaterland« aber stellte eine sensationelle und unerwartete Neuigkeit dar, welche die Medien schnell aufgriffen. Während sie im September die Bedeutung der oppositionellen Gruppen und der frühen Demonstrationen zugunsten der Bewegung überzeichnet hatten, kehrte sich der Zwang, immer neue und dramatischere Nachrichten bieten zu müssen, nunmehr gegen die Bewegung, deren Forderungen in den Hintergrund der Berichte traten.186 Die Berichterstattung konzentrierte sich statt dessen auf die Deutschlandfahnen mit dem herausgeschnittenen Hammer-und-Sichel-Em185 Vgl. Zwahr, Selbstzerstörung, S. 138, der für die Demonstrationen im November feststellt: »Die Bürgerbewegung spaltete sich jetzt in DDR-Verbesserer [...] und in Befürworter der Einheit.« 186 Der Bericht der Tagesschau am Abend des 27.11. zeigte eine Totale des Demonstrationszuges, zu der »Deutschland, einig Vaterland«-Sprechchöre eingespielt wurden, so daß der Eindruck entstehen mußte, es sei der beherrschende Ruf der Demonstranten gewesen.

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blem, in denen die Vereinigungsbefürworter ein aussagekräftiges und medienwirksames Symbol fanden. Bereits Anfang Dezember konnte so der - angesichts der Dokumentationen und Umfragen187 - falsche Eindruck entstehen, eine Mehrheit der Demonstranten wolle die Einheit. Besonders nachhaltig war dieser Eindruck im Westen Deutschlands. Das Bild, das man sich dort von der Stimmung in der DDR machte, war nicht nur durch die Medien geprägt, sondern auch von der gerade im Kreis der christliberalen Koalition verbreiteten positiven Einstellung zur deutschen Einheit. Beides zusammen führte dazu, daß etwa Volker Rühe bereits Ende November für eine etwaige Meinungsumfrage in der DDR eine »deutliche Mehrheit für die Wiedervereinigung« prognostizierte.188 Auch wenn mehr als fraglich ist, ob diese Prognose dem Stimmungsbild der Demonstranten, geschweige denn der Gesamtbevölkerung der DDR entsprach, sah sich die Bundesregierung in ihrer Wahrnehmung der Ereignisse nunmehr in der Pflicht, auf die Forderungen aus der DDR zu reagieren. Die Reaktion der Bundesregierung erfolgte am 28. November, als Helmut Kohl seine bisherige Zurückhaltung gegenüber der Wiedervereinigungsdebatte aufgab und dem Bundestag einen 10-Punkte-Plan präsentierte, der explizit das Ziel verfolgte, die Einheit zu ermöglichen, »wenn die Menschen in Deutschland sie wollen.«189 Kohl, der noch kurz zuvor die europäischen Staats- und Regierungschefs auf dem EG-Gipfel in Paris mit der Zusicherung beruhigt hatte, daß die europäische Einigung Vorrang vor der deutschen Einheit habe, die momentan nicht auf der politischen Tagesordnung stehe,190 reagierte damit auf die neue Situation in der DDR. Der Eindruck eines Stimmungsumschwunges hatte ihn zu der Entscheidung veranlaßt, sich, so sein Berater Horst Teltschik, »an die Spitze der Bewegung (zu) stellen.«191 Einen konkreten Zeitplan nannte Kohl in der Bundestagsrede nicht, deutlich war aber, daß er mit seinem Etappenmodell, das einen Prozeß von einer vertraglichen Zusammenarbeit über konföderative hin zu föderativen Strukturen vorsah, noch von einer mehrjährigen Entwicklung ausging. Wichtiger als die konkrete Ausgestal187 Auch wenn alle zeitgenössischen Meinungsumfragen mit erheblichen methodischen Mängeln zu kämpfen hatten, zeigen sie doch einen Trend, der die These eines einheitlichen Meinungsumschunges im Dezember fraglich erscheinen läßt (Vgl. Förster/Roski, S. 53ff. und Mühler/ Wilsdorf, S. 161.). Eine Umfrage von Emnid, der Forschungsgruppe Wahlen und dem Berliner Institut für Soziologie von Anfang Dezember stellte in der Gesamtbevölkerung sogar eine Zustimmung zu einer eigenständigen Entwicklung der DDR von 73% fest, während nur die restlichen 27% sich für eine Vereinigung aussprachen, in: Der Spiegel vom 18.12.1989, S. 89. 188 Volker Rühe in der Schwäbischen Zeitung vom 2.12.1989; in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bd. 2, Kap. 1, S. 608. 189 Transskription der Rede Kohls in Herles/Rose, Parlaments-Szenen, S. 61; zu den zehn Punkten siehe ebd. S. 55ff. 190 Vgl. »EG macht Hilfe für DDR von demokratischen Wahlen abhängig«, in: SZ vom 20.11.1989, S. 1. 191 Teltschik, S. 49.

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tung war jedoch, daß er im Namen der Bundesrepublik die Wiedervereinigung auf die politische Agenda setzte und als vorrangiges Ziel der weiteren Deutschlandpolitik bezeichnete. Binnen weniger Tage war damit eine neue Situation in der DDR entstanden. Die sowohl auf Seiten der Bewegung als auch auf seiten der SED verbreitete Überzeugung, daß die deutsche Frage nicht auf der politischen Tagesordnung stehe, hatte innerhalb kürzester Zeit ihre Grundlage verloren. Nachdem die Leipziger Montagsdemonstration vom 27. November erstmals gezeigt hatte, daß ein nennenswerter Teil der Demonstranten für eine Vereinigung optierte, war die deutsche Einheit bereits einen Tag später mit dem 10-Punkte-Plan Helmut Kohls von einem utopischen, provokanten Ziel zu einer konkreten Zukunftsmöglichkeit geworden. Nachdem alle Anstrengungen der vorhergehenden Wochen darauf gerichtet gewesen waren, die Existenz der DDR durch die Überwindung des SED-Regimes zu sichern, stand daher nunmehr die staatliche Existenz als solche in Frage. Die Bürgerbewegung wurde von dieser Entwicklung völlig überrascht. Während die Krise um Korruption und Amtsmißbrauch eskalierte, die SED noch um ihr politisches Überleben kämpfte und die Staatssicherheit noch ungehindert arbeitete, während also die Demokratisierung der DDR in der Wahrnehmung der Akteure noch weitergeführt werden mußte, wurde der Bewegung Ende November die Diskussion um die Zukunft der DDR aufgezwungen und mit der deutschen Frage verschränkt. Beide Fragen rührten für sich allein bereits an neuralgische Punkte; ihre Verschränkung miteinander stellte die Bewegung vor unüberwindbare Schwierigkeiten, der Diskussion zu begegnen. Betrachtet man zunächst die Einstellungen zur deutschen Frage, zeigen zahlreiche Überlegungen zu einer gesamtdeutschen Konföderation, daß die Ablehnung einer deutsch-deutschen Annäherung oder gar Vereinigung in den Reihen der Bewegung durchaus nicht kategorisch war. Bereits wenige Tage nach der Maueröffnung und noch bevor die ersten »Deutschland, einig Vaterland«Sprechchöre laut geworden waren, betonte etwa die spätere stellvertretende Parteivorsitzende Sonja Schröter, daß der Demokratische Aufbruch von einer Zweistaatlichkeit ausgehe, die zukünftig im Rahmen einer europäischen Regelung in eine Konföderation münden könne.192 Ein gemeinsames Flugblatt der Leipziger Gruppen des Neuen Forums, des Demokratischen Aufbruches und der SDP ging Anfang Dezember noch weiter und plädierte für eine »Annäherung der beiden deutschen Staaten mit dem Ziel der gelebten Einheit Deutschlands.«193 Zumal da sich auch die Vorstände von SDP und DA Anfang Dezem192 S. Schröter, zit. nach: »Leipzig: Hilflose Opposition - taumelnde SED«, in: die tageszeitung vom 13.11.1989, S. 7. 193 »Thema Nr. 1- Wiedervereinigung?«, Gemeinsames Flugblatt des NF, DA und der SDP Leipzig vom 1.12.1989, ABL: Hefter 17: »Material des Neuen Forums von 8/89 bis 12/89«, ohne Pag.

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ber unabhängig voneinander für eine behutsame und demilitarisierte deutschdeutsche Annäherung bis hin zu einer Könföderation aussprachen,194 konnte von einer kategorischen, einheitlichen Ablehnung der deutschen Einheit keine Rede sein. Verschiedene Ansätze wurden debattiert, ohne daß man in der Kürze der Zeit zu eindeutigen Ergebnissen kam.195 Einigkeit bestand allein in einem Punkt: Welche Zielperspektive auch immer für die zukünftige Ausgestaltung des deutsch-deutschen Verhältnisses angestrebt wurde - Zweistaatlichkeit, Konföderation, Einheit -, bestanden keinerlei Unterschiede in der Überzeugung, daß erst die Demokratisierung der DDR abgeschlossen werden müsse, bevor die deutsche Frage sinnvoll und konstruktiv verhandelt werden könnte. Drei in allen Verlautbarungen anzutreffende Argumente sprachen für diese Reihenfolge: Angesichts der Auseinandersetzungen um die Staatssicherheit, um den Runden Tisch und um die Wendehälse und Seilschaften war erstens der Kampf um die demokratische Umgestaltung in den Augen der Bewegung noch nicht gewonnen, die Macht der SED noch nicht gebannt. Um einen Rückfall in die alte Ordnung zu verhindern und die Weichen für einen Neuanfang zu stellen, mußte das Engagement für eine weitere Demokratisierung daher Priorität vor einer Debatte über die deutsche Einheit haben.196 Zweitens konnte die Entscheidung über die deutsche Frage nur die demokratische Entscheidung eines freien und selbstbestimmten Volkes sein. Auch hieraus folgte, daß zunächst die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen für eine solche Willens- und Entscheidungsfindung geschaffen werden mußten, bevor die Bevölkerung über die Frage Einheit oder Eigenständigkeit entscheiden konnte.197 Drittens schließlich sollte eine eventuelle Vereinigung ein gleichberechtigter Prozeß der Annäherung sein, in den die Bürger der DDR sich mit ihren Vorstellungen einbringen sollten, ohne 194 Vgl.: »Position des Demokratischen Aufbruches zum gegenwärtigen und zukünftigen Verhältnis der DDR zur BRD«, Dresden 4.12.1989 (ACDP, DA Thüringen, VI-061 -005/3, ohne Pag.) und die »Erklärung der SDP zur deutschen Frage«, Beschluß der SDP-Vorstandssitzung am 3.12.1989, AdsD, Bestand Martin Gutzeit IV, Bl. 912. 195 In diesem Sinne erklärte der Sprecher des Geschäftsführenden Ausschusses des Neuen Forums, Michael Göbel, Anfang Dezember im Namen seiner Vereinigung: »Die Positionen sind zu verschieden. Wir sind nicht aussagefähig«, zit. nach: »Neues Forum spürt Druck der Basis«, in: die tageszeitung vom 4.12.1989, S. 2. 196 »Denkt jetzt an die Prioritäten! Unsere Kraft darf nicht zerschlissen werden! Wiedervereinigung - eine Frage, die die Herzen bewegt. Eine Frage, an der wir nicht vorbei wollen. Aber sie kann nicht Thema Nummer 1 sein.« (»Thema Nr. 1- Wiedervereinigung?«, Gemeinsames Flugblatt des NF, DA und der SDP Leipzig, ABL: Hefter 17: »Material des Neuen Forums von 8/89 bis 12/89«, ohne Pag.). 197 Vgl. Steffen Reiche (SDP): »Die deutschen Fragen kann man erst dann sinnvoll klären, wenn alle sich an der Diskussion beteiligen können. [... ] Erst wenn wir, als DDR-Bürger, uns mit unseren eigenen Vorstellungen, Wünschen, Erwartungen an dieser Diskussion beteiligen, kann es zu einer wirklichen Klärung der deutschen Fragen kommen.« Interview in der FR vom 23.11.1989, S. 33.

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ihre Würde in einem übereilten Anschluß an die Bundesrepublik zu verlieren.198 Damit bewegten sich die zeitlichen Vorstellungen zunächst in demselben Rahmen, in dem auch Modrow und Kohl dachten. Alle Beteiligten gingen Anfang Dezember noch davon aus, daß die Vereinigung, sofern sie überhaupt Zustandekommen würde, ein Langzeitprojekt sei, dessen Verwirklichung noch Jahre der innen- und nicht zuletzt auch außenpolitischen Konsolidierung in Anspruch nehmen sollte. Diese Pläne wurden jedoch von den »Deutschland, einig Vaterland«-Sprechchören überholt. In dem Moment, als auf den Demonstrationen zusehends eine schnelle Vereinigung gefordert wurde, die einem baldigen Wohlstand mehr Bedeutung zumaß als der Demokratisierung der DDR, geriet die Bewegung unter einen immensen Rechtfertigungsdruck. Quasi von einem Tag auf den anderen war sie gezwungen, ihre Vorbehalte gegen eine allzu schnelle Vereinigung zu begründen. Dabei sah man sich mit dem Problem konfrontiert, daß die Vorteile einer zumindest vorläufig noch eigenständigen Entwicklung nur dann deutlich gemacht werden konnten, wenn der Perspektive der Einheit ein überzeugender Weg gegenübergestellt wurde, der die DDR aus eigener Kraft aus der wirtschaftlichen und politischen Krise führen würde. Diesen Weg zu bestimmen gelang der Bewegung nicht, denn bis Anfang Dezember war es keiner der Gruppen gelungen, die personellen und organisatorischen Probleme der Programmfmdung zu überwinden. Daher gingen ihre Zukunftsvorstellungen nicht über die Formulierung von Grundanforderungen eines pluralistischen und demokratischen Gemeinwesens hinaus. Konkrete, politik- und umsetzungsfähige Konzepte, auf die man hätte zurückgreifen können, um eine Alternative zur Einheit aufzuzeigen, lagen nicht vor. Das Kernproblem bei der Entwicklung überzeugender Konzepte der zukünftigen politisch-staatlichen Verfassung der DDR bestand allerdings in der zivilgesellschaftlichen Vision. Nachdem das SED-Regime überwunden worden war, sollte nun nicht ein Staat durch einen anderen, wenn auch demokratischeren ersetzt werden, sondern - idealiter - der Staat durch die Gesellschaft.199 Für die in den Worten Vaclav Havels postdemokratische Ordnung, in der die staatlichen Institutionen durch Selbstorganisation und Selbstverwaltung abgelöst werden sollten,200 ließen sich jedoch prinzipiell keine klaren Ziele und 198 In diesem Sinne verband Ludwig Mehlhorn (DJ) die Überzeugung, eine »auf immer festgeklopfte Zweistaatlichkeit« sei ungeschichtlich, mit der Feststellung: »Ein Vollzug der Vereinigungjetzt bedeutet Kolonisierung«, zit. nach: »Dialog aneinander vorbei«, in: die tageszeitung vom 20.11.1989, S. 5. 199 Vgl. Harald Wagner, Mitbegründer des DA: »People acted as if this all-levelling grass-roots democracy would be capable of substituting for a paliamentary system.« Selbstkritisch fügt er an: »That was an illusion, and we could have known that all along«, Interview in Philipsen, S. 234. 200 Havel, Leben, S. 86ff.

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schon gar keine konkreten staatlichen Formen angeben: »Es gibt keinen Weg«, umschrieb Katrin Eigenfeld die im Neuen Forum besonders ausgeprägte Vorstellung zur weiteren Entwicklung der DDR, »der Weg kommt beim Gehen.«201 Aus diesem Grund mußten sich die Aussagen über die zukünftige Gestalt der DDR auf die Einforderung der Bürger- und Menschenrechte, auf den solidarischen Charakter der zukünftigen Gesellschaft, auf die von ihr zu gewährleistende soziale Sicherheit und Gerechtigkeit sowie ihre ökologische Ausgewogenheit beschränken. Die Vision einer Gesellschaft jenseits von Kapitalismus und Sozialismus ohne Präzisierung der Transformationsstrategie und ohne Konkretisierung der staatlichen Organisationsform machte es jedoch unmöglich, die politisch-staatliche Verfassung des angestrebten Gemeinwesens zu bestimmen. Aus diesem Grund hatte die Bewegung den Vereinigungsbefürwortern wenig mehr entgegenzusetzen als die Aussicht auf eine selbstbestimmte, demokratische, eigenständige, in einem Wort: bessere Gesellschaft, die weder eine konkrete Gestalt noch einen Namen hatte: »Wir«, so Bärbel Bohley Ende November, »denken erst mal nach, wie die Gesellschaft aussehen soll, in der wir leben wollen. Namen finden wir dann schon noch.«202 So viel Zeit sollte indes nicht bleiben. Die Hoffnung auf einen selbstbestimmten und offenen gesellschaftlichen Selbstfindungsprozeß unterschätzte die Bedeutung wirtschaftlicher und materieller Aspekte - eine Fehleinschätzung, die Bohley wie viele andere übersehen ließ, daß sich die Krisenwahrnehmung in der Bevölkerung zusehends auf die wirtschaftliche Ebene verschoben hatte, nachdem das Ausmaß der ökonomischen Probleme sichtbar geworden war. Vor diesem Hintergrund hatten die Befürworter einer Vereinigung die besseren Argumente. Die Perspektive der Einheit versprach eine schnelle und effektive Angleichung an den westlichen Lebensstandard, den jeder bei seinem Besuch im Westen unmittelbar erleben konnte. Angesichts dieser - angesichts der Probleme in der DDR - außergewöhnlich attraktiven Perspektive gerieten die Vertreter der Bewegung in der öffentlichen Debatte in die Position von Vereinigungsverhinderern, die der Einheit und ihren Chancen nichts anderes gegenüberstellten als das Beharren auf der Würde der DDR-Bürger und die Verheißung einer besseren, inhaltlich aber kaum präzisierbaren Zukunft. Es war daher die - aus der Sicht der Bewegung - verhängnisvolle Verschränkung der Diskussion über die weitere Entwicklung der DDR mit der Debatte um die deutsche Frage, die die Bewegung in ein Dilemma zwang. Da man die Vorstellungen und Hoffnungen für die Zukunft der DDR nicht aufgeben woll201 Katrin Eigenfeld (NF) auf dem Kongreß der GRÜNEN am 18.11. in Saarbrücken, zit. nach »Dialog aneinander vorbei«, in: die tageszeitung vom 20.11.1989, S. 5. 202 Bärbel Bohley zit. nach Marlies Menge: »Pläne schmieden für die neue Zeit«, in: Die Zeit vom 24.11.89, S. 4.

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te, argumentierte man gegen die Einheit, ohne eine Alternative aufzeigen zu können. Mangels entsprechender Konzepte war es der Bewegung nicht möglich zu verdeutlichen, daß es weniger um eine prinzipielle Abwehr einer Vereinigung als vielmehr um die demokratische Ausgestaltung der DDR ging. Diese Schwierigkeiten brachten sie in der entscheidenden Frage der Zukunft der DDR in die Defensive, während sie zur gleichen Zeit mit der Besetzung der Staatssicherheitsgebäude und der Vorbereitung des Zentralen Runden Tisches in Berlin wichtige Erfolge erzielte. Nimmt man den Faden des Verlaufes der Auseinandersetzungen um die Einheit Ende November wieder auf, zeigt sich, daß die Versuche einzelner Vertreter der Bewegung, sich in der Debatte zu behaupten, eine Dynamik in Gang setzten, welche die Auseinandersetzung um die Zukunft der DDR polarisierte und die Bewegung insgesamt an den Rand drängte. Das prominenteste und zugleich folgenreichste Beispiel für einen Versuch, gegen die drohende Vereinigung Stellung zu beziehen, war der Aufruf »Für unser Land«, der am 26. November verfaßt wurde und in den Tageszeitungen der DDR am 29. November direkt neben den Schlagzeilen zu Kohls »10-Punkte-Plan« erschien.203 Die Unterzeichner, zu denen neben Christa Wolf, Stefan Heym und Generalsuperintendent Günter Krusche mit Sebastian Pflugbeil, Ulrike Poppe, Friedrich Schorlemmer und Konrad Weiß auch prominente Vertreter der Bürgerbewegung gehörten, präsentierten die Frage der weiteren Entwicklung als eine Entweder-Oder-Entscheidung: »Entweder: können wir auf der Eigenständigkeit der DDR bestehen und versuchen, [... ] in unserem Land eine solidarische Gesellschaft zu entwickeln, in der Frieden und soziale Gerechtigkeit, Freiheit des einzelnen, Freizügigkeit aller und die Bewahrung der Umwelt gewährleistet sind. Oder: wir müssen dulden, daß [...] ein Ausverkauf unserer materiellen und moralischen Werte beginnt und über kurz oder lang die Deutsche Demokratische Republik durch die Bundesrepublik vereinnahmt wird.« Die letztendlich rein negative Abwehrhaltung, die der Aufruf einnahm, offenbarte die Ängste, die mit der Einheit verbunden wurden, und zeigte zugleich die Schwierigkeit, eine differenzierte Gegenmeinung zu vertreten. Auf das Problem, daß sich die eigene Vision - wie Bärbel Bohley in dem oben angeführten Zitat betonte - nicht mit einem griffigen Schlagwort belegen ließ, reagierten die Verfasser mit einer Radikalisierung ihrer Position. Wenn auch nicht explizit, so doch in der Andeutung der »antifaschistischen und humanistischen Ideale, von denen wir einst ausgegangen sind«,204 wurde die Perspektive eines erneuerten Sozialismus wiederbelebt, die als Synonym eines selbstbestimmten, letztlich aber unbestimmten Dritten Weges diente. Auf dieser Grundlage erfolgte die Abgrenzung von der kapitalistischen Vereinnahmung, die als Widerspruch zu 203 Zu Entstehungsgeschichte und Kontext des Aufrufes siehe die Beiträge in: Borchert u.a. 204 Aufruf »Für unser Land«, in: Berliner Zeitung vom 29.11.1989, S. 1.

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Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit begriffen wurde. Die Radikalisierung fand schließlich ihren Niederschlag in der moralisch aufgeladenen Polarisierung in die Alternative zwischen einer freien DDR oder einem einverleibten Bundesland Westdeutschlands. Das Echo, das der Aufruf fand, lief den Intentionen der Verfasser in jeder Hinsicht zu wider. Zu einem Zeitpunkt, an dem die Auseinandersetzung um die deutsche Frage auf den Demonstrationen gerade erst begonnen hatte, heizte der Appell die Debatten an und forderte die Vereinigungsbefürworter ihrerseits zu einer Radikalisierung heraus. Auch wenn nur wenige prominente Vertreter der Bewegung unter den Verfassern des Aufrufs waren, wurde er in der öffentlichen Meinung so stark mit ihr assoziiert, daß anderslautende Stimmen kein Gehör fanden. Dabei war der Aufruf weit davon entfernt, die Einstellung der Bewegung zur Einheit zu repräsentieren. Im Gegenteil: In den Tagen nach der Veröffentlichung wandten sich zahlreiche Stellungnahmen und Appelle aus der Bewegung gegen die Polarisierung der Debatte und gegen die sozialistische Perspektive, die im Laufe des Novembers aus den Verlautbarungen der Gruppen praktisch verschwunden war. Von einer Presseerklärung des Vorstands des Demokratischen Aufbruchs über eine gemeinsame Resolution der oppositionellen Gruppen und Demonstranten in Schwerin und einen Gegenaufruf des Neuen Forums Plauen bis hin zu individuellen Distanzierungen einzelner Vertreter reichten die Versuche, die Wirkung des Aufrufes zu relativieren.205 Die Versuche blieben jedoch erfolglos. Die Radikalität des Aufrufes und die Prominenz seiner Unterzeichner sicherten ihm eine ungeteilte öffentliche Aufmerksamkeit und eine ebenso ungeahnte wie ungewollte Mobilisierungswirkung. Die Aktion forderte Dutzende von Gegenaufrufen, Leserbriefen, Stellungnahmen und Unterschriftenlisten heraus, die vehement gegen den Aufruf Stellung bezogen und die Perspektive der Vereinigung verteidigten. Darüber hinaus verlieh der Aufruf der öffentlichen Debatte eine neue Qualität. Denn das kategorische Festhalten an einer eigenständigen Entwicklung der DDR wurde unmittelbar mit einem erneuten Versuch assoziiert, eine sozialistische Gesellschaft zu schaffen. Als Reaktion spitzten die Befürworter einer Vereinigung ihre Positionen daher ihrerseits zu. So hieß es in einem in der CDUTageszeitung Union am 11. Dezember 1989 veröffentlichten Offenen Brief: »Die Sorge um die Zukunft der Menschen hier, die uns bewegt, ist durch den Aufruf »Für unser Land« leider sehr verstärkt worden. [...] Wir lehnen es ab, weiterhin als 205 Vgl. die Presseerklärung des DA zum Appell Für unser Land (»Wir sind erschrocken über die Wirkung des Appells ...«, ACDP, Bestand Michael Walter: VI-064-003, ohne Pag.), das Flugblatt: »Für unser Land: Entweder - Oder?« der Schweriner Demonstranten vom 1.12.1989 (Faksimile in den Materialien der Enquete-Kommission Aufarbeitung und Versöhnung des Landtages Mecklenburg-Vorpommern, Bd. III, Schwerin 1997, S. 224), den Gegenaufruf des Neuen Forum/Plauen vom 1.12.1989 (in: Küttler/Röder, S. 65f.) und die persönlichen Stellungnahmen von J . Gauck (zit. in Probst, Norden, S. 73f.) oder J . Wenzel (in: LVZ vom 9/10.12.1989, S. 13).

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Atem- und Blutspender für sinnlose Wiederbelebungsversuche an der Totgeburt »Sozialismus« mißbraucht zu werden.« Ein Festhalten an einer eigenstaatlichen Entwicklung sei, betonten die Verfasser, »entweder sträfliche Verblendung oder auf Machterhalt bedachte Demagogie.«206

Stellvertretend für viele andere Briefe und Resolutionen illustriert diese Erklärung die Zuspitzung der Diskussion: Anstatt weiterhinprimär/füreine Vereinigung einzutreten, verlagerte sich die Argumentation der Vereinigungsbefürworter auf eine konfrontative Debatte, die sich nunmehr verstärkt gegen die Vereinigungsgegner, gegen sozialistische Experimente und gegen eine auch nur zeitweilige Eigenständigkeit der DDR wandte. Die Diskussion hatte sich damit innerhalb von Tagen zu einer Auseinandersetzung entwickelt, die differenzierte Stellungnahmen kaum noch möglich machte und die Bewegung in die Defensive drängte. Weder gelang es ihr, den aus ihrer Sicht bestehenden Widerspruch zwischen Einheit und Demokratisierung aufzulösen, noch war sie in der Lage, adäquat auf die sich verändernde Stimmung in der Bevölkerung zu reagieren.207 Zu dem Zeitpunkt, zu dem die oppositionellen Gruppen ihre Vorbehalte überwanden und sich zu ersten konstruktiven Lösungsansätzen durchrangen, fanden Vorschläge wie der Drei-Stufen-Plan zur deutschen Einheit, den Demokratie Jetzt am 14. Dezember veröffentlichte, kein Gehör mehr.208 Nachdem die Bewegung und ihre Vertreter in den vorangegangenen Wochen und Monaten mit großer Resonanz und Zustimmung als Sprecher und Wortführer des demokratischen Umbruchs agiert hatten, sahen sie sich Anfang Dezember somit erstmals in eine Minderheitsposition gedrängt. Die Argumentationsschwierigkeiten und die Dynamik der Auseinandersetzung führten dazu, daß die Bewegung in der entscheidenden Aufgabe, die Zukunft der DDR zu gestalten, die Initiative verlor - und zwar zur gleichen Zeit, in der die oppositionellen Bürgerkomitees getragen von einer Welle der Zustimmung die Zentralen der Staatssicherheit besetzten. Während die Mobilisierungskraft und Deutungsmacht der Bewegung und vor allem der oppositionellen Gruppen in der Auseinandersetzung mit dem SEDRegime daher ungebrochen war, konnten sie in bezug auf die Zukunft der DDR zusehends weniger für sich beanspruchen, für das Volk zu sprechen. In diesem Sinne konstatierte Ehrhart Neubert am 3. Dezember 1989 in einer 206 Offener Brief zum Aufruf »Für unser Land«, veröffentlicht in der Union vom 11.12.1989. Vgl. auch die in Bordiert u.a., S. 71ff. dokumentierten Briefe an die Verfasser des Aufrufes; des weiteren die Plauener Erklärung »Für die Menschen in unserem Land« (in: Küttler/Röder, S. 63f.) oder die Unterschriftenliste »Nein, Herr Heym« von der Erfurter CDU (in: Schnitzler, S. 161). 207 Bezogen auf den Stimmungswandel stellte Ludwig Mehlhorn später fest: »Our biggest failure was probably that we were completely unable to analyse the mood and the sentiments among the population«, Interview in Philipsen, S. 369. 208 Vgl. den »Drei-Stufen-Plan zur deutschen Einheit«, in: Demokratie Jetzt, Nr. 11/Dezember 1989, RHA 3.2.02.02.: Demokratie Jetzt/Zeitungen, ohne Pag.

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scharfsinnigen Analyse, der »Fehlgriff« des Appells »Für unser Land« habe »die Radikalisierung derjenigen (befördert), die sich nun auch noch von denen betrogen fühlen, die bisher ihre Wortführer waren«.209 Das Gefühl, betrogen worden zu sein, herrschte allerdings auch auf Seiten der vormaligen Wortführer vor. Sie verfolgten nach wie vor den Traum einer selbstorganisierten Gesellschaft, in der sich alle Bürger für die Belange des Gemeinwohls engagieren, an einem kontinuierlichen Diskussionsprozeß teilnehmen und zivile Bürgerinitiativen mittragen würden. Dieser idealistische, um nicht zu sagen elitäre Traum wurde von dem Meinungsumschwung nachhaltig in Frage gestellt. Es zeigte sich, daß der zivile Grundkonsens der Bürger, den die Utopien einer selbstorganisierten Gesellschaft unterstellten, nicht existierte.210 Nicht alle Bürger setzten die Würde der DDR und ihrer Bevölkerung vor ihre materiellen Interessen; nicht alle teilten die Überzeugung, daß die gesellschaftliche Selbstentfaltung wichtiger sei als individueller Wohlstand und eine gesicherte Zukunft. Insofern interpretierten zahlreiche Vertreter der oppositionellen Gruppen den Meinungswandel der Bevölkerung in der deutschen Frage als einen Mangel an politischer Integrität und individueller Würde. In den Reaktionen auf den Meinungsumschwung in der deutschen Frage trat die Enttäuschung über diese Entwicklung unübersehbar zutage, als exponierte Vertreter der Bewegung der Bevölkerung »politische Unreife«211 attestierten und sie als »politisch dummen und von bösen Triebkräften des Unterbewußten erfaßten Mob«212 verurteilten, wie Ehrhart Neubert am 3. Dezember kritisch feststellte. Die unabhängige Öffentlichkeit, welche die Bürgerbewegung so erfolgreich hergestellt hatte, entfaltete eine unkontrollierbare Eigendynamik, der die vormaligen Wortführer zum Opfer fielen. Die Demonstrationen blieben von dieser Entwicklung nicht unberührt. Im Gegenteil: In der konkreten Konfrontation mit den Vereinigungsbefürwortern auf den Demonstrationen standen auch die mobilisierten Teile der Bewegung vor dem Problem, ihre Zukunftsvisionen und Hoffnungen gegen die Stimmen für eine Vereinigung verteidigen zu müssen. Ähnlich wie die oppositionellen 209 E. Neubert: »Perspektiven ohne SED«, S. 2 (3.12.1989), ACDP, Bestand Michael Walter: VI-064-003, ohne Pag. 210 Aufgrund ihrer Nähe zu identitären Demokratievorstellungen charakterisierte Uwe Thaysen die Zivilgesellschafts-Konzepte zu recht als »demokratietheoretisch mindestens fragwürdige Gemeinschafts-, Konsens- und Versöhnungsideologien«, Thaysen, Runder Tisch, S. 27. 211 »Wir wollten,« so Ludwig Mehlhorn, »keine staatliche Einheit über uns verfügt haben, weder vom Westen her noch von der politisch unreifen DDR-Bevölkerung.« (Interview in: Findeis u.a., S. 163). Vgl. auch F. Schorlemmer: »Die Primitivität des deutschen Kleinbürgers hat die politische Szene erobert...« (Interview in: die tageszeitung vom 9.2.1990, S. 12). 212 Mit diesen Worten resümierte und verurteilte Ehrhart Neubert die aus seiner Sicht verbreitete Einstellung (E. Neubert: »Perspektiven ohne SED«, S. 2 (3..12.1989), ACDP, Bestand Michael Walter: VI-064-003, ohne Pag.). Vgl. auch den ähnlich kritischen Diskussionsbeitrag zum Thema Einheit von Joachim Gauck auf der Vollversammlung des Neuen Forum Rostock am 13.12.1989, abgedruckt in Probst, Norden, S. 75.

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Gruppen in den öffentlichen Debatten trafen die Demonstranten dabei auf die Schwierigkeit, daß die Frage der Zukunft durch die immer lauter werdenden »Deutschland, einig Vaterland«-Sprechchöre untrennbar mit der deutschen Frage verbunden wurde. Um diese Entwicklung nachzuvollziehen, kehrt die Analyse zu den Demonstrationen zurück, deren Untersuchung sich oben zunächst auf den entscheidenden Impuls durch das Aufkommen der deutschen Frage konzentriert hatte. Der Fortgang der Auseinandersetzung ab Ende November soll im folgenden anhand der Leipziger Montagsdemonstrationen nachvollzogen werden, die nicht nur repräsentativ für die Entwicklung der landesweiten Demonstrationen waren, sondern auch von den Medien wie der Öffentlichkeit am stärksten beachtet wurden.213 Auch wenn die Demonstration am 27. November noch von der Empörung über Korruption und Amtsmißbrauch dominiert wurde, hatten die vereinzelten »Deutschland, einig Vaterland«-Sprechchöre der vorangegangenen Woche ihre Wirkung gezeigt. Erstmals läßt sich für diesen Tag feststellen, daß die Auseinandersetzung über die deutsche Frage eines der zentralen Themen der Demonstration war. Die Anhänger und Gegner der Einheit hielten sich die Waage, wobei auffallend ist, daß die entgegengesetzten Positionen noch nicht als konkurrierend begriffen wurden. Die Texte der Slogans waren moderat, aggressive Töne fehlten ebenso wie die Feindbilder und gegenseitigen Beschuldigungen, welche die weitere Auseinandersetzung prägen sollten. Noch wurde, mit anderen Worten, die Gegenpartei nicht als Gegner wahrgenommen. Bereits in der darauffolgenden Woche hatte sich das Bild gewandelt. Die Demonstration vom 4. Dezember zeigte einen schizophrenen Verlauf. Während die Demonstranten einmütig das Bürgerkomitee feierten, das unmittelbar vor der Demonstration das Staatssicherheitsgebäude an der Runden Ecke besetzt hatte, war der Zug in der Frage der Einheit zutiefst gespalten. Noch bevor die Demonstration begonnen hatte, waren Vereinigungsbefürworter und -gegner aneinandergeraten. Im Zeitraffer wurde die weitere Eskalation der Auseinandersetzung vorweggenommen, als sich zwei konkurrierende Gruppen von Demonstranten mit Pfiffen und Sprechchören maßen. Waren zu Beginn der Konfrontation noch die Sprechchöre »Deutschland, einig Vaterland« und »Reinigen statt einigen« hin und her gegangen, spitzten sich die Rufe innerhalb von Minuten zu und endeten bei »Rote aus der Demo raus«; eine Aggression, die von den Vereinigungsgegnern ihrerseits mit »Nazis raus« beantwortet wurde.214 213 Zu der Entwicklung des Stimmungsbildes der Leipziger Demonstrationen vgl. Mühler/ Wilsdorf; Breitenborn/Rink und Zwahr, Selbstzerstörung, S. 136ff. Zu den Entwicklungen in anderen Städten vgl. die oben bereits zitierten Regionalstudien, u.a. Schnitzler, S. 159ff. zu Erfurt; Heydenreich, S. 19ff. zu Neubrandenburg oder Schmidtbauer, S. 82ff. zu Rostock. 214 Vgl. den Erlebnisbericht von Tetzner, S. 66. Siehe auch den Bericht von Naumann, Wendetagebuch, S. 68, der ebenfalls drohende Handgreiflichkeiten beschreibt.

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Der Zwischenfall machte deutlich, wie sehr sich die Auseinandersetzung binnen weniger Tage verselbständigt hatte. Aus den Vereinigungsbefürwortern waren Faschisten geworden, aus ihren Gegnern Kommunisten. Der Ton der Diskussionen war so aggressiv, daß Handgreiflichkeiten befürchtet wurden und von einem sachlichen Meinungswettstreit über die Zukunft der DDR keine Rede mehr sein konnte. Beide Seiten spitzten den Konflikt auf die Frage »Einheit - j a oder nein?« zu. Wer für eine eigenständige Zukunft der DDR war, sah sich als Vereinigungsgegner gebrandmarkt und mit sozialistischen Experimenten assoziiert, denen auf zahlreichen Plakaten eine klare Absage erteilt wurde.215 Diejenigen, die an den ursprünglichen Zielen und Vorstellungen der Bewegung festhielten und für eine Demokratisierung der DDR eintraten, nahmen die Schwerpunktveränderung auf und reduzierten ihrerseits das Beharren auf einer eigenständigen Entwicklung der DDR auf eine kategorische Ablehnung der Vereinigung: »Wiedervereinigung? Und wo bleibt der aufrechte Gang?«, »DDR als Bundesland? Wer das will, hat keinen Verstand«, »Wiedervereinigung? Wir wollen kein Viertes Reich!«, »Wir lassen uns nicht einverleiben, die Kapis sollen drüben bleiben«, »Lieber eigenen Mut als Helmut - das fand ich Kohl«.216 Die Orientierungen und Werte der Bewegung waren in diesen Slogans deutlich zu erkennen: die Würde der DDR und ihrer Bürger, die Ablehnung eines gegenüber den Menschen und der Natur rücksichtslosen Kapitalismus, die Angst vor nationalistischen Tendenzen, das Bewußtsein der Erblasten der deutschen Vergangenheit und nicht zuletzt die Hoffnung auf ein Individuum, das seine Lebensbedingungen eigenständig und selbstverantwortlich gestaltet. Alle diese Orientierungen schienen durch eine mögliche Vereinigung bedroht zu sein. Der Kampf für die DDR wurde daher fortgesetzt, auch wenn er sich nunmehr nicht mehr gegen die SED, sondern gegen den Westen und gegen die Vereinigungsbefürworter richtete. Dafür einen eigenständigen Weg die schlagkräftigen Argumente fehlten, gerieten die noch zahlreichen Anhänger der Bürgerbewegung auf der Demonstration jedoch in eine rein reaktive Abwehrhaltung, aus der heraus sie sich gegen eine Zukunft DDR als »Kohlplantage« und »Nutte des Westens«217 aussprachen, ohne jedoch den Vereinigungsbefürwortern positive Zukunftsentwürfe entgegensetzen zu können. Auf der folgenden Demonstration am 11. Dezember überlagerte die Auseinandersetzung um die Einheit endgültig alle anderen Themen. Die fortgesetzte 215 »Stefan [Heym, K.T.], wir sind ein Volk und wollen ein Deutschland«, »Keine Experimente, SED und Sozialismus sind am Ende - wir sind ein Volk«, »Wiedervereinigung ja, sozialistische Experimente nein!«, »Keine Experimente - deutsche Einheit«, Plakattexte der Leipziger Montagsdemonstration vom 4.12.1989, in: W. Schneider, S. 140f. 216 Transparenttexte der Leipziger Montagsdemonstration vom 4.12.1989, ebd., S. 140f. 217 »Wir wollen keine Kohlplantage werden«, »Macht euch nicht zur Nutte des Westens«, Transparenttexte der Leipziger Montagsdemonstration vom 4.12.1989, ebd., S. 140f.

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Zuspitzung des Krisenbewußtseins ließ die Zahl der Vereinigungsbefürworter weiter anwachsen und ihre Forderungen noch dringlicher werden.218 Infolge dessen sahen sich die Vereinigungsgegner herausgefordert, sich der wandelnden Stimmungslage entgegenzustellen, so daß sich eine Interaktion zwischen beiden Gruppen entwickelte, die sich nicht zuletzt in den direkten Reaktionen auf die Sprechchöre der Gegenseite ausdrückte.219 Die Beschäftigung mit der Vergangenheit und der Gegenwart, mit der Auflösung der Staatssicherheit, mit der gewendeten SED sowie mit dem Stand der Reformen traten in den Hintergrund; es war die erste Montagsdemonstration, die völlig im Zeichen der deutschen Frage stand. Ohne daß die Vereinigungsbefürworter bereits die Mehrheit der Demonstranten stellten, hatten sie die inzwischen zu einer Institution des Umbruchs gewordenen Leipziger Montagsdemonstration grundlegend verändert. Wie weit sich die Demonstrationen innerhalb von wenigen Wochen von den ursprünglichen Formen und Themen entfernt hatten, zeigte die Reaktion einer Gruppe von Demonstranten, die seit September auf die Straße gegangen waren und sich nunmehr mit der Tatsache konfrontiert sahen, daß sich»ihreMontagsdemo« verändert hatte: »Wir können«, resümierte Gerold Hildebrand seinen Eindruck von der Demonstration, »einfach nicht so mitlaufen mit diesem Zug, das ist nicht unser Inhalt. Es gibt keine Forderungen nach Auflösung der alten Machtstrukturen mehr, es war alles weg« - überschattet von der Frage der Einheit. Aus dem »Gefühl, dem irgendwas entgegensetzen zu müssen«220 initiierte Hildebrand mit anderen eine Gegendemonstration, die den Leipziger Ring in der umgekehrten Richtung umrundete, um einen nicht nur symbolischen Kontrapunkt zu setzen. Deutlicher als jedes andere Beispiel zeigt diese Reaktion, daß eine neue Phase der Entwicklung begonnen hatte; eine Phase, die sich im Thema, in der inhaltlichen Ausrichtung und im Stil fundamental von den Demonstrationen der Bürgerbewegung unterschied. Die Bewegung war, so läßt sich die Entwicklung zugespitzt zusammenfassen, durch das Thema deutsche Einheit‹ von den Demonstrationen verdrängt worden. Worin bestanden diese Verdrängungsprozesse? Vier Aspekte lassen sich unterscheiden. Erstens überlagerte die deutsche Frage alle ursprünglichen und für die Demonstrationen konstitutiven Themen und Forderungen. Die Demokratisie218 »Einheit Deutschlands- Hoffnung für das Volk - letzte Chance für die Wirtschaft«, »Mit Helmut Kohl in eine bessere Zukunft«, »Laßt den Missetätern keine Zeit! Sofort Volksentscheid zum Stufenplan für Deutschland, einig Vaterland«, Transparenttexte der Leipziger Demonstration vom 4.12.1989, ebd., S. 140f. 219 »Wir wollen keine Kohlplantage werden« / »Lieber Kohlplantage als weiter sozialistische Versuchsfarm« oder: »Laßt euch nicht verKOHLen« / »Lieber Kohl als nichts zu essen«, Transparente der Demonstration am 11.12., ebd., S. 154f. 220 Interview mit G. Hildebrand in der Fernsehdokumentation Chronik der Wende, ausgestrahlt am 27.11.1994 in der ARD. Die geschildeten Ereignisse wurden in der Sendung fälscherlicherweise der Demonstration vom 27.11.1989 zugeordnet.

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rung der DDR, die maßgeblich von den Demonstrationen ausgegangen war, spielte in den Plakaten und Sprechchören des Dezembers keine Rolle mehr; sie war zugunsten der Auseinandersetzung um die Einheit in den Hintergrund getreten. Zweitens eröffnete die Vereinigung eine Perspektive, die derjenigen der Bewegung diametral entgegengesetzt war. Eine staatliche Vereinigung unter westdeutschem Vorzeichen ließ sich mit einer eigenverantwortlichen, basisdemokratischen Demokratisierung der DDR nicht vereinbaren. Durch die Orientierung auf ein gesamtdeutsches Volk verlor das Selbstverständnis, das die Demonstrationen bislang getragen hatte, seine Grundlage. Denn die Legitimation und die Ansprüche, die sich mit dem Massenruf »Wir sind das Volk« verbanden, waren unmittelbar auf die DDR bezogen - sie wurden daher hinfällig, als der staatliche Rahmen der DDR in der Überzeugung: »Wir sind ein Volk«221 von einer wachsenden Zahl von Demonstranten aufgegeben wurde. Drittens wandelte sich parallel zu den Themen auch der Stil der Demonstrationen in einem Maße, das die Grenzen der in den vorangegangenen Monaten etablierten Protestkultur überschritt. Das Plakat »Meinungsfreiheit auch für Vereinigungsgegner«222 deutete an, daß die Toleranz gegenüber einer Vielfalt von Meinungen, welche die Demonstrationen bislang ausgezeichnet hatte, in der beiderseitigen Radikalisierung der Positionen ihr Ende gefunden hatte. Der kollektive Volksfestcharakter war einer aggressiven Stimmung gewichen, der die Demonstranten der ersten Stunde ihrerseits mit Ab- und Ausgrenzungsversuchen begegneten: »Wer durch Gewalt die Demo stört, der hat noch nie zu uns gehört«.223 Texte wie dieser verdeutlichen einen vierten grundlegenden Wandel, der sich auf der Demonstration vom 11. Dezember deutlich beobachten ließ: Die Frontstellung, die bislang unhinterfragt zwischen dem Volk und der SED bestanden hatte, verlief nunmehr zwischen Vereinigungsbefürwortern und Vereinigungsgegnern, also zwischen den Demonstrationsteilnehmern selbst. Der kollektive Charakter der Demonstrationen gehörte damit der Vergangenheit an. Die Konsequenz, die viele Demonstranten aus diesen Entwicklungen zogen, belegt die Verdrängung der Themen, Ziele und Stile der Bürgerbewegung überaus plastisch. Im September und Oktober, »als uns Polizeiknüppel zuhauf trieben,« so hielt ein ehemaliger Montagsdemonstrant den Vereinigungsbefürwortern in einem Leserbrief an die Leipziger Volkszeitung vor, »da hätten wir Eure Tapferkeit bitter nötig gehabt, mit der Ihr jetzt jeden Redner 221 Zur Aussage Hartmut Zwahrs (Selbstzerstörung, S 141), dem zufolge der Slogan »Wir sind ein Volk« nicht auf den Demonstrationen geäußert wurde, lassen sich zahlreiche Gegenbelege finden: »Keine Experimente, SED und Sozialismus sind am Ende -wir sind ein Volk«, »Stefan [Heym, d.Vf.], Wir sind EIN Volk und wollen EIN Deutschland«, »Wir sind EIN Volk, wir fordern Wiedervereinigung beider deutschen Staaten«, Transparenttexte der Leipziger Demonstration vom 11.12., in: W. Schneider, S. 154f, Herv. im Original. 222 Transparent auf der Leipziger Montagsdemonstration vom 11.12., ebd., S. 154. 223 Transparent auf der Leipziger Montagsdemonstration vom 11.12., ebd., S. 155.

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niederschreit, der Vernunft fordert.« Mit den aggressiven und feigen »Trittbrettfahrern« der demokratischen Bewegung wolle er jedoch nichts mehr zu tun haben; nach drei Monaten der Demonstrationsteilnahme werde er deshalb sein Engagement beenden.224 An der Frage der deutschen Einheit zerbrach daher im Laufe der ersten Dezemberwochen der Konsens, der die Demonstrationen bislang getragen hatte. Diese Entwicklung blieb nicht auf Leipzig beschränkt. »Wo Demonstranten sich in der Zielrichtung nicht mehr einig sind, wo montags jeder sein eigenes Süppchen kocht, wo verbale Aggression in Aktion umzuschlagen droht«, stellte der Magdeburger Domprediger Giselher Quast am 4. Dezember angesichts der Demonstrationen in seiner Stadt fest, dort »haben die Montagsdemonstrationen ihre politische Kraft verloren.«225 Nicht durch ein Ende der Demonstrationen, sondern durch ihren Wandel verlor die Bürgerbewegung damit die zentrale Aktionsform, mit der sie in den vorangegangenen Monaten den demokratischen Umbruch initiiert und vorangetrieben hatte. Als Fazit läßt sich festhalten, daß sich vor dem Hintergrund der Großen Angst um die Monatswende vom November zum Dezember 1989 mehrere parallele Prozesse entfaltet hatten. Die Krisenstimmung und die Perspektive der deutschen Einheit hatten Anfang Dezember ungeahnte - und ungewollte Möglichkeiten der Entwicklung eröffnet, auf welche die Bürgerbewegung mit unterschiedlichem Erfolg reagierte. Die Besetzung der Staatssicherheitsgebäude, die Etablierung der Bürgerkomitees, die organisatorische und programmatische Konsolidierung der Gruppen, die Entstehung einer freien Öffentlichkeit, die Einberufung des Runden Tisches und nicht zuletzt der faktische Zusammenbruch der SED als Herrschaftsapparat markierten dabei den Bereich, in dem sich die Bewegung mit ihren Zielvorstellungen und Mitteln durchsetzen konnte: den Bereich der gewaltfreien Demokratisierung des SEDRegimes, wo die zivilgesellschaftlichen Konzepte zur Geltung gebracht werden konnten. Demgegenüber büßte die Bewegung über der deutschen Frage ihre Gestaltungsfähigkeit bezüglich der weiteren Entwicklung der DDR ein. Auch wenn die Besetzung der Staatssicherheitsgebäude und der Widerstand gegen die Vereinigungsbefürworter zeigte, daß die Bewegung nach wie vor in der Lage war, für ihre Ziele zu mobilisieren, markierten diese Wandlungen den Anfang vom Ende der DDR-Bürgerbewegung.

224 »Offener Brief an einen unbekannten Trittbrettfahrer«, zit. nach Bahrmann/Links, S. 168. Von ähnlichen Reaktionen (»Da gehe ich nicht mehr hin ...«) berichtet auch Tetzner, S. 72. 225 Offener Brief von Giselher Quast (Dezember 1989), in: Beratergruppe Dom des Gebetes, S. 227f, Zitat S. 228.

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VII. Das Ende der Bewegung Die Situation, mit der sich die Bürgerbewegung Anfang Dezember konfrontiert sah, läßt sich mit demselben Bild beschreiben, das Hartmut Zwahr für die Lage der SED im September 1989 gefunden hat. Angesichts der Ausreisewelle nach Westen und der Entstehung einer Opposition im Inneren war die SED zwischen zwei Räder geraten, die sich mit wachsender Geschwindigkeit in unterschiedlichen Richtungen zu drehen begannen.1 Dieses Bild läßt sich, ohne es zu überspannen, auf die Situation der Bürgerbewegung Anfang Dezember übertragen. Zwischen einem in Auflösung begriffenen Gemeinwesen, einem mit Händen zu greifenden Krisenbewußtsein, dem beginnenden Wahlkampf und dem Meinungswandel in der deutschen Frage gelang es der Bewegung nicht, ihre Mobilisierungsdynamik aufrechtzuerhalten. Systematische Annahmen, Modelle und Hypothesen über den Niedergang von Bewegungen sind rar.2 Zwar gibt es eine Vielzahl von Überlegungen dazu, welche internen oder externen Widersprüche auftreten und die Mobilisierungsfähigkeit beschränken können; insgesamt aber konzentriert sich die Bewegungsforschung eher auf die Frage, wie Ressourcen gewonnen und eingesetzt, als darauf, wie sie wieder verloren werden. Außer Frage steht allerdings, daß soziale Bewegungen als kollektive Akteure ständig von Stagnation und Zerfall bedroht sind, sei es weil sich ihre Aktionen in organisiertem Handeln erschöpfen, sei es weil die Sympathisanten ausbleiben oder sei es weil eine Nachfolgebewegung die Initiative übernimmt. In allen Fällen büßt die Bewegung ihre Mobilisierungsfähigkeit ein. Sie verliert ihren Bewegungscharakter, der sich durch ein dynamisches Nebeneinander von Spontaneität und Organisation auszeichnet. Soziale Bewegungen sind daher unmittelbar darauf angewiesen, in Bewegung zu bleiben. Ihre einzige Macht besteht in der Fähigkeit, Menschen zu motivieren, für bestimmte Ziele aktiv zu werden und an Protestaktionen teilzunehmen. Erreicht sie die Ziele, in deren Namen sie mobilisiert hat, läuft sie Gefahr, sich selbst überflüssig zu machen. Gelingt es ihr in dieser Situation nicht, neue Ziele und neue Protestanlässe zu propagieren, verliert sie ihre Anhänger; die Mobilisierungsdynamik geht in eine Demobilisierung über.

1 Vgl. Zwahr, Selbstzerstörung, S. 19. 2 Vgl. etwa die kursorischen Bemerkungen, die Raschke (Grundriß, S. 122f.) dieser Frage widmet. Siehe auch Bader, S.208ff., 243ff.

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Diese kritische Zeit war für die DDR-Bürgerbewegung Anfang Dezember gekommen. Sie hatte die Demokratisierung der Gesellschaft bis zu einem Punkt vorangetrieben, an dem der Zusammenbruch der alten Ordnung die Möglichkeit und vor allem die Notwendigkeit entstehen ließ, eine Demokratie, also eine neue Staatsform zu etablieren. Die Voraussetzungen für diesen Wandel waren zwar durch die Erfolge der Bewegung geschaffen worden; die Logik der weiteren Entwicklung aber folgte Regeln, die nicht mehr diejenigen der Bewegung waren. Sie hatte eine gesellschaftliche Demokratisierung von unten getragen; nunmehr jedoch galt es, die Demokratisierung auf staatlich-politischer Ebene sicherzustellen und von oben weiterzuführen. Die Ziele und Strategien der Bewegung hätten daher in dem Moment einer Neudefinition bedurft, als die Demokratisierung Anfang Dezember in den wesentlichen Punkten erfolgreich abgeschlossen war. Denn angesichts der Einlösung der grundlegenden Forderungen stellte sich nunmehr allen, die in den vorangegangenen Monaten durch ihre Teilnahme an den Aktionen zur Überwindung des SED-Regimes beigetragen hatten, gewissermaßen die Sinnfrage: Warum sollten sie sich weiterhin in einer Bewegung engagieren, die auf einen basisdemokratischen Wandel fixiert war? Warum sollten sie nicht an Stelle dessen in eine Partei eintreten oder gar ihr politisches Engagement wieder einstellen, nachdem ihre Forderungen durchgesetzt waren? Diese Fragen fanden Anfang Dezember 1989 ihren Niederschlag in verschiedenen Krisenphänomenen, die im Laufe des Monats zu einem Ende der Bürgerbewegung führen sollten. Das Schlüsseldatum dieser Phase war der 7. Dezember, an dem der Zentrale Runde Tisch in Berlin zum ersten Mal zusammentrat. Mit ihm wurde eine in der deutschen Geschichte einzigartige Institution geschaffen, in der die antipolitischen Politikvorstellungen der Bewegung ihren Ausdruck fanden. Als Möglichkeit einer direkten Partizipation der Bürger an einem parteiübergreifenden, gemeinwohlorientierten und konsensualen Entscheidungsfindungsprozeß wurde er zum Symbol einer neuen politischen Kultur. Inwiefern der Runde Tisch jedoch gleichzeitig Ausdruck und Faktor des Endes der Bürgerbewegung wurde, ist die leitende Fragestellung der folgenden Ausführungen. Sie widmen sich zunächst den neuen Herausforderungen und Rahmenbedingungen, die sich Anfang Dezember 1989 ergaben. An diese Darstellung schließt sich die Frage nach den verschiedenen Handlungsoptionen der Bewegung an, um vor diesem Hintergrund die Bedeutung der Runden Tische näher zu bestimmen. Der Ablauf und die Ergebnisse der ersten Sitzung des Runden Tisches am 7. Dezember in Berlin sind Gegenstand des zweiten Teils dieses Kapitels, dessen letzter Abschnitt die weitere Entwicklung hin zu den Volkskammerwahlen am 18. März 1990 untersucht.

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1. »Aus tiefer Sorge um unser Land«: Der Runde Tisch 1.1. Zwischen allen Stühlen: Der Weg an den Runden Tisch Die Tatsache, daß die Teilnehmer des Zentralen Runden Tisches am 7. Dezember an einem eckigen Tisch Platz nahmen, war nur ein äußerliches Anzeichen dafür, daß die Wirklichkeit des Runden Tisches nicht in allen Punkten den ursprünglichen Vorstellungen entsprach. Zwar hatten die wesentlichen Konstruktionsprinzipien des Runden Tisches ihre Gültigkeit behalten, sein Status und seine Funktion hatten sich jedoch grundlegend gewandelt. Um die Veränderungen deutlich zu machen, soll der Faden der Darstellung im folgenden an dem Punkt wieder aufgenommen werden, an dem die Untersuchung der Vorgeschichte des Runden Tisches im vorherigen Kapitel geendet hatte. Die Frage nach der Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit spielt dabei jedoch nur eine sekundäre Rolle.3 Primär geht es darum, den Runden Tisch vor dem Hintergrund der veränderten Rahmenbedingungen zu untersuchen, um seine Bedeutung für den Prozeß des Protests greifbar zu machen. Inwiefern, so lautet daher die übergeordnete Fragestellung, wirkte sich das Engagement der oppositionellen Gruppen am Runden Tisch auf die Aktionen und Mobilisierungsprozesse der Bürgerbewegung aus? Als die SED am 22. November 1989 ihre Zustimmung zu einem Runden Tisch signalisierte, zeichnete sich der bis dahin größte Erfolg der Bewegung ab. Es war ihr gelungen, die SED zu Verhandlungen über freie Wahlen und damit über eine freiwillige Machtabgabe zu zwingen. Die Verwirklichung der politischen Reformforderungen schien greifbar nahe zu sein. Zu diesem Zeitpunkt waren die ursprünglichen Intentionen und Hoffnungen, die Ende Oktober mit dem Vorstoß verbunden worden waren, noch aktuell. Als Fortsetzung des Protests mit anderen Mitteln sollte der Runde Tisch das zentrale Forum der Auseinandersetzung mit der SED bieten, deren Dominanz in Staat, Wirtschaft, Medien und Verwaltung ungebrochen war. Die vordringlichste Aufgabe des Runden Tisches wurde deshalb darin gesehen, ein Wahlgesetz und eine neue Verfassung auszuarbeiten, um die Überwindung der SED-Herrschaft in einen demokratischen Neuanfang zu überführen. Aus der Perspektive einer Zeit, die weder die »Deutschland, einig Vaterland«-Sprechchöre noch das Krisenbewußtsein der Großen Angst kannte, erschien der Runde Tisch daher als diejenige Instanz, die, wie Ehrhart Neubert am 23. November betonte, »die Weichen für die Demokratisierung«4 stellen könnte.

3 Vgl. dazu vor allem Thaysen/Kloth, S. 1712ff. 4 »Ergebnisse bis zum Frühjahr«, Interview mit Ehrhart Neubert, in: die tageszeitung vom 24.11.1989, S. 3.

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Angesichts der Erklärungen zum Selbstverständnis der Runden Tische, die sich zwei Wochen nach der Äußerung Neuberts auf allen Ebenen konstituierten, wird jedoch deutlich, daß ihre Funktion als Weichensteller der Demokratisierung in der Zwischenzeit zwar nicht obsolet, aber doch sekundär geworden war. Die Wahrnehmung der Situation hatte sich dramatisch verändert und mit ihr der Status, der den Runden Tischen zugeschrieben wurde. Das nunmehr fast durchgängig anzutreffende Motiv der Einberufung eines Runden Tisches war die Angst vor Anarchie und Chaos. Nicht nur am Zentralen Runden Tisch in Berlin war das während der ersten Sitzung wiederholt betonte Bewußtsein, »wie ernst die Lage ist und wie schnell manches umkippen kann, in Anarchie und auch in Blutvergießen«,5 der treibende Faktor der Verhandlungen. Auch die Einberufungen der Runden Tische auf lokaler und kommunaler Ebene wurden von einem allgegenwärtigen Krisenbewußtsein überlagert. In Suhl etwa, das hier nur stellvertretend für viele andere Städte steht,6 erfolgte die Einberufung des Runden Tisches des Bezirks nicht mehr in der Hoffnung auf Verhandlungen über die weitere Demokratisierung, sondern aus der konkreten Angst, daß die »bisherige 40jährige Rechtsunsicherheit durch den Apparat der Staatssicherheit in eine neue Rechtsunsicherheit durch Haß und Vergeltung umschlagen kann.«7 Die Tatsache, daß die oppositionellen Gruppen in die Versuche einbezogen wurden, diese Probleme an den Runden Tischen zu lösen, hatte verschiedene Konsequenzen, die erst deutlich werden, wenn die Analyse einen Schritt zurückgeht und nach den Handlungsbedingungen und -möglichkeiten im Vorfeld der Runden Tische fragt. Worauf beruhte, lautet die erste Frage in diesem Zusammenhang, der bereits erwähnte Eindruck der beteiligten Akteure, kurzfristig und schnellstens Maßnahmen ergreifen zu müssen, um, wie es die Landesdelegierten des Neuen Forums am 9/10. Dezember formulierten, »das Leben aufrechtzuerhalten und Anarchie und Chaos zu verhindern«?8 Es waren zwei Entwicklungen, die zu solch drastischen Situationseinschätzungen Anhß gaben. Zum einen spitzten sich die alltäglich zu beobachtenden Krisenphänomene dramatisch zu. Die Versorgungslage in Handel und Verkehr 5 Manfred Gerlach auf der 1. Sitzung des Zentralen Runden Tisches, RHA, Videocassette »1. Runder Tisch (7.12.1989), Teil I«, 02:08. Die Zählung bezieht sich hier wie im folgenden auf die Stunden:Minutenangaben der jeweiligen Videocassette. 6 Ähnliche Motive und Konstellationen waren etwa auch in Dresden ausschlaggebend, vgl. M. Richter, Räte, S. 159. Charakteristisch für die neuen Aufgabenstellungen waren auch die beiden Themen »Sicherung der Gewaltfreiheit« und »Wie kommen wir über den Winter«, die für die erste Sitzung des Runden Tisches des Bezirks Halle vereinbart wurden. Vgl. das Protokoll der 1. Beratung des Runden Tisches des Bezirks Halle am 12.12.89, in: Lintzel, S. 34. 7 Einladungsschreiben zum Runden Tisch des Bezirks Suhl (8.12.1989), zit. nach dem Erlebnisbericht von Katharina Strobel in: Dornheim/Schnitzler, S. 233. 8 DDR-Delegiertenversammlung des Neuen Forums am 9./10.12.1989: »Antrag an den Zentralen Runden Tisch betreffs Wahlen am 6. Mai 1989«, in: DGB-Bundesvorstand, S. 66.

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schien infolge des Übersiedler- und Reisestromes mancherorts ernsthaft gefährdet,9 die Kriminalitätsrate stieg nachhaltig an, immer öfter kam es zu Handgreiflichkeiten auf den Demonstrationen, und die Informationen über das Ausmaß von Bespitzelung und Drangsalierung durch die Staatssicherheit schürten die Befürchtung vor Racheakten.10 Besonders brisant erschienen diese Entwicklungen vor dem Hintergrund der Tatsache, daß die Volkspolizei im Laufe des Herbstes in einem Maße an Autorität verloren hatte, daß sie Kriminalität, Gewalt und Ausschreitungen unter Umständen nicht würde verhindern können. Dieser Umstand verweist bereits auf das zweite Element der Schwierigkeiten. Von Tag zu Tag wurde deutlicher, daß die staatlichen Institutionen, die sich der Probleme hätten annehmen müssen, nicht mehr in der Lage waren, ihren Aufgaben gerecht zu werden: »Im kommunalen Bereich«, stellten die Delegierten des Neuen Forums am 9. Dezember daher fest, »beginnt der Staatsapparat auseinanderzufallen, ist nicht mehr handlungs- und entscheidungsfähig.«11 Diese Analyse war, wie Cornelia Liebold am Beispiel Leipzigs gezeigt hat, absolut zutreffend. Nach dem Zusammenbruch der Weisungsebenen innerhalb und zwischen den Strukturen von Staat und Partei waren die Kommunen nach vierzigjähriger Weisungsabhängigkeit auf sich selbst gestellt und erwiesen sich angesichts der zu bewältigenden Aufgaben als völlig überfordert.12 Noch zusätzlich verstärkt durch das Legitimationsdefizit der Stadtverordnetenversammlungen und Räte boten die Kommunen das Bild eines »in Auflösung befindlichen Gemeinwesens«,13 das im Moment seiner größten Krise jeglicher identitäts- und autoritätsstiftender Funktion verlustig gegangen war. Dasselbe Bild zeigte sich auch auf der nationalen Ebene. »Alle bisherigen Parteien und Massenorganisationen«, so resümierte das Neue Forum Mitte Dezember die Situation, »ringen um die Existenz, [...] alle gewählten Organe im Staat haben maximal noch ein Übergangsmandat«, und »selbst die Regierung (ist) nur noch Sicherer und Verwalter, ohne Mandat für grundlegende Strukturveränderungen.« Derweil mußte die Bevölkerung, hieß es weiter, ohnmächtig beobachten, wie nicht nur »Aktivitäten der Selbstjustiz«, sondern auch das eigenmächtige Engagement der »verschiedenartigsten Persönlichkeiten und In9 Das Ost-Berliner Oberbürgermeisteramt gab am 1.12.1989 bekannt, daß die Versorgungslage in Berlin unter dem Fehlen von insgesamt dreitausend Mitarbeitern im Handel leide, wovon mindestens zweitausend Verkäufer/innen und Lagerarbeiter ausgereist seien. Vgl. »Im Berliner Handel fehlen dreitausend Mitarbeiter«, in: BZ vom 2./3.12.89, S. 3. 10 Vgl. etwa die Untersuchung der komunalpolitischen Probleme Erfurts bei Schnitzler, S. 185f. 11 DDR-Delegiertenversammlung des Neuen Forums am 9./10.12.1989: »Antrag an den Zentralen Runden Tisch betreffs Wahlen am 6. Mai 1989«, in: DGB-Bundesvorstand, S. 66. 12 Vgl. Liebold, bes. S. 86ff. 13 Mit dieser treffenden Formulierung resümiert Schnitzler (S. 185) seine Untersuchung zu den Problemen, die sich Anfang Dezember in Erfurt stellten.

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stitutionen der BRD [... ] große Gefahren für die Zukunft der DDR«14 heraufbeschworen. Die von der Bewegung vorangetriebene Überwindung des SED-Regimes hatte - das machen diese Krisenwahrnehmungen deutlich - eine unkontrollierbare Dynamik gewonnen. Der absolute Macht- und Wahrheitsanspruch der SED, der bis 1989 das Funktionieren der staatlichen Ordnung gewährleistet hatte, ließ sich nicht mit der Einlösung von demokratischen Grundrechten vereinbaren. Den bisherigen Herrschaftsprinzipien waren die Fundamente entzogen worden, ohne daß sich bereits eine neue Ordnung abzeichnete. Das »Machtvakuum«,15 das Wolfgang Berghofer Anfang Dezember konstatierte, ließ sich daher zwar als Erfolg der Bewegung verstehen, die sich gegen die SED durchgesetzt hatte; die Freude über diesen Erfolg wurde jedoch überlagert von der Angst vor Gesetzlosigkeit, Anarchie und Chaos. »Die politische Lage,« so stellte der Vorstand der SDP am 3. Dezember fest, »ändert sich von Tag zu Tag zum Negativen. Die Entwicklung der Krise vollzieht sich in einer galoppierenden Geschwindigkeit.«16 Die Reaktion der Bürgerbewegung auf diese Entwicklung ist bekannt. Sie sollte sich dazu entscheiden, das Zustandekommen Runder Tische zu forcieren. Angesichts der Wahrnehmung von Anarchie und Chaos schien das die einzige Möglichkeit zu sein, den konstitutiven Elementen der Bewegung dem Engagement»fürunserLand«und der Verpflichtung auf die Gewaltfreiheit - gerecht zu werden. Aber auch wenn bzw. gerade weil die Bewegung durch die sich rapide wandelnden Rahmenbedingungen unter einen immensen Handlungsdruck gesetzt wurde, war die Entscheidung für die Runden Tische weder unproblematisch noch unumstritten. Vielmehr war die Bürgerbewegung im Vorfeld der Runden Tische an einen Punkt gelangt, an dem sich erstmals in ihrer Entwicklung widersprüchliche Handlungsoptionen eröffneten und zu bewegungsinternen Diskussionen um das weitere Vorgehen führten. Welche anderen Möglichkeiten waren es, die zugunsten der Runden Tische verworfen werden sollten? Am Abend des 1. Dezembers brachte die Aktuelle Kamera eine aufsehenerregende Meldung aus Karl-Marx-Stadt. Eine Versammlung des Neuen Forums, zu der am frühen Abend mehrere Hundert Bürger der Stadt gekommen waren, hatte zu einem Generalstreik in der DDR aufgerufen. Den Versammelten gingen die Reformbemühungen der SED nicht weit und nicht schnell genug, so daß sie zu dem radikalen Mittel des Streiks griffen, um ihren Forderungen 14 »Information der Wirtschaftssprecher des Neuen Forum« (Mitte Dez.), in: DGB-Bundesvorstand, S. 71. 15 Wolfgang Berghofer, Interview in: Der Spiegel vom 11.12.1989, S. 38-40, Zitat S. 38: »Die Machtstrukturen sind zerstört oder zerschlagen. Es ist ein Machtvakuum entstanden.« 16 Erklärung »Die SDP zur Wahl«, Beschluß der SDP-Vorstandssitzung am 3.12.1989 (AdsD, Bestand Martin Gutzeit IV, Bl. 908).

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Nachdruck zu verleihen. Sie verlangten eine massive Reduzierung des Parteiapparates, die Abschaffung der Kampfgruppen, radikale Einschränkungen der Tätigkeit der Staatssicherheit, die Herauslösung der Partei aus den Betrieben, die Offenlegung der Parteivermögen und ihre Rückgabe an das Volk sowie schließlich eine entschiedene Strafverfolgung von Korruption und Amtsmißbrauch auf allen Ebenen. Sollten diese Forderungen nicht innerhalb der folgenden Tage erfüllt werden, wurde für den 6. Dezember zu einem zweistündigen, landesweiten Generalstreik aufgerufen.17 Wie schon so viele neue Ansätze und Protestformen in den vorhergegangenen Monaten überregionale Nachahmungseffekte erzielt hatten, zog auch die Streik-Initiative Solidarisierungen in anderen Städten nach sich, so daß der Vorstoß aus Karl-Marx-Stadt nicht allein stand.18 Gegenüber der Option einer begrenzten Kooperation mit der SED am Runden Tisch verfochten die Befürworter eines Streiks eine grundsätzlich andere Strategie: Mit neuen und gemessen an den bisherigen Formen wesentlich radikaleren Mitteln sollte der Protest fortgesetzt werden. Man suchte nach wie vor die Konfrontation mit dem Gegner SED, die weiterhin durch öffentlichen Druck und nicht durch Verhandlungen dazu gebracht werden sollte, auf die ihr noch verbliebenen Machtpositionen zu verzichten. Eine ganz andere Möglichkeit zur Durchsetzung der Reformvorstellungen zeichnete sich auf den Demonstrationen ab, wo seit Mitte November wiederholt der Ruf »Neues Forum an die Macht«19 laut wurde. Damit wurde eine weitere Alternative zur Kooperation mit der SED aufgezeigt. Die Demonstranten gingen über den bewegungsinternen Konsens der notwendigen Ablösung der SED hinaus und verbanden die Forderung nach einer Überwindung der SED mit der Hoffnung auf die oppositionellen Gruppen. Von ihnen wurden konsequente Maßnahmen zur Rettung der DDR verlangt, und das hieß zumindest für einen Teil der Demonstranten: Entmachtung der SED durch eigene, machtpolitische Initiativen und unter Umständen sogar durch die Übernahme der Regierungsverantwortung. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der »Deutschland, einig Vaterland«-Sprechchöre spitzten sich diese Erwartungen gegen Ende November zu, war doch die Perspektive einer oppositionellen Regierungsübernahme eine konstruktive Alternative, die man den Vereinigungsbefürwortern entgegensetzen konnte. Die Hoffnung hieß daher Machtübernahme statt Machtkontrolle. Die oppositionellen Gruppen, die ihrerseits für eine Teilnahme an den Runden Tischen plädierten, setzten sich auf zentraler wie lokaler Ebene mit den beiden Alternativen intensiv auseinander. Besonders die Forderung nach einem 17 Vgl. hierzu Reum/Geißler, S. 114. 18 Vgl. etwa den Streikaufruf des Neuen Forum Plauens vom 5.12.1989, in: Küttler/Röder, S. 68. 19 Vgl. etwa: »Laßt das Neue Forum an die Macht, Ihr werdet sehen, so wird es gemacht«, Transparent der Leipziger Montagsdemonstration vom 27.11.1989, in: W. Schneider, 128f.

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Generalstreik sorgte für Aufregung und beschäftige nicht nur den Landessprecherrat des Neuen Forums, sondern auch die Delegiertenversammlung am 9./ 10. Dezember. Beide Gremien lehnten jedoch einen Generalstreik einhellig ab. Er sei das »schärfste Mittel, das erst nach einer landesweiten Diskussion an der Basis angewendet werden sollte«,20 betonte der Landessprecherrat am 5. Dezember, woraufhin die Delegiertenversammlung des Neuen Forums wenige Tage später präzisierte, daß zunächst die sich bietenden »politischen Mittel, u.a. die Möglichkeiten des Runden Tisches voll genutzt werden müssen,«21 bevor man über einen Generalstreik nachdenken könne. Ein Generalstreik, so scheint es, war aus der Sicht der Leitungsgremien des Neuen Forums kontraproduktiv, da er die ohnehin angespannte Lage noch zusätzlich verschärft hätte. Unter dem Eindruck eines drohenden Abgleitens der DDR in Anarchie und Chaos war eine Fortsetzung oder gar Intensivierung des Protests nicht wünschenswert, so daß der Generalstreikinitiative eine klare Absage erteilt wurde. Auch die von den Demonstranten erhobene Forderung nach einer Machtübernahme eröffnete eine Option, die nicht ungehört an den oppositionellen Gruppen vorbeiging. Als Sprecher des Neuen Forum Leipzigs nahm Jochen Läßig die Rufe in einer Ansprache am 18. November sogar explizit auf: »Auf der Leipziger Montagsdemonstration wurden schon Rufe laut: Neues Forum an die Macht.« Er mußte die Erwartungen jedoch enttäuschen: »Eine Organisation, die zwei Monate alt ist, kann dieser Forderung leider nicht so schnell nachkommen. [...] Uns ist nicht geholfen, wenn die SED so schnell als möglich zugrunde gerichtet wird und sie uns in ihrem Fall mit in die Tiefe zieht.« Die organisatorischen und programmatischen Voraussetzungen der Gruppen ließen seiner Meinung nach nur eine Möglichkeit zu: »Es geht vorläufig nur ums Mitregieren, um Machtbeteiligung und um Kontrolle«,22 mit anderen Worten: um eine Teilnahme am Runden Tisch. Die Diskussionen, die sich angesichts der bevorstehenden Konstituierung der Runden Tische um die Frage des weiteren Vorgehens entfachten, waren mehr als nur bewegungsinterne Richtungsstreitigkeiten. Sie lassen sich vielmehr als Ausdruck einer grundlegenden Krise der Bewegung interpretieren, die Anfang Dezember ihre wesentlichen Forderungen durchgesetzt hatte: Das SED-Machtmonopol gehörte der Vergangenheit an, die Reisefreiheit sowie die Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit waren gewährt, und eine unabhängige Öffentlichkeit war entstanden. Die Diskussion um das weitere Vorgehen zeigte, daß hieraus zwei grundlegende Probleme erwuchsen. Wäh20 »Protokoll der Beratung der Initiativgruppe und des Landessprecherrates am 5.12.1989«, RHA 3.1.1.1.1.1.: Neues Forum Republiksprecherrat: Protokolle 1989- 1990, ohne Pag. 21 »Erklärung des DDR-weiten Delegiertentreffens des Neuen Forum am 9./10.12.1989«, in: DGB-Bundesvorstand, S. 62. 22 Rede von Jochen Läßig auf der Kundgebung am 18.11.1989 auf dem Leipziger Dimitroffplatz, in: Neues Forum Leipzig, S. 264f.

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rend bislang das gemeinsame Vorgehen gegen die SED und das Ziel einer gesellschaftlichen Demokratisierung außer Frage gestanden hatten, konnte die Bewegung erstens nicht länger durch die Abgrenzung vom SED-Regime an Kontur und Identität gewinnen. In dem Moment, als die SED-Herrschaft überwunden war und neue Probleme in den Vordergrund rückten, stand daher das weitere Vorgehen zur Disposition. Es zeigten sich erste Brüche und Widersprüche in dem Konsens, der die Bewegung bis dahin getragen hatte. Zwang die Einlösung ihrer Forderungen die Bewegung dazu, ihr weiteres Vorgehen kritisch zu reflektieren, wurde die notwendige Neudefinition der Ziele und Mittel zweitens durch die ambivalenten Auswirkungen der Demokratisierung weiter verschärft. Die Situation, die infolge des eskalierenden Krisenbewußtseins und des Zusammenbruchs der staatlichen Ordnung entstanden war, stellte nicht nur die Erfolge der Bewegung, sondern auch ihre bislang bewährten Strategien in Frage. Denn angesichts des Handlungsdrucks wurde fraglich, ob langwierige basisdemokratische Diskussionsprozesse tatsächlich in der Lage wären, einen Ausweg aus der Krise zu bieten.23 Sollte man daher die Protestaktionen fortführen und radikalisieren, um den Druck von unten aufrechtzuerhalten oder gar noch zu erhöhen? Oder sollte man nicht besser über die Phase des Protests hinausgehen und den öffentlichen Druck in eine eigene Regierungsübernahme übersetzen, um so das Machtvakuum für sich zu nutzen? Oder war es schließlich nicht die beste Lösung, einen Mittelweg zwischen Machtübernahme und Protest zu gehen und an den Runden Tischen eine Machtkontrolle durch Verhandlungen auszuüben? An der Debatte um diese Fragen lassen sich zwei Prozesse aufzeigen, in denen sich ein Ende der Bürgerbewegung abzeichnete. Zum einen kamen in ihnen bewegungsinterne Konflikte zum Ausdruck, die im Laufe des Dezembers zu einer Auflösung der Bewegung führen sollten, als nach der erfolgreichen Überwindung der SED neue Formen der politischen Auseinandersetzung in den Vordergrund rückten. Auf der anderen Seite symbolisierte der Runde Tisch den Beginn einer Entwicklung, in deren Verlauf der Protest zunehmend von der Straße an den Verhandlungstisch verlagert und somit institutionalisiert wurde. Beide Entwicklungen, die Auflösung wie die Institutionalisierung der Bürgerbewegung, werden deutlich, wenn man die Runden Tische mit den anderen Handlungsoptionen der Bewegung kontrastiert. Die Frage, ob Anfang Dezember 1989 die Möglichkeit einer Machtübernahme tatsächlich bestand, ist im Rahmen dieser Untersuchung zweitrangig. Entscheidend ist, daß die Machtfrage Teilen der Demonstranten als offen erschien, so daß sie die oppositionellen Gruppen mit der Erwartung konfrontierten, entschiedenere machtpolitische Schritte zu ergreifen. Von einer realistischen Ein23 Zu den Spannungen zwischen den internen Voraussetzungen der Bewegung und den externen Anforderungen vgl. Ruckt, Vereinigung; Wielgohs/Schulz, Binnenstruktur; Wielgohs, Auflösung und Hilger, S. 81 ff.

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Schätzung der Möglichkeiten der oppositionellen Gruppen war diese Erwartung jedoch weit entfernt. Die Trägergruppen, und allen voran das Neue Forum, erschienen vielmehr als ein Symbol für den demokratischen Umbruch, als ein Hoffnungsträger, auf den vielfältige, zum Teil fast messianisch anmutende Heilserwartungen projiziert wurden.24 Solange die äußeren Bedingungen verhinderten, daß mit diesen Erwartungshaltungen praktische Konsequenzen verbunden werden konnten, blieben die bewegungsinternen Spannungen latent. In dem Moment aber, als sich Anfang Dezember verschiedene Wege des weiteren Vorgehens abzeichneten, eskalierte eine grundlegende Differenz, deren Linien quer durch die Bewegung verliefen. Auf der einen Seite stand ein sozusagen radikaler Flügel, der vor allem von großen Teilen des Neuen Forums, von Demokratie Jetzt und der IFM repräsentiert wurde. Aber auch diejenigen Demonstranten, die den Vereinigungsbefürwortern auf den Demonstrationen weiterhin eine erneuerte DDR entgegenhielten, sind diesem Flügel zuzurechnen. Für sie verloren die konstitutiven Orientierungen der Bewegung auch nach der Überwindung der SED nicht an Bedeutung, da sie in den basisdemokratischen Formen und Idealen nicht nur ein Mittel zur Auseinandersetzung mit der SED sahen, sondern vor allem den Inhalt einer neuzuschaffenden Zivilgesellschaft, und zwar einer zivilen Gesellschaft der DDR. Dementsprechend hielten die Anhänger dieses Flügels an den Aktions- und Organisationsformen der Bewegung fest. Dialog, Öffentlichkeit und Basisdemokratie waren Leitideen, die, so die Hoffnung, erst nach der Überwindung der SED-Herrschaft zu ihrer vollen Blüte gelangen sollten. Denn nunmehr schien sich die Chance zu bieten, in der DDR eine solidarische und basisdemokratische Gesellschaft zu schaffen, die auf den Idealen der Bürgerbewegung beruhte.25 In dieser Perspektive bestand daher auch Anfang Dezember kein Anlaß, eine Neudefinition der Bewegungsziele vorzunehmen. Im Gegenteil: Die Überwindung der SED und die Bedrohung durch den Trend zur deutschen Einheit führte bei dem kleiner werdenden Kreis der Anhänger auf den Demonstrationen und bei den basisdemokratisch ausgerichteten oppositionellen Gruppen zu einem um so kategorischeren Festhalten an den konstitutiven Idealen. Während für diese Aktivisten die Überwindung des SED-Regimes nur eine erste Etappe auf dem langwierigen Weg zu einer neuen Gesellschaft darstellte, wurde Anfang Dezember zusehends deutlicher, daß die Demokratisierung der 24 »Neues Forum - die notwendende Kraft des Volkes«, »Neues Forum - die Grundorganisation der Volksvernunft« (Leipziger Montagsdemonstration vom 13.11.1989, in: W. Schneider, S. 104); »Das Neue Forum hat die Kraft, die SED wird abgeschafft« (Leipzig, 20.11.1989, in ebd. S. 118f.). 25 »Wir wollen«, so hieß es in der am 28.1.1990 beschlossenen Programmerklärung des Neuen Forums, »eine solidarische Gesellschaft, die von Selbstbestimmung und Toleranz ihrer Bürgerinnen und Bürger lebt, die soziale Gerechtigkeit und Pluralismus gewährleistet«, in: DGB-Bundesvorstand, S. 96.

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DDR für einen anderen Teil der Bewegung das zentrale Teilnahmemotiv gewesen war, das nicht mit weitergehenden Hoffnungen auf einen wie auch immer gearteten Dritten Weg verbunden wurde. Diesem Teil der Bewegung sind zum einen diejenigen Demonstranten und Sympathisanten zuzurechnen, die sich für ein machtpolitisches Engagement der oppositionellen Gruppen stark machten,26 zum anderen die SDP und der Demokratische Aufbruch, die sich im Laufe des Dezembers aus dem Zusammenhang der Bewegung lösten und sich als Parteien auf die Wahlen orientierten, anstatt weiterhin als Trägergruppen des Protests zu agieren. In ihrer Sicht war der basisdemokratische Umbruch zu einem Ende gekommen; nunmehr galt es, die Erfolge der Bewegung auf die politisch-staatliche Ebene zu übersetzen. Zumal angesichts der eskalierenden Krise der DDR verloren die langwierigen Basisdiskussionen ebenso wie der organisatorische Pluralismus der Bewegung ihre Attraktivität für diejenigen, die den Demokratisierungsprozeß in eine institutionell verankerte Demokratie überführen wollten. Die auf eine gesellschaftliche Demokratisierung fixierten Denk- und Handlungsmuster der Bürgerbewegung boten in dieser Situation keinen überzeugenden Ausweg, so daß die basisdemokratischen Ziele und Aktionsformen an Integrations- und Mobilisierungskraft verloren. Diese bewegungsinternen Differenzen eskalierten Anfang Dezember in der Diskussion um die Frage, ob man die weitere Entwicklung mit, gegen oder ohne die SED gestalten wollte. In dieser Situation offenbarten sich die fundamental unterschiedlichen Einstellungen zum Demokratisierungsprozeß, die vor allem in der Beurteilung von Rolle und Funktion der Trägergruppen kulminierten. Nachdem man diesen im Oktober »zunächst einmal eine Art Blankounterschrift«27 gegeben hatte, erwarteten viele von ihnen nun konsequente Maßnahmen zur Rettung der DDR, und das hieß zumindest für einen Teil der Demonstranten Entmachtung der SED durch Übernahme der Regierungsverantwortung. Die Hoffnung auf ein gewisses Maß an politischer Führung durch die oppositionellen Gruppen brach sich allerdings mit dem vor allem vom Neuen Forum verkörperten Selbstverständnis, weder innerhalb der Bewegung geschweige denn in Staat und Gesellschaft eine avantgardistische Elitenfunktion einnehmen zu wollen. Denn anders als die SDP und der Demokratische Aufbruch, die als Parteien ihren Willen zur Macht im beginnenden Wahlkampf Mitte Dezember deutlich zum Ausdruck brachten, lehnte der überwiegende Teil der Aktivisten jede Berührung mit Macht und Machtausübung kategorisch ab. 26 Vgl. dazu die zahlreichen Briefe, in denen das Neue Forum zu einem entschiedeneren politischen Vorgehen aufgefordert wurde, RHA3.1.3.: Briefe an das Neue Forum/Erstunterzeichner: Bärbel Bohley, ohne Pag. 27 M. Zimmermann: »Bei aller Freude Unsicherheit und Ratlosigkeit«, in: FAZ vom 17.11.1989, S. 3.

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Joachim Gauck hat in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hingewiesen, daß diejenigen, die bereits vor 1989 im oppositionellen Milieu engagiert waren, »Macht immer nur als antidemokratische Macht erlebt hatten«.28 Aus dieser Erfahrung erklärt sich, daß der überwiegende Teil der Aktivisten jegliche Form von Machtausübung im Namen des Ideals einer herrschaftsfreien Gesellschaft ablehnte - unabhängig davon, ob es sich um eine rechtsgebundene, demokratisch legitimierte Herrschaft oder um eine undemokratische Willkürherrschaft handelte. Macht blieb Macht, so daß die Möglichkeit, die in Auflösung begriffenen undemokratischen Strukturen durch eine zivile Herrschaft zu ersetzen, nicht ergriffen und letzten Endes auch nicht gesehen wurde, obwohl man sich bewußt war, daß die Macht »auf der Straße«29 lag. Im Führungskreis des Neuen Forums genügte aber, wie Jens Reich berichtete, schon die Mahnung Rolf Henrichs: »Wir werden verhaften müssen«,30 mit anderen Worten: wir werden das Gewaltmonopol wahrnehmen und staatliche Macht ausüben müssen, um jede Überlegung in diese Richtung zu unterbinden. An diesen charakteristischen Denkmustern scheiterten schließlich auch Machtübernahmen auf kommunaler Ebene. So scheute etwa das Bürgerkomitee Erfurt am 12. Dezember vor einem Rücktrittsantrag an den Stadtrat zurück, weil eine Absetzung des Stadtrates das Bürgerkomitee zur Übernahme der Regierungsgeschäfte gezwungen hätte. »Das würde bedeuten«, hieß es in der Begründung der Entscheidung, »es gäbe Hamsterkäufe [...], Plünderungen, und das Bürgerkomitee müßte den Befehl erteilen, auf Plünderer zu schießen.«31 Wiederum zeigte sich hier die unmittelbare Assoziation von Macht mit Gesetzlosigkeit, Gewaltanwendung und schließlich sogar Schußwaffengebrauch. Der Vergleich, den Jens Reich zwischen einem Neuen Forum an der Macht und einem »Gandhi mit der MP im Arm« zog, zeigt daher treffend, daß eine Machtübernahme für die oppositionellen Gruppen aus prinzipiellen Gründen nicht in Frage kam. Es war, so Reich, »eine Illusion, von uns zu erwarten, daß wir die Kommandohöhen hätten besetzen können.«32 Aus dieser Perspektive erschien eine Teilnahme an den Runden Tischen alternativlos und naheliegend, bot sich hier doch eine Möglichkeit, Antipolitik anstelle von Politik zu betreiben. »Antipolitik«, so György Konrád, der diesen Begriff prägte, »ist das Politisieren von Menschen, die keine Politiker werden und keinen Anteil an der Macht übernehmen wollen. Antipolitik betreibt das Zustandekommen von unabhängigen Instanzen gegenüber der politischen Macht, Antipolitik ist eine Gegenmacht, die nicht an die Macht kommen kann 28 Joachim Gauck, Interview in Probst, Norden, S. 108. 29 Rainer Eppelmann, Interview in derJungen Welt vom 9./10.12.1989, S. 6: »Die Macht liegt auf der Straße. Das heißt: Keiner hat sie.« 30 Reich, S. 182. 31 Bürgerrat der Stadt Erfurt, Sitzungsprotokoll vom 12.12.1989, zit. nach Schnitzler, S. 197. 32 Reich, S. 183.

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und will.«33 Als eine Institution, die ein hohes Maß an Öffentlichkeit und direkter Partizipation der Bürger zuließ, kam der Runde Tisch diesem Ideal entgegen. Demgegenüber hätte ein stärkeres machtpolitisches Engagement oder gar eine Regierungsübernahme zwar den Hoffnungen eines Teiles der Demonstranten entsprochen, nicht aber den Möglichkeiten und Zielen der Antipolitiker. Im Vorfeld der Runden Tische kulminierten daher grundlegende Differenzen, die im Laufe des Dezembers zum Zerfall der Bewegung führten. Die SDP und der Demokratische Aufbruch lösten sich nach und nach von ihrer Funktion als Trägergruppen des Protests, um sich eigenständig als Parteien zu engagieren. Ebenso signalisierte die sinkende Zahl derer, die auf den Demonstrationen noch für die ursprünglichen Ziele der Bewegung eintraten, daß der kollektive Handlungszusammenhang der Bürgerbewegung in Auflösung begriffen war. Nichtsdestotrotz trat das Neue Forum nach wie vor als »Anwalt«34 des demokratischen Umbruchs auf und versuchte, den basisdemokratischen Zielen und Organisationsformen weiterhin Geltung zu verschaffen. Allerdings gelang es immer weniger, Menschen für die Ziele und Formen der Bewegung zu mobilisieren. Mit der Herauslösung von Teilen der Bewegung aus dem kollektiven Handlungszusammenhang ging daher die zunehmende Marginalisierung derer einher, die an den ursprünglichen Zielen festhielten. Außer der Machtfrage offenbarte sich in den ersten Dezembertagen noch ein zweites Problem, das die Konstituierung der Runden Tische zu einem Wendepunkt werden ließ. Die eskalierende Krisenstimmung veränderte den Charakter der Runden Tische in einem Maße, daß sie nicht mehr als verlängerter Arm der Bewegung fungieren konnten. Betrachtet man die Runden Tische in ihrer ursprünglichen Konzeption, lassen sie sich bewegungssoziologisch als eine intermediäre Aktionsform beschreiben, also als den Versuch einer Bewegung, die Ziele des Protests durch Vermittlungsinstanzen in den politischen Prozeß einzubringen.35 Denn im Rahmen der Konstellation, die Ende Oktober 1989 den ersten Plänen für einen Runden Tisch zugrundegelegen hatte, wäre es möglich gewesen, den Protest auf den Straßen fortzuführen und den öffentlichen Druck zugleich zu nutzen, um die SED am Verhandlungstisch zu weiteren Konzessionen zu zwingen. Die Situation, mit der sich die Bewegung Anfang Dezember konfrontiert sah, ließ dieses sowohl-als auch jedoch nicht mehr zu. Unter dem Eindruck des drohenden Abgleitens der DDR in Chaos und Anarchie gerieten die oppositionellen Gruppen in die paradoxe Situation, die von ihnen initiierte und getragene Mobilisierung des Protests beenden zu müs33 Konrád, S. 213. 34 »Das Neue Forum ist aus einer breiten basisdemokratischen Bewegung entstanden und bleibt ihr Anwalt«, Entwurf zur Programmerklärung (Dez. 1989), in: neues forum 3/1989, RHA: 3.1.1.1.5., ohne Pag. 35 Zum Begriff der intermediären Aktionsform vgl. Raschke, Grundriß, S. 278f.

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sen. Nachdem die Gruppen in den vorhergegangenen Wochen im Wechselspiel mit den Demonstrationen die SED zu einem Zugeständnis nach dem anderen gezwungen hatten, waren sie es nunmehr selbst, die von den Demonstrationen unter Handlungsdruck gesetzt wurden. Eine Äußerung Wolfgang Ulimanns während der ersten Sitzung des Zentralen Runden Tisches sollte diese veränderte Situation auf den Punkt bringen: »Sie schreien«, so kommentierte Ullmann eine Demonstration, welche die Sitzung unterbrach, »weil sie ein Ergebnis wollen.«36 Mit jedem Erfolg, so der Umkehrschluß, den die oppositionellen Gruppen am Runden Tisch erzielen sollten, entzogen sie dem Protest den Boden. Um den Preis einer Fortführung oder gar Radikalisierung des Protests entschieden sie sich für eine Verhandlungslösung, da dies die in ihrer Sicht einzige Möglichkeit war, die Gewaltfreiheit des Umbruchs zu gewährleisten. Analytisch lassen sich diese Veränderungen als Institutionalisierung der Bewegung beschreiben, da sich die Beziehung der Trägergruppen zu den mobilisierten Teilen der Bewegung infolge des Engagements am Runden Tisch grundlegend verändern sollte. Denn die oppositionellen Gruppen stützten sich explizit nicht auf eine Berechtigung, die ihnen aufgrund ihrer Rolle in den Protesten zukam. Der Runde Tisch, betonte Ullmann eingangs der ersten Sitzung, »besitzt keine andere Legitimität, als die, ob er etwas zustande bringt für unser Land, und die Bürger im Lande werden darüber zu entscheiden haben, ob er das tut oder nicht.«37 An die Stelle einer Aktionseinheit trat daher zusehends eine Beziehung, die nicht mehr durch eine gemeinsame kollektive Identität getragen wurde, sondern durch eine an den Leistungen für das Gemeinwohl meßbare Legitimation. Die vormaligen Bewegungsorganisationen, die in den vorangegangenen Monaten die Proteste getragen hatten, veränderten ihren Status und entwickelten sich zu intermediären Instanzen, welche die Interessen, die zuvor durch die Bewegung artikuliert worden waren, nunmehr am Verhandlungstisch vertraten. Ordnet man die Runden Tische daher in die eingangs genannten Prozesse der Auflösung und Institutionalisierung der Bürgerbewegung ein, erscheinen sie als Kristallisationspunkte der Probleme, mit denen sich die Bewegung Anfang Dezember konfrontiert sah. Beide Entwicklungen zeichneten sich bereits im Vorfeld der Runden Tische ab und gewannen durch die Runden Tische an Virulenz. Vor allem der vom Zentralen Runden Tisch beschlossene Wahltermin verschärfte die nachlassende Mobilisierungskraft der Bewegung nachhaltig, indem er die Auseinandersetzungen in den beginnenden Wahlkampf verlagerte. Andererseits jedoch war die Tatsache, daß es gelang, der SED die Zusage für freie Wahlen abzuringen und sie zugleich auf einen konkreten Termin fest36 Wortbeitrag von Wolfgang Ulimann in der ersten Sitzung des Zentralen Runden Tisches (RHA, Videocassette »1. Runder Tisch (7.12.1989), Teil I«, 02:05). 37 Wortbeitrag von Wolfgang Ulimann in der ersten Sitzung des Zentralen Runden Tisches (RHA, Videocassette »1. Runder Tisch (7.12.1989), Teil I«, 00:15).

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zulegen, ein Erfolg, dessen Bedeutung kaum zu überschätzen war. Als Abschluß der Demokratisierung der DDR hatten die Runden Tische daher einen ambivalenten Charakter: Sie waren Höhe- und Endpunkt der Bürgerbewegung zugleich. 1.2. Die erste Sitzung des Runden Tisches am 7. Dezember 1989 Das Gremium, das sich am 7. Dezember 1989 im Dietrich-Bonhoeffer-Haus, dem Gemeindesaal der Ost-Berliner Brüdergemeinde, als Zentraler Runder Tisch der DDR konstituierte, sollte durch seine Präsenz in der Öffentlichkeit und vor allem durch seine Leistungen belegen, daß die Entscheidung der oppositionellen Gruppen, an den Rundtischgesprächen teilzunehmen, richtig gewesen war. Um der Zielsetzung der Bürgerbewegung, die DDR auf gewaltfreiem Wege zu demokratisieren, gerecht zu werden, bot sich ihnen im Runden Tisch ein Forum, das besser als jedes andere geeignet war, diesen Anspruch unter den veränderten Rahmenbedingungen einzulösen. Ein wesentliches Moment der Möglichkeiten, die sich den oppositionellen Gruppen am Runden Tisch eröffneten, war die veränderte Kräfteverteilung zwischen den Teilnehmern. Denn nicht nur der Status der Opposition hatte sich in den ersten Dezembertagen verändert; auch die SED war zum Zeitpunkt der Konstituierung des Runden Tisches nicht mehr der mächtige Gegenspieler, der sie noch während der Vorbereitungen gewesen war. Mittlerweile hatte sie über 600.000 Mitglieder verloren, ihr Führungsanspruch war seit dem 1. Dezember aus der Verfassung gestrichen, und seit dem Rücktritt von Politbüro, Zentralkomitee und Generalsekretär am 3. Dezember war sie faktisch führungslos und erwartete den bevorstehenden Sonderparteitag, der kurzfristig auf den 8. Dezember vorgezogen worden war. Das Bemühen der neuen Führungsgeneration um Gregor Gysi, Wolfgang Berghofer und Herbert Kroker, einer reformierten SED eine Zukunft in einem demokratischen System zu eröffnen, zwang die SED dazu, ihren Wandel von der Herrschaftspartei zu einer demokratischen Kraft unter Beweis zu stellen. Darüber hinaus waren auch die vormaligen Blockparteien mit Blick auf die kommenden Wahlen bemüht, Eigeninitiative zu zeigen, um sich von der SED abzugrenzen und ihren demokratischen Erneuerungswillen zu demonstrieren.38 Die Konstellation am Runden Tisch hatte sich damit zugunsten der oppositionellen Gruppen und ihrer Verhandlungsziele verändert; ihre Erfolgschancen waren nachhaltig gestiegen. Auch wenn alle Beteiligten mit ihrem Engagement 38 Daß sie nicht mehr als Bestandteil der alten Herrschaftsstrukturen gelten wollten, hatten CDU, LDPD und DBD schon Anfang Dezember gezeigt, als sie aus dem Demokratischen Block ausgetreten waren und dessen Auflösung herbeigeführt hatten.

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Hintergedanken und unterschiedliche Ziele verbanden,39 gab es doch einen grundlegenden Konsens, der zur Grundlage der Verhandlungen wurde: Alle am Runden Tisch vertretenen Kräfte verstanden ihr Engagement als einen Beitrag »für unserLand«; eine Formulierung, die allein in den wenigen Sätzen der Erklärung zum Selbstverständnis des Zentralen Runden Tisches dreimal genannt wird. Im einzelnen hieß das, daß alle Beteiligten an einer eigenständigen und gewaltfreien Entwicklung der DDR interessiert waren; daß niemandem daran gelegen sein konnte, die DDR durch eigennütziges Taktieren zu gefährden und daß schließlich die weitere Entwicklung nur auf einem demokratischen Weg erfolgen konnte. Dieser Konsens ermöglichte in wesentlichen Fragen ein einheitliches Vorgehen, dem sich sowohl die 15 Vertreter der Opposition - drei vom Neuen Forum, je zwei vom Demokratischen Aufbruch, der SDP, der Initiative Frieden und Menschenrechte, der Vereinigten Linken, der Grünen Partei und von Demokratie Jetzt - anschließen konnten als auch die je drei Vertreter der CDU, der DBD, der LDPD, der NDPD und der SED. Auch die erst während der ersten Sitzung dazu gekommene Delegation des Unabhängigen Frauenverbandes, für die im Gegenzug auch der FDGB zwei Vertreter mit Sitz und Stimme stellen durfte, änderte nichts an dem Grundkonsens, der im Selbstverständnis des Runden Tisches zum Ausdruck kam: »Die Teilnehmer des runden Tisches treffen sich aus tiefer Sorge um unser in eine Krise geratenes Land, seine Eigenständigkeit und seine dauerhafte Entwicklung.«40 Im Rahmen dieser Zielstellung konnte sich der Runde Tisch nicht zuletzt dank der ausgleichenden Gesprächsführung durch die kirchlichen Moderatoren als eine übergreifende Instanz der Konfliktschlichtung etablieren. In einer Situation, in der kein anderes Organ über demokratische Legitimation oder öffentliches Vertrauen verfügte, war diese Funktion kaum zu überschätzen.41 Ohne Regierungsaufgaben zu übernehmen, füllte der Runde Tisch ein institutionelles Vakuum, indem er seinem Selbstverständnis zufolge als »Bestandteil der öffentlichen Kontrolle in unserem Land« agierte und sich »mit Vorschlägen zur Überwindung der Krise an die Öffentlichkeit«42 wandte. Die Attraktivität, die das Modell Runder Tisch auch auf lokaler und regionaler Ebene entwickelte, wo sich zur gleichen Zeit eine Vielzahl Runder Tische der Städte und Bezir-

39 Zu den Überlegungen im Demokratischen Block siehe Thaysen, Runder Tisch, S. 34ff.; zu den Ansichten Modrows über den Runden Tisch vgl. Modrow, S. 65. 40 »Erklärung zum Selbstverständnis des Zentralen Runden Tisches« (7.12.1989), in: Herles/ Rose, Runder Tisch, S. 23. 41 Vgl. zu den Maßnahmen, Problemen und Leistungen des Zentralen Runden Tisches Thaysen, Runder Tisch; Semtner; Thavsen/Kloth und Hahn. 42 »Erklärung zum Selbstverständnis des Zentralen Runden Tisches« (7.12.1989), in: Herles/ Rose, Runder Tisch, S. 23.

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ke konstituierten, belegt die Bedeutung der Institution noch zusätzlich.43 Auf lokaler, regionaler und vor allem nationaler Ebene schufen sich die oppositionellen Gruppen mit den Runden Tischen ein Forum, das es ihnen ermöglichte, sich mit ihren Vorstellungen in den Umbruchsprozeß einzubringen. Dieses Engagement war jedoch zwiespältig. Deutlich zeigte sich der ambivalente Doppelcharakter, den der Runde Tisch für die oppositionellen Gruppen gewann. Mit jeder Maßnahme und jeder Erklärung, die sie am Runden Tisch durchsetzen konnten, kamen sie ihrem Ziel einer gewaltfreien Demokratisierung näher, während sie sich gleichzeitig von ihrer Funktion als Trägergruppen des Protests lösten. So drängten die oppositionellen Delegationen unter dem Eindruck der eskalierenden Situation in der DDR etwa darauf, die Korruptionsaffären der Funktionäre strafrechtlich verfolgen zu lassen, die Dienststellen des AfNS einer lückenlosen Überwachung zu unterwerfen und sie baldmöglichst aufzulösen. Diese Maßnahmen, als Katalog von Sofortmaßnahmen an die Adresse der Regierung verabschiedet,44 zielten unmittelbar darauf ab, die aufgeheizte Stimmung in der Bevölkerung unter Kontrolle zu bekommen. Damit konnten die oppositionellen Gruppen ihre Forderungen zwar erfolgreich durchsetzen, zugleich aber entzogen die Maßnahmen weiteren Protesten den Boden. Sie sollten die virulenten Protestanlässe entschärfen und rechtsstaatlichen Verfahren Geltung verschaffen, mit anderen Worten: die Probleme durch institutionalisierte Formen der Konfliktschlichtung lösen. Der Runde Tisch fungierte als Medium der Konfliktschlichtung, durch das Protest angesichts der dramatischen Lage in der DDR vermieden werden sollte. Diese Tendenz, der sich der Runde Tisch nicht entziehen konnte, kam vor allem in den Beschlüssen über die weitere Entwicklung der DDR zum Tragen. Hier lagen die zweifellos weitreichendsten Ergebnisse der ersten Sitzung, denn in den Fragen Verfassung, Wahlen und Wahlgesetz waren die ursprünglichen Planungen der Kontaktgruppe aktueller denn je. Diese Themen waren nach dem unerwartet schnellen Zusammenbruch des SED-Regimes zu Überlebensfragen der DDR geworden. In dem Wissen, »daß das Land zur Zeit den Eindruck des Nichtregiertwerdens, sondern des Taumeins von Demonstration zu Demonstration und von Forderung zu Forderung erweckt«,45 war allen Be43 Zu lokalen und regionalen Entwicklungen siehe den Runden Tisch des Bezirks Suhl (vgl. den Bericht von K. Strobel in Dornheim/Schnitzler, S. 232ff.), den Runden Tisch des Bezirks Halle (Lintzel), den Runden Tisch des Bezirks Dresden (M. Rkhter, Räte), die Runden Tische des Bezirks und der Stadt Leipzig (Liebold, S. 90ff.), die Runden Tische des Bezirks und der Stadt Erfurt (Schnitzler, S. 205ff.; 215ff.), den Runden Tisch der Stadt Rostock (Schmidtbauer, S. 115ff.), den Runden Tisch der Stadt Parchim (Mrotzek, S. 219ff.); den Runden Tisch der Stadt Wismar (Abrokat, S. 173ff.). 44 Beschlüsse der 1. Sitzung des Runden Tisches am 7.12.1989, Punkt 6: »Rechtsstaatlichkeit«, in: Herles/Rose, Runder Tisch, S. 25f. 45 Wortmeldung von G. Schramm, FDGB (RHA: Videocassette »1. Runder Tisch (7.12.1989), Teil II«, 01:08).

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teiligten nur zu bewußt, daß man, wie es Wolfgang Ullmann formulierte, »Nägel mit Köpfen«46 machen mußte. Dem Druck, möglichst schnell möglichst weitreichende Beschlüsse fassen zu müssen, stand allerdings das Problem im Wege, daß nach dem Zusammenbruch des Regimes große Unsicherheit über die Grundlagen eines Neuanfangs herrschte. Besonders deutlich wurde dieses Problem in der Diskussion um die Frage, in welcher Reihenfolge Wahl, Wahlgesetz und Verfassung aufeinander aufbauen sollten. Unterschiedliche Vorschläge wurden debattiert, und sie alle kreisten um das Legitimationsproblem, das mit einem demokratischen Neuanfang verbunden war. Denn auch wenn niemand anzweifelte, daß allein das Volk selbst zu Grundsatzentscheidungen befugt war, glich die Frage, wie, wann, in welchem Rahmen und von wem das Volk in die Entscheidung einbezogen werden sollte, einer Quadratur des Kreises. Würde man etwa, wie Gregor Gysi vorschlug, auf einen Volksentscheid verzichten und statt dessen so bald wie möglich Wahlen abhalten, dann hätten diese Wahlen ohne ein demokratisch legitimiertes Wahlgesetz stattfinden müssen. Zwar war dies der schnellste Weg zu Neuwahlen, demokratietheoretisch war er jedoch äußerst problematisch, zumal da es keine Verfassung gab, die der Tätigkeit des Parlaments einen Rahmen gegeben hätte. Rolf Henrichs Vorschlag, das Wahlgesetz per Volksabstimmung zu verabschieden und der daraufhin zu wählenden Volkskammer die Ausarbeitung der Verfassung zu überlassen, löste das Problem von Wahlen ohne Verfassungsgrundlage nicht grundsätzlich und verschob noch dazu den Wahltermin erheblich. Selbst zwischen den einzelnen oppositionellen Gruppen bestanden in dieser Frage Meinungsverschiedenheiten, wobei sich etwa Gerd Poppe als Vertreter der basisdemokratisch orientierten IFM kategorisch für eine Volksabstimmung aussprach, während Ibrahim Böhme im Namen der SDP dafür plädierte, Volksentscheide erst nach den Wahlen abzuhalten.47 Der Beschluß, den der Runde Tisch in dieser Frage fällte, sollte die weitere Entwicklung nachhaltig prägen. Der Runde Tisch selbst wollte die Ausarbeitung des Wahlgesetzes und der Verfassung übernehmen und die bis zu den Wahlen erforderlichen Verfassungsänderungen erarbeiten, so daß Neuwahlen durchgeführt werden konnten, auf die dann die Bestätigung der Verfassung durch einen Volksentscheid folgen sollte.48 Noch in der ersten Sitzung wurden daher paritätisch besetzte Arbeitsgruppen eingerichtet, die den Auftrag hatten, ein Wahlgesetz, ein Parteien- und Vereinigungsgesetz und vor allem eine neue Verfassung auszuarbeiten. Der vorgesehene Volksentscheid sollte jedoch nie 46 Wortbeitrag von Wolfgang Ullmann in der ersten Sitzung des Zentralen Runden Tisches (RHA, Videocassette »1. Runder Tisch (7.12.1989), Teil I«, 02:05). 47 Vgl. die Debatten um die Frage der Volksabstimmungen (RHA: Videocassette »1. Runder Tisch (7.12.1989), Teil II«, 00:34 bis 00:50). 48 Vgl. Beschlüsse der 1. Sitzung des Rundtischgespräches am 7.12.1989, Punkt 3, in: Herles/ Rose, Runder Tisch, S. 24.

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zustande kommen, und auch die vom Runden Tisch entworfene Verfassung war zum Zeitpunkt ihrer Fertigstellung Makulatur.49 Die am 7. Dezember projektierte Entwicklung wurde durch die Volkskammerwahlen und die Vereinigungsverträge überholt, die von der neugewählten Regierung der DDR mit der Bundesrepublik geschlossen wurden. Die Voraussetzung dieser Entwicklung aber war die am 7. Dezember getroffene Entscheidung, die Wahlen vorzuziehen und zunächst auf eine Volksabstimmung zu verzichten. Das Argument des Handlungsdruckes, das für diese Entscheidung ausschlaggebend gewesen war, bestimmte auch den wichtigsten Beschluß, der am 7. Dezember getroffen wurde: die Bestimmung eines konkreten Wahltermins. In diesem Punkt, in dem sich die Opposition den Vorstellungen der etablierten Parteien beugen mußte, offenbarte sich die ganze Ambivalenz der Position der oppositionellen Gruppen am Runden Tisch. In einer unmittelbar vor der Sitzung beschlossenen und am Runden Tisch von Ingrid Köppe verlesenen »Erklärung der Opposition«50 hatten sie sowohl der Volkskammer und der DDRRegierung als auch dem Runden Tisch die Legitimation abgesprochen, grundsätzliche Entscheidungen treffen zu können. Die weitreichenden Beschlüsse über das Prozedere der Verfassungsgebung und vor allem über den Wahltermin straften diese Erklärung jedoch Lügen. Die Gruppen hatten sich durch ihre Teilnahme am Runden Tisch in eine Situation gebracht, in der sie weitreichende Entscheidungen treffen mußten, ohne sich diese zuzutrauen. Der Übergang von basisdemokratischen Trägergruppen einer kulturorientierten Bewegung zu politischen Entscheidungsträgern am Runden Tisch vollzog sich daher nicht ohne Widersprüche. Derweil war es nicht nur der Zwang, klare Beschlüsse treffen zu müssen, der die Gruppen vor Probleme stellte; auch inhaltlich liefen verschiedene Entscheidungen zugunsten des Demokratisierungsprozesses den Intentionen der Gruppen zuwider. Gerade die Forderung nach freien Wahlen, die über drei Monate den Mobilisierungsprozeß maßgeblich getragen hatte, entwickelte sich zu einer Bedrohung für die Gruppen. Sie traten zwar einerseits konsequent für freie Wahlen ein, mußten diese aber andererseits fürchten, da absehbar war, daß die etablierten Parteien eher in der Lage wären, einen Wahlkampf zu führen. Auch wenn daher Wahlen eine zentrale Rolle innerhalb der oppositionellen Forderungen spielten, war den Vertretern der Gruppen bewußt, daß sich die Wahlen gegen sie wenden könnten, weil sie zunächst noch die notwendigen 49 Zu Entstehung und Charakter der von der Arbeitsgruppe Neue Verfassung ausgearbeiteten Verfassung siehe Thaysen, Verfassungspolitik; Preuß, S. 59ff und den Verfassungsentwurf für die DDR, hrsg. von der Arbeitsgruppe Verfassung am Runden Tisch, Berlin 1990. 50 »Am Runden Tisch haben sich die politischen Kräfte des Landes versammelt. Keine dieser Kräfte, auch nicht Volkskammer und Regierung, hat eine hinreichende Legitimation durch freie und demokratische Wahlen. Sie können deshalb keine grundlegenden Entscheidungen für unser Land treffen.« (»Erklärung der Opposition«, RHA 3.8.1.01: Zentraler Runder Tisch, ohne Pag.).

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internen Voraussetzungen schaffen mußten.51 Die oppositionellen Gruppen versuchten daher, einen möglichst späten Wahltermin durchzusetzen. Obwohl sie damit den Fortgang der Demokratisierung in Frage stellten, sprachen sich vor allem die Vertreter des Neuen Forums, des Unabhängigen Frauenverbandes und der IFM für einen Wahltermin frühestens im Juni 1990 aus. Dabei sahen sie sich jedoch nicht zuletzt von der SED mit dem Argument konfrontiert, das sie selbst in den vergangenen Monaten erfolgreich gegen die Staatspartei verwandt hatten. Diese konnte nunmehr gegen das Zögern der Opposition mit dem Willen des Volkes argumentieren, denn, so Berghofer, »das Volk erwartet schnelle Wahlen.«52 Wenn man Anarchie und Chaos vermeiden wolle, erinnerte auch der CDU-Vorsitzende de Maizière die Anwesenden an die gemeinsame Zielsetzung, sei der 6. Mai der allerspäteste Termin. Länger könne die Regierung nicht um ihr Überleben kämpfen.53 Mit den Stimmen der beiden Vertreter der SDP, die sich angesichts der drohenden deutschen Vereinigung schon zuvor für den 6. Mai ausgesprochen hatte,54 und mit der Stimme Wolfgang Ullmanns konnten sich die etablierten Parteien in der abschließenden Abstimmung durchsetzen. Mit 22 Stimmen, keiner Gegenstimme, aber 11 Enthaltungen aus dem Lager der Opposition wurde der 6. Mai schließlich als Termin der ersten freien Volkskammerwahlen festgelegt. Als Fazit zur Konstituierung des Runden Tisches läßt sich festhalten, daß sich das Modell Runder Tisch auch und gerade unter den veränderten Rahmenbedingungen und Anforderungen bewährte. Erdacht als Instanz, die sich mit Wahl- und Verfassungsfragen beschäftigen sollte, erwies sich der Runde Tisch im Moment der Krise als geeignetes Organ der Konfliktschlichtung in den brisanten Fragen von Amtsmißbrauch, Korruption und Auflösung des AfNS. Aufgrund seiner Zusammensetzung gelang es ihm zugleich, auch eine weitere, ursprünglich nicht vorgesehene, Anfang Dezember aber essentielle Funktion wahrzunehmen und als Kontrollinstanz der DDR-Regierung zu fungieren. Damit beseitigte er zumindest teilweise ein Defizit, das in der Öffentlichkeit für weitere Beunruhigung gesorgt hatte. Ohne über eine eigene demokratische Legitimation zu verfügen, demonstrierte er, daß die SED-geführte Modrow51 »Bei sofortigen Neuwahlen würden wir den kürzeren ziehen. Wir haben wenig profilierte Leute. Wir müssen uns Zeit nehmen, bis wir Alternativen haben.«, Bärbel Bohley, zit. nach Michael Rediske: »Die DDR-Opposition unter Zugzwang«, in: die taveszeitung vom 13.11.1989, S. 3. 52 Wolfgang Berghofer zum Wahltermin (RHA: Videocassette »1. Runder Tisch (7.12.1989), Teil II«, 00:54). 53 Lothar de Maiziere zur Frage des Wahltermins (RHA: Videocassette »1. Runder Tisch (7.12.1989), Teil II«, 01:17). 54 »Die notwendige wirtschaftliche Sanierung unseres Landes erfordert nicht eine schnelle Angliederung an die Bundesrepublik, wie viele glauben, sondern bedarf schnell der Einsetzung einer demokratisch gewählten Regierung.« (»Erklärung der SDP zur deutschen Frage«, Beschluß der SDP-Vorstandssitzung am3.12.1989,AdsD, Bestand Martin Gutzeit IV, Bl. 912). Der Termin 6. Mai wurde auf derselben Sitzung beschlossen (Erklärung »Die SDP zur Wahl«, ebd., Bl. 908).

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Regierung keine klandestine Fortsetzung der SED-Herrschaft werden würde. Im Rahmen der zeitgenössischen Angst vor Anarchie und Chaos übernahm der Runde Tisch kurzfristig neue Aufgaben und erfüllte Funktionen, die kein anderes Organ hätte wahrnehmen können. Das gilt in noch höherem Maße für die Beschlüsse über den Weg zu freien Wahlen, die maßgeblich auf der Initiative des Runden Tisches beruhten. Durch ihr Engagement am Runden Tisch trugen die oppositionellen Gruppen damit maßgeblich zu einem gewaltfreien Übergang zu einer neuen Ordnung bei, die von ihnen nicht mehr mitgestaltet werden sollte. Der in der Erklärung zum Selbstverständnis des Runden Tisches explizit formulierte Verweis, keine parlamentarische oder exekutive Gewalt wahrnehmen zu wollen, beließ die DDR letztendlich weiterhin im Zustand des Nichtregiertwerdens und eröffnete neuen Akteuren die Möglichkeit, in die Geschicke der DDR zu intervenieren. Das Aktionsfeld dieser neuen Akteure hatte der Runde Tisch mit seinem Beschluß über den Wahltermin selbst geschaffen. Die Perspektive der Durchführung freier Wahlen transformierte die bislang von der Bewegung getragenen und nunmehr am Runden Tisch institutionalisierten Auseinandersetzungen erneut und verlagerte sie in das entstehende Parteiensystem der DDR. Anstatt daß weiterhin eine Bewegung die Interessen der Bürger gegen das Regime vertrat, differenzierte sich die Bevölkerung und mit ihr das Parteiensystem in verschiedene politische Lager aus, die unterschiedliche Ziele hinsichtlich der weiteren Entwicklung der DDR verfolgten. Die Demobilisierung, die diese Entwicklung nach sich zog, wurde begleitet von einer zunehmenden Marginalisierung nicht nur der Bürgerbewegung und der oppositionellen Gruppen, sondern auch des Runden Tisches. Im Fall des Runden Tisches, der sich explizit als Übergangsinstitution bis zur Durchführung freier Wahlen begriff, war diese Entwicklung durchaus gewollt. Er sollte sich durch die von ihm initiierten Wahlen überflüssig machen.55 Im Falle der oppositionellen Gruppen aber bleibt festzuhalten, daß sich ihre Vision einer zivilen und selbstorganisierten Gesellschaft am Runden Tisch als Illusion erwies. Es gab keinen anderen Weg als den eines parlamentarischen Repräsentativsystems, dessen Grundstein der Runde Tisch legte, als er den Wahltermin beschloß. Mit dieser Entscheidung ging die Initiative für die weitere Entwicklung der DDR von der Bürgerbewegung auf die Parteien über, während die oppositionellen Gruppen sich gezwungen sahen, auf die Situation zu reagieren und Anschluß an die neue Entwicklung hin zu den Wahlen zu finden.

55 Vgl. die Erklärung zum Selbstverständnis des Runden Tisches: »Geplant ist, seine Tätigkeit bis zur Durchführung freier, demokratischer und geheimer Wahlen fortzusetzen«, in: Herles/Rose, Runder Tisch, S. 23. Zur weiteren Entwicklung des Runden Tisches siehe vor allem Thaysen, Runder Tisch.

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2. Im Vorfeld der »Vor-Bundestagswahl« Vergleicht man die Entwicklung in der DDR mit den Umbruchsprozessen in Polen und der ČSSR, werden zahlreiche Parallelen aber auch charakteristische Unterschiede deutlich. In allen drei Ländern waren soziale Bewegungen die zentralen Akteure des Umbruchs, der in Polen und der ČSSR wie in der DDR von kollektiven Aktionen an einen Runden Tisch und von dort zu freien Wah­ len führte.56 Im Frühjahr 1989 in Polen ebenso wie im Dezember 1989 in der ČSSR ließen sich im Zusammenhang mit den Runden Tischen dieselben Institutionalisierungsprozesse beobachten, denen sich auch die DDR-Bürger­ bewegung ausgesetzt sah. Die Proteste wurden an den Runden Tischen gebün­ delt, wo die Vertreter der Opposition mit den Repräsentanten der alten Ord­ nung die Modalitäten von Reformen aushandelten. Vorangegangen waren diesen Verhandlungen in allen drei Ländern Protestbewegungen, deren Mobi­ lisierungsdynamik mit der Institutionalisierung des Protests wieder abnahm, da die Konflikte in Dialogen und schließlich in Wahlen ausgetragen wurden. Das Bemerkenswerte an der DDR war daher nicht, daß sich die Bürgerbewegung nach der erfolgreichen Durchsetzung ihrer Forderungen im Dezember auflö­ ste. Charakteristisch und in dieser Form nur in der DDR möglich war vielmehr die Tatsache, daß es der Bürgerbewegung nicht gelang, ihre Erfolge in die neue Entwicklung zu übersetzen. Der Kontrast zu den anderen Ländern macht diesen Unterschied deutlich. In Polen eroberten die Bürgerkomitees Solidarność im Juni 1989 sämtliche der 161 zur Wahl stehenden Sitze des Sejm und stellten 99 von 100 Senatoren; in der ČSSR wurde Vaclav Havel am 29. Dezember 1989 zum Staatspräsidenten berufen, bevor das oppositionelle Bürgerforum aus den Parlamentswahlen im Juni 1990 als klarer Sieger hervorging. In beiden Ländern resultierten die Aktionen der Bewegungen daher in einem demokratischen Neuanfang unter maßgeblicher Beteiligung der ehemaligen Trägergruppen der Protestbewegun­ gen. Anders hingegen in der DDR: Auch dort markierte die Verkündung des Wahltermins den Abschluß der ersten Phase des Umbruchs, die zweite Phase jedoch folgte anderen Gesetzen. Anstatt zum Auftakt einer eigenständigen, demokratischen Entwicklung der DDR zu werden, gerieten die ersten freien Volkskammerwahlen nicht nur zu einem Plebiszit über die Form der deutsch­ deutschen Vereinigung, sondern auch zu einer Wahl, in der nur in zweiter Linie über die Parteien der DDR abgestimmt wurde. Der gesamte Wahlkampf war vielmehr von den westdeutschen Schwesterparteien geprägt, die aus der DDRVolkskammerwahl in den Worten Helmut Kohls eine »Vor-Bundestagswahl«57 56 Zu den demokratischen Bewegungen und den Runden Tischen in Polen und der ČSSR vgl. Garton Ash, bes. S. 451ff.; Weiß/Heinrich; Szabo, Rolle; Bingen; Schönfeld und Fehr, Öffentlich­ keit, Kap. 4 und 5.

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machten, in der das Wahlbündnis der ehemaligen Oppositionsgruppen Neues Forum, Demokratie Jetzt und Initiative Frieden und Menschenrechte gerade 2,9% der Stimmen gewinnen konnte. Die Tatsache, daß die polnischen Bürgerkomitees Solidarność bei ihren Be­ mühungen, den Bewegungscharakter mit den Erfordernissen eines Wahl­ kampfs zu vereinbaren, mit ähnlichen Problemen kämpften wie die oppositio­ nellen Gruppen in der DDR,58 legt den Schluß nahe, daß es nicht ausreicht, die Ursachen der abweichenden Entwicklung in der DDR mit spezifischen inter­ nen Voraussetzungen und Defiziten der Bürgerbewegung zu erklären.59 Es war vielmehr die Kombination aus dem beginnenden Wahlkampf einerseits und der Nähe, dem Wohlstand und der Kooperationsbereitschaft der Bundesrepublik andererseits, die in der DDR zu der einzigartigen Konstellation führte, in der die»Wende«zur »Wende in der Wende«60 wurde. Bevor daher die Auflösungs­ prozesse der Bürgerbewegung weiter untersucht werden sollen, ist es nötig, die Entwicklungen zu untersuchen, die den Kontext der Auflösung prägten. Wie in der DDR waren auch die Proteste in Polen und der ČSSR nachhaltig von dem intermediären Vakuum der staatssozialistischen Systeme geprägt. Das Fehlen jeglicher etablierter Instanzen, die eine Interessenvermittlung zwischen der Bevölkerung und den herrschenden Staatsparteien hätten wahrnehmen können, ließ die Auseinandersetzung in allen drei Staaten in Form von sozialen Bewegungen eskalieren, deren Trägergruppen ab einem gewissen Punkt von dem Vakuum profitierten. Mangels anderer alternativer Instanzen oder Or­ ganisationen waren sie sowohl für die Bevölkerung als auch für die Herr­ schenden die einzigen Ansprechpartner, welche die Interessen des Volkes ver­ treten konnten. Das tschechische Bürgerforum mit Vaclav Havel an seiner Spitze, die slowa­ kische Vereinigung Öffentlichkeit gegenGewalt«ebenso wie die polnische So­ lidarnosc konnten diese Position über den unmittelbaren Zusammenhang der Konfrontation mit den Regimen hinaus bewahren. Nicht so in der DDR, wo es den oppositionellen Gruppen nicht gelang, den Anspruch, für das Volk zu spre­ chen, aufrechtzuerhalten. Sie büßten diese Position Anfang Dezember ein, als sie die zentrale Frage der deutschen Einheit kategorisch zurückwiesen oder bestenfalls ignorierten. Es gelang ihnen nicht, in der deutschen Frage, die wie kein anderes Thema die Gemüter bewegte, einen überzeugenden Standpunkt zu beziehen, sei es im Sinne eines Fahrplanes zur Einheit, sei es im Sinne einer politikfähigen Alternative. In der Bevölkerung verspielten sie damit ihren Kre57 Mit diesem Begriff zitiert Teltschik (S. 115) Helmut Kohl aus einer Sitzung am 24.1.1990. 58 Vgl. Fehr, Öffentlichkeit, bes. S. 171ff und Maier, S. 304ff. 59 Diese These vertritt etwa Sigrid Meuschel, wenn sie feststellt, daß die DDR-Bürgerbewe­ gung keine neuen Eliten hervorgebracht habe, die eine Transformation hätten gestalten können, vgl.Meuschle,S.319ff. 60 Zum Begriff der »Wende in der Wende« vgl. Meuschel, S. 316ff.

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dit als »notwendende Kraft des Volkes«,61 dessen schweigende Mehrheit sie während der Auseinandersetzung mit der SED ebenso vertreten hatten wie diejenigen, die sich in den Demonstrationen aktiv für eine Veränderung eingesetzt hatten. Der Eintritt von Rainer Eppelmann, Sebastian Pflugbeil, Wolfgang Ullmann, Gerd Poppe und Vertretern der anderen oppositionellen Gruppen in Modrows Regierung der Nationalen Verantwortung kam zu spät: Als sie Ende Januar als Minister Regierungsverantwortung übernahmen,62 waren die Voraussetzungen einer eigenständigen Entwicklung der DDR längst entfallen. Während daher die polnischen und tschechoslowakischen Oppositionsgruppen weiterhin von dem intermediären Vakuum profitieren konnten, tat sich das Loch zwischen Bevölkerung und politischem System in der DDR wieder auf. Die oppositionellen Gruppen konnten es nicht mehr, die SED und die ehemaligen Blockparteien konnten es noch nicht wieder füllen. Andere Verbände, Organisationen oder Instanzen, die diese Funktion möglicherweise hätten wahrnehmen können, gab es in der DDR nicht. Im Zeichen des beginnenden Wahlkampfs sah sich einer zeitgenössischen Umfrage zufolge daher die Hälfte der Bevölkerung Anfang Dezember von den existierenden Parteien nicht repräsentiert;63 das entstehende Parteiensystem schien nicht in der Lage zu sein, die Bevölkerung zu integrieren. Derweil eskalierte die Krise in der DDR und führte erneut zu einer Welle von Ausreisen und Übersiedlungen, die nicht nur die Zukunft der DDR bedrohten, sondern auch die innere Stabilität der Bundesrepublik.64 Trotz oder gerade aufgrund des Vakuums in der DDR gab es jedoch durchaus eine Instanz, an die nicht nur die Legitimation, für die Bevölkerung zu sprechen, delegiert wurde, sondern auch die Gestaltungskompetenz für die weitere Entwicklung in der DDR. Es waren die westdeutschen Parteien, die Bundesregierung und vor allem ihr Kanzler Helmut Kohl, von denen die immer zahlreicher werdenden Vereinigungsbefürworter in der DDR erwarteten, ihre Interessen wahrzunehmen. Denn während der Meinungsumschwung in der deutschen Frage den Vertretungsanspruch der oppositionellen Gruppen in Frage gestellt hatte, reaktivierte er zugleich den in der Bundesrepublik als revisionistisch verworfenen Vertretungsanspruch der Bundesregierung für die Bürger im Osten Deutschlands. In dem Maße, wie diese ihre Zukunft in einer Vereini61 »Neues Forum - die notwendende Kraft des Volkes«, Transparent der Leipziger Montagsdemonstration vom 13.11.1989, in: W. Schneider, S. 104. 62 Vgl. Thaysen, Runder Tisch, S. 82ff. Nicht in der Regierung der Nationalen Verantwortung vertreten war die Vereinigte Linke. 63 So das Ergebnis der ersten repräsentativen Umfrage von Emnid/Forschungsgruppe Wahlen/Berliner Institut für Soziologie vom 1.- 8.12.1989, in: Der Spiegel vom 18.12.1989, S. 86-89. Die Umfrage ergab einen Anteil von 50% nicht Entschiedenen, daneben entfielen auf die Parteien: 12% SED, 8% SDP, 5% NF, 5% LDPD, CDU 4%, DA 2%. 64 Vgl. etwa das Titelbild des Spiegels vom 22.1.1990: »Massenflucht in die Bundesrepublik: Gefahr für den Wohlstand?«

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gung mit dem Westen sahen, verlagerten sich ihre Erwartungen auf die politischen Verantwortlichen der Bundesrepublik. Die westdeutschen Parteien ihrerseits waren bereit und zusehends auch bestrebt, diesen Erwartungen und Ansprüchen Rechnung zu tragen. Hatte sich Helmut Kohl selbst kurz vor dem Mauerfall noch von einer Wiedervereinigungsdebatte distanziert, »die fortdauernd so tut, als müßten wir die geistige und politische Vormundschaft über unsere Landsleute in der DDR ausüben«,65 waren solcherart Mahnungen im Dezember Makulatur. Bereits in der Bundestagsdebatte, die am 28. November über den 10-Punkte-Plan Kohls geführt wurde, waren die Interessen der Bürger in der DDR das dominierende Argumentationsmuster, das von allen Rednern in Anspruch genommen wurde.66 Und völlig zu Recht empfand Kohl den begeisterten Empfang, der ihm am 19. Dezember von Zehntausenden in Dresden bereitet wurde, als Auftrag, die deutsche Vereinigung im Namen der DDR-Bürger voranzutreiben.67 Die Gewichte in der DDR hatten sich daher grundlegend verschoben. Vor allem die Tatsache, daß die westdeutschen Parteien ein großes Interesse an potentiellen Schwesterparteien im Osten hatten, verklammerte den beginnenden Wahlkampf unmittelbar mit dem Engagement der westdeutschen Parteien, deren Position sich systematisch als intermediäre Instanz verstehen läßt. Als solche vertraten sie die Interessen der DDR-Bevölkerung gegenüber den Parteien in der DDR, wie es Dieter Dombrowski, der Wahlkampf-Koordinator zwischen der CDU und der Allianz für Deutschland, treffend formulierte: Angesichts der Tatsache, daß die Blockpartei CDU von der Bevölkerung der DDR mit der bundesrepublikanischen CDU assoziiert werde, bestehe »die zwingende Notwendigkeit, aus rein egoistischen Gründen [...] möglichst früh auf die Ost-CDU einzuwirken, daß sie die Entscheidungen so trifft, wie wir meinen, daß sie für die Menschen drüben am besten sind«.68 Die ostdeutschen Parteien schließlich waren ihrerseits auf die Kooperation mit einer der westdeutschen Parteien angewiesen, weil allein diese ihren ostdeutschen Partnern die nötige demokratische Legitimation verschaffen konnten. Daneben waren die Parteien der DDR auch finanziell, organisatorisch, personell und logistisch davon abhängig, Unterstützung durch eine bundesrepublikanische Schwesterpartei zu erhalten. Die tiefgreifenden Konsequenzen, die diese Konstellation für das im Entstehen begriffene Parteiensystem in der DDR hatte, sind an dieser Stelle allerdings weniger von Interesse. Entscheidend ist die Tatsache, daß die Kombination aus 65 Interview mit Helmut Kohl im Bericht aus Bonn vom 3.11.1989, in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bd. 2, S. 438. 66 Vgl. die Debattenbeiträge von Helmut Kohl und Karsten Voigt, in: Herles/Rose, ParlamentsSzenen, S. 55-73. 67 Vgl. die Erinnerungen von Kohls Berater Horst Teltschik, S. 91 ff. 68 Interview mit D. Dombrowski, zit. nach Tessmer, S. 185, Herv. d. Vf.

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zunehmender Westorientierung der Bevölkerung, beginnendem Wahlkampf und steigendem westdeutschen Einfluß die Bedingungen prägte, unter denen der Auflösungsprozeß der DDR-Bürgerbewegung kulminierte. Besonders nachhaltige Auswirkungen hatte das Zusammenspiel der drei genannten Faktoren auf die Demonstrationen, die über Monate den entscheidenden Druck gegen die SED erzeugt hatten. Auch wenn die Wandlungen der Demonstrationen in den einzelnen Städten zeitlich verschoben waren - Plauen etwas früher als Leipzig, Dresden etwas später -, läßt sich festhalten, daß sie sich überall im Laufe des Dezembers in ihrem Inhalt und ihrer Ausrichtung so nachhaltig veränderten, daß die Demonstrationen spätestens Anfang Januar allerorts zu überwiegend einhelligen Kundgebungen für die Herstellung der deutschen Einheit geworden waren.69 Charakteristisch für das veränderte Meinungsbild, das nach der Weihnachtspause die Demonstrationen prägte, war etwa die Karl-Marx-Städter Montagsdemonstration vom 8. Januar 1990. Auf ihr stand eine kleine Gruppe von Demonstranten, die lautstark für eine eigenständige DDR eintrat, der Masse von 150.000 Teilnehmern gegenüber, die sich nur noch in der Frage, wie und wann die Einheit kommen sollte, uneins waren, nicht aber in der Überzeugung, daß die Vereinigung kommen müsse.70 Die Tatsache, daß auf dieser Demonstration auch Redner bundesdeutscher Parteien auftraten, verweist bereits auf die weiteren oben genannten Elemente. Unter dem Eindruck der bevorstehenden Wahlen entwickelten sich die Demonstrationen im Januar zunehmend zu einem Forum des Volkskammerwahlkampfs. Nicht zuletzt dadurch, daß die innerdeutsche Grenze seit Weihnachten auch in West-Ost Richtung geöffnet war, erlebten die Demonstrationen zu Jahresbeginn eine »Papierflut«71 von Flugblättern und Wahlaufrufen westlicher Parteien, die im Osten Deutschlands um Sympathien warben. Aber auch die ostdeutschen Parteien nahmen die Gelegenheit wahr, in Kundgebungsreden und Flugblättern für sich zu werben.72 Der veränderte Charakter der Demonstrationen, in denen sich das Engagement der bundesrepublikanischen Parteien mit dem beginnenden Wahlkampf in der DDR überschnitt, läßt sich an einem Slogan der Leipziger Montagsdemonstration vom 15. Januar exemplarisch verdeutlichen. Dort hieß es: »REP und SED - Extreme tun uns weh -Wir wählen SPD«.73 Der Umstand, daß das Auftreten westlicher Parteien wie der Republikaner wahrgenommen wurde und zu Konflikten in der DDR führte, vor allem aber die Tatsache, daß die 69 Vgl. zu den Meinungstrends der Demonstrationen: Breitenborn/Rink; Mühler/Wilsdorf und Förster/Roski. 70 Vgl. Reum/Geißer, S. 135f. 71 Döhnert/Rummel, S. 157 zur Leipziger Montagsdemonstration vom 8.1.1990. 72 Dieses veränderte Bild zeigte sich nicht zuletzt auch in Leipzig, vgl. die Berichte über die Demonstration am 8.1.1990 bei Tetzner, S. 83ff. und Naumann, Wendetagebuch, S. 86. 73 Slogan der Leipziger Montagsdemonstration am 15. Januar 1990, in: Tetzner, S. 87.

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Lösung des Problems in einer bestimmten Wahlentscheidung und nicht mehr in Protestaktionen gesehen wurde, zeigt, wie weit sich die Demonstrationen von einer Aktionsform der Bürgerbewegung entfernt hatten. Unter dem Eindruck des Wahlkampfs wurden sie zu einem Forum, das von der Auseinandersetzung zwischen den Parteien geprägt war und nicht mehr darauf abzielte, durch kollektiven Protest gemeinsame Ziele zu erreichen. In vielen Städten zogen die ehemaligen Vorbereitungskreise aus dieser Entwicklung die Konsequenz, die weitere Verantwortung für die Aktionen abzulehnen und die Demonstrationen abzusetzen. Nach wöchentlichen Demonstrationen seit dem 19. Oktober wurden so etwa die Donnerstagsdemonstrationen in Rostock am 14. Februar eingestellt; in Weimar fanden die Demonstrationen, die seit dem 24. Oktober jeden Dienstag durch die Innenstadt gezogen waren, am 6. Februar zum letzten Mal statt.74 Die Massenmobilisierung des Herbstes fand schließlich ihre Fortsetzung und ihr Ende in den organisierten Wahlkampfveranstaltungen im Vorfeld der Volkskammerwahlen. Dabei waren es vor allem westdeutsche Politiker, namentlich Kohl, Genscher und Brandt, die in einer im Westen nie gekannten Art Hunderttausende zu den Kundgebungen lockten.75 Die Transformation der Demonstrationen in Wahlkampfveranstaltungen war der Ausdruck einer Entwicklung, in deren Verlauf die Auseinandersetzungen in der Erwartung der Volkskammerwahlen wieder in organisierte Bahnen der Interessenvermittlung zurückgelenkt wurden. Im Zuge dieser Entwicklung wich die spontane Dynamik zwischen Trägergruppen und Mobilisierten der institutionalisierten Beziehung zwischen Parteien und ihren Wählern. Nachdem eine soziale Bewegung das SED-Regime überwunden hatte, ging die Initiative nunmehr an ein Parteiensystem über. Dem Druck, der durch die Verkündung des Wahltermins entstanden war, konnten sich auch die ehemaligen Trägergruppen der Bewegung nicht entziehen. Hatten sie bislang versucht, ihre Ziele durch Aktionen und Proteste zu verwirklichen, wurden nunmehr die bevorstehenden Wahlen zum Fluchtpunkt ihres Handelns. Die Orientierung auf die Wahlen, das Bemühen, einen westdeutschen Kooperationspartner zu finden, und die Kompromisse, die im Hinblick auf die Meinung der Wähler zu treffen waren, führten neue Handlungskriterien ein, so daß sich die ehemaligen Trägergruppen der Bewegung in Status und Selbstwahrnehmung nachhaltig veränderten. Im Falle der SDP wurden die veränderten Maßstäbe des Handelns bereits auf der Vorstandssitzung am 3. Dezember sichtbar, als die Anwesenden das weitere Vorgehen berieten. Das Protokoll notierte dabei die »Bitte Egon Bahrs, daß wir 74 Zu Rostock vgl. Schmidtbauer, S. 82; zu Weimar vgl. Victor, S. 88f. 75 Allein zu den sechs Veranstaltungen, die Helmut Kohl im Februar und März in der DDR abhielt, kamen nach zeitgenössischen Schätzungen insgesamt ca. eine Million Menschen. Vgl. Jung, S. 6.

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schnelle Wahlen am Runden Tisch vertreten.« Weiter hieß es stichwortartig: »SPD ist Schwester- und Bruderpartei der SDP, - SPD rät zu frühem SDPParteitag«.76 Damit waren die neuen Handlungsorientierungen umrissen: Die schnellstmögliche Verlagerung und Lösung der politischen Konflikte in Wahlen, die wachsende Bedeutung der westlichen Schwesterpartei und das Bestreben, sich im beginnenden Wahlkampf eine gute Ausgangsposition zu verschaffen. Die Basis der SDP machte sich die neuen Herausforderungen schnell zu eigen und übte ihrerseits Druck auf den Wandel der Partei aus. Verschiedene Ortsverbände richteten bereits Anfang Dezember Vorschläge an den Parteivorstand, die explizit darauf abzielten, die Kooperation mit den anderen oppositionellen Gruppen aufzugeben, um der SDP eine gute Plazierung im anlaufenden Wahlkampf zu verschaffen. So schlug etwa der Bezirksvorstand Berlin die Aufstellung eines prominenten Spitzenkandidaten vor, um sich damit von der Konkurrenz abzusetzen,77 während zahlreiche andere Ortsverbände die Umbenennung der SDP in SPD vorschlugen und zum Teil auch schon im Dezember vollzogen.78 Die von der Delegiertenkonferenz vom 12. bis 14. Januar 1990 in Hinblick auf die Namensgleichheit mit der westlichen Schwesterpartei beschlossene Aufgabe des bisherigen Kürzels SDP dokumentierte deutlicher als jedes andere Beispiel den Übergang, den die ostdeutschen Sozialdemokraten vollzogen. Sie wandelte sich innerhalb weniger Wochen von einer auf Reformen in der DDR konzentrierten Bewegungsorganisation zu einer Partei, die die Konsequenz aus der Westorientierung der (Wahl-) Bevölkerung zog und ihr Engagement auf das Werben von Wählerstimmen konzentrierte. Wie eine Hinterlassenschaft aus einer anderen Zeit wirkte dabei das Wahlbündnis, das die oppositionellen Gruppen in ihrer ersten Gemeinsamen Erklärung vom 4. Oktober 1989 angekündigt und am 3. Januar 1990 erneut bekräftigt hatten. Die von der Delegiertenkonferenz Mitte Januar beschlossene Aufkündigung des Bündnisses war ein deutlicher Ausdruck dafür, daß das kollektive Vorgehen im Rahmen einer Bewegung im Vorfeld der Wahlen obsolet geworden war. Ohne den Gegner SED hatte das Bündnis seine Grundlage verloren und erschien in Hinsicht auf die Wahlen eher ein Hindernis zu sein, weil die ostdeutsche SPD aufgrund der Unterstützung durch ihre westdeutsche Schwesterpartei79 die Hoffnung hegte, die bevorstehenden Wahlen gewinnen 76 Protokoll der SDP-Vorstandssitzung vom 3.12.1989 (AdsD, Bestand Martin Gutzeit IV, Bl. 906). 77 Bezirksvorstand der SDP Berlin: »Vorschlag zur Verbesserung der Ausgangsposition und seriöse Plazierung unserer Partei im anlaufenden Wahlkampf«, Brief an I. Böhme vom 6.12.1989 (AdsD, Bestand Martin Gutzeit IV, Bl. 963): »Wer als erster einen solchen Kandidaten aufstellt, verschafft sich entscheidende Vorteile.« Als möglicher Kandidat wurde Manfred Stolpe benannt. 78 Vgl. die Briefe der Ortsverbände Cottbus (3.12.), Rostock (7.12.) und Greifswald (13.12.) an den SPD-Parteivorstand (AdsD, Bestand Martin Gutzeit IV, Bl. 958, 965, 970) und den entsprechenden Vorstandsbeschluß vom 12.12.1989 (ebd., Bl. 1019ff). 79 Vgl. hierzu von zur Mühlen, S. 53f.

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zu können. Diese Hoffnung war nicht zuletzt auch die Ursache dafür, daß die inzwischen umbenannte SDP maßgeblich auf eine Vorverlegung des Wahltermins drängte und sich mit ihrer Forderung am 28. Januar 1990 am Runden Tisch durchsetzen konnte.80 Der Termin wurde vom 6. Mai auf den 18. März vorgezogen, wobei die SPD billigend in Kauf nahm, daß die anderen oppositionellen Gruppen, die nicht über eine vergleichbare Unterstützung aus dem Westen verfügten, praktisch chancenlos in den Wahlkampf gingen.81 Die im Herbst bereits angelegte, aber im Rahmen der Bewegung noch latente Konkurrenz zwischen den Trägergruppen brach sich daher in dem Maße Bahn, wie die Gruppen nicht mehr als Teile eines Handlungszusammenhanges agierten, sondern sich im Zuge des Wahlkampfs ausdifferenzierten und eigene Interessen verfolgten. Die Hoffnungen der SPD sollten sich allerdings nicht erfüllen: Mit 21,8% ging sie aus den Volkskammerwahlen nicht als Wahlsieger, sondern nur als zweitstärkste Partei hervor. Gegenüber dem reibungslosen Übergang der Sozialdemokratischen Partei von einer Trägergruppe der Protestbewegung zu einer Wahlpartei hatten diejenigen Gruppen, die stärker als die SDP einem basisdemokratischen Ansatz verpflichtet waren, größte Probleme bei der Bewältigung der Aufgaben, die aus dem beginnenden Wahlkampf resultierten. Vor allem das Neue Forum hielt dabei an den Idealen fest, welche die Massenmobilisierung des Herbstes 1989 geprägt hatten. In der Tradition der Bürgerbewegung waren Wahlen in den Augen des Neuen Forums nur ein Element von Demokratie, die in der Programmerklärung Ende Januar nicht als Staats-, sondern als »Lebensform«, als »tägliches Verhalten« definiert wurde.82 Dementsprechend hatten die Prinzipen, die bereits der Gründung des Neuen Forums zugrunde gelegen hatten, ihre Gültigkeit und Aktualität auch nach der Überwindung der SED-Herrschaft nicht verloren: Basisdemokratie, gesellschaftlicher Dialog und eigenverantwortliches Handeln der Bürger stellten nach wie vor die Bezugspunkte des Neuen Forums dar und wurden auf die neuen Auseinandersetzungen übertragen. Dennoch ging die prägende Wirkung durch den beginnenden Wahlkampf nicht spurlos am Neuen Forum vorbei. Nachdem bereits im November von vielen Mitgliedern verbindlichere Organisationsformen gefordert worden waren, gewann die interne Auseinandersetzung um die Frage politische Vereinigung oder Partei durch die Verkündung des Wahltermins erheblich an Brisanz. Der Arbeitsausschuß des Landessprecherrates bezog gegenüber den Tendenzen, das Neue Forum als Partei zu reorganisieren, eindeutig Position: »Es ist ein 80 Vgl. Thaysen, Runder Tisch, S. 82ff., bes. S. 91. 81 Da es, so Böhme in einem Interview in der tageszeitung vom 30.1.1990, S. 3, »für die von mir geschätzten anderen oppositionellen Gruppen eh schwierig sein wird, in den Wahlkampf zu ziehen« bot er DJ und IFM Plätze auf der SPD-Liste an. 82 Programmerklärung des Neuen Forums vom 28.1.1990, in: DGB-Bundesvorstand, S. 96.

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Irrtum zu glauben, daß Demokratie vor allem viele Parteien benötigt. Sie braucht in erster Linie selbstbewußte Bürger.« Weiter heißt es im Sinne des basisdemokratischen, dezidiert nicht-machtpolitischen Politikverständnisses des Neuen Forums: »Politische Parteien erliegen immer der Versuchung, drittrangige Fragen aufzubauschen, um Profil zu gewinnen, und zugleich die Sachfragen zu verschleiern, für die sie keine Lösung parat haben. [...] Bloße Parteienpolitik spaltet die Bürger auch in kleinsten Gemeinden in feindliche Blöcke.«83 Um diesen Tendenzen einer neuen »Parteiendiktatur«84 auch und gerade nach den ersten demokratischen Wahlen in der DDR entgegenwirken zu können, konstituierte sich das Neue Forum am 28. Januar auf seiner offiziellen Gründungskonferenz als eine »unabhängige politische Vereinigung von Bürgerinnen und Bürgern, die Demokratie in allen Lebensbereichen durchsetzen wollen.«85 Diese Entscheidung wurde von den anwesenden Delegierten zwar mit großer Mehrheit getragen, allerdings um den Preis, daß diejenigen, die für eine Partei plädierten, am gleichen Tag in Karl-Marx-Stadt den Gründungsparteitag der Deutschen Forumpartei abhielten, zu der nach Angabe von Marianne Schulz rund ein Viertel der ehemaligen Mitglieder des Neuen Forums abwanderte.86 Aber auch nachdem die Organisationsfrage gelöst war, bestanden verschiedene Probleme des Neuen Forums auf dem Weg zu den Wahlen weiter. Ganz abgesehen von den rechtlichen Hürden87 und den fehlenden organisatorischen, finanziellen und logistischen Mitteln, führte die Programmdebatte das Neue Forum erneut an den Rand einer Spaltung. Die weltanschauliche Breite der Gruppe erzeugte unter dem Druck des Wahlkampfs immense Spannungen, welche die Vereinigung in dem Maße vor interne Zerreißproben stellten, wie sich die verschiedenen Flügel ausdifferenzierten.88 Bei dem Streit, der während der Gründungskonferenz vor allem um den Standpunkt in der deutschen Frage ausbrach, zeigte sich zudem überdeutlich, daß sich der basisdemokratische Anspruch der Vereinigung nicht ohne weiteres in ein verbindliches Programm übersetzen ließ. Spätestens an dem Punkt, an dem das Aushandeln verschiedener Ansichten nicht mehr weiterhalf, wurden Abstimmungen nötig, um dem 83 »Gegen eine Spaltung des Neuen Forums«, Erklärung des Arbeitssausschusses des Landessprecherrates des Neuen Forums vom 3.1.1990, RHA: 3.1.1.1.1.1.: Neues Forum Republiksprecherrat: Protokolle 1989-1990, ohne Pag. 84 Bärbel Bohley u.a.: »Grundsatzpapier des Ausschusses des Landessprecherrates« (16.12.1989), in: DGB-Bundesvorstand, S. 65. 85 Statut des Neuen Forums vom 28.1.1990, in: DGB-Bundesvorstand, S. 99. 86 Vgl. Schulz, S. 99, Anm. 96. 87 Der Runde Tisch verabschiedete am 22.1.1990 einen Wahlgesetzentwurf, der neben Parteien auch politische Vereinigungen und Bürgerinitiativen zur Teilnahme an Wahlen berechtigte. Der Volkskammerentscheid über das Wahlgesetz erfolgte erst am 20.2.1990. Zur Wahlrechtsentwicklung in der DDR siehe Mand. 88 Vgl. zu den Programmdebatten des Neuen Froums: Schulz, S. 51f. und Matthias Geis: »Neues Forum: Keine Einheit für die Einheit«, in: die tageszeitung vom 29.1.1990, S. 3.

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Diskutieren ein Ende zu setzen und zu klaren Aussagen zu gelangen. Eine Fraktion, in der sich unter dem Namen»Aufbruch89«zahlreiche ehemalige Gründungsmitglieder aus dem September 1989 zusammenfanden, brandmarkte dieses Verfahren jedoch als »wahlkampfstrategischen Pragmatismus« und beklagte, daß »Vertreter radikaldemokratischer Sichtweisen [...] unfair« 89 behandelt würden. Nur ein Minimalkonsens bewahrte das Neue Forum vor der Spaltung, verhinderte aber die Verabschiedung eines politikfähigen Wahlkampfprogramms. Durch die von der SPD vorangetriebene Vorverlegung des Wahltermins noch zusätzlich unter Druck gesetzt, ging das Neue Forum am 6. Februar ein Listenbündnis mit der Initiative Frieden und Menschenrechte und mit Demokratie Jetzt ein. Als Bündnis 90 traten die Verbündeten des Kampfs gegen die SED ohne offizielle Unterstützung einer westdeutschen Partei zu den Volkskammerwahlen an und hielten auch unter den veränderten Bedingungen an ihren Idealen fest. Der Preis dieses Beharrens war das deprimierende Wahlergebnis von 2,9% der Stimmen, die das Bündnis 90 am 18. März 1990 erhielt. Einen ganz anderen Weg von einer der wichtigsten Trägergruppen der Bewegung zu einer wahlfähigen Partei ging schließlich der Demokratische Aufbruch. Dessen Entscheidung, sich Ende Oktober als Partei zu konstituieren, hatte zu dem Ergebnis geführt, daß der anfangs noch programmatisch eher links stehende Demokratische Aufbruch zusehends eine Klientel in seiner Basis ansammelte, die, wie Schorlemmer schon für Ende Oktober feststellte, »im Gegensatz zu den Initiatoren keine Linkspartei wollte.«90 Mit dem Anwachsen der Mitgliederzahl spitzte sich dieser Gegensatz zwischen der Gründergeneration und den neuen Mitgliedern weiter zu. Der Mitgliederwandel, der Eindruck des Stimmungswandels in der deutschen Frage sowie die aus dem Wahlkampf resultierende Notwendigkeit, ein präzises Programm vorzulegen, verlieh den Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Flügeln eine Brisanz, die auf dem Gründungsparteitag am 16./17. Dezember unter den Augen von prominenten Vertretern aller Bundestagsparteien zum Eklat führte. Laut Schorlemmer war der Parteitag von einer so aggressiven Stimmung geprägt, daß er, Schorlemmer, »Gewaltanwendung und Lynchjustiz« befürchtete und sich als Vertreter des bürgerbewegten Flügels »wie vor einem Tribunal«91 fühlte. Hatte sich der Demokratische Aufbruch damit bereits im Stil von seiner ursprünglichen Prägung entfernt, gab er zudem in dem am 17. Dezember verabschiedeten Programm seine vorherige Zurückhaltung in der deutschen 89 »Erklärung der Minderheitsfraktion zur Gründungskonferenz des Neuen Forums«, zit. nach Schulz, S. 54. Vgl. auch das Interview mit R. Schult in: die tageszeitung vom 29.1.1990, S.3: »Ich denke, die Spaltung ist da ...« 90 Schorlemmer, S. 313. 91 Ebd. S. 313f. Vgl. zum DA-Parteitag auch Christian Wernicke: »Eine neue Partei mit Bonner Bügelfalten«, in: Die Zeit vom 22.12.1989, S. 4.

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Frage auf und erklärte sich nunmehr unvoreingenommen für die baldmöglichste Herstellung der deutschen Einheit.92 Die Konsolidierung im Rahmen des Wahlkampfs erzwang beim Demokratischen Aufbruch eine Festlegung, die den breiten programmatischen Konsens der ehemaligen Trägergruppe sprengte. Im Januar verließ Ehrhart Neubert die Partei aus Protest gegen die konservative Wende; die stellvertretende Parteivorsitzende Sonja Schröter sowie die Gründungsmitglieder Friedrich Schorlemmer und Edelbert Richter traten zur SPD über. Unter der Führung von Eppelmann und Schnur geriet der Demokratische Aufbruch nach der Jahreswende immer stärker unter den Druck, einen westdeutschen Kooperationspartner finden zu müssen, um den Vorsprung der Sozialdemokraten einzuholen. Die Konkurrenz zur Sozialdemokratischen Partei führte in der Logik des entstehenden Parteiensystems zu einer Annäherung an die westdeutsche CDU, die ihrerseits noch auf der Suche nach einem Partner in der DDR war. Allerdings wollte und konnte die CDU nicht darauf verzichten, die ostdeutsche CDU in ein Wahlbündnis zu integrieren.93 Der am 5. Februar vollzogene Zusammenschluß des Demokratischen Aufbruches mit der ehemaligen Blockpartei CDU in der Allianz für Deutschland verdeutlichte nicht nur den immensen Einfluß der westdeutschen Parteien, sondern auch die veränderten Maßstäbe politischen Verhaltens. Der Wahlkampf und der daraus erwachsende Bedarf an Unterstützung zwangen den Demokratischen Aufbruch dazu, mit einer Partei zu kooperieren, die nur kurz zuvor noch als Gegner gegolten hatte. Er beugte sich damit der neuen Handlungslogik in der DDR und ging mit dem Wahlbündnis Allianz für Deutschland mit 48,1% der Stimmen als stärkste Kraft aus den Volkskammerwahlen hervor, wobei auf den Demokratischen Aufbruch selbst nur 0,9% entfielen. Das gemeinsame Vorgehen, das die Aktionen der oppositionellen Gruppen im Herbst 1989 geprägt hatte, fand daher, so lassen sich die Entwicklungen resümieren, ein Ende, als der bewegungsinterne Konsens nach der Durchsetzung der zentralen Demokratisierungsforderungen zerfiel und die Bewegung unter den Druck der »Deutschland, einig Vaterland«-Sprechchöre einerseits und des Wahlkampfs andererseits geriet. Vor diesem Hintergrund entfalteten die zuvor latenten Spannungen innerhalb und zwischen den ehemaligen Trägergruppen der Bewegung eine große Sprengkraft. In dem Moment, als nicht mehr der Protest, sondern die Wahl zur Richtschnur des Handelns wurde, wich die Kooperation der Trägergruppen der Konkurrenz, während der Zwang zur 92 Parteiprogramm des Demokratischen Aufbruch, Abschnitt VI: »Für eine deutsche staatliche Einheit in einer europäischen Friedensordnung«, S. 17ff., ACDP, DA Thüringen, VI-061006/3, ohne Pag. 93 Vgl. Schäuble, S. 41: »Helmut Kohl war [...] davon überzeugt, daß die Ost-CDU alleine und ohne deutliche Veränderungen [...] nicht mit Aussicht auf Erfolg bei den Wahlen antreten könne. Umgekehrt sah er genauso deutlich, daß die von ihm geführte CDU in der DDR unter Umgehung der Ost-CDU schwerlich einen erfolgreichen Wahlkampf führen könnte.«

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programmatischen Festlegung zugleich zu internen Richtungsstreitigkeiten und Spaltungen führte. Der Wandel der Trägergruppen läßt sich daher neben den Veränderungen der Demonstrationen als zweiter Ausdruck für das Ende der Bewegung betrachten, deren Mobilisierungskraft im Dezember nachließ, als die konstitutiven Konflikte gelöst und die Auseinandersetzung von den Straßen an die Runden Tische und von dort in den Wahlkampf und die Wahlen verlagert wurden. Einzelne Mobilisierungserfolge, wie die Demonstration am 15. Januar, in deren Verlauf die Staatssicherheitszentrale in der Berliner Normannenstraße gestürmt wurde,94 konnten nicht darüber hinweg täuschen, daß sich die Bürgerbewegung im Dezember als kollektiver Handlungszusammenhang auflöste. Zwar wurde das Engagement in der Tradition der Bewegung in verschiedenen Formen weitergeführt, die Dynamik der Mobilisierung über den Kreis der organisierten Aktivisten hinaus hatte jedoch im Dezember ihr Ende gefunden. Ungeachtet der Tatsache, daß das Neue Forum, die Bürgerkomitees zur Auflösung der Staatssicherheit und die Runden Tische sich weiterhin in Form und Inhalt an den Idealen der Bewegung ausrichteten, war die Bürgerbewegung nicht mehr»inBewegung«. Wenn es etwa am 20. Dezember in einer Erklärung des Runden Tisches des Bezirks Erfurt hieß: »Die Konflikte unserer Gesellschaft sind am Runden Tisch vertreten und werden an ihm thematisiert«,95 wurden die neuen Modalitäten deutlich. Hatte die Bürgerbewegung bislang als mobilisierender kollektiver Akteur versucht, ihre Ziele durch Protestaktionen zu erreichen, wurden nunmehr die Runden Tische und mehr noch der Wahlkampf zum Forum der Auseinandersetzungen, während Demonstrationen, Dialoge und Friedensgebete an Bedeutung verloren. Die Teilnehmerzahlen der Friedensgebete sanken wieder auf das Niveau der achtziger Jahre; die Dialoge, in denen zur Monatswende vom Oktober zum November Hunderttausende ihr Recht auf Meinungsäußerung wahrgenommen hatten, waren an den Runden Tischen institutionalisiert; die Demonstrationen standen ganz im Zeichen der Einheit sowie der Vereinigungsbefürworter, und die ehemaligen Trägergruppen waren mit unterschiedlichem Erfolg auf dem Weg ins Parlament. Die Bewegung hatte die Bürgerrechte erkämpft; die Wahrnehmung dieser Rechte besiegelte das Ende der Bewegung, als die Mobilisierung in einen Wahlkampf überführt wurde. Seinen formalen Abschluß fand der im September 1989 begonnene Demokratisierungsprozeß in der DDR schließlich in der Volkskammerwahl am 18. März 1990. Es waren die ersten freien Wahlen, die auf dem Gebiet der DDR seit 1933 stattfanden, so daß sich ihre Bedeutung kaum überschätzen läßt. Das Verdienst, die Voraussetzungen dieser Wahl geschaffen zu haben, kommt an erster Stelle der Bürgerbewegung zu, die durch ihre Aktionen die SED zur 94 Vgl. hierzu Thaysen, Runder Tisch, S. 64ff.

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Aufgabe ihres Regimes gezwungen und damit die Perspektive für einen demokratischen Neuanfang eröffnet hatte. Nichtsdestotrotz aber waren die Wahlen weit von dem entfernt, was im September 1989 angestrebt worden war. Nicht nur das Ergebnis der Wahl, in der die ehemaligen Trägergruppen insgesamt 27,7 % der Stimmen auf sich vereinen konnten,96 während die ehemalige Blockpartei CDU mit 40,9 % zum klaren Wahlsieger wurde, sorgte für Enttäuschung. Auch die Tatsache, daß die erste freie Wahl in der DDR zu einer Abwahl der DDR geriet, war gleichbedeutend mit einer Niederlage für diejenigen, die auf eine eigenständige Entwicklung der DDR gehofft hatten. Die Enttäuschung über den Ausgang des Veränderungsprozesses betraf nicht zuletzt auch die Form, die die junge Demokratie in der DDR im März 1990 annehmen sollte. Der Abschluß der Demokratisierung markierte zugleich den Einstieg in ein parlamentarisches Repräsentativsystem, das direktdemokratische Partizipationsformen kaum berücksichtigte. Nur vor diesem Hintergrund ist die fragwürdige Feststellung Ludwig Mehlhorns nachvollziehbar, der im Volkskammerwahlkampf eine »Entmachtung des Bürgerwillens in der DDR«97 sah und vor einer Entwicklung hin zu einem westdominierten Parteiensystem warnte, das die Bürger in der DDR ein weiteres Mal zu entmündigen drohte. Fraglich ist allerdings, ob es tatsächlich, wie Jens Reich in der Wahlnacht meinte, das »Bonner Nilpferd« gewesen ist, das »die kleine Pflanze« Demokratie in der DDR »totgetreten« hat, so daß die Bürger keine Möglichkeit hatten, das im Herbst gesäte zarte Pflänzchen einer zivilen Bürgergesellschaft zu hegen.98 Sofern man überhaupt in dem Erfolg, demokratische Wahlen herbeigeführt zu haben, ein Scheitern der Bewegung sehen kann, ist die Enttäuschung über Form und Ergebnis der Wahlen ein Ausdruck des grundlegenden Problems der Bürgerbewegung, aber auch der strukturellen Grenzen jeder sozialen Bewegung. Denn wie alle sozialen Bewegungen sah sich auch die Bürgerbewegung mit dem Dilemma konfrontiert, von der Spontaneität ihrer Mitglieder und Aktionen zu leben, und gleichzeitig versucht oder gezwungen zu sein, diese Spontaneität auf Dauer zu stellen und politisch handlungsfähig zu machen. Im Falle der Bürgerbewegung bestand zwischen diesen Polen ein besonders krasser Gegensatz, weil Spontaneität und Kreativität für sie nach vierzig Jahren Einparteienherrschaft einen besonders hohen, moralischen wie systematischen Stellenwert hatten. Andererseits geriet die Bewegung Anfang Dezember in eine Situation, die politische Maßnahmen verlangte, um das Machtvakuum füllen und die Krise kontrollieren zu können. An diesem Punkt lief der Traum von 95 »Wort des Runden Tisches im Bezirk Erfurt«, in: Das Volk vom vom 21.12.1989. 96 DA: 0,9%, SPD: 21,8%, Bündnis 90: 2,9%, GP& UFV: 1,9%, VT: 0,2%. 97 Ludwig Mehlhorn: »Leichenfledderei«, Gastkommentar in: die tageszeitung vom 16.2.1990, S. 10. 98 Jens Reich: »Wir konnten die Demokratie nicht selbst entwickeln, das Bonner Nilpferd hat die kleine Pflanze totgetreten.«, zit. nach: »Und in mir ist Schweigen«, in: Der Spiegel vom 19.3.1990, S. 28-33, Zitat S. 30.

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einer selbstorganisierten Gesellschaft ins Leere. Die Vision einer herrschaftsfreien Gemeinschaft, deren Bürger nicht von staatlichen Zwängen, materiellen Eigeninteressen oder machtpolitischen Erwägungen korrumpiert sein sollten, setzte eine immerwährende Aktivierung der Bevölkerung, ein unbeschränktes in Bewegung bleiben, voraus. Die Mobilisierung des Herbstes sollte, so die Hoffnung, über die Auseinandersetzung mit der SED hinaus fortgeführt werden, um schließlich in einer Gesellschaft zu münden, die allein von dem kontinuierlichen Engagement ihrer Bürger getragen sein würde. Die Hoffnung, das Temporäre des dynamischen Aufbruches zu überwinden und noch »jahrelang aufzubrechen«,99 erwies sich jedoch als Illusion. Man hatte, wie Friedrich Schorlemmer selbstkritisch feststellte, »die Ansprechbarkeit der Volksmassen wie man hier sagen würde - für differenzierte politische Sachverhalte überschätzt. Wir haben auch das Selbstbewußtsein der Masse der Menschen überschätzt«.100 Aus den zivilgesellschaftlichen Denk- und Handlungsmustern der Bürgerbewegung resultierten verschiedene, charakteristische Abwehrreaktionen, die sich zunächst als Vorteile, später als Nachteile herausstellten. Dazu zählte die Abwehr verbindlicher Organisationsformen und verbindlicher Programme, die einer Selbstentfaltung im Wege gestanden hätten, die Abwehr jeglicher Berührung mit der Macht, die als Institution und Phänomen überwunden werden sollte, und die Abwehr jeglicher Fremdbestimmung durch Parteien und Regierungen oder aber durch die wirtschaftsstarke Bundesrepublik. Diese Prinzipien, die sich aus der Hoffnung auf eine individuelle wie gesamtgesellschaftliche Selbstbefreiung ableiteten, bereiteten den Boden für die ungeahnte Attraktivität und Mobilisierungskraft, welche die Bürgerbewegung in der Zeit von September bis Dezember 1989 entfaltete. Sie erwiesen sich jedoch in dem Moment als Handlungsbarrieren, in dem die Politik durch die externe Entwicklung wieder ins Spiel kam, nachdem sie zuvor in Form der SED-Herrschaft aus dem gesellschaftlichen Leben verdrängt worden war. In dieser Situation war es der Bewegung nicht möglich, die aus der Mobilisierung gewonnene Kraft durch verbindliche Organisationen und Programme in politische Maßnahmen umzusetzen, ohne mit ihren internen, basisdemokratischen Strukturprinzipien zu brechen. Nachdem es gelungen war, den SED-Staat herauszufordern und zu überwinden, scheiterte daher die Vision, die Bevölkerung dauerhaft mobilisieren und die Gesellschaft als ganze in Bewegung setzen zu können. Man konnte nicht verhindern, daß die politische Entwicklung ab Dezember von 99 Vgl. das Interview mit Rainer Eppelmann in der Jungen Welt vom 9./10.12.1989, S. 6, wo Eppelmann die Frage: »Demokratischer Aufbruch - das hat etwas Temporäres. Man kann nicht jahrelang aufbrechen?« mit einem trotzigen: »Das wollen wir aber!« beantwortete. 100 Friedrich Schorlemmer, Interview in: die tageszeitung vom 9.2.1990, S. 12.

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Parteien dominiert wurde und darüber hinaus auf die deutsche Einheit zusteuerte. Dessen ungeachtet bleibt die Tatsache bestehen, daß eine Bewegung, die machtorientiert genug gewesen wäre, um im Dezember 1989 die Initiative zu übernehmen, nie in die Position gekommen wäre, welche die Bürgerbewegung innehatte. Denn mit zentralisierten Organisationsformen und unter Umständen gewalttätigen Aktionen wäre es nicht gelungen, die Repressionsmechanismen des SED-Regimes zu unterlaufen und einen vergleichbaren Mobilisierungserfolg zu erzielen. Vor allem in der Formierungsphase im September erwies sich der dezentrale und dynamische Charakter der Bewegung als hochgradig adäquat, um das SED-Regime herauszufordern. Die landesweiten Aktionen, die auf basisdemokratischer und dezentraler Eigeninitiative und nicht auf zentraler - und damit leicht zu unterbindender - Koordination beruhten, verurteilten die Sicherheitskräfte letztlich zu machtlosen Zuschauern. Sie sahen sich darauf beschränkt zu beobachten, daß sich die Aktionen Anfang Oktober wie ein Lauffeuer in der gesamten DDR ausbreiteten. Zugleich stellte die strikte Gewaltlosigkeit der Demonstranten die Staats- und Sicherheitsorgane vor ein Repressionsdilemma, da sowohl ein gewaltsames Einschreiten als auch eine Tolerierung der Demonstrationen die Teilnehmerzahlen steigen ließ. Nicht zuletzt auch die moderate Ausrichtung und die programmatische Offenheit erwiesen sich vor allem in der Anfangszeit als Vorteile, weil sie die Hemmschwellen der Teilnahme senkten und der Bewegung in der Bevölkerung große Sympathien sicherte, anstatt sie durch radikale Forderungen zu verschrecken. Ab Anfang Oktober entfalteten die Losungen Selbstorganisation, Selbstbestimmung, Selbstentfaltung eine beispiellose Mobilisierungsdynamik. Nach vierzig Jahren politischer Anpassung und Unterordnung im SED-Regime schuf die Bürgerbewegung im Namen der Herstellung von Öffentlichkeit den Raum, in dem Hunderttausende durch die Teilnahme an den Aktionen ihre Passivität überwanden und den aufrechten Gang« lernten. Daß der Glaube an die Kreativität der Bürger durchaus berechtigt war, zeigte sich in der Freisetzung von Energie und Spontaneität, die vor allem in den scharfsinnigen und vor Volkswitz sprühenden Demonstrationsslogans zum Ausdruck kam. Beruhte diese dynamische Aktivierung der Bevölkerung maßgeblich auf dem charakteristischen Verzicht auf Konfrontation zugunsten von Kommunikation, stellte der explizite Verzicht auf die Macht den zentralen Ansatzpunkt der Delegitimierung der SED-Herrschaft dar. In dem selbstbeschränkten Aufbegehren der Bürger lag daher die Provokation des SED-Regimes und zugleich die Authentizität der Bürgerbewegung: Nur sie war in der Situation des Septembers 1989 in der Lage, das Regime zu überwinden; nur sie war in der Lage, diejenige Dynamik zu erzeugen, die die Faszination der Bürgerbewegung ausmachte. Die charakteristische Verbindung demokratischer Werte mit sozialen Maßstä385 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35925-0

ben machte aus ihr eine Schule der Demokratie, die der Bevölkerung ein breites Repertoire von Möglichkeiten politischen Engagements bot. Als gesellschaftliche Gegenmacht, die Staat und Politik transformieren wollte, entwickelte die Bewegung jedoch weder die programmatischen noch die organisatorischen Voraussetzungen, die es ihr erlaubt hätten, auf eine Umgebung zu reagieren, die sich schließlich nicht in ihrem Sinne transformieren ließ. Die Realisierung der Vision einer Gesellschaft in Bewegung be-schränkte sich daher mit ungeahntem Erfolg auf den Ausbruch aus dem SED-Regime. Sie scheiterte jedoch an dem Versuch, den Ausbruch in einen Aufbruch zu einem neuen Gesellschaftstyp zu übersetzen.

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Abkürzungsverzeichnis

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KL KOR KPdSU KSZE KZfSS LA Berlin LDPD LVZ MDA Mdl MDV MfS ND NDPD NF NPL NVA NVR o.D. OPK OV Pag. PUT RdB RdK RHA RIAS SDP SED SZ UB UFV VdgB VEB VL VM VP VPKA VPKÄ ZAIG ZfG ZIJ ZK

Kreisleitung Komitee für gesellschaftliche Selbstverteidigung Kommunistische Partei der Sowjetunion Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Landesarchiv Berlin Liberal-Demokratische Partei Deutschlands Leipziger Volkszeitung Matthias-Domaschk-Archiv Ministerium des Inneren Mitteldeutscher Verlag Ministerium für Staatssicherheit Neues Deutschland National-Demokratische Partei Deutschlands Neues Forum Neue Politische Literatur Nationale Volksarmee Nationaler Verteidigungsrat ohne Datum Operative Personenkontrolle Operativer Vorgang Paginierung Politische Untergrundtätigkeit Rat des Bezirks Rat des Kreises Robert-Havemann-Archiv Rundfunk im amerikanischen Sektor Sozialdemokratische Partei in der DDR Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Süddeutsche Zeitung Umweltbibliothek Berlin Unabhängiger Frauenverband Verein der gegenseitigen Bauernhilfe Volkseigener Betrieb Vereinigte Linke Valuta-Mark Volkspolizei Volkspolizeikreisamt Volkspolizeikreisämter Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Zentralkomitee für Jugendforschung Zentralkomitee

388 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35925-0

Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen Archive und Archivbestände

Archiv Bürgerbewegung Leipzig, e.V Archiv für Christlich-Demokratische Politik/ Sankt Augustin • Bestand DA Thüringen, Bestand Michael Walter Archiv der sozialen Demokratie/ Bonn • Bestand Martin Gutzeit Landesarchiv Berlin • Bestand der Bezirksleitung Berlin der SED Matthias-Domasch-Archiv/ Berlin Robert-Havemann-Archiv/ Berlin Stadtmuseum Dresden, Abt. Schriftgut • Bestand »Gruppe der 20« Private/ nichtöffentliche Bestände

Marc-Dietrich Ohse /Leipzig • Material verschiedener Leipziger Oppositionsgruppen ARD-aktuell, Norddeutscher Rundfunk/ Hamburg • Sendepläne und Mitschnitte von tagesschau- und tagesthemen-Sendungen des Jahres 1989 Ruth Eberhard/ Berlin • Nichtveröffentlichte Leserbriefe an die Berliner Zeitung aus dem Jahr 1989 Zeitungen und Zeitschriften der DDR-Opposition

Arche Nova, Berlin Demokratie Jetzt. Zeitung der Bürgerbewegung, Berlin Depesche - Unabhängige Wochenzeitung der SDP, Berlin Grenzfall, Berlin Neues Forum Bezirksinfoblatt Magdeburg, Magdeburg Neues Forum Leipzig Informationsblatt, Leipzig neuesforum (ab 1990: neues forum bulletin), Berlin Ostkreuz, Berlin Umweltblätter, Berlin

389 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35925-0

Ausgewertete Tageszeitungen und Wochenzeitschriften

Berliner Zeitung/ Berlin Das Volk/Erfurt Freie Presse/ Karl-Marx-Stadt Freies Wort/ Suhl Leipziger Volkszeitung/ Leipzig Neues Deutschland/ Berlin Ostsee-Zeitung/ Rostock Sächsische Zeitung/ Dresden Schweriner Volkszeitung/ Schwerin Union /Dresden Volksstimme/ Magdeburg Volkswacht/ Gera

Der Spiegel/ Hamburg die tageszeitung (taz)/ Berlin Die Zeit/ Hamburg Frankfurter Allgemeine Zeitung Frankfurt Frankfurter Rundschau/ Frankfurt Süddeutsche Zeitung/ München

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410 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35925-0

Register Namensregister Albrecht, Hans 279 Alt, Franz 150 Arendt, Hannah 43 Arnold, Michael 154, 203, 334 Axen, Hermann 111 Bahr, Egon 376 Barbe, Angelika 139,308 Barthold, Karin 148 Baumgärtel, Gerhard 275 Becker, Carola 56, 114 Becker, Jurek 114 Benda, Vaclav 46 Berghofer, Wolfgang 241, 243, 246-249, 355, 364, 369 Bickhardt, Stephan 64f., 136, 298 Biermann, Wolf 226, 325 Birthler, Marianne 277 Bisky, Lothar 277 Bohley, Bärbel 11,61,103,121,125,127129, 131, 134f., 147, 150, 212, 215f, 219, 278f, 286, 310f, 340f Böhme, Ibrahim 132, 138f., 367 Böttger, Martin 134 Bourdieu, Pierre 82-84, 191, 193 Brandt, Willy 376 Büchner, Matthias 203, 259, 325 de Maiziere, Lothar 369 Dickel, Friedrich 189 Dietrich, Christian 116, 155 Döller, Jürgen 271 Dombrowski, Dieter 374 Drees, Erika 275 Drees, Ludwig 65-67 Dusdal, Edgar 303

Ebel, Hartmut 264 Eberhardt, Ruth 34 Ehrmann, Riccardo 283 Eigenfeld, Frank 203 Eigenfeld, Katrin 203, 340 Eisenfeld, Peter 61 Endler, Adolf 65 Eppelmann, Rainer 11, 128f, 131, 135, 137,141,146,151,225,373,381 Erdmann, Guntram 211 Falke, Almut 327 Falke, Heino 55 Fehr, Helmut 16, 23, 152 Ferworn, Hartmut 113 Fischbeck, Hans-Jürgen 65f., 68, 298 Fischer, Johannes 167 Fischer, Oskar 102, 116 Fischer, Werner 61, 125 Forck, Gottfried 137 Friedrich, Walter 129, 189, 277, 384 Fritze, Lothar 93 Fuchs, Jürgen 325 Führer, Christian 152, 154 Gauck, Joachim 201,215,232,361 Garton Ash, Timothy 38, 288 Genscher, Hans-Dietrich 102, 116, 376 Gerlach, Manfred 113, 117, 277 Glüer, Dietlind 209, 212f. Gorbatschow, Michail 94f, 97, 117, 120 Götting, Gerald 279 Grimm, Peter 61 Grósz, Károly 97 Gutzeit, Martin 61, 127-130, 132, 138, 298 411

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35925-0

Gysi, Gregor 277f., 364, 367 Haase, Reinhard 265 Hackenberg, Helmut 188f. Hager, Kurt 109 Hahn, Heinz 275 Hartung, Klaus 228 Hattenhauer, Katrin 158 Havel, Vaclav 38, 41, 43-46, 49, 63, 69, 200,209,287,339,371,372 Havemann, Katja 129, 134f. Havemann, Robert 72 Hein, Christoph 277 Henrich, Rolf 80,129,134,203,216,218, 361,367 Hermlin, Stephan 115 Herrmann, Joachim 221,227 Hertle, Hans-Hermann 282, 316 Heym, Stefan 103, 115, 277, 341 Hildebrand, Gerold 347 Hilsberg, Stephan 139 Hirsch, Ralf 61, 125, 147 Höfner, Ernst 317 Homann, Heinrich 279 Honecker, Erich 11, 51, 86-89, 107-109, 112, 117-120, 172, 176f, 188-190, 193f, 200, 221, 224-228, 230-232, 234-236,244,251,287,317 Honecker, Margot 279 Hoquel, Falk 329 Horn, Gyula 102f. Horvath, Istvan 101 Hummitzsch, Manfred 330 Inglehart, Ronald 36 Jander, Martin 42 Jarausch, Konrad 28, 31 Johnson, Carsten 143 Joppke, Christian 42 Kádár,János 97 Kalf, Fritz 211 Keßler, Heinz 178, 189 Klähn, Martin 203f., 206, 210f., 216 Kleemann, Christoph 212, 236

Klier, Freya 125 Kloth, Hans Michael 301 Knabe, Hubertus 22 Kohl, Helmut 102, 336f., 339, 341, 346, 371,373f,376 Königsdorf, Helga 111 Konrád, György 41, 43-46, 49, 130, 299, 361 Köppe, Ingrid 368 Krack, Erhard 220 Krenz,Egon 11,120,179,188-190,221f., 225-231, 237-239, 244, 250f, 255f, 259,264,276,280,282,316 Kröger, Franz-Norbert 211 Kroker, Herbert 364 Krolikowski, Werner 108 Krusche, Günter 341 Kuran, Timor 231 Kuron,Jacek 48 Lampe, Reinhard 64f. Land, Rainer 72 Lange, Bernd-Lutz 182 Läßig, Jochen 357 Lefebvre, Georges 317, 327 Lefort, Claude 58 Leich, Werner 290 Lepsius, M. Rainer 42 Leuschner, Andreas 242 Liebold, Cornelia 354 Lietz, Bruno 319 Lietz, Heiko 207 Lindner, Bernd 302 Loheit, Uta 204, 208 Lorenz, Siegfried 273 Ludes, Peter 192 Luft, Christa 318 Lux, Petra 257 Magirius, Friedrich 153, 171 Maier, Charles 31 Masur, Kurt 181 Meckel, Markus 58, 70, 126-130, 132, 138f., 272 Mehlhorn, Ludwig 63f., 66, 136, 383 Menge, Marlis 116

412 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35925-0

Meuschel, Sigrid 81, 88, 251 Meyer, Kurt 181 Michnik,Adam 43f, 48 Mielke, Erich 161, 175f., 187, 189, 279 Misselwitz, Ruth 137 Mittag, Günter 102, 221, 227, 319, 322 Modrow,Hans 248£, 279, 318, 339, 369 Mühe, Ulrich 278 Müller, Gerhard 264 Müller, Heiner 277 Nagy, Imre 97 Németh, Miklós 97f., 102 Neubert, Erhart 55, 129, 136£, 303, 306, 343£, 352£, 381 Neubert, Frank 274 Neukirch, Klaus 254 Niethammer, Lutz 90f. Noack, Arndt 132, 138 Opp, Karl-Dieter 151, 166 Pahnke, Rudi 129, 137 Peterson, Hartmut 278 Pflugbeil, Sebastian 134, 341, 373 Pollack, Detlef 53, 127, 159, 171, 220 Pommert, Jochen 181 Poppe, Gerd 57,61,63,135,296,367,373 Poppe, Ulrike 61,63,66,70,73,130,135, 341 Possekel, Ralf 72 Preuß, Sybille 236, 269 Pumb, Reinhardt 217 Quandt, Bernhard 316 Quast, Giselher 349 Rammstedt, Otthein 20 Raschke, Joachim 19, 23, 123, 214 Rathenow, Lutz 115,330 Rathke, Heinrich 211 Reich, Jens 120, 134, 139, 211, 215, 217, 265,277,279,286,361,383 Reiche, Steffen 128, 146 Reinhold, Otto 95

Richter, Edelbert 65, 129, 131, 135, 157, 259,271,305f,381 Richter, Frank 242 Rietzke, Hansjürgen 204f Rink, Dieter 24 Rosenlöcher, Thomas 113 Rudolph, Ulrich 211 Rühe, Volker 336 Schabowski, Günter 81, 87, 107£, 117, 120, 221, 225, 227, 270, 277£, 283f Schalck-Golodkowski, Alexander 89, 317, 321£, 325 Schedlinski, Rainer 65 Schleiff, Henning 275 Schnitzler, Karl-Eduard von 262 Schnur, Wolfgang 129, 137, 305, 381 Schön, Kerstin 259, 271£, 327, 328 Schorlemmer, Friedrich 11, 129, 277, 287,313,341,380,384 Schottlaender, Rudolf 65 Schröter, Sonja 337, 381 Schult, Reinhard 132, 217 Schulz, Marianne 101, 379 Schumann, Horst 279 Schürer, Gerhard 88, 318 Schwanitz, Wolfgang 322 Schwarz, Josef 327 Scriba, Martin 207 Seibert, Rosemarie 259f., 263, 272 Seidel, Bernd 233 Seidel, Eberhard 151 Senz, Heidrun 238, 257 Sindermann, Horst 107, 319 Span, Hans 254 Steinbach, Michael 212f Stephan, Gerd-Rüdiger 316 Stosiek, Peter 287 Süß, Walter 315,329 Swatek, Arthur 263 Tarrow, Sidney 37, 80 Teltschik, Horst 336 Templin, Regina 61, 125 Templin, Wolfgang 60f., 63, 125 Tetzner, Reiner 233 413

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35925-0

Thaysen, Uwe 301 Timm, Ernst 231,265 Tisch, Harry 108, 279, 317, 320, 322 Torpeyjohn C. 42 Tschiche, Hans-Jochen 65,126,128,134, 203, 275, 309 Ulbricht, Walter 86f. Ullmann, Wolfgang 65, 136, 200, 222f., 286, 289f., 297, 299, 363,367, 369, 373 Victor, Christoph 201 Vogel, Wolfgang 100 Wagner, Harald 167 Weber, Max 12,26,36 Weiß, Konrad 136, 286, 323, 341 Weißhuhn, Reinhard 61, 63

Wensierski, Peter 278 Wielgohsjan 23,56,143 Willerding, Hans-Joachim 316 Witoschek, Johannes 199 Wolf, Christa 111, 115, 117, 150, 263, 277, 341 Wolf, Markus 277, 279 Wonneberger, Christoph 153, 167 Wötzel, Roland 181,279 Wüst, Heidemarie 275 Zachuber, Waltraud 200 Zeh, Klaus 321 Ziegenhahn, Herbert 250, 279 Ziegner, Heinz 250, 279 Ziemer, Christof 247 Zimmermann, Peter 182 Zwahr, Hartmut 170, 238, 240, 350

414 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35925-0

Ortsregister Angermünde 330 Anklam 266, 293 Arnstadt 120, 194 BadBrambach 118 Bad Doberan 330 Bergen 194 Berlin 11, 27, 29, 31-34, 61, 64, 75, 100103, 105, 111, 115, 117, 119-125, 132, 134-138,144,148-151,154f., 163,165, 172f., 177f., 188f., 192, 194, 203, 206, 209, 21 lf., 215-218, 220, 233, 262f., 271,276-278,283-285,296f., 309,312, 316,318f., 322,325,341,351,353,364, 377, 382 Boitzenburg 266 Bonn 100, 102f., 106, 383 Breitungen 263 Budapest 99-101, 103, 109, 111, 113, 118,167,175 Bülow 211 Bundesrepublik Deutschland 11, 17,22, 24, 27, 34, 74, 79, 85, 90, 95, 99-101, 103-107, 111, 113, 115f., 119, 138, 146f., 162, 175, 238, 281f., 285, 289f., 318f., 322, 324, 336f., 339, 341f., 348, 355, 368, 371-377, 380f., 384 Chemnitz, siehe Karl-Marx-Stadt China 106, 189, 227 Cottbus 262, 266 Crivitz 211 ČSSR 25,35,37,43,46, 49, 97,115,118, 154,175,281,331,371-373 Dessau 232, 263 Dresden 31f., 61,110,113,115,118-120, 129,131,177,192,196,240f., 243-250, 252, 256, 260, 262f., 274f., 279, 297, 310, 374f.

Eisenach 112 Erfurt 194,196,203,214,232,250,255f., 259f., 262f., 266, 271f., 320f., 326-330, 361,382 Forst 262 Frankfurt (Oder) 330 Frankreich 26, 317 Friedrichroda 266 Gadebusch 211,263 Gera 250, 262, 266, 275, 279 Görlitz 194, 197, 199, 262, 266, 287, 330 Gotha 194,262,266 Greifswald 128,194,196,232,253f., 262, 266, 330 Greiz 266 Grevesmühlen 212 Grünheide 134f., 154, 203f., 210, 325 Güstrow 196,266 Hagenow 266 Halberstadt 262, 266 Halle 178, 203, 244f., 247, 250, 262, 287 Heiligenstadt 253, 262 Ilmenau 262 Jena 120, 253f., 266, 272, 330 Karl-Marx-Stadt 120, 148, 177, 194,214, 245,247,250,266,272f., 302,355,375, 379 Kühlungsborn 212f. Küllstedt 263 Laucha 194 Lauchhammer 266 Leinefelde 253, 263 415

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35925-0

Leipzig 11, 13f., 21, 25, 27, 31f., 61, 63, 213, 231f., 236f., 253f., 262, 265f., 275f., 291, 293, 320f., 325, 330, 376 92, 104, 120-124, 141, 149, 151-155, 157,159-167, 169,171,173, 175, 177- Rumänien 97, 322 180, 182, 184, 186-194, 196,198, 201203,221,226,232-238,240f., 243,245, Saalfeld 194, 214, 254, 266, 330 253,256f., 262,266,268,270,276,279, Schmalkalden 263 284, 286f., 292, 294, 303, 320, 326, Schwante 138 329f., 333-335,337,345,347-349,354, Schwerin 194, 196, 203-207, 209-213, 357, 375 217, 232, 250, 261f., 264, 266, 279,342 Lobenstein 263 Sowjetunion, siehe UdSSR Stadtroda 262 Magdeburg 120, 177, 194, 196, 199f., Stendal 330 203, 232, 258, 263, 266, 272, 275, 330, Stralsund 194, 196f., 232, 266, 272, 330 349 Suhl 260, 262, 272, 279, 330, 353 Meiningen 266 Meißen 266 Templin 330 Merseburg 194 Teterow 266 Tschechoslowakei, siehe ČSSR Moskau 97 Mühlhausen 232, 236, 238, 253f., 257, 262, 266, 269, 330 UdSSR 12, 40, 59, 73, 86, 94, 97, 108 Ueckermünde 104, 266, 293 Neubrandenburg 178, 194, 197, 199, Ungarn 11, 43, 46, 49, 82, 84, 96-104, 232, 235f., 262, 266, 275 106, 108, 111, 115, 118, 150, 161, 164, Nordhausen 214 292 Pankow 137 Parchim 194, 266f., 330 Paris 336 Peking 179,227 Plauen 120,177,194,244f., 247,250,262, 342, 375 Polen 16,25,35,37,42f., 46-49,108,185, 297,331,371-373,383 Pößneck 266 Potsdam 120, 177, 194, 235, 319 Prag 40, 57,100,109, 115-119, 154, 167, 171, 175, 242f., 245f., 281 Ribnitz 214 Röbel 266 Rostock 177, 194, 197, 199, 201, 211-

Wachsenburg 250 Wandlitz 226, 319, 320 Waren 214, 235 Weimar 113, 194, 196, 202, 214, 254f., 260, 262, 266, 275, 309, 330, 376 Weißwasser 310, 330 Werningerode 330 Wien 100, 113 Wismar 194,211,214,330 Wittenberg 53, 266 Wurzen 189, 194 Zeulenroda 266 Zittau 330 Zugliget 101, 103 Zwickau 232, 261, 266

416 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35925-0